Linksterrorismus zwischen Konkurrenz und Basissolidarität. Entwicklung und Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen „Roter Armee Fraktion“, „Tupamaros Westberlin“ / „Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionären Zellen“ [1. ed.] 9783848787982, 9783748934394


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German Pages 1270 [1269] Year 2022

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Table of contents :
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1 Einleitung
1.1 Untersuchungsgegenstand
1.2 Problemstellung
1.3 Begriffsbestimmung
1.3.1 Grundsätzliches
1.3.2 Beziehung und Bedingungsfaktor
1.3.3 Gruppe
1.3.4 (Links-)Terrorismus
1.4 Forschungsstand
1.4.1 Grundsätzliches
1.4.2 Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren
1.4.3 Beziehungen des deutschen Linksterrorismus
1.5 Aufbau
2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren
2.1 Darstellung existierender Typologien
2.1.1 Typologie nach Ely Karmon
2.1.2 Typologie nach Tricia Bacon
2.1.3 Typologie nach Christopher Daase
2.1.4 Typologie nach Assaf Moghadam
2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien
2.2.1 Kritik an den Typologien
2.2.2 Modifizierte Typologie zu assoziativen Beziehungen
2.2.3 Typologie zu adversativen Beziehungen
3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren
3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren
3.1.1 Bedingungsfaktoren nach Ely Karmon
3.1.2 Bedingungsfaktoren nach Brian Phillips
3.1.3 Bedingungsfaktoren nach Tricia Bacon
3.1.4 Bedingungsfaktoren nach Vivian Hagerty
3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung
3.2.1 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu assoziativen Beziehungen
3.2.2 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu adversativen Beziehungen
3.2.3 Hypothesen
4 Methodik
4.1 Vergleiche
4.1.1 Grundsätzliches
4.1.2 Funktionen
4.1.3 Inhalte
4.1.4 Durchführung
4.2 Vergleichsschema
4.2.1 AGIKOSUW-Schema nach Armin Pfahl-Traughber
4.2.2 Anpassung des AGIKOSUW-Schemas
5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutionären Zellen“
5.1 Entstehung
5.1.1 „Außerparlamentarische Opposition“, Tod Benno Ohnesorgs, Attentat auf Rudi Dutschke (1965 bis 1968)
5.1.2 Anschläge auf Frankfurter Warenhäuser, Illegalität, Verhaftung Andreas Baaders (1968 bis Anfang 1970)
5.1.3 Befreiung Andreas Baaders, Rekrutierung, Propaganda (1970 bis 1972)
5.2 Aktionsphase
5.2.1 „Mai-Offensive“, Hungerstreiks, „Gruppe 4.2.“, Botschaftsbesetzung in Stockholm (1972 bis 1975)
5.2.2 „Haag/Mayer-Bande“, Selbstmord Ulrike Meinhofs, Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts, „Deutscher Herbst“ (1975 bis 1977)
5.2.3 Wiederaufbau, Anschläge auf US-Militär, „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“, Verhaftungen (1978 bis 1982)
5.2.4 „Drei-Phasen-Konzept“, „Illegale Militante“, Zusammenarbeit mit „Action Directe“, Ermordung Edward Pimentals (1983 bis 1986)
5.2.5 Annäherung an die „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“, Anschlag auf Hans Tietmeyer, Hungerstreik, Ermordung Alfred Herrhausens (1987 bis 1989)
5.3 Niedergang
5.3.1 Zerfall des sowjetischen Hegemonialbereichs, Ermordung Detlev Karsten Rohwedders, „Kinkel‑Initiative“ (1989 bis 1992)
5.3.2 Gewaltverzicht, Richtungskampf, Angriff auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt (1992 bis 1993)
5.3.3 Polizeieinsatz in Bad Kleinen, Spaltung, Auflösungserklärung (1993 und danach)
5.4 Zusammenfassung
5.5 Typologische Einordnung
6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Revolutionären Zellen“
6.1 Entstehung
6.1.1 „Haschrebellen“, „Tupamaros Westberlin“, „Tupamaros München“ (1969 bis 1971)
6.1.2 „Verwechslungs-go-out“, „Rote Armee Fraktion“, Tod Georg von Rauchs (1971 bis 1972)
6.2 Aktionsphase
6.2.1 Ausstieg Michael Baumanns, Banküberfälle, Gefängnisausbrüche, Ermordung Ulrich Schmückers (1972 bis 1974)
6.2.2 Anschlag auf Günter von Drenkmann, Entführung Peter Lorenz‘, Flucht ins Ausland, Verhaftungen (1974 bis 1975)
6.2.3 „Blamage von Berlin“, Ausbildung im Nahen Osten, Annäherung an die „Rote Armee Fraktion“, Entführung Walter Palmers‘ (1976 bis 1977)
6.3 Niedergang
6.3.1 „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“, Befreiung Till Meyers, Festnahmen in Bulgarien (1978)
6.3.2 Prozesse, Grabenkämpfe, Zusammenschluss mit der „Roten Armee Fraktion“ (1978 bis 1980)
6.4 Zusammenfassung
6.5 Typologische Einordnung
7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“
7.1 Entstehung
7.1.1 „Föderation Neue Linke“, „Black-Panther-Solidaritätskomitee“, „Roter Stern“ (1968 bis 1970)
7.1.2 „Rote Hilfe“, „Rote Armee Fraktion“, Palästinenser (1971 bis 1973)
7.2 Aktionsphase
7.2.1 Rekrutierung, Kontakte zu „Carlos“, Fahrpreiskampagne, Überfall auf die OPEC (1973 bis 1975)
7.2.2 Unterstützung der PFLP-SOG, Geiselnahme in Entebbe, interner Richtungskampf, Verflechtungen mit der „Bewegung 2. Juni“ (1976 bis 1977)
7.2.3 Ausstieg Hans-Joachim Kleins, Gründung der „Roten Zora“, versehentliche Bombenexplosion in Heidelberg, Verbindungen zur OIR (1977 bis 1978)
7.2.4 Bezug auf Protestbewegungen, Bruch mit der OIR, Debatte anlässlich der „Hepp‑Kexel-Gruppe“, „Offensive“ der „Roten Zora“ (1979 bis 1983)
7.2.5 Abspaltung der „Roten Zora“, Agitation gegen Gewerkschaften, „F-Kampagne“, Kampagne gegen Bio- und Gentechnologie (1984 bis 1987)
7.3 Niedergang
7.3.1 „Aktion Zobel“, Tod Gerhard Albartus‘, interner Richtungskampf (1987 bis 1989)
7.3.2 Umbrüche im Ostblock, personelle wie logistische Schwierigkeiten, öffentlicher Richtungskampf (1990 bis 1992)
7.3.3 Rückkehr der „Roten Zora“, „Patriarchat“ als neues Feindbild, Fortsetzung der „F‑Kampagne“ (1993 bis 1995)
7.3.4 Auflösung, Festnahmen, Prozesse (1995 und danach)
7.4 Zusammenfassung
7.5 Typologische Einordnung
8 Organisation als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“
8.1 Struktureller Aufbau
8.1.1 Befürwortung zellulärer Organisation
8.1.2 Distanzierung von der lateinamerikanischen Praxis
8.1.3 Rückkehr zum Ausgangspunkt
8.1.4 Verschmelzung zweier Modelle
8.2 Gruppen- und Aktionsstärke
8.2.1 Helfen und helfen lassen
8.2.2 Internationalisierung der Logistik
8.2.3 Rückgang der Abhängigkeiten
8.3 Zusammenfassung
9 Strategie als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“
9.1 Selbstverständnis
9.1.1 Sozialrevolutionäre Avantgarde
9.1.2 Führungsansprüche der ersten deutschen linksterroristischen Gruppen
9.1.3 „Populäre Guerilla“ als Gegenentwurf
9.1.4 Annäherung linksterroristischer Selbstbilder
9.1.5 Anerkennung der Erfolglosigkeit tradierter Rollenverständnisse
9.2 Internationalismus
9.2.1 Konservierung grenzübergreifender Solidarität der „68er-Bewegung“
9.2.2 Konflikt um den Führungsanspruch der Dritten Welt
9.2.3 Divergierende Bedeutung internationaler Kontakte
9.2.4 Alter und neuer Internationalismus im Wettstreit
9.2.5 Internationale Verbundenheit in der Krise
9.3 Revolutionsmodell
9.3.1 Lateinamerikanische Landguerilla und ihr Scheitern
9.3.2 Adaption der Stadtguerilla im linksterroristischen Milieu Westberlins
9.3.3 Aushöhlung der Theorien zur urbanen Guerilla
9.3.4 „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“
9.3.5 Erneuter Versuch einer strategischen Korrektur
9.3.6 Diadochenkampf zwischen „Populisten“ und „Antiimperialisten“
9.3.7 Neubestimmungen
9.3.8 Angleichung der Strategien
9.4 Gewaltverständnis
9.4.1 Parallele Steigerung der Gewalt
9.4.2 „Mai-Offensive“ als Scheidepunkt
9.4.3 Doppelte Standards
9.4.4 Auflösung der Widersprüche
9.4.5 Zunehmende Parallelen
9.5 Zusammenfassung
10 Schluss
10.1 Zusammenfassung
10.1.1 Entwicklung der Beziehungen
10.1.2 Bedingungsfaktoren der Beziehungen
10.2 Offene Fragen
11 Quellen- und Literaturverzeichnis
11.1 Quellen
11.2 Literatur
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Linksterrorismus zwischen Konkurrenz und Basissolidarität. Entwicklung und Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen „Roter Armee Fraktion“, „Tupamaros Westberlin“ / „Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionären Zellen“ [1. ed.]
 9783848787982, 9783748934394

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Extremismus und Demokratie Herausgegeben von Prof. Dr. Uwe Backes Prof. em. Dr. Eckhard Jesse Band 41

Jan-Hinrick Pesch

Linksterrorismus zwischen Konkurrenz und Basissolidarität

Entwicklung und Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen „Roter Armee Fraktion“, „Tupamaros Westberlin“/ „Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionären Zellen“

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Chemnitz, Technische Univ., Diss., 2022 Die Dissertationsschrift wurde im Januar 2022 unter dem Titel „‚Wir lassen sie sein, und sie lassen uns sein‘ – Entwicklung und Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen ‚Roter Armee Fraktion‘, ‚Tupamaros Westberlin‘/‚Bewegung 2. Juni‘ und ‚Revolutionären Zellen‘“ an der Technischen Universität Chemnitz eingereicht und am 21.06.2022 mit Erfolg verteidigt. ISBN 978-3-8487-8798-2 (Print) ISBN 978-3-7489-3439-4 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Marlon

Danksagung

Acht Jahre nahm meine Promotion in Anspruch: In den Jahren 2014 und 2015 recherchierte ich, von 2016 bis Anfang 2022 widmete ich mich dem Abfassen dieser Arbeit. Ich schrieb neben einem Vollzeitberuf und dem Familienleben mit einem Kleinkind. Das „Tal der Tränen“ – jenen Schrecken, der auf den von mir besuchten Doktorandenkreisen meines Betreuers Prof. em. Dr. Eckhard Jesse immer mal wieder durchschimmerte – durchschritt ich mehrfach. Die Doktorarbeit zu einem Ende zu führen – das erschien mir phasenweise als ausgemachter Wahnsinn. Dass ich es geschafft habe, verdanke ich vor allem einer Handvoll Menschen, die ich im Folgenden besonders würdigen möchte. Mein Dank gilt Eckhard Jesse. Beherzt gab er mir Ansporn, wenn es Not tat, ja gar bitter nötig war – sozusagen im richtigen Moment. Er verstand es, das Ziel beharrlich vor Augen zu führen. Sagte er während meiner Recherchen (jedenfalls sinngemäß): „Du musst etwas zu Papier bringen“, hieß es während der Schreibphase (dies ebenfalls sinngemäß): „Du musst fertig werden.“ Nicht nur auf seinen Doktorandenkreisen, sondern auch bilateral ließ er mir wertvolle Anregungen zukommen, die diese Arbeit ungemein bereichert haben. Danken möchte ich Eckhard Jesse zudem für seine Rolle als Gutachter meiner Doktorarbeit. Diesen Dank spreche ich gleichermaßen dem zweiten Gutachter aus: Prof. Dr. Alexander Gallus. Ich bedanke mich bei meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus dem Doktorandenkreis Eckhard Jesses. Ausnahmslos boten die Treffen einen außerordentlichen inhaltlichen Gewinn: Schwächen der eigenen Ar­ beit wurden präzise erkannt, zugleich konstruktive Vorschläge als Verbes­ serung unterbreitet. Der persönliche Austausch lieferte unschätzbare Moti­ vation – insbesondere entlang der Erkenntnis, mit den Herausforderungen einer „berufsbegleitenden“ Promotion nicht allein zu sein. Von ganzem Herzen danken möchte ich ferner meinem Trauzeugen, meinen Eltern, meinem Bruder sowie meinen Schwiegereltern. Nicht in Worte fassen lässt sich der moralische Beistand, den ihr während der zurückliegenden acht Jahre zu leisten bereit wart. Die von meinen Schwie­ gereltern angebotene Entlastung für unser Familienleben erschien und er­ scheint mir selbst- und beispiellos – sie verdient in jeder Hinsicht höchste Anerkennung.

7

Danksagung

Einen großen Dank aussprechen möchte ich schließlich meiner Frau: Du hast Höhen wie Tiefen der Promotion hautnah miterlebt, unheimlich viel gegeben, aber auch eingesteckt. Die Entbehrungen in unserem (Fami­ lien-)Leben, welche die Doktorarbeit zwangsläufig mit sich brachte, hätten wenige so lange – geradezu stoisch – akzeptiert. Deinen tagtäglichen Rück­ halt empfand ich zu keiner Zeit als Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Jedes Mal aufs Neue lernte ich ihn zu schätzen. Danken will ich ebenfalls meinem Sohn – die Zeit mir dir schuf einen wundervollen Ausgleich zu den Energien für die Dissertation. Unsere gemeinsamen Momente werden mir immer in Erinnerung bleiben. Ich bin stolz auf dich. Berlin im April 2022

8

Jan-Hinrick Pesch

Vorwort

Diese Mammutarbeit befasst sich mit den „Großen Drei“ im Bereich des deutschen Terrorismus. Der Verfasser Jan-Hinrick Pesch zielt dabei nicht auf die drei Generationen der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), sondern vielmehr auf die RAF, die „Bewegung 2. Juni“ mit den „Tupamaros West­ berlin“ und die „Revolutionären Zellen“, bekannt als „Feierabendterroris­ ten“. So manches Forschungsdesiderat schließt der Verfasser, sofern das ange­ sichts des abgeschotteten Verhaltens hiesiger Linksterroristen überhaupt möglich war. Nicht genug damit: Der Vergleich betrifft nicht nur die empirische Ebene, sondern ist auch theoriegeleitet in puncto Beziehun­ gen zwischen den Gruppen und der Bedingungsfaktoren (mit Blick auf Organisation und Strategie). Wenn hier die Ideologie aus dem bekannten Dreiklang der Extremismus- und Parteienforschung fehlt, hat das weniger pragmatische Gründe als vielmehr gut begründete inhaltliche. Die doppelt angelegte Leitfrage, mit Blick auf Beziehungen und mit Blick auf Bedingungsfaktoren, lautet wie folgt: „Welche Beziehungen bestanden zwischen den linksterroristischen Gruppen ‚Rote Armee Frak­ tion‘, ‚Tupamaros Westberlin‘/‚Bewegung 2. Juni‘ und ‚Revolutionäre Zel­ len‘ im gesamten Zeitraum ihres Bestehens, und welchen Bedingungsfak­ toren unterlag ihre jeweilige Interaktion“? Eine Vielzahl an sinnvollen Unterfragen wird aufgeworfen und schlüssig beantwortet. Was die Bezie­ hungen betrifft, untersucht Pesch nach Kooperation, Konkurrenz oder Konflikt, ebenso nach Wandel im Laufe der Zeit. Die Bedingungsfaktoren zielen auf das interne und externe extremistische Umfeld, sowie den hie­ sigen Staat. Wer das überaus anspruchsvolle Arbeitsprogramm studiert, kann kaum glauben, der Verfasser vermöge alles einzulösen. Die Kernkapitel 5 bis 7 sind jeweils chronologisch, systematisch und analog aufgebaut (Entstehung, Aktionsphase, Niedergang, Zusammenfas­ sung, Typologische Einordnung). Dieser Befund mitsamt einer typologi­ schen Einordnung bildet eine wesentliche Voraussetzung für Vergleiche. Und Beziehungen zu terroristischen Gruppen außerhalb Deutschlands bleiben nicht ausgespart. Selbst wer sich mit der komplexen Materie aus­ kennt, erfährt Neues, nicht zuletzt deshalb, weil der Verfasser nicht nur die Sekundärliteratur so systematisch wie minutiös ausgewertet hat, son­ dern auch Selbstzeugnisse von Terroristen (u.a. Michael Baumann, Peter-

9

Vorwort

Jürgen Boock, Karl-Heinz Dellwo, Birgit Hogefeld, Klaus Jünschke, HansJoachim Klein, Gerald Klöpper, Norbert Kröcher, Dieter Kunzelmann, Horst Mahler, Till Meyer, Rolf Pohle, Gabriele Rollnik, Margrit Schiller, Gerd‑Hinrich Schnepel, Volker Speitel, Sigrid Sternebeck, Lutz Taufer, Ingrid Strobl, Inge Viett, Christof Wackernagel). Die Kernaussagen lauten: Spielten Unterschiede in der Ideologie eine vernachlässigenswerte Rolle, traf das für die Organisation und die Strategie nicht zu. Die RAF war durch ein Top-Down-Modell gekennzeichnet, die „Revolutionären Zellen“, die ohnehin keine Einheit bildeten, hingegen lehnten ein solches mit ihren lose verbundenen Netzwerken ab. Die im Westen Berlins beheimatete „Bewegung 2. Juni“ siedelte dazwischen. Al­ lerdings vollzog sich im Laufe der Zeit ein Wandel, der sogar zu einer affinen Organisationsstruktur zwischen der RAF und den „Revolutionären Zellen“ führte. Bei der Strategie differierten ebenso diese beiden Gruppen stark. Sah die RAF außerhalb der Binnenwelt nur Feinde, knüpften die „Revolutionären Zellen“ an legale Aktivitäten an. Die „Bewegung 2. Juni“ lag wieder dazwischen. Und am Ende fiel das Revolutionsmodell der RAF mit dem der „Revolutionären Zellen“ zusammen. Wer das Werk studiert, erkennt eine mustergültige Systematik. Die Ar­ gumentationsstränge sind schlüssig abgeleitet, die Gedankengänge überaus nachvollziehbar formuliert. Von Schwafelei und Schwurbelei kann keine Rede sein. Zwar steht das Selbstverständnis der terroristischen Akteure im Vordergrund, aber damit ist keine apologetische Tendenz verbunden. Die Verschränkung zwischen dem theoretischen und dem empirischen Teil verdient höchstes Lob. Mit diesem Referenzwerk, das im Prinzip drei Bücher umfasst (zur Theorie und zur Methodik, zu den Beziehungen der drei terroristischen Gruppierungen untereinander, zu Organisation und Strategie als Bedin­ gungsfaktoren), hat sich Jan-Hinrick Pesch in die vorderste Reihe der Ter­ rorismusforscher geschrieben. Es ist ein Labsal, den ausgesprochen flüssig verfassten Text zu lesen. Uwe Backes, Alexander Gallus und Eckhard Jesse

10

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

17

1

21

Einleitung

1.1

Untersuchungsgegenstand

21

1.2

Problemstellung

29

1.3

Begriffsbestimmung 1.3.1 Grundsätzliches 1.3.2 Beziehung und Bedingungsfaktor 1.3.3 Gruppe 1.3.4 (Links-)Terrorismus

36 36 37 40 44

1.4

Forschungsstand 1.4.1 Grundsätzliches 1.4.2 Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren 1.4.3 Beziehungen des deutschen Linksterrorismus

57 57 60 70

1.5

Aufbau

78

2

Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

82

2.1

Darstellung existierender Typologien 2.1.1 Typologie nach Ely Karmon 2.1.2 Typologie nach Tricia Bacon 2.1.3 Typologie nach Christopher Daase 2.1.4 Typologie nach Assaf Moghadam

2.2

Bewertung und Anpassung der Typologien 2.2.1 Kritik an den Typologien 2.2.2 Modifizierte Typologie zu assoziativen Beziehungen 2.2.3 Typologie zu adversativen Beziehungen

96 96 103 114

Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

133

3 3.1

Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren 3.1.1 Bedingungsfaktoren nach Ely Karmon

82 82 85 89 90

133 133

11

Inhaltsverzeichnis

3.2

4

3.1.2 Bedingungsfaktoren nach Brian Phillips 3.1.3 Bedingungsfaktoren nach Tricia Bacon 3.1.4 Bedingungsfaktoren nach Vivian Hagerty

147 152 168

Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung 3.2.1 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu assoziativen Beziehungen 3.2.2 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu adversativen Beziehungen 3.2.3 Hypothesen

173

Methodik

173 186 194 196

4.1

Vergleiche 4.1.1 Grundsätzliches 4.1.2 Funktionen 4.1.3 Inhalte 4.1.4 Durchführung

196 196 197 201 203

4.2

Vergleichsschema 4.2.1 AGIKOSUW-Schema nach Armin Pfahl-Traughber 4.2.2 Anpassung des AGIKOSUW-Schemas

214 214 219

5

5.1

5.2

12

Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutionären Zellen“

229

Entstehung 5.1.1 „Außerparlamentarische Opposition“, Tod Benno Ohnesorgs, Attentat auf Rudi Dutschke (1965 bis 1968) 5.1.2 Anschläge auf Frankfurter Warenhäuser, Illegalität, Verhaftung Andreas Baaders (1968 bis Anfang 1970) 5.1.3 Befreiung Andreas Baaders, Rekrutierung, Propaganda (1970 bis 1972)

229

Aktionsphase 5.2.1 „Mai-Offensive“, Hungerstreiks, „Gruppe 4.2.“, Botschaftsbesetzung in Stockholm (1972 bis 1975) 5.2.2 „Haag/Mayer-Bande“, Selbstmord Ulrike Meinhofs, Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts, „Deutscher Herbst“ (1975 bis 1977)

254

229 235 241

254 278

Inhaltsverzeichnis

5.2.3 Wiederaufbau, Anschläge auf US-Militär, „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“, Verhaftungen (1978 bis 1982) 5.2.4 „Drei-Phasen-Konzept“, „Illegale Militante“, Zusammenarbeit mit „Action Directe“, Ermordung Edward Pimentals (1983 bis 1986) 5.2.5 Annäherung an die „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“, Anschlag auf Hans Tietmeyer, Hungerstreik, Ermordung Alfred Herrhausens (1987 bis 1989) 5.3

299 318

334

Niedergang 5.3.1 Zerfall des sowjetischen Hegemonialbereichs, Ermordung Detlev Karsten Rohwedders, „Kinkel‑Initiative“ (1989 bis 1992) 5.3.2 Gewaltverzicht, Richtungskampf, Angriff auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt (1992 bis 1993) 5.3.3 Polizeieinsatz in Bad Kleinen, Spaltung, Auflösungserklärung (1993 und danach)

342

5.4

Zusammenfassung

375

5.5

Typologische Einordnung

380

6

6.1

6.2

Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Revolutionären Zellen“

342 352 364

383

Entstehung 6.1.1 „Haschrebellen“, „Tupamaros Westberlin“, „Tupamaros München“ (1969 bis 1971) 6.1.2 „Verwechslungs-go-out“, „Rote Armee Fraktion“, Tod Georg von Rauchs (1971 bis 1972)

383

Aktionsphase 6.2.1 Ausstieg Michael Baumanns, Banküberfälle, Gefängnisausbrüche, Ermordung Ulrich Schmückers (1972 bis 1974) 6.2.2 Anschlag auf Günter von Drenkmann, Entführung Peter Lorenz‘, Flucht ins Ausland, Verhaftungen (1974 bis 1975)

406

383 395

406 416

13

Inhaltsverzeichnis

6.2.3 „Blamage von Berlin“, Ausbildung im Nahen Osten, Annäherung an die „Rote Armee Fraktion“, Entführung Walter Palmers‘ (1976 bis 1977) 6.3

433

Niedergang 6.3.1 „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“, Befreiung Till Meyers, Festnahmen in Bulgarien (1978) 6.3.2 Prozesse, Grabenkämpfe, Zusammenschluss mit der „Roten Armee Fraktion“ (1978 bis 1980)

449

6.4

Zusammenfassung

470

6.5

Typologische Einordnung

478

7

7.1

7.2

7.3

14

Geschichte der „Revolutionären Zellen“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

449 457

482

Entstehung 7.1.1 „Föderation Neue Linke“, „Black-PantherSolidaritätskomitee“, „Roter Stern“ (1968 bis 1970) 7.1.2 „Rote Hilfe“, „Rote Armee Fraktion“, Palästinenser (1971 bis 1973)

482

Aktionsphase 7.2.1 Rekrutierung, Kontakte zu „Carlos“, Fahrpreiskampagne, Überfall auf die OPEC (1973 bis 1975) 7.2.2 Unterstützung der PFLP-SOG, Geiselnahme in Entebbe, interner Richtungskampf, Verflechtungen mit der „Bewegung 2. Juni“ (1976 bis 1977) 7.2.3 Ausstieg Hans-Joachim Kleins, Gründung der „Roten Zora“, versehentliche Bombenexplosion in Heidelberg, Verbindungen zur OIR (1977 bis 1978) 7.2.4 Bezug auf Protestbewegungen, Bruch mit der OIR, Debatte anlässlich der „Hepp‑Kexel-Gruppe“, „Offensive“ der „Roten Zora“ (1979 bis 1983) 7.2.5 Abspaltung der „Roten Zora“, Agitation gegen Gewerkschaften, „F-Kampagne“, Kampagne gegen Biound Gentechnologie (1984 bis 1987)

504

Niedergang 7.3.1 „Aktion Zobel“, Tod Gerhard Albartus‘, interner Richtungskampf (1987 bis 1989)

621

482 493

504 536 569 586 606

621

Inhaltsverzeichnis

7.3.2 Umbrüche im Ostblock, personelle wie logistische Schwierigkeiten, öffentlicher Richtungskampf (1990 bis 1992) 7.3.3 Rückkehr der „Roten Zora“, „Patriarchat“ als neues Feindbild, Fortsetzung der „F‑Kampagne“ (1993 bis 1995) 7.3.4 Auflösung, Festnahmen, Prozesse (1995 und danach)

631 643 648

7.4

Zusammenfassung

650

7.5

Typologische Einordnung

657

8

Organisation als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“

660

8.1

Struktureller Aufbau 8.1.1 Befürwortung zellulärer Organisation 8.1.2 Distanzierung von der lateinamerikanischen Praxis 8.1.3 Rückkehr zum Ausgangspunkt 8.1.4 Verschmelzung zweier Modelle

660 660 690 721 747

8.2

Gruppen- und Aktionsstärke 8.2.1 Helfen und helfen lassen 8.2.2 Internationalisierung der Logistik 8.2.3 Rückgang der Abhängigkeiten

770 770 781 807

8.3

Zusammenfassung

819

9

9.1

Strategie als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ Selbstverständnis 9.1.1 Sozialrevolutionäre Avantgarde 9.1.2 Führungsansprüche der ersten deutschen linksterroristischen Gruppen 9.1.3 „Populäre Guerilla“ als Gegenentwurf 9.1.4 Annäherung linksterroristischer Selbstbilder 9.1.5 Anerkennung der Erfolglosigkeit tradierter Rollenverständnisse

828 828 828 832 860 873 891

15

Inhaltsverzeichnis

9.2

9.3

Internationalismus 9.2.1 Konservierung grenzübergreifender Solidarität der „68er-Bewegung“ 9.2.2 Konflikt um den Führungsanspruch der Dritten Welt 9.2.3 Divergierende Bedeutung internationaler Kontakte 9.2.4 Alter und neuer Internationalismus im Wettstreit 9.2.5 Internationale Verbundenheit in der Krise

898

Revolutionsmodell 9.3.1 Lateinamerikanische Landguerilla und ihr Scheitern 9.3.2 Adaption der Stadtguerilla im linksterroristischen Milieu Westberlins 9.3.3 Aushöhlung der Theorien zur urbanen Guerilla 9.3.4 „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“ 9.3.5 Erneuter Versuch einer strategischen Korrektur 9.3.6 Diadochenkampf zwischen „Populisten“ und „Antiimperialisten“ 9.3.7 Neubestimmungen 9.3.8 Angleichung der Strategien

967 967

898 910 926 955 964

976 985 1009 1039 1062 1078 1106

9.4

Gewaltverständnis 9.4.1 Parallele Steigerung der Gewalt 9.4.2 „Mai-Offensive“ als Scheidepunkt 9.4.3 Doppelte Standards 9.4.4 Auflösung der Widersprüche 9.4.5 Zunehmende Parallelen

1119 1119 1137 1150 1164 1179

9.5

Zusammenfassung

1196

10 Schluss

1216

10.1 Zusammenfassung 10.1.1 Entwicklung der Beziehungen 10.1.2 Bedingungsfaktoren der Beziehungen

1216 1216 1219

10.2 Offene Fragen

1224

11 Quellen- und Literaturverzeichnis

1227

11.1 Quellen

1227

11.2 Literatur

1239

16

Abkürzungsverzeichnis

AD

Action Directe

ADi

Action Directe international

ADn

Action Directe national

AEG

Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft

AGIKO­ SUW

Aktivisten, Gewaltintensität, Ideologie, Kommunikation, Or­ ganisation, Strategie, Umfeld, Wirkung

ALN

Ação Libertadora Nacional

APO

Außerparlamentarische Opposition

AIZ

Antiimperialistische Zelle

AQ

al Qaida

AQI

al Qaida im Irak

B2J

Bewegung 2. Juni

BAFL

Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge

BI

Bürgerinitiative

BKA

Bundeskriminalamt

BR

Brigate Rosse

BR-PCC

Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente

BR-PG

Brigate Rosse – Partito della Guerriglia del Proletariato Metropolitano

BR-UCC

Brigate Rosse – Unione dei Communisti Combattenti

CCC

Cellules Communistes Combattantes

CDU

Christlich Demokratische Union

CSU

Christlich-Soziale Union

DDR

Deutsche Demokratische Republik

DNS

Desoxyribonukleinsäure

DST

Direction de la surveillance du territoire

ENLF

Eelam National Liberation Front

EPRLF

Eelam People’s Revolutionary Liberation Front

EROS

Eelam Revolutionary Organisation of Students

17

Abkürzungsverzeichnis

ETA

Euskadi Ta Askatasuna

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

FARC

Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia

Fatah

Harakat al Tahrir al Watani al Filastini

FAU

Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union

FDP

Freie Demokratische Partei

FNL

Föderation Neue Linke

FVV

Frankfurter Verkehrsverbund

GRAPO

Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre

GSG 9

Grenzschutzgruppe 9 des Bundesgrenzschutzes

GSPC

Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat

GTD

Global Terrorism Database

GUPS

Generalunion Palästinensischer Studenten

Hamas

Harakat al Muqawama al Islamiyya

HS

Hungerstreik

IBM

International Business Machines

IGM

Industriegewerkschaft Metall

info BUG

Info Berliner Undogmatischer Gruppen

INLA

Irish National Liberation Army

Interpol

Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation

IRA

Irish Republican Army

IS

Islamischer Staat

ISI

Islamischer Staat im Irak

ISIS

Islamischer Staat im Irak und in Syrien

ITT

International Telephone & Telegraph

JAL

Japan Airlines

JaN

Jabhat al Nusra

JFaS

Jabhat Fath al Sham

JN

Junge Nationalisten

JRA

Japanische Rote Armee

JVA

Justizvollzugsanstalt

KG

Kommanditgesellschaft

18

Abkürzungsverzeichnis

KSV

Kommunistischer Studenten Verein

KPD/AO

Kommunistische Partei Deutschlands/Aufbauorganisation

LeT

Lashkar-e-Taiba

LTTE

Liberation Tigers of Tamil Eelam

LVF

Loyalist Volunteer Force

MAN

Maschinenfabrik Augsburg‑Nürnberg

MfS

Ministerium für Staatssicherheit

MIR

Movimiento de Izquierda Revolucionaria

MLN

Movimiento de Liberación Nacional

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NPD

Nationaldemokratische Partei Deutschlands

NSU

Nationalsozialistischer Untergrund

OECD

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent­ wicklung

OIR

Organisation Internationaler Revolutionäre

OIRA

Official Irish Republican Army

OPEC

Organization of the Petroleum Exporting Countries

PCE(r)

Partido Comunista de España (reconstituido)

PFLP

Popular Front for the Liberation of Palestine

PFLP-EO

Popular Front for the Liberation of Palestine – External Opera­ tions

PFLP-GC

Popular Front for the Liberation of Palestine – General Com­ mand

PFLP-SC

Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Com­ mand

PFLPSOG

Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Opera­ tions Group

PIRA

Provisional Irish Republican Army

PKK

Partiya Karkerên Kurdistanê

PLO

Palestine Liberation Organization

PLOTE

People’s Liberation Organisation for Tamil Eelam

RAF

Rote Armee Fraktion

RGO

Revolutionäre-Guerilla-Opposition

19

Abkürzungsverzeichnis

RH

Rote Hilfe

RK

Revolutionärer Kampf

RZ

Revolutionäre Zelle(n)

RZo

Rote Zora

SAG

Sozialistische Arbeitsgruppen

SDS

Sozialistischer Deutscher Studentenbund

SEL

Standard Elektrik Lorenz

SPD

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SPK

Sozialistisches Patientenkollektiv

TELO

Tamil Eelam Liberation Organisation

TKB

Terrorism Knowledge Base

TM

Tupamaros München

TW

Tupamaros Westberlin

UDA

Ulster Defence Association

UdSSR

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

UVF

Ulster Volunteer Force

VRR

Verkehrsverbund Rhein-Ruhr

WAA

Wiederaufbereitungsanlage

WUO

Weather Underground Organization

20

1 Einleitung1

1.1 Untersuchungsgegenstand Sie sind ein essentielles Element des Weber‘schen „sozialen Handelns“: freundschaftlich-kooperative und konfliktäre Beziehungen.2 Derartige – vielfältige – Verhältnisse können verschiedenste Inhalte und Akteure be­ rühren. Sie ergeben sich im interpersonellen Austausch, in der Interakti­ on zwischen Institutionen und gesellschaftlichen Formationen und im internationalen Kontext, beispielsweise zwischen Staaten.3 Und sie reichen vom emotionalen Beistand und Konkurrieren in beruflichen Eignungs­ prüfungen über historisch gewachsene Verbundenheit und Animositäten im Verhältnis von Sportvereinen oder Regierungs- und Oppositionspar­ teien bis hin zu wirtschaftlichen Allianzen wie diplomatischen Verwer­ fungen auf weltpolitischer Bühne. Assoziatives und adversatives Agieren und Reagieren durchziehen menschliches Miteinander – sie sind sozusa­ gen „Grundmuster menschlichen Verhaltens“4. Es nimmt daher nicht wunder, wenn positive und negative Beziehungen auch im Terrorismus zu beobachten sind. Strukturelle Verschmelzungen, temporäre Zweckge­ meinschaften und/oder grundsätzliche Solidarität – all dies ergibt sich hier ebenso wie rein verbal geführte Auseinandersetzungen, implizites und

1 Die Arbeit folgt den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung. Zitate aus älte­ ren Werken wurden entsprechend angeglichen. Bei Zitaten aus Schriften der hier untersuchten terroristischen Gruppen und ihrer Aktivisten, die diese ausschließ­ lich in Kleinbuchstaben abfassten, wird aus Gründen der Lesbarkeit auf ein Kennt­ lichmachen der fehlerhaften Groß- und Kleinschreibung verzichtet. Anderweitige Fehler in solchen Zitaten zeigt diese Arbeit hingegen an. Ferner bezieht der Autor männliche Personen- und Funktionsbeschreibungen, wie zum Beispiel „Aktivis­ ten“, „Verfasser“ und „Autoren“, gleichermaßen auf Frauen wie auf Männer. 2 „‚Handeln‘ soll […] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerli­ ches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ Weber 1980, S. 1. Zu Max Webers Beziehungsbegriff vgl. ebd., S. 13-14. 3 Vgl. Hillmann 2007, S. 99. 4 Fuchs-Heinritz 1994c, S. 371.

21

1 Einleitung

explizites Rivalisieren um Ressourcen und gewaltsam ausgetragene Kon­ troversen ideologischer oder strategischer Natur. Wer dem Terrorismusfor­ scher Brian Phillips folgt, der die Beziehungen von insgesamt 622 terroris­ tischen Akteuren aus dem Zeitraum von 1987 bis 2005 in einer quantitativ angelegten Untersuchung auswertete, sieht solche Verhältnisse als gängige Erscheinungen: „Overall, both cooperative and adversarial ties occur regularly, involve a broad variety of groups, and substantially affect the involved groups and other actors. During the past few decades, almost half of terrorist groups have had an ally, and around 15 percent have had an adver­ sary.”5 Für Phillips Schlussfolgerung spricht der kursorische Blick in die religiös begründete – genauer: in die auf islamische Religionsinhalte rekurrierende – Spielart des Terrorismus, welche die ersten Dekaden des 21. Jahrhun­ derts wohl prägte wie keine andere Form terroristischer Gewalt.6 Insbe­ sondere die Geschehnisse auf dem „Jihad-Schauplatz“7 Syrien unterstrei­ chen die Aktualität der Interaktion zwischen terroristischen Akteuren.8 Während des im Jahre 2012 ausgebrochenen Bürgerkriegs etablierten sich in Syrien mit dem „Islamischen Staat“ (IS)9 und der „Front für die Er­ oberung der Levante“ (gemeinhin bekannt unter ihrer arabischen Selbst­

5 Phillips 2012, S. 4. 6 Vgl. Hoffman 2006, S. 82-88; Waldmann 2011, S. 135; Neumann 2015, S. 49; Man­ newitz/Thieme 2020, S. 26. 7 Bundesamt für Verfassungsschutz 2014. 8 Sowohl der „Islamische Staat“ als auch die „Jabhat Fath al Sham“ war ursprünglich eine klassische terroristische Gruppe. Im Zuge der Auflösung staatlicher Gewalt in weiten Teilen Syriens und des Irak während der 2010er Jahre entwickelten sie sich zu Mischformen, welche sowohl Elemente des Terrorismus als auch solche des Guerillakrieges kombinierten. Vgl. hierzu Unterkapitel 1.3.4. 9 Der Jordanier Abu Musab al Zarqawi schloss sich im Jahre 2004 mit seiner Gruppe „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ formal der „al Qaida“ an und gab ihr den Namen „al Qaida im Zweistromland“ (alternativ auch betitelt als: „al Qaida in Mesopotamien“ und „al Qaida im Irak“). 2006 erfolgte das Umbenennen in „Isla­ mischer Staat im Irak“. Ab 2013 bezeichnete sich die Gruppe als „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“. Bis Juni 2014 war sie ebenfalls unter „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ und „Islamischer Staat im Irak und Großsyrien“ bekannt. Mit seiner Erklärung vom 29. Juni 2014 verzichtete Abu Bakr al Baghdadi auf eine geographische Eingrenzung im Titel der von ihm geführten Gruppe – er versah sie mit dem Namen „Islamischer Staat“. Vgl. Seidensticker 2014, S. 99-100; Stern/ Berger 2016, S. 8, 21.

22

1.1 Untersuchungsgegenstand

bezeichnung „Jabhat Fath al Sham“, JFaS)10 zwei sunnitisch-jihadistische Organisationen, die beide formal dem Netzwerk „al Qaida“ (AQ) angehört hatten. Die Gründungsmitglieder der JFaS, darunter der Syrer Abu Muhammad al Jaulani, zählten ursprünglich zu dem Vorläufer des IS – also zu der Gruppe „Islamischer Staat im Irak“ (ISI). Im Auftrag des ISI‑Anführers Abu Bakr al Baghdadi waren sie im August 2011 vom Irak aus nach Syri­ en eingereist, um dort den islamistisch-terroristischen Widerstand im auf­ keimenden innersyrischen Konflikt aufzubauen. Binnen weniger Monate wurde dieses Ziel unter der Regie al Jaulanis erreicht. Im Januar 2012 trat seine Gruppe mit einer Gründungserklärung an die Öffentlichkeit. Sie gab sich den Namen „Unterstützungsfront für das syrische Volk“ (in Kurzform im Arabischen: „Jabhat al Nusra“, JaN).11 Dem Zirkel sei es gelungen, so Peter Neumann, vor allem unter Sunniten im nordwestlichen Teil Syriens Popularität zu gewinnen.12 Weitere Unterstützung habe sie sich infolge ihrer pragmatisch zugeschnittenen Politik der Zusammenarbeit sichern können, welche sie gegenüber anderen Akteuren der syrischen Opposition (vor allem im Verhältnis zur sogenannten Islamischen Front) vertrat.13 Gerade Letztes stand in starkem Kontrast zu der vom ISI praktizierten Strategie im Irak: Durch wahllose und unbegrenzte Gewalt gegen Schiiten suchte diese einen konfessionell geprägten Bürgerkrieg auszulösen.14 Sicherlich nicht aus einem sich sukzessive mit al Jaulanis Erfolgen in Syrien entwickelnden „unheimlich[en]“15 Gefühl, sondern wohl eher aus machtpolitischen Erwägungen heraus16 verkündete al Baghdadi am 8. April 2013 – ohne vorherige Absprache mit Muhammad al Jaulani – den Zusammenschluss des ISI mit der JaN.17 Die so formierte Organisati­ on nannte er „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS).18 Al Jaulanis 10 Die Gruppe um Abu Muhammad al Jaulani proklamierte im Januar 2012 ihre Gründung unter der Selbstbezeichnung „Jabhat al Nusra“. Am 28. Juli 2016 machte al Jaulani ihren neuen Namen öffentlich: „Jabhat Fath al Sham“. Zu­ gleich verkündete er die Trennung von „al Qaida“, deren Anführer Aiman al Zawahiri er im Frühjahr 2013 erneut die Treue geschworen hatte. Vgl. Neumann 2015, S. 168; Joscelyn 2016. 11 Vgl. Steinberg 2015, S. 89; Weiss/Hassan 2015, S. 149-150. 12 Vgl. Neumann 2015, S. 80. 13 Vgl. Steinberg 2014, S. 6; Neumann 2015, S. 171-172; Stern/Berger 2016, S. 42. 14 Vgl. Steinberg 2015, S. 54-58, 104; Moghadam 2017, S. 153, 215-216. 15 Neumann 2015, S. 81. 16 Vgl. Steinberg 2014, S. 6. 17 Vgl. Neumann 2015, S. 82. 18 Vgl. Weiss/Hassan 2015, S. 183-184.

23

1 Einleitung

ablehnende Reaktion folgte prompt. Auch Aiman al Zawahiri – Anführer der „al Qaida“, zu der sich der „Islamische Staat“ und die „Jabhat al Nusra“ zu diesem Zeitpunkt noch zugehörig fühlten – äußerte seinen Unmut und plädierte für den ursprünglichen geographischen Aktionsradius des ISI im Irak und der JaN in Syrien. Allen Widerständen von al Jaulani und al Zawahiri zum Trotz schuf der Nukleus um al Baghdadi operative Struktu­ ren auf syrischem Boden.19 In Syrien schwelte daraufhin innerhalb der sunnitisch‑jihadistischen Opposition ein Konflikt, welcher im Januar 2014 in gewaltsamen Zusammenstößen beider Akteure mit mehreren Hundert Toten kulminierte. Endgültig wurde der Bruch, als al Zawahiri im darauf folgenden Monat den Ausschluss des von al Baghdadi geführten ISIS aus dem Netzwerk „al Qaidas“ verkündete.20 Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten können nicht nur gra­ vierende Auswirkungen auf die Beteiligten selbst haben, wie das Beispiel des dyadischen Verhältnisses des „Islamischen Staates“ und der „Jabhat al Nusra“ zeigte: Beide sahen sich auch mit personellen Verlusten konfron­ tiert, die sich aus der mit Gewalt ausgefochtenen Rivalität ergaben. Vernet­ zen sich Terroristen, so kann dies für die von ihnen bekämpften Zielgrup­ pen erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen.21 Diese Kausalität legten Victor Asal und Karl Rethemeyer nahe. Beide erkannten anhand einer statistischen Untersuchung zu 395 terroristischen Akteuren, welche im Zeitraum vom 1. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 200522 auftraten, eine Reziprozität zwischen der Vernetzung einer terroristischen Entität mit Gleichgesinnten und der Anzahl der durch ihre Anschläge getöteten Perso­ nen. Ausgehend von dieser Erkenntnis formulierten Asal und Rethemeyer die These, der Grad der Verflechtung bestimme – neben anderen Faktoren, wie beispielsweise der ideologische Einschlag oder die Größe ihres Zirkels –, welchen Schaden Terroristen durch Gewalttaten erreichen könnten.23 Ganz ähnliche Effekte erzielen offensichtlich adversative Beziehungen im Terrorismus, wobei auch hier im Regelfall spezifische weitere Faktoren (zum Beispiel: Motivation der Gewalt durch das Ziel nationalistischer Emanzipation, anhaltende „Erfolglosigkeit“ terroristischer Aktionen „kon­ ventioneller“ Art, Bereitschaft in Teilen der Bevölkerung zur Eskalation

19 20 21 22 23

24

Vgl. Steinberg 2014, S. 6. Vgl. Neumann 2015, S. 169. Vgl. Moghadam 2017, S. 9. Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 3. Vgl. ebd., S. 20-21. Ähnlich Horowitz/Potter 2011, S. 32.

1.1 Untersuchungsgegenstand

der Gewalt) gegeben sein müssen.24 Konkurrieren terroristische Akteure um dieselben Anhänger und Ressourcen, wird offenbar ein Kreislauf wahr­ scheinlich, in dem sich die beteiligten Entitäten zu überbieten versuchen. Dieses Überbieten folge der Logik, vermittels immer brutalerer Gewaltakte Aufmerksamkeit und Sympathie im unterstützenden Umfeld zu akquirie­ ren.25 Verheerende Gewaltformen – darunter Selbstmordanschläge – seien die Folge. Entsprechende Entwicklungen soll es, so Mia Bloom, im Nah­ ost-Konflikt und dem zwischen den „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ (LTTE) und der Zentralregierung in Colombo geführten Bürgerkrieg auf Sri Lanka gegeben haben.26 Angesichts der Häufigkeit einer Kooperation oder eines Konfliktes zwi­ schen terroristischen Akteuren und der potentiellen oder tatsächlichen Konsequenzen hielt in der angelsächsischen Forschungsgemeinde zum Terrorismus die Einsicht Einzug, die sich zwischen Terroristen ergebenden Beziehungen stärker als bislang in all ihren Facetten aufzuarbeiten und zu erklären. Dies geschieht nicht nur um des wissenschaftlich motivierten Verstehens und Theoretisierens willen, sondern immer auch mit Blick auf die sicherheitspolitische Praxis der von Terrorismus bedrohten Staa­ ten.27 Insbesondere etwaige quantitative wie qualitative Steigerungen in terroristischen Gewaltkampagnen, welche einer Interaktion ihrer Urheber folgen, unterstreichen die Notwendigkeit, Genese, Struktur und Funkti­ onslogik der Beziehungen im Terrorismus eingehend zu beleuchten. Hier­ aus lassen sich wichtige Implikationen im Hinblick auf Antworten und Interventionsmöglichkeiten ableiten, die die von Terroristen angegriffenen Gesellschaften, mehr noch die sie schützende Sicherheitsarchitektur finden und ausgestalten können, um positive und negative Verhältnisse zwischen Entitäten des Terrorismus zu durchbrechen. Als sicherheitspolitische Emp­ fehlungen werden in der Wissenschaft bereits das verstärkte (nachrich­ tendienstliche) Aufklären kooperativer Verbindungen,28 das Identifizieren und Ausnutzen ihrer Schwachpunkte und Nachteile durch verdeckte Exe­ kutivmaßnahmen und Gegenpropaganda29 sowie intensivere internationa­ le Zusammenarbeit30 betont und diskutiert.

24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Bloom 2005, S. 1, 191-192. Vgl. Waldmann 2011, S. 19; Neumann 2015, S. 11, 168, 179, 184. Vgl. Bloom 2005, S. 29-31, 45. Vgl. Hagerty 2016, S. 18-19. Vgl. Horowitz/Potter 2011, S. 33; Phillips 2014, S. 345. Vgl. Bacon 2013, S. 757-759; Moghadam 2015, S. 25. Vgl. Bacon 2014, S. 19-20; Moghadam 2017, S. 270.

25

1 Einleitung

Wer sich als Wissenschaftler an das Untersuchen der Beziehungen zwi­ schen terroristischen Kräften begibt, erblickt indes nicht nur die Praxisnä­ he seines Untersuchungsgegenstandes. Überdies sieht er sich alsbald einer Hürde gegenüber, welche sich aus dem genuinen Wesen des Terrorismus als eine „Kampfstrategie relativ kleiner und ‚schwacher‘ Gewaltverbände“31 ergibt: die von Terroristen praktizierte Abschottung und Klandestinität.32 Zum Schutz vor staatlichem Verfolgungsdruck und repressiven Maßnah­ men scheuen sie keine Mühen, um Einblicke in das Innenleben, die Entscheidungen und Kontakte ihrer jeweiligen Gruppe unmöglich zu machen. Folglich sind Informationen zu Art, Ursachen und Stand der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren selten in einem Maß ver­ fügbar, das einen freundschaftlich-kooperativen oder adversativen Konnex mit Gleichgesinnten sowie dessen Fundament aus der Sicht der ihn bestim­ menden und prägenden Terroristen, ergo anhand ihrer Binnenperspektive dar­ stellt.33 Wesentlich häufiger ergibt sich das Wissen um diese Verhältnisse aus der distanzierten Beobachterperspektive, die ausschließlich außenwirksa­ me Handlungen (zum Beispiel: Anschläge und Propagandaaktionen) ter­ roristischer Formationen sowie die daraus ersichtlich werdenden Schnitt­ mengen und Differenzen zu ideologischen und strategischen Positionen anderer terroristischer Entitäten wahrnimmt. Ob die so identifizierten Gemeinsamkeiten und Unterschiede tatsächlich – und falls ja, in welche Richtung sie – die Verhältnisse der in Augenschein genommenen Akteure beeinfluss(t)en, bleibt dabei allzu häufig unklar. Es bedarf somit einiger Anstrengung, um ergiebige Untersuchungsobjekte ausfindig zu machen, mit denen sich – gestützt auf Aussagen ihrer Protagonisten – belastba­ re theoretische Annahmen zur Interaktion zwischen terroristischen Per­ sonenzusammenschlüssen abstrahieren lassen. Diese Möglichkeit bieten grundsätzlich eher historisch abgeschlossene als aktuellere Fallkonstellatio­ nen an, da jene eine höhere Quellen- und Materialdichte infolge eines be­ reits unternommenen strafprozessualen, medialen und wissenschaftlichen Aufarbeitens erwarten lassen. Der Schlüssel zum Verständnis von Bezie­ hungen, die sich zwischen terroristischen Akteuren ergeben, liegt somit in ihrer weit zurückreichenden retrograden Untersuchung. Selbstredend müssen historisch ältere Fälle bei Eintreten einer adäquaten Quellenlage fortwährend mit historisch jüngeren Fällen abgeglichen werden, können

31 Waldmann 2011, S. 15. Ähnlich Rabert 1995, S. 17; Neidhardt 2006, S. 126. 32 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 322; Karmon 2005, S. 49, 53; Horowitz/Potter 2011, S. 11; Bacon 2013, S. 74, 760. 33 Ähnlich Hagerty 2016, S. 3.

26

1.1 Untersuchungsgegenstand

doch nur so die Gültigkeit bereits aufgestellter Theorien überprüft und korrigierende wie auch ergänzende Annahmen formuliert werden. Sucht man unter diesem Paradigma in der Historie terroristischer Gewalttaten nach Forschungsgegenständen, fällt die Entscheidung rasch zugunsten des deutschen Terrorismus aus. Vor allem das nähere, wissen­ schaftlich geprägte Beleuchten der Beziehungen deutscher linksterroristi­ scher Gruppen verspricht einen veritablen Ertrag.34 Diese Annahme stüt­ zen drei Beobachtungen, welcher inhaltlicher beziehungsweise forschungs­ taktischer Natur sind: 1. Das breite Kontaktspektrum: Die „Großen Drei“35 des deutschen Links­ terrorismus, das heißt die nach Mai 197036 formierte „Rote Armee Fraktion“ (RAF), die im Januar 197237 im Wesentlichen ohne substan­ tielles Neugründen aus den „Tupamaros Westberlin“ (TW) entstandene „Bewegung 2. Juni“ (B2J)38 und die sich ab 1972/197339 gezielt entwi­ ckelnden „Revolutionären Zellen“ (RZ), waren buchstäblich kontakt­ freudig: Sie bauten alle Verbindungen zu terroristischen und anderen Akteuren im In- und Ausland auf wie aus. Diese Interaktionen gestal­ teten sich divers. Sie bewegten sich – je nach Gruppe – auf sehr unter­ schiedlichem Niveau und zeitigten differente Ergebnisse. 2. Die wechselhaften Kontakte untereinander: RAF, TW/B2J und RZ gin­ gen aus dem Zerfall der studentisch geprägten „68er-Bewegung“ her­ 34 So auch Daase 2006, S. 908. 35 Wörle 2008b, S. 257. 36 Die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft am 14. Mai 1970 gilt gemeinhin als Gründungsdatum der RAF. Vgl. Jesse 1996, S. 201-202; Wunschik 1998, S. 233; Jesse 2001, S. 185; Jander 2008, S. 145; Straßner 2008b, S. 218; Jesse 2017, S. 190; Gallus 2018, S. 46; Straßner 2018, S. 431; Aust 2020, S. 34; Manne­ witz/Thieme 2020, S. 14. 37 In wissenschaftlichen Abhandlungen zur „Bewegung 2. Juni“ besteht keine Si­ cherheit hinsichtlich des exakten Zeitpunkts, an dem sich die Gruppe konstitu­ ierte. Vgl. Korndörfer 2008, S. 247; Pfahl-Traughber 2014a, S. 170. Ralf Reinders, einer der Akteure der B2J, legte das Gründungsdatum auf Januar 1972 fest. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 39. 38 Hierbei handelt es sich um eine vom Autor gewählte Abkürzung, welche Wort­ wiederholungen im Text reduzieren soll. Sie lehnt sich an das im angelsächsi­ schen Raum beanspruchte Akronym „M2J“ (für: „Second of June Movement“) an. Vgl. Karmon 2005, S. 52. 39 Angaben dazu, wann die „Revolutionären Zellen“ aufgebaut wurden, sind – ebenso wie bei der „Bewegung 2. Juni“ – unscharf. In der Regel wird angenom­ men, dass sich die RZ 1972/1973 formierten. Vgl. Backes 1991, S. 85; Rabert 1995, S. 198; Wörle 2008b, S. 258.

27

1 Einleitung

vor; sie waren in demselben geographischen Raum (Bundesrepublik Deutschland) und in derselben Zeitspanne (Anfang der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre) präsent, wobei die „Bewegung 2. Juni“ im Jahre 1980 zerbrach. Ihre Gründer kannten sich teilweise persönlich.40 Anders als im deutschen Rechtsterrorismus, dessen „Gruppen […] in aktiver […] Form meist kaum länger als ein halbes Jahr“41 auftraten und der demnach bislang ein paralleles Agieren mehrerer Entitäten während eines längeren Zeitraums nicht erlebte,42 kam es immer wie­ der zu einem Austausch zwischen den drei linksterroristischen Grup­ pen. Dieser förderte allerdings nicht einen unter anderem aufgrund der erheblichen ideologischen Übereinstimmungen zwangsläufig wir­ kenden Zusammenschluss, sondern begründete vielmehr ein wechsel­ haftes Verhältnis. Ihre untereinander bestehenden Verbindungen kenn­ zeichneten sich durch „Phasen von Annäherung und Distanz“43, das heißt: Neben adversativen Beziehungen entwickelten sich zwischen den Gruppen Kontakte, welche einer engeren Kooperation dienlich sein sollten. 3. Die ausgedehnte (Primär-)Quellenlage: Zwar ist es richtig, dass das For­ schen zum deutschen Linksterrorismus in einigen Feldern noch in den Kinderschuhen steckt. Zutreffend ist dies insbesondere im Hinblick auf das wissenschaftliche Aufarbeiten der Genese, der Aktivitäten und des Zerfalls der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“.44 Es existiert aber mittlerweile ein annehmba­ rer Fundus an Primärquellen, der sowohl an die Öffentlichkeit gerich­ tete Erklärungen der Gruppen als auch interne Diskussionspapiere, Aussagen vor staatlichen Stellen (Polizei, Gerichte) und autobiographi­ sche Schilderungen enthält.45 Diesem Textkorpus lassen sich zahlreiche Aussagen der damals aktiven Terroristen zum einen zur Interaktion zwischen der RAF, der TW/der B2J und den RZ, zum anderen zu deren Vernetzungen mit Gleichgesinnten im In- und Ausland entnehmen. Er ermöglicht, die Binnenperspektive der Akteure unter besonderer

40 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592-593; Diewald-Kerkmann 2009, S. 32. 41 Pfahl-Traughber 2019, S. 249. 42 Zur Geschichte des deutschen Rechtsterrorismus vgl. Rabert 1995, S. 272-317; Pfahl-Traughber 2012a, S. 63‑70; Kriskofski 2013, S. 215-226; Gräfe 2017, S. 79-221; Pfahl-Traughber 2019, S. 239-293. 43 Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. 44 Vgl. Straßner 2008a, S. 32; Pfahl-Traughber 2014a, S. 10. 45 Ähnlich Schwibbe 2013, S. 14-15.

28

1.2 Problemstellung

Berücksichtigung ihrer Sympathien und Antipathien im Umgang mit „Mitstreitern“ en detail nachzuzeichnen. Während die Kontakte des deutschen Linksterrorismus in das Ausland bereits in der bundesrepublikanischen und in der angelsächsischen „scien­ tific community“ größere Aufmerksamkeit erfahren46 und als Grundlage für das Aufstellen theoretischer Annahmen zu Auslösern beziehungswei­ se Triebkräften terroristischer Beziehungen gedient haben,47 harrt die Interaktion zwischen den Akteuren des deutschen Linksterrorismus ihrer eingehenden Untersuchung. Sowohl in der deutschen als auch in der in­ ternationalen Terrorismusliteratur fanden national begrenzte Beziehungen zwischen Terroristen derselben Provenienz bislang kaum Berücksichtigung. Selbiges ist für konfliktäre Kontakte zu konstatieren, die sich unter ihnen entwickeln können. 1.2 Problemstellung Den inhaltlichen Schwerpunkt dieser Arbeit gibt die folgende Leitfrage wieder: Welche Beziehungen bestanden zwischen den linksterroristischen Gruppen „Rote Armee Fraktion“, „Tupamaros Westberlin“/„Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionäre Zellen“ im gesamten Zeitraum ihres Bestehens, und welchen Bedingungsfaktoren unterlag ihre jeweilige Interaktion? Diese Fragestellung deckt zwei Forschungsgegenstände ab, die unter­ schiedlich zu bearbeiten sind: – erstens die Art und Weise der wechselseitig bestimmten Verhältnisse unter den bedeutendsten Gruppen des deutschen Linksterrorismus in der Periode von Anfang der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre und – zweitens die Voraussetzungen und Ursachen, mit denen sich die spezifi­ sche Art und Weise ihrer Beziehungen erklären lassen. Während Erstes deskriptiv – unter typlogischem Einordnen – ermittelt werden kann, bleibt Letztes einem tiefer gehenden analytischen Beleuch­ ten vorbehalten. Beide Themenfelder zerfallen in weitere Unterfragen. 46 Vgl. Straßner 2003, S. 300-306; Gursch 2008, S. 182-183. 47 Vgl. Karmon 2005, S. 59-95; Bacon 2013, S. 202-239.

29

1 Einleitung

1. Im ersten Bereich interessiert: I Wie lassen sich die Beziehungen zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ im Allgemeinen charakterisieren: als Kooperation, als Kon­ kurrenz oder gar als ausgeprägter Konflikt? II Wie äußerte sich eine Zusammenarbeit beziehungsweise eine Konkur­ renz oder Feindschaft in Aktionen und in der Agitation der drei Grup­ pen? a Beschränkte sich eine Kooperation auf propagandistische und lo­ gistische Hilfsleistungen, oder mündete sie schließlich – beispiels­ weise über umfassende und kontinuierliche Absprachen bei tak­ tischen und strategischen Fragen – in einem organisatorischen Verschmelzen? b Führten adversative Beziehungen zu gegenseitigen persönlichen und/oder öffentlich geäußerten ideologischen Abwertungen oder gar zu Gewalttaten zwischen den Gruppen, welche dem jeweils anderen nachhaltig Schaden zufügen sollten? III Veränderte sich das Verhältnis zwischen den Gruppen? a Wann kam es zu Veränderungen? b Inwiefern veränderte sich die Beziehung? 2. Hierauf aufbauend lässt sich der zweite Bereich von Fragen leiten, die grundsätzlich eine Multikausalität im Heranwachsen von Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten annehmen. Sie richten die Aufmerk­ samkeit insbesondere auf eine Gruppenebene, welche selbst gewählte Attribute der Zirkel und das Verhältnis zu ihrem extremistischen Um­ feld, zum deutschen Staat und zu Gleichgesinnten im Ausland beinhal­ tet: IV Welche Rolle spielten interne Faktoren, also die in Eigenverantwortung begründeten und gesteuerten Merkmale der Gruppen in ihrer Interakti­ on? a Wählten sie (in-)kompatible operative Strukturen (also: flache oder straffe Hierarchie, Zellenstruktur oder „Kaderorganisation“), die Anknüpfungspunkte für gemeinsame Aktionen konstituierten oder Streitpunkte bildeten? b Schufen Stärken und Schwächen, die sich aus der eigenen Akti­ onsfähigkeit ergaben, Grundlagen für eine Interaktion? c Zog ein vergleichbarer oder differenter Modus Operandi der Gruppen (zum Beispiel in puncto Zielauswahl, Gewaltintensität und Kommunikation) in dem von ihnen gewaltsam geführten

30

1.2 Problemstellung

„Kampf“ das Wohlwollen oder den Unmut ihrer Mitstreiter nach sich? V Hatten externe Faktoren, also Reaktionen beziehungsweise Entwicklun­ gen in ihrer Umwelt Einfluss auf das Beziehungsgeflecht? a Wirkten sich verstärkte Fahndungsmaßnahmen und Ermittlungs­ erfolge der deutschen oder internationalen Sicherheitsarchitektur auf die Interaktion zwischen den Gruppen aus? b Löste die Resonanz (zum Beispiel: Akklamation oder Kritik) deutscher linksextremistischer Akteure zu den Gewalthandlungen der westdeutschen „Stadtguerilla“ eine Kooperation oder Rivalität aus? c Inwiefern beeinflussten im Ausland unterhaltene Kontakte der RAF, der TW/der B2J und der RZ (durch den damit einherge­ henden Ressourcentransfer, durch Erfolge und Misserfolge solcher Vernetzungen) die unter ihnen bestehenden Verbindungen im Inland? VI Lässt sich eine Gewichtung der Faktoren vornehmen, welche das Verhält­ nis zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ bedingten, prägten und veränderten? a Können etwaige Faktoren nach Einfluss beziehungsweise Bedeu­ tung geordnet werden? b Rührten die Beziehungen eher von internen als von externen Faktoren her – oder umgekehrt? c Überwogen Faktoren auf ideeller oder solche auf praktischer Ebe­ ne? Vor allem das empirische, komparativ zugeschnittene Beantworten der Fragen des zweiten Themenfeldes verfolgt das Ziel, die bislang allenfalls kursorisch erbrachten Schilderungen und Erklärungen zum Verhältnis zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ systematisch zu überprü­ fen und – den Ergebnissen entsprechend – zu untermauen und weiterzu­ entwickeln. Das im zweiten Bereich gewählte Forschungsdesign dient zu­ gleich dem Zweck, über das detaillierte Betrachten einer eng abgegrenzten Fallkonstellation belastbare Grundlagen für weiterführende, phänomenund länderübergreifende Studien zu liefern, die terroristische Akteure un­ terschiedlicher politischer Provenienz und geographischer Herkunft hin­ sichtlich ihrer Beziehungen untersuchen. Im Mittelpunkt steht demnach das Bestreben, einen Beitrag zum Minimieren von Forschungslücken in der wissenschaftlichen Arbeit zum deutschen Linksterrorismus und zur

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1 Einleitung

Theoriebildung im Hinblick auf Kooperations- und Konkurrenzverhältnis­ se terroristischer Entitäten zu leisten. Abschließend sei auf eine Einschränkung hingewiesen: Ausgehend von vorangegangenem Forschen des Autors48 wird im zweiten Themenfeld be­ wusst darauf verzichtet, die Frage nach inhaltlichen Schwerpunkten und Zielen der Ideologie als mögliche Triebkräfte für die Beziehung der ge­ nannten Akteure zu stellen – und zwar aus den folgenden drei Gründen: – Das Theoriedefizit: Die bundesrepublikanische „Stadtguerilla“ definier­ te sich nicht zuvorderst über ein (eigenes) „weltanschauliche[s] Sys­ tem von [linksextremistischen] Überzeugungen“49, sondern über das Konzept des „bewaffneten Kampfes“ und die mit diesem verbunde­ nen Herausforderungen auf organisatorischer und strategisch-taktischer Ebene.50 Die „Rote Armee Fraktion“ machte aus ihrer „zutiefst theo­ riefeindlich[en]“51 Haltung keinen Hehl. Regelrecht zu einer Tugend verklärte sie ein „Primat der Praxis“52, das die wissenschaftliche For­ schung früh als eine „Theorie des Theoriedefizits“53 entlarvte. Im Jahre 1971 schrieb die RAF: „In der Papierproduktion der [marxistisch-leni­ nistischen] Organisationen erkennen wir ihre Praxis hauptsächlich nur wieder als den Konkurrenzkampf von Intellektuellen, die sich […] den Rang um die bessere Marx-Rezeption ablaufen. […] Eine revolutionä­ re Interventionsmethode ist das nicht.“54 Aus einem Kassiber Ulrike Meinhofs ging Jahre danach hervor, „raf heißt praxis, bewaffneter an­ tiimperialistischer kampf und genau nicht: noch ne [sic] theorie.“55 Auch wenn die Gründer der Gruppe während der Haft schließlich doch beachtliche Beiträge zum Aufbau einer „RAF‑Theorie“56 leiste­ ten, zu der im Besonderen die „Erklärung zur Sache“ aus dem Jah­ re 1976 zu rechnen war,57 vermochte ihr gedankliches Vermächtnis

48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

32

Vgl. Pesch 2013. Weiß 2010, S. 382. Vgl. Wunschik 1997, S. 43; Korndörfer 2008, S. 248. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 179. ID-Verlag 1997, S. 40. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 179. ID-Verlag 1997, S. 37-38. Bakker Schut 1987, S. 107. Neidhardt 1982b, S. 463. Vgl. Rote Armee Fraktion 1983, S. 177.

1.2 Problemstellung

nicht eine „Entideologisierung“58 der nachfolgenden Generationen zu verhindern. „Bei der dritten Generation entfielen […] alle ideologi­ schen Vorgaben und Motive und ordneten sich einem pragmatischen, ja utilitaristischen Verständnis des bewaffneten Kampfes unter“59 – so Alexander Straßner, einer der bekanntesten Kenner der Materie. Selbst ehemalige Mitglieder der Dritten Generation sprachen rückblickend von einer „Entpolitisierung, die dann in Aktionismus umschlägt“60. Ähnliche Urteile der Wissenschaft und der einstigen „Stadtguerilleros“ finden sich zur „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutionären Zel­ len“. Zutreffend merkte Bernhard Rabert an, die B2J habe „kaum ideologische Schriften“61 verbreitet und sei folglich zu einer „ideolo­ gisch […] ‚blasse[n]‘ Erscheinung“62 geraten. Bereits Ende der 1970er Jahre erklärten Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ vor Gericht: „Die Bewegung 2. Juni hat nie großartige Theorien zu Papier gebracht“63. Übereinstimmend hob Till Meyer – einer ihrer einstigen Mitglieder – hervor: „Es gab keine authentischen Theorietexte der Bewegung 2. Ju­ ni.“64 Maßgeblich für die eigene linksterroristische Gewalt gewesen seien „konkrete, praktische Erfahrungen“65. Den „Revolutionären Zel­ len“ attestierten empirische Untersuchungen den Verzicht auf „die For­ mulierung eines politischen Programms“66. Eine der „Zellen“ räumte Anfang 1992 anlässlich ihrer Abkehr vom „bewaffneten Kampf“ ein: „In der Fixierung auf unsere Kampfmethoden verzichteten wir darauf, eine theoretische Orientierung zu entwickeln […]. Unser sozialrevo­ lutionäres Theorieverständnis setzte sich bestenfalls mosaikartig […] zusammen“67. Und weiter: „Es bleibt festzuhalten, dass in der Propagie­ rung unserer eigenen Kampfmittel […] eher ein Aktionsmodell steckte als eine politische Theorie.“68

58 Straßner 2003, S. 278. Vgl. auch Gottschling 2004, S. 200; Jesse 2008, S. 418; Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. 59 Straßner 2006, S. 499. 60 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 291. Ähnlich ebd., S. 304. 61 Rabert 1995, S. 191. 62 Ebd. Vgl. auch Straßner 2018, S. 439. 63 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 506. 64 Meyer 2008, S. 307. 65 Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 118. 66 Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 168. Vgl. auch Rabert 1995, S. 209. 67 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 43. 68 Ebd., S. 44.

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1 Einleitung

– Die vergleichbaren theoretischen Bruchstücke: Den wenigen substantiellen Ideen, welche die RAF, die TW/die B2J und die RZ im Sinne einer ideologischen Agenda kodifizierten, ließen sich nur marginale Diffe­ renzen entnehmen69 – etwa „existenzialistische Theoriefragmente“70 auf Seiten der „Revolutionären Zellen“. Die bundesrepublikanische „Stadtguerilla“ akzeptierte ein Weltbild, das bereits die „68er-Bewe­ gung“ geprägt hatte.71 Sie glaubte, einen kapitalistischen Imperialismus unter Vorherrschaft der Vereinigten Staaten von Amerika erkennen zu können.72 Aus Sicht der RAF bestand eine „multinationale hege­ monie des stärksten kapitals (us)“73, waren doch „am ende des zwei­ ten imperialistischen weltkrieges die usa […] zur letzte[n] imperialisti­ sche[n] führungsmacht geworden“74. Die USA würden eine „Politik [betreiben], die […] die Weltherrschaft […] erlangen“75 wolle – so die RZ. Die Angehörigen der B2J begriffen „die Unterstützung für die Befreiungsbewegungen im Kampf gegen den Imperialismus – und be­ sonders den US‑Imperialismus – [als] wichtig“76. Unter Imperialismus verstanden sie „ein international und multinational wirkendes und organisiertes Geflecht von Unterdrückung, Ausbeutung und Zerstö­ rung.“77 Nach Auffassung der „Roten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ kam Westdeutschland eine führende Position im globalen kapitalistischen System zu: Die Bundes­ republik sei „absolut zuverlässiger Agent“78 der Vereinigten Staaten, „subzentrum des us-imperialismus“79, imperialistische „Metropole“80 an zweiter Stelle hinter den USA,81 „Juniorpartner“82 der amerikani­ schen Regierung und/oder „Schlüsselstaat“83 des weltweit agierenden

69 Vgl. Pesch 2013, S. 153-154. 70 Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 162. 71 Vgl. Hobe 1979, S. 24; Rabert 1995, S. 214-215; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 105. 72 Vgl. Pesch 2013, S. 153-156. 73 Bakker Schut 1987, S. 214. 74 Rote Armee Fraktion 1983, S. 201. 75 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 373. 76 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 866. 77 Ebd., S. 510. 78 ID-Verlag 1997, S. 258. 79 Rote Armee Fraktion 1983, S. 270. 80 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 813b. 81 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 864. 82 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 293. 83 Ebd., Band 2, S. 473.

34

1.2 Problemstellung

Kapitals. In grenzübergreifend operierenden Wirtschaftsunternehmen – den „multinationale[n] konzern[en]“84 – sahen die RAF, die B2J und die RZ treibende Akteure imperialistischer Machinationen. Kapitalisti­ sche Praktiken – darunter eine „internationale Arbeitsteilung“85 – lös­ ten in ihrer Perspektive soziales Verelenden und ökologisches Zerstö­ ren aus.86 Durchgesetzt und abgesichert werden würden diese mitunter vermittels „faschistischer“ Mittel.87 Was Alternativentwürfe zum funda­ mental abgelehnten Ist-Zustand anbelangt, so hielten sich die „Rote Ar­ mee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zel­ len“ auffallend bedeckt.88 Allenfalls schemenhaft schwebte ihnen das Fernziel einer herrschaftsfreien Gesellschaft vor Augen.89 – Die Theorie in der Interaktion: Wer die Primärquellen zu den Akteu­ ren des westdeutschen Linksterrorismus systematisch auswertet, wird erkennen, dass deren Mitglieder inhaltliche Schwerpunkte und Ziel­ vorstellungen der Ideologie selten zu vereinenden oder trennenden Ele­ menten aufluden.90 Die eigene Position zu den jeweils anderen Kräf­ ten des westdeutschen Linksterrorismus dominierten erkennbar andere Aspekte, welche im Wege dieser Arbeit ausführlich Berücksichtigung finden sollen.

84 Rote Armee Fraktion 1983, S. 195. Ähnlich Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 712; IDArchiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 329-330. 85 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 712; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozi­ algeschichte 1993, Band 1, S. 229; ID-Verlag 1997, S. 242, 371. 86 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 178, 197, 373; Pesch 2013, S. 154-155. 87 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 11; ebd., Band 2, S. 643, 870; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 95; ID-Verlag 1997, S. 146, 172. Vgl. auch Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 194‑195; Manne­ witz/Thieme 2020, S. 55. 88 Vgl. Dietrich 2009, S. 62; Diewald-Kerkmann 2009, S. 218; Pesch 2013, S. 158; Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. 89 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 12; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 59-60, 108, 297; ID-Verlag 1997, S. 141, 409, 415. 90 Vgl. auch Pesch 2013, S. 179-181.

35

1 Einleitung

1.3 Begriffsbestimmung 1.3.1 Grundsätzliches Wissenschaftliches Arbeiten setzt das Diskutieren und Einrahmen des ihm zugrunde gelegten begrifflichen Instrumentariums voraus. Um mit Fried­ helm Neidhardt zu sprechen: „Eine saubere Analyse braucht – anders als die Praxis – klare Begriffe.“91 Eindeutige Terminologie ermöglicht einer­ seits ein stringentes und pointiertes Untersuchen der von ihr ins Auge gefassten Forschungsgegenstände. Andererseits bietet sie den Rezipienten wissenschaftlicher Arbeit Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Vor die­ sem Hintergrund wird der sprachliche Zuschnitt der oben formulierten Leitfrage in dreierlei Hinsicht als klärungsbedürftig gesehen: I Was versteht diese Arbeit unter „Beziehung“ und „Bedingungsfaktor“? II Wie nutzt sie den Begriff der „Gruppe“? III Was ist „(Links-)Terrorismus“? Die Ausdrücke „Beziehung“, „Gruppe“ und „Terrorismus“ finden sich im alltäglichen Sprachgebrauch. Jedermann dürfte ihnen eine spezifische Bedeutung zuschreiben können: „Beziehung“ wird mitunter begriffen als eine emotionale Verbindung zwischen zwei Personen, „Gruppe“ als Chat zwischen mehreren Individuen in einem Instant Messenger oder als politischer Verein, „Terrorismus“ als Anschläge jihadistischer Zirkel in Afghanistan oder rechtsextremistischer Einzeltäter in Europa. Angesichts dieser intuitiven Verständlichkeit mag sich ein näheres inhaltliches Aus­ einandersetzen mit den genannten Worten nicht sogleich aufdrängen. Gerade ihre inflationäre und omnipräsente Nutzung zwingt jedoch zu einem eingehenden, reflektierenden Erklären und Grenzziehen im Kon­ text der nachfolgenden Ausführungen, welche sich an sozialwissenschaftli­ chem beziehungsweise soziologischem Fachvokabular orientieren. Diese Anforderung gilt insbesondere für den höchst umstrittenen Terminus des „Terrorismus“, dessen Bedeutung und Gebrauch vielseitig92 und dement­ sprechend mit diversen inhaltlichen wie politischen Problemstellungen verbunden sind.

91 Neidhardt 2006, S. 124. 92 Vgl. Hoffman 2006, S. 1; Straßner 2008a, S. 11.

36

1.3 Begriffsbestimmung

1.3.2 Beziehung und Bedingungsfaktor Was versteht diese Arbeit unter „Beziehung“ und „Bedingungsfaktor? Der Ter­ minus Beziehung zählt zum grundlegenden begrifflichen Repertoire der Soziologie.93 Bereits Max Weber – einer der Klassiker dieser Wissenschaft – widmete sich in seiner 1921 posthum veröffentlichten Monografie „Wirt­ schaft und Gesellschaft“ dem Konkretisieren des Ausdrucks als Teilaspekt sozialen Handelns. Er schrieb: „‚Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sich­ verhalten mehrerer heißen.“94 Gemeint ist damit eine Verbindung zwi­ schen Personen, die aus ihrem wechselseitigen Wahrnehmen und der aus diesem Wahrnehmen folgenden Ausgestaltung ihres Miteinander-Umge­ hens erwächst. Ein solches interaktives Handeln könne, so Weber, ganz unterschiedliche Ausprägungen haben. Es sei nicht von vornherein auf eine bestimmte Wertigkeit oder einen speziellen Inhalt festgelegt. Eine Be­ ziehung kann demnach unter anderen „Kampf, Feindschaft, Geschlechts­ liebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, ‚Erfüllung‘ oder ‚Umgehung‘ oder ‚Bruch‘ einer Vereinbarung, ökonomische oder erotische oder andre ‚Konkurrenz‘, ständische oder nationale Klassengemeinschaft“95 beschrei­ ben. Weber verzichtete überdies darauf, seine Definition einer zeitlichen Einschränkung zu unterwerfen. Beziehungen ließen sich temporär oder dauerhaft eingehen. Während ihrer jeweiligen Existenzdauer bestünde zudem die Möglichkeit eines sich verändernden „Sinngehalt[s]“96, will heißen: Ein für die Beteiligten vorteilhaftes Verhältnis könne in ein nach­ teiliges Verhältnis umschlagen – und vice versa. Wie die Suche in aktuellen Nachschlagewerken zur Soziologie zeigt, hat sich der Weber’sche Begriff der sozialen Beziehung mit seinem Kern­ element des in Relation zueinanderstehenden interpersonellen Verhaltens etablieren können. Der Ausdruck selbst erfreut sich heute allerdings einer wesentlich nuancierteren und differenzierteren Inanspruchnahme. So wird das Nomen wahlweise als „Bezeichnung für die aktuellen wie potentiellen Vorgänge (Erwartungen, Wahrnehmungen, Kommunikationen, soziales Handeln) zwischen zwei oder mehreren Individuen“97 genutzt oder als „durch Verhalten oder Einstellungen konstituierter Konnex zwischen zwei

93 94 95 96 97

Vgl. Hillmann 2007, S. 99. Weber 1980, S. 13. Ebd. Ebd., S. 14. Fuchs-Heinritz 1994a, S. 100.

37

1 Einleitung

oder mehr Personen“98 beziehungsweise als Verhältnis „zwischen Perso­ nen, die voneinander abhängig sind und die ihre Interaktion koordinie­ ren“99, dargelegt. Darüber hinaus beherbergt die Literatur eine in ihrer Terminologie irreführende Umschreibung als Gütertransfer, in dem zwi­ schen Menschen „Dinge, aber auch Botschaften oder Gefühle […] ausge­ tauscht werden.“100 Implizit mit Weber übereinstimmend, betonten einige Autoren die Vielseitigkeit von Beziehungsinhalten, welche sich je nach Stellung der involvierten Individuen (zum Beispiel: zueinander horizontal oder vertikal positioniert) sowie nach Ausrichtung (freundschaftlich oder feindschaftlich, kooperativ oder kompetitiv, et cetera) und Qualität (unter anderem: oberflächlich oder ausgeprägt, persönlich oder unpersönlich) der aufeinander bezogenen Aktivitäten unterscheiden.101 Bisweilen findet sich daneben der Versuch, eine gewisse Permanenz der Interaktion als Bedingung für eine soziale Beziehung festzulegen,102 was beliebig wirkt und ein unnötiges Einengen des Ausdrucks zur Folge hat. Neben den angeführten, rein auf Personen bezogenen Bestimmungen des Ausdrucks existieren Beschreibungen, die – bei sonst identischem Be­ griffsverständnis – (auch) Kollektive als handelnde Subjekte in den Mittel­ punkt rücken und insoweit eine weiter gefasste Erklärung anbieten. Exem­ plarisch hierfür ist das von Karl-Heinz Hillmann publizierte „Wörterbuch der Soziologie“, welches Beziehung als „wechselseitige Einwirkungen und Verhaltensformen (einschließlich der dahinterstehenden Motivationen, Sinngebungen, Zwecksetzungen) zwischen Personen, Organisationen, In­ stitutionen in einer Gesellschaft oder zwischen Gesellschaften“103 begreift. In einer Gesamtschau der dargestellten Definitionsvorschläge lassen sich somit drei analytische Ebenen unterscheiden, auf denen Beziehungen be­ trachtet werden können: eine individuelle (Mikro-)Ebene, eine auf Grup­ pen und Organisationen zielende (Meso-) sowie eine auf Gesellschaften und Staaten bezogene (Makro-)Ebene.104 Während Letzte häufig den Titel „internationale Beziehungen“ trägt, werden Verhältnisse zwischen Grup­ pen zum Teil als „Intergruppen-Beziehungen“ kenntlich gemacht. Würde man sich ausschließlich nach der wörtlichen Bedeutung richten, ließe sich diese begriffliche Konstruktion zur trennscharfen Deskription der Un­ 98 99 100 101 102 103 104

38

Lamnek 2000a, S. 61. Bierhoff 2014, S. 61. Vester 2009, S. 75. Vgl. Bierhoff 2014, S. 61; Wiswede 2004, S. 62; Vester 2009, S. 75. Vgl. Wiswede 2004, S. 62. Hillmann 2007, S. 99. Vgl. hierzu auch Fuchs-Heinritz 1994b, S. 101; Lamnek 2000a, S. 62.

1.3 Begriffsbestimmung

tersuchungsperspektive dieser Arbeit heranziehen. Die Verankerung der Begrifflichkeit „Intergruppen-Beziehung“ im sozialpsychologischen Erfor­ schen von Auswirkungen, die etwaige, zwischen Gruppen erwachsende (konfliktäre) Verbindungen auf die Gruppenmitglieder haben,105 schließt ein solches Verständnis jedoch aus. Aus einer Synthese der bisherigen Ausführungen lässt sich die folgende Eingrenzung des Begriffs Beziehung gewinnen, welche als maßgeblich für den weiteren Verlauf dieser Arbeit erachtet wird: Eine „Beziehung“ ist ein Verhältnis/eine Relation zwischen mehreren Akteu­ ren, in dem/der die Beteiligten ihre jeweiligen Einstellungen, Fähigkeiten und/oder Verhaltensweisen im Sinne einer Interaktion wechselseitig bewer­ tend wahrnehmen, begründen und/oder beeinflussen. Das hinter den Handlungen stehende Motiv, die beabsichtigte und tatsäch­ lich erzielte Wirkung des Agierens sowie die Frequenz der Taten sind nicht entscheidend. Bezogen auf die oben präsentierte Untersuchungsperspektive meint „Ak­ teure“ zum einen terroristische Gruppen, zum anderen Einzelpersonen in ihrer Funktion als Mitglieder dieser Gruppen, können doch nicht nur Gruppen in ihrer Gesamtheit, sondern auch die in ihr aktiven Mitglieder nach Außen gerichtete Beziehungen entfalten. „Einstellungen“ beinhaltet ideelle Prinzipien, Einschätzungen und Ziele. „Fähigkeiten“ beschreibt im Wesentlichen operative Ressourcen und Möglichkeiten, die sich aus Kenntnissen und Fertigkeiten der Gruppenangehörigen sowie aus der Struktur der Gruppe ergeben können. Unter „Verhaltensweisen“ fällt jed­ wede Form des Handelns (zum Beispiel: propagandistische Verlautbarun­ gen, Raubüberfälle und Anschläge) und Nicht‑Handelns (unter anderem: ausbleibende Solidaritätsbekundungen oder stillschweigendes Dulden von Gewalthandlungen). Bezüglich der drei zuletzt genannten Merkmale gilt: Da „Einstellungen“, „Fähigkeiten“ und „Verhaltensweisen“ als Nährboden beziehungsweise Triebkraft gleichermaßen prägend für die Art und Weise einer „Beziehung“ sein können, lassen sie sich unter dem Oberbegriff „Be­ dingungsfaktoren“ bündeln.

105 Vgl. Mey 1994, S. 307; Wagner 1994, S. 1-2; Wiswede 2004, S. 277-279.

39

1 Einleitung

1.3.3 Gruppe Wie nutzt die Arbeit den Begriff der „Gruppe“? Ebenso wie der Ausdruck „Beziehung“ gilt die Umschreibung „Gruppe“ als „soziologischer Grund­ begriff“106. Seine Verwendung ist in der Soziologie allerdings nicht ein­ heitlich. Er wird – je nach Kontext – sehr unterschiedlich bestimmt und verstanden: Neben „statistischen“ und „sozialen Gruppen“ bilden „soziale Kategorien“ und „Aggregate“ Gruppentypen.107 Interesse finden soll hier nur die „soziale Gruppe“, die mancherorts wiederum in Anlehnung an Charles Cooley in „Primär-“ und „Sekundärgruppe“ unterteilt wird.108 Beide Gruppenarten unterscheiden sich nach der Qualität der Verbindun­ gen, welche zwischen den Mitgliedern aufkommen können oder bereits bestehen. „Primärgruppen“ erlauben einen engen persönlich-emotionalen Austausch wie er unter anderem in Familien, Kindergartengruppen, Schul­ klassen oder Freundeskreisen üblich ist. „Sekundärgruppen“ kennzeichnen sich dagegen durch formelle und neutrale Umgangsformen zwischen den ihn angehörenden Personen.109 Diese ergeben sich im Berufsleben – etwa in Forschungsgemeinschaften, „Teams“ oder in behördlichen Abteilungen. Die Grenzen zwischen „Primär‑“ und „Sekundärgruppen“ sind nicht in jedem Fall eindeutig erkennbar: So besteht auch in formellen Organisatio­ nen die Möglichkeit eines tiefer gehenden persönlichen Austauschs der Beteiligten. Sie müssen als fließend gesehen werden. Nach herrschender soziologischer Meinung kennzeichnet die „soziale Gruppe“ – erstens eine Mehrzahl von Individuen, die – zweitens in Beziehung zueinanderstehen und dabei – drittens mehrere strukturelle Merkmale erfüllen. Was die Personenmehrheit als erste Voraussetzung anbelangt, so zeigt sich zu ihrer quantitativen Untergrenze grundsätzlich wissenschaftliche Über­ einstimmung. Ob eine Personenmehrzahl ab einer gewissen Menge ihre Eigenschaft als Gruppe verliert beziehungsweise wie diese Obergrenze fest­ zulegen ist, bleibt hingegen Gegenstand von Diskussionen. Als Mindest­ zahl nennt die Literatur drei Individuen, womit sie eine Unterscheidung

106 107 108 109

40

Hillmann 2007, S. 318. Vgl. Vester 2009, S. 80-81. Ähnlich Prisching 1995, S. 71. Vgl. Hillmann 2007, S. 319. Vgl. Prisching 1995, S. 72.

1.3 Begriffsbestimmung

zur Dyade trifft – also zu einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Als Begründung führt sie an, drei oder mehr Personen erlaubten im Gegen­ satz zu dyadischen Verhältnissen das Etablieren von Über‑/Unterordnungs­ strukturen und Anpassungsdruck durch Koalitionsbildungen.110 Welche Maximalzahl ausschlaggebend ist, wird oftmals höchst subjektiv beantwor­ tet. Während einige Autoren die Zahlen 20,111 25112 und 30113 als Höchst­ grenze definieren, plädieren andere dafür, die Existenz einer Gruppe nicht auf der Grundlage eines quantitativen Bemessens, sondern anhand der Intensität der Beziehungen innerhalb der beleuchteten Personenmehrheit sowie der daraus resultierenden Strukturen zu bejahen.114 Diesem qualita­ tiv geprägten Vorschlag ist zuzustimmen. Der Versuch, die Qualifikation einer Menschenmenge als Gruppe an ihre Mitgliederzahl zu koppeln, bringt Limitationen hervor, welche sich in ihrer Schärfe nur selten in der Realität werden wiederfinden lassen und daher schwer intersubjektiv nachvollziehbar sind. Die zweite, für eine Gruppe konstitutive Bedingung stellt auf ein interak­ tives Verhältnis der Personen ab, die ihr angehören. Dieses Agieren muss nicht – so die herangezogene Literatur – einen bestimmten Inhalt um­ fassen, wohl aber dauerhaft angelegt sein115 und regelmäßig erfolgen,116 wobei die exakte Häufigkeit der Interaktion als schwer bestimmbar gilt.117 Bisweilen wird ausschließlich ein „face to face“-Kontakt, also eine unmit­ telbare, auf Medien verzichtende Kommunikation zwischen allen Beteilig­ ten gefordert,118 die an anderer Stelle nicht explizit Erwähnung findet119 oder bewusst als alleinige Voraussetzung vermieden wird.120 Letztes er­ scheint sinnvoller, denn: Die Mitglieder einer Gruppe können durchaus auch dann zu einer intensiven Interaktion gelangen, wenn sie temporär nicht am selben Ort physisch anwesend sind – sei es per Brief, Telefon oder über das Internet.

110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120

Vgl. Vester 2009, S. 81; Witte 2014, S. 158. Vgl. Lamnek 2000b, S. 241. Vgl. Hillmann 2007, S. 319. Vgl. Prisching 1995, S. 71. Vgl. Vester 2009, S. 81; Witte 2014, S. 158. Vgl. Prisching 1995, S. 71; Schäfers 2008, S. 96. Vgl. Klima 1994, S. 255; Lamnek 2000b, S. 241; Wiswede 2004, S. 206. Vgl. Vester 2009, S. 81. Vgl. Wiswede 2004, S. 206; Vester 2009, S. 81. Vgl. Klima 1994, S. 255; Lamnek 2000b, S. 241; Schäfers 2008, S. 96. Vgl. Witte 2014, S. 158.

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1 Einleitung

Als dritten Aspekt betonen soziologische Definitionen zur „Gruppe“ di­ verse strukturelle Merkmale. Eine kontinuierlich in Beziehung zueinander stehende Anzahl von Personen verwandle sich in eine Gruppe, wenn diese ein „Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen sozialen Ein­ heit“121 erlangen, sich gemeinsam entwickelten Werten, Prinzipien und Regeln unterwerfen, verschiedene Positionen, Rollen oder Funktionen einnehmen und im Zuge des Zusammenwirkens Interessen und/oder Zie­ le verfolgen.122 Zusätzliche Charakteristika speisten sich oftmals aus dem Festlegen von Grenzen, welche die Innengruppe von ihrer Umgebung trennen. Exemplarisch seien in diesem Zusammenhang Rituale, die neue Mitglieder durchlaufen müssen, um in die Gruppe gelangen zu können. Das Sich-Hervorheben gegenüber der Umwelt fuße darüber hinaus in ei­ nigen Fällen auf dem Verwenden selbst konstruierter Sprache oder auf dem Schaffen von Symbolen – zum Beispiel einer Flagge oder eines Em­ blems.123 Unter Berücksichtigung der vorgestellten definitorischen Diskussionen weist diese Arbeit dem Ausdruck der „Gruppe“ folgende Begriffsbestim­ mung zu: „Gruppe“ bezeichnet eine mindestens drei Individuen fassende, nach Außen abgrenzbare und sich als Einheit begreifende Personenmehrheit, deren Mit­ glieder zur Verwirklichung ihrer kollektiven Ziele über direkte und indirekte Kommunikation in einer beständigen Beziehung stehen, für jeden bindende Verhaltensnormen schaffen und differente Stellungen und/oder Aufgaben übernehmen. Die betonte Notwendigkeit einer zwischen all ihren Angehörigen existie­ renden „Beziehung“ soll dazu dienen, die „Gruppe“ von „Organisationen“ abzugrenzen. Ob der schieren personellen Größe wird es dem Angehö­ rigen einer „Organisation“ unmöglich, zu jedem anderen Mitglied eine interdependente persönliche Beziehung zu unterhalten. Dementsprechend sind der „Islamische Staat“ und die „Jabhat Fath al Sham“ – die beide zeitweise mehrere Tausend Angehörige zählten124 – im einleitenden Teil dieser Arbeit als „Organisationen“ beschrieben worden. Die „Rote Armee Fraktion“, die „Tupamaros Westberlin“/die „Bewe­ gung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ sind dagegen als klassische

121 122 123 124

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Klima 1994, S. 255. Vgl. Lamnek 2000b, S. 241; Schäfers 2008, S. 96; Vester 2009, S. 81. Vgl. Prisching 1995, S. 72; Hillmann 2007, S. 318. Vgl. Steinberg 2015, S. 89, 110; Stern/Berger 2016, S. 51

1.3 Begriffsbestimmung

„soziale Gruppen“ zu sehen. In unterschiedlichen Konstellationen („Gene­ rationen“) sollen in der RAF bis zu 34 Personen aktiv gewesen sein – sie führten ein gemeinsames, konspirativ gehaltenes Leben.125 Die B2J stützte sich in ihrer stärksten Phase im Jahre 1972 höchstens auf 20 Indi­ viduen.126 Wie ihr Name bereits erahnen lässt, bildeten die RZ ein Netz­ werk aus mehreren kleineren Gruppen, denen in der Regel wohl jeweils drei bis acht Individuen angehörten.127 Die einzelnen „Zellen“ agierten weitgehend unabhängig voneinander. Innerhalb der einzelnen Gruppen kannten sich die Angehörigen zumindest unter Decknamen – zwischen den „Zellen“ blieben Verbindungen aus Gründen der Eigensicherheit spo­ radisch. Angelegenheiten, welche das gesamte Netzwerk berührten, behan­ delten „Repräsentanten“ der Gruppen in einem übergreifenden Treffen. Dessen Ergebnisse machten sie im Nachgang in den eigenen Strukturen bekannt.128 Die Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westber­ lin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ sahen sich selbst als „Stadtguerilla“129 – sie suchten die jeweils gemeinsam formulierte Zielvorstellung eines sozialrevolutionären Umwälzens in der Bundesrepu­ blik Deutschland mit Gewalt zu realisieren.130 Die Zugehörigkeit setzte somit eine Bereitschaft zum Rechtsbruch voraus. Bei der RAF ging dies sogar lange Zeit mit dem alternativlosen Zwang einher, die gesamte „bür­ gerliche“ Existenz aufzugeben.131 Eine Wiedererkennbarkeit der Gruppen gewährleisteten die Angehörigen, indem sie ein Gruppensignum schufen und programmatische Erklärungen herausgaben. Daneben bildeten sie spezifische Verhaltensnormen und -muster aus – darunter ein „need to know“‑Prinzip, das die Zirkulation von Wissen innerhalb der Gruppen einschränkte,132 den internen Gebrauch von Decknamen,133 „revolutionä­ res“ Kleinschreiben in schriftlichen Beiträgen und das Sanktionieren von

125 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 321; Bundesministerium des Innern 1983, S. 100; Bun­ desministerium des Innern 1992, S. 25; Straßner 2003, S. 109. 126 Vgl. Bundesministerium des Innern 1973, S. 61. 127 Vgl. Kahl 1986, S. 107; Horchem 1987, S. 10; Horchem 1988, S. 87. 128 Vgl. Dietrich 2009, S. 156-157. 129 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 10; Rote Armee Fraktion 1983, S. 311; ID-Ar­ chiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 87-88. 130 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 12; Rote Armee Fraktion 1983, S. 62; ID-Ar­ chiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, 1993, S. 236. 131 Vgl. Jäger/Böllinger 1981, S. 170; Neidhardt 1982a, S. 326. 132 Vgl. Meyer 2008, S. 337. 133 Vgl. Horchem 1986, S. 16.

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1 Einleitung

Meinungen, welche nicht der determinierten propagandistischen und ak­ tionistischen Linie entsprachen.134 Die Mitglieder unterschieden sich nach Stellungen beziehungsweise Rollen. So kam – beispielsweise – Andreas Baader innerhalb der Ersten Generation der RAF eine Führungsfunktion zu.135 Für die Zweite Generation füllte Brigitte Mohnhaupt eine solche aus.136 Die B2J und die RZ bemühten sich zwar darum, flache Hierarchien zu etablieren, konnten das Herausbilden hervorgehobener Stellungen aber nicht gänzlich vermeiden. In der B2J wurde Ralf Reinders aufgrund seiner persönlichen Art und seiner Erfahrungen in der Illegalität zeitweise als Vorbild gesehen.137 Hans-Joachim Klein – ein ehemaliges Mitglied der RZ – beschrieb Wilfried Böse, den Gründer des Netzwerks, als „Chef“138. Nach dessen Tod soll diese Funktion an Johannes Weinrich übergegangen sein.139 Während der 1980er Jahre galten Altmitglieder des Netzwerkes als tonangebend.140 1.3.4 (Links-)Terrorismus Was ist „Terrorismus“? An dieser Frage arbeiten sich seit Jahrzehnten ganze wissenschaftliche Artikel und Monografien ab. Wie vertrackt die Lage bei der Suche nach einer konsensfähigen universalen Definition des Begriffs geworden ist, wird in den Arbeiten von Alex Schmid offensichtlich, der in den Jahren 1984, 1988 und 2011 jeweils ein Handbuch zum aktuellen Forschungsstand im Feld des Terrorismus publizierte. 1984 hob Schmid bereits im zweiten Satz seiner Übersicht hervor: „There is no clear and generally accepted definition of what constitutes terrorism“141. Vier Jahre später fand sein – in Zusammenarbeit mit Albert Jongman – aktualisiertes Werk die einleitenden Worte: „The search for an adequate definition of terrorism is still on.“142 Und 2011 – will heißen: rund 23 Jahre nach dem Erscheinen der zweiten Fassung – hieß es schließlich: „Is it impossible to find an objective and watertight definition [of terrorism] that satisfies

134 135 136 137 138 139 140 141 142

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Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 37-38; Viett 2007, S. 246. Vgl. Rote Armee Fraktion 1983, S. 24, 219. Vgl. Speitel 1980b, S. 33; Wackernagel 2017, S. 278. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 23, 49; Meyer 2008, S. 299. Klein/Libération 1978, S. 281. Vgl. Klein 1979a, S. 86. Vgl. Dietrich 2009, S. 156. Schmid 1984, S. 1. Schmid/Jongman 2008, S. 1.

1.3 Begriffsbestimmung

both legal and scientific criteria? So far, this goal has been elusive.”143 Im selben Zusammenhang fügte Schmid hinzu: „Many scholars are sick and tired of discussing the definition issue.”144 Bei aller Uneinigkeit scheint diese Sicht der Dinge die Forschergemeinde zum Terrorismus größten­ teils zu einen. Dies gilt auch für ihren deutschen Zweig. Wolfang Kraus­ haar sprach im Jahre 2006 von der „unendliche[n] Debatte“145 um eine tragfähige Erklärung des Begriffs „Terrorismus“. Die in dieser Hinsicht geleisteten Bemühungen, resümierte er, seien „ernüchternd, in mancher Hinsicht gar niederschmetternd“146. Eine noch deutlichere Wertung fand Armin Pfahl‑Traughber, als er schrieb, das Aufstellen einer für verschie­ dene Bereiche (das heißt: Wissenschaft und Behörden) als bindend gel­ tenden Bestimmung des Ausdrucks wäre „ohnehin [ein] unrealistische[r] Anspruch“147. Die „Beliebigkeit und Konfusion“148 auf dem Weg zu einer allgemein anerkannten Definition resultieren zum einen aus der vom heutigen Begriffsverständnis abweichenden ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Terrorismus“. Innerhalb seiner mehr als zweihundertjährigen Geschich­ te149 verschob sich das mit ihm intendierte Beschreiben zügelloser staat­ licher Repressionsmaßnahmen150 zu einer vorwiegend auf Gewalttaten nicht-staatlicher Akteure Bezug nehmenden inhaltlichen Ausgestaltung.151 Zum anderen bildet seine wertgeladene Natur eine Hypothek für jeden, der sich an das Ein- und Abgrenzen wagt. Das von Ronald Reagan in einer Radioansprache geprägte Bonmot: „One man’s terrorist is another man’s freedom fighter“152 unterstreicht die fehlende Neutralität des Wor­ tes. „Terrorismus“ birgt einen überaus pejorativen Charakter, welcher sich zum Stigmatisieren unerwünschter Meinungen und Handlungen anbietet und zu diesem Zweck auch bewusst genutzt wurde und wird.153 Dem­ entsprechend findet er bei denjenigen, denen das Etikett des Terroristen 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

Schmid 2011b, S. 42. Ähnlich Hoffmann 2006, S. 20. Ebd. Kraushaar 2006a, S. 29. Ebd., S. 30. Pfahl-Traughber 2014b, S. 402. Vgl. auch Pfahl-Traughber 2019, S. 239. Walther 2006, S. 64. Vgl. Gräfe 2017, S. 60. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 46. Vgl. Hoffmann 2006, S. 3. Reagan 1986. Nach Nennung dieses Sprichwortes beschrieb Reagan es in seiner Rede als irreführend. Ferner differenzierte er zwischen den Begriffen „Terrorist“ und „Freiheitskämpfer“. 153 Vgl. Neidhardt 2006, S. 124-125; Walther 2006, S. 65.

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1 Einleitung

aufgedrückt wird, häufig Ablehnung. Exemplarisch sind an dieser Stelle Ausführungen des deutschen Linksterroristen Norbert Kröcher, der sich im Umfeld der „Bewegung 2. Juni“ bewegte. In seiner 2017 posthum ver­ öffentlichten Autobiographie schrieb er: „In dem liberalen schwedischen Magazin Vi (Wir) erschien ein Inter­ view mit mir, in dem ich mich gegen den Begriff ‚Terrorist‘ verwahrte. Terroristen seien diejenigen, die duch Akkordhetze die Schuld für Tausende von tödlichen Arbeitsunfällen trügen, die jedes Jahr soundso viele Menschenleben auf dem Altar der Automobilindustrie opferten, Menschen durch soziale Ausgrenzung zu Verbrechern machten, an Waffen verdienten, die überall auf der Welt unzählige Leben forder­ ten, systematisch die Umwelt zerstörten und so weiter und so fort.“154 Ganz ähnlicher Meinung war der zur B2J gehörende Aktivist Ronald Fritzsch. Im Hinblick auf seine Etikettierung als Terrorist in bundesrepu­ blikanischen Medien deklamierte er: „Terroristen? – Den Begriff würd‘ ich mir verbitten. Terroristen, die sind auf der anderen Seite. Terror ist undifferenzierte Gewalt, und undifferenziert haben wir Gewalt nie einge­ setzt.“155 Die in Kröchers und Fritzschs Kommentaren unübersehbare Funktion des Terminus „Terrorismus“ als politischer Kampfbegriff wurde bereits in seiner Entstehungsphase während der Französischen Revolution eng mit ihm verbunden. Um die vulnerable Staatsordnung sichern zu können, griff das „comité de salut public“ (wörtlich übersetzt: „Komitee für das öffentliche Heil“; gewöhnlich im Deutschen als „Wohlfahrtsausschuss“ bezeichnet) unter Maximilien de Robespierre mit der Rückendeckung des Nationalkonvents Anfang September 1793 zu einem drastischen Mittel: dem öffentlichen Hinrichten angeblicher oder tatsächlicher Gegner der nach den Ereignissen im Jahre 1789 geschaffenen politischen Verhältnis­ se.156 Mit ihrer gesetzlich legitimierten und staatlich verübten Gewalt beabsichtigte die herrschende Partei der Jakobiner, Angst und Schrecken unter denjenigen zu verbreiten, welche die neue Regierung ablehnten be­ ziehungsweise die gestürzte Monarchie wiederherstellen wollten. Entspre­ chend dieser Wirkung gab Robespierre selbst der gewaltsamen Politik am 5. Februar 1794 die Bezeichnung „la terreur“ (im Deutschen: „der Terror“;

154 Kröcher/Papenfuß 2017, S. 319. 155 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 1995, S. 52. 156 Vgl. Kuhn 1999, S. 104-107.

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1.3 Begriffsbestimmung

abgeleitet vom lateinischen Substantiv „terror“ für „Schrecken“).157 Als sich die Bedrohung Frankreichs Mitte 1794 durch militärische Siege gegen äußere Feinde deutlich minderte, der Wohlfahrtsausschuss jedoch unbeirrt an den Schreckensmaßnahmen festhielt, formierte sich unter den Abge­ ordneten im Nationalkonvent eine breite Opposition gegen ihn. Sie stürz­ te schließlich die Regierung und ließ Robespierre am 28. Juli 1794 hinrich­ ten.158 Schätzungen zufolge soll die damit endende Phase des „terreur“ bis zu 50 000 Opfer gefordert haben.159 Zur öffentlichkeitswirksamen Ver­ urteilung der von Robespierre und seinen unmittelbaren Gefolgsleuten favorisierten Gewalt versah der Journalist Jean‑Lambert Tallien den Terror – nur wenige Wochen nach den Ereignissen der letzten Julitage des Jahres 1794 – mit einem bis dahin unbekannten Wort: „terrorisme“160. Diese Neuschöpfung fand sich kurz darauf auch im Deutschen unter „Terroris­ mus“ und wurde gemeinhin als Bezeichnung für die Schreckensherrschaft der Jakobiner während der Französischen Revolution in Anspruch genom­ men. Im 19. Jahrhundert blieb der Begriff von marginaler Bedeutung. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte er punktuell einen Gebrauch, der sich vom historischen Kontext löste und etwas als abscheulich wertete, das nicht mit Gewalt in Verbindung stand. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg festigte sich mit Blick auf die Russische Revolution und die ihr folgenden Dekaden kommunistischer Diktatur der Sinngehalt des Ausdrucks „Terrorismus“ als brutale staatliche Verfolgung – also als von einem Regierungsapparat ausgehende Repression. „Terror“ und „Ter­ rorismus“ galten dabei als Synonyme.161 Zeitgleich zog man ihn heran, um Gewalttaten zu kennzeichnen, die gegen einen Staat zielten und Angst verbreiteten. Dies geschah beispielsweise im „Abkommen zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus“ von 1937.162 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Interpretation als anti-staatli­ che Gewalt zusehends geläufiger. Wie Alex Schmids Zusammenstellen von 109 Definitionen ergab, hielt sie in der angelsächsischen Terrorismus­ literatur spätestens ab den 1970er Jahren durch die Publikationen von Wissenschaftlern wie Walter Laqueur und Martha Crenshaw Einzug.163 In Deutschland fand diese Deutung über die öffentliche, politische, mediale 157 158 159 160 161 162 163

Vgl. Furet/Richet 1968, S. 322; Robespierre 2000, S. 20-21. Vgl. Furet/Richet 1968, S. 328-329. Vgl. Kuhn 1999, S. 109. Jean-Lambert Tallien, zit. n. Walther 2006, S. 69. Ähnlich Schmid 2011b, S. 42. Vgl. ebd., S. 69-71. Vgl. Straßner 2008a, S. 14. Vgl. Schmid 1984, S. 119-152.

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1 Einleitung

und wissenschaftliche Debatte um die unzutreffend als „anarchistische Ge­ walttäter“164 titulierten Mitglieder der sogenannten Baader-Meinhof-Ban­ de – sowie später um die Handlungen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ – erstmals weitreichende Aufmerksamkeit. Mit dem Klassifizieren der Aktivitäten der RAF, der TW/der B2J und der RZ als „Terror“165, später als „Terrorismus“166 etablierte sich in der deut­ schen Sicherheitsarchitektur sowie in der ihr übergeordneten Regierung ein Begriffsverständnis, welches politisch motivierte Gewalthandlungen nicht-staatlicher Akteure gegen die bestehende Staats- und Gesellschafts­ ordnung meinte. Im Wege des Erforschens der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutio­ nären Zellen“ übernahmen deutsche Wissenschaftler ebenfalls diese Sicht­ weise, wiesen allerdings dem differenzierten sprachlichen Darstellen des Phänomens „Terror“/„Terrorismus“ vor dem Hintergrund seiner Etymolo­ gie eine größere Bedeutung zu. So unterschieden Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig 1981 in einem Beitrag für die vom Bun­ desministerium des Innern in Auftrag gegebenen „Analysen zum Terroris­ mus“ einen „Terror von oben“ und einen „Terror von unten“. Während Erster „von der etablierten (wenn auch nicht fest im Sattel sitzenden) Macht gegen ihre Gegner“167 betrieben werde, entspringe der „‚Terror von unten‘ […] relativ schwachen Gruppen, die gegen den bestehenden Status-quo rebellieren.“168 Sowohl die deutsche als auch die internationale „scientific community“ im Themenfeld des Terrorismus haben seither – neben zahlreichen ande­ ren Akteuren, wie zum Beispiel Regierungen und über- beziehungsweise zwischenstaatliche Stellen169 – eine Vielzahl an Vorschlägen zu der Frage unterbreitet, wie dem Begriff definitorisch beizukommen ist. Allein die dritte Fassung des von Schmid herausgegebenen Handbuchs beinhaltete mehr als 250 wissenschaftliche und staatliche Begriffsbestimmungen.170 Schmid selbst – seit 1984 versucht er, die unterschiedlichsten Bezeichnun­ gen in ihre Einzelheiten zu zerlegen, Schnittmengen zu extrahieren und

164 165 166 167 168 169 170

48

Maihofer/Der Spiegel 1975, S. 27. Bundesministerium des Innern 1973, S. 58-60. Bundesministerium des Innern 1976, S. 97. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 17. Ebd., S. 17. Vgl. Gräfe 2017, S. 38-39. Vgl. Easson/Schmid 2011, S. 99-157.

1.3 Begriffsbestimmung

daraus eine klare Umschreibung zu synthetisieren171 – stellte im Jahre 2011 folgende Eingrenzung des „Terrorismus“ vor: „Terrorism refers on the one hand to a doctrine about the presumed effectiveness of a special form or tactic of fear-generating, coercive po­ litical violence and, on the other hand, to a conspiratorial practice of calculated, demonstrative, direct violent action without legal or moral restraints, targeting mainly civilians and non-combatants, performed for its propagandistic and psychological effects on various audiences and conflict parties.“172 In elf sich anschließenden Sätzen legte er dar, worauf sich seine Defini­ tion im Einzelnen bezieht. Bemerkenswert ist an diesen Ausführungen, dass Schmid „Terrorismus“ als Sammelbezeichnung für staatlich und nicht-staatlich initiierte Gewaltakte nutzt, welche Angst und Schrecken erzeugen sollen. Ein solches terminologisches Vermischen von Regierungsund Nicht‑Regierungshandeln unter ein und demselben Wort findet sich bei anderen international renommierten Terrorismusforschern nicht. Ex­ emplarisch hierfür ist Bruce Hoffman,173 der terroristische Aktivitäten wie folgt charakterisierte: „[T]errorism is ineluctably political in aims and motives; violent – or, equally important, threatens violence; designed to have far-reaching psychological repercussions beyond the immediate victim or target; conducted either by an organization with an identifiable chain of command or conspiratorial cell structure (whose members wear no uniform or identifying insignia) or by individuals or a small collection of individuals directly influenced, motivated, or inspired by the ideo­ logical aims or example of some existent terrorist movement and/or its leaders; and perpetrated by a subnational group or nonstate entity.”174 Dieser Unterschied zwischen Schmid und Hoffmann bildet einen der zentralen Streitpunkte in der wissenschaftlichen Diskussion um den Be­ griff „Terrorismus“ ab. Während in der Literatur weitgehend Übereinstim­ mung darin herrscht, dass Terroristen

171 Vgl. Schmid 1984, S. 110-111; Schmid/Jongman 2008, S. 28; Schmid 2011b, S. 73. 172 Schmid 2011b, S. 86. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. 173 Zur Bedeutung Hoffmans in der internationalen Terrorismusforschung vgl. Schmid 2011c, S. 465. 174 Hoffman 2006, S. 40. Die Hervorhebung entspricht dem Original.

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1 Einleitung

– erstens aus politischen Überlegungen heraus zur Tat schreiten, – zweitens Gewalt praktizieren und – drittens Schockwirkungen auslösen wollen,175 findet sich kein gemeinsamer Nenner beim Beantworten der Frage, welche Akteure „Terrorismus“ ausüben können.176 Der von Schmid und weiteren Autoren177 gewählte Ansatz, staatliche Repression zu inkludieren, wird von anderen Forschern mit der Begründung abgelehnt, hierbei handele es sich um ein „conceptual stretching“178, ergo um ein Überdehnen des Ausdrucks.179 Dies stehe seiner Handhabbarkeit entgegen.180 Eine solche Kritik ist berechtigt. Wesentlich entscheidender bleibt in dieser Hinsicht indes die evident unterschiedliche Quantität und Qualität staatlicher und nicht‑staatlicher Gewalt. Da einer Regierung gänzlich andere personelle und materielle Ressourcen zur Verfügung stehen, die von ihr extralegal eingesetzten Unterdrückungsmaßnahmen somit eine wesentlich größere Adressatenzahl erreichen können, erscheint ein exaktes terminologisches Unterscheiden angebracht. Zu finden ist ein solches Differenzieren bei dem in der deutschen Terrorismusliteratur viel zitierten Peter Waldmann, der „Terrorismus“ gezielt in Abgrenzung zu staatlich genutztem „Terror“ bestimmte und den Ausdruck „Staatsterrorismus“ folgerichtig verwarf:181 „Unter Terrorismus sind planmäßig vorbereitete, schockierende Ge­ waltanschläge aus dem Untergrund gegen eine politische Ordnung zu verstehen. Sie sollen vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeu­ gen.“182

175 176 177 178 179 180 181

Vgl. Schmid 1984, S. 76-77; Waldmann 2011, S. 16. Vgl. Schmid 2011b, S. 68-69; Waldmann 2011, S. 14. In der deutschen Terrorismusforschung exemplarisch ist Hess 2006, S. 104-105. Krumwiede 2008, S. 29. Ähnlich della Porta 2013, S. 8. Vgl. Neidhardt 2006, S. 126. Vgl. Rabert 1995, S. 18. Vgl. Waldmann 2011, S. 20. „Staatsterrorismus“ als Umschreibung für staatliche Unterdrückungsgewalt nutzte Wolfang Kraushaar. Finden nicht-staatliche terro­ ristische Akteure die Unterstützung einer Regierung oder werden sie von einer solchen gesteuert, zählen sie nach seiner Terminologie zum „instrumentellen Terrorismus“. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 48-49. Armin Pfahl-Traughber bezeich­ nete Letztes als „Staatsterrorismus“, Erstes als „Terror“. Vgl. Pfahl-Traughber 2008, S. 33. 182 Waldmann 2011, S. 14.

50

1.3 Begriffsbestimmung

Armin Pfahl-Traughber wählte eine nahezu gleichlautende Perspektive, indem er zu terroristischen Aktivitäten festhielt: „Es geht dabei um alle Formen von politisch motivierter Gewalt, die von nichtstaatlichen Akteuren in systematischer Form mit dem Ziel des psychologischen Einwirkens auf die Bevölkerung angewendet werden und die dabei die Möglichkeit des gewaltfreien und legalen Agierens als Handlungsoption ausschlagen sowie die Angemessenheit, Folgewirkung und Verhältnismäßigkeit des angewandten Mittels igno­ rieren.“183 Von ebenso großer Bedeutung wie die Kontroverse um das Einordnen der Wörter „Terror“ und „Terrorismus“ ist in der Wissenschaft das Ge­ genüberstellen von „Guerilla“ und „Terrorismus“ in seiner Form als Ge­ walt nicht-staatlicher Gruppen.184 In diesem Punkt finden sich allerdings deutlich weniger strittige Auffassungen, womit er hier nur kurz Erwäh­ nung finden soll. „Guerilla“ geht auf das spanische Wort „guerra“ (im Deutschen: „Krieg“) zurück. Seine Entstehung ist mit dem spanischen Widerstand unter französischer Besatzung Anfang des 19. Jahrhunderts verbunden.185 „Guerilla“ bezeichnet eine Form des Kriegsführens, welche im politischen Diskurs – anders als der Terminus „Terrorismus“ – über­ wiegend positiv besetzt ist und daher im Nomen „Freiheitskampf“ eine Entsprechung findet.186 Wenngleich beides eine Ausprägung irregulärer Gewalttaten darstellt, sind „Guerilla“ und „Terrorismus von unten“ so­ wohl in organisatorischer als auch in strategischer Hinsicht voneinander zu trennen. Plakativ formuliert: Dem „Guerillero“ geht es in erster Linie um das physische Beherrschen von Territorium, dem „Terroristen“ dage­ gen primär um das psychologische Beherrschen seiner Zielgruppen.187 Guerillaorganisationen – wie zum Beispiel die „Revolutionären Streitkräf­ te Kolumbiens“ („Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia“, FARC) oder die „Arbeiterpartei Kurdistans“ („Partiya Karkerên Kurdistanê“, PKK) – fallen häufig durch eine personenstarke Struktur auf, die in direkte mili­ tärische Auseinandersetzungen mit dem von ihnen bekämpften Staat tritt. Ihre Intention liegt im Aufreiben und Zerschlagen bewaffneter staatlicher Kräfte (zum Beispiel: der Polizei oder der Armee), um Herrschafts- und

183 184 185 186 187

Pfahl-Traughber 2016, S. 17. Vgl. auch Pfahl-Traughber 2019, S. 239-240. Vgl. Waldmann 2011, S. 21. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 32. Vgl. Waldmann 2011, S. 23. Vgl. Rabert 1995, S. 22; Gräfe 2017, S. 62.

51

1 Einleitung

Rückzugsräume zu gewinnen und gegebenenfalls im gesamten Land die politische Macht zu übernehmen.188 Charakteristisch für die „Guerilla“ ist daneben die optische Identifizierbarkeit ihrer Kämpfer durch Uniformen. Terrorismus nicht-staatlicher Art fußt regelmäßig auf dem Handeln von Gruppen, welche die unmittelbare Konfrontation mit der staatlichen Exe­ kutive meiden und sich ihr nicht zu erkennen geben.189 Das Ziel einer politischen Einflussnahme oder eines Umsturzes suchen sie stattdessen durch konspirativ vorbereitete und ausgeführte Anschläge herbeizuführen, die innerhalb einer Gesellschaft Angst und Schrecken verbreiten sollen.190 Neben diesen Differenzen zwischen „Guerilla“ und „Terrorismus“ muss allerdings auch hervorgehoben werden, dass die Realität nicht immer ein trennscharfes Anwenden beider Begriffe ermöglicht. Terroristische Entitä­ ten können zu einer Guerillaorganisation avancieren, die sich der militä­ rischen Kampfführung und terroristischer Praktiken bedient. Umgekehrt kann eine „Guerilla“ in eine Phase der Schwäche gelangen, in der ihr nur Gewalttaten nach Art des Terrorismus bleiben.191 Exemplarisch hierfür sind die ursprünglich rein terroristisch agierenden Organisationen „Jab­ hat Fath al Sham“ und „Islamischer Staat“: Beide führten in Syrien bezie­ hungsweise dem Irak einen durch Terrorismus ergänzten Guerillakrieg.192 Nach dem Darlegen einiger essentieller Auszüge zur anscheinend nie abschließenden, schwer durchschaubaren und dadurch ermüdenden Dis­ kussion um das inhaltliche Ausgestalten des Terminus „Terrorismus“ soll an dieser Stelle vermieden werden, „sich vor begrifflichen Festlegungen zu drücken“193. Dabei geht es nicht darum, eine weitere Bezeichnung zu erschaffen, die den Anspruch der Allgemeingültigkeit erhebt. Vielmehr wird – in Anlehnung an Wolfgang Kraushaar und Armin Pfahl‑Traugh­ ber – ein pragmatischer Ansatz gewählt, der eine Minimaldefinition als Arbeitsbegriff zusammenstellt.194 Ausgehend von dieser Prämisse und den dargestellten inhaltlichen Auffassungen begreift die Arbeit einen nicht unmittelbar um territoriale Kontrolle kämpfenden und über keinerlei Staatsmacht verfügenden Akteur als „terroristisch“, sofern er in politischer Absicht planmäßig gewaltsam handelt, um Angst und Schrecken

188 189 190 191 192 193 194

52

Vgl. Straßner 2008a, S. 13. Vgl. Hoffman 2006, S. 35. Vgl. Pfahl-Traughber 2008, S. 28-29. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 33. Vgl. Pfahl-Traughber 2016, S. 15. Neidhardt 2006, S. 125. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 30; Pfahl-Traughber 2014b, S. 402.

1.3 Begriffsbestimmung

zu erzielen und/oder Unterstützung für die von ihm verfolgten Ziele zu mobilisieren. Wie das Adjektiv „politisch“ verdeutlicht, kommt es Terroristen im Ge­ gensatz zu Kriminellen nicht auf ein persönliches Gewinn- oder Befrie­ digungsstreben an, sondern auf das nachhaltige Prägen der öffentlichen Meinung und des gesellschaftlichen Miteinanders beziehungsweise auf das Beeinflussen und Stürzen von Regierungen. Zwar greifen terroristische Gruppen immer wieder zu strafbaren Taten (zum Beispiel: Diebstahl, Entführung, Erpressung, Mord), diese dienen aber grundsätzlich unmit­ telbar oder mittelbar „altruistischen“ Zielen.195 „Gewaltsam“ beschreibt physisches und nicht-physisches Einwirken auf Personen (Bedrohen, Fest­ setzen, Verletzen, Töten, et cetera) und Sachen (unter anderem: Beschä­ digen, Zerstören) – unabhängig von seiner konkreten Form. Diese Festle­ gung richtet sich gegen Schmids Meinung, derzufolge sich auf Objekte zielende Gewalt nicht in einer Terrorismusdefinition unterbringen lasse, da dies unweigerlich ein willkürliches Etikettieren von Vandalismus als „terroristisch“ zur Folge habe.196 Eine solche Position ignoriert schlicht die in der Historie des Terrorismus immer wieder aufgetretenen Fälle, in denen Gruppen ihre Aktionen bewusst auf das Angreifen von Sachen kon­ zentrierten. Dies gilt insbesondere für den Linksterrorismus, der sich von dieser Einschränkung versprach, größeren Zuspruch in seinem jeweiligen „radikalen Milieu“197 zu erhalten. Man denke an die während der 1970er Jahre in den Vereinigten Staaten präsenten „Weathermen“ sowie an die „Revolutionären Zellen“.198 „Planmäßig“ ist das oben erwähnte „gewaltsame Handeln“ dann, wenn ihm eine (konzeptionelle und/oder materielle) Vorbereitungsphase voraus­ geht. Selbstredend können Terroristen auch spontan aus einer Situation heraus zur Gewalt greifen, so bei einer zufälligen polizeilichen Verkehrs­ kontrolle. Ihr Hauptaugenmerk muss aber auf dem systematischen Planen von Aktivitäten liegen, wobei keine Aktionskette gefordert ist. Terrorist kann selbstverständlich ebenfalls sein, wer lediglich einen Gewaltakt aus politischer Motivation realisiert, um die genannten Wirkungen zu errei­ chen. Anders als Peter Waldmann wird auf die Annahme verzichtet, Terroristen würden gewaltsame Mittel aus dem „Untergrund“ heraus in Anspruch nehmen. Waldmann selbst lieferte hierfür das entscheidende 195 196 197 198

Vgl. Hoffman 2006, S. 37. Vgl. Schmid 2011b, S. 71, 84. Malthaner/Waldmann 2012, S. 11. Vgl. Wörle 2008b, S. 264; Bacon 2013, S. 259-260.

53

1 Einleitung

Gegenargument: der sogenannte Feierabendterrorismus, welcher vorsieht, nicht in die Illegalität abzutauchen, sondern gewaltsame Aktionen mit einer legalen Existenz zu kombinieren.199 Das sich auf „Angst und Schrecken“ sowie „Unterstützung“ beziehende Segment der hier genutzten Definition beleuchtet die diversen Funktio­ nen, die Terrorismus eigen sein können. Zum einen lässt er sich zur Einschüchterung spezieller Adressaten heranziehen. Zu den Zielgruppen können etwa ethnische oder religiöse Minderheiten, Berufsgruppen oder ganze Bevölkerungsteile zählen. Zum anderen sind – wie Peter Waldmann nachvollziehbar beschrieb – terroristische Mittel teilweise als Auslöser für Akklamation und Sympathie gedacht, die eine Unterstützung des unmit­ telbaren Umfelds (darunter: extremistische Gruppen) und der Gesellschaft ergeben sollen.200 Ob diese Resultate die Gewalt selbst, also ihre Art und Weise (beispielsweise: das Töten „verhasster“ staatlicher Funktionsträger), oder aber die Effekte gewaltsamer Taten (zum Beispiel: staatliche Überre­ aktion) erwirken, ist unerheblich. Im Anschluss an das Beantworten der Frage, was diese Arbeit unter „Terrorismus“ versteht, soll abschließend noch Folgendes aufgeklärt wer­ den: Was ist Linksterrorismus? Ähnlich mannigfaltig wie der Ausdruck „Terrorismus“ sind die Versuche, ihn zu typologisieren. Entsprechende Vorschläge orientieren sich unter anderem am Aktionsraum, an den Ak­ teuren und ihren Zielen.201 Das Kategorisieren entlang der ideologischen Ausrichtung terroristischer Gewalt findet sowohl international als auch in der deutschen Terrorismusliteratur größere Aufmerksamkeit, da dieses auf dem bedeutsamsten,202 wenngleich nicht gänzlich unumstrittenen Merk­ mal203 des Terrorismus aufbaut: seiner politischen Intention. Üblich ist ein Unterscheiden von vier Idealtypen, welche Rechts- und Linksterroris­ mus sowie ethnisch-separatistischen und religiös begründeten Terrorismus abgrenzen.204 „Linksterrorismus“ (auch geläufig unter der schwammige­ ren Wortkombination „sozialrevolutionärer Terrorismus“) gilt hierbei bis­ weilen als Variante, deren Motiv das Schaffen sozialer Gerechtigkeit im

199 200 201 202 203 204

54

Vgl. Waldmann 2011, S. 130. Vgl. ebd., S. 17-18. Vgl. Schmid/Jongman 2008, S. 40-49; Schmid 2011a, S. 6. Vgl. Hoffman 2006, S. 2-3. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 36-37. Vgl. Rabert 1995, S. 16; Hoffman 2006, S. 229-230; Malthaner 2008, S. 91-92; Straßner 2008a, S. 18-20; Marsden/Schmid 2011, S. 171; Waldmann 2011, S. 21; Pfahl-Traughber 2012b, S. 94-95.

1.3 Begriffsbestimmung

Zuge einer marxistisch-leninistischen Revolution bildet.205 Ihre Vertreter kämpften, so Armin Pfahl-Traughber, für „die Überwindung einer als repressiv und ungerecht empfundenen reaktionären Staats- und kapitalis­ tischen Wirtschaftsordnung.“206 Sie würden damit die Vision einer „sozia­ listische[n] Gesellschaft“207 beziehungsweise die „grundlegende politische und soziale Neuordnung einer Gesellschaft […] nach zumeist marxisti­ schem Vorbild“208 in den Mittelpunkt stellen. Alexander Straßner betonte überdies einen möglichen Einfluss dem Marxismus ähnlicher oder aus ihm entstandener Ideologeme in der Agenda linksterroristischer Akteure. Darunter fasste er vor allem den Anarchismus.209 Wer Hoffman folgt, schreibt dem Linksterrorismus grundsätzlich eine fehlende Antwort auf die Frage zu, welche Form die revolutionierten politischen Verhältnisse im Einzelnen annehmen sollten.210 Laut Waldmann sind linksterroristische Alternativentwürfe in erster Linie mit der Maßgabe einer Umverteilung politischer Macht verbunden, welche jedem Gesellschaftsmitglied Gleich­ berechtigung und eine bedürfnisgerechte Lebensführung zugesteht.211 Ein Zusammenfassen dieser Eingrenzungen ergibt folgende, im Rah­ men der weiteren Arbeit relevante Begriffsbestimmung: „Linksterrorismus“ hebt sich durch planmäßiges gewaltsames Handeln her­ vor, dessen Legitimation und Ziele die Ausführenden direkt und/oder indi­ rekt aus marxistisch und/oder anarchistisch geprägten Gesellschaftstheorien und Strategien ziehen. „Direkt und/oder indirekt“ bringt hervor, dass Linksterroristen sich entwe­ der wortwörtlich auf Werke des Marxismus und Anarchismus berufen oder aber implizit die darin umrissenen Grundsätze übernehmen können, ohne sich detailliert mit entsprechenden schriftlichen Grundlagen ausein­ andergesetzt zu haben. „Marxistisch und/oder anarchistisch geprägt“ schließt den Marxismus als solchen und die ihm folgenden Strömungen und Denk­ schulen ein. Unter dieses definitorische Element fallen zudem die von ver­ schiedenen Autoren – wie zum Beispiel Michael Bakunin, Peter Kropotkin und Pierre-Joseph Proudhon – entworfenen weltanschaulichen Positionen

205 206 207 208 209 210 211

Vgl. Hoffman 2006, S. 230-231. Pfahl-Traughber 2008, S. 25. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 22. Malthaner 2008, S. 99. Vgl. Straßner 2003, S. 20. Vgl. Hoffmann 2006, S. 243. Vgl. Waldmann 2011, S. 12.

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1 Einleitung

des Anarchismus.212 Das Substantiv „Marxismus“ bezieht sich auf die Ar­ beiten von Karl Marx und Friedrich Engels, deren historischer Determinis­ mus eine zwangsläufige Entwicklung kapitalistisch geprägter zu zunächst sozialistischen, schließlich zu kommunistischen Gesellschaften annahm.213 Diese Umbrüche erklärten sie mit den Mechanismen des Kapitalismus, der – wie in ihrem 1848 erstmals erschienenen „Manifest der Kommunis­ tischen Partei“ betont – durch beständige, auf Profitakkumulation ausge­ richtete Überproduktion die soziale Klasse der Arbeiter ins Elend führe.214 Nach Annahme von Marx und Engels würde der daraus resultierende Unmut eine Revolution auslösen, in der sich das Proletariat staatlicher Herrschaft bemächtigt, um wirtschaftliches Ausbeuten und Unterdrücken zu beseitigen. Letzte Konsequenz dieser Umwälzung sei eine von Klassen befreite Gesellschaftsordnung.215 An diese und weitere Überlegungen von Karl Marx und Friedrich Engels schlossen andere Denker an – so Wladi­ mir Iljitsch Lenin, Leo Trotzki, Mao Tse‑tung und Rosa Luxemburg. Sie erarbeiteten jeweils eigene, vorwiegend strategisch geprägte Interpretatio­ nen marxistischer Inhalte.216 Anarchistische Ideologieinhalte zeichnen sich im Wesentlichen durch ein starkes Betonen der Freiheit des Einzelnen und ein damit verbundenes, ausnahmsloses Ablehnen jeglicher Über-/Un­ terordnungsverhältnisse im menschlichen Zusammenleben aus.217 Die „Rote Armee Fraktion“, die „Tupamaros Westberlin“/die „Bewe­ gung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ sind Archetypen des (Links‑)Terrorismus. Mit zum Teil hohem planerischem und logistischem Aufwand griffen sie über Jahre, ja gar Jahrzehnte hinweg zu systematischer Gewalt gegen Sachen und Personen. Wie im weiteren Verlauf dieser Ar­ beit deutlich wird, fußte dieses Handeln der Gruppen auf unverkennbar disparaten organisatorischen Strukturen. Fürderhin erreichte es eine sehr unterschiedliche Quantität und Qualität. Zudem differierten die Effekte, die sich die Mitglieder von ihren Aktivitäten erhofften. Während beispiels­

212 Nähere Erläuterungen zu den einzelnen Ausprägungen des Anarchismus finden sich bei Oberländer 1972a, S. 11-34; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 56-62; Backes 2018, S. 138-140. 213 Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 29. 214 Vgl. Marx/Engels 2009, S. 50-56. 215 Vgl. ebd., S. 74-76. 216 Nähere Ausführungen zu den auf dem Marxismus gründenden ideologischen Strömungen finden sich bei Pfahl-Traughber 2014a, S. 43-54; Backes 2018, S. 127-137. Vgl. auch Mannewitz/Thieme 2020, S. 35. 217 Vgl. Oberländer 1972a, S. 12-13; Pfahl-Traughber 2014a, S. 55-56; Backes 2018, S. 127; Mannewitz/Thieme 2020, S. 33, 76-77.

56

1.4 Forschungsstand

weise die RAF – nach dem Verhaften der Mitglieder der Ersten Generation im Laufe des Jahres 1972 – zusehends eine Aktions‑Repressions-Spirale auszulösen versuchte, welche der bundesrepublikanischen Bevölkerung das – angeblich – autoritäre Wesen ihrer Regierung offenbaren und da­ durch das Volk zur Revolution bewegen sollte,218 konzentrierten sich die „Revolutionären Zellen“ auf ein „Vermassen“ der Anschläge. Diese waren als Fanal angelegt, das die jedem zugängliche Möglichkeit gewaltsamen Widerstandes gegen die deutsche Staats- und Gesellschaftsordnung aufzei­ gen und begründen sollte.219 Was das ideologische Einordnen der RAF, der TW/der B2J und der RZ anbelangt, so ergibt sich ebenfalls ein vielseiti­ ges Bild: Die RAF rekurrierte im Wege der inhaltlichen Begründung ihres „bewaffneten Kampfes“ explizit auf diverse Theoretiker des Marxismus. Neben den Werken von Marx und Engels zog sie insbesondere die Überle­ gungen Lenins und Mao Tse-tungs heran,220 wobei diese Auseinander­ setzung mit sozialrevolutionären Klassikern als Folge personeller Fluktua­ tion immer stärker nachließ.221 Die „Tupamaros Westberlin“/die „Bewe­ gung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ legten wesentlich weniger Wert auf das eingehende Aufstellen einer Theorie anhand marxistischer und anarchistischer Vordenker: Deren Auffassungen übernahmen sie al­ lenfalls implizit. Allen drei Gruppen war wiederum – wie bereits unter Punkt 1.2 ersichtlich – ein weitgehender Verzicht auf eindeutige Alterna­ tiventwürfe gemein, welche die von ihnen angestrebte Gesellschaft erken­ nen ließen.222 1.4 Forschungsstand 1.4.1 Grundsätzliches Im Jahre 2000 warf die Politikwissenschaftlerin Hiltrud Naßmacher in einem Aufsatz die eingängige These auf, der Verfasser einer (politik-)wis­ senschaftlichen Untersuchung profitiere erheblich von einer Durchsicht vorheriger Forschungsleistungen seiner Disziplin. Denn: In zurückliegen­ 218 Vgl. Bundesministerium des Innern 1975, S. 163; Rote Armee Fraktion 1983, S. 72; Möller/Tolmein 1999, S. 53. 219 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247. 220 Vgl. Hobe 1979, S. 36. 221 Vgl. Straßner 2003, S. 278. 222 Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 177

57

1 Einleitung

den Arbeiten könnten bereits Faktoren identifiziert worden sein, welche für das Lösen der eigenen neuen Problemstellung tatsächlich oder potenti­ ell bedeutsam sind. Ziehe man Werke heran, bestünde nicht der Zwang, während der Konzeption eines analytischen Schemas „immer wieder bei Null anzufangen.“223 Naßmacher plädierte damit für ein Aufbrechen paro­ chialer Forschung, die durch ihre definitorische und inhaltliche Selbstge­ nügsamkeit auf einen Anschluss an den wissenschaftlichen Diskurs und das zielgerichtete, kumulative Ansammeln von Wissen verzichtet.224 Den von ihr noch mit Zurückhaltung eingebrachten Vorschlag zählen metho­ dologische Handbücher ob der unbestreitbaren Vorteile mittlerweile un­ terschiedslos zu den elementaren Standards sozialwissenschaftlicher For­ schungsvorhaben.225 Auch die Arbeit soll diesem Grundsatz Rechnung tragen, indem sie die Literatur durchsieht und auf ihre Relevanz für den im Unterkapitel 1.2 niedergelegten Blickwinkel prüft. Dieser Schritt voll­ zieht sich entlang der folgenden Fragen: I

Welche Aussagen im Allgemeinen trifft die Terrorismusforschung zu freund­ schaftlich‑kooperativen und adversativen Beziehungen zwischen terroristi­ schen Akteuren? II Was haben Forscher im Besonderen zu den untereinander und im Ausland bestehenden Verbindungen der RAF, der TW/der B2J und der RZ bereits erfasst?

Vor dem Beantworten beider Fragen seien – um der besseren Übersicht willen – einige hinführende Worte zum Stand der Forschung gesagt, wel­ che sich auf Terrorismus konzentriert. Die Ausführungen in Unterkapitel 1.3.3 machen nicht nur die Tretminen eines einheitlichen begrifflichen Einfassens des Ausdrucks „Terrorismus“ deutlich. Überdies verweisen sie implizit auf ein grundlegendes Problem: die in diesem Themenfeld über­ bordende Anzahl an Meinungsmachern. Seit Dezennien wird terroristi­ sche Gewalt von Akteuren verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten beleuchtet. Die Abhandlungen zu ihr sind Legion, in ihrer Gänze jedenfalls nicht mehr zu überblicken.226

223 Naßmacher 2000, S. 83. 224 Vgl. Patzelt 2005, S. 36. 225 Vgl. exemplarisch Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 22-23; Lauth/Winkler 2010, S. 41-42. 226 Vgl. della Porta 2013, S. 11. Donatella della Porta stellte in ihrem Werk „Clan­ destine Political Violence“ auch die grundlegenden Problematiken der existie­

58

1.4 Forschungsstand

Inhaltlich reichen sie – um nur einige Themenfelder exemplarisch zu nen­ nen – von dem psychologischen Bewerten der involvierten Individuen227 über das sozialwissenschaftliche Studium von Radikalisierungsprozessen228 bis zur Explikation bestimmter Modi Operandi (zum Beispiel: Selbstmord­ terrorismus229) und zum Aufarbeiten gesetzlicher Änderungen, welche Terrorismus nach sich gezogen hat.230 Diese Ergebnisse beziehen sich ih­ rerseits wiederum auf die diversen ideologischen Spielarten terroristischer Kampagnen in disparaten historischen Zeitspannen. Wie Schmids Werke zeigten, erreichte der Umfang der Terrorismusforschung bereits Mitte der 1980er Jahre ein Ausmaß, das sogar deren metatheoretische Analyse legi­ timierte.231 Fortan wurden nicht mehr nur Werke zum Terrorismus abge­ fasst, sondern auch Bücher zu den Ergebnissen des ihn behandelnden Wis­ senschaftsstrangs. Trotz dieser für den Neueinsteiger unübersichtlichen, aufgrund ihrer Kontroversen bisweilen verwirrenden Masse an Literatur werden Forscher nicht müde, Terrorismus – und das ihn umgebende Um­ feld – in all seinen Einzelheiten an die Oberfläche zu bringen. Selbstredend ist dieser nie versiegende Bedarf wissenschaftlicher Inan­ sichtnahme dem dynamischen Wesen des untersuchten Phänomens ge­ schuldet: „Kontingenz“, so Wolfgang Kraushaar, „ist eines der grundlegen­ den Elemente terroristischen Handelns.“232 Dieses Handeln entsteht und wirkt in Abhängigkeit zu seiner Umwelt – es befindet sich daher stets im Wandel. Dies trifft zum einen für einzelne terroristische Akteure, zum anderen für den Terrorismus als Ganzes zu.233 Letztes wird nirgends so deutlich herausgestellt, wie in David Rapoports Arbeit. Rapoport begriff die Entwicklungen im Terrorismus als Wellenbewegungen: Dominierten ab den 1880er Jahren zunächst anarchistische und später antikoloniale Gruppen die Wahrnehmung terroristischer Gewalthandlungen, verschob sich dieser Schwerpunkt ab den 1960er Jahren auf Linksterrorismus und später auf religiös begründete beziehungsweise islamistische Aktivitäten

227 228 229 230 231 232 233

renden Literatur zum Terrorismus dar. Ähnliches findet sich bei Schmid 2011c, S. 466-467. Vgl. Taylor 1988, S. 140-157; Horgan 2014, S. 47-76. Vgl. Jäger/Böllinger 1981, S. 141-174; Claessens/de Ahna 1982, S. 132-143; Sage­ man 2004, S. 107-135. Vgl. Pape 2006, S. 4. Vgl. Berlit/Dreier 1984, S. 231-246, 274-285; Rabert 1995, S. 55-87. Vgl. Schmid 1984, S. 418-422. Kraushaar 2006a, S. 28. Vgl. Straßner 2008a, S. 23.

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1 Einleitung

terroristischer Akteure.234 Dementsprechend veränderte sich die themati­ sche Ausrichtung der Terrorismusforschung. Während Linksterrorismus mittlerweile kaum noch Aufmerksamkeit findet, kann sich islamistischer Terrorismus angesichts seiner ungebrochenen Aktualität weiterhin einem intensiven wissenschaftlichen Begutachten sicher sein. Die nach dem 11. September 2001 aufgekommene Flut an einschlägigen Untersuchun­ gen hält an.235 Entsprechend der transformativen Prozesse, denen der isla­ mistische Terrorismus als aktuelle „Welle“ terroristischen Agierens unter­ worfen ist, sehen arrivierte Terrorismusforscher in jüngerer Zeit die Not­ wendigkeit, den Konnex zwischen Internet und Terrorismus stärker her­ vorzuheben.236 Vor allem die Handlungen des „Islamischen Staates“ be­ gründen das Erfordernis, sich mit der propagandistischen und operativen Nutzung von Internetangeboten durch Terroristen zu beschäftigen.237 Da­ rüber hinaus zeichnet sich ein umfassenderes Aufarbeiten interaktiver Ver­ hältnisse im Terrorismus ab, was insbesondere auf der ausgeprägten Publi­ zität des Konfliktes zwischen dem IS und der „al Qaida“ fußen dürfte. 1.4.2 Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren Der letztgenannte Aspekt führt zu der Frage: Welche Aussagen im Allgemei­ nen trifft die Terrorismusforschung zu freundschaftlich-kooperativen und adver­ sativen Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren? Obzwar Gewalthand­ lungen miteinander verflochtener und verfeindeter Entitäten des Terroris­ mus bereits seit den 1970er Jahren in wissenschaftlichen Abhandlungen – zumindest kursorisch – erwähnt werden238 und derartige Verbindun­ gen beachtlichen Schaden nach sich ziehen können, hat das eingehende Untersuchen der interdependenten Verhältnisse solcher Personenzusam­ menschlüsse erst in den vergangenen fünfzehn Jahren spürbar an Bedeu­ tung gewonnen. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Feld nach wie vor um ein Desiderat der Forschung, welches nur wenige, vorwiegend aus dem angelsächsischen Raum stammende Wissenschaftler – vor dem Hintergrund der gravierenden Konsequenzen positiven wie negativen Aus­ tauschs im Terrorismus – mit hohem Aufwand aufgreifen. Beurteilen die

234 235 236 237 238

60

Vgl. Rapoport 2004, S. 47. Vgl. auch Gräfe 2017, S. 76-77. Vgl. Waldmann 2008, S. 11; Waldmann 2011, S. 35, 135; della Porta 2013, S. 11. Vgl. Schmid 2011a, S. 8. Vgl. Hoffmann/Schweitzer 2015, S. 72-75. Vgl. Laqueur 1977, S. 104, 115, 193-194.

1.4 Forschungsstand

in diesem Bereich tätigen Forscher die Menge der Werke, fallen vor allem zwei Adjektive: „understudied and under-theorized“239. In einer Gesamt­ schau der Arbeiten dieser Wissenschaftler lassen sich zügig drei Schwer­ punkte erblicken, denen sie ihre Bemühungen widmen. Diese umfassen – erstens Typologien zu Beziehungen im Terrorismus, – zweitens Auswirkungen assoziativer und adversativer Verhältnisse sowie – drittens Bedingungsfaktoren solcher Interaktionen. Diese Arbeit greift vor allem die bisherigen Anstrengungen zur Kategori­ sierung von Beziehungen sowie zur Identifikation der Auslöser und Trieb­ kräfte solcher Verhältnisse auf. Resultate terroristischer Kooperation, Kon­ kurrenz und Feindschaft bleiben zwar nicht gänzlich unberücksichtigt, spielen aber für die Analyse der hier untersuchten Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ nicht eine ähnlich prominente Rolle. Während die Mehrzahl der Forscher der kleinen „sientific community“ zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren Erklärungsmodelle zu Genese und Folgen derselben erschuf und justierte, schlugen vereinzelte Wissenschaftler (zusätzlich) ein allgemeingültiges System vor, mit dem der Zustand solcher Verhältnisse erfasst und bewertet werden kann. Hierzu zählen Christopher Daase und Assaf Moghadam.240 Ihre Arbeiten lassen sich als erste Entwürfe mit Pioniercharakter verstehen, die verschiedene Formen terroristischer Verknüpfung mitunter nicht ganz trennscharf skiz­ zierten. Daase wagte im Jahre 2006 den Versuch, Kooperationsstufen nach der Qualität und nach der Art des Partners zu ordnen, mit dem die Zusammenarbeit erfolgt. Dementsprechend ist sein Schema sowohl zum Bemessen der Interaktion zwischen terroristischen Gruppen als auch zum Bewerten von Verhältnissen zwischen Terroristen und einem Staat geeignet.241 Moghadam verzichtete zunächst – zugunsten eines exklusiven Befassens mit den differenten Inhalten assoziativer Verhältnisse – auf die­ sen Ansatz,242 schloss sich jedoch wenig später – vermutlich auf Anregung 239 Moghadam 2015, S. 22. Vgl. auch Moghadam 2017, S. 2. Ähnlich äußern sich Karmon 2005, S. 3, 296; Daase 2006, S. 908; Horowitz/Potter 2011, S. 4; Phillips 2012, S. 1-2; Bacon 2013, S. 2; Phillips 2014, S. 336; Bacon 2014, S. 6; Hagerty 2016, S. 2. 240 Vgl. Daase 2006; Moghadam 2015; Moghadam 2017. 241 Vgl. Daase 2006, S. 910-912. 242 Vgl. Moghadam 2015, S. 22-24.

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1 Einleitung

Daases243 – der Richtung an, welche jener 2006 eingeschlagen hatte. In seinem 2017 erstmals veröffentlichten Werk „Nexus of Global Jihad – Un­ derstanding Cooperation Among Terrorist Actors“ legte Moghadam eine gleichermaßen nach qualitativen Gesichtspunkten und nach Akteuren ge­ gliederte Typologie vor. Wenngleich die ihr zugrundeliegende Akteursska­ la in erster Linie drei Formen terroristischer Kräfte berücksichtigte, die als „Organizations“, „Networks“ und „Entrepreneurs“ beschrieben wurden, versäumte es Moghadam nicht, die Möglichkeit einer Erweiterung seiner Typologie um staatliche Entscheidungsträger aufzuzeigen.244 Ansätze zur Entwicklung eines Rasters, das ausschließlich ein Einordnen von Bezie­ hungen zwischen klassischen terroristischen Entitäten – also den von Mog­ hadam als „Organizations“ beschriebenen Kräften245 – erlaubt, finden sich zudem in den Dissertationen von Ely Karmon und Tricia Bacon, wobei Karmons dreigliedriger Vorschlag vergleichsweise rudimentär wirkt. Bemerkenswert ist zum einen, dass die von diesen vier Wissenschaftlern gebildeten Kategorien und Typologien stark differieren – sie gingen von unterschiedlichen Grundannahmen aus. Entwarf beispielsweise Karmon Beziehungstypen ausschließlich nach der Art des Gutes, das zwischen Terroristen ausgetauscht wird,246 legte Bacon ihren Idealtypen nach kriti­ schem Würdigen des Konzepts von Karmon komplexere Vorüberlegungen zugrunde. Diese umfassten ebenfalls die Erwartungen der involvierten Akteure zur Dauer der Partnerschaft sowie etwaige Über‑/Unterordnungs­ verhältnisse im Zuge der Zusammenarbeit.247 Auffallend ist zum anderen der einseitige thematische Zuschnitt der Typologien auf positive, das heißt auf kooperative Verbindungen zwischen terroristischen Akteuren. Wie sogleich gezeigt wird, finden negative Verhältnisse im Terrorismus durchaus Aufmerksamkeit in quantitativen wie qualitativen Untersuchun­ gen. Die daraus generierten Befunde harren jedoch einer eingehenden Ver­ wendung, die sich dem Bilden idealtypischer Klassen verschreibt. Dieses Defizit sucht der Autor im Unterkapitel 2.2 zu beheben. Dabei zieht er die Entwürfe Daases, Moghadams, Karmons und Bacons zusammen – und entwickelt sie weiter.

243 244 245 246 247

62

Vgl. Moghadam 2017, S. XI. Vgl. ebd., S. 97-120, 275-276. Vgl. ebd., 50-54. Vgl. Karmon 2005, S. 49-50. Vgl. Bacon 2013, S. 751-756. Zu den Unterschieden der Typologien von Kar­ mon und Bacon vgl. auch Moghadam 2017, S. 33-40.

1.4 Forschungsstand

Die von Victor Asal, Gary Ackerman, Karl Rethemeyer, Michael Ho­ rowitz, Philip Potter, Mia Bloom, Stephen Nemeth und Brian Phillips zu Auswirkungen positiver und negativer Beziehungen zwischen terroris­ tischen Entitäten präsentierten Ergebnisse sind facettenreich. Allerdings fällt auf, dass ihre Resultate überwiegend auf eine quantitative Methodik zurückgehen, welche der Forscher beziehungsweise das Forscherkollektiv in kurzen Artikeln entwickelte und zur Anwendung brachte. Lediglich Blooms Monografie ist als qualitativer Beitrag zur Bestimmung der Effekte zu sehen, die assoziative und adversative Beziehungen zur Folge haben können. Die in diesen zwei Formaten erarbeiteten Leistungen sind mit klassischen Stärken und Schwächen verbunden. Blooms qualitatives For­ schungsdesign sticht durch ein Nachzeichnen von Kausalbeziehungen her­ vor, das Entwicklungen umfassend und nachvollziehbar zu rekonstruieren vermochte. Folglich erreichte sie eine beachtliche analytische Tiefe. Ihre Argumentation wurde jedoch aus einer stark limitierten Zahl von Fällen – aus dem Nahost-Konflikt und dem im Jahre 2009 beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka248 – abgeleitet. Diese Fallauswahl zwingt einem Generalisie­ ren etwaiger Ergebnisse enge Grenzen auf. Hierfür sprachen Nemeths statistische Berechnungen, die nur schwache Nachweise für Blooms Erklä­ rungsansatz zutage förderten.249 Dem Vorwurf begrenzter theoretischer Reichweite sehen sich die no­ mothetischen Arbeiten von Asal, Ackerman, Rethemeyer, Horowitz, Pot­ ter, Nemeth und Phillips nicht ausgesetzt. Im Gegenteil: Sie berücksich­ tigen jeweils mehr als 300 Fälle aus unterschiedlichen Zeitspannen,250 die sie zum Formulieren verallgemeinerbarer Schlussfolgerungen befähig­ ten. Diese Stärke wurde allerdings selten konsequent genutzt – was sicher­ lich auf die bisweilen bewusst angelegte, explorative Form der jeweiligen Ausführungen251 zurückzuführen ist. Die betroffenen Verfasser stellten belastbare Korrelationen heraus. Zumeist mieden sie jedoch die extensive inhaltliche Auseinandersetzung mit den beleuchteten Fällen. Eine systema­ tische, auf empirisches Beweisführen gestützte Aufarbeitung der entdeck­ ten Anomalien nahmen sie nicht vor, will heißen: Die Besonderheiten und Kontexte der herangezogenen Fälle traten völlig zugunsten einer größt­

248 Vgl. Bloom 2005, S. 19-75. 249 Vgl. Nemeth 2013, S. 15. 250 Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 15; Horowitz/Potter 2011, S. 23, 28; Asal/Acker­ man/Rethemeyer 2012, S. 20; Nemeth 2013, S. 8-9; Phillips 2014, S. 339; Phillips 2015, S. 68. 251 Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 23-24; Phillips 2014, S. 345; Phillips 2015, S. 71.

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1 Einleitung

möglichen Abstraktion wissenschaftlicher Resultate zurück. Allzu häufig blieb in solchen Analysen unklar, ob Korrelationen Kausalzusammenhän­ ge abbilden – die Beziehungen im Terrorismus also die Ursache für jene Auswirkung(en) darstellen, welche ermittelt wurde(n). Dieses rein deskrip­ tive Abfassen statistischer Berechnungen kennzeichnet die Untersuchun­ gen von Asal, Ackerman, Rethemeyer und Nemeth sowie einen Artikel von Phillips. Nur der Beitrag von Horowitz und Potter sowie der Aufsatz „Enemies with benefits? Violent rivalry and terrorist group longevity“ von Phillips kombinierten einen quantitativen Auswertungsansatz mit einer qualitativen Fallanalyse zum Terrorismus im Nahen Osten und in Asien und/oder in Kolumbien und Irland.252 Damit erreichten die Autoren eine größere Plausibilität ihrer Befunde. Indes wies Phillips mit Recht darauf hin, dass das Absichern seiner Schlussfolgerungen ausführlicherer Studien bedarf.253 Eine weitere, oftmals unzureichend reflektierte Schwäche der genannten quantitativen Längsschnittanalysen bildet die Qualität der herangezogenen Informationen zu terroristischen Akteuren.254 Bei allen Verfassern stamm­ ten die Daten gänzlich oder in Teilen aus der „Terrorism Knowledge Base“ (TKB) beziehungsweise aus der öffentlich zugänglichen „Global Ter­ rorism Database“ (GTD) der University of Maryland.255 Wie Asal und Rethemeyer im Jahre 2008 in einer Bewertung zur TKB betonten, sei ein Großteil der darin verzeichneten terroristischen Ereignisse und Perso­ nenschäden aufgrund fehlender Erkenntnisse keiner Entität zugeordnet worden. Dies führe aus zwei Gründen zu erheblicher Unsicherheit hin­ sichtlich der Verlässlichkeit statistischer Berechnungen. Erstens könnten die in der TKB enthaltenen Gruppen de facto für mehr Aktivitäten verant­ wortlich gewesen sein als angezeigt. Zweitens standen hinter den nicht mit einem Akteur verknüpften Vorkommnissen womöglich unbekannte Personenzusammenschlüsse, die nicht in der „Terrorism Knowledge Base“ erfasst wurden.256 Diese von Asal und Rethemeyer angesprochenen Risi­ ken lassen Analyseergebnisse befürchten, die zwar die Daten erschöpfend und verlässlich auswerten, infolge der Unvollständigkeit aber die Realität 252 Vgl. Horowitz/Potter 2011, S. 12-19; Phillips 2015, S. 65-68. 253 Vgl. Phillips 2015, S. 71. 254 Weitere Schwächen quantitativer Forschung zum Phänomen des Terrorismus finden sich in della Porta 2013, S. 22. 255 Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 11-12; Horowitz/Potter 2011, S. 22; Asal/Acker­ man/Rethemeyer 2012, S. 18; Nemeth 2013, S. 8; Phillips 2014, S. 339; Phillips 2015, S. 68. 256 Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 12, 22-23.

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1.4 Forschungsstand

nicht oder nur unzureichend widerspiegeln. Wer eine Auflistung der in der GTD eingetragenen Vorkommnisse betrachtet,257 wird Asals und Re­ themeyers Einwände auf diese Datensammlung übertragen können. Die Arbeiten zu den Resultaten terroristischer Interaktion diskutierten insbesondere Beobachtungen zu Gewaltquantität und -qualität sowie zur Existenzdauer der beteiligten Kräfte.258 Ihre wesentlichen Entdeckungen: – Bloom prägte die mittlerweile auch in anderen Abhandlungen zum Terrorismus genannte Theorie, derzufolge Konkurrenzverhältnisse zwi­ schen terroristischen Gruppen und/oder Organisationen als Erklärung für die bisweilen zu beobachtende qualitative Zunahme ihrer Gewalt­ handlungen gelten könnten. Im Falle eines Scheiterns „konventionel­ ler“ terroristischer Mittel bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Akzeptanz von Gewalt gingen einschlägige Entitäten dazu über, vermittels immer drastischerer Gewalthandlungen (in Form von Selbstmordanschlägen) eine größere Sichtbarkeit sowie eine stärkere Unterstützung ihres poli­ tisch motivierten Kampfs zu gewinnen.259 – In Anknüpfung an die Arbeit von Bloom wies Nemeth einen „Tritt­ brettfahrereffekt“ für bestimmte Konstellationen nach, in denen terro­ ristische Akteure rivalisieren. Infolge der Existenz mehrerer Entitäten mit gleichgelagerten Kampagnen und Zielen böte sich Einzelnen die Chance, stillschweigend von den Aktivitäten der Konkurrenz zu pro­ fitieren. Das bedeutet: Terroristen könnten die eigenen Ziele selbst dann erreichen, wenn der hierfür investierte Aufwand vermindert und ausschließlich oder überwiegend auf die Aktionen konkurrierender Ak­ teure vertraut wird. Ein solcher Prozess würde zu einem Rückgang ihrer Gewalttaten führen.260 – Je mehr Kontakte ein terroristischer Akteur zu Gleichgesinnten pflegt, desto größer sind laut Asal und Rethemeyer die „Erfolge“ seiner gewalt­ samen Kampagnen. Als Messgröße für „Erfolg“ wählten sie dabei die Zahl an Menschen, welche den Anschlägen einer Entität zum Opfer ge­ fallen waren.261 Horowitz und Potter fügten später in einem separaten Artikel hinzu, die Qualität der Anschläge eines Akteurs hinge nicht so

257 Vgl. National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terror­ ism 2019. 258 Ähnlich Moghadam 2017, S. 9. 259 Vgl. Bloom 2005, S. 1, 191-192. 260 Vgl. Nemeth 2013, S. 6, 14. 261 Vgl. Asal/Rethemeyer 2008, S. 15-16, 21.

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1 Einleitung

sehr von der bloßen Anzahl der Verknüpfungen ab. Entscheidend sei eher, mit welchen Gruppen er verbunden ist. Eine Entität erreiche vor allem dann hohen Schaden, wenn sie mit terroristischen Formationen im Austausch stehe, die ihrerseits zahlreiche Beziehungen zu anderen terroristischen Gruppen unterhielten.262 – Bei terroristischen Akteuren, die in autokratisch geführten Staaten mit substantiellem Zugang zum globalen Handel aktiv sind und Anschluss zu einer terroristischen „Allianz“ gefunden haben, sei – so Asal, Acker­ man und Rethemeyer – die Entscheidung für ein Streben nach Mas­ senvernichtungswaffen wahrscheinlicher als bei anderen Entitäten des Terrorismus.263 – Phillips kam über statistische Analysen zu der Aussage, Verbindungen zu anderen terroristischen Akteuren stünden mit der Existenzdauer sol­ cher Gruppen in einem positiven Zusammenhang. Je höher die Zahl an Verbindungen zu anderen terroristischen Entitäten sei, desto gerin­ ger werde die Wahrscheinlichkeit eines „Scheiterns“. Unter „Scheitern“ verstand Phillips sowohl den strukturellen Zusammenbruch eines Ak­ teurs als auch eine Abkehr von der gewaltsamen Vorgehensweise zu­ gunsten einer legalistischen Strategie.264 – Befindet sich ein terroristischer Akteur in einem Konflikt mit einer anderen terroristischen Entität, vermindert dies laut Phillips die Wahr­ scheinlichkeit eines Aufgebens des von ihm geführten gewaltsamen Kampfes. Wer seinen Berechnungsergebnissen folgt, wird dies aller­ dings nur für „interfield rivalries“ als zutreffend sehen – also für negative Beziehungen, die zwischen Personenzusammenschlüssen mit gänzlich unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung auftreten. Adver­ sative Verhältnisse zwischen Entitäten mit ähnlichen oder denselben Weltbildern und Zielen hätten nicht einen positiven Einfluss auf die Existenzdauer der beteiligten Akteure.265 Bedingungsfaktoren als drittes Forschungsfeld der Literatur zu Beziehun­ gen zwischen terroristischen Akteuren wurden bisher in einigen wenigen, teilweise sehr umfangreichen Untersuchungen beleuchtet. Zu nennen sind hier die qualitativen Forschungsleistungen von Ely Karmon, Tricia Bacon und Vivian Hagerty. Über eine quantitative Analyse näherten sich Erica

262 263 264 265

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Vgl. Horowitz/Potter 2011, S. 25, 29. Vgl. Asal/Ackerman/Rethemeyer 2012, S. 2, 25. Vgl. Phillips 2014, S. 340, 343. Vgl. Phillips 2015, S. 70.

1.4 Forschungsstand

Chenoweth und Brian Phillips den Ursachen terroristischer Interaktion, wobei ihre Arbeiten stark differierten. Karmons 2005 veröffentlichte Dis­ sertation „Coalitions between Terrorist Organizations“ kann insofern als bahnbrechend gesehen werden, als sie die erste Monografie darstellt, die ein Sich-Vernetzen im Terrorismus und dessen Voraussetzungen sowie Auslöser in einer diachronen, multivariaten Analyse nachvollziehbar aufar­ beitete. Grundlage seiner Schilderungen waren neun Fallkonstellationen vom deutschen und französischen über den italienischen Linksterrorismus bis zu den terroristischen Akteuren des Nahost-Konflikts. Auch islamis­ tisch-terroristische Entitäten bezog er in seine Betrachtungen ein. Die zen­ trale These Karmons, derzufolge Terroristen vor allem dann eine Koopera­ tion anstrebten, wenn sich ihre Strukturen einer existenziellen Bedrohung gegenübersähen,266 wurde in nachfolgenden Arbeiten zu Beziehungen im Terrorismus wiederholt aufgegriffen. Sie ist allerdings umstritten. So fand Phillips in einer variablenorientierten Untersuchung zu 622 terroristischen Entitäten, welche zwischen den Jahren 1987 und 2005 aktiv waren, kaum Bestätigung für Karmons Ergebnisse. Er plädierte dementsprechend dafür, den von Karmon gewählten Ansatz, eine Explikation der interdependen­ ten Relationen zwischen terroristischen Entitäten mithilfe der Theorien zu interstaatlichen Allianzen bereitzustellen,267 nicht ohne eingehendes Prüfen zu übernehmen.268 Bacon knüpfte in ihrer kenntnisreichen, fallori­ entierten Dissertation ebenfalls an Karmon an, wählte jedoch eine im Hinblick auf mögliche Auslöser und Bedingungen differenzierendere Per­ spektive, um die Prämissen positiver Verbindungen im Terrorismus frei­ zulegen.269 Anhand der Beziehungsgeflechte der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ (PFLP-SOG)270 und der „al Qaida“ betonte sie die Rolle von ihr als „alliance hubs“ beschriebe­ ner terroristischer Akteure. Diese würden – aufgrund ihrer Kenntnisse und einer gut ausgebauten logistisch-operativen Infrastruktur – von einer Viel­ zahl anderer terroristischer Entitäten als Kooperationspartner in Anspruch genommen werden.271

266 267 268 269 270

Vgl. Karmon 2005, S. 25, 279. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Phillips 2012, S. 18-20. Vgl. Bacon 2013, S. 29-33, 49, 59. Geläufig ist für diesen Akteur auch die Bezeichnung „Popular Front for the Liberation of Palestine – External Operations“ (PFLP‑EO) und „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Command“ (PFLP-SC). 271 Vgl. Bacon 2013, S. 16, S. 726-746; Bacon 2014, S. 16.

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1 Einleitung

Anders als Karmon und Bacon ging es Hagerty nicht darum, das Ent­ stehen positiver Verbindungen zwischen terroristischen Akteuren nachzu­ zeichnen. Vielmehr verschrieb sie sich dem Ziel, Gründe für das Scheitern solcher Beziehungen zu identifizieren und den Übergang zwischen Inter­ aktionsformen zu dokumentieren. In einem hinsichtlich seiner Problem­ stellung bislang einzigartigen, inhaltlich jedoch oberflächlich und stellen­ weise spekulativ bleibenden Artikel übernahm sie Bacons Argumentation. Auf Basis der Feindschaft zwischen dem IS und der „al Qaida“ erweiterte Hagerty diese um weitere Kriterien, welche es beim Aufdecken der Bedin­ gungsfaktoren terroristischer Interaktion zu würdigen gilt.272 Ungeachtet der kursorischen Herleitung dieser Variablen lassen sie sich – ebenso wie Karmons und Bacons Analyseparameter – als Orientierungspunkte für das vom Autor vorzunehmende Aufstellen von Analyseebenen und Hypothesen in Unterkapitel 3.2 nutzen. Dies gilt in gleichem Maße für Phillips Arbeit, griff diese doch ergänzend zu Karmon und Bacon negative Verhältnisse im Terrorismus auf – Beziehungen also, welche sich (auch) zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ ergaben. Berechtigt ist Phillips Beobachtung, der Terrorismusforschung fehle es an Ausführungen zum Aufkommen adversativer Relationen zwischen terroristischen Entitä­ ten. Dementsprechend ließe sich nicht sagen, ob derartige Beziehungen ebenfalls Ursachen unterliegen, die sich für assoziative Verbindungen als prägend erwiesen haben.273 Um diese Lücke in der Literatur füllen zu können, untermauerte er durch statistisches Auswerten die Feststellung, Feindschaften zwischen terroristischen Akteuren würden von dem ideolo­ gischen Einschlag der beteiligten Entitäten und dem daraus resultierenden Verhältnis zu dem von ihnen bekämpften Staat abhängen.274 Während sich diese Aussage zu Auslösern von Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten auf die Mesoebene beschränkte, bezog sich Che­ noweth in einer Untersuchung zum Aufkommen terroristischer Gewalt in Demokratien bewusst auf die Makroebene. Mithilfe der Berechnung von Daten zu 119 Staaten aus der Zeitspanne zwischen den Jahren 1975 und 1997 kam sie zu dem Schluss, der in demokratischen Systemen be­ stehende politische Wettbewerb fördere das Entstehen und Konkurrieren terroristischer Gruppen mit unterschiedlicher politischer Zielsetzung.275 Sie bestimmte damit nicht gruppeninterne, sondern kontextuale Modalitä­

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Vgl. Hagerty 2016, S. 2-3, 8-10. Vgl. Phillips 2012, S. 1-2. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Chenoweth 2010, S. 18, 28.

1.4 Forschungsstand

ten des Aktionsraums terroristischer Akteure als ausschlaggebend für die zwischen ihnen bestehenden negativen Relationen. Da diese allgemein gehaltene Perspektive nicht tiefergehende Erklärungen für das spezifische Verhältnis zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ zu liefern vermag, kommt ihr in dieser Arbeit keine Relevanz zu. Sowohl Phillips als auch Chenoweths Beiträge weisen dieselben Stärken und Schwächen auf, wie sie bereits oben hinsichtlich quantitativer Analysen zu den Auswirkun­ gen terroristischer Interaktion aufgeführt wurden: Beide stellen statistische Signifikanzen dar, geben jedoch keinen zufriedenstellenden empirischen Einblick in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Chenoweth selbst merkte denn auch die Notwendigkeit ergänzender fallspezifischer Forschungen zur Stützung ihrer Erklärung an.276 Fasst man den Forschungsstand zu den Parametern zusammen, welche interaktive Verhältnisse im Terrorismus bedingen und fördern, stechen mehrere Auffälligkeiten und Defizite ins Auge. Der uneinheitliche Sprach­ gebrauch führt dazu, dass im Grunde identische Phänomene unterschied­ lich tituliert werden. Während Karmon eine intensive Zusammenarbeit terroristischer Entitäten als „Koalition“ beschrieb, wählten Bacon und Phillips den Terminus „Allianz“277. Karmon lehnte die später von Bacon bevorzugte Begriffswahl vor dem Hintergrund des in der Politikwissen­ schaft verankerten theoretischen Bezugsrahmens der Umschreibung „Alli­ anz“ bewusst ab.278 Nach Ansicht des Autors bietet sich weder „Koaliti­ on“ noch „Allianz“ als Ausdruck für eine ausgebaute Verbindung terro­ ristischer Akteure an – beide Termini suggerieren eine Formalität und Verbindlichkeit der Partnerschaft, welche der klandestinen Natur terroris­ tischer Akteure widersprechen.279 Das im Unterkapitel 2.2 vorzunehmen­ de Kategorisieren der Interaktion im Terrorismus soll einen Lösungsvor­ schlag für diese Problematik unterbreiten und Begrifflichkeiten vereinheit­ lichen. Ebenso frappierend: der Mangel an substantiellen Untersuchun­ gen, die Bedingungsfaktoren negativer Verhältnisse im Terrorismus aufgrei­ fen und deutend-verstehend rekonstruieren. Die qualitative Forschung konzentrierte sich bislang auf das Ermitteln von Voraussetzungen und Ursachen freundschaftlich-kooperativer Interaktion. Zudem überwiegen die wissenschaftlichen Abhandlungen zu grenzübergreifenden Beziehun­ gen. Auf welchen Modalitäten die Verhältnisse zwischen terroristischen

276 277 278 279

Vgl. Chenoweth 2010, S. 29. Vgl. Phillips 2012, S. 2-3; Bacon 2013, S. 12; Bacon 2014, S. 6. Vgl. Karmon 2005, S. 7. Vgl. Bacon 2013, S. 4-6.

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1 Einleitung

Akteuren fußen, die im selben geographischen Raum entstanden und aktiv sind, thematisierte die Literatur nur sporadisch. Unklar bleibt demnach die Vergleichbarkeit solcher Relationen mit den Prämissen internationaler Be­ ziehungen. In diese kaum erforschten Gebiete – die Bedingungsfaktoren adversativer Beziehungen sowie die Verhältnisse zwischen terroristischen Entitäten in einem Staat – stößt der inhaltliche Blickwinkel dieser Arbeit. Unter kritischem Würdigen der Werke von Karmon, Bacon, Hagerty und Phillips zielt der Autor darauf, die positiven und negativen Relationen zwischen Akteuren gleicher nationaler Herkunft am Beispiel deutscher linksterroristischer Gruppen aufzuhellen. 1.4.3 Beziehungen des deutschen Linksterrorismus Was haben Forscher im Besonderen zu den untereinander und im Ausland bestehenden Verbindungen der RAF, der TW/der B2J und der RZ bereits erfasst? Die den deutschen Linksterrorismus aufgreifende wissenschaftliche Litera­ tur bildet ein Teilgebiet der gemeinhin als unterentwickelt geltenden For­ schung zum Linksextremismus.280 In den Werken zu linksterroristischer Gewalt dominieren Aussagen, welche sich auf die „Rote Armee Frakti­ on“ beziehen. Einschlägige Veröffentlichungen untersuchen die Gruppe in ihren verschiedenen „Generationen“ unter erschöpfendem Auswerten von Primärquellen anhand sehr unterschiedlicher Fragestellungen – an­ gefangen bei gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren für ihr Entstehen281 über die Biographien der Mitglieder282 bis hin zur Funktionslogik des Gruppeninnenlebens.283 Wer sich an das Erforschen der RAF begibt, wird die Herausforderung nicht darin sehen, zunächst einen Mangel an Grundlagen abzustellen.284 Vielmehr müssen die ergiebigen von den un­ bedeutenden Arbeiten abgegrenzt werden. Die Schilderungen dieser Ar­ beit zur historischen Entwicklung der „Roten Armee Fraktion“ stützen

280 Vgl. Backes 2008, S. 9; Baron 2011, S. 242; Dovermann 2011, S. 10; Hoff­ mann 2011, S. 25-32; Jesse/Thieme 2011, S. 22; Mannewitz 2012, S. 27-36; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 6‑9; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 1-3, 83, 91; Jesse 2018, S. 23, 53-54. 281 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 333-342. 282 Vgl. Backes 1993, S. 151-170; Straßner 2003, S. 95-110; Bressan/Jander 2006; Seifert 2006; Wieland 2006. 283 Vgl. Vgl. Wunschik 1997, S. 341-367. 284 Ähnlich Jesse 2008, S. 411-412, 422.

70

1.4 Forschungsstand

sich vor allem auf die detaillierten Bücher von Butz Peters,285 Willi Wink­ ler,286 Tobias Wunschik287 und Alexander Straßner.288 Deren Wert liegt nicht in einem analytischen, sondern in einem deskriptiven Zuschnitt der Untersuchungsperspektive, die eine beachtliche Fülle an Quellen und Se­ kundärarbeiten zusammenzog. Während Wunschik und Straßner wissen­ schaftlichen Standards penibel Genüge taten, wählten Peters und Winkler – anknüpfend an Stefan Austs dokumentarischen Longseller „Der BaaderMeinhof-Komplex“289 – einen unübersehbar journalistischen, mitunter durchaus „meinungsfreudige[n]“290 Schreibstil, der eher das Unterhalten des Lesers als eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Auswertung anstrebte. Verschmerzbar ist dieses Manko aufgrund des Umfangs der Abhandlungen, die – anders als Wunschiks und Straßners Publikationen – ausgedehnte Kapitel zu allen drei „Generationen“ der RAF beinhalten und somit einem Nachschlagewerk gleichkommen. Als Ausgangspunkte für Schlussfolgerungen des Autors zur „Roten Armee Fraktion“ dienen überdies einige Beiträge aus Sammelbänden, die Wunschik,291 Straßner292 und Martin Jander293 verfassten. Die Suche nach vergleichbaren Werken zu den „Tupamaros Westber­ lin“, der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ erweist sich rasch als ernüchternd. Trotz der Verfügbarkeit zahlreicher Primärma­ terialien zu diesen Akteuren fanden sie in der Terrorismusforschung bis­ lang kaum Aufmerksamkeit.294 Literaturrecherchen zu den TW, der B2J und zu den RZ ergeben lediglich einige ernstzunehmende, wenngleich kursorische Aufsätze. Monografien sind gleichermaßen rar.295 In der Wis­ senschaft bilden die „Tupamaros Westberlin“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ demnach eine terra incognita. Vor allem

285 286 287 288 289 290 291 292 293 294

Vgl. Peters 2008. Vgl. Winkler 2008. Vgl. Wunschik 1997. Vgl. Straßner 2003. Vgl. Aust 2020. Jesse 2008, S. 411. Vgl. Wunschik 2006a. Vgl. Straßner 2006; Straßner 2008b. Vgl. Jander 2008. Vgl. Demes 1994, S. 26; Siemens 2006, S. 15, 17; Straßner 2008a, S. 32; PfahlTraughber 2014a, S. 10; Straßner 2018, S. 428. 295 Der Historiker Vojin Saša Vukadinović plant, eine Monographie mit dem Titel „Revolutionäre Zellen, Rote Zora, OIR: Die Geschichte der ‚Anderen‘ des deut­ schen Linksterrorismus“ zu veröffentlichen. Diese Arbeit lag dem Autor bis Redaktionsschluss nicht vor.

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1 Einleitung

aufgrund der unterschiedlichen Gewaltintensität und Eigensicherheit die­ ser linksterroristischen Gruppen wirkt die Quellenlage erstaunlich. Die RAF mag zwar brutalere und spektakulärere Anschläge verübt haben, ihre Aktivitäten und strukturelle Effizienz blieben aber weit hinter dem Aktionsniveau und Aufbau der RZ zurück.296 Deren Segmentieren und Abschotten verhinderte gravierende Einschnitte durch sicherheitsbehördli­ che Maßnahmen,297 wie sie in der Geschichte der lange Zeit hierarchisch geordneten „Roten Armee Fraktion“ wiederholt auftraten. Zumindest zeit­ weilig schätzte das Bundeskriminalamt (BKA) die „Revolutionären Zellen“ daher als gefährlichsten Akteur des deutschen Linksterrorismus ein.298 Die ihn kennzeichnende zelluläre Organisation ist auch jüngeren terroris­ tischen Entitäten eigen,299 womit ein Erforschen der RZ nicht nur doku­ mentarischen, sondern ebenso praktischen Nutzen entfalten kann. Etwaige „Erfolge“ dieses Netzwerks könnten als Maßstab für (Bedrohungs‑)Ein­ schätzungen zu aktuellen Entwicklungen im Terrorismus in Anspruch genommen werden. Um die empirische Arbeit zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewe­ gung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ machten sich bisher Die­ ter Claessens, Karin de Ahna, Bernhard Rabert, Wolfgang Kraushaar, An­ ne Maria Siemens, Tobias Wunschik, Lutz Korndörfer und Johannes Wör­ le verdient. Nennenswert ist daneben die Aufarbeitung Roman Danyluks zu den TW/der B2J. In seiner 1995 erschienenen, primär beschreibenden Publikation zu links- und rechtterroristischen Gewalttaten in der Bundes­ republik Deutschland nahm Rabert Abschnitte zur B2J und zu den RZ auf.300 Kraushaar rekonstruierte – ähnlich wie zuvor Claessens und de Ah­ na301 – die Genese der „Tupamaros Westberlin“ in der Mauerstadt sowie das langsame Entstehen der „Revolutionären Zellen“ im linksextremisti­ schen Milieu des Rhein-Main-Gebiets Ende der 1960er beziehungsweise Anfang der 1970er Jahre.302 Siemens stellte in ihrer 2006 herausgebrach­ ten, seither jedoch kaum beachteten Dissertation die Lebensläufe von vier Frankfurter Aktivisten der „68er-Bewegung“ gegenüber, die entweder in den Linksterrorismus schritten (Hans-Joachim Klein, Johannes Wein­ rich) oder über das Partizipieren an den demokratischen Mechanismen 296 297 298 299 300 301 302

72

Vgl. Wörle 2008b, S. 257. Vgl. Rabert 1995, S. 199-200. Vgl. Horchem 1988, S. 92-93. Vgl. Straßner 2008a, S. 25-26. Vgl. Rabert 1995, S. 187-193, 197-222. Vgl. Claessens/de Ahna 1982. Vgl. Kraushaar 2006b; Kraushaar 2006c.

1.4 Forschungsstand

Westdeutschlands Veränderungen herbeizuführen suchten (Daniel CohnBendit, Joschka Fischer).303 Siemens‘ Doktorarbeit offenbarte beachtliche Erkenntnisse zur Frühphase der „Revolutionären Zellen“, war ihr doch die Kontaktaufnahme zu ehemaligen Mitgliedern der RZ gelungen, welche unter anderem im persönlichen Gespräch neue Einblicke in das Innenle­ ben des Netzwerks beisteuerten.304 Wörle lieferte in einem Aufsatz einen Gesamtüberblick zu den RZ,305 Wunschik und Korndörfer präsentierten in einem ähnlichen Format Abrisse zur Historie der „Bewegung 2. Ju­ ni“.306 Im Jahre 2019 publizierte Danyluk unter dem Titel „Der Blues der Städ­ te – Die Bewegung 2. Juni – Eine sozialrevolutionäre Geschichte“ die erste und bislang einzige Monografie zur Geschichte der „Tupamaros Westber­ lin“/der „Bewegung 2. Juni“. Den Wert dieser Arbeit schmälert die erkenn­ bar ideologische Einfärbung, welche Danyluks politische Biographie wi­ derspiegelt. Wie seinem Buch zu entnehmen ist, war Danyluk während der 1980er Jahre unter den „Autonomen“ aktiv. Als Mitglied dieser in der Fachwelt mal als „soziale[s] Milieu“307, mal als „dynamische Gesin­ nungsgemeinschaft“308 bewerteten Szene des deutschen Linksextremismus habe er sich an verschiedenen Protestfeldern beteiligt: „Antikriegsbewe­ gung, Startbahn West, WAA [Wiederaufbereitungsanlage] Wackersdorf, Kampf für die Rechte der politischen Gefangenen, Antifa“309. Danyluk soll zu jenen linksextremistischen Aktivisten gezählt haben, die nach dem Ermorden mehrerer Polizisten Anfang November 1987 am Frankfurter Flughafen in Haft gerieten.310 Inzwischen ist er Mitglied in der „Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union“ (FAU), welche das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht 2020 „als […] anarchistische Gewerkschaft bezeichne[te], die ideologisch dem sogenannten Anarcho­ syndikalismus zuzuordnen ist.“311 Wiewohl der Titel der von Danyluk verfassten Schrift Erwartungen an ein konzentriertes Befassen mit der

303 304 305 306 307 308 309 310 311

Vgl. Siemens 2006. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Wörle 2008b. Vgl. Wunschik 2006b; Korndörfer 2008. Pfahl-Traughber 2014a, S. 139. Ähnlich Hoffmann 2011, 59-60; Schroe­ der/Deutz-Schroeder 2015, S. 197‑201. Mannewitz/Thieme 2020, S. 98. Danyluk 2019, S. 546. Vgl. ebd. Bundesministerium des Innern 2021, S. 171. Vgl. auch Schroeder/Deutz-Schroe­ der 2015, S. 127, 143-147.

73

1 Einleitung

Geschichte der B2J schürt, handelt es sich bei ihr um einen Parforceritt durch die Geschichte der (militanten) Linken in Deutschland, der im 19. Jahrhundert mit dem Wirken des Schriftstellers Georg Büchner beginnt. Allenfalls auf 166 der 456 Seiten des Buches widmete er sich dezidiert der B2J. Danyluks Ziel bestand darin, „auf kritisch-solidarische Art und Weise die auch heute noch nutzbaren Potenziale der gescheiterten Sozialrevolte von 1967/68 freizulegen.“312 Die Schwächen der Arbeit ergeben sich nicht nur aus einer fehlenden Überprüfbarkeit, die mit dem durchgehenden Verzicht auf Fußnoten einhergeht. Sie entspringen auch einem bewuss­ ten Verzicht auf wissenschaftliche Objektivität zugunsten des Vermittelns einer spezifischen politischen Botschaft: Die Arbeit ist buchstäblich eine Kampfschrift. Danyluk begriff das Aufkommen sozialrevolutionärer Akteure Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik als zwangsläufige Folge der den „Um­ gangsformen sowie […] [den] Erziehungsmethoden […] [des] Nazifaschis­ mus“313 entsprechenden „autoritären Strukturen in der Gesellschaft“314 sowie als Ausfluss eines Regierungssystems, das sich auf „Polizeiterror“315 und eine „Atmosphäre der Hatz und Hetze“316 gegen Andersdenkende gestützt habe. Vor allem beim Betrachten der in der „68er-Bewegung“ zunehmenden Gewalt stand für ihn außer Frage, dass „die Polizeikräfte diejenigen waren, die die Situation schrittweise eskalierten.“317 Nach der­ art pauschalen, dem komplexen Phänomen318 des bundesrepublikanischen Terrorismus keinesfalls gerecht werdenden Beobachtungen und Schuldzu­ weisungen sowie einer Erörterung der „Stadtguerilla“ anhand der B2J ver­ stieg sich Danyluk zwar nicht zu einem Glorifizieren des „bewaffneten Kampfes“. Ein eindeutiges Distanzieren wagte er aber ebenfalls nicht. „[N]icht obsolet geworden“319 sei die „Idee von Kollektivität und egalitä­ ren Verhältnissen“320, welche die „Studentenbewegung“ der 1960er Jahre hervorgebracht habe. Und weiter: „Die Überwindung des Kapitalverhält­ nisses setzt neben dem militanten (Klassen-)Kampf auch eine gesamtgesell­ schaftliche Auseinandersetzung sowie Theorie und Reflexion auf breiter

312 313 314 315 316 317 318 319 320

74

Danyluk 2019, S. 14. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 50. Ebd., S. 105. Ebd., S. 176. Vgl. Jesse 2008, S. 413-417, 421. Danyluk 2019, S. 476. Ebd.

1.4 Forschungsstand

Basis voraus.“321 Ungeachtet der genannten Schwächen baute Danyluk sein Traktat auf informativen Gesprächen mit vormaligen Aktivisten der B2J auf. Ferner ließ er die Inhalte seines Buches – eigenen Aussagen zufol­ ge – von den einstigen Mitgliedern prüfen.322 Danyluk erschloss somit wei­ tere Informationen aus erster Hand. Zudem referierte er kenntnisreich die Historie der „Bewegung 2. Juni“. Dieses reine Darstellen der Fakten fällt nicht durch signifikante Abweichungen von anderen Sekundärquellen auf. Weitere Ausführungen zur „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutio­ nären Zellen“ sind zumeist spezifisch oder wenig tiefschürfend. Erstes gilt für Eckhart Dietrichs Werk, das Gerichtsakten aus Justizverfahren auf dem Gebiet Westberlins zusammenfasste.323 Seine Angaben halten einige interessante Details zu den internen Strukturen der Gruppen bereit. Ähnliches vermag Gisela Diewald‑Kerkmanns324 Monografie zu Prozessen gegen weibliche Mitglieder der B2J und der RAF zu leisten. Skizzenhafte Erläuterungen durchziehen die Arbeiten von Hans Josef Horchem und Werner Kahl. Beide begnügten sich mit der Wiedergabe der wesentlichs­ ten Charakteristika der „Revolutionären Zellen“.325 Obgleich der Autor dieser Arbeit nicht eine Grundlagenforschung zu den TW/der B2J und den RZ intendiert, ermöglicht die Explikation der Beziehungen im deutschen Linksterrorismus ein wissenschaftliches Zusammentragen und Interpretie­ ren der Quellen, welche zu beiden Akteuren vorliegen. Sozusagen als Beifang wird der oben dargebotene Kenntnisstand zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ er­ gänzt und ein Impuls für die weitere, empirische Auseinandersetzung mit deren Aktivitäten gegeben. Vor dem Hintergrund des ungleichmäßigen, in Teilen rudimentären Wissens um linksterroristische Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang der 1970er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre nimmt es nicht wunder, wenn dem Kontaktspektrum der RAF, der TW/der B2J und der RZ in der Forschung keine herausgehobene Bedeutung zukam. Wie sich deren Beziehungen zu anderen Akteuren entwickelten, welche Formen diese Interaktion annahm und welche Triebkräfte sie prägten, griffen nur vereinzelte Studien und Artikel als Teilaspekt auf. Ein zusammenfassendes Werk steht in diesem Themenfeld weiterhin aus. Entsprechende Ausfüh­

321 322 323 324 325

Ebd., S. 474. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Dietrich 2009. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009. Vgl. Horchem 1986; Kahl 1986; Horchem 1987; Horchem 1988.

75

1 Einleitung

rungen bezogen sich fast ausschließlich auf die internationalen, das heißt grenzübergreifenden Verbindungen der genannten Gruppen zu Gleichge­ sinnten in Europa und im Nahen Osten. Diese berücksichtigten zum einen den Austausch mit terroristischen Entitäten im Ausland, zum anderen die Kooperation mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die Verknüpfungen und Animositäten zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutio­ nären Zellen“ blieben dagegen nahezu unberührt. Was die vergleichsweise häufig beachteten internationalen Verknüpfun­ gen des deutschen Linksterrorismus anbelangt, so lassen sich die einschlä­ gigen wissenschaftlichen Werke nach ihrer Zielrichtung klassifizieren. Kar­ mon und Bacon nahmen die Zusammenarbeit deutscher mit europäischen und/oder palästinensischen Entitäten in die Fallauswahl für ihre Disserta­ tionen auf und legten diese schlüssig dar.326 Ihnen diente das Beziehungs­ geflecht als Grundlage für das Gewinnen der im Unterkapitel 1.4.1 an­ gerissenen theoretischen Überlegungen zu freundschaftlich-kooperativer Interaktion im Terrorismus. Zur Sprache kam hierbei in erster Linie die RAF – die B2J und die RZ wurden nur am Rande erwähnt. Daase entwi­ ckelte seine Typologie zu positiven Verhältnissen terroristischer Akteure am Beispiel der „Roten Armee Fraktion“ – mit zahlreichen grundlegenden Angaben zu den Auslandskontakten dieser Gruppe.327 Andere Autoren schlossen derartige Verbindungen in ihre Arbeiten ein, um ein möglichst vollständiges Bild zu den Handlungen des deutschen Linksterrorismus zu präsentieren. Ihrer Gesamtdarstellung ging es folglich nicht primär um einen analytischen Mehrwert, sondern um das Schaffen eines Fundaments für weiterführende wissenschaftliche Anstrengungen. Festzuhalten ist die­ se Intention für die Beiträge von Wunschik und Straßner, welche die bedingt erfolgreiche Vernetzung der Zweiten beziehungsweise Dritten Ge­ neration der „Roten Armee Fraktion“ mit palästinensischen sowie mit italienischen und französischen Linksterroristen erfassten.328 Seit der Friedlichen Revolution im Jahre 1989 in Deutschland und dem damit verbundenen Öffnen der Aktenbestände des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) steht die „vielfältige klandestine Hilfe der DDR“329 zugunsten der Aktivitäten des deutschen Linksterrorismus im

326 327 328 329

76

Vgl. Karmon 2005, S. 59-95, S. 157-195; Bacon 2013, S. 202-239. Vgl. Daase 2006, S. 912-928. Vgl. Wunschik 1997, S. 387-389; Straßner 2003, S. 299-320. Jesse 2008, S. 416.

1.4 Forschungsstand

Fokus medialer330 und wissenschaftlicher Aufarbeitung. Die hierzu abruf­ baren Schilderungen berührten ausschließlich die „Rote Armee Fraktion“, da nach bisherigem Kenntnisstand weder die „Bewegung 2. Juni“ noch die „Revolutionären Zellen“ ähnlich intensive Verbindungen zum MfS unterhielten. Rabert, Wunschik und Peters gaben Formen wie Gründe für die Beziehung zwischen der RAF und der Deutschen Demokratischen Republik an. Rabert stellte die Vermutung auf, die DDR habe die Aktions­ fähigkeit der „Roten Armee Fraktion“ stärken wollen, um langfristig die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu untergraben. Über­ dies könnte die ostdeutsche Regierung das Ziel verfolgt haben, Informati­ onszugänge und Einflussmöglichkeiten im deutschen und internationalen Terrorismus zu akquirieren.331 Ähnlich argumentierte Peters.332 Wunschik bemerkte, an terroristische Gruppen adressierte Zugeständnisse seien von der DDR unter anderem in der Absicht akzeptiert worden, sich das Wohl­ wollen dieser Akteure zu erkaufen. Der ostdeutsche Staat habe sie von Anschlägen auf ostdeutschem Boden abbringen wollen. Er legte zudem Hinweise dar, denen zufolge die DDR im Falle eines militärischen Kon­ flikts mit der Bundesrepublik die RAF zur Destabilisierung des Gegners hätte einsetzen wollen.333 Insbesondere mit Blick auf den in Wunschiks Arbeit angeführten und eindeutig belegten Gedanken des Verteidigens etwaiger Interessen und Güter der Sozialistischen Einheitspartei Deutsch­ lands (SED) drängt sich die Frage auf, ob dieser tatsächlich ausschlagge­ bend für das Verhältnis der DDR zur „Roten Armee Fraktion“ war. Wie sich Primärquellen entnehmen ließ, sahen deutsche Linksterroristen die politischen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik zwar kritisch,334 sie gingen aber davon aus, dass die „dort lebenden Menschen […] weiter wären und nicht […] den kapitalistischen Symbolen hinterher­ laufen“335. Bei aller Distanz bestand demnach eine eng umgrenzte Grund­ solidarität gegenüber dem sowjetischen Hegemonialbereich.336 De facto dürfte also die Gefahr eines gegen die DDR gerichteten terroristischen Operierens der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ oder der „Revolutionären Zellen“ vernachlässigbar gewesen sein. Wie dem auch sei: Die kooperative Interaktion deutscher 330 331 332 333 334 335 336

Vgl. exemplarisch Möller 2016. Vgl. Rabert 1995, S. 227. Vgl. Peters 2008, S. 555-556. Vgl. Wunschik 1997, S. 401. Vgl. Boock 1994, S. 29-30; Viett 2007, S. 221. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 131. Vgl. Speitel 1980a, S. 49; Schiller/Mecklenburg 2000, S. 144.

77

1 Einleitung

Linksterroristen mit sozialistischen Staaten bleibt in dieser Arbeit neben­ sächlich. Sie wird lediglich mit dem Ziel herangezogen, zusätzliche Anre­ gungen für das Bilden von Hypothesen zu erlangen. Die wenigen Schlussfolgerungen in der Literatur zum Verhältnis zwi­ schen der RAF, den TW/der B2J und den RZ sind veraltet und/oder basieren auf einer Auswertung, die lediglich einen kleinen Ausschnitt des (Primär-)Quellenmaterials zum deutschen Linksterrorismus extensiv her­ anzog. Ein vielschichtiges und differenzierendes Bild zu den Beziehungen der Gruppen zeichneten sie nicht. Weder wurde deutlich, welche Höhen und Tiefen die Interaktion im Einzelnen hervorbrachte, noch, welche Vor­ aussetzungen und Ursachen diese bedingten und prägten. Die flüchtigen Erklärungsansätze sind allerdings keineswegs auf eine Nachlässigkeit der Verfasser, sondern auf die jeweiligen erkenntnisleitenden Fragestellungen ihrer Publikationen zurückzuführen. Der inhaltliche Schwerpunkt der Veröffentlichungen lag jeweils auf anders gelagerten Themen. Diesem De­ fizit gilt das Hauptaugenmerk des Autors. Diese Arbeit knüpft an die von Friedhelm Neidhardt,337 Tobias Wunschik338 und Armin Pfahl-Traugh­ ber339 angebotenen Erklärungsansätze zu den Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionä­ ren Zellen“ an und baut diese aus. Hiermit soll nicht nur die Forschung zum deutschen Linksterrorismus bereichert, sondern ebenso eine fallorien­ tierte Grundlage für ergänzendes Theoretisieren im Feld der freundschaft­ lich-kooperativen und adversativen Verhältnisse zwischen terroristischen Kräften geschaffen werden. 1.5 Aufbau Diese Arbeit orientiert sich am gängigen Aufbau wissenschaftlicher For­ schungsprozesse, wie er in diversen einschlägigen Handbüchern zu finden ist.340 Sie gelangt vom Allgemeinen ins Besondere – und von diesem schließlich wieder ins Allgemeine. Der Deskription folgt die spezifische Analyse und Determination, die beide das Fundament für gegenstands­ bezogene, zusammenfassende Annahmen bereitstellen. Dementsprechend

337 338 339 340

78

Vgl. Neidhardt 1982a, S. 322. Vgl. Wunschik 1997, S. 383-387. Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 176-177. Vgl. exemplarisch Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 232-245; Lauth/Winkler 2010, S. 43-46.

1.5 Aufbau

legt der Autor dem in der Einleitung (1) vorgestellten explanandum einen theoretischen Bezugsrahmen an. Dies geschieht in zwei Etappen. Zunächst kommt es zu einem Überprüfen und Bündeln der von Ely Karmon, Tricia Bacon, Christopher Daase und Assaf Moghadam entworfenen Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren (2). In diesem Schritt präsentiert wird ein Instrument, mit dem sowohl positive als auch negative Interaktionen im Terrorismus möglichst eindeutig klassifiziert werden sol­ len. Ein solches Zuschneiden von Kategorien räumt die im weiteren Ver­ lauf der Arbeit angestrebte präzise Messbarkeit der als abhängige Variable festgelegten interdependenten Relationen zwischen der RAF, der TW/der B2J und den RZ ein. An das Herleiten einer Typologie schließt sich ein reflektiertes Aufgreifen etwaiger Erklärungen an, welche die Forschung zur Genese von Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten aufgestellt hat (3). Hierbei verbinden sich eine Deskription, Diskussion und Bewer­ tung der Schlussfolgerungen von Ely Karmon, Brian Phillips, Tricia Bacon und Vivian Hagerty. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und inwiefern die von allen vier Autoren erbrachten Forschungsleistungen zu assoziati­ ven und/oder adversativen Beziehungen im Terrorismus das Verhältnis zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ zu erklären und da­ mit einen Wegweiser für den weiteren Verlauf der Arbeit anzubieten ver­ mögen. Bei der Suche nach einer Antwort liefern die Überlegungen Fried­ helm Neidhardts, Tobias Wunschiks und Armin Pfahl-Traughbers zu den Bedingungsfaktoren der Verhältnisse zwischen der RAF, der B2J und den RZ Orientierungshilfe. Ungeachtet ihrer spezifischen Forschungsperspek­ tive zeigen sie die Notwendigkeit an, wissenschaftliche Untersuchungen zu positiven und solche zu negativen Beziehungen grundsätzlich gleicher­ maßen zur Explikation des Interagierens im deutschen Linksterrorismus heranzuziehen. So hob Pfahl-Traughber in einer Gegenüberstellung der Gruppen einen Mitgliederwechsel sowie „Phasen von Annäherung und Distanz“341 hervor. Neidhardt und Wunschik unterstrichen freundschaft­ lich-kooperative und adversative Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“.342 Das Darstellen und Bewerten verfügbarer theoretischer Annahmen zu positiven wie negativen Verhältnissen im Terrorismus münden in mehre­ ren Hypothesen, welche die als maßgeblich erachteten, möglicherweise zu­ treffenden Erklärungsansätze zum Beziehungsgeflecht der „Roten Armee 341 Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. 342 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 322; Wunschik 1997, S. 383-387.

79

1 Einleitung

Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ in komprimierter Form abbilden. Wie sie im Einzelnen zu überprüfen sind, ergründet das darauffolgende Kapitel (4). Es beinhaltet eine Rechenschaft zu den methodischen Grundsätzen dieser Arbeit, die eine qualitativ geprägte comparatio als Untersuchungsschema wählt. Nach einer methodologischen Diskussion ihrer Funktionen, Inhal­ te und Durchführung wird ein von Pfahl-Traughber erarbeitetes Raster vorgestellt. Pfahl-Traughber entwarf dieses Schema, um die terroristische Eigenschaft eines Akteurs verifizieren beziehungsweise falsifizieren zu kön­ nen. Die Parameter des Rasters bilden sämtliche Charakteristika des Terro­ rismus ab – sie bieten folglich geeignete Bezugspunkte, anhand derer die in dieser Arbeit generierten Hypothesen operationalisiert werden können. Pfahl-Traughbers Schema soll ein Berücksichtigen aller relevanten Analy­ sekriterien sicherstellen, dient also als Stütze und Korrektiv beim Erstellen eines für diese Arbeit geeigneten Variablenkatalogs. Letztes vollzieht sich anhand einer Subsumtion, welche die von Pfahl-Traughber entwickelten Kriterien mit den im dritten Kapitel hergeleiteten Erklärungsansätzen abgleicht und bedeutsame Variablen hervorhebt. Die als einschlägig ein­ geschätzten Parameter fungieren als Bausteinkasten, dessen Elemente ein exaktes inhaltliches und begriffliches Ausgestalten und Eingrenzen der in den Hypothesen skizzierten Phänomene ermöglichen. Das Resultat spiegelt die Struktur eines systematischen Vergleichs der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ wider. Wie sich zeigen wird, fußt das Woraufhin der Untersuchung auf den Aspekten der Organisation und Strategie. Bei­ de Parameter zerfallen wiederum in mehrere Sub‑Kriterien. Sie ziehen den roten Faden der Vergleichsoperation und sollen die Gründe für das spezifische Verhältnis zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ nachweisen. Nachdem die Methodik der Arbeit dergestalt finalisiert wurde, geht es an die inhaltliche Rekonstruktion der ausgewählten Fälle. Hierbei bleibt die Untersuchung zunächst beschreibend: RAF (5), TW/B2J (6) und RZ (7) erfahren eine Darstellung, die Genese, Aktivitäten und Implosion ein­ schließt und somit die gesamte Historie der jeweiligen Gruppe vermittelt. Die Rekapitulation macht den wechselhaften Zustand der Beziehungen zwischen den Akteuren ersichtlich und fasst sie jeweils in die im zweiten Kapitel selbst entworfene Typologie ein. Ein solches Vorgehen dient nicht nur dazu, den Leser mit den Vergleichsobjekten vertraut zu machen. Be­ antwortet werden sollen damit ebenfalls die Fragen in der Einleitung zu Art und Entwicklung der Interaktion im deutschen Linksterrorismus. Auf

80

1.5 Aufbau

Basis dieser Ergebnisse widmet sich die Arbeit schließlich den internen wie externen Bedingungsfaktoren, denen die nachgezeichneten Verhältnisse unterlagen. In einem multivariaten Vergleichsraster kommen organisatori­ sche (8) und strategische (9) Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ zur Sprache. Insbesondere an­ hand der von ihren Mitgliedern verfassten Materialien wird dabei geprüft und beurteilt, ob und inwiefern festgestellte Identitäten und Differenzen tatsächlich einen Einfluss auf die Relation der Gruppen hatten. Ausfluss dieses empirischen Beweisführens ist ein in der Forschung bislang nicht erreichtes Erklären des interaktiven Austauschs der drei Gruppen, welches die eingangs aufgestellten Hypothesen jeweils in einem Zwischenfazit des achten und neunten Kapitels bestätigt beziehungsweise verwirft. Um die Übersichtlichkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, nimmt die Arbeit schließlich eine bilanzierende Zusammenfassung vor (10). Dieser Syllabus bezieht sich sowohl auf die deskriptiven Leistungen, welche die Verhältnisse zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ anzeigen und typologisch einordnen, als auch auf die analytische Identifikation der sie begründenden und prägenden Bedingungsfaktoren. Den Abschluss bildet ein Unterkapitel, das weiteren Forschungsbedarf – unter anderem – im Feld positiver und negativer Beziehungen terroristischer Entitäten signalisiert. Es folgt im Wesentlichen der Intention, wissenschaftlichen Bemühungen auf einem Neuland der Terrorismusliteratur zusätzliche An­ reize zu verschaffen und an deren Ausbau mitzuwirken.

81

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

2.1 Darstellung existierender Typologien 2.1.1 Typologie nach Ely Karmon Wie Karmon, Bacon, Daase und Moghadam deutlich machten, nehmen positive Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten unterschiedliche Formen an. Die jeweilige Ausprägung der Beziehung hänge – so die Arbei­ ten dieser Forscher – vom Partner ab, mit dem die Verbindung besteht. Maßgeblich seien daneben die Dauer- und Häufigkeit des gemeinsamen Austauschs sowie die einzelnen Handlungen und Themenfelder, die die jeweilige Verknüpfung ausgestalten. Laut Bacon ist überdies entscheidend, welche hierarchische Stellung sich zwischen den involvierten Gruppen er­ gibt. Gleichberechtigung könne sich ebenso entwickeln wie ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis.

Abb. 1: Positive Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren nach Ely Kar­ mon (Quelle: eigene Darstellung)

82

2.1 Darstellung existierender Typologien

Den ersten Versuch, die Diversität kooperativer Vernetzungen zwischen terroristischen Akteuren idealtypisch zu ordnen, lieferte Karmon mit sei­ ner im Jahre 2005 erschienenen Dissertation „Coalitions between Terro­ rist Organizations“. Karmons Vorschlag zielte indes nicht darauf, eine allgemeingültige Typologie zur Interaktion im Terrorismus aufzustellen. Vielmehr diente ihm das Systematisieren dazu, den in seiner Publikation zentralen Begriff der „Kooperation“ zu operationalisieren und greifbar zu machen. Entsprechend kursorisch bleiben die Anmerkungen zu den drei Beziehungsarten. Diese standen in einer nach Qualität aufsteigenden Rangfolge, an deren Spitze die sogenannte operational cooperation (opera­ tionale Zusammenarbeit) rangierte. Neben gemeinsamen Aktivitäten wählte Karmon die zwischen den Ak­ teuren ausgetauschten Botschaften, Materialien und logistischen Kapazitä­ ten als Ausgangspunkte für das Herleiten seiner Kategorien. Die als „ideolo­ gical cooperation“ (ideologische Zusammenarbeit) beschriebene erste Stufe erreichten terroristische Formationen im Falle gegenseitiger Solidaritätsbe­ kundungen. Derartige Botschaften könnten sich, so Karmon, auf Perspek­ tiven und Ziele des Gegenübers beziehen. Diese würden in veröffentlich­ ten Dokumenten und Flugblättern unterstützend aufgegriffen werden. Ein Solidarisieren sei daneben gegeben, sofern die Akteure identische ideolo­ gische und operative Intentionen ostentativ betonten. Ferner könnten An­ schläge verstorbenen Mitgliedern des ins Auge gefassten Partners gewid­ met sein. Der „ideological cooperation“ als niedrigste Ebene terroristischer Vernetzung folge die „logistical cooperation“ (logistische Zusammenarbeit). Karmon zufolge ist sie weit verbreitet. Ausdruck finde diese Form unter anderem im gemeinsamen Zugriff auf Ressourcen und Infrastruktur, wel­ che den Beteiligten für propagandistische Arbeit zur Verfügung stünden – etwa Druckpressen oder Verbreitungswege. Eine „logistical cooperation“ materialisiere sich auch dann, wenn die eingebundenen Entitäten gefälsch­ te Dokumente, Handbücher, Finanzen, Munition und Waffen teilten. Sollte sich dieser materielle Transfer zu einem gemeinsamen Ausbilden der Mitglieder in Trainingslagern steigern, gleichberechtigte Zugänge zu konspirativen Unterkünften und Fluchtplänen einschließen und in abge­ sprochenen Strategien sowie arbeitsteilig umgesetzten Gewalthandlungen münden, sei die Schwelle zur „operational cooperation“ überschritten. Aus Karmons Sicht stellt sie die höchste Ebene terroristischer Interaktion dar. Während er eine umfassende und anhaltende „logistical cooperation“ sowie eine „operational cooperation“ als „Koalition“ klassifizierte, sprach

83

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

er dieses Prädikat der „ideological cooperation“ nicht zu.343 Den Begriff der „Koalition“ definierte er dabei wie folgt: „Coalition is defined as ideological, material and operational coopera­ tion between two or more terrorist organizations directed against a common enemy which may be a state targeted by one of the member organizations or a rival ideological bloc.“344 Dass er die logistische Zusammenarbeit als „Koalition“ deklarierte, wirkt angesichts seiner Eingrenzung dieses Ausdrucks widersprüchlich, forderte die Begriffsbestimmung doch das kumulative Vorliegen der Merkmale „ideologische“, „materielle“ und „operative Zusammenarbeit“. Gerade das operative Zusammenwirken ist in seiner Typologie nicht Bestandteil der „logistical cooperation“.

343 Vgl. Karmon 2005, S. 49-50. 344 Ebd., S. 7. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden.

84

2.1 Darstellung existierender Typologien

2.1.2 Typologie nach Tricia Bacon

Abb. 2: Positive Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren nach Tricia Ba­ con (Quelle: erweiterte, vom Autor selbst übersetzte Darstellung in Anleh­ nung an Bacon 2013, S. 756) Karmon zog den Begriff der „Koalition“ dem Terminus der „Allianz“ mit der Begründung vor, Letzter suggeriere eine Formalität und Verbindlich­ keit der Beziehung terroristischer Akteure, welche im Widerspruch zu de­ ren klandestinem Agieren stehe.345 Bacon entschied sich für das Gegenteil. Obgleich sie – ähnlich wie Karmon – auf die Verankerung des Ausdrucks „Allianz“ in der politikwissenschaftlichen Forschung zur Interaktion zwi­ schen Staaten verwies,346 fügte sie ihn dem begrifflichen Instrumentarium ihrer Dissertation bei. Dies in der folgenden Auslegung:

345 Vgl. ebd., S. 25. 346 Vgl. Bacon 2013, S. 12.

85

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

„[A]lliances are defined […] as formal or informal relationships of security cooperation among two or more terrorist groups involving some degree of ongoing coordination or consultation in the future. The term ‘alliance’ is used interchangeably with ‘partnership’ and ‘co­ operative relationship’ […].”347 Vor dem Hintergrund dieses Begriffsverständnisses unterzog sie die Be­ ziehungshierarchie Ely Karmons einer kritischen Überprüfung. Im Ergeb­ nis stellte sie fest, weder habe Karmon den Grad der Abhängigkeit zwi­ schen den beteiligten Akteuren noch die Häufigkeit ihrer Kontakte (ausrei­ chend) berücksichtigt.348 Aufbauend auf dieser Bewertung unterbreitete Bacon eine eigene Typologie zu Beziehungen terroristischer Formationen. Ihr lagen vier Parameter zugrunde: – erstens die Art und Weise, in der die Beteiligten Ressourcen (Finanzen, Material, Waffen, Fähigkeiten und Wissen) austauschen, – zweitens die Erwartungen der Partner zur Dauerhaftigkeit des Verhält­ nisses sowie die damit verbundene Regelmäßigkeit der Interaktion, – drittens das Ausmaß an Gleichheit und Unabhängigkeit der involvier­ ten Entitäten sowie – viertens der Umfang und die Rahmenbedingungen der Beziehung.349 In unterschiedlicher Kombination ergaben die Extreme dieser Kriterien fünf Formen terroristischer Zusammenarbeit, die Bacon mit den Werten „pooled“ („konzentriert“), „integrated“ („integriert“), „subordinate“ („sub­ altern“), „reciprocal“ („reziprok“) und „transactional“ („transaktional“) versah. Sie hielt überdies fest: Bis auf die „transactional cooperation“ er­ füllten alle Ausprägungen die Merkmale einer „Allianz“. Eine „transaktio­ nale Beziehung“ beschränke sich auf ein bloßes gelegentliches Tauschge­ schäft zwischen gleichberechtigten und unabhängig bleibenden Partnern. Im Mittelpunkt stünden Ressourcen. Derartige Relationen seien überaus flüchtig und würden ausschließlich dann auftreten, wenn sich ein Bedarf zum Transfer äquivalenter Güter ergebe. Eine langfristige Perspektive zur Kooperation bestünde somit nicht.350 Die „reciprocal cooperation“ hingegen wohne bereits eine Erwartungshal­ tung inne, welche von einer beständigeren Verbindung ausgehe. Die Ak­ 347 348 349 350

86

Ebd. Vgl. ebd., S. 752-753. Vgl. ebd., S. 753. Vgl. ebd., S. 755-756.

2.1 Darstellung existierender Typologien

teure begriffen das Verhältnis grundsätzlich als vorteilhaft, so Bacon. Auf der Basis gemeinsamer Paradigmen teilten sie die ihnen verfügbaren Mit­ tel und legten die Bereiche fest, in denen sie an einem Strang ziehen. Hier­ von unberührt bleibe ihre organisatorische Unabhängigkeit und Selbstbe­ stimmung.351 Komme es zwischen Akteuren zu einer „subordinate coopera­ tion“, verzichte einer der Beteiligten zugunsten materieller Unterstützung zumindest partiell auf seine strukturelle Autonomie. Der Empfänger der Hilfe sei abhängig von einem Geber, dessen Ziele er verfolge. Der schwa­ che Partner könne sogar die ideologische Argumentation des führenden Akteurs übernehmen. Entscheidungen der dominierenden terroristischen Formation gelten laut Bacon für die untergeordnete Entität. Beide sähen die Vernetzung als dauerhaft.352 Selbiges prägte den vierten, von Bacon entworfenen Typen terroristi­ scher Beziehungen. Hier bestünden indes noch größere Erwartungen hin­ sichtlich einer auf unbestimmte Zeit angelegten Interdependenz. Im Zuge einer „integrated cooperation“ tauschten die partizipierenden Akteure um­ fassend Ressourcen und Kenntnisse aus, gäben dabei allerdings nicht die Besitzansprüche auf ihre Güter auf. Nur teilweise büßten sie die Entschei­ dungshoheit zu interner Strukturierung, Rekrutierung und Zielauswahl ein. Die Partner seien in materieller Hinsicht erheblich aufeinander ange­ wiesen und begegneten sich auf Augenhöhe. Ihre Führungsriegen stünden regelmäßig im Austausch, suchten allerdings nach wie vor auch jeweils eigene Absichten zu realisieren. Kooperatives Handeln folge zumeist spe­ zifischen Anlässen beziehungsweise in Anknüpfung an die Bedürfnisse eines Partners. Exemplarisch für eine solche Partnerschaft sei, so Bacon, das Verhältnis zwischen der von Wadi Haddad geführten „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ und der „Ro­ ten Armee Fraktion“ in den Jahren 1976 und 1977.353 Die PFLP-SOG habe der Zweiten Generation der RAF Unterschlupf im Irak geboten und deren Kampagne zur Freilassung der in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim inhaftierten Mitglieder durch das Entführen einer Passagiermaschine der „Lufthansa“ Nachdruck verliehen.354 Haddads Or­ ganisation sei folglich mit den taktischen Planungen und Ausführungen der „Roten Armee Fraktion“ vertraut gewesen. Als Gegenleistung habe

351 352 353 354

Vgl. ebd., S. 755. Vgl. ebd., S. 754-755. Vgl. ebd., S. 754. Vgl. ebd., S. 213, 215-216.

87

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

sich die PFLP‑SOG vor allem erhofft, von der Publizität der RAF profitie­ ren zu können.355 Das in diesem Bündnis zum Ausdruck kommende Verflechten terroristi­ scher Kapazitäten übertraf laut Bacon das dyadische Verhältnis zwischen der von Osama bin Laden geführten „al Qaida“ und der im Jahre 1980 in Ägypten gegründeten, später unter der Leitung Aiman al Zawahiris ste­ henden Gruppe „al Jihad“. Beide Akteure hätten sich 2001 zu einer neuen Entität zusammengeschlossen. Nach Bacons Verständnis bildet eine solche Fusion die fünfte Form terroristischer Interaktion ab. Sie gab ihr den Titel der „pooled cooperation“. Charakteristisch für ein solches Verhältnis sei das gemeinsame Zugreifen auf die und Verwalten der Mittel, welche die involvierten Akteure in die Beziehung einbringen. Einen exklusiven Anspruch auf die existierenden Ressourcen würden die Partner nicht er­ heben. Ihr Einfluss auf die Beziehung halte sich somit die Waage. Mit Blick auf den zeitlichen Horizont würden sie keinerlei Limitation des Aus­ tauschs vorsehen. Es komme somit wiederholt zu engen Kontakten. Die organisatorischen, strategischen und ideologischen Grenzen zwischen den Beteiligten verschwämmen. In nahezu jeder Frage und in jedem Bereich stimmten sich die terroristischen Formationen intensiv ab.356

355 Vgl. ebd., S. 217. 356 Vgl. ebd., S. 753-754.

88

2.1 Darstellung existierender Typologien

2.1.3 Typologie nach Christopher Daase

Abb. 3: Arten positiver Beziehungen terroristischer Akteure zu anderen terroris­ tischen Entitäten, Befreiungsbewegungen oder Staaten nach Christopher Daase (Quelle: eigene Darstellung) In der deutschsprachigen Terrorismusforschung hob sich bislang aus­ schließlich Christopher Daase durch ein Kategorisieren der Zusammenar­ beit terroristischer Entitäten besonders hervor. Er präsentierte im Jahre 2006 in einem Beitrag für Wolfgang Kraushaars Werk „Die RAF und der linke Terrorismus“ ein anhand der „Roten Armee Fraktion“ entwickeltes Muster, mit dem sich Beziehungsarten im Terrorismus analytisch erfassen lassen. Seine Arbeit fußte Daase auf drei Säulen: – erstens die Art des Partners, zu dem eine Verbindung geschaffen wird, – zweitens das Gebiet der Kooperation sowie – drittens die konkrete Ausgestaltung und Intensität der Vernetzung.357 Zu allen drei Parametern beschrieb er, welche Ausprägungen diese anneh­ men können. Was das Kontaktspektrum anbelangt, so hob Daase hervor, Terroristen würden mit anderen, terroristisch agierenden Gruppen oder Organisationen in einen Austausch treten. Denkbar sei daneben ein Pakt

357 Vgl. Daase 2006, S. 908.

89

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

mit Befreiungsbewegungen oder Staaten.358 Das Verhältnis zu diesen Ak­ teuren entfalte sich auf unterschiedlichen Ebenen. Das Spektrum reiche von einem ideologischen Dialog über strategische Aspekte bis hin zu orga­ nisatorischen Fragen. Die Qualität der in diesen Bereichen eingegangenen Beziehung rangiere zwischen den Attributen „symbolisch“, „latent“ und „manifest“. Daase implizierte damit ein nach Qualität sortiertes Stufenmo­ dell zu Beziehungen terroristischer Entitäten. Als „symbolisch“ beschrieb er eine Beziehung, in die sich lediglich einer der involvierten Akteure aktiv einbringe. Sie ist „auf Selbstdarstellung, Selbstvergewisserung oder darauf gerichtet […], eine imaginäre Gemein­ schaft mit gleichgesinnten Gruppen zu bilden oder zu erhalten.“359 Dem­ entsprechend verharre das „symbolische“ Verhältnis in Erklärungen, Be­ kundungen und Gesten. Das Stadium tatsächlicher Interaktion erreiche es nicht. Gestalt nehme eine derartige Beziehung beispielsweise an, wenn eine Entität die Aktivitäten jener terroristischer Akteure legitimiere, denen sie sich verpflichtet oder verbunden fühle. Ferner ließen sich Taten im Namen des avisierten Partners oder in Andenken an dessen verstorbene Mitglieder begehen. Das Merkmal „latent“ biete sich dagegen für Verbin­ dungen an, welche Absprachen zwischen Akteuren einschließen würden. Treibende Kraft seien pragmatische Annahmen, die unter anderem in Bemühungen um das Befreien inhaftierter Aktivisten des Partners, im Transfer von Materialien sowie im Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten gipfeln könnten. Sobald die vernetzten Entitäten begännen, gemeinsame logistische Strukturen – wie zum Beispiel Trainingseinrichtungen oder konspirative Unterkünfte – aufzubauen, ideologische Positionen und stra­ tegisches Vorgehen festzulegen, zusammen zur Tat zu schreiten oder sich teilweise organisatorisch zusammenzuschließen, müsse eine „manifeste“ Relation angenommen werden.360 2.1.4 Typologie nach Assaf Moghadam Eine aktuelle Typologie zu terroristischer Verflechtung lieferte Moghadam in seinen Beiträgen aus den Jahren 2015 und 2017. Ähnlich wie Bacon skizzierte er 2015 zunächst mehrere Dimensionen, die in ihren unter­

358 Vgl. ebd., S. 910. 359 Ebd., S. 909. 360 Vgl. ebd., S. 909-910.

90

2.1 Darstellung existierender Typologien

schiedlichen Ausformungen eine Bandbreite an Beziehungen ergäben. Zu diesen Dimensionen zählten: – erstens die Häufigkeit der Kontakte beziehungsweise die (erwartete) Dauer des Verhältnisses, – zweitens das Ausmaß der organisatorischen Abhängigkeit, – drittens die Vielfalt der gemeinsamen Aktivitäten, – viertens der Grad der Schnittmengen zwischen den Ideologien, nach denen die beteiligten Formationen agieren, sowie – fünftens das einander entgegengebrachte Vertrauen.361

Abb. 4: Qualitative Formen einer Beziehung zwischen terroristischen Akteuren nach Assaf Moghadam (Quelle: erweiterte, vom Autor selbst übersetzte Darstellung in Anleh­ nung an Moghadam 2017, S. 110) Anschließend präsentierte Moghadam vier Arten interaktiver Verhältnis­ se, die er weiterführend entlang der jeweiligen Intensität in den Ober­ begriffen „high-end cooperation“ und „low‑end cooperation“ bündelte. Die „high-end cooperation“ beschrieb die beiden Typen der „strategic 361 Vgl. Moghadam 2015, S. 22.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

alliances“ („strategische Allianzen“) und „mergers“ („Fusionen“), die „low‑end cooperation“ hingegen die „transactional cooperation“ („transak­ tionale Kooperation“) und „tactical cooperation“ („taktische Zusammen­ arbeit“).362 Frappierend ist, dass Moghadam nicht nur das strategische Zusammenwirken („strategic alliances“) als „Allianz“ auswies. Eine „Alli­ anz“ sah er auch in der „taktischen Zusammenarbeit“ („tactical cooperati­ on“).363 Als „transactional cooperation“ deutete er eine begrenzt vertrauensvolle Kooperation, welche ausschließlich ideologische oder logistische Aspekte berühre. Sie umfasse beispielsweise einen reinen Treueschwur gegenüber einer anderen Formation oder die Übergabe von Waffen. Moghadam be­ tonte in diesem Zusammenhang, ein ausschließlich auf logistische Bedürf­ nisse zugeschnittenes Verhältnis erfordere nicht zwangsläufig programma­ tische Kongruenzen zwischen den Akteuren. Derartige Relationen seien selbst mit Blick auf eine Dyade denkbar, deren Beteiligte unvereinbare politische Zielvorstellungen zu verwirklichen versuchten. Eine „transak­ tionale Kooperation“ könne informell zustande kommen oder Rahmen­ bedingungen – darunter der Zeitpunkt des Transfers – folgen, welche Gegenstand formaler Vereinbarungen sind. Die Frequenz der Berührungs­ punkte erstrecke sich von einmaligen und kurzen Verabredungen bis hin zu regelmäßigen Absprachen, die jeweils nicht mit Erwartungen zu einer Dauerhaftigkeit der Interdependenz einhergingen. Einschnitte in ihrer Au­ tonomie müssten die Partner nicht in Kauf nehmen. Ganz ähnlich gestalte sich eine „tactical cooperation“ zwischen terroristi­ schen Entitäten. Grundlage dieser Beziehungsart seien gemeinsame, über bloße ideelle und materielle Solidarität hinausgehende Interessen auf be­ stimmten Kooperationsfeldern. Übereinstimmende weltanschauliche Be­ gründungen und Forderungen sah Moghadam auch hier nicht als condi­ tio sine qua non. Die Häufigkeit der mit geringem Vertrauen behafteten Interaktion entwickle sich in der Regel in Abhängigkeit zu den Ansprü­ chen der Partner. Der Kontakt könne sogar abrupt enden, sofern sich die Absichten der Akteure nicht mehr zusammenführen ließen. Eine „takti­ schen Zusammenarbeit“ bleibt nach Moghadams Verständnis also zeitlich limitiert.364 Die Schwelle zur „high-end cooperation“ werde überschritten, wenn die verbundenen Akteure einander Kenntnisse, Material und/oder Personal

362 Vgl. ebd., S. 22-23. 363 Vgl. ebd., S. 24. 364 Vgl. ebd., S. 23-24.

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2.1 Darstellung existierender Typologien

zuleiteten. Notwendige Bedingung eines derart intensiven, auf ausgepräg­ tem Vertrauen fußenden Austauschs bildeten ideologische und strategi­ sche Annahmen, welche weitgehend gleichgelagert seien. Die Beteiligten behielten ihre organisatorische Selbstständigkeit, so Moghadam. Aufrecht­ erhalten würden sie zudem die Herrschaft über jene Güter, die sie in die Beziehung einbrächten. Die Träger einer „strategic alliance“ hegten die Erwartung, über einen längeren Zeitraum hinweg in vielerlei Hinsicht – allen voran bei ideologischen Fragen und logistischen Aspekten, häufig aber auch bei operativen Vorhaben – im Dialog zu stehen. Ausfluss dieser Verknüpfung könnten schließlich eine gemeinsame Infrastruktur oder der Einsatz von Verbindungspersonal sein, das die Beziehungen zwischen den Akteuren koordiniere. Von einem „merger“ sei in jenen Fällen zu sprechen, in denen terro­ ristische Kräfte Befehlsgewalt und Kontrollmechanismen, operative Kräf­ te sowie materielle Bestände auf unbestimmte Zeit zusammenschlössen. Die Eigenverantwortlichkeit der einstmals abgrenzbaren Akteure löse sich zugunsten eines neuen Gebildes mit eigenen internen Regularien auf. Möglich werde dies nur durch erhebliche Überschneidungen in weltan­ schaulichen Positionen, welche in ihrem Ausmaß entweder bereits vor der Fusion bestanden oder aber sich erst nach der Zusammenlegung infolge einer Übernahme der Auffassungen des stärkeren Partners durch die Mit­ glieder der schwächeren Formation entwickelten. Das Personal der einge­ bundenen Akteure spräche sich vollumfassend ab. Neben dem politischen Diskurs seien logistische Prozesse und außenwirksame Gewalthandlungen Teil der Kooperation.365

365 Vgl. ebd., S. 23.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Abb. 5: „Holistische Typologie“ zu Beziehungen zwischen Akteuren im Terroris­ mus nach Assaf Moghadam (Quelle: vom Autor selbst übersetzte Darstellung in Anlehnung an Mog­ hadam 2017, S. 120, 276) 2017 baute Moghadam seine Typologie aus, ohne dabei die zwei Jahre zuvor dargelegten Grundannahmen und Ober-/Unterkategorien zu verän­ dern.366 In dem Buch „Nexus of Global Jihad – Understanding Coopera­ tion Among Terrorist Actors” begründete er seine Kategorien mit dem Anspruch, die Vorschläge von Karmon und Bacon weiterentwickeln zu wollen. Moghadams Bewertung zufolge konnte Karmons Typologie ledig­ lich die Aktivitäten innerhalb einer terroristischen Beziehung unterschei­ den. Ein tiefergehendes qualitatives Darstellen der Interaktion zwischen einschlägigen Entitäten erlaube sie nicht: „Karmon’s […] classification […] stops short of examining in depth the varying qualitative strengths of dif­ ferent cooperative relationships.“367 Auf Bacons Typologie blickend, hob 366 Vgl. Moghadam 2017, S. 105-116. 367 Ebd., S. 38.

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2.1 Darstellung existierender Typologien

er das Fehlen ideologischer Parameter hervor: „Bacon omits ideological considerations from her typology“368. Karmon und Bacon hätten überdies die strukturelle Varianz terroristischer Akteure und den sich hieraus erge­ benden Einfluss auf deren Beziehungen verkannt: „[B]oth models fail to address an additional crucial aspect: the fact that cooperation can also differ based on the nature of the collaborating terrorist actors.“369 Ausgehend von diesen Feststellungen beantwortete Moghadam zu­ nächst, welche Entitäten im Terrorismus Beziehungen unterhalten könn­ ten. Er differenzierte nach folgenden Typen: „terrorist and insurgent orga­ nizations“ („terroristische und aufständische Organisationen“), „informal networks“ („informelle Netzwerke“), „terrorist entrepreneurs“ („terroristi­ sche Unternehmer“) und „states“ („Staaten“).370 Unter den ersten Typ – „terrorist and insurgent organizations“ – fasste Moghadam die aus seiner Sicht klassischen terroristische Akteure. Diesen sei eine dezidierte interne Struktur zur kollektiven Entscheidungsfindung, eine Rollen- und Funk­ tionsverteilung unter den Mitgliedern, Führungsposten sowie bindende Zielvorgaben für die eingebundenen Aktivisten eigen. Exemplarisch führ­ te er den „Islamischen Staat“ an. Den Entschluss, derartige Entitäten zu­ gleich als „aufständisch“ zu beschreiben, stützte er auf zurückliegende Beobachtungen der angelsächsischen Terrorismusforschung. Mit Blick auf den Jihadismus hatte diese konstatiert, terroristische Aktionsformen trä­ ten zusehends im Zusammenwirken mit Taktiken einer Guerillaarmee auf:371 „A cursory look at contemporary terrorist groups […] suggests that these groups regularly carry out guerilla operations as well.“372 Ein „informal network“ hingegen sei ein Kreis mit flexibler Mitgliedschaft, be­ stehend aus mindestens zwei locker verwobenen, dezentral organisierten Elementen, so Moghadam. Hinter diesen Elementen könnten sich jeweils Individuen, Zellen, Gruppen, Organisationen oder Staaten verbergen.373 Zu „terrorist entrepreneurs“ hieß es in Moghadams Buch: „I define terrorist entrepreneurs as independently minded, highly motivated, and resource­ ful individuals dedicated to exploiting existing opportunities and seeking novel ways to execute, plan, or support acts of terrorism.”374 Als „terroristi­ scher Unternehmer“ gesehen werden könne Chalid Scheich Mohammed, 368 369 370 371 372 373 374

Ebd., S. 104. Ebd., S. 39-40. Vgl. ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 52-53. Ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 54-57. Ebd., S. 63.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

der Initiator der Anschläge vom 11. September 2001.375 Der vierte Typ – „states“ – bezog sich auf Nationen und deren Regierungsstellen.376 Die vier Akteursformen kombinierte Moghadam mit den 2015 erstmals vorgestellten und in der Publikation aus dem Jahre 2017 wiederholten qualitativen Ebenen („transaktionale Kooperation“, „taktische Zusammen­ arbeit“, „strategische Allianzen“, „Fusionen“). Das Ergebnis beschrieb er als „holystic typology“377. Sie bildete insgesamt zehn Varianten einer Be­ ziehung im Terrorismus ab: die Kooperation von Organisationen („orga­ nisational cooperation“), fünf Möglichkeiten einer „vernetzten Zusammen­ arbeit“ („networked cooperation“) sowie vier Interaktionstypen, in denen staatliche Stellen eine Rolle spielen („state sponsorship“ oder „state cooperati­ on“).378 Die „organisational cooperation“ sowie die „networked cooperati­ on“ könnten jeweils eine der oben genannten qualitativen Ausprägungen annehmen.379 2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien 2.2.1 Kritik an den Typologien Der direkte Vergleich der oben vorgestellten Typologien offenbart mehre­ re Problemstellungen, welche auf dem Weg zu einem vollumfassenden Kategorisieren terroristischer Interaktion zu lösen sind. Darunter fallen: – erstens ein entkontextualisierter Gebrauch verschiedener Begriffe für ähnliche Phänomene, – zweitens ein diffuses, in Teilen zu extensives und auf uneinheitliche Grundlagen gestelltes Grenzziehen zwischen den abstrahierten Typen sowie – drittens ein exklusiver Fokus auf positive Formen der Verhältnisse im Terrorismus. Das erste Defizit durchzieht den gesamten Forschungsstand zu Beziehun­ gen zwischen terroristischen Akteuren, ist also nicht nur charakteristisch

375 376 377 378 379

96

Vgl. ebd., S. 63-64. Vgl. ebd., S. 275. Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 276. Vgl. ebd., S. 120.

2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

für die Versuche des Systematisierens solcher Relationen. Besonders deut­ lich sticht es in den bedeutendsten Arbeiten zu diesem Themenfeld her­ vor, versahen doch Ely Karmon und Tricia Bacon einen engen Austausch im Terrorismus mit dem Begriff der „Koalition“ beziehungsweise der „Allianz“. Die Problematik dieses sprachlichen Einfassens resultiert nicht aus der jeweiligen konkreten inhaltlichen Definition, sondern aus dem Kontext, in dem beide Termini regelmäßig bedient werden. Kommen sie im Zuge des wissenschaftlichen Aufarbeitens der Verhältnisse im Terroris­ mus zur Anwendung, begünstigt dieser Kontext ein verzerrendes, ja gar irreführendes Darstellen terroristischer Kooperation. Denn sowohl „Koali­ tion“ als auch „Allianz“ sind elementare Begriffe der Politikwissenschaft und dort vor allem in den Theorien zu Beziehungen zwischen Parteien beziehungsweise Staaten beheimatet.380 Wer zu beiden Substantiven in politikwissenschaftlichen Nachschlagewerken recherchiert, wird – neben dem Gleichstellen mit dem Wort „Bündnis“ – eine unter anderem durch Vertragsschluss begründete Formalität als prägendes, konstitutives Merk­ mal von „Koalitionen“ und „Allianzen“ freilegen können.381 Beispielhaft zu nennen sind die üblicherweise mit einem Koalitionsvertrag abgesicher­ te Regierungsbildung in der Bundesrepublik Deutschland sowie der ver­ traglich kodifizierte Nordatlantikpakt. Indem die Koalitions- und Allianz­ partner ihre getroffenen Vereinbarungen schriftlich fixieren, stellen sie Verbindlichkeit her. Die Fixation garantiert das Einhalten von Pflichten und ermöglicht das Sanktionieren von Verstößen. Zutreffend verwiesen Karmon und Bacon auf die oben dargelegte wis­ senschaftliche Verankerung der beiden Termini.382 Karmon stellte fürder­ hin zu Recht fest, terroristische Akteure seien selbstredend nicht mit Parteien oder Staaten vergleichbar, obwohl sie – wie die Fälle der PFLP und der „al Qaida“ offenbarten – national und/oder international erhebli­ chen politischen Einfluss erlangen und geltend machen könnten.383 Dieses Urteil fußte er vor allem auf die Abschottung und Klandestinität terroristi­ scher Aktivitäten, deren Verantwortliche formale, öffentliche Absprachen und Übereinkommen – ganz im Gegensatz zu staatlichen Entscheidungs­ trägern – regelmäßig zu vermeiden suchten. Um diesen fundamentalen Differenzen gerecht zu werden, verzichtete Karmon auf den Terminus der

380 381 382 383

Vgl. Pehle 2000a, S. 304; Schüttemeyer 2010, S. 466-467. Vgl. Pehle 2000b, S. 305; Bendel/Schultze 2010, S. 96. Vgl. Bacon 2013, S. 12. Vgl. Karmon 2005, S. 22, 25.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

„Allianz“.384 Stattdessen legte er sich auf den Ausdruck der „Koalition“ fest. Damit brachte er jedoch die von ihm selbst konstatierte Schwierigkeit nur scheinbar zur Auflösung. Die kritische Haltung, welche Karmon ge­ genüber dem Übertragen des begrifflichen Instrumentariums der wissen­ schaftlichen Arbeit zu parteipolitischen Koalitionen und internationalen Beziehungen einnahm, suchte bei Bacon ihresgleichen. Zwar betonte sie, Absprachen zwischen terroristischen Personenzusammenschlüssen könn­ ten nicht (vertraglich) abgesichert werden, da die hierzu notwendigen Mittel – wie zum Beispiel unabhängige Kontrollinstanzen – fehlten.385 Hieraus schlussfolgerte sie aber nicht – wie Karmon – die im Hinblick auf terroristische Interaktion mangelnde Eignung des Wortes „Allianz“, das eine ebensolche Aufsicht und die damit einhergehende Gewähr impliziert. Um sprachliche Genauig- und terminologische Einheitlichkeit forcieren zu können, bezeichnet diese Arbeit positive, also freundschaftlich-koope­ rative Verhältnisse zwischen terroristischen Entitäten als „assoziative Bezie­ hungen“. Wie Unterkapitel 2.2.2 zeigt, beschreiben „assoziative Beziehun­ gen“ ein an Daases und Moghadams Arbeiten angelehntes Spektrum an Verhältnissen,386 in denen es unter Akteuren des Terrorismus zu einer bloß propagierten oder tatsächlichen Annäherung kommt. Dieses Annä­ hern muss weder von den involvierten Entitäten gleichermaßen vorange­ trieben noch persistent sein. Auch muss es nicht zwingend bestimmte Inhalte oder Gegenstände umfassen. Das Annähern kann sich in Solida­ ritätsbekundungen oder in sporadischen, auf logistische Bedürfnisse kon­ zentrierten Absprachen widerspiegeln oder einen kontinuierlichen, dauer­ haften Kontakt zwischen den involvierten Akteuren vorsehen, welcher ein Vernetzen auf den Gebieten der Organisation, der Ideologie und/oder der Strategie mit sich bringt. Der Intention Karmons und Bacons, diese qualitativen Unterschiede vermittels des Koalitions- und Allianzbegriffs prägnant herauszustellen, lässt sich hinreichend durch den Einsatz von Adjektiven nachkommen, welche den genannten Typologien zur Abgren­ zung ihrer Klassen zugrunde gelegt wurden. Hierbei lohnt es sich allerdings, begriffliche Trennungen eingehend zu überprüfen. Dies berührt die zweite der eingangs geschilderten Problema­ tiken: die in Teilen diffusen, zu extensiven und nach unterschiedlichen Maßstäben gesetzten Grenzen der unter Punkt 2.1 präsentierten Model­ le. Entsprechende Kritik trifft – in disparater Form – die typologische

384 Vgl. ebd., S. 25. 385 Vgl. Bacon 2013, S. 4-6. 386 Vgl. Karmon 2005, S. 49-50; Daase 2006, S. 909-910.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Arbeit aller vier genannten Wissenschaftler. Mit Skepsis zu sehen ist der bei Moghadam387 zu einer Grundlage der einzelnen Klassen erhobene Parameter „Vertrauen“. Inwieweit sich terroristische Partner vertrauen, hängt laut Moghadam von der Kongruenz ihrer Ideologien, von früheren – vor der Kooperation existierenden – Verbindungen ihrer Mitglieder und/ oder von der Reputation der beteiligten Entitäten ab.388 Der Begriff „Ver­ trauen“ spiegelt in den Sozialwissenschaften üblicherweise die subjektive Haltung einer Person oder Gruppe wider, in der sich „auf das Wort, das Versprechen [oder] auf die verbalen oder geschriebenen Aussagen anderer Individuen oder Gruppen verlassen“389 wird. Diese Haltung lässt sich mit Blick auf das Phänomen des Terrorismus selten seriös messen. Keinesfalls ausreichend ist Moghadams Operationalisierung, da diese ausschließlich auf Faktoren abstellte, welche der außerhalb terroristischer Akteure stehen­ de Beobachter wahrnehmen kann. Entscheidend sind in diesem Zusam­ menhang gerade intime Einblicke in gruppen- beziehungsweise organisa­ tionsinterne Entscheidungsprozesse und Erwartungshaltungen einzelner Mitglieder aus den Führungsriegen der eingebundenen Entitäten. Derart sensible Interna sind indes ob der bereits mehrfach thematisierten Ab­ schottung und Klandestinität terroristischer Kräfte kaum in zufriedenstel­ lendem Umfang zu erlangen.390 Schwammig blieb in dem 2015 von Assaf Moghadam veröffentlichten Beitrag der Übergang von der „transactional“ zur „tactical cooperation“. Er trennte diese wie folgt: „Low-end forms of cooperation between militant actors can be either tactical or transactional in character, with the former denoting a more committed and encompassing form of relationship than the latter.“391 Hierbei ließ er offen, ab wann genau eine Beziehung jene Bindekraft („commitment“) erreicht, welche sie als taktische Kooperation qualifiziert. Auch beantwortete er nicht, in welcher Hinsicht eine taktische Relation umfassender („more encompassing“) ist als eine transaktionale. Inhaltlich führte Moghadam zur „taktischen Zusammenarbeit“ aus, diese beruhe auf übereinstimmenden „Interessen“392 – er gab jedoch nicht an, was im

387 388 389 390 391 392

Vgl. Moghadam 2015, S. 22; Moghadam 2017, S. 106-107. Vgl. Moghadam 2017, S. 106. Wiswede 2004, S. 595. Ähnlich Karmon 2005, S. 49; Hagerty 2016, S. 3. Moghadam 2015, S. 24. Vgl. ebd.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Einzelnen unter diese „Interessen“ fällt und inwiefern sie die ideologische und materielle Interaktion innerhalb der „transaktionalen Kooperation“ überschreiten. Auch in der 2017 veröffentlichten Fortführung seiner Über­ legungen gelang es Moghadam nicht, „transaktionale Kooperation“ und „taktische Zusammenarbeit“ deutlicher zu konturieren. Letzte hinterlegte er unverändert mit dehnbaren Attributen: „[A] tactical cooperation is de­ signed to meet particular needs and does not necessarily involve either extensive or systematic collaboration.“393 Teilweise lassen sich die zu bei­ den Kategorien bemühten Fallbeispiele problemlos dem jeweils anderen Typen zuordnen. Die laut Moghadam unter eine „tactical cooperation“ fallenden Organisationen, welche nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak gegen die US‑amerikanische Besatzung kämpften und sich dabei mitunter auf Grundlage eines finanziellen Ausgleichs personell unterstütz­ ten,394 zeigen eher die „transactional cooperation“ an. Umgekehrt kann die Beziehung „al Qaidas“ zur indonesischen „Jemaah Islamiyah“ – von Mog­ hadam als „transactional cooperation“ begriffen – ebenso in die Klasse der „tactical cooperation“ fallen. Schließlich ging dieses Verhältnis durch das Zusammenlegen von Ressourcen und koordinative Absprachen zugunsten konkreter Anschlagsvorhaben weit über einen schlichten Waffentausch hi­ naus, wie er – so Moghadam – in der Interaktion zwischen den „Roten Bri­ gaden“ und der „Palestine Liberation Organization“ (PLO) wahrnehmbar gewesen sei.395 Diskussionswürdig ist überdies Moghadams Kategorie der „mergers“396, welche sich in ähnlicher Gestalt bei Bacon findet.397 Fraglich ist, ob die Interaktion nach dem vollständigen organisatorischen Zusammenlegen terroristischer Formationen zu einer singulären Struktur noch als Bezie­ hung im hier gemeinten Sinne klassifiziert werden kann. In solchen Kon­ stellationen werden die unter anderem durch Regeln, Ziele und Symbo­ le abgesteckten Außengrenzen der ursprünglich eigenständigen Partner zugunsten gemeinsamer Merkmale dauerhaft aufgegeben. Folglich stehen nicht mehr separate Akteure, sondern Mitglieder ein und derselben Forma­ tion miteinander in Beziehung. „Fusionen“ sind somit allenfalls Ergebnis, sozusagen Endpunkt oder Gipfel der Kooperation terroristischer Personen­ zusammenschlüsse. Dieser Höhepunkt kann sich im Falle interner Streitig­

393 394 395 396 397

100

Moghadam 2017, S. 113. Vgl. ebd., S. 112-113. Vgl. ebd., S. 37-38, 115. Vgl. Moghadam 2015, S. 23; Moghadam 2017, S. 107. Vgl. Bacon 2013, S. 753-754.

2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

keiten umkehren und in eine Zusammenarbeit voneinander getrennter Akteure zurückfallen, womit das Feld der Beziehungen terroristischer For­ mationen wieder berührt wäre. Dementsprechend empfiehlt es sich, das Verschmelzen mehrerer terroristischer Akteure nicht als eigenständigen Idealtypen zu begreifen. Beachtung zu schenken ist an dieser Stelle dem Ansatz Karmons und Daases, die beide die Bandbreite assoziativer Verbin­ dungen im Terrorismus vor der zeitlich und qualitativ unbegrenzten Inter­ aktion (einst) eigenständiger Akteure enden ließen. Wer in die Trias von Christopher Daase blickt, wird die unterste Stufe – die Kategorie der „symbolischen Kooperation“ – mit Zweifeln behaften. Als Beispiel für diesen Typen zählte Daase die deklaratorische Solidarität der „Roten Armee Fraktion“ mit Guerilleros der Dritten Welt auf. Außer­ dem verwies er auf die legitimatorische Agitation der Gruppe zugunsten des Anschlags auf die Olympischen Spiele im Jahre 1972 in München.398 „Symbolische Kooperation“ sei, so Daase, „im Wesentlichen einseitig“399. Diese Aussage steht im Widerspruch zum Charakter kooperativer Verbin­ dungen, sehen diese doch eine Wechselseitigkeit beziehungsweise ein Re­ agieren auf die Reaktion eines anderen vor. Sofern also ein terroristischer Akteur auf die Ansichten und Handlungen eines Gleichgesinnten eingeht, dieses Eingehen jedoch keinerlei positive Resonanz des Gegenübers her­ vorbringt, wird die Schwelle zu einer Relation nicht überschritten. In diesem Fall ergibt sich zwischen den Entitäten keine Beziehung, will hei­ ßen: Dem einseitigen Annähern eines terroristischen Akteurs an einen anderen fehlt es an der Grundlage, welche dieses zu einer Kategorie ter­ roristischer Interaktion emporhebt. Um diese Problematik auszuhebeln, bedarf es lediglich eines inhaltlichen Justierens der von Daase dargeleg­ ten „symbolischen Kooperation“. Welche Fälle diese Kategorie abdecken kann, zeigte Moghadam, der unter seine „transactional cooperation“ den im islamistischen Terrorismus üblich gewordenen propagandistischen An­ schluss an den „Islamischen Staat“ fasste. Dabei stellte er die in Nigeria ak­ tive „Jama'at Ahl al Sunnah lil Dawa wal Jihad“ (auch bekannt als: „Boko Haram“) heraus, deren Treueschwur auf den selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al Baghdadi der IS im März 2015 annahm.400 Derartige medienwirk­ same Verbindungen gehen meist nicht über ihren demonstrativen Wert hinaus und verharren somit auf einer genuin symbolischen Ebene.

398 Vgl. Daase 2006, S. 909. 399 Ebd. 400 Vgl. Moghadam 2015, S. 24; Moghadam 2017, S. 116.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Legt man die Typologien von Karmon, Bacon, Daase und Moghadam übereinander, fällt auf, wie sehr ihre Kategorien nach unterschiedlichen Schwerpunkten konzipiert wurden. Während Bacon, Daase und Mogha­ dam ihre Typologie vor allem anhand der Frequenz der Kontakte und der Anzahl an Kooperationsbereichen determinierten, erschuf Karmon seine Typen entlang des Kriteriums der ausgetauschten Güter – also mithilfe der konkreten Inhalte der Beziehung. In Bacons Modell ergab sich zusätz­ lich eine Besonderheit durch den dort parallel vorgenommenen Versuch, eine separate Kategorie („subalterne Kooperation“) zu bilden, welche die unterschiedliche hierarchische Stellung der beteiligten Akteure in den Vordergrund rückte.401 Karmons Schema ist nach Einschätzung des Autors unzureichend, da es den für ein Systematisieren maßgeblichen Kern einer Beziehung – eine von mehreren Akteuren in wechselseitiger Abhängigkeit gesteuerte Interaktion – lediglich in Teilen widerspiegelt. Wie Bacon in ihrer Reaktion auf Karmons Typologie richtig anmerkte, weist die Bezie­ hungen zugrundeliegende Kette von Verhaltensformen oder Handlungen nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine strukturelle sowie eine zeitli­ che Komponente auf.402 Nach Bacons Verständnis beinhaltete die strukturelle Komponente die Häufigkeit der Berührungspunkte sowie den Rang, den die involvierten Akteure innerhalb des jeweiligen Verhältnisses einnehmen. Letztes domi­ nierte ihre Typen der „subordinate“ und „reciprocal cooperation“, wohin­ gegen die übrigen Kategorien den Fokus in gleichem Maße auf die Gegen­ stände der Beziehung, die Quantität der Kontakte und die erhoffte Dauer­ haftigkeit der Relation richteten. Mit dem gewählten Zuschnitt der „subal­ ternen“ und „reziproken Zusammenarbeit“ verengte Bacon – ähnlich wie Karmon – den Blick auf die Beziehungen zwischen terroristischen Kräften, zeigte sich in beiden Kategorien doch die Stärke sowie die daraus resultie­ rende Position der Akteure, nicht aber das sie verbindende, aufeinander bezogene Verhalten als ausschlaggebend. Hiermit zog sie zudem künstli­ che Grenzen zwischen ihren Klassen. Denn Über‑/Unterordnungsverhält­ nisse sind im Terrorismus typischerweise selbst dann möglich, wenn die Akteure – wie in der „pooled“ und „integrated cooperation“ – eng und langanhaltend zusammenarbeiten oder – analog der „transactional coope­ ration“ – einen reinen Güteraustausch praktizieren. Anders formuliert: Eine mit dem Typen des „subalternen Zusammenwirkens“ beschriebene einseitige Abhängigkeit und Bevormundung ist nicht nur in Kombination 401 Vgl. Bacon 2013, S. 754-755. 402 Vgl. ebd., S. 752-753.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

mit den Variablen der langanhaltenden Dauer und dem Kriterium der situativ bestimmten Kooperationsfelder denkbar, wie dies die unter Punkt 2.1.2 dargestellte Grafik Bacons suggerierte. Konsequenter und sinnvoller wäre es gewesen, alle Kategorien ausschließlich nach den aufeinander be­ zogenen Handlungen der Entitäten auszurichten und sodann – im Zuge der Erläuterung der Typen – ausnahmslos die Möglichkeit unterschiedli­ cher hierarchischer Stellungen zwischen den Beteiligten einzuräumen. 2.2.2 Modifizierte Typologie zu assoziativen Beziehungen Daase und Moghadam gingen beide denklogisch vom Charakter bezie­ hungsweise den zentralen Eigenschaften einer Interaktion aus, um die einzelnen Varianten einer Kooperation – ergo einer Beziehung – im Terro­ rismus plastisch zu erfassen. Ihre Ansätze eignen sich daher besonders als Ausgangspunkte für einen Vorschlag, welcher die bisherigen Typologien zur Kooperation terroristischer Entitäten unter Würdigung der festgestell­ ten Kritikpunkte zusammenzieht. Dieser Einschätzung entsprechend, fußt diese Arbeit ihre Kategorien assoziativer Verhältnisse im Terrorismus auf die folgenden Determinanten: – erstens gleichgelagerte Interessen der Beteiligten, welche praktischer und/oder ideeller Natur sein können, – zweitens die zwischen punktueller und permanenter Interaktion rangie­ rende Frequenz des Kontakts und – drittens die damit verbundene Erwartung zur Dauer der Beziehung sowie – viertens die Inhalte des Austauschs, welche ideologische, logistische, strategische und/oder taktische sowie personelle Aspekte umfassen kön­ nen.

103

2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Abb. 6: Modifizierte Typologie zu assoziativen Beziehungen im Terrorismus (Quelle: eigene Darstellung) Wer die Ausprägungen der oben genannten Kriterien zusammenstellt, kann die in Abbildung 6 graphisch nachgehaltene Typologie zu assoziati­ ven Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren aufstellen. Obschon die Klassen nach Qualität aufsteigen, versteht sie sich nicht als Stufenmo­ dell, das Entitäten zwangsläufig schrittweise durchlaufen (müssen). So können terroristische Kräfte beispielsweise in eine extensiv-assoziative Re­ lation eintreten, ohne zuvor eine synchron-, transaktional- oder deklarativassoziative Verbindung unterhalten zu haben. Die Klasse der deklarativ-assoziativen Verhältnisse im Terrorismus ähnelt der „ideological cooperation“ bei Karmon403 sowie in Teilen der „transac­ tional cooperation“ bei Moghadam.404 Derartige Beziehungen beruhen auf sich partiell überschneidenden politischen Positionen, Einschätzungen und/oder Zielsetzungen. Zwischen den Akteuren bestehen folglich inhalt­ liche Kongruenzen, die ihren Ursprung allerdings nicht notwendigerweise in einer vollkommen identischen ideologischen Ausrichtung haben müs­ sen: Ähnliche programmatische Auffassungen können beispielsweise auch zwischen links- oder rechtsterroristischen Entitäten und nationalistisch‑se­ paratistischen Terroristen existieren. Die Schnittmengen motivieren die 403 Vgl. Karmon 2005, S. 49. 404 Vgl. Moghadam 2015, S. 24.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Partner zu wechselseitigen symbolischen Solidaritäts- oder Treuebekundun­ gen, was im Umkehrschluss bedeutet: Bei isolierten Handlungen, die nicht Bezug nehmen auf ein zuvor vom Gegenüber zugeschicktes Signal und keine wie auch immer geartete Antwort des Partners auslösen, ist die Schwelle zu einer deklarativ-assoziativen Beziehung noch nicht überschrit­ ten. Beide Seiten müssen (re-)agieren. Zu dem Spektrum der beiderseiti­ gen Solidaritäts-/Treuebekundungen zählen kann die ostentative öffentli­ che Ergebenheit gegenüber dem Anführer einer Entität, der diese Geste positiv erwidert. Oder: Die eigenen Anschläge werden jeweils verstorbe­ nen Mitgliedern des avisierten Partners gewidmet. Vorstellbar sind zudem eine selbstständige, unabgestimmte Aufnahme der Namen inhaftierter Aktivisten des Gegenübers in etwaige Freilassungsforderungen sowie Ra­ cheaktionen, die ein Akteur eigeninitiativ als Reaktion auf Rückschläge oder Verluste des anderen unternimmt. Hiermit verbunden sein kann apologetische Propaganda (wie zum Beispiel: Flugschriften oder Videobot­ schaften), welche die Erklärungen, Ziele und/oder Taten des jeweiligen Gegenübers verherrlichend darstellt oder rechtfertigt. Zu einer über diese mündlichen oder schriftlichen Bekenntnisse hinausgehenden physischen Kooperation im Hinblick auf personelle, taktische oder strategische Fragen kommt es nicht. Die Verbindung der Akteure bleibt genuin symbolisch, womit die Entitäten ihre strukturelle Entscheidungshoheit behalten und in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis geraten. Die Häufigkeit ihres exklusiv auf Botschaften basierenden Austauschs ist stark limitiert. Der agitatori­ sche Kontakt beschränkt sich auf einzelne Anlässe – darunter Gewalthand­ lungen beziehungsweise „Errungenschaften“ eines Beteiligten. Mit diesem losen Konnex werden keine Ansprüche an die zukünftige Entwicklung der Partnerschaft gestellt. Sie kann jederzeit unter anderem aufgrund sich verschiebender politischer Argumentationsschwerpunkte der Beteiligten abrupt enden oder – wie beispielsweise im Falle räumlich voneinander ge­ trennter Akteure – in eine anhaltende Stagnation fallen. Exemplarisch für deklarativ-assoziative Relationen ist – neben dem von Moghadam erwähn­ ten Treueschwur der „Boko Haram“405 – die Kommunikation zwischen dem „Islamischen Staat“ und Teilen der Guerillaorganisation „Harakat al Shabaab al Mujahideen“ (auch bekannt als: „al Shabaab“) in Somalia. 2015 hatte der IS propagandistische Erklärungen an die zu diesem Zeitpunkt partiell mit „al Qaida“ verbundenen somalischen Jihadisten adressiert und bilaterale Beziehungen angeboten.406 Eine Minorität innerhalb der „al 405 Vgl. ebd.; Moghadam 2017, S. 116. 406 Vgl. Meleagrou-Hitchens 2015.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Shabaab“ akzeptierte diese Offerte und schwor Abu Bakr al Baghdadi die Treue.407 Bei der transaktional-assoziativen Beziehung stehen – wie in Bacons Typ der „transactional cooperation“408 – weniger ideologische Aspekte im Vor­ dergrund. Die Akteure können denselben weltanschaulichen Strömungen angehören und damit analoge Agenden artikulieren, die in gegenseitigem Zuspruch münden. Möglich ist jedoch auch, dass sie sich disparaten po­ litischen Fraktionen zugehörig fühlen und nur in einzelnen weltanschau­ lichen Fragen einen gemeinsamen Nenner finden. Ideologische Gemein­ samkeiten oder Differenzen treten weitgehend in den Hintergrund, da die Verbindung zwischen den Entitäten insbesondere pekuniäre beziehungs­ weise materielle Bedürfnisse befriedigen und/oder fehlende Kenntnisse oder Fähigkeiten zur Verfügung stellen soll. Diese Ansprüche und Mängel sind dem Kampf gegen identische Gegner oder aber gegen unterschiedli­ che Ziele geschuldet, von denen allerdings keines in die selbst definierte, als schutzwürdig erachtete Interessenssphäre des jeweiligen Partners fällt. Die Spannweite materieller Bedürfnisse reicht von operativen Ressour­ cen (Schusswaffen, Munition, Sprengstoff, gefälschte Ausweisdokumente, Fahrzeuge, et cetera) bis hin zu Rückzugsorten (konspirative Quartiere). Kenntnisse und Fähigkeiten können unter anderem beim internen Struk­ turieren, bei Mechanismen des Eigenschutzes, beim Umgang mit Waffen und/oder beim Planen und Umsetzen von Anschlägen fehlen. Im Zuge der transaktional-assoziativen Beziehung werden derartige Vermögenswer­ te von einem Akteur zum anderen weitergereicht. Je nach Besitzstand der Entitäten fließen diese Posten in beide Richtungen oder nur in eine, das heißt: Es ist sowohl ein ausgeglichener als auch ein einseitiger Austausch möglich, welcher (zunächst) keine Gegenleistung verlangt. Der Kontakt wird entsprechend der sich situativ ergebenden Nachfragen und demnach unregelmäßig aufgebaut. Aufgrund des im Zentrum der Beziehung stehen­ den Bereitstellens materieller und/oder immaterieller Güter ergeben sich keine sichtbaren Anzeichen für eine dauerhafte und enge Annäherung der beteiligten Akteure. Die überwiegend physische Interaktion ist im Allge­ meinen kurzfristig: Neben einem sofortigen Transfer gewünschter Güter lässt sich eine über mehrere Wochen oder Monate verteilte Übergabe annehmen. Beispiele für eine transaktional-assoziative Beziehung bilden die Ende der 1960er Jahre von späteren Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ und 407 Vgl. Sheikh 2015. 408 Vgl. Bacon 2013, S. 755-756.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Anfang der 1970er Jahre von der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ unternommenen Besuche in Trainingslagern der „Harakat al Tahrir al Watani al Filastini“ (Fatah), aus denen keine langfristige Zu­ sammenarbeit erwuchs. Lutz Korndörfer, Wolfgang Kraushaar und Tobi­ as Wunschik schilderten, dass Roswitha Lena Conradt, Albert Fichter, Dieter Kunzelmann, Georg von Rauch und Ingrid Siepmann im Oktober 1969 die Unterstützungsbereitschaft der Fatah in Jordanien beanspruch­ ten, um Kenntnisse zur Handhabung von Schusswaffen und Explosivmit­ teln zu erlangen.409 Zu ähnlichen Zwecken unternahmen die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ im Jahre 1970 ebenfalls einen Besuch in einer Ausbildungsstätte der Fatah in Jordanien, in dessen Verlauf sie im Umgang mit Waffen unterwiesen wurden.410 Bacon zufolge diente der RAF diese Reise allerdings nicht nur zur Ausbildung ihrer Mitglieder. Sie habe auch dem polizeilichen Verfolgungsdruck nach dem Befreien Andre­ as Baaders aus der Haft im Mai 1970 ausweichen wollen.411 Charakteris­ tisch für den Typen der transaktional-assoziativen Verhältnisse ist überdies die Verbindung zwischen der Dritten Generation der RAF und den in Belgien agierenden „Cellules Communistes Combattantes“ (CCC). Beide Akteure waren zwar dem Linksterrorismus zuzurechnen, gelangten wegen grundsätzlicher organisatorischer und ideologischer Meinungsverschieden­ heiten aber nur zu einer logistischen Kooperation, welche die Weitergabe von Sprengstoff und das gemeinsame Nutzen verdeckter Unterschlüpfe einschloss.412 Von den vorangegangenen Kategorien unterscheiden sich synchron-as­ soziative Beziehungen insofern, als sie zwingend – wie Bacons Form der „integrated cooperation“413 – beachtliche Überschneidungen oder An­ knüpfungspunkte zwischen den Ideologien der beteiligten Entitäten vor­ aussetzen. Diese Gemeinsamkeiten bilden die dominierende Triebkraft der Annäherung, die sich ergänzend aus Ressourcenengpässen und/oder aus operativen Erwägungen speisen kann. Die involvierten Akteure ver­ ständigen sich (informell) auf gemeinsame politische Positionen und/oder Forderungen. Üblicherweise ziehen sie zudem in ihrer propagandistischen Arbeit an einem Strang, indem sie Grundsatzerklärungen und/oder Tat­

409 Vgl. Kraushaar 2006b, S. 518; Wunschik 2006b, S. 543-544; Korndörfer 2008, S. 242. 410 Vgl. Jander 2008, S. 147, 153; Peters 2008, S. 198. 411 Vgl. Bacon 2013, S. 202. 412 Vgl. Fendt/Schäfer 2008, S. 195-196. 413 Vgl. Bacon 2013, S. 754.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

bekenntnisse arbeitsteilig beziehungsweise eigenständig mit korrespondie­ renden Inhalten formulieren und veröffentlichen und/oder die Taten des jeweils anderen glorifizieren. Um ihren Zielvorstellungen Nachdruck zu verleihen, synchronisieren sie die Zeitpunkte und Opfergruppen ihrer An­ schlagskampagnen und/oder konzipieren in enger Absprache aufeinander bezogene Aktionen, die sie getrennt ausführen. Parallel entwickelt sich ein ein- oder wechselseitiger Austausch von Wissen und Arbeitsmitteln. Die ideologischen, taktischen und logistischen Verflechtungen beruhen auf face to face-Konsultationen, die in Form von Versammlungen und/oder über Verbindungspersonen in regelmäßigen Intervallen erfolgen. Ihre In­ tensität geht mit der Erwartung einher, über mehrere Monate oder Jahre hinweg verknüpft zu sein. Hierbei können die Akteure ihre strukturelle Autonomie bewahren oder in Teilen aufgeben. Letztes tritt vor allem dann ein, wenn eine der eingebundenen Entitäten mit ausdrücklicher oder konkludenter Zustimmung der anderen weltanschauliche Diskussio­ nen bestimmt. Resultieren können Über‑/Unterordnungsverhältnisse fer­ ner aus disparaten operativen Fähigkeiten – etwa aus dem chronischen Geldmangel eines Beteiligten. Wie derartige Abhängigkeiten in einer synchron-assoziativen Relation auftreten, unterstreicht das Beispiel der ab 1983 sichtbar werdenden Zu­ sammenarbeit der „Roten Armee Fraktion“ mit der französischen „Action Directe“ (AD). Beide Gruppen stimmten ihre Gewalthandlungen aufein­ ander ab, teilten Finanzen und Operativmittel (insbesondere Explosivstof­ fe und Waffen) und gaben zusammen Taterklärungen heraus. Polizeili­ chen Ermittlungen zufolge borgte sich die RAF mindestens 200 000 Fran­ ken von ihrem französischen Partner.414 Im Dezember 1984 versuchte die Dritte Generation einen Anschlag auf die Schule der „North Atlantic Trea­ ty Organization“ (NATO) im bayerischen Oberammergau, wobei Spreng­ stoff aus mit der AD geteilten Beständen Verwendung fand. Kurz darauf, so Hans Josef Horchem, sei eine gemeinsame Erklärung der beiden Grup­ pen unter dem Titel „Für die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ er­ schienen, in der sie den von der „Roten Armee Fraktion“ entwickelten Ge­ danken einer „Front“ linksterroristischer Akteure im Kampf gegen „impe­ rialistische“ Machtstrukturen unterstrichen.415 In enger Absprache ermor­ dete die „Action Directe“ am 25. Januar 1985 einen französischen General, die RAF wenige Tage später – am 1. Februar 1985 – den Vorstandvorsit­ zenden der in München ansässigen „Maschinen- und Turbinenunion“. Das 414 Vgl. Gursch 2008, S. 182. 415 Vgl. Horchem 1988, S. 148.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Bekennerschreiben zu dem von der „Roten Armee Fraktion“ im August 1985 ausgeführten Anschlag auf die Rhein-Main-Air Base am Frankfurter Flughafen unterzeichneten die Gruppen zusammen.416 Sowohl hinsicht­ lich der Zielauswahl als auch mit Blick auf die inhaltlichen Begründungen stach in der Beziehung der beiden Gruppen die Handschrift der RAF ins Auge. Ganz offensichtlich hatte die „Action Directe“ in großen Teilen die Linie der „Roten Armee Fraktion“ übernommen.417 Plastisch wird eine synchron-assoziative Beziehung darüber hinaus im Falle der 1977 beobachteten Abstimmung der RAF mit der PFLP-SOG, deren Ausbildungsstrukturen im Südjemen die „Rote Armee Fraktion“ 1976 in Anspruch genommen hatte.418 Im Rahmen der von 1973 an be­ stimmenden strategischen Bemühungen, die inhaftierte Führungsriege aus der Ersten Generation zu befreien, bezog die aus ideologischen Gründen mit dem palästinensischen Befreiungskampf sympathisierende „Rote Ar­ mee Fraktion“ die „Special Operations Group“ der sich marxistisch geben­ den „Popular Front for the Liberation of Palestine“ in eine Kampagne ein. Bekanntheit erlangen sollte diese später unter dem Titel „Deutscher Herbst“. Kurz nach dem Entführen Hanns Martin Schleyers gewährte die PFLP-SOG Teilen der Zweiten Generation Unterschlupf in Bagdad.419 Die Palästinenser offerierten der RAF eine unterstützende Aktion mit dem Ziel zusätzlichen Drucks auf die Bundesregierung unter Helmut Schmidt. Nach gemeinsamem, grobem Festlegen des Tatverlaufs entführte das aus­ schließlich aus Mitgliedern der PFLP-SOG bestehende „Kommando Mar­ tyr Halimeh“ einen Passagierflieger der „Lufthansa“.420 In einer Erklärung schlossen sich die Palästinenser dem Begehren der „Roten Armee Frakti­ on“ an.421 Zeitgleich deklamierte die RAF: „Das Ultimatum der Operation Kofre Kaddum des Kommandos ‚Martyr Halimeh‘ und das Ultimatum des Kommandos ‚Siegfried Hausner‘ […] sind identisch.“422 Wie sich hierbei zeigte, agierte die „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ nicht nur aus bloßer Solidarität zu ihren westeuro­ päischen Kontakten. Pragmatische Gründe spielten gleichermaßen eine Rolle. Wadi Haddad versprach sich das Freipressen eigener „Gefangener“. Ferner sollte das verlangte Lösegeld in Höhe von 35 Millionen DM nach 416 417 418 419 420 421 422

Vgl. Wunschik 1997, S. 405. Vgl. Gursch 2008, S. 182-183. Vgl. Wunschik 1997, S. 246. Vgl. Peters 2008, S. 426. Vgl. Daase 2006, S. 923; Jander 2008, S. 154. Vgl. Peters 2008, S. 434. ID-Verlag 1997, S. 273.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

erfolgreichem Abschluss der Flugzeugentführung vollständig an die PFLPSOG gehen.423 Ohne die Bundesregierung zum Einlenken gebracht zu haben, scheiterte die Entführung in Mogadischu mit dem Eingreifen der Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) des Bundesgrenzschutzes. Drei der vier Terroristen kamen dabei ums Leben. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe begingen hieraufhin Selbstmord, Irmgard Möller über­ lebte ihre Verletzungen. Als Reaktion auf diese Entwicklungen erschoss die RAF Hanns Martin Schleyer, dessen Leiche am 19. Oktober 1977 im elsässischen Mülhausen entdeckt wurde. Um nach dem Fehlschlagen ihrer primär auf die Freiheit „politischer Gefangener“ konzentrierten Strategie eine Neuausrichtung vornehmen zu können, reisten die Mitglieder der Zweiten Generation im Jahre 1979 erneut nach Aden in ein Trainings­ camp der PFLP-SOG.424 1981 beklagten die Inhaftierten der RAF in einer ihrer Schriften „die Exekutierung […] unserer Schwestern und Brüder aus dem Kommando Martyr Halimeh.“425 Die höchste Stufe terroristischer Kooperation spiegeln extensiv-assoziative Verhältnisse wider. Darunter fallen Interaktionen zwischen Entitäten, de­ ren Ideologien – aus Sicht der Mitglieder – in hohem Maße miteinander vereinbar sind und die annähernd dieselben Schlüsse zur Verwirklichung der in ihren politischen Argumentationsmustern verankerten Intentionen ziehen. Die Akteure verfolgen somit nicht nur vergleichbare Taktiken/Vor­ gehensweisen im Alltagsgeschäft, sondern auch kompatible strategische Handlungsansätze beziehungsweise Revolutionsmodelle. Ausfluss dieser Similarität sind unter anderem gemeinsame propagandistische Anstren­ gungen, die ein gegenseitiges Legitimieren ihrer Aktivitäten, das Abgeben abgestimmter Erklärungen und/oder das abgesprochene Erstellen und Pu­ blizieren von Grundsatzpapieren beinhalten können. Die Akteure einigen sich üblicherweise auf Opfergruppen und/oder revolutionäre Subjekte so­ wie auf die grundsätzliche Methodik, mit der eine Opfergruppe geschädigt beziehungsweise die Sympathie der ins Auge gefassten Adressaten gewon­ nen werden soll. Kenntnisse, Fähigkeiten und Materialien werden nahezu uneingeschränkt transferiert, Gewalttaten intensiv in Einklang gebracht und gemeinsam in personell gemischten Zellen beziehungsweise Gruppen ausgeführt. Darüber hinaus stellen sich die Partner bisweilen Personal zur Verfügung, das Aufträge zugunsten des Gegenübers erfüllt. Die Verflech­ tungen erreichen ein Ausmaß, welches eine permanente Kommunikation

423 Vgl. Peters 2008, S. 434. 424 Vgl. Wunschik 1997, S. 305-311; Aust 2020, S. 21-25. 425 ID-Verlag 1997, S. 286.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

zwischen den Personenzusammenschlüssen über Treffen, Verbindungsper­ sonal und sonstige Kanäle (zum Beispiel: Telefongespräche, E-Mails) erfor­ dert. In der Regel halten sich die Mitglieder der Entitäten über einen län­ geren Zeitraum hinweg oder dauerhaft physisch an ein und demselben Ort (Ausbildungslager, konspirative Wohnung) oder in einem überschaubaren Gebiet (Region in einem Land) auf. Anhand dieser Qualität lässt sich eine mehrjährige Zusammenarbeit der Entitäten erwarten, in der die hierarchi­ sche Stellung der Akteure ausgeglichen bleibt oder eine Einschränkung der Entscheidungshoheit eines Partners hervortritt. Sofern die Interaktion dauerhaft mit Erfolgen verbunden ist, können die Entitäten ihre organisa­ torischen Grenzen zunehmend als obsolet erachten und die Schwelle zu einem strukturellen Verschmelzen – einer „Fusion“ – überschreiten. Diese Zusammenlegung bildet den Endpunkt des Typenspektrums assoziativer Beziehungen im Terrorismus, da in diesem Fall nicht mehr separate Akteu­ re, sondern ausschließlich die Mitglieder ein und derselben Gruppe oder Organisation in Relation zueinander stehen. Ihren Ausdruck fanden extensiv-assoziative Beziehungen im Terrorismus in der Interdependenz zwischen der PFLP/PFLP-SOG auf der einen und den RZ und der „Japanischen Roten Armee“ (JRA, im Japanischen: „Ni­ hon Sekigun“) auf der anderen Seite sowie im Annähern des ägyptischen „al Jihad“ an die „al Qaida“. Die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ und die „Revolutionären Zellen“ proklamierten beide (unter anderem) einen Kampf gegen – angebliche – imperialistische Exploitation und Oppression, die sich im Nahen Osten in der Politik des Staates Israel gegenüber den Palästinensern herauskristallisieren würden.426 Zu diesen ideologischen und den daraus erwachsenden strategischen Schnittmengen schrieben ehemalige Mitglieder der RZ rückblickend in einem im Jahre 2001 erschienenen Artikel für die Zeitschrift „Jungle World“: „Aber auch eine operative Zusammenarbeit galt als erstrebenswert, und zwar aus prinzipiellen Gründen und nicht etwa nur aus Oppor­ tunitätserwägungen. Schließlich begriff man die BRD nur als Teilab­ schnitt einer weltweiten Front und die Kämpfe in den Metropolen [westliche, industrialisierte Staaten] und in den drei Kontinenten [Afrika, Asien, Lateinamerika] bedingten und ergänzten einander. Die Schwächung des Imperialismus an der Peripherie war eine Vorausset­ zung für den Kampf in den Zentren. Und umgekehrt konnten die

426 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 24-25; Bacon 2013, S. 91-92.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

trikontinentalen Befreiungsbewegungen ohne den Angriff im Herzen der Bestie nicht gewinnen. Die Beteiligung an internationalen Kom­ mandos, in die jede Gruppe ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten ein­ brachte, entsprach der festen Überzeugung, dass ein nationaler Weg der Befreiung völlig undenkbar war.”427 Erstmals gefestigt wurden derartige Verbindungen in den Nahen Osten, als sich Johannes Weinrich – ein Gründungsmitglied der RZ – im Januar 1975 zusammen mit dem international agierenden Linksterroristen Ilich Ramírez Sánchez (genannt „Carlos“) und einem libanesischen Staatsange­ hörigen am versuchten Abschuss einer 136 Personen transportierenden Passagiermaschine der israelischen Fluggesellschaft „EL-AL“ am Pariser Flughafen Orly beteiligte. Weinrich bot den Tätern direkte logistische Hil­ fe.428 Wie Wolfgang Kraushaar herausstellte, muss dieser gescheiterte An­ schlag als „eine der ersten größeren Kooperationen zwischen der PFLP“429 und den „Revolutionären Zellen“ verstanden werden, denn eigentlicher Initiator der Aktion sei die von Wadi Haddad geführte palästinensische Organisation PFLP-SOG gewesen. Ebenfalls in Haddads Auftrag nahm „Carlos“ im Dezember 1975 unter anderen mit dem RZ-Mitglied HansJoachim Klein sowie mit Gabriele Kröcher‑Tiedemann – Mitbegründerin der „Bewegung 2. Juni“ – die Teilnehmer einer in Wien abgehaltenen Konferenz der „Organisation erdölexportierender Staaten“ (OPEC) als Gei­ seln. Vordergründiges Ziel des Überfalls war, auf den Kampf der Palästi­ nenser im Nahen Osten aufmerksam zu machen.430 In den Vorstellungen der RZ verband sich hiermit zusätzlich die Intention, „bei der […] PFLP im guten Licht [zu stehen] und einiges (Waffen, Geld, et cetera) dafür fordern“431 zu können. Die PFLP-SOG galt innerhalb der RZ zu diesem Zeitpunkt als – so Hans-Joachim Klein – „mächtige Organisation“432, auf die man angewiesen gewesen sei. Zur Unterstützung der Aktion in Wien hatte ein in Deutschland aktives Mitglied der RZ im Vorfeld Sprengstoff und Waffen nach Österreich transportiert, um sie dem „Kommando“ um „Carlos“ zur Verfügung zu stellen.433

427 428 429 430 431 432 433

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Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 583; Wörle 2008b, S. 265. Kraushaar 2006c, S. 583. Vgl. Rabert 1995, S. 207; Kopp 2007, S. 91-92. Klein 1979a, S. 73. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 61-63.

2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Unmittelbar nach dem Überfall auf die Sitzung der OPEC besuchten mehrere Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ ein Ausbildungslager der PFLP-SOG im südjeminitischen Aden, wo sie sich in das Handhaben von Waffen einführen ließen und ihre ungebrochene Solidarität mit dem paläs­ tinensischen Befreiungskampf bekundeten.434 Als Gegenleistung für ihre Dienste gewährte die PFLP-SOG den RZ nicht nur Unterschlupf: Mitglie­ der, wie zum Beispiel Wilfried Böse, Hans‑Joachim Klein und Brigitte Kuhlmann, lebten geraume Zeit im arabischen Raum an der Seite Had­ dads. Auch überreichte sie Feuerwaffen und finanzielle Mittel. Klein bezif­ ferte die Summe der monatlich gezahlten Gelder mit 3000 US-Dollar.435 Wenige Monate nach dem Besuch im Südjemen – im Juni 1976 – waren der als „Chef“ der RZ titulierte Aktivist Wilfried Böse436 und seine Weg­ gefährtin Brigitte Kuhlmann im Anschluss an eine umfassende, von Wa­ di Haddad orchestrierte Ausbildung Teil einer deutsch‑palästinensischen Gruppe, welche nach den Vorstellungen der PFLP‑SOG ein Flugzeug der „Air France“ mit knapp 250 Passagieren entführte, um palästinensische und deutsche Inhaftierte aus Gefängnissen in Israel freizupressen.437 Osten­ tativ rechtfertigte Böse die Aktion nach außen mit den „von Israel an den Palästinensern begangenen Verbrechen“438. Gegenüber den Geiseln soll er betont haben: „Meine Freunde und ich sind hier, um den Palästinensern zu helfen, weil diese die Underdogs sind. Sie sind die Leidtragenden.“439 Israelische Streitkräfte töteten Böse und Brigitte Kuhlmann im Laufe der Geiselbefreiung.440 Ähnlich wie die „Revolutionären Zellen“ erklärte die JRA die israelische Regierung zum Gegner und maß dem Bekämpfen Israels hohe strategi­ sche Bedeutung zu.441 Deren Gründungsmitglieder Shigenobu Fusako und Okudaira Takeshi waren von 1971 an im Libanon präsent – sie bauten dort durch die Teilnahme an Ausbildungsangeboten und propagandisti­ sche Arbeit enge Verbindungen zur Führungsebene der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ auf. Laut Florian Edelmann war die „Ja­ panische Rote Armee“ anfangs stark von den Palästinensern abhängig.

434 435 436 437 438 439 440

Vgl. Kopp 2007, S. 95-99. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 281. Vgl. Kraushaar 2017, S. 276-281. Ebd., S. 281. Wilfried Böse, zit. n. ebd., S. 285. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 22-23; Kraushaar 2017, S. 290. 441 Vgl. Bacon 2013, S. 155-156; Eddel 2018, S. 113.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Shigenobu Fusako fertigte einen Film an, den sie mit dem Titel „Sekigun – PFLP: Weltkriegserklärung“442 versah und in Japan über Sympathisanten ausstrahlen ließ. Ziel dieser erfolgreichen Maßnahme war es, weitere japa­ nische Kämpfer zu einer Ausreise und Kampfteilnahme im Nahen Osten zu motivieren.443 Auf Wunsch der PFLP verübte die „Japanische Rote Armee“ im Jahre 1972 einen Schusswaffenanschlag auf den Tel Aviver Flughafen Lod, in dessen Verlauf 26 Personen ums Leben kamen. Den genauen Modus Operandi der Aktion hatten die JRA-Mitglieder zuvor mit der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ festgelegt. 1973 und 1974 unternahmen gemeinsame Operationsgruppen der PFLP und der JRA weitere Aktionen, darunter eine Flugzeugentführung.444 Eine extensiv-assoziative Beziehung zwischen der ägyptischen Gruppe „al Jihad“ und der von Osama bin Laden geführten „al Qaida“ ergab sich spätestens im Jahre 1998 mit dem gemeinsamen Aufenthalt in dem von den „Taliban“ regierten afghanischen „Islamischen Emirat“ und der Unterzeichnung der Fatwa „Islamische Weltfront für einen Jihad gegen die Juden und Kreuzzügler“. Diese Erklärung legte den Grundstein für eine einheitliche Programmatik und Strategie, welche dem Kampf gegen die Vereinigten Staaten von Amerika als sogenannter ferner Feind den Vorzug gab.445 In die Tat umgesetzt wurde dieses Paradigma mit den annähernd zeitgleich verwirklichten Bombenanschlägen auf die US‑Botschaften in Nairobi und Daressalam im Jahre 1998, die Mitglieder beider Akteure arbeitsteilig vorbereiteten und umsetzten.446 Drei Jahre später folgte ihr organisatorischer Zusammenschluss, dem laut Bacon ein regelmäßiger Austausch von Finanzen, Kenntnissen und Personal vorausgegangen sein soll.447 2.2.3 Typologie zu adversativen Beziehungen Nachdem die Arbeit zwei der drei unter Punkt 2.2.1 genannten Kritik­ punkte zu bestehenden Typologien der auf Beziehungen zwischen terroris­ tischen Entitäten konzentrierten Forschung ausführlicher thematisiert und 442 „Nihon Sekigun“ ist der aus dem Japanischen transkribierte Name der „Japani­ schen Roten Armee“. 443 Vgl. Edelmann 2008, S. 320. 444 Vgl. ebd., S. 323-324; Eddel 2018, S. 112. 445 Vgl. Bacon 2013, S. 479-480. 446 Vgl. Caruso 2001; Bacon 2013, S. 485. 447 Vgl. Bacon 2013, S. 496. Vgl. auch Moghadam 2017, S. 143.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

aufgelöst hat, soll nun abschließend der dritten Problematik Aufmerksam­ keit zuteilwerden: dem exklusiven Fokus auf positive, also freundschaft­ lich-kooperative Formen terroristischer Interaktion. Wie der Autor im Überblick zum Forschungsstand (Unterkapitel 1.4.2) hervorhob, griffen zwar einzelne Wissenschaftler negative Relationen im Terrorismus auf, und sie unterzogen diese einer eingehenden Untersuchung. Die Ergebnisse nahmen sie aber nicht zum Anlass, um Vorschläge zu einem Systemati­ sieren entsprechender Verbindungen zu formulieren. Die Bildung von Kategorien blieb bislang auf assoziative Beziehungen terroristischer Kräfte beschränkt, was angesichts der sich zwischen Freund- und Feindschaft be­ wegenden Diversität terroristischer Verhältnisse unbefriedigend ist. Dieser Zustand bringt allerdings auch Vorteile mit sich: So bestehen auf dem Feld der negativen Relationen weder die unter Punkt 2.2.1 im Hinblick auf Typologien zu positiven Verhältnissen festgestellten begrifflichen Dis­ paritäten noch schwammige und überdehnte Grenzen zwischen verschie­ denen Klassen unterschiedlicher Kategorisierungsversuche, welche es im Sinne wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts zunächst zusammenzufüh­ ren gilt. Das negative Spektrum terroristischer Beziehungen ist ein Neu­ land – ballastfreies Konzeptionieren hier somit (noch) möglich. Um terminologische Klarheit zu schaffen, muss zunächst definiert wer­ den, was eine Typologie zu negativen Relationen im Terrorismus – ganz allgemein gesehen – anzeigt. In direkter Anlehnung an Phillips Sprachge­ brauch, der in einem Artikel zu den Ursachen positiver und negativer Konnexe zwischen terroristischen Akteuren von „adversarial relationship“ sprach, subsumiert diese Arbeit gegnerische Verhältnisse im Terrorismus unter die Wortkombination „adversative Beziehungen“. Während Phillips den Inhalt dieses Ausdrucks auf direkte gegenseitige Gewalteinwirkungen („attacks“) begrenzte, die regelmäßig auftreten,448 ergänzt der Autor ihn um Interaktionen, welche sich nicht physisch materialisieren. Demnach meint das Begriffspaar „adversative Beziehungen“ im Rahmen der nachfol­ genden Ausführungen eine Bandbreite an Verhältnissen, in denen es unter Akteuren des Terrorismus zu einer bloß verbalen und/oder zu einer non­ verbalen Auseinandersetzung kommt, die auf gegenseitigem negativem Sich-Wahrnehmen und/oder auf direktem oder indirektem AufeinanderEinwirken beruht. Diese Konstellationen müssen – ähnlich wie bei „asso­ ziativen Beziehungen“ – weder von den involvierten Entitäten gleicherma­ ßen forciert noch dauerhaft sein. Überdies sind nicht bestimmte Inhalte oder Aktionen Voraussetzung einer adversativen Relation. 448 Vgl. Phillips 2012, S. 3.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Analog den Überlegungen zu Formen positiver, freundschaftlich-koope­ rativer Beziehungen benötigt das Aufstellen einer Typologie zu adversa­ tiven Verhältnissen messbare Parameter, deren Extreme nach einem Zu­ sammenlegen differente Klassen abbilden. Adversative Verhältnisse lassen sich mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Begriffen in Verbindung bringen – darunter die Termini „Konkurrenz“ und „sozialer Konflikt“. Ein „sozialer Konflikt“ beschreibt einen „Interessensgegensatz und die daraus folgenden Auseinandersetzungen und Kämpfe“449, wobei konfliktä­ re Beziehungen üblicherweise bereits dann angenommen werden, wenn sie nicht offen in Handlungen kulminieren beziehungsweise ausschließ­ lich latent vorliegen. Im Gegensatz zur „Konkurrenz“, die das Anbieten vergleichbarer Güter durch unterschiedliche Akteure und ein damit ver­ knüpftes Wetteifern einfasst,450 zielen die Aktivitäten in einem „Konflikt“ darauf, dem Gegenüber eine Niederlage beizubringen sowie die eigene Niederlage zu verhindern.451 Wie auch bei assoziativen Relationen stehen im Mittelpunkt adversativer Verhältnisse somit Interaktionen (zum Bei­ spiel: Wetteifern, Bekämpfen), welche sich durch Modalitäten, Intentio­ nen und Handlungen charakterisieren lassen. Zu diesen Attributen zählen im Einzelnen: – erstens die auf das jeweilige Gegenüber bezogenen Interessen der Betei­ ligten, die das Verteidigen und Durchsetzen eigener Positionen, das Überbieten des ausgemachten Gegners oder dessen anhaltende Schwä­ chung beinhalten können, – zweitens die Häufigkeit der aufeinander bezogenen Reaktionen, die punktuell bleiben oder sich permanent ereignen, – drittens die absehbare Dauerhaftigkeit des negativen Austauschs sowie – viertens die Art und Weise, in der die gegenseitige Ablehnung der involvierten Entitäten zum Vorschein tritt. Was das erste Attribut anbelangt, so muss betont werden: Bei adversati­ ven Beziehungen ist – anders als bei assoziativen Relationen – nicht das Verhältnis zwischen den Interessen der beteiligten Entitäten prägend. An­ ders gesagt: Die Erforderlichkeit kongruenter Absichten im Vorfeld von Annäherungen im Terrorismus berechtigt nicht zu einem Umkehrschluss, demzufolge negativen Interaktionen möglichst starke Gegensätze auf der

449 Sturzebecher 1994, S. 356. 450 Vgl. Wienold 1994, S. 360. 451 Vgl. Sturzebecher 1994, S. 356.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Ebene der Interessen vorausgehen. Wie weiter unten in Fallbeispielen deutlich werden wird, können Konflikte nicht nur dann auftreten, wenn die teilnehmenden Akteure – so beispielsweise Rechts- und Linksterroris­ ten – ideologisch und strategisch völlig konträr zueinanderstehen. Sie sind laut Mia Blooms und Donatella della Portas Arbeiten auch in Fällen möglich, die Akteure mit überwiegend gleichgelagerten weltanschaulichen Charakteristika (zum Beispiel: ethnisch‑separatistische beziehungsweise is­ lamistische Terroristen) umfassen.452 Annähernd identisch argumentierte Phillips mit seinem Konzept der „interfield“ und „intrafield rivalries“: „Some violent rivals tend to support substantially different primary goals, such as a left‑wing group and a right-wing group, or groups representing competing ethnic communities. These can be referred to as interfield rivals […]. The second category of violent rivals, intrafield rivals, include pairs of competitors that support the same primary goal, such as a communist revolution or rights for the same ethnic community.”453

Abb. 7: Typologie zu adversativen Beziehungen im Terrorismus (Quelle: eigene Darstellung)

452 Vgl. Bloom 2005, S. 58-60; della Porta 2013, S. 100-104. 453 Phillips 2015, S. 63.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

In Kombination ergeben die Ausprägungen der oben genannten Eigen­ schaften drei Klassen adversativer Beziehungen im Terrorismus, die in ihrer Gesamtheit als qualitativ aufsteigende Rangfolge zu begreifen sind. Allerdings sind auch hier die Kategorien nicht im Sinne eines konsekuti­ ven Modells angelegt, dessen Stufen gekoppelt sind und somit nachein­ ander durchlaufen werden (müssen). Destruktiv‑adversative Relationen können beispielsweise zwischen terroristischen Akteuren auftreten, welche zuvor nicht in einem aversiv- oder kompetitiv-adversativen Verhältnis stan­ den. Aversiv-adversative Beziehungen beruhen auf dem Wunsch, sich vom Gegenüber möglichst deutlich abzugrenzen oder es demonstrativ zu ver­ urteilen. Diese Intention kann sich auf verschiedene Vorstellungen und Handlungen des anderen Konfliktbeteiligten beziehen – etwa auf eine ideologische Erklärung oder politische Forderung, auf die ausgewählten Adressaten dieser Botschaften (revolutionäre Subjekte), die Art und Weise einer Gewalttat oder auf die durch diese Tat verursachten Schäden oder Opfer. Überdies können strategische Ideen – wie zum Beispiel Revoluti­ onsmodelle – ausschlaggebend für Animositäten sein. Wichtig ist in die­ sem Kontext, dass beide Seiten sich in einer Interaktion befinden müssen. Folglich stehen isolierte Handlungen eines terroristischen Akteurs, die weder eine Reaktion auf etwaige, an ihn adressierte Signale der Gegenseite sind noch eine Reaktion der Gegenseite hervorrufen, vor der Schwelle zu einer aversiv‑adversativen Beziehung. Die unter den Entitäten einer aversiv-adversativen Relation vorherrschende kritische Haltung wird aus­ schließlich in Worte gehüllt, will heißen: Differenzen finden in propagan­ distisch‑argumentativer Arbeit ihren Ausdruck. Zu physischen Attacken kommt es nicht. Die involvierten Akteure tragen ihre Streitigkeiten bei persönlichen Begegnungen in hitzigen Diskussionen und/oder öffentlich mit Traktaten oder Kommentaren aus. Etwaige, auf den Gegner bezogene Aussagen können sich auf eine genuin konstruktive Kritik beschränken oder in Gestalt eines Diffamierens und persönlichen Beleidigens rein po­ lemische Züge annehmen. Sie treten punktuell nach Situationen auf, in denen sich eine veritable Angriffsfläche für eine Reaktion der beteiligten Entitäten ergibt. Solches Verhalten bleibt im Hinblick auf seine Dauerhaf­ tigkeit ungewiss. Entitäten können es bei einer einmaligen fundamentalen Auseinandersetzung belassen oder anhaltend in einer Konfrontation ste­ hen. Anschauungsmaterial für aversiv-adversative Beziehungen findet sich vor allem in der Historie der „Roten Armee Fraktion“, deren Zweite und Dritte Generation das Internationalisieren der Gruppe vorantrieben. Sel­

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

ten erreichten dabei Kontaktaufnahmen zu Gleichgesinnten Ausmaße, wie sie die Verbindungen zur „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ oder zur „Action Directe“ kennzeichneten. Häufiger sah sich die RAF dezidierter Kritik potentieller Kooperationspart­ ner gegenüber. Exemplarisch hierfür ist die Relation zu den in Italien agierenden „Brigate Rosse“ (BR). Bereits im Jahre 1974 hatten die Italie­ ner von sich aus in einem Brief an die in der JVA Stuttgart-Stammheim inhaftierten Gründungsmitglieder ihr Missbilligen der strategischen Para­ digmen der „Roten Armee Fraktion“ artikuliert. Das von Renato Curcio verfasste Schreiben bezog sich insbesondere auf die im Mai 1972 realisier­ te Anschlagsserie der RAF. Obgleich der „Roten Armee Fraktion“ nicht die notwendigen Mittel und Voraussetzungen zur Verfügung gestanden hätten, so Curcios zentraler Vorwurf, habe sie sich entschlossen, den „bewaffneten Kampf“ zu beginnen. Dies sei ein Fehler gewesen. Curcio bemängelte außerdem das parallele Führen dieses „Kampfes“ gegen zu viele Gegner: „us-imperialismus, justiz, polizei, springer“454. Mit derart ab­ lehnenden Positionen sah sich gleichermaßen die Zweite Generation kon­ frontiert, als sie nach dem „Deutschen Herbst“ versuchte, den Grundstein für einen Annäherungsprozess zwischen den „Brigate Rosse“ und der RAF zu legen. Um die Möglichkeiten einer gemeinsamen Entführungsaktion auszuloten, reisten Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ nach Italien. Die hier gemeinsam mit den BR eingegangenen Konsultationen erwiesen sich rasch als fruchtlos. Ausgehend von ihrem marxistisch‑leninistischen Selbstverständnis kritisierten die „Brigate Rosse“ vor allem den organisato­ rischen Aufbau der „Roten Armee Fraktion“. Die italienischen Vertreter betonten, eine Kooperation käme überhaupt nur dann in Frage, wenn die RAF – wie die „Roten Brigaden“ – parteiähnliche Strukturen aufweise.455 Ähnlich niederschmetternd blieb die Resonanz auf die Botschaften, wel­ che die Dritte Generation an republikanische Kräfte im Nordirlandkon­ flikt sowie an die spanischen „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ (GRAPO) sendete. Befremden zog jene Solidarität nach sich, die die RAF im Jahre 1985 im Wege des Anschlags auf Ernst Zimmermann signalisiert hatte. Das ausführende „Kommando“ hatte sie nach dem iri­ schen Terroristen Patsy O’Hara benannt. Die „Irish National Liberation Army“ (INLA) – eine Abspaltung der „Official Irish Republican Army“ (OIRA), der O’Hara angehört hatte – sprach von einer „Schändung des

454 Renato Curcio, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 71. 455 Vgl. Wunschik 1997, S. 387-388.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Namens“456. Die GRAPO bemängelten, so Peters, die fehlenden Bezüge der RAF-Ideologie zu den Gedanken Wladimir Iljitsch Lenins. Ein Dorn im Auge gewesen sei den Spaniern fürderhin die fehlende Fähigkeit der „Roten Armee Fraktion“, Strukturen einer Partei anzunehmen.457 Innerhalb kompetitiv-adversativer Verhältnisse liegt das Augenmerk der involvierten Entitäten nicht so sehr auf einem negativ gehaltenen Dar­ stellen oder Diskreditieren jenes Akteurs, mit dem Meinungsverschieden­ heiten bestehen. Vielmehr versuchen sie vor allem vermittels praktischer Schritte, zu ihm aufzuschließen, seine Vormachtstellung zu brechen und/ oder ihn ins Abseits zu drängen. Ausgangspunkte solcher Bemühungen können unter anderem ein ostentatives Sich‑Abwenden von den zuvor mitgetragenen Aktivitäten des Gegenübers oder das Bestreben sein, die ei­ gene Existenz oder Bedeutsamkeit zu sichern. Entwickelt werden dezidiert alternative Ideen und Konzepte, die etwaige diagnostizierte Fehler des Gegenübers korrigieren und ihn somit bloßstellen sollen. Terroristische Akteure gerieren sich dabei als Gegenentwurf mit – vermeintlich – besse­ rer Aussicht auf „Erfolg“ – dies in der Hoffnung, den mehrheitlichen Zuspruch des engeren (in der Regel Gewaltbefürworter desselben politi­ schen Lagers) und/oder weiteren Umfeldes (zum Beispiel: Personen aus der Mitte der Gesellschaft) gewinnen zu können. Denkbar ist daneben, dass ein Akteur die „Leistungen“ eines Konkurrenten für sich beansprucht beziehungsweise dessen bewährte argumentative und praktische Ansätze in Teilen oder vollständig übernimmt. Das Ziel, den Rivalen zu überbie­ ten und/oder einzuholen, lässt sich durch Innovationen, Imitationen und/ oder Modifikationen in ideologischen, organisatorischen und/oder strate­ gisch-taktischen Fragen erreichen. So können sich Fraktionen innerhalb eines Akteurs im Zuge des Bestimmens politischer Positionen überwerfen: Durch ein sich anschließendes Abspalten erwachsen separate Entitäten, die eine von der Hauptlinie abweichende, angeblich überlegene Agenda formulieren und propagieren. Anders gelagert sind kompetitiv-adversative Beziehungen, in denen sich eine Konkurrenz infolge der Auswahl unter­ schiedlicher interner Organisationsmodelle ergibt. Zeugnis von kompeti­ tiv‑adversativen Relationen legen ferner Konstellationen ab, in denen eine Entität durch einen sich wandelnden Zuschnitt ihrer Aktionen die Gewalt­ handlungen einer anderen gezielt zu überlagern versucht. Durch die Art und Weise eines Anschlags – beispielsweise durch besondere Brutalität

456 Irish National Liberation Army, zit. n. Der Spiegel 1986b, S. 28. Vgl. auch Horchem 1988, S. 170. 457 Vgl. Peters 2008, S. 641.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

– soll unter anderem ein starkes Medienecho ausgelöst und somit die Wirkung anderer terroristischer Akteure übertroffen werden. Generell gilt: Kompetitiv‑adversative Beziehungen setzten eine geringe räumliche Distanz zwischen den betroffenen Akteuren voraus. Sie streiten in demselben geographischen Raum unmittelbar um dasselbe Gut: politi­ sche Akzeptanz als Basis für das Umformen oder Beseitigen einer existie­ renden Staats- und/oder Gesellschaftsordnung.458 Trotz intensiver gegen­ seitiger Beobachtung bleibt eine Interaktion in Gestalt von Gesprächen ihrer Mitglieder oder publik gemachter kritischer Einschätzungen spora­ disch. Die Entitäten verfolgen überwiegend unabhängig voneinander ihre Programmatik. Wechselseitige Reaktionen ereignen sich zumeist nach „er­ folgreichen“ Handlungen der Konkurrenz. Dementsprechend unterliegen sie einer gewissen Regelmäßigkeit, die sich unter Umständen auf mehrere Jahre erstrecken kann. Da die Akteure nicht den unmittelbaren physischen Angriff wählen, sondern sich lediglich indirekt über imitatives und/oder erfinderisches Handeln schwächen – dessen allenfalls mittelfristige Auswir­ kungen durch frühzeitiges Gegenwirken reduziert werden können –, füh­ ren kompetitiv-adversative Verhältnisse mitunter erst nach langem Ringen zu einer Entscheidung. Entweder zerfällt einer der Beteiligten oder die Akteure entscheiden sich für den Weg des Sich-Versöhnens. Vorstellbar ist überdies eine Stagnation der Beziehung. Kompetitiv-adversative Beziehungen charakterisierten den europä­ ischen Linksterrorismus sowie den Nahostkonflikt. Im europäischen Linksterrorismus ließen sich Schismen ausmachen, deren Zerfallsproduk­ te zumeist mit disparaten Mitteln ganz ähnliche Forderungen im selben geographischen Raum zu verwirklichen suchten und somit in direkte Kon­ kurrenz zueinander traten. Beispielhaft sind die „Action Directe“ und die „Brigate Rosse“. Die AD teilte sich 1982 nach internen Kämpfen in die beiden unabhängig voneinander existierenden und agierenden „Action Di­ recte national“ (ADn) und „Action Directe international“ (ADi), wobei der letzte Zusammenschluss aufgrund seiner Aktivitäten das öffentliche Bild zur AD dominierte und daher oftmals schlicht „Action Directe“ genannt wurde und wird.459 Beide stimmten zwar in ihren ideologischen Auffas­ sungen weitgehend überein, erachteten aber unterschiedliche strategische Ansätze als zielführend, die sie jeweils auf französischem Boden bis zur Verhaftung ihrer Mitglieder in den Jahren 1986 und 1987 verfolgten.460

458 So auch Bacon 2013, S. 22. 459 Vgl. Gursch 2008, S. 181. 460 Vgl. ebd., S. 188.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Während die „Action Directe national“ den revolutionären Kampf räum­ lich auf Frankreich beschränkte, maß die „Action Directe international“ der länderübergreifenden Präsenz stärkere Bedeutung zu. Im Gegensatz zur ADn zeichnete sich die ADi zudem durch das gezielte Töten von Menschen aus.461 Diese Unterschiede bereiteten den Nährboden für wie­ derholte Abwertungen, die laut Michael Dartnell zunehmend an Drastik gewannen: „By 1987, […] each criticized the other with mounting bitter­ ness, sarcasm and contempt.“462 Die „Brigate Rosse“ zerbrach ab Anfang der 1980er Jahre in diverse Kleinstgruppen. Zu diesen zählten die „Brigate Rosse – Partito della Guerriglia del Proletariato Metropolitano“ (BR-PG), die „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“ (BR-PCC) und die „Brigate Rosse – Unione dei Communisti Combattenti“ (BR-UCC).463 Verschrieb sich die in der Literatur als „linea militarista“464 ausgewiesene BR-PCC um Barbara Balzenari einem militärisch anmutenden internationalen Kampf gegen „imperialistische“ Akteure, welcher das Vermitteln politischer Botschaften gegenüber revolutionären Subjekten in der Bevölkerung vernachlässigte, richteten andere Angehörige der BR – die sogenannten „movimentisti“465 Giovanni Senzanis – ihr Augenmerk auf das Mobilisieren von Sympathi­ en in proletarischen Schichten und eine sich an der Situation Italiens orientierende Agenda.466 Diese Differenzen führten zu frappierenden Strei­ tigkeiten zwischen den Gruppen, die ausschließlich argumentativer Natur blieben. Gegenseitig unterstellten sich die diversen Strömungen unter anderem „Fraktionismus“, „Opportunismus“, „Bürokratismus“ und „Neo­ revisionismus“.467 Im Mittelpunkt der Kritik stand die von der „Brigate Rosse – Partito Communista Combattente“ gewählte Strategie. Diese galt den am Proletariat orientierten Spaltprodukten der „Roten Brigaden“ als Abweichung, gehe mit ihr doch der Kontakt zur politischen „Basis“ ver­ loren.468 1984 verkündeten die „movimentisti“ schließlich einseitig den Ausschluss der „linea militarista“ aus den „Roten Brigaden“. Die Gruppe um Barbara Balzenari warf ihrerseits dem basisbezogenen Teil der BR vor, einem idealistischen Subjektivismus anzuhängen. Öffentlich deklamierte 461 462 463 464 465 466 467 468

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Vgl. Alexander/Pluchinsky 1992a, S. 134; Dartnell 1995, S. 141-142. Dartnell 1995, S. 122-123. Vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 298. Drake 1995, S. 133. Ebd., S. 134. Vgl. Alexander/Pluchinsky 1992b, S. 194. Vgl. Drake 1995, S. 134. Vgl. Weinberg/Eubank 1987, S. 70.

2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

die BR-PCC, sie repräsentiere alle aufrichtigen Revolutionäre, die sich von den Prinzipien des Marxismus und den historischen Erfahrungen des internationalen Proletariats leiten lassen wollen.469 Dass sich Konkurrenz im Verhältnis zwischen terroristischen Lagern unterschiedlicher politischer Couleur ergeben kann, unterstrich der Fall der Ende 1981470 von Odfried Hepp und Walter Kexel gegründeten „Hepp‑Kexel‑Gruppe“, die sich in nationalrevolutionärer Tradition be­ griff.471 Kennzeichnend für den Zirkel war das Bemühen, die ideologi­ schen Rechtfertigungen im Rechtsextremismus und ‑terrorismus zuguns­ ten einer größeren Attraktivität des eigenen Lagers vom Nationalsozialis­ mus nach Adolf Hitler zu lösen. Hieraus erwuchs ein rigider Antiameri­ kanismus, den die Angehörigen der Gruppe in gezielter Anlehnung an linksterroristisches Begriffsinstrumentarium beschrieben.472 In der von Hepp und Kexel erarbeiteten wie unterzeichneten473 Legitimationsschrift „Abschied vom Hitlerismus“ wurde das zentrale Ziel der Gruppe formu­ liert: ein „nationale[r] Sonderweg“474 zwischen dem Westen und dem kommunistisch dominierten Osten.475 Im Hinblick auf das Umsetzen dieser Forderung bestand zwischen Odfried Hepp und Walter Kexel zu­ nächst keine Einigkeit. Hepp bevorzugte anfangs den Aufbau einer legal gehaltenen Struktur; Kexel hingegen tendierte dazu, unmittelbar die eta­ blierten Vorgehensweisen deutscher Linksterroristen zu kopieren. Mit die­ ser Auffassung setzte sich Kexel durch, als die von ihm im August und Oktober 1982 ausgeführten Anschläge auf Fahrzeuge US‑amerikanischen Militärpersonals erhebliches mediales Echo erzeugten. Die Gruppe fasste den Entschluss, sich die Strategie der „Roten Armee Fraktion“ sowie die zelluläre Organisationsform der „Revolutionären Zellen“ anzueignen.476 Diese Rivalität zu linksterroristischen Akteuren bauten Odfried Hepp und Walter Kexel erfolgreich aus. Mitunter konnten weder deutsche Si­ cherheitsbehörden noch gewaltbefürwortende linksextremistische Milieus

469 Vgl. Drake 1995, S. 134. 470 Vgl. Gräfe 2017, S. 142. 471 Vgl. Pfahl-Traughber 2006, S. 74; Gräfe 2017, S. 143; Gräfe 2018, S. 222; PfahlTraughber 2019, S. 244-245. 472 Vgl. Rabert 1995, S. 291, 296-297; Gräfe 2017, S. 143-145. 473 Vgl. Pfahl-Traughber 2012a, S. 66; Sundermeyer 2012, S. 24; Straßner 2018, S. 449. 474 Rabert 1995, S. 296. 475 Vgl. Gräfe 2018, S. 222. 476 Vgl. Rabert 1995, S. 293; Sundermeyer 2012, S. 21; Gräfe 2017, S. 147, 149, 153, 240; Straßner 2018, S. 449.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

bestimmen, ob gegen amerikanische Ziele unternommene Aktionen aus der Feder von Linksterroristen stammten oder der „Hepp-Kexel-Gruppe“ – und damit dem Rechtsterrorismus – zugeschreiben werden mussten.477 Diese Analogie war von Hepp, Kexel und ihren Mitstreitern auch insoweit gewollt, als sie bewusst – wie in ihrer Erklärung „Abschied vom Hitleris­ mus“ betont – eine Zusammenarbeit mit deutschen linksterroristischen Gruppen forcierten.478 Eine solche Kooperation sollte jedoch nicht auf Au­ genhöhe geschehen, sondern den Konditionen der „Hepp-Kexel-Gruppe“ folgen: „Selbstverständlich heißen wir […] in der BRD lebende Antiim­ perialisten, die sich an unserem Kampf beteiligen wollen, herzlichst willkom­ men.“479 Durch kritische Diskussionen zur Bestimmtheit „antiimperialisti­ scher“ Anschläge in der linksextremistischen Zeitschrift „Radikal“ sahen sich zumindest die „Revolutionären Zellen“ genötigt, öffentlich auf den Zusammenschluss um Odfried Hepp und Walter Kexel einzugehen.480 Im April 1983 erklärten sie in ihrem Kommentar „Beethoven gegen MacDo­ nald“, dass sich „Bombenanschläge auf einzelne Angehörige der US-Armee […] auf einer Welle des Antiamerikanismus bewegen, den wir ablehnen und als politische Konzeption bekämpfen.“481 Zum Rechtsterrorismus führten sie aus, dieser betrachte „Menschen ohnehin nur [als] Schachfigu­ ren […], die gezogen und geschlagen, für einen lausigen Vorteil geopfert werden“482. Als weiteres Beispiel kann die ab Anfang der 2000er Jahre beobacht­ bare Beziehung der säkularen „Popular Front for the Liberation of Pa­ lestine“ zu islamistisch‑terroristischen Organisationen den Typen der kom­ petitiv-adversativen Relationen verdeutlichen. Während der sogenannten Zweiten Intifada gelang es der „Harakat al Muqawama al Islamiyya“ (Ha­ mas) sowie dem „Palästinensischen Islamischen Jihad“, über Selbstmord­ anschläge gegen israelische Ziele größeren Rückhalt unter Palästinensern zu erlangen und die politische Vormachtstellung der von Jassir Arafat gelenkten „Palestine Liberation Organization“ zu brechen.483 Verlierer

477 Vgl. Rabert 1995, S. 288. 478 Vgl. Kriskofski 2013, S. 220. Ähnlich Gräfe 2017, S. 145. 479 Hepp-Kexel-Gruppe, zit. n. Rabert 1995, S. 297. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden. 480 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 362-363. 481 Ebd., S. 365. 482 Ebd. 483 Vgl. Bloom 2005, S. 26-27.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

dieser Entwicklung war in gleichem Maße die PFLP,484 deren Anführer George Habasch „Märtyreroperationen“ zunächst gezielt ablehnte.485 Im Jahre 2001 stellte die Organisation eine eigene Einheit unter dem Namen „Abu Ali Mustafa Brigaden“ auf, die sich auf das Durchführen von Sui­ zidanschlägen konzentrierte. Von den zwischen 2001 und 2002 im Nah­ ostkonflikt begangenen Selbstmordanschlägen entfielen etwa drei Prozent auf die PFLP.486 Gleichzeitig übernahm sie islamistisch geprägte Begriffe – wie zum Beispiel „Jihad“ – in die eigenen ideologischen Erklärungen.487 Infolge der Konkurrenz gingen die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ und islamistisch‑terroristische Akteure schließlich sogar soweit, der jeweils anderen Strömung die Verantwortung für „Märtyreroperatio­ nen“ streitig zu machen, indem sie die Urheberschaft entsprechender An­ schläge zeitgleich reklamierten.488 Aversiv- und kompetitiv-adversative Relationen können den Nährboden für eine propagandistische und physische Eskalation der zwischen terroris­ tischen Akteuren existierenden negativen Interaktion bereiten. Sofern ein rein argumentativ gehaltener Schlagabtausch bei keinem der beteiligten Formationen zu einem Einsehen oder Einlenken führt oder das bloße Konkurrieren im Durchsetzen der selbst gesteckten Ziele nicht zur Auflö­ sung kommt, kann sich einem oder mehreren Entitäten die Notwendig­ keit aufdrängen, den oder die Opponenten unter Einsatz schärferer Mittel zu bekämpfen. Eine derartige Einsicht erwächst allerdings auch ohne eine entsprechende Vorgeschichte – nämlich dann, wenn die politischen Posi­ tionen der Gegner per se den jeweils anderen als Erzfeind ausweisen. Man denke in diesem Kontext exemplarisch an die Frontstellung des Linksex­ tremismus gegenüber dem Rechtsextremismus oder an das buchstäbliche Verteufeln der Schiiten durch sunnitische Jihadisten, was in pejorativen Begriffen wie „rawafid“ (arabisch für „Leugner“) Niederschlag findet. Liegt die Entscheidung zu einem fundamentalen Kampf vor, ist die Schwelle zur destruktiv‑adversativen Beziehung überschritten. In diesem Verhältnis geht es (nunmehr) darum, die Aktionsfähigkeit des Gegenübers gezielt zu untergraben beziehungsweise gänzlich zum Erliegen zu bringen. Nicht nur wird der Kontrahent durch schmähende Erklärungen diskreditiert, er­ niedrigt oder gar dehumanisiert. Überdies geraten seine sympathisierende

484 485 486 487 488

Vgl. ebd., S. 30, 34. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 30-31. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 29.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

und unterstützende Peripherie, seine Logistik und/oder sein eigenes Perso­ nal ins Visier von Gewalthandlungen. Mithilfe schädigender Angriffe und/ oder tödlicher Attentate auf unbeteiligte Personen und/oder (führende) Aktivisten versucht der angreifende Akteur, Mitglieder der als feindlich wahrgenommenen Gruppe oder Organisation sowie deren Umfeld mög­ lichst nachhaltig zu demoralisieren. Gleichzeitig soll dies dazu dienen, die personelle Stärke des Rivalen zu mindern und Entscheidungsabläufe zu hemmen. Zum Ziel werden können daneben Objekte, die einer der terroristischen Akteure nutzt – zum Beispiel Waffendepots, konspirative Unterkünfte oder Treffpunkte. Mit Überfällen oder Bombenanschlägen macht der Gegner diese logistische Infrastruktur unbrauchbar oder zunich­ te. In einem derartigen, auf Abnutzung und Vernichtung ausgelegten Kon­ flikt stehen die involvierten Entitäten fortwährend in einer Interaktion. Anders als in aversiv- und kompetitiv-adversativen Verhältnissen kommt es in destruktiv‑adversativen Beziehungen zu einer manifesten existenzi­ ellen Bedrohung. Die Abwehr dieser Bedrohung macht es erforderlich, einen bedeutenden Teil der eigenen Kräfte auf den Ursprung, also auf das Gegenüber auszurichten. Anderweitige programmatische und strategische Ziele – etwa der Sturz einer staatlichen Ordnung – rücken somit zeitweise gänzlich in den Hintergrund. Destruktiv‑adversative Verhältnisse können aufgrund ihrer schädigenden Intensität bereits nach mehreren Monaten zu einer Entscheidung führen, die sich in einem signifikant geschwächten Zustand aller Akteure (und einem daraus resultierenden informellen Waf­ fenstillstand) oder im Zerschlagen einer oder mehrerer Entitäten wider­ spiegeln. Wer Phillips folgt, muss daneben positive Auswirkungen einer destruktiv-adversativen Beziehung auf die Langlebigkeit der eingebunde­ nen Kräfte in Erwägung ziehen,489 will heißen: Fehden im Terrorismus bleiben zum Teil über Jahre hinweg virulent. Eine mögliche Erklärung könne unter anderem sein, so Phillips, dass Gewalt zwischen Terroristen auf ihre jeweiligen Umfelder radikalisierend wirkt. Dementsprechend er­ gäbe sich ein stabiles personelles Rekrutierungsreservoir, welches ihnen das Ausgleichen von Verlusten erlaube.490 Destruktiv-adversative Beziehungen brachten das Verhältnis zwischen loyalistisch‑vigilantistischen und republikanischen Terroristen während des langjährigen Nordirlandkonflikts, die Geschehnisse zu Beginn des Bür­ gerkriegs auf Sri Lanka sowie das notorische Kräfteziehen der „al Qaida“ 489 Vgl. Phillips 2015, S. 65, 70. 490 Vgl. Phillips 2015, S. 64.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

beziehungsweise „Jabhat Fath al Sham“ mit dem „Islamischen Staat“ und dessen Vorgängerorganisationen hervor. Wie Malcom Suttons statistische Erfassung der Opferzahlen zu den „Troubles“ in Nordirland im Zeitraum von 1969 bis 1993 zeigten, sahen sich die im Namen der katholischen Minderheit kämpfenden „Irish Republican Army“ (IRA, auch bekannt unter dem Namen „Provisional Irish Republican Army“, PIRA), „Official Irish Republican Army“ und „Irish National Liberation Army“ mit wech­ selhafter Intensität terroristischen Organisationen gegenüber, die sich in unmittelbarer Reaktion auf den irischen Nationalismus der IRA gebildet hatten491 und für die bleibende Zugehörigkeit des britischen Teils der Provinz Ulster zum Vereinigten Königreich eintraten.492 Die Konflikte zwischen beiden Seiten nahmen streckenweise in Gewaltspiralen überaus brutale Züge an.493 Unter den 1755 Personen, welche der PIRA vor 1994 zum Opfer fielen, finden sich 16 Angehörige der unionistischen „Ulster Defence Associati­ on“ (UDA) sowie acht Personen, die in der „Ulster Volunteer Force“ (UVF) aktiv waren.494 Die INLA tötete zwei UDA- und einen UVF‑Akti­ visten.495 Vor allem die „Provisional Irish Republican Army“ bemühte sich darum, auch hochrangige terroristische Loyalisten umzubringen. Zu diesem Zwecke führten PIRA-Mitglieder 1993 einen Bombenanschlag auf ein Gebäude in der Shankill Road in Belfast aus, das der Führungsriege der „Ulster Defence Association“ als Treffpunkt diente. Infolge der Aktion starben neun Menschen, mehr als 50 weitere wurden verletzt. Führende UDA‑Mitglieder wurden nicht getroffen, da ihre reguläre Zusammenkunft früher als sonst geendet hatte.496 Loyalistische Organisationen richteten in den Reihen der republikanischen Terroristen vergleichbare Schäden an. Sie verübten bis 1994 tödliche Anschläge auf 20 Angehörige der PIRA, auf vier Aktivisten der OIRA und zwei Mitglieder der INLA.497 Wesentlich stärker als die Aktivisten der „Irish Republican Army“ und anderer repu­ blikanischer Akteure gerieten allerdings die Adressaten ihrer Programma­ tik in den Fokus unionistischer Gewalt. Hintergrund dieser Handlungen war der bei Loyalisten vorherrschende Glaube, durch Attentate auf Katho­ liken – vermeintliche – Sympathisanten- und Unterstützerkreise der IRA 491 492 493 494 495 496 497

Vgl. Taylor 1999, S. 33-34, 40-41. Vgl. Bruce 1992, S. 15, 32, 47, 49. Vgl. Taylor 1999, S. 93. Vgl. Sutton 1994, S. 196-197. Vgl. ebd., S. 199. Vgl. McDonald/Cusack 2005, S. 247-249. Vgl. Sutton 1994, S. 202.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

in Bedrängnis bringen und den republikanischen Terrorismus langfristig schwächen zu können.498 Insgesamt forderte diese Strategie in Nordirland bis 1994 das Leben von 670 Zivilisten, die ausschließlich aufgrund ihrer tatsächlichen oder angenommenen Zugehörigkeit zur katholischen Religi­ on zum Ziel der UDA, der UVF oder einer anderen terroristischen Entität des protestantischen Spektrums wurden.499 Republikanischen Terroristen blieb das Mittel konfessionell ausgerichteter Gewalt ebenfalls nicht fremd. Die „Provisional Irish Republican Army“ führte ihrerseits vor allem Mitte der 1970er Jahre Attentate auf unbeteiligte Protestanten aus. 133 Men­ schen starben.500 Verbunden wurden die jeweiligen Gewalttaten wieder­ holt mit propagandistischen Erklärungen, welche das Gegenüber gezielt abwerteten. So beschrieben loyalistische Organisationen und ihre Funktio­ näre Nationalisten und Katholiken wahlweise als „animals“501, „scum“502 oder „taigs“503. Wie sich aus Steve Bruces Arbeit zu unionistischen Terro­ risten schlussfolgern ließ, diente dies gleichzeitig dem Aufwerten eigner Positionen und war insoweit Ausdruck eines dualistischen Rigorismus: „[T]he loyalist paramilitary self-image was based on an explicit contrast with republicans. They were aggressors; loyalists were defenders. They were criminal; loyalists were law-abiding. They were murdering scum who killed women and children; loyalists were decent family men who could never do such a thing.”504 Verlustreiche Kämpfe blieben nicht den Beziehungen zwischen Loyalisten und Republikanern vorbehalten. Sie brachen auch innerhalb der beiden Konfliktparteien aus, wobei diese – um mit Phillips zu sprechen – „in­ trafield rivalries“ nicht dasselbe Ausmaß erreichten, das den „interfield ri­ valries“ im Nordirlandkonflikt eigen war. Die Anfang der 1970er Jahre beginnende Auseinandersetzung der PIRA mit der „Official Irish Republi­ 498 499 500 501

Vgl. Taylor 1999, S. 116, 152. Vgl. Sutton 1994, S. 202. Vgl. ebd., S. 198. Ulster Freedom Fighters, zit. n. Taylor 1999, S. 118. Bei der Organisationsbe­ zeichnung „Ulster Freedom Fighters“ handelt es sich um einen Tarnnamen der „Ulster Defence Association“. Vgl. Bruce 1992, S. 54-55. 502 Ulster Defence Association, zit. n. Bruce 1992, S. 47. 503 Unbekanntes Mitglied einer terroristischen Gruppe des unionistischen Spek­ trums, zit. n. ebd., S. 54. Der Begriff „taig“ leitet sich vom irischen Namen „Tadhg“ ab. Er avancierte in Nordirland vor allem ab den 1970er Jahren zu einem pejorativen Ausdruck, mit dem Protestanten Katholiken bezeichneten. Vgl. Oxford Dictionary of English 2005, S. 1795. 504 Bruce 1992, S. 53-54.

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2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

can Army“ forderte das Leben von drei IRA- sowie von vier OIRA-Mit­ gliedern.505 Die OIRA bekämpfte ihrerseits mit Gewalt ein Spaltprodukt, welches sich den Namen „Irish National Liberation Army“ gegeben hatte und die Zurückhaltung der Mutterorganisation beim Zurückdrängen des britischen Einflusses in Nordirland kritisierte.506 Beide Seiten begingen Attentate auf führende Persönlichkeiten des Gegenübers.507 Im unionisti­ schen Lager verhärteten sich zwischen 1974 und 1976 die Fronten im Verhältnis der „Ulster Defence Association“ und der „Ulster Volunteer Force“,508 wobei ein tödlich endender Streit zwischen einzelnen UDAund UVF-Mitgliedern in einer Kneipe den Ausschlag gegeben hatte. In den folgenden Monaten traten immer wieder Vergeltungsaktionen auf, die mitunter auf die Führungsebenen der beiden Organisationen zielten. Während die „Ulster Defence Association“ den Versuch wagte, den Anfüh­ rer der „Ulster Volunteer Force“ zu töten, plante die UVF ohne Erfolg, das Hauptquartier der UDA in Belfast mit einem Bombenanschlag zu zerstören. 1976 ebbte der Konflikt langsam ab.509 Der 1994 einsetzende und 1998 im „Karfreitagsabkommen“ gipfelnde nordirische Friedenspro­ zess bildete die Grundlage für ein erneutes Polarisieren loyalistischer Ter­ roristen, welche in Teilen die Abkehr vom „bewaffneten Kampf“ gegen den irischen Nationalismus ablehnten. In der Folge entspannen sich Feh­ den zwischen der UDA und der UVF sowie zwischen der UVF und der „Loyalist Volunteer Force“ (LVF), die Mitte der 1990er Jahre aus der „Uls­ ter Volunteer Force“ hervorgegangen war. Diese Phase endete mit einer gemeinsamen Übereinkunft der UDA und der UVF, die Gewalt beizule­ gen.510 Insgesamt forderten die „intrafield rivalries“ der Unionisten laut Sutton das Leben von 26 UDA-, 21 UVF- und zwei LVF-Angehörigen.511 Vor dem Ausbruch des sri-lankischen Bürgerkriegs im Jahre 1983 grün­ dete sich auf der Insel eine Vielzahl an Organisationen, deren erklärtes Ziel im gewaltsamen Verteidigen und Stärken der Rechte der tamilischen Minorität gegenüber der Zentralregierung in Colombo bestand: 1974 die „Tamil Eelam Liberation Organisation“ (TELO), 1975 die „Eelam Revolutionary Organisation of Students“ (EROS), 1976 die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“, 1979 die anfangs aus ehemaligen LTTE-Mitglie­ 505 506 507 508 509 510 511

Vgl. Sutton 1994, S. 198, 201. Vgl. ebd., S. VII. Vgl. ebd., S. 71, 74, 107. Vgl. Taylor 1999, S. 112, 146. Vgl. McDonald/Cusack 2005, S. 98-101. Vgl. ebd., S. 282, 313-314, 323-340. Vgl. Sutton 2002.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

dern bestehende512 „People’s Liberation Organisation for Tamil Eelam“ (PLOTE) und 1980 die „Eelam People’s Revolutionary Liberation Front“ (EPRLF).513 Ursprünglich terroristisch ausgerichtet, avancierten einige die­ ser Akteure im Laufe der Jahre zu Guerillaorganisationen, deren Kampf­ verbände mit Regierungstruppen in reguläre Auseinandersetzungen ein­ traten. Ein ums andere Mal kamen dabei jedoch auch klassische Aktions­ muster des Terrorismus zum Vorschein. So bediente sich die LTTE ab 1987 Selbstmordattentaten, um ihre politischen Forderungen zu verwirk­ lichen.514 Die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ richteten ihre Gewalt zunächst nur gegen den sri-lankischen Staat.515 Trotz einer mit der TELO, der EROS, der PLOTE und der EPRLF in Gestalt der „Eelam National Liberation Front“ (ENLF) bestehenden Kooperation516 entschloss sich die Führung der LTTE unter Velupillai Prabhakaran im Jahre 1985 dazu, konkurrierende Entitäten in den Ruin zu treiben.517 Zu diesem Zweck unternahm die Organisation systematisch Anschläge auf leitende Funktio­ näre und einfache Mitglieder der „Tamil Eelam Liberation Organisation“ sowie der „Eelam People’s Revolutionary Liberation Front“. Laut Joanne Richards sollen im Zeitraum von April bis Mai 1986 etwa 150 Aktivisten der TELO – einschließlich der Führung – in Kampfhandlungen mit der LTTE umgekommen sein. Bei Angriffen der „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ auf Trainingslager der EPRLF im Dezember desselben Jahres wä­ ren mehrere Hundert Personen gestorben.518 Ähnlich vergiftet sind die Beziehungen des terroristischen Netzwerks „al Qaida“ und der JFaS zu dem in Syrien und im Irak aktiven „Islamischen Staat“. Wie bereits unter Punkt 1.1 ausgeführt wurde, stehen sich diese Akteure nach dem Mord des IS an dem von Aiman al Zawahiri in Syrien als Vertreter eingesetzten Abu Khalid al Suri und den sich anschließen­ den Kämpfen zwischen der „Jabhat Fath al Sham“ und dem „Islamischen Staat“519 mittlerweile unversöhnbar gegenüber. Diese destruktiv-adversati­ ve Beziehung bestimmt nicht nur die operativen Taten der Entitäten. Überdies beeinflusst sie die propagandistische Arbeit, setzen sich doch führende Mitglieder dezidiert mit den Vorstellungen und Aktivitäten des 512 513 514 515 516 517 518 519

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Vgl. Richards 2014, S. 13. Vgl. Bloom 2005, S. 51. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. Richards 2014, S. 14. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. Bloom 2005, S. 59. Vgl. Richards 2014, S. 15. Vgl. Steinberg 2015, S. 148-149.

2.2 Bewertung und Anpassung der Typologien

Gegenübers auseinander. Angaben des Office of Homeland Security and Preparedness des US-amerikanischen Bundesstaates New Jearsy zufolge wurde in den ersten sechs Episoden der von al Zawahiri unter dem Titel „Islamischer Frühling“ herausgegebenen Reihe an Audiobotschaften we­ sentlich öfter auf den „Islamischen Staat“ Bezug genommen als auf den von „al Qaida“ geführten Kampf gegen „nahe“ und „ferne Feinde“.520 Die eigenen ideologischen Zielvorstellungen rückten somit zugunsten eines Verurteilens des taktischen Vorgehens und der „Kalifatsgründung“ des IS in den Hintergrund. Einer Audionachricht Aiman al Zawahiris aus Januar 2017 nach zu urteilen, schloss diese Agitation bisweilen drastische Vorwürfe und Schmähkritik ein: Der Anführer der AQ beschrieb Mitglie­ der des „Islamischen Staates“ als „Feiglinge“, deren „opportunistische“ Praxis auf „Lügen“ und „Fabrikationen“ basierten und die Grenzen zum „Extremismus“ überschritten.521 Mit Blick auf die nunmehr vorgestellte Typologie zu adversativen Be­ ziehungen im Terrorismus sei abschließend der Hinweis auf deren Mo­ dellcharakter unterstrichen – dieser entfaltet ebenso für die unter 2.2.2 entworfene Systematik assoziativer Verhältnisse zwischen terroristischen Akteuren Geltung. Die einzelnen Kategorien der beiden Schemata sind idealtypisch zugeschnitten. Es handelt sich um Vorschläge, welche ein möglichst prägnantes Beschreiben und Einordnen der Interaktionen terro­ ristischer Akteure fördern sollen, dabei aber nicht einen Anspruch auf Letztgültigkeit erheben wollen und können. Sie fußen auf vergangenen und aktuellen Beziehungsgeflechten, die mit einer ausreichenden Menge an Forschungsmaterial hinterlegt sind und folglich ein wissenschaftliches Aufarbeiten zulassen. Die dargebotenen Typologien spiegeln nur das Be­ kannte und Offensichtliche eines oftmals nebulösen Phänomenbereichs wider. Unsicherheit bleibt. Denn: Wenig oder gar nicht bekannte Bezie­ hungen zwischen terroristischen Entitäten können Formen annehmen, die sich in die oben entwickelten Schablonen nicht ohne Weiteres einfügen lassen – die weder alle Merkmale der einen noch alle Kriterien der anderen Stufe abdecken und somit Graubereiche konstituieren. Denkbar ist bei­ spielsweise eine Zwischenstufe im Übergang der kompetitiv‑adversativen zur destruktiv-adversativen Relation, auf der die beteiligten Akteure sich zwar propagandistisch diffamieren, aber – aus prinzipieller Solidarität oder zum Schutz der eigenen Reputation im Sympathisanten- und Unterstützer­

520 Vgl. Office of Homeland Security and Preparedness of the State of New Jersey 2016. 521 Aiman al Zawahiri, zit. n. Dearden 2017.

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2 Typologien zu Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

milieu – davor zurückschrecken, Aktivisten des Kontrahenten zu töten. Stattdessen beschränken sie sich auf bloße Sabotageaktionen, zu denen (unter anderem) das Ausrauben von Waffendepots zählt. Sofern solche neuartigen Erkenntnisse an die Oberfläche treten, bedarf es einer Revision. Selbstredend muss typologische Arbeit dann auf den Prüfstand gestellt und – wo nötig – justiert werden.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren 3.1.1 Bedingungsfaktoren nach Ely Karmon Positive wie negative Beziehungen bergen für die involvierten terroristi­ schen Akteure zum Teil erhebliche existenzielle Risiken. Bei adversativen Relationen liegt die Gefahr auf der Hand: das eskalative Abdriften in einen gewaltsamen Konflikt, der das eigene Lager zerfasert, bisweilen von den ursprünglichen politischen Zielen ablenkt und/oder essentielle Res­ sourcen bindet oder gar zerreibt. Sich derart auseinanderzusetzen, kann im physischen Zerfall eines oder mehrerer Rivalen kulminieren. Assoziative Verhältnisse scheinen auf den ersten Blick gewinnbringend zu sein: Sie bewirken einen Wissens- und Fähigkeitsaustausch oder bündeln operative Kräfte, was Terroristen als politisch schwachen Akteuren ein höheres Maß an Schlagkraft verleiht. Hinter diesen Anreizen verbergen sich jedoch As­ pekte, die eine Kooperation zu einem kostspieligen Unterfangen werden lassen können. Wie Michael Horowitz und Philip Potter schlussfolgerten, berge eine Zusammenarbeit mehrere Gefahren – darunter ein Aufweichen der eigenen Geheimhaltungs- und Abschottungsmechanismen, der Verlust von Entscheidungsbefugnissen und das Einbüßen von Glaubwürdigkeit in den Reihen des jeweiligen politischen Umfeldes.522 Brian Phillips füg­ te hinzu, ein Vernetzen könne eine verstärkte Aufmerksamkeit etwaiger Sicherheitsbehörden nach sich ziehen. Würden diese verdeckt Zugang zu einer der beteiligten Strukturen erhalten, könnten sie ohne Weiteres Infor­ mationen zu den übrigen Entitäten sammeln.523 Angesichts dieser Schat­ tenseiten drängt sich eine Selbstverständlichkeit terroristischer Beziehun­ gen nicht auf, im Gegenteil: Die negativen Effekte werfen unweigerlich die Frage auf, welche spezifischen Bedingungen terroristische Entitäten dazu verleiten, die Hürden, Unwägbarkeiten und Risiken adversativer und asso­ ziativer Verhältnisse bewusst in Kauf zu nehmen, um eine Konfrontation oder ein Sich-Annähern sicherzustellen. Anders formuliert: Welchen Nut­ 522 Vgl. Horowitz/Potter 2011, S. 2. 523 Vgl. Phillips 2012, S. 1. Vgl. auch Moghadam 2017, S. 17-18.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

zen muss eine Interaktion mit anderen terroristischen Kräften versprechen, um die (potentiellen) Kosten eines solchen wechselseitigen Einwirkens beziehungsweise Austauschs in den Hintergrund schieben zu können? Ely Karmon war einer der ersten Wissenschaftler, der sich an das Be­ antworten dieser Fragestellung begab. Allerdings legte er sich auf grenz­ übergreifende assoziative Relationen fest – ein Zuschnitt, der das Forschen zu Beziehungen im Terrorismus seither dominiert. Charakteristika und Ursachen adversativer Beziehungen finden sich bei Karmon allenfalls als Nebenprodukt. Zum Bezugspunkt seiner Untersuchung erhob er ein Mo­ dell, das ab Mitte der 1980er Jahre in der angelsächsischen Politikwissen­ schaft von Stephen Walt konzipiert wurde. Erklären sollte es die koopera­ tiven Verhältnisse zwischen Staaten. Nach Walts „Theorie des Bedrohungs­ gleichgewichts“ würden Staaten ihre Fähigkeiten ausbauen oder Bündnisse mit anderen Nationen eingehen, wenn sich – ausgehend vom Erstarken eines Drittstaates oder dem Aufkommen einer als bedrohlich wahrgenom­ menen Staatenallianz – disparate Schreckenspotentiale entwickeln. Ziel des Aufrüstens beziehungsweise des Zusammenwirkens mit einem Partner sei, die eigenen Schwächen in Relation zum Gegner auszugleichen.524 Wie Karmon nachzeichnete, habe dieser Erklärungsansatz nach wiederholtem Überprüfen erhebliche Bedeutung in der politikwissenschaftlichen Arbeit zur Vernetzung von Staaten erlangt.525 Weiterführend festgestellt worden sei von Terence Hopmann, dass der Zusammenhalt eines Bündnisses größ­ tenteils auf der Dauer und der Qualität der Bedrohung beruhe, welcher die kooperierenden Entitäten gegenüberstehen. Sofern sich die Bedrohung ab­ schwäche oder diese gar verschwinde, falle das Bündnis zumeist ebenfalls auseinander.526 Diese rein auf Staaten bezogenen theoretischen Annahmen öffnete Kar­ mon für terroristische Akteure: Ihnen sprach er Attribute zu, welche Staaten im Agieren auf weltpolitischer Ebene kennzeichneten. Ähnlich einer Regierung – so Karmon – könnten Terroristen eine eigene Außenpo­ litik konzipieren, souveräne Staaten in eine Konfrontation zwingen und dadurch mitunter Ereignisse von herausragender Relevanz auslösen, die sie im Hinblick auf Kräfteverhältnisse mit Nationen gleichstellten. Zu diesen Ereignissen zähle das Erlangen nationaler Eigenständigkeit, wie sie unter anderem palästinensische Organisationen vermittels terroristischer Mittel

524 Stephen Walt, zit. n. Karmon 2005, S. 19. 525 Vgl. ebd., S. 24. 526 Terence Hopmann, zit. n. ebd., S. 19.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

zu erlangen vermochten.527 Karmon stellte also eine Vergleichbarkeit von Staaten und terroristischen Entitäten her. Der Reichweite dieser Vergleich­ barkeit setzte er allerdings enge Grenzen: Sie gelte selbstverständlich nicht für Handlungsspielräume, personelle und materielle Kapazitäten und Ein­ flussmöglichkeiten auf internationale Entwicklungen.528 Aus dieser limi­ tierten Kommensurabilität leitete er schlussendlich die prägende Prämisse seiner im Jahre 2005 publizierten Studie „Coalitions between Terrorist Organizations“ ab: „The basic premise of this research is that terrorist organizations are ea­ ger to form coalitions with other organizations when they feel threat­ ened by internal, regional and international political and strategic conditions and events, other states, or super powers.”529 Hieran anknüpfend entwickelte Karmon unabhängige Variablen. Mit ihrer Hilfe sollte geklärt werden, was terroristische Akteure dazu bewegt, einer etwaigen Bedrohung ein Ausmaß zuzuschreiben, das seinerseits zu einem Verbinden mit anderen terroristischen Formationen motiviert. Die Variablen sollten ferner dazu beitragen, die Modalitäten der Verbindung sowie die Funktionsweise solcher Beziehungen zu erhellen. Die Parameter bezogen sich nicht nur auf das weltpolitische Geschehen, sondern auch auf die ideologischen und organisatorischen Merkmale der Partner sowie auf die weltanschaulichen Positionen der sie führenden Personen.530 Aus den Überlegungen zu diesen drei Analyseebenen extrahierte Karmon 12 Hypo­ thesen, die er im weiteren Verlauf seiner Arbeit mit Fallstudien empirisch zu validieren suchte: – Hypothesen auf der Analyseebene des weltpolitischen Geschehens 1. In den Augen terroristischer Entitäten hätten Spannungen inner­ halb der bipolaren Weltordnung während des Kalten Krieges eine höhere, von den Kräften der Weltmächte ausgehende Vulnerabi­ lität der eigenen Strukturen begründet. Dies habe sie zur Zusam­ menarbeit mit anderen Terroristen ermutigt.531 2. Differenzen zwischen ideologisch vergleichbaren Kräften der inter­ nationalen Politik und das Entstehen neuer revolutionärer und

527 528 529 530 531

Vgl. ebd., S. 20, 22. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 34.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

ideologischer Brennpunkte schüfen einen bis dahin nicht existen­ ten Typus der Solidarität, welcher das Entstehen von „Koalitionen“ zwischen terroristischen Akteuren vorantreibe. Karmon stellte bei dieser „Hypothese“ auf den Konflikt zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion in den 1960er Jahren sowie auf die so­ genannte Trikontinentale Konferenz des Jahres 1966 ab. Im Zuge dieser Tagung hatten Vertreter aus mehr als 80 Ländern den „be­ waffneten Kampf“ gegen koloniale Herrschaft auf dem asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Kontinent beschlossen. Bei­ de Ereignisse, so Karmon, hätten das Fundament für eine revolu­ tionäre Programmatik sui generis gelegt. Diese Programmatik habe einen Antiimperialismus ins Zentrum gerückt, der sich nicht zu­ vorderst am Marxismus oder Leninismus orientierte, sondern am Maoismus sowie an Befreiungstheoretikern, wie zum Beispiel Võ Nguyên Giáp und Ernesto Guevara. Dieser Inhalt sei anschließend in die Agenden zahlreicher revolutionärer Akteure eingeflossen.532 3. Sofern regionale Krisen und Kriege als Bedrohung für die eigene Existenz oder die eines Partners erachtet werden würden, schlössen sich terroristische Entitäten zu einer „Front“ gegen den gemeinsa­ men Gegner zusammen. Oder aber sie ließen einem Akteur Hilfe zukommen, welcher von einer Krise oder einem Krieg betroffen sei.533 4. Eine regionale oder internationale Kooperation staatlicher Sicher­ heitskräfte in der Terrorismusbekämpfung fördere das Zusammen­ wirken terroristischer Kräfte.534 – Hypothesen auf der Analyseebene der terroristischen Akteure 5. Der Aufbau einer „Koalition“ zwischen Entitäten des Terrorismus sei nur dann möglich, wenn die Ideologien der Beteiligten sich zumindest minimal überschnitten. Schließlich entscheide Ideolo­ gie über politische Zielvorstellungen, strategisches Vorgehen und Feindbilder.535 6. Anarchistische beziehungsweise anarcho-kommunistische Akteure neigten am Ehesten dazu, Bündnisse zu anderen Entitäten aufzu­ nehmen. Diese Zusammenschlüsse verfügten zumeist über Eigen­ schaften, welche ausschlaggebend seien für vernetzende Initiati­

532 533 534 535

136

Vgl. ebd., S. 35-36. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 39.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

ven. Zu diesen Eigenschaften zählte Karmon begrenzte personelle Ressourcen sowie dehnbare und dezentralisierte ideologische Aus­ gangspunkte. Darüber hinaus verwies er auf einen Mangel an Hier­ archien innerhalb der eigenen Strukturen sowie auf das Fehlen interner Disziplin, welche das Befolgen inhaltlich eingegrenzter Ideologien garantiere.536 7. Links oder rechts gerichtete terroristische Akteure, die den Schwer­ punkt ihrer Gewalttaten auf das Bekämpfen staatlicher Macht in einem Land legen und an die Stelle der Regierung zu treten ver­ suchen, sähen eher von Koalitionen mit anderen terroristischen Entitäten ab. 8. Nationalistische Vertreter des Terrorismus – deren primäres Begeh­ ren die politische Unabhängigkeit einer Minderheit innerhalb ei­ nes Staates abbilde – würden seltener in eine Zusammenarbeit mit anderen terroristischen Akteuren einwilligen.537 9. Terroristische Organisationen, welche aufgrund ihrer personellen und operativen Ressourcen, ihrer finanziellen Mittel, ihres gewich­ tigen Rückhaltes in einer Bevölkerung und aufgrund ihrer Aner­ kennung durch Regierungen die Stufe staatsähnlicher Akteure (so­ genannte non-state nations) erreicht haben, tendieren laut Karmon dazu, in der internationalen Politik als unabhängige politische Subjekte aufzutreten. Hierbei stünden sie weit überlegenen staatli­ chen Akteuren gegenüber. Das Ausmaß dieser Position der Schwä­ che bestimme die Koalitionspolitik der jeweiligen terroristischen Entität, welche vor allem dazu diene, die eigenen Interessen auf dem weltpolitischen Parkett durchzusetzen.538 10. In einem Bündnis zwischen einer starken und einer schwachen ter­ roristischen Organisation sei der kleinere Akteur nicht signifikant abhängig von dem größeren Akteur. Der kleinere Akteur behalte seine Entscheidungshoheit beziehungsweise Selbstständigkeit. 11. Koalitionen zwischen terroristischen Akteuren blieben in der Re­ gel bilateral. Eine multilaterale Zusammenarbeit im Terrorismus erscheine nur dann als möglich, wenn die Beteiligten in geringer räumlicher Distanz zueinander aktiv seien und dabei gleichgelager­ te weltanschauliche und strategische Ziele verfolgten.539

536 537 538 539

Vgl. ebd., S. 40, 42. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 44-45. Vgl. ebd., S. 45.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

– Hypothese auf der Analyseebene der Aktivisten 12. Rassistische und antisemitische Einstellungen bei leitendenden Mitgliedern terroristischer Organisationen beeinflussten die Ent­ scheidung, in eine Kooperation mit anderen Entitäten des Terroris­ mus einzutreten, die sich gegen den Staat Israel und/oder Personen jüdischen Glaubens wenden.540 Neben links-, rechts-, nationalistischen und/oder ethnisch-separatistischen terroristischen Kampagnen in Italien, Frankreich, Spanien und Palästina zog Karmon den deutschen Linksterrorismus der 1970er und 1980er Jah­ re – hier insbesondere die Kontakte zu palästinensischen und anderen europäischen Organisationen – heran, um seine Hypothesen zu überprü­ fen. Die zwischen den Jahren 1975 und 1977 virulente Zusammenarbeit der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ mit der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ habe der Zustand ihrer Aktionsfähigkeit geprägt – so Karmon. Maßgeblich gewesen seien zudem herausragende internationale Entwicklungen – die mindestens einen der Partner tangierten – sowie Veränderungen in strategischen Aspekten.541 Die vom deutschen Linksterrorismus gegenüber palästinensischen Ak­ teuren gezeigte Verbundenheit und Unterstützung habe sich einerseits aus den Maßnahmen ergeben, welche die jordanische Regierung Anfang der 1970er Jahre gegen die Palästinenser richtete. Andererseits sei die Solidari­ tät der Rolle des palästinensischen „Widerstands“ in dem ab 1975 begin­ nenden libanesischen Bürgerkrieg entsprungen. Auf die RAF blickend, stellte Karmon ergänzend heraus, die Gruppe habe sich zwar grundsätzlich mit dem palästinensischen Terrorismus verbunden gezeigt, diesen aber nicht annähernd so umfassend in die eigene Argumentation und Program­ matik einbezogen, wie dies für den vietnamesischen Widerstandskampf während des Zweiten Indochinakrieges der Fall gewesen wäre. Die Ursa­ che sei in dem Feindbild der westdeutschen Aktivisten zu sehen. Denn anders als die PFLP habe die „Rote Armee Fraktion“ die – vermeintlich – „imperialistische“ Regierung der Bundesrepublik Deutschland als ärgs­ ten Feind angesehen. Hintergrund war, schrieb Karmon, die politische Kooperation des westdeutschen Staates mit den Vereinigten Staaten von Amerika sowie die von der Bundesregierung zugelassene Präsenz US-ame­ rikanischer Truppen auf deutschem Boden. Da die Bundesrepublik nur geringes Interesse am Nahostkonflikt gezeigt und demnach nicht direkt 540 Vgl. ebd., S. 46. 541 Vgl. ebd., S. 75, 95.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

zulasten palästinensischer Terroristen interveniert habe, sei die Situation im Nahen Osten von der RAF nur bedingt verfolgt worden.542 Dass es zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ dennoch vor allem im Jahre 1977 zu einer engen Interaktion kam, kann Karmon zufolge weniger Spannungen oder Bedrohungen im globalen oder regionalen Kontext zugeschrieben wer­ den. Vielmehr sei diese Interaktion durch strategische Prioritäten der „Ro­ ten Armee Fraktion“ geschürt worden. Die RAF habe in diesem Zeitraum alles darangesetzt, ihre inhaftierten Gründungsmitglieder zu befreien.543 Dies unterscheide sie von den „Revolutionären Zellen“, deren Sympathie gegenüber der PFLP sich auch auf gemeinsame antisemitische Einstellun­ gen der tonangebenden Figuren gegründet habe.544 Nach 1977 sei das Vernetzen des deutschen mit dem palästinensischen Linksterrorismus zum Erliegen gekommen. Dies habe strategische Gründe gehabt: Während die RZ politischen Konfliktfeldern in Deutschland größere Relevanz beige­ messen hätten, habe die RAF ab Anfang der 1980er Jahre mit dem Aufbau einer gegen die NATO wirkenden „Front“ westeuropäischer Terroristen begonnen. Der Situation der Dritten Welt sei darin eine untergeordnete Rolle zugewiesen worden.545 Wie Karmon unter dem Stichwort „euroterrorism“ weiter ausführte, manövrierte sich die RAF mit ihrer neuen Strategie in den Mittelpunkt länderübergreifender Vernetzungen des europäischen Linksterrorismus. Wer seinen Schilderungen folgt, wird das Gebaren der „Roten Armee Fraktion“ in einen Zeitraum einbetten, den die wachsende Rolle der Verei­ nigten Staaten von Amerika in der weltweiten Terrorismusbekämpfung, die ökonomische Schwäche des sowjetischen Hegemonialbereichs und das Fördern von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt durch Hilfsleistun­ gen westlich‑kapitalistischer Staaten formten. In diesem Kontext hätten die bekanntesten Akteure des europäischen Linksterrorismus („Rote Ar­ mee Fraktion“, „Brigate Rosse“, „Action Directe“, „Cellules Communistes Combattantes“) vergleichbare Bedrohungsanalysen zur Rolle und Stärke „imperialistischer“ Mächte aufgestellt. Laut Karmon charakterisierten sie diese übereinstimmend als repressiv, tyrannisch und aggressiv. Hieraus wäre gleichermaßen die Rechtfertigung für einen Kampf gegen den Im­ perialismus abstrahiert worden. Derartige Schnittmengen bereiteten, so

542 543 544 545

Vgl. ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 82.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Karmon, den Nährboden für eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Entitäten, die nur im Verhältnis zwischen der RAF und der AD eine genuine Koalition initiiert habe.546 Beide Gruppen seien innerhalb ihrer programmatischen Arbeit von einer bipolaren Weltordnung ausgegangen, in der die US‑amerikanische Regierung sowie die mit ihr im Nordatlantikpakt verbündeten Staaten dem Block der Sowjetunion gegenüberstanden. Besonders betont hätten sie dabei die Position Westeuropas. Karmon zufolge nahmen sie West­ europa angesichts seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke, der zunehmenden politischen Einheit und der positiven Haltung gegenüber der US‑amerikanischen Administration unter Ronald Reagan als Zentrum des „Imperialismus“ wahr. Gefördert worden sei das Bündnis der „Roten Armee Fraktion“ mit der „Action Directe“ außerdem von dem volatilen, anarchistischen Charakter der AD, welche mit ausgeprägten internen Strei­ tigkeiten zu kämpfen gehabt und – ob ihrer Gewalthandlungen – Sympa­ thien bei französischen Linksextremisten verloren haben soll. Um diese Krisenlage überstehen zu können, hätte ein Teil der „Action Directe“ im Anschluss an das Aufspalten der Gruppe im Jahre 1982 den Schul­ terschluss mit der wirkmächtigeren und zugleich gefestigteren „Roten Ar­ mee Fraktion“ gesucht. Zusammengefallen sei dieses Bestreben mit dem Vorhaben der RAF, ihren terroristischen Kampf nach einer Phase der Rückschläge zu rekonsolidieren. In der Zeit danach übernahmen die Mit­ glieder der internationalistischen Richtung der AD laut Karmon die ideo­ logischen Forderungen der „Roten Armee Fraktion“. Fürderhin hätten sie Pläne zu Anschlägen mit den deutschen Linksterroristen abgesprochen.547 Die „Front“ beider Akteure sei jedoch zerbrochen, als französische Sicher­ heitskräfte im Jahre 1988 die führenden Aktivisten der „Action Directe“ fassten.548 Wie sich aus Karmons Schilderungen ergibt, trat die „Rote Armee Frak­ tion“ bereits im Jahre 1987 in Konsultationen mit der „Brigate Rosse – Par­ tito Communista Combattente“ ein. Wichtigstes Feindbild der BR-PCC sei von Anfang der 1980er Jahre an ebenfalls ein „Imperialismus“ unter Führung der Vereinigten Staaten und der NATO gewesen. Der Zweck der Kontaktaufnahme der RAF zu den Italienern habe darin bestanden, einen der Zusammenarbeit mit der AD ähnelnden Austausch zu initiieren. Anders als das Annähern an die „Action Directe“ sollen die Gespräche mit

546 Vgl. ebd., S. 184-185, 189-190. 547 Vgl. ebd., S. 191, 193. 548 Vgl. ebd., S. 157.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

der „Brigate Rosse – Partito Communista Combattente“ einen Interessen­ konflikt zutage gefördert haben. Dieser sei aus spezifischen Meinungsver­ schiedenheiten zu regionalen und internationalen Entwicklungen hervor­ gegangen. Die RAF hätte die Notwendigkeit einer Opposition gegenüber industrieller Reorganisation betont. Nach Auffassung der BR-PCC war diese von einem Großteil der europäischen Staaten bereits abschließend vollzogen worden. Die „Brigate Rosse“ hätten daher eine ideologische Li­ nie befürwortet, die den politischen Zusammenschluss der Regierungen in Europa in den Fokus rücken sollte. Anders als die RAF habe die BR-PCC also auf die hinter wirtschaftlichen Prozessen stehende Politik geblickt und nicht Industrielle, sondern politische Funktionsträger zum Ziel erho­ ben. Darüber hinaus, konstatierte Karmon, beobachtete die BR-PCC die Lage im Nahen Osten sowie am Persischen Golf. Hieraus sei die Bereit­ schaft erwachsen, mit palästinensischen Terroristen in Kontakt zu treten. Die „Rote Armee Fraktion“ dagegen habe sich exklusiv dem Aktionsraum Europa gewidmet. Trotz dieser Differenzen hätten sich die beiden Akteure schließlich dazu durchringen können, im September 1988 eine gemeinsa­ me Erklärung zu veröffentlichen. In dieser platzierten sie den Aufruf, das Vereinen unterschiedlicher terroristischer Entitäten nicht an disparaten historischen Ausgangsbedingungen und Perspektiven scheitern zu lassen. Zu einer intensiveren Kooperation der RAF und der BR-PCC sei es danach nicht gekommen, da die italienische Gruppe noch im selben Jahr durch Exekutivmaßnahmen entscheidend geschwächt worden wäre.549 Andere Spaltprodukte der „Brigate Rosse“, wie zum Beispiel die „Unione dei Comunisti Combattenti“, kamen laut Karmon für eine Interaktion mit der „Roten Armee Fraktion“ grundsätzlich nicht in Frage: Diese hatten sich dem Kampf in Italien verschrieben, hinter den ein „revolutionärer“ Internationalismus zurücktrat.550 Nach einem ausführlichen Abgleich der von ihm ausgewählten Fallkon­ stellationen mit den eingangs aufgestellten 12 Hypothesen zog Karmon eine Bilanz, in der er seine zentrale Forschungsprämisse bestätigt sah: „The basic thesis of this research – the tendency of terrorist organizations to cooperate and ally when they feel threatened – was clearly corrobora­ ted“551. Vor allem linksterroristische Entitäten hätten expressis verbis auf dieselbe Gefahr in Gestalt des als aggressiv und ausbeuterisch wahrgenom­ menen westlichen beziehungsweise US‑amerikanischen „Imperialismus“

549 Vgl. ebd., S. 163-164. 550 Vgl. ebd., S. 194-195. 551 Ebd., S. 279.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

verwiesen. Karmon zufolge galten die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und die „revolutionären“ Kräfte in westlichen Industrienationen in deren Augen als insgesamt schwache Akteure. Dementsprechend sei eine gegenseitige Solidarität von europäischen Linksterroristen zur Selbstver­ ständlichkeit erhoben worden.552 Mit Blick auf die einzelnen Hypothesen kam Karmon zu differenzierten Schlussfolgerungen: – Hypothesen auf der Analyseebene des weltpolitischen Geschehens 1. Spannungen innerhalb der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges seien – für sich genommen – als Erklärungsansatz für ter­ roristische Kooperation unzureichend. Maßgeblich gewesen wäre, auf welche Aspekte des Konflikts der Weltmächte sich die jeweili­ gen Akteure in ihren Programmatiken bezogen, wie sie die hiermit verbundene Bedrohungslage schilderten und welche Auswirkun­ gen sie hinsichtlich der eigenen Strukturen oder der ihrer (poten­ tiellen) Verbündeten annahmen. Nur wenn in diesen Bereichen Konsens bestand, sei eine Zusammenarbeit in Erwägung gezogen worden.553 Hiermit, so Karmon, könne die wechselhafte Partner­ wahl der „Roten Armee Fraktion“ in den 1970er und 1980er Jahren erklärt werden. Habe die RAF in den 1970er Jahren die bipolare Weltordnung auf einen Antagonismus zwischen „imperia­ listischem Kapitalismus“ und nationalen Befreiungsbewegungen – wie zum Beispiel in Vietnam und Palästina – reduziert, sei sie ab Anfang der 1980er Jahre dazu übergegangen, auf die Konfronta­ tion der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion zu rekurrieren. Ganz im Sinne dieser ideologischen Schwerpunkte habe die „Rote Armee Fraktion“ während der 1970er Jahre das Zusammenwirken mit palästinensischen terroristischen Entitäten, während 1980er Jahre den Schulterschluss mit dezidiert antiim­ perialistischen Kräften in Europa forciert. Eine gänzlich andere Sicht zur bipolaren Weltordnung hätten unter anderem die „Bewe­ gung 2. Juni“ sowie die „Revolutionären Zellen“ entwickelt. Beide seien – wie auch die BR-UCC – von einem westlichen „Imperialis­ mus“ ausgegangen, welcher weltweit gegen ein „revolutionäres“ Lager agiere. Den in westlichen Industrienationen präsenten Ak­ teuren dieses „revolutionären“ Lagers hätten sie eine führende Rolle unterstellt, woraus sie die Legitimität eines dortigen „bewaff­ 552 Vgl. ebd. 553 Vgl. ebd., S. 283.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

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3.

4.

554 555 556 557

neten Kampfes“ gegen die bestehende Staatsordnung gezogen ha­ ben sollen. Konsequenz dieser Position war Karmon zufolge eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einem internationalen Sich-Ver­ netzen.554 Die mit dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis und der Trikonti­ nentalen Konferenz einhergehende Spaltung des kommunistischen Lagers sowie die daraus erwachsenden neuen revolutionären und ideologischen Brennpunkte hätten später vor allem diejenigen terroristischen Organisationen beeinflusst und geprägt, die Befrei­ ungsbewegungen in der Dritten Welt als „Speerspitze“ einer Welt­ revolution und deren Auseinandersetzung mit dem „Imperialis­ mus“ als Bedrohung für die eigene Existenz begriffen. Sowohl die Fatah und die PFLP als auch die „Rote Armee Fraktion“ seien die­ ser Position zuzurechnen gewesen und hätten dementsprechend eine Kooperation aufgenommen.555 Regionale Krisen oder Kriege, die ein terroristischer Akteur als Gefahr für die eigenen Strukturen und/oder für das von ihm bevorzugte ideologische Lager sieht, beförderten die Suche nach Bündnissen beziehungsweise den Ausbau bestehender Kooperatio­ nen. Dieses Sich-Annähern treibe der jeweilige Akteur allerdings zuvorderst im Lichte der von ihm verfolgten Strategie und Interes­ sen voran. So hätten sich italienische Linksterroristen mit terroris­ tischen Entitäten aus Palästina solidarisch gezeigt, weil die Regie­ rung Italiens an militärischen Friedensmissionen im Nahen Osten teilnahm.556 Ein regionales und/oder internationales Zusammenwirken von Si­ cherheitskräften im Wege des Bekämpfens terroristischer Gewalt verstärkte laut Karmon die unter Terroristen wahrnehmbare Be­ reitschaft, Koalitionen zu bilden. Dieser Kausalzusammenhang ha­ be sich jedoch nicht immer unmittelbar in ideologischen Erklärun­ gen niedergeschlagen. Oftmals hätten terroristische Akteure ihren Kampf als einen Konflikt mit „imperialistischer“ Militärmacht dar­ gestellt, seltener hingegen als ein Auseinandersetzen mit Polizeiund anderen Sicherheitsbehörden.557

Vgl. ebd., S. 281-282. Vgl. ebd., S. 283. Vgl. ebd., S. 284. Vgl. ebd., S. 285-286.

143

3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

– Hypothesen auf der Analyseebene der terroristischen Akteure 5. Jegliches Zusammenwirken terroristischer Entitäten setze zumin­ dest geringe Schnittmengen zwischen ihren ideologischen Agen­ den voraus.558 6. Anarchistische und anarcho-kommunistische Akteure des Terroris­ mus neigten stärker als Entitäten anderer ideologischer Lager zu kooperativen Verhältnissen.559 7. Der Fall der „Brigate Rosse“ bestätige die Hypothese, derzufolge linksterroristische Entitäten mit einer ausschließlich auf die innen­ politische Lage eines Landes zielenden Strategie vom Aufbau län­ derübergreifender Verbindungen zu anderen terroristischen Zu­ sammenschlüssen eher absähen. Dies sei für die BR-UCC prägend gewesen, habe diese doch entlang ihrer strikt marxistisch-leninis­ tischen Position die Situation proletarischer Schichten in Italien als wegweisend empfunden und daher einen Internationalismus abgelehnt.560 8. Auch nationalistische beziehungsweise ethnisch-separatistische Terroristen gingen seltener eine Zusammenarbeit mit Entitäten ein, die ebenfalls aus politischer Motivation heraus zu systemati­ scher Gewaltanwendung griffen. Exemplarisch zu nennen seien in diesem Zusammenhang die baskische Organisation „Euskadi Ta Askatasuna“ (ETA) sowie die „Irish Republican Army“.561 9. Terroristische Organisationen, die als „non-state nations“ klassifi­ ziert werden könnten, präferierten Bündnisse mit anderen Terro­ risten, sofern sie auf internationaler politischer Bühne um das Durchsetzen ihrer Ziele kämpften. Dies sei vor allem im Falle der Fatah und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ nachweisbar. Um die Augen der Weltöffentlichkeit auf die Situati­ on der Palästinenser lenken zu können, hätten diese Kräfte gezielt daraufgesetzt, ein Geflecht aus ihnen wohl gesonnenen terroristi­ schen Entitäten aufzubauen.562 10. Obwohl in einer Partnerschaft befindliche terroristische Organisa­ tionen im Hinblick auf ihre Größe und Ressourcen oftmals über­ aus unterschiedlich gewesen wären, habe in ihrem Verhältnis nicht

558 559 560 561 562

144

Vgl. ebd., S. 287. Vgl. ebd., S. 288. Vgl. ebd., S. 289-290. Vgl. ebd., S. 290. Vgl. ebd., S. 291.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

eine signifikante Abhängigkeit bestanden. Will heißen: Schwache Akteure seien nicht einseitig auf starke Akteure angewiesen. Laut Karmon zeigt sich dies an der Beziehung der „Revolutionären Zellen“ zur PFLP: Anders als es die – im Vergleich zu den Palästi­ nensern – geringen personellen und operativen Mittel ihres inter­ nationalistischen Flügels vermuten ließen, sei Unterstützung nicht nur von der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ an die RZ geflossen. Vielmehr hätten beide Parteien einen Beitrag zur Zusammenarbeit geleistet. So habe der im Ausland wirkende Teil der „Revolutionären Zellen“ der PFLP bisweilen seine gesamten Fähigkeiten und Mitglieder überlassen.563 11. Ein Übereinstimmen in grundsätzlichen ideologischen und strate­ gischen Fragen sowie eine geringe räumliche Distanz zwischen mehreren terroristischen Akteuren begünstigten nicht zwangsläu­ fig eine multilaterale Kooperation. Ersichtlich werde dies anhand der Verhältnisse der „Roten Armee Fraktion“ zu den CCC und den „Brigate Rosse“. Obschon diese drei Zirkel annähernd ähnli­ chen Weltanschauungen und Revolutionsmodellen folgten und im selben geographischen Raum aktiv waren, hätten sie nicht zu einer „Front“ zusammengefunden. Ursächlich hierfür, so Karmon, seien insbesondere Differenzen in ideologischen und strategischen Feinheiten gewesen.564 – Hypothese auf der Analyseebene der Aktivisten 12. Karmon zufolge stellten rassistische und antisemitische Auffassun­ gen bisweilen einflussreiche Faktoren dar. Sie sollen Führungsper­ sönlichkeiten sowohl im Links- als auch im Rechtsterrorismus zu Bündnissen mit palästinensischen terroristischen Organisationen gelenkt und/oder zum Ausführen oder Unterstützen von Angriffen auf israelische beziehungsweise jüdische Ziele bewegt haben. Dies sei insbesondere im deutschen Linksterrorismus evident gewesen. Bei einigen der leitenden Aktivisten der RAF und der RZ habe es sich um Antisemiten gehandelt. Ausdruck gefunden hätte dies, so Karmon, im Falle der „Roten Armee Fraktion“ im propagandis­ tischen Rechtfertigen des 1972 von Palästinensern ausgeführten Olympia-Attentats, im Falle der „Revolutionären Zellen“ im Sepa­ rieren von jüdischen und nicht-jüdischen Geiseln während der

563 Vgl. ebd., S. 292-293. 564 Vgl. ebd., S. 294.

145

3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

1976 im Auftrag der PFLP unternommenen Entführung eines Flugzeugs nach Entebbe.565 Zusammenfassend hob Karmon hervor, allen voran Bedrohungen auf in­ ternationaler Ebene bewegten terroristische Akteure dazu, Kooperationen zu erwägen und einzugehen. Als besonders bedeutsam hätten sich ver­ gleichbare Interpretationen zu Spannungen innerhalb der bipolaren Welt­ ordnung, gleichgelagerte Sichtweisen zu regionalen Konflikten und grenz­ übergreifendes Zusammenwirken von Sicherheitskräften gezeigt. Zum Teil habe auch die jeweilige Lage einer Entität begünstigend gewirkt – sei es in Gestalt einer selbst zu verantwortenden beziehungsweise durch sicherheitsbehördliche Maßnahmen hervorgerufenen Schwächephase oder in Form eines Entfremdens von Bezugsgruppen, deren Interessen man zu vertreten gedachte.566 Neben diesen Bedingungsfaktoren für ein Sich-An­ nähern terroristischer Entitäten finden sich bei Karmon einige Schlussfol­ gerungen zu den Hindernissen, denen sich eine Interaktion im Terroris­ mus gegenübersieht. Er riss ideologische, organisatorische und technische Aspekte an. Nicht zu vernachlässigen sei die klandestine Natur terroristi­ scher Formationen: Das allgemeine Abschottungsgebot erschwere Terroris­ ten das Verflechten ihrer eigenen Strukturen mit denen eines anderen Akteurs. Es stehe im Widerspruch zum Kern einer Kooperation. Hinzu kämen mitunter Schwierigkeiten beim Aufbau von Kommunikationska­ nälen. Diese erwüchsen unter anderem aus einem Mangel an Kontaktda­ ten oder einem Fehlen von Sprachkenntnissen. Sofern eine Verknüpfung erreicht werde, fuße diese überwiegend auf informellen Absprachen, wel­ che nicht durch Kontroll- und Sanktionsmechanismen abgesichert seien. Folglich entfalte eine Zusammenarbeit im Terrorismus allenfalls geringe Bindekraft. Sie fördere gegenseitiges Misstrauen.567 Um eine Aktualität seiner Ergebnisse zu den Voraussetzungen terroris­ tischer Partnerschaften untermauern zu können, ging Karmon in den abschließenden Teilen seiner Arbeit auf Akteure des islamistischen Ter­ rorismus ein. Er hielt fest: Ein Großteil der von ihm zu terroristischen Koalitionen der 1970er und 1980er Jahre gewonnenen Erkenntnisse sei auf islamistisch-terroristische Entitäten übertragbar. Der größte Unterschied bestünde in einer neuen Weltordnung, die Anfang der 1990er Jahre aus dem Zusammenbruch des sowjetischen Machtbereichs hervorgegangen

565 Vgl. ebd., S. 295. 566 Vgl. ebd., S. 296. 567 Vgl. ebd., S. 303-304, 307.

146

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

sei. Wären die vor dieser Zäsur aktiven Terroristen zumeist durch den Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjet­ union beeinflusst gewesen, hätten sich nach diesem Wandel zahlreiche ter­ roristische Kräfte vor dem Hintergrund politischer und militärischer Inter­ ventionen westlicher Industriestaaten in der islamischen Welt gegrün­ det.568 Ähnlich den Fällen des Rechts- und Links- sowie des nationalistischen Terrorismus legte das Beispiel islamistisch-terroristischer Akteure laut Kar­ mon jedoch auch frei, welche Faktoren eine Interaktion zwischen Terroris­ ten zu Fall bringen oder verhindern können. Trotz einer gemeinsamen Zugehörigkeit zur ideologischen Linie des Jihadismus hätten Aktivisten verschiedener islamistisch‑terroristischere Entitäten Differenzen gezeigt, die entweder einem unterschiedlichen Auslegen religiöser Bestimmungen zur Gewalt gegen Zivilisten und Muslime oder disparaten strategischen Vorgehensweisen entsprungen seien. Aufgrund derartiger Meinungsver­ schiedenheiten wäre bisweilen eine Teilnahme an existierenden Koalitio­ nen islamistisch‑terroristischer Entitäten ausgeblieben. Spaltungen inner­ halb der Akteure und in Bündnissen hätten wahrgenommen werden können. Solche Entwicklungen erblickte Karmon in der Situation der in Ägypten und Algerien aktiven jihadistischen Kräfte.569 3.1.2 Bedingungsfaktoren nach Brian Phillips Anders als Ely Karmon beleuchtete Brian Phillips in seiner im Jahre 2012 veröffentlichten quantitativen Untersuchung „Explaining Terrorist Group Cooperation and Competition“ nicht ausschließlich assoziative Beziehun­ gen im Terrorismus. Unter der Fragestellung: „Why do some terrorist groups cooperate with each other, while others attack each other?“570 rückte er gleichermaßen adversative Relationen in den Mittelpunkt wis­ senschaftlicher Analyse. Damit beschritt Phillips Neuland. Er merkte an, negative Verhältnisse zwischen terroristischen Akteuren könnten im All­ gemeinen als vernachlässigtes Thema der Terrorismusforschung gesehen werden. Unklar bleibe, ob adversative und assoziative Beziehungen zwi­ schen Terroristen ähnliche Auslöser aufweisen.571 Erkundet wurde diese

568 569 570 571

Vgl. ebd., S. 383-387. Vgl. ebd., S. 376. Phillips 2012, S. 1. Vgl. ebd., S. 1-2.

147

3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

terra incognita von Phillips unter Zuhilfenahme von insgesamt sieben Hypothesen aus drei Kategorien: „bargaining“, „opportunity“, „capabilities aggregation“. Seine Annahmen stellte er wie folgt mithilfe verschiedener Studienergebnisse zum Terrorismus auf: – Hypothesen zum Verhandeln mit einem Staat („bargaining“) 1. Terroristische Akteure mit einer ethnisch-separatistischen bezie­ hungsweise nationalistischen Agenda neigten eher dazu, negati­ ve Verhältnisse zu anderen (ethnisch‑separatistischen/nationalisti­ schen) terroristischen Entitäten aufzubauen.572 Grund hierfür seien die vergleichsweise konkreten politischen Ziele solcher Terroris­ ten: Ob dieser Ziele werde das Aufnehmen von Verhandlungen mit staatlichen Stellen wahrscheinlicher. Komme es zu einem derartigen Dialog, begünstige er zumeist Streitigkeiten zwischen „Moderaten“ und „Extremisten“, die Spaltungen innerhalb einer ethnisch‑separatistischen Gruppe und/oder Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen terroristischen Entitäten desselben eth­ nisch-separatistischen Lagers manifestierten.573 Solche Konflikte könnten sich an der Frage entzünden, ob das Verhandeln mit einem Staat überhaupt opportun ist. Den Ausschlag geben könn­ ten ferner die Bedingungen, nach denen Gespräche mit Regie­ rungsvertretern aufgenommen werden.574 Exemplarisch für derar­ tige Konstellationen seien das gewaltsame Vorgehen der LTTE gegen andere tamilische Organisationen sowie die Friktionen in­ nerhalb der „Irish Republican Army“ während des nordirischen Friedensprozesses der 1990er Jahre. Als weiteres Beispiel nannte Phillips die „Popular Front for the Liberation of Palestine“. Wäh­ rend der 1960er Jahre habe diese das Loslösen der von Ahmed Jibril gelenkten „Popular Front for the Liberation of Palestine – General Command“ (PFLP‑GC) erlebt.575 2. Im Phänomen des religiös motivierten Terrorismus sei der Aufbau positiver Beziehungen zu anderen terroristischen Akteuren wahr­ scheinlicher. Nicht nur hingen Terroristen mit religiöser Program­ matik kaum eingegrenzten, oftmals internationalistisch gehaltenen Positionen an. In der Regel würde ihnen zudem eine kompromiss­

572 573 574 575

148

Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 4-5. Vgl. ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 5.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

lose Haltung zugeschrieben werden, welche das bedingungslose Erfüllen der selbst gesetzten Forderungen verlange. Beides verrin­ gere die Chancen auf etwaige Übereinkommen mit einem Staat, lasse aber das Risiko von Auseinandersetzungen in und zwischen religiösen terroristischen Entitäten zurückgehen und die Probabili­ tät kooperativer Verbindungen steigen. Die fehlende Aussicht auf Verhandlungen mit staatlichen Stellen könne Akteure des religiös begründeten Terrorismus auch insoweit zu einem Sich-Annähern zwingen, als sie deren Handlungsspielraum auf eine Gewaltkampa­ gne reduziert, die größtmöglichen Schaden hervorrufen soll. Die­ ses strategische Ziel ließe sich, so nahm Phillips an, am ehesten in Zusammenarbeit erreichen.576 – Hypothesen zu Gelegenheiten terroristischer Interaktion („opportunity“): 3. Je höher die Zahl der Anschläge sei, die ein terroristischer Akteur begangen habe, desto wahrscheinlicher würde eine positive oder negative Beziehung zu anderen Entitäten des Terrorismus. Relatio­ nen zwischen Terroristen erforderten Gelegenheiten, in denen eine Interaktion greifbar werde. Solche Gelegenheiten beruhten wiede­ rum in Teilen auf der Sichtbarkeit potentieller Partner oder Geg­ ner. Herstellen lasse sich diese insbesondere durch Gewalttaten. Anders formuliert: Negative und positive Verhältnisse im Terroris­ mus setzten voraus, dass die Existenz eines terroristischen Akteurs anderen Entitäten durch „erfolgreiche“ Anschläge bekannt gewor­ den ist.577 4. Bei mitgliedstarken terroristischen Entitäten bestünde eine höhe­ re Wahrscheinlichkeit von Beziehungen zu anderen Akteuren. Be­ gründet wurde diese Annahme von Phillips mit der Lebensdauer und der Anschlagsintensität: Da Entitäten mit umfassenden per­ sonellen Ressourcen grundsätzlich länger existierten und ihre Ge­ walthandlungen höhere Opferzahlen zur Folge hätten, seien sie sichtbarer und daher häufiger in eine Interaktion eingebunden.578 5. Staatlich unterstützte terroristische Akteure träten eher in Verhält­ nisse zu anderen Entitäten des Terrorismus ein. Empfingen Ter­ roristen materielle Hilfe von einer Regierung, könnten sie ihre logistische Infrastruktur erweitern, stärker propagandistisch aktiv sein oder professionellere Anschläge verüben. Diese Konsequenzen

576 Vgl. ebd., S. 6-7. 577 Vgl. ebd., S. 8. 578 Vgl. ebd., S. 8-9.

149

3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

förderten die Wahrnehmbarkeit terroristischer Akteure, was die Chancen auf positive oder negative Beziehungen ausbaue. 6. Je größer die Zahl der terroristischen Entitäten sei, die neben einem Akteur im selben Land agierten, desto wahrscheinlicher werde dessen Einbindung in Beziehungen zu anderen terroristi­ schen Formationen.579 – Hypothese zur Zusammenführung der Fähigkeiten terroristischer Akteure („capabilities aggregation“): 7. Als Alternative zu seinen eigenen Hypothesen griff Phillips ab­ schließend den Kernbefund auf, der nach seinem Verständnis in Ely Karmons Dissertation zutage gefördert worden sei: Die Wahr­ scheinlichkeit terroristischer Interaktion steige proportional zu den Fähigkeiten eines Staates, in dem ein terroristischer Akteur aktiv sei.580 Das Überprüfen dieser Hypothesen leistete er mithilfe einer statistischen Auswertung, welche 622 terroristische Akteure im Zeitraum zwischen den Jahren 1987 und 2005 berücksichtigte. Die Entitäten gruppierte er dabei nach Jahren.581 Jede Entität wurde somit in jedem Jahr ihrer Exis­ tenzdauer bewertet. Unter Beziehungstypen codierte er die abhängigen Variablen „Gegner“ („adversary“) und „Verbündeter“ („ally“). „Gegner“ sei ein terroristischer Akteur, wenn er selbst oder seine Unterstützer physisch angegriffen werden würden beziehungsweise wenn er andere Entitäten attackiere. Sofern er mit gleichgesinnten Gruppen oder Organisationen gemeinsam Anschläge plane oder begehe, gelte er als „Verbündeter“. Das Kriterium des „Gegners“ erfüllten laut Phillips 91, das Kriterium des „Ver­ bündeten“ 267 der 622 analysierten Akteure.582 Neben diesen Kategorien hinterlegte er die unabhängigen Variablen: politische Ausrichtung („eth­ nic“, „religious“), Mitgliederstärke (weniger als 100, 100-999, 1000-9999, mehr als 10 000), Anschlagszahl, Unterstützung einer Regierung sowie Gesamtmenge an terroristischen Entitäten pro Land mit Zahlenwerten. Die Fähigkeiten der Staaten, in denen die berücksichtigten Entitäten wirk­ ten, bemaß Phillips nach den jeweiligen Militärausgaben pro Kopf, dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und einem Index, welcher unter anderem städtische Bevölkerung, Eisen- und Stahlproduktion, Energieverbrauch,

579 580 581 582

150

Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 9-10. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 12-13.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

militärisches Personal und Rüstungsausgaben abdeckte. Als Kontrollvaria­ blen fungierten das Attribut „politisch links ausgerichtet“ sowie die Bevöl­ kerungsgröße und das politische System eines Landes.583 Die Kriterien dienten ihm in variierender Kombination als Grundlage für vier Berech­ nungsmodelle. Die Interpretation der statistischen Werte zur abhängigen Variable „Geg­ ner“ führte Phillips zu der Schlussfolgerung, ethnisch-separatistische/natio­ nalistische terroristische Akteure unterhielten öfter adversative Beziehun­ gen als Entitäten mit anders gelagerten politischen Agenden.584 Selbiges gelte für Akteure, die neben weiteren Gruppen oder Organisationen im selben Staat agierten beziehungsweise durch Mitgliederstärke, Angriffszahl und staatliche Hilfsleistungen eine hohe Sichtbarkeit erzielten.585 Dage­ gen ergäbe sich mit Blick auf Entitäten, welche in bevölkerungsstarken Ländern verankert seien, eine geringere Wahrscheinlichkeit negativer Ver­ hältnisse. Laut der Berechnungsergebnisse im ersten Modell zur abhängi­ gen Variable „Verbündeter“ gingen positive Relationen eher von religiös motivierten terroristischen Kräften aus. Während die Akteursgröße eine Kooperation in diesem Modell nicht wahrscheinlicher mache, erhöhe die Anschlagszahl, die Menge an terroristischen Entitäten im selben Ak­ tionsraum und staatliche Unterstützung die Chance auf eine Zusammen­ arbeit.586 Wie sich in zwei weiteren Modellen zur abhängigen Variable „Verbündeter“ zeige, hätten die Fähigkeiten eines Staates keine fördernden Auswirkungen auf das Sich-Annähern terroristischer Akteure.587 Angesichts dieser Ergebnisse zu positiven und negativen Verhältnissen im Terrorismus sah Phillips die von ihm entworfenen Hypothesen bestä­ tigt: „[T]he capabilities aggregation model did not find nearly as much support as the arguments I proposed – bargaining and opportunity.“588 Terroristische Entitäten könnten zwar durchaus den Schulterschluss su­ chen, um im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind – wie zum Beispiel einen Staat – zu bestehen. Andere Faktoren schienen aber wesentlich ent­ scheidender für das Formieren terroristischer Bündnisse zu sein.589 Politik­ wissenschaftliche Annahmen zu interstaatlicher Zusammenarbeit sollten daher, so Phillips, mit Vorsicht auf terroristische Interaktion übertragen 583 584 585 586 587 588 589

Vgl. ebd., S. 13-14. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. ebd.

151

3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

werden. Es gelte, die Anwendbarkeit der Theorie des Bedrohungsgleichge­ wichtes in weiteren Untersuchungen zu bestimmen.590 3.1.3 Bedingungsfaktoren nach Tricia Bacon Neben Brian Phillips baute Tricia Bacon in ihrer 2013 veröffentlichten Dis­ sertation „Strange Bedfellows or Brothers-In-Arms: Why Terrorist Groups Ally“ unmittelbar auf Ely Karmons Arbeit auf. Sie konstatierte zunächst, Allianzen im Terrorismus bildeten eine Anomalie.591 Terroristische Akteu­ re seien kaum fähig, kooperative Beziehungen zu Gleichgesinnten zu for­ men und Partner von der Ernsthaftigkeit ihrer Zusagen zu überzeugen. Dies liege insbesondere an der ihnen eigenen Geheimhaltung und man­ gelnden Transparenz. Da Mechanismen fehlten, die Verlässlichkeit wirk­ sam garantieren könnten, bestünden für beide Seiten eines terroristischen Bündnisses Anreize zu opportunistischem Verhalten.592 Heraufordernd sei ein Sich-Annähern im Terrorismus auch insofern, als die beteiligten Entitäten regelmäßig jeweils für sich einen ausgeprägten internen Zusam­ menhalt (sogenannte in-group identity) entwickelten. Kontakte zu außer­ halb der eigenen Gruppen- oder Organisationsgrenzen gelegenen Akteu­ ren würden hierdurch vernachlässigt werden. Gerade das Vernetzen mit anderen terroristischen Entitäten fordere jedoch von allen Mitgliedern ein Lockern beziehungsweise das Umkehren der auf gegenseitiger Indoktrina­ tion beruhenden Abschottung. Abgesehen von etwaigen strukturellen und gruppendynamischen Aspekten unterminierten Faktoren auf der persönli­ chen Ebene positive Verhältnisse zwischen Entitäten des Terrorismus, so Bacon. Führende Mitglieder seien oftmals charismatische Personen, deren übersteigerte Zielstrebigkeit Verständigungen erschwere. Diese kulminiere bisweilen in Streitigkeiten, welche die Entitäten nach außen als Konflik­ te ideologischer oder strategischer Natur verbrämten.593 Angesichts der aufgelisteten Hürden im Vorfeld und während terroristischer Interaktion fragte Bacon schließlich: „Far from being a natural outcome, cooperative relationships between [terrorist] actors present a puzzle – under what conditions will terrorist groups ally?“594

590 591 592 593 594

152

Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Bacon 2013, S. 3. Vgl. ebd., S. 4-5. Vgl. ebd., S. 8-9. Ebd., S. 10.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage warf Bacon ihren Blick auf „alliance hubs“ („Allianzknotenpunkte“) – terroristische Akteure, die während ihrer Existenzdauer eine Vielzahl an Verbindungen zu ande­ ren Entitäten des Terrorismus zeitgleich und/oder -versetzt unterhielten.595 Hierbei bezog sie sich jedoch ausdrücklich nur auf das internationale SichVernetzen im Terrorismus; positive Assoziationen auf nationaler Bühne waren nicht Gegenstand ihrer eingehenden Betrachtungen.596 Was das Entstehen und den Bestand grenzübergreifender terroristischer Bündnisse absichert, hat die bisherige wissenschaftliche Forschung laut Bacon nicht zufriedenstellend untersucht. Vorliegende Resultate führten eine Zusam­ menarbeit auf das Übereinstimmen in Feindbildern und anderen ideologi­ schen Inhalten zurück, gingen jedoch nicht auf Konstellationen ein, in denen zwar weltanschauliche Schnittmengen bestünden, positive Verbin­ dungen aber ausblieben. Gerade Letztes sei keine Seltenheit. Dementspre­ chend nahm Bacon an, eine kongruente Gegnerwahl initiiere nicht alleine das Heranwachsen etwaiger Allianzen im Terrorismus.597 Unter Berücksichtigung dieser initialen Annahmen präzisierte sie ihre Forschungsperspektive durch insgesamt 15 Hypothesen in fünf Katego­ rien. Die ersten sechs Hypothesen nahmen unmittelbar Bezug auf Ely Karmons Studie „Coalitions between Terrorist Organizations“. Sie thema­ tisierten die von Karmon in Anlehnung an den amerikanischen Politikwis­ senschaftler Stephen Walt entwickelte „Theorie des Bedrohungsgleichge­ wichts“: – Hypothesen zum Bedrohungsgleichgewicht 1. Sofern sich eine terroristische Organisation und ein „Allianzkno­ tenpunkt“ derselben Bedrohung gegenübersähen, die sie überein­ stimmend als die gegenwärtig größte Gefahr betrachteten, motivie­ re dies zu einer Kooperation. 2. Allianzen hätten nur so lange Bestand, bis die Bedrohung abebbe. 3. Ein „Allianzknotenpunkt“ sei bestrebt, eine Vielzahl an Partnern zu gewinnen, um sich gegenüber der Bedrohung in eine bessere Position zu bringen.598

595 596 597 598

Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 25, 32-33, 35. Vgl. ebd., S. 30.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

– Hypothesen zur ideologischen Solidarität 4. Das Ausmaß an Kongruenzen in ideologischen Grundsätzen be­ stimme ein Sich-Annähern terroristischer Akteure. 5. Die Dauer von Bündnissen stehe in unmittelbarer Abhängigkeit zur Existenz ideologischer Kompatibilität. 6. „Allianzknotenpunkte“ würden eine Partnerschaft mit Entitäten eingehen, die ihre weltanschauliche Ausrichtung sowie zahlreiche Elemente ihrer Ideologie teilten.599 Die übrigen neun Hypothesen bildeten den Versuch Bacons ab, jenseits bestehender wissenschaftlicher Perspektiven alternative Erklärungsansätze für terroristische Interaktion zu entwickeln: – Hypothesen zu strukturellen Bedürfnissen 7. Terroristische Akteure suchten eine Kooperation, um strukturellen Lern- und Anpassungsbedarf zu stillen. Hierbei hielten sie nach Partnern Ausschau, denen sie die Fähigkeit unterstellten, diesen Bedarf zu decken. 8. Die Persistenz der Allianz hänge einerseits von der Art der Bedürf­ nisse ab – andererseits von den Möglichkeiten der beteiligten Ak­ teure, den Ansprüchen des jeweils anderen zu genügen. 9. Ein „Allianzknotenpunkt“ weise die Fähigkeit auf, die Bedürfnisse anderer Entitäten zu befriedigen. Daneben kennzeichne ihn eine eigene Nachfrage, die Bündnispartner stillen könnten.600 – Hypothesen zu ähnlicher Identität 10. Die Identität einer Gruppe lege fest, welche Akteure für eine Zu­ sammenarbeit in Frage kämen. Eine Kooperation entwickle sich nur dann, wenn die Identitäten terroristischer Kräfte ein gewisses Maß an Überschneidungen aufwiesen. 11. Sofern Schnittmengen zwischen Identitäten in einer von allen Partnern getragenen Identität mündeten und sie überdies gemein­ same Normen schüfen, wirkten sie sich positiv auf die Beständig­ keit von Allianzen aus. 12. Bei ihrer Suche nach Mitspielern würden „Allianzknotenpunkte“ Entitäten auswählen, die ihrer Identität entsprächen.601

599 Vgl. ebd., S. 32. 600 Vgl. ebd., S. 49. 601 Vgl. ebd., S. 59.

154

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

– Hypothesen zu Vertrauen 13. Das Bilden eines Bündnisses erfordere auf beiden Seiten bereits be­ stehende Grundlagen für gegenseitiges Vertrauen oder den Willen, Vertrauen zueinander aufzubauen. 14. Vertrauen sei für die Dauerhaftigkeit einer Allianz notwendig. 15. Ein „Allianzknotenpunkt“ sei darin geübt, das Vertrauen anderer Entitäten zu gewinnen. Zum Einsatz kämen dabei sein Ruf, seine Zugänglichkeit sowie persönliche Kontaktpflege.602 Zu den im Hinblick auf strukturelle Bedürfnisse aufgestellten Hypothesen führte Bacon ergänzend aus, Organisationen im Allgemeinen eine ein grundlegendes Ziel: Wohlergehen. Dieses spiegele sich in Größe, Ressour­ cen und Einfluss wider.603 Um das eigene Wohlergehen erhalten oder verbessern zu können, seien Organisationen gezwungen, ihr Verhältnis zur sich verändernden Umwelt zu hinterfragen und zu justieren. Ledig­ lich Entitäten, welche sich in Relation zu ihrer Umgebung entwickelten, seien konkurrenz- und dauerhaft überlebensfähig. Ein solcher Lern- und Anpassungsprozess begleite Organisationen während der gesamten Dauer ihrer Existenz. Dieser Grundsatz lasse sich – so Bacon – auf terroristische Akteure übertragen: Sie sähen sich gleichermaßen der Notwendigkeit ge­ genüber, auf Entwicklungen und Veränderungen interner und externer Art adäquat zu reagieren, um die (etablierte) Aktionsfähigkeit abzusichern oder auszubauen.604 Sofern sich eine auftretende Schwäche oder Vulnera­ bilität nicht aus eigener Kraft bewältigen lasse oder aber das Eingehen eines Bündnisses grundsätzlich größeren Erfolg verspreche, hielten betrof­ fene Akteure Ausschau nach Partnern, bei denen sie die ihnen fehlenden Kenntnisse, Fähigkeiten oder Vermögenswerte vermuteten. Dies stünde bisweilen nicht im Einklang mit den selbst gesteckten politischen Zielen, bleibe jedoch ob der erlebten Not alternativlos.605 Wandlungsprozesse und daraus hervorgehende Konsequenzen für terroristische Entitäten können – Bacon zufolge – vielfältige Formen annehmen. Wandlungsprozesse seien üblicherweise verbunden mit der Gründungsphase terroristischer Forma­ tionen, mit dem Sich-Konsolidieren nach einer schwerwiegenden Krise (zum Beispiel: Führungswechsel) oder mit Transformationen außerhalb der Gruppen- oder Organisationsgrenzen (unter anderem: Erweiterung

602 603 604 605

Vgl. ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 40-41. Vgl. ebd., S. 37.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

des staatlichen Repertoires an Exekutivmaßnahmen). Die entstehenden Konsequenzen für terroristische Akteure fänden ihren Ausdruck mitunter in einer Inferiorität gegenüber staatlicher Terrorismusbekämpfung oder in Misserfolgen beim Erwerben und Handhaben von Waffen. Veranschau­ lichend schrieb Bacon hierzu: Könne die jeweilige terroristische Entität – bezogen auf solche Konsequenzen – nicht selbst Abhilfe schaffen, böte sich der Zusammenschluss mit gleichgesinnten Partnern an, welche in neue operative Vorgehensweisen einführen oder beim Gewinnen von Kampf­ mitteln behilflich sein kann.606 Neben strukturellen Defiziten, die nicht selbst beseitigt werden können, hob Bacon die Relevanz der Identität besonders hervor. Diese gestalte und sichere die Loyalität sowie den Zusammenhalt der Gruppenmitglie­ der. Sie stecke die Ambitionen einer Entität ab und lege fest, wie sich ein Akteur in Relation zu einem anderen sehe. Identität bilde somit die Lebensader terroristischer Kampagnen. Wie Bacon weiter ausführte, sei diese vielschichtig. Im Terrorismus beinhalte sie die jeweilige Ideologie des Akteurs, ethnische Zugehörigkeit (Ethnizität) sowie Feind-/Opfernarrative. Unter den Teilaspekt der Ideologie subsumierte sie Interpretationen zu geschichtlichen Abläufen sowie auf die Zukunft gerichtete Vorstellungen. Die diesbezüglichen Unterschiede bildeten die Kategorien Anarchismus, Links-, Rechts-, religiöser und ethnischer/separatistischer Terrorismus ab. Daneben gäbe es Terrorismus, der auf einem Thema beruhe („single issue terrorism“).607 Ethnizität verstand Bacon als Gruppenzugehörigkeit, wel­ che auf einem geteilten historischen Erbe sowie auf spezifischen Abgren­ zungsmerkmalen, wie beispielsweise Religion und Sprache, basiere. Feindund Opfernarrative konstituierten die Ursachen für Feindbilder und die Auswahl von Opfergruppen, gegen die sich die eigene Gewalt richte.608 Zeigten sich terroristische Akteure willens, Allianzen zu Mitspielern aufzubauen, präge deren jeweilige Identität die Präferenzen bei der Part­ nerwahl. Identität dürfte jedoch laut Bacon nicht alleine ausschlaggebend für das Herstellen einer Verknüpfung sein. Sie lege zum einen Grenzen und Kriterien fest. Entlang dieser Vorgaben könnten sich Entitäten mit anderen identifizieren und ein Sich-Annähern anstreben. Zum anderen diene Identität den involvierten Akteuren als Gradmesser: Sie zeige an, ob zwischen ihnen ein vertrauensvolles Verhältnis überhaupt aufgebaut werden kann. Entscheidend sei diese Funktion der Identität vor allem bei

606 Vgl. ebd., S. 42-46. 607 Vgl. ebd., S. 49-51. 608 Vgl. ebd., S. 54-55.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

Fällen, in denen kaum persönliche Kennverhältnisse zwischen Mitgliedern der beteiligten Entitäten bestünden beziehungsweise einem oder mehreren Akteuren eine Reputation fehle. Kongruente Identitäten schüfen somit bisweilen die Voraussetzungen für einen weiteren Parameter, der laut Bacon ebenfalls Triebkraft der Beziehungen im Terrorismus sein kann: Vertrauen.609 Hinter diesem Begriff sah sie den subjektiven Glauben an die Zuverlässigkeit des Gegenübers, aus dem Erwartungen an das Einhal­ ten von Übereinkommen folgen würden. Vertrauen sei nicht nur in der Entstehungsphase einer terroristischen Allianz entscheidend, sondern auch für deren Fortbestehen. Es resultiere in erster Linie aus Interaktionen zwischen den Entitäten, gruppen- oder organisationsübergreifenden per­ sönlichen Beziehungen und aus dem Ansehen der Partner. Den in unmit­ telbarer räumlicher Nähe agierenden Akteuren des Terrorismus böten sich größere Chancen auf ein Zusammentreffen und ein daraus folgendes ver­ trauensvolles Verhältnis als Entitäten, welche beispielsweise durch Ozeane oder andere geographische Hürden voneinander getrennt seien. Selbiges gelte für Akteure, denen unter anderem in Bezug auf Fragen des Eigen­ schutzes ein positiver Leumund anhafte. Würde eine Entität angeblich oder tatsächlich von Sicherheitsbehörden unterwandert werden oder hätte sie sich beim Einhalten von Abmachungen als unzuverlässig erwiesen, könnte sie – im Gegensatz zu „integren“ terroristischen Kräften – selten kooperative Beziehungen aufbauen.610 Ausgehend von ihren Hypothesen warf Bacon schließlich den Blick auf zwei „Allianzknotenpunkte“ des Terrorismus, indem sie deren Bezie­ hungen zu anderen terroristischen Entitäten empirisch darlegte. Die erste Untersuchungsgruppe fasste die „Popular Front for the Liberation of Pa­ lestine – Special Operations Group“ sowie die mit ihr in den 1970er Jahren verbündeten (JRA, RAF, B2J, RZ) und nicht-verbündeten linksterroristi­ schen Akteure („Weather Underground Organization“, WUO). Die zweite Gruppe beinhaltete „al Qaida“ und islamistische Akteure in Ägypten („al Jihad“, „al Jama'a al Islamiyya“), Algerien („Groupe Salafiste pour la Pré­ dication et le Combat“, GSPC), Indien („Lashkar-e-Taiba“, LeT) sowie in Pakistan (Akteure der Deobandi-Bewegung). Im Zuge der Schilderungen zur PFLP-SOG stellte Bacon zunächst fest, ursprünglich habe diese ein grenzübergreifendes Sich‑Vernetzen unter Gleichgesinnten angestrebt, um die eigene Unterlegenheit gegenüber der personell wie finanziell stärkeren Fatah ausgleichen und den Staat Israel beziehungsweise dessen „imperialis­ 609 Vgl. ebd., S. 56-57. 610 Vgl. ebd., S. 59-62.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

tische“ Partner bekämpfen zu können.611 Später habe sich ihr die Notwen­ digkeit des Vernetzens aufgrund der wachsenden Terrorismusbekämpfung aufgedrängt: Als staatliche Gegenspieler (zum Beispiel: Israel) schärfere Sicherheitsmaßnahmen gegen die vorwiegend palästinensischen und arabi­ schen Mitglieder der PFLP-SOG richteten, habe Wadi Haddad diese mit dem Einsatz europäischer und japanischer Linksterroristen zu umgehen versucht.612 Entscheidend wäre darüber hinaus die Absicht gewesen, die Publizität des europäischen Linksterrorismus für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.613 Bei ihrem Bemühen um internationale Vernetzung sei der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ der in westlichen Industrienationen aufkeimende revolutionäre Ethos entge­ genkommen. Hervorgetan habe sich dieser vermittels einer ostentativen Solidarität mit den Befreiungskämpfen in der Dritten Welt.614 Zwischen der Weltanschauung der Palästinenser und der ihrer (potentiellen) Mit­ spieler in Europa und Asien hätten demnach nennenswerte Schnittmen­ gen bestanden.615 Mit der RAF teilte die PFLP-SOG laut Bacon allerdings nicht eine uniforme Sicht auf existierende Bedrohungen, im Gegenteil: Habe die „Rote Armee Fraktion“ dem Kampf gegen die westdeutsche Re­ gierung den Vorzug gegeben, konzentrierten sich die Palästinenser auf die israelische Politik. Diese Feindbilder hätten sich zwar aus ähnlichen ideo­ logischen Narrativen gespeist, in den Programmatiken der Partner aber einen unterschiedlichen Stellenwert eingenommen.616 Auf europäischer Seite habe dagegen die der PFLP‑SOG gewährte staatliche Unterstützung als Pull-Faktor für den Aufbau der Beziehungen gewirkt. Nicht nur die Sowjetunion, sondern auch der Südjemen sowie der Irak hätten die Orga­ nisation unter Wadi Haddad mit wertvollen Ressourcen versorgt. Diese, so Bacon, ließen die Palästinenser in den Augen anderer terroristischer Enti­ täten zu einem bevorzugten Partner avancieren. Das von der Regierung in Aden zugestandene Niederlassen im Südjemen (samt der dortigen Bewe­ gungsfreiheit) sowie die Ausbildung an und Ausstattung mit Waffen durch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) sollen es der Organisation erlaubt haben, Mitspielern einen Zufluchtsort zu verschaffen

611 612 613 614 615 616

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Vgl. ebd., S. 78, 89-90. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. ebd., S. 234, 311. Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 135-136. Vgl. ebd., S. 91, 135, 221-222, 231, 234-235.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

und Kenntnisse zu operativen Mitteln an die Hand zu geben.617 Aufbau­ end auf solchen Interaktionen und den daraus folgenden persönlichen Beziehungen sei es der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ möglich geworden, das Vertrauen anderer terroristischer Entitäten zu gewinnen.618 Die „Rote Armee Fraktion“ habe die Hilfe palästinensischer terroristi­ scher Akteure an zwei zentralen Punkten ihrer Geschichte in Anspruch genommen. Zu Beginn der 1970er Jahre, also kurz nach ihrer Gründung sei sie an die Fatah herangetreten, um deren Ausbildungslager besuchen zu können. Die Zweite Generation hätte während ihrer Kampagne zur Befreiung führender RAF-Mitglieder Verbindungen zur „Special Operati­ ons Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ geschmie­ det.619 Bacon zufolge entsprangen die Kontakte zur Fatah nicht so sehr der wahrnehmbaren ideologischen Sympathie, welche die „Rote Armee Fraktion“ für den gegen Israel geführten Kampf der Palästinenser hegte. Eine Zusammenarbeit befördert hätten vielmehr strukturelle Bedürfnisse der „Roten Armee Fraktion“, die sie nicht selbst habe decken können. Im Anschluss an das Befreien Andreas Baaders im Mai 1970 sei die RAF einem erheblichen Fahndungsdruck ausgesetzt gewesen. Daneben habe es ihr an Waffen gefehlt. Um sich dem Zugriff westdeutscher Behörden entziehen und die eigenen operativen Fähigkeiten erweitern zu können, hätte sich die neu formierte Entität an einen Kontaktmann der „Palestine Liberati­ on Organization“ in Berlin gewandt. Wenig später seien Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ in zwei Gruppen nach Jordanien gereist, wo sich die Kooperation mit der Fatah rasch als konfliktreich erwiesen habe. Während die „Rote Armee Fraktion“ laut Bacon die Verpflegung im Lager monierte und überdies die Auffassung vertrat, die erlernten Fähigkeiten ließen nicht auf den avisierten städtisch geprägten Kampf in Westdeutsch­ land übertragen, missbilligte die Fatah das Verschwenden von Munition durch die RAF, den Wunsch der Deutschen nach geschlechterunabhängi­ ger Unterbringung ihrer Angehörigen und das despektierliche Verhalten Andreas Baaders. Im August 1970 sei die „Rote Armee Fraktion“ schließ­ lich nach Deutschland zurückgekehrt. Ihren Ursprung gehabt hätten die Differenzen der beiden Akteure auch im strategischen Kalkül der Fatah, so Bacon. Der palästinensischen Organisation sei es nicht primär darum gegangen, die deutschen Linksterroristen mit ernstzunehmenden Kennt­

617 Vgl. ebd., S. 94-95, 98. 618 Vgl. ebd., S. 137. 619 Vgl. ebd., S. 190-191.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

nissen zum Widerstandskampf zu versorgen. Für sie habe das Vermitteln und Vermarkten der eigenen, gegen den israelischen Staat gelenkten Ge­ walttaten im Vordergrund gestanden. Die Fatah habe Sympathie erzeugen und dem palästinensischen Kampf langfristig finanzielle Unterstützung sichern wollen.620 Nach den ernüchternden Erfahrungen des Jahres 1970 habe die RAF Kontakten zu Terroristen im Nahen Osten zunächst keine größere Bedeu­ tung zugemessen. Erst nach der Festnahme der Gründungsmitglieder im Jahre 1972 und der sich anschließenden Priorität ihrer Befreiung sollen sich die „Rote Armee Fraktion“ und palästinensische Terroristen erneut angenähert haben. Auslöser seien hier ebenfalls nicht ideologische Ver­ bundenheit, sondern ein auf Seiten der RAF identifizierter Ausbildungsbe­ darf sowie eine Nachfrage nach operativer Hilfe gewesen. Da die Fatah zu diesem Zeitpunkt einer Strategie des Verhandelns den Vorzug gegeben habe, soll deren Führung die RAF an die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ verwiesen haben. Dieser Empfehlung sei ein enger Austausch mit der PFLP-SOG gefolgt, deren Identität stärker mit dem Selbstbild der RAF übereingestimmt habe als jene der Fatah. Laut Bacon brachte die palästinensische Splitterorganisation Mitglieder der Zweiten Generati­ on in einem Trainingscamp im Südjemen unter. Dort hätten sich enge persönliche Beziehungen zwischen den Angehörigen der beiden Entitäten ergeben, gegenseitiges Vertrauen sei entstanden. Von den Palästinensern seien die Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ in die Techniken des „bewaffneten Kampfes“ eingewiesen worden.621 Ferner habe Wadi Haddad gemeinsam mit den anwesenden RAF-Aktivisten Pläne entwickelt, die auf das Freilassen der in der JVA Stuttgart‑Stammheim einsitzenden Mit­ glieder der „Roten Armee Fraktion“ und deren Flucht in den Südjemen zielten. Mit Haddad vereinbart worden wäre zudem die Summe an Löse­ geld, welche im Wege der geplanten Festsetzung Hanns Martin Schleyers verlangt werden und später in Teilen an die Palästinenser gehen sollte.622 Als die Pläne im Jahre 1977 in die Tat umgesetzt wurden, der Bundesre­ gierung jedoch keinerlei Zugeständnisse abrangen, habe die PFLP‑SOG eine ergänzende Aktion vorgeschlagen. Diese sollte, so Bacon, den Druck auf die Bundesrepublik Deutschland erhöhen. Gegipfelt sei das Angebot der Palästinenser in dem erfolglosen Entführen einer Passagiermaschine der „Lufthansa“. Mit dieser Maßnahme habe man – neben der Freiheit

620 Vgl. ebd., S. 202-204, 230-231. 621 Vgl. ebd., S. 210-211, 236. 622 Vgl. ebd., S. 213-214.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

der RAF‑Gründungsmitglieder – ein höheres Lösegeld sowie die Haftent­ lassung von zwei Mitgliedern der PFLP-SOG erwirken wollen, die in der Türkei zum Tode verurteilt worden waren. Bacon sah den Grund für den Entschluss der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ zu dieser Kooperation mit der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ einerseits in finanziellen Aspekten. Andererseits – so ihre weiteren Ausführungen – sei die Intention Haddads maßgeblich gewesen, sich die mediale Aufmerksamkeit zu Nutze zu machen, welche die in Haft sitzenden RAF‑Mitglieder erregt hätten. In dem Befreien der Gründer der „Roten Armee Fraktion“ gesehen habe er die Gelegenheit, eigenes inhaftiertes Personal freizupressen sowie den Ansehensverlust aus­ zugleichen, den die 1976 im ugandischen Entebbe fehlgeschlagene Geisel­ nahme der PFLP-SOG eingebracht hatte.623 Das Scheitern der im Jahre 1977 von der RAF initiierten Kampagne hät­ te zu einer grundlegenden strategischen Neuausrichtung geführt, welche – Bacon zufolge – das Verhältnis zum palästinensischen Terrorismus – neben dem Tod Wadi Haddads im Jahre 1978 – nachhaltig beeinflusste. Fortan habe die „Rote Armee Fraktion“ selbst versucht, in Europa zu einem regionalen „Allianzknotenpunkt“ aufzusteigen. Der Schwerpunkt ihrer ideologischen Argumentation sei auf „imperialistische“ Strukturen in Westeuropa und deren Verflechtungen mit den Vereinigten Staaten gerückt. Hiermit habe die RAF eine Strategie verbunden, welche im Kern den Aufbau von Verbindungen zu europäischen und ethnisch-separatisti­ schen Terroristen beinhaltete. Die Situation im Nahen Osten sei der „Ro­ ten Armee Fraktion“ nicht verborgen geblieben, hätte das Handeln der Gruppe indes nicht mehr in einem Maße geprägt, wie dies während der 1970er Jahre Usus gewesen wäre.624 Weiterführend betonte Bacon die Beziehungen der „Bewegung 2. Ju­ ni“ und der „Revolutionären Zellen“ zu Wadi Haddads Organisation. Ob­ gleich beide Akteure die weltanschaulichen Positionen palästinensischer Terroristen grundsätzlich geteilt und folglich den Identitäten der Palästi­ nenser zumindest partiell entsprochen hätten, sei ihr jeweiliges Verhältnis von sehr unterschiedlicher Intensität gewesen.625 Bacon nahm an, die B2J – deren Mitglieder bereits im Jahre 1969 in den Nahen Osten gereist und dort trainiert worden wären – habe während der Entführung des CDU‑Politikers Peter Lorenz im Jahre 1975 die Hilfe der PFLP-SOG in

623 Vgl. ebd., S. 215-217. 624 Vgl. ebd., S. 220-221. 625 Vgl. ebd., S. 236-237.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

Anspruch genommen. Gemündet sei die Aktion in der Freiheit mehrerer inhaftierter Linksterroristen, welche sodann in den Südjemen gereist wä­ ren. Dort hätten sie eine Kampfausbildung erhalten. In diesem Zeitraum seien der „Bewegung 2. Juni“ von der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ überdies finanzielle Mittel und Waffen zur Verfügung gestellt worden.626 Während es die B2J bei diesen losen Verbindungen belassen habe, avancierte der internationalisti­ sche Flügel der „Revolutionären Zellen“ laut Bacon zum engsten Verbün­ deten der PFLP-SOG. Durch Angriffe auf israelische und jüdische Ziele habe dieser Flügel ausdrücklich die Agenda der Palästinenser unterstützt beziehungsweise seine eigene Identität angepasst. Als Gegenleistung für das Teilnehmen an und Ausführen von Gewalttaten, die Wadi Haddad beauftragt habe (darunter: der versuchte Abschuss eines Flugzeugs in Paris und der Überfall auf die in Wien tagende OPEC sowie das Entführen einer Passagiermaschine im Jahre 1976), sei dem länderübergreifenden Teil der RZ finanzielle Unterstützung zugegangen627 und ein Rückzugs­ ort im Südjemen zugänglich gemacht worden. Allen voran der sichere Unterschlupf im Nahen Osten habe den internationalistischen Flügel dazu gebracht, ein umfassendes Bündnis mit der PFLP-SOG einzugehen. Da dieser – im Gegensatz zu der RAF und der B2J – dem Operationsraum Westdeutschland zugunsten einer grenzübergreifenden Agenda bewusst den Rücken gekehrt hätte, sei er fortwährend dem Zwang ausgesetzt gewesen, andernorts Zuflucht zu finden. Da die Gruppe eine derart ge­ wichtige Herausforderung nicht selbst habe bewältigen können, sei sie in erhebliche Abhängigkeit von den Palästinensern geraten. Außerdem sei sie gewillt gewesen, Wadi Haddad Personal zu überlassen. Bacon zufolge förderte dies die interne Kohärenz der „Revolutionären Zellen“, welche im Vergleich zum Zusammenhalt der „Roten Armee Fraktion“ wesentlich geringer ausgeprägt gewesen wäre.628 An die dem Kontaktspektrum der PFLP-SOG gewidmeten Kapitel ihrer Dissertation schlossen sich das Darstellen und Bewerten jener Verbindun­ gen an, die das Netzwerk „al Qaida“ unterhielt. Nicht nur untermauerte sie dabei ihre Hypothesen. Überdies gelang es ihr, Faktoren zu identifi­ zieren, die positiven Interaktionen im Terrorismus abträglich sind. Diese am Rande gewonnenen Einsichten bezogen sich auf Beziehungen mit länderübergreifendem Charakter sowie auf Relationen, die Staatsgrenzen

626 Vgl. ebd., S. 224. 627 Vgl. ebd., S. 225-228. 628 Vgl. ebd., S. 237-238.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

nicht überschritten. Zwischen der „Lashkar-e-Taiba“ und der „al Qaida“ sei es nicht zu einer intensiven Kooperation gekommen, so Bacon, weil die beiden Organisationen abweichende Haltungen zur saudi-arabischen und pakistanischen Regierung gepflegt hätten. Anders als die „al Qaida“ habe die „Lashkar-e-Taiba“ beide Staaten nicht als Feindbilder gesehen. Die Regierung Saudi-Arabiens sei in ihren Augen einer religiösen Autorität gleichgekommen. Pakistan hingegen wäre zu einem wertvollen Partner avanciert. Zur pakistanischen Armee und zum Geheimdienst habe die „Lashkar‑e‑Taiba“ umfassende Kontakte unterhalten. Laut Bacon konnte die LeT über diese Kanäle operative Bedürfnisse – etwa Finanzen, Ausbil­ dung und Rückzugsräume – abdecken. Der Organisation sei gestattet wor­ den, in Pakistan Trainingscamps einzurichten und dort Mitglieder unter Zuhilfenahme von Militärangehörigen zu trainieren. Dementsprechend habe sich der „Lashkar‑e‑Taiba“ nicht die Notwendigkeit gezeigt, an die „al Qaida“ mit der Absicht heranzutreten, positive Verbindungen zu schaf­ fen.629 Wesentlich konfliktreicher gestaltet haben soll sich das Verhältnis zwi­ schen jenen islamistisch‑terroristischen Kräften, die ab den 1970er Jahren in Ägypten aufgekommen wären. Wichtige Akteure des ägyptischen Jiha­ dismus seien die Organisationen „al Jihad“ und „al Jama'a al Islamiyya“ gewesen. Die zeitweise existierenden kooperativen Verflechtungen hätten sich aufgelöst, als Differenzen zu strategischen, organisatorischen und per­ sonellen Fragen emporstiegen.630 „Al Jihad“ habe einen Staatsstreich ange­ strebt, dem eine Infiltration des ägyptischen Militärs hätte vorausgehen sollen. Ab Anfang der 1990er Jahre sei dieses Konzept abgelöst worden von einem Revolutionsmodell, welches die Regierung Ägyptens mithil­ fe systematischer, gegen Staatsvertreter gerichteter Gewalt zu schwächen suchte. Die Strategie der „al Jama'a al Islamiyya“ habe demgegenüber vor­ gesehen, Anschlagskampagnen mit missionarischen Tätigkeiten zu kombi­ nieren. Das Vermitteln – vermeintlich – islamischer Werte und Regeln sei mit dem Ziel erfolgt, Sympathien innerhalb der ägyptischen Bevölkerung zu gewinnen und sie zum Sturz des Regimes zu führen. Die disparaten Paradigmen der beiden Organisationen kulminierten schließlich in unter­ schiedlicher Gewaltintensität. „Al Jihad“ habe zu Selbstmordanschlägen gegriffen und gleichzeitig den Entschluss der „al Jama'a al Islamiyya“ kriti­

629 Vgl. ebd., S. 677-678. 630 Vgl. ebd., S. 447, 450.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

siert, niedrigschwellige Angriffe auf zugängliche und sichtbare Opfergrup­ pen durchzuführen.631 Weitere Inkompatibilität sei hinsichtlich der aus den strategischen Prin­ zipien resultierenden organisatorischen Strukturen der Entitäten zu beob­ achten gewesen. Bei der Organisation „al Jihad“ habe es sich um einen elitären Personenzusammenschluss gehandelt, der in seiner Hochphase mit mehreren Hundert Mitgliedern ausschließlich im Verborgenen agiert hätte. Aus Gründen der Eigensicherheit seien die Angehörigen Zellen zugewiesen worden, unter denen keinerlei Austausch stattgefunden habe. Laut Bacon glich die „al Jama'a al Islamiyya“ dagegen aufgrund ihres dualen Aufbaus eher einer sozialen Bewegung. Die Leitung unter dem blinden „Scheich“ Omar Abdel Rahman hätte sich auf mehrere Zehntau­ send Anhänger sowie auf einen bewaffneten Arm stützen können. Sie sei daher nicht als rein konspirative Organisation aufgetreten.632 Ausgelöst habe das vergiftete Verhältnis zwischen den beiden ägyptischen Akteuren auch der Streit um die Führung des islamistischen Widerstands in Ägyp­ ten, der während der 1980er Jahre offen ausgetragen worden sei. Die ton­ angebenden Funktionäre des „al Jihad“ – darunter Aiman al Zawahiri – sollen argumentiert haben, Omar Abdel Rahman könne diese Funktion aufgrund seines fehlenden Sehsinns nicht übernehmen. Abdel Rahman habe seinerseits die Position vertreten, Inhaftierten müsse der Titel des „Emirs“ verwehrt bleiben. Dies hätte sich, so Bacon, unmittelbar gegen den „al Jihad“ gerichtet, verbüßte doch ein Großteil seiner Aktivisten Haft­ strafen.633 Im Schlussteil ihrer Dissertation zog Bacon die empirischen Befunde zum Bündnisverhalten der „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ und der „al Qaida“ zusammen. Sie lieferte eine eindeutige Antwort zu ihrer Forschungsfrage. Nicht bestätigt sah sie die Theorie, derzufolge sich terroristische Entitäten in erster Linie mit dem Ziel zusammenschlössen, ihre Widerstandskraft gegenüber einer sie gleichermaßen tangierenden Bedrohung zu erhöhen. Derartige Überlegun­ gen hätten allenfalls eine ohnehin bestehende, durch andere Faktoren hervorgerufene Bereitschaft zur Allianzbildung verstärkt.634 Vergleichbar argumentierte sie im Hinblick auf wissenschaftliche Annahmen zum Ein­ fluss ideologischer Solidarität. Wie der Fall der in den Vereinigten Staaten

631 632 633 634

164

Vgl. ebd., S. 456-458. Vgl. ebd., S. 459-460. Vgl. ebd., S. 451. Vgl. ebd., S. 742.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

von Amerika während der 1960er Jahre entstandenen „Weather Under­ ground Organization“ zeige, bildeten weltanschauliche Gemeinsamkeiten nicht den primären Auslöser eines Sich-Annäherns terroristischer Akteure. Obschon die amerikanische Gruppe den Kampf der Palästinenser wahrge­ nommen und diesen „Widerstand“ in eine auch von ihr als bedeutend empfundene globale revolutionäre Opposition gegen den „Imperialismus“ eingeordnet habe, sei ein Vernetzen mit einschlägigen Entitäten des Na­ hen Ostens unterblieben.635 Die zentrale Ursache terroristischer Interakti­ on liege vielmehr in operativen Bedürfnissen verborgen. Diese initiiere eine Partnersuche auf Basis kompatibler Identitäten: „The case studies demonstrated that the most prominent causal path­ way leading to alliance formation with a hub involved a group seeking a partner with shared identity characteristics, mainly a common ideol­ ogy, in order to fulfill organizational needs. Alliance hubs emerged as prominent alliance partners as a result of their ability and willingness to address others’ organizational needs. Hubs met many groups’ defi­ nition of an acceptable partner from an identity standpoint because they hailed from the prominent ideology of the time and propagated an enemy narrative that was salient and broad enough to encompass other groups’ narratives.”636 Operative Bedürfnisse hätten die „Japanische Rote Armee“ und die „Rote Armee Fraktion“ in die Arme palästinensischer Organisationen getrieben. Selbiges gelte für die GSPC sowie für die ägyptische Gruppe „al Jihad“ – beide hätten den Anschluss an das Netzwerk der „al Qaida“ gesucht.637 Die Bedürfnisse selbst seien Ausfluss verschiedener Konstellationen gewesen – darunter eine Gründungsphase, das Konsolidieren nach einer Krise und Veränderungen innerhalb der Umgebung terroristischer Akteure. Allen voran junge Entitäten und solche Kräfte des Terrorismus, deren Strukturen bedeutend geschwächt worden wären, neigen laut Bacon dazu, Bündnisse mit terroristischen „Allianzknotenpunkten“ anzustreben. Dies träfe jedoch nur dann zu, wenn die betroffenen Akteure außerstande seien, die auf­ gekommenen Defizite oder Probleme aus eigener Kraft zu beseitigen.638 Deutlich werde ein solcher Zusammenhang in den Fällen der WUO und der ägyptischen „al Jama'a al Islamiyya“. Wären die Mitglieder der

635 636 637 638

Vgl. ebd., S. 744. Ebd., S. 724. Vgl. ebd., S. 726. Vgl. ebd., S. 727-728.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

„Weather Underground Organization“ im Jahre 1970 nach der versehent­ lichen Sprengstoffexplosion in einer ihrer konspirativen Unterkünfte in New York gezwungen gewesen, zum Schutz vor sicherheitsbehördlicher Verfolgung in den Untergrund zu gehen,639 hätte die Aktionsfähigkeit der „al Jama'a al Islamiyya“ infolge der Festnahme führender Mitglieder während der 1990er Jahre sukzessive abgenommen. Anders als die RAF – deren Gründungsmitglieder im Anschluss an das Befreien Andreas Baaders im Mai 1970 ebenfalls abgetaucht seien – habe sich die WUO gegen ein Verschärfen ihrer Gewalttaten entschieden. Stattdessen sei einer ressour­ censchonenden Strategie der Vorzug gegeben worden, welche sich auf Anschläge gegen Objekte beschränkt hätte.640 Im Gegensatz zu der mit ihr konkurrierenden Gruppe „al Jihad“ habe die „al Jama'a al Islamiyya“ aus der Situation der Schwäche die Notwendigkeit abgeleitet, der Gewalt gänz­ lich abzuschwören.641 Demnach hätten beide Akteure auf einschneidende Erlebnisse adaptiv reagiert. Auf Basis eigener Ressourcen und Möglichkei­ ten habe ein Sich-Anpassen gewährleistet werden können – die Hilfe eines Bündnispartners beziehungsweise „Allianzknotenpunktes“ sei nicht erfor­ derlich gewesen. Dies stelle den wesentlichen Grund für die fehlenden Kontakte der „Weather Underground Organization“ zur PFLP-SOG und der „al Jama'a al Islamiyya“ zur „al Qaida“ dar.642 Laut Bacon zeigten die herangezogenen Fälle in einer Gesamtschau zudem Folgendes: Sofern eine terroristische Entität operative Bedürfnisse aufweise, hielte sie nach Partnern Ausschau, welche ihrer Identität entsprä­ chen. Identität löse für sich genommen nicht eine Allianz aus. Sie vermöge ausschließlich – wie von Bacon eingangs vermutet – unterstützend zu wirken. Identität lege den Blickwinkel fest, unter dem die Auswahl proba­ ter Mitspieler erfolge. Innerhalb der untersuchten Fallgruppen seien die Identitäten der Akteure insofern kongruent gewesen, als sie sich densel­ ben ideologischen Lagern zuordneten und oftmals vergleichbaren Feind­ bildern anhingen. Eine Ähnlichkeit etwaiger ethnischer Attribute habe lediglich in der Zusammenarbeit der „al Qaida“ mit anderen jihadistischen Entitäten eine nennenswerte Rolle gespielt, nicht hingegen im Netzwerk der PFLP‑SOG.643 Derartige Überlappungen hätten – in Kombination mit dem Ansehen der „Allianzknotenpunkte“, ihrer Bereitwilligkeit zur

639 640 641 642 643

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Vgl. ebd., S. 249-250. Vgl. ebd., S. 250, 260. Vgl. ebd., S. 488-489. Vgl. ebd., S. 728-729. Vgl. ebd., S. 738-741.

3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

Kooperation und den daraus resultierenden persönlichen Beziehungen – Vertrauen zwischen terroristischen Akteuren entstehen lassen beziehungs­ weise auf beiden Seiten den Willen geschaffen, Vertrauen aufzubauen.644 Die Dauer einer positiven Relation zwischen Akteuren des Terrorismus koppelte Bacon an die Fähigkeit der Partner, ihren jeweiligen Bedürfnis­ sen Rechnung zu tragen. Bestimmend sei darüber hinaus die Art und Weise der existierenden Ansprüche. Ein dritter Parameter finde sich in dem Willen, eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Kurzweilige Bezie­ hungen zwischen einer Entität und einem „Allianzknotenpunkt“ basier­ ten insbesondere auf der Weitergabe von Kenntnissen und finanziellen wie materiellen Nachfragen. Langfristige Interaktionen würden vor allem dann auftreten, wenn ein Partner auf den Rückzugsort oder den operati­ ven Rat eines anderen angewiesen sei. Mit vergleichender Perspektive unterstrich Bacon abschließend die Be­ sonderheiten der von ihr beleuchteten „Allianzknotenpunkte“. Sowohl die „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ als auch die „al Qaida“ hätten – begehrte Hilfsleistungen offeriert, – ideologische Inhalte propagiert, welche im politisch links verorteten beziehungsweise im islamistisch motivierten Terrorismus hervorsta­ chen, – weitläufige Feindbilder gewählt, die sich mit den Opfergruppen zahl­ reicher anderer terroristischer Entitäten überschnitten, – vermittels anspruchsvoller, aufsehenerregender Anschläge ihre Aktions­ fähigkeit unter Beweis gestellt und sich in terroristischen Kreisen Be­ kanntheit erarbeitet, – den Wunsch und die Bereitschaft kundgetan, Partner zu unterhalten, sowie – anderen Akteuren mithilfe staatlicher Unterstützung und daraus fol­ genden Zufluchtsmöglichkeiten die Kontaktaufnahme sowie den Zu­ gang zu ihren Strukturen erlaubt.645 Beide Organisationen charakterisiere eine dezidiert internationalistisch ge­ haltene Ideologie, die Defizite auf internationale politische Entwicklungen zurückführe und länderübergreifende Lösungen anbiete.646 In eine derart

644 Vgl. ebd., S. 724. 645 Vgl. ebd., S. 746-747. 646 Vgl. ebd., S. 749-750.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

global ausgerichtete Agenda habe die „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“ Partner mit dem Ziel eingebunden, ihre operativen Möglichkeiten zu erweitern. Von „al Qaida“ hingegen sei­ en andere terroristische Akteure in Anspruch genommen worden, um den selbst formulierten Botschaften Geltung verschaffen zu können. Als förder­ lich hätten sich beiden die jeweils umfassenden Kontakte zu diversen Re­ gierungen erwiesen: Bacon zufolge stillten Staaten nicht nur deren Bedürf­ nisse, sie ließen die PFLP-SOG und die AQ auch zu quasi‑staatlichen Spon­ soren werden. Erfreuen können habe sich die PFLP-SOG im Südjemen, im Libanon, in Jordanien sowie im Irak großer Aktionsfreiheit – diese sei wie­ derum (potentiellen) Mitspielern zugutegekommen. „Al Qaida“ wären gleichgelagerte Privilegien im Sudan und in Afghanistan eingeräumt wor­ den. In diesen Staaten habe sie jihadistischen Gefährten Unterschlupf und Ausbildung bieten können.647 Aus den Unterbringungsmöglichkeiten und Trainingsstätten habe sich allerdings nicht bloß eine erhöhte Attraktivität der PFLP-SOG und der „al Qaida“ ergeben. Den tonangebenden Aktivis­ ten erlaubten sie laut Bacon zudem persönliche Interaktionen mit Mitglie­ dern anderer terroristischer Akteure. Entlang dieser Interaktionen hätten Wadi Haddad und Osama bin Laden die Verlässlichkeit ihrer Gäste ein­ schätzen können. Die Infrastruktur ihrer Organisationen habe folglich die Umgebung geschaffen, in der Vertrauen als elementare Basis terroristi­ schen Zusammenwirkens entstand wäre.648 3.1.4 Bedingungsfaktoren nach Vivian Hagerty Vivian Hagerty widmete sich in ihrem 2016 veröffentlichten Artikel „Ter­ rorist Divorce: Examining Alliance Break-Ups and the Al Qaeda/ISIL Split“ der Genese adversativer Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren. Sie zählt damit – neben Brian Phillips – zu den wenigen Wissenschaftlern, die sich detaillierter mit den Bedingungsfaktoren negativer Interaktion im Terrorismus befassten. Wie bereits der Titel ihres Aufsatzes verriet, näher­ te sie sich diesem Phänomen unter einem bislang einzigartigen Gesichts­ punkt. Als Ausgangspunkt wählte sie nicht adversative Verhältnisse im Allgemeinen, sondern Konstellationen, in denen eine positive Verbindung

647 Vgl. ebd., S. 747-748. 648 Vgl. ebd., S. 751.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

zunächst in einen latenten Konflikt, im weiteren Verlauf schließlich in eine manifeste Gegnerschaft umschlägt.649 In ihrer Arbeit legte Hagerty ein theoretisches Fundament, das sich auf Literatur zu terroristischen Beziehungen sowie auf Untersuchungen zum Abspalten und Abstoßen in der Wirtschaft stützte. Um die individuelle Ebene terroristischer Trennung nachzeichnen zu können, fügte sie einzel­ ne Erkenntnisse aus Studien hinzu, welche Scheidungen zwischen Perso­ nen zum Gegenstand hatten.650 Aufbauend auf den drei Forschungsfeldern abstrahierte sie insgesamt vier Kriterien, die Brüche in terroristischen Rela­ tionen auslösen könnten – den Grad des strategischen Übereinstimmens, das Erfüllen von Bedürfnissen, Vertrauen und Kommunikation. 1. Kongruenzen bei strategischen Fragen spielten für die Erfolgsaussich­ ten zwischenmenschlicher, wirtschaftlicher und terroristischer Bezie­ hungen eine entscheidende Rolle. In der Wirtschaft zielten solche Fra­ gen auf Profitquoten, das Erschließen neuer Märkte, die Produktion neuer Güter und auf Zukunftsvisionen. Beziehungen zwischen Perso­ nen beinhalteten den Aspekt der Heirat, das Zeugen von Nachwuchs, das Festlegen des Wohnortes und des Lebensstils. Im Terrorismus hin­ gegen schließe Strategie unter anderem ideologische Positionen, die Auswahl der Opfergruppen, taktische Erwägungen sowie Erwartungen zu einer langfristigen Partnerschaft ein.651 2. Das wechselseitige Erfüllen von Ansprüchen bilde eine wichtige Kom­ ponente von Allianzen. Könnten diese Ansprüche nicht erfüllt werden, sei eine Spaltung möglich. Wirtschaftliche Trennungen basierten auf der fehlenden Möglichkeit, finanzielles Einsparen und Profitquoten zu erreichen. Hinsichtlich zwischenmenschlicher Relationen ließe sich exemplarisch eine Dissonanz annehmen, welche aus berufsbedingten Ortswechseln der Partner erwachse. Das Scheitern terroristischer Ver­ bindungen werde denkbar, sofern sich – beispielsweise – Ausbildungs­ angebote eines Akteurs als ineffektiv erwiesen hätten. Hierbei nahm Hagerty unmittelbar Bezug auf die oben dargelegte Theorie Tricia Bacons, derzufolge Allianzen im Terrorismus primär auf operative Be­ dürfnisse zurückgingen, die nicht mit eigenen Mitteln zu beseitigen seien.652

649 650 651 652

Vgl. Hagerty 2016, S. 1-2. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 8-9. Vgl. ebd., S. 9.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

3. In allen Beziehungsarten stelle Vertrauen einen weiteren Schlüssel zum Erfolg dar. Zwischen den Beteiligten ökonomischer Bündnisse entstehe Vertrauen durch einen Kreislauf, welcher die Schritte Verhandlung, Interaktion, Verpflichtung und Ausführung umfasse. Vertrauen wer­ de überdies geschaffen durch gegenseitiges Einbinden in programmati­ sche Arbeit, Hierarchien und Manöverkritik. Derartige Prozesse setzten ein positives Urteil zur Vertrauenswürdigkeit eines Partners voraus, was terroristische Akteure regelmäßig vor Herausforderungen stelle. Aufgrund ihres abgeschotteten, klandestinen Charakters und des damit einhergehenden Mangels an Informationen falle es schwerer, einen po­ tentiellen Mitspieler im Vorfeld einer Kooperation als vertrauenswür­ dig einzustufen.653 4. Hinter effektiver Kommunikation verberge sich der vierte Bedingungs­ faktor terroristischer Allianzen. Nicht nur in der Beziehung von Un­ ternehmen, sondern auch in zwischenmenschlichen Verhältnissen ru­ fe ein defizitärer Austausch Brüche hervor. Selbiges müsse für Rela­ tionen im Terrorismus vermutet werden. Ein Zusammenschluss zwi­ schen terroristischen Entitäten könne scheitern, wenn beispielsweise ein gemeinsam genutzter Rückzugsort samt seiner Möglichkeiten zur intensiven Interaktion und Kommunikation unbrauchbar werde. Mit Blick auf Akteure, die in unterschiedlichen Aktionsräumen präsent wären, könne als Folge eines mangelhaften Sich-Verständigens und unzureichender Berichterstattung ungewiss bleiben, ob unerwünschte operative Ergebnisse eines Partners Ausfluss fehlender Ressourcen oder Resultat missachteter Absprachen sind. In solchen Beziehungen fehlten schlicht wertvolle Kontrollmechanismen, die den Bestand der terroris­ tischen Interaktion dauerhaft sichern könnten.654 Die Anwendbarkeit ihrer Hypothesen wies Hagerty mithilfe der Relation zwischen „al Qaida“ und dem „Islamischen Staat“ beziehungsweise dessen Vorgängerorganisationen nach. Die Beziehung beurteilte sie auf Grundla­ ge von zwei Phasen, welche sie nach den jeweils leitenden Aktivisten der involvierten Kräfte als „Bin Laden/al Zarqawi-“ und „al Zawahiri/Baghda­ di-Ära“ benannte. Die erste Phase reichte von 2003 bis 2006, die zweite von 2011 bis 2014. Am Beginn der „Bin Laden/Zarqawi‑Ära“ stehe der Sturz des irakischen Regimes unter Saddam Hussein durch eine von den Vereinigten Staaten von Amerika geführte Koalition. Vereint habe 653 Vgl. ebd., S. 9-10. 654 Vgl. ebd., S. 10.

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3.1 Darstellung identifizierter Bedingungsfaktoren

dieser militärische Einsatz die unterschiedlichen strategischen Ziele der „al Qaida“ Osama bin Ladens und der Abu Musab al Zarqawi folgenden „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“. Mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen in den Irak hätte sich Bin Laden eine Gelegenheit zum Kampf gegen den „Westen“, ergo den „fernen Feind“ ergeben. Von Zawahiri hingegen sei die auf Geheiß der Koalitionskräfte eingesetzte neue irakische Regierung als Ausgangspunkt der ersehnten Gewalt gegen den „nahen Feind“ begriffen worden. Im Jahre 2004 wären die Schnittmengen schließ­ lich im Treueschwur al Zarqawis gegenüber Bin Laden und dem Umbe­ nennen der „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ in „al Qaida im Irak“ (AQI) kulminiert.655 Wenig später habe al Zarqawi zwei neue Taktiken als Abgrenzungs­ merkmale seiner Organisation etabliert. Zum einen seien Aktionen der AQI gefilmt, zu propagandistischen Zwecken im Internet eingestellt und an den Fernsehsender „al Jazeera“ geschickt worden. Zum anderen habe die Entität auf das Enthaupten entführter westlicher Staatsangehöriger gesetzt. Laut Hagerty erregte „al Qaida im Irak“ darüber hinaus Aufmerk­ samkeit durch eine terroristische Kampagne, welche sich dezidiert gegen Schiiten richtete. Neben dem Verlust öffentlicher Sympathien im Irak ha­ be das Vorgehen al Zarqawis die Kritik der „al Qaida“ nach sich gezogen: Deren Führung sei im Jahre 2005 zu dem Entschluss gelangt, einen mah­ nenden Brief an die Organisation im Irak senden zu müssen. Im Schreiben verurteilt worden wären das Hinrichten von Geiseln sowie das wahllose Töten schiitischer Glaubensanhänger. Beides habe „al Qaida“ als schwer vermittelbar begriffen. Berücksichtigt worden sei dieser Rat erst nach dem Tod al Zarqawis im Jahre 2006, als dessen Nachfolger die Brutalität der Anschläge reduzierten.656 Im Jahre 2010 habe schließlich Abu Bakr al Baghdadi das Führen der nunmehr „Islamischer Staat im Irak“ genannten Organisation über­ nommen. Dem ISI hätte zu diesem Zeitpunkt die Bedeutungslosigkeit gedroht. Hagerty zufolge fehlten Rückzugsorte im Irak – und mit ihnen die benötigte Bewegungs- und Aktionsfreiheit. Der aufkommende syrische Bürgerkrieg sei von al Baghdadi als Chance begriffen worden, um die einstige operative Kraft des „Islamischen Staats im Irak“ wiederzuerlangen. Abu Muhammad al Jaulani habe er 2011 mit dem Auftrag nach Syrien entsandt, die dortige Situation zu erkunden und Kontakte zu knüpfen. Al Jaulani sei es gelungen, mit der „Jabhat al Nusra“ eine eigene Gruppe 655 Vgl. ebd., S. 11. 656 Vgl. ebd., S. 12.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

aufzubauen, deren strategische Paradigmen sich grundsätzlich von denen des ISI unterschieden hätten. Während al Baghdadi seiner Organisation einen Aktionsraum im Grenzgebiet zwischen dem Irak und Syrien habe sichern wollen, wäre es al Jaulani in erster Linie um das Verankern in der syrischen Opposition sowie um den Kampf gegen die Herrschaft Baschar al Assads gegangen. Da al Baghdadi seine Befehlsgewalt über den syrischen Ableger laut Hagerty zunehmend als kompromittiert erachtete, drängte er al Jaulani dazu, die Zugehörigkeit der JaN zum ISI öffentlich zu machen. Al Jaulani sei der – in Briefen und einem persönlichen Treffen ausgespro­ chenen – Aufforderung jedoch nicht nachgekommen. Daraufhin habe al Baghdadi im Jahre 2014 eigenständig das „Kalifat“ des „Islamischen Staates im Irak und in Syrien“ proklamiert und sich selbst zum „Kalifen“ erkoren. Von al Jaulani wäre dieser Schritt verurteilt worden. Er hätte seine Treue zu „al Qaida“ bekundet. Einige Monate danach habe al Zawahiri öffentlich dazu aufgerufen, den ISIS auflösen. Dies wiederum sei im Widerstand Abu Bakr al Baghdadis gemündet. Laut Hagerty brachte „al Qaida“ derarti­ ges Gebaren zu der Entscheidung, die Verbindungen zum ISIS endgültig abzubrechen.657 Das Scheitern der Allianz führte Hagerty bilanzierend auf die folgenden Faktoren zurück, die ihre Hypothesen bestätigten: 1. Bereits in den Anfängen sei die strategische Kohäsion der beiden Part­ ner gering ausgeprägt gewesen. Habe „al Qaida“ den Kampf gegen den „fernen Feind“ als maßgeblich empfunden, hätte al Zarqawi der fundamentalen Opposition gegen die Regierung im Irak die größte Notwendigkeit zugeschrieben. Überaus different wären zudem die Po­ sitionen gegenüber anderen Glaubensrichtungen des Islam gewesen. Hagerty zufolge entwickelte sich vor allem Gewalt gegen Schiiten zu einem prägenden Merkmal der AQI und des ISIS, was der Führung der „al Qaida“ mit Verweis auf die geringe Akzeptanz dieser Taktik in der islamischen Welt missfiel.658 2. Der Anschluss der „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ an die „al Qaida“ sei für beide Akteure gewinnbringend gewesen. Indem al Zar­ qawi seine Organisation nach der geschwächten „al Qaida“ benannte, habe er von deren Reputation in islamistisch‑terroristischen Kreisen profitieren können. „Al Qaida“ hingegen hätte ob der Schlagkraft der AQI ihre globale Relevanz aufrechterhalten können, die infolge der 657 Vgl. ebd., S. 13-14. 658 Vgl. ebd., S. 14-15.

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3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

amerikanischen Invasion im Jahre 2003 in Afghanistan zu schwinden gedroht habe.659 Dieser Profit löste sich laut Hagerty endgültig auf, nachdem der „Islamische Staat im Irak und in Syrien“ zu der Brutalität al Zarqawis zurückkehrte. Die Strategie al Baghdadis habe „al Qaida“ in Misskredit gebracht und deren Bedürfnisse demnach nicht mehr er­ füllt. Als al Baghdadi der „al Qaida“ mit seinem „Kalifat“ weitere Pro­ bleme bereitete, sei der Zusammenbruch der Kooperation unausweich­ lich geworden.660 3. Bin Laden soll zu al Zarqawi größeres Vertrauen gehabt haben als zu Abu Bakr al Baghdadi. Al Baghdadi sei dem Anführer „al Qaidas“ weit­ gehend unbekannt gewesen, weshalb bin Laden diesen mit Misstrauen beäugt hätte.661 4. Wie Nachrichten nahelegten, die von Osama bin Laden etwa eine Wo­ che vor seinem Tod verschickt worden wären, sei die Kommunikation zwischen „al Qaida“ und dem ISIS im Jahre 2011 zum Erliegen gekom­ men. Bin Laden selbst habe die Spärlichkeit des Austauschs beklagt.662 Wer Hagerty folgt, begreift das Scheitern des Bündnisses zwischen der „al Qaida“ und dem „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“ vor allem als Ausfluss eines abnehmenden Nutzens. Fehlendes Vertrauen und man­ gelhafte Verständigung hätten zwar ebenfalls einen Beitrag zur Spaltung geleistet, seien aber nicht gleichermaßen prägend gewesen.663 Hagerty untermauerte damit die von Bacon geformte Theorie, welche taktische Erwägungen als Grundlage assoziativer Beziehungen im Terrorismus sieht. 3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung 3.2.1 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu assoziativen Beziehungen Das vergleichende Betrachten der in den vorangegangenen Abschnitten dargelegten Erkenntnisse zu positiven Beziehungen terroristischer Akteure erbringt eine Ordnung, die Bedingungsfaktoren auf der Mikroebene und

659 660 661 662 663

Vgl. ebd., S. 15-16. Vgl. ebd., S. 17-18. Vgl. ebd., S. 16-17. Vgl. ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 17-18.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

solche auf der Mesoebene unterscheidet. Bei Letztgenannten stechen nicht nur diverse Überschneidungen hervor, sondern auch gravierende Unter­ schiede. Was den Einfluss anbelangt, den (leitende) Aktivisten des Terro­ rismus – also Parameter der Mikroebene – auf das Verhältnis zwischen Entitäten ausüben, so betonten Bacon und Hagerty die Rolle wechselseiti­ gen Vertrauens.664 Karmon dagegen hob übereinstimmende Ressentiments hervor, begrenzte diese Perspektive allerdings im Wesentlichen auf anti­ semitische Einstellungen.665 Anknüpfend an die unter 2.2.1 formulierte Kritik zur Nutzung der Variablen Vertrauen im Wege des Klassifizierens assoziativer Verhältnisse im Terrorismus begegnet der Autor dem Urteil Bacons und Hagertys insbesondere aus methodischen Gründen mit großer Skepsis. Hagerty lieferte keine Antwort auf die Fragen, was Vertrauen im Rah­ men ihrer Arbeit auszeichnete und wie genau das Bestehen und die In­ tensität von Vertrauen in einer Beziehung terroristischer Akteure gemes­ sen wurden. Bacon unterbreitete eine Begriffsbestimmung und erläuterte mögliche vertrauensfördernde Kriterien (zum Beispiel: unmittelbare Inter­ aktion der Formationen, Reputation der beteiligten Entitäten)666 – ihr Operationalisieren griff jedoch erkennbar zu kurz. Gänzlich unberücksich­ tigt ließ sie dabei die Innensicht terroristischer Aktivisten sowie etwaige Ansätze, die ein Rekonstruieren dieser Innensicht ermöglichen. Wie Ba­ con selbst betonte667 und andere Definitionen des Wortes beschrieben,668 handelt es sich bei Vertrauen um eine höchst subjektive Haltung von Individuen. Nach Ansicht des Autors kann die Qualität des Vertrauens – wenn überhaupt – nur auf der Basis authentischer Einblicke in das Auftre­ ten und Kommunizieren derjenigen seriös nachgewiesen werden, welche sie aufbau(t)en und pfleg(t)en. Im Falle terroristischer Akteure und ihrer Verbindungen zu Gleichgesinnten müssten vor allem ungefilterte Infor­ mationen zu dem internen Blick auf den jeweiligen Partner (etwa aus frei­ gegebenen Auszügen sicherheitsbehördlich abgefangener Interna) sowie – ergänzend – Zeugenaussagen oder Selbstzeugnisse etwaiger Mitglieder her­ angezogen werden. Mithilfe solcher Materialien lässt sich einerseits eine verlässliche Aussage zur Existenz von Vertrauen zwischen einzelnen Akti­ visten unterschiedlicher Kräfte beziehungsweise zum Vertrauen zwischen

664 665 666 667 668

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Vgl. Bacon 2013, S. 63, 724; Hagerty 2016, S. 9-10, 16. Vgl. Karmon 2005, S. 46-49, 295-296. Vgl. Bacon 2013, S. 59-62. Vgl. ebd., S. 59. Vgl. Wiswede 2004, S. 594-595.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

ganzen Gruppen oder Organisationen treffen, andererseits der Stellenwert des Sich‑Vertrauens während der Genese und des Fortbestehens terroristi­ scher Beziehungen ermitteln. Ohne den Begriff des Vertrauens einem durchdringenden methodischen Einordnen und Bewerten ausgesetzt zu haben, zogen Bacon und Hager­ ty diesen empirischen Ansatz zwar hier und dort stillschweigend heran. Erwartungsgemäß stießen sie aber schnell an Grenzen. Der Grund: Primär­ quellen aus dem Innenleben des Terrorismus, die en detail persönliche Empfindsamkeiten, Einstellungen und den ungeschminkten direkten Aus­ tausch der Akteure freilegen, sind ob seiner staatlichen Bekämpfung und der daraus hervorgehenden Konspiration rar.669 Diese diffizile Quellenlage hatten auch Bacon und Hagerty in den einführenden Passagen ihrer Un­ tersuchungen beleuchtet.670 Vor allem Hagerty war sich des Informations­ defizits bewusst gewesen: „An important note to consider is the relative dearth of information regarding [terrorist] groups‘ and their leaders‘ intentions, as well as the decisions they make and the communication between them. […] [S]uch reliable information as may be available about large corpora­ tions or individual public figures is conspicuously absent.”671 Die hierin zum Ausdruck kommende grundsätzliche Problematik der Terrorismusforschung wurde in Bacons und Hagertys Arbeiten nirgends derart deutlich, wie in ihren Argumentationen zum Einfluss von Vertrau­ en. Schlussfolgerte Bacon im Schlussteil ihrer Dissertation ausführlich zu den in Bezug auf die Theorie des Bedrohungsgleichgewichts, auf Ideolo­ gie, Identität sowie auf operative Bedürfnisse aufgestellten Hypothesen,672 blieb sie einem extensiven Aufarbeiten der Rolle von Vertrauen in terroris­ tischen Relationen weitgehend schuldig. Detailliertere Angaben zu diesem Faktor fanden sich in der Analyse einzelner Fallbeispiele. Hierbei stützte sie jedoch Konklusionen zum Vertrauen allenfalls partiell auf Aussagen, die Mitglieder der berücksichtigten Entitäten zum Verhältnis ihrer Anfüh­ rer getroffen hatten. So führte sie beispielsweise Sichtweisen einzelner Mit­ glieder der PFLP‑SOG an, von denen expressis verbis ein vertrauensvoller Kontakt zur JRA und zur Zweiten Generation der RAF hervorgehoben

669 670 671 672

Ähnlich Karmon 2005, S. 49, 53. Vgl. Bacon 2013, S. 74. Hagerty 2016, S. 3. Vgl. Bacon 2013, S. 726-746.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

worden war.673 Wesentlich häufiger schloss Bacon vermittels außenwirksa­ mer – und folglich deutlich intensiver dokumentierter – Interaktionen zwischen terroristischen Formationen auf das Bestehen und den Grad von Vertrauen. Dies zeigte sich unter anderem674 in ihrer Bilanz zum Verhält­ nis der PFLP-SOG und der Zweiten Generation der „Roten Armee Frakti­ on“: „The two groups developed a significant degree of trust over the course of their relationship. The positive experience and interactions in Aden […] created a foundation of trust that lasted throughout the alliance. Haddad requested the RAF’s participation in an operation early in the relationship, which suggests that trust developed from an early point. […] In fact, the RAF trusted the PFLP-SOG so extensively that it shared numerous sensitive operational plans with its ally and even entrusted the PFLP-SOG to secure a location for its coveted leaders up­ on their release. Subsequent interaction, enabled by the PFLP-SOG’s havens in Iraq and Aden, perpetuated and reinforced organizationallevel trust.”675 Mit diesem Zuschnitt des Beweisführens substituierte Bacon individuelle Perspektiven beteiligter Terroristen durch Handlungen zwischen Entitä­ ten auf der Mesoebene, was kaum zu überzeugen vermag. Denn: Bloße Handlungen eröffnen unter dem Gesichtspunkt ihrer Ursachen einen Interpretationsspielraum, der sich keinesfalls auf Vertrauen reduziert. Er kann ebenso andere, maßgebliche Motivlagen – wie zum Beispiel Alterna­ tivlosigkeit oder Opportunismus – einschließen. Handlungen lassen sich lediglich als Näherungswert begreifen, der Vertrauen und dessen Qualität durchaus nahelegen, nicht aber zweifelsfrei beweisen kann. Bacons Ergeb­ nisse zur Bedeutung von Vertrauen blieben demnach mit großer Unsicher­ heit behaftet. Selbige Beobachtung gilt für Hagertys Arbeit, wobei deren explorativ gehaltener Charakter zu berücksichtigen ist. Obschon die Beziehungen zwischen der von Osama bin Laden geführten „al Qaida“ und Abu Mus­ ab al Zarqawis „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ eine der beiden zentralen Fälle darstellten, welche sie nach den Variablen strategische Ko­ häsion, Erfüllen operativer Bedürfnisse, Vertrauen und Kommunikation einordnete, ging Hagerty im analytischen Part ihres Artikels unter dem

673 Vgl. ebd., S. 169, 217. 674 Vgl. auch ebd., S. 182. 675 Ebd., S. 235-236.

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3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

Gesichtspunkt des Vertrauens nicht auf die persönliche Interaktion zwi­ schen Osama bin Laden und Abu Musab al Zarqawi ein. Das Verhältnis zwischen bin Laden beziehungsweise Aiman al Zawahiri und Abu Bakr al Baghdadi bedachte sie dagegen mit Ausführungen. Diese blieben aller­ dings kursorisch. Beim Bewerten des Vertrauens zwischen den drei ton­ angebenden Figuren stützte sich Hagerty gänzlich auf Aussagen anderer Wissenschaftler: Diese hatten Osama bin Laden Misstrauen gegenüber al Baghdadi attestiert und dabei auf das fehlende persönliche Kennverhältnis zwischen beiden verwiesen. Die an dieser Stelle eigentlich dringend not­ wendige Arbeit an Primärmaterialien – welche Hagerty andernorts leistete – unterblieb.676 Zusammenfassend ist zu sagen: Bacons und Hagertys Beiträgen kön­ nen keine verlässlichen Antworten auf die Frage entnommen werden, zwischen welchen Aktivisten unterschiedlicher terroristischer Entitäten in welchem Maße Vertrauen bestand und wie sich dieses Vertrauen im Einzelnen auf das positive Verhältnis auswirkte, das unter Gruppen und/ oder Organisationen existierte. Dass dieses Defizit durch weiterführendes Forschen zufriedenstellend beseitigt werden kann, ist angesichts der Ei­ genarten des Terrorismus und der sich an diese Besonderheiten anschlie­ ßenden Quellenproblematiken mehr als unwahrscheinlich. Der deutsche Linksterrorismus bietet sich hierzu jedenfalls (derzeit) nicht an. Wenn­ gleich zur „Roten Armee Fraktion“, zu den „Tupamaros Westberlin“/zur „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutionären Zellen“ eine ansehnliche Menge an Primärmaterialien besteht, umfassen sie selten Angaben, die minutiös auf direkte Verhältnisse zwischen Mitgliedern der Gruppen ein­ gehen und die aufeinander gerichteten, subjektiven Erwartungshaltungen der Aktivisten widerspiegeln. Vertrauen erlangt daher in dieser Arbeit nicht eine herausgehobene Rolle. Karmons Arbeit zur konstitutiven Wirkung rassistischer und antisemiti­ scher Einstellungen lenkender Terroristen leidet stellenweise unter densel­ ben methodischen Schwächen, wie sie Bacon und Hagerty beim Verifizie­ ren ihrer Hypothesen zum Vertrauen erkennen ließen. Allen voran das Verhältnis der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ zu palästinensischen Organisationen, welche dem Staat Israel dezidiert das Existenzrecht absprachen, begründete Karmon (mitunter) entlang eines auf individueller Ebene vertretenen Antisemitismus. Mit Blick auf den deutschen Linksterrorismus zog er hierbei das von Ulrike Meinhof im Jahre 1972 verfasste Traktat „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in 676 Vgl. Hagerty 2016, S. 16.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

München“ heran. Auch beleuchtete er die in Entebbe gescheiterte Flug­ zeugentführung, in deren Verlauf die RZ-Mitglieder Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann jüdische von nicht-jüdischen Geiseln separiert hatten. Aus der Agitation der RAF und der Geiselnahme der „Revolutionären Zellen“ leitete Karmon ab, Meinhof, Böse und Kuhlmann seien „anti‑se­ mitische Anführer“ („anti‑semitic leaders“677) gewesen. Gezielt hätten sie versucht, ihre „anti‑jüdischen Angriffe“ („anti‑jewish attacks“678) in ein ideologisches Gewand zu hüllen. Diese Einschätzung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen berücksichtigte sie eine äußerst limi­ tierte Zahl an Quellen, was ihrer Verlässlichkeit enge Grenze aufzwingt. Zum anderen zeigte sie eine inhaltliche Schärfe, die eine differenzierte Per­ spektive verdrängt. Karmons Bewertung impliziert, führende Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ hätten sich von einem geschlossen antisemitischen Weltbild leiten lassen. Wie wissen­ schaftliches Aufklären antisemitischer Potentiale des deutschen Linksterro­ rismus gezeigt hat, stellt sich die Situation mitnichten derart geradlinig dar. Am ehesten ist Antisemitismus – also eine „Feindschaft gegen Juden als Juden“679 – laut Wolfgang Kraushaar bei Ulrike Meinhof anzunehmen. Sie habe in ihrer im Jahre 1972 publizierten Schrift das Töten israelischer Sportler glorifiziert und im Dezember desselben Jahres während des Ge­ richtsprozesses gegen Horst Mahler die Schuld des deutschen Volkes am Holocaust durch folgende Aussage reduziert: „Mit der Vernichtung von sechs Millionen Juden wurde die Sehnsucht der Deutschen nach Freiheit von Geld und Ausbeutung selbst mit ermordet!“680 Eine solche Einschät­ zung sah Kraushaar als Umkehr der „Täter-Opfer-Relation im großen Maßstab“681. Zu leisten sei diese nur dann, wenn man „antisemitisch ein­ gestellt“682 sei. Kraushaars Sicht auf Wilfried Böse las sich anders. In der Flugzeugentführung von Entebbe erblickte er einen „Antisemitismus der Tat“683. Einen ideellen Antisemitismus konnte Kraushaar dem in Bamberg aufgewachsenen Linksterroristen dagegen nicht nachweisen. Armin PfahlTraughber formulierte eine ähnliche Einschätzung:

677 678 679 680 681 682 683

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Karmon 2005, S. 295. Ebd. Pfahl-Traughber 2012c, S. 148; Pfahl-Traughber 2019, S. 299. Ulrike Meinhof, zit. n. Kraushaar 2006d, S. 690. Ebd. Ebd., S. 694. Ebd., S. 693.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

„[Es] kann […] Aktionen von Linksextremisten geben, welche zwar nicht unter Berufung auf eine [antisemitische] Einstellung durchge­ führt werden, gleichwohl aber in der inneren Konsequenz einer sol­ chen Grundauffassung liegen.“684 Unabhängig von ihrem pauschalen Charakter stellt sich Karmons Schluss­ folgerung zur Funktion des Antisemitismus in assoziativer terroristischer Interaktion nicht unmittelbar als relevant für den Untersuchungsgegen­ stand dieser Arbeit dar. Im Linksterrorismus speist sich das Feindbild zu Israel und seinen Bürgern – anders als im Rechts- und im islamistischen Terrorismus – nicht aus einer tradierten biologistisch‑rassistischen oder religiösen Begründung, welche dezidiert darauf zielt, „eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder Vernichtung [von Juden] ideologisch zu rechtfertigen.“685 Linksextremistische und -terroristische Agitation ex­ trahierte und extrahiert die Legitimität eines Kampfes gegen Israel aus der Besatzungspolitik der israelischen Regierung und deren Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Gesehen wird Israel dabei allzu häufig als „Brückenkopf“ imperialistischer Kräfte, der im Nahen Osten Repression und Exploitation zum Zwecke der Profitakkumulation stütze. Hieraus leitet sich schließlich die Notwendigkeit ab, ihn sowohl propagandistisch als auch praktisch ins Visier zu nehmen.686 Diese im Ak­ tionsfeld des „Antizionismus“ verankerte Argumentation grenzt bisweilen im Duktus an antisemitische Ansichten.687 Fürderhin kann sie – wie oben erwähnt – in antisemitisch wirkenden Gewalthandlungen kulminieren. Antisemitismus zählt aber im Allgemeinen nicht zu den elementaren Be­ standteilen linksextremistischer beziehungsweise linksterroristischer Welt­ anschauungen, im Gegenteil: Deren Anhänger positionieren sich gegen antisemitische Ideologeme, welche sie als Merkmal ihrer politischen Ant­ agonisten im Rechtsextremismus ausmachen.688 Dementsprechend ist aus­ zuschließen, dass leitende Persönlichkeiten der RAF, der B2J und der RZ offensiv einen Antisemitismus teilten und zur Basis eines Sich-Annäherns ihrer Gruppen erhoben. Angesichts der erklärten linksextremistischen Gegnerschaft zu antisemi­ tischen Haltungen könnte er das Verhältnis der drei Akteure allerdings auf andere Weise beeinflusst haben. Die während der 1970er Jahre zu 684 685 686 687 688

Pfahl-Traughber 2012c, S. 156. Ebd., S. 148. Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 191. Vgl. Pfahl-Traughber 2012c, S. 155-156. Vgl. ebd., S. 155; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 377.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

beobachtende Solidarität und Kooperation mit palästinensischen Akteuren im Nahen Osten brachte die „Revolutionären Zellen“ zu der scheinbar uneingeschränkten Bereitschaft, an Anschlägen gegen israelische und jüdi­ sche Ziele mitzuwirken. Wie das ehemalige RZ‑Mitglied Hans‑Joachim Klein bereits Ende der 1970er Jahre öffentlich bekannt machte, soll Wil­ fried Böse – entgegen eigener politischer Bedenken und der Einwände Kleins – an Wadi Haddad den Vorschlag gerichtet haben, Simon Wiesen­ thal aufgrund seiner Kontakte zum israelischen Auslandsgeheimdienst zu ermorden. Böse habe sich hiervon das Sichern und Erweitern der Unter­ stützung erhofft, welche die „Revolutionären Zellen“ von der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ erhielt.689 Wenngleich Haddad den Plan befürwortet habe, kam er nicht zur Ausführung – ursächlich war wohl auch die Intervention des mit der PFLP-SOG und der internationalen RZ‑Fraktion kooperierenden Linkster­ roristen Ilich Ramírez Sánchez. Unmissverständlich hätte dieser zu verste­ hen gegeben, es sei „Wahnsinn, [Wiesenthal] erschießen zu wollen“690, schließlich wäre dieser ein „Anti-Nazi“691. Ebenfalls bekannt machte Klein im Jahre 1979 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Idee der „Re­ volutionären Zellen“, Anschläge auf Heinz Galinski und Ignaz Lipinski – ihres Zeichens Vorstandsmitglieder der jüdischen Gemeinden in West­ berlin beziehungsweise in Frankfurt am Main – zu verüben.692 Dahinter habe die Absicht gestanden, „Abu Hani [Kampfname Wadi Haddads] [zu] beweisen, dass unsere angeschlagene Truppe (nach Entebbe) nach wie vor steht“693. Angeblich versprachen sich die international auftretenden RZ zudem, im Anschluss an die Attentate „wieder selbstbewusster und energischer mit eigenen Forderungen bei ihm auftreten“694 zu können. Das Vorhaben kam ebenfalls nicht über das Stadium reiner Vorüberle­ gungen hinaus. Nicht nur zerbrach die internationalistische Gruppe in­ folge der personellen Schwäche, die mit dem Tod Wilfried Böses und Brigitte Kuhlmanns in Entebbe eingetreten war. Innerhalb der „Revolu­ tionären Zellen“ entbrannte außerdem eine kritische Diskussion um die antisemitische Dimension der Flugzeugentführung, die ebenso im deut­ schen Linksextremismus aufkam.695 Im Netzwerk der RZ etablierten sich 689 690 691 692 693 694 695

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Vgl. Klein/Libération 1978, S. 292; Klein 1979d, S. 79. Klein/Libération 1978, S. 292. Ebd. Vgl. zu dieser Episode auch Klein/Oey 2006, 1:55 Min.-2:30 Min. Vgl. Klein 1979d, S. 80. Ebd., S. 82. Ebd. Vgl. Wörle 2008b, S. 265; Pfahl-Traughber 2014a, S. 176.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

verschiedene Auffassungen dazu, wie mit der desaströsen Beziehung zu den Palästinensern umgegangen werden soll. Zwei Strömungen manifes­ tierten sich: Während die Mehrheit auf internationale Kontakte zukünftig verzichten wollte, maß eine Minderheit um Gerhard Albartus derartigen Verbindungen weiterhin eine bedeutende Rolle zu.696 Fraglich ist, ob sich die innerhalb der RZ sowie in linksextremistischen Umfeldern entzündete Kontroverse gleichermaßen in der „Roten Armee Fraktion“ und der „Be­ wegung 2. Juni“ fand beziehungsweise ob sie das Verhältnis zwischen den Gruppen nachteilig prägte. Möglicherweise empfanden die RAF und die B2J das extensive Vernetzen der RZ mit der PFLP-SOG sowie die daraus folgenden anti-israelischen Pläne und Gewalttaten als Verrat linksextremistischer Ideale. In beiden Gruppen könnten sich hierzu kritische Debatten ergeben haben, welche in der Entscheidung gipfelten, künftig auf ein Zusammenwirken mit den „Revo­ lutionären Zellen“ zu verzichten. Auf der Mesoebene diskutierten Karmon, Phillips und Bacon den Einfluss ideologischer Schnittmengen auf das Erwachsen positiver Rela­ tionen im Terrorismus. Bacon setzte in diesem Bereich dort an, wo Karmon und Phillips ihre Untersuchungen enden ließen. Beide hatten eine Abhängigkeit zwischen dem Bündnisverhalten terroristischer Entitä­ ten und ihrem jeweiligen weltanschaulichen Einschlag betont. Karmon und Phillips stimmten in der Einschätzung überein, konkrete politische Agenden verringerten, schwammige internationalistische Programmatiken hingegen erhöhten die Wahrscheinlichkeit eines Sich-Annäherns. Neigten ethnisch‑separatistische/nationalistische Terroristen seltener zu einer Zu­ sammenarbeit mit anderen Entitäten, seien anarchistisch/anarcho-kommu­ nistisch ausgerichtete Links- sowie religiös motivierte Terroristen häufiger mit Gleichgesinnten verbunden.697 Karmon hob darüber hinaus die gene­ relle Bedeutsamkeit der Ideologie für das Entstehen terroristischer Partner­ schaften hervor: „This research indicates that cooperation at all levels, and, by exten­ sion, the establishment of coalitions cannot take place without the existence of a minimal ideological common denominator.”698 Ob und inwiefern ideologische Kongruenzen nicht bloß als conditio sine qua non, sondern auch als eine Triebkraft zu verstehen sind, die terroristi­

696 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 27-29; Moreau/Lang 1996, S. 348; Dietrich 2009, S. 154. 697 Vgl. Karmon 2005, S. 288-289, 290-291; Phillips 2012, S. 20. 698 Karmon 2005, S. 287.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

sche Interaktion auslöst, beantworteten Karmon und Phillips unterschied­ lich. Karmon ging im Rahmen seiner an Walt angelehnten Theorie des Bedrohungsgleichgewichts davon aus, ähnliche oder gleichlautende Feind­ bilder würden Solidarität schaffen und Entitäten so zwangsläufig zusam­ menführen.699 Phillips gab zu verstehen, kaum eingegrenzte politische Positionen verringerten die Chancen auf einen strategischen, durch Ver­ handeln mit staatlichen Stellen erzielten Erfolg. Dies ließe Terroristen nur die Option uneingeschränkter Gewalt. Da ein größtmöglicher Schaden durch Gewalt am ehesten durch ein Zusammenwirken mit Gleichgesinn­ ten erreicht werden könne, schaffe diese Option wiederum den Anreiz zu einem Sich-Vernetzen.700 Zurecht hinterfragte Bacon den Stellenwert der Ideologie im Aufbau positiver Relationen zwischen terroristischen Akteuren. Einleuchtend und berechtigt war ihr Einwand, ideologisches Übereinstimmen finde sich im Terrorismus häufig, ginge aber nicht in jedem Fall mit einer Kooperation einher. Würde Ideologie – wie von Karmon betont – tatsächlich die größte Rolle im Entstehen assoziativer terroristischer Beziehungen haben, müss­ ten Bündnisse zwischen Akteuren des Terrorismus weitaus häufiger auftre­ ten, so Bacon.701 Sie übte damit unmittelbar Kritik an Karmons Theorie des Bedrohungsgleichgewichts, die bereits Phillips in seiner quantitativen Analyse zu Bedingungsfaktoren etwaiger Interaktion im Terrorismus nicht hatte validieren können.702 Als Alternative zu Karmon entwickelte Bacon einen Erklärungsansatz, welcher die Ursache terroristischer Zusammenar­ beit stärker in tatsächlichen als in perzipierten Bedrohungen sah: Quelle tatsächlicher Bedrohungen seien operative Bedürfnisse, die aus Schwäche­ phasen resultierten und nicht aus eigener Kraft beseitigt werden könn­ ten.703 Überdies erweiterte Bacon den von Karmon und Phillips herange­ zogenen Faktor der „Ideologie“. Sie führte den Parameter der „Identität“ ein, welcher neben weltanschaulichen Aspekten ethnische Charakteristika umfasste. „Identität“ wies sie eine unterstützende Funktion zu: Im Falle unüberwindbarer operativer Bedürfnisse lenke diese den Blick auf poten­ tiell kompatible Partner.704 Mit hohem empirischem Aufwand gelang es Bacon, diese spezifische Kombination als Bedingungsfaktor assoziativer

699 700 701 702 703 704

182

Vgl. ebd., S. 279. Vgl. Phillips 2012, S. 6-7. Vgl. Bacon 2013, S. 28-33. Vgl. Phillips 2012, S. 9-10, 18, 20. Vgl. Bacon 2013, S. 37-49. Vgl. ebd., S. 49-59.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

Beziehungen im Terrorismus nachzuweisen.705 Hagerty kam wenige Jahre später zu einem annähernd identischen Schluss: Unter den Gründen für das Auftreten terroristischer Bündnisse komme operativen Nachfragen das größte Gewicht zu.706 Bacons Modell soll daher in dieser Arbeit ebenfalls Orientierungspunkt sein, wobei die „Identität“ nicht vertiefend untersucht werden wird. Einge­ denk der unter Punkt 1.2 niedergelegten ideologischen Parallelen der „Ro­ ten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ kann diese hinsichtlich der Akteure des deutschen Linksterroris­ mus als gegeben gesehen werden. Ethnizität707 blieb im Selbstverständnis deutscher Linksterroristen außen vor. Aus der Übernahme der Ideen Ba­ cons ergibt sich folgende, mögliche Erklärung: Sofern es zwischen den Grup­ pen der westdeutschen „Stadtguerilla“ zu einer über bloße deklaratorische Akte hinausgehenden assoziativen Beziehung kam, war diese in erster Linie Ausfluss operativer Bedürfnisse, die interne oder externe Entwicklungen ausgelöst hatten. Ein Hinweis zur Anwendbarkeit dieser Erklärung im Falle der RAF, der B2J und der RZ ergibt sich aus Tobias Wunschiks 1997 veröffentlichter Dissertation, welche das Verhältnis zwischen der RAF und der B2J auf wenigen Seiten unter Zugrundelegen der damals begrenzt vorhandenen Primärquellen skizzierte. Das im Jahre 1980 abgeschlossene strukturelle Zusammenlegen der beiden Gruppen begründete er mit der desolaten Per­ sonalsituation der „Bewegung 2. Juni“. Infolge von Festnahmen und eines freiwilligen Ausstiegs mehrerer Mitglieder sei die B2J zu schwach gewesen, um ihren „bewaffneten Kampf“ eigenständig fortführen zu können. Für die RAF habe sich das Zusammengehen mit der „Bewegung 2. Juni“ in­ sofern angeboten, als sie sich finanziellen Problemen gegenübergesehen habe, die durch die umfangreichen Geldreserven der B2J hätten gelöst werden können.708 Gleichfalls auf der Mesoebene angesiedelt sind Hagertys Ergebnisse zu kongruenten strategischen Vorstellungen terroristischer Akteure. Beim Be­ leuchten der Verbindung zwischen der „al Qaida“ und der „al Qaida im Irak“ wies sie diesen Kongruenzen unterschwellig eine Funktion zu, wie Bacon sie bezüglich der Variable der „Identität“ konstatiert hatte. Mit dem Beginn des militärischen Einmarschs einer von den Vereinigten Staaten von Amerika geführten Koalition im Jahre 2003 in den Irak, so Hagerty,

705 706 707 708

Vgl. ebd., S. 726-741. Vgl. Hagerty 2016, S. 18. Vgl. Bacon 2013, S. 54-55. Vgl. Wunschik 1997, S. 385-386.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

wären die Strategien der AQ und der AQI kompatibel geworden. Dennoch seien die Organisationen erst im Oktober 2004 nach langen Verhandlun­ gen bereit gewesen, einen Zusammenschluss in die Tat umzusetzen.709 Auf beiden Seiten hätten operative Bedürfnisse den Schritt ausgelöst: Das Umbenennen der „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ in „al Qaida im Irak“ habe die „al Qaida“ vor der Bedeutungslosigkeit bewahrt, al Zarqawi hingegen zusätzliches Ansehen verschafft. Laut Hagerty versprach er sich hiervon personellen Zuwachs und eine Führungsrolle im sunnitischen Wi­ derstand im Irak.710 Schnittmengen zwischen den Strategien terroristischer Entitäten bildeten folglich den Grundstein, nicht aber den konkreten In­ itiator der Partnerschaft zwischen der AQ und AQI. Obschon Hagertys Argumentation nur auf einem Fallbeispiel fußte, erscheinen ihre Schluss­ folgerungen als brauchbarer Maßstab für den Vergleich der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“. Grund hierfür ist deren ausgeprägte Ähnlichkeit mit den fundierten Resultaten Tricia Bacons. Dies bedeutet: Überlappungen bei strategischen Ideen dürften eine Kooperation zwischen den drei Gruppen nicht ausgelöst haben. Derartigen Gemeinsamkeiten kam allenfalls eine selektie­ rende Funktion zu, die im Falle operativer Bedürfnisse die Partnerwahl steuerte. Abschließend sind Ausführungen in der Literatur zu diskutieren, welche Phillips unter den Oberbegriff der „opportunity factors“711 fasste. „Oppor­ tunity factors“ thematisierten alle vier oben vorgestellten Autoren – dies jedoch mit unterschiedlicher Intensität. Derartige Faktoren beziehen sich auf Rahmenbedingungen, die ein Verflechten im Terrorismus überhaupt erst möglich machen würden. Dazu zählen: die Verfügbarkeit potentieller Gefährten, die Sichtbarkeit einer Entität, verhältnismäßig geringe räumli­ che Distanz zwischen terroristischen Akteuren und die Möglichkeit des gemeinsamen Kommunizierens. Wie sichtbar Terroristen für potentielle Partner sind, könnte laut Phillips von der Menge ihrer Anschläge abhän­ gen. Seine Berechnungen stärkten die Hypothese, derzufolge Entitäten durch eine hohe Aktionsfähigkeit wahrnehmbarer und damit zum Anlauf­ punkt anderer terroristischer Akteure werden würden.712 Wer Bacon folgt, wird einen ähnlichen Wirkprozess bei staatlich unterstützten Akteuren be­ obachten können. Zumindest in den Fällen der von ihr als „alliance hubs“ klassifizierten PFLP‑SOG und AQ ließe sich beweisen, dass beide Orga­

709 710 711 712

184

Vgl. Hagerty 2016, S. 11. Vgl. ebd., S. 15-16. Phillips 2012, S. 8. Vgl. ebd., S. 18.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

nisationen aufgrund ihrer Nähe zu Staaten wertvolle Infrastruktur in Ge­ stalt von Rückzugsräumen und Ausbildungslagern erlangten, die ihnen Kooperationspartner gesichert hätten. Die Attraktivität der PFLP-SOG und der AQ sei daneben aus spektakulären Gewalthandlungen hervorgegan­ gen.713 Bacon unterstrich ferner die Relevanz geographischer Nähe: Gerin­ ge räumliche Distanz erhöhe die Wahrscheinlichkeit von Interaktionen, große Distanz vermindere diese.714 Karmon und Hagerty zufolge erfordert ein Zusammenwirken zudem Kommunikationskanäle715 beziehungsweise Wissen zu der Frage, wie die Kommunikation zu anderen Entitäten des Terrorismus aufgenommen werden kann. Diese Vorbedingung wirkt ba­ nal, erweise sich jedoch in der Praxis – so Karmon – rasch als erhebliche Hürde: „Technical difficulties, such as lack of communication channels or in­ termediaries for setting up initial contacts, greatly restricted the scope of contacts between the RAF and the BR, and between the BR and the Palestinians. Ties between Fatah and the BR were severed because the BR leader, who was virtually the only one to know of these ties, lost a scrap of paper bearing the contact telephone number.”716 Die nachfolgenden Passagen vernachlässigen weitgehend die „opportuni­ ty factors“. Was beim Erforschen länderübergreifender Verbindungen zunächst aufwändig zu klären ist, kann hinsichtlich der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ zügig beantwortet werden: Alle drei Gruppen entstanden aus den linksextremistischen Milieus Berlins, Frankfurt am Mains und Münchens; ihre Gründungsmitglieder hatten sich zum Teil vor dem Einstieg in den Terrorismus persönlich kennengelernt.717 Auch später wussten die Gruppen um die Existenz der jeweils anderen Entitäten. Wie sich internen Dokumenten und Selbstzeugnissen ihrer Mitglieder entnehmen ließ, wurden die Aktionen der RAF in den Reihen der B2J und der RZ wahrgenommen – und vice versa.718 Mithin sind die von Phillips

713 714 715 716 717 718

Vgl. Bacon 2013, S. 746-747. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. Hagerty 2016, S. 10, 16. Karmon 2005, S. 303. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592-593; Diewald-Kerkmann 2009, S. 32. Vgl. beispielhaft Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 239-241; Bakker Schut 1987, S. 304-307; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 173-178.

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und Bacon als essentiell erachteten Kriterien der Sichtbarkeit und geringen räumlichen Distanz erfüllt. Selbiges gilt nicht für den Gesichtspunkt der Kommunikation. Wie eine Gesamtschau der Primärmaterialien zum deutschen Linksterrorismus nahelegt, nahm die Frequenz der unmittelbaren Interaktion zwischen Mit­ gliedern der „Roten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ parallel zu den personellen Verlusten ab, die durch Festnahmen oder (Selbst‑)Tötungen eintraten. Während sich für die 1970er Jahre zahlreiche Nachweise zu persönlichen Kontakten unter den Aktivisten der Gruppen finden, sucht man derartige Begegnungen im Zeitraum nach dem Zerfall der „Bewegung 2. Juni“ im Jahre 1980 beziehungsweise nach dem Verhaften führender Mitglieder der Zweiten Generation der RAF im Jahre 1982 mit großer Mühe. Möglicherweise lässt sich dies anhand ausgebliebener Kommunikationskanäle zwischen der we­ nig später sich formierenden Dritten Generation und dem Netzwerk der „Revolutionären Zellen“ erklären. In der Dritten Generation der „Roten Armee Fraktion“ traten Personen zusammen, welche nicht bereits Teil der Ersten und/oder Zweiten Generation gewesen waren.719 Überdies in­ tensivierten sie die Klandestinität und das Abschotten der „Roten Armee Fraktion“, womit den deutschen Sicherheitsbehörden unklar blieb, welche Individuen ihr zuzurechnen waren.720 Beide Tatsachen deuten Folgendes an: Nach 1982 könnten Kennverhältnisse zwischen Angehörigen der RAF und der RZ sowie die mit diesen typischerweise einhergehende Chance des Sich‑Ver­ ständigens gefehlt haben – etwa als Ergebnis verschärfter Maßnahmen des Eigen­ schutzes. Ohne diese Verständigungslinie mangelte es an einem Boden, der über Solidaritätsbekundungen hinausreichende assoziative Beziehungen hätte erwach­ sen lassen können. 3.2.2 Diskussion identifizierter Bedingungsfaktoren zu adversativen Beziehungen Karmon, Phillips, Bacon und Hagerty lieferten – zumeist eher beiläufig – Begründungen zu adversativen Interaktionen terroristischer Akteure. Von diesen sollen nachfolgend – aufgrund der Fallauswahl der Arbeit – nur diejenigen aufgegriffen werden, die negative Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten desselben ideologischen Lagers berühren. Derartige 719 Vgl. ID-Verlag 1997, S. 421; Peters 2008, S. 676. 720 Vgl. Straßner 2003, S. 15-16, 84.

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3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

adversative Verhältnisse verknüpften die genannten Autoren stärker mit ideellen als mit praktischen Aspekten. Dabei überwogen Faktoren, welche auf der Mesoebene angesiedelt sind. Lediglich Bacon ging – dies indes sporadisch – auf den Einfluss individueller Komponenten ein. So schrieb sie im einleitenden Kapitel ihrer Dissertation zu den Hindernissen für assoziative Relationen im Terrorismus: „Terrorist leaders are often charismatic figures with an inflated sense of purpose and ambition. Cooperation and compromise between such personalities can be problematic, to say the least. Thus personality clashes masquerading as ideological or strategic differences can stymie alliances as well.”721 Mit Verweis auf die im Unterkapitel 3.2.1 angestoßene Diskussion zur pro­ blematischen Nachweisbarkeit individueller Haltungen und Einstellungen terroristischer Aktivisten verzichtet der Autor darauf, persönliche Animo­ sitäten zu einer tragenden Säule der nachfolgenden Ausführungen zu erheben. Sicherlich mögen derart subjektive Stimmungen Beziehungen zwischen terroristischen Entitäten beeinflussen. In welchem Maße dies geschieht und in welchem Verhältnis sie zu anderen prägenden Parame­ tern stehen, kann ob des grundlegenden Mangels an geeigneten Quellen oftmals kaum mit Sicherheit empirisch ermittelt werden. Dies gilt im Besonderen für die Untersuchungsgegenstände der Arbeit. Zwar finden sich Referenzen zu persönlichen Abneigungen, die Mitglieder der einen Gruppe gegenüber Aktivisten des anderen Zirkels hegten. Insgesamt sind diese aber rar gesät. Der Autor weist ihnen daher eine sekundäre Rolle zu, welche sich gleichermaßen in den Schilderungen von Friedhelm Neid­ hardt und Tobias Wunschik zur Beziehung zwischen der RAF und der B2J erblicken lässt. Beide Forscher erwähnten Feindschaften unter den Aktivisten der beiden Akteure, die grundsätzliche, in anderen Bereichen bestehende Differenzen ergänzt hätten.722 Unter den Gruppen- beziehungsweise Organisationsmerkmalen, die eine negative Interaktion terroristischer Entitäten auslösen und fördern können, nehmen laut Karmon, Phillips, Bacon und Hagerty programmati­ sche Unterschiede eine herausragende Stellung ein. Schlüssig, für diese Ar­ beit jedoch – aufgrund der in Unterkapitel 1.2 herausgestellten grundsätz­ lichen politischen Kongruenz der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ – nicht von Bedeutung sind Karmons Ergebnisse zu Unstimmigkeiten 721 Bacon 2013, S. 9. 722 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 322; Wunschik 1997, S. 384.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

in ideologischen Positionen und deren Einfluss auf die Zusammenarbeit terroristischer Akteure. Er ging dabei unter anderem auf das Verhältnis zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“ ein. Die Interaktion der RAF und der BR-PCC erschwert hätten differente Analysen zu politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa. Die „Rote Armee Fraktion“ habe ihr Augen­ merk vornehmlich auf ökonomische Missstände gelegt, die BR‑PCC dage­ gen auf den während der 1980er Jahre zunehmenden politischen Zusam­ menschluss europäischer Staaten. Aus ihrer jeweiligen inhaltlichen Argu­ mentation leiteten beide Akteure disparate Feindbilder ab, welche sie ihm Rahmen ihrer Strategie des „bewaffneten Kampfes“ attackierten.723 Aufmerksamkeit zukommen soll einer der anderen Aussagen Karmons, die er im Zuge des Ergründens internationaler Verflechtungen des Terroris­ mus traf. Sie stellte auf die differente Reichweite strategischer Vorhaben ab: Sofern linksterroristische Entitäten in erster Linie beabsichtigten, eine grundlegende Veränderung politischer Verhältnisse in ihrem Herkunfts­ land herbeizuführen, hätten sie grenzübergreifende Verbindungen ver­ nachlässigt.724 Wie Wunschiks Bericht zur Beziehung der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ darlegte, spielte der geographische Schwerpunkt der eigenen Strategie offenbar auch innerhalb der westdeut­ schen „Stadtguerilla“ eine Rolle: „[Die Erste und Zweite Generation der RAF] betrachteten sich […] als ein Teil der weltweiten Befreiungsbewegung, wohingegen die An­ gehörigen der Bewegung 2. Juni befanden, solch ‚abgehobene Begrün­ dungen‘ habe man nicht nötig – man wolle sich ‚selbst befreien‘. […] Räumlich war die Bewegung 2. Juni in hohem Maße auf das großstäd­ tische Berlin fixiert“.725 Dass derart disparate Auffassungen zum Wirkungsradius strategischer Prä­ missen regelrechte Kontroversen unter den Gruppen des deutschen Links­ terrorismus losgebrochen haben könnten, darf im Lichte der unter Punkt 3.2.1 thematisierten Auseinandersetzung in den Reihen der RZ angenom­ men werden: Wenn eine länderübergreifende Agenda schon den gefes­ tigten Zusammenhalt eines einzelnen Akteurs nachhaltig zu erschüttern vermochte, konnte sie dies ebenso im Verhältnis zwischen mehreren Enti­ täten leisten. Daraus folgt: Möglicherweise machten die B2J und – ab 1976 –

723 Vgl. Karmon 2005, S. 163. 724 Vgl. ebd., S. 289-290. 725 Wunschik 1997, S. 383-384.

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3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

die RZ der „Roten Armee Fraktion“ zum Vorwurf, sich zu sehr auf die Situation in europäischen und außer-europäischen Ländern zu konzentrieren und das Verändern politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland zu vernachlässigen. Weitere, auf der Mesoebene gelegene Faktoren, die adversative Bezie­ hungen terroristischer Akteure zu erklären vermögen, fanden sich in Ba­ cons Dissertation. Beiläufig arbeitete sie diese heraus, als sie die kooperati­ ven Verbindungen der „al Qaida“ zu jihadistischen Entitäten in Ägypten erläuterte. Die dort aktiven, in den 1970er beziehungsweise 1980er Jahren gegründeten Akteure „al Jama'a al Islamiyya“ und „al Jihad“ hätten sich, so Bacon, demselben ideologischen Lager zugerechnet.726 Indes wären sie infolge andauernder Differenzen um strategische und taktische Details nicht zu einer anhaltenden Zusammenarbeit gelangt. Konflikte seien aus ihren inkompatiblen Revolutionsmodellen erwachsen. Die „al Jama'a al Is­ lamiyya“ habe den Grundsatz verfolgt, den Sturz des ägyptischen Regimes durch das Mobilisieren signifikanter Teile der Bevölkerung sicherzustellen. Eingeleitet werden sollte dieser Prozess zum einen durch wiederholte, niedrigschwellige Anschläge, zum anderen durch agitatorische Arbeit. Das Prinzip des gewaltsamen Kampfes sei demnach kombiniert worden mit dem Versuch missionarischer Tätigkeit (der sogenannten Dawa), welche – vermeintlich – islamische Werte und Verhaltensregeln vermitteln sollte.727 Bacon zufolge verurteilte die Organisation „al Jihad“ dieses strategische Paradigma: „[Egyptian Islamic Jihad’s] founding goal was to precipitate the down­ fall of the Egyptian regime by launching a coup, after which it would install an Islamic theocracy. The group believed that the political sys­ tem in Egypt was fundamentally un-Islamic; therefore it did not seek reform through political participation and condemned those that did […]. […] It was, in many respects, a group that was distrustful of the masses.”728 Anfang der 1990er Jahre hätten sich die ohnehin bestehenden Friktionen weiter vertieft. „Al Jihad“ sei dazu übergegangen, Selbstmordattentate auf hochrangige Regierungsangehörige zu verüben. Dies habe in deutlichem Widerspruch zum Modus Operandi der „al Jama'a al Islamiyya“ gestan­ den, deren Mitglieder laut Bacon stärker dazu neigten, Anschläge mit

726 Vgl. Bacon 2013, S. 447. 727 Vgl. ebd., S. 456. 728 Ebd., S. 454.

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Schusswaffen durchzuführen. Bevorzugt angegriffen worden wären dabei leicht zugängliche und sichtbare Opfergruppen – etwa Polizeibehörden, das Militär, Touristen und religiöse Minderheiten. „Al Jihad“ habe ein derartiges Vorgehen nicht als zielführend begriffen. Begründet worden sei dieser Vorwurf mit der Annahme, die strategische Ausrichtung der „al Jama'a al Islamiyya“ provoziere lediglich das ägyptische Regime, ohne einen greifbaren politischen Erfolg zu erzielen.729 Wie Vivian Hagerty aufzeigte, sollte die Art und Weise des Gewaltan­ wendens die Verbindung der „al Qaida“ zur „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ und deren Nachfolgeorganisationen erheblich belasten, ja gar zum Zusammenbruch der Beziehung beitragen. Die von Abu Musab al Zarqawi gegründete und ab dem Jahre 2010 von Abu Bakr al Baghdadi ge­ lenkte Entität habe den Unmut der „al Qaida“ auf sich gezogen, indem sie das brutale Töten von Geiseln, das mediale Vermarkten solcher Gewaltta­ ten sowie den schrankenlosen Kampf gegen schiitische Glaubensangehöri­ ge zum festen Bestandteil ihrer Strategie emporhob.730 Aiman al Zawahiri hätte dieses Vorgehen als kontraproduktiv gegolten. In einem im Jahre 2005 an al Zarqawi gerichteten Brief soll er geschrieben haben: „Among the things which the feelings of the Muslim populace who love and sup­ port you will never find palatable […] are the scenes of slaughtering the hostages.”731 Zu den Anschlägen auf Schiiten und deren Heiligtümer habe al Zawahiri konstatiert: „My opinion is that this matter won’t be accept­ able to the Muslim populace however much you have tried to explain it, and aversion to this will continue.“732 Wer Friedhelm Neidhardt, Tobias Wunschik und Armin Pfahl-Traugh­ ber folgt, wird gleichgelagerten Kontroversen zu strategischen Entschei­ dungen einen Einfluss auf das Verhältnis zwischen den Entitäten des deut­ schen Linksterrorismus attestieren müssen. Im Zentrum der Uneinigkeit habe demnach der Modus Operandi gestanden, mit dem die „Rote Ar­ mee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ ihre politischen Botschaften an die von ihnen ausgewählten Adressaten heranzutragen versuchten.733 Kritik sei aus dem avantgardistischen Selbst­ verständnis der RAF erwachsen – sowie aus der hohen Gewaltintensität, welche sie auf ihrem Weg zu einer alternativen Staats- und Gesellschafts­

729 730 731 732 733

190

Vgl. ebd., S. 457-458. Vgl. Hagerty 2016, S. 12. Aiman al Zawahiri, zit. n. Hagerty 2016, S. 1. Aiman al Zawahiri, zit. n. ebd., S. 15. Vgl. Wunschik 1997, S. 383-384.

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

ordnung als gerechtfertigt sah. Sowohl die B2J als auch die RZ hätten „die systematische Ermordung von Menschen aufgrund der schlechten po­ litischen Vermittelbarkeit in Gesellschaft und Umfeld“734 mit Ablehnung aufgenommen. Pfahl‑Traughber unterstrich, beiden Gruppen sei es darum gegangen, Proteste innerhalb der deutschen Bevölkerung aufzugreifen und daraus Sympathien für die eigenen Vorstellungen zu generieren. Folglich hätten ihre gewaltsamen Handlungen nicht dieselbe Quantität und Quali­ tät erreicht, wie sie für die RAF üblich gewesen seien.735 Die „Rote Armee Fraktion“ habe den „folkloristisch eingefärbten Aktionsstil“736 der „Bewe­ gung 2. Juni“ sowie die Strategie der „Revolutionären Zellen“ ihrerseits als „Hedonismus und Spontaneität“737 abgetan. Fasst man diese Positionen zusammen, so lassen sich folgende Annah­ men in den Raum werfen: Die RAF, die TW/die B2J und die RZ entwickelten disparate Vorstellungen zur konkreten Form des von ihnen gleichermaßen for­ cierten „bewaffneten Kampfes“. Diese Unterschiede zogen Streitigkeiten und gegenseitiges Abwerten nach sich – die Gruppen versuchten hierbei, ihr eigenes strategisches Konzept aufzuwerten. Die Opposition zur Strategie des jeweils an­ deren dürfte sich in erster Linie aus den Reaktionen der als interessiert unterstell­ ten Dritten gespeist haben, die vermittels der Gewalttaten mobilisiert werden sollten. Anders gesagt: Negative Resonanz etwaiger Adressaten des „bewaffneten Kampfes“ auf die Strategie des einen Zirkels könnten die anderen Akteure zu einem Vorwurf aufgeladen haben, der sodann die Basis für strategische Alterna­ tivvorschläge bildete. Bacon berührte nicht nur die Strategie als möglichen Bedingungsfaktor terroristischer Relationen. Sie unterstrich auch die Variable der Organisa­ tion. In den von ihr untersuchten Fallbeispielen wirkten sich unterschied­ liche Facetten dieses Faktors negativ auf das jeweilige Verhältnis aus. In manchen Fällen würde der interne Aufbau terroristischer Gruppen oder Organisationen dem Aufbau assoziativer Beziehungen entgegenstehen. In anderen Konstellationen lasse die Partnerschaft mit einer Regierung beziehungsweise die daraus erwachsende operative Ausstattung oder Or­ ganisationsstärke die Suche nach Gleichgesinnten obsolet werden. Die Beobachtung zum Stellenwert struktureller Differenzen in der Beziehung terroristischer Kräfte zog Bacon ebenfalls aus der negativen Interaktion zwischen „al Jihad“ und der „al Jama'a al Islamiyya“. „Al Jihad“ habe

734 735 736 737

Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. Vgl. ebd. Neidhardt 1982a, S. 322. Pfahl-Traughber 2014a, S. 177.

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sich als ein Netzwerk aus Zellen gegründet, welches ausschließlich aus der Klandestinität heraus Anschläge ausgeführt hätte. „Al Jama'a al Islamiyya“ hingegen sei einer sozialen Bewegung gleichgekommen, die sich – Bacon zufolge – auf eine in der Legalität agierende, personenstarke Anhänger­ schaft sowie auf einen bewaffneten Arm stützte.738 Inkompatible Strukturen könnten in gleicher Weise die Beziehung der RAF, der TW/der B2J und der RZ geprägt haben. Dies legen die mit Blick auf den deutschen Linksterrorismus bereits mehrfach herangezoge­ nen Forschungsleistungen nahe. Ohne ins Detail zu gehen, erwähnte Pfahl‑Traughber in seinem im Jahre 2014 veröffentlichten Werk zum deut­ schen Linksextremismus eine kritische Haltung der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ zum Innenleben der „Roten Armee Fraktion“. Ursächlich sei die ausgeprägte Hierarchie innerhalb der RAF gewesen.739 Tobias Wunschik führte Ähnliches zum Verhältnis zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ an. Gescheitert sei das Zusammenwirken der beiden deutschen Gruppen an den „kollekti­ veren Binnenstrukturen“740 der B2J. Daraus schließt der Autor: Aus den strukturellen Unterschieden der Akteure des deutschen Linksterrorismus könnte ein Wettbewerb um das „erfolgreichste“ Organisationsmodell entstanden sein. In diesem Wettbewerb begriffen die „Rote Armee Fraktion“, die „Tupamaros West­ berlin“/die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ ihre internen Strukturen als Gegensätze. Dem jeweiligen Gegenüber hielten sie Nachteile vor, welche sie in dessen Aufbau zu sehen glaubten. Bacon bezog die von ihr entwickelte Theorie des Erfüllens operativer Bedürfnisse zuvorderst auf positive Kontakte im Terrorismus. Sie übertrug dieses Modell aber auch auf Fälle, in denen Beziehungen ausblieben. Dieses Vorgehen zeigte sich ebenfalls in Hagertys Artikel. Wer die Unter­ suchungen Bacons und Hagertys einem Vergleich zuführt, erblickt den folgenden Kausalzusammenhang: Verspricht die Kooperation mit anderen Entitäten des Terrorismus nicht (mehr) den Ausgleich einer defizitären Aktionsfähigkeit, wird ein terroristischer Akteur von einer solchen Zu­ sammenarbeit absehen beziehungsweise die bestehende Verbindung auflö­ sen, sobald es zu Auseinandersetzungen mit dem Partner kommt. Bacon offerierte eine solche Erklärung für das Verhältnis zwischen der „Lash­ kar‑e‑Taiba“ und der „al Qaida“. Den Mangel an umfassender Interaktion dieser beiden Formationen führte sie unter anderem auf die Unterstützung

738 Vgl. Bacon 2013, S. 459-460. 739 Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. 740 Wunschik 1997, S. 383.

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zurück, welche die pakistanische Regierung der „Lashkar‑e‑Taiba“ habe zukommen lassen. Da die LeT in Pakistan finanzielle Mittel, Training und einen Rückzugsraum erhalten hätte, sei sie nicht gezwungen gewesen, die Ressourcen der „al Qaida“ in Anspruch zu nehmen.741 Die Beziehung der „al Qaida“ mit der „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ wäre hingegen, so Hagerty, durch abnehmende Ansprüche geformt worden. Im Laufe der Zeit hätten die auf beiden Seiten bestehenden operativen Bedürfnisse ihre Bedeutung verloren. Die Divergenzen bei strategischen Einschätzungen seien in den Vordergrund gerückt. Folglich büßte die Beziehung – nach Hagertys Verständnis – nach und nach ihren Nutzen ein.742 Eingedenk der Verflechtung der „Roten Armee Fraktion“ mit palästi­ nensischen und französischen Terroristen, des Austauschs der RZ mit der PFLP-SOG und der Ende der 1970er Jahre zunehmenden Kontakte der RAF zur Deutschen Demokratischen Republik743 erscheint es sinnvoll, die von Bacon und Hagerty identifizierten Mechanismen anhand der wechsel­ haften Relation zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ zu überprüfen. Hieraus resultiert die folgende Annahme: Möglicherweise waren fehlende positive Verbindungen unter den Zirkeln der westdeutschen „Stadtgue­ rilla“ den beanspruchten, teilweise weitreichenden Hilfen staatlicher Stellen oder ausländischer Terroristen geschuldet. Diese Hilfen könnten etwaige organisato­ rische Bedürfnisse ohne größeren Kostenaufwand ausreichend abgedeckt und folglich das wechselseitige Austauschen von Wissen und Material innerhalb der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ entbehrlich gemacht haben. Daneben ist eine Konstellation denkbar, in der sich zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ – beispielsweise anlässlich ausfallender Unterstützung aus dem Ausland – positive Interaktionen ergaben, die zugrundeliegenden operativen Nachfragen jedoch nicht dauerhaft waren beziehungsweise auf­ grund limitierter Ressourcen nicht langfristig bedient werden konnten. Anders formuliert: Waren die Bedürfnisse in der jeweiligen Partnerschaft er­ füllt oder Hilfsangebote ausgereizt, konnten sich existierende oder aufkommende Meinungsverschiedenheiten – etwa zu strategischen Aspekten – rasch als desinte­ grativ erweisen.

741 Vgl. Bacon 2013, S. 676-677. 742 Vgl. Hagerty 2016, S. 17-18. 743 Vgl. Rabert 1995, S. 222-230; Wunschik 1997, S. 389-403; Peters 2008, S. 537-591.

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3 Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren

3.2.3 Hypothesen Bündelt man die Diskussionspunkte aus den Unterkapiteln 3.2.1 und 3.2.2, lassen sich die folgenden neun Hypothesen zu den Bedingungs­ faktoren positiver und negativer Verhältnisse zwischen terroristischen Ak­ teuren aufstellen, welche denselben ideologischen Zielen verpflichtet sind und sich einen Aktionsraum teilen: – Hypothese 1: Über bloße deklaratorische Akte hinausgehende assoziative Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren entwickeln sich nur dann, wenn Mitglieder der Akteure einen auf persönliche Kennverhält­ nisse gestützten Kommunikationskanal zur jeweils anderen Entität her­ stellen konnten. – Hypothese 2: Ein terroristischer Personenzusammenschluss steht nur dann für eine über symbolische Handlungen hinausgehende positive Interaktion mit anderen Akteuren zur Verfügung, wenn er das gezielte, hermetische Abschotten seiner Strukturen zugunsten größtmöglicher Eigensicherheit nicht zu einem Dogma erhoben hat. – Hypothese 3: Ein terroristischer Akteur wagt nur dann den Aufbau von über symbolische Gesten hinausreichenden Beziehungen zu anderen terroristischen Kräften und/oder zu hilfsbereiten Regierungen, wenn er nicht mehr fähig ist, durch interne oder externe Entwicklungen ausge­ löste operative Bedürfnisse (zum Beispiel: Zufluchtsorte bei erhöhtem Fahndungsdruck, Ausbildungsinhalte zu ausgewählten Kampfmitteln, bleibende Aktionsfähigkeit) aus eigener Kraft zu stillen. – Hypothese 4: Ein terroristischer Akteur, der auf operative Bedürfnisse eingehen muss, akzeptiert nur dann eine Zusammenarbeit mit einer anderen terroristischen Entität, wenn diese passende Ressourcen be­ sitzt, welche die aufgetretenen Bedürfnisse auffangen können. – Hypothese 5: Wenn ein terroristischer Akteur eine Partnerschaft mit einer anderen terroristischen Entität eingeht, dann zeigen sich ver­ gleichbare strategische Auffassungen als sekundäre Triebkraft, die hin­ ter operativen Bedürfnissen als primärem Bedingungsfaktor angesiedelt sind. – Hypothese 6: Wenn sich ein terroristischer Akteur aus Gründen opera­ tiver Bedürfnisse mit ressourcenreichen Partnern (wie zum Beispiel: Staaten oder ausländischen terroristischen Organisationen) vernetzt hat, dann wird er von einer Zusammenarbeit mit ressourcenärmeren, strategisch gleichgesinnten Mitspielern absehen.

194

3.2 Bewertung des Forschungsstandes und Hypothesenbildung

– Hypothese 7: Eine zur Beseitigung operativer Bedürfnisse aufgenomme­ ne assoziative Beziehung zwischen terroristischen Akteuren löst sich dann auf, wenn die Bedürfnisse befriedigt wurden und Meinungsver­ schiedenheiten – etwa um strategische – Fragen hervortreten. – Hypothese 8: Wenn terroristische Akteure unterschiedliche interne Or­ ganisationsmodelle bevorzugen und anwenden, dann kommt es ent­ lang eines Wettstreits um den – vermeintlich – erfolgreicheren organi­ satorischen Ansatz zu adversativen Beziehungen. – Hypothese 9: Wenn terroristische Akteure ihre ideologischen Forderun­ gen entlang differenter strategischer Paradigmen (etwa zum geographi­ schen Wirkungsradius, zu internationaler Solidarität, zum konkreten Revolutionsmodell oder zur Gewalt) in die Tat umzusetzen versuchen, dann treten sie – zum Beispiel über gegenseitiges Abwerten durch Antisemitismusvorwürfe – in eine negative Interaktion ein, in der sie um die Resonanz der Adressaten ihrer politischen Botschaften konkur­ rieren. Ausdrücklich betont sei an dieser Stelle: Hinter den oben dargelegten Hy­ pothesen verbergen sich keinesfalls deterministische Annahmen, wie sie in der angelsächsischen Forschung zur Interaktion im Terrorismus gang und gäbe sind. Dort werden theoretische Vorüberlegungen allzu häufig durch das bisweilen zweifelhafte Ausreizen empirischer Interpretationsspielräu­ me bloß zu bestätigen versucht – die Option des Verwerfens gerät in den Hintergrund. Die Hypothesen dieser Arbeit verstehen sich als genuin pro­ babilistische Mutmaßungen – also buchstäblich als „Voraussetzung[en], welche […] [man] mach[t] […], um Schlüsse daraus abzuleiten“744. Die präsentierten, möglicherweise einschlägigen Kausalzusammenhänge kön­ nen jeweils isoliert oder in ganz unterschiedlicher Kombination in den hier gewählten Fällen aufgetreten sein. Vorstellbar ist daneben, dass sie keinerlei Einfluss entfalteten und somit irrelevant waren.

744 Mill 1868, Band 2, S. 8.

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4 Methodik

4.1 Vergleiche 4.1.1 Grundsätzliches Um die unter Punkt 1.2 gestellte Leitfrage sowie die sie nuancierenden Unterfragen beantworten zu können, greift diese Arbeit auf ein metho­ disches Vorgehen zurück, welches sich ab dem 19. Jahrhundert in zahl­ reichen Disziplinen der Wissenschaft etablieren konnte,745 jedoch ob seiner „Vorschussplausibilität“746 selten von einer ausführlichen methodo­ logischen Reflexion begleitet wird:747 das Vergleichen. Die comparatio, also das „Inbeziehungsetzen von zwei oder mehreren begrifflich erfassten Objekten oder Eigenschaften“748 hat in den Sozialwissenschaften – und dort insbesondere in der Politikwissenschaft – eine ausgesprochen lange Tradition.749 Sie zählt zum grundlegenden handwerklichen Instrumentari­ um, wenn es um das Gewinnen neuer Erkenntnisse und das Ausfüllen von Forschungslücken geht. Bereits der im 4. Jahrhundert vor Christus geborene Philosoph Aristoteles untersuchte vermittels einer komparativen Perspektive mehr als 150 politische Systeme seiner Zeit – er entwickelte aus diesem Gegenüberstellen eine Typologie staatlicher Ordnung.750 Ent­ nommen werden kann diese seinen Schriften unter dem Titel „Politik“.751 Vergleichendes Vorgehen zeichnete überdies die politikwissenschaftlichen Klassiker von Niccolò Machiavelli („Erörterungen über die ersten zehn Bü­ cher des Titus Livius“, 1531),752 Alexis de Toqueville („Über die Demokra­ tie in Amerika“, 1835/1840)753 und John Stuart Mill („System der dedukti­

745 746 747 748 749 750 751 752

Vgl. Mauz/von Sass 2011, S. 4. von Sass 2011, S. 15. Vgl. Jahn 2005, S. 55; Mauz/von Sass 2011, S. 1, 15; Raab 2011, S. 91. Lauth/Winkler 2010, S. 39. Vgl. Keman 2005, S. 198; Berg-Schlosser/Müller-Rommel 2006, S. 13. Vgl. Berg-Schlosser/Müller-Rommel 2006, S. 15; Jahn 2011, S. 10. Vgl. Aristoteles 2017, S. 169-223. Vgl. Machiavelli 2000, S. 24, 29-30, 33-35, 80-81, 90-91, 140-141, 149-150, 153-155, 188-192, 367-369. 753 Vgl. de Toqueville 2017, S. 43-44, 81-85, 91-92, 167-168.

196

4.1 Vergleiche

ven und induktiven Logik“, 1843)754 aus. Auf vergangenen wissenschaftli­ chen Erkenntnisgewinn blickend, schlussfolgerte Mill: „Aus dem Resultate einer […] Vergleichung bildete der Geist wissenschaftlicher Männer […] neue allgemeine Vorstellung[en]“755. Es sei das Gegenüberstellen von Tat­ sachen, so Mill, „welche[s] notwendig der Induktion vorausgeht“756. In der Soziologie waren es vor allem August Comté und Émile Durkheim, die den Vergleich zur konstitutiven Methode schlechthin erhoben und dessen konsequentes Nutzen einforderten.757 Durkheim beschrieb ihn als Vorge­ hensweise, „derer […] sich [die Soziologie] fast mit Ausschluss aller ande­ ren bedienen muss.“758 In diesem Zusammenhang ist allerdings zu unter­ streichen und zu bedenken, dass die Methodik des Vergleichens nicht auf ein spezifisches Werkzeug festgelegt ist.759 Vielmehr kann das Gegenüber­ stellen und Schaffen von Verbindungen zwischen Vergleichsgegenständen nach unterschiedlichen Paradigmen erfolgen, mithin überaus vielseitige Formen annehmen. Sie alle unterliegen aber wiederum bestimmten wis­ senschaftlichen Grundannahmen, die sich in den Antworten auf die fol­ genden Fragen herauskristallisieren: I Wozu dienen Vergleiche? II Was kann in Vergleichen verglichen werden? III Wie sind Vergleiche zu unternehmen? 4.1.2 Funktionen Wozu dienen Vergleiche? Vergleiche sind omnipräsent – nicht nur in der Wissenschaft. Ohne dies in jeder Situation bewusst wahrzunehmen, las­ sen wir uns im Alltagsleben von Vergleichen leiten. Zumeist zielen sie auf das Feststellen von Identitäten und Differenzen, dessen Resultate die Grundlagen für ein Einrahmen und Einschätzen stiften. So vergleichen wir beispielsweise im Privaten wie im Beruflichen unsere Positionen und Errungenschaften häufig mit denen unseres Umfeldes, um die Wertigkeit und Tragweite der eigenen Leistungen realistisch einordnen und bemes­

754 755 756 757 758 759

Vgl. Mill 1868, Band 1, S. 453-479; Mill 1868, Band 2, S. 205-222. Ebd., Band 2, S. 208. Ebd., S. 212. Vgl. Raab 2011, S. 92. Durkheim 1984, S. 213. Vgl. Mannewitz 2012, S. 77.

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4 Methodik

sen zu können. Diese landläufigen Funktionen des Vergleichens sind gleichermaßen wissenschaftlichen Vergleichsoperationen inhärent. Je nach Forschungsinteresse wird hier zunächst Bekanntes – oder aber Unbekann­ tes mit Bekanntem – abgeglichen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten konstatiert sowie schließlich Spezifisches oder Neues zutage gefördert. Dieses Spezifische und Neue schafft die Basis für das Aufdecken von Kausalzusammenhängen und Identifizieren von Triebkräften, denen die zu explizierenden Phänomene unterliegen. Über derartige Ergebnisse kön­ nen sodann Ordnungen aufgestellt, wissenschaftliche Aussagen verlässlich generalisiert und/oder Handlungsempfehlungen und Prognosen abgeben werden.760 Der Vergleich bringt somit Orientierung:761 Es folgen Antworten auf die Fragen, was als einschlägig zu sehen, wie etwas zu werten und was zu beachten ist. Als Ausgangspunkt für eine Ordnung verstanden, erlauben Vergleiche, einander ähnelnde Forschungsgegenstände als solche zu identifizieren und in Klassen, Kategorien beziehungsweise Typologien zusammenzufassen, welche deren gemeinsame Merkmale abstrakt beschreiben. Hiermit lassen sie sich von Gegenständen anderer Bereiche (trennscharf) abgrenzen.762 Der Blick in eine unter Punkt 1.3.4 angeschnittene Diskussion bietet ein Beispiel: Politisch motivierte Gewalt nicht‑staatlicher Art zerfällt gemein­ hin in die Typen „Guerilla“ und „Terrorismus“. Entstanden sind diese Sammelbegriffe durch ein Gegenüberstellen von Fällen und das damit verbundene Kenntlichmachen der Schnittmengen und Abweichungen in Organisation und Strategie. Dem Entschluss, eine neu aufgekommene En­ tität – etwa den „Islamischen Staat“ – einer dieser Kategorien zuzuweisen oder sie gar als Mischform zu deklarieren, geht derselbe Ablauf voraus. Ein solches Sortieren trägt wesentlich dazu bei, komplexe Zusammenhänge und Beobachtungen in komprimierter Form rasch fassbar zu machen und für weiterführende, umfassende Beleuchtungen zu öffnen.763 Um beim oben genannten Beispiel zu bleiben: Das in der Fachliteratur mittlerwei­ le gängige Heranziehen des Begriffs „Guerilla“ bietet die Gelegenheit, anlässlich einer quantitativen oder qualitativen länderübergreifenden Aus­ wertung zu Existenzdauer und Erfolgschancen irregulärer Kampfverbände über eine Schlagwortsuche in etwaigen Bibliotheksdatenbaken ein erfolg­

760 761 762 763

198

Vgl. Lauth/Wagner 2010, S. 18; Mannewitz 2012, S. 78. Vgl. Berg 2011, S. 277; von Sass 2011, S. 42; Zima 2011, S. 75. Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 28; Jahn 2011, S. 43-44. Vgl. Aarebrot/Bakka 2006, S. 72.

4.1 Vergleiche

versprechendes Datensample zu Organisationen zusammenzustellen, die militärische Gewalt gegen einen Staat ausübten. Der – ohne oder in bewusstem Anknüpfen an ein solches Typenbil­ den vorgenommene – Abgleich von Untersuchungsobjekten räumt Wis­ senschaftlern zudem die Gelegenheit ein, Entwicklungen und Phänomene in neue, übergreifende Erklärungsmodelle zu inkludieren und zusätzliche Hypothesen zu generieren, welche das Ansammeln und Festigen von abge­ sichertem Wissen vorantreiben.764 Abgesehen von diesen rein induktiven Effekten kann vergleichende Methodik korrigierend-justierend intervenie­ ren, indem sie bereits aufgestellte Argumentationen deduktiv erweitert, widerlegt oder die ihnen innewohnenden, fehlerhaften Annahmen verbes­ sert.765 Demnach können Vergleiche dazu beitragen, wissenschaftliche Theorien zu konzipieren sowie herrschende Meinungen anzupassen und zu stärken.766 Beispielhaft zu nennen ist ein von Torsten Kriskofski veröffentlichter Arti­ kel, der in einer systematischen comparatio deutscher rechtsterroristischer Gruppen einen bis dahin in dieser Form nicht festgestellten Konnex zwi­ schen dem Abtauchen von Terroristen in die Illegalität und dem Steigern ihrer Gewaltintensität empirisch herausarbeitete.767 Ebenfalls bezeichnend sind komparativ zugeschnittene wissenschaftliche Arbeiten zum „Natio­ nalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Ihren Verfassern zufolge hatte sich der NSU von bisherigen Entitäten des bundesrepublikanischen Rechtster­ rorismus durch Ermorden mehrerer Menschen und eine fehlende Kom­ munikationsstrategie deutlich abgehoben. Insoweit hätten rechtsterroristi­ sche Gewalttaten mit dem Wirken dieser Gruppe eine neue Dimension erreicht.768 Auf die Zukunft blickende Aussagen als dritte Komponente im Leis­ tungsspektrum des Vergleichens zielen oftmals auf die Praxis. Dabei ver­ sucht der jeweilige Verfasser, aus wissenschaftlichen Befunden verlässliche Schlüsse zu Mechanismen in der Realität zu ziehen. Werden zum Beispiel aktuellen, unvollständigen Abläufen (etwa: Revolutionen) aus einem hi­ storischen Blickwinkel heraus das Maß äquivalenter Ereignisse angelegt, können potentielle Geschehnisse und Wendungen vorhergesagt werden. Hieraus erwächst die Fähigkeit, politische, wirtschaftliche und andere Handlungsoptionen zu diskutieren, deren Ergreifen alternierende Auswir­

764 765 766 767 768

Vgl. Patzelt 2005, S. 26. Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 23; Zima 2011, S. 76. Vgl. Patzelt 2005, S. 48; Lauth/Winkler 2010, S. 40. Vgl. Kriskofski 2013, S. 226-227. Vgl. Pfahl-Traughber 2012a, S. 70-71; Busch 2013, S. 235.

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4 Methodik

kungen zeitigen können. Selbiges kann bei einem Gegenüberstellen syn­ chroner Entwicklungspfade erreicht werden, richten diese doch ebenfalls den Blick auf Wünschenswertes („best practices“), das auf ähnliche Situa­ tionen übertragbar ist. Die comparatio befähigt somit zu einem Beraten, das Lösungen und Alternativen zu Herausforderungen der Gegenwart aufzeigt und weitere Prozesse zu prägen vermag. Solche vergleichende Arbeit kennzeich­ net unter anderem das Wirken von „think tanks“. So legte etwa ein Bei­ trag der Stiftung Wissenschaft und Politik zum Jihadismus in Afrika die Ansicht dar, das einseitig auf Repression ausgelegte Bekämpfen terroristi­ scher Strukturen münde eher in einer Zunahme als in einer Abnahme der Gewalt. Gestützt wurde diese Aussage auf Beobachtungen zur Lageent­ wicklung in Kenia, Mali, Nigeria und Somalia. Mit ihr verknüpften die Autoren die Forderung, den Schwerpunkt politischer Maßnahmen auch auf die Reduktion ökonomischer und sozialer Marginalisierungsprozesse zu legen.769 Die mit der „einfachen Forschungslogik“770 eines Vergleichs verbunde­ ne Gewinnspanne führte den Autor zu der Entscheidung, sich der Antwort auf die unter Punkt 1.2 gestellten Fragen komparativ zu nähern. Mit dieser Methodenwahl wird überdies der Kritik Pfahl‑Traughbers Rechnung ge­ tragen, derzufolge innerhalb der Terrorismusforschung nur selten verglei­ chend beziehungsweise über den Einzelfall und ideologischen Phänomen­ bereich hinausgehend untersucht wird.771 Wie im Forschungsstand zur Interaktion terroristischer Entitäten (1.4) in Ansätzen ersichtlich und im theoretischen Bezugsrahmen (2.2) weiter ausgeführt wurde, spielen diverse Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf der Mesoebene eine wesentliche Rolle beim Entstehen assoziativer und adversativer Verhältnisse des Terro­ rismus. Ein auf Variablen fußender Vergleich vermag, solche Identitäten und Differenzen in einem nachvollziehbaren Ablauf offenzulegen, deren tatsächlichen Einfluss auf die jeweilige Relation objektiv zu messen und Bedingungsfaktoren terroristischer Interaktion klar zu benennen. Dieses Kernanliegen stößt nicht nur die Tür auf zu einem Verifizieren und/oder Falsifizieren bestehender Erklärungsansätze zu den Beziehungen zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ. Fürderhin gewährt sie die Chan­ ce, allgemeine Annahmen zu Verhältnissen im Terrorismus kritisch zu würdigen und Ansatzpunkte für zukünftige Forschung aufzudecken. Vor allem Letztes ist als Wegweiser gedacht, der weiteren wissenschaftlichen

769 Vgl. Steinberg/Weber 2015, S. 109-110. 770 Patzelt 2005, S. 49. 771 Vgl. Pfahl-Traughber 2014b, S. 402.

200

4.1 Vergleiche

Arbeiten auf dem Neuland positiver und negativer Handlungen zwischen terroristischen Akteuren Orientierung anbieten soll. 4.1.3 Inhalte Nach dem Erhellen der Ziele eines und dieses gegenüberstellenden Unter­ fangens soll den möglichen Inhalten einer comparatio Aufmerksamkeit zuteilwerden: Was kann in Vergleichen verglichen werden? Der viel zitierte, relativierende Vorwurf, demnach jemand Äpfel mit Birnen vergleiche, verweist – ebenso wie der landläufige Ausspruch: „Dieser Vergleich hinkt!“ – auf die Notwendigkeit des Klarstellens mit Blick auf die relata, also die Gegenstände eines Vergleichs. Grundsätzlich kennt die Auswahl von Aspekten oder Dingen, die verglichen werden sollen, keine Grenzen.772 Jedoch: Oftmals ist das Zusammenstellen von comparata unter dem Ge­ sichtspunkt der Produktivität angezeigt. Voraussetzung für die Vergleich­ soperation ist jedenfalls nicht eine größtmögliche Ähnlichkeit der Art und Beschaffenheit ihrer Bestandteile.773 Im Falle uneingeschränkter Überein­ stimmung wären die Vergleichsobjekte identisch, das Gegenüberstellen somit fruchtlos. Weder ließe sich Unbekanntes entdecken noch etwas kontrastiv als außergewöhnlich kennzeichnen. Soll Vergleichen einen (er­ kenntnisfördernden) Sinn annehmen, erfordert es Untersuchungsobjekte, welche sich zwischen den Extremen der vollkommenen Gleichheit und der gänzlichen Andersartigkeit bewegen.774 Anders formuliert: „Vergleich­ bar sind Dinge, wenn sie sogleich Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufweisen.“775 Ob eine solche Vergleichbarkeit beziehungsweise die Aussicht auf einen verita­ blen Mehrwert im Einzelnen vorliegt, ergibt sich zunächst aus der Möglichkeit eines gemeinsamen Zuweisens der (potentiellen) Vergleichsgegenstände zu einer Kategorie, in der diese nicht allzu weit voneinander entfernt liegen.776 Greift man das eingangs genannte Bonmot zu Äpfeln und Birnen wieder auf, so ergibt sich zwangsläufig die Schlussfolgerung: Äpfel und Birnen sind beide eine Obstgattung. Sie teilen bestimmte Merkmale (zum Beispiel: den Wuchs an Bäumen, die Kerne im Inneren), weichen aber ebenfalls von­

772 773 774 775 776

Vgl. Mauz/von Sass 2011, S. 14-15. Vgl. von Sass 2011, S. 26. Vgl. Zima 2000, S. 16-17. Jahn 2011, S. 59. Vgl. Seipel 2011, S. 117.

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4 Methodik

einander ab (unter anderem in puncto: Reifeprozess und äußere Beschaf­ fenheit). Folglich lassen sich beide Früchte sehr wohl in einen Vergleich stellen. Anders verhält es sich dagegen beispielsweise mit einem Fluss und einem Gebäude. Diese sind zwar gleichermaßen als geographische Bezugs­ punkte klassifizierbar, jenseits dieser oberflächlichen Zusammenmengung aber fundamental unterschiedlich. Zwecklos erscheint hier mithin ein tiefer gehendes inhaltliches Inbeziehungsetzen vermittels verschiedener Variablen. Allenfalls bietet es sich an, das Gleichsetzen eines Gebäudes mit einem Fluss als abkürzende Erläuterung zu bemühen, welche die architek­ tonische Singularität des von Menschenhand erbauten Objekts plastisch unterstreicht. Diese pointierte Wirkung des Vergleichens ist charakteris­ tisch für Metaphern, welche im Zuge der comparatio auf eine Besonderheit rekurrieren und diese übertragen. Übrige Vergleichsparameter bleiben un­ berücksichtigt.777 Die Kommensurabilität der relata bestimmt sich in einem zweiten Schritt nach der Auswahl von Gegenständen einer Kategorie, die sich in ähnlichen Kon­ texten bewegen.778 Untersuchungsgegenstände derselben Kategorie können auf den ersten Blick vergleichbar wirken. Bei näherem Betrachten zeigt sich jedoch die prägende Abhängigkeit ihrer Eigenschaften von ihrem jeweiligem räumlichem wie zeitlichem Umfeld. Diese Abhängigkeit kann einen Abgleich einschränken, ja gar obsolet machen. Ein Beispiel: Wer ganz allgemein nach der Funktionsweise von Volksvertretungen fragt, dies anhand eines Vergleichs zufällig ausgewählter Länder zu beantworten versucht, dabei aber nicht das jeweilige politische System der ins Auge gefassten Länder einbezieht, kommt schnell zu verzerrten oder falschen Ergebnissen – etwa zu einem universal gültigen und übertragbaren Bild einer Volksvertretung. Was übersehen wird: Parlamente können in demo­ kratischen und autoritären Staaten nominell denselben verfassungsrechtli­ chen Auftrag mit ähnlichen Befugnissen wahrnehmen, diese Rolle jedoch ob faktischer Gegebenheiten nicht gleichermaßen mit Leben füllen. Über ausbalancierte Gewaltenteilung kommt der Legislative in genuinen Demo­ kratien ein realer Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu. In Diktaturen wird diese Einflussnahme dagegen durch einen Überhang der Exekutive häufig erheblichen Einschränkungen unterworfen. Richtig wäre daher, die spezifische Frage nach der Funktionsweise von Volksvertretun­ gen in den politischen Systemen unserer (oder einer anderen) Zeit zu stellen. 777 Vgl. von Sass 2011, S. 41-42. 778 Vgl. ebd., S. 28.

202

4.1 Vergleiche

Die RAF, die TW/die B2J und die RZ bewegen sich im Kontinuum zwi­ schen völliger Übereinstimmung und absoluter Andersartigkeit: Zwar be­ griffen sie sich allesamt als Teil eines (gewaltsamen) sozialrevolutionären Widerstands in einem „Zentrum des US-Imperialismus in Westeuropa“779, womit sie der Kategorie des „Linksterrorismus“ zuzuordnen sind. Ihre Mit­ glieder wählten aber divergierende Wege zu den selbst formulierten Zie­ len, die sie über Jahre und Jahrzehnte hinweg weitgehend unabhängig voneinander beschritten. Die erste Stufte ihrer Vergleichbarkeit ist dem­ nach gegeben. Die Erfordernis, kontextualen Bedingungen Rechnung zu tragen, drängt sich beim komparativen Betrachten der drei genannten Gruppen nicht mit jener Deutlichkeit auf, wie sie in anderen wissenschaft­ lichen Vorhaben zu Beziehungen im Terrorismus vorzufinden ist. Der Grund hierfür liegt in der besonderen Untersuchungsperspektive dieser Arbeit. Eine comparatio, welche – beispielsweise – das in einem Land zu einem konkreten Zeitpunkt bestehende Beziehungsgeflecht terroristischer Entitäten dem Geflecht anderer terroristischer Akteure aus einer anderen Nation und Zeitspanne gegenüberstellt, muss die jeweiligen Kontexte der Fälle einkalkulieren – darunter die politische Situation der Länder, welche durch Stabilität oder Instabilität, Freiheit oder Repression geprägt sein kann. Dagegen profitiert das reine Begutachten interaktiver Verhältnisse zwischen Akteuren davon, dass sich die herangezogenen Fälle naturgemäß in einem räumlichen und zeitlichen Kontext bewegen – andernfalls wäre eine Interaktion zwischen ihnen nicht möglich (gewesen). In dieser Arbeit bildet die Bundesrepublik Deutschland den räumlichen Kontext. Die Spanne von 1969 bis 1995 konstituiert den zeitlichen Rahmen. Am End­ punkt dieser Zeitspanne blieb von der einst dreigliedrigen westdeutschen „Stadtguerilla“ – infolge der Desintegration der RZ – lediglich die RAF übrig. 4.1.4 Durchführung Abschließend ist zu beantworten: Wie sind Vergleiche zu unternehmen? Neben mindestens zwei Vergleichsgegenständen/-objekten benötigt jeder Vergleich Zweck und Ziel. Beides zeigt die abhängige(n) Variable(n) einer Untersuchung an – also das zu explizierende Phänomen (auch genannt:

779 ID-Verlag 1997, S. 204. Vgl. auch ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 241; Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 667.

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4 Methodik

explanandum).780 In wissenschaftlichen Arbeiten spiegelt sich das expla­ nandum in einer begründeten Fragestellung wider, die den roten Faden der Komparation zieht und somit deren strukturierten Ablauf gewährleis­ tet.781 Das explanandum ist in jedem Fall zu operationalisieren: Hinterlegt werden muss eine Komposition quantitativ und/oder qualitativ messbarer Merkmale.782 Typischerweise ergibt sich aus der Untersuchungsperspekti­ ve in einem weiteren Schritt die Fallauswahl. Diese erfordert ihrerseits eine gewissenhafte Reflexion, droht doch andernfalls eine „selection bias“ beziehungsweise eine Kompilation von Vergleichsobjekten, die spätere Ergebnisse zu verfälschen vermag.783 Ferner verlangt eine comparatio das Anlegen eines theoretischen Bezugsrahmens, aus dem sich erste Vermu­ tungen darüber anstellen lassen, was im Hinblick auf das explanandum ausschlaggebend sein könnte. Das zu leistende Sich‑Auseinandersetzen mit der verfügbaren Theorie lenkt den Blick auf das Wesentliche und gießt dieses in Hypothesen. Anders ausgedrückt: Wer auf bisherige abstrahierte Annahmen eingeht, vermag explanans zu identifizieren, anhand derer der Vergleich vollzogen werden kann. 784 Der Rekurs auf Forschungsergebnisse ergibt zugleich die unabhängigen Variablen, die gemeinsam das Worauf­ hin – vielfach ein tertium comparationis – des vergleichenden Vorgehens beschreiben.785 Sind all diese Vorbedingungen erfüllt, ist das eigentliche Inbeziehungsetzen der Untersuchungsgegenstände vorzunehmen. Dieses Inbeziehungsetzen kann – je nach Anspruch des Forschers, der Problemstellung sowie der Fall- und Variablenauswahl – ganz unterschied­ liche Formen annehmen. Methodologische Abhandlungen zum Verglei­ chen grenzen „Einzelfallstudien“, „Paarvergleiche“ und „theoriegenerie­ rende Vergleiche vieler Fälle“ voneinander ab,786 wobei die Kategorie der „Einzelfallstudien“ zu Recht Kritik erfährt.787 Da es derartigen Untersu­ chungen an einem Vergleich im klassischen Sinne mangelt, bieten sie sich nicht als Typus innerhalb einer Differenzierung komparativer Analysen an. Für die beiden anderen Arten der comparatio – die „Paarvergleiche“ und die „theoriegenerierenden Vergleiche vieler Fälle“ – sind auch die Bezeichnungen „small-n-“ und „large-n-analysis“ sowie „fall-“ und „varia­ 780 781 782 783 784 785 786 787

204

Vgl. Aarebrot/Bakka 2006, S. 59, 66. Vgl. Mannewitz 2012, S. 76-77. Vgl. Aarebrot/Bakka 2006, S. 66. Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 32, 74, 219-220. Vgl. Lauth/Winkler 2010, S. 41-42, 49. Vgl. Krech 2011, S. 151. Vgl. Patzelt 2005, S. 37-28. Vgl. Mannewitz 2012, S. 78.

4.1 Vergleiche

blenorientierte Forschung“ üblich.788 Sofern sie Objekte aus demselben zeitlichen Kontext in den Fokus rücken, lassen sie sich als synchrone oder Querschnittuntersuchung einordnen. Den Vergleich von relata aus unterschiedlichen Zeiträumen beschreibt der Ausdruck der diachronen oder Längsschnittuntersuchung.789 „Paarvergleiche“ und Vergleiche weni­ ger Fälle eignen sich für eine qualitative, multivariate Auswertung. Beim Gegenüberstellen vieler Fälle empfiehlt sich – ob der Datenmenge – eine quantitative, auf eine überschaubare Zahl von Variablen begrenzte Vorge­ hensweise. Qualitative und quantitative Konzepte gehen von disparaten Intentionen aus und wählen daher jeweils einen anderen Umgang mit dem ihnen zugrunde liegenden Datenmaterial. Plastisch gesagt: Quantita­ tive Forschung beruht auf mathematisch gestützter Abstraktion – das Be­ rechnen soll Erklärungen für ein Phänomen zutage fördern. In der Regel ist quantitative Analyse dort vertreten, wo bereits ergiebige Datenmengen vorliegen. Im Mittelpunkt qualitativer Wissenschaft rangiert dagegen die verstehende Rekonstruktion. Sie bewegt sich nahe am Untersuchungsob­ jekt, durchringt dieses in hohem Detailgrad. Das Nutzen von Zahlen ist ihr dabei vergleichsweise fremd.790 Mit der Art und Weise einer comparatio verbunden sind häufig die gra­ vierendsten Fallstricke des Vergleichens,791 von denen einige in dem unter Punkt 4.1.3 exemplarisch benannten Vorwurf des Vergleichs von Äpfeln und Birnen sowie in dem Konstrukt des „hinkenden“ Vergleichs aufschim­ mern. Der Vorwurf des Gegenüberstellens von Fallobst ist Ausdruck einer mitunter emotional aufgeladenen Haltung, welche „im Vergleich die permanente Angleichung und darin Relativierung der verglichenen Glieder befürchtet“792. Der Ausspruch: „Dieser Vergleich hinkt!“ spiegelt ein schiefes, im Grunde falsches handwerkliches Durchführen einer auf Erklärungen zielenden Vergleichsoperation wider. Lassen sich Befürchtun­ gen, die der Vorwurf des Vergleichens von Äpfeln und Birnen freilegt, im Wege wissenschaftlichen Arbeitens durch wertneutrales, transparentes und sprachlich eindeutiges Operieren weitgehend vermeiden und aushebeln, bedarf das Umgehen einer „hinkenden“ comparatio größerer Umsicht und Anstrengung. Grund hierfür ist die Komplexität und Vielseitigkeit der Probleme, die sich dahinter verbergen. In methodologischen Abhandlun­

788 789 790 791 792

Vgl. ebd., S. 83. Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 35. Vgl. Patzelt 2005, S. 20; Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 83. Vgl. Gutmann/Rathgeber 2011, S. 71. von Sass 2011, S. 45. Vgl. hierzu auch Patzelt 2005, S. 50-51.

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4 Methodik

gen zum Vergleichen sind diese fast immer Thema. Vielfach entspringt der „hinkende“ Vergleich unzureichendem Beweisführen und/oder dem Vermengen von Analyseebenen während der komparativen Untersuchung. Die einschlägige Literatur nennt in diesem Zusammenhang drei elementa­ re Problemstellungen: den individualistischen Fehlschluss, den ökologischen Fehlschluss und das sogenannte Problem des Galton. Fehlschlüsse treten in der vergleichenden Wissenschaft dort auf, wo Forscher die zu einem Phänomen erzielten Ergebnisse ohne Weiteres zum Ergründen eines anderen Phänomens beanspruchen. Der individua­ listische Fehlschluss beschreibt eine Situation, in der Kausalzusammenhän­ ge zwischen einzelnen Untersuchungsgegenständen (Mikroebene) fälschli­ cherweise auf Kausalzusammenhänge zwischen einer Vielzahl von Objek­ ten (Makroebene) übertragen werden. Der ökologische Fehlschluss steht für das Gegenteil: Unreflektiert schließt eine Analyse von der Makro- auf die Mikroebene. Folglich erhalten individuelle Erscheinungen pauschal die Merkmale von Kollektiven.793 Exemplarisch für beide Fehlschlüsse wäre eine wissenschaftliche Arbeit, welche das Selbstradikalisieren einer Person, dessen Hintergründe und Abläufe ohne vorheriges Prüfen der tatsächli­ chen Übertragbarkeit mit den Theorien zum Abrutschen einer Gruppe in extremistische Denk- und Handlungsweisen erklärt – oder eben vice versa. Das nach Francis Galton benannte Problem tangiert nicht den Vollzug des Vergleichens, sondern das Deuten seiner Resultate. Entdeckt eine wissen­ schaftliche Abhandlung Ähnlichkeiten zwischen Vergleichsobjekten, stellt sich bisweilen die Frage, ob die einander ähnelnden Phänomene unabhän­ gig voneinander – sozusagen aus den beleuchteten Objekten heraus – oder in direkter Relation zueinander entstanden sind. Der erste Fall schließt etwa die Genese von Machtpositionen in menschlichen Gesellschaften ein, der zweite Fall das Übernehmen der konkreten Herrschaftspraxis einer Ge­ sellschaft durch eine andere.794 Das falsche Beantworten dieser Frage hat erhebliche Auswirkungen für die theoretischen Annahmen, welche aus der comparatio abgeleitet werden sollen. Vermeidbar ist „Galtons Problem“, sofern die Historie der verglichenen Gegenstände einbezogen wird: Dies verschafft dem Forscher Einblicke in mögliche Verbindungen zwischen den Objekten, die er sodann adäquat in generalisierendes Schlussfolgern integrieren kann. Fehlschlüsse hingegen lassen sich umgehen, wenn sich das Übertragen von Erklärungsmustern auf Nachweise stützt, welche die Legitimität eines solchen Vorgehens untermauern. 793 Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 193-198. 794 Vgl. Patzelt 2005, S. 47; Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 225.

206

4.1 Vergleiche

Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren stellen das explanandum der Arbeit dar. Dessen Operationalisieren vollzog sich auf einer definitori­ schen und auf einer inhaltlichen Ebene. Dienten die Unterkapitel 1.3.1 bis 1.3.4 dem terminologischen Klarstellen der Kerninhalte des zu unter­ suchenden Phänomens, erläuterte der Abschnitt 2.1 die Ausprägungen der Interaktion terroristischer Kräfte. Aus Letztem erwuchs ein Messspek­ trum, mit dem der Ist‑Zustand eines Verhältnisses zwischen terroristischen Gruppen abgebildet werden kann. Die weiterführenden Schritte sind der Absicht verschrieben, die abhängige Variable unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedingungsfaktoren zu erklären. Dies erfolgt mithilfe des deutschen Linksterrorismus, den die drei Fälle „Rote Armee Fraktion“, „Tupama­ ros Westberlin“/„Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionäre Zellen“ abbilden. Die Fallauswahl entsprang im Wesentlichen zwei, bereits in Unterkapitel 1.1 eingehend dargelegten Gründen: – erstens der gemeinsamen historischen Genese der Zirkel nach dem Zer­ fall der „68er-Bewegung“ und der Existenz im selben geographischen und zeitlichen Raum, was zu wechselhaften Beziehungen führte, und – zweitens der zeitgeschichtlichen Abgeschlossenheit, die nicht nur Straf­ verfolgungsbehörden, Gerichten und Wissenschaftlern, sondern auch den involvierten Terroristen ein ernstzunehmendes Aufarbeiten der Gewalttaten der RAF, der TW/der B2J und der RZ erlaubte. Vor allem in Selbstzeugnissen (Autobiographien, Interviews, et cetera) ga­ ben ehemalige Protagonisten die untereinander bestehenden Verbin­ dungen dieser Entitäten wieder. Derartiges Material vermag also, Licht in die tatsächlichen Bedingungsfaktoren der Relationen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ zu bringen. Das zielgerichtete Auswerten dieser Quellen basiert auf einem multivaria­ ten Raster, dessen Ausgangspunkte unter Punkt 2.2 ermittelt wurden. Dort stellte der Autor Hypothesen beziehungsweise potentielle explanans vor, die auf theoretische Annahmen Bezug nehmen. Hieran anknüpfend, wird die Arbeit im Unterkapitel 4.2 prüfen, welche der im „AGIKOSUW-Sche­ ma“ Armin Pfahl-Traughbers festgehaltenen Kernmerkmale terroristischer Akteure als unabhängige Variable für das Testen der Hypothesen und das Beantworten der oben gestellten Leitfrage relevant sind. Das so gebildete Raster fungiert sodann als Wegweiser für den Vergleich. Die comparatio dieser Untersuchung ist qualitativer Natur. Ein solches „research design“ wird gewählt, weil der Autor mit Blick auf die Kau­

207

4 Methodik

salzusammenhänge der Beziehungen terroristischer Entitäten von einer Volatilität und Multidimensionalität ausgeht.795 Diese können situativ oder langfristig erwachsen, von internen und/oder externen Umständen getrieben werden. Um sie belastbar identifizieren, in ihrer Komplexität nachzeichnen und entlang ihres Einflusses ordnen zu können, erscheint es zwingend, an der „Alltagspraxis und beim Alltagswissen der Erforsch­ ten“796 anzusetzen und beides in den jeweiligen Einzelheiten zu präsen­ tieren. Zwar kann quantitativ angelegte Wissenschaft – im Gegensatz zu qualitativem, auf wenigen Untersuchungsgegenständen basierendem Forschen – belastbare Generalisierungen erzielen.797 Variablenorientierten Abhandlungen geht aber aufgrund ihrer hohen Fallzahl und der damit korrespondierenden Abstraktion häufig die Fähigkeit ab, Fallspezifisches emporzuheben und Tiefenschärfe zu erreichen. Das Bedürfnis des Verall­ gemeinerns verdrängt hier sozusagen das Besondere.798 Die Entscheidung zugunsten eines qualitativ geprägten Ansatzes fällt diese Arbeit zudem im Lichte des noch vielfach lückenhaften Forschungsstandes zu Beziehun­ gen zwischen terroristischen Akteuren. Wie unter Punkt 1.4.2 ersichtlich, fehlt es an fallorientierter Auswertung, welche das für quantitative Analy­ sen notwenige Vorwissen extrahiert. Einen Beitrag zum Auflösen dieses Defizits zu leisten, ist ein weiteres erklärtes Vorhaben des Autors. Die Arbeit geht dementsprechend von einem Stufenmodell wissenschaftlichen Begreifens und Verstehens aus, das sich im methodischen Konzept der hermeneutischen Wissenssoziologie findet. Danach setzt ein verlässliches Verallgemeinern und Theoretisieren sozialen Handelns das umfassende Beleuchten des Einzelfalls voraus. Dessen Ergebnisse müssen schließlich den Resultaten anderer (Einzel‑)Fallanalysen gegenübergestellt werden. Mit dem Soziologen Jürgen Raab übereinstimmend, orientiert sich der Autor also an folgendem erkenntnistheoretischem Grundsatz: „Von Ein­ zelfallanalyse zu Einzelfallanalyse und von Fallvergleich zu Fallvergleich schreitet die Theoriebildung […] deutend verstehend und dadurch ursäch­ lich erklärend voran.“799 Essentiell für die Vergleichsoperation dieser Untersuchung ist die Inten­ tion, Beziehungen zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ nicht (nur) aus der Beobachterperspektive, sondern (auch und vor allem) aus der

795 796 797 798 799

208

Ähnlich Bacon 2013, S. 36. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, S. 28. Vgl. Lauth/Pickel/Pickel 2009, S. 82. Vgl. Patzelt 2005, S. 45-46; Munck 2006, S. 141. Raab 2011, S. 110.

4.1 Vergleiche

Sicht der Individuen darzulegen, welche diese Interaktionen einst trugen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der drei Gruppen zu konstatieren, stellt lediglich die eine Seite der comparatio dar. Die andere, wesentlich entscheidendere, findet sich in der Prämisse, Differenzen und Kongruen­ zen im Spiegel der Lebenswirklichkeit der vormaligen Linksterroristen zu sehen und zu bewerten. Letztes soll eine Subjektivität des Autors vermeiden, die etwaige, aus dem Vergleich gewonnenen Faktoren als ausschlaggebend für die jeweilige Beziehung festlegt, obwohl sie in der damaligen – und inzwischen schriftlich fixierten – Wahrnehmung ihrer Mitglieder keinerlei Rolle gespielt hatten. Methodologisch gesehen, fällt eine derartige Praktik in den Bereich der objektiven Hermeneutik: Diese interessiert sich nicht dafür, „was eine Person auszudrücken beabsichtigte, also nicht primär für ihre innere Welt, sondern dafür, was sie ausgedrückt hat, also gewissermaßen für die protokollierbare Spur, die sie hinterlassen hat.“800 Unter diesem Gesichtspunkt der intersubjektiv nachvollziehbaren Rekonstruktion wertet die Arbeit mehr als 110 (Primär-)Quellen801 aus. Dazu zählen: – Quellensammlungen mit programmatischen Erklärungen der Grup­ pen, Diskussionsbeiträgen einzelner Aktivisten, Zellenzirkularen (Kas­ sibern), internen Anweisungen und vor Gericht abgegebenen Erklärun­ gen angeklagter Mitglieder – darunter sechs Quellensammlungen zur „Roten Armee Fraktion“802 sowie jeweils eine zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“803 und den „Revolutionären Zel­ len“;804

800 Przyborski/Wohlrab-Sahr 2010, S. 242. 801 Sofern im Quellenverzeichnis nicht anders gekennzeichnet, lagen die nachfol­ genden Quellen dem Autor in gedruckter Form vor. Um der Übersichtlichkeit willen hat sich der Autor mit Blick auf Quellensammlungen für folgenden Zitierstil entschieden: Nicht die Daten der einzelnen Texte einer Sammlung, sondern die Daten der Quellensammlung als Ganzes (Autor/Herausgeber/Ver­ fasserkollektiv; Erscheinungsjahr; Seitenangabe) werden in den betroffenen Fußnoten aufgeführt. Um welche herangezogenen Materialien einer Quellen­ sammlung es sich im Einzelnen handelt, verdeutlicht im Regelfall der Haupt­ text. 802 Vgl. Bundesministerium des Innern 1975; Rote Armee Fraktion 1983; Bakker Schut 1987; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995; Hogefeld 1996; ID-Verlag 1997. 803 Vgl. Bewegung 2. Juni. 804 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993.

209

4 Methodik

– einzeln veröffentlichte Schriften, Kommentare oder Interna der Zir­ kel;805 – separat dokumentierte Stellungnahmen von Mitgliedern aus Prozessen sowie Protokolle zu Verhandlungen vor Gericht;806 – zehn Ausgaben des vom Umfeld der RAF herausgegebenen Periodi­ kums „Zusammen Kämpfen“807 sowie – 71 Selbstzeugnisse (Autobiographien, Dokumentationen für Sammel­ bände oder Zeitungen, Interviews mit Journalisten oder anderen Ak­ teuren, Aufzeichnungen zu Podiumsdiskussionen oder für ein Filmpro­ jekt) von Personen, welche der „Roten Armee Fraktion“,808 den „Tu­ pamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“,809 den „Revolutionären Zellen“810 oder deren Umfeld811 angehörten. Unbestreitbar ist: Das Heranziehen und Interpretieren solcher Quellen gehen nicht ohne Herausforderungen von der Hand. Dies trifft im Beson­ deren für Autobiographien zu – ein Quellentyp, auf den der Autor wie­ derholt zurückgreift, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ angemessen zu beurteilen. Im­ mer wieder zeichnen sich solche Selbstzeugnisse durch einen eklektischen Umgang mit Fakten aus, der subjektiver Schwerpunktlegung sowie per­ sönlichen Befindlichkeiten und Urteilen unterliegt. Dies ist erstens darauf

805 Vgl. Baader 1972; Berberich 1977; Bewegung 2. Juni 1972; Bewegung 2. Juni 1980; Brief eines Jemand 1977; Kommando Holger Meins der Roten Armee Fraktion 1977; Meinhof u.a. 1970; Meinhof 1970; Pohl 1989; Revolutionäre Zellen 1977a; Revolutionäre Zellen 1977b; Revolutionäre Zellen 1993; Revolu­ tionäre Zellen 1994; Rote Armee Fraktion 1974; Rote Armee Fraktion/Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente 1988; Rote Armee Fraktion 1998; Rote Brigaden/Rote Armee Fraktion 1992; Rote Zora 1993; Rote Zora 1994; Rote Zora 1995; Teufel 1970. 806 Vgl. Kram 2009; Mahler 1972b; Protokoll zum Prozess gegen Tarek Mousli 2000; Schindler 2002. 807 Vgl. Zusammen Kämpfen 1984-1990b. 808 Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979; Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975; Bendkow­ ski/Berberich/Jansen u.a. 1996; Boock/Sternsdorff 1981; Boock 1988; Boock 1990; Boock/Schlittenbauer/Britten 1994; Dellwo 2007a; Dellwo 2007b; Dell­ wo/Petersen/Twickel 2007; Folkerts/Mayer/Dellwo u.a. 1998; Friedrich/Der Spiegel 1990; Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971; Homann 1972; Homann 1997; Jünschke 1998; Mahler 1972a; Mahler/Der Spiegel 1972; Mahler 1978; Mahler 1997; Möller/Tolmein 1999; Pohle 2002; Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998; Schiller/Mecklenburg 2000; Speitel 1980a; Speitel 1980b; Speitel 1980c; Sternebeck 1990; Sturm 1972; Taufer 2018; Wackernagel 2017; Wisniew­ ski/Groll/Gottschlich 2003.

210

4.1 Vergleiche

zurückzuführen, dass Verfasser autobiographischer Texte das von ihnen Er­ lebte häufig erst dann verschriftlichen, wenn zu den Ereignissen ein deut­ licher zeitlicher Abstand besteht. Eine solche Distanz zwischen Vergangen­ heit und Gegenwart wirkt sich nachteilig auf die Fähigkeit aus, zurücklie­ gende Ergebnisse in der Retrospektive möglichst präzise und zutreffend abzurufen und darzulegen. Meist lassen sich nur Bruchstücke der Erinne­ rungen rekapitulieren. Bestimmte Tatsachen fallen (zwangsläufig) unter den Tisch, das Schildern von Ereignissen bleibt unvollständig.812 Wer also Autobiographien im Wege des Forschens konsultiert, muss sich die Frage stellen: „[H]aben ihm [dem Autor eines Selbstzeugnisses] Gedächtnislü­ cken einen Streich gespielt?“813 Bisweilen wird diese Problematik sogar ganz offen von denjenigen angesprochen, die sich autobiographisch mit dem eigenen Leben befassen. Beispielhaft sind vier Primärquellen für die Arbeit – die autobiographischen Zeugnisse Irmgard Möllers, Margrit Schil­ lers, Lutz Taufers und Ingrid Strobls. Auf das gedankliche Verarbeiten ihrer Haft in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim angesprochen, antwortete Möller – ehemaliges Mit­ glied der Ersten Generation der RAF – in einem Interview: „Viele Details sind mir nicht mehr ganz so präsent wie in den Jahren der Gefangenschaft. Ich denke nicht unentwegt daran.“814 Ähnlich erging es Schiller, der Zwei­ ten Generation der „Roten Armee Fraktion“ zuzurechnen. In ihrem „Le­ bensbericht“ hieß es zu einer Aktion der Gruppe: „An die Einzelheiten des Banküberfalls kann ich mich jetzt, mehr als 25 Jahre danach, nicht mehr erinnern.“815 Bezugnehmend auf das Vorbereiten der im Jahre 1975 gewagten Geiselnahme in der Stockholmer Botschaft der Bundesrepublik

809 Vgl. Baumann/Der Spiegel 1974; Baumann/Neuhauser 1978; Baumann 1980; Baumann/Kuhlbrodt 1997; Baumann/Reinecke 2013; Fritzsch/Klöpper/Rein­ ders u.a. 2003; Goder/Pehrs/Weirauch 2001; Klöpper 1987; Kröcher 1998; Kröcher/Papenfuß 2017; Kunzelmann 1998; Meyer 2008; Reinders 2003; Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003; Reinders/Fritzsch 2003; Rollnik 2007; Roll­ nik/Dubbe 2007; Viett 2007. 810 Vgl. Borgmann/Fanizadeh 2017; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zel­ len 2001; Feiling/Diehl/Linden 2008; Klein 1977; Klein 1978; Klein 1979a; Klein 1979b; Klein 1979c; Klein 1979d; Klein/Der Spiegel 1978; Klein/Libération 1978; Klein/Oey 2006; Kopp 2007; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010; Oey 2006; Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Schnepel/Wetzel 2001; Unsichtbare 2022. 811 Vgl. Dillmann/Tolmein 1996; Nomen Nominandum 2007; Strobl 2020. 812 Vgl. Engelbrecht 1992, S. 62-63. 813 Jesse 2021, S. 230. 814 Möller/Tolmein 1999, S. 136. 815 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 130.

211

4 Methodik

Deutschland räumte Taufer ein: „Ich erinnere mich nicht.“816 Zum Abfas­ sen ihres Rückblickes auf die Haft in den Jahren 1987 bis 1990 resümierte Strobl: „Je länger ich an diesem Text schreibe, desto deutlicher wird mir bewusst, an wie wenig ich mich noch erinnere.“817 Schenkt man Schiller und Taufer Glauben, ist das Fehlen etwaiger Gedankenfragmente nicht nur Ausfluss eines zeitlich bedingten Vergessens, sondern auch Ergebnis eines bewussten (selbst-)schützenden Verdrängens. Bei Schiller hieß es: „Ich hatte sie tief in meinem Gedächtnis vergraben, um niemand [sic] mit meinen Erinnerungen gefährden zu können. Jetzt, nachdem die Möglichkeit der Gefährdung vorbei ist, kann ich die Erinnerungen nicht mehr zurückrufen.“818 Und Taufer schrieb: „Vergessen wäre nach vier Jahrzehnten normal, aber vermutlich sind meine Erinnerungslücken nicht nur auf Vergesslichkeit zurückzufüh­ ren, sondern auch auf Verdrängung schmerzhafter Erinnerungen.“819 Die Herausforderungen in der Interpretation von Autobiographien speisen sich zweitens aus der Motivlage ihrer Verfasser. Rückblickendes kann be­ wusst oder unbewusst in dem Gedanken niedergeschrieben worden sein, die Wahrnehmung des Lesers zu bestimmten Lebensabschnitten und darin gefassten Entschlüssen und/oder erbrachten Leistungen in eine erwünsch­ te Richtung zu lenken.820 Anders gesagt: Das schriftliche Fixieren von Erinnerungen bietet die Chance, „das eigene Ich in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, was zu Selbstvergrößerungen oder -verkleinerungen führen kann.“821 Das trifft etwa zu, wenn der Verfasser Vorkommnisse ver­ fälscht oder verklärt, sozusagen die „Fakten […] verdreht“822 – entweder durch das Ergänzen fiktiver Angaben oder durch verzerrtes Darstellen. Er­ kennbar werden Hintergedanken auch bei einem Aussparen von Informa­ tionen, welche dem Verfasser bekannt waren oder mit großer Sicherheit bekannt gewesen sein müssten.823

816 817 818 819 820 821 822 823

212

Taufer 2018, S. 98. Strobl 2020, S. 32. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 130. Taufer 2018, S. 98. Vgl. Backes 1993, S. 151; della Porta 2013, S. 28. Henning 2004, S. 126. Jesse 2021, S. 230. Vgl. Henning 2004, S. 124.

4.1 Vergleiche

Die in dieser Arbeit zitierten Selbstzeugnisse sind nicht frei von sub­ jektiven Tendenzen und Präferenzen. Selten gestehen die Verfasser dies offen ein. Eine der wenigen Ausnahmen ist Lutz Taufers Autobiographie, findet sich in dieser doch folgende Passage: „Erinnerungen aufzuschreiben [sic] birgt immer die Versuchung des Opportunismus, der Stilisierung. Ich bin mir nicht sicher, dass ich solcher Anfechtung durchgängig wider­ standen habe.“824 Die hier angeklungene „Versuchung“ vermag nicht zu verwundern. Denn: Bei den Verantwortlichen der gesichteten Primärquel­ len handelt es sich – zusammengenommen – um eine Minorität, deren po­ litisch begründetes Handeln permanent strafrechtlich sanktionierte Gren­ zen überschritt und als „tödlicher Irrtum“825 gesellschaftliche Ächtung nach sich zog. An ihnen haftet das Stigma des Terrorismus, der über Jahre hinweg die eigene Lebensführung determinierte. Vor diesem Hintergrund bietet das Abfassen einer Autobiographie mehrere – vermeintliche – Vor­ teile: Es erlaubt einstigen Terroristen einesteils das Relativieren des eige­ nen Beitrags zu Straftaten. Anderenteils nährt es die Hoffnung, (endlich) breiteres Verständnis für die Entscheidung zugunsten der systematischen Gewalt beziehungsweise die Außenseiterrolle zu erlangen. Diese Funktio­ nen nahmen die Autoren der in dieser Arbeit berücksichtigten Selbstzeug­ nisse mal mehr, mal weniger offensiv in Anspruch. Peter‑Jürgen Boock etwa – Aktivist der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ – lie­ ferte wertvolle Innensichten zur Struktur der Gruppe unter Brigitte Mohn­ haupt, die sich in mancherlei Einzelheiten mit den Erinnerungen anderer Mitglieder der RAF decken. Indes neigte er auch zu einem „fabulierfreu­ digen“826 Umgang mit anderen Details aus der westdeutschen „Stadtgue­ rilla“ – er gilt daher als „Karl May der RAF“827. Andere Linksterroristen betteten den Beginn ihrer Radikalisierung in einen Kontext ein, der den Eindruck einer während der 1960er und 1970er Jahre in Westdeutschland vorherrschenden staatlichen wie gesellschaftlichen Repression erweckt, mithin die Aufnahme des Widerstands als Akt der Notwehr erscheinen lässt. Dabei wurden die eigenen Erlebnisse zu einem generellen Missstand erhoben, der den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprach. Beispielhaft hierfür ist das Werk des ehemaligen B2J-Mitglieds Inge Viett828 sowie die Autobiographie Hans‑Joachim Kleins, einem Repräsentanten der „Revolu­

824 825 826 827 828

Taufer 2018, S. 7. Peters 2008, S. 754. Jesse 2021, S. 226. Horst Herold, zit. n. ebd. Vgl. Viett 2007, S. 70-71.

213

4 Methodik

tionären Zellen“. Kleins Beschreiben der Lage in der Bundesrepublik zu Anfang der 1970er Jahre fällt besonders drastisch aus: „Da war doch die Situation bei uns in der legalen Linken schon so, dass alles, was du gemacht oder gesagt hast, von den Bullen, dem Staat und den Medien dazu benutzt wurde, dich zu kriminalisieren, um dich zu eliminieren.“829 Die beiden genannten Nachteile etwaiger Selbstzeugnisse lassen sich weit­ gehend ausgleichen. Zu allen drei hier untersuchten linksterroristischen Gruppen existieren mehrere wissenschaftliche Gesamtübersichten sowie diverse Primärquellen. Dieser Fundus ermöglicht ein prüfendes Gegen­ überstellen kolportierter Tatsachen und Eindrücke. Auslassungen, Irrtü­ mer, Übertreibungen, Unwahrheiten und Widersprüche treten so zutage – die Gefahr, einem Trugschluss aufzusitzen, schwindet. Punktuell lässt sich das Risiko eines Fehlschlusses indes nie ganz beseitigen – so beim zeitlichen Einordnen von Taten, wie beispielsweise dem Beitritt eines Akti­ visten zu einer terroristischen Gruppe. Für die untersuchten Beziehungen zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ gilt: Ein Großteil der vom Autor ausgewerteten autobiographischen Schilderungen greift diese auf. Einschlägige Passagen geben in der Gesamtschau ein konsistentes, vor al­ lem aber eindeutiges Bild ab. An ihnen zeigt sich die Stärke subjektiver Er­ fahrungs- und Lebensberichte: Sie erlauben einen authentischen Einblick in das Denken und Entscheiden von Protagonisten, fangen Emotionen und Stimmungslagen ein und stellen individuelle Absichten dar.830 Gera­ de diese über bloße Ereignisse hinausgehenden Aspekte erweisen sich als unerlässlich, möchte man Beziehungen als Ausdruck sozialen, zwischen­ menschlichen Handelns verlässlich nachzeichnen. 4.2 Vergleichsschema 4.2.1 AGIKOSUW-Schema nach Armin Pfahl-Traughber Eine erste Blaupause für das Inbeziehungsetzen der drei genannten Grup­ pen liefert das „AGIKOSUW‑Schema“. Armin Pfahl-Traughber konzipier­ te dieses Raster 2014 mit dem Ziel, eine handwerkliche Grundlage anzu­ bieten, die zum einen das Einstufen eines Akteurs als „terroristisch“, zum 829 Klein 1977, S. 41. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden. 830 Vgl. Engelbrecht 1992, S. 63; Henning 2004, S. 125.

214

4.2 Vergleichsschema

anderen das detaillierte Freilegen seines spezifischen Profils erlaubt.831 Der zweitgenannte Aspekt soll wiederum „eine analytische Basis für die Ein­ schätzung des Gefahrenpotentials“832 der jeweils in den Fokus gerückten Person(en) oder Entität(en) unterbreiten. Das Akronym „AGIKOSUW“ setzt sich aus den ersten Buchstaben der insgesamt acht Kategorien des Musters zusammen. Diese Kategorien beherbergen ihrerseits diverse SubKriterien: 1. Aktivisten, – Alter, Beruf, Bildung, Geschlecht, Herkunft, – politische, religiöse oder soziale Kontexte als Ausgangspunkt des Sich-Hinwendens zum Terrorismus, 2. Gewaltintensität, – fünfstufige Messspanne: Anschläge gegen Sachen, Körperverletzun­ gen geringen Grades, Körperverletzungen höheren Grades, bewuss­ tes Töten einzelner Personen, bewusstes Töten einer unbegrenzten Anzahl von Personen, 3. Ideologie, – Inhaltliche politische Begründung, – Zielsetzung, – Opfergruppen und Zielorte der Gewaltanschläge, 4. Kommunikation, – Kommunikationsmittel, – Zielgruppen politischer Botschaften, 5. Organisation, – personelle Stärke, – struktureller Aufbau und Hierarchien, 6. Strategie, – Selbstverständnis des terroristischen Akteurs, – Interaktion mit dem Umfeld, – Interaktion mit dem Staat,

831 Vgl. Pfahl-Traughber 2014b, S. 401, 418. Anwendung fand das „AGIKOSUWSchema“ auch beim Erforschen rechts motivierter Mehrfach- und Intensivtäter in Sachsen. Matthias Mletzko zog es allerdings heran, um extremistische Grup­ pen zu charakterisieren. Vgl. Mletzko 2014. Sebastian Gräfe diente das Raster Pfahl‑Traughbers als Grundlage für einen Vergleich rechtsterroristischer Akteu­ re in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Gräfe 2017, S. 40-41; Gräfe 2018, S. 218. 832 Pfahl-Traughber 2014b, S. 418.

215

4 Methodik

– Interaktion mit Opfergruppen, – Interaktion mit Zielgruppen, 7. Umfeld, – direkte und illegale Hilfe, – indirekte und legale Unterstützung, – Einstellungspotential in ideologisch nahestehenden Bewegungen, – Einstellungspotential in der Bevölkerung, 8. Wirkung, – Resonanz der Bevölkerung, der Medien, der Politik und des Staates, – Reichweite terroristischer Aktivitäten. Über das Kriterium der „Aktivisten“ sollen die soziodemographischen Daten der Mitglieder einer terroristischen Formation dargelegt werden. Berücksichtigung erfahren könnten hierbei diverse Parameter – zum Bei­ spiel Alter, Geschlecht, schulische und berufliche Bildung oder politische Aktivitäten vor dem Einstieg in den Terrorismus. Wer Informationen zu diesen Merkmalen zusammengetragen hat, vermag Aussagen dazu zu treffen, welche potentiellen oder tatsächlichen Fähigkeiten die jeweilige Entität im Hinblick auf das Erarbeiten und Vermitteln programmatischer Grundlagen sowie auf das Planen und Umsetzen von Anschlägen zu be­ dienen vermag.833 Letztes steht im Zentrum der zweiten Variablen, die sich der „Gewaltintensität“ als einem der wichtigsten Attribute des Terroris­ mus widmet. Um diese feststellen und differenzieren zu können, schlug Pfahl‑Traughber das Einordnen in eine fünfstufige Messspanne vor. Sie reicht von gewaltsamem Handeln gegen Objekte bis zum Töten einer unbestimmten Anzahl von Menschen. Zwischen beiden Ausprägungen siedelte er das bewusste Verletzen eines Individuums, den Mord an einer Person und das Inkaufnehmen von Kollateralschäden an.834 Wie sich un­ ter 1.3.4 herausstellte, verbinden Terroristen solche Gewalt mit einer po­ litischen Motivation. Diese Motivlage nimmt das „AGIKOSUW-Schema“ vermittels des Parameters „Ideologie“ in den Blick. Das Kriterium zerfällt in drei Teile: die weltanschauliche Argumentation sowie die daraus abgeleite­ ten Feindbilder und Alternativentwürfe. Betrachtet man eingehend alle drei Felder, könne, so Pfahl-Traughber, ein Urteil zur politischen Ausrich­ tung des jeweiligen Akteurs gefällt werden. Entsprechend des vielfach zu beobachtenden Kalküls der Mitglieder einer terroristischen Entität soll das Anwenden von Gewalt die ihr zugrun­ 833 Vgl. ebd., S. 404-405. 834 Vgl. ebd., S. 405-406.

216

4.2 Vergleichsschema

de liegenden politischen Inhalte verdeutlichen und einem Auditorium näherbringen.835 Ein derartiger Prozess der „Kommunikation“ konstituiert das vierte Kriterium des „AGIKOSUW-Schemas“. Pfahl-Traughber unter­ schied hier zunächst nach der Form, in der eine Botschaft transportiert wird. Terroristen würden die Urheberschaft und Gründe ihrer Gewalt unmittelbar und/oder mittelbar offenbaren. Das direkte Vermitteln erfolge – beispielsweise – mit Bekennerschreiben, welche die Täter am Ort des Anschlags hinterlegten oder ex post mithilfe breitenwirksamer Medien veröffentlichten. Das indirekte Darlegen politischer Positionen gelte bei gewaltsamen Aktivitäten, die über einen speziellen Modus Operandi oder die konkrete Wahl des Opfers aus sich heraus verständlich sein sollten und daher ohne ein sich anschließendes (schriftliches) Rechtfertigen auskämen. Das weitere, von Pfahl-Traughber vorgenommene Operationalisieren des Faktors „Kommunikation“ baute auf einem Abgrenzen der Adressaten auf, an die sich terroristische Gewalt richtet. Die Ausführenden der Gewalt würden nicht nur Schrecken in ausgewählte gesellschaftliche Bereiche tragen und/oder die Überreaktion staatlicher Stellen provozieren wollen. Relevant wäre überdies die Hoffnung, Sympathie und Unterstützung des extremistischen Umfeldes, der Bevölkerung eines Landes oder der Weltöf­ fentlichkeit für die eigene Agenda zu akquirieren.836 Die fünfte Variable des „AGIKOSUW-Schemas“ setzt an strukturellen Besonderheiten an – diese formen ein Bild zur internen „Organisation“. Neben der personellen Stärke ist die Existenz von Über‑/Unterordnungs­ verhältnissen entscheidend. Laut Pfahl-Traughber ergeben die unterschied­ lichen Ausprägungen dieser beiden Eigenschaften in Kombination fünf Arten terroristischer Akteure: der einzeln agierende Terrorist, auf Zel­ lenbildung vertrauende Gruppen, hierarchische Entitäten mit wenigen Mitgliedern, militärischer Ordnung nahekommende Verbände und Zu­ sammenschlüsse, die Teil einer größeren Formation (zum Beispiel: einer Partei) sind.837 Wie sich Terroristen organisatorisch aufstellen, hängt oft­ mals von Vorgaben, Erfordernissen und Erfahrungen ab, die sich in der selbst gesetzten „Strategie“ widerspiegeln. Terroristen wählen ein (Revolu­ tions-)Modell, mit dem sie den Versuch unternehmen, ihre politischen Ziele in die Tat umzusetzen. Geprägt werde diese Handlungsanleitung, so Pfahl-Traughber, vom Selbstbild des terroristischen Akteurs. Maßgeblich sei außerdem die Interaktion zwischen seinen Mitgliedern, seinem unmit­

835 Vgl. ebd., S. 406-408. 836 Vgl. ebd., S. 409-410. 837 Vgl. ebd., S. 410-412.

217

4 Methodik

telbaren Umfeld, den staatlichen Organen, vom Terrorismus betroffenen Opfern und dem Empfängerkreis, der durch die politisch motivierte Ge­ walt eine Mobilisierung erfahren soll. Anschläge könnten der einseitigen Absicht folgen, ein Fanal zu setzen, das Teile einer Gesellschaft sukzessive zum Handeln bringt. Alternativ lasse sich Gewalt unter dem Paradigma anwenden, staatliche Funktionsträger zu unverhältnismäßiger Repression zu drängen, die bestimmte Zielgruppen in die Arme des Terrorismus treibt.838 Der dabei de facto erreichte Zuspruch berührt das nächste Kriterium: Unter „Umfeld“ gab das „AGIKOSUW-Schema“ jene Ebenen an, auf denen ein terroristischer Akteur Hilfe erhalten könne. Denkbar seien direkte und indirekte Arten des Unterstützens. Während direkte Hilfe strafbares Aneignen und Weitergeben von Materialien (unter anderem: Ausweisdo­ kumente, Waffen) einschließe, beschränke sich indirektes Unterstützen auf propagandistische Aktivitäten zugunsten einer terroristischen Entität. Andere Formen des Unterstützens bildeten ein Befürworten terroristischer Gewalttaten in politischen Bewegungen und in der Bevölkerung ab.839 Derartige Reaktionen sind eng mit dem letzten Parameter des Analyseras­ ters verknüpft: der „Wirkung“. Pfahl‑Traughber zufolge sind drei Perspek­ tiven relevant. Die erste rücke die Frage in den Mittelpunkt, ob terroristi­ sche Aktivitäten überhaupt eine Resonanz erfahren (haben). Unter dem zweiten Blickwinkel würden die einzelnen Antworten auf den Terroris­ mus begutachtet – diese könnten vom Umfeld, von einer Regierung und/ oder von den Adressaten terroristischer Botschaften ausgehen. Den dritten Schwerpunkt schaffe der Aktionsradius der Terroristen. Terroristische Ak­ teure begrenzten ihre Aktivitäten auf das Territorium eines einzelnen Staa­ tes, schüfen Verbindungen ins Ausland und/oder formulierten politische Ansprüche über Staatsgrenzen hinaus. Die räumliche Präsenz bestimme die Perzeption terroristischer Gewalt in den Medien, der Politik und in den betroffenen Gesellschaften.840 Abschließend sei auf Folgendes hingewiesen: Das „AGIKOSUW-Sche­ ma“ ist bewusst als „Beitrag zur analytischen Erweiterung und Systemati­ sierung der […] Terrorismusforschung“841 gedacht. Pfahl‑Traughber pro­ klamierte weder die abschließende Gültigkeit noch die inhaltliche Ge­ schlossenheit seines Rasters, im Gegenteil: Explizit verwies er auf die Mög­

838 839 840 841

218

Vgl. ebd., S. 412-413. Vgl. ebd., S. 414-415. Vgl. ebd., S. 415-416. Ebd., S. 418. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden.

4.2 Vergleichsschema

lichkeit, die von ihm vorgeschlagenen Kategorien auszubauen und mit einer eindeutigen, trennschärferen Untergliederung zu hinterlegen. Gera­ de Letztgenanntes würde das Schema für das komparative Freilegen von Identitäten und Differenzen zwischen terroristischen Gruppen öffnen842 – also ein Vorgehen erlauben, welches nicht nur Entwicklungen innerhalb einer Spielart des Terrorismus, sondern auch phänomenbereichsübergrei­ fende Aspekte politisch begründeter Gewalt nachvollziehbar machen kann. 4.2.2 Anpassung des AGIKOSUW-Schemas Wie im Unterkapitel 3.2.1 beschrieben, dürften sich über deklarative Akte hinausgehende assoziative Beziehungen zwischen den deutschen linksterro­ ristischen Gruppen dann gebildet haben, wenn sie untereinander Kommu­ nikationskanäle schaffen konnten. Diese Kontaktmöglichkeiten beruhten vermutlich einesteils auf persönlichen Kennverhältnissen, anderenteils auf durchlässigen Gruppengrenzen, die ein Sich-Verbinden mit externen Per­ sonen vorsahen. Positive Interaktionen waren aller Voraussicht nach auch (und vor allem) abhängig von operativen Bedürfnissen. Möglicherweise aus einem Mangel an Alternativen – wie zum Beispiel die Kooperation mit einem ressourcenstarken Gleichgesinnten im Ausland – versprachen sich die Mitglieder der Gruppen von einer Partnerschaft im bundesrepublika­ nischen Linksterrorismus das Ausgleichen eigener Defizite. Wurde diese Erwartung nicht erfüllt, so die Annahme, löste sich die assoziative Verbin­ dung auf. Adversative Beziehungen hatten ihren Ursprung – mutmaßlich – unter anderem in unterschiedlichen Organisationsstrukturen: Es könnte zu Streitigkeiten entlang der Frage nach dem „erfolgreicheren“ Modell gekommen sein. All diese Überlegungen – die der Autor unter Punkt 3.2.3 in die Hypothesen eins bis vier sowie sechs bis acht goss – tangieren das im „AGIKOSUW-Schema“ enthaltene Kriterium der „Organisation“, also die Art und Weise, in der sich Terroristen zu einer nach außen abgrenz­ baren Entität zusammenschließen. Partielle Schnittmengen ergeben sich daneben zum Parameter der „Aktivisten“ sowie zum Merkmal „Umfeld“. Die von Pfahl-Traughber unter dem Kriterium der „Aktivisten“ ange­ sprochenen Kontexte der Radikalisierung terroristischer Aktivisten bilden ein brauchbares Instrument für das Beantworten der an Ely Karmons

842 Vgl. ebd., S. 419.

219

4 Methodik

Forschungsergebnisse843 angelehnten Frage, ob und inwiefern innerhalb der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ Wissen zum Aufbau von Kom­ munikationskanälen zu den jeweils anderen Entitäten existierte (erste Hy­ pothese). Wird das individuelle politische Wirken und die Gruppenzuge­ hörigkeit derjenigen Personen beleuchtet, die schließlich Anschluss an die RAF, die TW/die B2J oder die RZ fanden, treten persönliche Bekannt­ schaften dieser Individuen aufgrund von Aktivitäten im selben geographi­ schen (etwa in einem Stadtviertel) und/oder organisatorischen Rahmen (zum Beispiel in linksextremistischen Kampagnen oder Strukturen) her­ vor. Solche vor dem Einstieg in den „bewaffneten Kampf“ gemachten Be­ kanntschaften lassen sich als Näherungswert für ein Wissen begreifen, das innerhalb der Akteure der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ zum Aufbau von Kommunikationskanälen zu den jeweils anderen deut­ schen linksterroristischen Gruppen abrufbar war. Denn: Wer eine Person kennengelernt hat, kann im Regelfall später noch rekonstruieren, wel­ ches Umfeld (zum Beispiel: Szenetreffpunkt) aufzusuchen beziehungswei­ se welche Drittpersonen (etwa: Freunde) anzusprechen ist/sind, um den Kontakt wiederherzustellen. Dies untermauert unter anderem der Blick in die Entwicklungen des deutschen Rechtsterrorismus. Zur Gründung der „Europäischen Befreiungsfront“ Ende der 1960er Jahre merkte die einschlägige Forschung an: „Kontakte wurden zumeist über persönliche Bekanntschaften hergestellt, die oftmals noch aus der gemeinsamen Arbeit in der NPD [‚Nationaldemokratische Partei Deutschlands‘] oder deren Jugendorganisation JN [‚Junge Nationalisten‘] bestanden.“844 Selbstredend können Bekanntschaften und daraus resultierende Kommunikationskanä­ le erst während der terroristischen Phase der Aktivisten erwachsen sein – so durch persönliche Begegnungen in einem Trainingslager einer auslän­ dischen terroristischen Organisation. Zu verknüpfen ist daher der Blick auf das Sich‑Hinwenden zum Linksterrorismus mit einem Erfassen von Kontakten zwischen Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“, der „Tu­ pamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ im Laufe ihrer Einbindung in diese Zirkel entweder außerhalb oder innerhalb von Gefängnissen. Der im Parameter „Organisation“ des AGIKOSUW-Schemas auffindbare Wert „struktureller Aufbau und Hierarchien“ spiegelt den Kernpunkt der Hypothesen zum Grad der Abschottung nach außen (zweite Hypothese) 843 Vgl. Karmon 2005, S. 303. 844 Gräfe 2017, S. 87. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden.

220

4.2 Vergleichsschema

sowie zu Meinungsverschiedenheiten um organisatorische Aspekte (achte Hypothese) wider. Wesentlich beeinflusst wird der „strukturelle Aufbau“ einer terroristischen Gruppe in der Theorie und in der Praxis typischerwei­ se von dem Erfahrungshorizont der Mitglieder, der sich wiederum aus „Berufstätigkeit und Bildung“ (im AGIKOSUW-Schema genannt unter „Aktivisten“) speist. Dieser kann Grundlage für das Formulieren von inter­ nen Maßgaben sein und zugleich den tatsächlichen Umgang untereinan­ der prägen: Hat man zum Beispiel als Arbeiter berufliche Hierarchien als erdrückend, die starre Etikette des Arbeitslebens als lustfeindlich wahrge­ nommen, erscheint das Ablehnen von Über‑/Unterordnungsverhältnissen und das Fördern eines hedonistischen Miteinanders im eigenen terroristi­ schen Zirkel naheliegend. Dementsprechend sind soziodemographische Besonderheiten im Hinblick auf die formale Bildung der Mitglieder eben­ falls unter den genannten Hypothesen (zwei und acht) anzusiedeln. Das Sub‑Kriterium „Berufstätigkeit und Bildung der Mitglieder“ lässt sich zu­ dem, ebenso wie „personelle Stärke“ (im AGIKOSUW‑Schema aufgeführt unter „Organisation“) und „direkte/illegale und indirekte/legale Hilfsleis­ tungen des Umfeldes“ (dargelegt unter „Umfeld“), als elementarer Be­ standteil der Annahmen zum Erfüllen operativer Bedürfnisse verstehen (dritte, vierte, sechste und siebte Hypothese). Die Relevanz dieser Sub-Kriterien wird beispielsweise bei Tricia Bacon deutlich, die anhand des in Ägypten während der 1970er und 1980er Jahre aufgekommenen islamistisch motivierten Terrorismus die Auslöser organi­ satorischer Differenzen erläuterte. Während sich „al Jihad“ – der offenbar aus Mitgliedern mit höherer Bildung und/oder beruflicher Erfahrung im ägyptischen Sicherheitsapparat bestand – als konspirative, straff geführte Organisation etabliert habe, sei von der – auf benachteiligte Teile der ägyp­ tischen Gesellschaft bauenden – „al Jama'a al Islamiyya“ ein duales System gewählt worden, in dem ein bewaffneter Arm die legalistischen Strukturen flankierte. Diese Unterschiede gingen mit den disparaten ideologischen und strategischen Auffassungen einher, welche das adversative Verhältnis der beiden Akteure entstehen ließen.845 Assoziative Beziehungen hervor­ bringende operative Bedürfnisse treten laut Bacon unter anderem als Man­ gel an Kenntnissen und als Lücken in der Personaldecke auf, welche durch staatliche Abwehrmaßnahmen geschlagen wurden. Erstes veranschaulichte Bacon mithilfe der Zweiten Generation der RAF, Letztes am Fall des ägyp­ tischen „al Jihad“: Die Kontakte der RAF zur PFLP-SOG seien Defiziten

845 Vgl. Bacon 2013, S. 459-460.

221

4 Methodik

in Kampftechniken entsprungen.846 Die Mitgliederzahl des „al Jihad“ ha­ be sich infolge sicherheitsbehördlicher Aufklärung zunehmend verringert und den Ausschlag für die Kooperation mit der von Osama bin Laden geführten „al Qaida“ gegeben.847 Neben den vor und während der Mitgliedschaft aufgebauten Kennver­ hältnissen unter den Aktivisten der westdeutschen „Stadtguerilla“ nimmt der Autor folglich das Organisationsmodell, die Berufstätigkeit und Bil­ dung der „Stadtguerilleros“, die personelle Stärke sowie das Unterstützen einer Peripherie als Variablen in das Analyseschema der Arbeit auf. Diese werden wie folgt geordnet: – Die Struktur der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westber­ lin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ sowie der schulische und berufliche Vorlauf ihrer Angehörigen finden sich unter dem Analysegut „struktureller Aufbau“. Einblick geben soll dieses zum einen in den selbst gewählten Zusammenschluss, der zwischen einer zellulären Form und einer abgeschlossenen Gestalt in Anlehnung an eine Kaderorganisation rangieren konnte. Zum anderen rückt die mit der jeweiligen Organisationsart einhergehende interne Diskussi­ onskultur und Entscheidungsfindung in den Fokus – dies war entwe­ der kollektiver oder zentralistischer Natur. Da hierbei Teile der Biogra­ phien der Mitglieder zur Sprache kommen, bietet es sich an, den Blick auf persönliche Kennverhältnisse vor und während der Einbindung in den Terrorismus ebenfalls dem Punkt des „strukturellen Aufbaus“ zu­ zuschlagen. Hierfür spricht auch Folgendes: Aufgrund solcher Bekannt­ schaften zirkulierte im westdeutschen Linksterrorismus Wissen zur in­ ternen Struktur des jeweils anderen Zirkels. Dieses Wissen fungierte als Basis für organisatorische Alternativentwürfe. – Operative Fähigkeiten und Kenntnisse der Aktivisten, die personelle Ausstattung sowie die direkte und indirekte Hilfe eines Umfeldes fallen dagegen unter das Analysegut „Gruppen- und Aktionsstärke“. Berücksich­ tigung findet hier gleichermaßen die operative Ausstattung der Grup­ pen. Denn das Freilegen der Personalsituation und der Verbindungen zur Peripherie reichen alleine nicht aus, um die Hypothesen zum Er­ füllen struktureller Bedürfnisse einer Kontrolle zu unterziehen: Bacon zufolge können derartige Bedürfnisse gleichermaßen aus einem Mangel

846 Vgl. ebd., S. 210-211. 847 Vgl. ebd., S. 484-487.

222

4.2 Vergleichsschema

an Material erwachsen.848 Unter dem Analysegut „Gruppen- und Akti­ onsstärke“ zeichnet der Autor nach, wie sich die Personalsituation der drei deutschen linksterroristischen Akteure entwickelte, über welche Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und Sprengstoff die Mitglieder verfügten und auf welche Materialien (zum Beispiel: Waffen, Fahrzeu­ ge, gefälschte Identitätsnachweise), Zufluchtsorte und Finanzen sie zu­ greifen konnten. Die Aufmerksamkeit wird dabei gleichermaßen auf die Quellen dieses immateriellen und materiellen Vermögens gerichtet.

Abb. 8: Die Variable „Organisation“ als Bedingungsfaktor der Beziehungen im deutschen Linksterrorismus (Quelle: eigene Darstellung) Die Analysegüter „struktureller Aufbau“ und „Gruppen- und Aktionsstär­ ke“ bündelt der Autor wiederum unter dem Oberbegriff der „Organisa­ tion“. Anders als im AGIKOSUW-Schema Pfahl‑Traughbers ist hiermit also nicht nur die bloße, äußerlich wahrnehmbare Struktur einer auf gemeinsamer Willensbildung der Mitglieder beruhenden terroristischen Entität gemeint. Der Begriff beschreibt in der Arbeit auch die hinter dieser Struktur stehenden Erfahrungen, Ressourcen und zwischenmenschlichen

848 Vgl. ebd., S. 202-203.

223

4 Methodik

Interaktionen nach innen und außen. Dieses Zusammenziehen der bei Pfahl‑Traughber getrennten Kriterien der „Aktivisten“, der „Organisation“ und des „Umfeldes“ bietet sich an, weil sie im Kern differente Merkmale desselben Untersuchungsgegenstandes – der Funktionsweise einer Gruppe – anzeigen, mithin in einem unmittelbaren inhaltlichen Zusammenhang stehen. Da sich die übrigen, in Unterkapitel 3.2.3 genannten Hypothesen auf die terroristische Strategie beziehen, schließt der Autor Pfahl-Traughbers Parameter der „Ideologie“ gänzlich aus dem Analyseraster der Arbeit aus. Wie sich aus dem Forschungsstand zu Beziehungen terroristischer Akteu­ re ergibt, kommt strategischen Schnittmengen als sekundäre Triebkraft hinter operativen Bedürfnissen möglicherweise eine entscheidende Rolle beim Aufkommen assoziativer Verhältnisse zu. Differente Strategien dage­ gen lassen – vermutlich – positive, auf Bedürfniserfüllung fixierte Bezie­ hungen zerbrechen. Überdies könnten solche Unterschiede von Beginn an eine negative Interaktion zwischen terroristischen Akteuren nähren: Die Beteiligten konkurrieren vermittels disparater strategischer Konzepte um die als interessiert unterstellten Dritten und werten sich dabei wechselsei­ tig ab. Der Begriff der Strategie ist dehnbar – er kann eine Vielzahl an Merkma­ len berühren. Im AGIKOSUW‑Schema dient er in erster Linie dazu, das Selbstverständnis der Terroristen sowie die von diesem ausgehenden Inten­ tionen und Handlungen zu erfassen. Obgleich „Gewaltintensität“, „Kom­ munikation“ und „Wirkung“ taktische Aspekte tangieren und folglich un­ mittelbarer Ausfluss des strategischen Kalküls terroristischer Akteure sind, löste Pfahl‑Traughber diese Werte – als jeweils eigenständiges Kriterium – von der Variablen der „Strategie“. Die unter die Parameter „Strategie“, „Gewaltintensität“, „Kommunikation“ und „Wirkung“ fallenden Sub-Kri­ terien des AGIKOSUW‑Schemas ermöglichen das Operationalisieren der im Punkt 3.2.3 niedergelegten Annahmen zum Einfluss strategischer Para­ digmen in etwaigen, auf operativen Bedürfnissen basierenden assoziativen Verhältnissen (Hypothesen fünf und sieben) sowie zur Relevanz strategischer Meinungsverschiedenheiten innerhalb negativer Interaktionen zwischen terroristischen Akteuren (Hypothese neun). Die Bedeutung des (im AGIKOSUW-Schema unter „Strategie“ genann­ ten) Selbstverständnisses für das Entstehen terroristischer Beziehungen hob Pfahl‑Traughber in seinem Grundlagenwerk zum deutschen Linksex­ tremismus hervor: Die „Rote Armee Fraktion“ habe sich in den Augen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ infolge ihrer

224

4.2 Vergleichsschema

Eigeninterpretation als Avantgarde desavouiert.849 Wunschik lenkte den Fokus auf das internationalistische Selbstbild (im AGIKOSUW‑Schema gelistet unter „Wirkung“). Er sah die B2J in Opposition zu der Auffassung der RAF, Bestandteil eines globalen „Freiheitskampfes“ zu sein.850 Unter­ schiedlichen Vorstellungen zur Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Akteuren (im AGIKOSUW-Schema ebenfalls aufgeführt unter „Strategie“) attestierte Bacon am Beispiel des „al Jihad“ und der „al Jama'a al Islamiy­ ya“ eine destruktive Wirkung auf das Verhältnis terroristischer Entitäten. Während der „al Jihad“ in Ägypten das Unterwandern staatlicher Institu­ tionen angestrebt und einen Staatsstreich zugunsten einer Theokratie im Sinn gehabt habe, sei die „al Jama'a al Islamiyya“ von der Notwendigkeit ausgegangen, eine „Revolution von unten“ durch das Partizipieren der Bevölkerung loszutreten. In dieser von Bacon identifizierten Differenz spiegelte sich fürderhin ein unterschiedliches Urteil zu den Adressaten ter­ roristischer Botschaften (bei Pfahl-Traughber vermerkt unter „Kommuni­ kation“) wider: Hob die „al Jama'a al Islamiyya“ die ägyptischen „Massen“ in den Stand eines revolutionären Subjekts, sprach ihnen der „al Jihad“ diese Eigenschaft offenbar gezielt ab.851 Neben Bacon unterstrich Hagerty Streitigkeiten zu strategischen Para­ digmen (also zu der im AGIKOSUW-Schema unter „Strategie“ beschriebe­ nen Interaktion mit dem Umfeld, dem Staat, den Opfer- und Zielgruppen) als Triebkraft terroristischer Beziehungen. Sie zeigte jedoch ebenfalls po­ sitive Effekte vergleichbarer Strategien auf. Als Forschungsobjekt wählte sie die Relation zwischen der „al Qaida“ sowie der „Gemeinschaft für Tauhid und Jihad“ und deren Nachfolgeorganisation. Die Interaktion die­ ser Formationen begünstigt habe die Invasion 2003 im Irak, hätte dieses Ereignis doch den von „al Qaida“ bevorzugten Kampf gegen die zum „fernen Feind“ erhobenen USA mit dem von Abu Musab al Zarqawi als dringlich eingestuften Sturz regionaler Regime im Nahen Osten zusam­ mengeführt. Als al Zarqawi später einer Strategie den Vorzug gegeben habe, welche durch Anschläge auf Schiiten und deren Heiligtümer einen konfessionell motivierten Bürgerkrieg im Irak auszulösen suchte, seien Differenzen offen thematisiert worden.852 Aus Hagertys Argumentation ergibt sich darüber hinaus die Nutzbarkeit der im AGIKOSUW‑Schema hinterlegten Parameter der „Gewaltintensität“, der „Kommunikation“ und

849 850 851 852

Vgl. Pfahl-Traughber 2014, S. 177. Vgl. Wunschik 1997, S. 383-384. Vgl. Bacon 2013, S. 446-447, 454-456. Vgl. Hagerty 2016, S. 11-12.

225

4 Methodik

der „Wirkung“. Hagerty zufolge belastete nicht nur das Revolutionsmodell al Zarqawis das Verhältnis zur „al Qaida“. Unmut nach sich gezogen habe überdies das brutale Töten von Geiseln sowie das mediale Vermarkten sol­ cher Taten. Derartige – schwer vermittelbare – Gewalt stoße Zielgruppen ab, so „al Qaida“.853 Demnach belegte das von Osama bin Laden geführte Netzwerk al Zarqawis Organisation – aus Sorge um die Reputation des jihadistischen Kampfes, mithin aus opportunistischen Erwägungen heraus – die Grenzen gewaltsamer Handlungen und terroristischer Kommunika­ tion. Laut Pfahl-Traughber prägten Konflikte um die Frage der Gewalt gleichermaßen die Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutio­ nären Zellen“. Im Zentrum dieser Streitigkeiten gestanden hätten eben­ falls Überlegungen zu den potentiellen und tatsächlichen Reaktionen in unterstützenden beziehungsweise sympathisierenden Milieus.854 Die als relevant klassifizierten Sub-Kriterien aus den im AGIKOSUWSchema auffindbaren Oberkategorien „Strategie“, „Gewaltintensität“, „Kommunikation“ und „Wirkung“ ordnet der Autor wie folgt: – Welche Funktion sich die RAF, die TW/die B2J und die RZ in der von ihnen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland angestrebten Revolution jeweils zuschrieben, ob sie sich als Vorreiter oder als genuin unterstützender Akteur auf Augenhöhe mit den als interessiert unter­ stellten Dritten wahrnahmen und welche Konsequenzen die Eigenin­ terpretation in der Praxis hatte – dies beantwortet die Arbeit unter dem Analysegut „Selbstverständnis“. – Hiervon zu unterscheiden ist die Rolle, welche die Zirkel der westdeut­ schen „Stadtguerilla“ für sich im internationalen Rahmen reklamier­ ten. Als dezidierte „Antiimperialisten“ mussten sie sich zu den „Befrei­ ungskämpfen“ in der Dritten Welt in Beziehung setzen – entweder durch das Anerkennen einer avantgardistischen Stellung dieser Kämpfe gegenüber dem „Widerstand“ in den Industrieländern oder durch das Betonen eines paritätischen Verhältnisses zwischen der sozialrevolutio­ nären Opposition in den „imperialistischen Metropolen“ und jener in der „Peripherie“. Da die Sicht auf die Entwicklungsländer ebenso prägend für das Selbstverständnis des bundesrepublikanischen Links­ terrorismus war wie die Funktion im avisierten nationalen Umbruch in Westdeutschland, soll ihr ein separates Analysegut gewidmet werden. 853 Vgl. ebd., S. 1-2. 854 Vgl. Pfahl-Traughber 2014, S. 177.

226

4.2 Vergleichsschema

Dieses trägt den Titel „Internationalismus“. Selbstredend thematisiert es auch die praktischen Auswirkungen, die aus der jeweiligen Haltung gegenüber „Kämpfen“ im Ausland erwuchsen. – Da die Fragen nach der Interaktion mit dem Umfeld, dem Staat, den Opfer- und Zielgruppen, nach der Kommunikation und der Wirkung eng miteinander verbundene Teile jenes Pfades sind, den Terroristen zur Erfüllung ihrer politischen Alternativentwürfe beschreiten, zieht der Autor sie unter dem Analysegut „Revolutionsmodell“ zusammen. Das bedeutet: Neben ideellen Konstrukten zum konkreten Verlauf und den vermeintlichen Profiteuren (revolutionäre Subjekte) der avisierten Zäsur finden Kommunikationsmittel Erwähnung, welche die Botschaf­ ten der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Be­ wegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ zugänglich machen sollten. Das Spektrum dieser Mittel reichte von einer „Propaganda der Tat“ bis hin zu regelmäßig veröffentlichten Zeitschriften. Verglichen wird ferner die Resonanz der Gruppen auf Basis ihrer gewaltsamen Kampagnen. – Was Pfahl-Traughber unter „Gewaltintensität“ subsumierte, greift der Autor unter dem Analysegut „Gewaltverständnis“ auf. Die zentrale Rolle gewaltsamen Handelns für terroristische Agenden rechtfertigt den Entschluss, die Gewalt westdeutscher „Stadtguerilleros“ in einem eigenständigen Unterkapitel der Arbeit zu beleuchten. Der Autor prä­ sentiert zum einen die Quantität (Anschlagszahl und ‑frequenz) und Qualität (Modus Operandi, angegriffene Personen und Objekte) der gewaltsamen Aktivitäten. Zum anderen bietet er eine – im AGIKO­ SUW-Schema nicht vorgesehene – Übersicht zu Grenzen der Gewalt der Gruppen im internen Diskurs und in der Propaganda. Beides – die Gewaltintensität und die eigene Sicht westdeutscher Linksterroristen auf Gewalttaten – soll Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem praktischen Umsetzen der Gewalt und dem theoretischen Funda­ ment dieser Praxis an die Oberfläche bringen.

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4 Methodik

Abb. 9: Die Variable „Strategie“ als Bedingungsfaktor der Beziehungen im deutschen Linksterrorismus (Quelle: eigene Darstellung) Inhaltlich gesehen, teilen die Analysegüter „Selbstverständnis“, „Interna­ tionalismus“, „Revolutionsmodell“ und „Gewaltverständnis“ eine unmit­ telbare Nachbarschaft: Sie alle finden sich auf einer strategisch-taktischen Ebene. Aus diesem Grunde fasst sie die Arbeit unter dem Oberbegriff der „Strategie“ zusammen – das im AGIKOSUW-Schema ersichtliche Abtren­ nen taktischer Elemente von grundsätzlichen strategischen Aspekten kehrt sich also um.

228

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und zu den „Revolutionären Zellen“

5.1 Entstehung 5.1.1 „Außerparlamentarische Opposition“, Tod Benno Ohnesorgs, Attentat auf Rudi Dutschke (1965 bis 1968) Ab Mitte der 1960er Jahre855 entwickelte sich vor allem an westdeutschen Universitäten zusehends die Bereitschaft, die gesellschaftlichen und politi­ schen Gegebenheiten der Bundesrepublik in Frage zu stellen und alternati­ ve Weltbilder wie Lebensmodelle zu propagieren. Örtliche Schwerpunkte des aufkeimenden Protests bildeten unter anderem Westberlin, Frankfurt am Main sowie München – Großstädte, in denen Wohnheime und -ge­ meinschaften (zum Teil als „Kommunen“ deklariert) sowie Örtlichkeiten des öffentlichen Lebens (Kneipen, Gaststätten) ein vielseitiges Angebot zum Austausch mit Gleichgesinnten boten.856 Vorangetrieben wurde der Abgrenzungsprozess durch die nach 1945 herangewachsene Friedensgene­ ration, welche die ab 1949 im Grundgesetz verankerten Rechte „nicht […] in existentiellen Gefährdungen erfahren“857 musste. Vielmehr konnte sie an die im „Wirtschaftswunder“ gipfelnden Wiederaufbauleistungen der Nachkriegsjahre anknüpfen und eine kritische Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen der Eltern und ihrer Rolle im Dritten Reich wagen.858 Der Unmut dieser Generation stütze sich auf ein Konglomerat aus differenten Ursachen und Triebkräften, die im universitären Milieu sowie auf der innen- und weltpolitischen Bühne anzusiedeln sind. Er fand in Gruppen unterschiedlichster politischer Couleur und einem breiten Spektrum an Aktionsformen Ausdruck.

855 Vgl. Rabert 1995, S. 89. 856 Vgl. Klein 1979a, S. 39-40, 137-141; Claessens/de Ahna 1982, S. 47-48; Kraushaar 2006c, S. 588; Kraushaar 2013, S. 336-337. 857 Rabert 1995, S. 90; Peters 2008, S. 82. 858 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 21, 40.

229

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Aufgrund wachsender Zugangsbeschränkungen und einer Dominanz alteingesessener Ordinarien, für die die Studentenbewegung den Aus­ spruch „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“859 prägte, formierte sich zunächst insbesondere an den Universitäten Westberlins der Wider­ stand.860 Weiteren Auftrieb erhielt er 1966 mit dem Zusammentreten der „Großen Koalition“ aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) sowie dem Bündnis der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Christlich-Sozialen Union (CSU). Mit diesem Schritt bildete die vergleichsweise schwache Freie Demokratische Partei (FDP) im Bundestag als einziger Akteur ein Gegengewicht zur Bundesregierung.861 Das Fehlen einer großen parlamentarischen Opposition nahmen diverse gesellschaftliche Kräfte zum Anlass, außerhalb der existierenden Institutio­ nen als Korrektiv zu wirken. Zu ihnen zählten mindestens 30 Personenzu­ sammenschlüsse, darunter der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ (SDS),862 dessen Mitglied Rudi Dutschke in Westberlin zu einem „intellek­ tuellen Urheber“863 und Wortführer der „Außerparlamentarischen Opposi­ tion“ (APO) avancierte.864 Die APO richtete sich nicht nur gegen das von der „Großen Koalition“ beabsichtigte und 1968 durchgesetzte Einführen der „Notstandsgesetze“, welche der Exekutive in Krisenzeiten umfangrei­ chere Befugnisse zusicherten.865 In den Fokus rückte überdies der von den Vereinigten Staaten überaus brutal geführte866 und medial umfassend begleitete Krieg in Indochina, der von den Erziehungsgenerationen still­ schweigend wahrgenommen wurde. In der Friedensgeneration nährte dies zusehends Zweifel an der Einhaltung der in westlichen Demokratien ver­ ankerten normativen Grundsätze. 867 Gegen den Konflikt in Vietnam setzte sich die „Außerparlamentarische Opposition“ ebenso zur Wehr wie gegen außenpolitische Beziehungen Westdeutschlands zu rechten Regierungen, wobei anfangs vorwiegend friedliche Protestformen, wie zum Beispiel Ver­ kehrsblockaden, zum Einsatz kamen.868

859 860 861 862 863 864 865 866 867

Der Spiegel 1967c, S. 84. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 39-41; Straßner 2008b, S. 211. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 70; Straßner 2008b, S. 212. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 38. Dutschke/Hentschel 1967, S. 29. Vgl. Rabert 1995, S. 90. Vgl. Straßner 2008b, S. 212. Vgl. Greiner 2009, S. 27-37; Steininger 2009, S. 34; Frey 2010, S. 132-133. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 22; Sack 1984b, S. 113, 136-137, 142; Winkler 2008, S. 43; Aust 2020, S. 67‑68. 868 Vgl. Rabert 1995, S. 91; Straßner 2008b, S. 211-212.

230

5.1 Entstehung

Dies änderte sich sukzessive in den Jahren 1967 bis 1969, der „‚heiße[n] Phase der [B]ewegung“869, die ein Hinwenden zu einer „allgemeinen Ka­ pitalismusanalyse“870 einschließlich der marxistisch hergeleiteten Feindbil­ der unterlegte. Handlungsimperative erblickte sie in den Schriften des Ar­ gentiniers Ernesto Guevara sowie deutscher Theoretiker, unter ihnen Her­ bert Marcuse. Anklang fand auch der französische Arzt Frantz Fanon,871 der in seinem 1961 erstmals erschienenen Werk „Die Verdammten dieser Erde“ eine Dekolonisation nur dann als möglich erachtete, „wenn man alle Mittel, die Gewalt […] eingeschlossen, in die Waagschale wirft.“872 Erste Anzeichen für das partielle Entgrenzen der eigenen Strategie fanden sich beim Besuch des unter Lyndon Baines Johnson amtierenden ame­ rikanischen Vizepräsidenten Hubert Horatio Humphrey im April 1967 in Berlin, der mit erheblichen Objektschäden einherging.873 Aufgeheizt wurde die Stimmung unter anderem durch die teilweise diffamierenden Reaktionen von Staatsvertretern und der Medien, die nach und nach auf die öffentliche Debatte um die Forderungen der Studenten abfärbten.874 Heinrich Albertz, Regierender Bürgermeister Westberlins, kanzelte die radikalen Studenten als „lächerliche Minderheiten von Verrückten und Böswilligen“875 ab. „Die Welt“ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 7. Ja­ nuar 1967 einen Artikel des Journalisten Matthias Walden, der von „Ra­ daubrüdern“876 und „einer akademischen Variante des Gammlertums“877 sprach. Radikalisierend wirkte ferner der Schusswaffeneinsatz eines Berli­ ner Polizisten am 2. Juni 1967 im Nachgang einer Demonstration, die den Besuch des Schahs von Persien, Reza Pahlavi, anprangerte. Die Kugeln trafen den Studenten Benno Ohnesorg tödlich. Am Tag darauf hielt die Zeitung „Bild“ mit Blick auf den Einsatz der Polizei fest: „Wer Anstand und Sitte provoziert, muss sich damit abfinden, von den Anständigen zur Ordnung gerufen zu werden.“878 Wer Willi Winkler folgt, begreift die Ereignisse des 2. Juni 1967 als Triebkraft, welche die in der APO kreisenden Befürchtungen zum Einfluss ehemaliger nationalsozialistischer

869 870 871 872 873 874 875 876 877 878

Rabert 1995, S. 91. Claessens/de Ahna 1982, S. 45. Vgl. ebd., S. 48; Winkler 2008, S. 44-46. Fanon 1981, S. 30-31. Vgl. Rabert 1995, S. 91; Straßner 2008b, S. 213. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 83. Heinrich Albertz, zit. n. Der Spiegel 1967a, S. 48. Matthias Walden, zit. n. Claessens/de Ahna 1982, S. 62. Matthias Walden, zit. n. ebd. Bild vom 13. Juni 1967, zit. n. Winkler 2008, S. 95.

231

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Funktionsträger im Staatsapparat und deren Willen zum Einsatz erprobter Repressionsmittel bestätigte.879 Nicht nur mündete der Tod Ohnesorgs in steigenden Mitgliederzahlen der APO, er schuf zudem in Teilen der Protestbewegung die Rechtfertigung, fortan durch langfristige, aufeinan­ der aufbauende Aktivitäten politische wie gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. Gewalt als vergeltendes, revolutionäres Moment spielte zu diesem Zeitpunkt in der Praxis noch keine ausgeprägte Rolle, wohl aber verstärkt in theoretischen Gedankenspielen und Diskussionen.880 So hielt Rudi Dutschke gemeinsam mit dem SDS-Mitglied Hans-Jürgen Krahl am 5. September 1967 auf der 22. Ordentlichen Delegiertenkonfe­ renz des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ in Frankfurt am Main ein „Organisationsreferat“, mit dem der Ruf nach einer Propaganda der Tat und der Konstitution einer Guerilla laut wurde:881 „Die ‚Propaganda der Schüsse‘ (Che) in der ‚Dritten Welt‘ muss durch die ‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla‑Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlecht­ hinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Insti­ tutionen.“882 Unter Rückgriff auf Ausführungen in der ersten Ausgabe der Szenezeit­ schrift „Partisan“ sprach er auf dem „Internationalen Vietnam‑Kongress“ – einem „Höhepunkt der Vietnam-Bewegung“883 in der Bundesrepublik, der am 17. und 18. Februar 1968 in Westberlin mit mehreren Tausend Teilnehmern erreicht wurde – von einem „‚europäische[n] […] Cong‘“884. Werde dieser nicht geschaffen, würde der Widerstand der Befreiungsbewe­ gung des „Vietcong“ in Vietnam scheitern.885 Dutschke verzichtete auf der Veranstaltung allerdings darauf, systematische Gewalt als in jeder Hinsicht legitimes Instrument offen zu propagieren. Vielmehr problematisierte er in einer Diskussionsrunde die Folgen dieser Handlungsform, welche das eigentliche Ziel – „die Emanzipation des Menschen, die Schaffung des

879 Vgl. ebd., S. 86. Vgl. auch Claessens/de Ahna 1982, S. 75-76. 880 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 80; Jesse 2008, S. 415; Peters 2008, S. 94; Straß­ ner 2008b, S. 213; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 105, 353, 384, 389. 881 Vgl. Langguth 2008, S. 55; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 107; Kraushaar 2017, S. 39. 882 Dutschke/Krahl 1980, S. 94. 883 Claessens/de Ahna 1982, S. 81. 884 Dutschke 1968, S. 123. 885 Vgl. ebd.

232

5.1 Entstehung

neuen Menschen“886 – verdrängen könne. Dieser vorwiegend abstrakte Umgang mit Gewalt schlug spätestens am 11. April 1968 in eine wach­ sende Bereitschaft um, den eigenen politischen Botschaften mithilfe mili­ tanter Aktivitäten Gehör zu verschaffen: Der rechtsradikale Anstreicher Josef Bachmann feuerte mehrere Schüsse auf Dutschke ab. Rudi Dutsch­ ke überlebte den Anschlag, hatte jedoch fortan mit gesundheitlichen Be­ schwerden zu kämpfen.887 In der „Außerparlamentarischen Opposition“ herrschten nach der Tat Entsetzen und Wut, die zu einem Gegenschlag drängten.888 Michael Baumann, ein zu dieser Zeit in Westberlin lebender APO-Aktivist, gab in seiner Autobiographie einen Einblick in die Stim­ mung jener Tage: „Die Kugel war genauso gegen dich, da haben sie das erste Mal nun voll auf dich geschossen. Wer da schießt, ist scheißegal. Da war natür­ lich klar, jetzt zuhauen, kein Pardon mehr geben.“889 Wer an den Schüssen auf Rudi Dutschke die Schuld trug, war aus Sicht der Bewegung unzweifelhaft: die vom Verleger Axel Springer kontrollierten Printmedien. Im Februar 1968 hatte die „Bild“ unter dem Titel „Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!“890 und mit einem Bild Dutschkes kon­ statiert, man dürfe „nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“891. Noch am Tag des Attentats begab sich ein Demonstrationszug aus etwa 2000 Menschen nach einem Austausch im Audimax der Freien Universität zur Zentrale des „Springer“-Verlags in der Westberliner Kochstraße. Die Teilnehmer warfen Fensterscheiben ein, ver­ wickelten Angestellte in Prügeleien und setzten schließlich Fahrzeuge des Konzerns in Brand.892 Derartige Szenen blieben nicht auf Westberlin be­ grenzt. In den folgenden Tagen taten in über 20 Städten Westdeutschlands zehntausende Menschen ihren Unmut kund. Die Auslieferung der „Bild“ zu unterbinden, geriet zum vereinenden Ziel. Teilweise entwickelten sich dabei gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften; zwei Tote und mehr als 400 Verletzte waren zu beklagen.893 In dramatischem,

886 887 888 889 890 891

Dutschke/Dienkamp/Jansen u.a. 1968, S. 86. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 71; Winkler 2008, S. 116-117. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 86. Baumann 1980, S. 38. Bild vom 7. Februar 1968, zit. n. Winkler 2008, S. 117. Bild vom 7. Februar 1968, zit. n. ebd. Zu den Reaktionen der „Springer“-Presse auf die Studentenbewegung vgl. Sack 1984b, S. 144, 188, 201. 892 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 86-87. 893 Vgl. Der Spiegel 1968b, S. 25; Sack 1984b, S. 208; Peters 2008, S. 96.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

inhaltlich jedoch durchaus zutreffendem894 Tenor konstatierte das Nach­ richtenmagazin „Der Spiegel“: „Es kam zu Straßenschlachten, wie sie Westdeutschland seit der Weimarer Republik nicht mehr gekannt hat­ te.“895 Der zu Ostern 1968 erreichte Mobilisierungsgrad ließ sich in den Mona­ ten darauf nicht halten – dies war auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Zum einen war die APO mit Rudi Dutschke einer essentiellen Bindekraft beraubt.896 Zum anderen trug die Agitation keine Früchte. Weder gelang das nachhaltige Stören der Distribution der „Springer“-Presse noch der Widerstand gegen das Einführen der „Notstandsgesetze“. Letztes scheiterte mit der Verabschiedung der Gesetze im Bundestag im Mai 1968.897 „Er­ nüchterung, Enttäuschung und Deprimierung breite[te]n sich aus.“898 Die „Steinschlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968, welche sich anläss­ lich eines Gerichtsverfahrens gegen den Anwalt Horst Mahler zwischen Kräften der „Außerparlamentarischen Opposition“ und der Westberliner Polizei ergab und nach Auffassung der APO aufgrund einer Bilanz von 130 verletzten Polizeibeamten erfolgreich verlief,899 konnte den Nieder­ gang nicht durchbrechen. Die Bewegung spaltete sich in verschiedenste Lager mit unterschiedlichsten politischen und strategischen Schwerpunk­ ten. 1970 wählte der „Sozialistische Deutsche Studentenbund“ die Selbst­ auflösung.900 Während ein Teil die Möglichkeit sah, das Staatssystem von innen heraus einer Veränderung zuzuführen, zog es einen anderen Teil in den dogmatischen Linksextremismus, der unter Berufung auf sozialrevolu­ tionäre Klassiker den Umbruch einzuleiten versuchte. Daneben bestanden Gruppen, die sich Bürgerinitiativen, sozialen Projekten und/oder subkul­ turellen Lebensweisen verschrieben.901 Diese Zersplitterung bildete den „Ausgangspunkt für die Entstehung des [deutschen] Linksterrorismus“902.

894 895 896 897 898 899 900 901 902

234

Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 87; Sack 1984b, S. 208; Kraushaar 2017, S. 77-78. Der Spiegel 1968b, S. 25. Vgl. Rabert 1995, S. 92. Vgl. Winkler 2008, S. 123. Claessens/de Ahna 1982, S. 88. Vgl. Der Spiegel 1968c, S. 67; Rabert 1995, S. 92; Winkler 2008, S. 130. Vgl. Rabert 1995, S. 92. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 88; Straßner 2008b, S. 212-213. Pfahl-Traughber 2014a, S. 154.

5.1 Entstehung

5.1.2 Anschläge auf Frankfurter Warenhäuser, Illegalität, Verhaftung Andreas Baaders (1968 bis Anfang 1970) Das Aufkommen und Wirken der „Außerparlamentarischen Opposition“ erlebten in Westberlin Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Baader war 1963, Ensslin 1964/65 nach Westberlin gezogen,903 wo sie sich schließlich im Dunstkreis der „Außerparlamentarischen Opposition“ wiederfanden.904 Beide lernten sich nach dem Tod Benno Ohnesorgs bei einem Treffen poli­ tischer Aktivisten kennen, die sich zuvor öffentlich für den Rücktritt des Westberliner Bürgermeisters Albertz ausgesprochen hatten.905 Der „Tu­ nichtgut und Halodri“906 Baader, der in der Anfangsphase des wachsenden Protests der Friedensgeneration gar keine Rolle spielte, allerdings früher als andere Angehörige der Studentenbewegung radikale Aktionen theoreti­ schen Debatten vorgezogen haben soll,907 hielt nach dieser Begegnung den Kontakt zu Ensslin. Erste gemeinsame Taten folgten: Beide beteiligten sich im September 1967 an der mit einer Rauchbombe dargestellten symboli­ schen Zerstörung des Turms der Westberliner Gedächtniskirche. Mit der Absicht, eine Rede zum Vietnamkrieg vorzutragen, griffen sie kurz darauf in eine Aufführung an der Deutschen Oper ein.908 Begleitet wurden sie von Thorwald Proll, der sich mit Baader im Sommer 1967 angefreundet hatte.909 Baader und Prolls Schwester Astrid legten am 21. Oktober 1967 einen Brandsatz im Amerika-Haus in Westberlin ab. Dieser verursachte zwar nur geringfügigen Schaden, bildete aber ein Novum: Die Schwelle zur Militanz war bislang in den Protesten nicht derart deutlich überschrit­ ten worden.910 Nachdem Baader und Ensslin im Februar 1968 dem „Inter­ nationalen Vietnam-Kongress“ beigewohnt hatten, fuhren sie gemeinsam mit Thorwald Proll nach München, der Heimatstadt Baaders.911 In die­ ser Zeit sei von der Gruppe erwogen worden, eine außergewöhnliche, aufsehenerregende Aktion zu begehen. Hierzu habe es ihr indes an kon­ kreten Vorstellungen gefehlt.912 Mit Horst Söhnlein – einem Schauspieler,

903 904 905 906 907 908 909 910 911 912

Vgl. Gottschling 2004, S. 188, 190; Jander 2008, S. 142-143; Jesse 2017, S. 189. Vgl. Rabert 1995, S. 120. Vgl. Peters 2008, S. 73. Jesse 2017, S. 189. Vgl. auch Gottschling 2004, S. 189, 197. Vgl. Gottschling 2004, S. 198; Wieland 2006, S. 337-338; Peters 2008, S. 63-64. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 399; Hakemi/Hecken 2006, S. 317-318. Vgl. Peters 2008, S. 78-79. Vgl. Winkler 2008, S. 111-112. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 407-408. Vgl. Peters 2008, S. 44.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

welcher ein freies Theater leitete – brachen sie nach Frankfurt am Main auf, um dort am Rande einer außerordentlichen Delegiertenkonferenz des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ zur Tat zu schreiten.913 Am 2. April 1968 erreichten sie ihr Ziel. Noch am Abend desselben Tages wur­ den im Kaufhof sowie im Kaufhaus Schneider zwei Brandsätze deponiert, die in der Nacht zum 3. April 1968 zündeten. Die Feuer konnten rasch unter Kontrolle gebracht werden – es entstand jedoch allein im Kaufhaus Schneider ein Schaden in Höhe von 300 000 DM.914 Infolge eines anonymen Hinweises gelang der Polizei bereits am 4. April 1968 die Festnahme Baaders, Ensslins, Prolls und Söhnleins. In dem Fahrzeug, das die vier von München nach Frankfurt am Main ge­ fahren hatten, entdeckte sie Komponenten, welche zum Herstellen von Brandsätzen dienen konnten.915 Thorwald Proll nahmen die Beamten ein Notizheft ab, das ein Gedicht mit der Frage enthielt, wann Kaufhäuser in Berlin brennen.916 Der letzte Vers schloss mit den Worten: „Es lebe die so­ zialistische Weltrevolution.“917 Ein weiteres Indiz für das Motiv fand sich auf einem Papierzettel, der im Abfall der Wohnung entdeckt wurde, die den vier Aktivisten in Frankfurt am Main als Unterkunft zur Verfügung stand. Auf ihm waren Ausführungen zu einem – angeblichen – Terror des zwanghaften Konsums niedergelegt, dem nunmehr ein Terrorisieren der Waren entgegengesetzt werde.918 Angestellte des Kaufhauses Schneider erkannten Baader und Ensslin wieder: Beide waren am Abend des 2. April 1968 kurz vor Ladenschluss eilig in das Geschäft gegangen und hatten es wenige Momente danach verlassen. Angesichts dieser Beweise erteilte die Justiz einen Haftbefehl gegen Baader, Ensslin, Proll und Söhnlein.919 Die Entscheidung der Vier, mit einem Anschlag ein Warenhaus zu treffen, soll nicht zuletzt auf ein Flugblatt zurückzuführen sein, für das eine in Westberlin aktive alternative Wohngemeinschaft verantwortlich zeichnete.920 Die „Kommune I“ hatte einen Brand im Brüsseler Kaufhaus „À l’innovation“ mit mehr als 250 Toten am 22. Mai 1967 und die sich anschließende Medienberichterstattung zum Anlass genommen, einige Handzettel zu verfassen, in der sie das Unglück als Werk einer linken 913 914 915 916 917 918 919 920

236

Vgl. Der Spiegel 1968a, S. 34; Winkler 2008, S. 113. Vgl. Gottschling 2004, S. 190; Hakemi/Hecken 2006, S. 316. Vgl. Peters 2008, S. 41. Vgl. Winkler 2008, S. 114. Thorwald Proll, zit. n. Peters 2008, S. 42. Vgl. Hakemi/Hecken 2006, S. 324. Vgl. Peters 2008, S. 42-43. Vgl. Gottschling 2004, S. 190; Winkler 2008, S. 112.

5.1 Entstehung

Gruppe und als Reaktion auf den Vietnamkrieg darstellte.921 Das achte Flugblatt der Kommune hielt unter dem Titel „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“ mit Blick auf den Bürger Westberlins fest: „Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zi­ garette in der Ankleidekabine an.“922 Die Flugschrift kulminierte in dem Imperativ: „burn, ware-house, burn!“923 Die Staatsanwaltschaft Westberlins reichte auf Basis dieser Aus­ sagen eine Strafanzeige mit dem Vorwurf des Aufforderns zur Brandstif­ tung ein.924 Der anschließend gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel – beide Bewohner der „Kommune I“ – geführte Gerichtsprozess endete am 22. März 1968 mit einem Freispruch, da ihnen der Vorsatz zur Bege­ hung der zur Last gelegten Straftat nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte.925 Zu den nur wenig später ausgeführten Brandanschlägen auf die Frankfurter Kaufhäuser ließ die Wohngemeinschaft in der Ausgabe des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ vom 8. April 1968 eine Stellung­ nahme abdrucken. Darin äußerte sie „Verständnis für die psychische Situa­ tion, die einzelne jetzt schon zu diesem Mittel [der Brandstiftung] greifen lässt.“926 In anderen Segmenten der Studentenbewegung stieß die Tat Baa­ ders, Ensslins, Prolls und Söhnleins dagegen auf entschiedene Ablehnung. So führte ein Mitglied des SDS-Bundesvorstandes aus: „Der SDS ist zutiefst darüber bestürzt, dass es in der Bundesrepublik Deutschland Menschen gibt, die glauben, an den politischen und gesellschaftlichen Zuständen in diesem Land durch unbegründbare Terroraktionen ihrer Opposition Ausdruck verleihen zu können.“927 Am 14. Oktober 1968 begann der Prozess gegen die vier Tatverdächti­ gen.928 Die Verteidigung Andreas Baaders übernahm der Rechtsanwalt Horst Mahler, der zuvor bereits Angehörige der „Kommune I“ vor Ge­

921 922 923 924 925 926 927

Vgl. Hakemi/Hecken 2006, S. 322; Wieland 2006, S. 338; Winkler 2008, S. 73-74. Flugblatt der „Kommune I“ vom 24. Mai 1967, zit. n. Kunzelmann 1998, S. 79. Flugblatt der „Kommune I“ vom 24. Mai 1967, zit. ebd. Vgl. Der Spiegel 1967b, S. 34. Vgl. Peters 2008, S. 104. Kommune I, zit. n. Der Spiegel 1968a, S. 34. Reimut Reiche, zit. n. ebd. Vgl. zu den negativen Reaktionen der „Außerparla­ mentarischen Opposition“ auch Hakemi/Hecken 2006, S. 330. 928 Vgl. Winkler 2008, S. 124.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

richt vertreten hatte.929 Während der Verhandlung gestanden Baader und Ensslin ihre Einbindung in den Brandanschlag auf das Kaufhaus Schnei­ der. Darüber hinaus legten sie erstmals selbst Rechenschaft zu den Moti­ ven der Aktion ab. Die Gruppe habe sich gegen die Kriegsführung der Vereinigten Staaten in Vietnam sowie die Passivität, mit der der Konflikt in Westdeutschland wahrgenommen werde, wenden wollen.930 Interesse weckte das Verfahren unter anderen bei der Journalistin Ulrike Meinhof, welche für die Zeitschrift „Konkret“ eine Kolumne verfasste.931 Sie reiste nach Frankfurt am Main und führte Gespräche mit Baader und Ensslin. In der Ausgabe vom 4. November 1968 schrieb Meinhof, der mit der Brandstiftung einhergegangenen Gesetzesüberschreitung wohne ein „pro­ gressive[s] Moment“932 inne. Zur Art und Weise der Tat zeigte sie sich allerdings ambivalent. Einerseits riet sie davon ab, sich die Aktion zum Vorbild zu nehmen. Andererseits zitierte sie akklamierend Fritz Teufel, der zu verstehen gegeben habe, dem Inbrandsetzen eines Kaufhauses komme ein höherer Wert zu als dem Betreiben eines solchen Geschäfts.933 Das Urteil gegen Baader, Meinhof, Proll und Söhnlein erging am 31. Oktober 1968: Ohne Ausnahme erfolgte ein Schuldspruch mit einem Strafmaß von drei Jahren Freiheitsentzug. Das Gericht sah dabei aus­ schließlich die Beiträge der Angeklagten zum Anschlag auf das Kaufhaus Schneider als gesichert an. Die Verantwortung für die Aktion gegen den Kaufhof ließ sich hingegen nicht nachweisen.934 Die Rechtsanwälte der Gruppe beanspruchten umgehend Revision beim Bundesgerichtshof. Im Juni 1969 gewährte das Oberlandesgericht Frankfurt vorläufige Haftentlas­ sung mit der Begründung, Fluchtgefahr bestehe nicht mehr.935 Baader, Ensslin und Thorwald Proll traten nunmehr für das Wohlergehen von Fürsorgezöglingen ein, welche in staatlich betriebenen Einrichtungen leb­ ten.936 Sie schlossen sich gemeinsam mit Astrid Proll einer entsprechen­ den Kampagne des Frankfurter SDS-Ablegers an, die im Sommer 1969 im Besuch der hessischen Jugendheime „Staffelberg“ bei Biedenkopf und „Burschenheim“ in Rengshausen mündete. Mehr als 50 Bewohner folgten ihrem Ruf, die Flucht aus der Unterkunft zu wagen – darunter Peter-Jür­ 929 930 931 932 933 934 935 936

238

Vgl. Jesse 2001, S. 184-185; Jander 2006, S. 378-379. Vgl. Hakemi/Hecken 2006, S. 326-327; Jesse 2017, S. 190. Vgl. Jesse 1996, S. 200-201; Gallus 2018, S. 50. Ulrike Meinhof, zit. n. Elter 2006, S. 1068. Vgl. Seifert 2006, S. 367. Vgl. Peters 2008, S. 112-114. Vgl. Gottschling 2004, S. 191; Bressan/Jander 2006, S. 412; Jesse 2017, S. 190. Vgl. Wieland 2006, S. 340.

5.1 Entstehung

gen Boock,937 der seine Begegnung mit Baader, Ensslin und Thorwald Proll als „so etwas wie Liebe auf den ersten Blick“938 beschrieb. In Abspra­ che mit dem Jugendamt brachten sie einen Teil in Frankfurt am Main unter.939 Als Zäsur erwies sich Mitte November 1969 die Entscheidung des Bun­ desgerichtshofs, die Revision abzulehnen. Obgleich sie nicht unmittelbar zur Fahndung ausgeschrieben wurden, flohen Baader, Ensslin und Proll nach Paris, wo sie unter anderen in der Wohnung des Schriftstellers Régis Debray übernachteten. Astrid Proll stieß kurz darauf zur Gruppe, die hinsichtlich des weiteren Vorgehens unschlüssig blieb. Während des Aufenthalts in Frankreich fasste ihr Bruder Thorwald schließlich den Ent­ schluss, sich von Baader und Ensslin zu trennen. Baader und Ensslin fuhren gemeinsam mit Astrid Proll nach Italien. Thorwald Proll reiste nach Großbritannien und stellte sich – ebenso wie vor ihm Horst Söhn­ lein – Ende 1970 den Westberliner Behörden.940 In Rom suchte Horst Mahler die „Illegalen“ auf. Er berichtete von einem militanten Zirkel in der Bundesrepublik, dessen Entstehung er vorantreiben wolle. Den Flüch­ tigen machte er das Angebot, sich an diesem Projekt zu beteiligen.941 Gedanken zur Bildung eines solchen Zusammenschlusses soll Mahler be­ reits im Herbst 1969 mit Rudi Dutschke ausgetauscht haben, der zu die­ sem Zeitpunkt in London lebte. Dutschke habe dem Vorhaben skeptisch gegenübergestanden, da ihm entscheidende Voraussetzungen fehlten.942 Anders als der einstige Wortführer des SDS zeigten sich Baader, Ensslin und Astrid Proll in der Debatte mit Mahler aufgeschlossen. Es habe der Konsens bestanden, den bislang gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse Westdeutschlands geführten Widerstand um eine bewaffnete Komponente zu erweitern. Mahler kehrte nach Westberlin zurück; Baader, Ensslin und Proll folgten ihm im Frühjahr 1970.943 In Berlin erhielten sie Obdach von Ulrike Meinhof,944 die sich 1969 ebenfalls der Situation in Erziehungsheimen angenommen und diese in

937 938 939 940 941 942 943 944

Vgl. Aust 2020, S. 159. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 18. Vgl. Peters 2008, S. 123-124, 128; Winkler 2008, S. 136-138. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 413-414; Peters 2008, S. 134-135; Aust 2020, S. 170-173. Vgl. Rabert 1995, S. 117; Gottschling 2004, S. 192; Wieland 2006, S. 342. Vgl. Jander 2006, S. 381; Aust 2020, S. 176. Vgl. Peters 2008, S. 138-139. Vgl. Jander 2008, S. 145; Aust 2020, S. 188.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

einem Fernsehdrehbuch mit dem Titel „Bambule“ thematisiert hatte.945 Bei ihrer Arbeit für Fürsorgezöglinge war sie erneut Baader und Ensslin begegnet.946 Intensiv tauschten sich die Rückkehrer mit Mahler und Mein­ hof zu strategischen und taktischen Fragen aus.947 Hierbei soll die Idee überwogen haben, an soziale Konflikte anzuknüpfen. An den Überlegun­ gen beteiligt wurden Monika Berberich, Irene Goergens, Ingrid Schubert und Peter Homann – sie unterhielten persönliche Verbindungen zu Mah­ ler und Meinhof.948 Die Gruppe verständigte sich darauf, die notwendigen Vorkehrungen für den Aufbau einer bewaffneten Struktur zu treffen. Ihr standen 40 000 DM zur Verfügung, die Meinhof aus der Scheidung vom Herausgeber der Zeitschrift „Konkret“, Klaus Rainer Röhl, erhalten hatte. Priorität erhielt das Beschaffen von Schusswaffen.949 Außerdem verabrede­ te sich der formierende Kreis mit Mitgliedern der „Tupamaros Westber­ lin“ – einem Vorläufer der „Bewegung 2. Juni“, welcher ab Herbst 1969 mit terroristischen Aktionen in Erscheinung getreten war. Im März 1970 sollen Baader, Ensslin, Mahler und Meinhof unter anderen mit den TWAktivisten Georg von Rauch und Dieter Kunzelmann zu Perspektiven des Guerillakampfes in Westdeutschland gesprochen haben. Das Treffen sei im Dissens geendet.950 Zustande gekommen war es vermutlich über Horst Mahler und Michael Baumann, einem Angehörigen der „Tupamaros Westberlin“. Baumann nahm Mahler eigenen Aussagen zufolge Anfang 1970 als Advokat in Anspruch. Mahler soll ihm dargelegt haben, er wolle Baader und Ensslin nach Westdeutschland zurückholen. Nach dem Auf­ enthalt in Italien habe Baumann von Mahler erfahren, beide seien inzwi­ schen in der Bundesrepublik.951 Zur Bewaffnung der Gruppe suchte der Rechtsanwalt den Kontakt zu Peter Urbach. Urbach war ein Aktivist der APO, welcher bei den Aus­ schreitungen gegen die Zentrale des „Springer“-Verlags im April 1968 sogenannte Molotowcocktails verteilt und Mahler später zum Selbstschutz eine in Belgien gefertigte Pistole überreicht haben soll. Obwohl Mahler zu der Tätigkeit Urbachs für das Berliner Landesamt für Verfassungs­ schutz von mehreren Seiten gewarnt worden war, akzeptierte er dessen Vorschlag, auf einem Friedhof in Berlin-Buckow vergrabene Waffen und 945 946 947 948 949 950 951

240

Vgl. Peters 2008, S. 160-161. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 325. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 414. Vgl. Peters 2008, S. 169. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 414. Vgl. Wieland 2006, S. 342-343; Winkler 2008, S. 154. Vgl. Jander 2006, S. 381.

5.1 Entstehung

Sprengsätze zu bergen. Trotz wiederholter intensiver Suche Anfang April 1970 konnten weder die Waffen noch die Explosivmittel entdeckt werden. Auf dem Rückweg geriet Andreas Baader in eine Verkehrskontrolle, die zu seiner Verhaftung führte.952 Den Polizeibeamten hatte er die Daten auf sei­ nem gefälschten Führerschein nicht schlüssig wiedergeben können. Mah­ ler trug zum Identifizieren des Verhafteten bei, als er die Westberliner Po­ lizei telefonisch kontaktierte und sich nach seinem Mandanten Baader er­ kundigte.953 Die verbliebenen Gruppenmitglieder sprachen sich umge­ hend für das Befreien des Inhaftierten aus, den die Justiz zunächst in der Untersuchungshaftanstalt in Berlin-Moabit und kurz darauf in der JVA Te­ gel unterbrachte. Vor allem Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof hätten diesen Entschluss befürwortet. Sie entwickelten den Plan, Baader bei einem Besuch außerhalb des Gefängnisses die Flucht zu ermöglichen. Mit der Begründung, Meinhof und Baader arbeiteten an einem Werk zur „Or­ ganisation randständiger Jugendlicher“, beantragte der Verleger Klaus Wa­ genbach auf Wunsch von Ulrike Meinhof, Gespräche mit Andreas Baader zu gestatten. Diesem Anliegen wurde entsprochen.954 5.1.3 Befreiung Andreas Baaders, Rekrutierung, Propaganda (1970 bis 1972) Unter dem Deckmantel des Buchprojekts setzte Mahler das Ausführen Baaders am 14. Mai 1970 zu einer Bibliothek durch.955 Im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin-Dahlem sollten Zeitschriften durchgesehen werden. Überdies gab man vor, ein Interview mit Baader führen zu wollen.956 Nachdem er in den Räumlichkeiten des Instituts unter Aufsicht von zwei Justizbeamten angekommen war, ermöglichten ihm Georgens, Meinhof, Schubert sowie ein für die Aktion angeworbener Krimineller mit Waffengewalt den Ausbruch. Vermutlich beteiligte sich Gudrun Ensslin ebenfalls an dem Überfall. Im Verlauf der Befreiung war es zu einer Rangelei zwischen dem Bibliotheksmitarbeiter Georg Linke und dem bis heute nicht identifizierten Kriminellen gekommen, bei der sich ein Schuss gelöst hatte. Linke zog sich eine lebensgefährliche Verlet­

952 953 954 955 956

Vgl. Gottschling 2004, S. 192; Winkler 2008, S. 121, 159; Kraushaar 2017, S. 18. Vgl. Seifert 2006, S. 367; Aust 2020, S. 195. Vgl. Peters 2008, S. 177. Vgl. Dietrich 2009, S. 17. Vgl. Straßner 2008b, S. 218.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

zung zu, überlebte den Vorfall jedoch.957 Noch am selben Tag leitete die Westberliner Polizei eine Fahndung ein.958 Am 15. Mai 1970 brachten die Behörden in der Stadt Plakate mit einem Foto Ulrike Meinhofs an. Darauf stellten sie eine Belohnung für Hinweise in Aussicht, welche zu ihrem Er­ greifen beitrugen.959 Damit hatte sich, so die herrschende Meinung in der Literatur, ein weiterer linksterroristischer Akteur in der Bundesrepublik gegründet.960 Auch die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ übernahm in ihrer Auflösungserklärung im März 1998 diese Deutung: „Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF“961. Die überwiegend kritische Rezeption der Flucht in linksextremistischen Kreisen, welche insbesondere den Schuss auf einen Unbeteiligten verur­ teilten,962 zwang den Zirkel um Baader, Ensslin und Meinhof zu einer öffentlichen Rechtfertigung. In der auf den 5. Juni 1970 datierten Ausgabe der Szeneschrift „Agit 883“ verbreiteten sie eine Erklärung unter dem Titel „Die Rote Armee aufbauen“. Nicht nur belegte der von Ulrike Meinhof ge­ fertigte Text963 die Redaktion der Zeitschrift aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Ausbruch Baaders mit dem Scheltwort „Arschlö­ cher“964, er machte zudem deutlich, „dass jetzt Schluss ist, dass es jetzt los geht, dass die Befreiung Baaders nur der Anfang ist! Dass ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen ist!“965 Im weiteren Verlauf legte Meinhof die Gründe dar, die zur Bildung einer „Roten Armee“ bewegt hatten: „Um die [gesellschaftlichen] Konflikte auf die Spitze treiben zu kön­ nen, bauen wir die Rote Armee auf. […] Ohne die Rote Armee auf­ zubauen, können die Schweine alles machen, können die Schweine [Angehörige des Staatsapparats] weitermachen: einsperren, entlassen, pfänden, Kinder stehlen, einschüchtern, schießen, herrschen. Die Kon­ flikte auf die Spitze treiben heißt: Dass die nicht mehr können, was die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen.“966 957 958 959 960 961 962 963 964 965 966

242

Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 415; Wieland 2006, S. 343. Vgl. Dietrich 2009, S 17. Vgl. Winkler 2008, S. 164. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179; Neidhardt 1982a, S. 326; Sack 1984a, S. 26; Horchem 1988, S. 27; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 155. Rote Armee Fraktion 1998, S. 217. Vgl. Peters 2008, S. 187. Vgl. Seifert 2006, S. 368. ID-Verlag 1997, S. 25. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25-26.

5.1 Entstehung

Die Aktion am 14. Mai 1970 sowie die Absichten und strategischen Para­ digmen der Gruppe kommentierte Meinhof darüber hinaus für die Jour­ nalistin Michèle Ray auf Tonband.967 Im „Spiegel“ vom 15. Juni 1970 er­ schienen Ausschnitte der Aufzeichnung.968 Den Aktivisten ginge es darum, so Meinhof, die Möglichkeit „bewaffnete[r] Auseinandersetzungen“969 auf­ zudecken. Affirmativ äußerte sie sich zur Gewaltanwendung gegen Staats­ vertreter: „[W]ir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“970 Dem Fahndungsdruck in Westberlin wich der Zirkel vermittels eines Auf­ enthalts im Nahen Osten aus, den Mahler mithilfe des jordanischen Stu­ denten Said Dudin organisierte. Dudin soll als Kontaktperson der palästi­ nensischen Organisation Fatah bekannt gewesen sein.971 Am 8. und 22. Ju­ ni 1970 reisten die Aktivisten über den Libanon und Syrien nach Jorda­ nien. Der ersten Gruppe um Horst Mahler folgten Baader, Ensslin und Meinhof.972 Mahler begleiteten mehrere personelle Neuzugänge, welche die Mitgliederzahl des Zusammenschlusses auf bis zu 20 Personen hat­ ten ansteigen lassen. Zu den neuen Mitgliedern zählten unter anderen Brigitte Asdonk, Hans‑Jürgen Bäcker, Manfred Grashof, Heinrich Jansen, Petra Schelm und Wolfgang Thomas. In Jordanien bot ihnen die Fatah Unterschlupf und Ausbildung in einem Trainingslager.973 Neben dem Be­ dienen von Schuss- und Sprengwaffen erlernten sie Methoden des Gueril­ lakampfes.974 Im Laufe der Schulungsphase erwuchsen in der Gruppe Spannungen. So versuchte Mahler, sich als führende Figur des Zirkels zu etablieren. Er scheiterte am Widerstand Baaders und Ensslins, die ihrerseits eine her­

967 968 969 970 971 972 973 974

Vgl. Jesse 1996, S. 205. Vgl. Winkler 2008, S. 170. Meinhof 1970, S. 75. Ebd. Vgl. Peters 2008, S. 198; Aust 2020, S. 40, 205. Vgl. Winkler 2008, S. 173. Vgl. Rabert 1995, S. 121; Jander 2008, S. 147. Vgl. Dietrich 2009, S. 17-18.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

ausgehobene Position reklamierten.975 Sowohl Baaders als auch Mahlers Streben nach uneingeschränkter Entscheidungsgewalt wertete Peter Ho­ mann eigenen Aussagen zufolge als „lächerlich“976. Überdies habe er „ihr zur Schau gestelltes Gefühlsleben“ als „abgeschmackten und angeschmink­ ten Terroristenkitsch“977 empfunden. Als Baader die bei Schießübungen begrenzten Munitionsmengen zum Anlass nahm, die übrigen Mitglieder zum Verweigern weiterer Ausbildungseinheiten aufzufordern, sei er von Homann in eine Schlägerei verwickelt worden. Zu diesem Zeitpunkt habe Homann bereits in einem separaten Bereich des Lagers gelebt, der ihn von den anderen Reisenden trennte.978 Laut Homann verzichteten die Konfliktparteien fortan auf jeglichen Austausch: „[W]ir hatten uns nichts mehr zu sagen.“979 Im Zirkel ergab sich anschließend die Absicht, ihn zu töten.980 Angeblich auf ausdrücklichen Wunsch Horst Mahlers soll ein „Volksgericht“ einberufen worden sein, das Homann in Abwesenheit zum Tode verurteilte.981 Wie er 1997 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ schilderte, offenbarte ihm Astrid Proll den Ausgang der Verhandlung: Am Fenster seiner Unterkunft, welche er im Lager der Fatah bezogen hatte, ha­ be sie Homann wortlos eine Patrone gezeigt.982 Horst Mahler legte eben­ falls 1997 in einem offenen Brief an den „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust seine Erinnerungen zu den Ereignissen in Jordanien dar. Demnach sei das Einrichten eines „Volksgerichtshofs“ unter seinem Vorsitz ein „Ho­ mannsches Märchen“983. Er bestätigte allerdings die von ihm mitgetragene Intention der Gruppe, Homann zu exekutieren.984 Nachdem die Palästinenser von der bevorstehenden Ermordung erfah­ ren hatten, entwaffneten sie die Aktivisten des Zirkels. In einem Gespräch sollen Baader, Ensslin, Mahler und Meinhof versucht haben, die Fatah von der Legitimität der Aktion zu überzeugen. Ensslin habe Homann als israelischen Spion beschrieben und die Ausbilder gebeten, ihn zu erschießen. Diesem Verlangen kamen ihre palästinensischen Mitstreiter

975 Vgl. Jesse 2001, S. 185; Gottschling 2004, S. 192; Jander 2006, S. 382; Wieland 2006, S. 344. 976 Homann 1997, S. 53. 977 Ebd. 978 Vgl. Homann 1972, S. 96. 979 Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 52. 980 Vgl. Gottschling 2004, S. 193. 981 Vgl. Homann 1972, S. 96; Der Spiegel 1997, S. 53. 982 Vgl. Homann 1997, S. 56. 983 Mahler 1997, S. 45. 984 Vgl. ebd.

244

5.1 Entstehung

jedoch nicht nach.985 Homann verließ das Camp und kehrte bald darauf in die Bundesrepublik zurück. Er stellte sich Ende 1971 den Behörden.986 Die verbleibenden Angehörigen der Gruppe traten Anfang August 1970 ihre Rückreise an.987 Sofern Homanns Ausführungen zutreffen, nahm die Fatah die Abreise des Zirkels mit Erleichterung wahr. Im Lager geltende Regeln, wie beispielsweise das getrennte Unterbringen von Frauen und Männern, hätten die angehenden „Stadtguerilleros“ als Ausdruck bürger­ licher Wertvorstellungen gesehen und entsprechend missachtet. Das aus­ gegebene Essen sei bemängelt, das Aufstellen eines Getränkeautomaten vorgeschlagen worden. Teile des Ausbildungsprogramms hätten sie als unergiebig eingestuft.988 Das Auftreten der zentralen Gruppenmitglieder führte ihre Kontaktpersonen in der Fatah zu der Einschätzung, Baader und Ensslin seien Psychopathen.989 Mahler sprachen sie, so Homann, jegliche Führungsfähigkeiten ab.990 Im Ergebnis sei von den Palästinensern ange­ nommen worden, der Zusammenschluss könne nicht die Qualität einer „revolutionäre[n] Gruppe“991 erreichen. In Westberlin legten die Rückkehrer ab August 1970 den Fokus auf das materielle und finanzielle Ausstatten ihrer Strukturen. Die Mitgliederbasis erweiterte sich unter anderem durch den Beitritt Monika Berberichs, Eric Grusdats und Karl-Heinz Ruhlands.992 Insgesamt soll der Zirkel nunmehr bis zu 25 Personen umfasst haben.993 Als Handlungsleitfaden diente ihnen eine Broschüre, welche der brasilianische Oppositionelle Carlos Marighel­ la 1969 zu Aufbau und Aktivitäten einer im urbanen Raum agierenden Guerillaorganisation verfasst hatte.994 Ab Mai 1970 war sie in deutscher Sprache verfügbar.995 Um die Handlungsfähigkeit einer „Stadtguerilla“ absichern zu können, müssten nach Marighella Fahrzeuge, Geld, Waffen, Munition, Sprengmittel sowie sichere Unterkünfte beschafft werden: „Money, weapons, ammunition and explosives, and automobiles as well, must be expropriated. The urban guerrilla must rob banks and ar­ 985 986 987 988 989 990 991 992 993 994 995

Vgl. Homann 1997, S. 56. Vgl. Peters 2008, S. 205. Vgl. Rabert 1995, S. 121. Vgl. Homann 1972, S. 93, 96. Vgl. Homann 1997, S. 56. Vgl. Homann 1972, S. 96. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 18. Vgl. Peters 2008, S. 212. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 416; Jander 2006, S. 383. Vgl. Dietrich 2009, S. 18.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

mories, and seize explosives and ammunition wherever he finds them. […] Expropriation is the first step in organizing our logistics […]. Once he has weapons, ammunition und explosives, one of the most serious logistic problems facing the urban guerrilla is a hiding place in which to leave the material”996. Banküberfällen maß er eine besondere Bedeutung bei, biete sie dem „Stadtguerillero“ doch die Möglichkeit, die Taktiken des „bewaffneten Kampfes“ zu erproben: „The most popular mission is the bank assault. […] [T]his type of as­ sault […] has served as a sort of preliminary test for the urban guerilla in his training in the tactics of urban guerrilla warfare.”997 In den letzten Augustwochen sowie im September 1970 entwendete die Gruppe um Baader, Ensslin, Mahler und Meinhof mindestens 18 Kraft­ fahrzeuge. Monika Berberich, Ulrike Meinhof und andere schlossen mit falschen Identitäten Mietverträge für vier Wohnungen in den Westberli­ ner Stadtteilen Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf ab.998 Zu­ dem eigneten sich die Aktivisten technisches Wissen an, welches ihnen erlaubte, untereinander Sprechfunkverkehr aufzunehmen sowie die Funk­ kommunikation der Westberliner Polizei heimlich mitzuhören und zu er­ schweren. Auf den Sendefrequenzen der Radiostation Freies Berlin konn­ ten sie eigene Beiträge abspielen.999 Andreas Baader, Irene Goergens und Ingrid Schubert verschrieben sich der Auswahl von Banken, deren Sicher­ heitsvorkehrungen einen Überfall zuließen. Die Wahl fiel auf eine Vertre­ tung der Berliner Bank AG sowie auf drei Zweigstellen der Sparkasse, in denen zeitgleich Geld erbeutet werden sollte. Am 29. September 1970 be­ gingen die Aktivisten die Überfälle. Da sie in einer der Sparkassenfilialen Bauarbeiten feststellten, verständigten sie sich kurzfristig darauf, lediglich drei Banken aufzusuchen.1000 Insgesamt erlangten sie mehr als 217 000 DM.1001 Gudrun Ensslin soll die Aufgabe oblegen haben, das Verwenden dieser Barmittel zu dokumentieren und zu kontrollieren.1002

996 997 998 999 1000 1001 1002

246

Marighella 2002a, S. 13. Ebd., S. 22. Vgl. Dietrich 2009, S. 23-29. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 327. Vgl. Dietrich 2009, S. 39-41. Vgl. Der Spiegel 1970b, S. 116. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 416; Aust 2020, S. 246.

5.1 Entstehung

Erst mehrere Jahre später gab Ralf Reinders, ein Angehöriger der „Be­ wegung 2. Juni“, zu verstehen, dass die Überfälle nicht ausschließlich von den Angehörigen des von Baader, Ensslin, Mahler und Meinhof ge­ lenkten Zusammenschlusses verübt wurden. Mit Georg von Rauch und Thomas Weisbecker seien zusätzlich Aktivisten der „Tupamaros Westber­ lin“ eingebunden gewesen. Sie hätten die Zweigstelle 92 der Westberliner Sparkasse auf dem Südwestkorso betreten und sich 55 000 DM aushän­ digen lassen.1003 Obgleich ihm die TW offensichtlich erfolgreich Unter­ stützung gewährten, soll der inzwischen als „Baader/Meinhof-Gruppe“1004 bezeichnete Zirkel in diesem Zeitraum den „Tupamaros“ mit Ablehnung begegnet sein. Entnehmen lässt sich dies der Autobiographie Michael Bau­ manns, der gemeinsam mit Georg von Rauch in den TW aktiv war: „[S]ie [äußerten] die Kritik […], dass wir totale Spinner wären […], vollkommene Dilettanten und Trottel sind, die vollkommen unernst die Sache [den ‚bewaffneten Kampf‘] in Angriff nehmen und völlig unpolitische Irrsinnige sind“1005. Das Gelingen des Bankraubs überschattete kurz darauf ein personeller Ein­ schnitt. Infolge eines anonymen Hinweises stieß die Westberliner Polizei auf zwei der vier konspirativen Wohnungen, welche der Zirkel im August 1970 gegen Entgelt bezogen hatte. Beide nahm sie unter Beobachtung. Am 8. Oktober 1970 verschafften sich Polizeibeamte Zutritt zu der Unterkunft in der Knesebeckstraße, wo sie Ingrid Schubert antrafen und arretierten. Während sie im Schlupfwinkel warteten, gelang nach und nach die Fest­ nahme Brigitte Asdonks, Monika Berberichs, Irene Goergens‘ und Horst Mahlers.1006 Kurz zuvor hatten die Aktivisten den Beschluss gefasst, den eigenen Aktionsraum auf Westdeutschland auszudehnen. Ulrike Meinhof, Karl-Heinz Ruhland und Heinrich Jansen reisten nach Niedersachsen und fanden Quartier in einer Ferienwohnung in Polle. Im November 1970 stahlen sie aus Verwaltungssitzen Stempel sowie ausgefüllte und unausge­ füllte Ausweispapiere. In Frankfurt am Main erwarben sie von Mitgliedern der Fatah gegen einen Betrag von mehr als 15 000 DM 35 Pistolen. 10 Exemplare schickten sie per Post zu den in Westberlin zurückgebliebenen Mitgliedern,1007 die unterdessen Jan-Carl Raspe, Ilse Stachowiak und Beate

1003 1004 1005 1006 1007

Vgl. Winkler 2008, S. 180-181, 479; Dietrich 2009, S. 46-47. Der Spiegel 1970a, S. 72. Baumann 1980, S. 91. Vgl. Der Spiegel 1970b, S. 116; Jesse 2001, S. 185; Weinhauer 2006, S. 936. Vgl. Jesse 1996, S. 202; Peters 2008, S. 222-226.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Sturm hatten gewinnen können.1008 Sie verfolgten das Ziel, Horst Mahler aus der Untersuchungshaftanstalt in Moabit zu befreien. Die Aktion verei­ telten polizeiliche Ermittlungen, in deren Verlauf am 5. Dezember 1970 Eric Grusdat festgesetzt werden konnte. Dieser hatte den Bau eines Hub­ schraubers vorangetrieben, welcher bei der Flucht zum Einsatz kommen sollte.1009 Wenig später kehrten Baader, Ensslin und andere Gruppenangehörige der Stadt den Rücken und ließen sich ebenfalls in Westdeutschland nie­ der.1010 Hier sollen sie unter anderem das Entführen einer prominenten Person diskutiert, schließlich aber verworfen haben. Als wichtigstes Ziel wurde offenbar ein Fortsetzen der logistischen Absicherung gesehen,1011 die sie mit der Verstärkung durch Holger Meins in Angriff nahmen.1012 Nach dem Ergreifen Karl-Heinz Ruhlands und Heinrich Jansens im De­ zember 1970 und dem durch interne Konflikte motivierten Ausstieg Beate Sturms Anfang 1971 gelang dem Zirkel in Kassel am 15. Januar 1971 erneut ein Banküberfall, der die monetären Ressourcen um etwa 110 000 DM erhöhte.1013 Die ungebrochenen Aktivitäten des Zirkels zwangen die Sicherheitsbehörden zu einem Intensivieren ihrer Fahndungsmaßnahmen, welche nicht nur gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Grup­ pe und Polizeikräften, sondern auch weitere Einbrüche in der Gruppen­ struktur bedingten. Im Mai 1971 geriet Astrid Proll, am 15. Juli 1971 Werner Hoppe in Hamburg in Haft. Hoppes Begleiterin Petra Schelm starb, als sie sich dem polizeilichen Zugriff mit Waffengewalt zu entziehen versucht hatte.1014 Aus diesen Verlusten ergaben sich indes keine nachhaltigen Konsequen­ zen für die Schlagkraft des Zusammenschlusses. Denn im Frühjahr und Sommer 1971 vermochte er Aktivisten aus anderen linksextremistischen Akteuren aufzunehmen. Zuwachs erfuhr er durch ehemalige Mitglieder des „Sozialistischen Patientenkollektivs“ (SPK),1015 das im Februar 1970 ins Leben gerufen worden war. Die ideologische Ausrichtung des SPK prägte Dr. Wolfgang Huber, der insbesondere aufgrund zunehmender

1008 1009 1010 1011 1012 1013

Vgl. Sturm 1972, S. 57; Diewald-Kerkmann 2009, S. 119; Winkler 2008, S. 184. Vgl. Der Spiegel 1971b, S. 74; Dietrich 2009, S. 50. Vgl. Peters 2008, S. 227; Aust 2020, S. 260-262. Vgl. Neidhardt 1982, S. 327. Vgl. Peters 2008, S. 237. Vgl. Der Spiegel 1972g, S. 106; Sturm 1972, S. 63; Neidhardt 1982a, S. 328; Peters 2008, S. 229. 1014 Vgl. Weinhauer 2006, S. 936; Jander 2008, S. 167; Winkler 2008, S. 187. 1015 Vgl. Pross 2016, S. 347.

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5.1 Entstehung

Konflikte mit Vorgesetzten seine Stelle als Assistenzarzt an der Psychi­ atrischen Poliklinik der Universität Heidelberg verloren hatte.1016 Es sah in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Bundesrepublik die Ursache gesundheitlicher Probleme. Daraus erwuchs nach seiner Perspektive die Legitimität, ihnen durch Widerstand entgegenzutreten.1017 Das SPK ver­ pflichtete sich dem Anspruch, aus der „Krankheit eine Waffe zu ma­ chen“1018: Individuelles Leid sollte in kollektive Taten überführt werden, welche Besserung erbringen könnten.1019 Dem „Sozialistischen Patienten­ kollektiv“ gehörten im Kern wohl etwa 20 Personen an, die – angeblich – ein Umfeld von rund 200 Personen umgab.1020 Huber konnte nur wenige Personen um sich sammeln, bei denen eine schwere Krankheit diagnostiziert worden war. Eine Vielzahl war als „‚Kranke‘ im denkbar weitesten Wortsinn“1021 zu begreifen, die unter anderem unter Alkoholis­ mus oder Lebenskrisen litten.1022 Ersichtlich wurde dies beispielsweise bei Margrit Schiller, die in ihrer Autobiographie die Motivation zum Besuch des SPK wie folgt beschrieb: „Aus dem Leiden die Kraft zum Kampf entwickeln. Darin konnte ich mich erkennen. Den Stein meiner Einsamkeit und Verzweiflung am Leben aufzuheben und ihn gegen seine Ursache werfen. Die Ursache war die kapitalistische Gesellschaftsordnung.“1023 Innerhalb des „Kollektivs“ setzte sich sukzessive die Erkenntnis durch, dem Protest eine gewaltsame Komponente hinzufügen zu müssen. Indizi­ en hierfür bildeten Schießübungen, das Herstellen von Sprengstoff, meh­ rere misslungene Anschläge sowie das ostentative Bekenntnis zu dem Zusammenschluss um Baader, Ensslin und Meinhof in den eigenen Publi­ kationen.1024 Das „Sozialistische Patientenkollektiv“ verkündete Mitte Juli 1971 seine Auflösung, nachdem die Polizei Huber und andere leitende Angehörige festgenommen hatte.1025 Margrit Schiller und drei weitere Ak­ 1016 Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 169; Pross 2016, S. 15, 74-79, 236; Taufer 2018, S. 64; Aust 2020, S. 290. 1017 Vgl. von Baeyer-Katte 1982, S. 184-185; Pross 2016, S. 187. 1018 Von Baeyer-Katte 1982, S. 208. 1019 Vgl. ebd., S. 209, 216. 1020 Vgl. ebd., S. 227. 1021 Ebd., S. 213. 1022 Vgl. Pross 2016, S. 193-195. 1023 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 55. 1024 Vgl. Pross 2016, S. 332-334, 372-373. 1025 Vgl. Rabert 1995, S. 194-195; Winkler 2008, S. 187-188; Pross 2016, S. 337; Taufer 2018, S. 74.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

tivisten des SPK sollen sich unmittelbar danach in die „Baader/MeinhofGruppe“ eingereiht haben.1026 Schiller hatte dieser Gruppe eigenen Aussa­ gen zufolge noch während ihrer Zugehörigkeit zum „Patientenkollektiv“ ihre Wohnung zur Nutzung überlassen und Baader, Ensslin, Meinhof, Meins sowie Raspe kennengelernt.1027 Diese hätten sie um ein Gespräch mit Huber gebeten, mit dem das Fundament für einen Kontakt zwischen ihrem Zirkel und dem SPK geschaffen werden sollte. Dem Wunsch sei Schiller nachgekommen, sie habe allerdings nicht erfahren, welche Ver­ bindungen sich anschließend tatsächlich entwickelten.1028 Wie Schiller in ihrem Selbstzeugnis berichtete, bildete sie nach ihrem Anschluss unter anderen mit Ulrike Meinhof und Carmen Roll eine Untergruppe der RAF, die von Hamburg aus agierte.1029 Neben Angehörigen des „Sozialistischen Patientenkollektivs“ legten sich einzelne Mitglieder der „Tupamaros Westberlin“ sowie führende Ak­ tivisten der Anfang 19701030 in der bayerischen Landeshauptstadt zusam­ mengetretenen „Tupamaros München“ (TM) – darunter Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt und Rolf Pohle1031 – auf einen Eintritt in den von Baader, Ensslin und Meinhof geprägten Zirkel fest.1032 Rolf Pohle betraute die Gruppe mit dem Erwerb von Schusswaffen. Bis zu seiner Verhaftung im Dezember 1971 gelangte er in den Besitz von mindestens 32 Revolvern und Pistolen. Möller und Mohnhaupt schufen in der Folgezeit in Stuttgart beziehungsweise Westberlin eine operative Infrastruktur, welche die in Frankfurt am Main und Hamburg genutzten Rückzugsräume ergänzte.1033 Im Gegensatz zu den TM und dem SPK, dessen ehemalige Aktivisten sich ebenso in der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ wie­ derfinden ließen,1034 beharrten die „Tupamaros Westberlin“ auf ihrer or­ ganisatorischen Eigenständigkeit. Dies zeigte sich mit dem Scheitern von

1026 1027 1028 1029 1030 1031

Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 60-61; Pross 2016, S. 347. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 40-41. Vgl. ebd., S. 43-44. Vgl. ebd., S. 60-63. Vgl. Wunschik 2006b, S. 544. Vgl. Jander 2008, S. 169-170; Diewald-Kerkmann 2009, S. 94. Vgl. auch Pohle 2002, S. 67. 1032 Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 32-33. 1033 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 328; Peters 2008, S. 244-245. Vgl. auch Pohle 2002, S. 20-21, 69, 71. 1034 Vgl. Rabert 1995, S. 195; Straßner 2018, S. 432; Taufer 2018, S. 65.

250

5.1 Entstehung

Annäherungsversuchen im Herbst 1971.1035 Mit Blick auf diesen Zeitraum führte Margrit Schiller zum Verhältnis beider Gruppen aus: „[W]ir wussten, dass es 1970/71 heftige Auseinandersetzungen zwi­ schen Andreas [Baader] und Gudrun [Ensslin] und Mitgliedern der [zu diesem Zeitpunkt noch als TW auftretenden] Bewegung 2. Juni um die politische Bestimmung von Aktionen gegeben hatte, die mit einem Bruch endeten. Die RAF bezeichnete die Bewegung 2. Juni als populistisch. ‚Sie schielen nur nach dem Beifall der Leute!‘“1036 Im Frühjahr und Sommer 1971 wies die „Baader/Meinhof-Gruppe“ nicht nur dem personellen und logistischen Aufbau eine herausgehobene Rol­ le zu. Als gleichermaßen bedeutsam schätzte der Zusammenschluss das theoretische Untermauern der eigenen Taten ein. Im April und Mai 1971 gelangten unter den Titeln „Das Konzept Stadtguerilla“ und „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ zwei Texte in Umlauf, die im Wesent­ lichen Einschätzungen zur politischen Landschaft und Ausrichtung West­ deutschlands sowie strategische Überlegungen zu terroristischen Kampa­ gnen enthielten. In dem von Ulrike Meinhof niedergeschriebenen1037 Papier „Das Konzept Stadtguerilla“ erschien zudem erstmals die Selbst­ bezeichnung, mit der der Zirkel in den folgenden Jahren allgemeine Bekanntheit erlangen sollte: „Rote Armee Fraktion“1038. Darüber hinaus enthielt es das charakteristische Signet der Gruppe: eine Maschinenpistole vor einem fünfzackigen Stern, bedeckt mit der Abbreviation „RAF“.1039 Im „Konzept Stadtguerilla“ sah die RAF angesichts der Situation in der Bundesrepublik die Notwendigkeit, bewaffnete Gruppen zu formieren. Nehmen derartige Strukturen nicht den Kampf auf, könne zu imperialis­ tischer Macht kein Gegengewicht gebildet werden.1040 Dabei sei nicht entscheidend, zunächst „eine die Arbeitsklasse vereinigende Strategie zu entwickeln“1041 und sie mit propagandistischer Arbeit voranzutreiben. Vielmehr müsse eine Avantgarde unmittelbar praktisch aktiv werden.1042 Dieses Paradigma erhob Meinhof in ihrem Duktus zum „Primat der Pra­ xis“, dem sie erläuternd beifügte: 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042

Vgl. Neidhardt 1982a, S. 322. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 132. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 43. ID-Verlag 1997, S. 48. Vgl. Peters 2008, S. 744. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 31. Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 37-38.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

„Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.“1043 In welcher Form dieser Prozess erfolgen kann, wurde sogleich beantwor­ tet. Ausdrücklich bewarb die Erklärung die Strukturen lateinamerikani­ scher Guerillagruppen, die in urbanen Räumen beheimatet sind:1044 „Stadtguerilla heißt, sich von der Gewalt des Systems nicht demorali­ sieren zu lassen. Stadtguerilla zielt darauf, den staatlichen Herrschafts­ apparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit zu zerstören.“1045 Meinhof empfahl in diesem Kontext die Lektüre des von Carlos Marig­ hella verfassten „Minihandbuchs des Stadtguerilleros“. Die „Rote Armee Fraktion“ sei willens, denen zusätzliche Ratschläge zukommen zu lassen, die den Entschluss fassen, ebenfalls Protest durch den Griff zur Waffe zu artikulieren.1046 Mahler verpflichtete sich mit seinem in der Haft niedergeschriebenen Traktat „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ dem Herleiten strategischer Überlegungen.1047 Denn: „Jede Propaganda, die revolutionäre Ziele proklamiert, wird wirkungs­ los bleiben, wenn sie nicht die konkreten Wege bezeichnet, auf denen diese Ziele erreicht werden können.“1048 Somit präsentierte sein Text im Gegensatz zum „Konzept Stadtguerilla“, das einem unmittelbaren Tätigwerden den Vorzug gewährte, detailliertere Aussagen zum Ablauf einer sozialrevolutionären Revolution in Deutsch­ land. Als Ausgangspunkte seiner Argumentation wählte er einzelne theore­ tische Annahmen Karl Marx‘, Friedrich Engels‘, Wladimir Iljitsch Lenins und Mao Tse-tungs. Von Engels suchte sich Mahler punktuell erkennbar abzugrenzen;1049 Karl Marx‘, Wladimir Iljitsch Lenins und Mao Tse‑tungs theoretische Arbeiten rezipierte er dagegen weitaus unkritischer. Vor allem

1043 1044 1045 1046 1047 1048 1049

252

Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 49. Ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 54.

5.1 Entstehung

den Paradigmen des Maoismus schrieb er eine anhaltende Gültigkeit zu. In diesem Sinne legte er fest: „Die Erwartung eines friedlichen Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus hat für die Metropolen keine materielle Grundlage. Die aus den sozialen Erhebungen der Vergangenheit und Gegenwart zu ziehenden Lehren begründen hinreichend die Einsicht, dass der revo­ lutionäre Klassenkampf des Proletariats gegen die Herrschaft des Kapi­ tals in seinem entscheidenden, höchsten Stadium zum bewaffneten Bürgerkrieg führt, dass der bewaffnete Kampf das höchste Stadium des Klassenkampfes ist.“1050 Als unentbehrlicher Akteur innerhalb dieser Umwälzung erwies sich aus Mahlers Perspektive eine „Avantgarde“, welche den in der Bevölkerung existierenden Unmut aufgreift und intensiviert.1051 Wie er im weiteren Verlauf seiner Erklärung begründete, müsse diese Gruppe schließlich zu den „Kampfformen des Guerilla-Krieges“1052 übergehen, die sich auch in einem urbanen Raum umsetzen ließen. Sie könnten schließlich den Nähr­ boden für einen gesellschaftlichen und politischen Umbruch schaffen: „Wir müssen […] einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewusstsein der Massen zu wecken. […] Die Bomben gegen den Unterdrückungsapparat schmeißen wir auch in das Bewusstsein der Massen.“1053 Obgleich Meinhof und Mahler mit ihren Papieren Gewalt gegen die staat­ lichen Strukturen der Bundesrepublik zum ausschlaggebenden Mittel er­ hoben, sah die „Rote Armee Fraktion“ zunächst davon ab, entsprechende Aktivitäten voranzutreiben. In der zweiten Hälfte des Jahres 1971 sowie Anfang 1972 banden weiterhin Banküberfälle die Kräfte der RAF: Am 9. August 1971 erbeutete der Zusammenschluss in Hannover etwa 200 000 DM, am 22. Dezember 1971 in Kaiserslautern 134 000 DM und am 21. Fe­ bruar 1972 in Ludwigshafen 286 000 DM.1054 Zeitgleich sah er sich mit einer schwankenden Mitgliederzahl konfrontiert. Im Herbst 1971 stießen Gerhard Müller sowie Klaus Jünschke – ein ehemaliger Angehöriger des

1050 1051 1052 1053 1054

Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 69. Ebd., S. 72. Ebd., S. 100. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 328.

253

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

„Sozialistischen Patientenkollektivs“ – zur „Roten Armee Fraktion“.1055 Darüber hinaus gewann die Gruppe Ingeborg Barz, Wolfgang Grund­ mann, Angela Luther und Thomas Weisbecker, die zuvor bei den „Tu­ pamaros Westberlin“ aktiv gewesen waren.1056 Am 22. Oktober 1971 fass­ ten Polizeibeamte Margrit Schiller,1057 im März 1972 Manfred Grashof, Wolfgang Grundmann1058und Carmen Roll. Roll war am Tag ihrer Ver­ haftung in Augsburg von Thomas Weisbecker begleitet worden, den ein Polizeibeamter während einer Personenkontrolle mit seiner Dienstwaffe tötete.1059 Die sicherheitsbehördlichen Fahndungsmaßnahmen sowie die Handlungen der RAF, welche die eigene Aktionsfähigkeit gewährleisten sollten, forderten in situativ entstandenen Schusswechseln auch auf Seiten der Polizei erste Todesopfer. So kostete das Überprüfen mehrerer Mitglie­ der der „Roten Armee Fraktion“ – darunter Gerhard Müller und Mar­ grit Schiller – am 22. Oktober 1971 den Beamten Norbert Schmid das Le­ ben.1060 Bei dem Banküberfall im Dezember 1971 in Kaiserslautern starb der Polizist Herbert Schoner.1061 Vor seiner Ergreifung gab Manfred Gras­ hof mehrere Schüsse auf Hans Eckhardt ab. Den schweren Wunden erlag dieser wenige Wochen später.1062 5.2 Aktionsphase 5.2.1 „Mai-Offensive“, Hungerstreiks, „Gruppe 4.2.“, Botschaftsbesetzung in Stockholm (1972 bis 1975) Spätestens im Frühjahr 19721063 ging die „Rote Armee Fraktion“ von dem logistischen Festigen zu Planungen über, welche die zuvor theoretisch abgesicherte Aktionslinie des „Guerillakampfes“ in die Tat umsetzen soll­

1055 Vgl. Jünschke 1988, S. 152, 154; Diewald-Kerkmann 2009, S. 111; Aust 2020, S. 312-315. 1056 Vgl. Wunschik 2006b, S. 547; Der Spiegel 2007, S. 79; Jander 2008, S. 168; Danyluk 2019, S. 198. 1057 Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 74; Peters 2008, S. 255. 1058 Vgl. Jander 2008, S. 168. 1059 Vgl. Peters 2008, S. 258. 1060 Vgl. Horchem 1988, S. 43; Jander 2008, S. 167; Aust 2020, S. 322-325. 1061 Vgl. Winkler 2008, S. 200. 1062 Vgl. Peters 2008, S. 258-259. 1063 Vgl. ebd., S. 279.

254

5.2 Aktionsphase

ten. Mit der federführend von Ulrike Meinhof erstellten1064 Erklärung „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassenkampf“ bot sie im April 1972 nicht nur eine Analyse der innenpolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Westdeutschlands sowie seiner außenpolitischen Beziehungen an, sie legte auch Rechenschaft zu den Zielen ab. Hiermit reagierten die Aktivisten auf Kritik aus linksextremistischen Kreisen, die offensichtlich das Profil der RAF an jenem der südamerikanischen Guerillaorganisation „Tupamaros“ maßen. So hieß es: „Vielen Genossen imponieren die Aktionen der Tupamaros. Sie verste­ hen nicht, warum wir keine populären Aktionen machen, uns stattdes­ sen mit Logistik beschäftigen. Sie machen sich nicht die Mühe, sich vorzustellen, was Stadtguerilla ist und wie das funktioniert.“1065 Ergänzend führte das Papier aus, der Prozess des materiellen und finan­ ziellen Ausstattens ermögliche es zum einen, die eigenen Fähigkeiten im „bewaffneten Kampf“ zu entdecken und eine Arbeitsteilung festzulegen. Er erlaube zum anderen, den Fortbestand der Gruppe zu gewährleisten. Insofern müssten logistische Fragen als wesentliche Aufgabe der „Stadt­ guerilla“ verstanden werden.1066 Positionen, die von anderen Annahmen ausgingen, seien „Erscheinungsformen des Opportunismus“1067. Ebenso wie zuvor Carlos Marighella im „Minihandbuch des Stadtguerillero“ wies die RAF dem Problem der Logistik eine politische Dimension zu, welche sie vor allem bei Banküberfällen als gegeben sah.1068 Schließlich könne es mit dieser Handlungsform gelingen, zwei zentrale Botschaften in die Bevölkerung zu tragen: „[Sie] gibt die Richtung [des antiimperialistischen Kampfes] an, die gemeint ist: Enteignung; und die Methode, mit der die Diktatur des Volkes gegen die Feinde des Volkes nur errichtet werden kann: bewaff­ net.“1069 In den übrigen Abschnitten des Textes „Dem Volk dienen – Stadtgue­ rilla und Klassenkampf“ griffen die Autoren den Arbeitskampf im Jahr 1971 auf, der sich an Lohnerhöhungen in der chemischen Industrie und dem daraus erwachsenen Widerstand deutscher Chemiekonzerne entzün­ 1064 1065 1066 1067 1068 1069

Vgl. Jesse 1996, S. 211; Peters 2008, S. 271. ID-Verlag 1997, S. 142. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 141. Ebd., S. 142.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

det hatte.1070 Sie thematisierten die Macht des bundesrepublikanischen Staates, der sich nicht zuletzt durch gerichtliche Entscheidungen, eine Einflussnahme auf die Medien, das Aufrüsten der Polizei und die von ihr eingesetzte Waffengewalt gegen die RAF als Vertreter wirtschaftlicher Interessen entlarve.1071 Bedacht wurde darüber hinaus der „Springer“-Ver­ lag. In seiner Berichterstattung verschreibe er sich unverändert einer anti­ kommunistischen Agitation – er müsse daher als Gegner der Arbeitsklasse wahrgenommen werden.1072 Mit dem Papier kaprizierte sich die „Rote Armee Fraktion“ öffentlich­ keitswirksam auf erste aktionistische Schwerpunkte, welche die Mitglieder in der Praxis indes nicht gleichwertig ausfüllten. Laut Irmgard Möller zogen sie zwar in Erwägung, mit Taten an den Streiks in der chemischen Industrie anzuknüpfen. Diese Gedankenspiele verdrängte aber ein Hand­ lungsfeld, das in der Erklärung vom April 1972 nicht angeklungen war: „Für uns standen […] Aktionen gegen die US-Army eindeutig im Vorder­ grund.“1073 Die Ursache dieser Gewichtung soll in Entwicklungen auf dem Kriegsschauplatz in Indochina gelegen haben.1074 Ausgehend von den nunmehr eingegrenzten Feindbildern setzte die Gruppe im Mai 1972 eine Anschlagskampagne um, die in der Literatur gemeinhin als „Mai‑Offen­ sive“1075 Erwähnung findet. Den Auftakt bildete das „Kommando Petra Schelm“ der RAF am 11. Mai 1972 mit der Detonation von drei Explosiv­ körpern auf dem Gelände des V. US-Corps in Frankfurt am Main, die einen amerikanischen Soldaten tötete und dreizehn Personen verletzte.1076 In einem Bekennerschreiben, das drei Tage später erschien, wies die Grup­ pe die Aktion als Folge der „Bombenblockade der US-Imperialisten gegen Nordvietnam“1077 aus. Am 12. Mai 1972 zündeten im Polizeipräsidium Augsburg sowie auf dem Parkplatz vor dem Bayerischen Landeskriminal­ amt Sprengsätze, die das „Kommando Thomas Weisbecker“ abgelegt hat­ te.1078 Bei beiden Dienststellen sah die RAF eine unmittelbare Verantwor­ tung für den Tod Weisbeckers im März 1972 in Augsburg, der Möllers

1070 1071 1072 1073 1074 1075

Vgl. ebd., S. 116-124. Vgl. ebd., S. 124-126. Vgl. ebd., S. 135. Möller/Tolmein 1999, S. 48. Vgl. ebd., S. 39-40. Jesse 1996, S. 203; Bressan/Jander 2006, S. 417; Straßner 2008b, S. 219; Winkler 2008, S. 203; Jesse 2017, S. 190. 1076 Vgl. Horchem 1988, S. 45. 1077 ID-Verlag 1997, S. 145. 1078 Vgl. Rabert 1995, S. 123.

256

5.2 Aktionsphase

Aussagen zufolge innerhalb des Zirkels das Bedürfnis nach Vergeltung erzeugt hatte.1079 Eine vom „Kommando Manfred Grashof“ in Karlsruhe unter dem Fahrzeug Wolfgang Buddenbergs platzierte Bombe traf am 15. Mai 1972 dessen Frau.1080 Der am Bundesgerichtshof eingesetzte Rich­ ter hatte sich laut Tatbekenntnis der „Roten Armee Fraktion“ ein unrecht­ mäßiges Behandeln der inhaftierten RAF‑Mitglieder Grashof und Roll zuschulden kommen lassen.1081 Vier Tage darauf richtete sich das „Kommando 2. Juni“ gegen das Haus des „Springer“-Verlages in Hamburg. Trotz zuvor telefonisch kom­ munizierter Warnungen verletzten zwei Explosionen 38 Angestellte des Konzerns. Drei weitere Sprengkörper zündeten nicht.1082 Dass in diesem Anschlag ausschließlich Arbeitnehmer Schaden erlitten, rief – ungeachtet des nachträglich von der RAF geäußerten Vorwurfs einer vom Verlag willentlich versäumten Gebäudeevakuierung1083 – nicht nur im deutschen Linksextremismus entschiedene Ablehnung hervor.1084 Sie war überdies Gegenstand interner Diskussionen. „Hinterher gab es […] bei uns viel Kritik an diesem Angriff“1085, so Möller. Dem „Kommando“ um Siegfried Hausner, Klaus Jünschke und Ulrike Meinhof1086, das die Planung und Ausführung des Anschlags übernommen hatte, sollen die übrigen Aktivis­ ten der Gruppe mangelhafte Weitsicht vorgehalten haben. Es hätte den „Schutz der Unbeteiligten in die Hände von anderen gelegt“1087 und da­ mit dem „Springer“-Konzern, einem ideologischen Gegner der „Roten Ar­ mee Fraktion“, die Kontrolle über den weiteren Verlauf der Tat zugewie­ sen.1088 Wie das RAF-Mitglied Gerhard Müller berichtete, konsentierte der Zirkel anschließend eine weitere Aktion gegen ein amerikanisches Ziel. Diese sollte – angeblich – dazu beitragen, negativen Haltungen im Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ entgegenzuwirken.1089 Am 24. Mai 1972 kamen im europäischen Hauptquartier der amerikanischen Armee in Europa bei Sprengstoffdetonationen drei Soldaten ums Leben. Fünf

1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086 1087 1088 1089

Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 58-60. Vgl. Jander 2008, S. 151. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 146. Vgl. Peters 2008, S. 289. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 147. Vgl. Bundesministerium des Innern 1972, S. 59. Möller/Tolmein 1999, S. 65. Vgl. Winkler 2008, S. 205. Möller/Tolmein 1999, S. 66. Vgl. ebd. Vgl. Peters 2008, S. 291.

257

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Personen zogen sich Verletzungen zu.1090 Zu dem Anschlag bekannte sich am Tag darauf ein „Kommando 15. Juli“ der RAF, das die Bomben als Konsequenz der Bombardierung Nordvietnams verbrämte.1091 In einer von Ulrike Meinhof auf Tonband aufgenommenen und am 31. Mai 1972 auf einer Versammlung der Häftlingshilfsorganisation „Rote Hilfe“ in der Universität Frankfurt am Mains abgespielten Erklärung1092 richtete die Gruppe an gewaltbereite Linksextremisten den Appell, es ihr gleichzutun: „Wir fordern alle Militanten in der Bundesrepublik auf, in ihrem politischen Kampf gegen den US-Imperialismus alle amerikanischen Einrichtungen zum Ziel ihrer Angriffe zu machen!“1093 Wer Möller folgt, geht von der bereits zu diesem Zeitpunkt in der RAF manifestierten Absicht aus, die Alliierten Stadtkommandanten in Westber­ lin zu entführen. Die Freiheitsberaubungen sollten die Freilassung unter anderen von Brigitte Asdonk, Monika Berberich, Irene Goergens und In­ grid Schubert ermöglichen und zugleich Westberlin als Abschnitt einer Front kennzeichnen, an der die Vereinigten Staaten in ihrer Politik zur Eingrenzung des kommunistischen Machtbereichs stünden. Als Tatzeit­ raum sei der Sommer 1972 avisiert worden.1094 Diese Vorbereitungen setz­ ten das ab 1970 nachweislich forcierte Bemühen fort, inhaftierte Aktivisten aus der Haft zu befreien. Es sei dabei in der zweiten Jahreshälfte 1971 – an­ geblich – sogar ein Schulterschluss mit den „Tupamaros Westberlin“ ver­ sucht worden. Gemeinsame Überlegungen zum Ausbruch Horst Mahlers und des TW-Angehörigen Dieter Kunzelmann hätten sich schlussendlich jedoch als nicht realisierbar erwiesen.1095 Die nunmehr erneut intensivier­ ten Anstrengungen zur Befreiung von RAF‑„Gefangenen“ fanden ebenfalls ein baldiges Ende. Laut Möller war dies allerdings nicht auf gruppeninter­ ne Faktoren zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Reaktionen des westdeutschen Sicherheitsapparats, die sich im Nachgang zur „Mai-Offen­ sive“ ergaben.1096 Das Bundeskriminalamt initiierte mit der Operation „Wasserschlag“ die bis dahin weitreichendste und umfangreichste polizei­ liche Fahndungsmaßnahme.1097 Das Bundesinnenministerium versprach 1090 1091 1092 1093 1094 1095 1096 1097

258

Vgl. Horchem 1988, S. 45; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 73. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 147-148. Vgl. Horchem 1988, S. 46; Winkler 2008, S. 207-208. ID-Verlag 1997, S. 150. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 62-63. Vgl. Wunschik 2006b, S. 547. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 63. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 73; Winkler 2008, S. 208.

5.2 Aktionsphase

monetäre Belohnungen bei Hinweisen, welche zum Ergreifen von Mitglie­ dern der „Roten Armee Fraktion“ führen.1098 Unter Mitwirkung von Bürgern1099 gelang im Sommer 1972 die Fest­ nahme der entscheidendsten Akteure der Gründergeneration der RAF, die Schlussfolgerungen zum Zusammenbruch der Gruppe nahelegte.1100 In Frankfurt am Main ergriff die Polizei am 1. Juni 1972 Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, in Hamburg am 7. Juni 1972 Gudrun Ensslin. Bernhard Braun und Brigitte Mohnhaupt gerieten zwei Tage später in Haft, Ulrike Meinhof und Gerhard Müller am 15. Juni 1972, Siegfried Hausner am 19. Juni 1972. Im Juli 1972 arretierten die Behörden Klaus Jünschke und Irmgard Möller.1101 Die Justiz brachte die festgenom­ menen Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ in unterschiedlichen Vollzugsanstalten unter und unterwarf sie zum Teil strengsten Haftbedin­ gungen.1102 So saß Baader in Schwalmstadt, Raspe – ebenso wie Meinhof – in Köln, Ensslin in Essen, Meins in Wittlich und Möller in Bühl ein.1103 Grundsätzlich war Einzelhaft vorgesehen, zeitweise in schalldichten Zellen abzubüßen.1104 Obwohl die Justizbehörden ein rigides Abschotten der Häftlinge zu gewährleisten suchte, blieben Gruppenzusammenhalt und Handlungsfä­ higkeit der RAF ungebrochen. Gesteigerte Aufmerksamkeit kam der pro­ pagandistischen Arbeit zu, die nach und nach organisierte Züge annahm. Ulrike Meinhof widmete sich in der Isolationshaft einem Bewerten des Überfalls palästinensischer Terroristen auf das Olympische Dorf im Sep­ tember 1972 in München.1105 Horst Mahler griff die Aktion ebenfalls auf. Im Oktober nutzte er den ersten Verhandlungstag des gegen ihn aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung geführten Gerichtsverfahrens als Bühne, um die Gewalttaten der Palästinenser mit einer – vermeintlich – „faschistischen“ Agenda des jüdischen Volkes im Nahen Osten zu begründen.1106 Meinhofs Beurteilung zu den Ereignissen in München wurden im November 1972 mit dem Papier „Die Aktion

1098 1099 1100 1101 1102 1103 1104 1105 1106

Vgl. Peters 2008, S. 293. Vgl. Der Spiegel 1972c, S. 60. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 330. Vgl. Jesse 1996, S. 203; Gottschling 2004, S. 193; Jander 2008, S. 152; Peters 2008, S. 299. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 330. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 71; Winkler 2008, S. 224, 227. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 419. Vgl. Winkler 2008, S. 225. Vgl. Der Spiegel 1972f, S. 106; Jander 2006, S. 386.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

des ‚Schwarzen September‘ in München“ öffentlich. Darin ordnete sie den Anschlag in einen weltweit geleisteten Widerstand gegen – angeblich – existierende imperialistische Herrschaftsstrukturen ein.1107 Die Tat suche der gegenüber den Palästinensern betriebenen „Ausrottungspolitik“1108 Einhalt zu gebieten. Dementsprechend formulierte sie ein verklärendes Urteil: „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München hat das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolutionäre Aktion in Westdeutschland und Westberlin.“1109 Beim Aufbau der Agitation in den Gefängnissen konnten die Aktivisten Reibungsverluste nicht verhindern. Spätestens Ende 1972 sollen sich Dif­ ferenzen zwischen Horst Mahler und anderen Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ abgezeichnet haben. Der ehemalige Rechtsanwalt Mah­ ler, der die Kernpunkte seines Traktats „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ im Januar 1972 gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bekräftigt hatte,1110 habe in diesem Zeitraum einen weiteren Text zur Strategie der RAF verfasst. Darin sei die Absicht skizziert worden, das Agieren der Gruppe stärker als bislang an die Situation von Befreiungsbe­ wegungen der Dritten Welt zu koppeln. Diese Forderung habe in den Reihen der RAF keine Mehrheit gefunden, was Mahler – angeblich – zum Anlass genommen hätte, eine Trennung von der Gruppe in Erwägung zu ziehen.1111 Das noch im Herbst 1972 von Ulrike Meinhof bediente Themenfeld des Antiimperialismus verlor in den Monaten darauf als mobilisierendes Element sukzessive an Bedeutung. An seine Stelle traten die Bedingungen, unter denen die Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ ihre Haft ver­ brachten. Anfang 1973 erklärte Andreas Baader in Westberlin als Zeuge im Gerichtsverfahren gegen Horst Mahler: „Die monatelange, totale Isolati­ on soll die Gefangenen kaputtmachen.“1112 Offensichtlich ohne vorherige Absprache bekundete er seine Intention, in den Hungerstreik eintreten zu wollen. Er „nehme an, dass sich die anderen [Inhaftierten der RAF]

1107 1108 1109 1110 1111 1112

260

Vgl. ID-Verlag 1997, S. 152-153. Ebd., S. 177. Ebd., S. 151. Vgl. Mahler 1972a, S. 31. Vgl. Jander 2006, S. 387. Andreas Baader, zit. n. Der Spiegel 1973a, S. 54.

5.2 Aktionsphase

anschließen.“1113 In den Raum warf er die Forderung, die „Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ in einer Haftanstalt zusammenzulegen.1114 Baaders Ankündigung unterstützten weitere Aktivisten des Zirkels. Mit einem Hungerstreik vom 17. Januar bis zum 16. Februar 19731115 setzten sie sich gegen die Situation in den Gefängnissen zur Wehr, erreichten allerdings keinerlei Veränderung. Die von ihnen beanspruchten Rechtsan­ wälte Eberhard Becker, Jörg Lang, Klaus Croissant und Kurt Groenewold lancierten während der Aktion eine Erklärung, in der sie Isolationshaft als Folter beschrieben und das Abschaffen dieses Haftregimes verlangten. Sie selbst beteiligten sich zwischen dem 9. und 12. Februar 1973 vor dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe an dem Streik.1116 Um einen systematischen Austausch unter den „Gefangenen“ zu ermög­ lichen, trieben Baader und Ensslin das Gründen des sogenannten Info-Sys­ tems voran, das vom Frühjahr 1973 bis Herbst 19771117 Bestand hatte. Wer Butz Peters folgt, wird Baader die in einem Kassiber vom 9. März 1973 definierte Zielvorgabe zuschreiben, eine solche Kommunikationsplattform einzurichten.1118 Beim Ausgestalten dieses Vorhabens machte sich Ensslin besonders verdient.1119 Laut Volker Speitel – einem Mitglied der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ – setzte die innerhalb des Zu­ sammenschlusses als „das info“1120 bezeichnete Austauschstruktur auf die Kanzleien der Rechtsanwälte, welche die Inhaftierten der RAF vertraten. Die Häftlinge konnten Nachrichten und Texte verfassen, von denen in den Büros der Anwälte Abzüge erstellt wurden. Als Anhang waren den Kopien zum Teil weiterführende Materialien, wie zum Beispiel Pressearti­ kel, beigefügt. Nach dieser Vervielfältigung gelangten die Papiere über die Verteidiger an die übrigen Aktivisten.1121 Wie sich später in diversen Gerichtsverfahren herausstelle, nahmen die Advokaten Kurt Groenewold, Klaus Croissant und Hans‑Christian Ströbele entscheidende Stellungen beim Verbreiten der Mitteilungen ein.1122 Möller und Schiller erinnerten sich in ihren Selbstzeugnissen beide an die Vorzüge des „Info“, dessen

1113 1114 1115 1116 1117 1118 1119 1120 1121 1122

Andreas Baader, zit. n. ebd. Vgl. auch Aust 2020, S. 429-430. Vgl. Der Spiegel 1973a, S. 55. Vgl. Horchem 1986, S. 5. Vgl. Peters 2008, S. 316; Winkler 2008, S. 227-228. Vgl. Schwibbe 2013, S. 127; Aust 2020, S. 442. Vgl. Peters 2008, S. 307. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 419. Bakker Schut 1987, S. 5. Vgl. Speitel 1980a, S. 38-39. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 330; Horchem 1988, S. 195; Jander 2008, S. 156.

261

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

stabilisierende, gruppenerhaltende Funktion Brigitte Mohnhaupt bereits am 22. Juli 1976 in einer Prozesserklärung öffentlich angedeutet hatte: „das info war […] ne [sic] waffe für jeden von uns, die er brauchte. d.h. als mittel zur kommunikation war es waffe, obwohl es einfach pa­ pier war. vielleicht ist es lächerlich zu sagen: waffe, aber genauso ist die situation der gefangenen. dass sie wirklich keine andere möglichkeit haben in der isolation.“1123 Möller zufolge war das System darauf ausgerichtet, „Erfahrungen mit der Isolation, unsere Einschätzung der Lage, alles, was uns wichtig war, auszu­ tauschen.“1124 Damit befähigte es aus ihrer Sicht die Inhaftierten dazu, die Haftbedingungen „überleben zu können“1125. Schiller skizzierte die Rolle des Mediums in vergleichbarem Tenor: „Gegen [die] Vereinzelung, gegen die Wirkungen der Isolation schu­ fen die Gefangenen 1973 ein ‚Info‘. […] Im Info diskutierten wir Prozessstrategien, politische Einschätzungen und vor allem über uns und unsere Situation im Gefängnis. In dieser Lage war das Info die gewaltige Anstrengung, uns auch im Knast zu organisieren und um jeden einzelnen zu kämpfen, damit die Isolation ihn nicht abtrennen und erdrücken konnte.“1126 Über das „Info-System“ verständigten sich die Häftlinge nach dem ers­ ten Hungerstreik im Januar und Februar 1973 zum künftigen Vorgehen. Rasch beschlossen sie eine weitere Nahrungsverweigerung, die am 8. Mai 1973 begann.1127 In einem auf diesen Tag datierten Papier hoben sie ihr Selbstverständnis als „Politische Gefangene“1128 sowie den Zweck des Streiks hervor. Zum einen sollte er die „politischen Gefangenen mit al­ len anderen Gefangenen“1129 gleichstellen, zum anderen den Inhaftierten uneingeschränkten Zugang zu Berichterstattung gewähren, die politische Entwicklungen dokumentiert.1130 Die Erklärung endete unter anderem mit dem Imperativ: „Setzt die Schweine von außen unter Druck und wir

1123 1124 1125 1126 1127 1128 1129 1130

262

Rote Armee Fraktion 1983, S. 228-229. Möller/Tolmein 1999, S. 73. Ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 144. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. Peters 2008, S. 316. ID-Verlag 1997, S. 188. Ebd., S. 187. Vgl. ebd.

5.2 Aktionsphase

von innen!“1131 Zwar gelang es der „Roten Armee Fraktion“ in diesem Zeitraum tatsächlich, mit ihrer auf – vermeintlich – unrechtmäßige Haft­ bedingungen gestützten Kampagne Sympathien und Unterstützung außer­ halb der Haftanstalten zu gewinnen. Als zentrales Instrument zeigten sich hierbei die „Komitees gegen die Folter an politischen Gefangenen in der BRD“, die sich im April und Mai 1973 in Westdeutschland auf Betreiben der Anwälte der Gruppe insbesondere in Universitätsstädten formierten und die Lage der RAF‑„Gefangenen“ propagandistisch vermarkteten.1132 Bis Mai 1974 sollen ihnen rund 450 Personen beigetreten sein;1133 75 öffentliche Veranstaltungen wären von den „Komitees“ organisiert wor­ den.1134 Grundlegende Veränderungen im Haftalltag bewirkte der zweite Hungerstreik bis zu seinem Abbruch am 29. Juni 1973 aber nicht.1135 Überdies begründete er eine interne Kontroverse, welche die Ende 1972 entstandene Friktion im Verhältnis Horst Mahlers zu den anderen Akti­ visten vertiefte.1136 Mahler sprach sich augenscheinlich gegen den in der Erklärung vom 8. Mai 1973 verwendeten Begriff des „politischen Gefan­ genen“ aus,1137 was Meinhof in einem an ihn adressierten Kassiber vom 20. Mai 1973 dazu führte, seinen bisherigen Beitrag in der „Roten Ar­ mee Fraktion“ scharf zu verurteilen: „ich denke, dass es dich allmählich wurmt, was in den zwei jahren drin [in der Haft] gelaufen ist, die du länger drin bist als n [sic] haufen andere. weil da nämlich nichts gelaufen ist […]. du hast […] den mondialen imperialismus erfunden und diskutiert und dies und das – aber was um dich rum vorging, das war dir scheint’s [sic] ziemlich luft. um dich rum ging nämlich vor, dass gefoltert wird.“1138 Unumwunden fragte sie Mahler nach den Gründen für die fehlende Kon­ frontation mit der Situation der RAF in der Haft: „was siehst du überhaupt? was nimmst du überhaupt wahr? warum habt ihr, hast DU nicht viel früher einen hungerstreik organisiert 1131 Ebd., S. 190. 1132 Vgl. Der Spiegel 1977d, S. 49; Speitel 1980a, S. 38; Neidhardt 1982a, S. 345; Schiller/Mecklenburg 2000, S. 113-114; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 94; Taufer 2018, S. 90; Aust 2020, S. 500. 1133 Vgl. Peters 2008, S. 314. 1134 Vgl. Wunschik 1997, S. 377. 1135 Vgl. Peters 2008, S. 317. 1136 Vgl. Jesse 2001, S. 186. 1137 Vgl. Bakker Schut 1987, S. 19. 1138 Ebd., S. 20.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

gegen eure isolation, die schweinereien gegen einzelne, gegen die iso [Isolation] von astrid [Astrid Proll] öffentlichkeit organisiert?“1139 Der Konflikt mit Mahler mündete sogar in der Bereitschaft, die von ihm im Papier „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ niedergelegten Ausführungen gezielt in seiner Gültigkeit zurückzuweisen. In einem ver­ mutlich von Ensslin verfassten Zellenzirkular, das die Behörden im Ju­ li 1973 entdeckten, fand sich eine entsprechende Äußerung im Hinblick auf die weitere theoretische Arbeit der „Roten Armee Fraktion“. Der Kassi­ ber postulierte: „schließlich soll die immer störende, banale, praxisferne stvo [Mahlers Arbeit war im Mai 1971 unter dem konspirativen Titel ‚Die neue Stra­ ßenverkehrsordnung‘1140 verbreitet worden] wirklich vollends vom tisch, einfach quatsch.“1141 Im September 1973 löste sich Mahler von dem Zirkel und trat an­ schließend in die linksextremistische „Kommunistische Partei Deutsch­ lands/Aufbauorganisation“ ein.1142 Die RAF ließ ihrerseits im September 19741143 seinen Ausschluss mit der Begründung verkünden, er „war schon immer […] ein dreckiger, bürgerlicher chauvinist […], der den herrschaftsdünkel, den er in der imperialistischen maschine, durch seine karriere als anwalt – zu seiner sache gemacht hatte – auf die proletarisch-revolutionäre bewegung übertragen hat – nur übertra­ gen, nicht erst in der raf. […] mahler hat in der praxis der raf, ihrer konkreten politik, ihren taktischen bestimmungen, in ihren bündnis­ sen nie eine rolle – auf was anderes war er nicht aus – gespielt. […] mahlers veröffentlichungen hat […] die raf immer erst nach ihrem erscheinen auf dem markt kennengelernt. er wußte, dass er nicht für die raf sprechen konnte.“1144 Mahler avancierte in den Jahren darauf zu einem notorischen Kritiker der Gruppe. So gab er in einem am 15. Februar 1978 im deutschen Fern­ sehen ausgestrahlten Interview mit Stefan Aust zu verstehen, „dass die Praxis sich [in der ‚Mai-Offensive‘ 1972] völlig loslöste von dem, was wir

1139 1140 1141 1142 1143 1144

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Ebd., S. 23. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 96. Bundesministerium des Innern 1975, S. 52. Vgl. Jander 2006, S. 387. Vgl. Jesse 2001, S. 186. Rote Armee Fraktion 1974.

5.2 Aktionsphase

[die RAF] mal gemeinsam uns unter Praxis vorgestellt haben.“1145 Der Zirkel habe mit dem Anschlag auf das Gebäude des „Springer“-Verlages diejenigen Personengruppen getroffen, für die er erklärtermaßen einzutre­ ten gedachte. Die Isolation der „Roten Armee Fraktion“ sei die Folge gewesen.1146 Mitte Dezember 1978 druckte der „Der Spiegel“ Auszüge aus einem Schlagabtausch zwischen Mahler und dem linksextremistischen Aktivisten Peter Paul Zahl ab, in dem Mahler Zahl zustimmend zitierte: „Die RAF verkam zu einer ‚Befreit-die-Guerilla-Guerilla‘“1147. Die in der Gruppe verbleibenden Aktivisten erhoben nicht nur die Lage in bundesrepublikanischen Haftanstalten zu einem Bezugspunkt der eige­ nen Aktivitäten. Als unverzichtbar schien darüber hinaus der Wiederauf­ bau der „Roten Armee Fraktion“ in der Illegalität sowie das gewaltsame Befreien von RAF-Mitgliedern. Zu treibenden Figuren gerieten im Prozess der Reorganisation zunächst Helmut Pohl, Margrit Schiller und Ilse Sta­ chowiak.1148 Schiller hatte das Landgericht Hamburg im Februar 1973 zu einer Haftstrafe von mehr als zwei Jahren verurteilt, welche die Justiz mit ihrer Zeit in der Untersuchungshaft verrechnete. Die Vollstreckung der von Schiller noch abzuleistenden neun Monate Gefängnisaufenthalt setzte sie bis zur Rechtskraft des Schuldspruchs aus.1149 Vier Monate nach der Entlassung aus dem Justizvollzug ging Schiller eigenen Aussagen zufolge erneut in den Untergrund. Schiller sei in die Niederlande gereist, wo sie auf Pohl und weitere Anhänger der „Roten Armee Fraktion“ – vermutlich Axel Achterrath, den ehemaligen SPK-Angehörigen Ekkehard Blenck und/ oder Stachowiak1150 – traf. Mit der palästinensischen Organisation Fatah soll die Gruppe um Pohl zu diesem Zeitpunkt bereits Absprachen und konkrete Vorbereitungen zur Entführung einer israelischen Passagierma­ schine auf dem Flughafen in Amsterdam getroffen haben. Vorgesehen gewesen sei, die Tat gemeinsam mit Mitgliedern der Fatah auszuführen und in ihrem Verlauf das Freilassen von Inhaftierten zu erreichen.1151 Laut Schiller sahen die Palästinenser allerdings aufgrund der sich im Na­ hen Osten verschärfenden Auseinandersetzung mit dem Staat Israel von einer Freiheitsberaubung ab.1152 Nach und nach reisten die Aktivisten 1145 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152

Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 189. Vgl. ebd. Mahler 1978, S. 62. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 331. Vgl. Peters 2008, S. 357. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 116, 119-120. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 121. Vgl. ebd., S. 122-123.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

nach Hamburg. Hier mieteten sie Wohnungen und rekrutierten weitere Mitglieder, darunter Christa Eckes sowie Wolfgang Beer, die zuvor in der Hamburger Hausbesetzerszene mit der Polizei in Konflikt geraten waren. Kay‑Werner Allnach stieß ebenfalls dazu.1153 Wie Schiller rückblickend vortrug, kannten sich die Mitglieder des Zir­ kels kaum. Zudem habe es ihnen weitgehend an Wissen zum Agieren in der Illegalität gefehlt. Sie versammelten sich daher auch in Westdeutsch­ land ausschließlich um das Vorhaben, den Wegbereitern der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zur Flucht aus der Haft zu verhelfen: „Was uns einte und antrieb, war der gemeinsame Wille, die Gefange­ nen herauszuholen. Wir hatten keinen Zweifel, dass wir ohne sie, die Gründer der RAF, nicht viel zustande bringen würden, dass ihre Präsenz entscheidend war für die Fortsetzung des Konzepts Stadtgue­ rilla. Uns war klar, dass wir Jahre brauchen würden, um die politische Erfahrung und das Wissen zu gewinnen, das Andreas, Ulrike, Holger und Jan besaßen. Und ob wir jemals die Vorstellungskraft, Initiative und Dynamik wie sie entwickeln könnten, war sehr zweifelhaft.“1154 Um sich logistisch abzusichern sowie Kontakte zu Unterstützern zu eta­ blieren, habe sich der Zusammenschluss geteilt: Während Schiller und All­ nach sich in Frankfurt am Main niederließen, seien Beer, Eckes, Pohl und Stachowiak in Hamburg zurückgeblieben.1155 Die zum Teil durch Span­ nungen geprägten Verbindungen zwischen beiden Zellen sollen durch ge­ genseitige Besuche aufrechterhalten worden seien.1156 Zudem führten sie im August 19731157 mit einem Überfall auf eine Zweigstelle der Dresdner Bank in Hamburg, bei dem sie etwa 157 000 DM erbeuteten, gemeinsam eine Aktion aus.1158 Kollektiv hätten sie wiederholt Modalitäten einer Tat diskutiert, welche der „Gefangenenbefreiung“ dienen sollte. Hierbei sei man indes nicht zu finalen Ergebnissen gelangt. Diese Untätigkeit des Zirkels habe den Unmut der in Haft sitzenden RAF-Aktivisten erregt, mit denen er „über verschiedene Kanäle“1159 im Austausch gestanden hätte. Baader ließ ihm, so Schiller, sogar schriftlich Instruktionen zu seinem Ausbruch zukommen, die im Februar 1974 von den Sicherheitsbehörden 1153 1154 1155 1156 1157 1158 1159

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Vgl. ebd., S. 124; Diewald-Kerkmann 2009, S. 117-118, 122. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 125. Vgl. ebd., S. 125-126. Vgl. ebd., S. 126, 128. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 332. Vgl. Peters 2008, S. 358. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 128.

5.2 Aktionsphase

entdeckt werden konnten.1160 Bei dieser Gelegenheit drängte Baader die Aktivisten, auf sich aufmerksam zu machen: „Überhaupt wird es absolut zeit, das [sic] man erfährt, dass es euch gibt: ihr in erscheinung tretet. […] fangt das aber nicht an wie kinder, die kriterien (die minimalen kriterien) bringen die aktionen im mai 72. Darunter läuft nichts. 1 1/2 jahre nichts ist zuviel – das zeigt sich überall.“1161 Baader habe zudem den Rechtsanwalt Eberhard Becker überzeugen kön­ nen, den Kreis um Pohl, Schiller und Stachowiak zu verstärken. Becker soll nach seinem Beitritt Ende 19731162 Baaders Überzeugungen in dem Zirkel vertreten haben, was – angeblich – Streitigkeiten entfachte. In der Gruppe seien die Pläne Baaders mit Verweis auf ihre limitierte Handlungs­ fähigkeit skeptisch beurteilt worden.1163 Weitere Differenzen zwischen dem in Freiheit agierenden Zusammenschluss und der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ bestanden bezüglich der Beziehungen zu anderen gewaltbereiten Linksextremisten. Wie Schiller in ihrer erstmals 1999 veröffentlichten Autobiographie deutlich machte, verzichteten die „Aktiven“ – mit dem Wissen um die zerrütteten Beziehungen zwischen den RAF-Gründern und den „Tupamaros Westberlin“ – auf einen Schul­ terschluss mit der „Bewegung 2. Juni“, die Anfang 1972 aus den TW her­ vorgegangen war.1164 Anders verhielt es sich dagegen mit einem Personen­ kreis, der in Frankfurt am Main im Entstehen begriffen war. Mit diesem trat unter anderen Schiller in einen Austausch ein: „In Frankfurt trafen wir uns mehrere Male mit Wilfried Böse, ‚Bony‘, und Brigitte Kuhlmann. Sie waren dabei, eine eigene illegale Struktur zu organisieren und die Revolutionären Zellen […] aufzubauen.“1165 Bereits Anfang 1973 hatte Baader strategische Prämissen, wie sie die RZ verfolgen sollten, in einer Notiz als „ausgesprochen voluntaristisch“1166 abgekanzelt. An der Position, welche sich für die als „Stadtguerilla“ auftre­ tende „Rote Armee Fraktion“ im Verhältnis zu derartigen Akteuren ergab, ließ er keinen Zweifel: 1160 1161 1162 1163 1164 1165 1166

Vgl. ebd., S. 128-129. Bundesministerium des Innern 1975, S. 90. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 116. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 128-129. Vgl. ebd., S. 132. Ebd., S. 131. Andreas Baader, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 69.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

„Die Gruppen, die im Stadtteil oder im Betrieb arbeiten, haben nir­ gends argentin. [argentinisches, also südamerikanisches] Niveau und das Maß an Verbindlichkeit, mit einer Guerillagruppe zus.zuarbeiten [zusammenzuarbeiten].“1167 Diese ablehnende Haltung gegenüber den „Revolutionären Zellen“ setzte sich unter den Inhaftierten fest, soll doch Manfred Grashof das Netzwerk als „Lumpensammlerverein mit Nachtrabepolitik“1168 beschrieben haben. Zwar stand der Zirkel, dem Schiller angehörte, den Plänen Böses und Kuhlmanns nicht kritiklos gegenüber. Ersichtlich wurde dies aus ihren Erinnerungen: „Wir fanden das alles unmöglich, unernst. Wir dachten, sie spielten nur mit dem Gedanken an Revolution, wollten sich jedoch nicht ganz und gar dafür einsetzen.“1169 Diese Bewertung schloss aber eine Kooperation nicht kategorisch aus. Bö­ se und Kuhlmann hätten die Nachfolgestruktur der „Roten Armee Frak­ tion“ im Erlangen von Waffen unterstützt.1170 Ferner seien gemeinsame Anschläge erwogen worden, die aber an divergierenden Prioritäten bezie­ hungsweise begrenzten Ressourcen gescheitert wären: „Wir diskutierten mit der RZ [um Böse und Kuhlmann] über koor­ dinierte Aktionen wegen des Militärputsches in Chile im September 1973. Wir von der RAF wollten getarnte Waffentransporte nach Chi­ le angreifen, die über die Häfen Hamburg und Bremerhaven abgewi­ kkelt [sic] wurden. Diese Pläne mussten wir aber aufgeben, weil eine solche Aktion die Konzentration aller unserer Kräfte erfordert und uns von unserem Ziel, die Gefangenen zu befreien [sic] noch weiter entfernt hätte.“1171 Dass der Zirkel um Pohl, Schiller und Stachowiak sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnte, ist auf Aufklärungsmaßnahmen der bundesrepu­ blikanischen Sicherheitsarchitektur zurückzuführen.1172 Bereits im Früh­ jahr 1973 lieferten Vertrauensleute des Verfassungsschutzes Hinweise zu Aktivitäten, die auf eine Reaktivierung der „Roten Armee Fraktion“ in

1167 1168 1169 1170 1171 1172

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Andreas Baader, zit. n. ebd. Manfred Grashof, zit. n. Kahl 1986, S. 129. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Winkler 2008, S. 231.

5.2 Aktionsphase

der Illegalität hindeuteten. Zwischen September 1973 und Januar 1974 gelang es den Behörden, vier konspirative Unterkünfte der Gruppe ausfin­ dig zu machen und Christa Eckes sowie Margrit Schiller als Mitglieder zu identifizieren.1173 Observationen und Telefonüberwachung folgten.1174 Am 4. Februar 1974 drangen Polizeibeamte mit Gewalt in zwei der Woh­ nungen ein, welche der Zusammenschluss nutzte. In Hamburg setzten sie Becker, Eckes, Pohl und Stachowiak, in Frankfurt am Main Allnach, Schiller und Beer fest. Zeitgleich wurde in den Niederlanden die Festnah­ me Axel Achterraths und Ekkehard Blencks vorgenommen.1175 Das Datum des Zugriffs prägte in den Jahren darauf die in der Literatur bediente Bezeichnung des Zirkels: „Gruppe 4.2.“1176 Der Zusammenschluss „gilt als die erste Nachfolgegruppe der ursprünglichen RAF, als deren ‚zweite Generation‘.“1177 Nach dem Rückschlag brachen die Aktivitäten der „Roten Armee Frak­ tion“ außerhalb der Gefängnisse spürbar ein.1178 Die inhaftierten Grün­ dungsmitglieder hätten harsche Kritik an der Bilanz des Zirkels um Pohl, Schiller und Stachowiak geübt und ihnen gar ein „ungeklärtes Verhältnis zum bewaffneten Kampf“1179 attestiert. Laut Speitel sahen sie dessen Han­ deln als „abschreckende[s] Beispiel, wie man durch Zögern und Nichthan­ deln der Polizei ins Netz geht.“1180 Sie selbst sollen zum Zeitpunkt der Verhaftungen im Februar 1974 über das „Info-System“ die Erforderlichkeit und Ausgestaltung eines dritten Hungerstreiks abgewogen haben, der die Lage im Justizvollzug nach ihren Konditionen verbessern sollte. Diese De­ batte habe über die Sommermonate hinweg angehalten.1181 Zentral seien folgende Fragen gewesen: „Wie weit gehen wir? Sind wir bereit weiterzumachen, wenn einer von uns stirbt? […] Wie verhalten wir uns, wenn sie uns zwangsernähren? Kommen wir durch einen langen Streik eher ans Ziel oder nicht?“1182

1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182

Vgl. Der Spiegel 1974a, S. 34. Vgl. Peters 2008, S. 359. Vgl. Weinhauer 2006, S. 940; Diewald-Kerkmann 2009, S. 116-117. Straßner 2008b, S. 219. Neidhardt 1982a, S. 331. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 332. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 93. Speitel 1980a, S. 44. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 75; Schiller/Mecklenburg 2000, S. 148. Möller/Tolmein 1999, S. 74-75.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Im September 1974 eröffnete die Justiz in Westberlin ein Gerichtsverfah­ ren gegen Horst Mahler und Ulrike Meinhof, die zwischenzeitlich – gemeinsam mit Gudrun Ensslin – in die Vollzugsanstalt Stuttgart-Stamm­ heim verlegt worden war. Der Prozess hatte ihre Beteiligung am Haftaus­ bruch Andreas Baaders im Mai 1970 zum Gegenstand und endete am 29. November 1974 mit der Verurteilung Meinhofs zu acht Jahren Frei­ heitsstrafe. Schon am ersten Verhandlungstag kündigte sie das Vorhaben der Inhaftierten an, erneut die Nahrungsaufnahme zu verweigern.1183 Sie prangerte die „Vernichtungshaft an Politischen Gefangenen in den Ge­ fängnissen der Bundesrepublik und Westberlins“1184 an, der sie ausschließ­ lich mit dem Mittel des Hungerstreiks wirksam entgegentreten könn­ ten.1185 An der Aktion sollen sich etwa 40 Inhaftierte beteiligt haben.1186 Den physischen Folgen des andauernden Verzichts auf Nahrung hielten in den Wochen darauf nicht alle Inhaftierten gleichermaßen stand. Manfred Grashof setzte den Streik kurzzeitig aus,1187 Margrit Schiller und Gerhard Müller hätten ihn nach einigen Monaten gänzlich abgebrochen.1188 Derar­ tiges Verhalten werteten andere Angehörige der „Roten Armee Fraktion“ als Infragestellen der von der Gruppe formulierten Agenda.1189 Grashof wurde von Holger Meins gerügt, der aufgrund seiner mit dem Hunger­ streik verfallenden körperlichen Konstitution im Herbst 1973 – anders als Baader und Raspe – nicht in die JVA Stuttgart-Stammheim transportiert werden konnte.1190 Sofern Grashof die Nahrungsaufnahme nicht weiter­ hin ablehnt, so der Vorwurf Holger Meins‘, liefere er die Gruppe aus.1191 Grashof sei in diesem Fall ein „schwein, das spaltet und einkreist, um selbst zu überleben“1192. Das zusehends sinkende Körpergewicht von Meins forderte schließlich seinen Tribut: Am 9. November 1974 verstarb er in der Haftanstalt Witt­ lich.1193 Am Tag darauf wies der Rechtsanwalt Siegfried Haag, der Meins vor seinem Ableben besucht hatte, die Verantwortung für das Versterben

1183 1184 1185 1186 1187 1188 1189 1190 1191 1192 1193

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Vgl. Winkler 2008, S. 232, 250. ID-Verlag 1997, S. 190. Vgl. ebd., S. 192. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 149. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 421. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 154. Vgl. Jander 2008, S. 158; Peters 2008, S. 318-319. Vgl. Winkler 2008, S. 234. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 184. Ebd. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 74.

5.2 Aktionsphase

seines Mandanten öffentlich der Justiz zu1194 – eine These, die wenige Tage später das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ durch Schilderungen zum Verhalten des im Gefängnis Wittlich eingesetzten Amtsarztes gleicherma­ ßen aufstellte.1195 Der ebenfalls RAF-Aktivisten vertretende Advokat Otto Schily sprach von einer schrittweisen Exekution der in Haft sitzenden Linksterroristen.1196 Die Umstände von Meins‘ Tod lösten unter den Inhaf­ tierten wie im Umfeld Bestürzung aus. Schiller führte mit Blick auf ihre Reaktion tiefes Entsetzen und Angst an,1197 Möller skizzierte „ein sehr, sehr schmerzliches Gefühl, ein Gefühl von extremem Verlust“1198. Als Vergeltungsakt wagte die „Bewegung 2. Juni“ die Entführung des Richters Günter von Drenkmann, scheiterte jedoch an dessen Widerstand. Von Drenkmann kam im Laufe der Tat ums Leben.1199 In ihren gruppeninter­ nen Diskussionen sollen die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Mitglie­ der der „Roten Armee Fraktion“ die Aktion als nachteilig empfunden haben.1200 Nach außen hingegen ließen sie eine wohlwollende Haltung zu der versuchten Freiheitsberaubung erkennen. In einem am 20. Janu­ ar 1975 erschienenen Interview des „Spiegel“ äußerten Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe: „Die Aktion ist stark – als Ausdruck unserer Liebe, unserer Trauer und unserer Wut über die Ermordung eines gefangenen Kämpfers. Wenn es Begräbnisse geben soll – dann auf beiden Seiten.“1201 Vergleichbar argumentierten sie in einer unter dem Titel „Solidarität und Lernprozess“ entworfenen Erklärung, die am 22. Januar 1975 bei einer Durchsuchung ihrer Gefängniszellen sichergestellt werden konnte:1202 „Wir weinen dem toten Drenkmann keine Träne nach. Wir freuen uns über eine solche Hinrichtung. Diese Aktion war notwendig, weil sie jedem Justiz- und Bullenschwein klargemacht hat, dass auch er – und zwar heute schon – zur Verantwortung gezogen werden kann.“1203 1194 1195 1196 1197 1198 1199 1200 1201 1202 1203

Vgl. Peters 2008, S. 321. Vgl. Der Spiegel 1974b, S. 34. Vgl. Peters 2008, S. 320-321. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 154. Möller/Tolmein 1999, S. 77. Vgl. Wunschik 2006b, S. 550. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 30. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56. Vgl. Kraushaar 2017, S. 121, 390. Andreas Baader/Gudrun Ensslin/Ulrike Meinhof u.a., zit. n. Kraushaar 2017, S. 121.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Erheblich radikalisierend wirkte das Versterben von Holger Meins auch auf die „Komitees gegen die Folter an politischen Gefangenen“. Bei zahl­ reichen Mitgliedern dieser Solidaritätsgruppen förderte er nachhaltig die Bereitschaft, in den Monaten und Jahren nach den Ereignissen im Novem­ ber 1974 selbst am „bewaffneten Kampf“ der „Roten Armee Fraktion“ teil­ zunehmen.1204 Zu den ersten Personen, welche Ende 1974 auf Grundlage ihrer Einbindung in die „Folterkomitees“ einen weiteren Anlauf zur Neu­ gründung der RAF im Untergrund unternahmen, zählten Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Volker Speitel und Lutz Taufer.1205 Speitel hatte sich zuvor – eigenen Aussagen zufolge – in ein „Komitee“ eingebracht, das in Stuttgart von den Rechtsanwälten Klaus Croissant und Jörg Lang gegrün­ det worden war.1206 Wie er 1980 im „Spiegel“ schrieb, ließ der Verlauf des am 13. September 19741207 initiierten Hungerstreiks aus seiner Sicht keine Alternative zu: „Für uns ist dieser Tod [von Holger Meins] ein Schlüsselereignis ge­ worden. Zum einen vielleicht, weil wir noch nie so nah und drastisch Elend und Tod vor Augen hatten, zum anderen aber wohl hauptsäch­ lich, weil wir uns moralisch mitschuldig fühlten. Mitschuldig, weil wir den Tod von ihm durch unsere Aktivitäten und durch unsere Anstrengungen nicht verhindern konnten. Der Tod von Holger Meins und der Entschluss, die Knarre in die Hand zu nehmen, war eins. Ein Nachdenken war nicht mehr möglich, es reagierte nur noch der emotionale Schub der letzten Monate.“1208 Durch Vermittlung von Siegfried Haag sei Speitel in Frankfurt am Main in einen bereits existierenden Zirkel gelangt, der sich aus Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Lutz Taufer und Ulrich Wessel zusammengesetzt hätte. Ähnlich der „Gruppe 4.2.“ habe sich dieser der Aufgabe verschrieben, Inhaftierte der RAF den Weg in die Freiheit zu ermöglichen. Die hierzu notwendige Aktionsstärke sei allerdings anfangs nicht gegeben gewesen. Nach Angaben von Speitel verfügte die „Rote Armee Fraktion“ lediglich über zwei verdeckte Unterkünfte sowie Material zum Fälschen von Aus­ weisdokumenten.1209 Dementsprechend wären das Erweitern der eigenen 1204 Vgl. Koenen 2001, S. 407; Wunschik 2006a, S. 474. 1205 Vgl. Der Spiegel 1977d, S. 54; Speitel 1980a, S. 41; Diewald-Kerkmann 2012, S. 139; Taufer 2018, S. 94-96. 1206 Vgl. Speitel 1980a, S. 38. 1207 Vgl. Horchem 1986, S. 5. 1208 Speitel 1980a, S. 41. 1209 Vgl. ebd.

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5.2 Aktionsphase

Logistik sowie das Gewinnen weiterer Aktivisten in den Mittelpunkt ge­ rückt.1210 Letztes sei durch Verbindungen zu „Folterkomitees“ vorangetrie­ ben worden. Um deren Angehörige von einem Beitritt zu überzeugen, hätten sie die eingeschränkten Perspektiven legalistischer Unterstützung unterstrichen, die sich angesichts des Ablebens von Holger Meins als irrelevant erwiesen habe. Wer Speitel folgt, erblickt die Erfolglosigkeit dieses Vorgehens: Etliche der vom Zirkel angesprochenen Personen hätten lediglich ihren Willen zu materiellen Hilfsleistungen bekundet.1211 Verstärkung erhielt er mit dem Beitritt Karl‑Heinz Dellwos, Siegfried Hausners und Stefan Wisniewskis1212 Ende 1974 beziehungsweise An­ fang 1975. Hausner war nach seiner Verhaftung im Jahre 1972 zu einer Haftstrafe verurteilt worden, die er bis Dezember 1974 verbüßte. Im An­ schluss an seine Entlassung hatte er sich an den Rechtsanwalt Klaus Crois­ sant gewandt und im Januar 1975 die Schwelle zum Untergrund erneut überschritten.1213 Bevor Wisniewski dazustieß, sei er in Westberlin für die Rechte „politischer Inhaftierter“ eingetreten und in die Beerdigung von Holger Meins involviert gewesen, dessen Versterben ihn zum Gang in die Illegalität getrieben habe. Er selbst gab 1997 in einem Interview auf Nachfrage zu, dass er nach dem Begräbnis sowohl zur „Roten Armee Frak­ tion“ als auch zur „Bewegung 2. Juni“ Kontakt gesucht hatte. Wisniewski waren die zwischen beiden Akteuren bestehenden Differenzen bekannt, er hatte diesen jedoch keine Bedeutung beigemessen. Entscheidend sei für ihn die Teilnahme am „bewaffneten Kampf“ gewesen.1214 Den Ausschlag für die RAF hätte das Fehlschlagen des Verbindungsaufbaus zur B2J gege­ ben: „[J]emand hatte einen toten Briefkasten nicht geleert oder mir einen falschen gesagt“1215. Karl-Heinz Dellwo, der sich eigenen Beschreibungen zufolge in Hamburg in einem „Folterkomitee“ unter Leitung des Advoka­ ten Kurt Groenewold engagiert hatte, gelangte über Ulrich Wessel in die sich neu formierende „Rote Armee Fraktion“.1216 Während der Arbeit im „Komitee“ konnte er auf indirekte Beziehungen zur „Bewegung 2. Juni“ zurückgreifen. Diese nahm er allerdings nicht in Anspruch, um die eige­ nen politischen Ideale mit Gewalt durchsetzen zu können.1217 Denn im 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217

Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. ebd. Vgl. Der Spiegel 1977c, S. 34; Peters 2008, S. 362. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 18-20. Ebd., S. 19. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 93-94, 109. Vgl. ebd., S. 97.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Gegensatz zu seinem langjährigen Freund1218 Wisniewski sah Dellwo die B2J offenbar kritisch. Auf die Frage, weshalb er nicht die Mitgliedschaft in der Westberliner Gruppe angestrebt habe, antwortete er in Gesprächen mit zwei freien Journalisten: „Innerhalb eines Konzeptes der Machtfrage haben die [die ‚Bewegung 2. Juni‘] einfach gemacht, was möglich war. Nicht das, was nötig ge­ wesen wäre. Die RAF war die Bewegung der Notwendigkeiten, der 2. Juni die der Möglichkeiten.“1219 Neben dem Aufstocken der personellen Ressourcen und Logistik soll der Kreis um Krabbe, Rössner, Speitel, Taufer und Wessel erste Überlegungen und Vorbereitungen zu einer Tat in Angriff genommen haben, welche die Absicht der „Gefangenenbefreiung“ verwirklichen sollte. Es sei eine Liste mit denkbaren Zielen und Modi Operandi erarbeitet worden, die unter anderem eine Flugzeugentführung und das Besetzen einer deutschen Vertretung im Ausland als Optionen festgehalten habe. Wie Speitel kon­ statierte, nahm die Gruppe zunächst die Geiselnahme in einer Botschaft in den Blick. Als potentielle Tatorte wären Amsterdam, Bern, London, Stockholm und Wien bestimmt worden. Er selbst sei nach Bern gereist und habe die dortige Liegenschaft des Auswärtigen Amtes ausgespäht, die ihm schließlich ungeeignet schien. Zu den Fortschritten in der Illegalität hätte der Zirkel regelmäßig die Inhaftierten der RAF unterrichtet. Entspre­ chendes Material wäre von Siegfried Haag an die „Gefangenen“ weiterge­ leitet worden, welche die berichteten Leistungen oftmals als unzureichend beurteilt hätten.1220 Den Unmut der Gründungsmitglieder zog laut Speitel auch ein Zusam­ mentreffen mit der „Bewegung 2. Juni“ nach sich, das auf Veranlassung der B2J vermutlich im Frühjahr 1975 mit einem Angehörigen der RAFNachfolgegruppe zustande gekommen war.1221 Zum Anliegen der B2J wurde ihm im Nachgang mitgeteilt: „Der ‚2. Juni‘ ließ durchsickern, dass er verschiedene ‚Kisten‘ [Aktio­ nen] in petto hat, also dass sie demnächst eine Aktion starten wollten, um Gefangene zu befreien. Es ging darum, inwieweit man sich zusam­ menschließen könnte, um durch zwei Aktionen einen größeren Druck auszuüben. Über konkrete Pläne ihrerseits wurde natürlich nicht ge­ 1218 1219 1220 1221

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Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 109. Vgl. Speitel 1980a, S. 44. Vgl. ebd., S. 46.

5.2 Aktionsphase

sprochen, es wurde lediglich von seiten des ‚2. Juni‘ mal in die Debatte geworfen, dass sie es unheimlich stark finden würden, wenn man einen hohen sowjetischen ‚Typ‘ schnappen könnte, in Berlin würden da ja einige rumflattern. Sie meinten, der Druck, der durch so eine Aktion auf die Bundesregierung entstehen würde, sei so groß, dass man alle Gefangenen damit rausbekommen könnte.“1222 Den Vorschlag der B2J machten die „Illegalen“ den Inhaftierten – wie gewohnt – schriftlich bekannt. Die Antwort fiel unmissverständlich aus: „Die Gefangenen sind fast ausgeflippt, als sie das hörten. Sie waren felsenfest davon überzeugt, dass der ‚2. Juni‘ jetzt entweder von den ‚Bullen durchsetzt‘ sei oder dass sie sich das letzte Stückchen Gehirn voll rausgekifft hätten.“1223 Angeblich beanspruchten die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Akti­ visten darüber hinaus das uneingeschränkte Recht, die im Falle einer erfolgreichen Aktion freizulassenden Häftlinge auszuwählen. Nach Wissen von Speitel brach der Dialog mit der „Bewegung 2. Juni“ aufgrund dieser Haltung der Inhaftierten ab. Mit welcher Tat sich die B2J befasste, dürf­ te ihm und Ulrich Wessel nach einer Autofahrt Ende Februar 1975 in Richtung Stuttgart bewusst geworden sein: Aus dem Radio erhielten sie die Nachricht von der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz.1224 Speitel soll sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt eines inneren Distanzierens von dem Zirkel befunden haben, dessen Wirken im Unter­ grund ihn zusehends ernüchtert hatte. Die Interaktion der Mitglieder sei zum Teil durch erhebliche Konflikte geprägt worden.1225 Hinzu gekom­ men wären die Erwartungen der Inhaftierten, an die die „Illegalen“ die Bitte gerichtet hatten, ihren Hungerstreik einzustellen. Verbunden gewe­ sen sei hiermit die Zusicherung, man werde nun mit den eigenen „Mitteln versuchen, etwas zu verändern.“1226 Am 5. Februar 1975 – nach 145 Tagen des Nahrungsverweigerns – waren die Häftlinge dem Wunsch nachgekom­ men.1227 Angesichts der gegen Lorenz gerichteten Freiheitsberaubung der „Bewegung 2. Juni“ sollen sie weiteren Druck auf die „Aktiven“ aufgebaut haben. Wie Speitel zu berichten wusste, führte die Geiselnahme zu „hä­

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Ebd. Ebd., S. 49. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 41-42, 49. Möller/Tolmein 1999, S. 76. Vgl. Winkler 2008, S. 251.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

mischen Kommentare[n] der Gefangenen uns gegenüber, dass wir nicht etwas Ähnliches auf die Beine gebracht hatten.“1228 Den hieraus von der Gruppe entwickelten Tatendrang habe er zum Anlass genommen, sich auch äußerlich von dem Zusammenschluss zu lösen und seine Unterstüt­ zung für die „Rote Armee Fraktion“ auf eine Tätigkeit in einem „Folter­ komitee“ zu beschränken. Seine Beweggründe legte er den Inhaftierten schriftlich dar. Diese sollen seinen Entschluss mit Kritik belegt, schluss­ endlich aber akzeptiert haben.1229 Während die „Bewegung 2. Juni“ die Inhaftierten Verena Becker, Rolf Heißler, Rolf Pohle, Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann freipresste, ihre Ausreise in den Jemen sicherstellte und am 4. März 1975 Peter Lorenz in die Freiheit entließ,1230 finalisierten die „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ eine eigene Befreiungsaktion. Bestimmend war dabei der Gedanke des Abgrenzens von der B2J. Dellwo resümierte: „Bei aller Sympathie und Freude darüber, dass dabei [im Zuge der Lorenz-Entführung] Leute herausgekommen sind, hatte ich von vorn­ herein auch die Konzession an die Staatsmacht gesehen. Und die woll­ ten wir nicht machen.“1231 Der Zirkel weihte den mit der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ verbundenen Linksterroristen Ilich Ramírez Sánchez in seine Planungen ein und traf Vorkehrungen für ein Unterbringen freigelassener Häftlinge in einem arabischen Staat.1232 Die Mitglieder legten sich auf eine Geiselnahme fest, die sich in der Deutschen Botschaft in Stockholm ereignen sollte. Am 24. April 1975 drangen Karl-Heinz Dellwo, Siegfried Hausner, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Lutz Taufer und Ulrich Wes­ sel in das Gebäude ein und brachten auf der dritten Etage Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes in ihre Gewalt. Die zwischenzeitlich verständigte schwedische Polizei positionierte sich in den unteren Etagen. Nachdem der Zirkel vergeblich deren Abzug durchzusetzen versucht hatte, gaben die Aktivisten Schüsse auf den Militärattaché Andreas von Mirbach ab, an deren Folgen er wenig später verstarb. Sie installierten außerdem Explo­ sivmittel, welche die Sicherheitskräfte von etwaigen Gegenmaßnahmen

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Vgl. Speitel 1980b, S. 30. Vgl. ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 105-106. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 110. Vgl. Jander 2008, S. 154; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 122.

5.2 Aktionsphase

abbringen sollten.1233 Als „Kommando Holger Meins“ erklärten sie die Voraussetzungen, unter denen die Aktion beendet werden würde: Zum einen forderten sie das Entlassen von 26 namentlich benannten „politi­ schen Gefangenen“ aus bundesrepublikanischen Haftanstalten – darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe. Zum anderen verlangten sie das Bereitstellen einer Passagiermaschine der „Lufthansa“ in Westdeutschland, die die Häftlinge in das Ausland verbrin­ gen sollte. Würden die Bedingungen nicht zeitgerecht erfüllt, müsse der Tod von Botschaftsangehörigen in Kauf genommen werden.1234 Mit der vom „Kommando“ bekannt gegebenen Personenliste zeigten sich erneut die Vorbehalte, die in der Gründergeneration der RAF wie auch im Kreise der Botschaftsbesetzer gegenüber der „Bewegung 2. Juni“ existierten. Obgleich der Überfall laut Dellwo auch dem Ziel diente, „be­ stehende Gruppengrenzen zu überwinden […] [und] damit einen neuen kollektiven Anfang im revolutionären Kampf zu setzen“1235, fanden sich in der Erklärung vom 24. April 1975 lediglich die Namen von drei Häftlin­ gen, die zum Zeitpunkt der Tat nicht als Angehörige der „Roten Armee Fraktion“ galten.1236 Von diesen drei „Gefangenen“ stammte keiner aus der B2J: Sigurd Debus soll vor seiner Verhaftung im Februar 1974 an der Gründung einer eigenständigen terroristischen Gruppe mitgewirkt ha­ ben.1237 Wolfgang Quante hatte die Polizei im Oktober 1974 in Bremen nach einer Sprengstoffexplosion in einem Wohngebäude arretiert. Durch den Vorfall war dort ein „Kommuniqué 1“ entdeckt worden, das die Selbstbezeichnung „Rote Armee Fraktion Aufbauorganisation“ trug.1238 Johannes Weinrich – eine „Schlüsselfigur“1239 der „Revolutionären Zellen“ – hatte aufgrund seiner Beteiligung am versuchten Abschuss einer israeli­ schen Passagiermaschine auf dem Flughafen Paris-Orly im Januar 1975 die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden erregt. Am 24. März 1975 war seine Festnahme gelungen.1240 Zwar sahen die Geiselnehmer in Stockholm ebenfalls die Befreiung von Annerose Reiche vor,1241 die im Dezember 1973 von der Polizei als Aktivistin der „Bewegung 2. Juni“ festgesetzt

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Vgl. Peters 2008, S. 362-367; Taufer 2018, S. 99-100. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 193-195. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 5. Vgl. ebd. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 195. Vgl. Der Spiegel 1975b, S. 25. Kraushaar 2006c, S. 588. Vgl. ebd., S. 583. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 194.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

worden war.1242 Diese hatte sich aber während des Gefängnisaufenthalts der RAF angenähert.1243 Trotz – oder gerade wegen – der Ermordung des Wirtschaftsattachés Heinz Hillegaart ging die Bundesregierung nicht auf die Konditionen der Botschaftsbesetzer ein. Nur wenige Minuten vor Mitternacht detonierte überraschend der von ihnen im dritten Stock verlegte Sprengstoff.1244 Die genaue Ursache der Zündung bleibt unklar.1245 In der Explosion erlitt Ulrich Wessel tödliche Verletzungen, Siegfried Hausner zog sich schwere Brandwunden zu. Gemeinsam mit den übrigen Geiselnehmern nahm ihn die schwedische Polizei in Gewahrsam.1246 Die Regierung des Königreichs ordnete kurz darauf das Abschieben der Terroristen an. Hausner brachten die deutschen Behörden auf der Krankenstation der JVA Stuttgart-Stamm­ heim unter, wo er wenige Tage später den Tod fand.1247 5.2.2 „Haag/Mayer-Bande“, Selbstmord Ulrike Meinhofs, Haftentlassung Brigitte Mohnhaupts, „Deutscher Herbst“ (1975 bis 1977) Das von den Inhaftierten – angeblich – scharf verurteilte1248 Scheitern der zweiten Nachfolgegruppe der Gründergeneration zog abermals einen erheblichen Einbruch der „illegalen“ RAF-Strukturen nach sich. Der Kreis der „Illegalen“ habe sich, so Speitel, auf Stefan Wisniewski reduziert.1249 Er „stand […] plötzlich quasi vor dem Nichts. Es gab noch ein paar Mark und zwei Pistolen, die aber auch nicht richtig funktionierten.“1250 Wie zuvor vermochte sich die „Rote Armee Fraktion“ jedoch von diesem Schlag zu erholen. Nicht nur bewirkten die „Gefangenen“ im Januar 1975 mit dem Gründen des „Internationalen Verteidigungs‑Komitees“ im Stuttgarter Büro Klaus Croissants das grenzübergreifende Erweitern der bislang in der „Gefangenenhilfe“ geleisteten Agitation,1251 der „bewaffnete

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Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 103-105. Vgl. ebd., S. 107. Vgl. Jander 2008, S. 154. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 119; Peters 2008, S. 369; Winkler 2008, S. 254; Taufer 2018, S. 100. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 75; Peters 2008, S. 370. Vgl. Der Spiegel 1975c, S. 62-63. Vgl. Speitel 1980b, S. 31 Vgl. ebd. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 28. Vgl. Speitel 1980b, S. 32; Neidhardt 1982a, S. 345.

5.2 Aktionsphase

Kampf“ der RAF fand zudem neue Anhänger. Stefan Wisniewski und Peter-Jürgen Boock hielten übereinstimmend fest, dass nach der Aktion in Stockholm mehrere Gruppen in Westdeutschland unabhängig vonein­ ander den Entschluss fassten, die Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ fortzuführen.1252 Wisniewski sprach von zwei Zirkeln, mit denen er sich schließlich vereinigte:1253 „Das waren teilweise Leute, die aus alten Zusammenhängen übrigge­ blieben waren, teils aber auch neue Leute, die aus ihren Erfahrungen sagten, dass jetzt mit der RAF zusammen eine Chance für die Zukunft offengehalten wird.“1254 Am 11. Mai 1975 erklärte der Rechtsanwalt Siegfried Haag öffentlich mit Verweis auf die – vermeintliche – Hinrichtung der Inhaftierten Holger Meins und Siegfried Hausner, seinen Beruf als Advokat aufgeben und künftig am Befreien der „Gefangenen“ der RAF mitwirken zu wollen. Vor­ ausgegangen waren diesem Schritt seine vorläufige Festnahme sowie das Durchsuchen seines Büros am 9. Mai 1975.1255 Gegen Haag hatte sich der Verdacht des Unterstützens einer kriminellen Vereinigung ergeben, da die Ergebnisse polizeilicher Ermittlungen seine Verwicklung in das Beschaffen von Waffen Wochen vor der Geiselnahme in Stockholm nahelegten.1256 Der Bundesgerichtshof sah die Hinweise allerdings als ungenügend an und verzichtete auf einen Haftbefehl. Am 10. Mai 1975 gelangte Haag in die Freiheit.1257 Etwa zur selben Zeit soll ein Zusammenschluss um Peter-Jürgen Boock einen Brief an die in Stuttgart‑Stammheim einsitzenden Gründungsmit­ glieder der „Roten Armee Fraktion“ adressiert haben. In „eine[r] Phase, wo einfach niemand RAF war“1258, hätten Boock und andere darin ihre Bereitschaft vorgetragen, den Häftlingen mit Gewalt Unterstützung zu leisten.1259 Boock hatte sich eigenen Aussagen zufolge nach dem Verhaften Andreas Baaders und Holger Meins‘ im Jahre 1972 die Notwendigkeit auf­

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Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 26. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 29. Ebd., S. 36. Vgl. Bundesministerium des Innern 1976, S. 106; Peters 2008, S. 371-372; Aust 2020, S. 527. Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 125; Der Spiegel 1977c, S. 29, 34, 44. Vgl. Peters 2008, S. 371; Winkler 2008, S. 287. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 26. Vgl. Winkler 2008, S. 255.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

gedrängt, für den 1969 persönlich erlebten Einsatz Baaders und Ensslins in Fürsorgeheimen eine Gegenleistung zu erbringen.1260 Er war in die Arbeit der „Komitees gegen Folter an den politischen Gefangenen in der BRD“ eingebunden1261 und unterhielt schließlich unmittelbare Verbindungen zu den „illegalen“ Strukturen der „Roten Armee Fraktion“. Gemeinsam mit Klaus Dorff und Waltraud Boock, die er 1973 geheiratet hatte,1262 widmete er sich ab 1974 in Frankfurt am Main Bemühungen zur Befreiung Andre­ as Baaders. Als Gleichgesinnte erwiesen sich Rolf Clemens Wagner und Jürgen Tauras, die später hinzukamen.1263 Die in den Medien als „Dorff/ Tauras-Bande“ titulierte Gruppe konnte auf Waffen zurückgreifen,1264 wel­ che zum Teil laut Boock von ihm und seiner Ehefrau mit dem gewährten Ehestandsdarlehen in Höhe von 10 000 DM in der Schweiz erworben wor­ den waren.1265 Durch zahlreiche Banküberfälle sollen ihr zudem mehrere Hunderttausend Deutsche Mark zur Verfügung gestanden haben.1266 Wenngleich der Zusammenschluss vor allem Baader die Flucht erlauben wollte, zeigte er sich in der Frage der organisatorischen Zugehörigkeit un­ entschlossen. Offensichtlich bestanden in dem Zirkel während des Jahres 1975 nicht nur Sympathien für die „Rote Armee Fraktion“, sondern auch für die „Revolutionären Zellen“. In einer Vernehmung vom 1. April 1992 rief sich Boock diese Episode in Erinnerung: „Unsere Frankfurter Gruppe war sich damals, d.h. […] 1975, noch nicht klar darüber, ob sie sich der RAF oder den RZ […] anschließen solle. Die RZ hatten damals ein theoretisches Konzept entwickelt, mit dem wir uns – teilweise im Streit – auseinandersetzten.“1267 Die Entscheidung sei im Februar 1976 gefallen, nachdem die Polizei Klaus Dorff und Jürgen Tauras in Köln1268 verhaftet hatte: „Es war nun klar, dass wir uns der RAF anschließen.“1269 Die Beziehungen zu den „Revolutionä­ ren Zellen“ wären eingestellt worden, womit der Personenkreis um Boock

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Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 25. Vgl. Diewald-Kerkmann 2012, S. 139. Vgl. Der Spiegel 1981a, S. 111. Vgl. Wunschik 1997, S. 200, 232-233. Vgl. Der Spiegel 1977b, S. 25. Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 106. Vgl. Sontheimer 2007, S. 106. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 200. Vgl. Der Spiegel 1977b, S. 25. Vgl. Wunschik 1997, S. 200.

5.2 Aktionsphase

augenscheinlich beabsichtigte, erwartbarer Kritik der der „Roten Armee Fraktion“ angehörenden Häftlinge zuvorzukommen: „Die RAF hätte es […] nicht geduldet, wenn wir weiterhin Kontakt zu den RZ gepflegt hätten. Die RZ wurden damals der sogenannten ‚Sachschaden-Fraktion‘ zugeschlagen, die nichts mit dem militanten Kampf zu tun haben wollte.“1270 Zu dem Votum für die „Rote Armee Fraktion“ sollen sich die verbliebe­ nen Mitglieder der „Dorff/Tauras‑Bande“ aufgrund der Prioritätensetzung der RAF durchgerungen haben – der „Gefangenenbefreiung“ komme das größte Gewicht zu.1271 Dieser von Boock 1992 hinsichtlich des Eintritts in die „Rote Armee Fraktion“ angeführte Grund deckt sich mit Passagen in seinem autobiographischen Roman „Abgang“ von 1988: „Als die von der RZ damals erklärten, dass für sie eine Gefangenen­ befreiung nicht in Frage kommt, war die Entscheidung für die RAF klar.“1272 Zumindest bei ihm führte der Abgrenzungsprozess nicht dazu, von einer positiven Haltung gegenüber den „Revolutionären Zellen“ abzurücken. Auch in den Monaten nach seiner Aufnahme in die „Rote Armee Frakti­ on“ sei er grundsätzlich gewillt gewesen, den „RZ […] den Vorzug zu geben gegenüber der RAF“1273. Das Zusammenführen der nunmehr im Untergrund bereitstehenden Strukturen soll von den Inhaftierten, zu denen nicht nur Peter-Jürgen Boock, sondern auch Siegfried Haag einen Kommunikationskanal unter­ halten habe, angestoßen worden sein.1274 Mit Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe standen die zentralen Figuren der „Gefangenen“ ab dem 21. Mai 1975 in Stuttgart wegen Mordes und anderer Vorwürfe vor Ge­ richt.1275 Ihren Alltag bestimmte das Erarbeiten einer mehrere Hundert Seiten starken „Erklärung zur Sache“, die sie im Januar 1976 arbeitsteilig im Prozess verlasen. Nach dem Vortrag ersuchte ihr Rechtsbeistand die Justiz um sofortiges Entlassen der Angeklagten aus der Haft.1276 Das als Rechtfertigungsschrift angelegte Traktat geriet für die RAF und ihr Um­ 1270 1271 1272 1273 1274 1275 1276

Peter-Jürgen Boock, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Boock 1990, S. 144. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 38. Vgl. Speitel 1980b, S. 31-32; Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 26. Vgl. Winkler 2008, S. 256. Vgl. Koenen 2001, S. 388-389; Jander 2008, S. 160.

281

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

feld rasch zum bedeutsamsten theoretischen Dokument. So wird es in dem zwischen 1975 und 1977 vom „Internationalen Verteidiger-Komitee“ des Anwaltsbüros Klaus Croissants erstellten1277 Sammelband „texte: der RAF“ als „wichtigste[r] text aus stammheim“1278 beschrieben. Es liefere „eine umfassende analytische grundlegung der politik“1279 der „Roten Armee Fraktion“. Seine Inhalte reichten von der Legitimation des „bewaffneten Kampfes“ in der Bundesrepublik über eine Auseinandersetzung mit den politischen Positionen der SPD bis zu den Beziehungen Westdeutschlands zu Ländern der Dritten Welt.1280 Die Häftlinge vertrauten allerdings nicht allein auf ihre mit der „Erklärung zur Sache“ begründete Prozessstrategie. Überdies setzten sie nach wie vor auf die Aktivitäten der „Illegalen“. In der Interaktion zwischen den Inhaftierten und den „Aktiven“ um Siegfried Haag kamen früh Reibungen auf. Die „Gefangenen“ hätten anfangs, so Speitel, vergeblich auf eine Nachricht der im Untergrund entstehenden Strukturen gewartet.1281 Diese sollen sich ausschließlich an Willy Peter Stoll, der gemeinsam mit Volker Speitel und seiner Ehefrau Angelika Speitel sowie Elisabeth von Dyck in der Anwaltskanzlei Crois­ sants mitarbeitete,1282 gewandt haben.1283 Stoll habe den in Haft sitzenden Mitgliedern der RAF sowie seinem Umfeld den Zugang zu den „Illegalen“ verschwiegen, da er hierzu von diesen entsprechend gebeten worden wäre. Die „Aktiven“ brachten Speitel und von Dyck – angeblich – keinerlei Vertrauen entgegen. Der Vorwurf sei laut geworden, beide suchten eine von den Inhaftierten unabhängige Agenda zu verwirklichen: Sie hätten die legalistische Agitation zum wichtigsten Anliegen der „Roten Armee Fraktion“ erhoben und würden es versäumen, in die „Gefangenenhilfe“ involvierte Personen an den „bewaffneten Kampf“ heranzuführen. Speitel und von Dyck sollen anschließend den Häftlingen angeboten haben, sich aus dem Büro Croissants zurückzuziehen. Dies hätten die Inhaftierten je­ doch abgelehnt. Speitels Schilderungen zufolge sahen sie das Vorgehen der „Illegalen“ „schon fast als offene Feinderklärung.“1284 Stoll habe drastische

1277 Vgl. Speitel 1980b, S. 36-37; Wackernagel 2017, S. 246, 281, 289-291, 300-302, 315-316. 1278 Rote Armee Fraktion 1983, S. 177. 1279 Ebd. Diese Einschätzung wird in der wissenschaftlichen Literatur zur RAF geteilt. Vgl. Bressan/Jander 2006, S. 422-423. 1280 Vgl. Jander 2008, S. 160. 1281 Vgl. Speitel 1980b, S. 31. 1282 Vgl. ebd., S. 30, 32. 1283 Vgl. ebd., S. 31-32. 1284 Ebd., S. 32.

282

5.2 Aktionsphase

Kritik erfahren. Haag sei als „Putschist“1285, die von ihm gebildete Gruppe als „Bullenverein“1286 bewertet worden, welcher Hilfsleistungen zugunsten der in Haft sitzenden RAF-Aktivisten unterminieren wolle. Die „Aktiven“ hätten die Häftlinge mit der Aufforderung konfrontiert, zu ihren Tätigkei­ ten Bericht zu erstatten. Sollte dies nicht geschehen, würden sie öffentlich ihre Abgrenzung von den „Illegalen“ erklären.1287 Weitere Spannungen traten unter den „Gefangenen“ selbst zum Vor­ schein. Nicht nur zog Ulrike Meinhof mit ihren Textbeiträgen den Unmut Baaders und Raspes auf sich,1288 im Frühjahr 1976 geriet sie zusehends auch mit Ensslin in Konflikt.1289 Wer Stefan Aust folgt, weist Ensslin die Neigung zu, teilweise ohne Absprache Änderungen an den schriftlichen Arbeiten Meinhofs vorzunehmen. Als exemplarisch galt ihm in dieser Hinsicht ein von Meinhof wohl im März 1976 entworfener Brief an den Rechtsanwalt Hans‑Christian Ströbele, den sie vor dem Versand an Ensslin gab.1290 Später berichtete diese in einem Zellenzirkular, sie habe das Schreiben eigenmächtig neu abgefasst, da es „optisch einen verlotter­ ten […] Eindruck macht“1291. Außerdem habe sie „zwei oder drei dieser knieweichen, ihrer Funktion nach zeitraubenden, ihrem Charakter nach luxuriösen Füllwörter wie ‚eben‘“1292 gestrichen. Zu diesen Anpassungen habe sie Meinhof erst nach dem Versand des Briefs unterrichtet. Als Be­ gründung führte sie an, sie wolle „Ulrike […] quälen“1293, da diese ihr Qualen zufüge. Ensslin teilte darüber hinaus Baader mit, Meinhof begegne ihr mit Argwohn und reagiere auf ihre Aussagen mit Zweifeln.1294 Sie schilderte bei anderer Gelegenheit einen offen ausgetragenen Streit mit Meinhof. Dabei habe Ensslin sie aufgefordert, ihre Angriffe einzustellen und von ihrem elitären Verhalten abzurücken.1295 Meinhof wiederum soll am 29. März 1976 während eines Besuchs ihrer Schwester in der JVA Stutt­ gart-Stammheim deutlich gemacht haben, ihre „Mitgefangenen“ würden

1285 1286 1287 1288 1289 1290 1291 1292 1293 1294 1295

Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Peters 2008, S. 347. Vgl. Jesse 1996, S. 203, 209; Jesse 2017, S. 191; Aust 2020, S. 586-592, 599. Vgl. Aust 1985, S. 82. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 84.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

ihr gegenüber falsche Angaben machen und ihr Informationen verheimli­ chen.1296 Zu ihrer Situation in der Haft hielt sie in einem Kassiber fest: „Das ist nicht mystisch, wenn ich sage, ich halte das nicht mehr aus. Was ich nicht aushalte, ist, dass ich mich nicht wehren kann. Also, es laufen einfach ein Haufen Sachen durch, ich sage nichts, aber ich knalle an die Decke, über ihre Gemeinheit und Hinterhältigkeit. Und es kommt mir so vor, als wäre das längst ein Deal, den ich aber nicht mitmache.“1297 Am Morgen des 9. Mai 1976 fanden Justizvollzugsbeamte Meinhof tot in ihrer Gefängniszelle auf. Sie hatte sich in der Nacht zuvor selbst das Leben genommen.1298 Die „Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ und deren Umfeld stellten ihr Ableben indes als Exekution dar, womit sie das von ihnen bis dahin bereits vielfach betonte Bild einer auf „Vernichtung“ der Häftlinge ausgelegten Justiz nährten. Jan-Carl Raspe gab am 11. Mai 1976 im Gerichtsverfahren in Stuttgart zu verstehen, Meinhofs Versterben „war eine kalt konzipierte hinrichtung – wie holger [Holger Meins] hingerichtet worden ist, wie siegfried hausner hingerichtet worden ist.“1299 Der Advo­ kat Otto Schily sprach von einer Ermordung.1300 Nach Möller hatten die Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ vor dem Selbstmord Ulrike Meinhofs kursorische Informationen zu zwei in der Planungsphase befindlichen Befreiungsaktionen erhalten. Zeitpunkt und Ablauf der Taten seien ihnen nicht bekannt gegeben worden;1301 sie hätten lediglich erfahren, dass die Aktionen in Beziehung stehen würden und „beide von mehreren Organisationen vorbereitet und durchgeführt werden sollten.“1302 Als Auftakt der Serie verstand Möller1303 das Entfüh­ ren einer Maschine des Luftfahrtunternehmens „Air France“ Ende Juni 1976 auf einem Flug von Athen nach Paris durch Mitglieder der „Revolu­ tionären Zellen“ und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“. Nach der Landung im ugandischen Entebbe trennten die Geiselnehmer alle israelischen von den nicht-israelischen Passagieren – sie ließen Letztge­ nannte sukzessive frei und forderten die Haftentlassung unter anderem 1296 1297 1298 1299 1300 1301 1302 1303

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Vgl. ebd., S. 82. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 84-87. Vgl. Jesse 1996, S. 203; Peters 2008, S. 345. Rote Armee Fraktion 1983, S. 21. Vgl. Winkler 2008, S. 262. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 84. Ebd. Vgl. ebd.

5.2 Aktionsphase

für sechs deutsche Inhaftierte aus den Reihen der RAF und der B2J.1304 Die Aktion scheiterte an der gewaltsamen Intervention des israelischen Staates, welche das Leben der beiden beteiligten RZ-Aktivisten sowie ihrer palästinensischen Mitstreiter kostete.1305 Der Ablauf der Entführung, vor allem aber die Haltung des „Komman­ dos“ gegenüber den jüdischen Flugzeuginsassen stieß unter den „Gefange­ nen“ der „Roten Armee Fraktion“ auf entschiedene Ablehnung. Schiller hielt die Medienberichterstattung zur Aktion zunächst für verzerrt, nahm jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit der Geiselnahme an.1306 Möller konstatierte, die Art und Weise der Entführung hatte „überhaupt nicht unsere Zustimmung“1307. Dellwo zeigte sich eigenen Aussagen zufol­ ge schockiert.1308 Begrüßt habe er ein – angeblich – von Ensslin verfasstes Schreiben, das offenbar die Reaktionen der in Stuttgart-Stammheim einsit­ zenden RAF‑Mitglieder widerspiegelte: „Danach kam von Gudrun Ensslin ein Brief, dass sie sich ‚beinahe von der Aktion distanziert hätten‘, es aber nun wegen der beiden toten RZler nicht machten. Dieser Brief hat mich damals unendlich erleichtert.“1309 Wisniewski bestätigte ebenfalls die Existenz einer solchen Nachricht: „Es gab ein Papier der Stammheimer Gefangenen, in dem sie die Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 heftig kritisieren.“1310 Möller führte in ihren Erinnerungen aus, von der in der ersten Jahreshälfte 1976 vorbereiteten zweiten Befreiungsaktion sei abgelassen worden. Als Grund sah sie nicht die Ereignisse in Entebbe, sondern politische Entwick­ lungen im Libanon.1311 Dabei ließ sie allerdings offen, welcher Gestalt diese Entwicklungen waren und welche Auswirkungen sie für die an der Planung beteiligten Akteure nach sich zogen. Aufschlussreich dürften in diesem Kontext Schilderungen Dellwos sein, der in den Gesprächen mit den Journalisten Tina Petersen und Christoph Twickel vor dem Hinter­

1304 Vgl. Der Spiegel 1976c, S. 84-85; Bundesministerium des Innern 1977, S. 123; Horchem 1988, S. 125-126; Siemens 2006, S. 337. 1305 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 599; Wörle 2008b, S. 265. 1306 Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 132. 1307 Möller/Tolmein 1999, S. 84. 1308 Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 142. 1309 Ebd. Ähnlich Dellwo 2007a, S. 112. 1310 Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 45-46. 1311 Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 84.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

grund der gemeinsamen Geiselnahme der „Revolutionären Zellen“ und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ Ende Juni 1976 Vor­ kehrungen für eine weitere Flugzeugentführung andeutete. Überdies legte er dar, warum diese eingestellt wurden: „Nach meiner Entlassung [aus der Haft im Jahr 1995] erfuhr ich, dass RAF- und Bewegung‑2.‑Juni‑Mitglieder [also vermutlich ein Teil der zu diesem Zeitpunkt im Nahen Osten ansässigen Aktivisten, die 1975 mit der gegen Peter Lorenz gerichteten Aktion der B2J freigepresst worden waren] damals auch eine Flugzeugentführung in Angriff ge­ nommen und dafür bereits trainiert hatten. Sie sollten eine Maschi­ ne entführen und bei einem Zwischenstopp an ein palästinensisches Kommando übergeben, das die Aktion dann zu Ende bringen sollte. Es ist daran gescheitert, dass ein Teil der deutschen Genossen nicht eingesehen hat, warum sie die Entführung nicht selbst bis zum Schluss durchführen. Hinzu kam, dass sich bei den Palästinensern auch eini­ ges änderte und es dort Leute gab, die Einwände gegen die Geiselnah­ me von unbeteiligten Menschen hatten.“1312 Wie die Kommunikation der RAF-„Gefangenen“ im „Info-System“ ver­ deutlichte, ging die erfolglose Kooperation keinesfalls mit dem Abbau der Vorbehalte einher, welche die Gründungsmitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“ und deren Nachfolger gegenüber der „Bewegung 2. Juni“ hegten. So hatte Ensslin noch Anfang Mai 1976 in einem Zellenzirku­ lar das Agieren inhaftierter Angehöriger der B2J ausgesprochen negativ bewertet. In ihrer Nachricht nahm sie Bezug auf einen Schriftverkehr zwischen Fritz Teufel und einer staatlichen Stelle, zeichnete diesen je­ doch nicht in seinen Details nach. Im Sinn hatte Ensslin vermutlich Teufels Schreiben vom 23. März 1976 an das Westberliner Amtsgericht Tiergarten, in dem er sich über die in der Haftanstalt Berlin-Moabit vor­ herrschende sexuelle Unterdrückung beklagte und eine gemeinschaftliche Unterbringung mit Ralf Reinders erbat – einem weiteren Mitglied der „Bewegung 2. Juni“.1313 Sie erklärte: „stadtguerilla ist antiinstitutionelle politik, und was ist institutionali­ sierung/kapitalisierung ner [sic] politik, wenn nicht die tour, die teufel + der 2.6. abzieht.“1314

1312 Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 142-143. 1313 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 423-424. 1314 Bakker Schut 1987, S. 278.

286

5.2 Aktionsphase

Die B2J stufte Ensslin als „die behauptung ner [sic] guerilla“1315 ein; ihren Häftlingen unterstellte sie „die definition nicht mehr an der revolution, sondern an der reaktion [der Sicherheitspolitik des deutschen Staates]“1316. Im Anschluss merkte sie an: „sie spielen nur, haben nur gespielt“1317. Derartige Positionen zur „Bewegung 2. Juni“ durchzogen gleichermaßen den weiteren Austausch der „Gefangenen“. Im September 1976 sprach bei­ spielsweise das ebenfalls in Haft sitzende RAF-Mitglied Ronald Augustin in einem Kassiber von „dieser bestimmten, inkonsequenten illegalen linie: 2.6.“1318. Außerhalb der Gefängnisse war es inzwischen gelungen, die Personen­ kreise um Boock und Haag zusammenzuführen. Im August 1976 reisten sie in den Südjemen – sie kamen dort bis September in einem Ausbil­ dungslager der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ unter,1319 wo sie auf Verena Becker und Rolf Heißler trafen.1320 Beide waren im März 1975 durch die Lorenz-Entführung in die Freiheit gelangt, und sie standen nun an der Seite der „Roten Armee Fraktion“.1321 Den Palästinen­ sern erschien die Gruppe laut Boock aufgrund ihrer „ideologischen Recht­ haberei […] ein bisschen wahnsinnig“1322. Um nicht „ständig eine ganze Gang auf dem Hals zu haben, die ihnen erzählt, wie man das eigentlich zu machen hätte“1323, sollen sie den Zirkel aufgefordert haben, einen Wort­ führer zu benennen. Der Zusammenschluss habe daraufhin Siegfried Haag in einer gemeinsamen Diskussion als leitende Figur anerkannt. Die Wahl sei auf ihn gefallen, weil er die Rückendeckung der in Stuttgart‑Stamm­ heim einsitzenden Gründer genoss: Ihm hatten sie die Aufgabe zugewie­ sen, die „illegalen“ Strukturen der RAF wiederzubeleben.1324 Im Südjemen durchliefen die „Illegalen“ nicht nur eine paramilitärische Ausbildung,1325 sie steckten zudem das weitere Vorgehen ab. Einigkeit bestand offenbar darin, das Freilassen von „Gefangenen“ durch Anschläge gegen herausge­

1315 1316 1317 1318 1319 1320 1321 1322 1323 1324 1325

Ebd. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd. Ebd. Ebd., S. 285. Vgl. Peters 2008, S. 426-427. Vgl. Wunschik 1997, S. 246; Kraushaar 2017, S. 203. Vgl. Der Spiegel 1977b, S. 24; Sontheimer 2007, S. 106; Danyluk 2019, S. 485, 494. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 38. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 38-39. Vgl. Sontheimer 2007, S. 108.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

hobene Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft und Sicherheitsarchi­ tektur zu erzwingen. Als mögliche Opfer wären Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, genannt wor­ den.1326 Die Mitglieder der RAF griffen hierbei Überlegungen auf, die sich bereits unmittelbar nach der Botschaftsbesetzung im April 1975 in Stock­ holm ergeben haben sollen. Dies deutete Wisniewski an. Damals seien unter anderen Aktionen gegen den baden‑württembergischen Ministerprä­ sidenten Hans Filbinger sowie gegen Hanns Martin Schleyer in Erwägung gezogen worden. Während der Anschlag auf Filbinger rasch verworfen wurde, sei Schleyer als lohnendes Ziel in Erinnerung geblieben.1327 Die Gedankenspiele hätten sich allerdings nicht in Vorbereitungshandlungen niedergeschlagen: „Da gab es noch keine konkreten Pläne, aber es war eine Richtung, und wir wollten, auch bewusst im Unterschied zu Stockholm, an dieser Person klarmachen, worum es uns ging, wo wir herkommen, wofür wie eigentlich kämpfen.“1328 Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik erhielten die Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ weiteren Zuwachs durch einen aus Karlsruhe stammenden, später als „Förstergruppe“ beschriebenen Zirkel, dessen Mit­ glieder sich zuvor für die Belange inhaftierter RAF-Angehöriger eingesetzt hatten.1329 Neben Verena Becker, Peter-Jürgen und Waltraud Boock, Sieg­ fried Haag, Sieglinde Hofmann, Willy Peter Stoll, Rolf Clemens Wag­ ner und Stefan Wisniewski gehörten dem Zusammenschluss nunmehr auch Knut Folkerts, Uwe Folkerts, Christian Klar, Roland Mayer, Sabi­ ne Schmitz, Adelheid Schulz und Günter Sonnenberg an.1330 In Goslar trafen sie sich zur weiteren Ausgestaltung der im Südjemen beschlossenen Gewalthandlungen.1331 Als bedeutsam stuften sie zunächst die materielle Ausstattung der Gruppe ein. Am 20. September 1976 überfielen sie in Köln, am 15. November 1976 in Hamburg eine Bank. Bei den Raubzügen erlangten sie mehr als 210 000 DM.1332 Sabine Schmitz und Adelheid 1326 1327 1328 1329 1330

Vgl. Wunschik 1997, S. 246. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 28-29. Ebd., S. 29. Vgl. Wunschik 1997, S. 202; Sontheimer 2007, S. 108. Vgl. Der Spiegel 1977b, S. 25; Wunschik 1997, S. 203, 246; Winkler 2008, S. 287. 1331 Vgl. Wunschik 1997, S. 246. 1332 Vgl. Peters 2008, S. 372.

288

5.2 Aktionsphase

Schulz versuchten, im norditalienischen Raum Schusswaffen zu erwer­ ben.1333 Mitte November 1976 brachte die Gruppe in Österreich mehr als 390 Ausweispapiere widerrechtlich in ihren Besitz.1334 Erschüttert wurde diese Aufbau- und Vorbereitungsperiode durch das Verhaften Siegfried Haags und Roland Mayers am 30. November 19761335 sowie Waltraud Boocks am 13. Dezember 1976. Haag und Mayer stellten Polizeibeamte im Zuge einer Verkehrskontrolle; Waltraud Boock fassten österreichische Behörden bei einem Banküberfall in Wien, welcher der „Roten Armee Fraktion“ umgerechnet etwa 300 000 DM einbrachte.1336 Siegfried Haag trug während seiner Festnahme mehr als 130 Seiten Papier bei sich, die kryptisch wiedergaben, was die RAF für den Zeitraum zwi­ schen dem 20. November und 11. Dezember 1976 vorgesehen hatte. Aus den Materialien konnten die Sicherheitsbehörden Hinweise zur Logistik und personellen Stärke der „Illegalen“ sowie zu drei Operationen mit den Titeln „Margarine“, „Big money“ und „Big Raushole“ gewinnen.1337 Ein­ zelheiten der Aktionen ließen sich den Aufzeichnungen hingegen nicht entnehmen.1338 Wie Speitel berichtete, verschlechterte der Schlag gegen die sogenann­ te „Haag/Mayer-Bande“1339 das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ und den „Aktiven“. Die „Gefangenen“ hätten eine erfolgreiche sicherheitsbehördliche Infiltration der außerhalb der Justizvollzugsanstalten bestehenden Strukturen der RAF befürchtet und dementsprechend die Kommunikation mit den „Il­ legalen“ zeitweise merklich reduziert.1340 Da Siegfried Haag während sei­ ner Verhaftung nicht zur Schusswaffe gegriffen hatte, soll er von Häft­ lingen als „Oberbulle“1341 gebrandmarkt worden sein.1342 In der Folge­ zeit sprachen die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Gründungsmitglie­ der laut Speitel einer ihrer „Mitgefangenen“ besonderes Vertrauen aus: Brigitte Mohnhaupt.1343 Aufgrund ihrer Beteiligung an den Taten der

1333 1334 1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341 1342 1343

Vgl. Der Spiegel 1977b, S. 25. Vgl. Horchem 1988, S. 63; Wunschik 1997, S. 247. Vgl. Rabert 1995, S. 128. Vgl. Peters 2008, S. 372-373. Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 125; Der Spiegel 1977b, S. 24. Vgl. Horchem 1988, S. 62; Peters 2008, S. 373; Winkler 2008, S. 289. Der Spiegel 1981b, S. 36. Vgl. Speitel 1980b, S. 33. Ebd. Vgl. auch Neidhardt 1982a, S. 332-333. Vgl. Speitel 1980b, S. 33.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

„Roten Armee Fraktion“ hatte sie die Justiz am 29. Mai 1974 vor Gericht gestellt und wenige Monate danach zum Verbüßen einer Haftstrafe von mehr als vier Jahren verurteilt.1344 Im Sommer 1976 verlegten die Behör­ den sie in die Haftanstalt Stuttgart-Stammheim, wo sie sich regelmäßig mit Baader, Ensslin und Raspe austauschen konnte1345 und „genaue In­ struktionen“1346 für die Zeit nach der Haft empfing. Am 8. Februar 1977 erhielt sie schließlich ihre Entlassungspapiere.1347 Elisabeth von Dyck und Volker Speitel hätten sie beim Verlassen der Vollzugsanstalt in Empfang genommen. Den im Büro des Rechtsanwalts Klaus Croissant aktiven RAFUnterstützern soll Mohnhaupt in den Monaten zuvor von den Inhaftierten als Aktivistin angekündigt worden sein, die „`ne [sic] Art ‚Befehlsgewalt‘ ausübt und […] ‚einiges‘ neu organisieren würde.“1348 Speitels Aussagen zufolge füllte sie diese Rolle bereitwillig aus. Die von den Gründern geforderte Neugestaltung der „Roten Armee Fraktion“ habe sie zunächst in der Kanzlei Croissants vorgenommen, was mitunter zu Un­ mut und Verärgerung geführt habe. Mohnhaupt wies den dort eingesetz­ ten RAF‑Anhängern – angeblich – nach persönlicher Befragung ein Auf­ gabenfeld zu. Croissant habe sie für die Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen, die Advokaten Arndt Müller und Armin Newerla für das Aufrechterhalten des Austauschs unter den „Gefangenen“. Letztgenannten seien Speitel und von Dyck als Helfer zur Seite gestellt worden.1349 An die Mitglieder im Untergrund wäre sie ebenfalls herangetreten. Sie selbst bezeichnete den Umgang mit den „Aktiven“, so Speitel, als „Säuberungsaktion“1350, bei der ihr das Recht zugestanden habe, sich von den „Illegalen“ im Falle unüber­ windbarer Differenzen zu distanzieren. Ihre Kritik soll sie vor allem auf die Handlungen der unter Siegfried Haag zusammengetretenen Akteure konzentriert haben, die bis dahin nicht durch spektakuläre Anschläge in Erscheinung getreten waren. Grundsätzlich zog sie allerdings das Potential der „Aktiven“ nicht in Zweifel. Mohnhaupts Einschätzung: Man könne die „Illegalen“ bei adäquatem Anleiten durchaus zum Einsatz bringen.1351

1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351

290

Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 92, 94. Vgl. Wunschik 1997, S. 197; Bressan/Jander 2006, S. 423. Neidhardt 1982a, S. 332. Ähnlich Jesse 2017, S. 192. Vgl. Winkler 2008, S. 289. Speitel 1980b, S. 33. Vgl. ebd., S. 33-34. Brigitte Mohnhaupt, zit. n. ebd., S. 34. Vgl. Wunschik 1997, S. 248.

5.2 Aktionsphase

Ende Februar 1977 schloss sie sich der „Roten Armee Fraktion“ erneut im Untergrund an.1352 Von den übrigen Mitgliedern der RAF sei Mohn­ haupt unmittelbar als führende Figur akzeptiert worden. Boock bezeichne­ te dies in der Rückschau als „selbstverständlich, […] weil sie frisch aus Stammheim kam und Order von den Gefangenen hatte“1353. Zur Situation der Häftlinge habe sie ihren Mitstreitern geschildert, diese empfänden ihre Freiheitsstrafe als unerträglich und gingen davon aus, getötet zu werden. Ihrer Ermordung würden sie notfalls mit dem Freitod zuvorkommen.1354 Den Kontakt zu den Inhaftierten sollen die „Illegalen“ über das Büro Klaus Croissants wahrgenommen haben. Üblicherweise hätten sie telefo­ nisch ein konspiratives Treffen mit Mitarbeitern der Kanzlei vereinbart, welche die Nachrichten der Terroristen entgegennahmen. Diese wären später über die Advokaten Müller und Newerla in die Haftanstalten ge­ langt.1355 Obgleich die Sicherheitsbehörden mit der Festnahme Siegfried Haags ein schemenhaftes Bild zu den bevorstehenden Taten der RAF erlangt hatte, wichen die „Aktiven“ nicht von den im Südjemen getroffenen Entscheidungen ab. Während eines Hungerstreiks1356 der „Gefangenen“ für „eine Behandlung […] [nach] den Mindestgarantien der Genfer Kon­ vention von 1949“1357 führten sie am 7. April 1977 eine Aktion aus, die den Beginn einer in der Literatur als „Offensive `77“ bezeichneten1358 Anschlagsserie markierte: In Karlsruhe feuerten Mitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“ Schüsse auf den Wagen des Generalbundesanwalts Siegfried Buback ab. Buback sowie zwei weitere Fahrzeuginsassen starben an den Folgen ihrer Verletzungen.1359 Angesichts der Opfer stellte die Polizei die Vermutung auf, das Attentat könnte mit der Operation „Margarine“ identisch sein, die in den Ende 1976 bei Siegfried Haag aufgefundenen Papieren skizziert worden war. Die Initiale seines Vor- und Nachnamens ergaben in Kombination die Markenbezeichnung einer in Deutschland angebotenen Margarine.1360 Sieben Tage nach dem Gewaltakt bekannte

1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360

Vgl. Peters 2008, S. 377. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39. Vgl. Winkler 2008, S. 290. Vgl. Speitel 1980b, S. 36-37. Vgl. Horchem 1986, S. 5. ID-Verlag 1997, S. 265. Vgl. Wunschik 2006a, S. 474; Peters 2008, S. 396. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 76; Winkler 2008, S. 292-293. Vgl. Horchem 1988, S. 63.

291

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

sich ein „Kommando Ulrike Meinhof“ der RAF zu der Aktion.1361 In einer Erklärung schrieb die Gruppe Buback die Schuld am Versterben Holger Meins‘, Siegfried Hausners und Ulrike Meinhofs zu.1362 Wisniewski führte dazu in einem erstmals 1997 veröffentlichten Interview aus: „Buback war der oberste ‚Terroristenjäger‘ und für die [staatliche] Haltung gegenüber den Gefangenen verantwortlich. […] [W]ir sahen in ihm den Verantwortlichen für den toten Trakt [Gefängnisbereich, in dem Häftlinge isoliert werden] und die Haftbedingungen von Ulri­ ke Meinhof. Dem wollten wir Grenzen setzen.“1363 Laut Speitel zeigte der Anschlag auf Siegfried Buback den Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“, „dass die Illegalen endlich ‚funktionierten‘ und dass ‚draußen‘ was lief.“1364 Lob wäre von ihnen jedoch nicht ausgespro­ chen worden. Vielmehr hätten sie gegenüber den „Aktiven“ betont, die Aktion sei „lange überfällig gewesen“1365. Überdies sollen die Häftlinge eine Erwartungshaltung bekundet haben, welche die Bedeutung weiterer Aktivitäten unterstrich.1366 Baader, Ensslin und Raspe standen zu diesem Zeitpunkt in der Abschlussphase ihres Gerichtsverfahrens. Am 28. April 1977 erging das Urteil: Die drei Angeklagten belegte die Justiz jeweils mit einer lebenslangen Haftstrafe. Als erwiesen sah sie deren Beteiligung an vier Morden, versuchtem Mord in 34 Fällen und der Gründung einer kriminellen Vereinigung an.1367 Da die Verteidiger Revision begehrten, erlangte der Schuldspruch keine Rechtskraft.1368 Wenige Tage später, am 30. April 1977, brachen die Inhaftierten der RAF ihren vierten Hunger­ streik ab,1369 da sie eine ihrer zentralen Forderungen – das Zusammenle­ gen „politischer Gefangener“ – als erfüllt sahen.1370 Die „Aktiven“ erlebten unterdessen personelle Zu- und Abgänge. Nach und nach gewannen sie Susanne Albrecht, Elisabeth von Dyck, Monika Helbing, Christine Kuby, Silke Maier-Witt und Sigrid Sternebeck.1371 Sie 1361 1362 1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369 1370 1371

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Vgl. Peters 2008, S. 382. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 267. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 31-32. Speitel 1980b, S. 37. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 250. Vgl. ebd. Vgl. Gottschling 2004, S. 194; Diewald-Kerkmann 2009, S. 130. Vgl. Winkler 2008, S. 291. Vgl. Horchem 1986, S. 5. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 268-269. Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 104; Speitel 1980c, S. 32; Sterne­ beck 1990, S. 62; Wunschik 1997, S. 204-205, 210, 214, 220.

5.2 Aktionsphase

stammten zum Teil aus einem neben dem Anwaltsbüro Klaus Croissants existierenden Umfeld, das die Politik der „Roten Armee Fraktion“ in sogenannten Antifaschistischen Gruppen („Antifa-Gruppen“) mit legalis­ tischen Mitteln untermauerte und daher nach Einschätzung der Sicher­ heitsbehörden zur „legalen Ebene“ der RAF avancierte.1372 Ihr Beitritt wog die Festnahme Verena Beckers und Günter Sonnenbergs auf. Beide wurden Anfang Mai 1977 nach einem Feuergefecht mit Polizeibeamten arretiert. Bei sich trugen sie die Schusswaffe, mit der die „Rote Armee Fraktion“ Buback und seine Begleiter getötet hatte.1373 Das Rekrutieren Albrechts erbrachte zudem einen operativen Vorteil. Ihre Familie stand mit Jürgen Ponto, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank, in einem freundschaftlichen Verhältnis.1374 Dies hatte sie vor ihrer Mitgliedschaft in der RAF – angeblich – Volker Speitel dargelegt, der wiederum die im Untergrund bestehenden Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ zu der Beziehung unterrichtet haben soll.1375 Wer Wisniewski folgt, wertet die Verbindung Albrechts als Grundlage für den Entschluss der „Illegalen“, Ponto als erstes Ziel einer Entführungsserie in den Blick zu nehmen. Nach dessen Ergreifung sollte Hanns Martin Schleyer ebenfalls in die Gewalt der RAF gebracht werden. Hiermit verbunden gewesen sei die Hoffnung, mit zwei Wirtschaftsgrößen als Geiseln möglichst großen Druck auf die Bundesregierung ausüben zu können, der schließlich im Freilassen von Inhaftierten gipfelt.1376 Zur Vorbereitung der Taten sammelte der Zirkel im Weltwirtschaftsar­ chiv in Hamburg Informationen zu den avisierten Entführungsopfern.1377 Außerdem begingen sie einen Raubüberfall auf einen Waffenhandel in Frankfurt am Main, richteten weitere konspirative Wohnungen unter an­ deren in Erftstadt-Liblar ein und beschafften zusätzliche Fahrzeuge.1378 Albrecht besuchte Anfang Juli 1977 die Tochter Corinna Ponto und er­ kundigte sich bei dieser Gelegenheit nach den Sicherheitsvorkehrungen in Pontos Wohnhaus im hessischen Oberursel.1379 Offenbar erfuhr die RAF von Pontos Absicht, für mehrere Monate nach Südamerika zu reisen.

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Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 119. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 121. Vgl. Rabert 1995, S. 128. Vgl. Peters 2008, S. 388. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 36. Vgl. Peters 2008, S. 391-392. Vgl. Winkler 2008, S. 304, 309. Vgl. Peters 2008, S. 389.

293

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Daher schritten ihre Mitglieder früher als vorgesehen zur Tat.1380 Für den 30. Juli 1977 vereinbarte Albrecht ein Treffen mit Ponto, zu dem Chris­ tian Klar und Brigitte Mohnhaupt sie begleiteten. Als Klar eine Waffe auf Ponto richtete, bemühte sich dieser, aus dem Schussfeld zu gelangen. Klar und Mohnhaupt gaben daraufhin mehrere Schüsse auf ihn ab, die zu seinem Tod führten.1381 „[W]eil einer von uns die Situation falsch eingeschätzt hat“1382, so Wisniewski, scheiterte die geplante Entführung. Der Ausgang der Aktion zog nicht nur im Kreis der „Illegalen“ eine Kritik an Christian Klar nach sich.1383 Auch die Inhaftierten hätten das Ergebnis zum Anlass genommen, die Fähigkeiten der außerhalb der Haftanstalten agierenden „Roten Armee Fraktion“ in Frage zu stellen.1384 Mehr als zwei Wochen später erklärte die Gruppe selbstkritisch in einem von Susanne Albrecht signierten Schreiben, es sei ihr „nicht klar genug [gewesen], dass diese Typen [wie Jürgen Ponto], die in der Dritten Welt Kriege auslösen und Völker ausrotten, vor der Gewalt, wenn sie ihnen im eigenen Haus gegenübertritt, fassungslos stehen.“1385 Die Mutmaßung der Behörden, hinter den Ende 1976 entdeckten Plänen zur Operation „Big money“ könnte sich die fehlgeschlagene Entführung verbergen, wies die RAF als „Staatsschutzgeschmier“1386 entschieden zurück. Nachdem die „Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ am 9. August 19771387 ihren fünften Hungerstreik eingeleitet hatten, unternahmen die „Illegalen“ den Versuch, den Generalbundesanwalt in Karlsruhe erneut zu treffen. Am 25. August 1977 richteten sie einen in Eigenregie hergestellten Raketenwerfer auf das Dienstgebäude der Behörde, der allerdings nicht zündete.1388 Mit der widerrechtlichen Inbesitznahme mehrerer Fahrzeu­ ge1389 hatten sie inzwischen auch die logistischen Voraussetzungen für eine Tat erfüllt, die den Zirkel schon eine geraume Zeit umtrieb. Wenn­ gleich die Sicherheitsbehörden nach den Recherchen Knut Folkerts‘ und Willy Peter Stolls im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv um das Interesse der RAF an Hanns Martin Schleyer wussten und ihm Anfang August

1380 1381 1382 1383 1384 1385 1386 1387 1388 1389

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Vgl. Wunschik 1997, S. 250. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 76; Peters 2008, S. 390. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 36. Vgl. Peters 2008, S. 391. Vgl. Wunschik 1997, S. 251; Winkler 2008, S. 305. ID-Verlag 1997, S. 269. Ebd. Vgl. Horchem 1986, S. 5. Vgl. Rabert 1995, S. 129. Vgl. Wunschik 1997, S. 254.

5.2 Aktionsphase

1977 Personenschutz zugewiesen hatten,1390 hielten die „Aktiven“ an ihrer Entführungsabsicht fest. Maßgeblich für diese unnachgiebige Haltung sei die Lage der Inhaftierten gewesen: „Wir hatten Angst, wenn das [in den Haftanstalten] so weitergeht, dann gibt es unter Umständen erneut Tote, und wir stehen wieder da und können nur trauern.“1391 Die Schleyer zuteilgewordenen zusätzlichen Sicherungsmaßnahmen hät­ ten in dem Zirkel um Mohnhaupt dennoch Skepsis gegenüber der Aktion hinterlassen.1392 Die „Gefangenen“, welche ihre Handlungen in den Haft­ anstalten zur Vermeidung sich überschneidender Aktivitäten in der Regel mit den „Illegalen“ abgesprochen haben sollen,1393 gaben am 2. September 1977 in einer Erklärung den Abbruch ihres Hungerstreiks bekannt.1394 Am 4. September 1977 trafen Boock und Wisniewski auf Unterstützer aus dem Stuttgarter Anwaltsbüro, das die Kommunikation zwischen den Häft­ lingen und den in Freiheit befindlichen Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ gewährleistete. Die Kanzlei hatte im Juli 19771395 ihre Führung eingebüßt, als Klaus Croissant – angeblich – zunehmende Reibungen mit den Inhaftierten und berufliche Einschränkungen dazu bewogen, sich nach Frankreich abzusetzen.1396 Boock und Wisniewski wiesen die legalen Aktivisten – darunter Baptist Ralf Friedrich, Gisela Pohl, Volker Speitel und Christof Wackernagel – auf eine unmittelbar bevorstehende Tat hin.1397 Die Rede gewesen sei von „einer harten Kiste, härter als das, was bislang gelaufen ist.“1398 Wackernagel schloss sich kurz darauf den „Aktiven“ an.1399 Aus einem Zellenzirkular hätten die im Untergrund agie­ renden Aktivisten von einem Ultimatum der Häftlinge erfahren: Sofern sie nicht binnen zwei Wochen aktiv werden, verwirkten sie das Recht, sich als „Rote Armee Fraktion“ begreifen zu können. Außerdem würden die „Ge­ fangenen“ in diesem Fall dazu übergehen, ihre Situation mithilfe eigener

1390 1391 1392 1393 1394 1395 1396 1397 1398 1399

Vgl. ebd., S. 253; Peters 2008, S. 392. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 38. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. Wunschik 1997, S. 252. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 269-270. Vgl. Peters 2008, S. 397. Vgl. Speitel 1980c, S. 32. Vgl. Wunschik 1997, S. 222. Der Spiegel 1980b, S. 88-90. Vgl. ebd., S. 88; Wackernagel 2017, S. 314-316.

295

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Mittel zu bestimmen. Letztes sollen die „Illegalen“ als Aussage verstanden haben, in der die Häftlinge implizit mit Selbstmord drohten.1400 Am 5. September 1977 überfiel die „Rote Armee Fraktion“ in Köln einen Fahrzeugkonvoi, der Schleyer zu seiner Wohnung fuhr. Angehöri­ ge des Zirkels erschossen seinen Fahrer sowie die drei ihn begleitenden Polizisten.1401 Schleyer zerrten sie in ein bereitstehendes Fahrzeug und transportierten ihn zu einer präparierten Unterkunft in Erftstadt-Liblar.1402 Bereits am 6. September 1977 machte ein „Kommando Siegfried Haus­ ner“ die Forderung öffentlich, die „Gefangenen“ Andreas Baader, Vere­ na Becker, Karl-Heinz Dellwo, Gudrun Ensslin, Werner Hoppe, Hanna Krabbe, Irmgard Möller, Jan-Carl Raspe, Bernhard Rössner, Ingrid Schu­ bert und Günter Sonnenberg mit jeweils 100 000 DM in die Freiheit zu entlassen. Außerdem sollte ihre Ausreise aus der Bundesrepublik ermög­ licht werden.1403 Die deutsche Regierung beschloss wenig später, dem Drängen der Entführer nicht nachzugeben. Mit einer groß angelegten Fahndung reagierten die Sicherheitsbehörden auf die Geiselnahme.1404 Die RAF sah sich gezwungen, Schleyer in den westlichen Nachbarstaa­ ten Deutschlands unterzubringen. Zunächst versteckten sie ihn in den Niederlanden,1405 wo Knut Folkerts in einen Schusswechsel mit Polizei­ beamten geriet und am 22. September 1977 festgenommen werden konn­ te.1406 Der personelle Verlust begründete die Notwendigkeit, Schleyer nach Belgien zu verlegen. Den polizeilichen Ermittlungen begegnete ein Teil der „Aktiven“ zudem mit ihrer Ausreise in den Irak. Im Laufe des Septembers 1977 flogen sukzessive Susanne Albrecht, Elisabeth von Dyck, Monika Helbing, Friedericke Krabbe, Christine Kuby, Brigitte Mohnhaupt und Gert Schneider nach Bagdad. In Westeuropa blieben neben Folkerts unter anderen Angelika Speitel, Willy-Peter Stoll, Christof Wackernagel, Rolf Clemens Wagner und Stefan Wisniewski zurück.1407 In der irakischen Hauptstadt ergab sich ein Austausch zwischen der RAF und der von Wadi Haddad gelenkten „Popular Front for the Liberation of Palestine – Special Operations Group“. Entwickelt hatte sich der Kon­ takt offenbar über Johannes Weinrich, der nach dem Tod Wilfried Böses 1400 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407

296

Vgl. Peters 2008, S. 397-398; Winkler 2008, S. 307. Vgl. Horchem 1988, S. 68-69; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 76. Vgl. Winkler 2008, S. 312, 314, 316. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 270-271. Vgl. Peters 2008, S. 412-413. Vgl. Wunschik 1997, S. 261. Vgl. Horchem 1988, S. 67. Vgl. Peters 2008, S. 426; Winkler 2008, S. 329.

5.2 Aktionsphase

im Jahre 1976 zum „Familienoberhaupt“1408 der „Revolutionären Zellen“ avanciert war, diese Stellung jedoch ab 1977 zugunsten einer Kooperati­ on mit dem internationalen Linksterroristen „Carlos“ abstieß. Auf Bitten von Wadi Haddad sei Weinrich in Bagdad etwa vier Wochen nach dem Ergreifen Schleyers an Boock und Mohnhaupt herangetreten. Er gab – an­ geblich – zu verstehen, der Anführer der PFLP‑SOG stelle sich die Frage, warum die „Rote Armee Fraktion“ in ihrem Bemühen um Freipressung von Inhaftierten die Palästinenser nicht um Unterstützung ersucht. Am darauffolgenden Tag sei die RAF mit Haddad zusammengetroffen.1409 Er habe zwei Operationen skizziert, von denen eine als Ergänzung zu der ge­ gen Schleyer gerichteten Aktion ausgeführt werden könnte: einen Angriff auf die Deutsche Botschaft in Kuwait sowie eine Flugzeugentführung. Bei­ den Vorschlägen sei die „Rote Armee Fraktion“ mit Einwänden begegnet. Während der Anschlag auf die Auslandsvertretung vor dem Hintergrund der Ereignisse 1975 in Stockholm rasch als indiskutabel gesehen worden sein soll, hätten sich die Bedenken gegen die gewaltsame Übernahme einer Luftfahrtmaschine langsam zerschlagen. Ausgehend von früheren Äuße­ rungen der in Deutschland inhaftierten RAF-Mitglieder wäre innerhalb der Gruppe zunächst geltend gemacht worden, eine Flugzeugentführung sei nicht im Sinne der „Gefangenen“. Schlussendlich habe sich der Zirkel aber bereit gezeigt, etwaigen Unmut der Häftlinge in Kauf zu nehmen.1410 Die Hilfsleistung der PFLP-SOG stimmte er laut Wisniewski mit den in Westeuropa ansässigen Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ ab. Unter diesen habe sich ebenfalls eine Diskussion zu dem Für und Wider der Tat entwickelt, in der die Flugzeugentführung schließlich gebilligt worden sei.1411 Wisniewski erläuterte dazu: „Wir sind davon ausgegangen, dass die Bundesregierung durch die Flugzeugentführung die Gelegenheit bekam zu sagen: O.K., wir sind hart geblieben bei Schleyer, aber jetzt können wir nicht mehr, jetzt müssen wir austauschen.“1412 Am 13. Oktober 1977 übernahmen palästinensische Terroristen auf Mal­ lorca die Kontrolle über eine Flugmaschine der „Lufthansa“. Sich selbst bezeichneten sie unter Rückgriff auf den arabischen Ehrennamen des ver­

1408 1409 1410 1411 1412

Vgl. Klein 1979a, S. 86. Vgl. Bönisch 1997, S. 60; Aust 2020, S. 814-815. Vgl. Bönisch 1997, S. 62. Ähnlich Sternebeck 1990, S. 62. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 45-46. Ebd., S. 48.

297

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

storbenen RZ-Mitglieds Brigitte Kuhlmann als „Kommando Martyr Hali­ meh“.1413 Neben der Freilassung der von der „Roten Armee Fraktion“ in ihrem Papier vom 6. September 1977 benannten „Gefangenen“ verlangte der Zirkel, die Haft von zwei in der Türkei einsitzenden Aktivisten der „Federation for the Liberation of Palestine“ aufzuheben. Überdies müsse ein Betrag von 15 Millionen US-Dollar (umgerechnet etwa 35 Millionen DM) als Lösegeld entrichtet werden.1414 Noch am selben Tag bekundete die „Rote Armee Fraktion“ ihre Absicht, der Bundesregierung keinen weiteren zeitlichen Spielraum beim Erfüllen der genannten Bedingungen einräumen zu wollen: „Nach 40 Tagen der Gefangenschaft von Schleyer wird es eine Verlän­ gerung des Ultimatums nicht mehr geben, ebenso keine weitere Kon­ taktaufnahme. Jegliche Verzögerung bedeutet den Tod Schleyers.“1415 Die Piloten lenkten die Maschine auf Anweisung der Entführer über Bahrain, Dubai und den Südjemen nach Somalia. Auf dem Flughafen der Hauptstadt Mogadischu drangen in der Nacht zum 18. Oktober 1977 Angehörige der deutschen Grenzschutzgruppe 9 in das Flugzeug ein. Sie töteten drei Mitglieder des „Kommandos“, ein weiteres wurde verletzt.1416 Kurz darauf nahmen sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart‑Stammheim das Leben. Irm­ gard Möller überlebte ihren Selbstmordversuch,1417 den sie fortan in der Öffentlichkeit als gescheiterte, geheimdienstlich gesteuerte „Ausrottung“ verbrämte.1418 Die „Illegalen“ ermordeten Hanns Martin Schleyer und offenbarten am 19. Oktober 1977 die Position der Leiche im Elsass.1419 Daneben interpretierten sie die Geschehnisse in Stuttgart-Stammheim als „Massaker“1420, und sie kündigten an: „Der Kampf hat erst begonnen!“1421 Mit dem Tod Schleyers fand die „Offensive `77“ ein Ende. Die „Rote Armee Fraktion“ hatte eine erhebliche Niederlage erfahren,1422 die sich

1413 1414 1415 1416 1417 1418 1419 1420 1421 1422

298

Vgl. Siemens 2006, S. 338; Winkler 2008, S. 334; Igel 2012, S. 110. Vgl. Horchem 1988, S. 74. ID-Verlag 1997, S. 273. Vgl. Peters 2008, S. 435, 444-445, 446, 449. Vgl. Rabert 1995, S. 129; Gottschling 2004, S. 195; Bressan/Jander 2006, S. 423; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 77; Aust 2020, S. 21-25. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 133-135. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 273. Ebd. Ebd. Ähnlich Straßner 2008b, S. 220.

5.2 Aktionsphase

nicht nur mit dem Freitod zentraler Identifikationsfiguren, sondern auch mit der Zerschlagung des Unterstützerkreises im Stuttgarter Anwaltsbüro Claus Croissants äußerte. Die gegen ihn vorliegenden Verdachtsmomente hatten die Festnahme Arndt Müllers, Armin Newerlas, Volker Speitels und anderer Helfer gerechtfertigt.1423 „[F]ür unsere menschlichen und politi­ schen Ziele war es [die Entführung Schleyers] ein Desaster“1424, so Wis­ niewski in der Rückschau. Eine „Legitimations- und Motivationskrise“1425 schloss sich an, die mit dem Austritt Friedericke Krabbes einhergegangen sein soll.1426 Unter den Inhaftierten kam der von den „Aktiven“ befürchte­ te Unmut auf. Karl-Heinz Dellwo ließ seine Ablehnung der Flugzeugent­ führung in einem Kassiber erkennen. Die Tat verstieß, so seine Begrün­ dung, gegen die von der „Roten Armee Fraktion“ öffentlich betonte Zusa­ ge, sich nicht gegen Unbeteiligte richten zu wollen.1427 5.2.3 Wiederaufbau, Anschläge auf US-Militär, „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“, Verhaftungen (1978 bis 1982) Die „Illegalen“ sahen sich in dieser Situation nicht nur dem Zwang gegen­ über, die langfristige Ausrichtung ihrer Aktivitäten neu zu bestimmen. Überdies mussten sie Peter‑Jürgen Boock versorgen, der eigenen Aussagen zufolge ab dem „16. Lebensjahr […] mit Drogen zu tun“1428 gehabt hatte, den Konsum von „Heroin, Dolantin, Morphin, Kokain“1429 allerdings erst ab 1977 zu einem „Höhepunkt“1430 trieb. Gegenüber anderen Aktivisten habe er die Abhängigkeit mit einem Malignom im Darm gerechtfertigt, was von Hofmann, Mohnhaupt und Wisniewski gestützt worden wäre.1431 Um Boock Suchtmittel zur Verfügung stellen zu können, reisten die zwi­ schenzeitlich ebenfalls in den Irak geflüchteten RAF-Angehörigen Christof Wackernagel und Gert Schneider nach Westeuropa.1432 Eine Rückkehr

1423 1424 1425 1426 1427 1428 1429 1430 1431 1432

Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 121. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 57. Pfahl-Traughber 2014a, S. 159. Ähnlich Rabert 1995, S. 130. Vgl. Winkler 2008, S. 360. Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 115-116. Boock/Sternsdorff 1981, S. 116. Ebd. Ebd. Vgl. Wunschik 1997, S. 293. Vgl. Peters 2008, S. 478-479; Winkler 2008, S. 363.

299

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

nach Bagdad gelang ihnen nicht, da sie am 10. November 1977 von der niederländischen Polizei in einem Feuergefecht gestellt wurden.1433 Ende 1977/Anfang 1978 ließen sich die im Nahen Osten untergekom­ menen „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ in Paris nieder, wo sie über zwei getarnte Wohnungen verfügten.1434 In diesem Zeitraum nahm Michael Knoll eine Mitgliedschaft im Zirkel an.1435 Silke Maier-Witt, Christine Kuby, Angelika Speitel, Willy‑Peter Stoll und Stefan Wisniew­ ski strebten ab Januar 1978 in der Bundesrepublik einen Wiederaufbau der RAF an. Erste Diskussionen um das weitere Vorgehen schlossen das Entführen des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher sowie Gewalthandlungen gegen Angehörige der Central Intelligence Agency und des US‑amerikanischen Militärs ein.1436 Genscher, die US-Botschaft in Bonn sowie ein von Amerikanern bevorzugtes Wohnviertel der Stadt sollen die „Aktiven“ sogar legendiert ausgeforscht haben.1437 Ein Teil der RAF nahm weiterhin die Lage Peter-Jürgen Boocks in Anspruch, der eige­ nen Aussagen zufolge „so was wie eine Selbstmordstrategie drauf“1438 hatte und schließlich eine „Dolantin-Dosis […] jenseits von Gut und Böse“1439 einnahm. Baptist Ralf Friedrich, der Anfang November 1977 zur Gruppe gestoßen war, beschaffte mehrfach Rauschmittel.1440 Diese Aufgabe fiel Christine Kuby gleichermaßen zu. Polizeibeamte verhafteten sie am 21. Ja­ nuar 19781441 nach einem Schusswechsel in Hamburg, dem ihr Besuch in einer Apotheke vorausgegangen war. Kuby hatte ein gefälschtes Rezept für ein Schmerzmittel einlösen wollen.1442 Da Boocks Zustand nunmehr die Verhaftung eines dritten Mitglieds gefordert hatte, ertönte innerhalb des Zirkels der Ruf nach einer Lösung. In einem Austausch konsentierten die in Deutschland und Frankreich ansässigen Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“, Boock in einem Drittstaat eine medizinische Behandlung zu ermöglichen. Hierbei sollten ihn andere Mitglieder begleiten. Angeblich erhielt der Zirkel über die Palästinenser die Zusage, ihn in der Deutschen

1433 1434 1435 1436 1437 1438 1439 1440 1441 1442

300

Vgl. Der Spiegel 1977e, S. 32; Wackernagel 2017, S. 10-15. Vgl. Peters 2008, S. 477; Winkler 2008, S. 362. Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 114. Vgl. Wunschik 1997, S. 295; Wunschik 2006a, S. 476. Vgl. Wunschik 1997, S. 184; Winkler 2008, S. 362. Boock/Sternsdorff 1981, S. 116. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 28. Vgl. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 53; Wunschik 1997, S. 222, 294. Vgl. Kahl 1986, S. 153. Vgl. Peters 2008, S. 479.

5.2 Aktionsphase

Demokratischen Republik unterbringen zu können.1443 Seine Genesung habe in der Ostberliner Charité erreicht werden sollen.1444 Auf dem Reise­ weg setzten jugoslawische Behörden Boock, Hofmann, Mohnhaupt und Wagner am 11. Mai 1978 in Zagreb fest.1445 Wisniewski wurde am selben Tag auf dem Flughafen Paris-Orly verhaftet.1446 Während der Haft in Ju­ goslawien soll Boock einen Drogenentzug durchlaufen haben. Außerdem wäre er in einen gedanklichen Prozess eingetreten, der sich mit der Lossa­ gung von der RAF befasste.1447 Die sicherheitsbehördlichen Maßnahmen am 11. Mai 1978 sollen die in Westeuropa zurückgebliebenen Aktivisten als beträchtlichen Rückschlag wahrgenommen haben. Mit Boock, Mohnhaupt und Wisniewski hatte die Gruppe schlagartig ihre erfahrensten Mitglieder verloren.1448 Die in Freiheit befindlichen Akteure verabredeten sich zu einem gemeinsamen Treffen im belgischen Ostende Anfang Juni 1978.1449 Die dreitägige Ver­ sammlung brachte personelle Verstärkung ein. Ekkehard von SeckendorffGudent, der Boock vor seiner Festnahme medizinische Hilfe geleistet hatte, trat dem Zirkel bei. Des Weiteren bewirkte sie richtungsweisende Entscheidungen. Die „Aktiven“ sprachen sich für den Vorschlag aus, die Befreiung Stefan Wisniewskis zu wagen. Sie hielten außerdem an der be­ reits im Februar/März 1978 forcierten Entführung des amerikanischen Ge­ nerals Alexander Haig fest, welcher die Position des Oberbefehlshabenden des Nordatlantikpaktes in Europa innehatte. Diese sollte jedoch – angeb­ lich – erst nach der Wiedervereinigung mit Boock, Mohnhaupt, Hofmann und Wagner in Angriff genommen werden. Mit der Tat verbanden sie die Hoffnung, einzelne Personen aus den Reihen der RAF‑„Gefangenen“ freipressen zu können,1450 die zwischen dem 10. März und 20. April 1978 mit einem sechsten Hungerstreik1451 auf sich aufmerksam gemacht hatten. Weitere Kernpunkte der Zusammenkunft in Ostende bezogen sich auf eine Kontaktaufnahme zur „Bewegung 2. Juni“ sowie zu den in Italien agierenden „Brigate Rosse“. Die B2J sollte um das Bereitstellen von Finan­

1443 1444 1445 1446 1447 1448 1449 1450 1451

Vgl. Wunschik 1997, S. 294. Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 28. Vgl. Winkler 2008, S. 363. Vgl. Peters 2008, S. 481. Vgl. Boock/Sternsdorff 1981, S. 116. Vgl. Wunschik 1997, S. 296-297. Vgl. Peters 2008, S. 481. Vgl. Wunschik 1997, S. 185, 294, 298. Vgl. Horchem 1986, S. 5.

301

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

zen gebeten, die Gruppe der „Roten Brigaden“ dagegen für eine operative Interaktion gewonnen werden.1452 Die Ereignisse der sich anschließenden Monate trugen nicht zu der beabsichtigten Konsolidierung der „Roten Armee Fraktion“ bei. Christian Klar, Willy-Peter Stoll und Adelheid Schulz nahmen sich dem Ausbruch Wisniewskis an, der in der Justizvollzugsanstalt Frankenthal einsaß. Vorge­ sehen war, ihn mit einem Helikopter aus der Haft zu befreien. Getarnt als Filmemacher ließen sich die drei Aktivisten mehrfach über Neckar und Rhein fliegen. Dabei erkundigten sie sich nach der Möglichkeit, einen Hubschrauber auf dem Innenhof einer Burg zu landen. Ihr Auftreten führ­ te bei einem Piloten zu Zweifeln; er informierte die Polizei, welche Klar, Stoll und Schulz sodann bei einem Flug am 6. August 1978 beobachtete. Allerdings bemerkten die RAF-Mitglieder die Observation – sie konnten entkommen. Von der Befreiungsaktion ließen sie ab.1453 Silke Maier-Witts und Rolf Heißlers Zusammenkunft mit der „Bewegung 2. Juni“ verlief ergebnislos. Bei einer gemeinsamen Suche nach einem Versteck im italie­ nischen Ventimiglia, in dem die B2J – angeblich – Lösegeld aus der 1977 erfolgten Entführung des Industriellen Walter Palmers versteckt hatte, sei­ en die versprochenen Barmittel nicht aufgefunden worden. Maier-Witt soll daher den Eindruck erlangt haben, bewusst getäuscht worden zu sein.1454

1452 Vgl. Wunschik 1997, S. 298; Peters 2008, S. 482. 1453 Vgl. Winkler 2008, S. 363-364. 1454 Vgl. Wunschik 1997, S. 299, 385. Die von Wunschik indirekt wiedergegebe­ nen Schilderungen Maier-Witts zum Sommer 1978 korrespondieren inhaltlich mit Aussagen, welche das B2J-Mitglied Inge Viett in ihrer Autobiographie zu den Aktivitäten nach ihrem Eintritt in die RAF im Mai 1980 traf. Die jeweiligen Textpassagen weichen allerdings zeitlich voneinander ab. Geht man nach Viett, so kann sich die gemeinsame Suche der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ nicht im Sommer 1978 ereignet haben: „Biene [Juliane Plambeck] und ich fahren zusammen nach Italien, um unser Geld aus dem Depot zu holen. Kowalski [namentlich nicht bekanntes Mitglied der B2J] und sie hatten es vor einem Jahr [also vermutlich im Frühjahr/Sommer 1979] dort vergraben. Es ist eine große Menge Geld, nach der bereits zwei andere Genossen erfolglos gesucht haben. […] Biene und ich sind mit unseren Rucksäcken auf dem Weg zum Depot. Es liegt in der Nähe von Ventimiglia in einer unbe­ siedelten hügeligen Gegend. […] In einem Anfall früherer Ausgelassenheit nimmt Biene eine kleine verdorrte Astgabel und wünschelrutet albern umher. Schlägt auf die Erde und sagt: ‚Hier liegt es.‘ Aus Spaß, unsere Rucksäcke sind schon gepackt, mache ich zwei Spatenstiche – und stoße auf die Million.“ Viett 2007, S. 218-219. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. Bei einem Blick in das Selbstzeugnis des B2J-Aktivisten Till Meyer besteht der zeitliche Widerspruch nicht. Er rekapituliert den Inhalt eines Gesprächs, das er

302

5.2 Aktionsphase

Im Herbst 1978 baute sie gemeinsam mit Ekkehard von Seckendorff‑Gu­ dent eine Verbindung zu den „Brigate Rosse“ auf, konnte jedoch keine Vereinbarungen zu langfristigen Hilfsleistungen treffen.1455 Laut Aussage des BR-Mitglieds Valerio Morucci waren in diese Konsultationen Aktivis­ ten der B2J involviert: „Mario Moretti [Führungsfigur des italienischen Zirkels] fuhr […] im Herbst 1978 nach Paris. Über einen Sympathisanten wurde eine Woh­ nung angemietet, in der Moretti zusammen mit einem zweiten Briga­ disten, mit Vertretern der RAF und des ‚2. Juni‘ zusammentraf.“1456 Zum Ablauf der Gespräche schilderte Morucci: „Moretti informierte mich dann über seine Verhandlungen mit der RAF. Er sagte mir, dass die RAF zu gemeinsamen Aktionen kommen wolle. Die Roten Brigaden lehnten ab. Für sie bedeutete die RAF-For­ derung nämlich nichts anderes als: Erst gebt ihr uns recht, anerkennt unsere Linie, dann kommen wir zum eigentlichen Punkt. Moretti sagte mir auch, dass man mit der RAF eine Einigung nicht erzielen könne. Sie sei eine ganz andere Welt. Sie habe ganz andere Dinge im Kopf. Es sei schwierig, ihnen unsere Überzeugungen verständlich zu machen. Ein Dialog sei mit der RAF unmöglich.“1457 Nach dem Rekrutieren Werner Lotzes im August 19781458 verzeichnete die RAF mehrere personelle Einbrüche. Am 6. September 1978 versuchte Willy-Peter Stoll, sich einer polizeilichen Kontrolle mit Waffengewalt zu entziehen. Die Beamten griffen ihrerseits zu den Waffen und trafen ihn tödlich.1459 Nur wenige Wochen darauf entdeckten Polizisten Michael Knoll, Werner Lotze und Angelika Speitel bei Schießübungen in einem Forst nahe Dortmund. Es kam zu einem Schusswechsel, der das Leben ei­ nes Polizisten kostete. Knoll und Speitel wurden verletzt, Lotze gelang die

1455 1456 1457 1458 1459

nach seinem Gefängnisausbruch Ende Mai 1978 wohl unter anderen mit Inge Viett führte: „Gefeilscht hätten sie mit dem alten Herrn [Walter Palmers] wie auf einem Bazar und sich schließlich auf 4,7 Millionen geeinigt. ‚[…] 600.000 haben wir irgendwo in Norditalien vergraben, aber nicht mehr wiedergefunden!‘ Tatsächlich, sie hatten das Geld so gut eingebuddelt, dass sie es selbst nicht wieder auffinden konnten.“ Meyer 2008, S. 389. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. Vgl. Wunschik 1997, S. 299, 387. Morucci/Kraatz/Sternsdorff 1986, S. 107. Ebd., S. 113. Vgl. Wunschik 1993, S. 179; Wunschik 1997, S. 225. Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 114; Peters 2008, S. 486.

303

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Flucht. Michael Knoll erlag am 7. Oktober 1978 im Krankenhaus seinen Wunden.1460 Auf den Beitritt Henning Beers im Oktober 19781461 folgte ein weiterer Zusammenstoß mit den Sicherheitsbehörden, der indes für die RAF keine gravierenden Konsequenzen nach sich zog. Am 1. Novem­ ber 1978 trafen Rolf Heißler und Adelheid Schulz bei Kerkrade auf nieder­ ländische Zollbeamte. Indem sie von ihren Waffen Gebrauch machten, konnten sie entkommen. Zwei Zöllnern fügten sie tödliche Verletzungen zu.1462 Im November 1978 entließen die jugoslawischen Behörden Boock, Hofmann, Mohnhaupt sowie Wagner – angeblich – nach Intervention der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ aus der Haft – sie erlaubten ihnen die Ausreise über den Irak in den Südjemen.1463 Im Nahen Osten erhielten sie Besuch von Rolf Heißler und Elisabeth von Dyck, denen sie einen Brief mit kritischen Anmerkungen zu den Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ nach Mai 1978 überreichten. Das Papier habe vor allem die stockende Vorbereitung der gegen Alexander Haig gerichteten Aktion bemängelt. Daneben beinhaltete es den Vorschlag einer paramilitärischen Ausbildung: Ausgewählte Aktivisten sollten in den Südjemen reisen und dort ihre Kampffähigkeiten ausbauen. Während von Dyck, Heißler, Hel­ bing, von Seckendorff-Gudent und Sternebeck in Westeuropa die Struktu­ ren der RAF aufrechterhielten, flogen unter anderen Albrecht, Klar, Lotze, Maier-Witt und Schulz in mehreren Etappen nach Aden. In einem Trai­ ningslager der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ erlangten sie Kenntnisse zum Umgang mit Schuss- und panzerbrechenden Waffen. Den Alltag hätten zudem Diskussionen bestimmt, in denen Mohnhaupt und Hofmann die während ihrer Haft aktiven RAF-Angehörigen abermals abgekanzelt haben sollen.1464 Die Ausrichtung der Tat gegen Haig wurde angepasst, was zum einen der eigenen Aktionsstärke Rechnung tragen, zum anderen die ungebrochene Handlungsfähigkeit des Zirkels öffentlich unterstreichen sollte. Von der Entführung und „Gefangenenbefreiung“ ließen die Aktivisten ab; in den Mittelpunkt rückten sie stattdessen einen Anschlag auf das Leben des Generals.1465 Als gewichtiges Thema erwies sich ferner der Umgang mit Peter-Jürgen Boock. Er zog den Unmut ande­

1460 1461 1462 1463 1464 1465

304

Vgl. Kahl 1986, S. 153; Wunschik 1993, S. 179-180; Winkler 2008, S. 364-365. Vgl. Wunschik 1997, S. 227. Vgl. Winkler 2008, S. 365. Vgl. Boock/Sternsdorff 1981, S. 116-117; Der Spiegel 1982b, S. 133. Vgl. Wunschik 1997, S. 305-307. Vgl. ebd., S. 312-313.

5.2 Aktionsphase

rer Gruppenmitglieder auf sich, als diese von seinem tatsächlichen medizi­ nischen Zustand erfuhren: Das von ihm angegebene Krebsleiden hatte sich in Jugoslawien als Geschwulst entpuppt, welche Ärzte in einer Operation beseitigen konnten. Angeblich sah er sich nun dem Vorwurf ausgesetzt, eine Drogenabhängigkeit verschwiegen zu haben.1466 Boock habe seine exponierte Stellung innerhalb der Gruppe eingebüßt und eine Unterkunft außerhalb des Ausbildungsgeländes bezogen. Der Kontakt zu ihm wäre lediglich von herausgehobenen Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ wahrgenommen worden.1467 Im Februar 1979 traten die Mitglieder der Gruppe den Rückweg nach Westeuropa an.1468 Boock gab 1981 in einem Interview zu verstehen, dass er als einziger im Südjemen verblieb.1469 Im Nahen Osten habe er sich „die ganze Zeit damit auseinandergesetzt, welchen Weg […] [er] eigentlich ein­ schlagen will.“1470 Die RAF bezog in Brüssel Quartier, wo sie weitere Vor­ kehrungen für einen Anschlag auf den US-General Alexander Haig traf. Bedeutung erlangte auch das Beschaffen finanzieller Mittel.1471 Laut Wun­ schik und Winkler war der Zirkel aufgefordert worden, Geldbeträge zu erstatten, die er zuvor von der „Bewegung 2. Juni“ und der PFLP erhalten hatte.1472 Im März und April 1979 überfielen Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ Bankfilialen in Darmstadt und Nürnberg und verletzten dabei einen Unbeteiligten durch Waffengewalt. Insgesamt erbeuteten sie mehr als 200 000 DM.1473 Polizeiliche Ermittlungen mündeten in der Folgezeit in der Enttarnung konspirativer Unterkünfte der Gruppe in Nürnberg und Frankfurt am Main. In der Wohnung in Nürnberg gaben Polizeibeamte am 4. Mai 1979 tödliche Schüsse auf Elisabeth von Dyck ab. Rolf Heißler setzten die Sicherheitsbehörden am 9. Juni 1979 in einem Unterschlupf in Frankfurt am Main fest.1474 Ungeachtet der neuerlichen Schwächung finalisierte die „Rote Armee Fraktion“ in Belgien die Vorbereitungen für das gegen Haig gerichtete At­ tentat. Wohl in Erwartung der nach der Aktion einsetzenden Fahndungs­ maßnahmen verschoben die Mitglieder die logistische Ausstattung des Zir­

1466 1467 1468 1469 1470 1471 1472 1473 1474

Vgl. Peters 2008, S. 487, 489. Vgl. Wunschik 1997, S. 308. Vgl. ebd., S. 311. Vgl. Boock/Sternsdorff 1981, S. 117. Ebd. Vgl. Peters 2008, S. 494. Vgl. Wunschik 1997, S. 311, 385-386; Winkler 2008, S. 366. Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 103. Vgl. Kahl 1986, S. 153; Peters 2008, S. 495-496.

305

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

kels nach Paris.1475 Am 25. Juni 1979 brachten Werner Lotze und Rolf Cle­ mens Wagner manuell per Kabel einen Explosivstoff zur Detonation, den die RAF zuvor unter einer Brücke nahe der belgischen Ortschaft Obourg platziert hatte. Die Explosion traf einen Konvoi, der Haig zum Hauptquar­ tier der NATO in Brüssel fuhr. Da der Sprengstoff nicht unmittelbar unter seinem Fahrzeug zündete, hinterließ das Attentat keine Todesopfer.1476 In einem Bekennerschreiben des „Kommandos Andreas Baader“ begründe­ ten die Aktivisten den Fehlschlag mit ihrer irrtümlichen Annahme, das Sprengmittel selbst bei „einer […] hohen Geschwindigkeit [der Fahrzeug­ kolonne] noch exakt genug mit der Hand auslösen zu können.“1477 Ab­ schließend riefen sie zum Kampf gegen den „US‑Imperialismus“1478 sowie zum Formieren einer „Antiimperialistische[n] Front“1479 auf, womit sie erkennbar von der bislang weitgehend auf die „politischen Gefangenen“ kaprizierten Strategie abrückten. Baptist Ralf Friedrich blickte 1990 in einem Interview auf diesen Wendepunkt zurück: „Das Ziel hieß, auf einen kurzen Nenner gebracht: Kampf gegen die amerikanischen Besatzer. Befreiung der Bundesrepublik von US-Solda­ ten, US-Geheimdiensten, US-Konsumartikeln, US‑Kultur, US-Kapita­ listen.“1480 Für die Häftlinge der RAF stand unterdessen der siebte Hungerstreik im Vordergrund, in dem sie Ende April 1979 mit Verwies auf „die als Selbst­ morde getarnten Morde an Ulrike [Meinhof], Andreas [Baader], Gudrun [Ensslin], Jan[‑Carl Raspe]“1481 und anderen Gruppenangehörigen „ein Haftstatut […] [entsprechend der] Mindestgarantien der Genfer Konven­ tionen“1482 verlangt hatten. Er fand am 26. Juli 1979 sein Ende.1483 Der Abbruch der Nahrungsverweigerung würde laut schriftlicher Erklärung der Inhaftierten dem „Kalkül der BRD“1484 begegnen, welche eine Tötung der „politischen Gefangenen“ im Zuge der Nahrungsverweigerung beab­ sichtige.

1475 1476 1477 1478 1479 1480 1481 1482 1483 1484

306

Vgl. Wunschik 1997, S. 313. Vgl. Wunschik 1993, S. 181; Rabert 1995, S. 130; Winkler 2008, S. 367. ID-Verlag 1997, S. 282. Ebd., S. 284. Ebd. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57. ID-Verlag 1997, S. 281. Ebd. Vgl. Horchem 1986, S. 5. ID-Verlag 1997, S. 284.

5.2 Aktionsphase

Nach dem versuchten Ermorden Alexander Haigs maß die „Rote Ar­ mee Fraktion“ Verbindungen zu den „Brigate Rosse“ erneut Bedeutung zu. In der französischen Hauptstadt verabredeten sich im August 1979 Hofmann, Lotze, Mohnhaupt und Wagner1485 mit einer Kontaktperson der BR, welche die RAF – so Lotze – zu „neue[n] Strukturen, nämlich Parteistrukturen“1486 drängte. Da sie einen solchen Aufbau als zwingende Vorbedingung einer Kooperation postuliert haben soll, sei ein Sich‑Annä­ hern ausgeblieben.1487 Auftrieb erhielten daneben die Verbindungen zur „Bewegung 2. Juni“, mit der die „Rote Armee Fraktion“ zuvor nicht nur monetäre Mittel, sondern auch Waffen ausgetauscht hatte. So soll die B2J-Aktivistin Inge Viett der RAF Ende 1978 eine Maschinenpistole über­ reicht haben; als Gegenleistung sei ihr eine Faustfeuerwaffe ausgehändigt worden. Offenbar ab Sommer 1979 wogen die beiden Gruppen eine Verei­ nigung ab.1488 Neben personellen Veränderungen prägten in diesem Zeitraum das fi­ nanzielle Absichern sowie das Fortführen der neu definierten strategischen Linie die Handlungen der Zweiten Generation. Klärung erforderte die Beziehung des Zirkels zu dem im Südjemen weilenden Mitglied Peter-Jür­ gen Boock,1489 dem die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ mehrfach das Angebot ausgesprochen haben soll, in ihren Reihen aktiv zu werden.1490 Boock habe der PFLP indes zu verstehen gegeben, „dass […] [er] immer nur ein Fremder sein werde, und dass das [die politische Agenda der Palästinenser] nie […] [sein] Kampf sein kann“1491. Klar, Mohnhaupt und Schulz suchten ihn im Nahen Osten auf und sollen vor Ort in Diskussionen seine Haltung gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ ermittelt haben.1492 Boock „habe geredet, wie man es erwartet hat.“1493 Schließlich hätten Klar, Mohnhaupt und Schulz für seine Wiederaufnah­ me in die RAF votiert. Zu den Gründen dieser Entscheidung existieren unterschiedliche Lesarten. Unter den „Illegalen“ habe eine Position zirku­ liert, die das Zurücklassen Boocks im Südjemen als unbefriedigende, vor­

1485 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492 1493

Vgl. Wunschik 1997, S. 387; Peters 2008, S. 499. Werner Lotze, zit. n. Peters 2008, S. 499. Vgl. Wunschik 1997, S. 387-388. Vgl. Peters 2008, S. 513. Vgl. Wunschik 1997, S. 316. Vgl. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 32. Ebd. Vgl. Wunschik 1997, S. 316-317. Boock/Sternsdorff 1981, S. 117.

307

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

übergehende Lösung empfand.1494 Boock selber beschrieb 1981 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ seine handwerkli­ chen Fertigkeiten als ausschlaggebend. Die „Rote Armee Fraktion“ habe nur auf wenige Personen zurückgreifen können, „die sich überhaupt und ganz allgemein in technischen Dingen auskannten.“1495 Um das vor allem bei dem gescheiterten Anschlag auf Alexander Haig deutlich gewordene Defizit zu beseitigen, sei die RAF gewillt gewesen, ihn zu reintegrieren. Er verließ den Südjemen und fügte sich in die Strukturen der Gruppe in Westeuropa ein.1496 An seine frühere Stellung konnte er allerdings nicht anknüpfen. Er hatte „den Status mehr eines Gefangenen […] als eines [sic], der sich irgendwie aktiv beteiligen durfte“1497. Weiteren Aufwuchs verzeichnete die „Rote Armee Fraktion“ durch den Anschluss Wolfgang Beers und Helmut Pohls.1498 Beide hatten der „Gruppe 4.2.“ angehört. Wolfgang Beer – der Bruder Henning Beers – war im August 1978 aus der Haft entlassen worden.1499 Pohl kam im September 1979 frei.1500 Die RAF zog mehrere Aktionen in Betracht, darunter das Entführen ei­ nes Unternehmers. Informationen zu potentiellen Opfern sammelte Lotze in einem Pariser Handelsbüro. Als geeignetere Form der Geldbeschaffung schien den Aktivisten jedoch schlussendlich ein Raubüberfall auf eine Bank. In der Schweiz erkundeten Hofmann und Lotze passende Objekte und wurden in Zürich fündig.1501 Lotze verwickelte sich währenddessen in Streitigkeiten, die eine innere Abkehr von der Gruppe bewirkten.1502 Am 19. November 1979 betraten Henning Beer, Peter-Jürgen Boock, Christian Klar und Rolf Clemens Wagner eine Filiale der Schweizerischen Volks­ bank am Hauptbahnhof in Zürich,1503 in der sie sich mehr als 540 000 Schweizer Franken aushändigen ließen. Auf der Flucht fügten sie in einem Feuergefecht einer Passantin tödliche Verletzungen zu; einer weiteren unbeteiligten Frau schoss Klar aus kurzer Distanz in die Brust. Wagner konnte die Polizei mit mehr als der Hälfte der erbeuteten Summe festneh­ men. Etwa 210 000 Schweizer Franken verblieben im Besitz der „Roten Ar­

1494 1495 1496 1497 1498 1499 1500 1501 1502 1503

308

Vgl. Wunschik 1997, S. 316. Boock/Sternsdorff 1981, S. 117. Vgl. ebd. Ebd., S. 118. Vgl. Peters 2008, S. 508. Vgl. Wunschik 1997, S. 227. Vgl. Peters 2008, S. 508. Vgl. auch Wunschik 1997, S. 187. Vgl. Wunschik 1997, S. 317-318. Vgl. Winkler 2008, S. 369. Vgl. Wunschik 1997, S. 318.

5.2 Aktionsphase

mee Fraktion“.1504 Zu diesem Zeitpunkt bestand – angeblich – bereits die Bereitschaft, den US‑amerikanischen Stützpunkt bei Ramstein sowie Frederick Kroesen anzugreifen, dem das Oberkommando über die ameri­ kanischen Streitkräfte in Europa oblag. Wagner hatte im August 1979 die Luftwaffenbasis bei einer Jubiläumsfeier der NATO ausgespäht. Ab dem Frühjahr 1980 schufen die Mitglieder der RAF die Grundlagen für ein Attentat auf Kroesen.1505 Verzichten mussten sie dabei auf Peter-Jürgen Boock, der sich – eigenen Aussagen zufolge – im Januar 1980 äußerlich von dem Zirkel löste. Ihm war zuvor „der Kragen geplatzt“1506: Offen habe er nicht näher benannte Bedenken angesprochen. Er wurde – angeblich – entwaffnet und von der Gruppe in Paris unter Arrest gestellt. Nachdem ihm Mitte/Ende Januar 1980 der Ausbruch gelungen wäre,1507 soll er in Hamburg Obdach gefunden haben.1508 Am 22. Januar 1981 verhaftete ihn die Polizei.1509 In dieser Phase zerfiel langsam die „Bewegung 2. Juni“, mit der die Zweite Generation in einem Dialog stand. Juliane Plambeck, Angehörige der B2J, wechselte zur RAF. Nach der Verhaftung Sieglinde Hofmanns sowie der zur „Bewegung 2. Juni“ oder ihrem Umfeld zählenden Ingrid Barabaß, Karin Kamp-Münnichow, Carola Magg und Regina Nicolai am 5. Mai 1980 in Paris rang sich auch Inge Viett zu einem Eintritt in die „Rote Armee Fraktion“ durch. Die ebenfalls zur B2J zählenden Häftlinge Angelika Goder, Gabriele Rollnik und Gudrun Stürmer machten im Ju­ ni 1980 während ihres Gerichtsverfahrens die Auflösung der „Bewegung 2. Juni“ und deren Verschmelzen mit der RAF öffentlich.1510 Plambeck und Viett sollen der „Roten Armee Fraktion“ einen Teil des Lösegelds überlassen haben, das die B2J 1977 mit der Entführung des Industriellen Walter Palmers erlangt hatte.1511 Plambeck beteiligte sich an den Vorkehrungen für den Anschlag auf Kroesen. In Heidelberg, dem Einsatzort des Generals, baute sie im Juni 1980 eine konspirative Wohnung auf. Andere Aktivisten stahlen in Frank­ reich Fahrzeuge. Wenig später setzte das Beobachten Kroesens ein, mit dem vor allem seine Bewegungen nachgehalten werden sollten. Im Zuge 1504 1505 1506 1507 1508 1509 1510 1511

Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 103-104; Peters 2008, S. 502-505. Vgl. Peters 2008, S. 509. Boock/Sternsdorff 1981, S. 118. Vgl. ebd., S. 118-120. Vgl. Winkler 2008, S. 380. Vgl. Der Spiegel 1981a, S. 111. Vgl. Viett 2007, S. 215-217; Winkler 2008, S. 374; Dietrich 2009, S. 85-86. Vgl. Viett 2007, S. 218-220.

309

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

dessen wurde die Inbesitznahme eines zusätzlichen Kraftwagens beschlos­ sen. Während der Nacht zum 25. Juli 1980 entwendeten Henning und Wolfgang Beer, Juliane Plambeck und Adelheid Schulz im baden-würt­ tembergischen Flein ein Fahrzeug. Auf dem Rückweg stießen Wolfgang Beer und Plambeck bei Bietigheim-Bissingen mit einem Lastwagen zusam­ men. Beide verstarben am Unglücksort.1512 In einer Erklärung machte die RAF anschließend auf die Beiträge aufmerksam, welche Wolfgang Beer und Plambeck im „bewaffneten Kampf“ geleistet hatten. Plambeck wurde für ihre Rolle beim Überwinden der Differenzen zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ sowie im Prozess ihrer Zusammenlegung mit Lob bedacht: „Juliane wollte, dass die Guerilla in der BRD zusammenkommt, da­ rüber sind wir mit ihr zusammengekommen. Sie war diejenige, durch deren Offenheit und politische Radikalität der Mist, der im Weg lag, beiseite geräumt werden konnte. Die Entschiedenheit und ihre Lust, den neuen Abschnitt anzupacken, waren stark für uns.“1513 Das Attentat auf Kroesen trat zusehends hinter eine Herausforderung zu­ rück, der sich die „Aktiven“ bereits von Ende 1979 an gegenübersahen. Ähnlich wie Boock waren „Illegale“ der RAF innerlich auf Distanz zur Gruppe gegangen. Zu diesem Personenkreis zählten inzwischen Susanne Albrecht, Christine Dümlein, Baptist Ralf Friedrich, Monika Helbing, Werner Lotze, Silke Maier‑Witt, Ekkehard von Seckendorff‑Gudent und Sigrid Sternebeck.1514 Ihre Abkehr fußte offenbar auf unterschiedlichen Motiven. Friedrich gab 1990 in einem Interview mit dem Nachrichtenma­ gazin „Der Spiegel“ ein im Untergrund zunehmendes Gefühl der Angst als Ursache seines Lossagens an.1515 Er sei „einfach nicht mehr in der Lage [gewesen], diese Art lebensgefährlichen politischen Kampf zu führen.“1516 Sternebeck dagegen habe sich mit dem – vermeintlichen – Widerstand der „Roten Armee Fraktion“ nicht mehr identifizieren können. In einem Rückblick sei sie zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Gewalt des Zirkels „nur zerstört, nichts Positives bewirkt“1517 hatte. Im Gegensatz zu Boock hatten sich die acht Aktivisten nicht abgesetzt, sondern die Verbin­

1512 1513 1514 1515 1516 1517

310

Vgl. Peters 2008, S. 509-510. ID-Verlag 1997, S. 285. Vgl. Rabert 1995, S. 226; Wunschik 2006a, S. 484-485. Vgl. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57. Ebd. Sternebeck 1990, S. 64.

5.2 Aktionsphase

dungen zum Zirkel aufrechterhalten.1518 „Niemand wollte den demütigen Weg des Verrats gehen“1519, so Viett. Die an der Agenda der RAF festhal­ tenden „Illegalen“ sollen es als Pflicht begriffen haben, den Aussteigern einen vertretbaren Ausweg anzubieten.1520 Die „Aktiven“ hätten sie als „Fehler“1521 gewertet, für die Verantwortung übernommen werden müsse. Wie Friedrich nahelegte, resultierte diese Haltung aus der Absicht, einen „Klotz am Bein“1522 zu beseitigen und damit die eigene Aktionsfähigkeit sicherzustellen. Notwendig wurde sie laut Sternebeck zudem unter dem Gesichtspunkt der Eigensicherung, bildeten die Aussteiger doch ein „mög­ liches Risiko“1523. Die Lösung der „Aktiven“ soll vorgesehen haben, sie in einem Staat außerhalb Europas unterzubringen. In die engere Auswahl wären Mosam­ bik und Guinea-Bissau genommen worden, auch Angola habe zur Debatte gestanden. Angeblich machten sich die Aussteiger bereits mit der Sprache der Länder vertraut.1524 Die Ausreise in eine ehemalige portugiesische Kolonie sei allerdings alsbald in weite Ferne gerückt, weil „die Pässe, mit denen die acht Leute reisen sollten, in den unübersichtlichen internationa­ len Beziehungskanälen verlorengegangen und die Kontakte abgestürzt“1525 waren. Viett habe daher auf ihre im Jahre 1978 aufgebauten Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit zurückgegriffen. Einen Mitarbeiter des Geheimdienstes soll sie im Sommer 1980 in Ostberlin gebeten haben, der RAF Unterstützung zu leisten. Aus den Reihen des MfS sei ihr der Rat zugegangen, den Aussteigern nicht ein Leben in Afrika zu erlauben. Diese Empfehlung wäre mit einer hohen Entdeckungsgefahr gerechtfertigt wor­ den. Als Gegenvorschlag wurde laut Viett die Aufnahme in der Deutschen Demokratischen Republik unterbreitet. Sie selbst sei von diesem Angebot überrascht worden, habe es allerdings stellvertretend für die Gruppe ange­ nommen.1526 Im August und September 1980 kamen die Planungen der „Aktiven“ zur Ausführung: Den Aussteigern sollen sie Ausweispapiere sowie Bargeld zur Verfügung gestellt haben. Außerdem sei ihnen die Anweisung gegeben

1518 1519 1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526

Vgl. Winkler 2008, S. 381. Viett 2007, S. 220-221. Vgl. ebd., S. 220. Ebd. Ähnlich Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 182. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57. Sternebeck 1990, S. 64. Vgl. ebd.; Viett 2007, S. 220-221. Viett 2007, S. 221. Vgl. ebd., S. 221-224. Vgl. auch Aust 2020, S. 959-960.

311

5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

worden, nach Prag zu reisen.1527 Zunächst trafen Baptist Ralf Friedrich und Sigrid Sternebeck in der tschechoslowakischen Hauptstadt ein. Ihnen folgten nach und nach Albrecht, Dümlein, Helbing, Lotze, Maier-Witt und von Seckendorff-Gudent.1528 Von Inge Viett erfuhren sie ihre Unter­ bringung in der DDR, die sie schließlich über Ostberlin erreichten.1529 Wer Peters folgt, erkennt das Bestreben der in der „Roten Armee Fraktion“ verbleibenden „Illegalen“, sich Ende 1980 in den Südjemen zurückzuzie­ hen. Begleitet wurden sie von Ingrid Jakobsmeier, die sich dem Zirkel vor kurzem angeschlossen hatte. Im Nahen Osten durchliefen die Aktivisten Trainingseinheiten, in denen sie unter anderem den Umgang mit Schuss­ waffen übten. Im März 1981 kehrten sie nach Westeuropa zurück.1530 Wohl in der Zeit danach wurde der RAF auch eine Ausbildung in der Deutschen Demokratischen Republik zuteil.1531 Vorausgegangen sein soll dem die Anfrage der Gruppe, „ob das MfS bereit wäre, sie finanziell und materiell zu unterstützen.“1532 Nahe der Stadt Briesen schulten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit Mitglieder der „Roten Armee Frakti­ on“ im Bedienen von Feuerwaffen, Panzerfäusten und Zündmechanismen für Sprengsätze.1533 Diese Hilfestellung war Ausfluss einer Kooperation, die bis 1984 anhalten sollte. Mehrmals im Jahr wären Treffen zwischen dem MfS und der RAF anberaumt worden,1534 in denen beide Akteure nicht zuletzt Informationen austauschten. Der ostdeutsche Geheimdienst habe unter anderem Einblicke in den Kenntnisstand westdeutscher Be­ hörden zur „Roten Armee Fraktion“ offeriert und mögliche nachrichten­ dienstliche Verbindungen einer Person im RAF-Umfeld aufgeklärt. Von den „Illegalen“ seien der Behörde Papiere überreicht worden, welche ihre Unterstützer zu einer Einrichtung der US‑Armee in Westdeutschland zu­ sammengetragen hatten. 1535 Die „Rote Armee Fraktion“ brach – angeblich

1527 Vgl. Sternebeck 1990, S. 64. 1528 Vgl. Wunschik 1993, S. 182; Peters 2008, S. 556-557; Schroeder/Deutz-Schroe­ der 2015, S. 117. 1529 Vgl. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57-59; Sternebeck 1990, S. 64; Viett 2007, S. 227; Peters 2008, S. 557. 1530 Vgl. Peters 2008, S. 519. 1531 Vgl. Viett 2007, S. 230-231, 1532 Ebd., S. 230. 1533 Vgl. Rabert 1995, S. 228; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 117. 1534 Vgl. Winkler 2008, S. 389. 1535 Vgl. Wunschik 1997, S. 396.

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5.2 Aktionsphase

– im Frühjahr 1984 den Austausch mit dem MfS ob wachsender politi­ scher Differenzen ab.1536 Während die Inhaftierten der RAF sich nach Differenzen im Sommer 19801537 auf einen achten Hungerstreik einigten, den sie ab dem 2. Febru­ ar 19811538 unter der Forderung nach einem Zusammenlegen1539 von „Ge­ fangenen“ ausführten und nach dem Tod des Häftlings Sigurd Debus am 16. April 19811540 abbrachen, konzentrierten sich die „Aktiven“ auf ihre antiimperialistische Linie. Stützen konnten sie sich auf ein linksextremis­ tisches Umfeld, das sich Ende der 1970er Jahre im Wesentlichen aus „An­ tifa‑Gruppen“ zusammengesetzt hatte1541 und das der Verfassungsschutz nunmehr als „legaler RAF‑Bereich“1542 charakterisierte. Diese Ebene dien­ te dem Zirkel als Rekrutierungsbasis und Sprachrohr; darüber hinaus nahm sie wichtige Funktionen in der logistischen Absicherung der „Roten Armee Fraktion“ wahr.1543 In Heidelberg und Offenbach bereiteten die vermutlich im März 1981 um Gisela Dutzi1544 verstärkten „Aktiven“ den Weg für die Anschläge auf den US‑amerikanischen Stützpunkt bei Ramstein und den General Frederick Kroesen. Noch vor den Gewalttaten signalisierte Henning Beer seine Intention, den „bewaffneten Kampf“ ebenfalls aufgeben zu wollen. Augenscheinlich waren auch in ihm mehr und mehr Zweifel am Ergeb­ nis erwachsen, das die RAF mit ihrer Agenda erreichte. Die „Illegalen“ boten Beer Zuflucht in einer konspirativen Wohnung in Belgien.1545 Ab 1982 baute er sich eine neue Existenz in der Deutschen Demokratischen Republik auf.1546 Einem weiteren personellen Verlust entging die Gruppe am 4. August 1981 nur knapp: Die Aktivistin Inge Viett, der in diesem Zeitraum logistische Aufgaben oblegen haben sollen,1547 war in Paris Poli­ zisten aufgefallen, weil sie ohne Sturzhelm ein Motorrad fuhr. Der drohen­ den Festnahme hatte sie sich mit Schusswaffeneinsatz widersetzt, der einen

1536 1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543 1544 1545 1546 1547

Vgl. Peters 2008, S. 581; Schulz 2017. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 107-108. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 122; Horchem 1986, S. 5. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 286. Vgl. Winkler 2008, S. 377. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 111. Bundesministerium des Innern 1982, S. 125. Vgl. ebd., S. 122, 125. Vgl. Der Spiegel 1981e, S. 31. Vgl. Peters 2008, S. 520-521. Vgl. Rabert 1995, S. 226; Wunschik 2006a, S. 485. Vgl. Viett 2007, S. 238.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

der sie verfolgenden Beamten schwer verletzte.1548 Wenige Wochen später – am 31. August 1981 – ließen Ingrid Jakobsmeier und Helmut Pohl eine Autobombe detonieren, die das Hauptquartier der US-amerikanischen und NATO‑Luftstreitkräfte bei Ramstein traf. 17 Personen zogen sich Verletzungen zu.1549 In einem Papier tat das verantwortliche „Kommando Sigurd Debus“ der „Roten Armee Fraktion“ die – vermeintliche – Not­ wendigkeit kund, „für die Zerstörung des imperialistischen Systems [zu] kämpfen“1550. Ferner müsse sich der „Widerstand […] zur Front für die Revolution in Europa entwickeln.“1551 In vergleichbarem Tenor abgefasst war die Erklärung der RAF nach dem Angriff auf Frederick Kroesen. Auf seinen gepanzerten Wagen hatte der Zirkel am 15. September 1981 zwei Schüsse aus einer sowjetischen Panzerabwehrwaffe abgegeben. Die erste Granate hatte das Fahrzeug durchschlagen, die zweite das Ziel ver­ fehlt. Sämtliche Insassen überlebten das Attentat.1552 Das „Kommando Gudrun Ensslin“ proklamierte am selben Tag, die westeuropäischen Staa­ ten seien „nicht mehr Hinterland, von dem aus der Imperialismus Krieg führt“1553. Vielmehr wären sie „Teil der weltweiten Front geworden.“1554 Der propagierte Antiimperialismus fußte innerhalb der RAF nicht auf uneingeschränktem Zuspruch. Das ehemalige B2J-Mitglied Inge Viett, das „[i]n allen Diskussionen um dieses Konzept […] in tiefes Schweigen“1555 verfallen wäre, habe die Aktionen gegen die US-Basis und den General zwar grundsätzlich befürwortet, deren „revolutionäres“ Potential aber in Frage gestellt.1556 Nach dem Zusammenstoß mit der französischen Polizei im August 1981 fand sie eigenen Aussagen zufolge Unterschlupf in einem palästinensischen Ausbildungslager im Südjemen, wo sie sich mehrere Monate aufhalten und mit dem Gedanken eines Ausstiegs befassen soll­ te.1557 Unterdessen erkannten die „Illegalen“ die Notwendigkeit, die in den Tatbekenntnissen der vergangenen Jahre angedeutete strategische Zä­ sur stärker theoretisch zu legitimieren. Erstmals nach 1972 erarbeitete die

1548 1549 1550 1551 1552 1553 1554 1555 1556 1557

Vgl. Wunschik 1997, S. 331. Vgl. Winkler 2008, S. 378. ID-Verlag 1997, S. 289. Ebd. Vgl. Peters 2008, S. 523-525. ID-Verlag 1997, S. 290. Ebd. Viett 2007, S. 236. Vgl. ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 243, 245.

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5.2 Aktionsphase

RAF unter anderem in der DDR1558 eine Grundsatzerklärung, datiert auf Mai 1982. Bekanntheit erlangte das „Mai-Papier“ „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ spätestens durch „Die Tageszeitung“. Die­ se druckte das Traktat in ihrer Ausgabe vom 2. Juli 1982 ab.1559 Gegenstand des Pamphlets war im Kern der Aufbau einer „revolutionä­ re[n] Front im [imperialistischen] Zentrum als […] Abschnitt neben den Kämpfen in Asien, Afrika, Lateinamerika“1560. Unter „imperialistischem Zentrum“ verstand die „Rote Armee Fraktion“ die „BRD und Westeuro­ pa.“1561 Als essentieller Schritt in der Schaffung einer „Front“ erschien den Autoren die Verbindung linksterroristischer Gewalt „mit militanten Angriffen, mit den Kämpfen aus der ganzen Breite der Erdrückung und Entfremdung und mit dem politischen Kampf um die Vermittlung ihres Prozesses“1562. Neben der „Stadtguerilla“ sollte somit ein „Widerstand“1563 erwachsen, der nicht den „‚legalen Arm der RAF‘“1564 darstellt, sondern an der von den „Illegalen“ avisierten „Front“ mit „Selbstbestimmung und volle[r] Verantwortlichkeit“1565 mitwirkt. Resonanz fanden diese Planun­ gen insbesondere in dem etwa 200 Aktivisten umfassenden engeren Um­ feld der „Roten Armee Fraktion“, das mittlerweile unter verschiedenen Selbstbezeichnungen, wie zum Beispiel „legale Militante“ und „legale An­ tiimperialisten“, firmierte.1566 Bedeutung maß diese Peripherie 1982 vor allem der Beteiligung an Vorhaben anderer linksextremistischer Akteure sowie der Organisation „regionale[r] und überregionale[r] Diskussionsver­ anstaltungen“1567 zu. Beides erfolgte mit dem Ziel, Gewalthandlungen abzustimmen beziehungsweise weitere Kräfte in die „Front“ der RAF ein­ zugliedern.1568 Offenbar unternahm die „Rote Armee Fraktion“ zu diesem Zeitpunkt auch den Versuch, erneut eine Annäherung im deutschen Linksterroris­ mus herbeizuführen. Adressat war laut Angaben des Nachrichtenmaga­ zins „Der Spiegel“ ein Netzwerk, welches nach der Auflösung der „Bewe­

1558 1559 1560 1561 1562 1563 1564 1565 1566 1567 1568

Vgl. Straßner 2006, S. 492; Winkler 2008, S. 391. Vgl. Peters 2008, S. 528. ID-Verlag 1997, S. 293. Ebd. Ebd., S. 294. Ebd., S. 291. Ebd., S. 298. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 101, 105. Ebd., S. 106. Vgl. ebd.

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gung 2. Juni“ im Jahre 1980 neben der RAF als nennenswerter Akteur der „Stadtguerilla“ zurückblieb: die „Revolutionären Zellen“. Eine Kooperati­ on hätten die RZ indes abgelehnt, da sie die Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ als veraltet bewerteten.1569 So sollen Mitglieder der „Revolutio­ nären Zellen“ mit Blick auf die RAF von „Opas Guerilla“1570 gesprochen haben. Diese Haltung belastete das Verhältnis zwischen Mitgliedern der Zweiten Generation und den RZ nachhaltig. So verstieg sich Christian Klar später zu dem Vorwurf, die politische Analyse der „Revolutionären Zellen“ sei defizitär und ihr Gewaltverständnis „eben die defensivste Li­ nie“1571. Vermutlich in der ersten Hälfte des Jahres 1982 flog Inge Viett nach Westeuropa zurück. Unübersehbar wirkte ihr die Perspektivlosigkeit des „bewaffneten Kampfes“, der „selbst in der Linken nur noch marginalisier­ te Bereiche“1572 angesprochen habe. Bei einem Gespräch der RAF mit dem Ministerium für Staatssicherheit im Spätsommer 19821573 in Ostber­ lin offenbarte sie angeblich ihre Entscheidung, in der Deutschen Demo­ kratischen Republik einen Neuanfang wagen zu wollen.1574 Unmittelbar danach bezog sie eine Unterkunft des MfS im Ostberliner Stadtteil Mar­ zahn.1575 Mit ihrem Ausstieg verließ das letzte Mitglied die „Rote Armee Fraktion“, das sich in der Phase nach der „Offensive `77“ zunehmend in einem inneren Konflikt mit der politischen Ausrichtung des Zirkels gesehen hatte. Damit löste sich eine der wesentlichen Herausforderungen auf, welche die „Illegalen“ beanspruchten. Ihr Augenmerk richteten sie in dieser Lage auf ihre finanzielle Absicherung: Am 15. September 1982 erbeuteten Christian Klar und drei weitere Aktivisten in einer Vertretung der Sparkasse in Bochum mehr als 110 000 DM.1576 Rund 54 000 DM platzierten die „Aktiven“ in einem Erddepot, von denen sie mehrere im gesamten Gebiet Westdeutschlands angelegt hatten.1577 Im Herbst 1982 bot sich den deutschen Sicherheitsbehörden überra­ schend die Gelegenheit, die Logistik des Zirkels zu enttarnen. Ende Okto­

1569 1570 1571 1572 1573 1574 1575 1576

Vgl. Der Spiegel 1982b, S. 133. Mitglieder der Revolutionären Zellen, zit. n. ebd. Christian Klar, zit. n. Der Spiegel 1984a, S. 75. Viett 2007, S. 246. Vgl. Wunschik 1997, S. 331. Vgl. Viett 2007, S. 249-250. Vgl. Peters 2008, S. 566. Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 100; Kahl 1986, S. 131; Horchem 1988, S. 143. 1577 Vgl. Der Spiegel 1982b, S. 130-133; Horchem 1988, S. 143-144.

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ber 1982 wurde ein Versteck der „Roten Armee Fraktion“ in der Nähe der hessischen Stadt Heusenstamm bekannt. Pilzsammler sollen das im Erd­ reich vergrabene Lager entdeckt haben.1578 Aus dem Depot entnahm das Bundeskriminalamt unter anderem kryptische Aufzeichnungen zu weite­ ren Verstecken der RAF, die sukzessive dekodiert werden konnten. Ins­ gesamt ermittelte die Polizei zu elf Lagern den Standort.1579 Sie entdeck­ te mehrere Schusswaffen, Munition, Explosivmittel, hunderte gefälschte Identitätsdokumente, Fahrzeugpapiere und -kennzeichen, Bargeld sowie Materialien zu Persönlichkeiten der Politik, Mitarbeitern deutscher Sicher­ heitsbehörden, Haftanstalten, Polizeidienststellen und zu israelischen und US-amerikanischen Objekten.1580 Die aufgefundenen Depots beobachteten die Behörden, was am 11. November 1982 in der Verhaftung Brigitte Mohnhaupts und Adelheid Schulz‘ mündete. An einem Lager im Sach­ senwald in Schleswig‑Holstein ergriffen Polizeibeamte am 16. November 1982 Christian Klar.1581 Die Funde in den Depots der „Roten Armee Fraktion“ machten er­ sichtlich, dass zwischen den Inhaftierten und „Illegalen“ weiterhin Kom­ munikationskanäle existierten. Anders als in den 1970er Jahren entstand jedoch nicht das Bild eines aus den Haftanstalten gesteuerten terroristi­ schen Personenzusammenschlusses. „Aktive“ wie „Gefangene“ waren zu­ mindest Anfang der 1980er Jahre gleichermaßen bestrebt, die Aktivitäten der jeweils anderen Gruppe zu beeinflussen. So trieben die „Illegalen“ das Vorhaben voran, die in den Gefängnissen bestehenden Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ zu zentralisieren. Ein kleiner Kreis aus Häftlingen sollte Nachrichten der Außenwelt entgegennehmen und den Versand von Antworten steuern. Die Inhaftierten reklamierten ihrerseits das Recht, an den Aktivitäten außerhalb der Justizvollzugsanstalten teilzuhaben. Letztes beförderte Reibungsverluste.1582 Vermutlich an Rolf Heissler hatten die „Aktiven“ einen Brief adressiert, in dem sie sich gegen ein Mitgestalten des „bewaffneten Kampfes“ durch die Inhaftieren wehrten: „wir glauben, dass du nicht ticken willst, dass euer kampf drinnen und wir draußen notwendigerweise eine große unabhängigkeit braucht [sic] sich als einheit zu begreifen. […] statt sich voll dafür reinzu­

1578 Vgl. Winkler 2008, S. 391. 1579 Vgl. Peters 2008, S. 531. 1580 Vgl. Der Spiegel 1982b, S. 130; Bundesministerium des Innern 1983, S. 101; Horchem 1988, S. 143-144. 1581 Vgl. Wunschik 2006a, S. 485; Peters 2008, S. 532-534; Winkler 2008, S. 392. 1582 Vgl. Kahl 1986, S. 132-133.

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hängen, dass die front drinnen steht, willst du hier draußen rumfin­ gern.“1583 Eine Schnittstelle im Austausch der „Gefangenen“ und der „Illegalen“ nahm erkennbar das engere Umfeld der RAF ein,1584 das den Häftlingen und den Mitgliedern im Untergrund mitunter Bericht erstattete zu Ereig­ nissen und politischen Konflikten. Zum Einsatz kamen dabei nicht nur versteckte Ablagen (sogenannte tote Briefkästen), sondern auch die Kanz­ leien von Rechtsanwälten, welche die Häftlinge vertraten.1585 5.2.4 „Drei-Phasen-Konzept“, „Illegale Militante“, Zusammenarbeit mit „Action Directe“, Ermordung Edward Pimentals (1983 bis 1986) An die Exekutivmaßnahmen Ende 1982 schloss sich im März 1983 die Festnahme Gisela Dutzis an.1586 Gegen Dutzi, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz eröffnete die Justiz zwischen Oktober 1983 und Mai 1984 nach und nach Gerichtsverfahren.1587 Die sicherheitsbehördlichen Erfolge brachten die Gewalthandlungen der RAF vorübergehend zum Erliegen. In der Illegalität stützte sich die Gruppe ausschließlich auf einen Personenkreis um Helmut Pohl und Ingrid Ja­ kobsmeier, der 1983 nicht in Erscheinung trat. Die „Aktiven“ legten den Schwerpunkt zunächst auf den personellen Wiederaufbau. Mit Christa Eckes nahmen sie ein weiteres ehemaliges Mitglied der „Gruppe 4.2.“ auf. Sie soll Anfang 1981 aus der Haft entlassen worden sein und habe sich in den Jahren danach in der Häftlingshilfe engagiert.1588 Darüber hinaus rückten Unterstützer aus dem engeren Umfeld in die „illegale“ Ebene der „Roten Armee Fraktion“ auf. Allein im Laufe des Jahres 1984 soll die RAF mehr als zehn solcher Neuzugänge verzeichnet haben,1589 darunter Wolfgang Grams, Eva Haule‑Frimpong und Birgit Hogefeld.1590 Finanzielle Mittel erlangte sie durch einen Banküberfall Ende März 1984 in Würzburg, bei dem sie mehr als 170 000 DM in ihren Besitz bringen

1583 1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590

Illegale der Roten Armee Fraktion, zit. n. ebd., S. 133. Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 108. Vgl. Kahl 1986, S. 133-135. Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 106. Vgl. Der Spiegel 1984a, S. 72; Bundesministerium des Innern 1985, S. 121. Vgl. Lettow 2012. Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 117. Vgl. Straßner 2003, S. 97, 100-101

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konnte.1591 Durch die Verhaftung des RAF-Mitglieds Manuela Happe am 22. Juni 1984 zeigte sich das Interesse der Gruppe an dem Richter, der dem Strafprozess gegen Klar und Mohnhaupt vorsaß.1592 Weitergehende Einblicke in bevorstehende Aktionen der „Roten Armee Fraktion“ bot den Sicherheitsbehörden die Entdeckung eines von dem Zir­ kel genutzten konspirativen Unterschlupfs in Frankfurt am Main. Nach­ dem sich dort am 2. Juli 1984 versehentlich ein Schuss aus einer Waffe gelöst hatte, drangen Polizeibeamte in die Wohnung ein. Sie arretierten Christa Eckes, Barbara Ernst, Stefan Frey, Ingrid Jakobsmeier, Helmut Pohl und Ernst-Volker Staub.1593 Beschlagnahmt wurden sechs Pistolen, mehr als 250 Schuss Munition, Ausweisdokumente, Bargeld verschiedener Währungen im Wert von 20 000 DM sowie große Mengen an Unterla­ gen.1594 In den Aufzeichnungen fanden sich „Tausende von möglichen Anschlagzielen, sortiert nach Themen, Personen und Städten.“1595 Ferner umfassten sie eine mit dem Datum 22. April 1984 versehene Erklärung, die nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden das Umsetzen der 1982 im „Mai-Papier“ ausgegebenen strategischen Prämisse skizzierte.1596 Kon­ stituieren sollte sich die „antiimperialistische Front“ demnach durch An­ griffe der „Illegalen“ auf staatliche Ziele, die um Gewalttaten ihres Umfel­ des und eine Nahrungsverweigerung der RAF-„Gefangenen“ ergänzt wer­ den.1597 Zum entscheidenden Element erhob die „Rote Armee Fraktion“ somit den „GEMEINSAME[N] KAMPF: GUERILLA – WIDERSTAND – GEFANGENE“1598. Die in drei Phasen untergliederte Kampagne war augenscheinlich bereits mit den Häftlingen abgestimmt worden und sollte ab Herbst 1984 realisiert werden.1599 Als Höhepunkt sah die „Rote Armee Fraktion“ das Ermorden von „Repräsentanten der Repression“1600 vor. Die Festnahmen vom 2. Juli 1984 brachten einen historischen Ein­ schnitt mit sich. Pohl und Jakobsmeier waren die letzten „Aktiven“ der

1591 1592 1593 1594 1595 1596 1597 1598

Vgl. Peters 2008, S. 597. Vgl. Winkler 2008, S. 398. Vgl. Wunschik 1997, S. 404. Vgl. Peters 2008, S. 598-599. Der Spiegel 1985a, S. 23. Vgl. Peters 2008, S. 598. Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 113, 117. Rote Armee Fraktion, zit. n. Peters 2008, S. 599. Die Hervorhebungen entspre­ chen dem Original. 1599 Vgl. Horchem 1986, S. 12; Horchem 1987, S. 8; Horchem 1988, S. 147-148, 152. 1600 Rote Armee Fraktion, zit. n. Kahl 1986, S. 162-163.

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RAF, welche die Ausgestaltung der Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre initiierten strategischen Wende mitgetragen hatten. Wie der Zirkel 1992 in einem Papier unumwunden zugab, waren die im Untergrund zurückbleibenden Aktivisten ausnahmslos nach dem Veröffentlichen des Pamphlets „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ zur Gruppe gestoßen: „Die RAF war die ganzen 22 Jahre über immer eine relativ kleine Gruppe. Wir sind in dieser Zeit durch Verhaftungen mehrmals ganz oder fast zerschlagen worden, und es gab aus den Verhältnissen in die­ sem Land und aus den Widerstandsprozessen dagegen immer wieder GenossInnen, die den bewaffneten Kampf für die Umwälzung dieser Verhältnisse aufgegriffen und weitergeführt haben. Auch 1984 war so ein Jahr für uns. Im Sommer wurden sieben GenossInnen verhaf­ tet, und der Staat feierte wieder einmal öffentlich unsere endgültige Zerschlagung. Für uns war es auch tatsächlich so, dass niemand von denen, die in den Jahren vorher die Politik der Guerilla mitentwickelt hatten, übriggeblieben war.“1601 Die 1984 eingetretene personelle Diskontinuität markiert folglich den Übergang von der Zweiten zur Dritten Generation der RAF.1602 Zu tra­ genden Figuren der nach Juli 1984 einsetzenden Restrukturierung gerie­ ten unter anderen Grams, Haule-Frimpong und Hogefeld.1603 Haule-Frim­ pong beteiligte sich1604 am 5. November 1984 an einem Raubüberfall auf einen Waffenhandel im rheinland‑pfälzischen Maxdorf. Die „Rote Armee Fraktion“ eignete sich 24 Kurz- und Langwaffen sowie mehrere Tausend Schuss Munition an.1605 Ende 1984 stellte der Zirkel abermals seine „Planungstreue“1606 unter Beweis. Den Beginn des im Sommer 1984 konzipierten mehrstufigen Vorstoßes läuteten Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt am 4. Dezem­ ber 1984 vor Gericht ein. Ihrem Aufruf folgend, traten die Inhaftierten in ihren neunten Hungerstreik.1607 In einer begleitenden Erklärung ver­ langten sie „die Anwendung der Mindestgarantien der Genfer Konventi­ 1601 1602 1603 1604 1605

ID-Verlag 1997, S. 424. Vgl. Straßner 2003, S. 80-81; Pfahl-Traughber 2014a, S. 160. Vgl. Straßner 2003, S. 97. Vgl. ebd., S. 101. Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 112; Horchem 1988, S. 144; Schulz 2017. 1606 Horchem 1987, S. 8. 1607 Vgl. Kahl 1986, S. 163; Winkler 2008, S. 399.

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on“1608, vor allem aber „die Zusammenlegung aller revolutionären Gefan­ genen in großen Gruppen“1609. Eindringlich betonten die Häftlinge unter der Losung „Einheit des Kampfs in der antiimperialistischen Front“, dem Imperialismus könne nur mit einem „starke[n], selbstbewusste[n] Wider­ stand aus der Illegalität und aus der Legalität“1610 begegnet werden. Sie selbst orientierten sich in ihrem Protest an der Nahrungsverweigerung von Inhaftierten in Nordirland sowie an „türkischen und kurdischen Gefange­ nen“1611. Zwei Wochen später wurde ein Objekt zum Ziel, das die RAF in den Papieren dokumentiert hatte, deren Sicherstellung im Zuge der Verhaftungen Anfang Juli 1984 in Frankfurt am Main gelungen war.1612 Auf dem Gelände der NATO-Schule im bayerischen Oberammergau stellte die Gruppe ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug ab, um „Militärs dort direkt auszuschalten.“1613 Der Anschlag scheiterte, da der Zündmechanis­ mus nicht funktionierte.1614 In einem Anruf bei der „Süddeutschen Zei­ tung“ bekannte sich das „Kommando Jan Raspe“ zu der fehlgeschlagenen Tat.1615 Das Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ flankierte den Hungerstreik der RAF-„Gefangenen“ sowie die Aktivitäten der „Illegalen“ mit einer brei­ ten Spanne an Aktionen, welche vom Aufbringen von Plakaten, der erst­ maligen Herausgabe der Zeitschrift „Zusammen Kämpfen“ im Dezember 1984 über Demonstrationen bis hin zu Sprengstoff- und Brandanschlägen reichte.1616 Bis zum Jahresende verübten Anhänger des Zirkels 17 Anschlä­ ge, die im Zusammenhang mit der Nahrungsverweigerung der Häftlinge standen. Zwischen dem 1. Januar 1985 und dem 5. Februar 1985 kamen weitere 22 Gewalttaten hinzu.1617 Den Abschluss fand die Kampagne der RAF mit dem Mord an einem Funktionsträger, dessen Namen ebenfalls in den Unterlagen der um Helmut Pohl und Ingrid Jakobsmeier entstan­ denen Nachfolgegruppe verzeichnet worden war.1618 Am 1. Februar 1985 verschafften sich zwei Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ Zutritt zu

1608 1609 1610 1611 1612 1613 1614 1615 1616 1617 1618

ID-Verlag 1997, S. 322. Ebd. Ebd., S. 325-326. Ebd., S. 327. Vgl. Peters 2008, S. 599. ID-Verlag 1997, S. 327. Vgl. Horchem 1988, S. 148. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 327. Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 118-119. Vgl. ebd., S. 113. Vgl. Der Spiegel 1985a, S. 23.

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dem Wohnhaus von Ernst Zimmermann, dem Vorstandsvorsitzenden der „Motoren- und Turbinen-Union“ und Präsidenten des „Bundesverbandes der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie“. Sie feu­ erten einen Schuss auf seinen Hinterkopf ab, der tödliche Verletzungen nach sich zog.1619 Das Attentat verbrämte die RAF in einem Selbstbezichti­ gungsschreiben als Angriff auf einen in Westdeutschland – vermeintlich – agierenden „Militärisch-Industriellen-Komplex“1620. Außerdem bekundete sie ihre Verbundenheit mit dem nordirischen republikanischen Terroris­ mus, unterzeichnete sie das Schreiben doch mit dem Namen „Kommando Patsy O’Hara“.1621 O’Hara war Mitglied der „Irish National Liberation Army“ und als solches 1981 während eines Hungerstreiks verstorben.1622 In einem Brief an die Inhaftierten sprachen die „Illegalen“ schließlich die Bitte aus, die Nahrungsverweigerung aufzugeben. Der Hungerstreik habe seinen Zweck erfüllt.1623 Nunmehr liege es an den „Aktiven“ und ihrem Umfeld, den – angeblich – realisierbaren „Sprung zur Einheit der westeuropäischen Guerilla“1624 zu bewältigen, der die Situation der „Ge­ fangenen“ zu verbessern vermöge. Dem Wunsch der „Illegalen“ kamen die Häftlinge am 5. Februar 1985 nach.1625 Mitte Februar 1985 führten sie zum Abbruch des Hungerstreiks aus, dieser sei gewählt worden, um dem Imperialismus das Bekämpfen der – vermeintlich – aufkommenden „Front“ zu erschweren: Nach dem Anschlag auf Zimmermann habe be­ fürchtet werden müssen, dass er die Politik der „Guerilla“ durch das Töten von „Gefangenen“ während der Nahrungsverweigerung zu unterminieren versucht.1626 Während des „Drei-Phasen-Konzept[s]“1627 ließen sich nicht nur koor­ dinierte Handlungen der „Guerilla“ sowie ihrer „Gefangenen“ und Unter­ stützer beobachten. Überdies gestaltete die „Rote Armee Fraktion“ den Gedanken einer Vernetzung des „Widerstands“ in Westeuropa mit einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aus, die auch nach Februar 1985 anhalten sollte. Erste Anzeichen dieser Verflechtung hielt die im Dezem­ ber 1984 erschienene Ausgabe des von RAF‑Unterstützern zusammenge­

1619 1620 1621 1622 1623 1624 1625 1626 1627

Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 78; Peters 2008, S. 605. ID-Verlag 1997, S. 330. Vgl. ebd., S. 331. Vgl. Horchem 1987, S. 8; Horchem 1988, S. 170. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 331. Ebd. Vgl. Horchem 1986, S. 6. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 332. Vgl. auch Zusammen Kämpfen 1985a, S. 13-14. Der Spiegel 1985a, S. 19.

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stellten1628 Periodikums „Zusammen Kämpfen“ bereit. Sie veröffentlichte auf mehr als vier Seiten Beiträge der linksterroristischen Gruppe „Action Directe“ zu einem im Herbst 1984 in französischen Haftanstalten unter­ nommenen Hungerstreik sowie einige Tatbekenntnisse der Gruppe zu Anschlägen, die sich unter anderem gegen Ministerien, die Europäische Raumfahrtbehörde und die Rüstungsfirma „Dassault“ gerichtet hatten.1629 Enthalten war darüber hinaus ein Papier der belgischen „Cellules Commu­ nistes Combattantes“.1630 Die vor der NATO-Schule in Oberammergau entdeckte Autobombe basierte auf Sprengstoff, der im Sommer 1984 aus einem Steinbruch nahe Écaussinnes in Belgien entwendet worden war.1631 An den erbeuteten 800 Kilogramm Explosivmittel hatte sich die „Action Directe“ bereits im August 1984 bei einem versuchten Anschlag auf das Gebäude der Westeuropäischen Union in Paris bedient.1632 Ein weiterer Teil der Sprengladungen fand durch die CCC Verwendung,1633 welche ihrerseits Verbindungen zur AD unterhielten.1634 Mitte Januar 1985 ging der Nachrichtenagentur „Agence France-Presse“ ein Traktat zu, für das die „Rote Armee Fraktion“ und das 1982 entstandene Spaltprodukt1635 „Action Directe international“ die Verantwortung übernahmen.1636 Unter dem Titel „Für die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ rechtfertig­ ten sie ihre Absicht, „die internationale Organisation des proletarischen Kampfes in den Metropolen, ihren politisch-militärischen Kern: westeuro­ päische Guerilla, zu schaffen.“1637 Sechs Tage vor dem Mord an Ernst Zimmermann tötete die ADi nahe Paris den General René Audran, der im französischen Verteidigungsministerium staatliche Waffenverkäufe geneh­ migte.1638 Das „Kommando“ der „Action Directe international“ gab sich den Namen der 1979 verstorbenen RAF‑Terroristin Elisabeth von Dyck. Zudem endete sein in Deutsch und Französisch abgefasstes1639 Selbstbe­ zichtigungsschreiben mit einer Parole, die ebenso die Erklärung „Für die 1628 1629 1630 1631 1632 1633 1634 1635 1636

Vgl. Straßner 2003, S. 86. Vgl. Zusammen Kämpfen 1984, S. 9-13. Vgl. ebd., S. 14-15. Vgl. Gursch 2008, S. 182. Vgl. Kahl 1986, S. 165; Wunschik 1997, S. 404. Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 130. Vgl. Dartnell 1995, S. 85, 88. Vgl. Straßner 2003, S. 300; Daase 2006, S. 927; Gursch 2008, S. 181. Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 120; Dartnell 1995, S. 87; Peters 2008, S. 604; Winkler 2008, S. 400-401. 1637 ID-Verlag 1997, S. 328. 1638 Vgl. Horchem 1986, S. 12; Dartnell 1995, S. 88; Pfahl-Traughber 2014a, S. 163. 1639 Vgl. Peters 2008, S. 605.

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Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ und das Papier der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zu dem Anschlag auf Zimmermann zierte:1640 „Die westeu­ ropäische Guerilla erschüttert das imperialistische Zentrum!“1641 Mit Blick auf die Attentate in Deutschland und Frankreich räumte die RAF in einem im April 1985 in der Zeitschrift „Zusammen Kämpfen“ verbreiteten Inter­ view ein, Absprachen mit der ADi getroffen zu haben: „für AD und uns ging es darum, mit diesen aktionen den motor des imperialistischen europa‑projekts anzugreifen: die achse parisbonn.“1642 Ausdrücklich wehrte sie sich dabei gegen den offenbar in französischen Medien erhobenen Vorwurf, die „Action Directe international“ sei der „Roten Armee Fraktion“ untergeordnet: „die zeitungen und nachrichten waren voll davon. was sie dort ge­ bracht haben [sic] war diese ganze scheiße, dass wir action directe dirigieren, dass es ganz einfach in frankreich keine authentische revo­ lutionäre politik gibt, sondern alles ‚von außen‘ gesteuert. […] die ‚liberation‘ [sic] [französische Tageszeitung] vor allem. da kam es so, dass AD früher eine antifaschistische militante gruppe war, das war ja noch in ordnung, aber jetzt sind sie wie wir, reden wie wir, sind aufgefressen. also: das ende. das ist klar, warum sie’s [sic] so machen: sie wollen’s [sic] von der ebene einer politischen auseinandersetzung wegkriegen.“1643 Angeblich bot die ADi der „Roten Armee Fraktion“ Ende 1984/Anfang 1985 sogar Hilfe bei der Wiederaufnahme von Kontakten zur „Popular Front for the Liberation of Palestine“ an. Sie soll ein Gespräch zwischen der nach ihrer Haft im RAF-Umfeld aktiven ehemaligen B2J-Aktivistin Ingrid Barabaß1644 und dem Sprecher der PFLP am 16. Januar 1985 in Ostberlin vermittelt haben. Drei Tage später betonte das PFLP‑Mitglied in einem Austausch mit der „Tageszeitung“ die solidarische Haltung der Palästinenser gegenüber dem neunten Hungerstreik der RAF-„Gefan­ genen“.1645 Weitreichendere Hilfsleistungen wurden der „Roten Armee Fraktion“ augenscheinlich nicht zuteil. Barabaß arretierte die Polizei im 1640 1641 1642 1643 1644 1645

Vgl. ID-Verlag 1997, S. 330-331. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12-13. Vgl. Der Spiegel 1980c, S. 28. Vgl. Horchem 1988, S. 167-168.

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Sommer 1985 infolge der Enttarnung eines verdeckten Unterschlupfes der Gruppe. Die Justiz sah ihre Mitgliedschaft in der RAF als erwiesen an und verurteilte sie im März 1987 zu einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren.1646 Neben dem Schulterschluss im westeuropäischen Linksterrorismus be­ förderte die „Offensivphase 1984 - 1985“1647 in Deutschland die langfristige Präsenz sogenannter Militanter der RAF, welche mit wechselnden Bezeich­ nungen, wie beispielsweise „Illegale Militante“ oder „Kämpfende Einheit“, auftraten. Sie hielten sich an die von der „Roten Armee Fraktion“ vorgege­ bene ideologische und strategische Linie, wandten sich jedoch – im Gegen­ satz zu den untergetauchten Aktivisten – in der Legalität ausschließlich Gewalthandlungen gegen Objekte zu. So attackierten sie in den Monaten nach dem Anfang Februar 1985 abgebrochenen Hungerstreik Privatunter­ nehmen in Hamburg, das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz sowie eine Versorgungsrohrleitung des Nordatlantikpakts bei Ehringhausen.1648 Die durch die Namenswahl suggerierte organisatorische Trennung zwischen den „Militanten“ und der RAF spiegelte laut Einschät­ zung des Verfassungsschutzes nur bedingt die Realität wider. Die von ihnen verwendeten Sprengkörper beinhalteten zum Teil Explosivstoff der­ selben Provenienz und glichen sich bisweilen im Aufbau. Ferner nahmen beide Ebenen augenscheinlich gemeinsam verdeckte Unterkünfte in An­ spruch.1649 Die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ widmete sich un­ terdessen logistischen Aufgaben sowie Bemühungen zum Fortsetzen der Ende 1984 initiierten Gewaltkampagne. Am 3. Juni 1985 nahm sie einem Geldboten rund 157 000 DM ab, nachdem sie ihm am Hals eine schwere Schussverletzung zugefügt hatte.1650 Während die im Dezember 1984 und abermals im April 19851651 in der „Zusammen Kämpfen“ angedeutete Verbindung zwischen der RAF und den „Cellules Communistes Combat­ tantes“ in diesem Zeitraum offenbar nicht über einen logistischen Aus­ tausch hinausging,1652 gipfelte das von Eva Haule-Frimpong und wohl

1646 Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 139; Danyluk 2019, S. 362. 1647 Rabert 1995, S. 133. Ähnlich Horchem 1988, S. 146; Peters 2008, S. 614. 1648 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 123-124; Horchem 1988, S. 149-150. 1649 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 124-125. 1650 Vgl. ebd., S. 122. 1651 Vgl. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 22-23. 1652 Vgl. Der Spiegel 1986a, S. 12; Horchem 1988, S. 165; Straßner 2003, S. 307; Fendt/Schäfer 2008, S. 196.

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auch von Ingrid Barabaß getragene1653 Zusammenwirken der RAF und der „Action Directe international“ in einem Bombenanschlag. Die letzte Voraussetzung für die Tat schuf am Abend des 7. August 1985 unter anderen Birgit Hogefeld.1654 In einer Diskothek in Wiesbaden sprach sie den amerikanischen Militärangehörigen Edward Pimental an, der in der Instandhaltung von Flugabwehrwaffen eingesetzt war. Gemeinsam verlie­ ßen sie schließlich das Lokal und gingen in den Wiesbadener Stadtwald, wo Aktivisten der RAF Pimental niederschlugen und durch einen Schuss in den Hinterkopf töteten.1655 Diese Gewalt folgte einem rein logistischen Zweck: Die Gruppe ermordete den Soldaten, „weil […] seine ID-Card gebraucht“1656 wurde. Mit dem Dienstausweis fuhr sie am Morgen des 8. August 1985 ein Fahrzeug auf die US‑amerikanische Rhein‑Main Air Base bei Frankfurt am Main. Die Detonation des im Wagen verstauten Sprengstoffs tötete wenig später zwei Personen; 23 weitere Menschen zogen sich Verletzungen zu.1657 Die Aktion schrieb sich ein nach dem verstorbenen amerikanischen Aktivisten George Jackson benanntes „Kom­ mando“ der „Roten Armee Fraktion“ und „Action Directe international“ zu,1658 wobei unklar bleibt, ob und inwiefern die ADi einen Tatbeitrag leistete.1659 Einem der verschickten Bekennerschreiben war das entwen­ dete Identitätsdokument Pimentals beigefügt.1660 Den Anschlag auf den US‑Stützpunkt legitimierten RAF und „Action Directe international“ mit dessen Funktion „als Drehscheibe für Kriege in der 3. Welt“1661, über die der „Transport von US‑Interventionstruppen und ihrem militärischen Gerät in den Mittleren/Nahen Osten und nach Afrika“1662 bewerkstelligt werde. An der im Selbstbezichtigungsschreiben nicht thematisierten Erschie­ ßung des US-Soldaten entzündete sich in der Folgezeit – so Hogefeld im Juli 1994 im Rückblick – „in der gesamten Linken […] schärfste Kri­ tik“1663. Selbst das engere Umfeld brachte die „Illegalen“ mit einer anfangs

1653 1654 1655 1656 1657 1658 1659 1660 1661 1662 1663

Vgl. Der Spiegel 1987a, S. 128-129; Peters 2008, S. 623. Vgl. Winkler 2008, S. 403. Vgl. Der Spiegel 1985b, S. 76-77. ID-Verlag 1997, S. 344-345. Vgl. Peters 2008, S. 610-611. Vgl. Kahl 1986, S. 167; Dartnell 1995, S. 88. Vgl. Straßner 2003, S. 138. Vgl. Peters 2008, S. 611. ID-Verlag 1997, S. 343. Ebd. Hogefeld 1996, S. 48.

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ablehnenden Haltung in Bedrängnis.1664 Unmittelbar nach dem 8. August 1985 verbreitete sich unter den Unterstützern die Auffassung, Pimental sei Opfer einer geheimdienstlichen Operation geworden, welche die „Rote Armee Fraktion“ diskreditieren sollte.1665 Wie Irmgard Möller schilderte, zeigten sich negative Reaktionen gleichermaßen bei den „Gefangenen“ der RAF, die inzwischen kaum noch Einfluss auf die Aktivitäten der „Illega­ len“ ausüben konnten:1666 „[A]ls das Schreiben vom Kommando George Jackson bekannt wurde, in dem sie sich dazu bekannt haben, dachten wir erst, das sei eine Fäl­ schung. Wir haben uns im Lübecker Knast aus dem Fenster zugerufen: ‚Das ist eine Counter-Aktion‘. Und als sich dann herausstellte, dass es keine Geheimdienstaktion war, konnten wir das erst gar nicht fassen. Das hat uns zutiefst erschreckt.“1667 Diese Position teilten laut Möller andere Inhaftierte aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“: „[W]ir haben dann zu anderen Gefangenen Kontakt aufgenommen, und es gab keinen, der das richtig fand. Allen standen die Haare zu Berge.“1668 Gabriele Rollnik, eine Ende der 1970er Jahre in der Haft zur RAF über­ getretene Aktivistin der „Bewegung 2. Juni“1669, stützt Möllers Erinnerun­ gen. Ihren Aussagen zufolge legte der Tod Pimentals Divergenzen zwi­ schen den strategischen Überlegungen der „Illegalen“ und der Häftlinge frei: „Das [der Mord an Pimental] hatte uns abgestoßen. Das war in keiner Weise in unserem Sinne. Wir waren zuerst der festen Überzeugung, dass das von Geheimdiensten durchgeführt worden war und nicht von der RAF. Und dann hat es doch die RAF gemacht. Da war die militaristisch bestimmte Linie an einem Ende angelangt, das von uns nicht mehr mitgetragen werden konnte.“1670

1664 1665 1666 1667 1668 1669 1670

Vgl. Schwibbe 2013, S. 263. Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 125. Vgl. Horchem 1988, S. 152. Möller/Tolmein 1999, S. 179. Ebd., S. 181. Vgl. Meyer 2008, S. 411, 415-416; Winkler 2008, S. 376; Dietrich 2009, S. 85. Rollnik/Dubbe 2007, S. 111-112.

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Augenscheinlich befassten sich sogar mehrere Inhaftierte der RAF mit einer außenwirksamen Bekanntgabe ihrer Haltung. „Gefangene“ in Lü­ beck und Westberlin sollen ein solches Vorgehen verworfen haben, da es den Anschein des Verrats erweckt hätte.1671 Andere Häftlinge, wie zum Beispiel der in Celle einsitzende1672 Aktivist Karl‑Heinz Dellwo und sein Weggefährte Lutz Taufer, entschieden sich für diesen Schritt: „[N]ach der Erschießung des Soldaten Edward Pimental 1985 haben wir mit dem Schweigen nach außen gebrochen und uns in Briefen, die über die Zensur rausgingen, davon distanziert. Das war nur noch uner­ träglich. […] Die Briefe sind, wie mir eine Besucherin [im Gefängnis] erzählte, tausendfach kopiert worden.“1673 Um der Empörung entgegenzuwirken, meldeten sich die „Aktiven“ am 25. August 1985 mit einer Erklärung zu Wort, welche die Beweggründe für den Mord an Pimental darlegten. Offen gaben sie zu, den Soldaten zur Erlangung eines Militärausweises erschossen zu haben.1674 Das Opfer stilisierten sie zu einem „Spezialisten für Flugabwehr, Freiwilliger bei der US-Army und seit drei Monaten in der BRD, der seinen früheren Job an den Nagel gehängt hat, weil er schneller und lockerer Kohle machten wollte“1675. Vor dem Hintergrund des von ihr propagierten manichäischen Kampfes zwischen Imperialismus und linkem Widerstand stellte die RAF die Adressaten ihrer Erklärung vor die Wahl: „[A]lle müssen begreifen, dass Krieg ist – und sich entscheiden.“1676 Vergleichbar argumentierte die Dritte Generation in einem Interview, das in der vierten Ausgabe der „Zu­ sammen Kämpfen“ im September 1985 erschien. Als „Fehler“ erachteten sie lediglich den Umgang mit Pimentals Militärausweis: Dass er nicht als Anhang zu dem Papier vom 25. August 1985 verschickt wurde, sei der Vermittelbarkeit seines Todes abträglich gewesen.1677 Auf die Frage, ob in der politischen Rechtfertigung nicht zwischen dem Erschießen eines einfachen US-Soldaten und dem Töten von Mitarbeitern eines Luftwaffen­ stützpunktes unterschieden werden müsse, antwortete die RAF:

1671 Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 175, 179-180; Rollnik/Dubbe 2007, S. 87, 112, 126. 1672 Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 161. 1673 Ebd., S. 175-176. Vgl. auch Taufer 2018, S. 152. 1674 Vgl. ID-Verlag 1997, S. 344-345. 1675 Ebd., S. 344. 1676 Ebd., S. 345. 1677 Vgl. Zusammen Kämpfen 1985b, S. 7.

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„nein. grundsätzlich ist das verhältnis zwischen uns und ihnen [USamerikanischen Militärangehörigen] krieg. wir haben seine karte ge­ braucht, sonst hätten wir die aktion nicht machen können. wir sagen natürlich nicht, dass wir jetzt jeden gi, der um die ecke kommt, er­ schießen – oder dass andere genossen das tun sollten. man kann es nur in der konkreten situation, an der politisch‑praktischen bestimmung des angriffs klären.“1678 Anschließend nutzten die „Illegalen“ das Gespräch als Gelegenheit, die Beziehung zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Action Directe international“ zu erläutern, die mit dem Anschlag auf die Rhein-Main Air Base demonstriert worden war. Offenkundig ging es ihnen mit dem Inter­ view auch darum, Zweifel an der strukturellen Eigenständigkeit beider Akteure erneut zu zerstreuen: „wir wollen hier noch was sagen: in vielen flugblättern reden genos­ sen vom ‚zusammenschluss RAF‑Action Directe‘. das vermittelt sowas wie ‚organisatorisch-logistisch‘ – was es nicht gibt. genauso wenig wie es ein europäisch-draufgesetztes zentralkommando gibt, das irgendwel­ che direktiven und aktionslinien beschließt. wir lehnen das ab und es ist […] politisch unmöglich.“1679 Im Januar 1986 verwarf der „Kommandobereich“1680 der RAF die Linie, die er bislang zum Tod Pimentals vertreten hatte. In der fünften Ausgabe der „Zusammen Kämpfen“ publizierte er das Traktat „An die, die mit uns kämpfen“. Darin gaben die „Illegalen“ zu, „dass die erschießung des gi in der konkreten situation im sommer [1985] ein fehler war“1681. Die Aktion habe die Botschaft überstrahlt, welche sich hinter dem Anschlag auf den Luftwaffenstützpunkt verbarg. Sie bilde einen „schritt zur eskalation, der selbst strategische qualität hat“1682. Er hätte somit nicht als logistische Erfordernis deklariert werden dürfen, sondern – ebenso wie die Aktion ge­ gen die Rhein-Main Air Base – Gegenstand „einer umfassenden politischen und strategischen bestimmung“1683 sein müssen. Pauschal unterstellte die RAF ihren Kritikern, Kapital aus dem Versäumnis schlagen zu wollen:

1678 1679 1680 1681 1682 1683

Ebd. Ebd., S. 8. Bundesministerium des Innern 1987, S. 129. Zusammen Kämpfen 1986a, S. 12. Ebd. Ebd.

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„diese widersprüchlichkeit in den bestimmungen […] hat […] einem haufen arschlöcher in der linken munition geliefert für ihren versuch, den widerstand an der erschießung des gi zu spalten, unseren fehler gegen die einheit der revolutionären front […] auszuspielen.“1684 Anders als von der „Roten Armee Fraktion“ beabsichtigt, ebbte der Unmut nach ihren ergänzenden Ausführungen zum Mord an Pimental nicht ab. Lediglich Teile des terroristischen Vorfelds akzeptierten bedingungslos die im Herbst 1985 vorgetragene Argumentation der „Illegalen“ und kehrten somit rasch zu der gewohnten Solidarität zurück.1685 Klaus Jünschke, ein 1977 zu lebenslanger Haft verurteilter Aktivist der RAF,1686 ging nach dem Bekanntwerden der Erklärung „An die, die mit uns kämpfen“ dazu über, die den Gründungsmitgliedern wohl nicht persönlich bekannten1687 Ange­ hörigen der Dritten Generation öffentlich abzukanzeln. In einem Brief an „Die Tageszeitung“ sprach er im Februar 1986 von einem „verkomme­ ne[n] Haufen“1688, der „keine verantwortliche Führung mehr hat.“1689 Im Oktober 1986 spitzte er diese Polemik in einem offenen Brief an die „Akti­ ven“ der „Roten Armee Fraktion“ zu: „Ihr ermordet einen zwanzigjährigen US-Amerikaner, von dem Ihr nur wusstet, dass er GI war, mit einem Genickschuss, nennt das hinterher einen Fehler, ohne ein Wort des Bedauerns, und prangert gleichzeitig diejenigen, die diese Sorte ‚Politik‘ oder ‚Krieg‘ ablehnen, als Arschlöcher an. Da kann einem schon die Spucke wegbleiben. […] Ihr seid dem, was Ihr zu bekämpfen vorgebt, zu ähnlich geworden, Ihr müsst davon Abstand kriegen“1690. Wie die zwischen dem 31. Januar und 4. Februar 1986 in Frankfurt am Main abgehaltene Diskussionsveranstaltung „Antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa“ deutlich machte, hielten gewaltaffine Linksextremisten ebenfalls an ihren verurteilenden Stellung­ nahmen fest. Das internationale Treffen war von dem unterstützenden Umfeld der RAF mit dem Ziel anberaumt worden, ein Verstärken der intendierten „Front“ und ihrer legalistischen Agitation zu erreichen. Ihm

1684 1685 1686 1687 1688 1689 1690

Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 126. Vgl. Der Spiegel 1987b, S. 82. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 178. Jünschke 1988, S. 157. Ebd. Ebd., S. 167-168.

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wohnten zeitweise bis zu 1000 Teilnehmer bei, darunter Mitglieder der sogenannten Autonomen, einer linksextremistischen Szene mit „diffusen anarchistischen und nihilistischen Ideen“1691 und erkennbarem Hang zur Gewalt.1692 Im Laufe der Tagung gaben sie wiederholt zu verstehen, die Aktion gegen den US-Soldaten Edward Pimental sei „Selbstjustiz“ und habe jegliche Übereinstimmung mit der „Roten Armee Fraktion“ untermi­ niert.1693 Ungeachtet der ab Herbst 1985 verstärkt zu beobachtenden Isolation setzten die RAF und ihr engeres Umfeld die Gewalthandlungen fort. Ende September 1985 fügten zwei Unterstützer der Gruppe in Ludwigsburg Geldbotinnen mit Meißeln Verletzungen am Kopf zu. Einer der Täter konnte mit etwa 16 000 DM entkommen. Karl-Friedrich Grosser hingegen nahm die Polizei fest.1694 Mehrere Monate später leiteten die „Illegalen“ die „Offensive 86“1695 ein, welche den „Militärisch‑Industriellen Komplex“ und den westdeutschen Staatsapparat ins Visier nehmen sollte.1696 Am 9. Juli 1986 verübte die „Rote Armee Fraktion“ einen Sprengstoffanschlag auf den Wagen von Karl-Heinz Beckurts, Vorstandsmitglied des Konzerns „Siemens“.1697 Ebenso wie die NATO-Schule in Oberammergau und Ernst Zimmermann war er von dem Zirkel als mögliches Opfer in Unter­ lagen vermerkt worden, welche die Sicherheitsbehörden hatten sicherstel­ len können.1698 Beckurts und sein Fahrer starben am Tatort.1699 In der Erklärung des „Kommandos Mara Cagol“ verwies die RAF auf Beckurts‘ Rolle in der Gewinnung atomarer Energie1700 sowie auf die – vermeintli­ che – Stellung von „Siemens“ in der Weltwirtschaft. Das Unternehmen sei „verantwortlich für die Ausbeutung, Vernichtung und Verelendung von Millionen von Menschen in der 3. Welt und den Metropolen.“1701 Nach

1691 Bundesministerium des Innern 1987, S. 111. Vgl. auch Schwarzmeier 2001, S. 62. 1692 Vgl. Schwarzmeier 2001, S. 42, 50-51, 77; Baron 2011, S. 239-241; Hoffmann 2011, S. 41-66; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 139-147; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 183‑193, 205-209, 394; Mannewitz/Thieme 2020, S. 98-115. 1693 Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 133-134; Horchem 1988, S. 161-162; Rabert 1995, S. 135. 1694 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 122; Peters 2008, S. 609. 1695 Bundesministerium des Innern 1987, S. 131. 1696 Vgl. ebd., S. 129-130. 1697 Vgl. Horchem 1987, S. 9. 1698 Vgl. Der Spiegel 1986c, S. 44. 1699 Vgl. Winkler 2008, S. 407. 1700 Vgl. ID-Verlag 1997, S. 370. 1701 Ebd., S. 371.

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dem Mord an Beckurts traten „Kämpfende Einheiten“ in Aktion. Zwi­ schen Juli und September 1986 griffen sie die Frauenhofer-Gesellschaft, mehrere Firmen, den Bundesgrenzschutz in Swisttal-Heimerzheim, das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln sowie eine Einrichtung des Nordatlantikpakts an.1702 Am 10. Oktober 1986 erschoss die „Komman­ doebene“ Gerold von Braunmühl, dem die Leitung einer Abteilung im Auswärtigen Amt oblag.1703 Das Attentat widmeten sie der RAF-Aktivistin Ingrid Schubert, die sich Mitte November 1977 in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim selbst getötet hatte.1704 Von Braunmühl töteten die „Illegalen“ aufgrund seiner herausgehobenen Position in der Zusammen­ arbeit Westdeutschlands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Amerika. Diese Kooperation erfolge, um „die Politik der stärksten Mächte der imperialistischen Kette unter Führung der USA zu vereinheitlichen und zu koordinieren, um als Gesamtsystem politisch handlungsfähig zu werden gegen die Widersprüche, die ihre gemeinsamen Interessen und die Herrschaft des Systems auf allen Ebenen bedrohen.“1705 Während der Anschlagsserie der Dritten Generation und ihres engeren militanten Umfelds gewannen die Sicherheitsbehörden weitere Hinweise, die für ein abgestimmtes Auftreten beider Ebenen sprachen. In den Aktio­ nen gegen die Firma „Dornier“ am 15. Juli 1986 und das Bundesamt für Verfassungsschutz am 8. September 1986 griffen „Kämpfende Einheiten“ auf Autobomben zurück. Dies glich dem Modus Operandi, den der „Kom­ mandobereich“ im Vorfeld der Angriffe auf die NATO‑Schule und die Rhein-Main Air Base gewählt hatte. Eine Parallele zeigte sich überdies in der Konstruktion der Sprengsätze: Den Explosivmitteln waren Metallteile beigefügt, welche als Schrapnell wirken sollten.1706 Erkennbar wurden Ab­ sprachen zwischen den „Aktiven“ und ihren gewaltbereiten Unterstützern zudem am 2. August 1986: Beobachtungen eines Bürgers mündeten in der Festnahme der „Illegalen“ Eva Haule-Frimpong sowie der „Militanten“ Luitgard Hornstein und Christian Kluth in einem Lokal in Rüsselsheim. Das Treffen hatten die Aktivisten offensichtlich zur Vorbereitung eines Angriffs auf das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn genutzt.1707

1702 1703 1704 1705 1706 1707

Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 131-132. Vgl. Straßner 2003, S. 154. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 90. ID-Verlag 1997, S. 376. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 132; Peters 2008, S. 602, 610. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 132-133; Peters 2008, S. 621-622.

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5.2 Aktionsphase

Die „Offensive 86“ begleitete in Frankreich die „Action Directe interna­ tional“, die nach der Festnahme leitender Angehöriger der „Cellules Com­ munistes Combattantes“ im Dezember 1985 in Belgien als einziger Partner der RAF zurückblieb.1708 Im Zeitraum von April bis Juli 1986 lenkten ihre „Kommandos“ „Christos Kassimis“, „José Kepa Crespo Gallende“ und „Ciro Rizzato“ die Gewalt gegen den Vizepräsidenten des französischen Nationalen Rats der Arbeitgeber, Guy Brana, sowie die Hauptgebäude der Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation (Interpol) und der Or­ ganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris.1709 In der siebten Ausgabe der „Zusammen Kämpfen“ erschien in deutscher Sprache ein Schreiben vom 21. Juli 1986, in dem die ADi ihre Aktivitäten mit dem Anschlag der RAF auf Karl-Heinz Beckurts verknüpf­ te: „die aktionen der kommandos kassimis gegen brana, ‚kepa‘ gallende gegen interpol und cagol gegen beckurts markieren die strategischen orientierungen, die für eine neue, allgemeine offensive unverzichtbar sind. indem wir […] die OECD angreifen, stellen wir uns entschieden in diese linie der offensive und des aufbaus proletarischer politik und befreiung in westeuropa.“1710 Die Kampagne der „Action Directe international“ gipfelte am 17. Novem­ ber 1986 in der Tötung von George Besse. Von 1976 bis 1982 hatte er einem Unternehmen vorgestanden, welches in der Atomwirtschaft aktiv war. Zuletzt führte er den in Staatsbesitz befindlichen Automobilhersteller „Renault“.1711 Steigern konnte die ADi die 1986 erreichte Gewaltqualität nicht, da französischen Spezialkräften am 21. Februar 1987 ein entschei­ dender Schlag gegen den Zirkel gelang. In der Nähe von Orléans verhaf­ teten sie mit Natalie Ménigon und Jean-Marc Rouillan herausgehobene Figuren der „Action Directe international“, was die Aktivitäten der Grup­ pe weitgehend zum Erliegen brachte.1712 Ihr Unterschlupf gab Ermittlern Einblick in die nunmehr durchbrochene1713 Zusammenarbeit zwischen ADi und RAF. Beschlagnahmt wurden nicht nur Waffen, welche die „Rote Armee Fraktion“ 1984 in Maxdorf erbeutet hatte. Die Sicherheitsbe­

1708 1709 1710 1711 1712 1713

Vgl. Fendt/Schäfer 2008, S. 189, 196. Vgl. Dartnell 1995, S. 88-89. Zusammen Kämpfen 1986c, S. 1. Vgl. Dartnell 1985, S. 89; Winkler 2008, S. 412. Vgl. Gursch 2008, S. 183-184. Vgl. Rabert 1995, S. 136; Straßner 2006, S. 505.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

hörden fanden darüber hinaus einen Lageplan zur Rhein-Main Air Base bei Frankfurt am Main, Notizen zur Zusammensetzung der am 8. August 1985 von der RAF gezündeten Autobombe sowie die Tatbekenntnisse zu den Aktionen gegen Beckurts und von Braunmühl in französischer Spra­ che. Entdecken konnten sie außerdem Unterlagen, die die finanzielle Un­ terstützung der „Roten Armee Fraktion“ durch die „Action Directe inter­ national“ belegten. Offenbar hatte die ADi der RAF 200 000 DM zur Ver­ fügung gestellt.1714 Fingerabdrücke von Eva Haule-Frimpong und Bir­ git Hogefeld lieferten Anhaltspunkte für das personelle Beziehungsge­ flecht zwischen beiden Gruppen.1715 5.2.5 Annäherung an die „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“, Anschlag auf Hans Tietmeyer, Hungerstreik, Ermordung Alfred Herrhausens (1987 bis 1989) 1987 verzichteten die „Illegalen“ und ihr militantes Vorfeld auf weitere Anschläge und propagandistische Verlautbarungen.1716 Ihren Fokus legten sie auf die Suche nach neuen Mitstreitern, die an die Stelle der zerschlage­ nen „Action Directe international“ treten sollten. Legalistische Unterstüt­ zer der „Roten Armee Fraktion“ griffen in Veranstaltungen den Wider­ stand der Palästinenser im Nahen Osten auf.1717 Zeitgleich wurde eine Brücke geschlagen zu den in Spanien agierenden „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“. Zwar baute das RAF‑Umfeld Verbin­ dungen zu den GRAPO auf, diese blieben aber hinsichtlich einer Zusam­ menarbeit beider Akteure grundsätzlich reserviert. In der neunten Ausgabe des niederländischen linksextremistischen Periodikums „De Knipselkrant“ im Jahre 1987 ließen die spanischen Linksterroristen ein Traktat abdru­ cken, dem sie den Titel „Zwei unvereinbare Linien innerhalb der europä­ ischen revolutionären Bewegung“ gegeben hatten. Sie monierten, die RAF weise kein kommunistisches Profil auf und habe sich „kleinbürgerlichen“ Zielen verschrieben. Ferner sei sie nicht in der Lage, parteiähnliche Struk­ turen anzunehmen. Neben den „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ erklärte das unterstützende Milieu der „Roten Armee Fraktion“ die „Bri­

1714 1715 1716 1717

Vgl. Der Spiegel 1987a, S. 128-129. Vgl. Peters 2008, S. 634. Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 74. Vgl. ebd., S. 76.

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5.2 Aktionsphase

gate Rosse“ zu einem potentiellen Partner.1718 Entsprechende Bemühun­ gen waren bereits 1986 forciert worden: Die im Mai 1986 veröffentlichte Zeitschrift „Zusammen Kämpfen“ – Heft Nr. 6 – setzte sich größtenteils aus Texten der im September 1984 formierten Splittergruppe „Brigate Ros­ se – Partito Comunista Combattente“1719 zusammen. Unter anderem be­ inhaltete die Ausgabe eine „strategische Direktive“ der BR-PCC aus März 1985.1720 Das Attentat auf Karl-Heinz Beckurts führte ein „Kommando“ aus, welches die „Illegalen“ nach Margherita Cagol benannten. Ebenso wie ihr Ehemann Renato Curcio hatte sie in den 1970er Jahren eine führende Position innerhalb der BR inne. 1975 war sie bei einem Feuer­ gefecht mit italienischen Polizeikräften ums Leben gekommen.1721 Unter ehemaligen und aktiven Angehörigen der „Brigate Rosse“ entwickelten sich unterschiedliche Haltungen gegenüber den Sympathiebekundungen der „Roten Armee Fraktion“. Valerio Morucci, einer der 1978 an der Ent­ führung des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro1722 beteiligten BR‑Angehörigen, bezeichnete die Strategie der RAF 1986 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ als überholt: „[D]as RAF-Flugblatt zum Beckurts-Mord ist eine seltsame Mischung von humanistischen Thesen mit Argumenten, die sich im Sozialkon­ flikt bewährt haben. […] Alles das geht von der Illusion aus, eine Gegenfront zur amerikanischen Aggressionspolitik gegenüber sozialis­ tischen Ländern aufbauen zu können. Wieder einmal hinkt der Terro­ rismus hinter der Geschichte her.“1723 Die BR-PCC dagegen begrüßten das Vorgehen der RAF und „Action Directe international“. In einer Erklärung zu einem im Februar 1987 aus­ geführten Raubüberfall räumten sie ein, die Aktivitäten beider Gruppen bildeten einen Ausgangspunkt für die Entstehung einer westeuropäischen Front gegen den Imperialismus.1724 Eine genuine Kooperation zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“ manifestierte sich indes erst im Herbst 1988 nach zähen

1718 1719 1720 1721 1722 1723 1724

Vgl. ebd., S. 80. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 138. Vgl. Zusammen Kämpfen 1986b, S. 1-15. Vgl. Horchem 1987, S. 9. Vgl. Holzmeier/Mayer 2008, S. 293. Morucci/Kraatz/Sternsdorff 1986, S. 107. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 138; Bundesministerium des In­ nern 1988, S. 80.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

Diskussionen um einen gemeinsamen ideologischen Standpunkt.1725 Am 20. September 1988 feuerten RAF-Mitglieder mit einer Schrotflinte mehre­ re Schüsse auf das Dienstfahrzeug Hans Tietmeyers ab, der im Bundesmi­ nisterium für Finanzen die Position eines Staatssekretärs wahrnahm. Tiet­ meyer und sein Chauffeur überlebten das Attentat.1726 Ursprünglich hatte die Gruppe den Gebrauch eines Schnellfeuergewehrs vorgesehen: Mit die­ sem sollte „zuerst gezielt der Fahrer ausgeschaltet werden […], um den Wagen zum Stehen zu bringen“1727. Der Plan scheiterte allerdings an einer Ladehemmung in der Maschinenpistole.1728 Das verantwortlich zeichnen­ de „Kommando“ gab sich den Namen des PFLP-Mitglieds „Khaled Aker“, das Ende 1987 verstorben war.1729 Tietmeyer sei, so die RAF in ihrem rechtfertigenden Tatbekenntnis, „Stratege und einer der Hauptakteure im internationalen Krisenmanagement, der auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene die ökonomische Krise des imperialistischen Systems beherrschbar machen und den Zusammenbruch des Wirtschaftsund Finanzsystems verhindern will.“1730 Das Selbstbezichtigungsschreiben verbreitete der Zirkel in Kombination mit einem sowohl in Deutsch als auch in Italienisch verfassten Text, den „Rote Armee Fraktion“ und „Bri­ gate Rosse – Partito Comunista Combattente“ gemeinsam unterzeichnet hatten.1731 Als – vermeintliche – Säulen der „antiimperialistischen Front“ riefen sie dazu auf, die „EINHEIT DER KÄMPFENDEN REVOLUTIONÄ­ REN KRÄFTE IM ANGRIFF AUF[ZU]BAUEN“1732. Die Realisierbarkeit einer solchen Annäherung verdeutlichten sie anhand eigener Erlebnisse: „unsere gemeinsame erfahrung zeigt, wie es auf der basis der subjekti­ ven entscheidung jeder organisation trotz existierender unterschiede und widersprüche möglich ist, die front weiterzuentwickeln, in der ge­ meinsamen diskussion haben wir das einheitliche element des angriffs gegen den imperialismus nie aus den augen verloren.“1733

1725 1726 1727 1728 1729 1730 1731 1732

Vgl. Rote Brigaden/Rote Armee Fraktion 1992. Vgl. Straßner 2003, S. 157. ID-Verlag 1997, S. 388. Vgl. Winkler 2008, S. 412. Vgl. Peters 2008, S. 638. ID-Verlag 1997, S. 387. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 85, 92. Rote Armee Fraktion/Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente 1988. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. 1733 Ebd.

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5.2 Aktionsphase

Synchronisierte Gewaltkampagnen erwuchsen aus dem ostentativen Schul­ terschluss indes nicht.1734 Die BR-PCC trafen 1988 Exekutivmaßnahmen durch Sicherheitsbehörden in Frankreich, Italien und der Schweiz. Ver­ deckte Unterkünfte der „Brigate Rosse“ in Mailand und Rom wurden enttarnt, 33 Aktivisten des Netzwerks verhaftet.1735 In einer Wohnung in Mailand stießen Beamte auf einen Brief der „Roten Armee Fraktion“, dessen Inhalt auf einen Wissensaustausch mit den italienischen Mitstrei­ tern schließen ließ: Die RAF erkundigte sich nach Kenntnissen der BR zum Durchdringen von Panzerungen.1736 Am 16. März 1989 verlautbarten die „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“ in einem Papier, sie seien ebenfalls für die gescheiterte Aktion gegen Tietmeyer verantwort­ lich. Sie untermauerten ihre Bereitschaft, künftig in Abstimmung mit der „Roten Armee Fraktion“ aktiv werden zu wollen. Dies solle jedoch nicht in einer strukturellen Verschmelzung der Partner münden. Überdies gaben die BR-PCC zu, infolge der Festnahmen des Vorjahres eine Schwä­ chung erlitten zu haben. 1989 folgte auf diesen Einbruch ein weiterer Rückschlag. Französische und italienische Behörden setzten 17 mutmaßli­ che Angehörige der „Brigate Rosse – Partito Comunista Combattente“ fest und deckten erneut getarnte Unterschlüpfe der Gruppe auf.1737 Die öffentliche Wahrnehmung zur „Roten Armee Fraktion“ bestimm­ ten in der ersten Hälfte des Jahres 1989 ihre Inhaftierten. Am 1. Februar 1989 hatte Helmut Pohl überraschend unter Verweis auf die verfahrene Lage in den Haftanstalten eine ultimative Nahrungsverweigerung ange­ kündigt: „Neun Hungerstreiks haben wir gemacht, zwei Gefangene sind da­ rin gestorben, viele von uns haben Gesundheitsschäden. Jetzt muss Schluss sein mit dieser achtzehn Jahre langen Tortur. Das ist unser definitiver Entschluss, so werden wir kämpfen.“1738 Laut Einschätzung des Verfassungsschutzes war der zehnte Hungerstreik weder mit den „Illegalen“ noch mit dem etwa 250 Personen fassenden en­ geren Umfeld der RAF abgesprochen worden.1739 In ihrer Erklärung grif­ fen die Häftlinge nicht auf die klassische Forderung nach einem „Kriegsge­

1734 1735 1736 1737 1738 1739

Vgl. Straßner 2006, S. 505. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 93. Vgl. Der Spiegel 1989b, S. 17; Peters 2008, S. 654. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 87. ID-Verlag 1997, S. 389. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 81-83.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

fangenenstatus“1740 zurück. Vielmehr begehrten sie im Wesentlichen die „Zusammenlegung aller Gefangenen aus Guerilla und Widerstand in ein [sic] oder zwei große [sic] Gruppen“1741 sowie die „Freilassung der Gefan­ genen, deren Wiederherstellung nach Krankheit, Verletzung oder Folter durch Isolation unter Gefängnisbedingungen ausgeschlossen ist.“1742 Nach dem Erfüllen dieser Bedingungen sollte langfristig allen inhaftierten Mit­ gliedern der RAF die Möglichkeit verschafft werden, in die Freiheit zu gelangen.1743 An der Aktion beteiligten sich 44 Aktivisten aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ und ihres unterstützenden Milieus, darunter Eva Haule‑Frimpong, Rolf Heißler, Sieglinde Hofmann, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller, Adelheid Schulz und Rolf Clemens Wagner.1744 Laut Möller wich der Hungerstreik auch in seinem Ablauf von bisherigen Kampagnen der „Gefangenen“ ab: Zunächst hätten alle Inhaftierten gemeinsam auf eine Nahrungsaufnahme verzichtet. Während einzelne den Streik nach zwei Wochen fortgesetzt haben sollen, habe sich der Großteil für eine Unterbrechung entschieden. Zu einem späteren Zeit­ punkt, so Möller, schlossen sie sich der Aktion nach und nach wieder an. Mit diesem Vorgehen wäre versucht worden, die Dauer der Kampagne zu erhöhen.1745 Im Gegensatz zu dem von Dezember 1984 bis Februar 1985 unternom­ menen Hungerstreik zog sie keine Gewalthandlungen des „Kommandobe­ reichs“ und der „Kämpfenden Einheiten“ nach sich. Lediglich Anhänger des ihnen vorgelagerten RAF-Umfeldes verübten sechs Brandanschläge.1746 Damit entsprachen die außerhalb der Haftanstalten existierenden Struk­ turen der „Roten Armee Fraktion“ der Erwartungshaltung der „Gefange­ nen“. Wie Karl-Heinz Dellwo im 2007 veröffentlichten Interview mit Pe­ tersen und Twickel zu verstehen gab, sollte ihr Protest ausschließlich auf legalistischen Mitteln fußen: „Bei diesem Hungerstreik 1989 war klar, dass wir von draußen keine konterkarierenden Aktionen haben wollten. Mit diesem Hungerstreik

1740 1741 1742 1743 1744 1745 1746

Möller/Tolmein 1999, S. 190. ID-Verlag 1997, S. 391. Ebd. Vgl. ebd., S. 390. Vgl. Peters 2008, S. 643. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 190. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 79, 83.

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5.2 Aktionsphase

wollten wir zu einer politischen Diskussion kommen und man kann auch sagen: von dem Kriegsverhältnis weg.“1747 Bereits 1992 hatte er im Rückblick ausgeführt, dass sich die Inhaftierten von dieser Linie ein Auflösen der „politisch und […] militärisch festgefres­ sene[n] Situation“1748 erhofften, in der sich die „Rote Armee Fraktion“ und die „Gefangenen“ gleichermaßen befanden. Vor allem in den Gefäng­ nissen waren „neue Entwicklungen“1749 erwünscht. Das engere Umfeld der RAF verlieh der Aktion der Inhaftierten mit vielseitigen legalistischen Aktivitäten Nachdruck. In Duisburg, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe, Lübeck, Mainz, Nürnberg und Westberlin besetzten Aktivisten Kirchen oder Räumlichkeiten der Alternativen Liste, Christlich Demokratischen Union und der Grünen. „Hungerstreik-Büros“ eröffneten Anhänger der „Roten Armee Fraktion“ in 26 Städten. In einem Periodikum und in Pressekonferenzen berichteten sie zum Fortgang der Nahrungsverweigerung, in Bonn organisierten sie eine groß angelegte De­ monstration. Diese breit gefächerte Agitation blieb nicht ohne Resonanz: Teile des linksextremistischen Spektrums gingen eine Zusammenarbeit mit RAF-Unterstützern ein.1750 In der Bundes- und Landespolitik West­ deutschlands keimte eine Debatte um die Frage auf, ob und inwiefern der Forderung nach einem Zusammenlegen von RAF-Häftlingen entspro­ chen werden sollte. Klaus Kinkel, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, plädierte für einen Ansatz, der eine Unterbringung in fünf Gruppen mit jeweils fünf Inhaftierten vorsah. Diesen Vorschlag diskutierte er sogar mit Brigitte Mohnhaupt und Helmut Pohl. Seine Bemühungen scheiterten Anfang Mai 1989 jedoch am politischen Widerstand mehrerer Bundesländer – dies führte die „Gefangenen“ am 12. Mai 1989 zum Ab­ bruch des Hungerstreiks.1751 Ihre Entscheidung hatten sie augenscheinlich ohne vorherige Rücksprache mit dem unterstützenden Umfeld getroffen, zeigte sich dieses doch abermals vom Handeln der Häftlinge überrascht. Die Anhänger der „Roten Armee Fraktion“ blieben nach dem Ende der erfolglosen Nahrungsverweigerung ratlos. Auch verbreitete sich Verunsi­ cherung, die unter anderem auf die Haltung der „Gefangenen“ zurückzu­ führen war: Sie hielten dem Umfeld vor, die Positionen der Häftlinge

1747 1748 1749 1750 1751

Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 178. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 164. Möller/Tolmein 1999, S. 190. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 83; Peters 2008, S. 643-644. Vgl. Straßner 2003, S. 174; Peters 2008, S. 647, 649.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

nicht ausreichend und ohne umsichtige Planung artikuliert zu haben.1752 Klarheit zum weiteren Vorgehen im Kampf um verbesserte Haftkonditio­ nen sollte ein Brief bringen, den Helmut Pohl im Oktober 1989 verfasste. Abgedruckt wurde er in der Ausgabe der „Tageszeitung“ vom 16. Novem­ ber 1989. Einleitend konstatierte er: „es ist nichts mehr offen, es tut sich nichts, wir sind mit unserem projekt nicht weitergekommen, wir müssen uns auf eine neue phase des kampfs orientieren […].“1753 Welche Ursachen das Fehlschlagen des Hungerstreiks hatte und welche Konsequenzen aus dieser Niederlage gezogen werden müssten, deutete Pohl im weiteren Verlauf seiner Ausführungen an: „es gab […] so viel unterstützung für unsere forderungen wie noch nie, bis rein in gewerkschaften, kirche, juristenvereine usw., nur um die breite der unterstützung jetzt zu sagen. aber das alles spielt eben eine immer geringere rolle. der staatsapparat hat sich gegen das, was aus der gesellschaft kommt, weitgehend immunisiert. da läuft es nach dem motto: ‚dort wird demonstriert, hier wird regiert‘. […] was heißt das? wir kommen da vor allem auf eines – dass veränderungen nur erreicht werden, wenn man in den mechanismus, nach dem das ganze funktioniert, trifft. die kosten müssen höher getrieben werden als der profit, den sie [die Regierenden] sich versprechen.“1754 Der „Kommandobereich“ sowie die „Kämpfenden Einheiten“ bereiteten sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des von Helmut Pohl erarbeite­ ten Papiers auf eine neue „Offensive“ vor. Internationale Kontakte kamen dabei nicht zum Tragen. Zwar hatte das Umfeld zwischenzeitlich erneut seine Verbundenheit mit dem Widerstand der Palästinenser im Nahen Os­ ten sowie seine Solidarität gegenüber der kurdischen Arbeiterpartei „Par­ tiya Karkerên Kurdistanê“ signalisiert, eine Vernetzung brachten diese Be­ kundungen aber – ebenso wie der persönliche Briefkontakt Christa Eckes‘ mit einem Inhaftierten aus den Reihen der PKK1755 – nicht hervor.1756 Am 30. November 1989 verübte das „Kommando Wolfgang Beer“ der „Roten

1752 1753 1754 1755 1756

Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 83. Pohl 1989, S. 15. Ebd. Vgl. Brauns 2021, S. 11. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 89; Bundesministerium des In­ nern 1990a, S. 84.

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5.2 Aktionsphase

Armee Fraktion“ in Bad Homburg einen Anschlag,1757 dessen technische Aspekte den „Illegalen“ in den Medien eine Reputation als „erstklassige Professionals“1758 einbrachte. Alfred Herrhausen, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, hatte in seinem gepanzerten Dienstwagen eine Licht­ schranke durchfahren, die eine an der Fahrbahn platzierte, selbst gefertig­ te Hohlladungsmine zur Detonation brachte. Herrhausen verstarb kurz darauf am Tatort.1759 In ihrem Tatbekenntnis sah die RAF die Deutsche Bank „an der Spitze der faschistischen Kapitalstruktur“1760, durch deren „Geschichte […] sich die Blutspur zweier Weltkriege und millionenfacher Ausbeutung“1761 ziehe. Das Geldhaus bereite sich darauf vor, die Bevölke­ rungen der im Umbruch befindlichen Länder Osteuropas „wieder dem Diktat und der Logik kapitalistischer Ausbeutung zu unterwerfen.“1762 Angesichts dieser – vermeintlichen – Gefahr führten die Autoren der Erklärung abermals die Notwendigkeit einer „Front gegen den Imperia­ lismus“1763 ins Feld, räumten jedoch gleichzeitig die Unausweichlichkeit strategischer Anpassungen ein: „Wir alle, die gesamte revolutionäre Bewegung in Westeuropa, stehen vor einem neuen Abschnitt. Die völlig veränderte internationale Situa­ tion und die ganzen neuen Entwicklungen hier erfordern, dass der gesamte revolutionäre Prozess neu bestimmt und auf neuer Grundlage weiterentwickelt werden muss. Daran arbeiten wir, und daran wollen wir die Diskussion mit allen, die Schluss machen wollen mit der impe­ rialistischen Zerstörung […].“1764 Das militante Vorfeld des „Kommandobereichs“ setzte die Gewaltwelle fort. Aktionen gegen die Pflanzenschutzsparte des Konzerns Bayer in Mon­ heim im Dezember 1989 sowie gegen das Rechenzentrum der Deutschen Bank im Februar 1990 scheiterten. Zum Abschluss brachten „Kämpfende Einheiten“ dagegen Angriffe auf den Hauptsitz des Energieunternehmens Rheinisch‑Westfälisches Elektrizitätswerk in Essen am 4. Februar 1990

1757 1758 1759 1760 1761 1762 1763 1764

Vgl. Winkler 2008, S. 413, 419. Der Spiegel 1989b, S. 14. Vgl. Peters 2008, S. 652-655. ID-Verlag 1997, S. 392. Ebd., S. 391. Ebd., S. 392. Ebd., S. 393. Ebd., S. 392.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

und auf die „Siemens“-Schule für Kommunikations- und Datentechnik in Bonn am 27. Februar 1990.1765 5.3 Niedergang 5.3.1 Zerfall des sowjetischen Hegemonialbereichs, Ermordung Detlev Karsten Rohwedders, „Kinkel‑Initiative“ (1989 bis 1992) In der Deutschen Demokratischen Republik kulminierten 1989 die poli­ tischen und wirtschaftlichen Zustände sowie außenpolitische Umbrüche im Zerfall der Alleinherrschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutsch­ lands. Das – allenfalls symbolische – Lockern des „Eisernen Vorhangs“ durch Ungarn im Frühjahr 1989 ermutigte immer mehr Bürger der DDR, dem Land den Rücken zu kehren. Im Sommer 1989 stellten etwa 120 000 Menschen einen Antrag auf Ausreise.1766 An den manipulierten Kommu­ nalwahlen vom 7. Mai 1989 entzündete sich gesellschaftlicher Protest, der sich ob der wohlwollenden Haltung der Staatsführung gegenüber dem blutigen Niederschlagen des Aufstands auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking rasch mit Fassungslosigkeit vermischte. Vor allem in größeren Städten, wie zum Beispiel Dresden, Leipzig und Ostberlin, unternahm die wachsende Opposition den Versuch, sich in Demonstratio­ nen Gehör zu verschaffen.1767 Ungeachtet der im Land lauter werdenden Rufe nach grundlegenden Reformen beging die Regierung am 7. Okto­ ber 1989 den 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Zu den Feierlichkeiten hatte sie mit Michail Gorbatschow den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion eingeladen, der inzwischen für eine Politik der Veränderung stand. Gorbatschow drängte Erich Honecker bei dieser Gelegenheit dazu, in der DDR einen politischen Wandel zu wagen.1768 Er mahnte: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort“1769. Honecker maß dieser Warnung keine Bedeutung bei; stattdessen verbrämte er die sozialistischen Errungenschaf­ ten Ostdeutschlands. Am 17. Oktober 1989 wurde er schließlich mit der Rückendeckung des sowjetischen Hegemons entmachtet. Die nun einset­

1765 1766 1767 1768 1769

Vgl. Zusammen Kämpfen 1990a, S. 7; Rabert 1995, S. 137-138. Vgl. Görtemaker 2015, S. 22, 24. Vgl. ebd., S. 24, 26. Vgl. ebd., S. 26. Michail Gorbatschow, zit. n. ebd.

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5.3 Niedergang

zenden personellen Veränderungen in der Staatsspitze sowie die mit ihnen einhergehenden Konzessionen – darunter das Zulassen von Demonstra­ tionen, das Aufweichen von Reisebeschränkungen sowie die verkündete Straffreiheit für alle aus der DDR geflohenen Personen – konnten die innenpolitische Krise allerdings nicht abwenden. Forderungen nach einem Umgestalten des Staatssystems brachten im November 1989 allein in Ost­ berlin hunderttausende Bürger auf die Straßen. Zugleich erreichte die Zahl ausreisender Personen einen Höhepunkt.1770 In einem Bericht vom 6. November 1989 führte das Ministerium für Staatssicherheit der Staats­ spitze ihr eklatantes Legitimitätsdefizit vor Augen: „Grundtenor der Meinungsäußerungen ist, die bisherige Parteifüh­ rung habe das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ihr wird [sic] die Fähigkeit und auch der ehrliche Wille zur Durchsetzung von Re­ formen und Veränderungen generell abgesprochen.“1771 Die in dieser Lage angestoßene Neufassung des in der Deutschen Demo­ kratischen Republik geltenden Reisegesetzes mündete am 9. November 1989 im Fall der Mauer. Sie bereitete den Weg für einen friedlichen Übergang zu demokratischer Herrschaftsausübung, dessen Schlusspunkt das Wiedervereinigen Deutschlands bilden sollte.1772 Der unaufhaltsame Zusammenbruch der DDR und anderer Staaten des kommunistisch regierten Ostblocks barg nicht nur historische Folgen für das politische System der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch für den deutschen Linksextremismus. In seinem jährlichen Bericht hob der Verfassungsschutz mit Blick auf das Jahr 1990 hervor, sämtliche Akteure des Milieus seien „in ihrem Selbstverständnis herausgefordert“1773. Unzäh­ lige würden dazu übergehen, „ihre Strategie und Taktik entsprechend der veränderten Situation neu zu bestimmen.“1774 Auch unter den „Gefange­ nen“ und Unterstützern der „Roten Armee Fraktion“ entspannen sich die vom „Kommandobereich“ im November 1989 avisierten Debatten zu den Schlussfolgerungen, die aus der Implosion des sowjetischen Machtbereichs gezogen werden müssen. Diese Diskussionen zeitigten jedoch keine weit­

1770 1771 1772 1773 1774

Vgl. ebd., S. 28-29. Ministerium für Staatssicherheit 1989, S. 130. Vgl. Görtemaker 2015, S. 30-31. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 11. Ebd.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

reichenden Ergebnisse.1775 Zum Austausch in den Gefängnissen schilderte Irmgard Möller: „Es war [1989/1990] unübersehbar geworden, dass es [der ‚bewaffnete Kampf‘ der RAF] so nicht weitergehen konnte, aber wir hatten auch keine konkrete Idee, was stattdessen sein sollte. Da hat sich unsere Situation, denke ich, wenig von der der Linken draußen unterschie­ den“1776. Im Umfeld verbreitete sich – angeblich – sogar die Befürchtung, künftig nicht zu einer „offensiven“ Politik gelangen zu können. Desillusionierend wirkte darüber hinaus das Verhalten der Aktivisten der Zweiten Genera­ tion der RAF, die Anfang der 1980er Jahre in der Deutschen Demokrati­ schen Republik einen Ausstieg aus dem Terrorismus vollzogen hatten.1777 Nach ihrer Verhaftung im Juni 19901778 machten einige in Gerichtsverfah­ ren von dem im Jahr zuvor verabschiedeten „Gesetz zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten“ Gebrauch, welches das Mitwirken an der Aufklärung von Verbrechen als Grundlage eines Straf­ nachlasses vorsah.1779 Andere schrieben den „bewaffneten Kampf“ öffent­ lich als fehlerbehaftetes Mittel ab. Sigrid Sternebeck verkündete im Nach­ richtenmagazin „Der Spiegel“: „Das ‚Konzept Stadtguerilla‘ ist gescheitert, weil es von falschen Grundvoraussetzungen ausging: Wir leben in Mitteleuropa nicht unter einer faschistischen Diktatur mit einer Bevölkerung am Existenzmini­ mum, die bereit ist zum Aufstand.“1780 Nennenswerte Aktivitäten entfalteten die „Rote Armee Fraktion“, ihre Inhaftierten und das unterstützende Umfeld im Jahre 1990 ausschließlich entlang hergebrachter strategischer Paradigmen. Obgleich sich die „Gru­ pos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ im Frühjahr 1989 zu einer Zusammenarbeit mit der RAF erneut ablehnend verhalten hatten, bekundeten „Gefangene“ der „Roten Armee Fraktion“ ihre Sympathie für die in Spanien inhaftierten Aktivisten des Netzwerks. Von Ende Novem­ ber 1989 an lehnten verurteilte Angehörige der GRAPO die Nahrungsauf­ 1775 1776 1777 1778 1779

Vgl. ebd., S. 67. Möller/Tolmein 1999, S. 183. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 65, 67. Vgl. Peters 2008, S. 584-586. Vgl. Der Spiegel 1990b, S. 62; Straßner 2003, S. 177, 191; Jesse 2008, S. 419-420; Straßner 2008b, S. 222; Kraushaar 2017, S. 23. 1780 Sternebeck 1990, S. 67.

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5.3 Niedergang

nahme ab. Abwechselnd traten Häftlinge der RAF in den Zeiträumen vom 16. Januar bis zum 26. Februar und vom 8. März bis zum 5. Mai 1990 in einen Hungerstreik. Über konspirative Kommunikationskanäle verstän­ digten sie sich mit außerhalb der Haftanstalten aktiven RAF‑Anhängern, die den Kampf spanischer Inhaftierter in eigenen Aktionen aufgriffen und mit der Forderung nach Verbesserung der Haftbedingungen in deutschen Gefängnissen verbanden.1781 Auf dem Titelblatt der im August 1990 er­ schienenen 12. Ausgabe der „Zusammen Kämpfen“ riefen sie dazu auf, die „ZUSAMMENLEGUNG ALLER REVOLUTIONÄREN GEFANGENEN UND DAMIT DIE PERSPEKTIVE FÜR IHRE FREIHEIT [ZU] ERKÄMP­ FEN!“1782 An die 1989 erzielten Mobilisierungserfolge konnten sie damit indes nicht anknüpfen. Die Kampagne erfreute sich nur geringer Aufmerk­ samkeit.1783 Dem „Kommandobereich“ der „Roten Armee Fraktion“ wurden in die­ ser Phase zwei Anschlagsvorhaben zugerechnet. Anfang März 1990 verbrei­ tete sich die Erklärung eines „Kommandos Juliane Plambeck“, das die Verantwortung für ein gescheitertes Attentat auf den deutschen Landwirt­ schaftsminister Ignaz Kiechle reklamierte.1784 Kurz darauf wurde ein kur­ zes Papier bekannt, welches den Fehlschlag erläuterte: „durch ein nicht kalkulierbares ereignis wäre es bei der geplanten durchführung zu einer gefährdung unbeteiligter gekommen.“1785 Infolge eines „abstimmungsfeh­ lers“1786 habe man das Selbstbezichtigungsschreiben bereits vor dem An­ schlag verschickt. Die negativen Reaktionen, die der RAF aufgrund die­ ser Texte zuteilwurde, zwangen die „Illegalen“ zum Handeln.1787 Am 26. April 1990 stritten sie öffentlich jegliche Verbindung zu der Aktion gegen Kiechle ab. Sie brandmarkten die Planungen als nachrichtendienst­ liche Operation, die die „Rote Armee Fraktion“ in einer Situation der strategischen Erneuerung diskreditieren solle: „Das Ziel dieser Geheimdienst-Aktion ist es, Verunsicherung, Spaltung und Desorientierung zu produzieren und zwar genau in der Situation, wo viele darauf warten, dass wir unsere Überlegungen und Vorstell­

1781 Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 65-67; 72-73. 1782 Zusammen Kämpfen 1990b, S. 1. Die Hervorhebungen entsprechen dem Ori­ ginal. 1783 Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 68. 1784 Vgl. Peters 2008, S. 657. 1785 Zusammen Kämpfen 1990b, S. 15. 1786 Ebd. 1787 Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 61.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

ungen, die wir in der Herrhausen‑Erklärung nur kurz und sehr allge­ mein angerissen haben, präzisieren“1788. Wem die auf den 2. und 3. März 1990 datierten Erklärungen zuzuschrei­ ben sind, konnte bislang nicht beantwortet werden. Die hierzu in der Literatur aufgestellten Annahmen gehen zum Teil weit auseinander und verlieren sich mitunter in Spekulationen. Rabert schrieb den versuchten Anschlag auf Kiechle der „Roten Armee Fraktion“ zu. Dass die „Illega­ len“ sich später distanzierten, sei Ausfluss der „immer stärker zwischen Kommandoebene, RAF-Unterstützer und Sympathisanten auftretenden Dissonanzen“1789 gewesen. Straßner vermutete, das Attentat sei von den „Revolutionären Zellen“ fingiert worden, um der „Roten Armee Fraktion“ zu schaden.1790 Peters gab zu verstehen, die deutschen Sicherheitsbehörden würden dem Zirkel die Aktion mittlerweile nicht mehr zurechnen. Er kolportierte die Auffassung namentlich nicht benannter „Staatsschützer“, die von einer gezielten Desavouierung ausgingen.1791 Keine Zweifel an der Urheberschaft hinterließ eine Sprengstoffexplosi­ on, welche die „Rote Armee Fraktion“ nach dem Erbeuten von 320 000 DM Anfang Juni 1990 in einem Einkaufsmarkt in Duisburg1792 vorberei­ tete und umsetzte. Am 27. Juli 1990 beschädigte sie den Dienstwagen Hans Neusels, der im Bundesministerium des Innern die Funktion eines Staatssekretärs ausübte. Neusel überlebte den Anschlag.1793 Das ausführen­ de „Kommando“ widmete die Aktion dem GRAPO‑Mitglied José Manuel Sevillano, das „im Mai [1990] nach 177 Tagen Hungerstreik von der spa­ nischen Regierung ermordet“1794 worden sei. Die „Rote Armee Fraktion“ betonte, die in Spanien inhaftierten Aktivisten benötigten „die Solidarität und Initiative von allen, denen es ernst ist mit radikaler Veränderung und dem Kampf für eine menschliche Gesellschaft.“1795 Als Ausdruck dieser Verbundenheit rechtfertigte sie das Attentat auf Neusel,1796 der in der Bun­ desrepublik Deutschland und Westeuropa eine unnachgiebige staatliche Haltung gegenüber allen vertrete, „die für Befreiung, Selbstbestimmung

1788 1789 1790 1791 1792 1793 1794 1795 1796

ID-Verlag 1997, S. 393. Rabert 1995, S. 138. Vgl. Straßner 2003, S. 164-165. Vgl. Peters 2008, S. 659-661. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 63. Vgl. Winkler 2008, S. 422; Pfahl-Traughber 2014a, S. 162. ID-Verlag 1997, S. 393. Ebd., S. 394. Vgl. ebd., S. 398.

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5.3 Niedergang

und ein menschenwürdiges Leben […] kämpfen.“1797 Er versinnbildliche „die personelle Kontinuität des deutschen Faschismus vom 3. Reich zum ‚Großdeutschland‘, das auf das 4. Reich zusteuert.“1798 Diesen Aufstieg Deutschlands begründete die RAF mit dem Niedergang der Deutschen Demokratischen Republik, der der Bundesrepublik in Westeuropa eine dominierende Position verschafft habe.1799 Ihre Regierenden sollen „die­ selben Ziele und imperialen Pläne wie der Nazi-Faschismus“1800 zu ver­ wirklichen suchen. Wie der Widerstand gegen das neu entstandene „Groß­ deutschland“ und die an seiner Seite agierenden westeuropäischen Staaten zu führen war, musste nach Auffassung der „Roten Armee Fraktion“ in einer Diskussion der Kräfte, die sich als Teil einer „antiimperialistische[n] Front“1801 begreifen, ermittelt werden: „Wir denken, dass es jetzt möglich ist und ein erster gemeinsamer Schritt im Neuaufbau einer starken revolutionären Bewegung sein kann, dass wir uns über die Brennpunkte in der Konfrontation Im­ perialismus/Befreiung verständigen, um daran zur gemeinsamen Inter­ vention zu kommen.“1802 Die Notwendigkeit eines konstruktiven Austauschs wiederholten die „Ille­ galen“ Ende September 1990 in einer Stellungnahme zu Durchsuchungen, welche die Polizei im Mai 1990 in der Hafenstraße in Hamburg vorge­ nommen hatte. Darin stemmte sich die RAF im Wesentlichen gegen die Annahme, sie habe die in der Straße besetzten Häuser als Operationsbasis beansprucht.1803 Diskursive Verbindungen zu „Genossinnen und Genos­ sen, die in anderen Kämpfen drinstecken und deren Zielvorstellungen“1804 denen der „Roten Armee Fraktion“ ähneln, seien aus ihrer Sicht allerdings selbstverständlich. Nur so könne es gelingen, „zusammen zu größerer Kraft und Stärke [zu] kommen“1805. Um sich potentiellen Interessenten als Kooperationspartner anbieten zu können, fasste der „Kommandobereich“ den Entschluss, sich in die aus dem Zweiten Golfkrieg erwachsende Anti­ kriegsbewegung sowie den öffentlichen Diskurs um die wirtschaftlichen

1797 1798 1799 1800 1801 1802 1803 1804 1805

Ebd., S. 394. Ebd., S. 395. Vgl. ebd., S. 396. Ebd., S. 398. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 399. Ebd., S. 401. Ebd.

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Wandlungsprozesse auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokra­ tischen Republik einzubringen. Wie der Anschlag der „Roten Armee Fraktion“ auf die Auslandsvertretung der Vereinigten Staaten in Bonn ver­ deutlichte, hielt der Zirkel dabei anfangs an seiner internationalistischen Grundausrichtung fest. Am 13. Februar 1991 feuerten RAF-Mitglieder aus Schnellfeuergewehren 250 Schuss auf die Botschaft ab, von denen rund 60 das Ziel trafen.1806 Das von der RAF fälschlicherweise nach Vincenzo Spano, einem noch lebenden Mitglied der „Action Directe“1807, benann­ te „Kommando“ äußerte schriftlich, man stelle sich mit dem Anschlag „in eine Reihe mit all denen, die rund um den Globus gegen diesen US‑NATO‑Völkermord [im Irak] aufgestanden sind.“1808 Zustimmend zi­ tierte es die in Griechenland aktive „Revolutionäre Organisation 17. No­ vember“. Darüber hinaus demonstrierte die RAF Verbundenheit mit dem Kampf der Palästinenser und Kurden im Nahen Osten beziehungsweise in der Türkei.1809 Enden ließ sie das Selbstbezichtigungsschreiben unter ande­ rem mit einer Parole, die die 1990 propagandistisch vorangetriebene Annä­ herung zu den „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ fortführte: „Solidarität mit dem Hungerstreik unserer gefangenen Genos­ sinnen und Genossen aus Action Directe und Grapo/PCE(r)“1810. Während die offenbar personell wie organisatorisch geschwächten „Kämpfenden Einheiten“ auf Aktionen verzichteten,1811 richtete der „Kommandobereich“ eine der Waffen, welche im Angriff gegen die Aus­ landsvertretung in Bonn Verwendung gefunden hatte, auf Detlev Kars­ ten Rohwedder1812 – er war 1990 mit dem Führen der Treuhandanstalt betraut worden. Der Einrichtung des öffentlichen Rechts oblag die Auf­ gabe, die etwa 8000 ehemaligen Staatsbetriebe der Deutschen Demokra­ tischen Republik einer Privatisierung zuzuführen.1813 Mit einem Distanz­ schuss fügte die RAF Rohwedder am 1. April 1991 tödliche Verletzungen zu.1814 Drei Tage später merkte das „Kommando Ulrich Wessel“ in einem Papier an, der Bundesrepublik gehe es darum, „die Wirtschaft der Ex‑DDR

1806 1807 1808 1809 1810 1811 1812 1813 1814

Vgl. Peters 2008, S. 667. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 64. ID-Verlag 1997, S. 401. Vgl. ebd., S. 402-403. Ebd., S. 404. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 28. Vgl. Straßner 2003, S. 167. Vgl. Der Spiegel 1990c, S. 154. Vgl. Rabert 1995, S. 138-139; Winkler 2008, S. 421; Pfahl-Traughber 2014a, S. 162.

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genauso wie die sozialen Strukturen dort (vom Gesundheitssektor bis zu den Kinderkrippen) systematisch“1815 zu zerstören. Anschließend könne „das Kapital auf freiem Feld und mit entwurzelten Menschen den Neuauf­ bau nach seinen Maßstäben organisieren“1816. Für diesen Prozess habe die Bundesregierung Rohwedder ausgewählt, der „dafür mit seiner Brutalität und Arroganz auch der Richtige“1817 gewesen sei. Besondere Erwähnung fand im weiteren Verlauf dieser Kapitalismuskritik unter anderem die Situation von Ausländern und Frauen, die Opfer von Rassismus und Un­ terdrückung werden würden.1818 Referenzen zu den Aktivitäten anderer europäischer Linksterroristen fehlten gänzlich, womit das Tatbekenntnis erheblich von vorherigen Selbstbezichtigungen abwich. Als Antwort auf die wirtschaftlichen Umwälzungen und das damit einhergehende Erstar­ ken „Großdeutschlands“ präsentierte die „Rote Armee Fraktion“ nicht die „antiimperialistische Front“ in Westeuropa, sondern „eine Gegenmacht, die zusammen mit den Kämpfen der Völker im Trikont [Afrika, Asien, Lateinamerika] die notwendigen Veränderungen gegen das imperialisti­ sche System durchsetzen kann“1819. Sie selbst wolle das Entstehen dieser „Gegenmacht“ durch das Aufgreifen aktueller politischer Konflikte för­ dern.1820 Daneben werde sie weiterhin die „Freiheit der politischen Gefan­ genen“1821 als Schwerpunkt ihrer Handlungen begreifen. Letztes untermauerten die „Illegalen“ in einer Meldung vom 23. Juni 1991, in der sie Berichten zu einer Anleitung des „Kommandobereichs“ durch die Inhaftierten der RAF entgegentraten. Derartige Schilderungen interpretierten sie als Schachzug der Justiz, der eine Verschlechterung der Haftbedingungen verurteilter Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ bewirken solle. Einen weiteren Vorstoß zur Verwirklichung ihrer Zusam­ menlegung verlangten die „Aktiven“ von allen Akteuren, welche den Hun­ gerstreik im Jahre 1989 unterstützend begleitet hatten. Das engere Umfeld der RAF nahm diese Forderung sogleich an und initiierte eine neue Mobi­ lisierungskampagne.1822 Im Sommer 1991 organisierten Unterstützer des Zirkels ein sogenanntes Knastcamp vor der Justizvollzugsanstalt im bayeri­ schen Aichach. Außerdem okkupierten sie Zeitungsredaktionen in Hanno­ 1815 1816 1817 1818 1819 1820 1821 1822

ID-Verlag 1997, S. 405. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 407. Ebd., S. 408. Vgl. ebd., S. 409. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 27-28.

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ver und Wiesbaden. Eine „Mahnwache“ vor dem Gefängnis in Bruchsal hielten sie im Dezember 1991 ab. Die Resultate dieser Aktivitäten blieben insgesamt hinter den Erwartungen des Umfelds zurück. Erneut erzeug­ ten sie keinen signifikanten Zuspruch linksextremistischer Zusammenhän­ ge.1823 Zudem fanden Unterstützer und „Gefangene“ der RAF nicht zu einem gemeinsamen Vorgehen. Die Inhaftierten tauschten sich zwar zu den Perspektiven einer weiteren Nahrungsverweigerung aus, konnten aber keinen Konsens herbeiführen. Unter den Häftlingen traten zwei Strömun­ gen hervor: Eine „Fraktion“ sprach sich für einen Hungerstreik aus und begründete dies mit ihrer Überzeugung, die Justiz könne nur durch eine Protesthaltung der Inhaftierten zu Konzessionen gezwungen werden. Die andere Linie hielt eine zurückhaltende Strategie für geboten, die Schritt für Schritt die Konditionen in den Haftanstalten zu verbessern versucht. Risse im Verhältnis zwischen den auf verschiedene Gefängnisse verteilten RAF‑Häftlingen entwickelten sich in dieser Situation aus einer Nahrungs­ verweigerung, die die in der Justizvollzugsanstalt Celle untergebrachten Aktivisten zwischen dem 23. September und 4. Oktober 1991 aufrechter­ hielten. Dabei wollten sie lediglich auf die eigene Lage in der Haft einwir­ ken, was andere „Gefangene“ der „Roten Armee Fraktion“ zum Anlass nahmen, ihnen fehlende Solidarität und Eigennutz zu unterstellen.1824 Die im Frühjahr 1991 sukzessive erkennbar gewordene strategische An­ passung des „Kommandobereichs“ erbrachte ebenfalls nicht die erhofften positiven Reaktionen im deutschen (gewaltbereiten) Linksextremismus. Im Gegenteil: Eine „Gruppe aus dem Traditionszusammenhang der Re­ volutionären Zellen“ belegte die Waffengewalt der RAF im Juli 1991 mit vernichtender Kritik. Sie gab zu verstehen, der Beschuss der US-Bot­ schaft in Bonn sei eine „traurige Karikatur dessen […], wofür mehrere Generationen Militanter seit Anfang der 70er Jahre in diesem Land ge­ kämpft haben.“1825 Sie könne nur als „endgültige Bankrotterklärung“1826 verstanden werden. Hinsichtlich der Morde der „Roten Armee Fraktion“ hielten die Autoren fest, diese würden lediglich „den revolutionären Be­ freiungsanspruch von Innen“1827 untergraben. In der diffizilen Beziehung zu den GRAPO zeichnete sich dagegen ein langsamer Wandel ab. Die

1823 Vgl. ebd., S. 30. 1824 Vgl. ebd., S. 31. 1825 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 659. 1826 Ebd. 1827 Ebd.

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Idee einer „antiimperialistischen Front“ in Westeuropa stärkte 1991 in einem Interview der Generalsekretär der „Partido Comunista de España (reconstituido)“ [PCE(r)], die als legale Partei den „bewaffneten Kampf“ der „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ unterstützte. Eine solche Formation würde inzwischen Gegenstand kontroverser Aus­ einandersetzungen innerhalb der PCE(r) sein. Nach Auffassung des Gene­ ralssekretärs könne sie nur dann geschaffen werden, wenn die beteiligten Gruppen ihre strukturelle Autonomie behielten. Die GRAPO selbst lobten 1991 ausdrücklich die Sympathie, welche die „Rote Armee Fraktion“ mit ihrem Attentat auf Hans Neusel bekundet hatte.1828 Obwohl die seit Jahren erhofften ermutigenden Signale aus Spanien nunmehr vorlagen, bauten die „Illegalen“ die Kontakte zu den „Grupos de Resistencia Antifascista Primero de Octubre“ nicht aus. Auch das von ihr in der Erklärung zur Ermordung Rohwedders angekündigte Eingreifen in aktuelle politische Auseinandersetzungen blieb ohne Konsequenzen. Die Gründe hierfür lagen wohl in einer zunehmenden Beanspruchung durch einen internen Reflexionsprozess, der laut Hogefeld in Ansätzen bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 aufgekommen war.1829 Die Mitglieder des „Kom­ mandobereichs“ durchliefen „eine Phase, in deren Verlauf […] [sie] über die gesamte RAF-Geschichte diskutiert und viele der jahrelang geltenden und ‚feststehenden‘ Bestimmungen in Frage gestellt“1830 hätten. „Dabei ging es zum Beispiel“, so Hogefeld, „um Kritik an der ausschließlichen Ausrichtung […] [ihres] Kampfes gegen Verbrechen und Strategien der Gegenseite“1831. Während dieser Revision überraschten Aussagen des FDPPolitikers Klaus Kinkel,1832 der 1989 im Hungerstreik der „Roten Armee Fraktion“ eine Vermittlerrolle eingenommen hatte und inzwischen zum Bundesminister der Justiz ernannt worden war. Kinkel warb im Sommer 1991 unter den Justizministern der Bundesländer um Unterstützung für einen Plan, der eine der tragenden Säulen des „bewaffneten Kampfes“ der RAF ins Wanken bringen sollte. Er sah vor, im Falle langjähriger „Gefangener“ der „Roten Armee Fraktion“ die Option einer vorzeitigen Haftentlassung nach Möglichkeit auszuschöpfen.1833 In einer Rede auf

1828 1829 1830 1831 1832 1833

Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 34-35. Vgl. Hogefeld 1996, S. 53. Ebd. Ebd. Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 162. Vgl. Der Spiegel 1992a, S. 79-80.

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dem Dreikönigstreffen der Freien Demokratischen Partei Anfang 1992 machte er diese Überlegungen schließlich öffentlich.1834 Er äußerte, die Bundesrepublik müsse „dort, wo es angebracht ist, zur Versöhnung bereit sein“1835. 5.3.2 Gewaltverzicht, Richtungskampf, Angriff auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt (1992 bis 1993) In den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ verfehlte die „Kinkel-Initiati­ ve“1836 ihre Wirkung nicht. Karl-Heinz Dellwo war der Auffassung, der deutsche Staat äußere erstmals seine „Bereitschaft […], politisch mit der RAF und den Gefangenen umzugehen.“1837 Gemeinsam mit den anderen in Celle einsitzenden Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ verständig­ te er sich auf die Notwendigkeit, den Überlegungen Kinkels eine Reaktion folgen zu lassen. Diese hätten sie „von den Illegalen erwartet.“1838 Andere Häftlinge sahen sich angesichts des Angebots der „Versöhnung“ in einem Zwiespalt. Irmgard Möller war einerseits überzeugt, die Justiz erwarte bei einem Entgegenkommen das Lossagen vom „bewaffneten Kampf“.1839 Derartiges könne jedoch nicht geleistet werden, da es die „Rote Armee Fraktion“ als „politisches Projekt“1840 bloßgestellt hätte: Die Abkehr von der Gewalt wäre „dann keine politische Entscheidung in einer bestimmten Situation gewesen, sondern Teil eines Deals“1841, welcher den Inhaftierten zum „persönlichen Vorteil“1842 gereicht. Andererseits sah Möller in der „Kinkel-Initiative“ – ähnlich wie Dellwo – eine positive Entwicklung, die den Staat zu einer „politischen Lösung“1843 führen könne. Damit wäre „der Gedanke, dass wir vielleicht auch mal rauskommen könnten, […] kein absolutes Tabu mehr“1844 gewesen.

1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1841 1842 1843 1844

Vgl. ebd., S. 81. Klaus Kinkel, zit. n. Peters 2008, S. 671. Straßner 2003, S. 184. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 185. Ebd. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 197. Ebd. Ebd., S. 197-198. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd.

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5.3 Niedergang

Der „Kommandobereich“ meldete sich erst mehrere Monate später mit einer inhaltlich überraschenden Erklärung zu Wort. Adressiert war diese „[a]n alle, die auf der Suche nach Wegen sind, wie menschenwürdiges Leben hier [in der Bundesrepublik Deutschland] und weltweit an ganz konkreten Fragen organisiert und durchgesetzt werden kann“1845. 21 Jah­ re nach dem Erscheinen des von Ulrike Meinhof verfassten Texts „Das Konzept Stadtguerilla“ übten die „Illegalen“ am 13. April 19921846 erstmals öffentlich grundlegende Kritik an der terroristischen Praxis der „Roten Ar­ mee Fraktion“. Sie gaben zu, ab 1989 langsam erkannt zu haben, „dass es […] nicht mehr so weitergehen kann wie bisher.“1847 Inzwischen sei es zwingend erforderlich, Fehler der vergangenen Jahre zu analysieren und deren Implikationen für die Zukunft zu erkennen.1848 Ursache dieser Einsicht wäre zum einen der Zerfall des sowjetischen Hegemonialbereichs gewesen, der „katastrophale Auswirkungen für Millionen Menschen welt­ weit und […] alle, die rund um die Globus um Befreiung kämpfen, auf sich selbst zurückgeworfen“1849 hat. Zum anderen habe die Wirkung des eigenen Handelns ein Umdenken befördert. Die RAF sei „politisch nicht stärker, sondern schwächer geworden“1850, da sie ihre „Politik ganz stark auf Angriffe gegen die Strategien der Imperialisten reduziert[e]“1851. Beide Problemlagen hätten den „Kommandobereich“ ab 1990 in „einen paral­ lelen Prozess von Neubestimmung und praktischen Interventionen“1852 getrieben, der allerdings nicht die erwünschten Ergebnisse erzielte. Es sei versäumt worden, dem Umfeld die intendierte Zäsur vollständig und ver­ ständlich darzulegen.1853 Verknüpft war hiermit das Versprechen: „[W]ir werden demnächst über alles genauer reden.“1854 Die weiteren Passagen des Traktats umrissen ein strategisches Vorhaben, das den Aufbau einer „Gegenmacht von unten“1855 auf der Grundlage des „Alltag[s] der Menschen in dieser Gesellschaft“1856 vorsah. Essentieller Be­

1845 1846 1847 1848 1849 1850 1851 1852 1853 1854 1855 1856

ID-Verlag 1997, S. 410. Vgl. Peters 2008, S. 673. ID-Verlag 1997, S. 410. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 411. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 412. Ebd., S. 411.

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standteil dieses Plans sei der Versuch, den Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ die Haftentlassung zu ermöglichen. Entscheidend wäre, gesund­ heitlich angeschlagenen Häftlingen rasch die Freiheit zu gewähren und die übrigen Inhaftierten bis zur Entlassung zusammenzulegen. Ausdrücklich begrüßten die „Illegalen“ in ihrem Papier die Aussagen Klaus Kinkels, welche den staatlichen Willen zur Konfliktlösung abseits repressiver Maß­ nahmen anzeigten. Es bleibe allerdings abzuwarten, ob und inwiefern die „Kinkel-Initiative“ tatsächlich die Situation von „Gefangenen“ zu verbes­ sern vermag.1857 Um „Diskussionen und Aufbau einer Gegenmacht von unten“1858 und damit auch den Kampf in den Haftanstalten vorantreiben zu können, wartete der „Kommandobereich“ in seinem Traktat mit einem temporären Gewaltverzicht auf: „Wir haben uns entschieden, dass wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Das heißt, wir werden Angriffe auf führende Reprä­ sentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozess einstellen.“1859 Das Einhalten dieser Zusage machten sie allerdings von dem Agieren des deutschen Staates abhängig. Sollte sich dieser für einen unnachgiebigen Kurs entscheiden, würden die „Illegalen“ erneut zu Anschlägen greifen: „Jetzt ist die staatliche Seite gefragt, wie sie sich verhält; und weil das heute noch niemand weiß, wollen wir den Prozess von Diskussio­ nen und Aufbau schützen. Wenn sie diejenigen, die diesen Prozess für sich in die Hand nehmen, mit ihrer Walze aus Repression und Vernichtung plattmachen, also weiter auf Krieg gegen unten setzen, dann ist für uns die Phase des Zurücknehmens der Eskalation vorbei – wir werden uns das nicht tatenlos anschauen. […] Auch wenn es nicht unser Interesse ist: Krieg kann nur mit Krieg beantwortet werden.“1860 Die „Gefangenen“ der RAF sollen sich angesichts der Erklärung des „Kom­ mandobereichs“ im ersten Augenblick erleichtert gezeigt, jedoch die lange Dauer moniert haben, die zwischen Kinkels Aussagen Anfang 1992 und der schriftlichen Reaktion der „Aktiven“ lag.1861 Bereits am 15. April 1992 – zwei Tage nach dem Bekanntwerden des Textes – machte Irmgard Möl­

1857 1858 1859 1860 1861

Vgl. ebd., S. 412-413. Ebd., S. 412. Ebd. Ebd., S. 414. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 198; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 186.

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5.3 Niedergang

ler im Namen aller Häftlinge ihre Unterstützung für die Entscheidung der „Illegalen“ publik und forderte das zügige Entlassen Bernhard Röss­ ners und Günter Sonnenbergs,1862 die offenbar mit gesundheitlichen Pro­ blemen zu kämpfen hatten.1863 Für die übrigen Inhaftierten müsse eine Lösung „in einem absehbaren nächsten Zeitraum“1864 gefunden werden. Während Karl-Heinz Dellwo Möllers differenzierte Forderungen eigenen Angaben zufolge begrüßte, habe sie Helmut Pohl abgelehnt.1865 Von ihm sei eine „massive Kritik“1866 formuliert worden, „weil sie [Irmgard Möller] nicht die Freiheit von allen sofort, sondern ‚in einem überschaubaren Zeitraum‘ gefordert hatte.“1867 Möller selbst habe von ihrer anfänglichen Euphorie abgelassen, als sie sich näher mit dem Text des „Kommandobe­ reichs“ auseinandersetzte. Aus ihrer Sicht erweckte er nicht den Anschein einer selbstbestimmten politischen Antwort, sondern den Eindruck einer unmittelbaren Reaktion auf das Votum Kinkels. Gravierender erschien ihr indes der Entschluss der „Illegalen“, die Gewaltintensität von dem Vorgehen des Staates bestimmen zu lassen.1868 Dazu hielt sie fest: „Das war genau das, was wir überhaupt nicht wollten. Die politische Entscheidung, bestimmte Kommandoaktionen zu lassen, wurde so Teil einer Verhandlungsmasse in der Auseinandersetzung um das Schicksal von uns Gefangenen.“1869 Nach außen wollte sie diese Auffassung nicht vertreten, da ein derartiges Verhalten die Position des „Kommandobereichs“ untergraben hätte.1870 Außerdem waren sie und die anderen in Lübeck einsitzenden RAF-Inhaf­ tierten sich angeblich „unsicher, ob wir nicht doch was übersehen oder falsch verstanden hatten.“1871 Von den „Aktiven“ erhofften sie sich jeden­ falls eine Klarstellung.1872 Außerhalb der Gefängnisse wurden die Überlegungen der „Illegalen“ unterschiedlich bewertet. Ein Großteil des engeren Umfelds der „Roten

1862 1863 1864 1865 1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872

Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 21. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 186. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 21. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 186. Ebd. Ebd. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 198-199. Ebd., S. 199. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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Armee Fraktion“ sprach sich für ein Eingehen auf die „Kinkel-Initiative“ aus.1873 Eine Minorität beanstandete die in dem Papier vom 13. April 1992 erkennbare Absicht, eine strategische Neuausrichtung und die Verbesse­ rung der Haftbedingungen für „politische Gefangene“ der RAF zu ver­ schmelzen. Darüber hinaus sah sie die Schilderungen zum weiteren Vorge­ hen als unzureichend an. Völlige Ablehnung spiegelten Texte des Umfelds der „Roten Armee Fraktion“ wider, die am 24. April und 29. Mai 1992 in diversen Zeitungsredaktionen eintrafen. Zu ihnen bekannte sich später eine „Antiimperialistische Widerstandszelle Nadia Shehadah“, welche für Anschläge auf den Arbeitgeberverband Gesamtmetall und die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg Ende November 1992 verantwortlich zeichnete. Unverhohlen sprachen die Verfasser dem „Kommandobereich“ ab, im Besitz revolutionärer strategischer Annahmen zu sein. Sie verlang­ ten ein Fortsetzen des „bewaffneten Kampfes“, sei dieser doch zweckdien­ lich und aus moralischer Perspektive geboten.1874 Dabei beriefen sie sich auf das „Entsetzen ausländischer Genossen“1875. Inhaftierte Aktivisten der zerschlagenen „Cellules Communistes Combattantes“ und Mitglieder der PCE(r) beurteilten die von den „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ angestrebten Veränderungen ausgesprochen negativ. Ein ähnliches Echo war aus den Reihen der „Brigate Rosse“ zu vernehmen.1876 Die im unterstützenden Umfeld geäußerte Kritik brachte weder die „Illegalen“ noch die Inhaftierten der RAF von ihrer Linie ab. Am 25. April 1992 unterstrich Eva Haule‑Frimpong in einer schriftlichen Stellungnah­ me, „dass die Probleme, die gelöst werden müssen, so viele, konkrete und zugespitzt sind, dass die bewaffnete Aktion, wie sie in den 22 Jahren war, keine (strategische) Gesamtfunktion für den revolutionären Prozess mehr erreichen kann.“1877 Sie dürfe nicht als Substitut einer politischen Agenda begriffen werden.1878 Vielmehr sei sie bloßes „Mittel revolutionä­ rer Politik, die neu zu entwickeln […] der Prozess ist, der vor uns liegt und gemeinsam angepackt werden muss“1879. Um entlang der Haftbedingun­ gen „politischer Häftlinge“ eine erste „produktive Lösung durchzusetzen

1873 Vgl. Straßner 2003, S. 198. 1874 Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 27-28; Bundesministerium des Innern 1994, S. 31-32. 1875 Bundesministerium des Innern 1993, S. 28. 1876 Vgl. ebd., S. 30; Straßner 2003, S. 308-309; 313-314. 1877 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 23. 1878 Vgl. ebd., S. 24. 1879 Ebd.

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und dafür den Raum zu öffnen“1880, hätten sich der „Kommandobereich“ und die „Gefangenen“ in dieser Phase bewusst für ein Aussetzen der be­ waffneten Aktion ausgesprochen. Dass diese Kehrtwende „bei manchen Leuten ‚Gefühle der Ohnmacht und Niederlage‘ ausgelöst“1881 hat, könne sie schwerlich nachvollziehen. Solche Haltungen seien „politisch völlig leer“1882. Die „Gefangenen“ würden an dem neuen Kurs festhalten: „So oder so.“1883 Ende Juni 1992 verbreitete sich ein Grußwort des „Kommandobe­ reichs“, das die Positionen des im April bekannt gewordenen Papiers der „Aktiven“ wiederholte. Es richtete sich an die Teilnehmer eines „Gegen­ kongresses“, der unter intensiver Mitwirkung des engeren RAF-Umfeldes anlässlich des vom 6. bis zum 8. Juli 1992 in München abgehaltenen Weltwirtschaftsgipfels organisiert worden war.1884 Abermals konstatierten die „Illegalen“: Es sei an der Zeit für „eine offene Diskussion über neue Grundlagen und Orientierungen, in der es möglich wird, neue Gedanken und Vorstellungen für den Umwälzungsprozess zu entwickeln.“1885 Sie würden weiterhin von einer Gewaltanwendung absehen, da Anschläge den notwendigen Dialog nicht vorantreiben könnten.1886 In aller Deutlichkeit betonten sie, das Abrücken vom „bewaffneten Kampf“ stehe nicht in Ver­ bindung mit staatlichen Maßnahmen: „Wir haben mit dem Brief […] [vom April 1992] eine ganz lange Phase unserer Geschichte abgeschlossen. Das ist unsere Entscheidung, dass wir jetzt diesen Prozess von Reflexion und Neubestimmung für die Entwicklung auf unserer Seite wollen – das hat nichts mit dem Staat zu tun.“1887 Mit dieser Passage begegneten die „Illegalen“ wohl insbesondere Schluss­ folgerungen, wie sie mit Blick auf die „Kinkel-Initiative“ nicht nur von Möller und anderen Häftlingen der „Roten Armee Fraktion“ in Lübeck ge­ zogen wurden. Erschließen ließ sich dies aus einem Austausch, den Hoge­ feld 1994 mit der „Tageszeitung“ unterhielt. Auf die Frage, welche Bilanz der Vorstoß Kinkels vorweisen könne, antwortete sie unter anderem: 1880 1881 1882 1883 1884 1885 1886 1887

Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 27-28, 42. ID-Verlag 1997, S. 417. Vgl. ebd., S. 418. Ebd., S. 419. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden.

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„Nach der RAF-Erklärung vom April 92 […] kam von Teilen der radikalen Linken die Kritik: die RAF macht genau das, was mit dieser Initiative konzipiert war, nämlich den bewaffneten Kampf beenden. Unsere Entscheidung hatte nichts mit dieser Kinkel-Initiative zu tun, das heißt, wenn Kinkel damit nicht gekommen wäre, wäre unsere Diskussion trotzdem dieselbe gewesen und auch das Ergebnis“1888. Im August 1992 stellte der „Kommandobereich“ die bis dahin ausführ­ lichste Rechtfertigung seiner Ansichten zur Verfügung, in der er zunächst die Historie der Dritten Generation der „Roten Armee Fraktion“ ab 1984 in ihren Grundzügen rekapitulierte und schließlich zu einem Ausblick auf das weitere Vorgehen gelangte. Die „Illegalen“ gestanden im Wesent­ lichen ein, die RAF habe nach ihrem Wiederaufleben Mitte der 1980er Jahre das „Mai-Papier“ des Jahres 1982 größtenteils ohne Prüfung seiner Aktualität als Wegweiser übernommen.1889 Darüber hinaus sei sie zu sehr von dem Ziel vereinnahmt worden, rasch und schlagkräftig gegen – ver­ meintliche – imperialistische Machtstrukturen zur Tat zu schreiten.1890 Dies wäre in einer verheerenden „militärischen Eskalation“1891 gemündet, die „politische[n] Prozessen und Möglichkeiten“1892 keinen Raum geboten habe. Versäumt worden sei insbesondere, den Konnex zu den Auseinan­ dersetzungen in der Bundesrepublik herzustellen. Deutlich werde dieser Fehler in der Ermordung des US-Soldaten Edward Pimental sowie in dem Anschlag auf die Rhein-Main Air Base im August 1985.1893 Ein Aufweichen habe diese Strategie erstmals 1989 erfahren, nachdem die Dritte Generation „mit der Frontentwicklung an eine Grenze gekom­ men“1894 war. Es sei zwar der Gedanke einer „Gegenmacht von unten“1895 erwachsen, dieser habe aber die Isolation der „Roten Armee Fraktion“ nicht aufbrechen können.1896 Als notwendige Bedingung für eine Teilnah­ me an einer „offene[n] Diskussion unter allen, die […] um Veränderung kämpfen“1897, hätte der „Kommandobereich“ seinen Gewaltverzicht gese­

1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897

Hogefeld 1996, S. 57. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 428. Vgl. ebd., S. 424-426. Ebd., S. 426. Ebd. Vgl. ebd., S. 426-427. Ebd., S. 432. Ebd., S. 434. Vgl. ebd., S. 443. Ebd., S. 420.

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hen.1898 Von dem Dialog versprach sich die RAF eine „Verständigung über die kurzfristigen und die langfristigen Ziele“1899 und damit eine „Entscheidung […], wie gekämpft werden muss.“1900 Als möglicher Aus­ gangspunkt eines gemeinsamen Kampfes biete sich das Verbessern der Haftbedingungen „politischer Gefangener“ an.1901 Mit der „Kinkel-Initiati­ ve“ sei bereits partiell eine Entwicklung eingeleitet worden, um die es der „Roten Armee Fraktion“ im Allgemeinen gehe: „das Zurückweichen des Staates aus seinem Ausmerzverhältnis, das er gegenüber allen hat, die für ein selbstbestimmtes Leben“1902 eintreten. Momentan zeichne sich die In­ tention staatlicher Stellen ab, diesen Fortschritt „zu verschleppen und […] zu entpolitisieren“1903. Hier sei eine Intervention geboten.1904 Signalisiere der Staat keine Einsicht, „wäre die notwendige und historisch logische Antwort, dass der bewaffnete Kampf zurückkommen wird“1905. An die Stelle der Zuversicht, welche die „Aktiven“ und Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ mit der „Kinkel-Initiative“ verbanden, trat spätestens im Herbst und Winter 1992 zusehends Ernüchterung.1906 Er­ kennbare Anzeichen dieser Tendenz fanden sich in der Resonanz einzel­ ner Häftlinge, die aus den unterschiedlichen Voten der Justiz in den Fällen Bernhard Rössners und Günter Sonnenbergs resultierte. Sonnen­ berg war am 15. Mai 1992 als Folge eines Antrags des Generalbundesan­ walts Alexander von Stahl nach einem 15‑jährigen Gefängnisaufenthalt entlassen worden.1907 Rössner hingegen gewährte die Justiz eine auf 18 Monate befristete Haftaussetzung, die seiner gesundheitlichen Genesung dienen sollte.1908 Der Verzicht auf seine Freilassung erregte den Unmut der in Celle einsitzenden RAF‑„Gefangenen“, die ihre an den Staat gerich­ teten Erwartungen zerschlagen sahen: „Wir hätten in der Begnadigung ein politisches Signal gesehen – das war […] nicht gekommen.“1909 Die Enttäuschung trug Karl-Heinz Dellwo im November 1992 in einer Erklä­

1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909

Vgl. ebd., S. 443-444. Ebd., S. 443. Ebd. Vgl. ebd., S. 445. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 446. Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 30. Vgl. von Stahl/Der Spiegel 1992, S. 95. Vgl. Peters 2008, S. 685. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 187. Vgl. auch Taufer 2018, S. 182.

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rung an die Öffentlichkeit. Er behauptete, die von der Bundesregierung gegenüber inhaftierten Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ vertretene Politik habe keinesfalls eine Änderung erfahren.1910 Der Staat sei nach wie vor bestrebt, die Häftlinge „als Gruppe politisch zu zerstören.“1911 Nichts­ destotrotz würden die Inhaftierten bei ihren Forderungen bleiben. Sie erwarteten nicht die sofortige Freilassung, sondern die Aussicht auf eine Entlassung „in einem überschaubaren Zeitraum“1912. Ähnlich wie Möllers Äußerungen Mitte April 1992 rief diese Positionierung Spannungen unter den „Gefangenen“ hervor. Dies beschrieb Dellwo 2007 in einem Interview. Brigitte Mohnhaupt und Helmut Pohl hätten sich gegen ihn gewandt und dabei erneut die Auffassung vertreten, nach außen müsse als zentrale Lösung die Freiheit für sämtliche Inhaftierten verlangt werden.1913 Dellwo stellte im November 1992 gemeinsam mit den in Celle, Lü­ beck und Bochum einsitzenden Inhaftierten Knut Folkerts, Hanna Krab­ be, Christine Kuby, Irmgard Möller, Lutz Taufer und Stefan Wisniewski einen Antrag auf Entlassung. Schriftlich sagten sie zu, sich nach Erhalt der Freiheit nicht dem „bewaffneten Kampf“ anzuschließen.1914 Folkerts gab im Januar 1993 zu verstehen, von den Häftlingen wäre diese Option ungeachtet der aufgekommenen Skepsis in Anspruch genommen worden, um Unterstellungen vorzubeugen: Der Staat hätte andernfalls die Aussage treffen können, „es läge an den Gefangenen, dass sich praktisch nichts tut.“1915 Das Begehren der sieben Inhaftierten fand allerdings zunächst ein jähes Ende. In der im Entlassungsverfahren vorgesehenen psychiatrischen Untersuchung sahen sie den Versuch der Justiz, „politische Gefangene“ als „unzurechnungsfähige Kriminelle“1916 zu brandmarken. Den von ih­ nen unterbreiteten Gegenvorschlag, die Begutachtung von einem Sozial­ wissenschaftler vornehmen zu lassen, lehnten die Gerichte im Februar und April 1993 ab.1917 Sowohl im Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ als auch unter ihren „Gefangenen“ mehrten sich Ende 1992/Anfang 1993 die Stimmen, die öffentlich die bislang beobachtbaren Haltungen zur „Kinkel‑Initiative“

1910 1911 1912 1913 1914

Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 164. Ebd., S. 166. Ebd., S. 165. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 187. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 165-166. 1915 Ebd., S. 168. 1916 Bundesministerium des Innern 1993, S. 30. Vgl. auch Taufer 2018, S. 185. 1917 Vgl. Peters 2008, S. 685.

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5.3 Niedergang

sowie die Positionierung des „Kommandobereichs“ zum Kampf der Inhaf­ tierten ablehnend bewerteten. Unweigerliche Folgen dieser Bekundungen waren ein Ausweiten und Vertiefen der Gräben, welche sich unmittelbar nach der Ankündigung der „Illegalen“ im April 1992 aufgetan hatten. Das unterstützende Milieu, das noch im Juni 1992 in Bonn eine Demonstrati­ on mit annähernd 2000 Teilnehmern für das Entlassen „politischer Gefan­ gener“ organisiert hatte, betrachtete die für einige Inhaftierte erreichte Haftverschonung im Dezember 1992 teilweise als Pyrrhussieg. Mit der Abkehr von Gewalttaten hätten die „Illegalen“ der RAF ihre Integrität eingebüßt. Es sei erforderlich, diesen Verfall aufzuhalten.1918 Der inhaf­ tierte Aktivist Rolf Heißler schrieb im Januar 1993, der Bundesrepublik sei „es nie um eine ‚politische Lösung‘ in der Frage der Guerilla und der Gefangenen“1919 gegangen. Vielmehr habe sie in den Haftanstalten „Spaltung und Entsolidarisierung“1920 erzielen wollen. Bedenklich sei die Vermengung einer strategischen Neuausrichtung mit dem Kampf um ver­ besserte Bedingungen in den Gefängnissen, die der „Kommandobereich“ der „Roten Armee Fraktion“ in seinen Äußerungen ab April 1992 forcier­ te. Heißler zufolge konnten die Texte der „Aktiven“ sowie der Beitrag Irmgard Möllers vom 15. April 1992 staatliche Stellen ausschließlich zu folgenden Annahmen führen: „Die RAF in ihrem derzeitigen Zustand der Desorientierung ist mit sich selbst beschäftigt, damit handlungsunfähig und braucht nicht mehr ernst genommen zu werden. Wir können mit den Gefangenen machen, was wir wollen.“1921 Heißler teile den Wunsch der in Celle und Lübeck untergebrachten RAFMitglieder, aus der Haft entlassen zu werden. Ihre Anträge sowie die mit ihnen verbundenen Begründungen und Zusagen halte er indes für ver­ fehlt, würden diese dem Sicherheitsapparat doch ein Vorgehen aufzeigen, das er gegen sozialrevolutionären Widerstand und „politische Häftlinge“ zum Einsatz bringen könne.1922 Aus seiner Sicht hatten sie sich „den vom Staat festgelegten Kriterien für […] [die] Behandlung“1923 inhaftier­ ter Angehöriger der „Roten Armee Fraktion“ gebeugt. Heißlers Vorwurf,

1918 1919 1920 1921 1922 1923

Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 28. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 174. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 175. Vgl. ebd.

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zugunsten einer zügigen Entlassung kompromissbereit gewesen zu sein, kehrte Lutz Taufer in einer ebenfalls im Januar 1993 bekannt gegebenen Stellungnahme mit der rhetorischen Frage um, „ob mit der Hinnahme jahrzehntelanger Gefangenschaft als eine Art Naturzustand das staatliche Gewaltmonopol nicht […] anerkannt“1924 werde. Die in Heißlers Text prä­ sentierten Überzeugungen nehme er als „Ghettobewusstsein“1925 wahr, das in einem dualistischen Weltbild verharre und somit Stillstand fördere.1926 Brigitte Mohnhaupt verschickte im Februar 1993 ein Papier, dessen Inhalte sich mit Heißlers Feststellungen zur Strategie des „Kommandobe­ reichs“ grundsätzlich deckten. Während sie den Gewaltverzicht der „Roten Armee Fraktion“ ausdrücklich befürwortete,1927 wies sie die im April 1992 von den „Illegalen“ erstmals verkündete „Verknüpfung der Entscheidung der RAF für eine Zäsur […] mit der Freiheit der Gefangenen“1928 als Ak­ tionslinie aus, die zu Missverständnissen geführt habe und daher aufgege­ ben werden müsse. Sie hätte zu sehr den Eindruck erweckt, die „Aktiven“ wollten auf den Staat zugehen. Dementsprechend habe die „Gefangenen­ sache einen starken Drall in die Richtung bekommen: um die Freiheit muss nicht mehr gekämpft werden, sie muss nicht überhaupt erst politisch durchgesetzt werden, sondern das ist jetzt eine Angelegenheit zwischen RAF und Staat und läuft im Rahmen der ‚Kinkel-Initiative‘ still hinter den Kulissen.“1929 Die von Ende 1992 an mit den Celler Inhaftierten im Austausch befind­ lichen1930 Angehörigen des „Kommandobereichs“ der „Roten Armee Frak­ tion“, die laut Dellwo „teilweise überhaupt nicht verstanden [hatten], was von ihnen erwartet wurde“1931, griffen erst Ende März 1993 in die Debatte ihres Umfelds und der Inhaftierten ein. Im Laufe der Nacht zum 27. März 1993 erfüllte das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ – benannt nach einer 1975 in der Haft verstorbenen Unterstützerin der RAF1932 – die in den Traktaten des Jahres 1992 mehrfach unterstrichene Drohung, gegebenenfalls erneut zu terroristischen Straftaten zu greifen. Aktivisten der Gruppe drangen in die neu errichtete Justizvollzugsanstalt Weiterstadt

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932

Ebd., S. 191. Ebd., S. 185. Vgl. ebd., S. 192, 196. Vgl. ebd., S. 198. Ebd., S. 197. Ebd., S. 200. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 189. Ebd. Vgl. Der Spiegel 1975d, S. 62.

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ein, fesselten das im unbelegten Gefängnis anwesende Personal und ließen es in einem Fahrzeug außerhalb des Geländes zurück. Im Gebäude plat­ zierten sie an unterschiedlichen Orten etwa 200 Kilogramm Sprengstoff, dessen Detonation schließlich einen Sachschaden in Höhe von circa 123 Millionen DM verursachte.1933 Wenige Tage später verbreitete sich das Selbstbezichtigungsschreiben der „Roten Armee Fraktion“, in dem sie ihre Auffassungen zu den zurückliegenden Ereignissen und Diskussionen offenbarte. Der Staat habe sich im Herbst 1992 „in Bezug auf die Gefange­ nen ein weiteres Mal für die Eskalation entschieden“1934. Ersichtlich sei dies unter anderem aus dem Entschluss der Justiz geworden, Rössner nicht dauerhaft in die Freiheit zu entlassen.1935 Diese Unnachgiebigkeit dürfe nicht „schulterzuckend oder ohnmächtig akzeptiert“1936 werden, weil das Eintreten für die „politischen Gefangenen“ ein Sprungbrett für eine Pha­ se sein könne, in der eine „starke und selbstbewusste Kraft […] gegen die herrschenden Verhältnisse“1937 errichtet wird. Mit dem Anschlag auf die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt verbinde der „Kommandobereich“ die Hoffnung, den Staat in eine Lage zurückführen zu können, in der er mit Blick auf die Entlassung von RAF‑Inhaftierten konzessionsbereit ist. Die Tat unterstreiche seine ungebrochene Bereitschaft zur Wiederaufnahme des „bewaffneten Kampfs“ und übe somit Druck aus auf die staatlichen Entscheidungsträger.1938 Die „Illegalen“ würden annehmen, „dass das ge­ nutzt werden kann.“1939 In der erneuten Darstellung der bereits im August 1992 erörterten Stra­ tegie wandten sich die „Aktiven“ eigens gegen kritische Äußerungen, wie sie zuvor von Heißler und Mohnhaupt verbreitet worden waren. Die von den „Illegalen“ favorisierte strategische Richtung sei Ausfluss von „Grund­ sätze[n] und Selbstverständlichkeiten, die nicht in Frage gestellt werden müssen“1940. Dazu zähle das Einfordern verbesserter Haftbedingungen im Zuge der eigenen Aktivitäten:

1933 Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 79; Peters 2008, S. 678-682; Winkler 2008, S. 432-433. 1934 ID-Verlag 1997, S. 460. 1935 Vgl. ebd., S. 460-461. 1936 Ebd., S. 461. 1937 Ebd. 1938 Vgl. ebd., S. 461-462. 1939 Ebd., S. 462. 1940 Ebd., S. 461.

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„Wir werden nicht sagen: Wir sind jetzt auf der Suche nach einer neu­ en Strategie, und was mit ihnen [den inhaftierten Aktivisten der RAF] derweil passiert, passt jetzt nicht in unser Konzept. Wir können einen neuen Anfang, die Entwicklung neuer Vorstellungen, gar nicht losge­ löst von der Frage sehen, wie die Freiheit unserer GenossInnen, die aus […] 22 Jahren Kampf gefangengenommen wurden, erkämpft werden kann.“1941 5.3.3 Polizeieinsatz in Bad Kleinen, Spaltung, Auflösungserklärung (1993 und danach) Zu dem wachsenden Rechtfertigungszwang, dem sich der „Kommandobe­ reich“ im Austausch mit Unterstützern und „Gefangenen“ ausgesetzt sah, trat im Sommer 1993 ein unerwarteter sicherheitsbehördlicher Fahn­ dungserfolg. Dieser ereignete sich in einem Zeitraum, in dem innerhalb der RAF und in ihrem Umfeld „schon vieles sehr desolat war.“1942 Klaus Steinmetz, einem Aktivisten aus dem gewaltaffinen Spektrum der „Au­ tonomen“, war es gelungen, Kontakte zu den „Illegalen“ herzustellen. Hierzu hatte er der rheinland-pfälzischen Landesbehörde für Verfassungs­ schutz Bericht erstattet – sie hatte ihn in den Jahren zuvor als Vertrau­ ensperson zur Aufklärung des antiimperialistischen linksextremistischen Milieus geführt.1943 Wie es Steinmetz möglich geworden war, Zugang zur „Roten Armee Fraktion“ zu erhalten, skizzierte 1994 rückblickend Birgit Hogefeld. In der ab Anfang der 1990er Jahre einsetzenden „Umbruchsitua­ tion“1944 sollen die „Aktiven“ verstärkt Gespräche mit Personen außerhalb des „Kommandobereichs“ geführt haben, die ihnen zuvor nicht bekannt gewesen seien.1945 In den Köpfen der „Illegalen“ waren „neue Bestimmun­ gen für den revolutionären Kampf noch sehr allgemein und diffus“1946. Von dem Austausch habe man sich Antworten versprochen. Wichtig sei es den „Aktiven“ zum einen gewesen, von Erfahrungen aus der ihnen bedeutsam erscheinenden Verknüpfung unterschiedlichster linksextremis­ tischer Aktionsfelder zu profitieren.1947 Zum anderen war laut Hogefeld 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947

Ebd. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 188. Vgl. Straßner 2003, S. 205; Peters 2008, S. 687. Hogefeld 1996, S. 40. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 40-41.

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5.3 Niedergang

vorgesehen, „möglichst unmittelbar mitzukriegen, welche Diskussionen in anderen politischen Zusammenhängen geführt werden und welche Leute bzw. Gruppen in dieselbe Richtung überlegen wie wir.“1948 Steinmetz habe beide Interessen des „Kommandobereichs“ befriedigen können.1949 Nicht zu übersehen gewesen sei, „dass er einer war, der in sehr vielen unterschiedlichen politischen Zusammenhängen Leute kannte.“1950 Eine geplante Zusammenkunft zwischen Steinmetz und Hogefeld Ende Juni 1993 in Mecklenburg‑Vorpommern sahen die Sicherheitsbehörden als Gelegenheit, der Dritten Generation der RAF erstmals nach 1986 einen Schlag zu versetzen. Zu dem Treffen der beiden stieß am 27. Juni 1993 auf dem Bahnhof in Bad Kleinen überraschend Wolfgang Grams. Nach dem Verlassen einer auf dem Bahnhofsgelände gelegenen Lokalität arre­ tierten Kräfte der Grenzschutzgruppe 9 Steinmetz sowie Hogefeld. Grams ergriff die Flucht und verletzte einen der Beamten durch Gebrauch seiner Schusswaffe tödlich. Nachdem er selbst ebenfalls von mehreren Kugeln getroffen worden war, versetzte sich Grams einen Kopfschuss, an dessen Folgen er wenig später im Krankenhaus verstarb. Zu den Umständen sei­ nes Ablebens kursierten in den Tagen nach dem Zugriff vor allem durch mediale Schilderungen Gerüchte, denen zufolge Grams von Angehörigen der GSG 9 in Bad Kleinen exekutiert worden war.1951 In der sich anschlie­ ßenden öffentlichen Debatte um den Polizeieinsatz legte Bundesinnenmi­ nister Rudolf Seiters am 4. Juli 1993 sein Amt nieder.1952 Auch die „Rote Armee Fraktion“ kolportierte in einer Erklärung vom 6. Juli 1993 die These der Ermordung Wolfgang Grams‘. Sie habe nicht angenommen, der Staat werde seine Repression nach dem Gewaltverzicht vom April 1992 reduzieren.1953 Dennoch sei es eine „große Erschütterung, plötzlich in dieser Kälte und Brutalität damit konfrontiert zu sein.“1954 Obgleich die „Aktiven“ angeblich „tief getroffen“1955 waren, nahmen sie den personellen Verlust nicht zum Anlass, die bislang gegen den Wider­ stand des Umfelds und der Inhaftierten aufrechterhaltene Neuausrichtung aufzugeben. Im Gegenteil: Der Text endete mit der Zusage, die „Illegalen“ würden im avisierten Prozess der politischen Umgestaltung Deutschlands 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955

Ebd., S. 42. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 79; Winkler 2008, S. 435-436. Vgl. Peters 2008, S. 697. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 464. Ebd. Ebd.

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entsprechend der ab April 1992 öffentlich getätigten Aussagen einen „Weg finden“1956. Nach dem Einbruch, den der „Kommandobereich“ in Bad Kleinen er­ fahren hatte, erreichten die jahrelang schwelenden Auseinandersetzungen unter den RAF-Inhaftierten langsam ihren Höhepunkt. Im Mittelpunkt stand dabei weiterhin ein Konflikt zwischen den in Celle einsitzenden „Gefangenen“ Karl‑Heinz Dellwo, Knut Folkerts und Lutz Taufer und einer Gruppe um Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Helmut Pohl, die sich von dem im November 1992 schriftlich niedergelegten Gewaltver­ zicht ihrer „Mitgefangenen“ und der strategischen Linie der „Aktiven“ abgrenzte. In diese Streitigkeiten brachte sich die nunmehr inhaftierte RAF-Aktivistin Birgit Hogefeld ein, deren im Juli 1993 veröffentlichte Aufarbeitung der Kontakte zu Klaus Steinmetz von anderen Häftlingen verurteilt worden war. Hogefeld hatte zu verstehen gegeben, der Tod Wolfgang Grams‘ und ihre Verhaftung seien Ergebnis einer vom „Kom­ mandobereich“ eingeleiteten „politische[n] Öffnung [gegenüber] […] al­ len fortschrittlichen Teilen der Gesellschaft“1957. In dieser Phase hätten Kontaktpersonen der „Illegalen“ für die Vertrauenswürdigkeit Steinmetz‘ gebürgt. „An diese GenossInnen habe [sie] […] jetzt natürlich viele Fra­ gen“1958. Christian Klar hatte Hogefeld aufgrund dieser Schuldzuweisung Mitte August 1993 angegriffen und dabei eine grundlegende Kritik an der von den „Illegalen“ in den zurückliegenden Jahren vertretenen Strategie entwickelt. Es sei verkürzt, die entscheidende Ursache eines Fehlers darin zu sehen, „dass Leute für jemanden ‚die Hand ins Feuer gelegt haben‘“1959. Aus seiner Sicht müsse vielmehr ein „Zusammenhang zwischen politischer Falschorientierung und Schutzlosigkeit vor Infiltration“1960 betrachtet wer­ den: Von der Dritten Generation sei in ihrem Traktat aus April 1992 „ein falscher Begriff von ‚Isoliertheit‘ und ‚Verlust an Anziehungskraft‘ revolutionärer Politik hierzulande aufgebracht“1961 und daher „ein ebenso falscher Begriff von ‚Öffnung‘ geschaffen worden.“1962 Weiteren Auftrieb erhielt die Debatte um die Anfang der 1990er Jahre vorgenommene Neuausrichtung der „Roten Armee Fraktion“ durch einen Brief Helmut Pohls, welcher in der auf den 27. August 1993 datierten 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962

Ebd., S. 465. Hogefeld 1996, S. 22. Ebd., S. 23. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 221. Ebd. Ebd. Ebd.

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Ausgabe der „Tageszeitung“ Bekanntheit erlangte. Pohl betonte, ihm und anderen Häftlingen der RAF – wie zum Beispiel Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heißler und Rolf Clemens Wagner – seien „[n]icht der Frieden mit dem Staat und nicht eine Schlussabwicklung unserer Geschichte nach den letzten beiden katastrophalen Jahren“1963 von Bedeu­ tung, sondern das Bündeln gesellschaftlicher Akteure im Kampf gegen den Staat. Letztes könnte ein Freilassen der „Gefangenen“ erwirken. Ausdrück­ lich wehrte er sich gegen die ihm und anderen Häftlingen zugeschriebene Rolle eines „Hardliners“.1964 Er habe „seit langen Jahren eine Zäsur“1965 im Widerstand der „Roten Armee Fraktion“ befürwortet. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass die im April 1992 von den „Illegalen“ verkündete Abkehr von der „bewaffneten Aktion“ auf eine im Jahr zuvor angestoße­ ne Initiative der Inhaftierten zurückgehe.1966 Inzwischen sei jedoch das Scheitern des in den Gefängnissen befürworteten Umdenkens offensicht­ lich. Er werde ein Wiedererstarken gewaltaffiner Positionen begreifen können.1967 Dementsprechend würde er nicht dazu übergehen, „den be­ waffneten Kampf ‚abzusagen‘.“1968 Diese Äußerungen kommentierte Birgit Hogefeld in einer Replik vom 6. September 1993. In seinen Schilderun­ gen wage Pohl „sichtbar […] Angriffe gegen die in Celle […] [und] die Illegalen“1969. Mit derartigen Anfeindungen könne er sich „mit anderen ausschließlich in der Abgrenzung treffen“1970. Sodann führte sie aus: „Anstatt inhaltlicher Kritik kommst du viel mit (oft falschen) Unter­ stellungen. Dieses ‚Frieden mit dem Staat‘ und ‚Schlussabwicklung unserer Geschichte‘ verstehe ich als auf z.B. mich bezogen – das ist doch auch so gemeint, oder? Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, denn grade [sic] das mit dem ‚Frieden…‘ – ich kann mir nicht vorstellen, dass du das ernst meinst.“1971 Einen endgültigen Bruch im Verhältnis der RAF-Inhaftierten löste im Oktober 1993 ein Briefwechsel zwischen Karl-Heinz Dellwo und Brigitte Mohnhaupt aus. Die Celler „Gefangenen“ hatten sich nach dem Schei­

1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971

Ebd., S. 225. Ebd., S. 224-225. Ebd., S. 225. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 226. Ebd. Ebd., S. 231. Ebd. Ebd.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

tern ihrer im November 1992 eingeleiteten Entlassungsbegehren „in einem deprimierten Zustand“1972 befunden. „Die Situation war festgefres­ sen“1973, erinnerte sich Lutz Taufer. Die weiteren Entwicklungen hätten sie nicht abwarten, sondern aktiv gestalten wollen. Ohne vorherige Zustim­ mung anderer Häftlinge der „Roten Armee Fraktion“ waren Dellwo und Knut Folkerts daher im Frühjahr 1993 an den ehemaligen Rechtsanwalt Hans‑Christian Ströbele mit der Bitte herangetreten, den Leiter des Auto­ mobilkonzerns „Daimler‑Benz“, Edzard Reuter, sowie den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis, zu kontaktieren. Beide sollten ihren Einfluss in der Bundespolitik geltend machen, um einen Durchbruch in der festgefahrenen Situation der „politischen Häft­ linge“ zu erwirken.1974 Diese Annäherung sei selbst nach der Polizeiakti­ on in Bad Kleinen fortgesetzt worden. In diesem Zusammenhang soll Ströbele Hogefeld aufgesucht haben, um ihre Zustimmung und die der „Illegalen“ zu erfragen. Hogefeld habe ihre Akzeptanz signalisiert und die Annahme ausgesprochen, die Initiative dürfte ebenfalls die Rücken­ deckung der „Aktiven“ erfahren.1975 Auf Wunsch Dellwos soll Ströbele schließlich Brigitte Mohnhaupt von dem Versuch der Celler „Gefangenen“ unterrichtet haben. Wenig später habe Dellwo ein Schreiben Mohnhaupts erhalten, in dem sie ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Vorhaben zum Ausdruck brachte.1976 Dellwo erwiderte Anfang Oktober 1993: „Es erbittert Dich, dass Du nicht gefragt worden bist, dass hier an Dir was vorbei gemacht wurde? Das war für uns auch ein Problem, und wir hätten es lieber anders gemacht. Aber was wäre passiert, wenn ich Dir oder Helmut [Helmut Pohl] das z.B. vorgeschlagen hätte? Ihr hät­ tet es niedergemacht, wie jede Sache von hier! Die Absurdität dahinter ist der Besitzanspruch! Ihr stellt die Eigentumsfrage an der RAF! Das Mittel dazu ist die Permanenz der Liniendiskussion. Sie klärt natürlich nichts, sie erstickt nur.“1977 Dellwos Offenbarung löste in der Gruppe der „Gefangenen“ einen Sturm der Entrüstung aus, welcher sowohl den „Kommandobereich“ als auch

1972 1973 1974 1975

Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 189. Taufer 2018, S. 184. Vgl. Peters 2008, S. 704; Straßner 2018, S. 437; Taufer 2018, S. 184. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 234, 296. 1976 Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 190; Taufer 2018, S. 185. 1977 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 236-237.

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5.3 Niedergang

das engere Umfeld zwang, öffentlich Position zu beziehen.1978 Christian Klar schrieb der Gruppe der Celler Inhaftierten die Absicht zu, die „Gefan­ genen“ der „Roten Armee Fraktion“ sowie den „Kommandobereich“ – mit dem Einverständnis Brigit Hogefelds – „abwickeln“ zu wollen.1979 Eva Haule-Frimpong sprach am 23. Oktober 1993 von einem „Tauschhandel mit dem Staat“1980, für den nicht nur Dellwo, Folkerts, Hogefeld und Tau­ fer, sondern auch die „Aktiven“ der RAF eingetreten sein sollen.1981 Letzte hätten die „Geschichte, die Politik der RAF und […] [den] Widerstand in den Gefängnissen […] zum Gegenstand eines Deals gemacht“1982, indem sie das Einstellen gewaltsamer Aktivitäten mit der Lösung der „Gefange­ nenfrage“ verbanden.1983 Erkennbar geworden sei dies nicht zuletzt durch den Anschlag auf die Haftanstalt in Weiterstadt. Er ziele auf „Populismus und ‚Vergeltung‘ – weil der Staat seine Politik gegen die Gefangenen nicht ändert.“1984 Nach Einschätzung Haule-Frimpongs ließe diese Situation nur einen Entschluss zu: „Jetzt kann es nur noch die Trennung geben – of­ fen.“1985 Diesem Votum schloss sich Brigitte Mohnhaupt Ende Oktober 1993 mit einem Brief an, in dem sie angab, „die Gefangenen aus der RAF in Lübeck, Köln, Frankfurt, Schwalmstadt, Frankenthal, Bruchsal, Aichach“1986 zu vertreten. Sie stellte eine Friktion unter den „Gefangenen und in der politischen Beziehung zur RAF“1987 dar. Angesichts der von den in Celle einsitzenden Häftlingen verfolgten „Abwicklung von RAF und Gefangenen“1988 und ihrer – vermeintlichen – Unterstützung durch die „Illegalen“ sei „eine andere Entscheidung als die Trennung nicht mehr möglich.“1989 Karl-Heinz Dellwo erklärte zu den Anschuldigungen Mohn­ haupts, diese seien eine „Simulation von Wirklichkeit“1990 und in Teilen „Unsinn“1991. Hogefeld konstatierte, Klar, Mohnhaupt und andere Inhaf­

1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991

Vgl. Straßner 2008b, S. 224. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 243. Ebd., S. 247. Ebd. Ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 247. Ebd. Ebd. Ebd., S. 235. Ebd., S. 233. Ebd. Ebd. Ebd., S. 255. Ebd.

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tierte wären „oft bloß am Zurückschmettern, ohne eigene Vorstellungen zu entwickeln.“1992 Außerhalb der Haftanstalten stieß die unter anderem von Haule-Frim­ pong und Mohnhaupt verkündete Entscheidung zur Spaltung auf diffe­ rente Reaktionen. Während das engere Umfeld der „Roten Armee Frakti­ on“ den Schritt begrüßte und die Interpretation übernahm, derzufolge der „Kommandobereich“ eine Vereinbarung mit dem Staat angestrebt ha­ be,1993 schlugen sich die „Aktiven“ auf die Seite der Celler „Gefangenen“ und Hogefelds. Am 2. November 1993 übten die „Illegalen“ drastische Kri­ tik an den Stimmen, welche die Linie Dellwos, Folkerts‘, Hogefelds und Taufers sowie die Strategie des „Kommandobereichs“ verurteilt hatten. Den Vorwurf eines „Deals“ würden sie als „Dreck, unwahr“1994 wahrneh­ men. Es sei zu beobachten, dass einige Inhaftierte der RAF abweichende Meinungen pauschal mit der Behauptung unterdrücken, diese seien Ergeb­ nis einer Kooperation mit staatlichen Stellen und Ausfluss moralischen Verfalls.1995 Sie würden getrieben werden von einer „kleinbürgerlichen Konkurrenzscheiße und […] [einem] Besitzverhältnis zur RAF und revo­ lutionärer Politik in der BRD“1996. Ausdrücklich verlangte der „Komman­ dobereich“ von den Häftlingen, Vernunft anzunehmen. Man wolle die Trennung nicht, könne sie aber akzeptieren.1997 Die „Illegalen“ betonten daneben, sie hielten unverändert an ihrem Plan fest, die Umgestaltung sozialrevolutionären Widerstands voranzutreiben. Inzwischen erachteten sie die bisherigen Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ allerdings nicht mehr als unumstößlich. Ein völliger Umbau der Gruppe sei denkbar: „Es entspricht nicht unserer Verantwortung aus 23 Jahren Kampf der RAF, die RAF unter allen Umständen ins nächste Jahrtausend zu retten. […] Wir werden solange die Verantwortung, die wir als RAF haben, tragen, bis das Neue herausgefunden worden ist. Und ob das dann weiter RAF heißt oder die Transformation der RAF innerhalb einer Neuformierung der revolutionären Linken, ist uns heute völlig egal. Hauptsache, es entspricht den Notwendigkeiten und

1992 1993 1994 1995 1996 1997

ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 298. Vgl. Bundesministerium des Innern 1994, S. 31. ID-Verlag 1997, S. 466. Vgl. ebd., S. 468. Ebd., S. 471. Vgl. ebd., S. 473.

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5.3 Niedergang

Vorstellungen für den Umwälzungsprozess [in der Bundesrepublik Deutschland].“1998 Nach den Auseinandersetzungen des Jahres 1993, die den „über 23 Jahre gehaltene[n] Zusammenhang von Gefangenen und Illegalen […] in einem Prozess […] mit erheblichen Verletzungen“1999 zerstoben, versank die „Ro­ te Armee Fraktion“ schnell in der Bedeutungslosigkeit.2000 1994 zerfiel das engere Umfeld der RAF entlang unterschiedlichster politischer Überle­ gungen und Zielvorstellungen. Nur eine Minderheit war noch bereit, die Ausrichtung der „Illegalen“ mitzutragen.2001 An den „bewaffneten Kampf“ klammerte sich die „Antiimperialistische Zelle“ (AIZ), die erstmals 1992 unter der Selbstbezeichnung „Antiimperialistische Widerstandszelle Nadia Shehadah“ aufgetreten war. Bis zur Verhaftung ihrer Mitglieder am 25. Fe­ bruar 1996 in Schleswig-Holstein verübte sie Anschläge auf Parteibüros und Wohnhäuser von Politikern, erfuhr allerdings kaum Sympathie.2002 Der „Kommandobereich“ der RAF beschränkte sich auf ein kritisches Aufarbeiten der nach April 1992 eingetretenen Entwicklungen. Im März 1994 verschickte er ein Traktat an die Zeitung „junge Welt“.2003 Darin gestanden die Aktivisten selbstkritisch den Fehlschlag der ab Anfang der 1990er Jahre forcierten Neuausrichtung ein. Der erhoffte Austausch mit anderen politischen Akteuren sei ins Leere gelaufen. Ein neuer Vorstoß wäre erforderlich. Wie dieser in Angriff genommen werden soll, ließen die „Illegalen“ allerdings offen.2004 Während sie unbeirrt das Errichten einer „Gegenmacht von unten“ anstrebten,2005 konzentrierte sich die Häft­ lingsgruppe um Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Helmut Pohl auf einen Kampf um die Freilassung Irmgard Möllers. Zwischen dem 27. Juli und 3. August 1994 traten sie in einen Hungerstreik, dem sich Birgit Hogefeld anschloss.2006 Nennenswerte Sympathiebekundungen blieben im deutschen Linksextremismus aus.2007

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007

Ebd., S. 466-467. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Vgl. Straßner 2003, S. 253; Peters 2008, S. 709. Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 28-29. Vgl. ebd., S. 32-33; Bundesministerium des Innern 1996, S. 39-40; Bundesmi­ nisterium des Innern 1997, S. 34. Vgl. Straßner 2003, S. 253. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 474-475. Vgl. ebd., S. 496. Vgl. ebd., S. 498-499. Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 31.

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Zwischen 1995 und 1997 trat der „Kommandobereich“ nur punktuell in Erscheinung. Ende 1996 befassten sich die „Illegalen“ in einem Papier mit den Methoden staatlicher Strafverfolgung; außerdem verschickten sie Le­ serbriefe an das linksextremistische Periodikum „Interim“2008 sowie an die „junge Welt“. In dem Schreiben an die „junge Welt“ gingen sie über das in der Stellungnahme vom 2. November 1993 angedeutete Infragestellen der Existenz der „Roten Armee Fraktion“ als Gruppe erkennbar hinaus. Sie setzten einen Schlussstrich unter die terroristische Praxis, wie sie von der „Roten Armee Fraktion“ von 1970 an vorangetrieben worden war. Diese könne in Zukunft allenfalls im Zuge einer kritischen Reflexion Orientierungspunkt einer gänzlich neuen sozialrevolutionären Perspektive sein: „Das RAF-Konzept ist überholt. Das ist objektiv so. Dabei bleibt es […] auch. Alles andere würde völlig an der politischen Situation ins­ gesamt – und unserer speziellen erst recht – vorbeigehen. Es kann auch keine modifizierte Neuauflage des Alten geben. Wenn wir auch keine Beschäftigung für die nächsten 100 Jahre darin sehen, wollen wir dazu beitragen, ein kollektives Bewusstsein über unsere Geschichte zu ermöglichen – mit dem Sinn, daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die uns allen etwas für eine bessere, freiere, starke und emanzipative Politik für die Umwälzung der Verhältnisse in die Hand geben.“2009 Mit dieser Argumentation verbanden die „Aktiven“ nicht die Entschei­ dung zur Auflösung der „Roten Armee Fraktion“, die zuvor Helmut Pohl und Brigit Hogefeld öffentlich gefordert hatten.2010 Im Gegenteil: Sie ga­ ben zu verstehen, die RAF kann und wird sich „nicht in Luft auflösen“2011. Die Zahl der inhaftierten RAF-Aktivisten reduzierte sich ab Mitte der 1990er Jahre. Ende 1994 verließ Irmgard Möller die Haft.2012 Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts und Lutz Taufer, die sich als Verfechter einer prag­ matischen Haltung gegenüber dem Staat gezeigt hatten, erhielten 1995 ihre Entlassungspapiere. Das Ende ihrer Haftstrafe erlebten darüber hinaus Christine Kuby, Manuela Happe und Hanna Krabbe.2013 Im Frühjahr 1998 saßen schließlich nur noch neun Aktivisten aus den Reihen der „Ro­

2008 2009 2010 2011 2012 2013

Vgl. ID-Verlag 1997, S. 499-507. Ebd., S. 508-509. Vgl. Hogefeld 1996, S. 169. ID-Verlag 1997, S. 508. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 207. Vgl. Bundesministerium des Innern 1996, S. 38; Peters 2008, S. 685.

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5.3 Niedergang

ten Armee Fraktion“ in Haft, darunter Christian Klar und Brigitte Mohn­ haupt.2014 Entgegen ihrer Zusage in dem an die „junge Welt“ gerichteten Leserbrief rangen sich die „Illegalen“ langsam zu einem „lange überfäl­ lig[en]“2015 Entschluss durch. Am 20. April 1998 erhielt die Nachrichten­ agentur Reuters die letzte Erklärung der „Roten Armee Fraktion“,2016 in der sie einleitend herausstellte: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“2017 Der Text bewertete die zurückliegenden Jahre des „bewaffneten Kampfs“ und verwies auf Fehler, welche der Zirkel begangen habe. Er gipfelte in einem Nachruf auf verstorbene Linksterroristen, wobei nicht nur Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“, sondern auch Angehö­ rige der „Tupamaros Westberlin“ (Georg von Rauch, Thomas Weisbecker), der „Bewegung 2. Juni“ (Werner Sauber, Ingrid Siepmann) und der „Revo­ lutionären Zellen“ (Brigitte Kuhlmann, Wilfried Böse, Gerhard Albartus) namentlich aufgeführt wurden.2018 Wer die Auflösungserklärung der „Roten Armee Fraktion“ verfasste, lässt sich nicht beantworten. Zu vermuten ist, dass sie aus der Feder jener Personen stammt, die später durch Überfälle auf Supermärkte und Geldtransporter von sich reden machen sollten:2019 Burkhard Garweg, Da­ niela Klette und Ernst-Volker Staub.2020 Zu diesen Aktivisten ist wenig bekannt. Garweg war über die Hausbesetzerszene in der Hamburger Ha­ fenstraße radikalisiert worden. 1990 verlor sich seine Spur.2021 Klette hatte sich an der Seite Wolfgang Grams‘ und Birgit Hogefelds in Wiesbaden an Aktivitäten der „Roten Hilfe“ beteiligt.2022 Sie wechselte wohl nach der Aktion gegen Alfred Herrhausen in den Untergrund.2023 Staub war 1984 gemeinsam mit Helmut Pohl und anderen in Frankfurt in Haft geraten. Die Justiz verurteilte ihn im Jahre 1986 zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe.2024 Bis 1988 saß er im Gefängnis. Ab Februar 1990 kam er der Auflage, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, nicht mehr nach. Garweg, Klette und Staub sollen 1993 am Anschlag auf den Gefäng­

2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024

Vgl. Peters 2008, S. 719. Hogefeld 1996, S. 169. Vgl. Winkler 2008, S. 449. Rote Armee Fraktion 1998, S. 217. Vgl. ebd., S. 236-237. Vgl. Gude/Hunger 2016, S. 54; Gude 2016, S. 43; Aust/Bewarder 2017, S. 1. Vgl. Straßner 2003, S. 264. Vgl. Gude/Hunger 2016, S. 54; Baron 2021, S. 198. Vgl. Peters 2008, S. 737. Vgl. Gude/Hunger 2016, S. 54. Vgl. Straßner 2003, S. 107.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

nisneubau in Weiterstadt beteiligt gewesen sein – dies legten Haare nahe, welche sich am Tatort sicherstellen ließen.2025 Mehr als ein Jahr nach der Selbstauflösung der „Roten Armee Fraktion“ – am 30. Juli 1999 – raubten sie einen Geldtransporter in Duisburg aus. Sie erbeuteten rund eine Milli­ on DM.2026 Erst im Jahre 2015 erregten Garweg, Klette und Staub erneut größere öffentliche Aufmerksamkeit. Nach einem gescheiterten Überfall in Stuhr bei Bremen entdeckten die Sicherheitsbehörden DNS von Klette, Staub und einer weiteren Person. Hinter dieser vermuteten sie Garweg. Im Anschluss an die Tat in Stuhr ordnete die Polizei über Indizien weitere Raubdelikte den Flüchtigen zu. Ihnen werden insgesamt 12 Überfälle zur Last gelegt.2027 Zuletzt hatte das mit der Fahndung federführend betraute niedersächsische Landeskriminalamt versucht, europaweit Hinweise zum Aufenthaltsort von Garweg und Staub zu erhalten, ohne durchschlagen­ den Erfolg.2028 Worin das Motiv für die Verbrechen besteht – hierzu existieren unter­ schiedliche Einschätzungen. Die 1999 nach dem Raub in Duisburg von den Behörden aufgestellte These, die Drei könnten eine terroristische Gruppe aus der Taufe heben,2029 spielt in den Ermittlungen keine Rolle mehr. Die Bundesregierung geht von „pure[r] Geldnot“2030 als Grund für die Taten aus. Ende 2016 äußerte sie in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Partei Die Grünen: „Allein die Beteiligung ehemaliger Mitglieder der ‚RAF‘ [an den Raubüberfällen] und die sonstigen äußeren Umstände bei der Tatvor­ bereitung und -ausführung lassen noch keine ausreichend sicheren Rückschlüsse auf eine tatsächlich noch immer aktuelle politische Tat­ motivation zu. Bei keiner der Taten der Überfallserie haben die zum Teil sehr umfangreichen Ermittlungen der Landesstaatsanwaltschaften und Fahndungsmaßnahmen des Landeskriminalamtes Niedersachsen bislang Anhaltspunkte ergeben, die eine andere Bewertung rechtferti­ gen würden. Mangels gegenteiliger Hinweise ist deshalb weiter davon auszugehen, dass es sich bei der Überfallserie um eine reine Geldbe­

2025 2026 2027 2028 2029 2030

Vgl. Gude/Hunger 2016, S. 54; Hunger/Siemens 2018; Baron 2021, S. 197-198. Vgl. Peters 2008, S. 725-726; Gude 2016, S. 43. Vgl. Gude/Hunger 2016, S. 54; Hunger/Siemens 2018; Baron 2021, S. 187. Vgl. Spiegel Online 2020. Vgl. Peters 2008, S. 726. Aust/Bewarder 2017, S. 1.

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5.4 Zusammenfassung

schaffung zur Finanzierung des eigenen Lebensunterhalts der Täter im Untergrund handelt.“2031 Aus den Reihen der Wissenschaft stammt eine andere Vermutung. Wolf­ gang Kraushaar gab 2018 gegenüber dem Onlineressort des Nachrichten­ magazins „Der Spiegel“ zu verstehen, die Flüchtigen könnten „mit einem Teil des [erbeuteten] Geldes militante Strukturen finanzieren.“2032 Und weiter: „Sie werden auch heute eine Haltung der Widerständigkeit gegen das kapitalistische System für sich in Anspruch nehmen“2033. 5.4 Zusammenfassung Den (Primär-)Quellen zur „Roten Armee Fraktion“ lassen sich mehrere Er­ eignisse entnehmen, welche die – von ihr vorangetriebenen – Verhältnisse zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revo­ lutionären Zellen“ freilegen. Zeitlich können diese wie folgt eingeordnet werden: – 1970: Bereits kurz nach ihrer Gründung stellte die RAF die Weichen für die Beziehung zu jenem gewaltbereiten linksextremistischen Mi­ lieu, aus dem die „Tupamaros Westberlin“ entstanden waren. Die „Agit 883“ – das Sprachrohr des organisatorischen Vorläufers der TW – hatte sich ablehnend zur Baader-Befreiung positioniert. Unmissverständlich diffamierte die „Rote Armee Fraktion“ daher in ihrer Erklärung „Die Rote Armee aufbauen“ die Redaktion der Zeitschrift. Pauschal werte­ te sie wenig später die TW selbst herab. Die gewählten Begrifflichkei­ ten ließen keinen Interpretationsspielraum: „Spinner“, „Dilettanten“, „Trottel“, „unpolitische Irrsinnige“. Die RAF war sich jedoch nicht zu schade, Angehörige der „Tupamaros Westberlin“ in ihre Überfallserie vom September einzubinden. Auch verschmähte sie die Aktivisten aus den Reihen der TW und der „Tupamaros München“ nicht, die später den Anschluss an ihre Strukturen suchen sollten. Im Gegenteil: Diese nahmen rasch wichtige Funktionen innerhalb der RAF ein – etwa Rolf Pohle, wohl zentraler Waffenbeschaffer der Gruppe.

2031 Bundestag 2016, S. 2. Ähnlich Straßner 2018, S. 438. 2032 Wolfgang Kraushaar, zit. n. Hunger/Siemens 2018. Vgl. auch Baron 2021, S. 204-205. 2033 Wolfgang Kraushaar, zit. n. ebd.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

– 1971: Ein Schulterschluss zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und den „Tupamaros Westberlin“ in der Frage der „Gefangenenbefreiung“ scheiterte: Gemeinsame Überlegungen zum Ausbruch Horst Mahlers und Dieter Kunzelmanns gipfelten nicht in einem Tatplan, geschwei­ ge denn in einer Aktion. Die vor allem von Andreas Baader und Gudrun Ensslin getragenen Beziehungen zu den TW verfestigten einen negativen Blick der RAF. Erstmals formulierte die „Rote Armee Frak­ tion“ den Vorwurf des „Populismus‘“ – ein Vorhalt, der sich in den Jahren danach immer wieder finden sollte. Den „Tupamaros Westber­ lin“, so die Lesart der RAF, komme es lediglich darauf an, sich im Volk gefällig zu zeigen. Die diesem Gebaren gegenübergestellte Kom­ promisslosigkeit traf bei einzelnen Aktivisten der TW, wie zum Beispiel Angela Luther und Thomas Weisbecker, einen Nerv. Sie traten der „Roten Armee Fraktion“ bei. – 1973: Anfang des Jahres zementierte Baader in einem seiner Papiere die Position zu gewaltbereiten sozialrevolutionären Zirkeln, welche nicht mit der Linie der „Roten Armee Fraktion“ übereinstimmten. Allenfalls seien diese voluntaristisch – auf der Stufe einer „Guerilla“ nach südamerikanischem Vorbild befänden sie sich nicht. Anknüpfend an das Wissen um derartige Auffassungen der Inhaftierten mieden die ersten Nachfolger der Gründergeneration der RAF – die „Gruppe 4.2.“ – den Kontakt mit der 1972 formierten „Bewegung 2. Juni“. Zu den im Entstehen begriffenen „Revolutionären Zellen“ – nach dem Ver­ ständnis der „Gefangenen“ ein Zusammenschluss aus den Launen der Bevölkerung hinterhertrabender „Lumpensammler“ – unterhielten sie dagegen Verbindungen. Wenngleich die „Gruppe 4.2.“ Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann bisweilen als „unmöglich“, ja gar als „unernst“ empfanden, zogen sie ein mit den RZ koordiniertes Vorgehen anläss­ lich der Machtübernahme des Militärs in Chile in Erwägung. Die An­ schlagskampagne zerschellte an divergierenden Prioritäten beziehungs­ weise begrenzten Ressourcen der „Roten Armee Fraktion“. Immerhin: Über die „Revolutionären Zellen“ gelangte die Zweite Generation der RAF an Waffen. – 1975: Den Gram, den die B2J der RAF bereitete, durchbrach die Aktion der „Bewegung 2. Juni“ gegen Günter von Drenkmann – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung. Zu Beginn des Jahres äußerte sich die in Haft sitzende Führungsriege der „Roten Armee Fraktion“ in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ lobend zu dem Anschlag. Positiv stellten sie die Tat überdies in einem von der Justiz sichergestellten Papier dar – dieses trug den Titel „Solidarität und

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5.4 Zusammenfassung

Lernprozess“. Die RAF freue sich über den Tod von Drenkmanns, hieß es darin. Unter den „Illegalen“ zirkulierten differente Haltungen zur „Bewegung 2. Juni“: Während Stefan Wisniewski – er hatte vor seinem Eintritt in die „Rote Armee Fraktion“ vergeblich versucht, Anschluss an die B2J zu finden – der Westberliner Kerngruppe der „Bewegung 2. Juni“ aufgeschlossen gegenüberstand, blieb Karl-Heinz Dellwo skep­ tisch. Anders als die B2J unternehme die RAF, was notwendig sei – so Dellwos Ansicht. Zu alten Mustern kehrte die „Rote Armee Fraktion“ zurück, als ihr die „Bewegung 2. Juni“ vermutlich im Frühjahr vage von einer geplanten „Befreiungsaktion“ berichtete. Auf die Anregung der B2J, einen Funktionsträger der Sowjetunion zu entführen, folgte Entsetzen. Für die Inhaftierten der RAF stand außer Frage: Die „Bewe­ gung 2. Juni“ musste von den Sicherheitsbehörden unterwandert sein – oder Drogenkonsum hatte deren Mitglieder um den Verstand gebracht. Der Dialog brach ab. Nachdem die B2J die Lorenz-Entführung zum gewünschten Abschluss geführt hatte, wartete die „Rote Armee Frakti­ on“ mit einer eigenen „Gefangenenbefreiung“ auf. Diese sollte bewusst anders ablaufen als die Aktion gegen Peter Lorenz – nicht begehen wollte die RAF den „Fehler“ der B2J, welche der Bundesregierung Zu­ geständnisse gemacht habe. Wohl als Retourkutsche für die Absicht der „Bewegung 2. Juni“, über die Lorenz-Entführung auch Horst Mahler zu befreien, forderte die Zweite Generation im Zuge der Stockholmer Botschaftsbesetzung nicht etwa das Freilassen Peter Paul Zahls, der den Paradigmen der B2J verpflichtet blieb. Sie verlangte die Entlassung An­ nerose Reiches – einer Aktivistin, welche sich im Justizvollzug von der B2J abgewandt hatte. Den RZ sendete die Gruppe aus Karl‑Heinz Dell­ wo, Siegfried Hausner, Hanna Krabbe, Bernhard Rössner, Lutz Taufer und Ulrich Wessel dagegen ein Signal des Wohlwollens zu: Johannes Weinrich, Kernmitglied der „Revolutionären Zellen“, sollte mithilfe der Geiselnahme in der schwedischen Hauptstadt in die Freiheit gelan­ gen. – 1976: Mitglieder der heranwachsenden „Haag/Mayer-Bande“ – unter ihnen Peter‑Jürgen Boock – hegten Sympathie für die RZ. Ihre Kon­ takte zu dem Netzwerk brachen sie indes ab. Sie fürchteten die Reak­ tionen der tonangebenden „politischen Gefangenen“. Diese vertraten die Meinung, die „Revolutionären Zellen“ würden mit dem „bewaffne­ ten Kampf“ nichts zu tun haben wollen. Die Aversion steigerte sich, als die RZ Mitte des Jahres gemeinsam mit der PFLP-SOG eine Flug­ zeugentführung wagten, welche offenbar den Auftakt für eine Serie von „Befreiungsaktionen“ bildete. Die Aktion in Entebbe ging – angeb­

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

lich – völlig an dem vorbei, was die Häftlinge aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ zu akzeptieren bereit waren. Die Entrüstung fand ihren Ausdruck in einem Traktat, welches die RAF allein aus Rücksicht auf den personellen Verlust der RZ nicht an die Öffentlich­ keit trug. Eine zweite Flugzeugentführung – vermutlich vorbereitet von jenen Aktivisten, die infolge der Lorenz-Entführung aus der Haft entkommen waren und sich anschließend entweder der B2J (Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann) oder der „Roten Armee Frak­ tion“ (Verena Becker, Rolf Heißler) angeschlossen hatten – konnte nicht umgesetzt werden. Grund hierfür sollen Streitigkeiten um den konkreten Ablauf der Geiselnahme sowie sich verschiebende Prioritä­ ten der Palästinenser gewesen sein. Ungeachtet der Zusammenarbeit im Nahen Osten ließen sich die leitenden Figuren der RAF in ihrer internen Kommunikation abfällig zur „Bewegung 2. Juni“ aus. Wie einem Kassiber Gudrun Ensslins vom Mai entnommen werden konnte, sahen sie die B2J als infantile Gruppe, die sich nach dem Staat richte. An eine „Guerilla“ reiche sie nicht heran. Ronald Augustin sekundierte mit dem Vorwurf der Inkonsequenz. – 1977: Während des „Deutschen Herbstes“ entwickelte sich offenbar über Johannes Weinrich ein Austausch zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der von Wadi Haddad gelenkten Organisation. Die PFLP-SOG unterstützte schließlich durch das Entführen der „Lands­ hut“ – die Geiselnahme nahm ein „Kommando“ vor, das den Kampfna­ men Brigitte Kuhlmanns trug. – 1978: Anfang Juni trafen sich die „Illegalen“ der Zweiten Generation im belgischen Ostende. Die dreitägige Versammlung mündete unter anderem in dem Votum, eine Verbindung zur „Bewegung 2. Juni“ aufzubauen. Von dieser Kontaktaufnahme versprach sich die RAF fi­ nanzielle Zuwendungen. Zwar kam die „Rote Armee Fraktion“ mit der B2J ins Gespräch, monetäre Hilfe resultierte hieraus aber zunächst nicht. Die RAF sah sich getäuscht. Erst später übergab die „Bewegung 2. Juni“ Geldmittel. Beide Zirkel tauschten darüber hinaus Waffen aus: Inge Viett überließ der „Roten Armee Fraktion“ eine Maschinenpistole, im Gegenzug erhielt sie eine Faustfeuerwaffe. Außerdem traten sie gemeinsam in Konsultationen mit den italienischen „Roten Brigaden“ ein – konkrete Ergebnisse erbrachte dies allerdings nicht. – 1979: Nur Monate nach der Forderung der B2J, überlassene Geldbeiträ­ ge zu erstatten, akzeptierte die „Rote Armee Fraktion“ einen vertieften Dialog mit der „Bewegung 2. Juni“. Im Raum stand die Möglichkeit eines Zusammengehens.

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5.4 Zusammenfassung

– 1980: Im Sommer kooptierte die RAF die „Aktiven“ der B2J: Juliane Plambeck und Inge Viett waren fortan Teil der „Roten Armee Frakti­ on“. Im Zuge des Verschmelzens übernahm die Zweite Generation das restliche Lösegeld, welches die „Bewegung 2. Juni“ mithilfe der Palmers-Entführung erlangt hatte. Ausdrücklich lobte die „Rote Armee Fraktion“ das – kurz darauf bei einem Autounfall verstorbene – ehema­ lige B2J-Mitglied Juliane Plambeck. Sie habe den „Mist“ im Verhältnis zwischen der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ beseitigt. – 1982: Mit ihrem „Mai-Papier“ sprach die „Rote Armee Fraktion“ allen am „bewaffneten Kampf“ Interessierten das Angebot eines Zusammen­ wirkens in einer „antiimperialistischen Front“ aus – auch den „Revolu­ tionären Zellen“. Diese sahen die RAF als verknöcherte Gruppe, als „Opas Guerilla“. Während der Haft sollte Christian Klar das Kommen­ tar des Netzwerks mit der Aussage kontern, die politische Analyse der „Zellen“ sei defizitär, ihr Gewaltverständnis defensiv. – 1991: Nach knapp zehn Jahren, in denen sich die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ auf den Aufbau von Verbindungen zu Gleichgesinnten außerhalb Westdeutschlands konzentriert und dabei jegliches Eingehen auf die RZ vermieden hatte, erneuerte sie – unter dem Eindruck der internationalen politischen Zeitenwende ab 1989 – die Anfang der 1980er Jahre unterbreitete Offerte der Kooperation. Ausweislich des Bekennerschreibens zum Attentat auf Detlev Karsten Rohwedder wollten sie nun mit Anderen in einer „Gegenmacht von unten“ zusammenfinden. Teile der „Revolutionären Zellen“ zogen ihre Schlüsse: Nach ihrem Verständnis war die RAF am Ende angelangt, sozusagen bankrott. Im Juli vertraten sie öffentlich die Auffassung, die Dritte Generation karikiere und zersetze den sozialrevolutionären „Widerstand“. – 1998: Was der RAF im Laufe der 1980er nicht gelungen war, konnte sie bis zu ihrer Auflösung gleichermaßen nicht herstellen: einen Dialog mit den ebenfalls gebeutelten RZ. Die Krise der „Revolutionären Zel­ len“ und deren geräuschloser Zusammenbruch bewegten sich außer­ halb des Sichtfeldes der „Roten Armee Fraktion“ – zu sehr drehte sich die RAF angesichts der Friktionen unter den „politischen Gefangenen“ und des mit diesem Streit verquickten Gewaltverzichts der „Illegalen“ um sich selbst. Erst in ihrer letzten Erklärung – drei Jahre nach der Implosion der RZ – sandte sie (abermals) ein versöhnendes Zeichen an die einstigen Mitstreiter der „Stadtguerilla“: Ostentativ gedachte sie der verstorbenen Angehörigen der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewe­ gung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“.

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

5.5 Typologische Einordnung Anknüpfend an die – in den Unterkapiteln 2.2.2 und 2.2.3 aufgestellten – Typologien lassen sich die Beziehungen der „Roten Armee Fraktion“ zu den TW/der B2J und zu den RZ wie folgt einstufen: – 1970 bis 1971: Die Haltung der RAF zu den „Tupamaros Westberlin“ war ambivalent. Einerseits setzte die Erste Generation alles daran, die auf Eigenständigkeit beharrenden TW nach Art einer kompetitiv‑adver­ sativen Relation durch diskreditierende Züge kleinzuhalten. Anderer­ seits signalisierte sie mehrfach die Bereitschaft zu einer synchron‑assozia­ tiven Beziehung – diese materialisierte sich im Falle der Raubzüge im September 1970, ein abgestimmtes Befreien „politischer Gefangener“ gelang nicht. Am Ziel gesehen haben dürfte sich die „Rote Armee Fraktion“, als die enervierende Konkurrenz – die „Tupamaros‑Westberlin“ wie die „Tupamaros München“ – gänzlich in ihr aufging. Dieser Triumph währte indes nur kurz, gelang es doch den neu formierten TW – trotz personeller Übertritte zur RAF – spätestens mit ihrer Initiative zur Gründung der „Bewegung 2. Juni“, sich als weiteres Lager innerhalb der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ dauerhaft zu etablieren. – 1972 bis 1977: Die Meinungsmacher im Inneren der „Roten Armee Fraktion“ – allen voran Baader und Ensslin – übertrugen das kompeti­ tiv-adversative Verhältnis zu den „Tupamaros Westberlin“ rigoros auf alles, was nicht ihrer Linie entsprach. Hiervon betroffen war nicht nur die B2J, sondern auch das Netzwerk der „Revolutionären Zellen“. Die Führungsriege aus der Ersten Generation ließ an ihrer Überzeugung keinen Zweifel. Ihr Zirkel, so glaubten sie, sei diesen Akteuren in jeder Hinsicht überlegen. Dementsprechend erschien es den Häftlingen abwegig, eine assoziative Relation einzugehen. Die ersten Nachfolger der Gründer hielten sich nur bedingt an diese Vorgaben. Zwar stützten sie mit Blick auf die „Bewegung 2. Juni“ eine kompetitiv-adversative Beziehung. Ein synchron-assoziatives Verhältnis zu den „Revolutionären Zellen“ schloss die „Gruppe 4.2.“ aber vor dem Hintergrund des Regie­ rungswechsels in Chile nicht sogleich aus. Die Interaktion mit den RZ beschränkte sich schließlich auf das Erlangen von Schusswaffen, ging also nicht über eine transaktional‑assoziative Relation hinaus. Nach einer kurzen deklarativ-assoziativen Phase, in der die Inhaftierten der RAF anerkennend die im Anschlag auf Günter von Drenkmann offenbar gewordene Verbundenheit der „Bewegung 2. Juni“ aufgriffen, kehrte das kompetitiv‑adversative Verhältnis in gewohnter Schärfe zurück. Die­

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5.5 Typologische Einordnung

ses spiegelte die Reaktion auf die – von der B2J in den Raum ge­ worfene – Aktion gegen einen sowjetischen Staatsbediensteten, mehr noch die in gezielter Abgrenzung zur Lorenz‑Entführung konzipierte Geiselnahme in Stockholm wider. Zugleich erfuhr die außerhalb des Justizvollzugs beobachtbare transaktional‑assoziative Beziehung zu den „Revolutionären Zellen“ eine Fortführung: Indem die Stockholmer Botschaftsbesetzer Johannes Weinrich auf der Liste der freizulassenden Aktivisten vermerkten, zeigten sie sich gewillt, dem Netzwerk verloren gegangene Ressourcen zurückzugeben. Die im Jahre 1976 unter der Aufsicht der PFLP-SOG vorbereiteten „Gefangenenbefreiungen“ – eine der Flugzeugentführungen sollte offenbar von versprengten RAF- und B2J-Mitgliedern in einer gemischten Zelle, ergo im Wege einer extensivassoziativen Zusammenarbeit ausgeführt werden – wirkten sich nicht po­ sitiv auf die Beziehungen innerhalb der westdeutschen „Stadtguerilla“ aus. Im Gegenteil: Die Ereignisse in Entebbe verfestigten die – von An­ gehörigen der „Haag/Mayer-Bande“ in vorauseilendem Gehorsam mit­ getragene – kompetitiv‑adversative Sicht der „politischen Gefangenen“ auf die RZ. An dieser Einschätzung ändern der Kontakt zu Weinrich sowie die symbolische Bezugnahme auf Brigitte Kuhlmann im „Deut­ schen Herbst“ nichts. Denn: Johannes Weinrich handelte zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend losgelöst von den „Revolutionären Zel­ len“ – und für das Andenken an Kuhlmann zeichnete keinesfalls die „Rote Armee Fraktion“, sondern die PFLP‑SOG verantwortlich. – 1978 bis 1980: Nach dem Freitod der tonangebenden „Gefangenen“ schlugen die „Illegalen“ einen Weg ein, welcher die bis dahin immer wieder geschürte kompetitiv-adversative Relation zur „Bewegung 2. Juni“ aufbrach. In Belgien legten sie den Grundstein für ein transaktional‑as­ soziatives Verhältnis. Dieses umfasste materielle wie finanzielle Hilfe. Ohne eine synchron- oder extensiv-assoziative Beziehung forciert zu haben, verleibte sich die Zweite Generation die B2J im Jahre 1980 ein. – 1981 bis 1998: Die „Rote Armee Fraktion“ hatte den Wettstreit mit der „Bewegung 2. Juni“ zu ihren Gunsten aufgelöst – übrig blieb die kom­ petitiv-adversative Beziehung zu den „Revolutionären Zellen“. Statt de­ ren Rolle – wie bisher – herabzuwerten, entschied sich die RAF unter Brigitte Mohnhaupt in ihrer Schlussphase für einen Kurswechsel. Mit­ hilfe des Papiers „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ versuchte die „Rote Armee Fraktion“, unter anderen die RZ in eine von ihr gelenkte synchron-assoziative Kooperation zu locken. Obgleich das Netzwerk nicht bereit war, das kompetitiv-adversative Verhältnis sei­ nerseits einzustellen, zog die RAF das mit dem „Mai-Papier“ ausgespro­

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5 Geschichte der „Roten Armee Fraktion“

chene Angebot nie zurück. Auch verzichteten ihre „Aktiven“ nach 1982 auf jegliche negative Interaktion mit den RZ. Eine adversative Position zu den „Revolutionären Zellen“ kam für die Dritte Generation offen­ bar gar nicht in Frage. Der erneute Anlauf zu einer synchron‑assoziativen Relation ab dem Jahre 1991 scheiterte ebenso wie der erste Versuch. Ganz im Sinne einer kompetitiv-adversativen Beziehung sprachen die RZ der „Roten Armee Fraktion“ öffentlich das Existenzrecht ab. An die­ sen unterschiedlichen Stellungen der beiden Akteure sollte sich nichts mehr ändern – das deklarativ‑assoziative Signal in der letzten Erklärung der RAF verhallte, fehlte es doch nach dem Zusammenbruch der „Re­ volutionären Zellen“ im Jahre 1995 an Mitstreitern, die dieses hätten aufgreifen können.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Revolutionären Zellen“

6.1 Entstehung 6.1.1 „Haschrebellen“, „Tupamaros Westberlin“, „Tupamaros München“ (1969 bis 1971) Nahezu zeitgleich zur Genese der „Roten Armee Fraktion“ vollzog sich Ende der 1960er Jahre in Westberlin die Bildung einer Gruppe, welche wenige Jahre später den „Ausgangspunkt für die Entstehung der ‚Bewe­ gung 2. Juni‘“2034 bilden sollte. Dieser Akteur rekrutierte sich anfangs vorwiegend aus einer Subkultur, die sich über eine deviante Lebensweise von gesellschaftlicher Konformität abgrenzte. Ausdruck des abweichenden Verhaltens waren nicht nur der Verzicht auf geordnete Lebensverhältnis­ se mit festem Beruf, Beschaffungskriminalität sowie ein äußeres Erschei­ nungsbild, das tradierte soziale Normen kontrastierte.2035 Es manifestierte sich auch in einem teilweise ausgeprägten Verkauf und Konsum von Dro­ gen (insbesondere von Haschisch), denen eine Bewusstseinserweiterung als positive Eigenschaft zugeschrieben wurde.2036 Mit dem eigens gewählten Titel „Blues“2037 verstanden sich die Anhänger dieses Milieus „als Ausge­ grenzte, Marginalisierte, Kriminalisierte, als an den Rand der Gesellschaft Verbannte.“2038 Wie der Zeitzeuge und spätere Linksterrorist Norbert Krö­ cher in seiner 2017 erschienenen Biographie darlegte, definierten sie sich zum Teil aufgrund der unterschiedlichen sozialen Herkunft in Abgren­ zung zu den in der „68er-Bewegung“ maßgeblichen Studenten:

2034 Pfahl-Traughber 2014a, S. 171. Ähnlich Kraushaar 2017, S. 42. 2035 Vgl. Chronologische Eckdaten 2003, S. 155; Korndörfer 2008, S. 238-239, 241. 2036 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 97, 100; Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 22; Meyer 2008, S. 161; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 148-149. 2037 Kröcher/Papenfuß 2017, S. 143. 2038 Kraushaar 2006b, S. 516.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

„Westberlin war nicht wiederzuerkennen. Die Springer-Presse begann eine beispiellose Hetzkampagne gegen Studenten und alle Nichtange­ passten. Darunter fielen auch wir: die Langhaarigen, Bunten, Lauten. Außer der Haartracht unterschied uns einiges von den Studenten. Die schienen uns zu angestrengt, redeten oft unverständliches Zeug und benutzten einen Haufen Wörter, die wir Lehrlinge und jungen Arbei­ ter nicht kannten. Einige Wortführer der Studenten behandelten uns von oben herab. Manchmal, wenn sie uns agitieren wollten, predigten sie nur. Den Ton kannten wir von Eltern, Lehrern und Ausbildern zur Genüge.“2039 Unter dem Eindruck staatlicher Gegenmaßnahmen, welche die Polizei in Westberlin zur Eindämmung des Drogenmissbrauchs ergriff, formierte sich während des Frühjahrs 1969 innerhalb der Szene ein Kreis aus „bun­ ten Typen“2040, der sich – so Ralf Reinders, einer der Aktivisten des „Blues“ – „diese dauernden Razzien in den [einschlägigen] Lokalen nicht mehr gefallen“2041 lassen wollte. Dazu zählten unter anderen Michael „Bommi“ Baumann, Georg von Rauch, Ralf Reinders, Thomas Weisbecker, Dieter Kunzelmann und Norbert Kröcher.2042 Ihre Prämisse lautete: „Wir schla­ gen jetzt zurück.“2043 In Anspielung auf die von Mao Tse-tung verfasste Schrift „Über die Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen“ sowie als provokante Abgrenzung zu den entstehenden dogmatischen Gruppen der Neuen Linken – den sogenannten K-Gruppen – wählte er den von Die­ ter Kunzelmann ersonnenen Namen „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ und veröffentlichte in Flugblättern seine Positionen.2044 Handlungsbestimmend war für die Mitglieder das Anliegen, eine auf Selbstverwirklichung setzende Lebensweise in eine revolutionäre Program­ matik zu gießen, welche mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhält­ nissen brach.2045 Sie selbst reduzierten diese Agenda auf den minimalisti­ schen Dreiklang: „High sein, frei sein, Terror muss dabei sein.“2046 Zum wichtigsten Sprachrohr der „Haschrebellen“ avancierte die wöchentlich

2039 2040 2041 2042 2043 2044 2045 2046

Kröcher/Papenfuß 2017, S. 142. Baumann 1980, S. 61. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 22. Vgl. ebd., S. 23; Kraushaar 2006b, S. 515; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 150-151; Danyluk 2019, S. 173. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 22. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 515. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 107-108. Viett 2007, S. 76; Meyer 2008, S. 161.

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6.1 Entstehung

erscheinende Zeitschrift „Agit 883“, die zum Teil eine Auflage von etwa 12 000 Exemplaren erreicht haben soll.2047 Nach und nach flankierten Taten die propagandistische Arbeit des Zir­ kels – so zum Beispiel das Veranstalten eines „Smoke-Ins“ im Tiergarten im Juli 1969 und das Zünden einer Rauchbombe in Westberlin, mit der eine Aufführung des Musicals „Hair“ unterbrochen wurde.2048 Erste Ver­ haftungen folgten. Georg von Rauch soll eine mehrmonatige Haftstrafe abgesessen haben, nachdem ihn die Berliner Polizei im Zuge des „Smo­ ke-Ins“ benommen in einem Gebüsch entdeckt und bei einer späteren Magenspülung Haschisch festgestellt hatte. „Er hatte irgendwelche HaschKekse gefressen, die wohl `ne [sic] Nummer zu groß waren“2049, erinnerte sich Ralf Reinders. Ihre Bereitschaft zur Militanz verschärften die „Ha­ schrebellen“ schließlich nach der Teilnahme an der „Ebracher Knastwo­ che“ zwischen dem 12. Juli und 19. Juli 1969 in einem Camp vor der Jus­ tizvollzugsanstalt im bayerischen Ebrach. Sie diente der Freilassung eines Aktivisten der „Außerparlamentarischen Opposition“.2050 Insgesamt seien 120 bis 150 Personen „aus der ganzen BRD und Westberlin“2051 präsent gewesen.2052 Die Mehrheit vereinte der Wille, revolutionäre Maxime in Taten zu gießen.2053 Auf der „Knastwoche“ knüpften die „Haschrebellen“ vielfältige Kontakte, darunter zu Fritz Teufel2054 und einer „italienischen Anarchistengruppe“2055 mit Namen „Uccelli“. Die „Uccelli“ schlugen eine Reise nach Italien vor, welche bei der Westberliner Gruppe und anderen Zuspruch fand.2056 Nachdem sich das Camp am 19. Juli 1969 ohne Ergeb­ nis aufgelöst hatte, reisten Dieter Kunzelmann, Ingrid Siepmann, Roswi­ tha Lena Conradt, Albert Fichter und Georg von Rauch über München und die Schweiz nach Italien. Wenig später schlossen sich ihnen Fritz Teufel und andere aus München an.2057 Mehrere Wochen habe der etwa 15 Personen umfassende Zirkel in Italien verbracht.2058 Dort scheiterte der

2047 2048 2049 2050 2051 2052 2053 2054 2055 2056 2057 2058

Vgl. Baumann 1980, S. 55, 58, 60; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 151. Vgl. Korndörfer 2008, S. 241. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 23. Vgl. Korndörfer 2008, S. 241. Rollnik/Dubbe 2007, S. 43. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 102. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 120. Vgl. Winkler 2008, S. 139. Kunzelmann 1998, S. 119. Vgl. Wunschik 2006b, S. 543. Vgl. Kahl 1986, S. 53; Jesse 1999, S. 204. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 120.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

Plan, gemeinsam mit den „Uccelli“ eine Aktion zu unternehmen, in der Solidarität mit den Opfern des Anfang 1968 aufgetretenen Erdbebens auf Sizilien zum Ausdruck kommen sollte.2059 Überdies kam es – angeblich – in Mailand zu einer Unterredung mit einem Zirkel um die späteren Grün­ der der „Roten Brigaden“, Mara Cagol und Renato Curcio.2060 Laut Kun­ zelmann entstand in Rom während einer „endlosen Nachtdiskussion“2061 die Idee, die Fatah in Jordanien zu besuchen, um sich in den Gebrauch von Schusswaffen einweisen zu lassen. Während sich fünf Aktivisten um Kunzelmann und von Rauch für die Ausbildung bei den Palästinensern entschieden, lehnten die übrigen den Plan ab und kehrten zusammen mit Fritz Teufel nach München zurück.2062 Die „Palästina-Fraktion“2063 stellte – angeblich – über Verbindungen in Berlin Kontakt her zur Fatah, besorgte sich die für die Weiterreise notwen­ digen finanziellen Mittel beim italienischen Verleger Giangiacomo Feltri­ nelli und begann am 23. September 1969 ihre Fahrt.2064 Über Jugoslawien, Bulgarien, die Türkei, den Libanon und Syrien erreichte sie am 4. Oktober 1969 Amman.2065 Etwa drei Wochen verbrachte die Gruppe in Jordanien, wo sie im Handhaben von Waffen und Sprengstoffen ausgebildet worden sein und ideologische Kurse durchlaufen haben soll.2066 Wie Kunzelmann in seinem Selbstzeugnis schilderte, erbrachte das Waffentraining gemisch­ te Resultate: „Auf unseren Wunsch verbrachten wir eine Woche bei einer Elite-Ein­ heit, die in der Jordansenke in biblischen Höhlen lebte, gründlichst [sic] politische Schulungen durchführte, verbunden mit einer soliden Ausbildung an Waffen. An Ersterer beteiligten wir uns begeistert und waren erstaunt über die dort vorhandene Kenntnis in europäischer Ge­ schichte. Bei der Ausbildung an der Kalaschnikow gab ich sehr schnell auf: ich konnte kein einziges Mal nach dem Auseinandernehmen der Waffe sie auch nur annähernd wieder zusammensetzen. Bei meinen Schießübungen bestand nicht nur für mich, sondern auch für alle

2059 2060 2061 2062 2063 2064 2065 2066

Vgl. Kraushaar 2013, S. 106-107. Vgl. Danyluk 2019, S. 190. Kunzelmann 1998, S. 120. Vgl. Kahl 1986, S. 54; Horchem 1988, S. 122; Kraushaar 2006b, S. 518. Baumann 1980, S. 65. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 121; Kunzelmann 1998, S. 120. Vgl. Horchem 1988, S. 122. Vgl. Baumann 1980, S. 63; Jesse 1999, S. 205; Kraushaar 2017, S. 42.

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6.1 Entstehung

Umstehenden allerhöchste Gefahr. Nur die beiden Frauen und Georg glänzten im Umgang mit Waffen.“2067 Roswitha Lena Conradt, Albert Fichter, Georg von Rauch und Kunzel­ mann begaben sich nach Abschluss der Ausbildung auf den Rückweg nach Westberlin. Ingrid Siepmann habe ihren Aufenthalt verlängert, da sie sich in Jordanien verliebt hatte und außerdem über pharmazeutische Kenntnis­ se verfügte, mit denen sie die Arbeit in Flüchtlingslagern praktisch unter­ stützen konnte.2068 Sie schloss sich später wieder dem Westberliner Milieu an. Dort plädierten die Rückkehrer Ende 1969 für eine strategische Zäsur, deren Grundzüge sie in Jordanien festgelegt hatten: weg vom offenen, extravaganten Aktionismus des „Blues“, hin zum konspirativen „bewaffne­ ten Kampf“. Ihre typischen Eigenschaften, so forderten sie, sollten die „Haschrebellen“ endgültig ablegen.2069 Der neuen Prämisse entsprechend, beschränkte die „Palästina-Fraktion“ Kontakte zu Außenstehenden auf ein Mindestmaß und passte ihr Erscheinungsbild und Verhalten an. Die Abgrenzung zur Subkultur, aus der sie stammten, wurde laut Baumann unübersehbar: „Sie waren, als sie wiederkamen, nur noch für ein paar Leute zu spre­ chen. Sie hatten kurze Haare, falsche Pässe und waren eben quasi als Fremde wiedergekommen. Sahen total straight aus, mit denen konn­ test du nirgends mehr hingehen. Da haben die anderen sofort gefragt, wer ist denn das da neben dir, ist das nicht ein Spitzel. Da musstest du immer abwiegeln und sagen, nene [sic], der ist in Ordnung, den kenne ich, keine Angst.“2070 Als zentrales Vorbild galt den Rückkehrern die in Uruguay agierende „Stadtguerilla“ der „Tupamaros“, was auch die Namensfindung der neu­ en Gruppe entscheidend beeinflusste. Den neu gegründeten „Tupamaros Westberlin“ gehörten mindestens 15 Personen an – neben der „Palästi­ na‑Fraktion“ Michael Baumann, Bernhard Braun, Annekatrin Bruhn, Hil­ mar Buddee, Hans Peter Knoll, Hella Mahler, Alfred Mährländer, Susanne Plambeck, Ralf Reinders und Thomas Weisbecker.2071 Ideologisch legten sie den Fokus auf – vermeintliche – staatliche Repression sowie auf die

2067 Kunzelmann 1998, S. 123. 2068 Vgl. ebd., S. 124-125; Jesse 1999, S. 205; Wunschik 2006b, S. 544; Bau­ mann/Reinecke 2013. 2069 Vgl. Baumann 1980, S. 65; Kunzelmann 1998, S. 125. 2070 Baumann 1980, S. 66. 2071 Vgl. Kraushaar 2006b, S. 518, 520; Wunschik 2006b, S. 544.

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Situation der Palästinenser im Nahen Osten.2072 Den Auftakt ihrer „revolu­ tionären“ Gewalt bildete der versuchte Anschlag auf das Jüdische Gemein­ dehaus in Berlin am 9. November 1969, den sie mit einem – angeblich – faschistischen Gebaren des Staates Israel begründeten.2073 Aufgrund seines zeitlichen Zusammenhangs mit der Reichspogromnacht im November 1938 erwies er sich rasch als nicht vermittelbar. Für die Presse, so Bau­ mann, war die Aktion „ein gefundenes Fressen“2074. Auch Linksextremis­ ten sollen die Aktion mit Kritik belegt haben, darunter der „Haschrebell“ Kröcher. Er schrieb rückblickend: „Ein Teil der Tupamaros Westberlin ging nach Jordanien in ein Aus­ bildungslager der Al Fatah und driftete politisch auf einen seltsamen antisemitischen (antizionistisch gedachten) Trip ab, der schließlich zu einem – glücklicherweise misslungenen – Bombenanschlag auf das jü­ dische Gemeindehaus […] führte […]. Die anschließende Diskussion war heftig. Mein engeres Umfeld (Schwarze Hilfe, Schwarze Zellen Neukölln, Kreuzberg und Spandau) war der Meinung, dass es sich nur um eine Aktion der Bullen handeln konnte. Leider wurden wir eines Besseren belehrt. Bei aller Sympathie für die Sache der Palästinenser ging uns das entschieden gegen den Strich.“2075 Weitere Gewalthandlungen, die zumeist die Form eines Brand- oder Sprengstoffanschlags annahmen, richteten sich gegen Staatsanwälte, Rich­ ter, die Polizei, Kaufhäuser, israelische und amerikanische Einrichtungen, wobei die Tatbekenntnisse in der von TW‑Mitgliedern mitgestalteten „Agit 883“ bewusst unter verschiedenen Namen veröffentlicht wurden: „Palästina-Fraktion“, „Schwarze Ratten TW“, „SENDER tw“, „Panthertan­ ten“, „Onkel Tuca“, „Amnestie International“, „Viva Maria“. Dies sollte die Illusion eines breit verankerten „Widerstandes“ gegen die Staatsmacht schaffen, was jedoch nicht gelang. Die Westberliner Polizei ordnete die Aktionen schnell dem Kreis um Kunzelmann und von Rauch zu und veröffentlichte zum Neujahr 1970 die ersten Steckbriefe.2076 Auch die Medien gerieten in das Visier der TW. Im Februar 1970 drangen Baumann, von Rauch, Weisbecker, Susanne Plambeck und Anne­

2072 2073 2074 2075 2076

Vgl. Baumann 1980, S. 65; Claessens/de Ahna 1982, S. 123. Vgl. Korndörfer 2008, S. 246. Baumann 1980, S. 69. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 154-155. Vgl. Baumann 1980, S. 72; Kunzelmann 1998, S. 127; Kraushaar 2006b, S. 519-520; Wunschik 2006b, S. 544; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 153.

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6.1 Entstehung

katrin Bruhn in die Wohnung des Reporters Horst Rieck ein, fesselten und verletzten ihn. Sie nahmen fälschlicherweise an, dass Rieck für einen Artikel in der Illustrierten „Quick“ verantwortlich zeichnete, welcher die Anschläge Ende 1969 in ihren Augen diskreditierend dargestellt hatte.2077 Die Aktion „ging im Chaos unter“2078: Ein Nachbar Riecks rief die Polizei herbei, die die vier Mitglieder der „Tupamaros Westberlin“ arretierte. Bau­ mann, nach dem der Staatsschutz ab Dezember 1969 wegen des Verdachts der Beteiligung an Sprengstoffanschlägen gefahndet hatte, blieb etwa ein­ einhalb Jahre in Untersuchungshaft. Die anderen Beteiligten erhielten be­ reits wenig später ihre Entlassungspapiere.2079 Von Rauch nutzte die Zeit im Gefängnis, um konzeptionelle Überlegungen zur künftigen Struktur der TW zu sammeln. Er favorisierte eine zelluläre Organisation, deren Einheiten sich auf verschiedene Aufgabenfelder spezialisieren sollten. So sollte nicht nur eine „Technikerzelle“, sondern auch eine „Arztzelle“ und eine „Chemiezelle“ aufgebaut werden. Die personelle Stärke der Zellen dürfe die Zahl einer Autobesatzung nicht übersteigen.2080 Etwa zur selben Zeit fassten zwei weitere Personenkreise den Entschluss, innerhalb Westdeutschlands den „bewaffneten Kampf“ aufzunehmen. In München entstand eine Gruppe aus denjenigen, die sich im September 1969 während der Italienreise von den „Haschrebellen“ getrennt und ge­ gen die Ausbildung bei der Fatah entschieden hatten. Sie fanden unter der Bezeichnung „Tupamaros München“ zusammen.2081 Dieser Zirkel umfass­ te unter anderen Fritz Teufel, Irmgard Möller, Brigitte Mohnhaupt, Rolf Heißler, Heinz-Georg Vogler und Rolf Pohle.2082 In Übereinstimmung mit der „Justizkampagne“ der TW richtete sich eine ihrer ersten Aktionen im Februar 1970 gegen die Wohnung eines Amtsgerichtsrats.2083 In Berlin ver­ festigte sich die Bereitschaft der Gründer der späteren „Roten Armee Frak­ tion“, eine eigene „Stadtguerilla“ aufzubauen. Sowohl zu den „Tupama­ ros München“ als auch zur RAF unterhielten die TW von Beginn an rege Kontakte. Basierend auf den persönlichen Bekanntschaften entwickelten sich zwischen den „Tupamaros Westberlin“ und den TM „eigene Kommu­ nikationsformen und vermutlich auch Absprachen für bestimmte Aktio­ 2077 2078 2079 2080 2081 2082

Vgl. Wunschik 2006b, S. 544-545. Meyer 2008, S. 162. Vgl. Baumann 1980, S. 79, 84. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 522, 524. Vgl. Wunschik 2006b, S. 544. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 68; Kraushaar 2006b, S. 529; Kraushaar 2017, S. 41; Danyluk 2019, S. 168. 2083 Vgl. Korndörfer 2008, S. 246.

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nen.“2084 Verbindungen zur entstehenden „Roten Armee Fraktion“ kamen erstmals Anfang März 1970 auf. Mit Thomas Weisbecker, Georg von Rauch, Hilmar Buddee und Dieter Kunzelmann sollen sich Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baa­ der und Horst Mahler zu einer möglichen Fusion der TW und der im Entstehen begriffenen „Roten Armee Fraktion“ ausgetauscht haben. Zum Ausgang des Gesprächs schrieb Kunzelmann: „Bis in die frühen Morgenstunden diskutierten und stritten wir […]. Die unterschiedlichen Vorstellungen stießen jedoch im Laufe der Dis­ kussion dermaßen hart aufeinander, dass am Ende nur eines klar war: Ein Zusammengehen mit dieser Gruppe konnte es nicht geben.“2085 Reinders sprach mit Blick auf diesen Zeitraum von einem „Konkurrenz­ verhältnis zur RAF“2086, das sich insbesondere in den Kontakten der „Ro­ ten Armee Fraktion“ zum Linksextremisten Peter Urbach offenbart habe. Zu Urbach pflegten die TW offenbar keinerlei Verbindungen, da ihnen bereits während der Existenz des „Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen“ das Gerücht zugetragen worden war, er sei ein V‑Mann des Berliner Verfassungsschutzes. Ein weiterer Grund für das Misstrauen hatte sich durch die von Urbach gegenüber Michael Baumann geäußerte Offerte ergeben, günstig mehrere Kilogramm Haschisch besorgen zu kön­ nen. Dass Urbach nichtsdestotrotz an die sich in Berlin formierenden ter­ roristischen Zirkel gelangte, muss – so Reinders – den Gründern der „Ro­ ten Armee Fraktion“ angerechnet werden. Diese sollen geglaubt haben, die „Tupamaros Westberlin“ verfolgten die Absicht, über Urbach Waffen für den „bewaffneten Kampf“ zu beschaffen. Verbunden worden sei dies mit dem Vorwurf, die TW kolportierten dessen Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz, um ihn in den Augen der entstehenden RAF zu dis­ kreditieren und sich heimlich den Zuschlag für die Waffen zu sichern. Reinders konstatierte dazu: „Sie waren einwandfrei gewarnt, aber der Mahler hat das nicht ernst genommen.“2087 Horst Mahler vereinbarte mit Peter Urbach ein Treffen für den 2. April 1970. Gemeinsam mit Andreas Baader und anderen fuhren sie zu einem Friedhof, auf dem laut Urbach Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden waren. Eine Suche verlief jedoch ergebnislos. Zwei Tage später nahm die Westberliner Kriminalpo­

2084 2085 2086 2087

Kraushaar 2006b, S. 529. Vgl. auch Kraushaar 2013, S. 471-472. Kunzelmann 1998, S. 127-128. Vgl. auch Jesse 1999, S. 205. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 28. Ebd. Ähnlich Baumann/Neuhauser 1978, S. 22.

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lizei Baader bei einer Verkehrskontrolle fest. Baaders Aufenthaltsort war der Polizei zur Kenntnis gelangt, nachdem Urbach diesen an den Berliner Verfassungsschutz verraten hatte.2088 Trotz der Differenzen kamen die „Tupamaros Westberlin“ und die RAFGründer – angeblich – im April 1970 erneut zusammen. Die Gruppe um Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Horst Mahler habe geplant, Andre­ as Baader zum Ausbruch aus der Haft zu verhelfen. In diesem Zusammen­ hang hätten sie sich personelle Unterstützung der TW erhofft und daher gezielt versucht, Georg von Rauch zu gewinnen. Dieser soll von ihnen als erfahren und zuverlässig bewertet worden sein.2089 Die „Tupamaros Westberlin“ wogen die Vor- und Nachteile einer abgestimmten Aktion ab und kamen – so Reinders, der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls eine mehr­ wöchige Haftstrafe hinter sich gebracht hatte2090 – zu einem eindeutigen Ergebnis: „Wir wussten nicht, ob das so gut ist. Baader hatte nur zwei, drei Jahre abzusitzen. Auf der einen Seite wollten wir ihn rausholen. Wir kamen selbst gerade aus dem Knast und wussten, was es bedeutet, hatten ein Gefühl dafür, dass ein Mensch nicht sitzen sollte. Auf der anderen Seite sagten wir aber: Das ist uns eine Nummer zu groß, wir wollen das nicht.“2091 Statt sich dem „Liebeswerben […] [der] roten Brüder und Schwestern“2092 hinzugeben, knüpften die TW an ihre bisherige aktionistische Linie an. Ab Ende April bis Juli 1970 führten sie 12 Anschläge aus, die einen dezidiert antiamerikanischen Einschlag erkennen ließen. Darüber hinaus riefen sie die „Free‑Bommi-Kampagne“ ins Leben, mit der sie auf die In­ haftierung Michael Baumanns aufmerksam machten und unter dem Leit­ satz „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“2093 zum Widerstand gegen die Staatsgewalt aufriefen.2094 Das Verhältnis zur nunmehr gegründeten „Roten Armee Fraktion“ erwies sich als wechselhaft. Baumann habe den gewaltsamen Ablauf der Befreiung Baaders als falsch empfunden.2095 Die RAF soll zwar Mitglieder der TW in das Aufbrechen und Entwenden 2088 2089 2090 2091 2092 2093 2094 2095

Vgl. Peters 2008, S. 172-174. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Vgl. Wunschik 2006b, S. 545. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Kröcher 1998. Claessens/de Ahna 1982, S. 125. Vgl. Korndörfer 2008, S. 246-247. Vgl. Baumann 1980, S. 92.

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von Fahrzeugen eingeführt haben, um die Nutzung eines Piratensenders aber „gab’s [sic] Streit“2096. Den TW sei es gelungen, mithilfe der techni­ schen Expertise eines Berliner Anarchisten selbst produzierte Tonaufnah­ men innerhalb eines begrenzten geographischen Raums in Westberliner Wohnungen zu übertragen. Die Mitglieder der RAF „wollten den Sender haben. Doch der Anarcho hat gesagt: Nie und nimmer kriegt ein Mar­ xist‑Leninist von mir diesen Sender. Das gibt’s nicht!“2097 Spannungen ergaben sich zudem im Umfeld der beiden Gruppen, so zwischen Holger Meins und Peter Paul Zahl, dem Verleger der „Agit 883“. Meins, der nach der Befreiung Andreas Baader sichtbar mit der „Roten Armee Fraktion“ sympathisierte, sich dieser jedoch erst im Herbst 1970 anschloss, geriet mit Zahl während einer Redaktionssitzung der „Agit 883“ im Hinblick auf die Veröffentlichung eines Artikels in einen Konflikt. Nachdem Zahl Meins als „arrogantes Arschloch“ beschimpft hatte, kam es zwischen beiden zu einer Schlägerei, die durch das Eingreifen anderer Anwesender zur Auflö­ sung gebracht wurde.2098 Auch die „Tupamaros München“ verstärkten im Frühjahr 1970 die Frequenz ihrer Aktivitäten. Gefälschte Ausweispapiere und konspirative Wohnungen wurden beschafft. Im Zeitraum vom 16. bis zum 31. Mai 1970 begingen sie mehrere Anschläge in München, darunter Aktionen ge­ gen das bayerische Landeskriminalamt, das Mexikanische Konsulat sowie das Gebäude der Firmen „Siemens“ und „Messerschmitt-Bölkow-Blohm“. Die Gewalthandlungen mündeten schließlich in der Verhaftung Fritz Teu­ fels am 12. Juni 1970 – dies motivierte die verbleibenden Mitglieder zu weiterer Gewalt. Sie richtete sich gegen Einrichtungen von Justiz und Polizei.2099 Teufel erhielt im Januar 1971 eine Verurteilung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe.2100 In Westberlin büßten die TW unterdessen Dieter Kun­ zelmann ein. Er wurde im Juli 1970 am Flughafen Tempelhof festgenom­ men, als er Ingrid Siepmann nach einem Flug abholen wollte. Sie war von Düsseldorf nach Westberlin gereist.2101 Die verbleibenden Aktivisten der „Tupamaros Westberlin“ nahmen wenig später – im August 1970 – Entlassungen einer Firma zum Anlass, die Kooperation mit der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zu intensivieren. Ihre Mitglieder beabsichtigten angeblich, 2096 2097 2098 2099

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 37. Ebd. Vgl. Peters 2008, S. 234-237. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 127; Wunschik 2006b, S. 544; Korndörfer 2008, S. 246; Danyluk 2019, S. 168-169. 2100 Vgl. Der Spiegel 1971a, S. 30. 2101 Vgl. Kunzelmann 1998, S. 130; Jesse 1999, S. 205; Kraushaar 2017, S. 51.

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arbeitsteilig gegen die Kündigungen vorzugehen. Die „Tupamaros West­ berlin“ wollten das Fahrzeug des Firmenbesitzers in Brand setzen und einen Sprengsatz in seiner Garage zur Detonation bringen, zeitgleich sollte die RAF in das Gebäude der Firma einbrechen, dort Parolen an Wänden aufbringen und Büromaterial entwenden. Das Diebesgut hätte anschlie­ ßend verkauft und der Erlös dem entlassenen Personal zur Verfügung gestellt werden sollen.2102 Wie Reinders darlegte, konnte diese Aufteilung nicht realisiert werden: „Das Problem war […], dass die RAF […] zu dieser Aktion irgendwie nicht zu bewegen war. […] Das Ende vom Lied war, dass die RAF nichts gemacht hat und wir trotzdem beschlossen, den Wagen […] zu machen.“2103 Ein tatsächlicher Schulterschluss zwischen beiden Gruppen sei am 29. Sep­ tember 1970 gelungen, als sie gemeinsam drei Banken in Berlin überfielen und mehr als 217 000 DM erbeuteten.2104 Das Geld hätten sie unterein­ ander aufgeteilt und es unter anderem für die Anschaffung von Waffen genutzt.2105 Die nunmehr offenbar sichergestellte finanzielle Ausstattung mündete allerdings nicht in einer neuen Aktionsphase der „Tupamaros Westberlin“. Grund hierfür waren personelle Verluste, welche spätestens im November 1970 die Situation der Gruppe grundlegend veränderten. Zuvor waren nicht nur Georg von Rauch,2106 sondern auch Annekatrin Bruhn und Hella Mahler in Haft geraten. Aufmerksamkeit erregt hatten die beiden Frauen aufgrund medizinischer Behandlungen, mit denen sie ihre Hepatitiserkrankungen zu bekämpfen suchten. Hella Mahler – die Freundin Michael Baumanns – legte ein vollumfassendes Geständnis ab. Bruhn offenbarte ebenfalls ihr Wissen zu den Handlungen der TW. Die Aussagen ermöglichten das Aufklären von insgesamt 22 Anschlägen im Zeitraum von November 1969 bis Juni 1970.2107 Sie besiegelten die voll­ ständige Illegalisierung der „Tupamaros Westberlin“, „die sich bis dahin noch so halb legal, halb illegal gehalten hat[ten]“2108. Ab diesem Zeitpunkt kam es unter den in Freiheit befindlichen Mitgliedern der TW zu Übertrit­ 2102 2103 2104 2105

Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41-42. Ebd., S. 42. Vgl. Dellwo 2007b, S. 198; Peters 2008, S. 216. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 43 - 44; Chronologische Eckdaten 2003, S. 166. 2106 Vgl. Kraushaar 2013, S. 490. 2107 Vgl. Der Spiegel 1970c, S. 107; Kraushaar 2006b, S. 525. 2108 Baumann 1980, S. 91.

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ten zur „Roten Armee Fraktion“. Dokumentiert ist dies für Ralf Reinders und Ingrid Siepmann.2109 Siepmann trat im April 1971 der RAF bei.2110 Irmgard Möller rief sich in ihrem Ende der 1990er Jahre mit Oliver Tol­ mein durchgeführten Interview die Phase in Erinnerung, welche diesem Wechsel vorausging. Da die Strukturen der „Tupamaros Westberlin“ mit Haftbefehlen in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten waren, hätten sich die nicht in Haft sitzenden Aktivisten der Gruppe dazu entschlossen, Westberlin zu verlassen. Sie seien nach Bayern gereist und bei den Gleich­ gesinnten der „Tupamaros München“ untergekommen.2111 Die Situation der TW und ihr Aufenthalt in München habe die TM vor völlig neuartige Herausforderungen gestellt, die nicht nur Teile der „Tupamaros Westber­ lin“, sondern auch die TM-Mitglieder Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller und Rolf Pohle im Frühjahr/Sommer 1971 zur „Roten Armee Fraktion“ drängten:2112 „Für uns hieß das: Wir mussten uns verstärkt mit Fragen der Logistik beschäftigen, mussten klären, was man braucht, um sich in der Illega­ lität halten zu können, und mit welcher Perspektive man das macht. Und im Verlauf der und im Zusammenhang mit diesen Auseinander­ setzungen haben wir uns dann zusammen entschlossen, zur RAF zu gehen. […] Diejenigen vom Blues, die damals nach München gekom­ men sind, sind dann auch erstmal mit in die RAF gegangen.“2113 Der ebenfalls zu den „Tupamaros München“ zählende Rolf Heißler dage­ gen beteiligte sich im April 1971 an einem Banküberfall in der bayerischen Landeshauptstadt, bei dem mehr als 50 000 DM gestohlen wurden. Nur wenige Wochen später wurde er verhaftet.2114 Heißler erhielt eine Frei­ heitsstrafe von acht Jahren.2115

2109 2110 2111 2112

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 17. Vgl. Wunschik 2006b, S. 546. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 33. Vgl. ebd., S. 21; Wunschik 2006b, S. 546; Diewald-Kerkmann 2009, S. 93, 111, 113; Kraushaar 2013, S. 473‑474. Vgl. auch Pohle 2002, S. 67. 2113 Möller/Tolmein 1999, S. 33. 2114 Vgl. Der Spiegel 1972b, S. 66; Danyluk 2019, S. 169-170. 2115 Vgl. Der Spiegel 1981d, S. 34.

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6.1.2 „Verwechslungs-go-out“, „Rote Armee Fraktion“, Tod Georg von Rauchs (1971 bis 1972) Im Juli 1971 gelang dem Kern der weitgehend zerschlagenen „Tupamaros Westberlin“ nach einer propagandistisch als „Verwechslungs‑go-out“2116 vermarkteten Flucht die Reorganisation. Der Gerichtsprozess gegen die Angreifer, welche Anfang Februar 1970 den Reporter Horst Rieck in sei­ ner Wohnung verletzt hatten, mündete am 8. Juli 1971 in einer Haftver­ schonung für Baumann und Weisbecker. Von Rauch dagegen sollte in Untersuchungshaft bleiben.2117 Wie Baumann in seiner Biographie darleg­ te, drohte von Rauch eine lange Haftstrafe, da er in den Geständnissen von Annekatrin Bruhn und Hella Mahler schwer belastet worden war.2118 Im Anschluss an die Urteilsverkündung gab sich Weisbecker im Gerichtssaal als von Rauch aus, was durch die äußerliche Ähnlichkeit der beiden ge­ lang. Um die Täuschung zu perfektionieren, ließ sich von Rauch die Brille Weisbeckers geben und setzte diese auf.2119 Während des Tumults, den Baumann und der als Weisbecker posierende von Rauch aus Freude an der verkündeten Haftentlassung initiierten, konnten beide entkommen. Nach­ dem Justizbeamte Weisbecker aus dem Saal geführt hatten, gab er sich zu erkennen und protestierte gegen seine ungerechtfertigte Mitnahme.2120 Weisbecker konnte das Gebäude nach erkennungsdienstlicher Behandlung ebenfalls verlassen, wurde jedoch am darauf folgenden Tag Ziel einer Fahndung. Gegen ihn hatte die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Häftlingsbefreiung eingeleitet.2121 Die in Freiheit gelangten Mitglieder der TW vereinigten sich umgehend mit anderen, aus der Haft entlassenen Aktivisten der Gruppe und solchen Personen, die sich in der Zwischenzeit zur Teilnahme am „bewaffneten Kampf“ entschieden hatten. „[Ü]ber Nacht waren wir wieder ein Trupp von zehn Leuten“2122, schrieb Baumann in seinen Erinnerungen – darun­ ter Hans Peter Knoll, Heinz Brockmann, Annerose Reiche und Angela Luther.2123 Zusätzliche Verstärkung erhielten sie in der Folgezeit aus dem Kreise der sogenannten Schwarzen Hilfe, die sich zur Unterstützung und 2116 2117 2118 2119 2120 2121 2122 2123

Chronologische Eckdaten 2003, S. 167. Vgl. Der Abend 1971, S. 96-97. Vgl. Baumann 1980, S. 95. Vgl. Meyer 2008, S. 175. Vgl. Baumann 1980, S. 95. Vgl. Wunschik 2006b, S. 546-547. Baumann 1980, S. 98. Vgl. Meyer 2008, S. 176; Diewald-Kerkmann 2009, S. 105.

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Betreuung „politischer Gefangener“ gegründet hatte.2124 Aus diesem Mi­ lieu rekrutierten die neu formierten „Tupamaros Westberlin“ nach und nach weitere Mitglieder, so zum Beispiel Inge Viett, Verena Becker, Harald Sommerfeld, Ulrich Schmücker, Willi Räther, Ingeborg Barz sowie das Ehepaar Siegfried und Karin Mahn.2125 Im Sommer 1971 schloss sich zu­ dem Till Meyer den TW an.2126 Er berichtete in seiner Autobiographie, ab diesem Zeitpunkt habe die Gruppe „[i]n […] nächtelangen Diskussionen bei Musik und Dope […] das erste Mal konkret über den Aufbau einer zweiten Guerilla‑Gruppe diskutiert.“2127 Aus seiner Sicht sei es offenkun­ dig geworden, „dass diese Leute [Baumann, Knoll, Brockmann, Angela Luther, Annerose Reiche und andere] nicht mit der RAF zusammengehen wollten.“2128 Auslöser dieser Stimmung waren augenscheinlich Gespräche der „Ro­ ten Armee Fraktion“ mit Aktivisten der „Tupamaros Westberlin“ in den Wochen nach dem Ausbruch Georg von Rauchs. Hierbei sei eine Auf­ nahme der TW‑Mitglieder in die RAF thematisiert worden,2129 was bei Baumann sowie von Rauch auf starke Ablehnung gestoßen sei. Die von der „Roten Armee Fraktion“ vermutlich in diesem Zusammenhang geäu­ ßerte Forderung nach uneingeschränkter Unterordnung soll die Gemüter derart erhitzt haben, dass sich Andreas Baader und von Rauch schließlich mit Schusswaffen gegenüberstanden.2130 Nach Aussagen von Meyer tat Baumann wohl später im Kreise seiner Genossen kund, man wolle „doch nicht im Vertreter-Outfit rumloofen [sic]“2131 wie die „Rote Armee Frak­ tion“. Außerdem könne er das „Gequatsche von Baby [Andreas Baader] schon nicht mehr hören.“2132 Von Rauch soll zu verstehen gegeben ha­ ben, er komme „mit der RAF […] nicht klar, die wollen uns den Blues austreiben.“2133 Entschieden habe er hinzugefügt: „Wir machen etwas eige­ nes.“2134 Ähnlich formulierte es Baumann in seinem erstmals 1975 erschie­

2124 2125 2126 2127 2128 2129 2130 2131 2132 2133 2134

Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 151; Danyluk 2019, S. 185-187. Vgl. Wunschik 2006b, S. 546; Der Spiegel 2007, S. 79. Vgl. Meyer 2008, S. 176. Ebd. Ebd. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 144; Meyer 2008, S. 176-179. Vgl. Baumann/Neuhauser 1978, S. 25. Michael Baumann, zit. n. Meyer 2008, S. 177. Michael Baumann, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 178. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Vgl. auch Rollnik/Dubbe 2007, S. 17.

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nenen Buch, wobei er weitere Gründe für die Abgrenzung zur „Roten Armee Fraktion“ zu erkennen gab: „[I]nzwischen war so ein Klima geschaffen worden, dass von vielen Linken die RAF und ihre Methoden abgelehnt wurden. Uns hat kaum noch jemand unterstützt, als wir rausgekommen sind. Wir haben dann einfach gesagt, wir machen das anders als die RAF, wir bleiben in einer Stadt, wir bleiben in Berlin, weil wir uns hier am besten ausken­ nen und rasen nicht irgendwo durch Westdeutschland im BMW.“2135 Andere gewaltbereite Gruppen des Westberliner Milieus sammelten offen­ bar ähnlich negative Erfahrungen im Umgang mit der RAF beziehungs­ weise Andreas Baader. Dies hielt ihre Mitglieder indes nicht davon ab, der „Roten Armee Fraktion“ öffentlich ihre Verbundenheit zu versichern. Der Aktivist Norbert Kröcher, der in diesem Zeitraum gemeinsam mit Peter Paul Zahl und seiner Ehefrau Gabriele Kröcher-Tiedemann unabhängig von den „Tupamaros Westberlin“ agierte,2136 führte dazu aus: „Zum Gründerkreis der RAF unterhielten wir persönliche und infor­ melle Kontakte. […] Baader sah ich nur einmal. Das reichte mir auch. Eine Filmfigur. Über eine halbe Stunde lang fummelte er wie blöd an seiner Knarre, fuchtelte damit in der Gegend herum. Seine Forderung, auch anderen Haschrebellen gegenüber, wie ich später erfuhr, war klar: Ihr habt Gruppen zu bilden von nicht mehr als fünf Leuten […], euch sofort der RAF anzuschließen und dem einheitlichen Oberkom­ mando zur Verfügung zu stellen. Das kam für uns überhaupt nicht in Frage. Wir schissen darauf, uns von bürgerlichen Intellektuellen schurigeln zu lassen. […] Was tun? Klar war, dass wir uns diesen ‚Leni­ nisten mit Knarre‘ weder anschließen geschweige denn unterwerfen würden. Also machten wir weiter wie bisher. In der FIZZ [linksextre­ mistisches Periodikum] erklärten wir uns allerdings absolut solidarisch mit den Genossen der RAF.“2137 Die TW hätten den Westberliner Stadtteil Kreuzberg als Aktionsschwer­ punkt bestimmt. Sympathien für den „bewaffneten Kampf“ sollten vor allem bei Lehrlingen und jungen Arbeitern gewonnen werden. Ausfluss dieser Überlegungen sei eine dualistische Strategie gewesen. Legalistische Aktivitäten, wie zum Beispiel das Verteilen von Flugblättern, das Sam­

2135 Baumann 1980, S. 99. 2136 Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 207-208, 213-214, 225. 2137 Ebd., S. 211-212.

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meln von Unterschriften gegen die Baupolitik des Westberliner Senats und das Mitarbeiten in Stadtteilgruppen,2138 wären von den TW mit „mili­ tante[n] Nacht- und Nebelaktionen“2139 verknüpft worden. Möglich war diese Kombination aufgrund der persönlichen Situation der Aktivisten: Bis auf von Rauch, nach dem die Polizei fahndete, seien die übrigen Mitglieder – unter anderem als Folge ihrer regulären Haftentlassung – nicht gezwungen gewesen, im Untergrund zu leben. Vielmehr konnten sie sich unter ihren tatsächlichen Namen politisch engagieren. Die neue strategische Linie der „Tupamaros Westberlin“ blieb intern umstritten und begünstigte Abgänge. Wolfgang Grundmann und Ingeborg Barz sollen zur „Roten Armee Fraktion“ gewechselt sein.2140 Trotz der Streitigkeiten und personellen Übertritte blieb die RAF „der große Bruder“2141, mit dem die TW grundlegende Interessen teilten – vor allem im Hinblick auf das Befreien „politischer Gefangener“.2142 Die „Tu­ pamaros Westberlin“ hätten im Sommer 1971 den Entschluss gefasst, den Vorsitzenden Richter im Gerichtsprozess gegen den im Oktober 1970 fest­ genommenen Horst Mahler zu entführen. Von diesem Plan sei schließlich abgesehen worden. Stattdessen sei der Fokus auf die inhaftierten RAF-Mit­ glieder Irene Görgens und Ingrid Schubert gelegt worden. Beiden sollte zum Ausbruch verholfen werden. Primäres Ziel in der Vorbereitung der Aktion wäre zunächst das Beschaffen von Waffen gewesen. Hierzu hätten die „Tupamaros Westberlin“ Verbindungen zur „Roten Armee Fraktion“ hergestellt. Da Baumann und Annerose Reiche bei der RAF nicht mehr erwünscht gewesen sein sollen, habe diese Aufgabe Heinz Brockmann übernommen. Er sei in Gütersloh mit Ingrid Siepmann zusammengetrof­ fen, die Brockmann – der Bart und lange Haare trug – umgehend für sein – angeblich – auffälliges Äußeres kritisiert habe. Beide seien anschließend weiter nach Hamburg gereist. Dort soll Brockmann Andreas Baader und Gudrun Ensslin die Absicht der TW dargelegt haben, Görgens und Schubert zu befreien. Dies habe er mit dem Wunsch nach einem Zuliefern von Waffen verknüpft. Aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ sei daraufhin zu verstehen gege­ ben worden, an Waffen bestehe bei ihr kein Mangel. Zudem hätten ihre

2138 Vgl. Baumann 1980, S. 99, 101. 2139 Ebd., S. 99. 2140 Vgl. Der Spiegel 2007, S. 79; Jander 2008, S. 168; Meyer 2008, S. 179; Danyluk 2019, S. 198. 2141 Meyer 2008, S. 183. 2142 Vgl. Wunschik 2006b, S. 547.

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Mitglieder begonnen, selbst Ideen zum Ablauf der Tat zu entwickeln. Brockmann entstand zusehends der Eindruck, die RAF wolle die Aktion eigenständig zur Umsetzung bringen. Ihn habe man aufgefordert, in Ham­ burg zu bleiben und in der „Roten Armee Fraktion“ eine Ausbildung zu durchlaufen. In diesem Zusammenhang soll eine mögliche Teilnahme an einem Banküberfall ins Spiel gebracht worden sein. Dem verweigerte sich Brockmann jedoch.2143 Im Anschluss an seine Rückkehr nach Westberlin weihte er – angeblich – Hans Peter Knoll, Thomas Weisbecker, Michael Baumann, Angela Luther, Annerose Reiche und Georg von Rauch in den Ablauf des Treffens ein. Erneut sei die Entscheidung gefallen, einen „eige­ nen Weg zur Erreichung des gemeinsamen Zieles“2144 einzuschlagen. Tele­ fonisch hätten die „Tupamaros Westberlin“ die „Rote Armee Fraktion“ zu diesem Beschluss in Kenntnis gesetzt. Die von Brockmann verlangten Waffen sollen wenig später die Gruppe in Berlin erreicht haben. Da für diese Ersatzteile notwendig wurden, verabredete sich Brockmann eigenen Aussagen zufolge zu einem zweiten Gespräch mit der RAF, wel­ ches in einer weiteren Waffenlieferung – bestehend aus drei Pistolen und einem Sturmgewehr vom Typ AK-47 – gemündet habe. Die „Rote Armee Fraktion“ hätte zudem eine konspirative Wohnung sowie 10 000 DM zur Verfügung gestellt. Beides sei von den TW genutzt worden, um die Vor­ aussetzungen für einen Ausbruch Irene Görgens‘ und Ingrid Schuberts zu schaffen. Sie sollen drei Leihwagen angemietet und eine Leiter konstruiert haben, die der Überwindung der Gefängnismauer dienen sollte. Während der Vorbereitungsphase entwickelten sich offenbar mehrfach Auseinander­ setzungen mit der „Roten Armee Fraktion“. Nachdem die TW die von der RAF überlassene finanzielle Summe ausgegeben hatten, habe die „Rote Ar­ mee Fraktion“ den Vorwurf des Geldverschwendens geäußert. In einer unmittelbar vor der Aktion durchgeführten gemeinsamen Besprechung in Berlin sei die Frage aufgeworfen worden, ob Görgens und Schubert im Anschluss an die Befreiung der „Roten Armee Fraktion“ oder den „Tupamaros Westberlin“ angehören sollten. Zeitweilig stand der hierbei entfachte Streit laut Brockmann an der Schwelle zu einer Schlägerei.2145 Am 14. Oktober 1971 setzten Georg von Rauch, Michael Baumann, Hans Peter Knoll, Annerose Reiche und Brockmann ihre zeitaufwändigen Planungen in die Tat um. Zur erhofften Befreiung kam es allerdings

2143 Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 78-79. 2144 Ebd., S. 79. 2145 Vgl. ebd., S. 79, 81. Zur Waffenlieferung der „Roten Armee Fraktion“ vgl. auch Baumann/Neuhauser 1978, S. 22.

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nicht: Im Laufe der Aktion hätten die inhaftierten Frauen von ihren Ge­ fängniszellen aus signalisiert, dass Gefahr besteht und daher die Flucht zu ergreifen ist.2146 Dieses Ergebnis wirkte sich nachhaltig auf das Verhältnis zur „Roten Armee Fraktion“ aus, wie Meyer in seiner Autobiographie zu verstehen gab: „Damit war die Zusammenarbeit zwischen ‚Blues‘ und RAF endgültig vorbei.“2147 Die „Rote Armee Fraktion“ soll sich vollends in ihrer Einschätzung bestätigt gesehen haben, bei den „Tupamaros Westber­ lin“ handele es sich um einen „Kindergarten“. Entsprechendes Missfallen sei deutlich gemacht worden.2148 In diese Zeit fallen mehrere personel­ le Übertritte. Während Thomas Weisbecker und Angela Luther den An­ schluss an die „Rote Armee Fraktion“ suchten, kehrten Ralf Reinders und Ingrid Siepmann im November 1971 zu den „Tupamaros Westberlin“ zu­ rück.2149 Reinders selbst führte das Motiv für den Austritt aus der RAF auf eine dort geführte Diskussion zurück, welche sich nach dem 22. Oktober 1971 ergeben hatte. An diesem Tag war ein Polizist von der „Roten Armee Fraktion“ in Hamburg tödlich verwundet worden.2150 Er sagte dazu: „Daraufhin gab’s `ne Diskussion in Hamburg zwischen Teilen der RAF und Rolf Pohle, Ina [Ingrid Siepmann] und mir. Wir sind ent­ setzt gewesen, weil der [Gerhard Müller] so etwas wie eine Freude, eine Begeisterung darüber hatte. Nun gut, es gibt eine Schießerei, der Bulle ist tot, und wir heulen auch nicht, denn der Kollege hat genauso geschossen, und er hätte auch einen von uns treffen können. Aber es gibt keinen Grund, sich darüber zu freuen, gar stolz darauf zu sein. Diese Diskussion hat sich so verschärft, dass wir gegangen sind.“2151 Ende November 1971 konzentrierten die TW ihre Kräfte auf das Beschaf­ fen finanzieller Ressourcen. Von Rauch, Knoll, Reinders, Baumann und Brockmann überfielen eine Bank in Berlin-Hermsdorf und entwendeten 87 000 DM. Eine Woche später – am 29. November 1971 – erbeutete die Gruppe 29 000 DM aus der Hauptkasse der Technischen Universität in Berlin.2152 Das Geld habe nicht nur die Aktionsfähigkeit der „Tupama­ ros Westberlin“ absichern, sondern auch dazu dienen sollen, linksalterna­

2146 2147 2148 2149 2150 2151 2152

Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 81, 83; Meyer 2008, S. 182-183; Aust 2020, S. 330. Meyer 2008, S. 183. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 144-145. Vgl. Wunschik 2006b, S. 547; Meyer 2008, S. 185; Danyluk 2019, S. 198. Vgl. Peters 2008, S. 255-256. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 54. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 83, 86.

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tive Unterstützung in sozialen Themenfeldern zu fördern.2153 Insgesamt verfolgte die Gruppe zu diesem Zeitpunkt das Ziel, insbesondere in Ber­ lin-Kreuzberg am Aufbau von Zellen mitzuwirken, die sich als „eine Art Gegenmacht […], eine befreite Doppelstruktur gegen die repressive staatliche“2154 wendet und den Stadtteil zu einem „befreite[n] Gebiet“2155 macht. Zwar besaßen die TW nunmehr die monetären Mittel für ihre Aktivitäten, sie erlebten aber bald darauf einen personellen Einschnitt mit weitreichenden Folgen, der in der Forschung zum deutschen Linksterroris­ mus gemeinhin als „Geburtsstunde der ‚Bewegung 2. Juni‘“2156 gilt. Am 4. Dezember 1971 stiegen Georg von Rauch, Michael Baumann, Hans Peter Knoll und Heinz Brockmann in einen Ford Transit, der den „Tupamaros Westberlin“ von der „Roten Armee Fraktion“ überlassen worden war.2157 Zu den Gründen für die anschließende Fahrt in die Eisenacher Straße in Westberlin finden sich unterschiedliche Angaben. Baumann betonte, von Rauch habe das Fahrzeug angesichts einer laufen­ den polizeilichen Großfahndung umstellen wollen, um seiner Entdeckung vorzubeugen.2158 Meyer hingegen gab an, die vier Aktivisten hätten die Absicht gehabt, einem Bekannten mit dem Transport von Möbeln eine Gefälligkeit zu erweisen.2159 Jedenfalls war ihnen die Überwachung des Ford Transits durch die Westberliner Polizei entgangen. Diese hatte ihn mithilfe eines Bürgerhinweises als eine sogenannte Dublette erkannt, also als ein gestohlenes Fahrzeug, das mit einem Kennzeichen eines legal regis­ trierten Kraftwagens desselben Typs ausgestattet war.2160 Nach Ankunft der Gruppe in der Eisenacher Straße kam es zu einer Personenkontrolle der Polizei, in deren Verlauf sich zunächst Brockmann der Festnahme ha­ be entziehen können. Die hierdurch erfolgte Ablenkung der anwesenden Polizeibeamten versuchten von Rauch, Knoll und Baumann – so Meyer – für sich zu nutzen. Sie hätten Schüsse aus ihren mitgeführten Pistolen abgegeben und zur Flucht angesetzt. Einer der Polizisten habe das Feuer

2153 2154 2155 2156 2157 2158 2159 2160

Vgl. Meyer 2008, S. 185. Ebd., S. 185-186. Ebd., S. 186. Horchem 1988, S. 48. Ähnlich Kraushaar 2006b, S. 525; Korndörfer 2008, S. 247. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548. Vgl. Baumann 1980, S. 110. Vgl. Meyer 2008, S. 192. Vgl. Baumann 1980, S. 111.

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erwidert und von Rauch tödlich getroffen.2161 Daraufhin sollen Knoll und Baumann den Beamten in einen Schusswechsel verwickelt haben, bei dem ihn eine Kugel in der Magengegend traf.2162 Der Tod von Rauchs versetzte die „Tupamaros Westberlin“ anfänglich in eine Schockstarre,2163 welche die Aktivisten mit unterschiedlichen Reak­ tionen überwanden. Während sich der Großteil für ein Intensivieren der gewaltsamen Strategie entschieden haben soll, habe mindestens ein Mit­ glied der Gruppe den Rücken gekehrt. Den Ausstieg hätten ihm die TW durch die Übergabe eines gefälschten Passes sowie einer vierstelligen Sum­ me an Bargeld ermöglicht.2164 Till Meyer richtete seine Aufmerksamkeit im Dezember 1971 auf die mögliche Entführung einer der Stadtkomman­ danten, die die Westmächte in Westberlin vertraten. Erste Vorbereitungen hierzu schlossen den Erwerb von Militäruniformen ein. Die Aktion soll sich allerdings als nicht realisierbar erwiesen haben und sei verworfen wor­ den.2165 Unterdessen hätten sich Ralf Reinders, Ingrid Siepmann, Michael Baumann und Hans Peter Knoll um eine „Zusammenführung […] vor sich hinwurstelnder [sic] Militanter“2166 bemüht. Verbindungen zur RAF nahmen die TW nicht auf – wohl auch wegen neuerlicher Vorwürfe der „Roten Armee Fraktion“, die den „Tupamaros Westberlin“ unzureichen­ de Achtsamkeit bei der Nutzung des von ihr zur Verfügung gestellten Ford Transits zugeschrieben und ihnen damit eine Mitschuld am Tod von Rauchs zugewiesen haben sollen.2167 Eine engere Vernetzung diskutierten die „Tupamaros Westberlin“ in mehreren Gesprächen mit den im Mai 1971 unter anderen von Ronald Fritzsch und Norbert Kröcher gegründe­ ten „Yippies Westberlin“ sowie den Verantwortlichen der linksextremisti­ schen Zeitschrift „FIZZ“, zu denen – neben Kröcher – Peter Paul Zahl sowie Kröchers Ehefrau Gabriele Kröcher‑Tiedemann zählten. Die „FIZZ“ wäre im Frühjahr 1971 nach personellen Fluktuationen bei der „Agit 883“ entstanden, die von einer zunehmenden Illegalisierung ihrer militanten Anhänger und einer damit einhergehenden inhaltlichen Mäßigung geför­

2161 Vgl. Meyer 2008, S. 192. Vgl. auch Baumann/Der Spiegel 1974, S. 32; Baumann 1980, S. 109. 2162 Vgl. Wunschik 2006b, S. 547. 2163 Vgl. Baumann 1980, S. 115; Meyer 2008, S. 195. 2164 Vgl. Meyer 2008, S. 193. 2165 Vgl. ebd., S. 194. 2166 Ebd. 2167 Vgl. Wunschik 2006b, S. 548.

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dert worden sein sollen.2168 Schließlich vereinigten sich im Januar 1972 – angeblich – 12 Personen in einer Gruppe, deren Aktivisten sich im Laufe des darauf folgenden Monats auf den Namen „Bewegung 2. Juni“ festlegten.2169 Gegen eine langfristige Einbindung in den neu entstandenen Zirkel sollen sich Zahl sowie Kröcher und Kröcher‑Tiedemann entschieden ha­ ben.2170 Nachdem sie die Berliner Polizei mit einem Überfall auf eine Ver­ tretung der Disconto-Bank im Februar 1972 in Verbindung gebracht und Haftbefehle erlassen hatte, reisten sie im Frühjahr 1972 aus Westberlin aus. Unterschlupf suchten sie in Nordrhein‑Westfalen. Hier riefen sie die soge­ nannte Rote Ruhrarmee ins Leben,2171 die Kröchers Aussagen zufolge „auf der einen Seite eine ironische Reminiszenz an die gleichnamige Truppe, die im März 1920 im Ruhrgebiet gegen die Freicorps des Kapp-Putsches kämpfte, und […] auf der anderen Seite als blanke Desinformation zur Irreführung der Verfolgungsbehörden gedacht“2172 war. Der Zirkel soll Westberlin lediglich verlassen haben, „um die Kriegskasse zu füllen“2173. Nach Abschluss dieses Vorhabens habe er in die Stadt zurückkehren und mit dem erbeuteten Geld „das militante Eingreifen in bestehende Klas­ senkämpfe“2174 wagen wollen. Nordrhein‑Westfalen sei als Aktionsraum bestimmt worden, weil die „Rote Armee Fraktion“ zu diesem Zeitpunkt überwiegend im südlichen Raum Westdeutschlands agiert haben soll und die Aktivisten der „Roten Ruhrarmee“ dort den stärksten Fahndungsdruck vermuteten.2175 Zahl arretierte die Polizei am 14. Dezember 1972, Kröcher und Kröcher-Tiedemann setzten sich nach Schweden ab. Während Nor­ bert Kröcher in Skandinavien blieb, reiste Gabriele Kröcher‑Tiedemann wenig später in die Bundesrepublik zurück.2176 In Bochum geriet sie am 6. Juli 1973 im Zuge eines Feuergefechts mit Polizeibeamten in Haft und wurde im Dezember desselben Jahres zu acht Jahren Gefängnisstrafe we­

2168 Vgl. Chronologische Eckdaten 2003, S. 167; Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 40; Dellwo 2007b, S. 198; Meyer 2008, S. 194; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 184-185, 194; Danyluk 2019, S. 181. 2169 Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 75. Vgl. auch Koenen 2001, S. 366-367. 2170 Vgl. Meyer 2008, S. 194. 2171 Vgl. Koenen 2001, S. 366; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 233. 2172 Kröcher/Papenfuß 2017, S. 244. 2173 Ebd., S. 233. 2174 Ebd., S. 244. 2175 Vgl. ebd. 2176 Vgl. Horchem 1988, S. 126; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 252-253; Danyluk 2019, S. 189.

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gen versuchten Mordes verurteilt.2177 Mit ihrer Ergreifung zerschlugen die westdeutschen Sicherheitsbehörden die „Rote Ruhrarmee“.2178 Die ausschlaggebende Idee zur Selbstbezeichnung der B2J formulierte laut Meyer Ingrid Siepmann.2179 Kröcher verwies dagegen auf Gabriele Kröcher-Tiedemann.2180 Mit dem Bestandteil „2. Juni“ sollten die Medien im Zuge der Berichterstattung zu künftigen Aktionen des Zirkels gezwun­ gen werden, an den Tod des Studenten Benno Ohnesorgs zu erinnern, den am 2. Juni 1967 eine Kugel aus der Dienstwaffe des Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras tödlich getroffen hatte.2181 Damit „würde [jedes Mal] aufs Neue klar, dass die Polizei es gewesen war, die zuerst geschossen hatte“2182, so Meyer. Die Umschreibung „Bewegung“ sei dazu gedacht gewesen, Außenstehenden nicht den Eindruck einer straff orga­ nisierten Gruppe mit fest definierten Grenzen, sondern eine Offenheit zu vermitteln, die politisch Gleichgesinnte in erster Linie unter einem gemeinsamen Ansinnen verbindet.2183 Wie Baumann bereits 1975 in seiner Autobiographie bekundete, speiste sich die Gruppenbezeichnung aus der Beziehung zur „Roten Armee Fraktion“: „Der Name wurde gewählt, um sich von der RAF abzuheben“2184. In den Diskussionen um den Zusammenbruch der „Bewegung 2. Juni“ im Jahre 1980 kristallisierte sich das in der Genese vorherrschende Motiv der Distinktion erneut heraus. Die von Juliane Plambeck verfasste2185 Auf­ lösungserklärung der B2J hob hervor: „Die Bewegung 2. Juni hat sich als Widerspruch zur RAF gegründet. […] Die Bewegung war eine vermeintliche Alternative zur RAF als eine Möglichkeit derjenigen Genossen, denen der kompromisslose Kampf zu weit ging.“2186 Die in der Erklärung zum Ausdruck kommende Abrechnung mit den Aktivitäten der „Bewegung 2. Juni“ veranlassten die in Haft befindlichen

2177 2178 2179 2180 2181 2182 2183 2184 2185 2186

Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 75-76. Vgl. Meyer 2008, S. 295. Vgl. ebd., S. 197. Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 227. Vgl. Winkler 2008, S. 84. Meyer 2008, S. 197. Ähnlich Baumann 1980, S. 99-100; Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 39. Vgl. ebd. Baumann 1980, S. 99. Vgl. Viett 2007, S. 219. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 625.

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Aktivisten Ralf Reinders, Klaus Viehmann und Ronald Fritzsch zu einer Stellungnahme, in der sie das Verhältnis der Gründer der B2J zur „Ro­ ten Armee Fraktion“ sowie deren strategische Linie zwar weniger dras­ tisch, im Grunde aber ähnlich beschrieben: „[D]ie direkten Vorläufer der Bewegung 2. Juni [waren] […] eine praktische – proletarische – Alternative. Eine Alternative, die mit Kon­ kurrenz überhaupt nichts, mit unterschiedlichen Vorstellungen über den revolutionären Kampf dafür umso mehr zu tun hatte. […] Damals [Anfang der 1970er Jahre] gingen noch beide Gruppen [TW bezie­ hungsweise B2J und RAF] davon aus, dass schließlich die Zukunft zeigen werde, welche der politischen Vorstellungen sich langfristig durchsetzen werde.“2187 Die Konturen der hier benannten divergierenden Linien beider Gruppen zeichneten sich in einem Kommentar Norbert Kröchers aus dem Jahre 1998 anlässlich des Zerfalls der „Roten Armee Fraktion“ ab: „Der marxistisch-leninistisch-maoistisch gewirkte Einheitsanzug, den die RAF allen Militanten anziehen wollte, mochte uns nicht so recht passen. Das Ding kratzte hinten und vorne. […] Rekrutieren lassen wollten wir uns […] auf keinen Fall. Stattdessen gründeten wir das libertärsozialistische proletarische Pendant, die Bewegung 2. Juni.“2188 Was die „politischen Vorstellungen“ der B2J beinhalteten, konnten die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ laut Meyer anfangs allerdings selbst nicht eindeutig benennen. Konsens habe lediglich beim Selbstverständnis als „Stadtguerilla“ bestanden. Wie diese „Guerilla“ strukturiert werden und mit welcher Strategie sie aktiv werden sollte, sei zunächst Gegenstand von Diskussionen geblieben.2189 Erst im Zuge eines Anschlags im Februar 1972 fand die vor allem entlang strategischer Prämissen de facto eingetre­ tene interne Spaltung2190 eine Auflösung.

2187 2188 2189 2190

Ebd., S. 810a. Kröcher 1998. Vgl. Meyer 2008, S. 197. Vgl. Baumann 1980, S. 117.

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6.2 Aktionsphase 6.2.1 Ausstieg Michael Baumanns, Banküberfälle, Gefängnisausbrüche, Ermordung Ulrich Schmückers (1972 bis 1974) Ein Teil der Aktivisten der B2J nahm – wohl auf Geheiß von Michael Baumann – den Einsatz britischer Fallschirmjäger am 30. Januar 1972 im Viertel Bogside der nordirischen Stadt Londonderry zum Anlass, in Aktion zu treten. In Londonderry waren durch Schüsse des Militärs 13 Menschen ums Leben gekommen.2191 Als Reaktion deponierte die Grup­ pe Explosivmittel unter britischen Armeefahrzeugen in Berlin-Charlotten­ burg. Außerdem stellte sie auf Basis der technischen Expertise Heinz Brockmanns einen Sprengsatz zusammen, welcher sich gegen das britische Offizierskasino in Berlin‑Gatow richten sollte.2192 Mit den Anschlägen verband sich laut Viett die Absicht, dem Vereinigten Königreich in So­ lidarität mit katholisch‑republikanischen Kräften zu signalisieren, „dass Berlin und die BRD kein Ruheraum für eine Besatzer-Armee sein durfte [sic], die in Nordirland den Widerstand gegen eben diese Besatzerpolitik niedermetzelte“2193. Anfang Februar 1972 habe Harald Sommerfeld den in einem Feuerlöscher installierten Sprengsatz nach Instruktionen von Baumann und Hans Peter Knoll2194 zum Zielort transportiert, ihn jedoch nicht – wie vorgesehen – am Offizierskasino, sondern vor dem britischen Yachtclub abgelegt, der in unmittelbarer Nähe lag. Da der Zeitzünder der Bombe nicht eingeschaltet wurde, detonierte sie nicht während der Nacht­ stunden.2195 Der Bootsbauer Erwin Beelitz fand den Sprengsatz wenige Stunden darauf. Nachdem er ihn zur Untersuchung in einen Schraubstock gespannt hatte, kam es zur Explosion. Diese verletzte ihn tödlich.2196 Der Fehlschlag der Aktion, deren Wirkung sich ursprünglich auf Sach­ schaden beschränken sollte, habe nicht nur zu Fahndungsmaßnahmen der Polizei und negativen Reaktionen in den Medien geführt.2197 Überdies sorgte sie – so Meyer – für „tiefe Konflikte“2198 innerhalb der sich ent­

2191 2192 2193 2194 2195 2196

Vgl. Sutton 1994, S. 14; Geraghty 2000, S. 57-60. Vgl. Viett 2007, S. 90; Meyer 2008, S. 198. Viett 2007, S. 90. Vgl. Meyer 2008, S. 198. Vgl. Viett 2007, S. 91. Vgl. Wunschik 1998, S. 234; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 80; Korn­ dörfer 2008, S. 248. 2197 Vgl. Viett 2007, S. 91. 2198 Meyer 2008, S. 197.

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wickelnden „Bewegung 2. Juni“, die teilweise an bereits bestehende Diffe­ renzen anknüpften. Während unter den neueren Mitgliedern Inge Viett den Tod des unbeteiligten Zivilisten mit Gleichgültigkeit aufgenommen haben soll, hätten sich andere bestürzt gezeigt.2199 Willi Räther soll sogar aufgrund seiner Schuldgefühle erwogen haben, den Hinterbliebenen des Bootsbauers Blumen zukommen zu lassen.2200 Auch unter den erfahrene­ ren Aktivisten wirkte das Resultat des Anschlags offenbar polarisierend. Baumann galt der Tod laut Viett lediglich als Unglück. Ergänzend habe er erklärt: Die Toten in Londonderry seien ebenfalls unbescholtene Bür­ ger gewesen, dies habe allerdings nicht zu einem „Aufschrei des Establish­ ments“2201 geführt. Ingrid Siepmann hingegen schätzte den Vorfall im Yachthafen augenscheinlich deutlich kritischer ein. Sie soll Baumanns und Knolls Entscheidung, die aus der „Schwarzen Hilfe“ rekrutierten Personen mit der Umsetzung der Aktion zu betrauen, rückblickend als Leichtsinn wahrgenommen haben. Besonderes Unverständnis habe sie zu dem Ver­ säumnis geäußert, den Sprengsatz nach Ablauf des vorgesehenen Detonati­ onszeitpunkts nicht abgeholt zu haben. Siepmann habe die Gelegenheit zudem genutzt, um ihnen Vorwürfe zu anderen Missständen zu machen – darunter das Verschwinden finanzieller Mittel und mangelhaftes konspira­ tives Verhalten.2202 Wie Baumann in seiner Autobiographie schrieb, investierte er einen Teil des Geldes, welches der Gruppe aufgrund der Banküberfälle Ende 1971 zur Verfügung gestanden hatte, in Druckgeräte und überließ diese Linksextre­ misten. Außerdem habe er Barmittel an „linke Organisationen“2203 verteilt, womit er der in der B2J – angeblich – beobachtbaren monetären Ver­ schwendung entgegenwirken wollte. Gemeinsam mit Knoll wäre er nach dem Anschlag in Berlin‑Gatow zeitweise in einem besetzten Haus unter­ gekommen, das auf dem Gelände des ehemaligen Bethanien-Krankenhau­ ses in Berlin‑Kreuzberg stand und den Namen „Georg-von-Rauch-Haus“ trug. Sowohl das Finanzieren politischer Projekte als auch die physische Anwesenheit in linksextremistischen Szeneobjekten hätten beiden dazu gedient, den Anschluss der „Bewegung 2. Juni“ an eine Sympathisantenund Unterstützerbasis sicherzustellen.2204

2199 2200 2201 2202 2203 2204

Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 154; Viett 2007, S. 91. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548. Michael Baumann, zit. n. Viett 2007, S. 91. Vgl. Meyer 2008, S. 198. Baumann 1980, S. 118. Vgl. ebd., S. 118-121.

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Vor dem Hintergrund der Tötung Erwin Beelitz‘ manifestierten sich somit latent bestehende Differenzen zwischen zwei Lagern: Die eine Strö­ mung wies dem vor von Rauchs Ableben im Dezember 1971 avisierten Aufbau eines neben der RAF bestehenden „illegalen“ terroristischen Zir­ kels die größte Bedeutung zu. Die Aktivisten der anderen Strömung legten den Fokus auf das Wahren und Fortsetzen der von den „Haschrebellen“ forcierten offenen Verankerung in einem sie umgebenden Milieu. Die Ver­ härtung der Fronten, bei der Siepmann und Reinders auf der einen und Baumann und Knoll auf der anderen Seite standen,2205 riss die Gruppe – so Meyer – auseinander.2206 Zwar beteiligte sich Baumann eigenen Angaben zufolge Anfang März 1972 noch an einer Aktion,2207 bei der es sich um den Brandanschlag auf das Berliner Landeskriminalamt handeln dürfte. Dieser Anschlag – in dessen Folge die B2J erstmals öffentlich mit ihrer Selbstbezeichnung auftrat – diente als Antwort auf die Erschießung des zur „Roten Armee Fraktion“ gewechselten Thomas Weisbecker am 2. März 1972.2208 Kurz darauf löste Baumann sich aber von der Gruppe. Hans Peter Knoll traf dieselbe Entscheidung.2209 Den Grund für seinen Austritt deutete Baumann wie folgt an: „Da [in der entstehenden ‚Bewegung 2. Juni‘] wurde […] dem Vor­ wurf der RAF Rechnung getragen. Die sagten, ihr rennt durch zich [sic] Wohnungen, fickt lauter Bräute und raucht Haschisch, das macht euch wohl Spaß, diese Sache [der ‚bewaffnete Kampf‘]. Diese Sache darf keinen Spaß machen, das ist hier ein harter Job.“2210 Wesentlich deutlicher wurde er dann mit den Worten: „Aufgrund der Illegalität kannst du nicht mehr den Kontakt zu den Leuten der Basis halten. Du nimmst nicht mehr an einer direkten Wei­ terentwicklung der ganzen Scene [sic] teil. Der lebendige Prozess [sic] der abläuft, da bist du nie mehr voll integriert. Du bist plötzlich eine Randfigur, weil du nicht mehr überall auftreten kannst, nicht mehr in dem Maße direkt drin bist, in den allgemeinen Abläufen. Als Ersatz dafür wird die Gruppe immer geschlossener, je größer der Druck von

2205 2206 2207 2208 2209 2210

Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 90. Vgl. Meyer 2008, S. 197. Vgl. Baumann 1980, S. 121. Vgl. Rabert 1995, S. 188; Wunschik 2006b, S. 548. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 146; Meyer 2008, S. 299. Baumann 1980, S. 122. Den hier beschriebenen Vorwurf der RAF soll Gudrun Ensslin geäußert haben. Vgl. Aust 2020, S. 330.

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außen ist, je mehr du zusammenhockst, je mehr Fehlschläge passieren, desto mehr geht der Druck nach innen, irgendwo muss man ja einen Ausgleich kriegen. Daran sind die Leute kaputt gegangen“2211. Die in der „Bewegung 2. Juni“ verbleibenden Aktivisten veröffentlichten unterdessen ein Bekennerschreiben zum Anschlag auf das Landeskriminal­ amt in Berlin, in dem sie sich unter der Feststellung „Jetzt reicht’s!“ auch auf den Tod Georg von Rauchs und der der RAF zugehörigen Aktivistin Petra Schelm bezogen.2212 Ungeachtet der schrumpfenden Mitgliederzahl, welche sich nicht erst mit dem Weggang Baumanns und Knolls, sondern bereits vorher durch die Verhaftung Till Meyers am 29. Februar 1972 in Bielefeld2213 verringert hatte, verübte die B2J am 24. März 1972 einen Banküberfall. Insgesamt 67 000 DM konnten die Aktivisten erlangen.2214 Am 5. Mai 1972 schloss sich ein Anschlag auf die Juristische Fakultät in Westberlin an, mit der Ausbildungsmaßnahmen im Bereich der Strafver­ folgung unterminiert werden sollten.2215 Eine Aktion gegen die türkische Auslandsvertretung in Bonn scheiterte, als Polizeikräfte Wolfgang Knupe, Ulrich Schmücker, Harald Sommerfeld und Inge Viett am 7. Mai 1972 in Bad Neuenahr verhafteten.2216 Sommerfeld und Schmücker ließen sich auf eine Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden ein und trafen Aussagen zu den Taten der „Bewegung 2. Juni“, die unter anderem zum Ergreifen Verena Beckers geführt haben sollen.2217 Inge Viett dagegen verweigerte sich einer Zusammenarbeit mit dem Staat und entdeckte „das Gefängnis als Schule der Revolution“2218. Ab Juni 1972 soll sie sich an einem sechswöchigen Hungerstreik beteiligt haben.2219 Während der Haft nahm sie offensichtlich die Taten der „Roten Armee Fraktion“ in der „Mai‑Offensive“ 1972 wahr.2220 Verfestigte sich bei Viett in den ersten Monaten des Gefängnisaufenthaltes eine in Teilen ablehnen­ de Haltung gegenüber dieser Gruppe noch auf Basis einer theoretischen

2211 Baumann 1980, S. 127. Vgl. auch Viett 2007, S. 108. 2212 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 158; Chronologische Eckdaten 2003, S. 169-170. 2213 Vgl. Wunschik 1998, S. 234; Meyer 2008, S. 206. 2214 Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 86, 89; Diewald-Kerkmann 2009, S. 105. 2215 Vgl. Bewegung 2. Juni 1972; Pfahl-Traughber 2014a, S. 171. 2216 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 166; Claessens/de Ahna 1982, S. 159; Chro­ nologische Eckdaten 2003, S. 170; Danyluk 2019, S. 230. 2217 Vgl. Wunschik 2006b, S. 548-549; Viett 2007, S. 97. 2218 Viett 2007, S. 93. 2219 Vgl. ebd., S. 94. 2220 Vgl. ebd.

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Auseinandersetzung mit zurückliegenden Aktionen, die in einem am 1. Juli 1972 veröffentlichten Flugblatt im Vorwurf der Inkonsequenz gip­ felte,2221 wurde die Abneigung wenige Monate nach ihrer Verhaftung von persönlichen Kontakten zu RAF-Mitgliedern geprägt. Die Justiz verlegte Viett von Koblenz in die Frauenhaftanstalt in der Westberliner Lehrter Straße, wo unter anderen Ingrid Schubert, Monika Berberich, Irene Goer­ gens, Brigitte Asdonk und Brigitte Mohnhaupt nach ihren Verhaftungen im Oktober 1971 beziehungsweise Juni 1972 untergebracht worden wa­ ren.2222 Die Häftlinge der „Roten Armee Fraktion“ hätten Viett an Auszü­ gen aus den internen Diskussionen der RAF beteiligt – dies mit dem Ziel, sie zu „politisieren“2223. Plastisch schilderte Viett in ihrer Autobiographie, wie sie den Austausch mit einer Aktivistin der „Roten Armee Fraktion“ empfand: „Sie lässt mir eine Unmenge RAF-Infos zukommen, die mich auf un­ angenehme Weise erregen. Ich will nicht, dass sie mich für blöd hält, und lese sie auch alle, aber es macht mir keinen Spaß, sie zu lesen. Ich finde sie ungeheuerlich sezierend, mitleidslos. Sie stoßen mich ab, egal wie richtig sie sind. […] Ich kann [die] Radikalität [innerhalb der ‚Ro­ ten Armee Fraktion‘] nicht mehr von Gnadenlosigkeit unterscheiden. […]“2224 In der Zwischenzeit wurden die bisherigen Aktivitäten der B2J erstmals mit einem Text eingeordnet und einer Vermittlung zugeführt. Im Juni 1972 geriet das „Programm der Bewegung 2. Juni“ in Umlauf. Die Inhal­ te des Papiers spiegelten zwar – so übereinstimmend Fritzsch und Viett – die Positionen der Gruppe zutreffend wider, waren aber vor ihrem Be­ kanntwerden nicht Gegenstand interner Diskussionen gewesen:2225 „[D]as kannte […] kein Schwein.“2226 Die in der B2J veranlassten Recherchen zum Ursprung des Dokuments seien ergebnislos verlaufen.2227 Erst 2017 gab Norbert Kröcher in seiner posthum erschienenen Autobiographie die Urheberschaft des Papiers bekannt: Angeblich war es von ihm und Peter Paul Zahl verfasst worden. Zu einer Abstimmung seiner Aussagen sei es aufgrund der gegen sie gerichteten Fahndungsmaßnahmen nicht 2221 2222 2223 2224 2225 2226 2227

Vgl. Neidhardt 1982a, S. 343. Vgl. Viett 2007, S. 97-98; Peters 2008, S. 218-219, 299. Viett 2007, S. 98. Ebd., S. 98-99. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 38; Viett 2007, S. 108. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 38. Vgl. auch Meyer 2008, S. 307. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 39.

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gekommen.2228 Mit dem „Programm“ wurden Selbstverständnis, Strategie und Zielsetzung der B2J proklamiert. Gerade im Hinblick auf die an­ genommene Rolle der eigenen Gruppe kam grundsätzliche Übereinstim­ mung mit der „Roten Armee Fraktion“ zum Ausdruck: Man begriff sich „zusammen mit anderen Guerilla‑Organisationen, wie z.B. die [sic] RAF, als Vorhut zur Schaffung einer Armee des Volkes“2229. Um die hier skizzierte Position einer Avantgarde logistisch ausfüllen zu können, setzte die „Bewegung 2. Juni“ ihre Anstrengungen fort, finan­ zielle Mittel zu akquirieren.2230 Im September 1972 raubten Ingrid Siep­ mann und Werner Sauber etwa 18 000 DM aus einer Bank am Hohen­ zollerndamm in Westberlin. Mehr als drei Monate später – am 15. De­ zember 1972 – beteiligten sich beide gemeinsam mit Ralf Reinders an einem weiteren Überfall. Die hierbei erzielte Beute belief sich auf cir­ ca 80 000 DM.2231 Alle drei traten am 27. Juli 1973 in eine Filiale der Sparkasse in Berlin und stahlen erneut Bargeld.2232 Trotz der monetären Absicherung machte die Gruppe 1973 nicht durch Gewalttaten auf sich aufmerksam. Stattdessen fluktuierte die personelle Zusammensetzung der B2J, was zum einen auf Ermittlungserfolge, zum anderen auf erneut auf­ gekommene interne Unstimmigkeiten zurückzuführen war. Heinz Brock­ mann, der sich eigenen Aussagen zufolge bereits von der Gruppe zu dis­ tanzieren begonnen hatte, nahm die Polizei am 3. Mai 1973 in Berlin‑Ste­ glitz fest. Ab dem 13. September 1973 legte er ein umfassendes Geständnis ab, mit dem politisch motivierte Straftaten der „Tupamaros Westberlin“ und der „Bewegung 2. Juni“ zwischen Oktober 1971 und Juli 1973 aufge­ klärt werden konnten. Seine Aussagen ermöglichten den Strafverfolgungs­ behörden das Einleiten von Ermittlungsverfahren unter anderen gegen Ingrid Siepmann, Werner Sauber und Annerose Reiche.2233 Siepmann fass­ te die Polizei am 20. Oktober 1973, Reiche am 13. Dezember 1973.2234 Sauber hingegen traf im Herbst 1973 – ebenso wie Fritz Teufel, der im Juni 1972 aus der Haft entlassen worden war und anschließend mit Mit­ gliedern der B2J in Kontakt getreten sein soll – die Entscheidung, im

2228 Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 228. 2229 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 12. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzuge­ fügt worden. 2230 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 155. 2231 Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 89. 2232 Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 99-101. 2233 Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 74, 90; Diewald-Kerkmann 2009, S. 250. 2234 Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 102.

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Ruhrgebiet in Betrieben aktiv zu werden.2235 Beide konnten sich mit den übrigen Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ nicht zum weiteren Vorgehen verständigen. Viett erinnerte sich: „Werner wollte, dass wir nach Westdeutschland gingen [sic] und dort in Orientierung an die ‚Roten Brigaden‘ und ‚Gauche Proletarienne‘ [sic] militante Zellen in den Großbetrieben aufbauten [sic]. […] Fritz wollte wieder ganz bei Null anfangen: anonym als Arbeiter unter Ar­ beitern die Welt und Gesinnung der deutschen Proletarier studieren. […] Wir wurden uns nicht einig, die Diskussionen lähmten uns für Monate. Dann entschieden wir, dass jeder mit dem beginnen sollte, was er für notwendig hielt. Trennung ohne Streit, mit der Möglich­ keit, wieder zusammenzugehen.“2236 Inge Viett selbst hatte im August 1973 mit ihrem Gefängnisausbruch die Lücke aufgefüllt, die Heinz Brockmann hinterließ. Viett war es in Zusammenarbeit mit anderen weiblichen „Gefangenen“ gelungen, die Gitter eines zur Lehrter Straße blickenden Fensters derart zu verbiegen, dass sie eine Flucht ermöglichten. Mit Gardinen – welche sie zusammen­ knoteten und am Fenster befestigten – war sie in die Freiheit gelangt. Weitere Verstärkung erhielt die „Bewegung 2. Juni“ im November 1973 durch die Rückkehr Till Meyers. Er entkam im Zuge eines in Teilen iden­ tischen Vorgehens aus einer Justizvollzugsanstalt in Castrop-Rauxel.2237 In Zusammenwirken mit Ralf Reinders gingen die Aktivisten dazu über, die Struktur der B2J abermals zu konsolidieren. Mit Gabriele Rollnik, die Till Meyer über eine gemeinsame Freundin kennengelernt hatte, gewann die Gruppe Ende 1973/Anfang 1974 ein neues Mitglied.2238 Zudem soll sie sich auf ein „Konzept der Kreise“ festgelegt haben, welches im We­ sentlichen das Einbetten der in der Illegalität befindlichen Aktivisten in eine mehrgliedrige Unterstützerbasis vorgesehen habe.2239 Verbindungen nach außen bauten Reinders und Viett unter verschärften Sicherheitsvor­ kehrungen auf. Von ihrem Umfeld hätten sie im Vorfeld von Treffen

2235 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 620-621; Wunschik 2006b, S. 549; Roll­ nik/Dubbe 2007, S. 55; Meyer 2008, S. 302; Danyluk 2019, S. 237. 2236 Viett 2007, S. 112-113. 2237 Vgl. Wunschik 1998, S. 235; Wunschik 2006b, S. 549; Viett 2007, S. 104-105; Meyer 2008, S. 278-279. 2238 Vgl. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 23; Rollnik/Dubbe 2007, S. 16-17; Meyer 2008, S. 302; Diewald‑Kerkmann 2009, S. 131. 2239 Vgl. Meyer 2008, S. 306.

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„komplizierte Absetzbewegungen“2240 verlangt, mit denen etwaige Verfol­ ger abgehängt werden sollten. Die Ausgaben des Zirkels seien auf das Nötigste begrenzt, konspirative Unterkünfte und Werkstätten angelegt und Kenntnisse unter den Aktivisten gezielt weitergegeben worden. So führten Reinders und Viett – angeblich – Till Meyer in das Fälschen von Dokumenten ein.2241 In dieser ab Herbst 1973 einsetzenden Festigungsphase blieben die Be­ zugnahme auf die und der Umgang mit der RAF von Bedeutung. Als Ori­ entierungspunkte dürfte sich Meyer bei seinen Beiträgen zum Untergrund der „Bewegung 2. Juni“ gezielt negative Aspekte der „Roten Armee Frakti­ on“ gesucht haben, hatte er doch kurz nach seiner Flucht aus der Haft im November 1973 mit Johannes „Victor“ Roos – einem in der „Gefangenen­ hilfe“ in Nordrhein-Westfalen aktiven und mit dem „bewaffneten Kampf“ sympathisierenden Linksextremisten – über die RAF diskutiert: „Wir ana­ lysierten die Fehler der RAF und wie man Technik und Know-how im Untergrund verbessern könnte.“2242 Auch bei anderen Mitgliedern soll zu diesem Zeitpunkt weiterhin eine kritische Sicht zur „Roten Armee Frakti­ on“ bestanden haben, die ein entschiedener Wille zur Abgrenzung nährte. Rollnik reflektierte entsprechende Eindrücke, welche sie nach ihrem Ein­ tritt in die Gruppe sammelte: „Als ich mit der Bewegung 2. Juni zusammengekommen bin, da war das Verhältnis zur RAF sehr geprägt von dem Verhältnis, was Ralf Reinders zur RAF hatte, denn er kannte die Leute persönlich alle […]. Ralf hatte sich von der RAF getrennt, weil er ihre Politik nicht richtig fand.“2243 Neben der intensiv betriebenen logistischen Ausstattung nahmen 1974 nach und nach Überlegungen zur strategischen Ausrichtung einen Schwer­ punkt in den Aktivitäten der Gruppe ein. Während sich das Befreien von Inhaftierten, wie zum Beispiel Ingrid Siepmann, Verena Becker, Peter Paul Zahl, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Rolf Heißler und Rolf Pohle, als konsensfähig erwiesen haben soll,2244 ließen sich andere Vorstellungen augenscheinlich nicht konkretisieren. „[O]ftmals fehlte uns der richtige

2240 2241 2242 2243 2244

Viett 2007, S. 118. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 21, 47; Viett 2007, S. 118; Meyer 2008, S. 304. Meyer 2008, S. 284. Rollnik/Dubbe 2007, S. 24. Vgl. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 24; Rollnik/Dubbe 2007, S. 17-18; Vi­ ett 2007, S. 115.

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Ansatzpunkt“2245, schrieb Meyer in seiner Autobiographie. Ausführlich sei diskutiert worden, ob die „Bewegung 2. Juni“ in Westberlin eine Kam­ pagne gegen Vertreter der Medien initiieren sollte. Als mögliche Ziele hätten die Aktivisten Werner Sykorsky – von der „Berliner Zeitung“ – und Matthias Walden – vom Sender „Freies Berlin“ – ins Auge gefasst. In Anlehnung an die in Italien aktiven „Roten Brigaden“ sei erörtert worden, beide mit einem „Knieschussattentat“ zu verletzen. Derartige Pläne verwar­ fen die Aktivisten jedoch alsbald. Es schlossen sich – angeblich – Ideen an, welche Anschläge auf Drogenhändler, einen Raubüberfall auf Besucher eines gehobenen Restaurants und Aktionen gegen Gerichtsvollzieher in den Mittelpunkt rückten.2246 Beiseite gedrängt wurden diese Gedankenspiele durch das Erschießen Ulrich Schmückers am 5. Juni 1974.2247 Der Linksextremist Schmücker, den die Polizei im Mai 1972 gemeinsam mit Viett und anderen in Bad Neuenahr in Gewahrsam genommen hatte, war zwar im Februar 1973 mit einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe belegt, unter Berücksichti­ gung seiner Kooperationsbereitschaft aber zügig in die Freiheit entlassen worden.2248 Anschließend hatte er sich bemüht, in linksextremistischen Kreisen in Westberlin Anschluss zu finden.2249 Versucht haben soll er dies mit dem Angebot, einen in der Terrorismusabwehr eingesetzten Mitarbei­ ter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz in einen Hinterhalt zu führen.2250 Da zu Schmückers in der Haft getätigten Aussagen Dokumente in der Szene zirkulierten, seien ihm die Aktivisten der B2J mit Misstrauen begegnet. Wie Meyer berichtete, hatte dessen Zusammenarbeit mit Polizei und Verfassungsschutz vor allem den Unmut Inge Vietts erregt. Sie soll zu verstehen gegeben haben, man könne einen „Verräter nicht einfach so […] rumlaufen lassen, da muss etwas passieren!“2251 Was daraufhin geschah, bleibt weitgehend ungeklärt. Eindeutig ist le­ diglich die Tatsache, dass sich zur Ermordung Schmückers ein – angeblich – der „Bewegung 2. Juni“ zugehöriges „Kommando Schwarzer Juni“ mit einem „Kommuniqué über Verrat“ bekannte, in dem die Aktion unter Verweis auf die RAF-Erklärung „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und

2245 2246 2247 2248 2249 2250 2251

Meyer 2008, S. 308. Vgl. ebd. Vgl. Rabert 1995, S. 188; Meyer 2008, S. 308. Vgl. Wunschik 2006b, S. 549. Vgl. Korndörfer 2008, S. 249. Vgl. Horchem 1988, S. 49. Inge Viett, zit. n. Meyer 2008, S. 309.

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Klassenkampf“ eine Legitimation erfuhr.2252 Beim „Kommando Schwar­ zer Juni“ handelte es sich um eine von Ilse Jandt gelenkte Gruppe aus Wolfsburg, die auf eine Verbindung mit der B2J zielte.2253 Wer Horchem folgt, sieht Viett als Urheberin des an den Zirkel gerichteten Auftrags, Schmücker zu exekutieren. Die Tat selbst habe Jandt ausgeführt.2254 Die zum Mordfall angestrengte gerichtliche Aufklärung konnte die Täterschaft dagegen bis zu ihrer Einstellung im Jahre 1991 nicht ermitteln.2255 Inge Vi­ etts 1997 erstmals veröffentlichte eigene Schilderungen zum Fall stehen gleichermaßen im Widerspruch zu Horchems Version. Die Kontakte zur Wolfsburger Gruppe soll die „Bewegung 2. Juni“ bereits vor dem Tod Schmückers abgebrochen haben. Anlass hierfür sei das Angebot der Wolfs­ burger gewesen, ihre Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen. Zuvor wäre die B2J zu der Einschätzung gelangt, der Zirkel sei „durchsetzt von Pro­ vokateuren und Aufschneidern“ und damit ein „fruchtbare[r] Boden für Spitzel des Staatsschutzes.“2256 Die Tötung Ulrich Schmückers rief nicht nur im Umfeld der „Bewe­ gung 2. Juni“ Kritik hervor.2257 Die Aktion soll auch innerhalb des Zirkels zu Auseinandersetzungen geführt haben, wie vor allem Till Meyer darleg­ te. Er selbst habe die Nachricht von der Ermordung Schmückers mit Empörung aufgenommen und die Tat offen missbilligt. Hieraus sei der gegen ihn gerichtete Vorwurf abgeleitet worden, „zu lasch zu sein.“2258 Als er seine Meinung gegenüber Sympathisanten der B2J wiederholte, habe ihn Inge Viett in einer Gruppensitzung in die Schranken gewiesen. Wenig später brachte die B2J ein Positionspapier in Umlauf, in dem sie den außerhalb der Gruppe vorgenommenen Wertungen zur Erschießung Schmückers das Wasser abzugraben suchte.2259 Die in linksextremistischen Kreisen geäußerte Ablehnung wurde darin als „weinerlich, moralisch, pa­ zifistisch und spalterisch“ sowie als „psychologischer dreck [sic]“2260 abge­ tan.

2252 2253 2254 2255 2256 2257 2258 2259 2260

Vgl. Horchem 1988, S. 194. Vgl. Wunschik 2006b, S. 549. Vgl. Horchem 1988, S. 49. Vgl. Wunschik 2006b, S. 549; Kraushaar 2017, S. 20. Viett 2007, S. 117. Vgl. Rabert 1995, S. 188. Meyer 2008, S. 311. Vgl. ebd., S. 312. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 271.

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6.2.2 Anschlag auf Günter von Drenkmann, Entführung Peter Lorenz‘, Flucht ins Ausland, Verhaftungen (1974 bis 1975) Nach einem Gedankenaustausch zwischen Reinders, Viett, Meyer und Rollnik setzten bereits Ende Juni 1974 in der „Bewegung 2. Juni“ Planun­ gen ein, für eine Entführung ein „Volksgefängnis“ in Westberlin aufzubau­ en. Als ultimatives Ziel dieser Aktion definierten sie angeblich früh das Befreien „politischer Gefangener“. Gegen wen sich die Entführung im Ein­ zelnen richten sollte, sei indes lange nicht bestimmt worden. Meyer und Rollnik erkundeten geeignete Räumlichkeiten und legten sich schließlich auf ein unterkellertes Objekt in der Schenkendorfstraße fest.2261 Eine in der Legalität agierende Unterstützerin der B2J unterzeichnete den Mietver­ trag und entrichtete die Mietbeiträge. Die Räume tarnten die Aktivisten in einem mehrwöchigen Prozess als Geschäft, welches gebrauchte Gegenstän­ de feilbot. Im Keller entstand der Bereich, der das Entführungsopfer beher­ bergen sollte.2262 Zwischenzeitlich widmeten sich die Mitglieder der „Be­ wegung 2. Juni“ dem Erweitern ihres Waffenvorrats. Viett und Reinders überfielen in Absprache mit weiteren Personen am 10. September 1974 das Waffengeschäft Triebel in Berlin-Spandau.2263 Mehrere doppelläufige Büchsen und Drillinge konnten entwendet werden.2264 Spätestens in diesem Zeitraum kam es zu den ersten Überlegungen im Hinblick auf das Opfer der Freiheitsberaubung. Als Diskussionsgrundlage soll eine „Prominenten-Kladde“2265 gedient haben, in der die „Bewegung 2. Juni“ Informationen zu politisch und wirtschaftlich bedeutsamen Per­ sönlichkeiten der Bundesrepublik zusammentragen habe. Zunächst sei der Westberliner Investor Karl Heinz Pepper in den Mittelpunkt gestellt worden – und zwar als Ausfluss finanzieller Überlegungen: Mit dem Ent­ führen einer Wirtschaftsgröße ließe sich – so die Argumentation – der Geldbedarf der B2J durch Lösegeldzahlung über einen längeren Zeitraum absichern und das risikoreiche Mittel des Banküberfalls vermeiden. Zusätz­ lich erachteten die Mitglieder eine solche Aktion als Testlauf für eine spätere Aktion, mit der zugunsten inhaftierter „Mitkämpfer“ interveniert werden könnte. Der Zirkel trat in die ersten Vorbereitungen ein, muss­

2261 Vgl. Viett 2007, S. 123; Meyer 2008, S. 318-320, 327. 2262 Vgl. Meyer 2008, S. 324-325; Dietrich 2009, S. 88. 2263 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 121; Der Spiegel 1980d, S. 34; Viett 2007, S. 119. 2264 Vgl. Meyer 2008, S. 324. 2265 Ebd., S. 327.

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te jedoch bald darauf von diesen ablassen.2266 Auslöser war die ab dem 13. September 1974 gemeinsam aufgenommene Nahrungsverweigerung in Haft sitzender Mitglieder der RAF und B2J sowie anderer „Gefange­ ner“, deren Intensität die Aktivisten nach eigenem Bekunden „total unter­ schätzt“2267 hatten. Angesichts der Entwicklung des Hungerstreiks sollen die Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ nunmehr intensiver abgewogen haben, welcher Figur der bundesrepublikanischen Politik sie die Freiheit entziehen konnten.2268 Zur selben Zeit hätten sie sich an zahlreichen links­ extremistischen Aktivitäten beteiligt, welche der Unterstützung des Streiks dienten.2269 Mitte Oktober 1974 brachten die Mitglieder der B2J die Einrichtung des „Volksgefängnisses“ zum Abschluss. Die Vorkehrungen hatten laut Meyer Kosten in Höhe von insgesamt 30 000 DM verursacht und die finanzielle Situation der Gruppe – in Kombination mit vorausgegangenen Ausgaben für Projekte des sympathisierenden Umfeldes, wie zum Beispiel Zeitschrif­ ten und Radiosender – zusehends verschlechtert.2270 Die personelle Lage der B2J dagegen erfuhr unverhofft eine Verbesserung. Am 7. Oktober 1974 war es in Bremen in einer Wohnung zu einer Explosion gekommen, die in der Festnahme des Linksextremisten Wolfgang Quante sowie im Ent­ tarnen eines Waffenlagers mündete.2271 Vom Tatort entkommen konnte Andreas Vogel, der Kontakte zum Ehepaar Reiner und Inga Hochstein un­ terhielt. Beide waren Teil der in Hamburg agierenden linksterroristischen Vereinigung „Bewegung der Revolutionären Linken“2272 – sie pflegten über konspirative Briefkästen einen anhaltenden Austausch mit der „Bewe­ gung 2. Juni“. Die B2J hatte die Hamburger vermutlich Mitte 1974 logis­ tisch unter anderem mit Waffen unterstützt. Nach dem Vorfall in Bremen seien Vogel sowie Reiner und Inga Hochstein nach Westberlin gereist, wo sie mit Ralf Reinders und Inge Viett über ihren Anschluss an die „Bewe­ gung 2. Juni“ verhandelt hätten.2273 Für Vogel fiel das Votum positiv aus, Reiner und Inga Hochstein erhielten keine Zusage. Bei Reiner Hochstein glaubte Viett „den Charakter eines potentiellen Verräters [ausmachen zu

2266 2267 2268 2269 2270 2271 2272 2273

Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 63; Meyer 2008, S. 327. Reinders/Fritzsch 2003, S. 64. Vgl. Meyer 2008, S. 328-329. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 64. Vgl. ebd., S. 63; Meyer 2008, S. 326. Vgl. Mauz 1976, S. 96; Danyluk 2019, S. 252-253. Vgl. Bundesministerium des Innern 1976, S. 105. Vgl. Meyer 2008, S. 329.

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können]: großspurig, labil, ohne Selbstdisziplin, selbstmitleidig.“2274 Den Hochsteins habe die B2J finanzielle Mittel und gefälschte Dokumente überlassen.2275 Sie kehrten nach Hamburg zurück, wo sie Polizeikräfte im Februar 1975 in Haft nahmen.2276 Am 9. November 1974 forderte der andauernde Hungerstreik von „60 politische[n] Gefangene[n] in allen Gefängnissen der Bundesrepublik und Westberlins“2277 mit dem Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins einen Tri­ but. Sein Ableben soll in der „Bewegung 2. Juni“ Zorn und Entsetzen ausgelöst haben. Der Ruf nach Vergeltung sei für die Gruppe bestimmend geworden.2278 Rollnik erinnerte sich: „[D]a haben […] wir […] überlegt: Man muss irgendetwas tun. Irgendwie muss man darauf reagieren. Das kann man nicht so einfach hinnehmen.“2279 Die B2J traf spontan die Entscheidung, das vollständig eingerichtete „Volksgefängnis“ für eine Ent­ führung des Westberliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenk­ mann in Anspruch zu nehmen.2280 Am Abend des 10. November 1974 fuhren Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ zur Wohnung von Drenkmanns in der Bayernallee in Westberlin. Unter dem Vorwand, von Drenkmann einen Blumenstrauß als nachträgliches Geschenk zu seinem Geburtstag überreichen zu wollen, traten sie an die Wohnungstür und verschafften sich anschließend mit Gewalt Zutritt. Von Drenkmann erwehrte sich der beabsichtigten Freiheitsberaubung, woraufhin die Aktivisten der „Bewe­ gung 2. Juni“ einen Revolver gegen ihn richteten, zwei Schüsse auf seine Brust abgaben und flüchteten. Der Richter erlag kurz danach seinen Ver­ letzungen.2281 Die Aktion gegen Drenkmann zog – so Meyer – erneut gruppeninterne Kontroversen nach sich. Kritik habe sich vor allem am Ausgang der ver­ suchten Entführung entzündet. Befürchtet worden seien nachteilige Kon­ sequenzen für den anhaltenden Hungerstreik „politischer Inhaftierter“. Ähnlich wie nach der Erschießung Ulrich Schmückers habe sich die „Be­ wegung 2. Juni“ jedoch darauf einigen können, die Tat gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen.2282 In einem kurz nach dem Anschlag ver­

2274 2275 2276 2277 2278 2279 2280 2281 2282

Viett 2007, S. 116. Vgl. Meyer 2008, S. 329. Vgl. Bundesministerium des Innern 1976, S. 105. Meyer 2008, S. 328. Vgl. Viett 2007, S. 125. Rollnik/Dubbe 2007, S. 29-30. Vgl. Viett 2007, S. 125. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 80; Meyer 2008, S. 333-334. Vgl. Meyer 2008, S. 334.

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teilten Flugblatt mit dem Titel „Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten“ be­ schrieben sie den „Revolutionär Holger Meins“ als Person, welche „für das Volk gekämpft“2283 hat. Von Drenkmann sei verantwortlich zu machen für die „Vernichtungsstrategie des Systems“2284, die nicht nur Meins, sondern auch Georg von Rauch sowie den RAF-Angehörigen Petra Schelm und Thomas Weisbecker das Leben gekostet habe. Außerhalb der B2J erzeugte der Tod von Drenkmanns ebenfalls heterogene Resonanz. Von Karl-Heinz Dellwo – einem späteren Mitglied der „Roten Armee Fraktion“, das sich zu dieser Zeit in einem linksextremistischen „Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD“ in Hamburg engagierte2285 – ist bekannt, dass er und sein Umfeld den Mord in Westberlin positiv beurteil­ ten. Dellwo führte hierzu aus: „Damals hat uns diese Aktion auf einen Schlag beruhigt. Als wäre eine riesige Last von uns gefallen! Die ganze Ohnmacht, die wir gefühlt hatten, fiel von uns ab. […] Ich empfand es so, dass wir noch so etwas wie Gegenmacht auf unserer Seite hatten, die der Regierung auch ins Kontor reinhauen konnte. Ich war der Bewegung 2. Juni richtig dankbar.“2286 Die zum Anschlag ins Feld geführte kritische Argumentation, bei von Drenkmann habe es sich um eine unbedeutende Persönlichkeit gehandelt, konnte er nicht teilen: „Das sah ich nicht so. Als Kammergerichtspräsident war der auf einer administrativen Ebene, die ihnen [dem Staat] wehtat. Die hatten uns eine Leiche vorgeworfen, jetzt hatten sie selbst eine zu beklagen.“2287 Die Aktivisten der RAF dagegen schlossen sich offenbar dem negativen Echo an, das die „Bewegung 2. Juni“ mit ihrem Handeln erzeugt hatte. Sie verzichteten allerdings darauf, diese Position öffentlich zu verkünden.2288 Rollnik fasste die Haltung der „Roten Armee Fraktion“ zusammen: „Meines Wissens haben sie die Erschießung Drenkmanns intern sehr kritisch gesehen. Der Hungerstreik hatte schon ein bestimmtes Niveau erreicht. Es hat viel Unterstützung gegeben von außen. Durch die

2283 2284 2285 2286 2287 2288

Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 194. Ebd. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 93-94. Ebd., S. 104. Ebd. Vgl. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56.

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Schüsse auf Drenkmann ist die Aufmerksamkeit vom Knast, von den Geschehnissen dort, vom Hungerstreik und von der Situation der Ge­ fangenen völlig weggezogen gewesen.“2289 Dennoch kam es vermutlich in diesem Zeitraum zu einer Kontaktauf­ nahme der sich außerhalb der Gefängnisse neu formierenden „Roten Ar­ mee Fraktion“. Ein „Emissär der RAF, ein untergetauchter Rechtsanwalt, [forderte] zwei Leute [der ‚Bewegung 2. Juni‘] ‚für eine Aktion‘ an“2290. Welcher Natur diese „Aktion“ sein sollte, wurde offenbar nicht beantwor­ tet. Meyer deutete die in der B2J aufgekommene Annahme an, derzufol­ ge sich hinter diesem Begriff Planungen verbargen, welche sich Ende April 1975 in der Botschaftsbesetzung in Stockholm niederschlugen. Dem Wunsch der „Roten Armee Fraktion“ habe die „Bewegung 2. Juni“ jedoch nicht entsprochen.2291 Stattdessen kehrte sie zu ihren ursprünglichen In­ tentionen zurück, zunächst den Investor Pepper und schließlich einen Akteur der Politik zu entführen. Aufgrund der durch die Aktion gegen von Drenkmann ausgelösten polizeilichen Gegenmaßnahmen sollen sich die Aktivisten schließlich aber gezwungen gesehen haben, ihre vor den Ereignissen am 10. November 1974 abgesteckte Tatabfolge aufzugeben. Sämtliche Anstrengungen seien auf das Vorbereiten und Absichern der Verschleppung einer politischen Figur gerichtet worden, womit keinerlei Kapazitäten für die Freiheitsberaubung Peppers blieben. Der infolge dieses Priorisierens heranwachsenden Finanznot wirkte die Gruppe mit einem Überfall auf eine Bank in Berlin-Charlottenburg am 2. Dezember 1974 entgegen. Der entwendete Betrag belief sich auf etwa 48 000 DM.2292 Im Laufe des Dezembers 1974 sollen sich abschließende Vorstellungen zum Entführungsopfer ergeben haben. Die Wahl fiel auf den Spitzenkan­ didaten der Christlich Demokratischen Union für die anstehende Abstim­ mung zum Amt des Westberliner Bürgermeisters: Peter Lorenz. Als Tat­ zeitraum grenzten sie die Tage ein, welche der Stimmabgabe vorausgin­ gen.2293 Die Aktivisten schrieben der Aktion das Potential zu, Inhaftierte freizupressen und damit „den Staat in die Knie zu zwingen und ihm sein Gewaltmonopol streitig zu machen.“2294 Der der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angehörende Regierende Bürgermeister Klaus Schütz

2289 2290 2291 2292 2293 2294

Rollnik/Dubbe 2007, S. 30. Meyer 2008, S. 58. Vgl. ebd. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 65; Horchem 1988, S. 51. Vgl. Viett 2007, S. 126; Meyer 2008, S. 337, 339. Meyer 2008, S. 339.

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könne den Herausforderer der CDU, so das Kalkül der B2J, ebenso wenig wie die von der SPD geführte Bundesregierung nicht ohne politische Kon­ sequenzen der Gewalt einer bewaffneten Gruppe tatenlos aussetzen.2295 Im Januar 1975 habe der Zirkel begonnen, den Tagesablauf Peter Lorenz‘ auszukundschaften und eine passende Örtlichkeit für die Entführung aus­ findig zu machen.2296 Ende 1974/Anfang 1975 steigerte sich die Aktionsfähigkeit der „Bewe­ gung 2. Juni“ merklich. Spätestens in diesem Zeitraum erhielt sie personel­ le Verstärkung durch den Beitritt Andreas Vogels, Ronald Fritzschs und Gerald Klöppers.2297 Die Mitglieder reaktivierten angeblich Beziehungen nach Italien, die Ingrid Siepmann aufgebaut hatte. Reinders und Viett hät­ ten sich in Mailand mit Mitgliedern der „Roten Brigaden“ verabredet, um diesen zwei Langwaffen aus der im Waffengeschäft Triebel erlangten Beute zu übergeben und eine Diskussion zu führen. Da eine der Waffen sich während des Treffens als nicht mehr funktionstüchtig erwiesen habe und die Verständigung angesichts der auf beiden Seiten bestehenden Sprach­ barrieren kaum möglich gewesen sei, wären beide bald darauf über Rom zurück nach Deutschland gefahren. Im Gepäck hatten sie offenbar zwei Pistolen und mehrere Stielhandgranaten, die ihnen die „Brigate Rosse“ überlassen hätten. Während der Rückreise sollen sie den in Essen lebenden Mitstreiter Fritz Teufel besucht und ihn ohne Erfolg dazu aufgefordert haben, sich ihnen in Westberlin wieder anzuschließen.2298 Ende Dezem­ ber 1974 sei die „Bewegung 2. Juni“ durch Einbrüche in ein Reisebüro und einen Schauraum der Firma „Rotaprint“ in den Besitz von Schreib-, Druck- und Kopiermaschinen gelangt.2299 Erforderliche Schusswaffen hät­ ten die Aktivisten zum „Volksgefängnis“ in der Schenkendorfstraße trans­ portiert, überschüssige Waffen und Munition in einem Erddepot im West­ berliner Grunewald vergraben. Überdies sollen sie mehrere Fahrzeuge entwendet haben.2300 Am 17. Februar 1975 folgte der Überfall auf eine Vertretung der Sparkasse, mit dem eine Beute von etwa 70 000 DM erzielt wurde.2301

2295 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 69; Rollnik/Dubbe 2007, S. 31; Viett 2007, S. 126. 2296 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S: 71; Meyer 2008, S. 340. 2297 Vgl. Dietrich 2009, S. 61. 2298 Vgl. Viett 2007, S. 120-121; Meyer 2008, S. 338. 2299 Vgl. Meyer 2008, S. 339. 2300 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 70-71; Meyer 2008, S. 337-338. 2301 Vgl. Horchem 1988, S. 51.

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Je näher der selbst gesetzte Zeitraum der Entführung rückte, desto intensiver diskutierte die „Bewegung 2. Juni“ einen weiteren zentralen As­ pekt der Aktion: die Namen der „sechs oder sieben Gefangenen“2302, wel­ che vermittels der Entführung in Freiheit gelangen sollten. Im Interesse der B2J habe anfangs gelegen, nicht nur das Freilassen von „Gefangenen“ der eigenen Gruppe, sondern auch einzelner Inhaftierter der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zu fordern. Als geeignete Kandidaten aus den Reihen der RAF seien ihnen Ulrike Meinhof und Manfred Grashof erschienen. Um hierzu Absprachen mit der „Roten Armee Fraktion“ zu treffen, sollen Kontakte in die Justizvollzugsanstalt in Stuttgart‑Stammheim aufgebaut worden sein. Den dort untergebrachten Gründern der RAF habe man die bevorstehende Entführung lediglich grob skizziert – wohl deshalb, weil die Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ in den Gefängnissen über Kas­ siber zu zahlreichen Themen einen kollektiven Austausch führten. Durch das Abfangen eines solchen Schriftstücks hätten Interna bekannt werden können.2303 Reinders und Fritzsch rekapitulierten den kargen Dialog mit der RAF: „[W]ir mussten natürlich sehr undeutlich bleiben. Also verstanden ha­ ben sie’s [sic] schon. Als Antwort kam: Wir wissen von einem Dutzend Befreiungsaktionen, aber der Berliner Sumpf ist mit Sicherheit nicht dabei.“2304 Das Angebot der „Bewegung 2. Juni“, welche die RAF laut Viett als „un­ geliebte, verwilderte Verwandte“2305wahrnahm, sollen die Adressaten erst nach einigen Wochen zum Anlass für eingehende Diskussionen genom­ men haben. Was hieraus erwuchs, gaben ebenfalls Reinders und Fritzsch preis: „[Sie] meinten, wir sollten ihnen in den Knast schreiben und erzählen, was wir vorhaben. Da haben wir uns natürlich an den Kopf gefasst. Und von mehreren RAF-Frauen, aber auch von Ina Siepmann, die von uns war [sic] und die damals alle in der Berliner Frauenhaftanstalt Lehrter Straße saßen, kam dann: Alle oder keine.“2306

2302 2303 2304 2305 2306

Reinders/Fritzsch 2003, S. 65. Vgl. Meyer 2008, S. 345-346. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66. Viett 2007, S. 86. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66.

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Das Verlangen der Häftlinge nach Einzelheiten der Entführung und Ein­ flussnahme auf die Forderungen habe „den Ausschlag gegen die RAF“2307 gegeben. Von einer weiteren Abstimmung mit der „Roten Armee Frakti­ on“ hätten die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ abgesehen, wobei diese Entscheidung auch mit dem Wissen um eine von der RAF selbst präpa­ rierte Befreiungsaktion getroffen worden sei.2308 Daraufhin sei nach Alter­ nativen für Meinhof und Grashof geschaut worden, die das wesentliche Auswahlkriterium erfüllten: Die Personen durften nicht wegen eines voll­ endeten Mordes in Haft sitzen. Im Hinblick auf Inhaftierte, welche diesem Parameter nicht genügten, unterstellte die B2J dem deutschen Staat die fehlende Bereitschaft, einem Freilassen zuzustimmen.2309 Neben Ingrid Siepmann, Verena Becker, Rolf Pohle, Rolf Heißler und Gabriele KröcherTiedemann setzte die Gruppe Horst Mahler auf ihre Liste der Personen, die die Bundesregierung aus dem Gefängnis entlassen sollte. Laut Meyer verband sich mit dem Festlegen auf Horst Mahler die Hoffnung, dieser könnte später den „bewaffneten Kampf“ der „Bewegung 2. Juni“ im Aus­ land propagandistisch unterstützen.2310 Rollnik ließ das Motiv des Rekru­ tierens in ihren autobiographischen Aussagen gleichermaßen erkennen: „Wahrscheinlich spielte die Konkurrenz zur RAF eine Rolle. Man hat geguckt: Wer gehört jetzt nicht mehr zur RAF? Den können wir be­ freien. Der macht bei uns vielleicht weiter. Mahler war damals schon aus der RAF geflogen. Er hatte sich […] der KPD/AO [‚Kommunisti­ sche Partei Deutschlands/Aufbauorganisation‘] angeschlossen.“2311 Die RAF blieb nicht der einzige terroristische Akteur, den die „Bewegung 2. Juni“ in die Entführung von Peter Lorenz einband. Wie Meyer in sei­ nem Selbstzeugnis schrieb, setzten sich Ralf Reinders und Inge Viett mit einer „Splittergruppe“2312 der „Popular Front for the Liberation of Palesti­ ne“ in Verbindung. Die PFLP sollte die Volksrepublik Jemen dafür gewin­ nen, im Falle eines erfolgreichen Ausgangs der Freiheitsberaubung die von der B2J freigepressten Aktivisten auf ihrem Staatsgebiet aufzunehmen und vor dem Zugriff bundesrepublikanischer Sicherheitsbehörden abzuschir­

2307 2308 2309 2310 2311 2312

Meyer 2008, S. 346. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 40; Meyer 2008, S. 346. Vgl. Meyer 2008, S. 346. Rollnik/Dubbe 2007, S. 32. Meyer 2008, S. 346.

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men. Nach mehreren Wochen gaben die Palästinenser ein Signal, das den Abschluss der Vorkehrungen anzeigte.2313 Am Morgen des 27. Februar 1975 schritten die Mitglieder der „Bewe­ gung 2. Juni“ zur Tat. Durch einen fingierten Auffahrunfall im Westberli­ ner Quermatenweg brachten sie Lorenz‘ Dienstwagen zum Stehen. Nach­ dem sie seinen Fahrer niedergeschlagen hatten, zerrten sie ihn aus dem Fahrzeug und transportierten ihn zum „Volksgefängnis“ in der Schenken­ dorfstraße.2314 Am Tag nach der Entführung ging an verschiedenen Stellen ein Schreiben ein, mit dem die „Bewegung 2. Juni“ ihre Bedingungen öffentlich machte. Lorenz würde nur dann unversehrt bleiben, wenn die deutsche Regierung die genannten „politischen Inhaftierten“ aus der Haft entließ, ihnen jeweils 20 000 DM überreichte und unter Geleit des ehe­ maligen Westberliner Bürgermeisters Heinrich Albertz die Ausreise per Flugzeug gestattete.2315 Die Westberliner Polizei fahndete inzwischen nach Lorenz und seinen Entführern. Die Bundesregierung sowie der Regierende Bürgermeister Berlins riefen überparteiliche Gremien ins Leben, welche die Lage bewältigen sollten.2316 In den Medien bedienten Journalisten kurz darauf den Superlativ einer bis dahin nicht erreichten Provokation staatlicher Macht.2317 Zum Verdruss der „Bewegung 2. Juni“ ließen es sich die „Rote Armee Fraktion“ und ihr Umfeld nicht nehmen, die Entführung ebenfalls zu kommentieren. Klaus Croissant – einer der Anwälte der in Stuttgart‑Stammheim inhaftierten Ersten Generation – kontaktierte bereits am 28. Februar 1975 Westberliner Behörden und stellte die zuvor publik gewordene Erklärung der „Bewegung 2. Juni“ vor allem aufgrund der Forderung nach Freilassung Horst Mahlers als mögliche Fälschung dar.2318 Wenig später – am 1. März 1975 – soll Croissant diese Position sogar öffentlich vertreten haben. Meyer führte dazu sowie zur Reaktion in der B2J aus: „Nachmittags gab […] der Rechtsanwalt von Andreas Baader, Klaus Croissant, im Fernsehen direkt vor dem Stammheimer Gefängnistor eine merkwürdige Erklärung ab: Eine obskure Aktion sei das Ganze,

2313 2314 2315 2316 2317 2318

Vgl. ebd., S. 346-347. Ähnlich Reinders/Fritzsch 2003, S. 95. Vgl. Korndörfer 2008, S. 250; Dietrich 2009, S. 92-93. Vgl. Viett 2007, S. 134-136; Dietrich 2009, S. 96. Vgl. Dahlke 2007, S. 648-649, 651. Vgl. Der Spiegel 1975a, S. 19. Vgl. Dahlke 2007, S. 653. Unverständnis zum Berücksichtigen Horst Mahlers durch die „Bewegung 2. Juni“ äußerte Croissant auch gegenüber dem Nach­ richtenmagazin „Der Spiegel“. Vgl. Der Spiegel 1975a, S. 22.

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so verdächtig gut getimt, und vor allem: die RAF-Spitze sei ja nicht mal auf der Liste! Man ginge in Stammheim davon aus, dass diese Ent­ führung eine Geheimdienstaktion sei. Uns blieb die Spucke weg: ‚So sind die drauf, nur weil ihre Chefs nicht auf der Liste sind‘, wetterte Atze [Ralf Reinders] los.“2319 Für die „Bewegung 2. Juni“ geriet die Personalie Horst Mahler nicht nur der Bekundungen Croissants wegen zu einem Ärgernis und in letzter Konsequenz zu einer „völlige[n] Fehleinschätzung“2320. Neben Gabriele Kröcher-Tiedemann lehnte Mahler es in seiner Befragung durch westdeut­ sche Behörden ab, mit der Entführung in Freiheit zu gelangen. KröcherTiedemann soll ihre Entscheidung auf das staatliche Angebot einer redu­ zierten Haftstrafe und ihre familiäre Situation gestützt haben,2321 Mahler hingegen begründete sein Votum in einer in der Nacht vom 1. auf den 2. März 1975 ausgestrahlten Ausgabe der Tagesschau mit ideologischen Überlegungen: „Die Entführung des Volksfeindes Peter Lorenz als Mittel zur Befrei­ ung von politischen Gefangenen ist Ausdruck einer von den Kämpfen der Arbeiterklasse losgelösten Politik, die notwendigerweise in einer Sackgasse enden muss. Die Politik des individuellen Terrors ist nicht die Strategie der Arbeiterklasse.“2322 Während Mahler in der „Bewegung 2. Juni“ nunmehr unumstößlich als „Arschloch“2323 und Person gewertet wurde, welcher man „ins Gehirn geschissen“2324 habe, erfuhr Kröcher-Tiedemann Nachsehen. Rolf Pohle führte ein Telefongespräch mit ihr, in dem sie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Freilassung zurücknahm.2325 Angesichts der erfolglosen polizeilichen Aufklärungsmaßnahmen sah sich die Bundesregierung ge­ zwungen, die Forderungen der Gruppe zu erfüllen. Zwischen dem 2. und 3. März 1975 transportierten die Behörden Pohle, Heissler, Becker, Siepmann und Kröcher-Tiedemann zum Flughafen bei Frankfurt am Main. Am Morgen des 3. März 1975 erhielten sie Pässe sowie insgesamt

2319 2320 2321 2322 2323

Meyer 2008, S. 34. Rollnik/Dubbe 2007, S. 32. Vgl. Pohle 2002, S. 121; Reinders/Fritzsch 2003, S. 87. Horst Mahler, zit. n. Meyer 2008, S. 36. Vgl. auch Jesse 2001, S. 186. Namentlich nicht bekannter Aktivist der Bewegung 2. Juni, zit. n. Meyer 2008, S. 34. 2324 Reinders/Fritzsch 2003, S. 87. 2325 Vgl. Pohle 2002, S. 121-122; Reinders/Fritzsch 2003, S. 87.

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120 000 DM. Kurz darauf flogen sie in Begleitung von Heinrich Albertz in einer Maschine der „Lufthansa“ nach Aden. Albertz kehrte am selben Tag nach Deutschland zurück und verlas im Fernsehen eine von Siepmann gefertigte Erklärung. Die darin enthaltene Zeile „so ein Tag, so wunder­ schön wie heute“2326 diente als Zeichen, welches den Entführern von Peter Lorenz die sichere Ankunft der freigelassenen Häftlinge im Südjemen anzeigte. Am Abend des 4. März 1975 fuhr die „Bewegung 2. Juni“ Lorenz zum Volkspark in Berlin-Wilmersdorf und setzte ihn dort auf einer Park­ bank ab.2327 Noch in der Nacht zum 5. März 1975 verkündete die Polizei öffentlich, nach acht Personen zu suchen, bei denen der Verdacht der Tatbeteiligung bestand: Till Meyer, Ralf Reinders, Werner Sauber, Inge Viett, Norbert Kröcher, Angela Luther, Fritz Teufel und Andreas Vogel. Diese Annahme traf laut Reinders, Fritzsch und Meyer lediglich bei vier Personen zu.2328 Nachweislich nicht eingebunden waren Kröcher, Luther, Sauber und Teufel.2329 In den sich anschließenden Wochen richtete die Gruppe ihre Aufmerk­ samkeit unter zunehmendem Fahndungsdruck auf das Beseitigen von Spu­ ren und das propagandistische Vermarkten der Entführung. Am 15. März 1975 erhielt Liselotte Baum ein Schreiben der B2J, dem 700 DM aus dem Besitz von Peter Lorenz beigefügt waren. Baum hatte Lorenz schriftlich gebeten, sie und ihr behindertes Kind zu unterstützen. Der entsprechende Schriftverkehr war von der „Bewegung 2. Juni“ ebenso wie die Geldsum­ me in der Habe entdeckt worden, die Lorenz zum Zeitpunkt seiner Ergrei­ fung bei sich getragen hatte. Im Laufe des 21. März 1975 erreichte Hein­ rich Albertz ebenfalls eine Nachricht des Zirkels, in dem dieser darum bat, den Interessen Liselotte Baums Nachdruck zu verleihen.2330 Zeitgleich räumten die Mitglieder das „Volksgefängnis“ in der Schenkendorfstraße. In blauen Säcken sammelten sie die Materialien, die sie zuvor verbaut hatten. Mit einem angemieteten Lastkraftwagen transportierten sie den Abfall zu einer wilden Mülldeponie in Berlin, wo er kurz darauf nach Ein­ gang eines Bürgerhinweises von der Polizei entdeckt wurde.2331 Der Straf­ verfolgung sei es mithilfe einer Anwohnerin der Schenkendorfstraße rasch gelungen, den Ort zu lokalisieren, an dem der Unrat auf das Fahrzeug ge­ 2326 Ingrid Siepmann/Rolf Heissler/Gabriele Kröcher-Tiedemann u.a., zit. n. Diet­ rich 2009, S. 106. 2327 Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 81; Dietrich 2009, S. 105-106. 2328 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 101; Meyer 2008, S. 47. 2329 Vgl. Dietrich 2009, S. 87-88. 2330 Vgl. ebd., S. 95. 2331 Vgl. ebd., S. 108-109.

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laden worden war. Eine am 22. März 1975 vorgenommene Hausdurchsu­ chung des zwischenzeitlich aufgelösten Trödelladens soll jedoch zunächst keinen Ermittlungserfolg erbracht haben, da die Inneneinrichtung nicht mit den Beschreibungen von Peter Lorenz übereingestimmt habe.2332 Am 27. März 1975 sollen in Westberlin etwa 30 000 Kopien der Erklä­ rung „Die Entführung aus unserer Sicht“ in Umlauf geraten sein. Diese waren angeblich nach dem Druck auf einer „Rotaprint“‑Maschine von rund 120 Sympathisanten in weniger als einer Stunde verteilt worden.2333 Mit dem Papier verbanden die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ den An­ spruch, zu „sagen, was für leute wir sind.“2334 Es sollte zudem dem Recht­ fertigen der Entführung dienen und „einen teil der ganzen lügenmärchen von presse und politikern aufdecken.“2335 In dem Kapitel, welches sich dem Opfer der Aktion widmete, enthielt der Text Abzüge der Briefe, die Liselotte Baum in Erwartung von Unterstützung an Peter Lorenz geschickt hatte. Außerdem fand sich darin das an Baum adressierte Schreiben der B2J. Begleitet wurde diese Korrespondenz von dem Verweis auf die 700 DM, die die Gruppe Liselotte Baum zur Verfügung gestellt hatte. Über­ dies sicherte die „Bewegung 2. Juni“ zu, eine bei Lorenz in Gestalt eines Schecks aufgefundene „geldspende der klingbeil-gruppe (eine der größten baubetrüger berlins) für die cdu in höhe von 10 000 mark einer behin­ derten-organisation zu[zu]schicken.“2336 Wer Gerald Klöpper folgt, wird dieses Versprechen als eingelöst sehen.2337 Reinders und Fritzsch gaben 2003 in einem Interview zu verstehen, das Dokument habe Diskussionen im öffentlichen Raum angestoßen und daher „Begeisterung“2338 hervorge­ bracht. Es sei somit als „Erfolg“2339 zu werten. Anderen Selbstzeugnissen sind allerdings Kommentare zu entnehmen, denen zufolge die B2J mit den in der Erklärung dargelegten Hilfsleistungen auch Missfallen hervorrief. Eine entsprechende Haltung nahm die „Rote Armee Fraktion“ ein, in deren Reihen die „Bewegung 2. Juni“ als „nicht ernst genommene ‚Spaß­ guerilla‘“2340 galt:

2332 2333 2334 2335 2336 2337 2338 2339 2340

Vgl. Meyer 2008, S. 54-55. Ähnlich Reinders/Fritzsch 2003, S. 108. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 105-106. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 176. Ebd. Ebd., S. 182. Vgl. Klöpper 1987, S. 65. Reinders/Fritzsch 2003, S. 107. Ebd. Wackernagel 2017, S. 256.

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„Wir sind dann später von der RAF als ‚Bewegung Frau Busch‘ [sic] ka­ rikiert worden. Die RAF hat gesagt: das sei unser Populismus, dass wir uns gemein machen mit den Leuten und denken, das wäre Politik.“2341 Um dem Fahndungsdruck in Westberlin entgehen und mit den freige­ pressten Inhaftierten zusammentreffen zu können, fassten die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ den Entschluss, Westdeutschland zeitweise den Rücken zu kehren. Anfang April 1975 seien Meyer und Rollnik über Dänemark nach Frankreich, Fritzsch, Klöpper, Reinders, Viett und andere in den Nahen Osten gereist. Die Mitglieder hätten zuvor vereinbart, nach einigen Wochen wieder in Westberlin zusammenzutreffen.2342 Meyer und Rollnik sollen sich in Nizza intensiv zur Zukunft der „Bewegung 2. Juni“ beratschlagt haben.2343 Einige Angehörige der im Libanon untergekomme­ nen Gruppe seien – vermutlich von der PFLP – in der Nähe der Haupt­ stadt Beirut in eine Kampfausbildung eingebunden worden.2344 Während die Angehörigen der B2J ihre Aktivitäten demnach reduzierten, trat die „Rote Armee Fraktion“ mit einer Aktion in Erscheinung, welche dem Vor­ gehen bei der Entführung Peter Lorenz‘ glich. Am 24. April 1975 drang eine Nachfolgegruppe der Ersten Generation in die Deutsche Botschaft in Stockholm ein, setzte die Mitarbeiter fest und forderte das Freilassen „politischer Gefangener“. Die Botschaftsbesetzung endete bekanntlich mit einer ungewollt herbeigeführten Detonation der von der RAF im Gebäude angebrachten Sprengladungen. Bei Meyer und Rollnik lösten die im Fern­ sehen verfolgten Bilder der Tat Entsetzen aus. Meyer schrieb: „‚Diese Idioten‘, schimpfte ich spontan. […] Alles im Arsch, ratterte es in meinem Kopf. Der Sympathiebonus, den wir [mit der Entführung von Peter Lorenz] erworben hatten, war durch diese äußerst brutale und politisch dumme Aktion zunichte gemacht. […] Wir waren wü­ tend und deprimiert. […] ‚Da hat der RAF-Brain-trust in Stammheim sich mal wieder eine politische Fehleinschätzung vom gröbsten geleis­ tet‘, sinnierte ich laut vor mich hin.“2345

2341 2342 2343 2344

Rollnik/Dubbe 2007, S. 39-40. Ähnlich Viett 2007, S. 137. Vgl. Meyer 2008, S. 55-56. Vgl. ebd., S. 56-57. Vgl. Viett 2007, S. 145; Meyer 2008, S. 60. Ähnlich Reinders/Fritzsch 2003, S. 109; Rollnik/Dubbe 2007, S. 48. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 273. 2345 Meyer 2008, S. 57-58.

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Ähnliche Erinnerungen hatte Rollnik: „Wir fanden das typisch RAF, glaube ich. Völlige Fehleinschätzung. Überheblichkeit auch und auch Geringschätzung der anderen Seite, wozu die in der Lage ist. Durch die Lorenz-Entführung hatten wir doch gezeigt, wie’s geht, wie man den Staat besiegen kann, warum hat sich die RAF nicht daran orientiert?“2346 Unterdessen trennten sich die Wege der im Libanon weilenden Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“. Der einsetzende Bürgerkrieg zwang sie, das Land zu verlassen. Fritzsch und Klöpper seien zurück nach Deutschland gereist, Reinders und Viett wären in die syrische Hauptstadt Damaskus gefahren. Dort hätten sie auf einen Kontakt zu den fünf befreiten „Gefangenen“ gehofft.2347 Als Klöpper und Fritzsch kurz nach ihrer Ankunft in West­ berlin eine Garage aufsuchten, in der ein gestohlenes Fahrzeug parkte, gelang der Polizei der erste Ermittlungserfolg im Fall der gegen Lorenz gerichteten Freiheitsberaubung. Beide konnten am 28. April 1975 in Haft genommen werden. Die Örtlichkeit war von Einsatzkräften beobachtet worden, nachdem die Sicherheitsbehörden sie im Zuge ihrer Aufklärungs­ arbeit entdeckt hatten.2348 Wenige Tage später trafen zunächst Till Meyer und Gabriele Rollnik in Westdeutschland ein. Ihnen folgten unter ande­ ren Ralf Reinders und Inge Viett, denen es in Syrien nicht gelungen war, eine Verbindung zu Verena Becker, Rolf Heissler, Gabriele KröcherTiedemann, Rolf Pohle und Ingrid Siepmann herzustellen.2349 In einem gemeinsamen Gespräch hätten sie sich anschließend darauf verständigt, den Aktionsraum der B2J um das Ruhrgebiet und Hamburg zu erweitern. Allenfalls sollten Reinders und Viett in Westberlin bleiben. Eine unerwartete Unterbrechung erfuhren diese Planungen mit der Nachricht vom Tod eines ehemaligen Mitstreiters. Am 9. Mai 1975 kam es im Anschluss an einen versuchten Autodiebstahl zu einem Schusswechsel zwischen Roland Otto, Karl‑Heinz Roth und Werner Sauber, die in Nord­ rhein‑Westfalen eine „Betriebsguerilla“ unterhalten haben sollen. Otto blieb unverletzt, Roth wurde schwer verwundet. Sauber überlebte das Feuergefecht dagegen nicht.2350 Bei sich trug er einen Text im Entwurfssta­ dium, welcher nicht von den Kernmitgliedern der „Bewegung 2. Juni“,

2346 2347 2348 2349 2350

Rollnik/Dubbe 2007, S. 51. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 110; Meyer 2008, S. 60. Vgl. Dietrich 2009, S. 89-90. Vgl. Viett 2007, S. 144; Meyer 2008, S. 60. Vgl. Dellwo 2007b, S. 205; Meyer 2008, S. 61.

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sondern im Januar 1975 wohl von ihm selbst verfasst worden war.2351 Die bis dahin unbekannte Erklärung „Mit dem Rücken zur Wand?“ vermittel­ te den Behörden vergleichsweise ausführliche Wertungen zur „Roten Ar­ mee Fraktion“ und zur B2J. Einleitend wurden beide Gruppen auf einer politischen Linie gesehen: „Wirkliche proletarische Gegenmacht ist bewaffnete Arbeitermacht! Zwei Bewegungen – Rote Armee Fraktion und Bewegung 2. Juni – haben bis heute versucht, sich an dieser Grundvoraussetzung praktisch zu orientieren.“2352 In den nachfolgenden Zeilen sprach der Autor der RAF sodann ein Lob aus, welches das Fundament für eine kritische Auseinandersetzung mit der Programmatik dieses Akteurs legen sollte: „Wir anerkennen, dass die Genossen der RAF als Partisanen der ersten Stunde die Trennung zwischen Person und Politik aufgehoben und sich ohne Bausparverträge mit Risikodeckung für den bewaffneten Kampf hier und heute entschieden haben. Ihre revolutionäre Praxis und ihre Erfahrungen wiegen schwerer als zig-tausend Tonnen Papier, mit der [sic] viele Linke der RAF in den Rücken fielen. Ihre Bomben in Frankfurt und Heidelberg [im Mai 1972] waren die richtige Ant­ wort zur richtigen Zeit. Deshalb kann die Kritik an der RAF auch nur eine solidarisch‑praktische sein“2353. Die schließlich geäußerte Kritik kreiste im Kern um den Vorwurf einer von der „Roten Armee Fraktion“ verfolgten „Elite-Linie“2354. Im selben Atemzug nannte der Verfasser „[e]ine Alternative: Die Bewegung 2. Juni in Berlin“2355. Den Tod Werner Saubers nahmen die in Westberlin untergetauchten Aktivisten zum Anlass, ein Flugblatt zu verteilen. In diesem riefen sie negative Konsequenzen der in Teilen der Welt – vermeintlich – existie­ renden kapitalistischen Machtstrukturen in Erinnerung und forderten Gleichgesinnte dazu auf, den „bewaffneten Kampf“ unbeirrt fortzusetzen. Jede Revolution, so die Argumentation der Gruppe, bringt unweigerlich

2351 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 247; Horchem 1988, S. 55; Meyer 2008, S. 307. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 276. 2352 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 238. 2353 Ebd., S. 239. 2354 Ebd., S. 240. 2355 Ebd., S. 242.

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Opfer mit sich.2356 Hiermit verknüpft war allerdings eine ausdrückliche Mahnung, welche die intern zirkulierende Einschätzung zur Botschaftsbe­ setzung in Stockholm erstmals in die Öffentlichkeit trug: „Organisiert und unterstützt den bewaffneten Kampf! Aber schlagt nicht blind zu. Schätzt eure Kräfte richtig ein. Unterschätzt niemals den Feind – erst recht nicht, wenn er ein sozialdemokratisches Gesicht hat. STOCKHOLM HAT GEZEIGT [sic] WIE ES NICHT GEHT!!!!!!!“2357 Viett gab in ihrer Autobiographie zu, dass sie nach der Rückkehr aus Syrien keinerlei Vorstellung dazu besaß, welche Gestalt die Strategie der B2J in den kommenden Monaten annehmen sollte. Eine grundlegende Debatte zu Perspektiven des Zirkels sei dringend notwendig gewesen, wäre jedoch beiseite gedrängt worden. Die Mitglieder hätten entschieden, die Grundsatzdiskussion nach Kontakt mit den durch die Entführung von Peter Lorenz in Freiheit gelangten Inhaftierten anzustoßen. Diese Lage habe selbst Fritz Teufel nicht ändern können, der sich in diesem Zeitraum desillusioniert von seinen Aktivitäten im Ruhrgebiet abgewandt und sich den Akteuren in Westberlin wieder angeschlossen habe. Zum vorläufigen primären Ziel der „Bewegung 2. Juni“ hätten die Angehörigen die Absicht erklärt, ihre finanzielle Situation zu verbessern.2358 Einen weiteren personellen Einschnitt erlebte die Gruppe am 6. Juni 1975 mit dem Ergreifen Till Meyers.2359 Aufgefangen wurde er durch die Aufnahme Juliane Plambecks, die sich nach der Aktion gegen Lorenz auf einen Beitritt festgelegt hatte.2360 Ende Juli 1975 überfielen die „Aktiven“ schließlich zwei Banken in Westberlin – sie erbeuteten mehr als 200 000 DM. Bei beiden Raubtaten boten sie den anwesenden Bankkunden Scho­ koküsse an. Sie hinterließen eine Flugschrift,2361 in der die Aktionen als Anteil zu einem – angeblich – allerorts vertretenen Anspruch verstan­ den wurden, den „Rubel rollen [und] damit die Schornsteine wieder rau­ chen“2362 zu lassen. Ähnlich wie die Erklärung der „Bewegung 2. Juni“ zur Lorenz-Entführung rief der Ablauf der Überfälle am 30. und 31. Juli 1975 2356 2357 2358 2359 2360 2361

Vgl. ebd., S. 373. Ebd. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Vgl. Viett 2007, S. 149. Vgl. Wunschik 1998, S. 236; Schwibbe 2013, S. 100. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 56; Meyer 2008, S. 56; Dietrich 2009, S. 61. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 170; Meyer 2008, S. 69; Danyluk 2019, S. 207. 2362 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 171.

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bei der „Roten Armee Fraktion“ Unverständnis hervor. Reinders hielt dazu fest: „Wir sind von RAF-Seite für diese Sachen [das Verteilen von Schoko­ küssen und Beruhigen der Kunden] ziemlich heftig kritisiert worden. […] Es würde uns nur noch auf Populismus ankommen, wir würden die Sache nicht mehr ernst nehmen.“2363 Die B2J konnte nunmehr zwar finanzielle Ressourcen abrufen, nach wie vor aber in Diskussionen keine politische Linie bestimmen.2364 Durchbro­ chen wurde dieser Zustand abermals infolge der Ermittlungsarbeit der Polizei, welcher es im Zuge der Beobachtung einer Unterstützerin der „Be­ wegung 2. Juni“ offenbar gelungen war, zwei konspirative Wohnungen des Zirkels aufzudecken.2365 Im Herbst 1975 erfolgte die Ergreifung der „maßgeblichen Mitglieder“2366: Am 9. September 1975 wurden Ralf Rein­ ders, Inge Viett und Juliane Plambeck, am 15. September 1975 Gabriele Rollnik und Fritz Teufel Ziel einer Festnahme.2367 Meyer fasste die Konse­ quenzen dieser Entwicklung in seiner Autobiographie zusammen: „Der 2. Juni war erst mal zerschlagen.“2368 Der anschließende Wechsel Angeli­ ka Goders in den Untergrund vermochte die personelle Situation nur kurzfristig zu verbessern, geriet doch im März 1976 Andreas Vogel in Haft.2369 Im selben Tenor wie Meyer blickte daher Viett auf diese Episode zurück: „Die Bewegung 2. Juni war 1976 nicht mehr wirklich existent.“2370 Plambeck, Rollnik und Viett brachte die Justiz in der Frauenhaftanstalt Lehrter Straße in Berlin unter, Fritzsch, Klöpper, Reinders, Teufel und Vogel nach und nach im Gefängnis in Berlin-Moabit.2371

2363 2364 2365 2366 2367 2368 2369 2370 2371

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 50. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 56. Vgl. Meyer 2008, S. 70. Bundesministerium des Innern 1976, S. 106. Vgl. Weinhauer 2006, S. 942; Dietrich 2009, S. 112; Schwibbe 2013, S. 100. Meyer 2008, S. 70. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 108; Korndörfer 2008, S. 252. Viett 2007, S. 168. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 200; Wunschik 2006b, S. 552.

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6.2.3 „Blamage von Berlin“, Ausbildung im Nahen Osten, Annäherung an die „Rote Armee Fraktion“, Entführung Walter Palmers‘ (1976 bis 1977) Während der Haft setzten sich zumindest die Frauen der „Bewegung 2. Ju­ ni“ intensiv mit der veränderten Lage der Gruppe sowie dem daraus er­ wachsenden weiteren Vorgehen auseinander. Als Orientierungspunkt soll in diesem Prozess vor allem die „Rote Armee Fraktion“ gedient haben, deren Aktivistinnen Monika Berberich, Brigitte Mohnhaupt und Ingrid Schubert laut Rollnik zum selben Zeitpunkt in der Lehrter Straße einsa­ ßen.2372 In ihren schriftlich niedergelegten Erinnerungen gab sie zu verste­ hen: „Wir haben uns im Knast stark mit den Strategien der RAF beschäf­ tigt. Vor allem mit ihren Hungerstreiks. Wir haben keinen Hunger­ streik gemacht damals. Aber wir haben uns damit auseinandergesetzt: ob das eine richtige Taktik ist. Wir haben immer gedacht: Nein, man muss doch ausbrechen. Aber in dem Augenblick natürlich, wo du nicht mehr ausbrechen kannst, musst du dir was anderes überle­ gen.“2373 Neben diesen diskursiven Berührungspunkten mit der RAF ergaben sich Verbindungen persönlicher Natur. Rollnik und Viett bauten eigenen Aus­ sagen zufolge Kontakt auf zu Monika Berberich, die ebenfalls auf Station II der Justizvollzugsanstalt in der Lehrter Straße ihre Strafe verbüßte.2374 Viett und Berberich sollen ihren Hofgang regelmäßig zusammen verbracht und zudem Tischtennis gespielt haben.2375 Spätestens im Januar 1976 fassten alle drei gemeinsam mit Juliane Plambeck den Entschluss, über ein Dachfenster in der Gefängnisbibliothek den Ausbruch zu wagen. Die Idee zu diesem Fluchtweg sei auf Berberich zurückzuführen, die das Fens­ ter entdeckt hatte.2376 Wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Aktion sei gewesen, mehrere Schlüssel zu replizieren, mit denen Türen zwischen den Zellen und dem Bibliotheksraum geöffnet werden konnten. Zahlreiche Wochen habe es in Anspruch genommen, Abdrücke von den

2372 2373 2374 2375 2376

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 59. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 59; Dietrich 2009, S. 112. Vgl. Viett 2007, S. 152-153. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 60; Viett 2007, S. 152, 155.

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Schließwerkzeugen anzufertigen.2377 Mithilfe einer Kontaktperson außer­ halb der Gefängnismauern – bei der es sich um Angelika Goder handel­ te2378 – sei Viett in den Besitz der benötigten Nachbauten von Vierkant­ schlüsseln gelangt.2379 Über diese Verbindung habe sie zudem eine Pistole erhalten.2380 Noch ehe sie zur Flucht ansetzen konnten, schlugen zwei Ereignisse Wellen, welche auch die „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ erreichten. Am 9. Mai 1976 fanden zwei Justizbeamte in der JVA Stuttgart‑Stamm­ heim Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle auf.2381 Weniger als zwei Monate später endete eine am 27. Juni 1976 initiierte Flugzeugentführung auf dem Flughafen der ugandischen Stadt Entebbe mit dem Tod der RZ‑Mitglieder Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann.2382 Ähnlich wie der Tod Holger Meins‘ im November 1974 mündete die Nachricht vom Selbst­ mord Ulrike Meinhofs in emotionalen Reaktionen der Aktivisten aus der B2J. So bot der Freitod Meyer die Legitimation, in einen kurzfristigen Hungerstreik einzutreten: „Ich war traurig und glaubte wie viele andere […] an Mord. Aus Wut und Hilflosigkeit trat ich mit mehreren Dutzend Gefangenen in einen dreitägigen Hungerstreik: Protest gegen die Ermordung unserer Genossin Ulrike.“2383 Das Entführen einer Maschine der „Air France“ hingegen nahm die „Be­ wegung 2. Juni“ zunächst mit Irritation, später mit dezidierter Ablehnung wahr. Da die Entführer das Freilassen unter anderen von Ralf Reinders, Inge Viett und Fritz Teufel forderten,2384 habe Meyer sich anfangs die Frage gestellt, ob der Akt der Luftpiraterie von den Personen ausgeführt

2377 Vgl. Viett 2007, S. 153. 2378 Viett nennt die Kontaktperson lediglich unter dem Namen „Susan“. Meyer bezieht sich in seinen Schilderungen zum Gefängnisausbruch auf dieselbe Person, gibt dieser jedoch den Decknamen „die Stille“. Aus dem Personenver­ zeichnis zu seiner Autobiographie wird deutlich, dass sich hinter „der Stillen“ Angelika Goder verbirgt. Vgl. Meyer 2008, S. 75, 511. Goder gab selbst zu, an dem Ausbruch der Frauen aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße be­ teiligt gewesen zu sein. Der Tatbeitrag blieb dabei unklar. Vgl. Goder/Pehrs/ Weirauch 2001, S. 108. 2379 Vgl. Viett 2007, S. 155. Ähnlich Rollnik/Dubbe 2007, S. 60. 2380 Vgl. Viett 2007, S. 153. 2381 Vgl. Peters 2008, S. 345. 2382 Vgl. Rabert 1995, S. 207. 2383 Meyer 2008, S. 74. 2384 Vgl. Der Spiegel 1976b, S. 23.

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wurde, welche mit der gegen Peter Lorenz gerichteten Freiheitsberaubung aus der Haft entlassen worden waren. Das Berücksichtigen von Reinders und Viett habe ihm plausibel erschienen, nicht jedoch die Forderung nach Teufels Freilassung. Teufel habe aufgrund seines zwischenzeitlichen Aufenthalts im Ruhrgebiet strafrechtlich weniger befürchten müssen als Reinders und Viett.2385 Teufel selbst sah die Geiselnahme mit gemischten Gefühlen. Einerseits habe er „keine Einwände gehabt gegen eine Reise von Moabit nach Afrika“2386, andererseits sei ihm die Logik der Tat ver­ schlossen geblieben. Wie er 1979 rückblickend erklärte, erregte die Tat als solche innerhalb der B2J Unmut. Vergleichbar äußerte sich im Jahre 1990 Reinders, der von „heftige[n] interne[n] Auseinandersetzungen wegen En­ tebbe“2387 sprach. Diese Konflikte zogen allerdings nicht zwangsläufig die Bereitschaft nach sich, die eigene negative Haltung offen kundzutun. Teu­ fel schrieb: „Nicht, dass mir die Flugzeugentführung nach Entebbe besonders ein­ geleuchtet hätte….aber ich habe mich damit getröstet (damals), dass es in der Hauptsache um die Befreiung palästinensischer Gefangener ging, die für eine gerechte Sache kämpfen. […] Den Gedanken an eine öffentliche Kritik an der Flugzeugentführung nach Entebbe haben wir hinterher erwogen. Ich war dagegen. […] Es ist nicht leicht, Genos­ sen zu kritisieren, die bei dem Versuch, ihre Genossen zu befreien, ihr Leben riskierten und verloren. […] Es sind unsere Brüder und Schwestern, die diese Fehlers [sic] gemacht haben. Ihre Beweggründe waren gut, aber ihr Handeln nicht bis zur letzten Konsequenz durch­ dacht.“2388 In der Nacht zum 7. Juli 1976 begannen Berberich, Plambeck, Rollnik und Viett ihren Gefängnisausbruch. Nachdem sie festgestellt hatten, dass zwei der nachgefertigten Schlüssel nicht in die jeweiligen Schlösser pass­ ten, überwältigten sie unter anderem mit der eingeschleusten Pistole zwei Wärterinnen. Diese verschafften ihnen Zutritt zum Bibliotheksraum, wo die Inhaftierten sie fesselten. Über das Fenster gelangten die vier Frauen auf das Dach der Haftanstalt, mit einem aus Bettlaken angefertigten Seil in

2385 2386 2387 2388

Vgl. Meyer 2008, S. 74. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 743. Reinders 2003, S. 142. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 743-744.

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die Freiheit.2389 Vor der Gefängnismauer stiegen sie in einen Fluchtwagen, welcher von Goder gefahren worden sein soll.2390 Während Plambeck, Rollnik und Viett in Westberlin angeblich Unterschlupf bei einem Aktivis­ ten der baskischen terroristischen Organisation „Euskadi Ta Askatasuna“ fanden, versuchte Berberich, sich den außerhalb der Gefängnisse bestehen­ den Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ anzuschließen.2391 Wer Roll­ nik folgt, wird dies nicht zuletzt auf die Bitten der „Bewegung 2. Juni“ zurückführen. Berberich war Rollniks Aussagen zufolge „sozusagen unser erster Kontakt zur RAF“2392. Als Berberich jedoch zwei Wochen nach der Flucht auf dem Weg „zu einem Kontakt [war], der uns [die ‚Bewegung 2. Juni‘] mit Genossen der RAF zusammenbringen sollte“2393, ergriff sie die Polizei auf dem Kurfürstendamm.2394 Der vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ als „Blamage von Ber­ lin“2395 beschriebene Gefängnisausbruch löste unmittelbar eine Polizei­ fahndung aus. Die Sicherheitsbehörden gingen sogar dazu über, großfor­ matige Bilder der Geflüchteten auf ihren Dienstfahrzeugen zur Schau zu stellen.2396 Angesichts dieser Maßnahmen setzten sich Plambeck, Rollnik und Viett mit der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ um Wadi Haddad in Verbindung und vereinbarten einen Aufenthalt in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Von dort aus reisten sie wenig später weiter in den Jemen. Hier sollen sie erstmals nach der Lorenz-Entführung mit Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann zusammengetroffen sein, die sogleich ihre Bereitschaft bekundet hätten, erneut für die B2J aktiv zu werden.2397 Kröcher-Tiedemann war zuvor in das Umfeld der internationalen Fraktion der „Revolutionären Zellen“ und des venezolani­ schen Linksterroristen „Carlos“ eingebunden worden. Sie hatte – neben dem RZ-Mitglied Hans-Joachim Klein – einem „Kommando“ angehört, welches im Dezember 1975 in Wien die Teilnehmer der Konferenz erdöl­ exportierender Staaten als Geiseln nahm.2398 Plambeck, Rollnik und Viett

2389 Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 61; Viett 2007, S. 156 - 158; Dietrich 2009, S. 113-114. 2390 Vgl. Meyer 2008, S. 75. 2391 Vgl. Viett 2007, S. 158-159. 2392 Rollnik/Dubbe 2007, S. 62. 2393 Ebd., S. 63. 2394 Vgl. Der Spiegel 1976e, S. 28. 2395 Der Spiegel 1976d, S. 18. 2396 Vgl. Der Spiegel 1976e, S. 28. 2397 Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 63-64; Viett 2007, S. 160. 2398 Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 76.

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erhielten überdies Informationen zu den übrigen drei Personen, die im März 1975 aus der Bundesrepublik hatten entkommen können: Verena Becker und Rolf Heissler seien noch während des Flugs in den Jemen de facto der „Roten Armee Fraktion“ beigetreten, Rolf Pohle dagegen habe sich gänzlich vom Terrorismus abgewandt.2399 Er war im Juli 1976 in Griechenland in Haft geraten.2400 In einem „Camp der Palästinenser nahe Aden“2401 hielten sich die fünf Frauen nach Angaben von Viett über einen Zeitraum von etwa drei Monaten auf.2402 Angeblich absolvierten sie Nahkampftraining so­ wie Ausbildungseinheiten zu Schuss- und panzerbrechenden Waffen.2403 Wohl im Herbst 1976 kehrten die Aktivistinnen in die Bundesrepublik zurück, wobei sie Westberlin als primäres Operationsgebiet gezielt aufga­ ben. Die Stadt war „als politische und dauerhafte logistische Basis […] erschöpft.“2404 Einen Großteil der dort einst zur Verfügung stehenden Ausrüstung habe die Polizei in ihrer Ermittlungsarbeit entdecken können. Überdies hätten die Sicherheitsbehörden das linksextremistische Milieu Westberlins beträchtlich aufgeklärt.2405 Fortan sei die B2J in Westdeutsch­ land präsent gewesen, so zum Beispiel in Düsseldorf und Marburg. Die Gruppe habe sich einer politischen Linie verschrieben, welche der Befrei­ ung „politischer Gefangener“ diente und gleichzeitig an Auseinanderset­ zungen im Ausland – darunter der Nahostkonflikt – anknüpfen sollte. In den Mittelpunkt stellte die Gruppe zunächst aber offensichtlich den Auf­ bau neuer Kontakte.2406 Prägend sei in diesem Kontext die zuletzt Anfang der 1970er Jahre vorhandene Bereitschaft gewesen, existierende Grenzen im deutschen Linksterrorismus zu überwinden. Rollnik führte dazu aus: „Dann gab es das konkrete Vorhaben, mit der RAF und den Revolu­ tionären Zellen Gespräche in Bezug auf eine Zusammenarbeit zu füh­ ren. Wir haben es als richtig angesehen, dass die bewaffneten Gruppen sich vereinigen, um gemeinsam eine stärkere Kraft zu sein.“2407 2399 2400 2401 2402 2403 2404 2405 2406 2407

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 64. Vgl. Pohle 2002, S. 132; Wunschik 2006b, S. 551; Danyluk 2019, S. 514. Rollnik/Dubbe 2007, S. 65. Vgl. Viett 2007, S. 160, 165. In anderen Quellen ist die Rede von zwei bezie­ hungsweise vier Monaten. Vgl. Klein 1979a, S. 209; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 30. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 65-66; Viett 2007, S. 162-163. Viett 2007, S. 166. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 109-110; Viett 2007, S. 168. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 68-69. Ebd., S. 68. Ähnlich Rollnik/Dellwo/Mayer 1998, S. 35.

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Anders als Rollniks Angaben nahelegen, stützte sich zumindest das inten­ dierte Intensivieren des Austauschs mit der „Roten Armee Fraktion“ nicht auf einen internen Konsens. Entsprechende Aussagen traf Goder: „Die politische Auseinandersetzung mit den Zielen der RAF begann in dieser Zeit. Bei der Bewegung 2. Juni gab es unterschiedliche Posi­ tionen, inwieweit wir uns darauf einlassen wollten, mit der RAF zu­ sammenzuarbeiten. Einige wollten eine engere Zusammenarbeit bzw. sogar einen Zusammenschluss, andere waren strikt dagegen. Im Jahre 1977 wollte ich zwar den Kontakt zur RAF, aber noch keine intensive­ re Zusammenarbeit.“2408 Goder brachte sich damit in Opposition zu Rollnik, die sich selbst „für einen Zusammenschluss beider Gruppen“2409 aussprach. Rollnik betonte denn auch in ihren Erinnerungen, wie sie in Kooperation mit Viett den vor der Reise in den Irak und Südjemen über Monika Berberich unter­ nommenen Versuch wiederholte, mit der „Roten Armee Fraktion“ ins Gespräch zu treten. Eine Annäherung an die RZ wagten die „Illegalen“ ebenfalls. Tatsächlich soll es unter anderen durch telefonische Absprachen gelungen sein, nach der Ausbildung im Nahen Osten einen Kommunikati­ onskanal zur RAF zu eröffnen. 2410 Zu den „Revolutionären Zellen“ bauten sie ebenfalls einen Kontakt auf, stellten dabei indes rasch Differenzen fest. „Für die RZ waren andere Projekte vorrangig“2411, so Rollnik in der Retro­ spektive. Im Hinblick auf den Austausch mit der „Roten Armee Fraktion“ hielt sie fest: „Wir hatten auf jeden Fall Möglichkeiten, miteinander zu kommuni­ zieren. Dann haben wir Treffen vereinbart, anfangs in Cafés, später, als mehr Vertrauen da war, in unseren Wohnungen. Das war eine ganz langsame Annäherung. Wir haben Verena Becker getroffen und Günther [sic] Sonnenberg. Von uns waren auch zwei da, Inge Viett und ich. Wir haben geguckt: Kommen wir auf einen Nenner? Was haben wir für Vorstellungen, was haben sie für Vorstellungen.“2412 Zu Beginn sei der Dialog vielversprechend gewesen. Im weiteren Verlauf habe sich dies allerdings drastisch geändert, womit die Beziehung zwi­

2408 2409 2410 2411 2412

Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110. Rollnik/Dubbe 2007, S. 27. Vgl. ebd., S. 70, 74. Gabriele Rollnik, zit. n. Siemens 2006, S. 361. Rollnik/Dubbe 2007, S. 70.

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schen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“ keine grundlegende Verbesserung erfuhr: „Die ersten Treffen waren noch ganz gut. Daraus zogen wir den Schluss, wir müssen praktisch zusammenkommen. Wir planten eine gemeinsame Aktion, um ein Gefühl zu kriegen und in der Praxis Vertrauen zueinander zu entwickeln. Beim folgenden Treffen kamen dann nicht mehr Günther [sic] Sonnenberg und Verena Becker, son­ dern Stefan Wisniewski und Willi-Peter Stoll. Die haben gesagt: die Diskussion bis jetzt ist ganz falsch gelaufen. So geht’s [sic] ja nicht und wenn ihr mit uns zusammenkommen wollt, so müsst ihr erstmal Selbstkritik üben. […] Das fanden wir völlig überheblich und arrogant und haben es abgelehnt. Damit war klar, das Ganze war erstmal auf Eis gelegt. Die machen ihre Sachen und wir unsere. […] Wir hatten weiterhin mit ihnen Kontakt, aber es war klar, gemeinsame Aktionen wurden nicht mehr geplant. Das war erstmal abgesagt.“2413 Im Hinblick auf die Zeit nach den Sondierungsgesprächen identifizier­ te Rollnik Vorsicht und Misstrauen als Faktoren, denen das Verhältnis zwischen beiden Akteuren unterlag.2414 Möglich gewesen sei insgesamt lediglich eine „sporadische Zusammenarbeit“2415, bei der die RAF „mit Papieren und anderen Dingen ausgeholfen“2416 habe. Laut Meyer bat die „Rote Armee Fraktion“ ihrerseits die „Bewegung 2. Juni“ im Frühjahr 1977 um das Bereitstellen von Schusswaffen, welche im Anschluss in die JVA Stuttgart-Stammheim eingeschleust werden sollten.2417 Während die Inhaftierten beider Gruppen in Gestalt eines Hungerstreiks ab dem 29. März 1977 eine gemeinsame Aktion ausführten, sich dabei laut Meyer auf dieselben Forderungen festlegten und obendrein in einem Telefonge­ spräch zwischen Gudrun Ensslin und Ronald Fritzsch abstimmten,2418 erwies sich der außerhalb der Gefängnisse in der Kooperation etablierte Status quo rasch als problematisch. Ursächlich hierfür war das Attentat der RAF auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback am 7. April 1977 in Karlsruhe. Zum Zeitpunkt der Tat sollen sich Angehörige der B2J zufällig ebenfalls in der Stadt befunden haben und ohne Vorwarnung in polizeili­

2413 2414 2415 2416 2417 2418

Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 27. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110. Vgl. Meyer 2008, S. 390. Vgl. Horchem 1986, S. 5; Meyer 2008, S. 356, 358; Aust 2020, S. 694.

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che Fahndungsmaßnahmen geraten seien: „Sie [die Mitglieder der ‚Roten Armee Fraktion‘] hatten uns vorher nichts gesagt. Wir waren natürlich […] stinksauer.“2419 Das mit dem Anschlag getroffene Ziel nahmen indes zumindest die in Haft befindlichen Männer der B2J wohlwollend zur Kenntnis: „Mitleid mit dem obersten Verfolger der Republik hatten wir nicht“2420, schrieb Meyer. Was den in Freiheit operierenden Angehörigen der B2J widerfuhr, war zuvor in nahezu identischer Konstellation der RAF zu einem Ärgernis geraten, wobei nicht die in der Bundesrepublik aktive „Bewegung 2. Juni“, sondern ein unabhängig agierender, selbsterklärter Ableger verantwortlich zeichnete. Im März 1977 war Silke Maier-Witt nach Stockholm gereist. Unter der Legende einer Touristin legte sie am Rande der Sitzungen der Sozialistischen Internationale das Fundament für ein Kennverhältnis zu Ingvar Carlsson, dem schwedischen Wohnungsbauminister. Profit konnte die „Rote Armee Fraktion“ aus dieser Lage gleichwohl nicht schlagen, da die Sicherheitspolizei des Landes am 1. April 1977 eine mehr als 20 Perso­ nen starke „Auslandsfiliale“2421 der „Bewegung 2. Juni“ um den Ende 1972 wegen seiner Verwicklung in die „Rote Ruhrarmee“ nach Schweden ge­ flohenen Norbert Kröcher sowie seinen Mitstreiter Manfred Adomeit zer­ schlug. Aufgrund dieser Exekutivmaßnahme sah sich die RAF gezwungen, anhaltende Verbindungen zu Carlsson als Risiko zu werten und abzubre­ chen.2422 Kröcher und Adomeit, die Anfang der 1970er Jahre in Westberlin Verbindungen zur B2J gepflegt hatten, durchliefen von 1975 an unter anderem mit einem Banküberfall Vorbereitungen für eine Entführung von Anna-Greta Leijon, der ehemaligen schwedischen Ministerin für Ein­ wanderungsfragen. Als Legitimation hatte ihnen Leijons Entscheidung ge­ dient, im Nachgang zur Botschaftsbesetzung im April 1975 in Stockholm die Genehmigung für das Ausweisen des schwer verletzten RAF-Mitglieds Siegfried Hausner zu erteilen. Hausner war nach der Landung in Deutsch­ land verstorben. Das Ziel Kröchers und der anderen Gruppenmitglieder bestand darin, über die Freiheitsberaubung acht Angehörigen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ die Haftentlassung zu ermöglichen.2423 Angeblich hatte der Zirkel vor seiner Zerschlagung zunehmend die Zweckmäßigkeit 2419 2420 2421 2422 2423

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 74. Meyer 2008, S. 358. Kröcher 1998. Vgl. Horchem 1988, S. 126; Wunschik 1997, S. 384-385. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 119; Der Spiegel 1979b, S. 47-49; Peters 2008, S. 370; Wunschik 2006b, S. 552; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 270-271.

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der Entführung bezweifelt und daher den Entschluss getroffen, die Tat nicht durchzuführen. Kröcher gab an, sich zum Zeitpunkt seiner Festnah­ me mit der Rückkehr nach Westberlin befasst zu haben.2424 Zur Vermeidung von Situationen, wie sie sich in kurzer Abfolge in Stockholm und Karlsruhe entwickelt hatten, sollen die „Rote Armee Frak­ tion“ und die „Bewegung 2. Juni“ im Sommer 1977 die Vereinbarung getroffen haben, der jeweils anderen Gruppe in Zukunft grundlegende Informationen zu geplanten Aktionen rechtzeitig bekannt zu geben.2425 In diesem Zeitraum sei überdies die Intention der B2J konkreter geworden, mit einer Aktion finanzielle Mittel zu beschaffen. Die erlangten Gelder sollten nach Vorstellungen der Mitglieder zum einen die pekuniäre Lage der „Bewegung 2. Juni“ längerfristiger als bislang absichern, zum anderen einen Ausgangspunkt für eine großangelegte Operation bilden, in der die B2J und die „Rote Armee Fraktion“ arbeitsteilig dem Anspruch der „Gefangenenbefreiung“ nachkommen.2426 Trotz der unergiebigen Treffen bestand aus Sicht von Rollnik weiterhin eine grundsätzlich aufgeschlosse­ ne Haltung gegenüber der RAF: „Wir wollten mit ihnen zusammen kämp­ fen“2427. Die Gruppe wagte sogar, den Schulterschluss mit der „Roten Ar­ mee Fraktion“ öffentlich als zwangsläufige, unausweichliche Entwicklung darzustellen, von der beide Akteure profitieren könnten. Entsprechende Aussagen fanden sich in der linksextremistischen Zeitschrift „Informati­ ons‑Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten“. Dort ließ die „Bewegung 2. Juni“ in der Ausgabe 184 vom 2. Juli 1977 verlautbaren: „[D]er wille zur revolution eines jeden genossen, der in der guerilla kämpft, die notwendigkeit, unzerschlagbar zu werden, wird die wider­ sprüche unter den gruppen auflösen und den kampf vereinheitlichen. So und nicht anders ist die logik der guerilla.“2428 Spätestens ab Mai 1977 legte die B2J die Grundsteine für die „Geldbeschaf­ fungsaktion“, was durch den Beitritt Klaus Viehmanns im Monat zuvor erleichtert wurde.2429 Um nicht erneut Ziel ausgereifter sicherheitsbehörd­ licher Maßnahmen zu werden, habe der Zirkel davon abgesehen, die in­ zwischen für die Terrorismusbekämpfung gewappnete Bundesrepublik als 2424 2425 2426 2427 2428

Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 273, 335. Vgl. Wunschik 2006b, S. 553. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75; Viett 2007, S. 169. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75. Bewegung 2. Juni, zit. n. Bundesministerium des Innern 1978, S. 113. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden. 2429 Vgl. Dietrich 2009, S. 61-62, 119.

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Tatort auszuwählen. Stattdessen entschied man sich für das in sicherheits­ politischen Fragen – vermeintlich – unerfahrenere Nachbarland Öster­ reich.2430 Im Umfeld der Wiener Universität gewann die „Bewegung 2. Ju­ ni“ zwei linksextremistische Unterstützter, von denen sich einer – Thomas Gratt – dazu bereit erklärte, einen Beitrag zum vorgesehenen Delikt zu leisten.2431 In Deutschland setzte die als potentieller Kooperationspartner identifizierte RAF inzwischen ihre Gewalthandlungen fort. Am 30. Juli 1977 ermordete die Zweite Generation den Vorstandssprecher der Deut­ schen Bank, Jürgen Ponto, nach einem gescheiterten Entführungsversuch in seinem Wohnhaus in Oberursel.2432 Anders als die Tötung Siegfried Bu­ backs zog dieses Ereignis in den Reihen der inhaftierten Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ Unverständnis nach sich. Hintergrund der Reaktion bildeten die eigenen Erfahrungen in der gescheiterten Freiheitsberaubung Günter von Drenkmanns im November 1974. Lakonisch dokumentierte Meyer seine damalige Wertung zum Tod Pontos: „Sie [die Aktivisten der ‚Roten Armee Fraktion‘] hatten aus der fehlgeschlagenen Drenkmann-Ent­ führung nichts gelernt.“2433 Die Wahrnehmung zum Anschlag hielt die in Haft sitzenden Mitglieder nicht davon ab, sich einem von der RAF am 9. August 1977 initiierten Hungerstreik anzuschließen. Bis zum Ende des Streiks am 2. September 1977 hätten sie der „Roten Armee Fraktion“ beigestanden.2434 In Wien nahm die Ausrichtung der „Geldbeschaffungsaktion“ Gestalt an. Spätestens im August 1977 kamen Goder, Plambeck, Siepmann, Roll­ nik, Viehmann und Viett darin überein, finanzielle Mittel mithilfe einer Entführung zu erpressen.2435 Das Festlegen auf diesen Modus Operandi diente – so Viett – vor allem der Eigensicherung der Gruppe: „Banküber­ fälle waren im Verhältnis von Aufwand und Risiko nicht mehr vernünf­ tig.“2436 Gratt mietete Ende August 1977 in der Wiener Webgasse eine Wohnung an, deren Inneneinrichtung der Zirkel anschließend an die Erfordernisse der Freiheitsberaubung anpasste. Wie bei der Lorenz‑Entfüh­ rung lautete der Unterschlupf „Volksgefängnis“.2437 Als potentielle Opfer zogen die Aktivisten den Vorstandsvorsitzenden der Firma Porsche sowie 2430 2431 2432 2433 2434 2435 2436 2437

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75-76; Viett 2007, S. 169. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 76; Dietrich 2009, S. 119. Vgl. Peters 2008, S. 388-390. Meyer 2008, S. 362. Vgl. Horchem 1986, S. 5; Meyer 2008, S. 362-363. Vgl. Wunschik 2006b, S. 553; Dietrich 2009, S. 119. Viett 2007, S. 169. Ähnlich Rollnik/Dubbe 2007, S. 21, 75. Vgl. Dietrich 2009, S. 119-120.

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den Unternehmensführer Walter Palmers in Betracht. Beide seien ab Sep­ tember 1977 von der Gruppe ausgeforscht worden.2438 Die Wahl fiel nach kurzer Sondierung auf Palmers, dem die Entscheidungsgewalt über einen Textilkonzern oblag. Die während der Entführung notwendigen Verhand­ lungen sollen der „Bewegung 2. Juni“ mit Blick auf sein familiäres Umfeld und der dortigen „Verteilung von Verantwortlichkeiten“2439 erfolgverspre­ chender erschienen haben. Die weiteren Vorkehrungen nahm lediglich ein Teil der B2J wahr. Die übrigen Mitglieder hätten in Italien einen „logistischen Stützpunkt“2440 aufgebaut. Zu diesem Zeitpunkt habe die Gruppe von den Plänen der „Roten Armee Fraktion“ gewusst, eine spektakuläre Aktion in der Bundesrepublik zu unternehmen. Entsprechende Andeutungen hatte die RAF laut Rollnik und Viett gegenüber der „Bewegung 2. Juni“ gemacht. Hiermit verbunden worden sei zudem die Empfehlung, einzelnen Regionen Deutschlands nach Möglichkeit fernzubleiben.2441 Die B2J soll ihrerseits die „Rote Ar­ mee Fraktion“ von der in Österreich beabsichtigten „Geldbeschaffungsak­ tion“ in Kenntnis gesetzt haben.2442 Das zuvor vereinbarte gegenseitige Unterrichten berücksichtigten demnach offenbar beide Zirkel gleicherma­ ßen. Animositäten blieben dennoch nach wie vor nicht aus. Wie Viett spä­ ter in Erfahrung bringen sollte, wertete die RAF die Aktivitäten der „Bewe­ gung 2. Juni“ in Wien in einer Mischung aus Ironie und Verachtung als „Banditen-Aktion“2443 ab. Den eigenen Handlungen schrieben sie dagegen die Fähigkeit zu, politische Entwicklungen zu beeinflussen.2444 Als sich am 5. September 1977 die Nachrichten zur Entführung des Arbeitgeber­ präsidenten Hanns Martin Schleyer verbreiteten, welcher ein Feuergefecht mit vier Todesopfern vorausgegangen war,2445 setzte unter den Inhaftierten ebenso wie unter den außerhalb der bundesrepublikanischen Haftanstal­ ten operierenden Aktivisten der B2J Ernüchterung ein. Diese bezog sich ausdrücklich nicht auf die Person Schleyers, sondern auf die Umstände der Tat, mit der die „Rote Armee Fraktion“ das Freilassen unter anderen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan‑Carl Raspe zu erzwingen

2438 2439 2440 2441 2442 2443 2444 2445

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75; Viett 2007, S. 169; Dietrich 2009, S. 120. Viett 2007, S. 169. Ebd. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 74; Viett 2007, S. 172. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75. Viett 2007, S. 171. Vgl. ebd. Vgl. Peters 2008, S. 403-404.

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suchte.2446 Meyer bot einen Einblick in das Meinungsbild der in Haft befindlichen Angehörigen der Gruppe: „Vier tote Polizisten, au warte, das ist ja wie im Krieg! Verdammt! Haben sich die Leute [die ‚Rote Armee Fraktion‘] damit nicht gleich alle Türen zugeworfen? […] Die Figur des Arbeitgeberpräsidenten war schon okay, der Boss der Bosse mit Nazivergangenheit machte mir keine Probleme, aber die vier Toten […]. Unsere […] gemeinsame Freistunde lief ziemlich einsilbig ab. ‚Schleyer ja, aber…typisch RAF. Immer eine Nummer zu groß.‘“2447 Aus Rollniks und Vietts Selbstzeugnissen ergaben sich die Auffassungen der „Aktiven“. Viett schrieb dazu: „Meine erste Reaktion war Unverständnis: Wie konnten sie so eine Aktion mit vier geplanten Toten beginnen! Andererseits empfand ich auch Bewunderung und war überzeugt, dass Schleyer genau die rich­ tige Person für eine Befreiungsaktion war, als zentrales Beispiel für den bestimmenden Einfluss der Elite des Dritten Reiches auf die BRD und als Austauschperson für die geforderten Gefangenen, als höchster Funktionär der Wirtschaft.“2448 Rollnik bot eine detaillierte Schilderung zur Dynamik, welche die Aktion gegen Schleyer innerhalb der „Bewegung 2. Juni“ nach sich zog. Mit Sorge blickten die Mitglieder vor allem auf die drohenden Konsequenzen der in Deutschland eskalierenden terroristischen Gewalt. Die „Rote Armee Fraktion“ sahen sie dabei in einer Sackgasse: „Die Entführung von Schleyer platzte in unsere Vorbereitungen zu Palmers. Wir haben überlegt: Machen wir überhaupt weiter? Als wir hörten, was da lief, war uns sofort klar, diese Aktion wird die ganze Bundesrepublik und die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und den bewaffneten Gruppen total verändern und die beeinflusst uns alle. Und es war auch klar, dass durch Schleyer allein die Gefange­ nen nicht freikommen würden. […] Dass es vier Tote gab, und dass […] nur Schleyer [entführt worden] war. […] Für uns war klar, dass die Schmidt-Regierung unter diesen Umständen nicht nachgeben wür­ de.“2449 2446 2447 2448 2449

Vgl. ebd., S. 410. Meyer 2008, S. 363. Viett 2007, S. 172. Rollnik/Dubbe 2007, S. 77.

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6.2 Aktionsphase

Die in der „Bewegung 2. Juni“ präsenten Befürchtungen zum Ausgang der gegen Schleyer gerichteten Freiheitsberaubung nahmen im Laufe der Wochen nach dem 5. September 1977 ein Ausmaß an, das ein ta­ tenloses Beobachten der Situation augenscheinlich nicht mehr erlaubte. Karl‑Heinz Dellwo – ein Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ – machte den erfolglosen Versuch der B2J deutlich, die RAF zum Einlenken zu bringen: „Von der Bewegung 2. Juni […] war den Illegalen die Einschätzung mitgeteilt worden, dass die Schleyer-Sache doch offenkundig gelaufen sei und man die Aktion beenden sollte. Das wollten die Illegalen der RAF aber nicht sehen.“2450 Ungeachtet der kompromisslosen Haltung der „Roten Armee Fraktion“ verfolgte die „Bewegung 2. Juni“ weiterhin die anhaltende Pattsituation. Die anfänglich vorherrschende Skepsis der B2J schlug spätestens mit den Ereignissen ab dem 13. Oktober 1977 gänzlich in Fassungslosigkeit um: Ein „Kommando“ der von Wadi Haddad geführten „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ brachte ein Flugzeug der „Lufthansa“ auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main mit Gewalt unter seine Kontrolle.2451 Die Tat soll­ te den Forderungen der RAF Nachdruck verleihen und war mit dieser abgesprochen worden.2452 In den Augen der Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ überschritt sie eine Grenze des „bewaffneten Kampfes“. Reinders dokumentierte die Reaktion der Inhaftierten, welche aufgrund einer Kon­ taktsperre nur spärlich Informationen zur „Offensive ´77“ der RAF erhiel­ ten:2453

2450 Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 133. Stefan Wisniewski, Mitglied der Zwei­ ten Generation der RAF, berichtete 1997 in einem Interview ebenfalls von Kri­ tik, welche im Laufe der Schleyer-Entführung an die „Rote Armee Fraktion“ herangetragen worden sein soll. Wer diese Kritik äußerte, ließ er allerdings im Gegensatz zu Dellwo offen. Die in den kritischen Aussagen vertretene Argumentation legt indes die Urheberschaft eines gewaltbereiten Akteurs nahe: „Wir sind sogar während der Aktion von einer anderen Gruppe kriti­ siert worden, dass wir nicht die Aktion beendet haben, indem wir Schleyer erschießen. Sie haben gesagt, dadurch, dass wir das hinauszögern und auf die Verschleppungstaktik des Krisenstabes [der Bundesregierung] eingehen, machen wir es anderen unmöglich, bei späteren Gefangenenbefreiungen noch ernstgenommen zu werden.“ Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 54. 2451 Vgl. Peters 2008, S. 430-431. 2452 Vgl. ebd., S. 427. 2453 Vgl. Klöpper 1987, S. 68; Reinders 2003, S. 142; Meyer 2008, S. 364-365.

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„Die Meldungen über die Flugzeugentführung haben uns stark scho­ ckiert, besonders die Erschießung des Flugkapitäns. Wir hatten […] [dies] nicht für möglich gehalten“2454. Rollnik blickte in einem vergleichbaren Tenor auf den Akt der Luftpirate­ rie zurück, wobei sie in ihren Ausführungen auch dem Vorwurf Raum bot, die RAF habe naheliegende Alternativen ignoriert. Ihren Angaben zufolge wäre die B2J bei einer entsprechenden Bitte der „Roten Armee Fraktion“ durchaus in der Lage gewesen, die Schleyer‑Entführung mit einer eigenen terroristischen Aktion zu flankieren. Dies hätte, so legte sie nahe, die RAF vor der Inanspruchnahme der von Wadi Haddad gebotenen Hilfe und damit vor einer folgenreichen Fehlentscheidung bewahrt: „Um das Blatt doch noch zu wenden, hat die RAF den politischen und moralischen Fehler gemacht, die Forderung nach Freilassung der Gefan­ genen mit der Entführung der ‚Lufthansa‘‑Maschine nach Mogadischu zu verbinden. Wir waren, wie die übrige Linke, zum Zuschauen ver­ urteilt. Die RAF hatte nichts mit uns abgesprochen. Wenn sie das getan hätte, so hätten wir statt der Flugzeugentführung zusätzlich eine andere Aktion machen können. Die Kapazität als Gruppe hatten wir damals. Wir hätten keine Entführungsaktion wegen Geld gemacht, sondern eine andere, um die Forderungen noch zu unterstützen. Aber wir waren nicht einbezogen worden und auf die Schnelle konnten wir jetzt nicht reagieren. Wir standen vor vollendeten Tatsachen und mussten erfahren, die ganze Zukunft wird von diesen Geschehnissen geprägt werden.“2455 Viett erkannte die gesamte Dimension der Aktion erst mit dem endgülti­ gen Scheitern der „Offensive ´77“, die ihren Endpunkt im Selbstmord Baaders, Ensslins und Raspes am 18. Oktober 1977 fand:2456 „Mit angehaltenem Atem erlebte ich […] die unerhörte Eskalation durch die Flugzeugentführung mit, allerdings als Zuschauerin. Erst als das palästinensische Kommando vernichtet, die Gefangenen tot und Schleyer erschossen worden war, habe ich schockiert gedacht: Mein

2454 Reinders 2003, S. 142. 2455 Rollnik/Dubbe 2007, S. 78. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. 2456 Vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 159.

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6.2 Aktionsphase

Gott, das war eine ganz falsche Aktion, wie konnten sie sich nur so überschätzen.“2457 Unter den Inhaftierten der B2J breitete sich eine nahezu identische Stim­ mung aus. Ihre Kontaktsperre hob die Justiz am 20. Oktober 1977 auf. Die Informationen, die Meyer aus dem Rundfunk erhielt, lösten bei ihm Trauer und Entsetzen aus: „Flugzeug gestürmt, Geiselnehmer erschossen, Baader, Ensslin, Raspe tot aufgefunden. Schleyer erschossen im Kofferraum eines Autos. Ich konnte das Gehörte nicht fassen. Die Genossen tot? Ich konnte die Tränen nicht aufhalten. Noch bevor ich alle Details erfuhr, ahnte ich schon, dass es zu einem politischen Desaster und einer menschlichen Tragödie gekommen sein musste.“2458 Den außerhalb der Haftanstalten agierenden Aktivisten habe sich die Frage gestellt, ob das Festhalten an der Entführung des Unternehmensführers Palmers angesichts der Entwicklungen in der Bundesrepublik geboten scheint. Die drängende Notwendigkeit, Geldbeträge zu beschaffen, sei schlussendlich aber gewichtiger gewesen.2459 Am 9. November 1977 setz­ ten die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ ihre Planungen in die Tat um. Vor seinem Wohnhaus in Wien ergriffen unter anderen Gratt, Viett und Kröcher-Tiedemann Walter Palmers2460 und brachten ihn zum aufgebau­ ten „Volksgefängnis“ in der Webgasse. Am Tatort hatten sie einen Zettel hinterlassen, auf dem die Forderung nach 50 Millionen Schilling Lösegeld abgedruckt war. Dieses sollte in verschiedenen Währungen bereitgestellt werden. Nach wenigen Tagen und dem Austausch mehrerer Botschaften mit der Familie von Palmers fassten die Entführer den Entschluss, die bis dahin bereitgestellte Geldsumme anzunehmen und die Übergabe ein­ zuleiten. Hierzu ließen sie den Familienangehörigen Palmers‘ die Instruk­ tion zukommen, das Wohnhaus des Unternehmers an einem festgelegten Zeitpunkt mit Koffern in mehreren Fahrzeugen zu verlassen und zu unter­ schiedlichen Örtlichkeiten zu fahren. Bei einem Teil der Familie sollte dies die Aufmerksamkeit der zwischenzeitlich zur Entführung informierten österreichischen Polizei erregen; Ehefrau und Sohn hingegen waren aufge­ fordert, eine polizeiliche Beobachtung zu vermeiden. Das Geld, das die 2457 Viett 2007, S. 172. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. 2458 Meyer 2008, S. 365. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt wor­ den. 2459 Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 78. 2460 Vgl. Der Spiegel 1979a, S. 74.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

Familie in einem von der „Bewegung 2. Juni“ vorgegebenen Kofferfabrikat sowie einem Stoffbeutel platziert hatte, trug der Sohn bei sich. Diesen ließ die „Bewegung 2. Juni“ nach und nach verschiedene Cafés aufsuchen. Zum Abschluss erhielt er die Weisung, in einen PKW einzusteigen.2461 Im Fahrzeug kamen Überlegungen zur Umsetzung, welche in der B2J angeb­ lich bereits 1974 im Vorfeld der Lorenz‑Entführung entstanden waren:2462 Bei dem Automobil handelte es um ein fingiertes Taxi, dessen Fahrer dem Sohn eine Notiz überreichte. Entsprechend der darin skizzierten Abläufe hinterließ er nach Ankunft an einem Hotel in Wien seinen eigenen Koffer sowie den Stoffbeutel im Taxi und stieg mit einem ähnlichen, allerdings leeren Gepäckstück aus, das die „Bewegung 2. Juni“ im PKW unterge­ bracht hatte. Das – vermeintliche – Taxi fuhr anschließend davon.2463 Die B2J erbeutete damit umgerechnet etwa 4,3 Millionen DM.2464 Das „Volksgefängnis“ in der Webgasse löste die Gruppe nach Beseiti­ gung von Spuren am 15. November 1977 auf. Gratt beabsichtigte, mit einer Teilmenge des erlangten Geldes Österreich den Rücken zu kehren. Er trennte sich von den übrigen Mitgliedern der B2J, die ebenfalls Wien verließen. Am 25. November 1977 geriet Gratt bei einer Grenzkontrolle im schweizerischen Chiasso in Haft. Bei sich trug er Bargeld verschiedener Währungen, das etwa zwei Millionen Schilling entsprach.2465 Die übrigen Aktivisten des Zirkels sollen nach Italien gereist sein. Dort sei die Absicht bestimmend geworden, „im europäischen Ausland eine solide Arbeits- und Lebenslogistik [zu] schaffen, von der aus wir [die ‚Bewegung 2. Juni‘] in Ruhe neue politische Kontakte in der BRD aufbauen konnten.“2466 Zu diesem Vorhaben tauschte sich die B2J offenbar mit der „Roten Ar­ mee Fraktion“ aus. Rollnik sprach mit Blick auf den Zeitraum nach der Palmers-Entführung von sporadischen Treffen mit der RAF, in denen diese ebenfalls den Versuch befürwortet haben soll, „wieder Fuß zu fas­ sen“2467. Der „Deutsche Herbst“ sei dabei nicht zur Sprache gekommen. Eines der Gespräche habe Ingrid Siepmann wahrgenommen. Sie sei nach Bagdad gereist und dort auf die „Rote Armee Fraktion“ getroffen,2468 de­ ren Zweite Generation sich bis etwa zum Jahreswechsel 1977/78 im Irak 2461 2462 2463 2464 2465 2466 2467 2468

Vgl. Dietrich 2009, S. 121-126. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 64; Meyer 2008, S. 328. Vgl. Dietrich 2009, S. 127-128. Vgl. Horchem 1988, S. 56; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 81. Vgl. Dietrich 2009, S. 128. Viett 2007, S. 173. Rollnik/Dubbe 2007, S. 80. Vgl. ebd.

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6.3 Niedergang

aufgehalten habe. 2469 Derartige Dialoge wurden ergänzt um eine finanziel­ le Hilfsleistung. Der RAF übergab die „Bewegung 2. Juni“ – angeblich – einen bemerkenswerten Anteil der Summe, welche sie mit der gegen Wal­ ter Palmers gerichteten Freiheitsberaubung erlangt hatte. Eine solche Zu­ wendung erhielt auch die „Palestine Liberation Organization“. Viett brachte in ihrem Selbstzeugnis hervor, die PLO habe im Vergleich zur RAF eine geringere Geldmenge überreicht bekommen.2470 Basierend auf seinen Erinnerungen zu einem Gespräch, das er nach seinem Gefängnis­ ausbruch Ende Mai 1978 mit den an der Palmers-Entführung beteiligten Frauen der Gruppe abgehalten haben soll, bezifferte Meyer hingegen die beiden Akteuren gewährte finanzielle Unterstützung jeweils mit umge­ rechnet einer Million DM.2471 Zu den Gründen für den Geldtransfer äu­ ßerte sich Rollnik: „Wir wollten das Geld ja nicht für uns, um ein schönes Leben zu haben. Es sollte dem bewaffneten Kampf dienen und uns in die Lage versetzen, weiter Aktionen zu planen und weiterzukämpfen. Dass die RAF bewaffnet kämpfte, fanden wir richtig. Und dass die PLO kämpf­ te, fanden wir auch richtig. Also haben wir die beiden unterstützt. Das entsprach unserem Verständnis von Solidarität.“2472 6.3 Niedergang 6.3.1 „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“, Befreiung Till Meyers, Festnahmen in Bulgarien (1978) Die „Offensive ´77“ erwies sich nicht nur für die „Rote Armee Fraktion“ als folgenreich. In der „Bewegung 2. Juni“ brachte sie laut Meyer Kon­ flikte zwischen verschiedenen politischen Linien zum Ausbruch.2473 Diver­ gierende Auffassungen hätten bereits zuvor das Innenleben des Zirkels beeinflusst, seien jedoch stets angesichts gemeinsam ausgeführter Taten zurückgetreten.2474 Die nunmehr manifesten Friktionen entwickelten sich im Verhältnis zwischen zwei Strömungen: Auf der einen Seite standen

2469 2470 2471 2472 2473 2474

Vgl. Peters 2008, S. 477. Vgl. Viett 2007, S. 171. Vgl. Meyer 2008, S. 389. Rollnik/Dubbe 2007, S. 79. Vgl. Meyer 2008, S. 366. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 651; Meyer 2008, S. 342-343.

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diejenigen Aktivisten, welche mit Wort und Tat eine Nähe zur RAF such­ ten. Die andere Seite plädierte für ein Rückbesinnen auf die ursprüngli­ che Ausrichtung der B2J.2475 Die Auseinandersetzung erfasste zunächst – angeblich – ausschließlich die Gruppe der in Haft sitzenden Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“. Meyer, der bereits während der Entführung von Peter Lorenz die Anlehnung der von der B2J verbreiteten Erklärungen an den Duktus der „Roten Armee Fraktion“ favorisiert und dazu Kritik seiner Mitkämpfer erfahren haben soll,2476 schloss sich mit Andreas Vogel zusammen. Sie wandten sich mit einer der „internationalistischen Ausrich­ tung der RAF“2477 entlehnten Position gegen Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel, die in ihrer „Kernargumentation an dem alten Basisgueril­ la-Konzept fest[hielten]“2478 und folglich den Titel „Blues“ erlangten.2479 Ausgehend von diesem Paradigma hätte der „Blues“ harsche Bewertungen zum „Deutschen Herbst“ formuliert, die sich auf das Entführen der „Luft­ hansa“-Maschine und den Tod führender Aktivisten der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ bezogen. Der in linksextremistischen Kreisen populären These von der staatlichen Ermordung Baaders, Ensslins und Raspes sei er von Beginn an mit ausgesprochener Skepsis begegnet.2480 Die Konsequenzen der sich Ende 1977 zementierenden Differenzen hielt Meyer fest: „Wir sechs waren mittlerweile gespalten, obwohl niemand von uns, auch die Bewegung draußen nicht, die Spaltung wirklich wollte. Aber jetzt, wo uns nicht mehr der Wille zur Aktion einte, wuchs der politi­ sche Streit bis zur Feindschaft aus. Gemeinsame Diskussionen liefen nur noch über Dinge, die den Knastalltag betrafen. Der Blues schrieb seine Papiere und diskutierte seine Theorien, und wir die unseren. Jede Gruppe reklamierte für sich den richtigen politischen Weg. Und so vermischten sich die unterschiedlichen politischen Auffassungen mit persönlichen Animositäten, die oft verletzend und boshaft waren und sich in den langen Jahren der Haft noch steigern sollte.“2481 Ungeachtet der ideologischen und strategischen Unterschiede sollen sich die „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ regelmäßig zu den Möglich­ 2475 2476 2477 2478 2479 2480 2481

Vgl. Wunschik 2006b, S. 554; Korndörfer 2008, S. 253; Meyer 2008, S. 389. Vgl. Meyer 2008, S. 23. Meyer 2008, S. 366. Vgl. auch Wunschik 1998, S. 237, 241. Meyer 2008, S. 366. Ähnlich Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 115. Vgl. Danyluk 2019, S. 312. Vgl. Meyer 2008, S. 367-368. Ebd., S. 368-369.

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6.3 Niedergang

keiten eines Gefängnisausbruchs ausgetauscht haben.2482 Ihrer Flucht ver­ schrieben sich überdies die in Freiheit befindlichen Aktivisten der Gruppe, deren „illegale“ Struktur nach der Palmers-Entführung mit Ingrid Bara­ baß, Christian Möller, Regina Nicolai sowie mit Gudrun Stürmer verstärkt worden war, allerdings bereits am 20. Dezember 1977 durch die Festnah­ me Möllers und Gabriele Kröcher‑Tiedemanns an der Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich einen Rückschlag erlitten hatte.2483 KröcherTiedemann trat in der Haft – angeblich – der „Roten Armee Fraktion“ bei.2484 In diesem Zeitraum habe der Zirkel von Italien aus die eigene materielle und logistische Absicherung nicht zuletzt durch Reisen nach Belgien und Frankreich vorangetrieben. Neben gefälschten Ausweispapie­ ren wären Schusswaffen und Munition beschafft worden.2485 Wer Rollnik und Viett folgt, erkennt das Vorhaben der B2J, ihr Augenmerk abermals auf das Befreien von Inhaftierten zu lenken – dies, um den „Schock über den Ausgang der Schleyer-Entführung“2486 zu überwinden, „Zweifel und aufkommende Resignation zurückzudrängen“2487 und „den Sympathisan­ ten neue Hoffnung [zu] geben“2488. Goder und Viehmann seien mit dem Ziel nach Westberlin gereist, die Chancen einer Befreiung zu ermitteln.2489 Offensichtlich traten die außerhalb der Gefängnisse agierenden Aktivisten kurz darauf mit den in Moabit inhaftierten Mitgliedern in Kontakt und erbaten Überlegungen zu einem Ausbruch. Zu Beginn des Jahres 1978 hätten die „Gefangenen“ ein erstes Schema kommuniziert, was von den in Freiheit befindlichen Angehörigen aufgrund der erforderlichen perso­ nellen Ressourcen als nicht realisierbar abgelehnt worden sei. Laut Meyer hielten die „Gefangenen“ anschließend nach einer anderen Option Aus­ schau. Sie identifizierten zwar einen weiteren Fluchtweg, stellten dabei aber fest, dass dieser lediglich von zwei der sechs „Gefangenen“ in An­ spruch genommen werden könnte. Dessen ungeachtet, teilten sie die neue Planung den aktiven Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ mit.2490

2482 Vgl. ebd., S. 369. 2483 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 120; Der Spiegel 1980c, S. 28; Viett 2007, S. 174; Danyluk 2019, S. 310-311. 2484 Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 318. 2485 Vgl. Viett 2007, S. 174. 2486 Ebd., S. 173. 2487 Rollnik/Dubbe 2007, S. 81. 2488 Viett 2007, S. 174. 2489 Vgl. ebd. 2490 Vgl. Meyer 2008, S. 370.

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Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel widmeten sich nahezu zeitgleich einer vertieften Auseinandersetzung mit dem „bewaffneten Kampf“ der „Roten Armee Fraktion“ und entwickelten im Zuge dessen die Bereit­ schaft, ihre Auffassungen zur „Offensive `77“ öffentlich zu machen. Der „Blues“ adressierte einen Brief an den Ende Januar 1978 abgehaltenen Kongress „Treffen in TUNIX“,2491 der von undogmatischen Kräften des bundesrepublikanischen Linksextremismus organisiert worden war und ein Gegengewicht zu der aufgrund des „Deutschen Herbstes“ intensivier­ ten Terrorismusbekämpfung in Westdeutschland bilden sollte.2492 Wäh­ rend die Aktionen der „Revolutionären Zellen“ in der Bundesrepublik in ihrem Brief positive Erwähnung fanden,2493 blieb die Bewertung der Politik der „Roten Armee Fraktion“ ablehnend. Der RAF warfen die vier Inhaftierten „Resignation“2494 und „Fatalismus“2495 vor. Zentraler Bezugs­ punkt waren dabei auch die Ereignisse im „Deutschen Herbst“: „Wir haben alle und immer gesagt, die Aktion und Politik der Guerilla richtet sich niemals gegen das Volk, immer gegen die Herrschenden. Aber: wer sitzt da eigentlich in den Urlauber‑Maschinen der BilligRoute nach Mallorca??“2496 Sich selbst gaben sie den Titel einer „Revolutionären-Guerilla-Opposition“ (RGO), welche aus der „Konkursmasse der Bewegung 2. Juni“2497 hervor­ gegangen sei. Die Bildung der RGO ordneten sie im März 1978 in einem Interview ein, wobei sie den Widerstreit der politischen Lager innerhalb der B2J nicht als Spaltung verstanden wissen wollten. Der „Blues“ plädier­ te für eine Diskussion zwischen den beiden Strömungen, von denen eine die „offizielle Linie des 2. Juni“2498, die andere eine zu dieser Linie be­ stehende Gegenmeinung repräsentiere. Er bekräftigte außerdem seine Ein­ schätzungen zur „Offensive `77“ der RAF. Die Aktionen gegen Buback, Ponto und Schleyer seien grundsätzlich begrüßenswert, das Entführen der Passagiermaschine der „Lufthansa“ dagegen nicht:

2491 2492 2493 2494 2495 2496 2497 2498

Vgl. Klöpper 1987, S. 70. Vgl. Sontheimer 2008; Göpfert/Messinger 2017, S. 147. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 644. Ebd. Ebd., S. 645. Ebd. Ebd., S. 650. Ebd., S. 651.

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„Zu Buback, Ponto und Schleyer kann es nur eine praktische Kritik geben, das bezieht sich auf taktische Unterschiede, sonst gibt es keine Kritik. Es waren Schweine der übelsten Sorte, es waren die richtigen, die Schreibtischtäter […]. […] Es [die Flugzeugentführung] war ein Fehler. Fehler werden gemacht, um sie in Zukunft zu vermeiden.“2499 Nicht nur stießen die Erklärungen der „Revolutionäre-Guerilla-Oppositi­ on“ bei Meyer und Vogel auf Ablehnung, überdies sollen sie die außerhalb der Gefängnisse agierenden Mitglieder in Rage versetzt haben. Meyer und Vogel hätten dem „Blues“ mangelhafte Solidarität unterstellt, die „Akti­ ven“ in den Aussagen Fritzschs, Klöppers, Reinders‘ und Teufels eine Ab­ kehr vom „bewaffneten Kampf“ gesehen.2500 Die Texte der Vier „[gingen] dem 2. Juni draußen politisch völlig gegen den Strich“2501. Die in Freiheit befindlichen Angehörigen der Gruppe sprachen der RGO laut Meyer sogar das Recht ab, unter dem Namen „Bewegung 2. Juni“ weitere Papiere zu veröffentlichen.2502 Der in den Texten der RGO deutlich werdende Zerfall der B2J schlug sich im Frühjahr 1978 in den Planungen nieder, welche die in Freiheit agierenden Strukturen der Gruppe mit dem Ziel der „Gefangenenbefrei­ ung“ vornahmen. Da laut Einschätzung der Inhaftierten nur zwei der in Haft befindlichen Mitglieder zum Ausbruch verholfen werden konnte, stellte sich unweigerlich die Frage, auf welche der sechs Personen die Wahl fallen sollte. Die „Illegalen“ entschieden sich für Meyer und Vogel. Dies hätten sie Meyer in einem Kassiber mitgeteilt. Er und Vogel seien aufgefordert worden, den „Blues“ nicht in die weiteren Vorbereitungen einzubinden.2503 Den Ausschlag gegen Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel hätten deren abweichende politische Vorstellungen sowie die aus ihnen resultierenden Brüche gegeben. „[D]er Kontakt [zur RGO war] sehr schwierig oder zerstört“2504, so Rollnik. Meyer und Vogel hingegen wären der Agenda der „Illegalen“ gefolgt. Für Meyer habe zudem sein – angebli­ cher – Ideenreichtum im „bewaffneten Kampf“ gesprochen.2505 Zur Umsetzung der Flucht reisten Plambeck, Rollnik, Siepmann und Viett ebenfalls nach Westberlin. Viett sei auf dem Weg am Ostberliner

2499 2500 2501 2502 2503 2504 2505

Ebd., S. 653-654. Vgl. Meyer 2008, S. 371. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 373. Rollnik/Dubbe 2007, S. 81. Vgl. ebd.; Meyer 2008, S. 372.

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Flughafen in Schönefeld nach einer Passkontrolle von einem Beamten des Ministeriums für Staatssicherheit befragt worden. In dem etwa zweistün­ digen Gespräch habe sie mit kursorischen Aussagen eine bevorstehende Aktion der „Bewegung 2. Juni“ bestätigt und dem Gegenüber ein Zuge­ ständnis entlockt, demzufolge keinerlei Kooperation zwischen dem MfS und bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden existiere, die die B2J im Falle einer Flucht aus Westdeutschland gefährden könne.2506 In West­ berlin trafen die Aktivisten die für den Ausbruch erforderlichen Vorkeh­ rungen. Noch während dieser Phase soll sich Klaus Viehmann – aus per­ sönlichen Gründen – von der „Bewegung 2. Juni“ abgewandt haben.2507 Außerdem begann am 11. April 1978 unter Vorsitz des Richters Friedrich Geus das Gerichtsverfahren gegen die sechs inhaftierten Männer, dem die Medien angesichts der wesentlichen Anklagepunkte den Titel „Drenk­ mann-Lorenz-Prozess“ zuwiesen.2508 Am Morgen des 27. Mai 1978 suchten Angelika Goder, Gabriele Roll­ nik, Ingrid Siepmann und Inge Viett die Haftanstalt in Berlin‑Moabit auf, in der Fritzsch, Klöpper, Meyer, Reinders, Teufel und Vogel einsaßen2509 – vermutlich von Regina Nicolai begleitet.2510 Meyer und Vogel hatten zu­ vor ihren jeweiligen Rechtsbeistand zu einem Gespräch in die Haftanstalt gebeten. Beide erschienen gegen 8 Uhr an der Pforte des Gefängnisses und wurden – wie von der Gruppe vorgesehen – zu zwei Zellenräumen geführt, die für den Austausch zwischen Anwälten und ihren Mandaten bestimmt waren. Etwa 45 Minuten später meldeten sich zwei Aktivistin­ nen der B2J mit gefälschten Anwaltsausweisen am Einlass. Sie gaben vor, einen Häftling besuchen zu wollen. Ohne weitere Kontrollen führten Jus­ tizbeamte sie in das Innere des Gebäudes. Als sie den Gang mit den Zellen­ räumen erreichten, in denen sich Meyer und Vogel mit ihren Anwälten aufhielten, zogen sie unter ihren Mänteln Waffen hervor und bedrohten die Wärter. Eine der Waffen nahm ein Beamter in einem Gerangel an sich. Er flüchtete sich in den Raum, in dem Vogel saß, verschloss diesen und löste Alarm aus. Meyer hatte inzwischen eine weitere Waffe erlangt, welche die Frauen bei sich trugen. Da sie Vogel nicht aus der Zelle be­ freien konnten, traten sie ohne diesen den Weg zum Ausgang an. Dabei

2506 2507 2508 2509

Vgl. Viett 2007, S. 180. Ähnlich Meyer 2008, S. 383. Vgl. ebd., S. 188-189. Vgl. Der Spiegel 1980a, S. 57; Der Spiegel 1980e, S. 53; Meyer 2008, S. 372. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 108; Viett 2007, S. 181; Meyer 2008, S. 379. 2510 Vgl. Der Spiegel 1980c, S. 28.

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nahmen sie einen Justizvollzugsbeamten als Geisel. Als die drei Akteure das äußere Tor erreichten, dieses jedoch nicht sogleich geöffnet wurde, schoss Meyer dem Wärter in die Beine und ermöglichte damit die Flucht aus der Haftanstalt.2511 Mithilfe eines Bürgerhinweises entdeckte die Westberliner Polizei be­ reits am 29. Mai 1978 die Wohnung, in der die außerhalb der Gefäng­ nisse aktiven Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ Vorkehrungen für den Ausbruch getroffen hatten. Sie wurde zudem auf ein Fahrzeug aufmerk­ sam, das eine Aktivistin des Zirkels erworben hatte. Ein verdecktes Beob­ achten des PKW führte am 5. Juni 1978 zur Verhaftung Viehmanns.2512 Goder, Meyer, Nicolai, Rollnik, Siepmann und Viett entgingen den Fahn­ dungsmaßnahmen, indem sie Westberlin den Rücken kehrten. Über den S-Bahnhof in der Friedrichstraße wären sie kurz nach der Befreiung Mey­ ers in die Deutsche Demokratische Republik eingereist. Mithilfe der zu­ vor von Viett zum Ministerium für Staatssicherheit geknüpften Kontakte hätten sie die Grenzkontrolle am internationalen Bereich des Ostberliner Fernbahnhofs durchlaufen und anschließend in einem Zug Platz genom­ men, der über Prag und Belgrad nach Sofia fuhr. Von der bulgarischen Hauptstadt aus gelangten sie laut Meyer und Viett in eine Ferienanlage nahe Burgas, einer Stadt am Schwarzen Meer.2513 Der Aufenthalt sollte nicht nur der Erholung, sondern auch einem gemeinsamen Austausch für die künftige Agenda der B2J dienen.2514 Vorgesehen gewesen sei, spätes­ tens nach einigen Wochen in ein arabisches Land zu reisen.2515 Zu den Ergebnissen in Bulgarien machten die Aktivisten zum Teil widersprüchli­ che Ausführungen. Viett gab zu verstehen, man ging „der großen Grund­ satzdiskussion aus dem Wege“2516. Meyer sprach indes von „harten Diskus­ sionen darüber, wie es weitergehen sollte.“2517 Übereinstimmend führten beide aus, die NATO wäre in dieser Zeit zu einem wesentlichen Feindbild der „Bewegung 2. Juni“ erklärt worden.2518 Meyer schrieb ergänzend, dass die Gruppe sich auf ein Entführen des Generals Gerd Schmückle einigte, des stellvertretenden Befehlshabers des Nordatlantikpakts in Europa. Ihm

2511 Vgl. Der Spiegel 1978a, S. 33; Wunschik 1998, S. 237; Weinhauer 2006, S. 944; Dietrich 2009, S. 135-137. 2512 Vgl. Dietrich 2009, S. 139, 141. 2513 Vgl. Viett 2007, S. 196 - 198; Meyer 2008, S. 382-386. 2514 Vgl. Meyer 2008, S. 386. 2515 Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 83. 2516 Viett 2007, S. 198. 2517 Meyer 2008, S. 391. 2518 Vgl. Viett 2007, S. 199.

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sollten nach der Ergreifung militärische Informationen entlockt werden, um diese sodann propagandistisch zu nutzen. Erste Modalitäten der Tat seien in Bulgarien abgesteckt worden.2519 Ein weiteres zentrales Gesprächsthema bildete – angeblich – das Verhält­ nis der B2J zur „Roten Armee Fraktion“. Die kritische Auseinandersetzung Fritzschs, Klöppers, Reinders‘ und Teufels mit der in Mogadischu geschei­ terten Geiselnahme hätten sie einhellig als „unsolidarisches Verhalten“2520 aufgefasst und verurteilt. Grund hierfür war nicht der von ihnen vertrete­ ne Standpunkt, den die außerhalb der Gefängnisse aktiven Mitglieder im Allgemeinen teilten.2521 Vielmehr habe der „Blues“ mit dem öffentlichen Hervorbringen seiner Position „in der Situation der absoluten Niederlage und des staatlichen Triumphes“2522 über den Linksterrorismus Unmut erzeugt. Ungeachtet der Differenzen zur „Roten Armee Fraktion“ sollen sich Goder, Meyer, Nicolai, Rollnik, Siepmann und Viett gemeinsam für eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Zweiten Generation ausgespro­ chen haben. „Dabei ging es erstmal um gegenseitige logistische Unterstüt­ zung“2523, so Goder. Die Ferienanlage, in der die Angehörigen der B2J unterkamen, wurde von Touristen aus der DDR wie aus der Bundesrepublik besucht. Am 13. Juni 1978 erkannte ein in Berlin-Moabit eingesetzter Beamter, welcher vor Ort wohl Urlaub verbrachte, zufällig den aus der Haft entflohenen Till Meyer. Er verständigte bulgarische Sicherheitsbehörden, die allerdings untätig blieben. Zwei Tage später wandte sich die Deutsche Botschaft in Sofia an das Außenministerium Bulgariens und bat um die Verhaftung Meyers sowie um die Einreise deutscher Polizeibeamter, die die Festnahme unterstützen sollten. Die bulgarische Regierung stimmte diesem Vorgehen überraschend zu, woraufhin Angehörige des Bundeskriminalamtes nach Burgas flogen.2524 Am 21. Juni 1978 schloss sich Gudrun Stürmer – aus Italien kommend – den am Schwarzen Meer weilenden Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ an. Sie hatte den Entschluss gefasst, der „Bewegung 2. Juni“ beizutreten. Mit sich führte sie Bargeld und für die Ausreise der Gruppe aus Bulgarien vorgesehene gefälschte Dokumente.2525 In Burgas wurde sie von Goder, Meyer und Rollnik abgeholt. Nicolai, Siepmann 2519 2520 2521 2522 2523 2524 2525

Vgl. Meyer 2008, S. 392, 394. Meyer 2008, S. 389. Ebd., S. 388, 394. Ebd., S. 389. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 109. Vgl. Wunschik 1998, S. 239; Nehring 2015, S. 417. Vgl. Meyer 2008, S. 395; Dietrich 2009, S. 61-62, 143.

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6.3 Niedergang

und Viett warteten in der von der Gruppe genutzten Unterkunft.2526 In Be­ gleitung von Goder, Meyer und Rollnik kehrte Stürmer in einem Café ein. Die Beamten des BKA, die sie beobachtet hatten, nahmen sie fest. In einem Hotel wurden die vier Aktivisten von den Polizisten abgetastet, an­ schließend zum Flughafen gebracht und nach Köln geflogen.2527 Die Be­ freiung Till Meyers erwies sich damit „[a]ls spektakulärer Höhe- und gleichzeitig Wendepunkt“2528 in der Historie der B2J. 6.3.2 Prozesse, Grabenkämpfe, Zusammenschluss mit der „Roten Armee Fraktion“ (1978 bis 1980) Nicolai, Siepmann und Viett sollen am Abend des 21. Juni 1978 durch einen Radiobeitrag von der Verhaftung erfahren haben. Sie hätten ein Fahrzeug gemietet und wären nach Sofia gereist, wo sie laut Viett ein Flugzeug nach Prag bestiegen. Mit Unterstützung des Ministeriums für Staatssicherheit gelangten sie auf das Staatsgebiet der DDR. Zwei Wochen später wären die drei Mitglieder des Zirkels nach Bagdad geflogen.2529 Wie zuvor in Bulgarien habe sich ihnen zwangsläufig die Frage des weiteren Vorgehens gestellt. Viett hielt eigenen Aussagen zufolge an der Absicht fest, erneut in Europa einen Neubeginn zu wagen. Mit Regina Nicolai und der Aktivistin Juliane Plambeck, die ebenfalls in Bagdad eingetroffen war, sei sie daher nach Paris gereist, Ingrid Siepmann dagegen im Irak zurückgeblieben. Die bei ihr im Vorfeld der Befreiung Till Meyers auf­ gekommenen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des „bewaffneten Kampfes“ auf europäischem Boden hätten sich verfestigt und die Entscheidung be­ fördert, endgültig an die Seite der Palästinenser zu treten.2530 Sie kam vermutlich 1982 bei einem Bombenangriff des israelischen Militärs im Libanon ums Leben.2531 In Deutschland führten die Behörden Goder, Meyer, Rollnik und Stür­ mer nach und nach dem Strafvollzug in Berlin‑Moabit zu.2532 Meyer habe sich in einer Lage wiedergefunden, die seinem Haftalltag vor der Flucht 2526 2527 2528 2529 2530 2531

Vgl. Viett 2007, S. 199. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 85; Dietrich 2009, S. 144. Nehring 2015, S. 413. Vgl. Rabert 1995, S. 189; Wunschik 1998, S. 240; Viett 2007, S. 203-207. Vgl. Viett 2007, S. 183, 209. Vgl. Kahl 1986, S. 154; Jesse 1999, S. 205; Kraushaar 2013, S. 797-798; Danyluk 2019, S. 528. 2532 Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 111.

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ähnelte. Während er zu Andreas Vogel offenbar engen Kontakt pflegte, sei die Beziehung zu Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel weiterhin von Distanz geprägt gewesen. Dies habe sich bereits mit der ersten Freistunde gezeigt, in der er auf den „Blues“ traf: „Der Blues redete erst gar nicht mit mir, sondern grinste hämisch und machte Witzchen über unser Bulgarien-Desaster. Aber auch ich rückte mit keinem Wort der Entschuldigung raus und versuchte […] nicht zu erklären, wie die Situation damals gewesen war. Die Fronten waren total verhärtet.“2533 Als im Sommer 1978 ein Journalist des Nachrichtenmagazins „Stern“ für ein schriftliches Interview einen Fragenkatalog an die Inhaftierten der B2J schickte,2534 verschärfte sich der Konflikt. Die dem „Blues“ entgegenste­ henden „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ versuchten, mögliche Aus­ sagen Fritzschs, Klöppers, Reinders‘ und Teufels frühzeitig zu untergraben. Meyer, Rollnik und Vogel ließen dem für den „Stern“ verantwortlichen Verlagshaus Gruner und Jahr sowie der „Stern“‑Redaktion in Berlin einen Brief zukommen, in dem sie konstatierten, der „Blues“ sei nicht Teil der B2J. Ausdrücklich erfolgte eine Distanzierung von dem Schreiben der „Revolutionäre‑Guerilla-Opposition“ an den Ende Januar 1978 zusammen­ getretenen Kongress „Treffen in TUNIX“: „der inhalt und die politische intention dieses papiers entspricht abso­ lut nicht der meinung und der politischen linie der ‚bewegung 2. Ju­ ni‘, hat nichts mit dem zu tun, wie die ‚bewegung‘ war und wie sie ist, was sie will und was sie macht.“2535 Den „Stern“ forderten sie auf, eine Stellungnahme zu etwaigen Angaben von Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel zuzulassen. Sollte er ein Interview abdrucken, welches die vier „Gefangenen“ als Teil der „Bewe­ gung 2. Juni“ darstellte, würden rechtliche Konsequenzen folgen.2536 An­ ders als Meyer, Rollnik und Vogel ließ sich der „Blues“ bereitwillig auf die Fragen des Journalisten Wolfram Bortfeldt ein, der – basierend auf ihren Schilderungen – einen Artikel unter dem Titel „Die Unbeugsamen von der Spree“ erarbeitete. Die Endfassung beschlagnahmte die Justiz im November 1978 als Beweismittel im sogenannten Drenkmann-Lorenz-Pro­

2533 2534 2535 2536

Meyer 2008, S. 404. Vgl. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 115. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 679. Vgl. auch Wunschik 1998, S. 241-242. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 679.

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6.3 Niedergang

zess. Dem Nachrichtenmagazin sei eine Kopie zur Verfügung gestellt wor­ den, es sah allerdings von einer Publikation ab. Nichtsdestotrotz kam es noch im selben Monat zu einer Veröffentlichung.2537 Das Interview hatten Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel als Gelegenheit genutzt, erneut auf die „Rote Armee Fraktion“ einzugehen. Mit ironischem Unterton be­ schrieben sie das Verhältnis der „Bewegung 2. Juni“ zur RAF zunächst „als sehr erotisch und verwandtschaftlich.“2538 Kurz darauf zeichneten sie an­ hand der „Offensive ´77“ den wesentlichen Unterschied zwischen beiden Gruppen nach: „Die Flugzeugentführung nach Mogadischu war volksfeindlich. Es gibt sogar eine Theorie, wonach es ‚populistisch‘ sei, nach der Sympa­ thie des Volkes zu gieren und revolutionär, sich einen Scheißdreck drum [sic] zu kümmern. Wir haben uns für den Populismus entschie­ den“2539. Die von Bortfeldt gestellte Frage, ob die B2J vor ihrer Auflösung stehe, negierte der „Blues“. Gleichwohl sprach er von einem „weitgreifenden Umwandlungsprozess“2540, welcher die Situation der in Freiheit agieren­ den Strukturen der „Bewegung 2. Juni“ zutreffend beschrieb. Laut Viett bestimmte das in Bulgarien gewählte Feindbild NATO nach der Ankunft in Paris das Handeln der B2J. Nicht nur hätten die Aktivistinnen nach si­ cheren Unterkünften Ausschau gehalten und die eigene materielle Ausstat­ tung erweitert, sie sollen überdies Informationen zum Nordatlantikpakt zusammengetragen haben. Anders als in den Jahren zuvor mündeten diese Bemühungen allerdings nicht in einem uneingeschränkten Aktionswillen. Im Gegenteil: In der „Bewegung 2. Juni“ habe sich zusehends Perspektiv­ losigkeit ausgebreitet. Inge Viett, von der die übrigen „Illegalen“ aufgrund ihrer langjährigen Mitgliedschaft in der Gruppe Impulse erwartet hätten, beschrieb sich selbst mit Blick auf diese Phase als orientierungslos und überfordert.2541 Sie führte dies auf die vorangegangenen personellen Ein­ bußen der B2J, einen Bedeutungsverlust des „bewaffneten Kampfes“ in Deutschland sowie auf die Erfordernisse eines konspirativen Lebens zu­ rück:

2537 2538 2539 2540 2541

Vgl. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 115. Ebd., S. 120. Ebd., S. 122. Ebd., S. 121. Vgl. Viett 2007, S. 210-211.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

„Eine stabile Überzeugung entfaltet in komplizierten Phasen angemes­ sen hohe Energien, um sie zu meistern. Ich war nicht mehr stabil. Mein Vertrauen war weg. Ein Stück war in Bulgarien geblieben, hat­ ten Angelika [Goder] und Gabi [Gabriele Rollnik] mit ins Gefängnis genommen. Ein Stück war bei Rasha [Ingrid Siepmann] in Bagdad geblieben, ein weiteres hatte der allgemeine Rückzug der Linken von revolutionären Zielen verzehrt, der Rest welkte in den Alltagsnotwen­ digkeiten einer Untergrundorganisation dahin wie das Gras unterm [sic] Stein. Ich hatte kein Vertrauen mehr in die kollektive Kraft der Gruppe und darum […] keins mehr in meine eigene Stärke.“2542 In Westberlin setzte die Justiz unterdessen den Gerichtsprozess gegen Fritzsch, Klöpper, Meyer, Reinders, Teufel und Vogel fort. Der „Blues“ sowie Meyer und Vogel wählten dabei unterschiedliche Verteidigungsli­ nien, welche die Gräben zwischen ihnen weiter vertieft hätten. Meyers Aussagen zufolge hatten beide Lager keinerlei Sympathie für die Strategie der jeweils anderen Seite. Teufel habe Vogel und ihn gar als „Anhänger der ‚Radikühlen Armee Fraktion‘“2543 verspottet. Dass diese unterstellte Zugehörigkeit Meyers und Vogels zur RAF nicht die Realität abbildete, zeigte sich Anfang 1979 in einem Austausch zwischen Meyer und Vogel sowie Goder, Rollnik und Stürmer, der einen weiteren Bruch in den Reihen der „Gefangenen“ bewirkte. Die drei Frauen waren ebenfalls in der Männerhaftanstalt in Moabit untergebracht worden, saßen jedoch ge­ meinsam mit dem RAF‑Mitglied Monika Berberich in einem separaten Bereich ein, den die männlichen Inhaftierten der „Bewegung 2. Juni“ als „Turm“ bezeichneten.2544 Wie Meyer ausführte, teilten Goder, Rollnik und Stürmer in einem Kassiber ihre Absicht mit, der „Roten Armee Fraktion“ beizutreten. Kombiniert war dies mit der Bitte an Vogel und ihn, die außerhalb der Haftanstalten agierenden Angehörigen der B2J zu einer Fusion mit der RAF zu drängen. Das Führen des „bewaffneten Kampfes“ in zwei Gruppen wäre, so das Argument der Frauen, ineffizient. Es sei an der Zeit, die „Konkurrenz zur RAF“2545 zu beenden. Sinnvoll sei dieser Schritt – nicht zuletzt – aufgrund der unterentwickelten agitatorischen Ar­ beit der „Bewegung 2. Juni“. Ein mangelhaftes theoretisches Fundament bedinge zwangsläufig fehlerhafte Taten. Meyer und Vogel hätten diese 2542 Ebd., S. 211. 2543 Meyer 2008, S. 414. 2544 Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 114; Rollnik/Dubbe 2007, S. 87; Meyer 2008, S. 411. 2545 Meyer 2008, S. 416.

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6.3 Niedergang

Argumentation nicht akzeptiert. Sie selbst sahen zwar ebenfalls die Not­ wendigkeit einer grundlegenden Veränderung in der Ausrichtung der B2J, diese müsse aber eigenständig und in organisatorischer Unabhängigkeit zur „Roten Armee Fraktion“ erzielt werden.2546 Meyer hielt dazu in seiner Autobiographie die ausschlaggebenden Erwägungen fest: „Andreas und ich lehnten nicht nur die verheerenden Aktionen der RAF ab, wir stimmten auch mit ihrer politischen Analyse nicht in allen Punkten überein. Vor allem aber war es ihre Praxis, die wir für falsch hielten.“2547 Die latente Auseinandersetzung manifestierte sich mit einem weiteren Kas­ siber, welcher die Männer aus dem „Turm“ erreichte. Darin niedergelegt waren selbstkritische Aussagen, die mithilfe von Meyer und Vogel weitere Inhaftierte der „Roten Armee Fraktion“ erreichen sollten. Beide antworte­ ten den Frauen, die Inhalte seien „Dreck [und] falsch obendrein“2548. Statt den Kassiber an die RAF weiterzureichen, hätten Meyer und Vogel ihn Inge Viett zukommen lassen. Diese habe Goder, Rollnik und Stürmer verärgert mitgeteilt, die Entscheidung zum Zusammenschluss der „Bewe­ gung 2. Juni“ mit der RAF obliege in Gänze den „Illegalen“.2549 Unter den Inhaftierten der B2J bestanden demnach nunmehr drei Strömungen.2550 Das Extrem bildeten auf der einen Seite die Frauen im „Turm“ mit der bedingungslosen Bereitschaft zur Einbindung in die „Rote Armee Frakti­ on“. Auf der anderen Seite stand die „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“, die an dem ursprünglichen Anspruch der „Bewegung 2. Juni“ festhielt, eine Alternative zur RAF anzubieten. Zwischen beiden Lagern bewegten sich Meyer und Vogel, deren Position einstweilen von den in Freiheit befindlichen Aktivisten der Gruppe mitgetragen wurde. Auftrieb erhielt der Streit im Frühjahr 1979. Die in der Bundesrepublik inhaftierten Linksterroristen trafen Absprachen zu einem gemeinsamen Hungerstreik. Obgleich der „Blues“ sowie Meyer und Vogel sich zu einer Teilnahme verständigten, konnten sie keine Forderungen konsentieren. Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel hätten darauf bestanden, die Haft­ bedingungen möglichst aller in Deutschland einsitzenden „Gefangenen“ unabhängig von ihren Straftaten zu verbessern. Meyer und Vogel sollen

2546 2547 2548 2549 2550

Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 422.

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es demgegenüber für geboten gehalten haben, die „politischen“ von nichtpolitischen bzw. „sozialen“ Inhaftierten abzugrenzen. Beide Lager, so gab Meyer zu verstehen, untermauerten daher ihren Beitrag zu dem am 20. April 1979 begonnenen2551 Hungerstreik mit separaten Erklärungen. Die Frauen vom „Turm“ hätten ebenfalls einen eigenen Text verfasst.2552 Eine neue Qualität erreichte der Dissens Ende Mai 1979 infolge der Publi­ kation des Papiers „Indianer weinen nicht – sie kämpfen“. Der von Fritz Teufel verfasste Text beinhaltete eine Abrechnung mit dem „bewaffneten Kampf“ der zurückliegenden Jahre. Teufel verband die bereits kommuni­ zierte kritische Bewertung zur „Roten Armee Fraktion“ und dem interna­ tionalen Teil der „Revolutionären Zellen“ erstmals öffentlich mit Vorwür­ fen, welche sich gegen die Strategie der „Bewegung 2. Juni“ richteten. Lob wurde lediglich den in Deutschland aktiven „Revolutionären Zellen“ zuteil: „[A]ls geglückte Aktion hatte die Lorenzentführung eine Reihe von politischen Folgen, die […] untersucht werden müssen. Denn gerade die erfolgreiche Gefangenenbefreiung hat bei vielen Gefangenen und Kämpfern draußen falsche Hoffnungen geweckt und zugleich eine politische Horizontverengung bewirkt. […] Wer die Befreiung einer immer noch kleinen Zahl von Gefangenen – subjektiv verständlich – zum Hauptproblem der revolutionären Bewegung in einem 60-Millio­ nen‑Volk machte, musste notwendig scheitern […]. Dies muss den Ge­ nossen der RAF, der sogenannten ‚neuen bewegung 2. juni‘, die nach Theorie und Praxis nichts weiter ist als eine neue Filiale der alten RAF, d.h. der altgewordenen RAF, und Teilen der RZ gesagt werden. Auch die RAF hatte allerdings einmal ein politisches Konzept […]. Ihre gegenwärtige Theorie und Praxis beschränkt [sic] sich darauf, Befrei­ ung für die lebendigen und Rache für die ermordeten Gefangenen zu fordern und wie die Praxis von Stockholm, Entebbe, Buback, Ponto, Schleyer und Mogadischu gezeigt hat, abgesehen von der Rache, in der Praxis eher das Gegenteil zu erreichen. Die Meyerbefreiung und die Verhaftung von 4 Genossen in Bulgarien waren, ideologisch eingebet­ tet in das bornierte Geriljakonzept [sic] der ‚Befreit‑die‑Gerilja‑Gerilja‘ [sic] auch nur 1 Schritt vor und zwei zurück. Über all dem dürfen wir aber nicht vergessen, dass es in dieser Zeit auch die RZ gab und

2551 Vgl. Horchem 1986, S. 5. 2552 Vgl. Meyer 2008, S. 417-418.

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6.3 Niedergang

immer wieder neue, autonome Ansätze des mit der Basisbewegung verbundenen militanten Widerstands.“2553 Anlass für einen erneuten Schlagabtausch zwischen den Häftlingen bot der Abbruch des Hungerstreiks am 26. Juni 1979. In der auf diesen Tag da­ tierten Ausgabe der „Tageszeitung“ betonten Meyer und Vogel ihre Sym­ pathien für die Zielrichtung der einsitzenden Aktivisten der „Roten Ar­ mee Fraktion“, die zum einen das Zusammenführen „politischer Inhaf­ tierter“ und deren Interaktion in größeren Gruppen, zum anderen einen Status als Kriegsgefangene entsprechend der Genfer Konventionen von 1949 verlangten. Ebenfalls in der „Tageszeitung“ vom 26. Juni 1979 fand sich ein Beitrag, den Fritzsch, Klöpper, Reinders und Teufel gemeinsam mit Klaus Viehmann verfasst hatten. Sie vertraten eine Argumentation, welche die von der „Roten Armee Fraktion“ in den Haftanstalten verfolgte Agenda als Ergebnis einer avantgardistischen Haltung sah. Sie liefere dem Staat eine Legitimation für das Verschärfen der Haftbedingungen und biete sich somit nicht als Basis eines Hungerstreiks an.2554 Rückhalt fanden sie bei Norbert Kröcher und Manfred Adomeit, die im April 1977 von Schweden nach Deutschland abgeschoben worden waren und ab August 1979 in Düsseldorf wegen ihrer Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Mittelpunkt eines Gerichtsverfahrens standen.2555 Beide stellten dem Vorgehen der RAF in den Gefängnissen ein annähernd gleichlautendes Zeugnis aus.2556 Norbert Kröcher legte in einem vermutlich im Herbst 1979 verfassten Beitrag dar, die Trennung zwischen „politischen“ und „sozialen“ Häftlingen sei „arrogant und objek­ tiv falsch“2557, das Beanspruchen der Genfer Konventionen „überflüssig und unsinnig“2558. Diese Zuschreibungen brachten Kröcher deutliche An­ feindungen aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ ein. Karl-Heinz Dellwo warf ihm in einer Entgegnung vom 4. November 1979 Heimtü­ cke vor und sprach von dem „emanzengepiss eines nachpubertären an­ tiautoritärismus [sic]“2559. Der ebenfalls der RAF zugehörige Heinrich Jansen drückte Kröcher den Stempel eines „Traumtänzers“ auf, der sich

2553 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 740-741. 2554 Vgl. ebd., S. 769. 2555 Vgl. Der Spiegel 1979b, S. 47; Kröcher 1998; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 277-278. 2556 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 769. 2557 Ebd., S. 760. 2558 Ebd. 2559 Ebd., S. 770.

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von Opportunismus leiten ließe.2560 Ronald Augustin diffamierte ihn als „cretin“2561. Die Reaktionen der drei „Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ tat Kröcher wiederum in einem veröffentlichten Kommentar als Ausfluss einer „post‑stalinistischen Art“2562 ab. Er schickte ihnen zudem ein „Märchen von der Distel“ zu, mit dem er die RAF als elitäre Gruppe charakterisierte: „[Z]u den anderen Unkräutern, der wilden Kamille, dem Löwenzahn und all den anderen, hatte sie [die Distel] sich immer äußerst distan­ ziert verhalten, sich eitel geweigert, sich mit ihnen auch nur in einem Atemzug nennen zu lassen. Ich bin ein besonderes Unkraut, hatte sie den anderen immer wieder klargemacht, und solange ihr selber keine Disteln seid, oder zumindest mich nicht als allwissendes Oberkraut akzeptiert, könnt ihr mir gestohlen bleiben.“2563 In seiner 2017 posthum erschienenen Autobiographie gab Kröcher an, sich aufgrund der Streitigkeiten des Jahres 1979 endgültig von der „Roten Armee Fraktion“ distanziert zu haben: „Für mich war der Fisch damit gegessen. Fortan war die RAF für mich eine Gespenstertruppe; vom Allmachtswahn getrieben, unbeleckt von jeder kritischen Theorie, Kauderwelsch absondernd, gesteuert von wer weiß welchen Mächten.“2564 Im Gegensatz zu den Inhaftierten, die ihre ideologischen Grabenkämpfe zum Teil mit persönlichen Abneigungen austrugen, setzte die außerhalb der Haftanstalten aktive Gruppe der „Bewegung 2. Juni“ auf einen Prozess der Annäherung zur RAF. Vermutlich im Sommer 1979 trat sie mit der ebenfalls in Paris weilenden „Roten Armee Fraktion“ in einen entspre­ chenden Dialog. Abgehalten worden seien die Gespräche in einer konspi­ rativen Wohnung der B2J. Wer Viett folgt, erkennt die Kompromisslosig­ keit der RAF: Von Beginn an habe die Zweite Generation hervorgehoben, sie selbst lege größtmöglichen Wert auf eine offensive Strategie. Wer diese Prämisse nicht teile, könne sich nicht zur „Roten Armee Fraktion“ zählen. Diese Aussagen hätten Viett insoweit nicht überrascht, als bekannt gewe­ sen sei, „dass die RAF alle Aktionen der Bewegung 2. Juni politisch als

2560 2561 2562 2563 2564

Vgl. ebd., S. 771-772. Ebd., S. 774. Ebd., S. 775. Ebd., S. 783. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 315.

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6.3 Niedergang

defensiv und ihr massenorientiertes Konzept als opportunistisch klassifi­ zierte.“2565 Die anwesenden Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ sollen als Bedingung für eine Vernetzung eine tiefgreifende kritische Reflexion verlangt haben, welche die Historie der B2J in den Mittelpunkt rückt. Die Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ seien dieser Forderung nachgekom­ men. Es schlossen sich „monatelang quälende, erbarmungslose Diskussio­ nen“2566 mit teilweise persönlichen Antipathien an. Ersichtlich wurde dies in Inge Vietts Erinnerungen zu Henning Beer, der regelmäßig auf Seiten der „Roten Armee Fraktion“ an dem Austausch mitgewirkt habe: „Ich staune über den zwanzigjährigen Jungen, der fast gar keine Er­ fahrungen hat. Er profiliert sich andauernd mit seinem Super-RAF-Be­ wusstsein. […] Henning ist eine Unverschämtheit, eine verborgene Katastrophe, finde ich und wundere mich, dass niemand anders es so sieht. Er drängelt sich nach Aufgaben, die selbst einem erfahrenen Kämpfer schwerfallen würden. Das ist nicht gesund, das ist ungestill­ tes Anerkennungsbedürfnis und Positionskampf. Hinter seinem Auf­ trumpfen ist so überdeutlich sein aufgeblähtes Selbstbewusstsein und chaotisches politisches Bewusstsein ohne jede Eigenständigkeit zu er­ kennen, dass es mir unerklärlich ist, wie es der RAF verborgen bleiben kann.“2567 Bei Juliane Plambeck habe sich eine gänzlich andere Situation aufgetan. Vietts Selbstzeugnis zufolge verliebte sie sich in ein Mitglied der RAF, was einen Einzug in die verdeckte Unterkunft der „Roten Armee Fraktion“ nach sich zog.2568 Viett selber sei unentschlossen geblieben. Sie hielt sich abwechselnd in den Wohnungen der B2J und der RAF auf und setzte den Austausch mit den Aktivisten der Zweiten Generation fort.2569 Noch während dieser Debatte wurde die französische Polizei auf die in Paris untergetauchten Linksterroristen aufmerksam. Im Mai 1980 stürmte sie eine der Unterkünfte, die die beiden Gruppen nutzten. Es gelang die Festnahme von Ingrid Barabaß, Regina Nicolai, der RAF-Angehörigen Sieglinde Hofmann sowie anderer Personen.2570 Wenig später trat Viett der „Roten Armee Fraktion“ bei. Die übrigen Aktivisten hätten sie und

2565 2566 2567 2568 2569 2570

Viett 2007, S. 214. Ebd., S. 213. Ebd., S. 214-215. Vgl. ebd., S. 210, 215. Vgl. ebd., S. 216. Vgl. Wunschik 2006b, S. 554.

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Juliane Plambeck anschließend dazu gedrängt, den Zusammenschluss mit einem Papier kundzutun, in dem die Geschichte der „Bewegung 2. Juni“ selbstkritisch dargelegt wird. Viett habe von diesem Vorhaben Abstand genommen, Plambeck dagegen nicht. Sie soll gemeinsam mit anderen Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ einen entsprechenden Text ver­ fasst haben.2571 Diese Erklärung gelangte offensichtlich an die in Berlin-Moabit einsit­ zenden Aktivistinnen Angelika Goder, Gabriele Rollnik und Gudrun Stür­ mer, welche die bisherige Agitation der B2J als untragbar empfanden.2572 Alle drei standen ab Februar 1980 gemeinsam mit Klaus Viehmann vor Gericht.2573 Am 10. Juni 1980 nutzten die Frauen den Prozess als Gele­ genheit, das Papier zu verlesen.2574 Einleitend hieß es: „Wir lösen die Bewegung 2. Juni als Organisation auf und führen in der RAF – als RAF – den antiimperialistischen Kampf weiter.“2575 Im weiteren Verlauf wurde auf das Wirken der B2J zurückgeblickt. Dieses habe „10 Jahre lang Spal­ tung, Konkurrenz und Desorientierung unter den Linken und auch in der Guerilla produziert“2576. Deutlich werde dies in der Entführung von Peter Lorenz und deren propagandistischer Vermarktung. Die Freiheitsbe­ raubung habe den von der „Roten Armee Fraktion“ vorangetriebenen Widerstand in den Gefängnissen unterminiert. Bei ihrer Aufarbeitung in den Erklärungen der „Bewegung 2. Juni“ sei versäumt worden, das „poli­ tisch militärische Niveau zu erkämpfen, das die imperialistische Strategie bricht.“2577 Stattdessen habe die Gruppe ausschließlich den Erfolg der Ak­ tion in den Vordergrund gestellt. Diese Gewichtung bilde das Fundament „der pervertierten Spaßguerilla von Reinders, Teufel etc.“2578 Die später in der Ausgabe Nr. 80 des linksextremistischen Periodikums „Radikal“ publizierte Erklärung2579 lehnten nicht nur die männlichen „Ge­ fangenen“, sondern auch die Unterstützerszene der nunmehr aufgelösten B2J ab.2580 Noch während der Gerichtsverhandlung, in der Goder, Rollnik und Stürmer den Text vortrugen, ergriff Klaus Viehmann das Wort. Er

2571 2572 2573 2574 2575 2576 2577 2578 2579 2580

Vgl. Viett 2007, S. 217-219. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 126. Vgl. Der Spiegel 1980a, S. 55. Vgl. Winkler 2008, S. 376; Dietrich 2009, S. 85. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 625. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 85. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 106.

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6.3 Niedergang

wies den Vorwurf, die Entführung von Peter Lorenz sei ein Fehler gewe­ sen, entschieden zurück.2581 Diese Tat sei vielmehr als „größter Sieg“2582 der „Bewegung 2. Juni“ zu sehen. Meyer erhielt die Inhalte des Papiers in einem Kassiber. Er rekapitulierte mit Blick auf seine Reaktion: „Der Auflösungskassiber war voller gehässiger Vorwürfe und stimmte so natürlich überhaupt nicht. […] Mich verärgerte nicht einmal so sehr das Zusammengehen mit der RAF als vielmehr die Bewertung der eigenen Geschichte. […] [D]iese Vorwürfe hatte niemand von uns ver­ dient: Hier die Doofen, dort die Durchblickerelite! Ausgerechnet von der RAF sollten wir uns deckeln lassen, die das Konzept Stadtguerilla in den vergangenen fünf Jahren mit ihren Katastrophenaktionen aufs heftigste diskreditiert hatte.“2583 In noch drastischerem Tenor fasste Viehmann gemeinsam mit Ronald Fritzsch und Ralf Reinders bewertende Ausführungen zu der Erklärung ab, die sie in der Ausgabe Nr. 80 der „Radikal“ veröffentlichen ließen.2584 Zu Beginn ihrer Stellungnahme hielten sie fest, dass die bewusste Desin­ tegration der „Bewegung 2. Juni“ nicht als einvernehmlicher Schritt zu werten war. Sie gehe auf einzelne Aktivisten zurück: Der Teil der „Bewe­ gung 2. Juni“, der seit etwa drei Jahren das Ziel verfolgt habe, die Ausrich­ tung der B2J derjenigen der „Roten Armee Fraktion“ anzugleichen, sei in die RAF eingetreten.2585 Das Auflösungspapier galt Fritzsch, Reinders und Viehmann als „Ausdruck von Phrasenhaftigkeit, Oberflächlichkeit, Selbstüberschätzung, Arroganz, Massenfeindlichkeit und Resignation.“2586 Besonders entrüstet zeigten sie sich zu den Passagen, welche die LorenzEntführung aufgriffen. Sie seien „an Ignoranz und Lächerlichkeit kaum noch zu überbieten.“2587 Nachdem die drei Aktivisten diese Position argu­ mentativ hinterlegt hatten, folgte eine vernichtende Bilanz: „Mal im Klartext: wer heute die Lorenz-Aktion, den einzig größeren Sieg in 12 Jahren bewaffneter Kampf, so mit Scheiße bewirft, dem ist echt die Hirnpaste am Auslaufen, aber total!“2588

2581 2582 2583 2584 2585 2586 2587 2588

Vgl. Wunschik 2006b, S. 554. Klaus Viehmann, zit. n. Dietrich 2009, S. 86. Meyer 2008, S. 434. Vgl. Dietrich 2009, S. 86. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 810. Ebd., S. 811. Ebd., S. 810a. Ebd., S. 811.

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Ferner wiederholten sie die in älteren Texten niedergelegten Analysen zur Strategie der „Roten Armee Fraktion“. Linksterroristische Gruppen hätten sich zu Beginn der 1970er Jahre dem Credo verpflichtet, ihre Gewalt nicht gegen Unbeteiligte zu richten. Diesen Grundsatz habe die RAF in der „Offensive `77“ missachtet: „In Mogadischu wurde sich des Volkes bedient.“2589 Mittlerweile fetischisiere die „Rote Armee Fraktion“ den „be­ waffneten Kampf“ und agiere losgelöst von der politischen Realität. Damit habe sie die „Stadtguerilla“ insgesamt in die Isolation getrieben, was selbst durch die Aktionen der „Revolutionären Zellen“ nicht unterbunden wer­ den konnte.2590 In der ab Mitte Juni 1980 einsetzenden Auseinandersetzung der männ­ lichen „Gefangenen“ um das weitere Vorgehen kam es erneut zu einem folgenreichen Vertiefen der Gräben, die sich zuvor in der „Bewegung 2. Juni“ sukzessive entwickelt und Anfang 1980 mit dem Hinwenden Gerald Klöppers zu einer legalistischen politischen Praxis weitere perso­ nelle Verluste verursacht hatten.2591 Meyer habe sich die Frage gestellt, welche Auswirkungen das Zusammenlegen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“ auf die Gruppenzugehörigkeit der inhaftier­ ten Angehörigen der B2J zur Folge hatte. Hierzu sei ihm geschildert wor­ den, den „Gefangenen“ stehe ein Beitritt zur RAF offen. Er habe jedoch keine Bereitschaft gezeigt, einen solchen Schritt zu unternehmen. Diese Entscheidung hätten Goder, Rollnik und Stürmer nicht akzeptiert.2592 In einem ihrer Kassiber sei ihm unterstellt worden, er habe den „bewaffne­ ten Kampf“ aufgegeben und sich auf eine „kleinbürgerliche Existenz“2593 zurückgezogen. Der Kontakt zwischen Meyer und den Frauen im „Turm“ soll daraufhin abgerissen sein. Mit Fritzsch, Reinders, Teufel, Viehmann und Vogel tauschte er sich zwar zu der Auflösungserklärung aus, greifba­ re Resultate habe dies aber nicht erwirkt. Als Grund führte Meyer die disparaten Haltungen der Inhaftierten an, die zum Teil bereits offen mit anderen linksterroristischen Gruppen sympathisierten oder sich diesen zu­ rechneten: „Der Blues war zu Recht verärgert und voller Zorn, andere, wie Andre­ as, überlegten, ob sie nicht doch zur RAF gehen sollten, und mir war

2589 Ebd., S. 812. 2590 Vgl. ebd., S. 812, 813a. 2591 Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 109; Klöpper 1987, S. 72-72; Meyer 2008, S. 424. 2592 Vgl. Meyer 2008, S. 434. 2593 Ebd.

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6.3 Niedergang

das inzwischen ohnehin scheißegal. Klaus Viehmann machte sich über alles lustig, er zählte sich sowieso zu den RZ.“2594 Im Oktober 1980 endete der „Drenkmann-Lorenz-Prozess“. Fritzsch, Meyer und Reinders verurteilte das Gericht wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und ihres Beteiligens an der Entführung von Peter Lorenz. Meyer und Reinders erhielten jeweils eine Haftstrafe von 15 Jahren. Bei Fritzsch wurden 13 Jahre festgesetzt. Andreas Vogel und Gerald Klöpper sahen sich einem Strafmaß von elf beziehungsweise zehn Jahren gegenüber. Teufel konnte die Justiz ausschließlich die Zugehörig­ keit zur B2J nachweisen.2595 Den gegen ihn erhobenen Vorwurf, in die Freiheitsberaubung eingebunden gewesen zu sein, hatte er selbst im Juni 1980 entkräftet. Etwa zwei Jahre nach Prozessbeginn war er mit einem Alibi vor Gericht getreten, das seinen Aufenthalt in Essen darlegte. Dort hatte er als Arbeiter in einer Fabrik Beschäftigung gefunden.2596 Teufels Strafmaß von fünf Jahren wurde mit seiner Untersuchungshaft verrechnet, womit er unmittelbar nach der Urteilsverkündung freikam. Ob die sechs Angeklagten für die Ermordung von Drenkmanns verantwortlich zeichne­ ten, war für das Gericht nicht zu ermitteln. In diesem Punkt sprach sie der Richter frei.2597 Während Andreas Vogel 1981 seinen Übertritt zur „Roten Armee Fraktion“ beschloss und wenig später die Verlegung von Berlin in die Justizvollzugsanstalt Celle beantragt haben soll,2598 taten es Meyer und Teufel Gerald Klöpper gleich: Nach und nach sagten sie sich vom „bewaffneten Kampf“ los.2599 Klöpper wurde 1982, Meyer 1986 vorzeitig aus der Haft entlassen. Fritzsch büßte bis 1989 seine Haftstrafte ab, Reinders bis zum 14. September 1990.2600 Das Gerichtsverfahren gegen Angelika Goder, Gabriele Rollnik, Gudrun Stürmer und Klaus Viehmann mündete am 15. Mai 1981 in Schuldsprüchen. Goder, Rollnik und Vieh­ mann erhielten jeweils eine Strafe von 15 Jahren. Bei Stürmer setzte die

2594 Ebd., S. 434-435. 2595 Vgl. Der Spiegel 1980e, S. 53; Wunschik 1998, S. 241; Chronologische Eckda­ ten 2003, S. 182. 2596 Vgl. Der Spiegel 1980d, S. 32. 2597 Vgl. Der Spiegel 1980e, S. 53. 2598 Vgl. Meyer 2008, S. 447, 449. 2599 Vgl. Rabert 1995, S. 190; Wunschik 1998, S. 241-242; Meyer 2008, S. 451-452; Kraushaar 2013, S. 799. 2600 Vgl. Chronologische Eckdaten 2003, S. 182.

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Justiz vier Jahre und sechs Monate an.2601 Die „Gefangenschaft“ verließ Goder im Jahre 1989.2602 Rollnik gelangte 1992 in die Freiheit.2603 Juliane Plambeck und Inge Viett beschritten nach ihrem Anschluss an die „Rote Armee Fraktion“ unterschiedliche Wege. Plambeck sei ge­ meinsam mit Aktivisten der Zweiten Generation in der Bundesrepublik aktiv geworden, Viett hingegen soll in Paris zurückgeblieben sein. Am 25. Juli 1980 kamen Plambeck sowie das RAF-Mitglied Wolfgang Beer in Baden-Württemberg bei einem Autounfall ums Leben.2604 Viett verletzte im August 1981 in Paris einen Polizisten schwer, nachdem sie sich einer Verkehrskontrolle entzogen hatte.2605 Kurz darauf sei sie in den Jemen geflogen, wo sie die Entscheidung fällte, aus der „Roten Armee Fraktion“ auszusteigen.2606 Im Sommer 1982 ließ sie sich mithilfe des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR nieder.2607 6.4 Zusammenfassung Die (Primär-)Quellen zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ offenbaren diverse Ereignisse, welche die – von der Gruppe ange­ strebten – Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Revolu­ tionären Zellen“ verdeutlichen. Chronologisch lassen sich diese wie folgt ordnen: – 1970: Die Gründer der TW kamen erstmals im März in Westberlin mit jenen Aktivisten zu einer persönlichen Unterredung zusammen, die nur wenige Monate später den Nukleus der RAF bilden sollten. Auf ein Zusammengehen konnten sie sich nicht einigen – die „Tupamaros“ sahen sich anschließend in einer Konkurrenz zu der im Entstehen begriffenen „Roten Armee Fraktion“. Umgekehrt galt das Gleiche, glaubten die Mitglieder der heranwachsenden RAF doch offensichtlich, die TW würden sie nur deshalb vor Peter Urbach und dessen Zugang zu Waffen warnen, um ihnen einen Vorteil im „bewaffneten Kampf“ zu verwehren. Dennoch trafen sich die „Tupamaros Westberlin“ und 2601 2602 2603 2604 2605 2606 2607

Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 135. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 118. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 126. Vgl. Peters 2008, S. 506. Vgl. Viett 2007, S. 239-241; Peters 2008, S. 564-565. Vgl. Viett 2007, S. 243-246. Vgl. Peters 2008, S. 566.

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6.4 Zusammenfassung

die Initiatoren der „Roten Armee Fraktion“ im April erneut. Dem Willen der RAF, Georg von Rauch für das Befreien Andreas Baaders aus der Haft zu gewinnen, entsprachen die TW nicht. Zwar zeigten sie sich angesichts eigener Erfahrungen im Justizvollzug grundsätzlich solidarisch mit Baader, einen „Gefangenenausbruch“ werteten sie aber augenscheinlich als zu risikoreich. Ungeachtet der Kritik, die der Ab­ lauf der Baader-Befreiung in den Reihen der „Tupamaros“ – angeblich – auslöste, sollen die TW Hilfe der „Roten Armee Fraktion“ akzeptiert haben: Von der RAF seien sie in das Aufbrechen und Entwenden von Fahrzeugen eingeführt worden. Eine Gegenleistung konnten die „Tupamaros Westberlin“ nicht anbieten. Erfolglos versuchte die RAF, Zugriff auf einen „Piratensender“ zu erlangen, den die TW beanspruch­ ten. Obgleich sich im Umfeld der beiden Gruppen – zwischen Peter Paul Zahl und Holger Meins – merkliche Spannungen entwickelten, die in einer körperlichen Auseinandersetzung kulminierten, hätten die „Tupamaros“ im August ein mit der „Roten Armee Fraktion“ ko­ ordiniertes Vorgehen gegen eine Westberliner Firma angestrebt. Die RAF sah davon ab, sich diesem Vorhaben anzuschließen – band die TW jedoch in den „Dreierschlag“ vom 29. September ein. Arbeitsteilig überfielen die Gruppen an diesem Tag mehrere Banken in Westberlin. – 1971: Nachdem die „Tupamaros Westberlin“ im November 1970 in­ folge der Geständnisse Hella Mahlers und Annekatrin Bruhns unter einen erhöhten Fahndungsdruck geraten waren, traten ihre zentralen Figuren – gemeinsam mit Aktivisten der „Tupamaros München“ – der „Roten Armee Fraktion“ bei. Außerhalb der Haftanstalten waren die TW ab diesem Zeitpunkt nicht mehr existent. Im Anschluss an die – mit dem Haftausbruch Georg von Rauchs einhergehende – Reorga­ nisation der Strukturen der TW im Sommer in Westberlin suchten sich die „Tupamaros“ mehr denn je von der RAF abzugrenzen – also einen eigenen Weg des „bewaffneten Kampfes“ zu beschreiten. Ähn­ lich wie der Zirkel um Norbert Kröcher, Gabriele Kröcher‑Tiedemann und Peter Paul Zahl sollen sich Michael Baumann und Georg von Rauch entschieden gegen das Bemühen der „Roten Armee Fraktion“ gewehrt haben, die wiederbelebte Gruppe zu übernehmen. Unüberseh­ bar wurde die Opposition während eines Zusammentreffens, als sich Andreas Baader und Georg von Rauch – angeblich – nach einem Wortgefecht plötzlich mit Schusswaffen gegenüberstanden. Die RAF reagierte auf ihre Art – sie erklärte einzelne Angehörige der TW zu unerwünschten Personen, der Kontakt zu diesen sollte fortan gemie­ den werden. Dazu zählte Baumann. Dass die „Tupamaros“ einen Pfad

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jenseits der Paradigmen der RAF einschlagen wollten, gefiel nicht je­ dem Mitglied. Wolfgang Grundmann und Ingeborg Barz wechselten zur „Roten Armee Fraktion“. In der Praxis schlug sich der Anspruch der TW nicht sogleich nieder. Was der Zirkel im Jahre 1970 noch abgelehnt hatte, traute er sich nun zu: das Befreien von Inhaftierten aus den Reihen der RAF. Um Irene Görgens und Ingrid Schubert zum Ausbruch aus dem Justizvollzug verhelfen zu können, soll Heinz Brockmann mit dem Auftrag nach Hamburg gereist sein, von der „Ro­ ten Armee Fraktion“ Schusswaffen zu erlangen. Obgleich sich die TW hierbei abermals gegen das Ansinnen der Ersten Generation stemmten, die „Tupamaros“ organisatorisch an sich zu binden, sandte ihnen die RAF wiederholt Waffen zu. Die „Rote Armee Fraktion“ half sogar mit Geld und konspirativem Wohnraum aus. Je weiter die Vorbereitungen für die „Gefangenenbefreiung“ gediehen, desto stärker trat indes das angespannte Verhältnis der beiden Zirkel hervor. Die RAF äußerte den Vorwurf des Geldverschwendens, das Gespräch um die weitere Zukunft von Görgens und Schubert gipfelte – angeblich – beinahe in einer Schlägerei. Das Scheitern der Aktion im Oktober brachte das Fass zum Überlaufen. Die „Rote Armee Fraktion“ wandte sich ab – zu infantil erschien ihr die Gruppe um Georg von Rauch. Die Erste Gene­ ration trat nach, als sie den TW eine Mitschuld am Tod von Rauchs zur Last legte. Genährt wurde die Aversion der „Tupamaros“ durch den Übertritt Ralf Reinders‘ und Ingrid Siepmanns im November. Aus eigener Hand konnten sie vom Innenleben der RAF berichten, das zuletzt ihr Unverständnis ausgelöst hatte. – 1972: Die – vor allem aus Feder Georg von Rauchs stammende – Idee einer zweiten „Stadtguerilla“ neben der „Roten Armee Fraktion“ mate­ rialisierte sich zu Beginn des Jahres. Die „Bewegung 2. Juni“ entsprang dem dezidierten Wunsch, allen am „bewaffneten Kampf“ Interessierten eine Alternative anbieten zu können. Schon der Name sollte dem Rechnung tragen. Welches Konzept, ob das der RAF oder jenes der B2J, sich durchsetzt, würde – so die Hoffnung der Gründer – die Zu­ kunft offenbaren. Zwar äußerte die „Bewegung 2. Juni“ öffentlich ihre Betroffenheit zum Versterben Petra Schelms, in ihrem Programm sogar eine grundsätzlich gehaltene Übereinstimmung mit der „Roten Armee Fraktion“, das konkrete Vorgehen der Ersten Generation verurteilte sie Anfang Juli in einer Flugschrift aber scharf. Auch auf individueller Ebene knirschte es. Inge Viett ließ die gemeinsame Haft mit RAF‑Mit­ gliedern in der Lehrter Straße in Westberlin konsterniert zurück – sie sprach später von abstoßenden Erfahrungen.

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6.4 Zusammenfassung

– 1974: Nach mehr als eineinhalb Jahren ohne nennenswerte Interaktion mit der „Roten Armee Fraktion“ – 1973 war die insbesondere von Ralf Reinders kritisch beäugte RAF allenfalls intern als Ausgangspunkt für Verbesserungsvorschläge berücksichtigt worden – erhielt die Beziehung der beiden Gruppen Auftrieb. Die B2J stellte ihre allgemeine Verbun­ denheit unter Beweis. Gänzlich richtete sie ihre Kräfte auf eine Aktion, mit der Rache für den Tod Holger Meins‘ geübt werden sollte. In der sich anschließenden Propaganda würdigte die „Bewegung 2 Juni“ den Verstorbenen positiv. Anerkennend verwies sie überdies auf die getöteten RAF‑Mitglieder Petra Schelm und Thomas Weisbecker. Die RAF verhielt sich nach außen wohlwollend gegenüber dem Anschlag auf Günter von Drenkmann. Intern überwog das Kopfschütteln. Aus der Solidarität der B2J konnte die RAF keinerlei Kapital schlagen: Als sie – angeblich – über einen in der Illegalität lebenden Rechtsanwalt Personal der „Bewegung 2. Juni“ unterstützend heranziehen wollte, winkte die B2J sogleich ab. – 1975: In den ersten Monaten des Jahres rückte die „Bewegung 2. Juni“ immer näher an das seit geraumer Zeit verfolgte Ziel einer größeren, auf „Gefangenenbefreiung“ ausgelegten Aktion heran. Die Tat sollte nicht nur Mitgliedern der B2J zugutekommen. Auch Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ würde die Freiheit ermöglicht werden, so der Anspruch der Westberliner Gruppe. Die grundsätzliche Verbun­ denheit zur Konkurrenz aus der „Stadtguerilla“ war also ungebrochen. Ins Auge fasste die „Bewegung 2. Juni“ Manfred Grashof und Ulri­ ke Meinhof. Um Absprachen treffen zu können, etablierte die B2J einen Kommunikationskanal zur „Roten Armee Fraktion“. Diese nahm die Vorstellungen der „Bewegung 2. Juni“ zunächst nicht ernst – ganz offensichtlich traute sie dem Zirkel ein Umsetzen der Pläne nicht zu. Wochen später signalisierte die RAF dann wohl doch Interesse. Das Stirnrunzeln in den Reihen der B2J schlug in Unverständnis um, als die „Rote Armee Fraktion“ die Erwartung artikulierte, der Westberliner Zirkel dürfe nicht einzelne Inhaftierte der RAF freipressen. Er müsse gleich alle „Gefangenen“ befreien. Die „Bewegung 2. Juni“ wandte sich ab – dies mit dem Wissen um die Vorkehrungen der „Roten Armee Fraktion“ für eine eigene „Gefangenenbefreiung“. Die für Angehörige der RAF vorgemerkten Plätze vergab sie nunmehr an Personen, welche nicht (mehr) an einen der Zirkel der westdeutschen „Stadtguerilla“ angebunden waren, ja gar – wie Horst Mahler – offensiv mit der RAF gebrochen hatten. Die B2J nahm an, diese könnten sich ihr später anschließen. Das nach dem Entführen des CDU-Politikers Peter Lorenz

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gestellte Ultimatum stieß der „Roten Armee Fraktion“ sauer auf – wel­ chen Anteil hieran der Entschluss hatte, mit Mahler ausgerechnet einen von der Ersten Generation als Abweichler ausgegrenzten Aktivisten zu begünstigen, bleibt offen. Jedenfalls wertete Klaus Croissant – Sprach­ rohr der arretierten Führungsriege der „Roten Armee Fraktion“ – am 1. März die Geiselnahme während eines öffentlichen Auftritts als eine geheimdienstlich inszenierte Tat ab. Fassungslos nahm die „Bewegung 2. Juni“ diesen Tiefschlag zur Kenntnis. Die RAF legte nach, als sie von den Geldspenden der B2J im Anschluss an Lorenz‘ Freilassung erfuhr. Aus ihrer Sicht war die „Bewegung 2. Juni“ auf der Stufe einer „Spaßguerilla“ angelangt, die einem „Populismus“ fröne und die Sache – den „bewaffneten Kampf“ – allenfalls halbherzig umsetze. Dieses Bild verfestigte sich innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ durch die Banküberfälle Ende Juli in Westberlin – im Laufe der Raubzüge waren von der B2J Schokoküsse verteilt worden. Umgekehrt unterstellte die „Bewegung 2. Juni“ der „Roten Armee Fraktion“ angesichts der deso­ laten Stockholmer Botschaftsbesetzung einen fehlenden Realitätssinn. In ihrer Agitation lud sie die Ereignisse in der schwedischen Haupt­ stadt zu einem mahnenden Beispiel für jene auf, die den gewaltsamen sozialrevolutionären „Widerstand“ zu führen gedachten. Zu all dem kam das Papier „Mit dem Rücken zur Wand?“ hinzu, das bei dem im Mai getöteten Werner Sauber – einem Aktivisten aus dem Umfeld der Westberliner Kerngruppe der B2J – entdeckt werden konnte. Der Text erkannte den initialen Beitrag der „Roten Armee Fraktion“ zum „bewaffneten Kampf“ an, holte jedoch im weiteren Verlauf zu einer „solidarisch‑praktischen“ Kritik aus, welche die B2J als veritable Alter­ native zur elitären RAF beschrieb. Fernab der Zankereien in der Bun­ desrepublik taten sich die Versprengten der „Bewegung 2. Juni“ – Teile der durch die Lorenz-Entführung in Freiheit gelangten Inhaftierten – unter der Ägide der PFLP-SOG mit der ebenfalls im Nahen Osten un­ tergekommenen internationalistischen Strömung der „Revolutionären Zellen“ zusammen. Gabriele Kröcher‑Tiedemann wirkte gemeinsam mit Hans-Joachim Klein am Überfall auf die OPEC im Dezember in Wien mit. – 1976: Nach dem durch Festnahmen bedingten Zusammenbruch der „aktiven“ Ebene der „Bewegung 2. Juni“ in Westdeutschland ent­ wickelten sich einmal mehr im Justizvollzug persönliche Verbindun­ gen zur „Roten Armee Fraktion“. Überdies befassten sich die inhaf­ tierten Aktivistinnen der B2J mit strategischen Annahmen der RAF – vermutlich entstand hier das Fundament für die in den folgenden

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6.4 Zusammenfassung

Jahren immer stärker hervortretende Annäherung der „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ an die „Rote Armee Fraktion“. Bestürzt reagierten „Gefangene“ der B2J auf den Freitod Ulrike Meinhofs. Als Zeichen der Anteilnahme verweigerte unter anderen Till Meyer die Nahrungsauf­ nahme. Befremden löste die Übernahme einer Passagiermaschine der „Air France“ Ende Juni durch die Gründer der RZ aus. Die „Bewegung 2. Juni“ sah allerdings davon ab, die Aktion öffentlich zu verurteilen – wohl in erster Linie aus Rücksicht auf Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann. Anfang Juli entflohen drei Mitglieder der B2J gemeinsam mit Monika Berberich – einer Angehörigen der RAF – dem Westberli­ ner Justizvollzug. Die geplante Kontaktaufnahme zum Untergrund der „Roten Armee Fraktion“ scheiterte, als Berberich nur zwei Wochen später erneut in Haft geraten war. Nach dem Zusammentreffen mit Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann im Südjemen und der Einreise der rekonsolidierten „aktiven“ Gruppe der „Bewegung 2. Juni“ in die Bundesrepublik rückten Gespräche mit der „Roten Ar­ mee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ in den Fokus. Die „Illegalen“ der B2J erachteten ein Bündeln der unterschiedlichen Teile der „Stadtguerilla“ als opportun. Tatsächlich gelang es, sowohl zur RAF als auch zu den RZ einen Kommunikationskanal zu eröffnen. Der Austausch blieb jedoch ernüchternd: Während die „Rote Armee Fraktion“ – angeblich – schon bald einseitig eine Selbstkritik der B2J forderte, zeigten sich die „Revolutionären Zellen“ mit Verweis auf eige­ ne Prioritäten reserviert. In der Folgezeit erwuchs lediglich zwischen der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ eine auf bloße Hilfsleistungen – das wechselseitige Unterstützen mit Identitätsnachweisen und Waffen – beschränkte Kooperation. Ganz anders sollte es in den bundesrepu­ blikanischen Haftanstalten aussehen: Inhaftierte aus beiden Gruppen einigten sich bereits im Frühjahr 1977 in enger Abstimmung auf einen Hungerstreik mit gemeinsamen Forderungen. – 1977: Da ein kontinuierlicher Dialog zwischen den „illegalen“ Ebenen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ fehlte, muss­ ten Aktivitäten der einen Gruppe die Planungen der anderen in Gefahr bringen. Die Festnahme einer selbsterklärten „Auslandsfiliale“ der B2J um Norbert Kröcher Anfang April durchkreuzte ein Vorhaben der RAF in Schweden. Der Anschlag auf Siegfried Buback traf unter den „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ auf Zuspruch – für die „akti­ ven“ Mitglieder der B2J hingegen gipfelte er beinahe in einem Fiasko. In Karlsruhe gerieten sie ohne Vorwarnung in polizeiliche Fahndungs­ maßnahmen. Um solche Situationen vermeiden zu können, vereinbar­

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ten die beiden Zirkel im Sommer, sich künftig gegenseitig zu bevorste­ henden Aktionen zu unterrichten – ein Mechanismus, der spätestens im Spätsommer/Herbst erstmals zum Einsatz kommen sollte. Obgleich die Beziehung zur „Roten Armee Fraktion“ bislang nicht die erwünsch­ ten Ergebnisse hervorgebracht hatte, hielten die „Illegalen“ der B2J an dem Ziel eines einheitlichen Vorgehens fest. Anfang Juli verliehen sie ihrer Überzeugung Ausdruck, die Differenzen innerhalb der „Stadt­ guerilla“ würden sich zwangsläufig auflösen. Wie sehr die „politischen Gefangenen“ den „Aktiven“ beim Umsetzen dieses Anliegens voraus waren, unterstrichen sie erneut im August und September. Trotz der Kritik an der Entführung Jürgen Pontos traten die Inhaftierten der „Be­ wegung 2. Juni“ einem Hungerstreik der RAF bei. Einschneidend war der „Deutsche Herbst“: Positionierte sich die B2J zu dem Überfall auf Hanns Martin Schleyer noch mit einer Mischung aus bewunderndem Zustimmen und dem Vorwurf des Sich-Selbstüberschätzens, überwog mit wachsender Dauer der Geiselnahme eine ablehnende Haltung. Die „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“ sahen sich – angeblich – sogar genö­ tigt, die „Rote Armee Fraktion“ zum Abbruch der „Machtprobe“ zu bewegen. Nachdem dies gescheitert war, beobachtete die B2J entsetzt den Höhepunkt des „Deutschen Herbstes“: die gewaltsame Inbesitz­ nahme eines Passagierfliegers der „Lufthansa“ durch ein palästinensi­ sches „Kommando“. Nicht nur verärgerte der Entschluss der RAF, na­ heliegende Alternativen – wie ein Unterstützen durch die „Bewegung 2. Juni“ – zu ignorieren. Auch der politische und moralische Bankrott, welcher sich hinter dem Entführen der „Landshut“ verbarg, rief in den Reihen der B2J Wut hervor. Kopfschüttelnd konzentrierte sich die „Bewegung 2. Juni“ auf das Erpressen der Familie Palmers in Wien – und erntete damit den Spott der „Roten Armee Fraktion“, sprach diese doch von einer „Banditen-Aktion“. – 1978: Der beiderseitige Wunsch eines Neuanfangs im „bewaffneten Kampf“ bildete den Hintergrund für sporadische Treffen zwischen der RAF und der B2J. Aus Solidarität übergab die „Bewegung 2. Juni“ einen bemerkenswerten Anteil des Lösegeldes aus der Entführung Wal­ ter Palmers‘. Unabhängig von diesen Kontakten im Untergrund traten Friktionen in der Gruppe der Inhaftierten zutage, welche der B2J zu­ zurechnen waren. Den Scheidepunkt konstituierte die Frage nach der Zukunft des „bewaffneten Kampfes“ – sie wurde insbesondere entlang der Paradigmen der RAF diskutiert. Ein Teil suchte die Nähe zur „Ro­ ten Armee Fraktion“, ein anderer – der sogenannte Blues – hielt an den Ursprüngen der „Bewegung 2. Juni“ fest – er bezog sich dabei immer

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6.4 Zusammenfassung

wieder affirmativ auf die RZ. Wie das Beispiel Gabriele Kröcher-Tiede­ manns zeigte, gingen hiermit frühzeitig Übertritte zur RAF einher. Der „Blues“ machte aus seiner Sicht auf die RAF keinen Hehl. Weder schenkte er der – in militanten linksextremistischen Kreisen kursieren­ den – Selbstmordthese zur „Stammheimer Todesnacht“ Glauben, noch hielt er ein Schweigen zum „Deutschen Herbst“ für angebracht. Öffent­ lich monierte der „Blues“ das „volksfeindliche“ Grenzüberschreiten der „Roten Armee Fraktion“ – und lobte im selben Atemzug die auf West­ deutschland blickenden „Revolutionären Zellen“. Von einer derartigen Opposition gegenüber der RAF hielten die „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ nichts. In Bulgarien konsentierten sie die Entscheidung, aber­ mals eine verstärkte Zusammenarbeit mit der Zweiten Generation zu forcieren – und zwar über eine logistische Zusammenarbeit. – 1979: Nach den Verhaftungen in Bulgarien sah sich die B2J einem zunehmenden Zerfallsprozess ausgesetzt, der sich noch stärker als zu­ vor über das Verhältnis zur „Roten Armee Fraktion“ definierte. Neben dem „Blues“ – welcher die Selbstbeschreibung „Revolutionäre‑Gueril­ la-Opposition“ angenommen hatte – und einer Strömung, die sich ideell mit der RAF identifizieren konnte, existierte in den bundesre­ publikanischen Haftanstalten nunmehr ein Lager, das die „Bewegung 2. Juni“ unverzüglich der „Roten Armee Fraktion“ zuzuschlagen und die jahrelange Konkurrenz zu beenden gedachte. Die „Aktiven“ stimm­ ten zunächst mit jenen „Gefangenen“ überein, welche politisch der RAF nahestanden, ohne dieser beitreten zu wollen. Der „Blues“ teilte im Mai öffentlich gegen die internationalistischen Strömungen der „Revolutionären Zellen“ und der „Bewegung 2. Juni“ sowie gegen die „Rote Armee Fraktion“ aus. Die ausschließlich in der Bundesrepublik agierenden RZ bedachte er abermals mit Lob. Zudem zog er sich aus dem bis dahin gemeinsam geführten „Kampf“ im Justizvollzug zugunsten einer eigenen Linie zurück. Im Herbst lieferte sich Norbert Kröcher einen erbitterten Schlagabtausch mit Ronald Augustin, KarlHeinz Dellwo und Heinrich Jansen – hierbei folgte ein erniedrigender Angriff dem nächsten. Die „Illegalen“ der B2J schwenkten unterdessen langsam auf die Position derjenigen „politischen Gefangenen“ ein, die vehement das Zusammengehen mit der „Roten Armee Fraktion“ ver­ langt hatten. Wohl ab Sommer führten sie Gespräche mit der Zweiten Generation in Paris. Wiewohl die RAF hierbei mit der B2J hart ins Ge­ richt ging und sich teilweise persönliche Abneigungen manifestierten, brach der Austausch nicht ab.

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

– 1980: Die „Aktiven“ traten in die „Rote Armee Fraktion“ ein. Juliane Plambeck erarbeitete gemeinsam mit Mitgliedern der RAF das Traktat zur Selbstauflösung der „Bewegung 2. Juni“. In ihr stellte sich die B2J als „Spaßguerilla“ dar, die von der Gründung an allenfalls Spaltung und Konkurrenz hervorgebracht habe. Was unter den Lagern der „Be­ wegung 2. Juni“ an grundsätzlicher Verbundenheit noch bestanden hatte, zerstob mit dem Verlesen des Papiers vor Gericht. Die einstigen Mitstreiter überhäuften sich mit Vorwürfen – der „Blues“ unterstellte der RAF zudem pauschal Fetischismus und Realitätsverlust. In der Zeit danach ließ die Mehrheit der „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Ju­ ni“, die sich gegen einen Anschluss an die „Rote Armee Fraktion“ gestemmt hatten, vom „bewaffneten Kampf“ ab. Klaus Viehmann sah sich in der Nachbarschaft zu den RZ, Andreas Vogel wagte schließlich doch den Übertritt zur RAF. 6.5 Typologische Einordnung Nach Maßgabe der in den Unterkapiteln 2.2.2 und 2.2.3 aufgestellten Ty­ pologien können die Beziehungen der „Tupamaros Westberlin“/der „Be­ wegung 2. Juni“ zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Revolutionären Zellen“ wie folgt charakterisiert werden: – 1970 bis 1971: Das Verhältnis der TW zu der im Aufbau befindlichen RAF blieb ungefestigt. Es unterlag beachtlichen Schwankungen. Nach den ersten Treffen im Jahre 1970 sahen sich die Gruppen ganz offen­ sichtlich in einer kompetitiv-adversativen Beziehung. Die Absicht domi­ nierte, den jeweils anderen mit eigenen Vorstellungen ins Abseits zu drängen. Die Zirkel schlossen ein assoziatives Verhältnis jedoch nicht kategorisch aus. Indem die RAF den TW Kenntnisse zum Aufbrechen und Entwenden von Fahrzeugen überließ, eröffnete sie eine transak­ tionale Beziehung. Diese steigerte sich sodann zu einer synchron‑asso­ ziativen Relation, beteiligten sich die „Tupamaros“ und die „Rote Ar­ mee Fraktion“ doch – nach gescheiterten Plänen zu einem abgestimm­ ten Vorgehen gegen eine Westberliner Firma – Ende September 1970 an einer Serie von Banküberfällen. Sodann verschmolzen die „aktiven“ Strukturen der Zirkel: Sie erreichten den Endpunkt des Spektrums as­ soziativer Beziehungen, ohne die Ebene einer extensiven Kooperation durchlaufen zu haben. Mit dem Wiederbeleben der „Tupamaros“ Mitte 1971 unter Georg von Rauch kehrten die Gruppen zunächst zu einer

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6.5 Typologische Einordnung

kompetitiv-adversativen, später zu einer transaktional-assoziativen Relation zurück. Die Vorgänge im Sommer/Herbst 1971 stellen sich in der Ge­ samtschau als ein klassisches Tauschgeschäft dar: Die TW erhielten von der RAF Waffen, Geld und konspirativen Wohnraum, der RAF bot sich die Möglichkeit eines personellen Verstärkens durch den Haftaus­ bruch inhaftierter Mitstreiter. Erst mit dem krachenden Scheitern der „Gefangenenbefreiung“ verfestigte sich – begünstigt durch die Rück­ kehr der ehemaligen „Tupamaros“ Ralf Reinders und Ingrid Siepmann in den neu formierten Zirkel – die kompetitiv-adversative Beziehung. – 1972 bis 1974: Vorläufiger Höhepunkt des kompetitiv-adversativen Ver­ hältnisses war die Gründung der „Bewegung 2. Juni“. Darin zementier­ te sich der Wille, innerhalb der westdeutschen „Stadtguerilla“ ein Kor­ rektiv zu etablieren, welches die „Fehlentwicklungen“ der „Roten Ar­ mee Fraktion“ ausgleichen sollte. Mit der kompetitiven Relation wurde indes das Tischtuch nicht gänzlich zerschnitten. Es bestand eine Grenze – und zwar in der Solidarität gegenüber den gemeinsamen Feinden, insbesondere gegenüber dem bundesrepublikanischen Sicherheitsappa­ rat. Nur so lässt sich das auf den ersten Blick paradoxe Gebaren der B2J in der Interaktion mit der RAF erklären, das sich einesteils durch per­ sönliche Abneigung und den lautstarken Vorwurf der Inkonsequenz, anderenteils durch ostentatives Betonen grundsätzlicher Gemeinsam­ keiten und das positive Würdigen getöteter RAF-Mitglieder auszeich­ nete. Wiederholt durchbrachen also Gesten die kompetitiv‑adversative Beziehung, die typisch für eine deklarativ-assoziative Relation sind. Hier­ zu zählt vor allem der Anschlag auf Günter von Drenkmann – er fußte allein auf dem Motiv, den Tod eines der Kernmitglieder der „Roten Armee Fraktion“ zu rächen. – 1975 bis 1976: Das wohl der allgemeinen Solidarität entspringende Angebot der „Bewegung 2. Juni“, vermittels der Lorenz-Entführung auch Angehörige der RAF zu befreien, also den „Illegalen“ der „Ro­ ten Armee Fraktion“ – ganz im Sinne einer transaktional‑assoziativen Beziehung – dringend benötigte (personelle) Ressourcen zugänglich zu machen, schlug die „Baader/Meinhof-Bande“ aus. Nichts sollte die kom­ petitiv‑adversative Relation der B2J und der RAF in der Folgezeit so sehr verdeutlichen, wie der Entschluss beider Zirkel, im Grunde dieselbe Aktion – eine Geiselnahme zur Freilassung „politischer Gefangener“ – eigenständig durchzuführen und die Leistung des jeweils anderen öffentlich herabzusetzen. Den Geist der Konkurrenz durchzog gleicher­ maßen das Grundsatzpapier „Mit dem Rücken zur Wand?“. Außerhalb der Bundesrepublik – im Nahen Osten – gingen die Aktivistinnen,

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6 Geschichte der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

die sich nach der Lorenz‑Entführung auf die Seite der B2J geschlagen hatten, eine extensiv-assoziative Beziehung mit der PFLP-SOG und den RZ ein. Denn: Gabriele Kröcher-Tiedemann bildete gemeinsam mit Mitgliedern der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ und der „Revolutionären Zellen“ eine perso­ nell gemischte Zelle, die für den Angriff auf die OPEC verantwortlich zeichnete. Die in Westdeutschland in Haft sitzenden Mitglieder der B2J standen dagegen im Lichte der Geiselnahme in Entebbe offenbar kurz davor, eine aversiv‑adversative Beziehung zu den RZ zu eröffnen. Eine grundlegende Zäsur in den Relationen der „Bewegung 2. Juni“ zu den anderen Akteuren der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ kündig­ te sich an, als die aus der Westberliner Haft entflohenen sowie die im Nahen Osten untergekommenen Mitglieder der B2J das Zusammen­ führen der „aktiven“ Kräfte in den Fokus rückten. Augenscheinlich zielte ihr Bemühen auf eine synchron‑assoziative, wenn nicht sogar auf eine extensiv-assoziative Interaktion ab – diese sollte das tradierte kompe­ titiv-adversative Verhältnis ablösen. Jedoch war weder die „Rote Armee Fraktion“ noch das Netzwerk der „Revolutionären Zellen“ zu einem solchen Schritt bereit. – 1977 bis 1978: Was den „Illegalen“ nicht gelang, bewerkstelligten die „politischen Gefangenen“. Eine Grundlage war vorhanden: Mit der Trauer um Ulrike Meinhof hatten die Häftlinge aus den Reihen der „Bewegung 2. Juni“ jene allgemeine Solidarität betont, die Kern der wiederholt wahrnehmbaren deklarativ-assoziativen Beziehung zur „Ro­ ten Armee Fraktion“ war. Während der Hungerstreiks im Frühjahr sowie im Sommer/Herbst 1977 fanden die Inhaftierten der B2J und der RAF in einem extensiv‑assoziativen Verhältnis zusammen. Die au­ ßerhalb der Justizvollzugsanstalten existierenden Strukturen der „Bewe­ gung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“ konzentrierten sich auf ein transaktional-assoziatives Verhältnis, das nicht nur einen materi­ ellen Austausch, sondern auch die Weitergabe von Informationen zu bevorstehenden Aktionen umfasste. Wie ihre Propaganda offenbarte, hielten die „Illegalen“ der B2J unbeirrt an ihrem Wunsch nach einer intensiveren assoziativen Interaktion fest. Die Fassungslosigkeit, welche der „Deutsche Herbst“ hinterließ, änderte hieran nichts. Selbiges gilt für die abfälligen Kommentare der RAF zur Palmers-Entführung. 1978 setzte sich die transaktionale Relation fort, überließen die „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“ dem Untergrund der „Roten Armee Fraktion“ doch eine größere Summe an Geld. In Bulgarien bekräftigen sie ihr Anliegen, eine assoziative Interaktion mit der RAF auszubauen. Anders

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6.5 Typologische Einordnung

verhielt es sich innerhalb der Gefängnisse. Durch seine Äußerungen zum „Deutschen Herbst“ trieb der „Blues“ eine aversiv‑adversative Be­ ziehung zur „Roten Armee Fraktion“ voran. Zeitgleich baute er ein deklarativ-assoziatives Verhältnis zu den in Westdeutschland agierenden „Revolutionären Zellen“ auf. – 1979 bis 1980: Indem die „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“ ihren „Kampf“ im Justizvollzug von jenem der RAF entkoppelte und dabei eine alternative Linie wählte, geriet sie in eine kompetitiv-adversative Beziehung mit der „Roten Armee Fraktion“. Die Haltung zu den RZ, die sich auf die Bundesrepublik konzentrierten, blieb unverändert – sie äußerte sich ausschließlich in symbolischem Zuspruch. Die übri­ gen „Gefangenen“ der B2J suchten eine deklarativ‑assoziative Interaktion zur RAF zu halten oder entschieden sich gleich für ein Zusammenge­ hen mit der „Roten Armee Fraktion“. Auch die „Aktiven“ der „Bewe­ gung 2. Juni“ übersprangen schließlich alle Stufen assoziativer Bezie­ hungen, als sie im Jahre 1980 für einen Eintritt in die RAF votierten. Damit kamen sie – ähnlich wie die „Tupamaros Westberlin“ Ende 1970 – am Schlusspunkt assoziativer Relationen an. Mit der maßgeblich von ihr geprägten Auflösungserklärung der B2J erwiderte die „Rote Ar­ mee Fraktion“ das vom „Blues“ geschürte kompetitiv-adversative Verhält­ nis. Dieses endete im Zuge der Abkehr zentraler Figuren der RGO vom „bewaffneten Kampf“.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“ unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zu den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“

7.1 Entstehung 7.1.1 „Föderation Neue Linke“, „Black-Panther-Solidaritätskomitee“, „Roter Stern“ (1968 bis 1970) Neben Westberlin zeigte sich Ende der 1960er Jahre Frankfurt am Main als Nährboden eines militanten Linksextremismus, welcher seinen Ausgangs­ punkt im Zerfall der studentisch geprägten Proteste hatte. Die „68er-Bewe­ gung“ brachte nicht nur einen sich undogmatisch gerierenden Zirkel um den aus Frankreich ausgewiesenen Studentenführer Daniel Cohn-Bendit und den Frankfurter Aktivisten Joschka Fischer hervor, der sich zunächst den Namen „Betriebsprojektgruppe“ gab und ab 1970 unter der Selbstbe­ zeichnung „Revolutionärer Kampf“ (RK) auftrat. Die aus dem RK erwach­ sene, etwa 40 Personen starke „Putzgruppe“ leistete im Kampf um besetzte Häuser Anfang der 1970er Jahre gewaltsamen Widerstand gegen Polizei­ kräfte.2608 Aus der Fraktionierung der vor allem vom „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ getragenen „Außerparlamentarischen Opposi­ tion“ ging in Frankfurt am Main zudem ein Personenkreis hervor, der 1973 nach Gründung der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ die „Revolutionäre Zelle“ als dritten Akteur des westdeutschen Linksterrorismus etablierte. Aus ihm entstand ein überregional aktives Netzwerk aus Gruppen, das wohl für rund 200 Anschläge verantwortlich zeichnete2609 und somit in den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden zeitweise bedrohlicher wahrgenommen wurde als die RAF.2610

2608 Vgl. Kurbjuweit/Latsch 2001, S. 27-28; Siemens 2006, S. 11, 170; Winkler 2008, S. 270; Göpfert/Messinger 2017, S. 43; Kraushaar 2017, S. 91. 2609 Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82; Dietrich 2009, S. 150. 2610 Vgl. Horchem 1988, S. 92-93.

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7.1 Entstehung

Als zentrale Triebkraft im Entstehungsprozess der RZ gilt in der Lite­ ratur gemeinhin Wilfried „Boni“ Böse.2611 Obgleich er – laut Aussage seines Wegbegleiters Hans‑Joachim Klein – „ein recht bekanntes Gesicht in den linksradikalen Kreisen Frankfurts“2612 war, liegt seine Biographie weiterhin größtenteils im Dunkeln. Als gesichert gilt, dass sich Böse lange Zeit an der Seite Karl Dietrich Wolffs bewegte und über ihn Aktivisten kennenlernte, welche nach ihrer Mitarbeit in mehreren politischen Zir­ keln zu Mitgliedern der ersten „Revolutionären Zelle“ avancieren sollten. Mit seinem Bruder Frank Wolff hatte Karl Dietrich Wolff 1968 auf dem Gipfel der Studentenbewegung den Bundesvorsitz des SDS inne. Nach dem Schusswaffenanschlag auf Rudi Dutschke im April 1968 nahm er in der Organisation der Proteste eine entscheidende Rolle ein.2613 Ende der 1960er Jahre/Anfang der 1970er Jahre brachte er sich in Frankfurt am Main in die Bildung mehrerer linker Gruppen ein.2614 Einer der ersten Zirkel, der sich auf Karl Dietrich Wolffs maßgebliche Beteiligung stützte, war die „Föderation Neue Linke“ (FNL). Die Namens­ wahl nahm Bezug auf die Selbstbezeichnung der in Südvietnam aktiven Befreiungsbewegung, die sich „Front National de Libération“ nannte. Zur FNL zählten Wilfried Böse, Micha Brumlik, Rainer Demski, Mel­ chior von Gösseln, Rolf Groesch, Hans‑Joachim Klein, Rainer Lindner, Johannes Weinrich und Heinz-Peter Weiss.2615 Zumindest für Johannes Weinrich ist dokumentiert, dass er zu Wolff bereits bei vorangegangenen politischen Handlungen eine Bekanntschaft geknüpft hatte. Nach seinem Wegzug aus Bochum war Wolff ihm Ende der 1960er Jahre im „Sozialis­ tischen Deutschen Studentenbund“ in Frankfurt am Main begegnet. Bei­ de hatten sich gemeinsam in die Proteste gegen den Krieg in Indochina eingebracht und waren als Redaktionsmitglieder der Zeitschrift „Sozialisti­ sche Correspondenz-Infos“ aufgefallen, an der auch Daniel Cohn-Bendit sporadisch mitgewirkt haben soll. Augenscheinlich entwickelte sich Wein­ rich im linken Milieu Frankfurt am Mains – ähnlich wie Böse – zu einer bekannten Persönlichkeit. Er strebte jedoch keine Führungsposition an. Vielmehr habe er sich auf ein Unterstützen Wolffs beschränkt.2616

2611 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 595; Wörle 2008b, S. 258; Pfahl-Traughber 2014a, S. 174. 2612 Klein/Libération 1978, S. 281. 2613 Vgl. Siemens 2006, S. 181. 2614 Vgl. Kraushaar 2017, S. 258. 2615 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 588. 2616 Vgl. Siemens 2006, S. 133-134, 181-182.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Als örtliches Zentrum der „Föderation Neue Linke“ diente laut Klein das am Beethovenplatz gelegene Studentenwohnheim „Walter Kolb“,2617 welches der Frankfurter Ableger des SDS ebenfalls für Versammlungen in Anspruch nahm.2618 Das Wohnheim nutzten Mitglieder der FLN – darunter Böse, von Gösseln, Groesch und Klein – zeitweise als Unter­ kunft.2619 In Abgrenzung zu den aus der „68er-Bewegung“ entstehenden orthodox‑kommunistischen Gruppen begriffen sich die Aktivisten der „Föderation Neue Linke“ als „Anarchosyndikalisten“2620, was indes Abwer­ beversuche kommunistischer Akteure nicht ausschloss. So berichtete Klein in seiner 1979 erstmals veröffentlichten Autobiographie nicht nur von Rekrutierungsbemühungen der „Betriebsprojektgruppe“ um Cohn-Bendit und Fischer. Er schilderte überdies, wie „Marxisten‑Leninisten“ ihn für sich zu gewinnen versuchten.2621 Erwähnung fanden in seinen Erinnerun­ gen zudem die wohl mitunter dilettantischen Aktivitäten der FNL: „Ich las Bücher über die Anarcho-Bewegung und ihre Ziele, und auch bei unseren Sitzungen (und außerhalb) diskutierten wir darüber. Über Vietnam, Black Panther in den USA und andere Schweinereien, die im Namen der ‚Freiheit‘ in der Welt verübt wurden. Ansonsten be­ schränkten wir uns darauf, kleine schwarz-rote Fahnen mit großen handlich dikken [sic] Haltern herzustellen, damit sie nicht etwa bei Stürmen abgerissen wurden. Wie frei und ungezwungen es manchmal bei uns zuging (und doch ernsthaft, wenn’s geboten war), zeigt ein Vorfall: Als wir bei einer Demo mit unseren Fahnen auftauchten, bekam ich fast von `nem [sic] spanischen Genossen eins auf die Fresse. Ich hatte die schwarz-roten Teile der Fahne so zusammengenäht, dass daraus eine faschistische geworden war. Nun, diese Peinlichkeit wurde geklärt, der Lappen kam ab und der Halter fand später doch noch eine angemessene Verwendung. Zum Zweck der körperlichen Ertüch­ tigung.“2622 Kleins Aussagen zufolge konstituierte die militärische Verwicklung der Vereinigten Staaten in den Indochina‑Konflikt einen Schwerpunkt der Aktionen der „Föderation Neue Linke“:

2617 2618 2619 2620 2621 2622

Vgl. Klein 1979a, S. 123. Vgl. Göpfert/Messinger 2017, S. 34; Kraushaar 2017, S. 257. Vgl. Klein 1979a, S. 129; Koenen 2001, S. 340; Kraushaar 2006c, S. 588. Klein 1979a, S. 124. Vgl. ebd., S. 124-125. Ebd., S. 125.

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7.1 Entstehung

„Und immer noch Vietnam, Vietnam und noch mal Vietnam. Wie oft rannten wir durch die Straßen von Frankfurt unter Ho Ho Ho Tschi Minh-Rufen zum Konsulat [der Vereinigten Staaten] oder zum Ameri­ kahaus, um vor den sie schützenden Bullenketten und Wasserwerfern unseren ohnmächtigen Protest herauszubrüllen. Die Ausrottungspoli­ tik der amerikanischen Kriegsverbrecher vom Pentagon und Weißen Haus trieben uns manchmal täglich auf die Straße.“2623 Alsbald hätten erste Angehörige des Frankfurter Protestmilieus „[a]ls Aus­ druck der Liebe und der Solidarität mit dem Kampf des vietnamesischen Volkes“2624 die – vermeintliche – Notwendigkeit erkannt, die Grenze zu illegalen Handlungen zu überschreiten. Ziel der Straftaten waren ameri­ kanische Einrichtungen. Beteiligt gewesen sein sollen unter anderen Mit­ glieder der „Betriebsprojektgruppe“ sowie der „Föderation Neue Linke“. Entsprechende Ausführungen machte Weinrich im Jahre 2005. Im No­ vember 1969 hätten Wolff und er sowie Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer eine Veranstaltung besucht, auf der aktuelle Informationen zu Ver­ lusten unter der Zivilbevölkerung Vietnams Abwägungen zum weiteren Vorgehen auslösten. Cohn‑Bendit, Fischer und Wolff trieben die Diskus­ sionen – angeblich – voran. Von ihnen sei vorgeschlagen worden, das US‑amerikanische Konsulat in der Siesmayerstraße in Frankfurt am Main zu beschädigen. Dieses Votum hätten die Teilnehmer der Zusammenkunft befürwortet; kurz darauf wären mehrere Fensterscheiben des Gebäudes zerstört worden. Laut Weinrich war diese Aktion dazu bestimmt, unter den Bewohnern Frankfurts Zweifel an der Haltung Deutschlands zum amerikanischen Militäreinsatz in Indochina zu streuen.2625 Hinterfragen sollten sie vor allem „das Argument, dort werde auch unsere Freiheit verteidigt“2626. Nicht nur unter Linksextremisten, sondern auch außerhalb der Szene rief die Tat Resonanz hervor. Sie katapultierte den Vietnam­ krieg, so Weinrich rückblickend, in das öffentliche Bewusstsein und sei ihm daher als erfolgreich erschienen.2627 Wie Klein zu berichten wusste, war ein derart positiver Blick auf Gewaltakte im linksextremistischen Mi­ lieu der Stadt umstritten.2628 Er selbst habe die Auffassungen der Kritiker

2623 2624 2625 2626 2627 2628

Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Vgl. Siemens 2006, S. 184-185. Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 185. Vgl. ebd. Vgl. Klein 1979a, S. 132.

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als „ungerecht, arrogant und unverschämt, kurz: unsolidarisch“2629 emp­ funden. Zur Verhinderung weiterer Gewalttaten untersagte die Stadt Frankfurt im Anschluss Demonstrationen. Diese Maßnahme hielt die Gegner des Vietnamkrieges indes nicht davon ab, einen Marsch zum Römerberg zu wagen. Die formelle Verantwortung für die Aktion hatte zuvor Wein­ rich übernommen. Während der Kundgebung kritisierte Karl Dietrich Wolff in einer Rede das Demonstrationsverbot. Darüber hinaus erhob er den 15. November zu einem „Kampftag“, der sich gegen imperialistische Machtstrukturen und eine politisch agierende Justiz richten sollte. Im Zu­ ge der Demonstration entstanden Sachschäden, sechs Polizisten zogen sich Verletzungen zu. Mehr als 30 Teilnehmer wurden festgenommen. Wenige Tage später ließ die Frankfurter Polizei öffentlich erklären, aufgrund der Auswirkungen des „Kampftages“ könnten zivilrechtlich Ansprüche gegen Weinrich und Wolff geltend gemacht werden.2630 Anfang der 1970er Jahre soll die FNL zerfallen sein,2631 die Wege ihrer Mitglieder trennten sich jedoch nicht. Gleichermaßen unverändert blieb ihre Ablehnung der amerikanischen Politik. Noch 19692632 rief Karl Dietrich Wolff gemeinsam mit Wilfried Böse ein „Black‑Panther‑Solida­ ritätskomitee“ ins Leben, welches sich öffentlich mit den Zielen einer von Afroamerikanern in den Vereinigten Staaten gegründeten militanten sozialrevolutionären Organisation verbunden zeigte. Wolff hatte bereits seit geraumer Zeit Sympathien zur „Black Panther Party“ gehegt, deren führenden Aktivisten (darunter Robert George „Bobby“ Seale) er während eines sechswöchigen Aufenthalts in Nordamerika im Frühjahr 1969 begeg­ net war. Um dem US-Militär aktiv Schaden zufügen zu können, unter­ stützte sein „Solidaritätskomitee“ außerdem in Deutschland stationierte schwarze US-amerikanische Soldaten bei ihrer Desertion. Dem „Komitee“ schloss sich Johannes Weinrich an.2633 Hans-Joachim Klein trat ihm eben­ falls bei.2634 Neben Wolff nahmen – angeblich – Böse und Weinrich her­ ausgehobene Stellungen in der Gruppe ein. In den Augen Kleins war Böse

2629 2630 2631 2632 2633

Ebd. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 587. Vgl. Klein 1979a, S. 141. Vgl. Koenen 2001, S. 337. Vgl. Klein 1979a, S. 156; Der Spiegel 1983c, S. 66; Der Spiegel 1995b, S. 28; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 10; Koenen 2001, S. 337; Kraus­ haar 2006c, S. 584-585, 588; Siemens 2006, S. 181, 187; Göpfert/Messinger 2017, S. 206. 2634 Vgl. Klein 1979a, S. 156.

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„einer der aktivsten Genossen“2635. Das spätere RZ‑Mitglied Magdalena Kopp schrieb in ihrem 2007 publizierten Selbstzeugnis zur Position Wein­ richs: „Wenn man KD [Karl Dietrich Wolff] als den Sprecher und Agitator des Komitees bezeichnen konnte, so war Hannes [Johannes Weinrich] der Organisator.“2636 Klein dagegen soll vor allem ob des Befürwortens „sehr radikale[r] und militante[r] Ansichten“2637 von sich reden gemacht und da­ durch Konflikte mit anderen Mitgliedern des „Komitees“ befeuert haben. In diesem Zusammenhang verwies er selbst in seiner Autobiographie auf Streitigkeiten zwischen ihm und Wilfried Böse, die er mit dem Beschaffen von Sturmgewehren des Typs M-16 für die „Black Panther Party“ ausgelöst hatte.2638 Kleins Gewaltorientierung untermauerte überdies eine positive, allerdings nicht kritiklose Haltung gegenüber der sich im Mai 1970 for­ mierten „Roten Armee Fraktion“. Er äußerte dazu: „Und in W-Berlin [Westberlin] ereignete sich 1970 was, worauf ich schon lang [sic] gewartet hatte. Es knallte, und Andreas Baader wurde befreit, die RAF entstand. Dass es dabei geknallt hat, fand ich nicht schön, weil man mit `nem [sic] alten Mann [dem Bibliotheksmitarbei­ ter Georg Linke] auch anders fertig werden kann. Mit derlei Gewis­ sensbisse [sic] hielt ich mich aber nicht lange auf. Es galt zu hören und vor allem zu lesen, wie sich diese Genossen und Genossinnen den weiteren Ablauf vorstellten, wie man sie unterstützen könnte. ‚Dem Volke dienen‘ [Erklärung ‚Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassenkampf‘ der RAF aus April 1972], ließ nicht lange auf sich warten, und in der Linken begann sich schnell eine breite Diskussion darüber zu entwickeln. Die Mehrheit der Genossen lehnte diese Poli­ tik als Abenteurertum ab. Ich fand, dass diese Politik, der bewaffnete Kampf, den nun einige Genossen und Genossinnen aufgenommen hatten, eine richtige Entscheidung der Genossen/innen war und eine notwendige dazu.“2639 Das „Solidaritätskomitee“ hielt in Frankfurt am Main „Veranstaltungen und Demos“2640 ab und stellte Verbindungen zur „Black Panther Party“ in den USA her, deren Traktate die Komiteemitglieder rezipierten.2641 Au­ 2635 2636 2637 2638 2639 2640 2641

Ebd. Kopp 2007, S. 65. Klein 1979a, S. 156. Vgl. ebd. Ebd., S. 153-154. Ebd., S. 151. Vgl. ebd.

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ßerdem versuchte es, „Jungarbeiter- und Lehrlingsgruppen“2642 als „Rote Panther“ für sich zu gewinnen. Ausfluss dieser Rekrutierungsbemühungen waren ideologische Unterweisungen im Marxismus sowie Hilfsleistungen bei alltäglichen Aufgaben, wie zum Beispiel der Wohnungs- und Berufs­ suche.2643 Weinrich war in diesem Zeitraum mit der US-Amerikanerin Jessica Scott verheiratet, die er in einem 2005 mit Anne Maria Siemens geführten Interview als „eine sehr kompetente Genossin der Black Pan­ ther“2644 darstellte. Scotts Reisepass nutzte das „Solidaritätskomitee“, um Kathleen Cleaver – einer Scott ähnlich sehenden Aktivistin der „Black Pan­ ther Party“ – Anfang der 1970er Jahre die illegale Einreise in die Bundesre­ publik zu ermöglichen. Cleaver sprach anschließend auf einem Teach-in in Heidelberg, das Böse, Weinrich und Wolff organisiert hatten.2645 Klein ge­ hörte eigenen Aussagen zufolge einer „Schutzgruppe“ an, welche die Red­ nerin vor einer polizeilichen Verhaftung schützen sollte.2646 Unterschlupf fand Cleaver in der Mietwohnung der Fotografin Magdalena Kopp. Diese soll dem „Black‑Panther‑Solidaritätskomitee“ zuvor Hilfe beim Fälschen eines Ausweisdokuments geleistet haben, das ein desertierter US‑amerika­ nischer Soldat nutzte. Kathleen Cleaver brachte das „Komitee“ vermutlich in Kontakt mit ihrem zu diesem Zeitpunkt in Algerien untergetauchten Ehemann Eldrige Cleaver. Über Eldrige Cleaver entstanden laut Kopp wiederum erste Beziehungen zur „Popular Front for the Liberation of Palestine“.2647 Weitere Verbindungen zwischen dem „Solidaritätskomitee“ und der „Black Panther Party“ wurden im November 1970 im Zuge eines Schusswechsels zwischen Mitgliedern der „Black Panther“ und Sicherheits­ kräften am Eingang der US‑amerikanischen Luftwaffenbasis bei Ramstein offenbar. Zum Tatort waren die „Black Panther“ in einem Kraftwagen ge­ fahren, den Magdalena Kopp Aktivisten des „Solidaritätskomitees“ geborgt hatte.2648 Verbunden blieben die wesentlichen Akteure des „Black-Panther-Soli­ daritätskomitees“ auch durch ihr Engagement in anderen linksextremis­ tischen Zirkeln. Hans-Joachim Klein sei in der Stadtteilgruppe „Roter Gallus“ mit Wilfried Böse wiedervereint worden, nachdem er das „Solida­

2642 2643 2644 2645 2646 2647 2648

Koenen 2001, S. 337. Vgl. Siemens 2006, S. 222. Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 221. Vgl. ebd. Vgl. Klein 1979a, S. 151. Vgl. Siemens 2006, S. 187; Kopp 2007, S. 58. Vgl. Der Spiegel 1983c, S. 66; Kopp 2007, S. 51-52.

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ritätskomitee“ zwischendurch verlassen hatte.2649 Weitere Mitglieder des „Roten Gallus“ waren Frank und Karl Dietrich Wolff, Weinrich sowie Ger­ hard Albartus, Sabine Eckle und Thea Vogel.2650 Der Name der Gruppe bezog sich auf den Frankfurter Bezirk Gallus – einen sozialen Brennpunkt. Die Aktivisten verschrieben sich der Intention, in dem Stadtteil „Politisie­ rungseffekte unter marginalisierten und depravierten Schichten“2651 zu erwirken. Eine herausgehobene Stellung habe – neben Wolff – erneut Wil­ fried Böse eingenommen, der als Mitglied der Gruppe unter anderem in einem Straßentheater „immer den bösen Kapitalisten“2652 darstellte. Nach nur kurzer Zeit soll der „Rote Gallus“ allerdings zerfallen sein.2653 Als Ur­ sache kommen enttäuschte Erwartungen der Aktivisten in Betracht. Wein­ rich gab zu verstehen, im Kontakt zu Arbeitern zeigten sich zahlreiche „theoretische Vorstellungen, mit denen wir an die Arbeit herangegangen waren, […] als unbrauchbar“2654. Entgegen der im „Roten Gallus“ zirku­ lierenden Auffassungen sollen diese aufgrund „der Versorgung und der geregelten Arbeitsverhältnisse“2655 wehmütig auf die Herrschaft der Natio­ nalsozialisten zurückgeblickt haben. Die Arbeiter seien schlicht „anders strukturiert“2656 gewesen. Aufbauend auf diesen ernüchternden Erfahrun­ gen schlussfolgerte Weinrich, es könne nicht mehr darum gehen, weitere Theorien aufzustellen. Vielmehr müsse das eigene Handeln unmittelbar an die Situation des revolutionären Subjekts anknüpfen.2657 Bemerkenswert bleibt im Hinblick auf diesen Zeitraum der unterschiedliche Umgang der Aktivisten mit der Frage „revolutionärer“ Gewaltanwendung. Während Klein weiterhin militanten Auffassungen anhing,2658 mündeten die im „Roten Gallus“ erlebten Rückschläge bei Böse und Weinrich augenschein­ lich nicht in einer zunehmenden Radikalisierung. Böse soll laut Klein mit „[k]ein[em] Wort über die Möglichkeiten eines bewaffneten Kampfes oder dergleichen in der BRD“2659 gesprochen haben. Auch Weinrich habe

2649 2650 2651 2652 2653 2654 2655 2656 2657 2658 2659

Vgl. Klein 1979a, S. 156. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 588; Siemens 2006, S. 183. Kraushaar 2006c, S. 588. Klein/Libération 1978, S. 280. Vgl. Klein 1979a, S. 156; Koenen 2001, S. 337-338. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 183. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 184. Vgl. Klein 1979a, S. 156; Koenen 2001, S. 340. Klein 1979a, S. 156.

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sich nicht durch affirmative Aussagen als gewaltbefürwortend hervorgeho­ ben.2660 Ab 1970 machte der Personenkreis um Karl Dietrich Wolff mit verle­ gerischen Tätigkeiten auf sich aufmerksam. Im Mai 1970 erschien im „März‑Verlag“ in Frankfurt am Main eine Neuauflage des 1927 erstmals veröffentlichten Werks „Das politische Grundwissen des jungen Kommu­ nisten“, zu der Wilfried Böse, Michael Schwarz, Johannes Weinrich und Karl Dietrich Wolff die Vorbemerkungen verfasst hatten.2661 Mit diesem Projekt sollte offenbar in erster Linie die Arbeit der Gruppe „Rote Pan­ ther“ gestärkt werden.2662 Wohl ab Sommer 1970 bauten sie gemeinsam den Verlag „Roter Stern“ auf.2663 Wer Weinrich folgt, wird hinter dem Projekt das Ziel verborgen sehen, die unter anderem im „Black‑PantherSolidaritätskomitee“ entfaltete Praxis um eine propagandistische Publika­ tionsarbeit zu erweitern und somit „durch Aufklärung und Bildung ein Bewusstsein für die Missstände in der bundesdeutschen Gesellschaft und der internationalen Politik zu schaffen.“2664 Hiermit verbunden gewesen sei der Anspruch, zu den „Kontroversen in der Gesellschaft […] neue Wege der Bewältigung aufzuzeigen“2665. Der Verlag sollte darüber hinaus der erkennbaren Zersplitterung der „Außerparlamentarischen Opposition“ entgegenwirken.2666 Das Programm des jungen Unternehmens deckte unterschiedliche ideo­ logische Strömungen ab. Es beinhaltete die Periodika „Erziehung und Klassenkampf“2667 sowie „Antiimperialistischer Kampf“. Letztes griff in den ersten Ausgaben vor allem die US-amerikanische Politik sowie die Aktivitäten der „Black Panther Party“ in den Vereinigten Staaten auf.2668 Darüber hinaus replizierte der Verlag Texte der „Black Panther“ sowie Aufsätze Rosa Luxemburgs und Alexandra Kollontais.2669 Ebenso nahm nach Aussagen von Magdalena Kopp „Nordkorea […] eine wichtige Rol­

2660 2661 2662 2663 2664 2665 2666 2667 2668 2669

Vgl. Siemens 2006, S. 183. Vgl. ebd., S. 187-188. Vgl. Sonnenberg 2016, S. 191. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 588; Siemens 2006, S. 216; Kopp 2007, S. 48; Winkler 2008, S. 269; Göpfert/Messinger 2017, S. 207; Kraushaar 2017, S. 261. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 216. Kopp 2007, S. 48. Vgl. Siemens 2006, S. 216-217. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 11; Winkler 2008, S. 269. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 590. Vgl. Kopp 2007, S. 49.

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le“2670 ein. Im September 1970 trat Wolff – angeblich – mit zwei Beglei­ terinnen eine sechswöchige Reise in das kommunistische Land an2671 – ein unkritischer, streckenweise banaler Bericht folgte.2672 Hans‑Joachim Klein ließ 1979 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erkennen, dass nicht nur Wolff intensivere Verbindungen zur „Volksrepublik Korea“ aufwies: Wilfried Böse hatte ihm berichtet, er sei einer Einladung der nordkoreanischen Regierung gefolgt und habe das kommunistisch geführ­ te Land ebenfalls besucht.2673 Wolff und Böse seien in einem „Korea‑Ko­ mitee“ aktiv gewesen,2674 das laut Kopp auf Verbindungen zur Botschaft Nordkoreas in Ostberlin zurückgreifen konnte.2675 Angehörige des Verlags „Roter Stern“ bauten Anfang der 1970er Jahre ein „Import-Export-Unter­ nehmen“2676 auf, das dem nordkoreanischen Regime beim Beschaffen von Devisen behilflich sein sollte. Wolffs Angaben zufolge erwarb die Firma unter anderem „Sprudelbäder für die Badewannen der Mitglieder des Par­ teibüros.“2677 Ab 1971 gab der „Rote Stern“ Werke des nordkoreanischen Staatsgründers Kim Il‑Sung „in Volks- wie in Prachtausgaben (mit Gold­ schnitt und Ledereinband)“2678 heraus – dies sei vor allem auf Wolff zu­ rückzuführen. Zumindest in Kopps Augen wirkte er in diesem Zeitraum als „ein glühender Verfechter der sogenannten Juche‑Ideen aus Nordkorea […], der Utopie einer radikalen Autarkie.“2679 Kraushaar stellte diesbezüg­ lich in einem 2006 publizierten Beitrag eine These auf, derzufolge die ostentative Verbundenheit mit dem kommunistischen Regime nicht einer politischen Überzeugung, sondern materiellen Interessen entsprungen sein könnte. Schließlich – so argumentierte er ohne Quellenangabe – soll sich die finanzielle Situation des Verlags nach Wolffs Aufenthalt in Nordkorea erheblich verbessert haben.2680 Kopp griff diese Annahme in ihren Erinne­ rungen auf, konnte sie aber weder dementieren noch bestätigen, da sie „zu wenig Einblick in die Geschäfte“2681 des Unternehmens gehabt habe.

2670 2671 2672 2673 2674 2675 2676 2677 2678 2679 2680 2681

Ebd. Vgl. Koenen 2001, S. 337; Kraushaar 2006c, S. 590. Vgl. Wolff 1973. Vgl. Klein 1979c, S. 110. Vgl. Klein 1979a, S. 172; Koenen 2001, S. 338. Vgl. Kopp 2007, S. 49. Sonnenberg 2016, S. 189. Karl Dietrich Wolff, zit. n. ebd., S. 190. Koenen 2001, S. 338. Kopp 2007, S. 49. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 590. Kopp 2007, S. 49.

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Wie ihr Freund Michael Leiner avancierte Magdalena Kopp zu einem tragenden Akteur der Verlagsarbeit. Beide hatten in der Frankfurter links­ extremistischen Szene durch ihre Tätigkeiten im Filmkollektiv „Epplwoi Motion Pictures“ Bekanntheit erlangt.2682 Insbesondere unter „Studenten, die in Stadtteilprojekten mitarbeiteten oder bei Opel in Rüsselsheim die Arbeiter für den Klassenkampf agitierten“2683, sei ihr Name ein Begriff ge­ wesen. An den „Roten Stern“ wären sie Mitte 1970 nach einer Empfehlung Frank Wolffs geraten, zu dem sie bereits seit Längerem ein Kennverhältnis unterhalten haben sollen.2684 Für den Verlag erstellte Leiner anfangs vor allem Plakate, die auf Veranstaltungen zum Einsatz kamen. Kopp habe in ihrer „Dunkelkammer alles an[gefertigt], was er für die Ausführung seiner Ideen brauchte“2685. Eigenen Aussagen zufolge befasste sie sich mit der Auswahl von Fotografien sowie mit dem Vergrößern von Zeichnungen und Schriftzügen, die Leiner entworfen hatte. Im Dezember 1970 wurden sie Eltern.2686 Nachdem Kopp und Leiner konzeptionelle Überlegungen zur einheitlichen Gestaltung der vom „Roten Stern“ genutzten Buchum­ schläge aufgestellt hatten, sei es im Mai 1973 zu einem festen Arbeitsver­ hältnis mit dem Verlag gekommen. Kopp ging in der Folgezeit eine Affäre mit Weinrich ein; 1974 trennte sie sich von Michael Leiner.2687 Publikationen ließ das Unternehmen „Roter Stern“ – ähnlich wie die Gruppe „Revolutionärer Kampf“ um Joschka Fischer – oftmals in der 1970 geschaffenen Druckerei „Gegendruck Gaiganz“ vervielfältigen, wel­ che mit dem im Jahr zuvor gegründeten Verlag und Buchhandel „Po­ litladen Erlangen“ personell verflochten war. So war beispielsweise das ehemalige Erlangener SDS-Mitglied2688 Gerd‑Hinrich Schnepel in beide Betriebe eingebunden. Die Druckerei nahm Aufträge unterschiedlichster Akteure des deutschen Linksextremismus entgegen: Der Kundenstamm habe von orthodox-kommunistischen Zirkeln bis zu anarchistischen Zu­ sammenschlüssen gereicht.2689 Neben geschäftlichen Beziehungen verban­ den „Gegendruck“ und „Roter Stern“ persönliche Vernetzungen. Wilfried Böse habe „gute Kontakte zur Druckerei“2690 aufweisen können, ebenso

2682 2683 2684 2685 2686 2687 2688 2689 2690

Vgl. ebd., S. 47-48. Ebd., S. 48. Vgl. Siemens 2006, S. 217. Kopp 2007, S. 51. Vgl. ebd., S. 51-52. Vgl. ebd., S. 60, 65-66. Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 107. Vgl. Siemens 2006, S. 217-219; Sonnenberg 2016, S. 177-178. Kopp 2007, S. 72.

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seine Freundin Brigitte Kuhlmann, die nicht in die Verlagsarbeit involviert gewesen sei.2691 Laut Kopp verliebte sich die aus Hannover stammende Pädagogikstudentin2692 schließlich in Schnepel.2693 Magdalena Kopp sei nach ihrer Trennung von Michael Leiner zeitweise mit ihrer Tochter in einer Wohngemeinschaft in Gaiganz untergekommen, die Schnepel und der Leiter des „Gegendrucks“ aufgebaut hatten. Auch Weinrich habe die Unterkunft regelmäßig besucht. Beide hätten sich in die Aktivitäten der Druckerei eingebracht.2694 7.1.2 „Rote Hilfe“, „Rote Armee Fraktion“, Palästinenser (1971 bis 1973) Während sich in Frankfurt am Main der Verlag „Roter Stern“ etablierte, forderten die terroristischen Aktivitäten der „Tupamaros Westberlin“ so­ wie der „Roten Armee Fraktion“ die ersten Festnahmen und Todesopfer. In Schusswechseln mit der Polizei starben am 15. Juli und 4. Dezember 1971 das RAF-Mitglied Petra Schelm sowie der den TW angehörende Ak­ tivist Georg von Rauch.2695 Die Folgen der Auseinandersetzung zwischen Staat und gewaltbereiten Linksextremisten blieben im Personenkreis um Karl Dietrich Wolff nicht unbeachtet. Im Gegenteil: Weinrich sah den Tod von Rauchs retrospektiv als „ganz entscheidenden Punkt“2696 seines extremistischen Werdegangs. Damals habe die Szene in Frankfurt am Main unter dem Eindruck gestanden, Vertreter staatlicher Gewalt hätten „einen aus unserer Mitte umgebracht.“2697 Dies habe „eine ernste, finste­ re, aggressionsgeladene Atmosphäre“2698 bedingt. In ihm sei die Überzeu­ gung herangewachsen, der deutsche Staat reagiere nunmehr nicht nur mithilfe gesetzlicher Änderungen und polizeilicher Einschränkungen auf oppositionelle Bestrebungen, sondern auch durch das Inkaufnehmen töd­ licher Konsequenzen.2699 Laut Klein begründeten von Rauchs Ableben sowie die Lage inhaftierter Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ in Frankfurt die Bereitschaft, solidarisch für Opfer staatlicher Maßnahmen

2691 2692 2693 2694 2695 2696 2697 2698 2699

Vgl. ebd., S. 62, 72. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 28; Kopp 2007, S. 64. Vgl. Kopp 2007, S. 66. Ähnlich Kraushaar 2017, S. 262. Vgl. Siemens 2006, S. 218; Kopp 2007, S. 72. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 525; Peters 2008, S. 253. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 223. Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 224. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 223-224.

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einzutreten.2700 Ergebnis war die Bildung eines Ablegers der bundesweit aktiven „Roten Hilfe“ (RH), welche 1970 in Westberlin ins Leben gerufen worden war und die RAF unter anderem mit einer gleichnamigen Zeit­ schrift propagandistisch unterstützte.2701 An dem Entstehen des Zirkels sollen Wilfried Böse und Til Schulz mitgewirkt haben. Klein, Weinrich und Wolff traten der Gruppe bei.2702 Wer Klein folgt, schreibt der Frankfurter RH den anfänglichen Konsens zu, sich nicht ausschließlich als „Genossen-Gefangenenfürsorge-Verein“2703 auf die Haftbedingungen der „politischen“ Häftlinge aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ zu konzentrieren. Jedem Angehörigen der links­ extremistischen Szene, „der die staatliche Gewalt zu spüren bekommen hatte“2704, sollte unabhängig von seiner politischen Zugehörigkeit eine Hilfestellung geboten werden. Faktisch sei die Arbeit des Ablegers jedoch im Laufe der Zeit zunehmend von der Situation inhaftierter RAF‑Ange­ höriger bestimmt worden.2705 Mit ihrem Einsatz für die „Gefangenen“ hob sich die „Rote Hilfe“ in Frankfurt am Main schnell von ähnlichen Gruppen in Hamburg, München und anderen deutschen Städten ab.2706 Ihre Aktivisten „[w]aren pausenlos am Agieren, Demonstrieren, Geld sam­ meln, Plakate drucken etc. pp.“2707 Kleins Aussagen zufolge fußte dieses Engagement bei vielen auf einem ambivalenten Verhältnis zur „Roten Armee Fraktion“ und der Anfang 1972 unter anderen aus den „Tupamaros Westberlin“ hervorgegangenen „Bewegung 2. Juni“2708: „Die meisten Genossen/innen bei uns – und das waren außer mir und drei, vier anderen alle – wollten den Gefangenen von der RAF in den Knästen helfen, ohne sich aber deshalb gleich mit der Politik der RAF zu identifizieren. Nicht weil sie Angst hatten, diesen Weg zu vertreten oder zu gehen, sondern weil sie die Politik der RAF und des ‚2. Juni‘ für falsch hielten, sie ablehnten.“2709

2700 2701 2702 2703 2704 2705 2706 2707 2708 2709

Vgl. Klein 1979a, S. 164. Vgl. Bundesministerium des Innern 1973, S. 61; Rabert 1995, S. 123. Vgl. Klein 1979a, S. 41, 46, 142, 164; Siemens 2006, S. 279. Klein 1979a, S. 164. Ebd., S. 165. Vgl. ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1973, S. 61. Klein 1979a, S. 168. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548. Klein 1979a, S. 168.

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7.1 Entstehung

Zu den Angehörigen der „Roten Hilfe“, welche der „Stadtguerilla“ zwie­ spältig gegenüberstanden, zählte Johannes Weinrich. Obgleich er mit „eine[r] gewisse[n] Fremdheit“2710 auf die „Rote Armee Fraktion“ geblickt habe, sei sie von ihm als „legitime[r] und notwendige[r] Teil“2711 des in der Bundesrepublik existierenden linksextremistischen Protestmilieus begriffen worden. Anfang der 1970er Jahre, so Weinrich im Rückblick, erkannte er sukzessive die Notwendigkeit, neue Wege zum Durchsetzen der eigenen politischen Ziele beschreiten zu müssen. Schlussendlich sei er zu der Erkenntnis gelangt, der Konflikt mit dem Staat werde im Laufe der Zeit in einer bewaffneten Auseinandersetzung münden. Um diese führen zu können, müssten Vorbereitungen getroffen werden. Ergänzend schilderte er dazu 2005 im Gespräch mit Anne Maria Siemens: „Vor diesem Hintergrund war klar, die RAF macht Erfahrungen, die wir alle brauchen und von denen wir lernen mussten. […] Die Fehler, welche die RAF möglicherweise machte, würde sie für uns machen, al­ so für die gesamte Linke. Ich habe versucht, daraus zu lernen. Mit der RAF konfrontiert zu sein, hieß überhaupt nicht, sich ihr anschließen zu müssen oder selbst die Waffe in die Hand zu nehmen, sondern zu­ nächst nur zu akzeptieren, dass verschiedene Teile der Bewegung auf verschiedenen Ebenen agierten. [D]eshalb fühlte ich mich solidarisch mit der RAF.“2712 Abgesehen von der Rolle der „Roten Armee Fraktion“ als Orientierungs­ punkt im politischen „Widerstand“ rechtfertigte in Weinrichs Augen be­ reits die geteilte Historie in und nach der „68er-Bewegung“ eine grundsätz­ liche Verbundenheit mit der „Roten Armee Fraktion“. Die Angehörigen der RAF „waren unsere Leute, mit der gleichen […] Geschichte und den gleichen Erfahrungen.“2713 Auf der Grundlage dieser Solidarität ließ die RH Inhaftierten wie „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ logistische Unterstützung zukommen. Weinrich rief sich dazu in Erinnerung: „Es war klar, dass die RAF-Leute im Gefängnis und in der Illegalität Hilfe brauchten. Das waren ganz praktische Fragen wie Wohnungen oder Geld oder für die Gefangenen Päckchen oder Besuche.“2714

2710 Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 273. Vgl. auch Schmal­ dienst/Matschke 1995, S. 16. 2711 Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 273. 2712 Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 273-274. 2713 Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 279. 2714 Johannes Weinrich, zit. n. ebd.

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Während Weinrich 1972 in Bochum mit einem an der Zeitschrift „Erzie­ hung und Klassenkampf“ beteiligten Aktivisten zusammenzog, dort eben­ falls an der „Roten Hilfe“ sowie den „Roten Panthern“ mitwirkte und einen „Politischen Buchladen“ aufbaute und betrieb,2715 gerieten Böse und seine Freundin Brigitte Kuhlmann in das engere Unterstützerumfeld der „Roten Armee Fraktion“. Über den Verlag „Roter Stern“, der am 14. Juni 1972 in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung unter dem Alleinver­ tretungsrecht Johannes Weinrichs und des Leiters der Marburger Buch­ handlung „Roter Stern“, Christian Boblenz, umgewandelt wurde, blieb die augenscheinlich enge Freundschaft Böses und Weinrichs bestehen.2716 Die RAF hatte Ende 1970 aufgrund des hohen Fahndungsdrucks in West­ berlin den Entschluss gefasst, den Großteil ihrer Strukturen nach West­ deutschland zu verschieben. Zu einem neuen Aktionsraum des Zirkels war in der Folgezeit Frankfurt am Main geraten.2717 Wie Magdalena Kopp 2004 gegenüber Anne Maria Siemens sowie später erneut in ihrer Autobio­ graphie zu verstehen gab, bauten Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann Verbindungen zu den „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ auf. Auch Beziehungen zur „Bewegung 2. Juni“ sollen entstanden sein. Die Kontakte zur RAF rührten – angeblich – von persönlichen Bekanntschaften her, welche sich noch vor der Gründung der „Roten Armee Fraktion“ ergeben haben sollen.2718 Nach Aussagen des ehemaligen RAF-Aktivisten Gerhard Müller aus dem Jahre 1976 avancierte Böse unter dem Beinamen „der kleine Dicke“ zu einer bedeutsamen Figur in der Logistik der Gruppe um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Ab Dezember 1971 habe er Unter­ stützungsleistungen erbracht. Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe sei Böse bei einem Treffen im Frankfurter Bezirk Nordweststadt begegnet. Er soll der RAF bei verschiedenen Gelegenheiten Sturmgewehre sowie Batterien zur Verfügung gestellt haben, die zur Konstruktion von Sprengsätzen erforderlich waren. Ferner war er – angeblich – mit Boten­ diensten im Austausch zwischen den Zirkeln der „Roten Armee Fraktion“ in Frankfurt am Main, Hamburg und Westberlin sowie mit dem Verviel­ fältigen und der Distribution der von der RAF verfassten Texte betraut. Müller selbst habe Böse beim Auflösen einer konspirativen Wohnung im

2715 Vgl. ebd., S. 225, 279; Kopp 2007, S. 66-67. 2716 Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 11, 254; Kraushaar 2006c, S. 588-589; Kopp 2007, S. 66-67; Sonnenberg 2016, S. 191-192. 2717 Vgl. Peters 2008, S. 227. 2718 Vgl. Siemens 2006, S. 285; Kopp 2007, S. 62.

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7.1 Entstehung

hessischen Heusenstamm kennengelernt. Seinen Ausführungen zufolge verstauten sie die im Unterschlupf abgelegten Schuss- und Explosivwaffen sowie andere Gegenstände und Materialien in Reisetaschen, die sie an­ schließend in einem Kraftwagen nach Frankfurt verbracht hätten.2719 Bei weiteren Zusammentreffen stieß Müller offenbar auf Weggefährten Böses. Unter anderem führte er zu einem Treffen in der Hansaallee in Frankfurt am Main aus, an dem neben Böse eine Person mit herausgehobener Stel­ lung im Verlag „Roter Stern“ teilgenommen habe. Später war er sich in einer polizeilichen Vernehmung sicher, diesen Begleiter als Karl Dietrich Wolff identifizieren zu können. In der Zusammenkunft soll das Beschaf­ fen von Explosivmaterialien im Mittelpunkt gestanden haben. Wolff, so entsann sich Müller, hielt sich während des Austauschs weitgehend im Hintergrund.2720 Um „deutschen RAF‑Kadern […] als Waffenlieferant“2721 behilflich sein zu können, griff Böse wohl mitunter auf seine Verbindun­ gen zur „Black-Panther-Party“ zurück. So soll er Waffen erworben haben, die von den „Black Panther“-Aktivisten Vernon Branch und Rodney Samp­ son am 19. November 1970 aus der US‑amerikanischen Ayers-Kaserne im hessischen Kirch-Göns entwendet worden waren. Insgesamt 17 Pistolen hatten sie in ihren Besitz gebracht, darunter Pistolen des Herstellers „Colt“ sowie Faustfeuerwaffen des Kalibers .22. Zwei der „Colts“ wurden später der „Roten Armee Fraktion“ zugeordnet: In Berlin entdeckten die Sicher­ heitsbehörden einen „Colt“ in einer Postsendung der Gruppe. Die andere Pistole fand sich in einem verdeckten Unterschlupf der RAF in Frankfurt am Main.2722 Wilfried Böse blieb Gerhard Müller als bestimmend auftretende Person in Erinnerung.2723 Er sei geneigt gewesen, andere „zu seinem Arbeiter zu machen.“2724 Dies habe – von Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof abgebaute – Reibungen verursacht. In einem Gespräch mit Meinhof habe Müller den Eindruck gewonnen, Böse würde im Vergleich zu ihm ein höherer Stellenwert zukommen. Unter den führenden Aktivisten der Ers­ ten Generation der „Roten Armee Fraktion“ habe Böse schließlich als potentielles Mitglied gegolten. Laut Müller formulierte Ensslin die Forde­ rung, ihn in die Gruppe aufzunehmen.2725 Er sollte „über einen Banküber­ 2719 2720 2721 2722 2723 2724 2725

Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592-593. Vgl. ebd., S. 594. Der Spiegel 1981c, S. 121. Vgl. ebd.; Kraushaar 2006c, S. 594. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592-593. Gerhard Müller, zit. n. ebd., S. 593. Vgl. ebd.

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fall in Kaiserslautern näher an die Gruppe gebunden werden“2726. Böse verschrieb sich jedoch anderen Planungen. So soll Andreas Baader seine Intention bekannt gewesen sein, selbst eine terroristische Gruppe aus der Taufe zu heben. Müller sei dieses Ziel durch Böses Handlungen aufgefal­ len. Nicht nur habe er den Versuch unternommen, Aktivisten der RAF für seine Zwecke zu gewinnen. Überdies wäre er bestrebt gewesen, im Zuge seiner Unterstützungsfunktion einen möglichst vollständigen Einblick in die Aktivitäten und das nähere Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ zu erhalten.2727 Dass Böse bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1972 die Schaffung eines weiteren Akteurs der „Stadtguerilla“ in den Blick fasste und in Angriff nahm, lässt sich auch aus einer anderen Quelle nachvollzie­ hen. Müllers Aussagen korrespondieren in Teilen mit den 1979 erstmals veröffentlichten Erinnerungen Hans-Joachim Kleins. Dieser berichtete, Bö­ se habe sich kurz nach dem Entstehen des Ablegers der „Roten Hilfe“ in Frankfurt am Main von diesem Zirkel losgesagt. Jahre danach schilderte Böse Klein, er habe diesen Schritt unternommen, „weil er die [erste] ‚Revo­ lutionäre Zelle‘ gründete.“2728 Klein verblieb in der RH und brachte sich zudem in den Frankfurter Häuserkampf im Stadtbezirk Westend ein. Dabei beobachtete er die „Of­ fensive `72“ der „Roten Armee Fraktion“ sowie die sich anschließenden Diskussionen im linksextremistischen Milieu.2729 Angesichts der in der legalen politischen Arbeit zusehends erlebten Erfolglosigkeit2730 stellte sich ihm die Gewaltanwendung der RAF erneut grundsätzlich positiv dar: „Endlich waren Genossen/innen in der BRD dazu übergegangen, die Waffen der Kritik auch in die Sprache der Waffen umzusetzen. Ich verstand und akzeptierte voll und ganz ihre Entscheidung, dies nun zu tun.“2731 Die von der „Roten Armee Fraktion“ ausgewählten Ziele fanden indes nicht seine uneingeschränkte Zustimmung. Er „gehörte zu jenen Genos­ sen, die hundertprozentig zu dem Bombenattentat [am 11. Mai 19722732]

2726 2727 2728 2729 2730 2731 2732

Gerhard Müller, zit. n. ebd., S. 592. Vgl. ebd., S. 593. Klein 1979a, S. 164. Vgl. ebd., S. 158-161. Vgl. ebd., S. 162. Ebd. Vgl. Peters 2008, S. 285.

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im Ffm. IG-Farbenhaus standen.“2733 Auch die gegen den Bundesrichter Wolfgang Buddenberg gerichtete Tat habe er befürwortet, die Angriffe auf die Polizeidirektion Augsburgs sowie das bayerische Landeskriminalamt in München am 12. Mai 19722734 dagegen mit Skepsis beobachtet.2735 Gänz­ lich ablehnend reagierte er – angeblich – auf den Anschlag, der am 19. Mai 19722736 das Gebäude des Verlags „Axel Springer“ in Hamburg traf.2737 Dieser galt ihm zum damaligen Zeitpunkt, so Klein rückblickend in seiner Autobiographie, als „ein übler politischer Fehler“2738. In Bochum nahm Johannes Weinrich von der „Mai-Offensive“ der „Ro­ ten Armee Fraktion“ Abstand. Ähnlich wie im Falle Kleins mündete die kritische Auseinandersetzung mit den Handlungen der RAF allerdings nicht in einer Abkehr vom „bewaffneten Kampf“.2739 Prägend sollen für Weinrich in dieser Phase polizeiliche Maßnahmen gewesen sein,2740 wel­ che offenbar Ergebnis der gegen den Terrorismus der „Roten Armee Frak­ tion“ gerichteten staatlichen Bekämpfungsstrategie waren. Neben dem Aufbau des Buchladens bestimmte vor allem die politische Arbeit an der Universität Bochum seinen Alltag. Beides sei zu seinem „Lebensinhalt“2741 geworden. Weinrich schloss sich den „Sozialistischen Arbeitsgruppen“ (SAG) an und übernahm als deren Mitglied die Leitung des Studenten­ werks.2742 1972 kam es zur Durchsuchung der Räumlichkeiten einer Wohngemeinschaft, in der er sich gemeinsam mit anderen Angehörigen der SAG aufgehalten haben soll. In einem später von der „Roten Hilfe“ und dem „Allgemeinen Studierendenausschuss“ der Bochumer Universi­ tät verbreiteten Handzettel hieß es, etwa 100 mit Schnellfeuergewehren und Pistolen bewaffnete Beamte hätten das Haus durchsucht und mehr als neun Personen verhaftet. Gestützt worden sei dies auf den Verdacht, die Unterkunft könnte mit der „Roten Armee Fraktion“ in Verbindung stehen. Das Flugblatt kolportierte darüber hinaus, Weinrich habe zu Beginn des Polizeieinsatzes das Vorzeigen eines Durchsuchungsbefehls

2733 Klein 1979a, S. 161. Ähnlich Klein/Der Spiegel 1978, S. 72; Klein/Libération 1978, S. 279. 2734 Vgl. Peters 2008, S. 286-287. 2735 Vgl. Klein 1979a, S. 166. 2736 Vgl. Peters 2008, S. 289. 2737 Vgl. Klein 1979a, S. 161, 166-167. 2738 Ebd., S. 167. 2739 Vgl. ebd., S. 169; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 13. 2740 Vgl. Siemens 2006, S. 280. 2741 Kopp 2007, S. 67. 2742 Vgl. Siemens 2006, S. 225.

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verlangt.2743 Diesem Wunsch sei nicht entsprochen worden. Stattdessen hätten die Polizisten ihn „gleich gefesselt und die halbe Treppe hinunter­ gestoßen.“2744 Der Zettel endete in der Forderung, sich solidarisch gegen – angebliche – sicherheitsbehördliche Einschüchterungsversuche und poli­ tische Repression zur Wehr zu setzen.2745 Im Juni 1972 gelang den deutschen Sicherheitsbehörden ein entschei­ dender Schlag gegen die Erste Generation der „Roten Armee Fraktion“. Nachdem es zur Festnahme Andreas Baaders, Holger Meins‘, Jan-Carl Ras­ pes und Gudrun Ensslins in Frankfurt und Hamburg gekommen war, setz­ te die Polizei Ulrike Meinhof in einer Wohnung in Hannover fest.2746 Wie das ehemalige RZ-Mitglied Gerd-Hinrich Schnepel im Jahr 2000 in einem Interview darlegte, sei ihr der Unterschlupf zuvor von Brigitte Kuhlmann empfohlen worden.2747 Selbiges gab auch Magdalena Kopp 2007 in ihren Erinnerungen preis.2748 Kuhlmann habe die Verhaftung „natürlich schwer getroffen“2749. Gemeinsam mit Wilfried Böse forcierte sie in den folgen­ den Monaten offenbar die notwendigen Vorkehrungen zur Gründung der „Revolutionären Zelle“.2750 Dies geschah vor dem Hintergrund einer in ge­ waltbereiten linksextremistischen Kreisen zu beobachtenden Kontroverse um die Vor- und Nachteile des von der „Roten Armee Fraktion“ geprägten terroristischen „Widerstandes“.2751 Böse und Kuhlmann sollen in diesem Zeitraum Positionen der RAF und Standpunkten der „Bewegung 2. Juni“ beigepflichtet, beide Gruppen jedoch auch mit Ablehnung wahrgenom­ men haben.2752 Mit der „Roten Armee Fraktion“ und der B2J verband die Gründer der „Revolutionären Zellen“ nach Auffassung Gerd‑Hinrich Schnepels eine eng umgrenzte „Basissolidarität“, die in erster Linie auf einem gemeinsamen Befürworten des „bewaffneten Kampfes“ gefußt ha­ ben soll.2753

2743 Vgl. ebd., S. 280-281. 2744 Flugblatt der „Roten Hilfe“ und des „Allgemeinen Studierendenausschusses“ Bochum aus dem Jahr 1972, zit. n. ebd., S. 281. 2745 Vgl. ebd. 2746 Vgl. Winkler 2008, S. 211-213. 2747 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 2748 Vgl. Kopp 2007, S. 62. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 55. 2749 Schnepel /Villinger/Vogel 2000. 2750 Vgl. Kopp 2007, S. 63; Kraushaar 2017, S. 37. 2751 Vgl. Kahl 1986, S. 101; Horchem 1988, S. 82; Backes 1991, S. 85; Rabert 1995, S. 198; Siemens 2006, S. 296; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 173. 2752 Vgl. Kopp 2007, S. 63. 2753 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000.

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Böse unternahm den Versuch, über das aus dem Verlag „Roter Stern“ und dessen Frankfurter Umfeld bestehende Netzwerk weitere Aktivisten für die von ihm angestrebte terroristische Linie zu gewinnen. Laut Kopp war es dem Verlag inzwischen gelungen, seine finanzielle Lage zu konso­ lidieren. 1973 erwarb er unter maßgeblicher Beteiligung Wilfried Böses ein Haus in der Frankfurter Holzhausenstraße,2754 welches künftig als „Arbeits- und Wohnsitz“2755 der Mitarbeiter fungieren sollte. In dem Ge­ bäude sollen Böse, Magdalena Kopp, Brigitte Kuhlmann, Michael Leiner und Karl Dietrich Wolff Quartier bezogen haben.2756 Wer Gerd-Hinrich Schnepel folgt, begreift Böse sowie Brigitte Kuhlmann und Johannes Weinrich als Initiatoren einer Diskussion im „Roten Stern“, deren Mittel­ punkt die Frage nach dem Umgang mit den politischen Verhältnissen und „dem Hass auf die Verantwortlichen“2757 gebildet habe. In den Austausch eingebunden worden seien „in Frankfurt lebende Linke“2758, darunter Karl Dietrich Wolff. Dieser habe sich allerdings alsbald aus der Debatte zurückgezogen.2759 Nicht an den Überlegungen beteiligt war zunächst of­ fenbar Magdalena Kopp. Weder Böse noch Kuhlmann hätte ihr zu diesem Zeitpunkt von „klandestinen Aktivitäten“2760 berichtet. Beide hielten – angeblich – die Verbindungen zur „Roten Armee Frakti­ on“ aufrecht. Kontakte zur „Gruppe 4.2.“ um Helmut Pohl skizzierte das ehemalige RAF-Mitglied Margrit Schiller. Böse und Kuhlmann sollen dem Zirkel beim Erlangen von Schusswaffen behilflich gewesen sein. Ferner hätten sie gemeinsame Aktionen anlässlich des Staatsstreichs in Chile im September 1973 erwogen. Während sich die Kooperation mit den Nachfol­ gern der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ nicht festigte,2761 erwuchsen Verbindungen in den Nahen Osten. Wie Magdalena Kopp zurückblickend in ihrem Selbstzeugnis schrieb, fanden „Boni und Brigitte […] einen guten Draht zu den Palästinensern“2762. Für das Aufbauen die­ ser Beziehung seien mehrere Faktoren ausschlaggebend gewesen. Neben einer Verbundenheit mit dem palästinensischen Befreiungskampf spielten

2754 2755 2756 2757 2758 2759 2760 2761 2762

Vgl. Kopp 2007, S. 61. Ebd. Ähnlich Sonnenberg 2016, S. 190. Vgl. Kopp 2007, S. 61, 66. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 220. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Kopp 2007, S. 63. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131. Kopp 2007, S. 71.

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– angeblich – handfeste Interessen eine Rolle.2763 Die Palästinenser wären als Partner in Frage gekommen, weil sie „die besten Kontakte zu arabi­ schen Regierungen und Ländern des Ostblocks“2764 aufgewiesen hätten. Kopps Aussagen zufolge hatten sie „Material und Ausbildungsmöglichkei­ ten, was […] die Aussicht bot, nicht in Beschaffungsaktionen aufgerie­ ben zu werden“2765. Außerdem habe sich damit ein potentieller Rückzugs­ raum angeboten.2766 Derartige Motive werden gleichermaßen in weiteren Selbstzeugnissen aus den Reihen der „Revolutionären Zellen“ angeführt. Demnach sollte die Vernetzung mit anderen Akteuren, wie zum Beispiel den Palästinensern, „dem Austausch von Erfahrungen, der Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie der materiellen Hilfestellung die­ nen.“2767 Der Schulterschluss mit den Palästinensern sei zudem der Absicht ent­ sprungen, inhaftierte Angehörige der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ die Freiheit zu verschaffen.2768 Böse und Kuhlmann zählten augenscheinlich zu denjenigen Aktivisten, welche eine „Basissolidarität“ zur „Roten Ar­ mee Fraktion“ und zur B2J als Bereitschaft begriffen, „die Befreiung der politischen Gefangenen auch zu ihrer Sache“2769 zu erklären. Gerd-Hinrich Schnepel und Magdalena Kopp betonten, sicherlich habe Kuhlmann dies selbst als Wiedergutmachung für die Festnahme Ulrike Meinhofs gewer­ tet.2770 Ab wann, unter welchen Umständen und zu wem Böse und Kuhl­ mann Brücken in den Nahen Osten schlugen, wird in den bislang verfüg­ baren Quellen zu den RZ nicht beantwortet. Die Anfänge der Zusammen­ arbeit entziehen sich daher einer verlässlichen Darstellung. Vermutlich griffen beide die Kanäle zur „Popular Front for the Liberation of Palesti­ ne“ auf, die sich – laut einem Interview zwischen Magdalena Kopp und Anne Maria Siemens – im „Black‑Panther‑Solidaritätskomitee“ entwickelt hatten.2771 Einen weiteren schemenhaften Hinweis zu den Ursprüngen des Kontakts lieferte Hans-Joachim Klein. 1978 in einem Austausch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ auf die Zugkraft der „Revolutionären Zellen“ angesprochen, antwortete er:

2763 2764 2765 2766 2767 2768 2769 2770 2771

Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Kopp 2007, S. 71. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. ebd.; Kopp 2007, S. 71. Vgl. Siemens 2006, S. 187.

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7.1 Entstehung

„Die Revolutionären Zellen werden immer noch mächtig unter­ schätzt. Schließlich haben die ja schon beim Olympia-Massaker von München [im September 1972] logistische Hilfe geleistet. Böse hat mir selbst erzählt, dass er die Finger drin hatte bei der Quartiermache für das Palästinenser-Kommando ‚Schwarzer September‘.“2772 Diese Verflechtung trug Klein im selben Jahr ebenfalls in einem Gespräch mit der französischen Zeitung „Libération“ vor. Im Gegensatz zu seiner im „Spiegel“ abgedruckten Darstellung ließ der gegenüber der „Libération“ abgegebene Bericht keinen Zweifel an einem persönlichen Zusammentref­ fen Wilfried Böses mit den Olympia-Attentätern: „Böse hatte schon bei dem Massaker bei den Olympischen Spielen in München seine Finger drinnen. Er war es, der die Typen in München empfangen hat.“2773 Mit seinen Angaben erhob Klein ungewollt Einspruch gegen Aussagen des Bundesinnenministers Hans‑Dietrich Genscher. Dieser hatte unmittel­ bar nach den Ereignissen in München in einer Rede im Bundestag ein Unterstützen palästinensischer Terroristen durch bundesrepublikanische Linksextremisten aufgrund fehlender Nachweise ausgeschlossen.2774 Für Kleins Schilderungen sprechen lediglich schwache Indizien. Im Umfeld des von Gerd Koenen als „antiimperialistische[r] Kontakthof“2775 beschrie­ benen Verlags „Roter Stern“ bewegten sich „Palästina‑Solidaritätskomi­ tees“.2776 Diese könnten eine Vernetzung zu palästinensischen Vertretern erzielt haben, wie sie das „Korea-Komitee“ laut Kopp zur Ostberliner Botschaft Nordkoreas erreicht hatte.2777 Die grundlegende Voraussetzung eines solchen Zusammenschlusses war gegeben: In Frankfurt am Main unterhielt die „Generalunion Palästinensischer Studenten“ (GUPS), die dem Verfassungsschutz als Unterorganisation der „Palestine Liberation Organization“ sowie als „Rekrutierungsbasis, Propagandainstrument und finanzielle Hilfsquelle“2778 der Fatah galt, ihren Hauptsitz.2779 Die GUPS wiederum war augenscheinlich vernetzt mit dem „Schwarzen September“. 2772 Klein/Der Spiegel 1978, S. 79-81. 2773 Klein/Libération 1978, S. 293. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzuge­ fügt worden. Unterstützt wurde das palästinensische „Kommando“ wohl auch von gewaltbereiten deutschen Rechtsextremisten – etwa beim Beschaffen von Waffen. Vgl. Gräfe 2017, S. 104-105. 2774 Vgl. Kraushaar 2013, S. 554. 2775 Gerd Koenen, zit. n. Siemens 2006, S. 219. 2776 Vgl. ebd. 2777 Vgl. Kopp 2007, S. 49. 2778 Bundesministerium des Innern 1973, S. 138. 2779 Vgl. Kraushaar 2013, S. 553.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Jedenfalls legten dies bereits 1972 Erkenntnisse des Bundesamtes für Ver­ fassungsschutz nahe, denen zufolge die Münchener Geiselnehmer wäh­ rend ihrer Tat wiederholt versucht haben sollen, den Vorsitzenden der „Generalunion Palästinensischer Studenten“, Abdallah Frangi, telefonisch zu erreichen.2780 7.2 Aktionsphase 7.2.1 Rekrutierung, Kontakte zu „Carlos“, Fahrpreiskampagne, Überfall auf die OPEC (1973 bis 1975) Erstmals öffentlich in Erscheinung trat die von Böse ins Leben gerufene „Revolutionäre Zelle“ im November 1973 mit Anschlägen, welche sich gegen Liegenschaften der US-amerikanischen Firma „International Tele­ phone & Telegraph“ (ITT) in Berlin und Nürnberg richteten und hohe Sachschäden verursachten.2781 In einem Bekennerschreiben rechtfertigte die RZ beide Taten mit den zurückliegenden politischen Unruhen in Chile. Dem Unternehmen unterstellte sie eine Mitschuld an der dortigen Machtergreifung des Militärs.2782 Es sei erforderlich, so das Bekenntnis, diesem „Terorr [sic] des Kapitals überall – das heißt auch hier [in der Bundesrepublik] – den Widerstand des Volkes entgegenzusetzen“2783. Das Schreiben schloss mit der Aufforderung: „Solidarität mit dem chilenischen Volk!“2784 Nach einigen Monaten folgten weitere Aktionen der „Revolu­ tionären Zelle“. Im Mai 1974 wurden in Westberlin Peter Sötje, Bezirks­ stadtrat für Jugend und Sport in Westberlin, sowie der Geschäftsführer der Krone-Werke zum Ziel. Die RZ setzte deren Fahrzeuge in Brand und be­ gründete dies im Nachhinein mit dem Niedergang eines Jugendzentrums im Berliner Stadtbezirk Wedding beziehungsweise mit Massenentlassun­ gen und strengeren beruflichen Anforderungen.2785 Im Juni 1974 bekräf­ tigte die „Revolutionäre Zelle“ durch einen Anschlag auf das Konsulat Chiles in Westberlin abermals ihre Verbundenheit mit der chilenischen 2780 Vgl. GUPS/Der Spiegel 1972, S. 102; Kraushaar 2013, S. 554-557. 2781 Vgl. Horchem 1988, S. 82; Rabert 1995, S. 198; Kailitz 2004, S. 118; Wörle 2008b, S. 258; Straßner 2018, S. 442. 2782 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 116. 2783 Ebd. 2784 Ebd. 2785 Vgl. ebd., S. 119-120.

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7.2 Aktionsphase

Opposition.2786 „Zionistische“ Interessen boten im September 1974 die Legitimation für Angriffe auf die Maschinenfabrik „Korf“ in Mannheim und das Büro des israelischen Flugunternehmens „EL-AL“ in Frankfurt am Main.2787 Für beide Angriffe übernahm ein „Kommando Mohammad Bou­ dia“ der „Revolutionären Zelle“ und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ die Verantwortung.2788 Laut Gerd-Hinrich Schnepel soll es den Gründungsmitgliedern der „Re­ volutionären Zelle“ in diesem Zeitraum zusehends gelungen sein, „andere Interessierte“2789 an sich zu binden. Indem die Angehörigen der RZ in der Legalität verblieben, konnten sie neben der terroristischen Praxis wei­ terhin ihren beruflichen und politischen Verpflichtungen nachgehen.2790 Dies schloss Vorkehrungen für einen plötzlich erforderlichen Gang in den Untergrund nicht aus: Unmittelbar nach der Aufnahme in die „Revolutio­ näre Zelle“ hätte jedes Mitglied ein „eigenes Depot mit […] Knarre, Papie­ ren und Geld“2791 präpariert. Gemeinsam mit den Neuzugängen sollen Böse, Kuhlmann und Weinrich die „RZ-Linie theoretisch und praktisch entwickelt“2792 haben. Diese Linie definierten sie bewusst anders als die der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“, welche sich ebenfalls als Alternative zur RAF gerierte. Deutlich wird dies aus einem Kommentar Schnepels, mit dem er das jenseits einer „Basissolidarität“ bestehende Verhältnis zwischen der „Revolutionären Zelle“, der „Roten Armee Fraktion“ und der B2J skizzierte: „Die Entwicklung der RZ war natürlich stark geprägt von den Abgren­ zungen zu den existierenden Gruppen RAF und Bewegung 2. Juni. Sonst hätten wir ja gleich da eintreten können.“2793 Wie Schnepel 2001 in einem Gespräch mit Wolf Wetzel sowie 2005 er­ neut gegenüber Anne Maria Siemens zugab, nutzte der Zirkel anfangs zur Rekrutierung neuer Aktivisten insbesondere überregionale Verbindun­

2786 2787 2788 2789 2790

Vgl. ebd., S. 117-118. Vgl. ebd., S. 88-89. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 597. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 220. Vgl. Horchem 1988, S. 87; Backes 1991, S. 89; Rabert 1995, S. 199-200; Moreau/ Lang 1996, S. 346; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 81. 2791 Klein 1979a, S. 173. Ähnlich Klein 1978, S. 81. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 29-30. 2792 Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 220. 2793 Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. ebd., S. 276.

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gen, die im Vertrieb von Büchern entstanden waren.2794 Die Beziehungen hätten vom „Ober- und Mittelfränkischen bis ins Ruhrgebiet“2795 gereicht und als „Beginn langer Gesprächsphasen zwischen möglichen zukünfti­ gen Stadtguerrilleros [sic] und -guerilleras“2796 gedient. Im Ruhrgebiet sei Weinrichs Weggefährte Uwe Krombach einbezogen worden.2797 Schnepels Aussagen belegen, dass nicht nur der die Gruppe um Karl Dietrich Wolff, den Bochumer „Politischen Buchladen“ und die Marburger Buchhand­ lung von Christian Boblenz vereinende Verlag „Roter Stern“,2798 sondern auch „Gegendruck Gaiganz“ und der „Politladen Erlangen“ Ursprung der RZ2799 und damit „Kristallisationspunkt und Nachwuchsschmiede des Terrorismus“2800 waren. Die „Revolutionäre Zelle“ entstand demnach als Netzwerk, das sich auf mehrere, in Westdeutschland verteilte „Standorte“ und die dort verankerten Aktivisten stützte. Für die Angehörigen der RZ verlor der „Rote Stern“ bald seine Bedeu­ tung. Als Grund wird in der Literatur ein politischer Bruch angeführt, dessen Auslöser nicht belegt, wohl aber in der zunehmenden Hinwen­ dung einzelner Aktivisten zu terroristischen Aktionsformen zu suchen ist. Kopps Aussagen zufolge krachte es Ende 1974 zwischen Wilfried Böse, Brigitte Kuhlmann und Johannes Weinrich einer- sowie Karl Dietrich Wolff und Michael Leiner andererseits.2801 Derartige Reibungen deutete auch Wolff gegenüber Wolfgang Kraushaar an.2802 Die Spannungen hätte Kopp mit geringem Interesse verfolgt. Sie selbst habe sich keinem Flügel anschließen wollen, sei allerdings von Michael Leiner aufgefordert wor­ den, einen Standpunkt einzunehmen. Leiner soll ihre Distanzierung von Böse, Kuhlmann und Weinrich zur Bedingung für einen Wiederaufbau ihrer zu diesem Zeitpunkt bereits zerrütteten Liebesbeziehung erklärt ha­ ben. Dieser Forderung habe sie sich widersetzt, da sie die drei Aktivisten des Verlags zu ihren Freunden rechnete.2803 Mit Karl Dietrich Wolff ver­ band sie laut ihrer Autobiographie keine Sympathie. Dieser soll „schon im­ mer eine arrogante und merkwürdige Art gehabt [haben], mit Menschen

2794 2795 2796 2797 2798 2799 2800 2801 2802 2803

Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 108; Siemens 2006, S. 220. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 220. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Sonnenberg 2016, S. 191-192. Ähnlich Koenen 2001, S. 367-368. Der Spiegel 1976a, S. 30. Vgl. Kopp 2007, S. 65-66. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592. Vgl. Kopp 2007, S. 65-66.

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umzugehen“2804. Einen ersten Höhepunkt erreichten die Streitigkeiten of­ fenbar mit dem Auszug Böses und Kuhlmanns aus dem Verlagshaus in der Holzhausenstraße. Böse oblag jedoch weiterhin die „kaufmännische Seite“2805 des „Roten Sterns“. Unvermeidbar wurde eine Trennung, als Ann Boblenz – die Ehefrau Christian Boblenz‘2806 – sowie Reinhart Wolff – neu hinzugetretener Verlagsteilhaber und leiblicher Bruder Karl Dietrich Wolffs – im Mai 1974 den in Frankfurt am Main ansässigen Notar Rein­ hard Sommer aufsuchten und Weinrich in Abwesenheit seiner geschäfts­ führenden Position enthoben.2807 Zu den Personen, welche in den Jahren 1974 und 1975 in die „Revolu­ tionäre Zelle“ eintraten, zählen Hans‑Joachim Klein, Magdalena Kopp, Thomas Kram und Gerd-Hinrich Schnepel. Kleins Anschluss an die RZ ist insofern bemerkenswert, als er nicht über die Verlagsarbeit zu dem Netzwerk fand, sondern über einen anderen gewaltbereiten Zirkel. Ähn­ lich wie Wilfried Böse bewegte er sich zu Beginn seiner terroristischen Laufbahn zunächst im engeren Unterstützerumfeld der „Roten Armee Fraktion“. Blickt man in seine Autobiographie, so wird deutlich, dass sein Einstieg in dieses Milieu über den Frankfurter Ableger der „Roten Hilfe“ erfolgte. Klein fiel dort als Person auf, die „aus ihrer Sympathie mit der RAF keinen Hehl machte“2808 und somit dem „militanten Flügel“2809 an­ gehörte. Schließlich sei ihm von einem „legalen Genossen“2810 ein Kontakt zu den in der Illegalität agierenden Mitgliedern der „Roten Armee Frak­ tion“ vermittelt worden. In einem gemeinsamen Treffen soll seine „politi­ sche Entwicklung“2811 thematisiert worden sein. Außerdem hätten sie erör­ tert, was Klein „so weiter machen will etc.“2812 Schließlich sei er gefragt worden, ob er der RAF Hilfe bieten wolle. Diesem Ansinnen habe Klein entsprochen, dabei allerdings betont, er wolle nicht in den Untergrund gehen.2813 Wie seine Zusammenarbeit mit der „Roten Armee Fraktion“ einsetzte, beschrieb er in seinem 1979 veröffentlichten Selbstzeugnis:

2804 2805 2806 2807 2808 2809 2810 2811 2812 2813

Ebd., S. 66. Ebd. Vgl. Sonnenberg 2016, S. 138. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 11. Klein 1979a, S. 41. Backes 1991, S. 151. Klein 1979a, S. 41. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.

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„Als erstes habe ich dann einen Batzen geklauter ausländischer Währung umtauschen müssen. Hab [sic] dabei Rotz und Wasser ge­ schwitzt; als der Schaltermensch mich fragte, wieviel, war ich so ner­ vös, dass ich es nicht wusste und nachzählte.“2814 Um den Sicherheitsbehörden die Strafverfolgung zu erschweren, ließ Klein in seiner Autobiographie offen, zu welchen Angehörigen der RAF er Verbindungen unterhielt.2815 Über wen diese Beziehung zustande gekom­ men sein könnte, wurde erst Jahre später klar. Eine entscheidende Rolle gespielt haben dürften der 1971 in Haft Genommene Rolf Pohle2816 sowie Hanna Krabbe und Monika Haas. Mit Hanna Krabbe habe sich Klein Anfang der 1970er Jahre zeitweise einen Unterschlupf geteilt.2817 Monika Haas – eine „Proletariertochter aus dem Frankfurter Gallusviertel“2818 – war ebenfalls in der Frankfurter „Roten Hilfe“ aktiv und ging mit dem 1971 verhafteten RAF-Aktivisten Werner Hoppe nach seiner Verurteilung im Juli 1972 eine Ehe ein.2819 Klein soll sie im „Frankfurter Häuserkampf“ in der Bockenheimer Landstraße kennengelernt haben. Haas lebte – an­ geblich – mit seiner Freundin in einer Wohngemeinschaft in der Bocken­ heimer Landstraße 111 zusammen.2820 Die Kooperation mit den „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ erwies sich für Klein rasch als konfliktreich und kurzlebig. Nachdem er Barmittel umgetauscht hatte, betraute ihn die RAF mit der Aufgabe, eine konspirati­ ve Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Dazu führte Klein rückblickend aus: „War gar nicht so einfach, aber ich schaffte es irgendwie dann doch. Erzählte denen [den Mitgliedern der ‚Roten Armee Fraktion‘] dann, dass sie aber wirklich nur für eine Woche ist, weil die Person, der die Bude gehörte, sie dann wieder brauche, und da klangen schon […] die ersten falschen Töne an. […] ‚Wenn wir in einer Woche nichts gefunden haben, müssen wir hier noch bleiben. Die Person solle sich nicht so anstellen.‘ Und auf meinen zarten Hinweis, dass das vorher

2814 2815 2816 2817

Ebd., S. 41-42. Ähnlich Oey 2006, 36:10 Min.-36:21 Min. Vgl. Klein 1979a, S. 42. Vgl. Peters 2008, S. 244. Vgl. Siemens 2006, S. 283-284. Auf den Kontakt Kleins mit Hanna Krabbe wies 1976 bereits „Der Spiegel“ hin. Krabbe sei für ihn gar „ein revolutionäres Vorbild“ gewesen. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 29. 2818 Schmaldienst/Matschke 1995, S. 26. 2819 Vgl. Der Spiegel 1972e, S. 30; Der Spiegel 1995a. 2820 Vgl. Siemens 2006, S. 284.

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ganz klar ausgemacht war mit einer Woche, nur: auf welcher Seite ich denn stehen würde, und ich solle das jetzt klarmachen und nicht blöde Reden halten. Die wollten tatsächlich nicht aus der Bude raus, obwohl denen klarwar [sic], dass die Besitzperson [der Besitzer der Wohnung] größte Schwierigkeiten dadurch bekommen könnte. Ich habe denen klargemacht [sic], dass sie die Bude zum angegebenen Termin zu räumen hätten, sonst gebe es ernsthafte Probleme für sie. Die sind dann auch gegangen. Ich habe dann noch zweimal einen Termin mit ihnen gehabt, und zum dritten bin ich dann nicht hin, weil die Methode, wie sie mit Genossen, die ihnen helfen, umgehen, mir absolut nicht gefiel. Das Resultat war, dass ein oder zwei Tage später eine legale Person bei mir auftauchte, um mir auszurichten, dass ich ein Schwein wäre und dass ich, wenn ich singen würde, umgelegt würde. Ich habe die Person an die frische Luft gesetzt und hatte von der RAF die Schnauze voll.“2821 Wohl in diesem Zeitraum übte Klein auch offen Kritik an der 1972 ausge­ führten „Mai-Offensive“ der RAF, was seiner Beziehung zu der Gruppe ebenfalls abträglich war: „Als ich […] Kontakte mit der RAF hatte, sprachen wir […] über die­ sen Anschlag [in Hamburg auf das Springer-Verlagshaus]. Nachdem ich ihr Argument der rechtzeitigen Bombenwarnung für absurd und naiv erklärt hatte, wurde ich zum unsicheren Kantonisten erklärt.“2822 Von den negativen Erfahrungen mit den „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ unberührt blieb Kleins Verhältnis zu den Inhaftierten der RAF. Als Mitglied der „Roten Hilfe“ sei er weiterhin für die Rechte der „Gefan­ genen“ eingetreten.2823 Zeitgleich arbeitete er in der Kanzlei des Rechts­ anwalts Klaus Croissant, welcher maßgeblich am Aufbau des von den RAF-Inhaftierten genutzten Kommunikationssystems beteiligt war. Diese Anstellung verschaffte ihm Einblicke in die Situation der in Haft sitzenden Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“, was ihn nachhaltig geprägt und seine Verbundenheit mit den „politischen Gefangenen“ gefestigt haben soll.2824 Nach und nach erlebte er jedoch auch auf dem Aktionsfeld der „Gefangenenunterstützung“ Enttäuschungen im Umgang mit der „Roten Armee Fraktion“. Kleins Aussagen zufolge war der Zirkel zusehends be­ 2821 2822 2823 2824

Klein 1979a, S. 42. Ähnlich Klein/Libération 1978, S. 280. Klein 1979a, S. 166. Vgl. ebd., S. 43. Ähnlich Klein/Libération 1978, S. 281. Vgl. Siemens 2006, S. 282; Aust 2020, S. 482.

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strebt, „die Roten Hilfen zu instrumentalisieren“2825. Die RAF habe das im Frankfurter Ableger vorherrschende ambivalente Verhältnis zu ihrem „bewaffneten Kampf“ nicht mehr akzeptieren wollen. Von den in der Inhaftiertenhilfe aktiven Akteuren soll sie ein eindeutiges Bekenntnis zu ihrer ideologischen wie strategischen Linie verlangt haben.2826 Die Bedin­ gungen, unter denen Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ im Gefäng­ nis einsaßen, seien „die moralischen Rekrutierungsdruckmittel“2827 gewe­ sen. Aktivisten, die sich dieser Argumentation verschlossen, kanzelte die „Rote Armee Fraktion“ laut Klein „als unpolitische, naive Seelsorger oder Sozialarbeiter mit schlechtem Gewissen“2828 ab. Dieses Gebaren veränderte seinen Blick auf die „Gefangenen“ der RAF: „So nicht. Ich war ungeheuer wütend, was da ablief, über die Briefe und Stellungnahmen von RAF‑Leuten, was sie von unserer politischen Arbeit, unseren Bemühungen für die Gefangenen dachten und sagten. […] Weder die Genossen/innen noch ich in der Roten Hilfe wollten uns […] vorschreiben lassen, welche Tribute wir an irgendeinen, und heiße er RAF, zu leisten haben, damit wir Gefangene im Knast un­ terstützen dürfen. Für mich war das ganz klar eine politische Erpres­ sung“2829. Die Haltung der aktiven und der inhaftierten Mitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“ empfand Klein nicht zuletzt aufgrund persönlicher Erwä­ gungen als „Misere“2830. Er verwarf nunmehr seine Überlegung, in den Reihen der RAF aktiv zu werden.2831 Wie das gegen ihn und den ehema­ ligen RZ‑Aktivisten Rudolf Schindler im Jahre 2001 geführte Gerichtsver­ fahren ergab, fußte diese Abkehr zudem auf der Absicht, militanten „Wi­ derstand“ mit seinem bisherigen Leben in Frankfurt am Main verbinden zu können. Er war augenscheinlich nicht bereit, die Verankerung im poli­ tischen Milieu der Stadt aufzugeben.2832 Weitgehend unbekannt gewesen sei Klein zu diesem Zeitpunkt die „Revolutionäre Zelle“, deren Ambitio­ nen sich mit seinen Ansprüchen deckten.2833 Vorerst unerfüllt bleiben

2825 2826 2827 2828 2829 2830 2831 2832 2833

Klein 1979a, S. 168. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 168-169. Ebd., S. 168. Vgl. ebd., S. 170. Vgl. Siemens 2006, S. 284. Vgl. Klein 1979a, S. 167.

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musste damit sein Wunsch, an dem von ihm als notwendig erachteten „bewaffneten Kampf“ teilzunehmen.2834 In dieser Situation verschärften sich offenbar sukzessive Konflikte zwi­ schen Klein und Aktivisten der „Roten Hilfe“, die an terroristischer Ge­ waltanwendung Anstoß nahmen. Die Streitigkeiten waren in seinen Au­ gen „teilweise hart und heftig.“2835 Unverhofften Zuspruch habe er von Wilfried Böse erfahren, der sich 1974 erneut der Frankfurter RH anschloss. Böse leistete Klein angeblich Hilfe in seinen „bis dato vergeblichen Bemü­ hungen, dem Rest der Gruppenmitglieder die Notwendigkeit des bewaff­ neten Kampfes klarzumachen.“2836 Besonders bezeichnend für ihre radika­ le Haltung zur Gewaltfrage und die diesbezüglich in Kauf genommenen Auseinandersetzungen innerhalb der „Roten Hilfe“ war das Positionieren zur Ermordung des Linksextremisten Ulrich Schmücker am 4. Juni 1974 durch ein aus dem Umfeld der „Bewegung 2. Juni“ stammendes „Kom­ mando Schwarzer September“2837. Klein habe die Inhalte des vom „Kom­ mando“ verbreiteten Tatbekenntnisses mit Kritik belegt, nicht aber die Aktion selbst. Aufgrund der Zusammenarbeit Schmückers mit den Sicher­ heitsbehörden soll er sie – ebenso wie Wilfried Böse – als legitim begriffen haben. Diese Auffassung sei von ihm in der Frankfurter „Roten Hilfe“ of­ fensiv vertreten worden, was ihm erhebliche Kritik eingebracht hätte. Wer seiner Autobiographie folgt, erblickt eine überregionale Veranstaltung der „Roten Hilfe“ in Hamburg, welche Klein wenig später in Begleitung Bö­ ses besucht haben will. Dort sei der Tod Schmückers ebenfalls Thema gewesen. Klein und Böse sollen ihre Bereitschaft signalisiert haben, die Resultate der zur Hinrichtung geführten Diskussion zu verschriftlichen und anschließend zu publizieren. In dem von ihnen formulierten Ergeb­ nispapier verschafften beide offenbar einer positiven Wertung zur Aktion des „Kommandos Schwarzer September“ Raum.2838 Konsequenzen dieses Vorgehens blieben nicht aus: „Der Krach in der Roten Hilfe Ffm. war unbeschreiblich“2839. Das gemeinsame Werben für terroristische Gewalt erzeugte zwar nicht die gewünschte Resonanz, begünstigte aber ein enges Verhältnis zwischen

2834 2835 2836 2837 2838

Vgl. ebd., S. 168, 170. Ebd., S. 169. Ebd., S. 172. Vgl. Wunschik 2006b, S. 549; Korndörfer 2008, S. 249. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71; Klein/Libération 1978, S. 281; Klein 1979a, S. 44-46, 195; Siemens 2006, S. 305-306. 2839 Klein 1979a, S. 45.

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Böse und Klein.2840 Klein imponierten Böses politische Aktivitäten sowie „dessen vielfältige Kontakte zu ausländischen, besonders zu palästinensi­ schen Gruppen“2841. Mit Böse sprach er offensichtlich „über Gott und die Welt“2842 – er stellte dabei fest, dass sie „zum selben Zeitpunkt […] mit demselben Teil der RAF beschissene Erfahrungen gemacht“2843 hatten. Böse habe sich gleichermaßen „über die Art, wie sie [die Aktivisten der ‚Roten Armee Fraktion‘] Leute ausnutzen“2844, echauffiert. Thema ihres Austauschs war außerdem der Nahost-Konflikt sowie der von den Palästi­ nensern geleistete Widerstand, dessen Ursachen auf Klein stark emotiona­ lisierend wirkten.2845 Als Folge ihrer Gespräche habe Böse ihm zu verste­ hen gegeben, er sei Mitglied der „Revolutionären Zelle“. Böse hielt im Kontakt mit Klein offensichtlich unverändert an seiner „Basissolidarität“ gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ fest, soll er doch Klein die Frage gestellt haben, ob dieser an einer Aktion zur Befreiung „politischer Gefangener“ mitwirken wolle. Klein sei anfangs zurückhaltend gewesen,2846 schlussendlich aber von Böse unter anderem mit den Worten überzeugt worden: „[D]ie RAF ist momentan in `ner Krise, der ‚2. Juni‘ hat gerade was anderes zu tun, so dass es nicht genug Genossen für eine Befreiungs­ aktion gibt, dass ich schon eine militärische Ausbildung hätte [Klein war Wehrdienstleistender in der Bundeswehr gewesen] und dass die Genossen im Knast es nicht mehr lange durchhalten werden.“2847 Im Herbst 1974 entschied sich Hans-Joachim Klein für einen Eintritt in die „Revolutionäre Zelle“, in der er fortan unter den Decknamen „Schnitzel“ und „Angie“ auftreten sollte.2848 Parallel dazu war er in der Frankfurter Anwaltskanzlei Hornischer/Riemann als Pfändungsmeister eingesetzt.2849 Seine Mitgliedschaft in der „Roten Hilfe“ habe er aufrechterhalten, auf Anraten Böses indes seine dortige verbale Militanz reduziert.2850 Auch die 2840 Vgl. ebd., S. 172. 2841 Urteilsbegründung aus dem gegen Hans-Joachim Klein und Rudolf Schindler im Jahre 2001 geführten Gerichtsverfahren, zit. n. Siemens 2006, S. 280. 2842 Klein 1979a, S. 172. 2843 Ebd., S. 46. 2844 Klein/Libération 1978, S. 280. Ähnlich Klein 1979a, S. 46. 2845 Vgl. Klein 1979a, S. 43, 172; Siemens 2006, S. 280. 2846 Vgl. Klein 1979a, S. 46. 2847 Ebd. Zu Kleins Wehrdienst vgl. Backes 1991, S. 151; Winkler 2008, S: 270-271. 2848 Vgl. Klein 1979a, S. 171, 173. 2849 Vgl. ebd., S. 47; Siemens 2006, S. 307. 2850 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 281; Klein 1979a, S. 173-174.

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sporadische Mitarbeit in der Kanzlei Klaus Croissants setzte er fort. So diente Klein als Chauffeur und „Body Guard“2851, als Croissant den fran­ zösischen Philosophen Jean-Paul Sartre am 4. Dezember 1974 zu einem Besuch Andreas Baaders in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart‑Stammheim begleitete.2852 Dokumentiert ist diese Episode unter anderem durch ein Foto, welches das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Jahre 1978 ab­ druckte.2853 Klein selbst berichtete darüber hinaus, er habe 1975 Briefe befördert, welche von Baader verfasst worden sein sollen. In diesen Schrei­ ben sei die Rede gewesen von einer „kollektive[n] Selbstmordaktion im Knast mittels eingeschmuggelter Pistolen“2854. Innerhalb der RZ habe Klein grundlegende Kenntnisse des „bewaffne­ ten Kampfes“ vermittelt bekommen. Andere Aktivisten hätten ihn im Fälschen von Dokumenten, dem Umgang mit Schusswaffen, der Nutzung von „Codes“ und dem Erkennen sicherheitsbehördlicher Aufklärungsmaß­ nahmen unterwiesen.2855 Von Böse sei ihm ein „Teil der Waffenkammer der RZ“2856 gezeigt worden: „Kalaschnikows, Tokarews, Makarows, `ne Skorpion-MP, die so klein ist, dass man sie wie `ne Pistole am Gürtel tragen kann; englische Sten-MP und anderes. Vor allem auf die Kalaschnikow bin ich voll abgefahren. […] Wir bauten dann all die Waffen, die ich noch nicht in den Händen hatte, auseinander. Bei der Skorpion mussten wir, nachdem wir die Hauptteile demontiert hatten, vorm Rest passen.“2857 Böse machte Klein außerdem auf Reisen durch Westdeutschland mit anderen Mitgliedern der „Revolutionären Zelle“ bekannt.2858 Um staatli­ cher Überwachung entgehen zu können, hätten RZ‑Aktivisten derartige Zusammenkünfte meist in Waldgebieten oder auf Hausfluren stattfinden lassen.2859 Klein traf auf Sabine Eckle, Hermann Feiling, Christian Gau­ ger, Magdalena Kopp, Brigitte Kuhlmann, Rudolf Schindler, Gerd‑Hin­

2851 Klein 1979a, S. 194. 2852 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 282; Siemens 2006, S. 282; Kraushaar 2017, S. 118. 2853 Vgl. Der Spiegel 1978b, S. 68. 2854 Klein 1979a, S. 52. 2855 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 281; Klein 1979a, S. 173. 2856 Klein 1979a, S. 189. 2857 Klein 1979a, S. 189-190. 2858 Vgl. ebd., S. 47. 2859 Vgl. ebd., S. 173.

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rich Schnepel, Sonja Suder, Johannes Weinrich und Harald Winkler.2860 Schindler und Weinrich sollen Kleins Rekrutierung skeptisch bewertet haben. Schindler habe zu verstehen gegeben, Klein fehlten die Einblicke in die Hintergründe der von der „Revolutionären Zelle“ ausgeführten Anschläge. Er sei draufgängerisch, aktionistisch, angeberisch und strebe ausschließlich nach Anerkennung. Weinrich unterstellte Klein gar eine fehlende Eignung für konspirative Tätigkeiten. Trotz dieser Wertungen hielten Böse und Kuhlmann an Klein fest.2861 Ebenso wie Klein konnte Magdalena Kopp auf ein langjähriges und en­ ges Kennverhältnis zu den zentralen Figuren in der Entstehungsgeschichte der „Revolutionären Zelle“ zurückblicken. Gleichwohl zeichneten weder Böse und Kuhlmann noch Weinrich für ihren Anschluss an das Netzwerk verantwortlich. Ausschlaggebend gewesen sein soll ein Gespräch im Jahre 1974 in einer Gastwirtschaft mit einem unter dem Alias „Jule“ auftreten­ den weiblichen RZ-Mitglied.2862 Hinter diesem Decknamen verbarg sich laut Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit Sabine Eckle.2863 Im Laufe der Unterhaltung habe Eckle Kopp „die Ziele und politischen Grundlagen der neuen Organisation“2864 dargelegt, welche nicht nur ein Verbleib ihrer Mitglieder in der Legalität, sondern überdies die Verbin­ dung eines vorwiegend gegen Objekte gerichteten konspirativen Kampfes mit legaler Agitation anstrebte.2865 Im gemeinsamen Austausch soll Eckle in Erfahrung gebracht haben, „wie weit […] [Kopp] für diese Ideale zu gehen bereit war.“2866 Eigenen Aussagen zufolge nahm Kopp schließlich das Angebot zur Mitwirkung in der „Revolutionären Zelle“ an; sie gab sich den Decknamen „Vera“.2867 Aufgrund ihrer Tochter wollte sie indes „nicht viel riskieren“2868, womit ihr zunächst lediglich die Produktion von Stem­ peln und Identitätsnachweisen oblegen haben soll.2869 Für Thomas Kram – Mitarbeiter und später Geschäftsführer im „Politischen Buchladen“ in Bo­ chum – eröffnete sich – angeblich – 1975 ein Weg in die RZ.2870 Gerd-Hin­

2860 2861 2862 2863 2864 2865 2866 2867 2868 2869 2870

Vgl. Siemens 2006, S. 307-308. Vgl. ebd., S. 301. Vgl. Kopp 2007, S. 68. Vgl. Igel 2012, S. 110. Kopp 2007, S. 68. Vgl. ebd. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 70. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Kram 2009; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010; Sonnenberg 2016, S. 412.

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rich Schnepel, der gemeinsam mit Udo Polzer den „Politladen Erlangen“ leitete,2871 habe im Frühjahr 1975 Anschluss an das Netzwerk gefunden. Im Gegensatz zu Kopp verwies er auf die Bedeutung der „Gründungsmen­ schen“2872 des Netzwerkes während seines Rekrutierungsprozesses.2873 Als wesentliche Triebkraft in seiner Hinwendung zur „Revolutionären Zelle“ identifizierte Schnepel eine Aversion gegenüber der „Roten Armee Frakti­ on“ und der „Bewegung 2. Juni“: „Die RAF war mir […] sehr, sehr fern. Der ‚2. Juni‘ war Berlin, und das immer und überall arrogante Berlin samt Inhalt konnten wir in Franken schon seit 1967 nicht ausstehen … RZ war einfach ‚das Rich­ tige‘, das beste und logischste Konzept, für das man sich einsetzen konnte: mit tollen Leuten ‚heiße Sache‘ machen, die auch Spaß mach­ ten und gute Gefühle hinterließen.“2874 Bereits in den Anfängen der „Revolutionären Zelle“ bildeten sich inner­ halb des Geflechts aus „mehrere[n] unabhängige[n] Cliquen“2875 zwei Strömungen heraus, die sich in ihren Auffassungen zum räumlichen Ak­ tionsschwerpunkt der RZ unterschieden. Während die eine Interessens­ gruppe den Fokus auf Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland lenkte, verschrieb sich die andere einer stärker internationalistischen Agen­ da. Letzte trugen nur wenige Anhänger, unter ihnen Böse, Kuhlmann und Weinrich.2876 Klein und Kopp traten später hinzu.2877 Neben einer Verbundenheit zu palästinensischen Organisationen kennzeichnete den internationalistischen Zirkel der „Revolutionären Zelle“ laut Kopp und Schnepel eine Sympathie für die US-amerikanische „Black Panther Party“, die italienischen „Brigate Rosse“, die baskische „Euskadi Ta Askatasuna“ und die „Irish Republican Army“.2878 Schnepel sprach gar von gegensei­ tigen Hilfsleistungen und merkte kryptisch an, die RZ hätte „für die einen was versteckt und für die anderen etwas besorgt“2879. Von derartigen

2871 2872 2873 2874 2875 2876 2877 2878 2879

Vgl. Sonnenberg 2016, S. 397-398, 420. Schnepel/Wetzel 2001, S. 108. Vgl. ebd. Ebd. Groebel/Feger 1982, S. 429; Ähnlich Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Ehemali­ ge Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Kopp 2007, S. 71; Siemens 2006, S. 298; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 17. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Kopp 2007, S. 69. Schnepel/Villinger/Vogel 2000.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Beziehungen wussten auch Johannes Weinrich und Magdalena Kopp zu berichten. Weinrich konnte sich im Gespräch mit Siemens an die Bitte des von ihm nicht näher benannten „Widerstand[s] in Spanien“2880 erin­ nern, eine Druckmaschine in das autokratisch regierte Land zu schleusen. Binnen kurzer Zeit sei ein entsprechendes Gerät in Frankfurt am Main be­ schafft worden. Gemeinsam mit Aktivisten der „Putzgruppe“ und Wilfried Böse habe er die Maschine anschließend in einem Personenkraftwagen versteckt, der bis zur spanischen Grenze gefahren werden sollte.2881 Kopp skizzierte in ihrer Autobiographie „persönliche Kontakte der RZ zur ETA, die im nordspanischen Teil des Baskenlands operierte und im südfranzösi­ schen Teil ihre Basen aufgebaut hatte.“2882 Sie selbst habe eine Reise in den Süden Frankreichs unternommen, um eine Druckerei der baskischen Gruppe zu besuchen. Von der „Euskadi Ta Askatasuna“ seien ihr bei dieser Gelegenheit spanische Führerscheine und Stempel übergeben worden,2883 welche – so Kopp – als „kleiner Anfang für die Logistik der RZ“2884 gese­ hen werden konnten. Radikalisierend wirkte auf die größtenteils aus der „Roten Hilfe“ stam­ menden Angehörigen des internationalistischen Lagers der „Revolutionä­ ren Zelle“ der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins. Dieser war am 9. No­ vember 1974 in der Haftanstalt Wittlich an den Folgen eines Hunger­ streiks verstorben.2885 Für Johannes Weinrich soll Meins‘ Ableben „einen ungeheuren Schub an Wut und […] die Frage: Was kann ich tun?“2886 nach sich gezogen haben. Als Lösung habe er nunmehr ausschließlich die politische Aktion empfunden.2887 Klein zeigte sich ebenfalls empört: Er sei „ausgeklinkt“2888 und soll erstmals eine Feuerwaffe an sich genommen haben. Wie er in seiner Autobiographie darlegte, sei Klein gewillt gewesen, die Pistole gegen einen Polizisten auf einer Demonstration am 9. Novem­ ber 1974 in Frankfurt am Main einzusetzen.2889 Andere „Genossen“ hätten ihn jedoch „mit Mühe und Not vor irgendeinem Wahnsinn gestoppt.“2890

2880 2881 2882 2883 2884 2885 2886 2887 2888 2889 2890

Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 294. Vgl. ebd. Kopp 2007, S. 70. Vgl. ebd., S. 70-71. Ebd., S. 71. Vgl. Winkler 2008, S. 234-235. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 301. Vgl. ebd., S. 301-302. Klein 1978, S. 81. Vgl. Klein 1979a, S. 195. Klein 1978, S. 81.

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7.2 Aktionsphase

Aufgrund des Vorfalls in der Haftanstalt Wittlich war Klein bereit, unwi­ derruflich mit legaler politischer Arbeit zu brechen: „Ich […] war bereit zu kämpfen. Nun endgültig.“2891 Um den gegenüber der Bundesrepublik empfundenen Hass aufrechterhalten zu können, habe er in der Folgezeit stets ein Foto bei sich getragen, das Meins‘ ausgemergelten Leichnam zeigte.2892 Ausgesprochen positiv nahm er die Nachricht vom Anschlag auf Günter von Drenkmann auf, den die „Bewegung 2. Juni“ als Reaktion auf den Tod Holger Meins‘ ursprünglich zu entführen beabsichtigt hatte. Seine Gegenwehr veranlasste die Täter jedoch, ihn zu erschießen.2893 Klein schrieb dazu: „Ich war damals begeistert. Das musste die richtige Antwort auf den Tod von Holger Meins sein“2894. In der Zeit nach dem 9. November 1974 intensivierte sich zusehends die Kooperation, die der internationalistische Flügel der „Revolutionären Zelle“ mit der von Wadi Haddad geführten Splittergruppe der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ unterhielt. Wichtiges Bindeglied in dieser sich verfestigenden Beziehung war der zu diesem Zeitpunkt in London und Paris ansässige2895 Venezolaner Ilich Ramírez Sánchez. Der unter den Decknamen „Carlos“, „Johnny“ und Salem“ bekannte Links­ terrorist2896 soll nach Aussagen seiner späteren Weggefährtin Magdalena Kopp im Jahre 1970 nach einem Studium in Moskau eine Ausbildung in einem Lager der PFLP in Jordanien absolviert haben.2897 Klein gab an, er habe sich 1970/1971 auf Seiten der Palästinenser am Jordanischen Bür­ gerkrieg beteiligt.2898 1972 wies ihn die „Special Operations Group” der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ ihrem europäischen Able­ ger zu, der den palästinensischen Widerstand auch in westlichen Staaten etablieren sollte und zu diesem Zweck vor allem logistische Verbindungen zu linksterroristischen Gruppen aufbaute. Nach dem Tod Mohammad Boudias soll „Carlos“ im darauf folgenden Jahr eine leitende Funktion in der Europa‑Sektion übernommen haben,2899 in der er gemeinsam mit dem

2891 2892 2893 2894 2895 2896 2897 2898 2899

Klein 1979a, S. 196. Vgl. auch Friedrichsen 2000, S. 68. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 281. Vgl. Wunschik 2006b, S. 550. Klein 1979a, S. 196. Vgl. Siemens 2006, S. 299. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 289; Wunschik 2018, S. 88. Vgl. Kopp 2007, S. 81. Vgl. Klein 1979a, S. 47. Vgl. Siemens 2006, S. 299-300.

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Libanesen Michel Moukarbal aktiv war.2900 Es sei ihm gelungen, in Paris eine „Riesen-Logistik-Zentrale“2901 der PFLP aus der Taufe zu heben. Der Zeitpunkt, an dem der Kontakt der „Revolutionären Zelle“ zu dem Zirkel um Sánchez entstand, wird in der Literatur nur vage benannt. Kraushaars Recherchen zufolge soll sich Böse mit Moukarbal schon im Oktober 1974 im Libanon aufgehalten haben.2902 Wer Siemens folgt, wird eine Begegnung Johannes Weinrichs mit „Carlos“ im Jahre 1974 in Paris konstatieren müssen.2903 Vermittelt worden sein soll dieses Zusammentref­ fen von Wilfried Böse.2904 Fritz Schmaldienst und Klaus-Dieter Matschke berichteten, Weinrich sei ab Dezember 1974 in die auf europäischem Bo­ den vorangetriebenen terroristischen Aktivitäten der Palästinenser einbe­ zogen worden.2905 Er habe, so Kopp, „an den Krieg für die Menschen in Palästina [ge]glaubt“2906 und zudem – wie er selbst zugab – angenommen, deutsche Linksterroristen könnten „sich von den Palästinensern nicht ab­ nabeln“2907. Nur in Zusammenarbeit mit diesen würden sie „in Europa perspektivisch weiterkommen“2908. Im Januar 1975 beanspruchte Wein­ rich unter der Falschpersonalie „Fritz Müller“ ein Hotel in Paris2909 und wies sich dabei angeblich mit einem der Personalausweise aus, welche die „Rote Armee Fraktion“ im November 1970 in Hessen erbeutet hatte.2910 Im Anmeldungsbogen machte er zutreffende Angaben zu seinem Beruf und seinem aktuellen Wohnort in Frankfurt am Main. Bei der Firma „Hertz“ mietete er ebenfalls als „Fritz Müller“ einen Peugeot 504, in dem am 13. Januar 1975 ein mehrere Personen starkes „Kommando“ der PFLP zum Pariser Flughafen Orly fuhr. Die libanesischen Aktivisten feuerten aus einer russischen Panzerabwehrbüchse zwei Granaten auf eine mit 136 Passagieren besetzte Maschine des israelischen Luftfahrtunternehmens „EL-AL“, verfehlten jedoch ihr Ziel. Gegenüber der Nachrichtenagentur

2900 2901 2902 2903 2904 2905 2906 2907 2908 2909 2910

Vgl. Klein 1979a, S. 192-193; Kraushaar 2006c, S. 596-597. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 597. Vgl. Siemens 2006, S. 311. Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 28. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 18-19. Kopp 2007, S. 76. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 316. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 583. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 30.

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„Reuters“ bekannte sich wenige Stunden darauf „Carlos“ telefonisch zu dem Anschlagsversuch.2911 Hans-Joachim Klein sei zu Beginn des Jahres 1975 auf Sánchez gestoßen, als er Böse auf einer Reise nach Paris begleitete.2912 „Carlos“ habe ihm anfangs als „amerikanischer Mafiosi“2913 gegolten, der ihn beeindruckte und eine Faszination auf ihn ausübte.2914 Später beschrieb ihn Klein in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ als „unge­ heuer anal“2915 und eitel. Sein „Chefgebaren“2916 habe sich gezeigt, indem er „immer wieder versucht[e], in die Revolutionären Zellen reinzukom­ mandieren, obwohl das eine intakte deutsche Guerilla-Gruppe“2917 war. Klein wohnte einer in Englisch geführten Unterhaltung zwischen Böse und Sánchez bei. Da er indes die Inhalte nicht verstand, verabschiedete er sich und verbrachte die freie Zeit in Paris. Böse soll ihm später verra­ ten haben, er sei mit „Carlos“ über Flugticketgutschriften der „Austrian Airlines“ im Wert von etwa einer Millionen DM ins Gespräch gekommen, welche die „Revolutionäre Zelle“ gefälscht hatte. Diese Fälschungen wollte Sánchez nunmehr in Umlauf bringen.2918 Wie Kopp schilderte, handelte es sich hierbei um eine Unterstützungsleistung der RZ für die „Popular Front for the Liberation of Palestine“.2919 Am Abend sei er zu der Woh­ nung zurückgekehrt, in der sich Böse und Sánchez aufhielten. „Carlos“ habe beiden seine Waffensammlung gezeigt und zudem erläutert, wie eine Maschinenpistole des Typs „Skorpion“ vollständig zerlegt werden kann. Ein Teil seiner Waffen ging laut Klein noch 1975 in den Besitz der „Revo­ lutionären Zelle“ über. Wochen nach dieser ersten Begegnung zwischen Klein und „Carlos“ kam es wohl zu einem zweiten Treffen, in dem Klein Michel Moukarbal erlebte.2920 Der internationalistische Flügel der RZ hielt in diesem Zeitraum offen­ bar an seiner Absicht fest, „politischen Gefangenen“ in der Bundesrepu­

2911 Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 34-35; Kraushaar 2006c, S. 583; Siemens 2006, S. 311; Winkler 2008, S. 270; Wörle 2008b, S. 265. 2912 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 289; Siemens 2006, S. 308. 2913 Klein 1979a, S. 47. 2914 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 289; Klein 1979a, S. 192. 2915 Klein/Der Spiegel 1978, S. 78. 2916 Ebd. 2917 Ebd. 2918 Vgl. Klein 1979a, S. 47, 191. 2919 Vgl. Kopp 2007, S. 76. 2920 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 72-73; Klein 1979a, S. 47, 191-192; Siemens 2006, S. 309.

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blik die Freiheit zu ermöglichen. Klein legte in seinen Erinnerungen dar, ihm sei skizziert worden, wie eine „Befreiungsaktion“ verlaufen könne, für die er durch Wilfried Böse rekrutiert worden war. Als Ziel hätte eine Feier im Raum gestanden, die eine in Deutschland ansässige Botschaft eines anderen Staates anlässlich eines Nationalfeiertages organisiert. Um inhaftierten Linksterroristen die Ausreise aus der Bundesrepublik erlauben zu können, sollten die Teilnehmer einer solchen Veranstaltung festgesetzt werden.2921 Würde den Forderungen der Geiselnehmer nicht fristgerecht nachgekommen werden oder eine sicherheitsbehördliche Reaktion erfol­ gen, seien weitere Maßnahmen in Betracht zu ziehen. Klein schrieb dazu: „Nach Ablauf des ersten Ultimatums sollten nicht nur die ersten Gei­ seln erschossen werden, sondern ein vorher präparierter VW-Bus sollte vollgeladen mit Gasflaschen und Sprengstoff von einer anderen ‚Kom­ mando-Einheit‘ entweder in der Tiefgarage der Chase Manhatten Bank Ffm. [Frankfurt am Main] oder im Innenhof der [Zeitschrift] Quick, München, durch Zeitzünder zur Explosion gebracht werden. […] Soll­ te gestürmt werden, hatte eine wiederum andere ‚Kommando-Einheit‘, die sich vorher in ein Luxus-Hotel eingemietet und dieses mit 20 kg Sprengstoff präpariert hatte, das durch Sprengung zur Explosion zu bringen.“2922 Obgleich Klein diese Planungen angeblich als „entsetzliches Blutbad“2923 sah, soll er nicht den Mut aufgebracht haben, sich offen gegen das Vorhaben zu positionieren. Er habe lediglich davon abgesehen, erneut mit anderen Mitgliedern der „Revolutionären Zelle“ über die Aktion zu sprechen.2924 Dass die internationalistische Gruppe der RZ im Frühjahr 1975 eine spektakuläre „Gefangenenbefreiung“ vorzubereiten beabsichtig­ te, lässt sich aus weiteren Quellen schlussfolgern. Augenscheinlich sollte es dabei zu einem Schulterschluss zwischen der RAF, der B2J und der RZ kommen. Zur „Bewegung 2. Juni“ soll die „Revolutionäre Zelle“ zu diesem Zeitpunkt persönliche Verbindungen unterhalten haben. Entspre­ chendes legte Till Meyer, ehemaliges Mitglied der B2J, in seinem Selbst­ zeugnis dar. Die „Bewegung 2. Juni“ sah sich mit der RZ nicht in einem „Konkurrenzverhältnis“2925 – „[i]m Gegenteil, wir freuten uns darüber,

2921 2922 2923 2924 2925

Vgl. Klein 1979a, S. 48. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Meyer 2008, S. 316.

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dass sie da waren und ihre Aktionen machten.“2926 1974 hätte die B2J da­ her begonnen, eine Beziehung zur „Revolutionären Zelle“ aufzubauen.2927 Dies sei rasch im gewünschten Erfolg gemündet, „weil wir wussten, in welcher linken Ecke wir suchen mussten.“2928 Die „Bewegung 2. Juni“ soll in Verbindung gestanden haben mit Johannes Roos, einem aus Frankfurt am Main stammenden Linksextremisten, „der ab und zu aus Frankfurt anreiste und sich dann mit uns allen ein paar Mal traf“2929. Roos habe über einen „guten Kontakt zu den RZ“2930 verfügt und sei diesen sogar bei­ getreten. Angehört haben dürfte er einer RZ-Gruppe um Gerhard Albartus und Enno Schwall.2931 Der Austausch mit der „Revolutionären Zelle“ ver­ lief Meyers Aussagen zufolge zudem über einen unter dem Pseudonym „Captain Haddock“ auftretenden Aktivisten.2932 Vor der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz Ende Februar 1975 in Westberlin bot die RZ der „Bewegung 2. Juni“ logistische Hilfe: „Auch mit der Waffenbeschaffung klappte es zügig. Wir wollten un­ ser Depot auffüllen und so kamen uns die zwei Firebird-Pistolen, die uns die RZ überließen, gerade recht. Zudem offerierten uns die ‚Zellen‘ auch eine Kalaschnikow, die wir uns bei Bedarf ausleihen konnten.“2933 Wie aus den Schilderungen der vormals in der B2J aktiven Aktivisten Ro­ nald Fritzsch und Ralf Reinders ersichtlich wird, war diese Unterstützung in einen weiterführenden Plan eingebettet: „Wilfried Böse von den Revolutionären Zellen […] war damals [un­ mittelbar vor der Lorenz‑Entführung] in Berlin und versuchte seiner­ seits, eine kombinierte Operation von 2. Juni, RAF und RZ anzulei­ ern. […] Die Aktion war schon weitgehend vorbereitet, und die woll­ ten dazu zwei bis drei Leute von uns, die sich daran beteiligen sollten. […] Sie wollten eine Aktion in der Luft und eine am Boden machen. Das hieß: Flugzeugentführung und Botschaftsbesetzung.“2934

2926 2927 2928 2929 2930 2931 2932 2933 2934

Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 103. Vgl. Meyer 2008, S. 320. Ebd., S. 338. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66-67.

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Diesem Wunsch sei die B2J nicht nachgekommen. Die Gruppe habe der RZ unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie „Herangehensweise und […] Aktionsform“2935 ablehne. Trotz des negativen Votums der „Be­ wegung 2. Juni“ hielt die „Revolutionäre Zelle“ an einer „Gefangenenbe­ freiung“ fest. Die Notwendigkeit einer solchen Aktion dürfte sich ihren Akteuren auch aufgrund der ersten Verhaftung eines RZ-Mitglieds aufge­ drängt haben: Am 24. März 1975 ergriff die Polizei in der Holzhausen­ straße in Frankfurt am Main Johannes Weinrich, dem ein Mitwirken an dem gescheiterten Anschlag auf die „EL-AL“-Passagiermaschine im Januar 1975 vorgeworfen wurde. Auf seine Spur geführt hatte er die Ermittlungs­ behörden mit den Daten, unter denen von ihm ein Fahrzeug in Paris ge­ mietet worden war.2936 Bis zu seiner Verlegung in die Justizvollzugsanstalt Krümmede in Bochum verbrachte Weinrich seine Untersuchungshaft in Karlsruhe.2937 Mit der Festnahme Weinrichs war die „Revolutionäre Zelle“ nicht mehr nur mittelbar durch ihre Verbundenheit mit den „Gefange­ nen“ der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“, sondern unmittelbar von staatlicher Repression und der Situation in den bundesre­ publikanischen Haftanstalten betroffen. Laut Kopp zeigten sich die aus Frankfurt am Main stammenden Akti­ visten der „Revolutionären Zelle“ angesichts der Verhaftung Weinrichs „überrascht und betroffen“2938. Sie selbst soll ihn wiederholt in der Haftan­ stalt in Karlsruhe besucht haben. Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann hätten über seinen Rechtsbeistand mit ihm kommuniziert.2939 In diesem Zusammenhang legte Kopp eine Beteiligung der beiden an den Vorkeh­ rungen für die von der Zweiten Generation der RAF im April 1975 vorge­ nommene Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm nahe: „[S]ie bemühten sich auch von einer ganz anderen Seite um seine [Jo­ hannes Weinrichs] Befreiung. Im April 1975 wurde in Stockholm die deutsche Botschaft von dem RAF-Kommando Holger Meins besetzt, um die Freilassung politischer Gefangener zu erreichen. Hannes stand auf der Liste der Freizupressenden.“2940

2935 Ebd., S. 66. 2936 Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 28; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 19; Kraushaar 2006c, S. 583; Kraushaar 2017, S. 262-263. 2937 Vgl. Siemens 2006, S. 313. 2938 Kopp 2007, S. 74. 2939 Vgl. ebd., S. 83-84. 2940 Ebd., S. 84.

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Demnach muss es vor der Botschaftsbesetzung zumindest Absprachen zwi­ schen RAF und der RZ hinsichtlich der Namen der Personen gegeben haben, deren Freiheit die Aktion herbeiführen sollte. Eine personelle Beteiligung der „Revolutionären Zelle“ an der Geiselnahme blieb aus, weil der konkrete Ablauf des Angriffs wohl Differenzen zwischen beiden Gruppen bedingt hatte. Fußen lässt sich diese Annahme auf eine Aussage Hans-Joachim Kleins. Er sprach von dem „Wahnsinn von Stockholm, von dem selbst die RZ die Leute von der RAF abhalten wollte.“2941 Johannes Weinrich brachte die deutsche Justiz infolge der Ereignisse in Stockholm kurzfristig in der Vollzugsanstalt Stuttgart‑Stammheim unter.2942 Die wäh­ rend des zweitägigen2943 Aufenthalts in Stammheim gesammelten Erfah­ rungen beschrieb er rückblickend als prägend: „Die Verhältnisse in dem Gefängnis waren erdrückend. Es gab zwar immerhin den Versuch der übrigen Gefangenen [sic] uns – die RAFGefangenen und mich – auf dem Laufenden zu halten, doch ansons­ ten waren wir von der Außenwelt vollkommen abgeschnitten. Ich war im gleichen Zellentrakt wie Jan-Carl Raspe. Das war Gefängnis­ horror in bester deutscher Qualität. Nachts um drei Uhr durften wir antreten zur Durchsuchung mit Videokamera im Arsch, dem vollen Programm. Wenn man das erfahren hat, dann ist der Begriff Realität danach ein anderer. In Stammheim habe ich die wahre, harte Staats­ macht kennengelernt. Nachts hörten wir zudem das Freudengeheul der Angestellten im Knast, als die Toten von unserer Seite in Stock­ holm gezählt wurden. Noch fassungsloser und erschreckender war dann das Freudengeheul in der Gesellschaft. Ich habe Stockholm als Niederlage empfunden.“2944 Wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1976 kolportierte, hielt die RZ nach der Botschaftsbesetzung die Beziehung zur „Roten Armee Frak­ tion“ aufrecht. Schlüsselfigur in dieser Verflechtung sei der in die Illegali­ tät eingetretene Rechtsanwalt Siegfried Haag gewesen.2945 Hans‑Joachim Klein berichtete sogar von einem Briefverkehr zwischen den Führungsper­ sonen der Ersten Generation der RAF und der „Revolutionären Zelle“. So habe Andreas Baader 1975 in einem Schreiben an die RZ konstatiert,

2941 2942 2943 2944 2945

Klein 1979a, S. 51. Vgl. Siemens 2006, S. 314. Vgl. Winkler 2008, S. 270. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 315. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 30.

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„[d]ie bewaffnete Politik der RAF […], die des ‚2. Juni‘ und der RZ ist gescheitert.“2946 Unabhängig von ihrer Vernetzung in der Bundesrepublik stellte sich die internationalistische Sektion der „Revolutionären Zelle“ im Frühjahr 1975 erneut in den Dienst des europäischen Ablegers der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“. Die Gruppe um Ilich Ramírez Sánchez habe zu diesem Zeit­ punkt – auf Bitten Wadi Haddads – eine Entführung des in London lebenden Botschafters der Vereinigten Arabischen Emirate, Muhammed Mahdi al-Tadschir, in den Fokus gerückt. Gegen Zahlung eines für den „palästinensischen Widerstand“2947 vorgesehenen Lösegeldes in Höhe von etwa 40 bis 60 Millionen US-Dollar sollte er freigelassen werden.2948 Zur Vorbereitung der Aktion sei ein achtköpfiges „Kommando“ in die briti­ sche Hauptstadt gereist. Der Zirkel habe aus jeweils vier Mitgliedern der PFLP-SOG und der „Revolutionären Zelle“ bestanden. Neben „Carlos“, Michel Moukarbal und zwei weiteren Aktivisten der palästinensischen „Volksbefreiungsfront“ soll er Wilfried Böse, Hans‑Joachim Klein, Mag­ dalena Kopp und Brigitte Kuhlmann umfasst haben.2949 In London traf Kopp erstmals auf Sánchez, der ihr anfangs unsympathisch erschien.2950 Von der Absicht der Gruppe habe sie nur Bruchstücke erfahren.2951 Böse, Klein und Kuhlmann seien von ihr in das Bedienen eines professionellen Fotoapparats eingewiesen worden, mit dem „sie einen unglaublich reichen Araber fotografieren wollten.“2952 Während Kopp eigenen Aussagen zufol­ ge anschließend nach Frankfurt am Main zurückkehrte,2953 sollen die üb­ rigen Aktivisten die Beobachtung des Botschafters aufgenommen haben. Über einen Zeitraum von etwa zwei Wochen hätten sie versucht, sein Bewegungsprofil nachzuvollziehen. Dies sei nicht gelungen. Al-Tadschir erblickte der Zirkel nur bei einer einzigen Gelegenheit. Von der Entfüh­ rung wurde daher abgelassen.2954 Die in Deutschland existierenden Strukturen der „Revolutionären Zel­ le“ konzentrierten sich unterdessen auf Anschlagsziele, welche in der Bundesrepublik – vermeintliche – gesellschaftliche Missstände sichtbar

2946 2947 2948 2949 2950 2951 2952 2953 2954

Klein 1979a, S. 190. Ebd., S. 49. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 79; Siemens 2006, S. 310; Kopp 2007, S. 82. Vgl. Klein 1979a, S. 49. Vgl. Kopp 2007, S. 79-80. Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 82. Vgl. ebd. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 79; Klein 1979a, S. 50.

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7.2 Aktionsphase

machen sollten. Im März 1975 nahmen sie die Stellung und Rechte der Frauen zum Anlass, Anschläge auf den Bamberger Dom und das Bun­ desverfassungsgericht durchzuführen.2955 Zu Letztem bekannten sich öf­ fentlich „Frauen der Revolutionären Zelle“2956. Sie beklagten eine „Verfas­ sung, die Frauen illegalisiert – viele in den Tod treibt – wenn sie sich nicht von der Ärzte- und Richtermafia ihre Sexualität, den Umgang mit ihrem eigenen Körper, die Zahl ihrer Kinder vorschreiben lassen.“2957 Im April 1975 trafen Gewalttaten der RZ als Signal gegen – angebliche – kapitalisti­ sche Ausbeutung und staatliche Repression die Bundesverbände der deut­ schen Industrie sowie der deutschen Arbeitgeberverbände, die „Industrieund Handelskammer“ sowie die Berliner „Ausländerpolizei“.2958 Daneben zog der Zirkel öffentlich eine Bilanz zu den ab Ende 1973 realisierten Anschlägen, in der herausragende Ereignisse, wie zum Beispiel der Tod Holger Meins‘ und die gescheiterte Geiselnahme der „Roten Armee Frakti­ on“ in Stockholm, ebenfalls Thema waren. Als Medium diente ihm hierzu der „Revolutionäre Zorn“ – eine Zeitschrift, die dem Netzwerk in den folgenden Jahren als zentrales Sprachrohr und Rechtfertigungsinstrument dienen sollte. Ihre erste Ausgabe ist auf Mai 1975 datiert.2959 Gerd‑Hin­ rich Schnepels Aussagen zufolge wurde der „Revolutionäre Zorn“ als gemeinsames Projekt von allen Gruppen getragen, welche sich der RZ zurechneten. Die Mitarbeit an der Zeitung habe andere Formen der Ko­ operation – darunter materielle Hilfe – ergänzt.2960 Im „Revolutionären Zorn Nr. 1“ formulierte die „Revolutionäre Zelle“ die Forderung, „[s]ich selbst zur Wehr zu setzen! Zusammen mit allen anderen, die ihre Lage zu erkennen beginnen“2961. Es sei unabdingbar, „Widerstand auf allen Ebenen, in allen Bereichen, mit allen Mitteln“2962 zu entfalten. Wie dies geschehen könne, habe die RZ ab November 1973 aufgezeigt. Als elementaren Bestandteil ihrer Aktivitäten definierte sie die „Befreiung der Genossen im Knast“2963. Schließlich sei die „Vernichtungs­

2955 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 89. 2956 Ebd., S. 124. 2957 Ebd., S. 122. 2958 Vgl. Horchem 1988, S. 82; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialge­ schichte 1993, Band 1, S. 89, 117. 2959 Vgl. Horchem 1988, S. 84. 2960 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 2961 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 88. 2962 Ebd., S. 90. 2963 Ebd., S. 91.

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haft […] keine Erfindung, sondern Wirklichkeit“2964. Benötigt würden „die Genossen in Freiheit, nicht als Märtyrer hinter Gittern.“2965 Vor dem Hintergrund dieser Auffassungen gaben die Verfasser des ersten „Revolu­ tionären Zorns“ eine positive Beurteilung zu der Botschaftsbesetzung in Stockholm ab, in deren Verlauf „[u]nsere Genossen Ulrich Wessel und Siegfried Hausner“2966 verstarben. Die Geiselnahme sei eine „richtige Ak­ tion“2967, an der deutlich werde, „dass jetzt ein anderer Druck erzeugt werden muss, um unsere Genossen rauszuholen“2968. Darauf aufbauend warf die RZ die Drohung in den Raum: „[W]ir ziehen Konsequenzen. Die Stadtguerilla wird wie den Tod Holgers auch die Genossen Ulrich Wessel, Siegfried Hausner, Werner Sauber rächen, sie wird jeden Versuch machen, die Gefangenen zu befreien, weil das ein von ihrer Existenz untrennbarer Teil ist“2969. Wesentlich differenzierter stellt sich das hier zum Ausdruck kommende solidarische Verhältnis der „Revolutionären Zelle“ zur „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ in einem Interview mit einem namentlich nicht bekannten Mitglied der RZ dar, das als Teil des vom Ver­ lag „Gegendruck Gaiganz“ vervielfältigten und im Mai 1975 publizierten Sammelbandes „Holger, der Kampf geht weiter“2970 erschien. Der befragte Aktivist gab an, der RAF sei insofern eine positive Funktion zuzuschrei­ ben, als sie den „bewaffneten Kampf“ in Deutschland „initiiert hat, was es bisher nur in der Diskussion um die Dritte Welt gegeben“2971 hatte. In der gewaltbereiten linksextremistischen Szene habe die Gruppe damit eine Vorbildrolle eingenommen: „[O]hne die RAF wären wir nichts, d.h. gäbe es uns [die RZ] wahrscheinlich gar nicht.“2972 Sie stelle ein „wesentliches Moment für unsere Politik und andere Gruppierungen“2973 dar. Gleich­ wohl sei eine kritische Haltung gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ – sowie der „Bewegung 2. Juni“ – nicht ausgeblieben. Die „Revolutionäre

2964 2965 2966 2967 2968 2969 2970 2971

Ebd. Ebd. Ebd., S. 85. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Siemens 2006, S. 217-218. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 103. 2972 Ebd. 2973 Ebd., S. 99.

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Zelle“ habe „mit dem Wissen über diese beiden Gruppen […] aus Presse usw. […] angefangen“2974 und dabei festgelegt: „[D]as, was die RAF macht oder der 2. Juni, so wollen wir es […] nicht“2975. Die bisherigen Aktionen der „Roten Armee Fraktion“ wertete das RZ-Mitglied zwar – mit Ausnah­ me des Anschlags auf das Gebäude des Verlags „Axel Springer“ im Mai 1972 in Hamburg – wohlwollend. Die übrigen Kommentare lasen sich aber negativ. So wies der Befragte der „Roten Armee Fraktion“ die Attri­ bute „abstrakt“, „unangemessen“, „großmäulig“ und „nicht überzeugend“ zu.2976 Mit Blick auf die „Bewegung 2. Juni“ hielt er ausschließlich eine nähere Einschätzung zu dem Anschlag auf Günter von Drenkmann im November 1974 für angebracht. Eine solche Aktion sei sinnvoll, weil sie „eine Polarisierung innerhalb der Linken beschleunigt und schneller und klarer zu sehen ist, wer hat einen revolutionären Anspruch und wer ist schon längst auf dem reformistischen Dampfer abgefahren.“2977 Mitte 1975 geriet die europäische Zelle der PFLP-SOG zunehmend in den Blick der französischen Sicherheitsbehörden, was nicht zuletzt Konse­ quenzen für den internationalistischen Flügel der „Revolutionären Zelle“ nach sich zog. Ermittlungen führte der Nachrichtendienst „Direction de la surveillance du territoire“ (DST) durch. Michel Moukarbal soll zu diesem Zeitpunkt die Intention verfolgt haben, in Frankreich ein Attentat auf den israelischen Botschafter Asher Ben-Natan auszuführen. Am 9. Juni 1975 geriet er in Beirut mit hohen Geldsummen in Haft.2978 Moukarbal war „wohl durch seine häufigen Reisen aufgefallen“2979, so Kopp. Am 22. Juni 1975 setzte ihn nach seiner Landung in Paris die französische Polizei fest; außerdem durchsuchte sie Moukarbals Wohnung in der Rue Claude Vellefaux. Die Beamten entdeckten Materialien, welche sich zum Bau von Sprengkörpern eigneten. Am 25. Juni 1975 suchte Wilfried Böse Moukar­ bals Wohnung auf, wo ihn Polizisten und Angehörige der DST in Emp­ fang nahmen. Zwei Tage später schob der französische Staat Böse nach Deutschland ab. Nach Einreise über den Grenzübergang Saargemünd ver­ hörte ihn die deutsche Polizei. Böse gab im Kontakt mit den Sicherheits­ behörden zu verstehen, er sei im Mai 1975 in Frankfurt am Main von einer Person namens „Carlos“ besucht worden, die ihm Kurieraufträge

2974 2975 2976 2977 2978 2979

Ebd., S. 96. Ebd. Vgl. ebd., S. 103-104. Ebd., S. 105. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 596. Kopp 2007, S. 87.

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zugewiesen habe. Außerdem hätte „Carlos“ ihn überzeugt, als Hilfsleis­ tung für baskische Separatisten in Spanien Erkenntnisse zu Festnahmen, Gerichtsprozessen und der politischen Lage zu sammeln. Am 24. Juni 1975 soll er mit „Carlos“ in einem Pariser Café zusammengestoßen sein, um die Einzelheiten des Auftrags abzusprechen. „Carlos“ habe ihm bei dieser Gelegenheit einen gefälschten Pass übergeben, der auf einen am 7. Februar 1947 in Stuttgart geborenen Axel Klaudius ausgestellt gewesen sei. Überdies habe er die Adresse von Moukarbals Wohnung erhalten, in der er Unterschlupf finden und weitere Angaben zu seinem Einsatz in Spanien erhalten sollte.2980 Hans-Joachim Klein und Magdalena Kopp be­ richteten später übereinstimmend, diese Ausführungen Böses hätten nicht der Wahrheit entsprochen.2981 Da den deutschen Sicherheitsbehörden we­ der nähere Informationen zur „Revolutionären Zelle“ noch zur Person „Carlos“ vorlagen, zogen sie diese nicht in Zweifel und entließen Böse noch am 27. Juni 1975 aus der Haft. Am Abend desselben Tages suchten Mitarbeiter der DST in Begleitung Moukarbals eine Wohnung in der Rue Toullier auf, die Sánchez als Quartier diente. „Carlos“ griff zu seiner Waf­ fe, erschoss zwei Beamte des Nachrichtendienstes, verletzte einen weiteren schwer und richtete anschließend Moukarbal hin,2982 den er als Verräter und Feigling gesehen haben soll.2983 Dieser Vorfall durchbrach nicht nur die logistischen Strukturen der PFLP-SOG in Europa,2984 er verschaffte auch „Carlos“ durch Abdruck eines Polizeifotos in Zeitungen eine bis dahin nicht erreichte Publizität:2985 „Mit einem Schlag war der Mythos vom ‚Super-Terroristen Carlos‘ geboren.“2986 Sánchez floh nach dem Zwischenfall in der Rue Toullier über den Ost­ berliner Flughafen in Berlin‑Schönefeld in den Nahen Osten.2987 Zuflucht fand er angeblich bei Wadi Haddad.2988 Offenbar sahen sich Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann in dieser Situation gezwungen, den Schritt in den Untergrund zu wagen. Kuhlmann hatte sich Böse im Zeitraum der Verhaf­ tung Michel Moukarbals in Paris anschließen wollen, sei jedoch rechtzeitig nach dessen Abschiebung in die Bundesrepublik von Klein gewarnt wor­

2980 2981 2982 2983 2984 2985 2986 2987 2988

Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 28-29; Kraushaar 2006c, S. 596. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 289; Kopp 2007, S. 86. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 596; Siemens 2006, S. 310. Vgl. Klein 1979a, S. 193. Vgl. ebd., S. 191; Kopp 2007, S. 88. Vgl. Kopp 2007, S. 87. Kraushaar 2006c, S. 596. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 29; Klein 1979a, S. 193. Vgl. Kopp 2007, S. 88.

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den.2989 Kopp gab zu verstehen, den deutschen Sicherheitsbehörden sei nunmehr die Beziehung von Böse und Kuhlmann zu „Carlos“ bekannt gewesen:2990 „Der Boden war heiß geworden für Boni und Brigitte“2991. Da die „Revolutionäre Zelle“ keine Strukturen unterhalten habe, welche ihren Mitgliedern in Deutschland ein Leben in der Illegalität ermöglicht hätte, seien sie im Sommer 1975 „in den vor dem Zugriff der europäischen Behörden sicheren arabischen Raum“2992 ausgereist. Hans-Joachim Klein und Magdalena Kopp verblieben in Deutschland.2993 Während Klein sich weiter radikalisierte, die Aktivitäten der „Roten Hilfe“ als „pseudolinke Politik“ 2994 denunzierte und schließlich Mitte 1975 aus der RH austrat,2995 hielt Kopp den Kontakt zu Johannes Weinrich aufrecht. Im Laufe des Gefängnisaufenthaltes verschlechterte sich sein Ge­ sundheitszustand. Bereits im Juni 1975 gab er an, Blasenschmerzen zu haben.2996 Eine ärztliche Untersuchung „stellte Eiterzellen im Prostata-Se­ kret und verhärtete Blutgerinnsel im kleinen Becken fest“2997, was zu einer Behandlung führte. Laut der ihm mitgeteilten Diagnose sah sich Weinrich „eine[r] schwerwiegenden und unter Umständen lebensbedrohliche[n] Nierenschädigung“2998 gegenüber. Im Oktober 1975 erlitt er einen Zusam­ menbruch.2999 Aufgrund der Symptome fasste die Justiz am 18. November 1975 den Entschluss, seine Haft auszusetzen. Seinen Personalausweis muss­ te er abgeben; außerdem hatte er sich täglich zwei Mal bei einer Polizei­ behörde zu melden.3000 Die Kaution in Höhe von 30 000 DM stellten Magdalena Kopp und seine Eltern.3001 Lange Zeit bestand in Zeitungen und der Literatur die Auffassung, Weinrich sei unmittelbar danach abge­ taucht und über Belgien und Tschechien nach Bagdad ausgereist.3002 Dem widersprechen Aussagen seiner Schwester Ute Breuer sowie seiner Freun­ din Magdalena Kopp, die Anne Maria Siemens 2006 zusammentrug. Diese 2989 2990 2991 2992 2993 2994 2995 2996 2997 2998 2999 3000 3001 3002

Vgl. Klein 1979a, S. 50-51. Vgl. Kopp 2007, S. 90. Ebd. Ebd., S. 91. Ähnlich Klein 1979a, S. 51-52. Vgl. Klein 1979a, S. 52; Kopp 2007, S. 95. Klein 1978, S. 81. Vgl. Siemens 2006, S. 281. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 30. Ebd. Kopp 2007, S. 84. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 30. Siemens 2006, S. 366. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 33. Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 28; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 19-23.

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decken sich weitgehend mit Kopps 2007 veröffentlichter Autobiographie. Nach seiner Entlassung sei er demnach bei seiner Schwester in Bochum untergekommen, wo eine Willkommensfeierlichkeit für ihn ausgerichtet wurde.3003 Kopp bemerkte alsbald an Weinrich eine Wesensänderung: „Er konnte seine wiedergewonnene Freiheit nicht richtig genießen. Es kam mir vor, als stelle er seine persönlichen Bedürfnisse ganz hinten an und denke nur noch an die Genossen, die nach wie vor im Knast saßen. Schon vor seiner Haft hatte er die gemeinsame Sache sehr ernst genommen, aber jetzt war sie ihm offenbar noch wichtiger geworden. […] [E]r schien nur noch eine einzige Sache im Kopf zu haben: die Identifikation mit dem Kampf. Alles andere wurde nebensächlich.“3004 Kopp begleitete Weinrich eigenen Aussagen zufolge zu einer medizini­ schen Behandlung im Schwarzwald. Ende 1975 hätten sie sich gemeinsam in Gaiganz niedergelassen und die Weihnachtsfeiertage mit seinen Eltern in Schwerte verbracht. Aufgrund des finanziellen Niedergangs des „Ge­ gendrucks Gaiganz“ habe das Paar beschlossen, nach Frankfurt am Main zurückzukehren.3005 Die in Deutschland aktiven Zirkel der „Revolutionären Zelle“ forcierten ab Herbst 1975 eine Kampagne, welche mehrere Jahre andauern sollte. Sie richtete sich gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Personennahver­ kehr. Im September 1975 unterstrich die RZ in einer Stellungnahme – neben ihrer Verbundenheit mit der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ – die Notwendigkeit, „gegen die Teuerung und ver­ stärkte Auspressung der Bevölkerung“3006 zu kämpfen. An den steigenden Fahrpreisen entzündete sich 1975 bundesweit Protest, den die „Revolu­ tionäre Zelle“ mit unterschiedlichen Aktionen aufzugreifen suchte. Im Oktober 1975 soll die RZ Ticketautomaten des „Frankfurter Verkehrsver­ bundes“ (FVV) unbrauchbar gemacht und Flugschriften verteilt haben, die Ratschläge zur Zerstörung der Geräte bereithielten.3007 Laut Hans‑Joa­ chim Klein „mixten [RZ-Mitglieder] so einige gute Süppchen, die den FVV‑Monstern an den Haltestellen so manches Bäuerchen entlockten: das letzte.“3008 Um „ihrem Klassenfeind Nr. 1, den Fahrkartenautomaten 3003 3004 3005 3006

Vgl. Siemens 2006, S. 366; Kopp 2007, S. 85. Kopp 2007, S. 85-86. Vgl. Siemens 2006, S. 366; Kopp 2007, S. 86, 95. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 134. 3007 Vgl. ebd., S. 126. 3008 Klein 1979a, S. 189.

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des FVV, das Innenleben schwerzumachen“3009, setzte die „Revolutionä­ re Zelle“ zudem Schusswaffen gegen die Maschinen ein.3010 Kölner Fahr­ kartenautomaten wurden ebenfalls Ziel ihrer Aktivitäten. In Westberlin dagegen soll die RZ am 16. Juli 1975 sowie am 17. November 1975 ins­ gesamt 120 000 gefälschte Sammelfahrkarten in Umlauf gebracht haben, die einem Wert von etwa 360 000 DM entsprochen hätten.3011 „Die von der Fahrpreiserhöhung Betroffenen“, so Kopp, „konnten für ein paar Tage frei fahren.“3012 Während der Verteilung seien von der „Revolutionären Zelle“ mit einem „UKW-Sender Musik- und Informationsprogramme aus­ gestrahlt [worden], die im Umkreis von ca. 10 km gut verständlich wa­ ren.“3013 In den letzten Monaten des Jahres 1975 richtete die „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ ihr Augenmerk auf Europa. Gemeinsam mit „Carlos“, Wilfried Böse und Brigitte Kuhl­ mann sollte der Kontinent erneut als Aktionsraum beansprucht werden. Kuhlmann soll „aus einem arabischen Land“3014 nach Frankfurt am Main gereist und dort in einem Wald mit Klein und einem weiteren Angehö­ rigen der „Revolutionären Zelle“ zusammengetroffen sein.3015 Sie habe unmittelbar ihr Anliegen dargelegt: Die PFLP beabsichtige, in einer groß angelegten Aktion Resonanz zugunsten des palästinensischen Widerstands im Nahen Osten zu erzeugen. Böse und Kuhlmann hätten den Palästinen­ sern das Mitwirken der „Revolutionären Zelle“ zugesagt. Diese Beteiligung habe die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ zwar angenom­ men, aber Bedingungen gestellt.3016 So sollte Böse dem „Kommando“ auf­ grund seiner führenden Stellung in der RZ nicht beiwohnen.3017 Als Teil­ nehmer sei von der PFLP eine militärisch ausgebildete Person gewünscht worden. „Carlos“ habe daher den Vorschlag geäußert, Klein in die Aktion einzubinden. Klein selbst bat Kuhlmann angeblich im Gespräch, ihm De­

3009 Ebd., S. 179. 3010 Vgl. ebd. 3011 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 126. 3012 Kopp 2007, S. 70. 3013 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 126. 3014 Klein 1979a, S. 52. 3015 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73; Klein 1979a, S. 52; Schnepel/Villinger/Vo­ gel 2000. 3016 Vgl. Klein 1979a, S. 52-53. 3017 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 81.

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tails des bevorstehenden Anschlags zu nennen. Kuhlmann hätte daraufhin zu verstehen gegeben, dass zwei der auf der kommenden Sitzung der „Organization of the Petroleum Exporting Countries“ in Wien anwesen­ den Staatsvertreter ermordet, die übrigen als Geiseln genommen werden sollten. Darüber hinaus sei von ihr offenbart worden, wesentliche Informa­ tionen zur Veranstaltung würden die Täter von der libyschen Regierung erhalten, die selbst auf der Konferenz anwesend sein werde. Angesichts dieser Ausgangslage signalisierte Klein seine Bereitschaft, Mitglied des „Kommandos“ zu werden.3018 Seinem legalen Umfeld machte er deutlich, er würde Frankfurt am Main wegen eines Skiurlaubs vorübergehend verlassen.3019 Offensichtlich verfügte Klein zu diesem Zeitpunkt noch über Kontakte zur „Roten Armee Fraktion“, gab doch Volker Speitel – ein Mitglied der Zweiten Generation der RAF – 1980 in einem Interview an, er sei Klein im Vor­ feld des Überfalls auf die OPEC begegnet. Im Gespräch habe Klein vor allem die Botschaftsbesetzung im April 1975 in Stockholm kritisiert.3020 Nachdem für ihn ein gefälschter Pass erstellt worden war, fuhr Klein gemeinsam mit Brigitte Kuhlmann und einem weiteren Aktivisten der „Revolutionären Zelle“ nach Zürich. Hier stieß Wilfried Böse hinzu. Klein und Böse setzten die Reise fort und gelangten per Zug nach Wien, wo sich ihnen nach und nach „Carlos“, die durch die Lorenz-Entführung im März 1975 freigelassene, aus dem Umfeld der B2J stammende Terroristin Gabriele Kröcher‑Tiedemann (Deckname: „Nada“) sowie drei Männer an­ schlossen.3021 Das personell von der PFLP‑SOG, der RZ und einer späteren Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ getragene „Kommando“ nahm die Vorbereitungen für die Geiselnahme auf. Unterstützt worden sei es dabei nicht nur von Böse, sondern überdies von vier Angehörigen der „Revolu­ tionären Zelle“, die Kleins Angaben zufolge außerhalb Wiens Wohnungen mieteten. Sie hätten Objekte ausgespäht und Erkenntnisse gesammelt.3022 „Carlos“ soll es in dieser Phase sogar gelungen sein, unerkannt bis zum Empfang der OPEC im Tagungsgebäude vorzustoßen.3023 Informationen zu den Sicherheitsvorkehrungen vor Ort seien ihnen, wie erwartet, von 3018 3019 3020 3021

Vgl. ebd., S. 72; Klein 1979a, S. 53-54; Siemens 2006, S. 359. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 32; Winkler 2008, S. 271. Vgl. Speitel 1980b, S. 31. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 72; Klein 1979a, S. 54-56; Horchem 1988, S. 125; Rabert 1995, S. 207; Siemens 2006, S. 359; Winkler 2008, S. 271. 3022 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 72; Klein/Libération 1978, S. 282; Klein 1979a, S. 56. 3023 Vgl. Siemens 2006, S. 359.

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der libyschen Regierung übergeben worden. Als problematisch erwies sich angeblich eine Lieferung von Waffen, welche den Geiselnehmern in Aus­ sicht gestellt worden war. Da sich diese erheblich verspätet habe,3024 hätte Wilfried Böse bei Aktivisten der „Revolutionären Zelle“ in Deutschland telefonisch Schusswaffen und Sprengstoff angefordert.3025 Des Weiteren soll er sich bemüht haben, eine Waffe von der „Roten Armee Fraktion“ zu erlangen.3026 Mit den gewünschten Materialien habe ein Mitglied der RZ am 19. Dezember 1975 Wien erreicht. Am Abend desselben Tages wäre das „Kommando“ schließlich nach einem Treffen mit einem libyschen Di­ plomaten auch in den Besitz der ursprünglich zugesagten Waffen gelangt. Die nunmehr zur Verfügung stehenden Pistolen und Schnellfeuergewehre seien wenig später gemeinsam in Augenschein genommen worden. Be­ stimmt werden sollte, welche Waffen im Überfall zum Einsatz kommen. Hierbei habe sich ein Streit zwischen Böse und Klein entwickelt, da Böse und das hinzugestoßene RZ-Mitglied nach Ansicht Kleins die Absicht verfolgten, die aus der Bundesrepublik stammenden Waffen der „Revolu­ tionären Zelle“ gegen hochwertigere Waffen aus der libyschen Lieferung auszutauschen.3027 Klein war überzeugt, die in Deutschland aktive RZ versuche bei dieser Gelegenheit, „mit saudummen Argumenten und vor allem dreckigen Tricks ihre Scheißlogistik […] zu verbessern.“3028 Er habe mit seinem Ausstieg gedroht, sollte es zu einem solchen Tausch kommen. Böse und Klein habe diese Episode gleichermaßen verärgert; von Klein sei Böse sogar im Nachgang als „Schwein“ beschimpft worden. Das aus der Bundesrepublik angereiste RZ‑Mitglied sei schließlich mit dem Großteil seiner Waffen nach Deutschland zurückgekehrt.3029 Spannungen unter den Geiselnehmern hatten sich bereits zuvor erge­ ben. Wie Klein in seiner Autobiographie rekapitulierte, führte er in Wien eine Unterhaltung mit Böse und Sánchez, in der „Carlos“ den geplanten Ablauf der Aktion skizzierte. Alle Teilnehmer sollten zunächst unter seiner Führung festgesetzt, der saudi-arabische Minister Ahmed Zaki Yamani so­ wie der Iraner Jamshid Amouzegar exekutiert werden. Das „Kommando“ würde die Forderung aufstellen, eine vorbereitete Erklärung im österrei­ chischen Rundfunk verlesen sowie eine Passagiermaschine bereitstellen zu 3024 3025 3026 3027

Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 72. Vgl. Klein 1979a, S. 61. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 295. Vgl. Klein 1979a, S. 61-62. Zur libyschen Quelle der Waffen vgl. Siemens 2006, S. 360. 3028 Klein 1979a, S. 62. 3029 Vgl. ebd., S. 62-63.

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lassen. In diesem Flugzeug würden die Terroristen die Geiseln ausfliegen. Deren Freilassung erfolge, sofern die für sie verantwortlichen Regierungen einen Text veröffentlichen, welcher für den palästinensischen Widerstand wirbt.3030 Mit Blick auf die entführten Konferenzteilnehmer habe Sánchez gegenüber Böse und Klein eine kompromisslose Haltung vertreten: „‚Wer Widerstand leistet, wird sofort erschossen, wer den Befehlen nicht unverzüglich nachkommt, wird erschossen, wer versucht zu ent­ kommen, wird erschossen, wenn jemand hysterisch wird und anfängt zu kreischen und ausflippt, [sic] wird erschossen.‘“3031 Diese Linie hätte Klein mit Unverständnis zurückgewiesen. Lautstark gab er – angeblich – zu verstehen, er „[denke] nicht im Traum daran […], einen umzubringen oder […] nur zu verletzen, weil der oder die hyste­ risch wird.“3032 „Carlos“ sei indes bei seiner Position geblieben. Böse habe schlichtend eingegriffen, indem er im Austausch mit Klein „Carlos‘“ Aus­ sagen als überspitzt beschrieb und relativierte.3033 Am 21. Dezember 1975 fuhr das sechsköpfige „Kommando“ in einer Straßenbahn zu dem von der OPEC genutzten Gebäude.3034 Unter Waffen­ gewalt verschaffte es sich Zutritt zu der Konferenz, und es nahm etwa 70 Teilnehmer als Geiseln.3035 Drei Personen kamen durch Schusswaffen der Terroristen ums Leben: ein österreichischer Polizist, ein irakischer Leib­ wächter sowie ein Angehöriger der libyschen Delegation. Das „Komman­ do“ wehrte wenig später mehrere Polizeibeamte ab, welche die Örtlich­ keit betreten hatten.3036 Im Schusswechsel traf Klein ein Querschläger in den Bauch. „Carlos“ habe ihm Waffen und Portemonnaie abgenommen; von einer der Geiseln sei er zum Ausgang geführt und dort in medizini­ sche Betreuung gegeben worden.3037 Die Terroristen ließen den österrei­ chischen Sicherheitsbehörden einen Forderungskatalog zukommen, den sie mit der Selbstbezeichnung „Arm der Arabischen Revolution“ versehen hatten. Sánchez verlangte außerdem die Zusage, Klein gemeinsam mit den anderen Angehörigen des „Kommandos“ die Ausreise aus dem Land zu erlauben. Noch am selben Tag verbreitete sich im Radio die von ihnen 3030 3031 3032 3033 3034 3035 3036 3037

Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 74; Klein 1979a, S. 57-59. Ilich Ramírez Sánchez, zit. n. Klein 1979a, S. 59. Ebd. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 283; Klein 1979a, S. 60-61. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 74. Vgl. Winkler 2008, S. 271. Vgl. Smith 1976, S. 68-70; Wörle 2008b, S. 265. Vgl. Klein 1979a, S. 69-70.

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gefertigte politische Erklärung. Am 22. Dezember 1975 positionierten die Behörden einen Omnibus vor dem Gebäude, der die Aktivisten und 33 „Gefangene“ zum Flughafen brachte. Rund 40 Geiseln ließen die Terro­ risten am Tagungsort zurück. In einer Maschine der „Austrian Airlines“ flogen sie mit dem schwer verletzten Hans‑Joachim Klein zunächst nach Algier, wo sie die ersten Geiseln entließen. Klein verblieb ebenfalls in der Stadt, erhielt die erforderliche ärztliche Behandlung und konnte sich von den Folgen der Schusswunde erholen. Die anderen Aktivisten unter­ nahmen einen Weiterflug nach Tripolis. Hier war angeblich der Umstieg in ein Flugzeug vorgesehen, das die Gruppe nach Bagdad bringen sollte. Dieses Vorhaben sei indes an der fehlenden Hilfestellung des libyschen Staates gescheitert. Von Libyen aus reisten die Terroristen und ihre Geiseln in Richtung Tunis, konnten dort jedoch nicht landen, da ihnen eine ent­ sprechende Erlaubnis versagt wurde. Das „Kommando“ entschied sich kur­ zerhand, erneut in Algier Zuflucht zu suchen. Nach ihrer Ankunft ließen sie von ihrer Operation ab und ermöglichten den letzten „Gefangenen“ – darunter der saudi-arabische und der iranische Minister – die Freiheit. Kurz darauf hoben die algerischen Behörden ihre polizeiliche Haft auf und gewährten ihnen Asyl.3038 Klein führte den Ausgang der Geiselnahme 1978 in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ auf den Einfluss der Regierung eines Landes zurück, in dem das „Kommando“ während seines Fluges un­ tergekommen war. Diese habe „Carlos“ überzeugt, die Aktion zu beenden, „ohne Amusegar und Jamani zu killen“3039. Als Gegenleistung sei ihm Geld ausgehändigt worden.3040 Diese Darstellung lehnte Magdalena Kopp 2007 in ihrer Autobiographie ab. Wer ihrer Version folgt, schreibt dem algerischen Staat drei Optionen zu, welche dieser den Geiselnehmern an­ geboten habe: „entweder Verhaftung, Gerichtsverfahren und Todesurteil oder die Erstürmung des Flugzeugs, wobei sie gleich erschossen würden. Kapitulierten sie, wären sie hingegen frei.“3041 Um seinen Tod und den sei­ ner Mitkämpfer abzuwenden, habe „Carlos“ die Waffen niedergelegt.3042

3038 Vgl. Smith 1976, S. 71-73; Klein/Der Spiegel 1978, S. 77; Klein 1979a, S. 70; Siemens 2006, S. 360; Kopp 2007, S. 94. 3039 Klein/Der Spiegel 1978, S. 78. 3040 Vgl. ebd. 3041 Kopp 2007, S. 94. 3042 Vgl. ebd., S. 94-95.

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7.2.2 Unterstützung der PFLP-SOG, Geiselnahme in Entebbe, interner Richtungskampf, Verflechtungen mit der „Bewegung 2. Juni“ (1976 bis 1977) Mit dem Überfall auf die OPEC manifestierte sich nicht nur das Bild des „Super-Terrorist[en]“3043 „Carlos“. Überdies wurden erstmals Böses, Kleins und Kuhlmanns Verbindungen zum internationalen Terrorismus sowie die Existenz der „Revolutionären Zelle“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt. „Der Spiegel“ berichtete in seiner ersten Ausgabe des Jahres 1976 unter dem Titel „Kontakt mit Kadern“ ausführlich über den in Frankfurt am Main entstandenen Zirkel und seine Verflechtungen mit Sánchez. Böse und Kuhlmann zählten nach Einschätzung des Nachrich­ tenmagazins „zu den meistgesuchten Anarchisten der Republik“3044. Als der Artikel in Deutschland erschien, sollen sich beide an der Seite Wadi Haddads aufgehalten haben.3045 Das für die Geiselnahme in Wien ver­ antwortlich zeichnende „Kommando“ sei ebenfalls in den Nahen Osten zurückgekehrt.3046 Unterschlupf gefunden hätte es im Südjemen.3047 Aus Böses und Kuhlmanns Sicht galt es nun wohl, die ungebrochene Verbun­ denheit der „Revolutionären Zelle“ mit dem palästinensischen Widerstand zu betonen. Schließlich hatte ein von der RZ mitgetragener Zirkel der PFLP-SOG in Wien „ihren bisher größten Fehlschlag beschert.“3048 Um Wadi Haddad verdeutlichen zu können, „dass die RZ eine Gruppe waren, die es ernst meinte, was die Solidarität mit dem Kampf der Palästinenser anging“3049, trieben Böse und Kuhlmann – angeblich – eine Reise voran, in deren Verlauf Mitglieder der in Deutschland aktiven „Revolutionären Zelle“ eine Kampfausbildung bei der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ durchlaufen sollten. Die Vorbereitungen hätten sie gemeinsam mit den in der Bundesrepublik ansässigen RZ-Aktivisten Gerhard Albartus und Gerd‑Hinrich Schnepel getroffen. Zu Beginn des Jahres 1976 sollen Albartus und Schnepel in Begleitung Sabine Eckles, Hermann Feilings und Magdalena Kopps in den Nahen Osten geflogen sein. Kopps Aussagen zufolge wohnten der Gruppe drei weitere Angehörige der „Revolutionä­

3043 3044 3045 3046 3047 3048 3049

Klein/Der Spiegel 1978, S. 78. Der Spiegel 1976a, S. 28. Vgl. Kopp 2007, S. 96. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 77. Vgl. Kopp 2007, S. 99. Ebd. Ebd., S. 96.

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ren Zelle“ bei.3050 Vergleicht man die Ausführungen von Schmaldienst und Matschke sowie Kopp, liegt eine Teilnahme Johannes Weinrichs na­ he. Schmaldienst und Matschke führten aus, Weinrich sei Ende 1975/An­ fang 1976 über Zürich und Prag alleine nach Bagdad gereist. Nach einigen Wochen erreichte er Aden im Südjemen.3051 Kopp gab an, sie wäre mit einem namentlich nicht benannten Mitglied der RZ nach Zürich gelangt, wo sie ihre Reisepässe vergraben hätten. Den weiteren Weg sollen sie mit gefälschten zypriotischen Pässen der PFLP-SOG zurückgelegt haben. Anschließend seien sie auf unterschiedlichen Routen über Beirut nach Aden gereist.3052 Im Südjemen habe die Gruppe zunächst Wadi Haddad kennengelernt; kurz darauf sei sie in ein Trainingslager gebracht worden.3053 Unter der Anleitung des Palästinensers Zaki Helou sollen ihnen „allerlei Waffen und […] ihre Handhabung“3054 gezeigt worden sein. Auch Sánchez hätte die Rolle des Ausbilders eingenommen. Hans-Joachim Klein habe gelegentlich den Schulungseinheiten beigewohnt,3055 dabei allerdings laut Kopp eine Gefahr dargestellt für „das Leben der Leute, die er ausbilden sollte.“3056 Klein schilderte zu dieser Episode in der 2006 erschienenen Fernsehdoku­ mentation „Mein Leben als Terrorist – Hans-Joachim Klein“: „Da waren einige Leute von der RZ, die haben da eine Militärausbil­ dung bekommen, ne. Und da gab’s [sic] in der Wüste, mitten in der Wüste, gab’s `n [sic] Platz, das war das Militärlager, und da wurde halt mit allem Möglichen durch die Gegend geschossen, ne. Bis hin zu Flugabwehrraketen, ne. Also Strela, bekannt unter dem Namen SAM-7, und es gab englische Flugabwehrraketen, es gab da alles, ne. […] [I]ch war da dabei, ne. Ich hab‘ auch [sic] bisschen geschossen, ja.“3057 Während des Aufenthalts im Südjemen hätten die aus Deutschland ange­ reisten RZ-Aktivisten die Gelegenheit gefunden, sich zu den zurückliegen­ den Handlungen der „Revolutionären Zelle“ auszutauschen. In den Mit­ telpunkt geraten wäre die in der Bundesrepublik eingeleitete Kampagne 3050 3051 3052 3053 3054 3055 3056 3057

Vgl. Klein 1979a, S. 77; Kopp 2007, S. 95-96. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 22-26. Vgl. Kopp 2007, S. 96-97. Vgl. ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 77; Kopp 2007, S. 100-102. Kopp 2007, S. 102. Oey 2006, 46:38 Min.-47:03 Min.

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gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Personennahverkehr.3058 „[E]s gab […] eine große Debatte über die Perspektive der Aktion“3059, erinnerte sich Klein. Rückblickend gab Thomas Kram zu verstehen, die Zeit im Camp der PFLP-SOG hätten die Angehörigen der RZ unterschiedlich wahrgenommen. Einige sollen sie als angenehm empfunden haben, weil man sich kurzzeitig der in Europa allgegenwärtigen Gefahr staatlicher Ver­ folgungsmaßnahmen entziehen konnte.3060 Anderen stellte sich hingegen – angeblich – die Frage, „warum sie auf dem Bauch durch den Sand robben mussten.“3061 Kopp sagte 2007 in ihrer Autobiographie aus, Brigitte Kuhlmann ha­ be es den aus Deutschland angereisten Aktivisten der „Revolutionären Zelle“ untersagt, das Ausbildungscamp eigenständig zu verlassen – die „Rote Armee Fraktion“ sei ebenfalls im Südjemen präsent.3062 Eine Begeg­ nung müsse vermieden werden, denn „[n]iemand sollte etwas von unse­ rem Aufenthalt wissen, das gehörte zu den Regeln der Konspiration“3063. Kuhlmann dürfte bei ihrem Ermahnen unter anderen Monika Haas im Sinn gehabt haben. Haas war im Sommer 1975 in den Untergrund gegan­ gen;3064 sie unterhielt enge Verbindungen zu der Nachfolgegruppe der „Roten Armee Fraktion“, welche sich um den Rechtsanwalt Siegfried Haag bildete. Ebenso wie Haag reiste sie 1975 in den Südjemen aus3065 und ging dort mit dem PFLP‑Mitglied Zaki Helou – der „rechte[n] Hand“3066 Wadi Haddads – eine Liebesbeziehung ein. Eine Heirat sollte folgen. Haas wurde im Nahen Osten mit der Aufgabe betraut, ein engeres Vernetzen zwischen dem palästinensischen Widerstand und dem europäischen Links­ terrorismus sicherzustellen. Nach Einschätzung des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ kam auf Grundlage ihrer Aktivitäten eine Beteiligung der der RAF nahestehenden Deutschen Thomas Reuter und Brigitte Schulz im Januar 1976 an einem „Kommando“ zustande, das in Nairobi ein israelisches Flugzeug abschießen sollte. Die Tat scheiterte, da die Sicher­ heitsbehörden die Terroristen rechtzeitig festnahmen. Es kam zu einer

3058 3059 3060 3061 3062 3063 3064 3065

Vgl. Klein/Libération 1978, S. 294. Ebd. Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Ebd. Vgl. Kopp 2007, S. 98. Ebd. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 27. Vgl. Der Spiegel 1995a; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 95; Sontheimer 2007, S. 106. 3066 Klein 1979a, S. 205, 207.

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verdeckten Überstellung nach Israel. Reuter und Schulz wurden jeweils zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. 3067 Klein hielt in seinen Erinne­ rungen fest, der Fall habe bei der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ „große Ratlosigkeit“3068 hinterlassen. Das Schicksal des „Kommandos“ sei über mehrere Wochen hinweg unklar gewesen.3069 Zur Aufklärung flogen Zaki Helou und Monika Haas, so Kopp, nach Nairobi.3070 Haas geriet in Kenia ebenfalls in Haft, wurde indes wenig später entlassen und kehrte in den Südjemen zur PFLP‑SOG zurück.3071 Es entstand der Verdacht, sie sei vom israelischen Auslands­ nachrichtendienst als Quelle gewonnen worden.3072 Den Weg Monika Haas‘ kreuzte während der Reise der RZ-Aktivisten im Nahen Osten Johannes Weinrich. Nachdem er im Südjemen gelandet war, kam er kurzfristig im Haus des Palästinensers Zaki Helou unter.3073 Hier wurde er „zu seinem Erstaunen [auf] eine Frauenstimme mit unver­ kennbar deutschem Akzent“3074 aufmerksam. Sein Gesprächspartner – ein Palästinenser – nannte Weinrich den Namen der Frau und wies auf ihr Verhältnis zu Helou hin. Außerdem machte er auf die nebulöse Vergan­ genheit von Haas aufmerksam und riet ihm, sie zu meiden. Mit Helou solle Weinrich nicht über Bedenken sprechen, die er hinsichtlich Monika Haas habe. Derartige Einwände würde er abwiegeln. Haas genoss zu die­ sem Zeitpunkt offenbar nicht nur das uneingeschränkte Vertrauen ihres Freundes, sondern auch die Unterstützung Wadi Haddads.3075 Obwohl Weinrich die Empfehlung gegeben worden war, Haas nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen, soll er sich später auf Diskussionen mit ihr ein­ gelassen haben. Diesen Debatten hätten darüber hinaus Siegfried Haag und weitere Angehörige der RAF beigewohnt. Von Weinrich sei Kritik an der „Roten Armee Fraktion“ hervorgebracht worden,3076 was „[e]ine Annäherung zwischen RAF und RZ […] wieder einmal“3077 zunichte ge­ macht habe. Zum Verlauf des verbalen Schlagabtauschs äußerte er: „Die

3067 3068 3069 3070 3071 3072 3073 3074 3075 3076 3077

Vgl. Der Spiegel 1992b, S. 125; Der Spiegel 1995a; Koenen 2001, S. 412. Klein 1979a, S. 79. Vgl. ebd. Vgl. Kopp 2007, S. 99. Vgl. Der Spiegel 1992b, S. 125; Wunschik 1997, S. 269. Vgl. Der Spiegel 1995a; Aust 2020, S. 632-634. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 26. Ebd. Vgl. ebd., S. 26-27, 97. Vgl. ebd., S. 95-96. Johannes Weinrich, zit. n. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 96.

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RAF-Anhänger haben mich als einseitigen Dogmatiker bezeichnet und ich sie als sture Verfechter einer überholten Strategie.“3078 Magdalena Kopps Schilderungen zu dem Kalkül, nach dem Böse und Kuhlmann die Ausbildung von RZ-Aktivisten im Nahen Osten forciert hätten, fügen sich in Hans-Joachim Kleins Angaben zu den nach Dezem­ ber 1975 geführten Unterhaltungen zwischen der internationalistischen Sektion der „Revolutionären Zelle“, „Carlos“ und Wadi Haddad ein. Wäh­ rend die Angehörigen der in Deutschland wirkenden „Revolutionären Zel­ le“ ihre Ausbildung absolvierten, habe das für die Geiselnahme in Wien verantwortliche „Kommando“ in Aden Rechenschaft ablegen müssen.3079 Böse und Kuhlmann seien bei dem etwa achtstündigen Gespräch ebenfalls zugegen gewesen.3080 Wie Kopp rückblickend offenbarte, belegte Haddad die Mitglieder des von Sánchez geleiteten Zirkels mit dezidierter Kritik.3081 Klein wäre vorgeworfen worden, er habe mit seinem Betragen das Leben Gabriele Kröcher‑Tiedemanns sowie das Gelingen der Aktion in Gefahr gebracht.3082 Die Anschuldigung ließ er nicht unbeantwortet: „Ich [sic] denen mal erklärt, was ich von den ganzen Scheiß-‚Vorwürfen‘ halte.“3083 Nach der Diskussion mit Haddad hätten ihn Böse und Kuhlmann in unmissverständlichem Ton abgekanzelt: „Ich musste mir dann […] von den Vertretern der RZ anhören, dass ich gefälligst hier nicht so rumspinnen solle, ich solle mehr taktieren, auch wenn ich im Recht sei. Dies [die PFLP-SOG] wäre schließlich eine mächtige Organisation, auf die wir angewiesen wären und die wir brauchten. Man hatte lange gebraucht, um so gute Verbindungen und eine so gute Zusammenarbeit zu erreichen, und das lasse man sich nicht von mir kaputtmachen.“3084 Ganz offensichtlich fürchteten Böse und Kuhlmann, einen Partner zu ver­ lieren, den sie aufgrund mehrerer Aspekte als unverzichtbar einstuften: Zum einen hatte Haddad Kopps Aussagen zufolge „gute Verbindungen und wusste sie einzusetzen.“3085 Zum anderen soll er der „Revolutionä­ ren Zelle“ finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt haben. Hinsichtlich 3078 3079 3080 3081 3082 3083 3084 3085

Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. Kopp 2007, S. 99. Vgl. Klein 1979a, S. 73. Vgl. Kopp 2007, S. 99. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 77; Klein 1979a, S. 73. Klein 1979a, S. 73. Ebd., S. 74. Kopp 2007, S. 103.

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der Regelmäßigkeit und Höhe der monetären Hilfsleistung besteht in den Primärquellen zu den „Revolutionären Zellen“ Uneinigkeit. Hans-Joa­ chim Klein wiederholte zuletzt 2005, Haddads Splittergruppe der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ hätte der RZ pro Monat ungefähr 3000 US-Dollar überreicht.3086 Mit Kleins Angaben konfrontiert, führte Gerd-Hinrich Schnepel im Jahr 2000 in einem Interview dagegen aus: „Ich kann mich erinnern, dass Abu Hani, wie Wadi Haddad intern hieß, irgendwann mal ein paar tausend Dollar rausrückte. Und ich kann mich an eine Szene erinnern, als er sinngemäß sagte: ‚Ihr Bürsch­ chen wollt eine Bank überfallen? Macht das bloß nicht, das ist viel zu gefährlich. Ich geb euch lieber ein paar tausend Dollar.‘ Da hat er lieber Geld rausgerückt, damit wir ja nicht alle verhaftet werden. Aber von monatlichen Schecks kann nicht die Rede sein. Gegenseitig hat man sich ausgeholfen, mit Pässen, mit Fälschungsarbeiten und auch mal mit Geld, aber nicht auf einer Abhängigkeitsbasis mit Dauerauf­ trag.“3087 Sind Kleins Ausführungen zutreffend, so bemühte sich Wilfried Böse An­ fang 1976 im Südjemen, Haddads Gunst wiederzugewinnen. Dies sollte insbesondere dem finanziellen Absichern der „Revolutionären Zelle“ die­ nen. Vielversprechend habe Böse die Überlegung erschienen, Simon Wie­ senthal – einen Überlebenden des Holocaust, der ehemalige Nationalso­ zialisten ausfindig zu machen suchte und daher im Zielspektrum des deutschen Rechtsterrorismus stand3088 – in Wien zu ermorden. Mit dieser Absicht sei er an Haddad herangetreten, der dem Plan wohlwollend begeg­ net wäre. Klein hätte die Aktion abgelehnt und dies Böse entsprechend mitgeteilt.3089 Böse soll daraufhin insistiert haben, Klein möge sich „nicht so anstellen, wenn das gelaufen ist, stünden wir [die RZ] beim Alten [Wa­ di Haddad] ganz fett da.“3090 Im Falle eines Erfolgs sei zu erwarten, dass „die Türen noch offener als bisher“3091 wären. Bedenken äußerte Kleins Angaben zufolge ebenso „Carlos“. Dieser habe „den Kopf über so viel

3086 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73; Klein/Libération 1978, S. 293; Klein 1979a, S. 88; Oey 2006, 55:42 Min.‑55:53 Min. 3087 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 3088 Vgl. Pfahl-Traughber 2019, S. 242. 3089 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 292; Klein 1979a, S. 79-80. 3090 Klein 1979a, S. 80. 3091 Ebd.

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politischer [sic] Unsensibilität [ge]schüttelt“3092. Von der Aktion wurde dann abgelassen. Während die Mitglieder der in Deutschland wirkenden Fraktion der „Revolutionären Zelle“ nach ihrer dreiwöchigen Kampfausbildung – an­ geblich – im Februar 1976 die Rückreise in die Bundesrepublik unternah­ men3093 und es dort am 8. Februar 1976 zu einem Angriff des „Arms der arabischen Revolution/Revolutionäre Zelle“ auf das Büro der „State of Israel Bonds“ kam,3094 widmete sich die internationalistische Gruppe weiteren Anschlagsvorhaben. Erneut soll sie sich vor allem dem Ziel ver­ schrieben haben, „politische Gefangene“ aus westdeutschen Haftanstalten freizupressen.3095 Wie Klein darlegte, setzte der Zirkel in diesem Kontext auf eine engere Kooperation mit der „Bewegung 2. Juni“: „Die RZ und der ‚2. Juni‘ schlossen sich für die Dauer der geplanten Gefangenenbe­ freiung zusammen“3096. Zu welchen Aktivisten der B2J die Gruppe um Böse zu diesem Zeitpunkt Kontakt hatte, ließ Klein offen. Rückschlüsse auf deren Identität erlaubte dagegen Till Meyer: Hinter dem von Klein genannten „2. Juni“ verbarg sich offenbar Ingrid Siepmann.3097 Sehr wahr­ scheinlich zählte Klein auch Gabriele Kröcher-Tiedemann dazu, die bereits ab Dezember 1975 Berührungspunkte zu ihm und Böse hatte. Siepmann soll – ebenso wie Kröcher‑Tiedemann – Anfang 1972 an der Gründung der „Bewegung 2. Juni“ beteiligt gewesen sein.3098 Sie war ebenfalls im März 1975 im Zuge der Entführung des CDU-Politikers Peters Lorenz von Deutschland in den Südjemen ausgeflogen worden.3099 Beiden gelang es im Sommer 1976, ihre Verbindung zu den in der Bundesrepublik aktiven Strukturen der „Bewegung 2. Juni“ wiederherzustellen.3100 Basierend auf Kleins Schilderungen in seinen Gesprächen mit den Print­ medien „Libération“ und „Der Spiegel“, in seiner 1979 veröffentlichten Autobiographie sowie in der Fernsehdokumentation „Mein Leben als Ter­ rorist“ lassen sich für den Zeitraum zwischen Februar und Juni 1976 ins­ gesamt drei Operationen nachzeichnen, in denen die „Revolutionäre Zel­ le“ eine Rolle gespielt hätte. Alle drei Vorhaben sollen nicht über das

3092 3093 3094 3095 3096 3097 3098 3099 3100

Ebd. Vgl. ebd., S. 207; Kopp 2007, S. 103. Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 120. Vgl. Klein 1979a, S. 78-79. Ebd., S. 80. Vgl. Meyer 2008, S. 387. Vgl. ebd., S. 197, 511; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 227. Vgl. Dietrich 2009, S. 105. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 63-64; Viett 2007, S. 160.

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7.2 Aktionsphase

Planungsstadium hinausgegangen sein. Im März3101 oder April 19763102 sei eine Aktion vorangetrieben worden, die zuvorderst der PFLP-SOG finanzielle Mittel einbringen sollte. Nach einer Idee Wadi Haddads wä­ re in einem Koffer der Firma „Samsonite“ Sprengstoff platziert worden. Vorgesehen gewesen sei, das Gepäckstück in eine Passagiermaschine ein­ zuschleusen und eine Zündung der Explosivmittel während des Fluges herbeizuführen. Anschließend würde dem betroffenen Flugunternehmen mitgeteilt werden, gleichartige Anschläge könnten nur durch Zahlung eines Geldbetrags verhindert werden. Haddad habe verlangt, dass deutsche Terroristen das Vorhaben zur Umsetzung bringen. Kleins Erinnerungen zufolge war die RZ nicht in der Lage, den Auftrag zu übernehmen.3103 Dementsprechend sei die „Bewegung 2. Juni“ zum Zug gekommen. Diese habe indes keine Möglichkeit gefunden, den Koffer auf einem ausgewähl­ ten Flug der „Japan Airlines“ (JAL) zu platzieren. Einen weiteren Anlauf hätten zwei Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ unternommen. Auch sie seien gescheitert: Eine Flugbegleiterin habe das Gepäckstück vor dem Abflug einer Maschine der JAL vom Flughafen Bangkok aus dem Flug­ zeug in die Wartehalle transportiert. Hier sei die Bombe detoniert;3104 Verletzte oder Tote wären nicht zu verzeichnen gewesen. Obgleich die Aktion fehlgeschlagen war, habe Wilfried Böse der „Japan Airlines“ in Rom einen Brief zukommen lassen. Darin seien Anschläge auf Flugzeuge des Unternehmens für den Fall einer ausbleibenden Zahlung in Höhe von insgesamt fünf Millionen US‑Dollar angedroht worden.3105 Nach dem gescheiterten Sprengstoffanschlag auf die JAL richteten die im Südjemen weilenden Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ und der „Re­ volutionären Zelle“ ihren Blick auf das Freilassen in Deutschland einsit­ zender „politischer Gefangener“. Die Mitglieder der B2J sollen sich im April 1976 in Rom aufgehalten haben, um die Möglichkeit einer Entfüh­ rung des Oberhaupts der katholischen Kirche zu prüfen. Wer Klein folgt, erkennt ihr Bemühen, über mehrere Wochen hinweg das Bewegungsprofil von Papst Paul VI. auszuforschen. Diese Vorbereitungen seien abgebro­ chen worden, als die „Bewegung 2. Juni“ Wadi Haddads Einschätzung zu dem Plan erreichte. Haddad habe das Vorhaben grundsätzlich positiv gewertet, allerdings auf die zu erwartenden Konsequenzen hingewiesen:

3101 3102 3103 3104 3105

Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 293. Vgl. ebd., S. 294; Klein 1979a, S. 79, 199. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 294; Klein 1979a, S. 199-200.

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Für die Täter könne eine solche Freiheitsberaubung nur im Freitod enden, da kein Land des Nahen Ostens ihnen anschließend Schutz gewähren würde.3106 Diese Ausführungen Kleins decken sich weitgehend mit den Inhalten einer Unterhaltung, die Till Meyer und Ingrid Siepmann im Sommer 1978 geführt haben sollen: „‚Habt ihr wirklich den Papst gecheckt und erwogen, ihn zu entfüh­ ren, wie der Klein [1978] im ‚Spiegel‘ behauptet hat?‘ […] Das Umfeld des Papstes hatten sie tatsächlich wochenlang in Rom ausgekundschaf­ tet; sie hatten geplant, mit ihm als Geisel einen großen Gefangenen­ austausch zu erzwingen. ‚Vielleicht hätten wir ihn […] gekriegt, aber letztlich waren die Ps [Palästinenser] dagegen. Wadi Haddat.‘ ‚Wenn ihr den holt, nimmt kein Land der Welt die ausgetauschten Gefange­ nen auf‘, habe ihnen der Palästinenser Haddat damals erklärt. […] Die Aktion wurde abgeblasen.“3107 In Rom sollen sich zeitweise auch Wilfried Böse, Brigitte Kuhlmann und Hans-Joachim Klein aufgehalten haben. Augenscheinlich traten sie dabei mit den Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ in Kontakt: Klein berichtete von einem Gespräch, an dem Böse, die B2J und er teilgenommen hät­ ten.3108 Nach Abbruch der Vorkehrungen für die Entführung des Papstes seien die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ sowie Hans-Joachim Klein nach Belgien weitergereist. Da die „Revolutionäre Zelle“ Details zum Gebäude der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) in Brüssel in ihren Besitz gebracht hatte, war augenscheinlich beschlossen worden, das Objekt gemeinsam auszuforschen. Überdies wären die Strukturen der EWG in Luxemburg in den Fokus geraten. Die Ergebnisse der Beobach­ tungen sollten als Grundlage für einen Überfall dienen, in der die Mitglie­ der des Ministerrats der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ während einer Sitzung als Geiseln genommen werden.3109 Klein leistete – angeblich – einen Beitrag zu den Recherchen der „Bewegung 2. Juni“, beachtete dabei allerdings eine Weisung Wilfried Böses, die zur Zurückhaltung in der Zusammenarbeit mit der B2J aufforderte: „Da ich ja Mitglied der RZ war und Bonnie [sic] meinte, ich sollte dem ‚2. Juni‘, nur wenn Not am Mann ist, beim Auschecken helfen, 3106 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 79; Klein 1979a, S. 79; Oey 2006, 50:24 Min.-50:30 Min. 3107 Meyer 2008, S. 387. 3108 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 286; Klein 1979a, S. 75, 212. 3109 Vgl. Klein 1979a, S. 79, 212.

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7.2 Aktionsphase

machte ich das einmal mit, und ansonsten vergnügte ich mich in Brüssel oder flog in der Weltgeschichte herum.“3110 Ähnlich wie bei der geplanten Festsetzung von Paul VI. hätten sich mit Blick auf den Angriff auf die EWG alsbald unüberwindbare Hürden erge­ ben. Wenig später sollen sich die Wege Böses, Kleins und Kuhlmanns getrennt haben. Böse und Kuhlmann seien in den Nahen Osten zur PFLPSOG zurückgekehrt, Klein dagegen wäre zunächst in Europa geblieben. Da er die Anordnung erhalten haben will, den Kontinent zu einem be­ stimmten Zeitpunkt zu verlassen, sei er schließlich ebenfalls abgereist. Hintergrund dieser Direktive war ein weiterer Anlauf, „politischen Gefan­ genen“ die Freiheit zu ermöglichen. Vorangetrieben wurde er von Böse und Kuhlmann in Abstimmung mit der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“. Ursprünglich sei vorge­ sehen gewesen, Hans-Joachim Klein in die Operation einzubinden. Mit einem Verweis auf die anhaltenden Auswirkungen seiner in Wien zugezo­ genen Bauchverletzung soll er eine entsprechende Bitte Wadi Haddads allerdings abgelehnt haben.3111 Für die in Deutschland agierenden Angehörigen der „Revolutionären Zelle“ „ging […] [alles] weiter wie bisher.“3112 Zwar hatten sie im Südje­ men Erfahrungen zum Umgang mit Waffen verschiedenster Art angesam­ melt, dieses Wissen habe sich aber nach der Rückkehr in die Bundesrepu­ blik rasch als unbrauchbar gezeigt: „Weder waren wir eine Armee, noch planten wir eine militärische Aktion, für die uns diese neuen Kenntnisse hätten von Nutzen sein können.“3113 Johannes Weinrich, der bereits 1975 die Leitung des von ihm aufgebauten „Politischen Buchladens“ in Bochum abgetreten hatte und nun finanzielle Unterstützung seiner Eltern bezog, wurde am 6. April 1976 nach Beschluss des Frankfurter Amtsgerichts von dem nach seiner Gefängnisentlassung fortbestehenden Haftbefehl befreit. Er blieb allerdings unverändert im Blickfeld der Sicherheitsbehörden. Im Austausch mit seiner Schwester Ute Breuer habe er sich wiederholt über Durchsuchungen in seiner Wohnung ausgelassen, die Polizeibeamte im Anschluss an linksterroristische Anschläge vollzogen.3114 Die Mitglieder der RZ in Deutschland hielten in dieser Zeit an ihrer Prämisse fest, gesellschaftliche Konfliktthemen als Medium ihrer sozial­ 3110 3111 3112 3113 3114

Ebd. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 81; Klein 1979a, S. 80, 212. Kopp 2007, S. 103. Kopp 2007, S. 103. Vgl. Siemens 2006, S. 366-367.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

revolutionären Agenda zu beanspruchen. Zu Ostern 1976 sollen sie in Obdachlosenwohnheimen in Westberlin gefälschte Gutscheine der staatli­ chen Sozialhilfe verteilt haben.3115 Im Nachgang führten sie in einem Pa­ pier aus, sie seien der Überzeugung, „dass auch in der BRD den Armen das gegeben werden muss, was die Reichen ihnen nehmen“3116. Prägend für die „Revolutionäre Zelle“ war daneben der Umgang mit dem Selbstmord der RAF‑Gründerin Ulrike Meinhof, die Justizbedienstete am 9. Mai 1976 tot in ihrer Zelle in der Haftanstalt Stuttgart‑Stammheim auffanden.3117 Das Ableben Meinhofs beeinflusste Anschlagsvorhaben und Agitation des Zirkels, wobei er – ähnlich wie die RAF – eine These vertrat, welche die Schuld für ihren Tod dem deutschen Staat zuwies. Sechs Tage nach Mein­ hofs Freitod – am 15. Mai 1976 – verübte die „Revolutionäre Zelle“ einen Sprengstoffanschlag auf das Oberlandesgericht im nordrhein‑westfälischen Hamm.3118 In einem Bekennerschreiben wollte sie diese Gewalttat als Re­ sultat ihrer Trauer verstanden wissen, die der – vermeintliche – Mord der Sicherheitsbehörden an Meinhof ausgelöst habe.3119 Am 1. Juni 1976 atta­ ckierte eine „Brigade Ulrike Meinhof“ der RZ das IG‑Farben-Hochhaus in Frankfurt am Main, welches das V. Corps der US-Armee als Hauptquartier nutzte. Die zur Explosion gebrachten Sprengkörper verletzten drei Perso­ nen schwer.3120 Schriftlich verbrämten die Täter den Angriff als Ausdruck ihrer Solidarität mit der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“: „Wir sehen in unserer Aktion die Fortsetzung des bewaffneten an­ tiimperialistischen Kampfes unserer Brüder und Schwestern, die in den Vernichtungslagern Stuttgart-Stammheim, Köln‑Ossendorf usw. gefangen gehalten werden oder vom deutsch-amerikanischen Imperia­ lismus ermordet wurden, wie die Revolutionäre Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weissbecker [sic], Holger Meins, Katherina [sic] Hammerschmidt, Werner Sauber, Ulrich Wessel, Siegfried Hausner, Ulrike Meinhof“3121. 3115 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 125. 3116 Ebd. 3117 Vgl. Seifert 2006, S. 350; Peters 2008, S. 345. 3118 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 120; Horchem 1988, S. 83. 3119 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 158. 3120 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 120. 3121 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 160.

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7.2 Aktionsphase

Thema war der Tod Meinhofs darüber hinaus in der zweiten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“, die ab Mai 1976 in einschlägigen Szeneobjekten wie dem „Politischen Buchladen“ in Bochum3122 zirkulierte. Nicht nur zierte Meinhofs Konterfei das Deckblatt der Zeitung,3123 in den folgenden Passagen stilisierten die Autoren ihre „Genossin und Schwester Ulrike Meinhof“3124 auch zum Opfer einer Justiz, deren Haftstrafen auf „Vernich­ tung“ ausgelegt seien. Diese Schilderungen bildeten den Auftakt für eine Analyse, die – angeblich – existierende Strategien des deutschen Staates zur Unterminierung politischer Opposition zu entlarven suchte.3125 Als Schlussfolgerung warfen die Verfasser die Notwendigkeit von Handlungen in den Raum, welche „den Apparat staatlicher Gewalt gezielt an einigen Punkten […] destruieren“3126 und seine Beamten in Schrecken versetzen. Der Appell mündete in dem Imperativ: „Schafft revolutionäre Zellen!“3127 Während die RZ in der Bundesrepublik an dem linksextremistischen Protest teilhatte, der sich anlässlich des Todes von Ulrike Meinhof unter anderem in Frankfurt am Main entzündete,3128 steuerte ihr internationa­ listischer Flügel auf den Höhepunkt der Zusammenarbeit mit den Palästi­ nensern zu. Am Morgen des 27. Juni 1976 begann die von ihm vorbereite­ te Aktion.3129 Im Gegensatz zu dem Anschlag auf die OPEC‑Konferenz schritten führende Aktivisten der „Revolutionären Zelle“ selbst zur Tat: Böse und Kuhlmann, die in einer Ausbildung der PFLP-SOG zu „pro­ fessionelle[n] Highjacker[n]“3130 avanciert waren, schlossen sich auf dem Flughafen von Athen mit zwei Palästinensern zusammen. Mit gefälschten Identitätsdokumenten bestiegen sie eine Maschine der Fluggesellschaft „Air France“, die auf ihrem Weg von Tel Aviv nach Paris einen Zwi­ schenhalt in der griechischen Hauptstadt eingelegt hatte.3131 Nach dem Abflug brachten die vier Terroristen das Flugzeug unter ihre Kontrolle und gaben über Bordlautsprecher die Entführung des Fluges mit seinen 3122 Vgl. Siemens 2006, S. 367. 3123 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 117; ID-Archiv im Internationa­ len Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 135. 3124 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 145. 3125 Vgl. ebd., S. 145-151. 3126 Ebd., S. 156. 3127 Ebd., S. 157. 3128 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 115; Siemens 2006, S. 336-337. 3129 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 123; Rabert 1995, S. 207; Siemens 2006, S. 337. 3130 Kraushaar 2017, S. 277. Ähnlich Kopp 2007, S. 103-104. 3131 Vgl. Der Spiegel 1976c, S. 84; Kraushaar 2017, S. 278.

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260 Insassen (darunter 83 israelische Staatsangehörige) durch ein „Kom­ mando Che Guevara“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ bekannt. Die Führung der Gruppe oblag Böse. Die Piloten ließen sie die Maschine über Libyen nach Uganda fliegen, wo sie in Entebbe landete.3132 Nach einer Aufforderung des „Kommandos“ begaben sich die Geiseln in ein Flughafengebäude, das von ugandischen Militärangehörigen bewacht wurde. Zu den Entführern stießen sechs Palästinenser, die Verstärkung boten.3133 Laut Hans-Joachim Klein und Till Meyer waren zudem Wadi Haddad sowie Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ – vermutlich Siepmann und Kröcher‑Tiedemann – während der Aktion zugegen.3134 Böse gab den Passagieren in einer Rede zu verstehen, ihre Entführung würde enden, wenn 53 „politischen Inhaftierten“ die Entlassung aus der Haft erlaubt wurde.3135 Berücksichtigt hatte das „Kommando“ vor allem Häftlinge aus israelischen Gefängnissen, die überwiegend der Fatah und der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ zuzurechnen waren. Daneben fan­ den sich sechs Linksterroristen aus den Reihen der „Roten Armee Frakti­ on“ und der „Bewegung 2. Juni“ auf seiner Liste: Werner Hoppe, Jan-Carl Raspe, Ralf Reinders, Ingrid Schubert, Fritz Teufel und Inge Viett.3136 Am 28. Juni 1976 entschieden sich die Geiselnehmer für einen Schritt, den Hans-Joachim Klein retrospektiv als Ausdruck eines „Linksfaschis­ mus“3137, die Forschung zu den RZ als „Antisemitismus der Tat“3138 und Reproduktion nationalsozialistischen Handelns3139 klassifizierte. Anhand der Pässe der Flugzeuginsassen stellte das „Kommando“ fest, welche Pas­ sagiere Israelis beziehungsweise Juden waren. Diese Gruppe trennten die Entführer nach Anleitung Wilfried Böses von den übrigen Geiseln, denen sie eine Ausreise nach Frankreich zusagten. Böse soll dabei zu verstehen gegeben haben: „Es [die Separation] hat nichts mit der Nationalität zu tun.“3140 Sofern die Regierung Israels nicht auf die Forderung des „Kom­ mandos“ eingehe, so die im Weiteren kommunizierte Drohung der Geisel­ nehmer, würden das Flughafengebäude gesprengt und die festgesetzten

3132 Vgl. Kraushaar 2006d, S. 691-692; Winkler 2008, S. 271; Pfahl-Traughber 2012c, S. 157. 3133 Vgl. Der Spiegel 1976c, S. 86; Kraushaar 2017, S. 280. 3134 Vgl. Klein 1979a, S. 80; Meyer 2008, S. 74. 3135 Vgl. Wörle 2008b, S. 265; Kraushaar 2017, S. 281. 3136 Vgl. Kraushaar 2006d, S. 692; Winkler 2008, S. 272. 3137 Klein/Oey 2006, 1:25 Min.-1:27 Min. Ähnlich Klein/Libération 1978, S. 297. 3138 Kraushaar 2006d, S. 693. Ähnlich Pfahl-Traughber 2012c, S. 156-157. 3139 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 599. 3140 Wilfried Böse, zit. n. Porat/Haber/Schiff 1976, S. 185.

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7.2 Aktionsphase

Flugzeuginsassen getötet werden. Als Ultimatum legten die Aktivisten den 4. Juli 1976, 12 Uhr, fest. Um der Lage Herr zu werden, beschloss das israelische Kabinett, eine militärische Befreiung der in Entebbe verbliebe­ nen Passagiere zu wagen.3141 In der Operation „Thunderbird“3142 gelang es, 102 Geiseln in der Nacht zum 4. Juli 1976 in Sicherheit zu bringen. Der Gegenschlag forderte das Leben von über 40 ugandischen Militärangehöri­ gen, sieben Entführern, einem israelischen Soldaten sowie zwei Geiseln. Eine weitere Insassin des kaperten Flugzeugs – die britische Staatsbürgerin und Holocaust‑Überlebende Dora Bloch – starb außerhalb des Flughafen­ geländes unter bislang nicht restlos aufgeklärten Umständen. Sie war auf­ grund gesundheitlicher Probleme in ein Krankenhaus gebracht3143 und später – angeblich – eigenhändig vom ugandischen Despoten Idi Amin erwürgt worden.3144 Henry Kyemba, ein ehemaliger Minister Amins, griff den Fall in einem Selbstzeugnis auf, das 1977 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erschien. Er gab an, der ugandische Geheimdienst „State Re­ search Bureau“ habe Bloch nach der Operation „Thunderbird“ gewaltsam aus dem Hospital abtransportiert. In einem Telefongespräch soll Amin ihm berichtet haben, Bloch wäre inzwischen getötet worden.3145 Zu den Personen, die während der Intervention der israelischen Regierung auf dem Flughafen Entebbe ums Leben kamen, zählten Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann.3146 Die Flucht gelungen sei offenbar im letzten Mo­ ment Wadi Haddad sowie den Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“.3147 Der Ausgang der Flugzeugentführung zog weitreichende Konsequenzen für die „Revolutionäre Zelle“ nach sich.3148 Magdalena Kopp und Johan­ nes Weinrich sollen den Verlauf der Geiselnahme während eines Besuchs bei seiner Schwester Ute Breuer durch Radioberichterstattung verfolgt haben.3149 Auch Gerd-Hinrich Schnepel „hörte im hessischen Radio ‚live‘, wie die Israelis meine Freundin [Brigitte Kuhlmann] erschossen, und un­

3141 Vgl. Koenen 2001, S. 408-409; Kraushaar 2006d, S. 692; Siemens 2006, S. 338; Winkler 2008, S. 271-272; Wörle 2008b, S. 265; Pfahl-Traughber 2014a, S. 175-176. 3142 Vgl. Kraushaar 2017, S. 289. 3143 Vgl. Kraushaar 2006d, S. 692; Siemens 2006, S. 338; Winkler 2008, S. 272. 3144 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 289; Klein 1979a, S. 80. 3145 Vgl. Kyemba 1977, S. 210. 3146 Vgl. Backes 1991, S. 88; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82. 3147 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 287; Klein 1979a, S. 80; Meyer 2008, S. 74. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 285. 3148 Ähnlich Wörle 2008b, S. 266. 3149 Vgl. Siemens 2006, S. 367.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

seren Compañero Boni“3150. Der Tod zweier führender RZ‑Mitglieder, welche einen entscheidenden Beitrag zur Gründung und Aufrechterhal­ tung des Netzwerks geleistet hatten, „war ein ziemlicher Schlag für die Gruppe“3151. In der „Revolutionären Zelle“ breiteten sich laut Klein, Kopp und Schnepel Bestürzung, Trauer, Verzweiflung und Ratlosigkeit aus.3152 „Das Entsetzen über diese Aktion war groß“3153, erklärte ein ehemaliges RZ‑Mitglied in einem im Jahre 2022 publizierten Interview. Die Ratlosig­ keit wich indes bald dem Ruf nach Vergeltung sowie einer grundlegenden internen Diskussion. Wie Schnepel 2001 im Interview mit Wolf Wetzel anmerkte, kreisten die Gedanken einiger Aktivisten anfangs um „fürchter­ liche Rachepläne“3154, die auf eine „ziemlich wüste Aktion“3155 hinauslie­ fen. Vor allem Johannes Weinrich soll hierbei treibende Kraft gewesen sein.3156 Die PFLP‑SOG habe ebenfalls eine Revanche ins Auge gefasst.3157 Während die Organisation um Haddad am 11. August 1976 auf dem Flug­ hafen Istanbul Passagiere einer „EL-AL“-Maschine angriff,3158 erwogen die Mitglieder der RZ im Ruhrgebiet, das Zerstören eines Luxushotels in Angriff zu nehmen.3159 Außerdem verfolgten ihre internationalistischen Aktivisten die Absicht, so Hans-Joachim Klein, einen Sprengstoffanschlag auf den Flughafen im französischen Nizza auszuführen. Entsprechende Vorkehrungen seien allerdings gescheitert, als die für den Angriff vorgese­ henen Explosivmittel und Waffen verschwanden.3160 Für „das Verdienst, die Hardliner außer Gefecht zu setzen“3161, zeichnete – angeblich – der sich auf Deutschland beschränkende Teil der RZ verantwortlich. Er soll die für den Vergeltungsschlag benötigten Materialien entwendet und da­ mit eine „weitere sinnlose Eskalation“3162 vermieden haben. Zwar gingen

3150 Schnepel/Wetzel 2001, S. 112. 3151 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 3152 Vgl. Klein 1979a, S. 81; Schnepel/Wetzel 2001, S. 113; Kopp 2007, S. 105. Ähn­ lich Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 3153 Unsichtbare 2022, S. 48. 3154 Schnepel/Wetzel 2001, S. 113. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 60. 3155 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Ähnlich Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 3156 Vgl. Kahl 1986, S. 110. 3157 Vgl. Kopp 2007, S. 105. 3158 Vgl. Kraushaar 2017, S. 293. 3159 Vgl. Kahl 1986, S. 110. 3160 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 295; Klein 1979a, S. 81. 3161 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ähnlich Kram/Faniza­ deh/Villinger 2010. 3162 Ebd.

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die Waffen nach „etliche[n] Drohungen […], besonders von Carlos,“3163 an ihre ursprünglichen Besitzer zurück, zur Umsetzung der avisierten Tat kam es aber nicht. Augenscheinlich waren die Befürworter des Anschlags zu der Überzeugung gelangt, sich nicht auf das von palästinensischen Terroristen bevorzugte Prinzip wahlloser Tötungen einzulassen.3164 In der „Revolutionären Zelle“ sei es zu einem „heftigen Krach“3165 gekommen, in dem nicht die antisemitischen Implikationen der Zusammenarbeit mit Wadi Haddad, sondern das Für und Wider eines fortbestehenden Kontak­ tes zur PFLP-SOG im Zentrum standen.3166 Obwohl deutsche Medien den auf dem Flughafen von Entebbe verstor­ benen Geiselnehmern eine „Selektion“ zuschrieben, in diesem Kontext einem Vergleich zur „Endlösung“ des Dritten Reichs im Allgemeinen so­ wie zu den Vorgängen im Konzentrationslager Auschwitz im Speziellen Raum boten3167 und damit Böse wie Kuhlmann in die Nähe nationalsozia­ listischer Ideologie rückten, sahen die Mitglieder der RZ von einer kriti­ schen Reflexion ihres Verhältnisses zum Staat Israel ab. „Wir haben das nicht diskutiert, weil wir uns sozusagen reinen Gewissens fühlten“3168, er­ innerte sich Schnepel. Diese Haltung war offenbar Ausfluss eines manich­ äischen Weltbildes, das eine wertende Grenze zwischen den Aktivisten des Netzwerkes und ihrer Außenwelt zog. Zum einen schlossen die Angehöri­ gen der „Revolutionären Zelle“ auf Basis ihrer persönlichen Erlebnisse mit Böse und Kuhlmann bei beiden antisemitische Motive aus. Exemplarisch hierfür sind Aussagen Magdalena Kopps: „Ich kannte Brigitte, war mit ihr auf Demos gegen Neonazis und Rassismus gewesen, sie war bestimmt keine Antisemitin.“3169 Schnepel war ähnlicher Meinung, hatte Kuhlmann ihm doch – angeblich – in einem Gespräch gesagt, mit Antisemitismus habe sie „nichts zu tun“3170. Der Beitrag der gewaltbereiten deutschen Lin­ ken zum Nahost-Konflikt, so Kuhlmann damals gegenüber Schnepel, sei zu begreifen als eine „Unterstützung des emanzipatorischen Widerstands­ kampfes eines unterdrückten […] Volkes, der Palästinenser, gegen eine arrogante, repressive, gewalttätige bis rassistische Regierung in Tel Aviv,

3163 Klein/Libération 1978, S. 295. 3164 Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 113. 3165 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 22. 3166 Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 3167 Vgl. Der Spiegel 1976c, S. 85; Porat/Haber/Schiff 1976, S. 185. 3168 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 3169 Kopp 2007, S. 104. 3170 Brigitte Kuhlmann, zit. n. Schnepel/Wetzel 2001, S. 112.

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zudem Vorposten der USA im Nahen Osten.“3171 Zum anderen gingen die Aktivisten der RZ dazu über, den Vorwurf einer „Feindschaft gegen Juden als Juden“3172 pauschal als propagandistisches Konstrukt des von ihnen bekämpften Gegners abzutun. Aus Sicht der „Revolutionären Zelle“ bestand dementsprechend kein Anlass, die in der Presse hervorgebrachte „heuchlerische Kommentiererei“3173 intern ausführlich aufzugreifen oder gar in der Öffentlichkeit argumentativ zu widerlegen.3174 Plastisch skizzier­ te Gerd-Hinrich Schnepel in mehreren Selbstzeugnissen die hinter vorge­ haltener Hand vertretene, neutralisierende Argumentationslinie der RZ. Im Jahr 2000 brachte er hervor: „Nach Entebbe wurde das Thema [die Sicht des deutschen Linksex­ tremismus auf den Staat Israel] sehr stark von den Zeitungen hoch­ gespielt. […] [U]nsere Linie war recht klar: Den Kampf gegen die israelische Regierung, gegen die israelische Politik in die Ecke von An­ tisemitismus zu stellen, war ein Winkelzug der israelischen Regierung, um von ihrem Vorgehen abzulenken. […] Dass man […] unseren Widerstand als antisemitisch abtun wollte, zumal wir Deutsche seien, haben wir nicht akzeptiert. Für uns hatte der gemeinsame Kampf mit den Palästinensern überhaupt nichts mit Antisemitismus zu tun. Wir wollten uns nicht die Augen vernebeln lassen, weil dies von der Gegenseite, also sowohl von den Alliierten der israelischen Regierung (BRD, USA) als auch von dieser selbst, behauptet wurde.“3175 Vergleichbare Äußerungen traf Schnepel 2001 in einem Gespräch mit Wolf Wetzel: „Der […] Hintergrund für die Naivität oder das fehlende Gespür, wie die Medien und ‚der Feind‘ solche Dinge [Aktionen gegen Isra­ el] inszenieren, war, dass unser Engagement gegen Nazideutschland und gegen das kapitalistische und immer noch stark nazi-durchgiftete Nachkriegsdeutschland so selbstverständlich war, dass uns jeder Anti­ semitismusvorwurf als bösartig und absolut taktisch motiviert erschie­ nen ist. […] Wir sahen uns darüberstehend: Da wir keine Antisemiten

3171 3172 3173 3174 3175

Brigitte Kuhlmann, zit. n. ebd. Pfahl-Traughber 2012c, S. 148 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Schnepel/Villinger/Vogel 2000.

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waren, nichts lag uns ferner, konnte jeder Vorwurf dieser Art nur üble Propaganda sein.“3176 Die von Schnepel umrissene fehlende Bereitschaft, einen differenzierten Blick auf die Ereignisse des 28. Juni 1976 zu wagen, lässt sich selbst in der jüngeren Vergangenheit nachzeichnen. Sie prägt unverändert die Sicht einzelner ehemaliger Angehöriger der RZ auf das Vorgehen Böses und Kuhlmanns in Uganda. So gab Johannes Weinrich 2005 in einem Inter­ view mit Anne Maria Siemens zu verstehen: „Die Frage war, wie erpresst man den israelischen Staat, damit dieser Gefangene freilässt. Die Aktion richtete sich also nur indirekt gegen die Menschen in dem Flugzeug, sie waren das Mittel, um die Schalt­ zentralen der Macht des israelischen Staates zu erreichen. Man kann geteilter Meinung sein, ob es richtig war, die Geiseln zu trennen. Aber mit Selektion [sic] wie sie im Dritten Reich betrieben wurde, hatte diese Vorgehensweise nichts zu tun. Die Trennungslinie wurde danach gezogen, wer möglicherweise den Staat Israel unterstützte und wer nicht. Dafür kamen letztlich alle in Frage, die Juden waren.“3177 Selbstkritischer gaben sich einstige Aktivisten der RZ in einem im Jahre 2022 veröffentlichten Gespräch: „[U]nsere Genoss*innen haben Israel als einzigen Staat genommen, den sie bekämpfen, und da kommen Antizionismus und Antisemitis­ mus zusammen. Das geht nicht. Das ist gedanklich und politisch un­ redlich.“3178 Und weiter: „Wenn du als Deutscher eine Maschine mit jüdischen Passagieren ent­ führst, dann weißt du, was du tust und dann musst [sic] dir den Vor­ wurf des Antisemitismus schlicht und einfach gefallen lassen. Dann zu behaupten, das nur aus Gründen einer bestimmten Staatsangehö­ rigkeit gemacht zu haben, ist nicht glaubhaft und geht einfach nicht. Die ganze Aktion war antisemitisch“3179.

3176 3177 3178 3179

Schnepel/Wetzel 2001, S. 112. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 367. Unsichtbare 2022, S. 59. Ebd., S. 60.

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Im Sommer 1976 konzentrierte sich die interne Debatte der „Revolutionä­ ren Zelle“ auf das weitere strategische Vorgehen.3180 Die darin vertretenen Haltungen waren nicht neu: Eine internationale Vernetzung befürworten­ de Gruppe sah sich einem Lager gegenüber, das sozialrevolutionäre Politik entlang aktueller Themen in der Bundesrepublik verwirklichen wollte.3181 Zwischen den Anhängern beider Linien hatte es laut Schnepel bis 1976 „einfach keine Differenzen“3182 gegeben. Einend gewirkt habe ein „Grund­ konsens“3183, welcher nunmehr in den Hintergrund trat. Erstmals trugen die beiden Parteien einen „Streit“3184 grundsätzlicher Natur aus: Unter anderen plädierten Gerhard Albartus, Magdalena Kopp, Uwe Krombach, Gerd‑Hinrich Schnepel und Johannes Weinrich für ein Aufrechterhalten der Verbindungen zu der von Wadi Haddad gelenkten Organisation.3185 Ihren Standpunkt rechtfertigten sie mit dem Hinweis, das Abrücken von grenzübergreifenden Beziehungen würde die „Revolutionäre Zelle“ „auf das Niveau linker Kleingruppenmilitanz“3186 und damit in die Bedeu­ tungslosigkeit führen. Überdies nahmen sie an, dass „die Zusammenarbeit in vielen Punkten […] nützlich sein“3187 könnte. Lehne man sie ab, wür­ de es zu einer „Kapitulation vor ganz praktischen Anforderungen wie der Erhaltung der Option auf Gefangenenbefreiung, der Sicherung von Rückzugsmöglichkeiten oder der Bewahrung eines bestimmten Aktionsni­ veaus“3188 kommen. Den Schulterschluss mit den Palästinensern verurteil­ ten Hermann Feiling, Sylvia Herzinger, Thomas Kram, Rudolf Raabe und weitere Aktivisten der RZ.3189 Sie pochten auf „einen sofortigen Abbruch dieses Kontaktes“3190 und begründeten ihre Position mit den unterschiedli­ chen Zielsetzungen der „Revolutionären Zelle“ und der PFLP-SOG. Ein Vergleich dieser Ziele offenbarte „knallharte Widersprüche, für die sich

3180 3181 3182 3183 3184 3185 3186 3187 3188 3189 3190

Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 113. Vgl. Kopp 2007, S. 106. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 102; Moreau/Lang 1996, S. 348; Schne­ pel/Villinger/Vogel 2000; Kopp 2007, S. 106. Gerhard Albartus, zit. n. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialge­ schichte 1993, Band 1, S. 29. Kopp 2007, S. 106. Gerhard Albartus, zit. n. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialge­ schichte 1993, Band 1, S. 29. Ähnlich Ehemalige Mitglieder der Revolutionä­ ren Zellen 2001. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 17; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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kein gemeinsamer Nenner mehr fand.“3191 Darüber hinaus sei im Verhält­ nis beider Akteure ein Ungleichgewicht der Kräfte zu konstatieren, das den Palästinensern eine Entscheidungshoheit gewährte.3192 Die „Revolu­ tionäre Zelle“ sei daher in den vergangenen Jahren zu einem bloßen „An­ hängsel anderer Interessen geworden“3193. Im Verlauf der innerhalb der „Revolutionären Zelle“ ausgetragenen „harte[n] Auseinandersetzung“3194 gelang es den Lagern nicht, den Dissens zur Auflösung zu bringen. Durch das Netzwerk zog sich nunmehr ein Riss, der nicht nur die strategische Übereinstimmung der Mitglieder, son­ dern langfristig auch die zwischen ihnen existierenden individuellen Be­ ziehungen berührte. So sprachen namentlich nicht benannte Angehörige der RZ im Dezember 1991 rückblickend von „Brüche[n] in persönlichen Freundschaften“3195. In den Sekundärquellen werden diese Konsequenzen gemeinhin als „Spaltung“ der „Revolutionären Zelle“ ausgewiesen.3196 Einzelne ehemalige Aktivisten teilen dieses Votum3197 – andere sprechen hingegen von einer „Trennung“, die nur vorübergehend gewesen sei.3198 Jedenfalls lockerte sich der bislang enge Zusammenhalt des Netzwerks, was sich in steigender Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der ihr zuge­ hörenden Gruppen widerspiegelte. Weiterhin verbunden blieben sie über persönliche Kontakte, die gepflegt wurden auf Delegiertentreffen der RZ und in der Ausgestaltung des Sprachrohrs „Revolutionärer Zorn“. Die Auswirkungen der entstandenen Friktion traten bald in öffentlichen Äuße­ rungen zutage, dies allerdings nicht in einer Deutlichkeit, wie sie Anfang der 1990er Jahre erreicht wurde. Das Netzwerk sah davon ab, sich als „Re­ volutionäre Zelle“ zu titulieren. Der Plural der Selbstbezeichnung setzte sich durch: „Revolutionäre Zellen“.3199 Von den Diskussionen in Deutschland abgekoppelt war augenscheinlich Hans-Joachim Klein, der nach Böses und Kuhlmanns Tod bis Herbst 1976 3191 3192 3193 3194 3195 3196

ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 27. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 29. Ebd., S. 26. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 101; Moreau/Lang 1996, S. 348; Siemens 2006, S. 300. 3197 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 60, 79. 3198 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 29; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001; Kram/Faniza­ deh/Villinger 2010. 3199 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001; Siemens 2006, S. 298.

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im Nahen Osten an der Seite der „Special Operations Group“ der „Popu­ lar Front for the Liberation of Palestine“ verblieb.3200 Klein beklagte in seiner Autobiographie, während dieser Zeitspanne habe sich „[v]on der RZ […] kein Mensch blicken“3201 lassen. Eine eigenständige, unabgespro­ chene Rückkehr nach Europa habe Wadi Haddad als „zu riskant“3202 gese­ hen. Zur Voraussetzung einer Ausreise hatte Haddad dementsprechend laut Klein ein persönliches Gespräch mit Johannes Weinrich (Deckname: „Steve“3203) und Gerd-Hinrich Schnepel (Deckname: „Sharif“3204) erklärt, die er als leitende Figuren der RZ gesehen haben soll.3205 Hintergrund dieser Wertung waren angeblich „Testamente“, die Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann – die „besten Leute“3206 und „natürlichen Leader“3207 des Netzwerks – vor dem Entführen der „Air France“-Maschine Ende Juni 1976 verfasst und bei der PFLP‑SOG hinterlegt hätten. Von den Inhalten der Schreiben erhielt offenbar Wadi Haddad Kenntnis, der seinerseits Hans‑Joachim Klein eingeweiht habe. Böse soll in seinem „Testament“ Weinrich und Schnepel als „Nachfolger“ ausgewiesen haben.3208 Beide wa­ ren somit zu primären Ansprechpartnern der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ ernannt worden. Klein empfand den mehrmonatigen Aufenthalt im Südjemen als lang­ weilig und frustrierend.3209 Streckenweise sei er nur damit befasst gewesen, „morgens aufzustehen und sich nachts wieder hinzulegen.“3210 Nachdem er in einem Ausbildungslager der PFLP-SOG vorsätzlich die Zündvorrich­ tung eines Sprengsatzes zur Detonation gebracht hatte, sei er vor ein Tribunal gestellt worden. Kleins Aussagen zufolge übernahm „Carlos“ den Vorsitz. Die Ankläger attestierten ihm im Verfahren offenbar unzurei­ chende Disziplin, verzichteten allerdings angesichts einer von ihm hervor­ gebrachten Entschuldigung auf eine Strafe. Bei anderer Gelegenheit soll Klein Zaki Helou körperlich angegriffen haben, da er dessen Verhalten missbilligt hätte. Eine Vergeltung Helous sei nur durch Intervention Wa­

3200 3201 3202 3203 3204 3205 3206 3207 3208 3209 3210

Vgl. Klein/Libération 1978, S. 295; Klein 1979a, S. 205, 207. Klein 1979a, S. 209. Ebd. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 9. Vgl. Latsch 2001, S. 70. Vgl. Klein 1979a, S. 207-208. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 301. Vgl. Klein 1979a, S. 208. Vgl. auch Wörle 2008b, S. 268-269. Vgl. Klein 1979a, S. 207. Ebd.

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di Haddads abgewendet worden.3211 Abwechslung brachte die Ankunft Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts im Südjemen. Die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ waren zuvor aus dem Berliner Frauen­ gefängnis in der Lehrter Straße ausgebrochen3212 und wohl nach Unter­ stützung der in Deutschland ansässigen Aktivisten der „Revolutionären Zelle“3213 in den Nahen Osten ausgewichen. Wadi Haddad habe Klein die Aufgabe zugewiesen, die Angehörigen der B2J im Umgang mit Schuss­ waffen auszubilden: „Weil ich den ganzen Ramsch inzwischen auswendig konnte und es natürlich nicht der Übersetzung ins Arabische bedurfte.“3214 Kleins Aussagen zufolge war Zaki Helou bestrebt, seine Rolle als Ausbilder zu untergraben, erzielte jedoch nicht den gewünschten Erfolg.3215 Neben Plambeck, Rollnik und Viett trainierte er Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann3216 „an allen verfügbaren Waffen“3217. Zur Unterwei­ sung resümierte Klein 1978 im Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Manchmal haben sie sich etwas dusselig angestellt, aber mit Waffen umgehen haben die gelernt. Bei diesem Training geht es zu wie beim Militär. Es gibt da drei Grundpositionen. Die erste ist Schießen über Kimme und Korn, bei der zweiten muss man den Lauf auf den Hand­ rücken legen und verbrennt sich dabei regelmäßig die Knochen, bei der dritten muss man irgendeinen Ausfallschritt machen, das taugt aber überhaupt nichts. Aus der Hüfte schießen ist verboten. […] Au­ ßerdem gibt es einen Riesenschießplatz, da wird gesprengt und mit Panzerfäusten geschossen – auch mit den englischen Flugabwehrrake­ ten, die allerdings fast nie funktionierten.“3218 Im Verlauf der Ausbildung unterlief ihm selbst ein gravierendes Missge­ schick, das ein Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ in ernstzunehmende Ge­ fahr gebracht habe. In seiner Autobiographie rekapitulierte er den Vorfall: „[D]ie Inge Viett hätte ich einmal fast erschossen. Wir waren auf dem Schießplatz, und da wir da gleich alles durchschießen und bomben 3211 3212 3213 3214 3215 3216 3217 3218

Vgl. ebd. Vgl. Der Spiegel 1976d, S. 20. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Klein 1979a, S. 207. Vgl. ebd. Vgl. Backes 1991, S. 154; Rollnik/Dubbe 2007, S. 64; Viett 2007, S. 160. Klein 1979a, S. 207. Klein/Der Spiegel 1978, S. 82. Ähnlich Rollnik/Dubbe 2007, S. 65-66; Viett 2007, S. 163.

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wollten, was es so in der Waffenkammer gab, blieben wir einige Tage draußen und schliefen in einem großen Zelt. Und in diesem Zelt richtete ich die Waffen her, mit denen die gleich schießen sollten. Als ich in eine Sten-MP [britische Maschinenpistole] ein volles Maga­ zin einführte und durchlud, lösten sich einige Schüsse und gingen (logisch) durch die Zeltplane. Am Kopf von I. Viett in cm Entfernung vorbei.“3219 Da Wadi Haddad während des Aufenthalts der Aktivisten der B2J augen­ scheinlich ins Ausland geflogen war und sie ohne dessen Zustimmung den Südjemen nicht verlassen durften, verzögerte sich ihre Abreise. Klein soll sich in dieser Zeit ausführlich mit ihnen ausgetauscht haben.3220 Aus den Gesprächen mit ihm gewann Gabriele Rollnik den Eindruck, Klein fehle die Bereitschaft, den „bewaffneten Kampf“ fortzusetzen. Er habe desillusio­ niert gewirkt. Besonders bewegt haben soll ihn der Ausgang des Überfalls auf die Konferenz der „Organisation erdölexportierender Staaten“. Die während der Geiselnahme erreichte Gewalt sei aus seiner Sicht ungerecht­ fertigt gewesen.3221 Rollniks Erinnerungen korrespondieren mit Kleins Selbstreflexion, die er in Interviews und seiner Autobiographie preisgab. Bereits im Februar 1976 „hatte [er] die Schnauze gestrichen voll.“3222 Klein habe einen etwa dreißig- bis vierzigseitigen Brief verfasst,3223 in dem von ihm dargelegt worden sei, auf welchen Gründen sich seine Teilnahme an dem Angriff auf die OPEC stützte. Überdies stellte er eigenen Aussagen zu­ folge die Lehren dar, welche er aus der Aktion gezogen hatte.3224 Lediglich indirekt habe er seinen Willen bekundet, eine Abkehr vom Terrorismus in Erwägung zu ziehen.3225 Adressiert gewesen wäre das Schreiben „an einen Genossen und Freund in Deutschland“3226. Klein soll es nach Fertigstel­ lung in die Obhut eines Boten gegeben haben, den Wilfried Böse in seiner Anwesenheit auf die Schutzwürdigkeit der Inhalte hingewiesen hätte.3227 Später wurde ihm augenscheinlich in Rom während eines Gesprächs mit Böse bekannt, dass die Nachricht dem Empfänger nicht übergeben wurde.

3219 3220 3221 3222 3223 3224 3225 3226 3227

Klein 1979a, S. 208. Ähnlich Klein/Der Spiegel 1978, S. 82. Vgl. Klein 1979a, S. 209; Rollnik/Dubbe 2007, S. 67-68. Vgl. Siemens 2006, S. 361-362. Klein 1979a, S. 75. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 81. Vgl. Klein 1979a, S. 75. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 286. Ebd., S. 285. Vgl. Klein 1979a, S. 75.

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Vielmehr sei sie geöffnet, gelesen und vernichtet worden. Böse habe ihm empfohlen, künftig das „Maul zu halten und solche Sachen wie in dem Brief nicht mehr zu sagen.“3228 Diese könnten, so die – angebliche – Begründung Böses, von linksextremistischen Kritikern der „Stadtguerilla“ gegen die „Revolutionäre Zelle“ ausgespielt werden.3229 In den Augen Kleins kam dieses Vorgehen einer „ungeheuren Schweinerei“3230 gleich. Unverändert hielt er nach einem Weg Ausschau, der ihm das Abspringen von terroristischer Gewalt erlauben sollte.3231 In der Bundesrepublik nahm das Netzwerk der RZ die Situation von Mietern als neues Themenfeld ins Visier: Am 16. September 1976 verübte es einen Sprengstoffanschlag auf den Wohnsitz des Immobilienmaklers Günther Kaußen in Köln. Das sich anschließende Tatbekenntnis machte erstmals die veränderte Selbstbezeichnung öffentlich.3232 Die „Revolutio­ nären Zellen“ führten aus, Kaußen sei „einer von denen, die Menschen mit Wohnungen, Wucher und Drohungen umbringen“3233. Er versinn­ bildliche eine Gesellschaft, in der berufliches Vorankommen an Ausbeu­ tung, Betrug und ein enges Verhältnis zu staatlichen Funktionsträgern geknüpft wäre.3234 Ende 1976 erhielten die Kampagnen der RZ Auftrieb, die sich gegen – vermeintliche – imperialistische Machtstrukturen und Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr richteten. Am 1. Dezember 1976 detonierte im Offizierscasino der US-amerikanischen Rhein-Main Air Base bei Frankfurt am Main eine Sprengvorrichtung der RZ. Mehr als eine Woche später setzten Aktivisten des Netzwerks Büroräumlichkeiten der Frankfurter Stadtwerke in Brand.3235 Der Angriff galt offenbar der Bußgeldstelle des „Frankfurter Verkehrsverbundes“. Vernichtet werden sollte deren Kartei für Personen, die ohne Fahrschein Dienste des FVV in Anspruch genommen hatten.3236 Neben ihren Gewalthandlungen setzten die RZ ihre zuletzt im Mai 1975 publik gemachte kritische Auseinandersetzung mit der „Roten Ar­

3228 3229 3230 3231 3232 3233

Klein/Libération 1978, S. 286. Vgl. Klein 1979a, S. 76. Ebd. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 286. Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 122. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 120. 3234 Vgl. ebd. 3235 Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 122; Horchem 1988, S. 83. 3236 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 127.

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mee Fraktion“ fort, konnten dabei jedoch keinen Konsens herbeiführen. Im Dezember 1976 geriet ein offener Brief in Umlauf, den „[e]ine Revolu­ tionäre Zelle“3237 unterzeichnet hatte. Er sprach „alle Genossen aus der RAF“3238 an und war konzipiert worden als Diskussionsgrundlage für einen Austausch mit legalistischen und gewaltbereiten Linksextremisten, darunter die „Bewegung 2. Juni“. Einleitend hielten die Verfasser fest, es sei ihnen seit Langem ein Anliegen, der „Roten Armee Fraktion“ Fragen zu stellen.3239 Bislang hätten sie hiervon abgesehen, da sie „Angst hatten, möglicherweise […] eine unangemessen scharfe Antwort zu bekommen. So in dem Tonfall: wir wären mindestens objektive Bullen/unser Brief sei eine Staatsschutzaktion.“3240 Inzwischen sei diese Furcht überwunden worden. Die Notwendigkeit einer reflektierenden Beleuchtung der „Roten Armee Fraktion“ war nach Ansicht der Autoren gegeben, weil sie „[v]on der ursprünglichen Zielrichtung […] der RAF […] nur noch wenig erken­ nen“3241 könnten und deren „Politik aus den Augen verloren“3242 hätten. Ähnlich wie das im Mai 1975 erschienene Interview mit einem Aktivisten der RZ schrieb der Brief der „Roten Armee Fraktion“ zunächst eine positi­ ve Funktion zu: „Die Aktionen 71/72 [unter anderem die Anschläge im Mai 1972] aus der RAF waren für viele Genossen ein wichtiges Moment. Sie haben viele Leute, auch uns, wachgerüttelt. […] Wir haben gesehen, dass das möglich ist, was man schon lange dachte. Ohne die RAF gäbe es heute keine RZ, keine Gruppen, die begriffen haben, dass der Widerstand nicht da aufhört, wo das Gesetzbuch anfängt.“3243 Sodann hielt er die wesentlichen Kritikpunkte fest, die nach Meinung der Verfasser aus den Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ ab 1972 er­ wachsen waren. So seien die Bedingungen für einen gemeinsamen Dialog zwischen RAF und RZ zu strategischen Aspekten nicht existent,3244 stufe doch die „Rote Armee Fraktion“ die „Revolutionären Zellen“ und andere Akteure der gewaltbereiten Linken pauschal als „schwach, (massen‑)oppor­

3237 3238 3239 3240 3241 3242 3243 3244

Ebd., S. 178. Ebd., S. 173. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 174. Ebd. Ebd., S. 173-174. Vgl. ebd., S. 174.

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7.2 Aktionsphase

tunistisch“3245 und zurückhaltend im Kampf gegen den Ist‑Zustand in der Bundesrepublik ein. Diese Haltung wäre deprimierend,3246 in Teilen „ein­ fach blanker, defätistischer Unsinn“3247 und Resultat einer „schmutzige[n] Phantasie“3248. Die RAF pflege einen Umgang mit „Genossen“, der „eine Schweinerei“3249, ja gar „beschissen“3250 sei. Sie habe sich in die Isolation manövriert, was erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen könnte: „ein Fisch ohne Wasser verdurstet!“3251 Die Grenzen im Verhältnis der RAF zu anderen linksextremistischen Gruppen müssten abgebaut werden.3252 Wohl als Ausgangspunkt eines solchen Prozesses fügten die Autoren des Briefes mehrere Fragen ein, deren Beantwortung sie sich wünschten. Un­ ter anderem forderten sie eine öffentliche Stellungnahme der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zu den Aktionen der B2J und der RZ: „Wie steht ihr zur Politik der Revolutionären Zellen und der Bewe­ gung des 2. Juni? Also zur Lorenz‑Entführung, gefälschten Fahrkar­ ten, Anschlag der Frauen aus der RZ auf den BGH [Bundesgerichts­ hof, richtig wäre hier die Nennung des Bundesverfassungsgerichts gewesen], gefälschten Einkaufsscheinen für Berlin’s [sic] Obdachlose […]?“3253 Das offene Schreiben aus dem Netzwerk der „Revolutionären Zellen“ blieb in der „Roten Armee Fraktion“ nicht unbeachtet. Unter den Inhaf­ tierten der RAF entwickelte sich ein – durch einen Kassiber Gudrun Ensslins vom 6. Januar 1977 belegter – Diskurs. Darin reagierte Ensslin offensichtlich auf einen Beitrag Karl-Heinz Dellwos, den dieser als Replik auf den Brief erstellt hatte. Ensslin lehnte ihn ab, da die „Rote Armee Frak­ tion“ auf das Schreiben der RZ nicht antworten könne3254 und Dellwos Nachricht „so auch nicht ginge.“3255 Die „Revolutionären Zellen“ würden sich, so Ensslin, von der RAF unterscheiden. Allenfalls ließe sich mit Blick auf „böse und das mädchen [vermutlich Brigitte Kuhlmann]“3256 von einer 3245 3246 3247 3248 3249 3250 3251 3252 3253 3254 3255 3256

Ebd., S. 174-175. Vgl. ebd., S. 175. Ebd. Ebd. Ebd., S. 176. Ebd. Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 175. Ebd., S. 177. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 304. Ebd. Ebd.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Nähe zu den Prinzipien der „Roten Armee Fraktion“ sprechen. Ensslin schrieb weiterführend, trotz der Differenzen zwischen RZ und RAF seien die Aktivisten der „Revolutionären Zelle“ „nicht die arschlöcher, als die du sie abkanzelst, von oben – das ist immer falsch“3257. Für eine Stellungnah­ me der „Roten Armee Fraktion“ zum offenen Brief der RZ würde sich eine andere argumentative Herangehensweise empfehlen: „die verwechslung [sic] bgh - bvg [Bundesverfassungsgericht] ist ziem­ lich fett, ihr verschenkt sie praktisch, denn sie ist einfach der deutlichs­ te reflex der begriffslosigkeit des ganzen dings, seiner struktur, der demagogie, die schließlich klarmacht [sic], dass es ihnen gar nicht drauf [sic] ankommt, von den gefangenen ne [sic] antwort zu bekom­ men, sondern darauf, sich in der hetze gegen sie zu profilieren und sie zu zerstören.“3258 Die ergänzenden Ausführungen Ensslins lesen sich wie eine Generalab­ rechnung mit den „Revolutionären Zellen“. Sie würden „die objektiven bedingungen, gegen die sie kämpfen wollen, subjektiv nur reproduzieren; […] statt sie zu analysieren, um in ihnen zu agieren, [werden sie] von ihnen agiert“3259. Die Mitglieder der RZ, so Ensslin, „konservieren sich […] als kaputte bürger […] und so konservieren sie letztlich den staat, die etablierte politik, was sie dann wieder schnappt: zum operator der bullen macht“3260. Obgleich das Zellenzirkular vom 6. Januar 1977 ein Erwidern der von einer „Revolutionären Zelle“ aufgeworfenen Fragen ausschloss, fand sich nur wenige Tage danach in der Ausgabe 138 des Periodikums der „Berliner Undogmatischen Gruppen“ („info BUG“) ein Kommentar des inhaftierten RAF-Mitglieds Monika Berberich zum Schreiben. Sie vertrat die Einschät­ zung, der im Dezember 1976 publizierte Brief einer RZ beinhalte „Lügen, Fälschungen und Denunziationen“3261 und signalisiere eine verräterische Position. Die Autoren würden sich dem Staat unterwerfen und Desorien­ tierung im undogmatischen Linksextremismus fördern.3262 Er sei „präzise nach den Mustern und mit den Methoden der psychologischen Kriegsfüh­ rung“3263 erstellt worden und daher ausschließlich als „Staatsschutz‑Pro­ 3257 3258 3259 3260 3261 3262 3263

Ebd. Ebd. Ebd., S. 305. Ebd., S. 306. Berberich 1977. Vgl. ebd. Ebd.

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7.2 Aktionsphase

jekt“3264 zu sehen. Angesichts dieser Aussagen sah die für den offenen Brief verantwortlich zeichnende „Revolutionäre Zelle“ ihre ursprünglichen Be­ fürchtungen bestätigt. Im „info BUG“ vom 31. Januar 1977 (Nummer 141) hob sie hervor, mit dem von Berberich bekundeten Standpunkt wäre „genau das eingetreten, was wir eigentlich erwartet haben.“3265 Einem Beantworten ihrer Fragen sei sie daher nähergekommen.3266 Dieselbe Ausgabe des „info BUG“ umfasste ein Papier aus dem Netz­ werk der „Revolutionären Zellen“, welches die Nachricht aus Dezember 1976 ebenfalls ablehnte und somit die nach der Flugzeugentführung Böses und Kuhlmanns innerhalb der RZ eingetretene interne Fraktionierung und zugenommene Autonomie unterstrich. In der Literatur ist gar die Rede von einem „Richtungskampf“3267 innerhalb der „Revolutionären Zel­ len“. Die Verfasser des Papiers deklarierten: „Der ‚Offene Brief an die RAF‘ ist weder von den Revolutionären Zellen noch einem Teil derselben.“3268 Stets hätten die RZ ihr Verhältnis zur „Roten Armee Fraktion“ einerseits „durch praktische Solidarität den gefangenen Revolutionären gegenüber […] zum Ausdruck gebracht […], andererseits durch die Entwicklung einer eigenen Kampfpraxis.“3269 Dementsprechend erachteten die Autoren das Schreiben als „dreckig und beschissen“3270. Wesentlich drastischer wur­ de die Kritik im Mai 1977 in einem weiteren Text der RZ. Darin war die Rede von einer „Mischung aus nassforschem Gerotze und weinerlichem Anbiedern, aus widerlicher Autoritätsgläubigkeit und frecher Denunzia­ tion“3271 und der „hinterhältigste[n] Abgrenzung gegenüber der in den Knästen kämpfenden Guerilla“3272. Unverhohlen beschrieben die Urheber des Schriftstücks die Beziehungen, die zwischen den in Deutschland akti­ ven linksterroristischen Akteuren bestünden: „Ungeachtet aller Differenzen, die sich aber anders als in der legalen Linken nicht in gegenseitiger Lähmung, sondern in unterschiedlicher Akzentuierung von Elementen des bewaffneten Kampfes auswirken, sind wir ohne Einschränkungen solidarisch mit allen Schwestern und 3264 3265 3266 3267 3268 3269 3270 3271

Ebd. Revolutionäre Zellen 1977a. Vgl. ebd. Wörle 2008b, S. 266. Revolutionäre Zellen 1977b. Ebd. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 169. 3272 Ebd.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Brüdern der bewaffneten Linken, mit all ihren Widerstandsformen. Und für die gefangenen Genossinnen und Genossen gilt: sie herauszu­ holen, damit sie wieder auf allen Ebenen ihre Widerstandsmöglichkei­ ten zurückgewinnen.“3273 Uneinig zeigten sich die „Revolutionären Zellen“ zudem in der Diskussion um den ab Ende 19763274 in Lichthäusern ausgestrahlten US-amerikani­ schen Film „Unternehmen Entebbe“. Der Plot, so 1977 das Nachrichten­ magazin „Der Spiegel“, „präsentiert[e] Vorgänge der Geiselbefreiung von Entebbe als israelischen Militär- und Heldenschmarren.“3275 Unrühmlich wirkten dementsprechend die Handlungen der Entführer. Diese FreundFeind-Dichotomie fasste ein Teil der RZ als „Verdrehung der Wirklich­ keit und […] rassistische Hetze“3276 auf. Offenbar erwuchs der Plan, Sachschäden in einer Reihe von Kinos zu verursachen. Gestört werden sollte damit die weitere Ausstrahlung des Films in Westdeutschland. Die hierfür erforderliche Anschlagskampagne fand in den RZ indes keine Mehrheit.3277 Lediglich in Lichtspielhäusern in Aachen und Düsseldorf legten Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ Anfang Januar 1977 Brand­ sätze ab. Die karge Reaktion des Netzwerks auf „Unternehmen Entebbe“ erwies sich schnell als operativer Fehlschlag: Den Sicherheitsbehörden war ein Entschärfen der Bomben möglich; außerdem verhafteten sie zwei Mitglieder der RZ.3278 Gerhard Albartus und Enno Schwall, die zuvor gemeinsam mit Johannes Roos Überlegungen zur Befreiung des inhaftier­ ten B2J-Mitglieds Till Meyer nachgegangen sein sollen,3279 waren beim Deponieren der Brandvorrichtung im Aachener Kino „Gloria-Palast“ beob­ achtet worden.3280 Im September 1977 sah die Justiz ihre Tatbeteiligung als erwiesen an und belegte beide mit langjährigen Haftstrafen wegen Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.3281 Zu den gescheiterten Anschlägen auf Kinos in Aachen und Düsseldorf bekannten sich „Revolutionäre Zellen/Kämpfer für ein freies Palästina“,

3273 3274 3275 3276 3277 3278 3279 3280

Ebd., S. 171. Vgl. Ebbrecht-Hartmann 2014, S. 176. Der Spiegel 1977a, S. 62. Kopp 2007, S. 106. Vgl. ebd. Vgl. Ebbrecht-Hartmann 2014, S. 177-178. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 103. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 120-121; Der Spiegel 1978c, S. 39; Kopp 2007, S. 106; Winkler 2008, S. 273. 3281 Vgl. Rabert 1995, S. 207; Ebbrecht-Hartmann 2014, S. 178.

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7.2 Aktionsphase

ergo der internationalistische Flügel der RZ.3282 In seinem Schreiben erklärte er, inzwischen würden „wie im Faschismus […] wieder Filme gedreht, die dem weltweiten Völkermorden […] moralische und politische Unterstützung geben sollen. Hier konkret: […] den weltweiten Angrif­ fen der ‚amerikanischen-israelischen Herrenrasse‘ gegen die (ugandischen, vietnamesischen, palästinensischen u.a.) ‚Untermenschen‘“3283. Das Selbst­ bezichtigungsschreiben gipfelte in der an Kinobetreiber gerichteten Auf­ forderung, „Unternehmen Entebbe“ unverzüglich aus dem Programm zu nehmen.3284 Angesichts der in Nordrhein-Westfalen aufgefundenen Brand­ vorrichtungen rangen sich zahlreiche Lichtspielhäuser zu diesem Schritt durch. Andere boten weiterhin Vorführungen des Films an, jedoch unter Polizeischutz.3285 Weitere Aktivitäten der „Revolutionären Zellen“ berührten in diesem Zeitraum die Aktionsfelder „Antiimperialismus“ und „-repression“. Mit Sprengstoff verübten die RZ am 4. Januar 1977 einen Anschlag auf ein Brennstoffdepot des US-amerikanischen Militärs nahe der hessischen Stadt Lahn. Mitte Februar und Ende März 1977 beschädigten sie in Düsseldorf und Frankfurt am Main den Besitz von Rechtsanwälten.3286 Die Aktion ge­ gen das Fahrzeug des Advokaten Heinz Peters am 16. Februar 1977 recht­ fertigte die verantwortlich zeichnende „Revolutionäre Zelle Kommando Siegfried Hausner“ mit seiner Position als Pflichtverteidiger im Gerichts­ verfahren gegen die RAF‑Mitglieder, welche im April 1975 die Deutsche Botschaft in Stockholm besetzt hatten.3287 Rechtsbeistand lieferte Peters Hanna Krabbe sowie Bernhard Rössner.3288 Der Anschlag sollte ihn und andere beigeordnete Anwälte zwingen, ihr Mandat aufzugeben.3289 Der Angriff in Frankfurt am Main am 24. März 1977 zielte auf die dortige Rechtsanwaltskammer, da „gegen alle Anwälte in ihrem Zuständigkeits­ bereich […], die irgendwann mal versucht haben, sich der Vernichtungs­ strategie gegen die RAF entgegenzustellen, ehrengerichtliche Verfahren

3282 Vgl. Der Spiegel 1977a, S. 62; Bundesministerium des Innern 1978, S. 118. 3283 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 130. 3284 Vgl. ebd. 3285 Vgl. Ebbrecht-Hartmann 2014, S. 177. 3286 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 118. 3287 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 162. 3288 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 177. 3289 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 162.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

eingeleitet, durchgeführt und abgeschlossen“3290 wurden. Die erkennbar als Solidaritätsbekundung angelegte Aktion gegen Peters griff die „Rote Armee Fraktion“ auf, um erneut öffentlich die Auseinandersetzung mit den RZ zu suchen. Am 11. März 1977 sagten die nach der Geiselnahme 1975 in Schweden festgenommenen Angehörigen des „Kommandos Hol­ ger Meins“ in ihrem Prozess aus, zugewiesene Verteidiger dürften im „be­ waffneten Kampf“ nicht als bedeutsame Gegner verstanden werden.3291 Geraten sie in das Blickfeld der „Stadtguerilla“, so sei dies Ausfluss einer „ziellose[n] taktiererei“3292, welche die „hilflosigkeit und desorientierung großer teile der linken“3293 in der Bundesrepublik versinnbildliche. Ergän­ zend brachten die RAF-Mitglieder hervor: „sie [Aktionen, wie zum Beispiel der Anschlag am 16. Februar 1977] sind […] ausdruck eines subjektivismus, der die objektiven notwendig­ keiten revolutionärer politik nicht zur kenntnis nimmt […] und sich so der imperialistischen gewaltmaschinerie beugt“3294. Ende 1976 stellte die internationalistische Strömung der „Revolutionären Zelle“ ihren Kontakt zu Hans-Joachim Klein wieder her. Eigenen Aussa­ gen zufolge hatte sich Klein zuvor zu einem Vorhaben durchgerungen, das ihm zu einer Ausreise aus dem Nahen Osten verhalf: Ohne vorherige Absprache mit Wadi Haddad habe er sich gegenüber den im Südjemen ansässigen Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ bereit erklärt, fortan an ihrer Seite den „bewaffneten Kampf“ zu führen. Zeitgleich hätte er die RZ in ihrer Gegenwart gezielt diffamiert.3295 Mit Blick auf die Zukunft sei ihm von den Aktivistinnen der B2J die Frage gestellt worden, welche Aktionen er in Angriff nehmen würde. Klein soll den Vorschlag formu­ liert haben, Gabriele Henkel – Ehefrau des Leiters des gleichnamigen deutschen Konzerns – als Geisel zu nehmen und eine Lösegeldzahlung zu fordern. Diese Proposition hätten die Angehörigen der „Bewegung 2. Ju­ ni“ zurückgestellt, da sie eine solche Freiheitsberaubung angeblich als zeitund kostenintensiv werteten. Stattdessen, so Klein, plädierten sie für Über­ fälle auf Geldhäuser.3296 Schließlich habe die „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ der B2J gestattet, den 3290 3291 3292 3293 3294 3295 3296

Ebd., S. 163. Vgl. Kommando Holger Meins der Roten Armee Fraktion 1977. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Klein 1979a, S. 209. Vgl. ebd., S. 213.

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7.2 Aktionsphase

Nahen Osten zu verlassen. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in der „Bewe­ gung 2. Juni“ sei auch Klein die Erlaubnis ausgesprochen worden, nach Europa zu fliegen. Offenbar war an dieser Entscheidung Wadi Haddad nicht beteiligt, ließ er ihm doch im Nachgang ausrichten, er nehme Kleins eigenständigen Wechsel zur „Bewegung 2. Juni“ als Ärgernis wahr.3297 In Europa angekommen, sollte Klein nach Vorstellung der B2J „voll bei ihnen ins Geschäft einsteige[n]“3298. Da er während der Kampfausbildung im Südjemen körperliche Anstrengungen auf sich genommen hatte, konn­ te er eine aktive Partizipation augenscheinlich nicht mehr mit Verweis auf die gesundheitlichen Nachwirkungen seiner im Dezember 1975 in Wien zugezogenen Verletzungen abwenden. Gemeinsam mit zwei Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ sei er nach Brüssel gereist, wo Waffen aus einem Erddepot geborgen werden sollten, die Klein und ein weiteres Mitglied der „Revolutionären Zellen“ dort in der Vergangenheit verstaut hätten.3299 Klein lebte in diesem Zeitraum offensichtlich abwechselnd in einem Ho­ tel in Mailand sowie in einer Hütte im italienischen Aostatal, welche er im Frühjahr 1976 mit Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann hergerichtet haben will.3300 Diese hätten zeitweilig ebenso Mitglieder der B2J als Unter­ schlupf beansprucht.3301 Kleins Erinnerungen zufolge besuchte ihn Johan­ nes Weinrich, der „um weitere Mitarbeit bat und […] erklärte, warum sie mich […] hängengelassen hatten.“3302 Magdalena Kopp und Gerd‑Hin­ rich Schnepel gaben in ihren Selbstzeugnissen an, Klein ebenfalls in Italien getroffen zu haben.3303 Vor allem Schnepel und Weinrich hätten Klein Unterstützung geboten,3304 ihn unter anderem mit „Zeitungen, Bücher[n], Schokolade, Zigaretten und ähnliche[n] Mitbringseln“3305 versorgt. Wie Klein in seiner Autobiographie zugab, signalisierte er in dieser Situation eine ungebrochene Zugehörigkeit zu den „Revolutionären Zellen“.3306 Während seiner Zusammenkünfte mit den Befürwortern einer interna­ tionalistischen Positionierung der RZ wäre ausführlich über die Lage des linksextremistischen Milieus in der Bundesrepublik gesprochen wor­

3297 3298 3299 3300 3301 3302 3303 3304 3305 3306

Vgl. ebd., S. 209. Ebd. Vgl. ebd., S. 209-210. Vgl. ebd., S. 210, 212; Kopp 2007, S. 107. Vgl. Klein 1979a, S. 18. Ebd., S. 210. Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 109; Kopp 2007, S. 107. Vgl. Kopp 2007, S. 107. Schnepel/Wetzel 2001, S. 109. Vgl. Klein 1979a, S. 210.

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den.3307 Der Austausch drehte sich zudem um das weitere Vorgehen: Von Klein seien die im Südjemen getroffenen Überlegungen zu einer Entfüh­ rung aufgegriffen worden. Nicht nur habe er in den Raum geworfen, Gabriele Henkel festzusetzen. Überdies hätte er als weiteres Ziel Caroli­ ne von Monaco genannt. Ihm sei zugesagt worden, diese Ideen zu einem späteren Zeitpunkt einer näheren Prüfung zu unterziehen.3308 Den Vorzug gab der internationalistische Flügel der „Revolutionären Zellen“ anderen Aktionen. Eingeweiht wurde Klein in dessen Absicht, Anschläge auf die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Westberlin und Frankfurt am Main, Heinz Galinski und Ignaz Lipinski, zu begehen. Hintergrund dieser Entscheidung war offenbar die Kooperation zwi­ schen den „Revolutionären Zellen“ und der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“, welche mit dem Tod Böses und Kuhlmanns im Juli 1976 einen erheblichen Einschnitt erfahren hatte. Beide Vorhaben vorangetrieben habe insbesondere Johannes Wein­ rich,3309 dem „die Beziehungen zur PFLP […] [nach wie vor] sehr wichtig waren.“3310 Nach der in Uganda fehlgeschlagenen Geiselnahme hätte er gemeinsam mit Gerd-Hinrich Schnepel „die Trümmer aufgeräumt, also dafür gesorgt, dass nicht noch mehr kaputt geht und die Kommunikation [mit der Organisation Wadi Haddads] aufrechterhalten bleibt.“3311 Angeb­ lich stellten sich Schnepel und Weinrich ihr zunächst als Kuriere zur Verfügung. Kopp berichtete von einer Reise Schnepels nach Bagdad, auf der er Haddad getroffen habe.3312 Augenscheinlich nahm die PFLP‑SOG diese Hilfsleistungen zusehends als unzureichend wahr. Von Haddad sei die internationalistische „Sektion“ der „Revolutionären Zellen“ schließlich aufgefordert worden, sich erneut personell an den Aktionen seiner Split­ tergruppe zu beteiligen. Die RZ sahen sich indes außerstande, diesem Ver­ langen zu entsprechen. Als Alternative hätten sie die Attentate auf Galinski und Lipinski in den Blick genommen.3313 Zu Galinski soll den „Revolu­ tionären Zellen“ bekannt gewesen sein, dass er innerhalb der PFLP-SOG nach Juli 1976 aufgrund seiner positiven Haltung zur israelischen Geisel­ befreiung in Entebbe als potentielles Ziel einer Aktion gehandelt worden

3307 3308 3309 3310 3311 3312 3313

Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 109. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 81; Klein 1979a, S. 212-213. Vgl. Klein 1979a, S. 87-88. Kopp 2007, S. 110. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Kopp 2007, S. 110. Vgl. Klein 1979a, S. 88.

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7.2 Aktionsphase

war.3314 Wie Weinrich Klein in einem Gespräch mitgeteilt habe, entsprän­ gen die avisierten Angriffe nicht einem politischen Interesse. Vielmehr sollten sie den RZ einen Verhandlungsspielraum in der Beziehung zur „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Pa­ lestine“ verschaffen.3315 Würden die Attentate gelingen, so Weinrichs Kal­ kül, könnten sie „wieder selbstbewusster und energischer mit eigenen For­ derungen bei ihm [Haddad] auftreten.“3316 Was die Ansprüche der „Revo­ lutionären Zellen“ beinhalteten, hätte Weinrich Klein ebenfalls verraten: „Aufnahmeland für die Gefangenen, Waffen, und vor allem […] Geld.“3317 Zu den Angriffen gegen Galinski und Lipinski sei Haddad von dem inter­ nationalistischen Flügel der „Revolutionären Zellen“ unterrichtet wor­ den.3318 7.2.3 Ausstieg Hans-Joachim Kleins, Gründung der „Roten Zora“, versehentliche Bombenexplosion in Heidelberg, Verbindungen zur OIR (1977 bis 1978) Klein soll sich in dieser Zeit sowohl von den RZ als auch von der B2J offensiv distanziert haben. Nachdem die „Bewegung 2. Juni“ ihn gebeten hatte, Schusswaffen und Munition in der Schweiz zu beschaffen sowie beim Ausspähen von Passämtern zu unterstützen, machte er ihnen angeb­ lich deutlich, er wolle selbst einen terroristischen Zirkel aus der Taufe heben. Aus diesem Grund sehe er von einer weiteren Zusammenarbeit mit der B2J ab. Selbiges will er den Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ erklärt haben, zu denen er Kontakt pflegte.3319 Mit Blick auf die sich anschließenden Geschehnisse zeichnete Klein in Interviews und seiner Autobiographie das Bild von einer konkreten Gefahr durch seine ehema­ ligen Mitstreiter. Diesen Ausführungen traten andere Mitglieder der RZ später energisch entgegen. Anfangs sei seine Abkehr in den Reihen der „Revolutionären Zellen“ auf Akzeptanz gestoßen, so Klein.3320 Schnepel und Weinrich wären gar seiner Bitte nachgekommen, ihm eine Waffe zu überreichen. Augenscheinlich hatte er diese zuvor mit der Begründung an­ 3314 3315 3316 3317 3318 3319 3320

Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Klein 1979a, S. 88. Johannes Weinrich, zit. n. Klein 1979a, S. 88. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 86. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 287; Klein 1979a, S. 210. Vgl. Klein 1979a, S. 210.

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gefordert, er wolle sich im Falle einer drohenden polizeilichen Festnahme selbst schützen können.3321 Der „Bewegung 2. Juni“ hingegen bot Kleins Abkehr Anlass zum Argwohn.3322 Ihre Aktivisten sollen ihn zuvor in sensi­ ble Interna eingeweiht haben. 1978 schilderte Klein dem Nachrichtenma­ gazin „Der Spiegel“: „Die haben mir […] alle Einzelheiten von ihren Sachen erzählt, die Lorenz-Entführung zum Beispiel. Wie der Lorenz sein Nasi-goreng [sic] gekriegt hat, wie sie ihm die Apfelsinen geschält haben. Natürlich auch noch ganz andere Sachen, aber dazu sag‘ ich nix [sic].“3323 Die im Laufe seines bisherigen terroristischen Werdegangs erhaltenen Ein­ blicke hätten die „Bewegung 2. Juni“ zum Handeln gezwungen. Klein rekapitulierte hierzu im Austausch mit der französischen Zeitung „Libéra­ tion“, ihm wäre von Aktivisten der B2J ausgerichtet worden, sein Ausstieg sei nicht möglich. Schließlich könne er insbesondere zum internationalen Kontext ein breites Wissen abrufen. Die „Bewegung 2. Juni“ soll ihn aufge­ fordert haben, unverzüglich in den Südjemen zurückzukehren.3324 Nahezu wortgleich fügte er diese Episode in seine 1979 erstmals erschienene Auto­ biographie ein.3325 In der Fernsehdokumentation „Mein Leben als Terro­ rist“ gab er nähere Details zu der von ihm als Bedrohung empfundenen Unterredung mit der „Bewegung 2. Juni“ preis. So schrieb er die Aussage, er „wisse zu viel, vor allem im internationalen Rahmen“3326, dem B2J‑Mit­ glied Ingrid Siepmann zu.3327 Eigenen Aussagen zufolge widersetzte sich Klein der Anweisung, Europa zeitnah zu verlassen.3328 Kurz nach der Zusammenkunft mit der „Bewegung 2. Juni“ soll sich ein Vorfall ereignet haben, der ihn zum endgültigen Bruch mit dem Linkster­ rorismus drängte. Im April 1977 habe Weinrich Klein im Aostatal besucht, um mit ihm ein Gespräch führen zu können. Beide seien übereingekom­ men, sich ohne Begleitung in einer Gastwirtschaft auszutauschen. Auf dem Weg zur Lokalität hätte Klein ein Fahrzeug mit zwei Personen ent­ deckt. Angeblich habe er Gerd-Hinrich Schnepel beim Aussteigen aus dem

3321 Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 110; Kopp 2007, S. 109; Kram/Fanizadeh/Villin­ ger 2010. 3322 Vgl. Klein 1979a, S. 210. 3323 Klein/Der Spiegel 1978, S. 81. 3324 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 287. 3325 Vgl. Klein 1979a, S. 210. 3326 Ebd. 3327 Vgl. Oey 2006, 50:34 Min.-50:50 Min. 3328 Vgl. Klein/Libération 1978, S. 287.

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7.2 Aktionsphase

Wagen gesehen. Klein wäre daraufhin fluchtartig in seinen Unterschlupf zurückgekehrt und habe seinen Revolver an sich genommen. Anschlie­ ßend sei er zu dem Ort gelaufen, an dem er das Fahrzeug gesichtet hat­ te.3329 In seiner Autobiographie gab er zu, er habe Weinrich und Schnepel verdeutlichen wollen, „dass ich doch nicht ganz so blöd bin, wie sie sich das anscheinend vorgestellt hatten.“3330 Klein war offenbar davon ausge­ gangen, einem Hinterhalt entkommen zu sein. Zu einem Zusammenstoß kam es nicht, da Weinrich und seine Gefährten die Umgebung inzwischen verlassen hatten.3331 Ob eine und welche Gefahr für Klein tatsächlich be­ stand, lässt sich anhand der (Primär‑)Quellen nicht seriös abschließend beantworten. Das B2J‑Mitglied Till Meyer gab in seinem Selbstzeugnis eine Unterhaltung mit den Aktivistinnen der „Bewegung 2. Juni“ wieder, denen Klein erstmals 1976 im Südjemen begegnet war. Darin sollen sie zu Klein dargelegt haben: „Der Arsch, der […], die RZ war schon hinter ihm her, aber er ist ihnen noch gerade entwischt.“3332 Schnepel schilderte 2001 in einem Interview nicht nur einen differenten Ablauf der Ereignisse im April 1977 in Italien, er machte auch anderslautende Angaben zum Zweck der Verabredung.3333 Zweifel an Kleins Ausführungen streute auch Thomas Kram, der hinsichtlich der Beziehungen zwischen Klein, Schnepel und Weinrich anmerkte: „Gibt man jemandem eine Waffe, den man um­ bringen will?“3334 Klein verließ das Aostatal und reiste nach Mailand. Hier verfasste er einen an das Büro des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ in Rom adres­ sierten Brief, auf dem er zur Authentifizierung Fingerabdrücke aufbrachte. Seinen Revolver fügte er bei.3335 In dem am 9. Mai 1977 veröffentlichten Schreiben rechnete Klein mit seinem Leben in der Illegalität ab. Der Aus­ gang des Überfalls auf die OPEC-Konferenz im Dezember 1975 sowie die aus ihm gezogenen Konsequenzen hätten ihn ins Zweifeln gebracht. Die damals in seinem Umfeld vorherrschende Sicht auf die in Wien getöteten Personen habe er als zynisch und gefühlslos, die weitere Kooperation der „Revolutionären Zellen“ und der „Special Operations Group“ der „Popu­

3329 3330 3331 3332 3333 3334 3335

Vgl. ebd., S. 288; Klein 1979a, S. 13, 97-98. Klein 1979a, S. 98. Vgl. ebd. Ingrid Siepmann/Inge Viett, zit. n. Meyer 2008, S. 387. Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 109. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Der Spiegel 1978b, S. 68; Klein1979a, S. 210-211; Kraushaar 2006c, S. 598-599.

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lar Front for the Liberation of Palestine“ als ekelerregend begriffen.3336 Aktionen, welche ausschließlich das Verhältnis zu den Palästinensern wah­ ren sollten und „im Kern schon fast faschistisch“3337 gewesen wären, sei ein revolutionärer Anstrich gegeben worden. Diesem Muster entsprächen auch die vorgesehenen Anschläge auf Heinz Galinski und Ignaz Lipinski, die er mit seinem Brief an den „Spiegel“ abzuwenden suche. Beide Atten­ tate dienten „zu nichts anderem […], als wieder bei einer Organisation [der PFLP-SOG] lieb Kind zu machen, bei der man in der letzten Zeit durch einige Pannen unliebsam aufgefallen ist und der man es schon länger versprochen hatte.“3338 Ihre Vorbereitungen würden energisch vor­ angetrieben werden; die Ausführung sei in nächster Zeit zu erwarten.3339 Ihm sei bewusst, welcher Gefahr er nunmehr gegenüberstehe: „Die [Gue­ rilla] wird suchen, nach mir.“3340 In dieser Situation könne er auf die Unterstützung alter Bekannter bauen, die Klein in seinem Schreiben an den „Spiegel“ kryptisch als „JEMANDE“ bezeichnete.3341 Zu diesen aus der Frankfurter „Spontiszene“ stammenden Aktivisten hatte er bereits im Februar 1977 Kontakt aufgebaut. Beistand leisteten ihm unter anderen Daniel Cohn‑Bendit, Joschka Fischer, Tom Königs und Ralf Scheffler.3342 Klein verschaffte der Öffentlichkeit 1978 durch umfassende Interviews mit der „Libération“ und dem „Spiegel“ sowie 1979 in seiner Autobiographie, die in Auszügen im „Spiegel“ erschien,3343 einen detaillierten Einblick in die „Revolutionären Zellen“ und deren internationale Beziehungen. Un­ terschlupf fand er in Frankreich, wo er eine Frau kennenlernte und Vater zweier Kinder wurde. 1998 verhafteten ihn die französischen Behörden; es folgte seine Abschiebung nach Deutschland. 2001 erhielt er in einem Gerichtsverfahren eine neunjährige Haftstrafe, 2003 wurde er vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen.3344 Hans-Joachim Kleins Selbstzeugnisse sowie die Stellungnahmen der Frankfurter Linken zu seinem Fall, die in der Ausgabe 10/1977 des linksex­

3336 3337 3338 3339 3340 3341 3342

Vgl. Klein 1977, S. 33. Ebd., S. 34. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Kahl 1986, S. 146-147; Backes 1991, S. 154; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 92; Schnepel/Wetzel 2001, S. 110. 3343 Vgl. Klein 1979b; Klein 1979c; Klein 1979d. 3344 Vgl. Friedrichsen 2000, S. 64; Friedrichsen 2001a, S. 36; Siemens 2006, S. 365-366.

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tremistischen Periodikums „Pflasterstand“ offen die Möglichkeit einer „Li­ quidation von Jochen [Klein] und […] [einer] Hatz auf seine Helfer“3345 ansprach und mit einer Nennung von Namen aus dem Linksterrorismus drohte,3346 zwangen die „Revolutionären Zellen“ zum Handeln. Laut Kopp sahen Mitglieder der RZ in Kleins Angaben „einen Hass auf die Gruppe […], der uns unverständlich war.“3347 Seinen Ausstieg hätten sie intern als Inszenierung gewertet, welche auf „falschen Anschuldigungen und Drohungen“3348 basiere. Sie wären überzeugt gewesen, er habe sich von Frankfurter „Spontis“ mit dem Ziel instrumentalisieren lassen, die „Stadtguerilla“ in Misskredit zu bringen.3349 Diese Positionen gossen sie in ein Papier, das sich ab Mai 1977 unter dem metaphorischen Titel „Die Hunde bellen, und die Karawane zieht weiter“ verbreitete. Einlei­ tend konstatierten die Autoren, sie seien betroffen, wäre es ihnen doch nicht gelungen, Kleins Rolle in den RZ gemeinsam mit ihm ausreichend reflektierend zu diskutieren. Im Weiteren hielten sie fest, Mitglieder des Netzwerkes könnten jederzeit aus dem „bewaffneten Kampf“ aussteigen, ohne den Vorwurf des Verrats oder andere, gravierendere Konsequenzen fürchten zu müssen. Sie würden weiterhin die Unterstützung der „Revolu­ tionären Zellen“ erhalten. Problembehaftet wirke die Abkehr Kleins, weil sie zum einen das Bekanntwerden von Details aus dem Innenleben der RZ befürchten ließe3350 und zum anderen den „JEMANDEN“ ein Werk­ zeug zur Verfügung stelle, mit dem sie „endlich, endlich der Stadtguerilla den Garaus […] machen“3351 wollen. Den „JEMANDEN“ ginge es nicht darum, sich mit der ideologischen Agenda der „Revolutionären Zellen“ zu befassen. Dies zeige sich exemplarisch an dem geplanten Anschlag auf Heinz Galinski: „[S]tatt zu überlegen, welche Rolle Galinski spielt für die Verbrechen des Zionismus, für die Grausamkeiten der imperialistischen Armee Israels […], und: was man in einem Land wie dem unseren dage­ gen machen kann“3352, würden sie „dem behaupteten (antisemitischen?)

3345 Redaktion der Zeitung Pflasterstrand 1977, S. 237. 3346 Vgl. Brief eines Jemand 1977, S. 239. Vgl. auch Schnepel/Wetzel 2001, S. 110; Wörle 2008b, S. 269. 3347 Kopp 2007, S. 109. 3348 Ebd., S. 108. 3349 Vgl. ebd. 3350 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 193-194. 3351 Ebd., S. 194. 3352 Ebd., S. 195.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Faschismus der RZ und ihrer Hintermänner“3353 nachgehen. Im Novem­ ber 1978 – nach dem Erscheinen der Gespräche Kleins mit „Libération“ und „Spiegel“ – legten die „Revolutionären Zellen“ weitere Kritik nach. In ihrem Text „Hunde, wollt ihr ewig bellen…“ hieß es: „Er [Klein] schwätzt, klatscht, bewundert sich, betreibt Public Relati­ on in eigener Sache – ein Pfau, der das Radschlagen übt. Er hat das Spektakel gesucht und ist längst in die Mühlen des Showgeschäfts geraten: er weiß, dass er sein Publikum nur halten kann, wenn er ständig was Neues zu bieten hat.“3354 Neben der Reaktion auf die Enthüllungen Hans-Joachim Kleins führten die RZ im Frühjahr und Sommer 1977 die bisherige propagandistische Arbeit in der Bundesrepublik fort. Ihre auf Konfliktthemen der deutschen Gesellschaft bezogene strategische Linie unterstrichen sie zudem mit neu­ en Anschlägen. Die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Bu­ back Anfang April 1977 in Karlsruhe durch Angehörige der „Roten Ar­ mee Fraktion“ griffen „Revolutionäre Zellen“ in mehreren Papieren auf. Eine RZ legte dar, Buback trage die Verantwortung für „die Morde an Ulrike Meinhof, Holger Meins, Siegfried Hausner“3355. Sein Tod verleihe dem „Kampf“ „politischer Gefangener“ in Westdeutschland Nachdruck. Die Erklärung gipfelte dementsprechend in dem Imperativ: „Schafft viele Bubacks!“3356 In dem Text einer anderen „Revolutionären Zelle“ fiel die positive Wertung zur Aktion in Karlsruhe deutlicher aus: Da der Anschlag den „Mythos von der Unverletzlichkeit des Polizeistaates ins Wanken“3357 gebracht hätte, sei er richtig und gelungen.3358 Einen Monat nach der Veröffentlichung dieser Stellungnahmen verteilten die RZ die dritte Aus­ gabe ihres Sprachrohrs „Revolutionärer Zorn“, in der sie erneut Unterdrü­ ckungsmechanismen in der deutschen Gesellschaft skizzierten und zum Bruch mit derselben aufriefen.3359 Als Zeichen gegen „Vergewaltiger in weißen Kitteln, die sich über unser Selbstbestimmungsrecht hinwegsetzen und mit unseren Körpern Profit machen“3360, attackierten weibliche Mitglieder der „Revolutionären 3353 3354 3355 3356 3357 3358 3359 3360

Ebd. Ebd., S. 202. Ebd., S. 160. Ebd., S. 161. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 166-167. Ebd., Band 2, S. 606.

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7.2 Aktionsphase

Zellen“ am 28. April 1977 den Sitz der Bundesärztekammer in Köln. Anschließend erschien ein Bekennerschreiben, in dem sie sich erstmals – als Folge des ab 1975 zunehmenden Eindrucks, von den männlichen Aktivisten nicht ausreichend repräsentiert zu werden3361 – mithilfe der Selbstbezeichnung „Rote Zora“ (RZo) hervorzuheben suchten.3362 Im Mai 1977 setzten die RZ in Westberlin die Fahrzeuge eines Staatsanwalts sowie eines Richters in Brand. Ende Juni 1977 begingen sie einen Brandanschlag auf das Verwaltungsgebäude der Berliner Verkehrsbetriebe. Zerstört wer­ den sollten damit die Aufzeichnungen zu Personen, die ohne gültigen Fahrschein den öffentlichen Personennahverkehr genutzt hatten.3363 Am 22. und 30. August 1977 kam es zu Angriffen gegen private Firmen in Nürnberg und Frankenthal. Getroffen wurden Liegenschaften der „Ma­ schinenfabrik Augsburg‑Nürnberg“ (MAN) sowie der Aktiengesellschaft „Klein, Schanzlin & Becker“.3364 Beide Aktionen verknüpften die RZ mit dem „imperialistischen Atomgeschäft und dessen staatliche[r] Unterstüt­ zung“3365. Der durch Gerhard Albartus‘ Verhaftung und Kleins Bekundungen ge­ schwächte internationalistische Flügel der „Revolutionären Zellen“ hielt unverändert an seinem Willen fest, Kontakte ins Ausland zu festigen. Wäh­ rend sich Gerd-Hinrich Schnepel aufgrund seiner Mitwirkung im „Politla­ den Gaiganz“ in einem Strafverfahren dem Vorwurf des Verstoßes gegen das Bayerische Pressegesetz, das Waffengesetz sowie das Strafgesetzbuch ausgesetzt sah,3366 entschied sich Johannes Weinrich, gänzlich auf einen „Weg zurück in ein legales Leben“3367 in Deutschland zu verzichten. Im Frühsommer 1977 stattete er seiner Familie in Bochum letztmalig einen Besuch ab.3368 Wohl nach Juli 1977 soll er über die Schweiz nach Algeri­ en ausgereist sein. In Algier sei es zu einem Wiedersehen zwischen ihm und dem international gesuchten Linksterroristen Ilich Ramírez Sánchez

3361 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 83-84. 3362 Vgl. Rabert 1995, S. 205; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Die „Rote Zora“ wird offenbar größeren Raum in dem vom Historiker Vojin Saša Vukadinović geplanten Werk zum Netzwerk der RZ einnehmen. 3363 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 118. 3364 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 353-354. 3365 Ebd., S. 354. 3366 Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 111; Sonnenberg 2016, S. 398. 3367 Kopp 2007, S. 110. 3368 Vgl. Siemens 2006, S. 369.

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gekommen,3369 dessen Verhältnis zu Wadi Haddad sich nach dem Überfall auf die Konferenz erdölexportierenden Staaten im Dezember 1975 zuneh­ mend verschlechtert haben soll. Aufgrund des desolaten Ausgangs der Gei­ selnahme war Haddad laut Kopp dazu übergegangen, „Carlos“ aus weite­ ren Aktivitäten der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ auszuschließen.3370 Daraufhin hatte sich Sánchez – angeblich – im Mai 1976 von der PFLP-SOG gelöst.3371 Weinrich sei in der algerischen Hauptstadt gemeinsam mit „Carlos“ und Ali Kamal Al Issawi – einem ehemaligen PFLP‑Mitglied, das sich gleichermaßen mit Haddad zerstritten habe – in eine Wohnung gezogen. Mit Sánchez und Al Issawi habe Weinrich unter anderem Diskussionen geführt,3372 in denen er sein Augenmerk primär auf „die RZ und politische Veränderungen in Deutsch­ land und Europa“3373 gelegt hätte. „Carlos“ hingegen habe „über die Weltpolitik und eine neue Gesellschaftsordnung frei von Rassismus und Unterdrückung“3374 gesprochen, Al Issawi das Herstellen einer arabischen Einheit in den Fokus gerückt. Aufrechterhalten konnte Weinrich seine Beziehung zu Magdalena Kopp, die mit einem von Gerd-Hinrich Schnepel beschafften gefälschten Pass nach Algerien gereist sei. Den von ihm und Sánchez geäußerten Vorschlag, ebenfalls im Maghreb unterzutauchen, will sie eigenen Aussagen zufolge zunächst mit Rücksicht auf ihre Tochter abgelehnt haben. Kopp sei nach Deutschland zurückgekehrt, wo sie eine Anstellung in einer Werbeagentur gefunden habe. Im Privatleben hätte sie unverändert den Austausch mit anderen Mitgliedern der „Revolutionären Zellen“ gesucht.3375 Weinrich und „Carlos“ sollen schließlich in den Irak gereist sein.3376 Laut Kopp hatte Weinrich zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls mit der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ gebrochen.3377 Dem widersprechen allerdings An­ gaben des RAF‑Mitglieds Peter-Jürgen Boock, denen zufolge Weinrich im Herbst 1977 in Bagdad erneut Berührungspunkte mit Wadi Haddad gehabt hätte. Boock und Brigitte Mohnhaupt seien von Weinrich Anfang

3369 Vgl. Kopp 2007, S. 110-111. 3370 Vgl. ebd., S. 100. 3371 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 78. Vgl. auch Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Wunschik 2018, S. 89. 3372 Vgl. Kopp 2007, S. 112-113. 3373 Ebd., S. 113. 3374 Ebd. 3375 Vgl. ebd., S. 112-113, 115. 3376 Vgl. ebd., S. 117. 3377 Vgl. ebd., S. 112.

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7.2 Aktionsphase

Oktober 1977 auf Wunsch des Anführers der PFLP‑SOG in der irakischen Hauptstadt aufgesucht worden. Weinrich habe ausgerichtet, Haddad stelle sich die Frage, aus welchen Gründen die „Rote Armee Fraktion“ in der Phase der Schleyer‑Entführung bislang nicht die Unterstützung der Paläs­ tinenser gesucht habe. Mohnhaupt hätte erwidert, sie nehme Weinrichs Nachricht zur Kenntnis und werde diese bei nächster Gelegenheit mit Wadi Haddad besprechen. Boock empfand das Auftreten Weinrichs als ausgesprochen negativ. Er beschrieb ihn rückblickend als „Ekeltype“3378, deren äußeres Erscheinungsbild einen unübersehbaren Gegensatz zu der im Irak allgegenwärtigen Armut gebildet haben soll.3379 Im Herbst und Winter 1977 bestimmten die Aktionen der „Roten Armee Fraktion“ sowie der Tod Andreas Baaders, Gudrun Ensslins und Jan-Carl Raspes die Diskussionen im undogmatischen Linksextremismus. Szeneblätter, wie zum Beispiel der „Pflasterstrand“ und das „info BUG“, boten ein Forum, in dem unter anderen Ableger der „Roten Hilfe“ im Oktober 1977 die Aktivitäten der Zweiten Generation der RAF expressis verbis verurteilten. Nach dem Selbstmord der Gründer der „Roten Ar­ mee Fraktion“ in der JVA Stuttgart-Stammheim ging die kritische Wür­ digung linksterroristischer Aktionen laut Einschätzung des Verfassungs­ schutzes spürbar zurück. An ihre Stelle traten Debatten, in denen Mittel und Wege des politischen Widerstands erörtert wurden.3380 Die RZ sahen in diesem Zeitraum von weiteren Anschlägen ab. Vor der Entführung Hanns Martin Schleyers hatten sie an der vierten Ausgabe ihrer Zeitschrift „Revolutionärer Zorn“ gearbeitet. Die darin kursorisch niedergelegte Auf­ fassung, das politische System der Bundesrepublik mache inzwischen er­ kennbar von faschistischen Herrschaftsmethoden Gebrauch,3381 manifes­ tierte sich innerhalb der „Revolutionären Zellen“ unter dem Eindruck des „Deutschen Herbstes“ und seiner Folgen. Indes nahmen sie dies nicht zum Anlass, bereits fertig gestellte Textbeiträge für den „Revolutionären Zorn“ grundlegend inhaltlich zu verändern. Im Januar 1978 brachten sie die vierte Ausgabe in Umlauf, welche die Haltung der RZ zur „Offensive `77“ der RAF lediglich in einem Vorwort aufgriff. Ausdruck verliehen sie ihrem „Schmerz“, den der Tod Baaders, Ensslins und Raspes verursacht hatte. Außerdem erklärten sie, der Faschismus sei in der Bundesrepublik nicht

3378 3379 3380 3381

Peter-Jürgen Boock, zit. n. Bönisch 1997, S. 60. Vgl. ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 116-117. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 240-242.

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als punktuelle Erscheinung,3382 „sondern als grundsätzliche Lösungsstrate­ gie gegenüber allen gesellschaftlichen Widersprüchen vorhanden.“3383 Be­ denklich wäre in diesem Kontext, „dass wir in einem Land leben, in dem sich die Menschen mit antifaschistischem Widerstand schwerer tun als ir­ gendwo sonst.“3384 Mit diesem Vorwurf nahmen sie Bezug auf die Haltung des undogmatischen Linksextremismus, der infolge der staatlichen Terro­ rismusbekämpfung im Herbst 1977 zwar die Notwendigkeit des Handelns erkannt, hieraus aber keine ernstzunehmenden Konsequenzen gezogen habe.3385 Die weiteren Passagen der vierten Ausgabe widmeten sich einer „weltweiten Offensive des transnationalen Kapitals“3386, in der die Bundes­ republik eine Vormachtstellung in Europa anstrebe und es zur „Entwick­ lung einer neuen internationalen Arbeitsteilung“3387 komme. Als Antwort auf diese Prozesse müsse versucht werden, „ein immer dichteres Netz von großen und kleinen Aktionen“3388 herzustellen, sich „zu formieren und zu bewaffnen“3389. „Das meint […] die Parole: ‚Schafft viele revolutionäre Zellen.‘“3390 1978 gelang es den RZ, ihre Gewalthandlungen zu intensivieren. In seinem Jahresbericht rechnete das Bundesamt für Verfassungsschutz dem Netzwerk insgesamt 28 Anschläge zu. Zu Beginn des Jahres trafen Ak­ tionen der „Revolutionären Zellen“ insbesondere Objekte und Personal regionaler Anbieter des öffentlichen Personennahverkehrs.3391 So protes­ tierten sie im März 1978 unter anderem mit einem Brandanschlag auf das Fahrzeug von Fahrscheinkontrolleuren gegen die Preispolitik des „Frank­ furter Verkehrsverbundes“.3392 Einem ähnlichen Zweck diente ein Angriff gegen die Wiesbadener Stadtwerke.3393 Neben dem Verteilen einer wei­ teren Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ mit praktischen Ratschlägen zum gewaltsamen Widerstand verzeichneten die Sicherheitsbehörden im April 1978 einen Bombenanschlag auf die für Ausländer zuständige Abtei­ 3382 3383 3384 3385 3386 3387 3388 3389 3390 3391 3392

Vgl. ebd., S. 221-223. Ebd., S. 222. Ebd., S. 223. Vgl. ebd., S. 222-223. Ebd., S. 225. Ebd., S. 227. Ebd., S. 246. Ebd. Ebd., S. 247. Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 117. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 128. 3393 Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 117.

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lung der Polizei- und Ordnungsbehörde Frankfurt am Mains. Motiv war das – vermeintliche – Diskriminieren ausländischer Staatsbürger in der Bundesrepublik. Fahrzeuge des Verlages „Axel Springer“ zündeten Aktivis­ ten des Netzwerks am 1. Mai 1978 an. Wenige Tage später traf eine Aktion die Sicherheitsfirma „Wachkommando Niedersachsen GmbH“, welche für das Überwachen von Nuklearanlagen verantwortlich zeichnete und daher nach Auffassung der „Revolutionären Zellen“ Teil des „Atomwahns“3394 in Westdeutschland sei. Es folgten Sprengstoffanschläge auf die Unterkunft des Mainzer Sozialdezernenten sowie das Heidelberger Schloss. Beide le­ gitimierten die RZ anhand – angeblich – untauglicher städtischer Sanie­ rungsvorhaben. Am 31. Mai 1978 richtete sich das Netzwerk gegen das „American Arms Hotel“ in Wiesbaden, im Juni 1978 gegen das Wiesbade­ ner Offizierscasino der US-Streitkräfte und am 20. Juli 1978 gegen die israelische Firma „Agrexco“ in Frankfurt am Main.3395 Letzte werfe – so die schriftliche Begründung der „Revolutionären Zellen“ – Profite ab, mit denen der Staat Israel „seinen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser finanziert.“3396 Dessen Regierung setze auf die „Vertreibung, Verfolgung und Ausrottung eines ganzen Volkes […], was seine Entsprechung hatte in der Blut- und Boden-Politik der Nazis“3397. Wie die Täter in ihrem Bekennerschreiben abschließend vermerkten, reihe sich der Anschlag auf „Agrexco“ ein in das Aktionsfeld des Antizionismus, dem das Zurückdrän­ gen antisemitischer Positionen inhärent sei.3398 „Denn genauso wie er die faschistischen Verbrechen bekämpft, bekämpft er die Verbrechen des israe­ lischen Staates an den Palästinensern, die selbst Semiten sind.“3399 Einen Tag nach dem Angriff auf das israelische Unternehmen zündeten die RZ im Sitz der „Nordwestdeutschen Kraftwerke“ in Lübeck eine Brandbom­ be.3400 Im September 1978 führten sie eine Aktion gegen ein Gelände aus, auf dem die US-amerikanische Armee eine Kaserne errichten ließ.3401

3394 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 354. 3395 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 117-118; ID-Archiv im Internatio­ nalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 371. 3396 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 131. 3397 Ebd., S. 132. 3398 Vgl. ebd. 3399 Ebd., S. 132-133. 3400 Vgl. ebd., S. 354-355. 3401 Vgl. ebd., S. 372-373.

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Aus der Anschlagsserie der „Revolutionären Zellen“ im Jahre 1978 sta­ chen zwei Aktionen besonders hervor: die Angriffe am 31. Mai 1978 auf die Rechtsanwälte Dietmar Hohla und Eckard Krummheuer,3402 die inhaf­ tierten Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ im sogenannten DrenkmannLorenz-Prozess als Pflichtverteidiger Rechtsbeistand leisteten.3403 Ihre her­ ausragende Bedeutung ergibt sich zum einen aus der zeitlichen Nähe zur gewaltsamen Befreiung des B2J‑Aktivisten Till Meyer aus der Haft­ anstalt Berlin-Moabit am 27. Mai 1978,3404 was in den Sicherheitsbehör­ den die Vermutung zu „Absprachen zwischen beiden Gruppierungen“3405 entstehen ließ. Zum anderen bietet die mit beiden Aktionen erreichte Gewaltqualität Grund zur gesonderten Erwähnung. Hohla schossen die RZ am Morgen des 31. Mai 1978 in die Beine; Krummheuer entdeckte wenige Stunden danach eine Sprengvorrichtung an seinem Wagen.3406 Diese Modi Operandi kontrastierten die bisherigen Aktivitäten der „Revo­ lutionären Zellen“, die größtenteils Sachschäden nach sich gezogen hat­ ten. In einem Selbstbezichtigungsschreiben gaben die RZ an, der „Drenk­ mann-Lorenz-Prozess“ füge sich in das Bemühen des deutschen Staates ein, „den bewaffneten sozialrevolutionären Kampf zu kriminalisieren“3407. Die Attentate sollten beigeordneten Verteidigern vor Augen führen, „dass sie nicht auf Kosten der gefangenen Genossen das große Geld kassieren können.“3408 Das Schreiben endete mit den Worten: „Solidarität mit den Gefangenen!“3409 Das Jahr 1978 blieb nicht ohne Rückschläge. Im Juni bestätigte sich, was die RZ in der „Praxis‑Sondernummer“ des „Revolutionären Zorns“ – erschienen im April 1978 – zu den Vorzügen ihrer zellulären Struktur demonstrativ festgehalten hatten: „[D]as einzige, was einem das Kreuz brechen kann, ist ein dicker Fehler oder ein gottverdammter Zufall.“3410 Ein derart „schwere[r] Schlag“3411 trat während der Vorbereitung eines Angriffs auf das Konsulat Argentiniens in München ein. Das RZ-Mitglied

3402 3403 3404 3405 3406 3407 3408 3409 3410 3411

Vgl. Horchem 1987, S. 11. Vgl. Meyer 2008, S. 384. Vgl. Dietrich 2009, S. 135. Kahl 1986, S. 110. Ähnlich Horchem 1988, S. 92. Vgl. Der Spiegel 1978a, S. 34; Bundesministerium des Innern 1987, S. 135. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 163. Ebd., S. 164. Ebd. Ebd., Band 2, S. 638. Kopp 2007, S. 117.

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Herman Feiling, zu diesem Zeitpunkt Student der Germanistik, Pädago­ gik und Philosophie, überprüfte am 23. Juni 1978 in der Heidelberger Schneidmühlstraße die Funktionsfähigkeit eines präparierten Sprengsat­ zes. Als er den Zündmechanismus komplettierte, detonierten die verbau­ ten Explosivmittel. Feiling überlebte die Sprengung, zog sich allerdings schwerwiegende Verletzungen zu. Im Krankenhaus entfernten ihm die behandelnden Ärzte Augen und Beine. Bereits am Tag darauf begannen die Strafverfolgungsbehörden, den mit Schmerzmitteln sedierten Aktivis­ ten zu befragen – ein Vorgehen, welches das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ 1980 als „Tiefpunkt bundesdeutscher Rechtspflege“3412 und Ver­ letzung der verfassungsrechtlich verankerten Unantastbarkeit der Men­ schenwürde brandmarken sollte. Insgesamt sei es zu vierzig Gesprächen zwischen Feiling und den Ermittlern gekommen. Die Aufzeichnungen der Befrager hätten annähernd 1300 Seiten umfasst und wertvolle Einblicke in die bis dahin „kaum bekannte[n]“3413 und „mächtig unterschätzt[en]“3414 „Revolutionären Zellen“ geliefert.3415 Feiling habe dargelegt, er bilde ge­ meinsam mit vier weiteren Personen in Heidelberg eine RZ, welche sich seit nunmehr einem Jahr vornehmlich mit der politischen Situation in Ar­ gentinien befasst habe. Die Verantwortung übernahm er für den Anschlag auf das Heidelberger Schloss im Mai 1978, an dem seine Freundin Sybille Straub sowie drei Aktivisten aus Frankfurt am Main mitgewirkt hätten. Der Unfall in der Schneidmühlstraße ermöglichte den Sicherheitsbehör­ den, logistische Strukturen der „Revolutionären Zellen“ offenzulegen.3416 Zur Beschaffung von Waffen hatten sie Kontakte zur baskischen Organisa­ tion ETA herstellen wollen. Materielle Hilfe leistete offenbar die „Rote Armee Fraktion“.3417 Die erlangten Materialien verstauten sie in konspira­ tiv angelegten Depots. Eines dieser Lager entdeckte die Polizei an der Bismarcksäule in Heidelberg. Darin befanden sich „kiloweise Handgrana­ ten, Sprengzünder, Sprengstoff und mehrere Tausend Schuss Pistolen- und MP‑Munition.“3418 Überdies kam es zur Festnahme Straubs sowie des RZMitglieds Sylvia Herzinger. Während die Justiz das Ermittlungsverfahren gegen Feiling einstellte und 1980 Herzinger in einem Gerichtsverfahren 3412 3413 3414 3415

Der Spiegel 1980f, S. 136. Ähnlich Kraushaar 2006c, S. 598. Bundesministerium des Innern 1979, S. 118. Klein/Der Spiegel 1978, S. 79. Vgl. Der Spiegel 1980f, S. 136-137; Horchem 1986, S. 16; Horchem 1988, S. 87; Backes 1991, S. 89; Rabert 1995, S. 200. 3416 Vgl. Der Spiegel 1978c, S. 38-39. 3417 Vgl. Kahl 1986, S. 108-109. 3418 Der Spiegel 1978c, S. 39.

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freisprach, erhielt Straub eine Bewährungsstrafe von 15 Monaten.3419 Fei­ ling hatte zuvor seine Aussagen aus dem Jahre 1978 mit der Begründung widerrufen, diese seien „Ergebnis einer Behandlung, die den Namen Folter verdient.“3420 Einen weiteren unvorhergesehenen Einbruch in der Logistik verzeichne­ ten die „Revolutionären Zellen“ im September 1978. Ein Hinweis aus der Bevölkerung machte den Staatsschutz auf eine Wohnung in der Dotzhei­ mer Straße in Wiesbaden aufmerksam, in der die RZ Waffen abgelegt hatten.3421 Im Zuge einer Durchsuchung beschlagnahmten sie aus Waffen­ beständen der US-Armee entwendete Sturmgewehre des Typs M16, eine „Skorpion“‑Maschinenpistole, Pistolen, vier Handgranaten sowie knapp 700 Schuss Munition.3422 Um weitere Erfolge der Strafverfolgungsbehör­ den verhindern zu können, lösten die RZ Waffenverstecke auf.3423 Deren Inhalte – „vielfältiges Kriegsgerät aus Nato-Beständen, aus Polen und dem Irak“3424 – brachten sie in neuen Depots unter. Zu diesem Zweck erkunde­ ten sie bei „ortserfahrenen Sympathisanten Kellerverstecke, Gartenhäuser und Bunker“3425. Darüber hinaus tauchten 1978 insgesamt 14 Personen aus dem Umfeld Feilings in die Illegalität ab,3426 darunter Sabine Eckle, Christian Gauger, Rudolf Raabe, Rudolf Schindler und Sonja Suder.3427 Eckle und Schindler verlagerten ihren Lebensmittelpunkt schließlich nach Westberlin, wo sie weiterhin für die RZ aktiv waren.3428 Raabe, dem die Polizei Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung vorwarf, floh nach Irland. 1980 bekundete er in einem Interview mit einer Illus­ trierten, er wolle nach Deutschland zurückkehren. Ausdrücklich distan­ zierte er sich vom „bewaffneten Kampf“. Im Juni 1980 erfolgte seine Fest­ nahme in der Bundesrepublik. Der gegen ihn gerichtete Prozess erbrachte keine belastbaren Beweise für seine Mitgliedschaft in den „Revolutionären Zellen“. Als bestätigt sah das Gericht lediglich eine Urkundenfälschung, 3419 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 676; Kraushaar 2006c, S. 598; Feiling/Diehl/Linden 2008. 3420 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 679. 3421 Vgl. Bundesministerium des Innern 1979, S. 118. 3422 Vgl. Kahl 1986, S. 140-141, 147; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 84. 3423 Vgl. Der Spiegel 1978e, S. 105. 3424 Der Spiegel 1978e, S. 105. 3425 Ebd. 3426 Vgl. ebd., S. 108; Bundesministerium des Innern 1980, S. 106. 3427 Vgl. Der Spiegel 1979c, S. 29; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozial­ geschichte 1993, Band 2, S. 680; Bayer 2001. 3428 Vgl. Schindler 2002; Dietrich 2009, S. 154.

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die Raabe eine Geldstrafe in Höhe von 1800 DM einbrachte.3429 Christian Gauger und Sonja Suder dagegen kamen in Frankreich unter. 2011 liefer­ ten die französischen Behörden beide nach Deutschland aus.3430 Den Pro­ zess gegen Gauger stellte die Justiz aufgrund permanenter Verhandlungs­ unfähigkeit ein; Suder verurteilte sie zu drei Jahren und sechs Monaten Haft. Grundlage dieses Urteils war ihre Beteiligung an den Anschlägen auf MAN und die Firma „Klein, Schanzlin & Becker“ im August 1977 sowie an dem Angriff auf das Heidelberger Schloss im Mai 1978.3431 Während die „Revolutionären Zellen“ in Deutschland zusehends in den Fokus der Strafverfolgung gerieten, erreichte die ab Mitte 1976 beobacht­ bare Schwächephase der internationalistischen Strömung des Netzwerks ihren vorläufigen Höhepunkt. Ausschlaggebend für diesen Prozess war der Austritt ihrer bedeutendsten Verfechter aus den RZ – darunter der Aktivist Gerd‑Hinrich Schnepel, der ebenso wie Magdalena Kopp die Ver­ bindungen zu „Carlos“ und Johannes Weinrich gepflegt haben soll.3432 Schnepel gelangte in einer – angeblich – ab Juli 1976 geführten gedankli­ chen Auseinandersetzung mit den Perspektiven gewaltsamen politischen „Widerstands“ zu einem Endpunkt, der vermutlich im Jahre 1978 seinen Ausstieg bedingte. Er sei überzeugt gewesen, die Aktivitäten der RZ könn­ ten nicht zu einem Erfolg führen. Die Übermacht des als „politischer Gegner“ wahrgenommenen deutschen Staates würde entweder in der Ver­ haftung oder im Tod ihrer Mitglieder münden. Notwendig waren aus seiner Sicht alternative Formen des politischen Widerstands. Als vielver­ sprechend habe ihm die im Entstehen begriffene „Ökologie‑Bewegung“ gegolten. Aus dieser Haltung ergab sich augenscheinlich der Entschluss, in der biologisch verträglichen Landwirtschaft aktiv zu werden. Eigenen Angaben zufolge stellte Schnepel seine Absicht auf einem überregionalen Treffen der „Revolutionären Zellen“ zur Debatte. Die von ihm vertretene Position habe nicht uneingeschränkten Zuspruch erfahren, sei jedoch ak­ zeptiert worden.3433 „Und dann ging ich eben nicht mehr hin“3434, so Schnepel.

3429 Vgl. Der Spiegel 1982a, S. 82, 84, 87; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 681. 3430 Vgl. Spiegel Online 2012. 3431 Vgl. Beucker 2013. 3432 Vgl. Kopp 2007, S. 117. 3433 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Schnepel/Wetzel 2001, S. 111, 113-114; Kopp 2007, S. 108, 118. 3434 Schnepel/Villinger/Vogel 2000.

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Bevor er in den 1980er Jahren nach Lateinamerika auswanderte,3435 stand Schnepel eigenen Angaben zufolge „aus Sicherheitsgründen“3436 weiterhin in Kontakt mit „Carlos“ und Johannes Weinrich.3437 Nach dem Tod Wadi Haddads am 28. März 1978 in Ostberlin und den sich anschlie­ ßenden Diadochenkämpfen in den Reihen der PFLP‑SOG verfestigte sich deren Absicht, gemeinsam mit Ali Kamal Al Issawi eine eigenständige Gruppe ins Leben zu rufen.3438 Diese Überlegungen mündeten 1979 in der „Organisation Internationaler Revolutionäre“ (OIR) unter Leitung Ilich Ramírez Sánchez‘,3439 welche angeblich binnen kurzer Zeit bis zu 40 Per­ sonen an sich binden konnte.3440 Zu den Mitgliedern zählte auch Magdale­ na Kopp, die Ende 1978 im Anschluss an ein Treffen mit Johannes Wein­ rich nach Bagdad ausgereist war.3441 Weinrich – „rechte Hand“3442 von „Carlos“ – knüpfte an die OIR die Hoffnung, „an die Schaltzentralen der Macht […] kommen“3443 zu können. Er „formulierte [dabei] nach wie vor den Anspruch, RZ-Mitglied zu sein, und verstand sich als Vertreter der RZ in der Carlos-Gruppe“3444, was Thomas Kram zufolge „im ziemlichen Gegensatz [stand] zu den Diskussionen, die […] innerhalb der RZ geführt wurden.“3445 Erklärtes Ziel der „Organisation Internationaler Revolutionä­ re“ war laut Schmaldienst und Matschke „die Herbeiführung internationa­ ler revolutionärer Veränderungen im Kampf gegen Imperialismus, Faschis­ mus, Zionismus, Rassismus und Kolonialismus.“3446 In der Zeit nach ihrer Gründung baute sie offenbar Verbindungen auf zu verschiedenen Regie­ rungen und deren Geheimdiensten. Der Südjemen und Syrien stellten der OIR Diplomatenpässe zur Verfügung. Ostberlin diente ihr zeitweise mit Wissen des Ministeriums für Staatssicherheit als Rückzugsraum.3447 Daneben soll sich die OIR mit terroristischen Gruppen in Europa vernetzt haben, so zum Beispiel mit der „Action Directe“, der ETA und der IRA.

3435 3436 3437 3438 3439 3440 3441 3442 3443 3444 3445 3446 3447

Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 114. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. auch Schmaldienst/Matschke 1995, S. 85-86; Kopp 2007, S. 140. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 36; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 28; Kraushaar 2006c, S. 600; Siemens 2006, S. 371. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 40. Vgl. Kopp 2007, S. 118-120. Wunschik 2018, S. 90. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 371. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Ebd. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 40. Vgl. Siemens 2006, S. 371-372.

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Beziehungen zu den „Revolutionären Zellen“ stützten sich Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre insbesondere auf die RZ‑Aktivisten Chris­ ta‑Margot Fröhlich, Wilhelmine Götting, Thomas Kram und Uwe Krom­ bach.3448 Da Kram 1976 aufgrund seiner leitenden Position im Bochumer „Politischen Buchladen“ mit einem auf § 88a StGB und § 129 StGB ge­ stützten Haftbefehl in den Fokus der Sicherheitsbehörden geraten war,3449 habe er zu diesem Zeitpunkt einen „Sonderstatus als assoziiertes RZ-Mit­ glied“3450 innegehabt: In die konspirativen Strukturen der „Revolutionä­ ren Zellen“ sei er nicht eingebunden gewesen, jedoch hätte er über unver­ ändert bestehende Bekanntschaften „Einfluss auf die politischen Debat­ ten“3451 innerhalb der „Revolutionären Zellen“ genommen. Den Verbin­ dungen einzelner Angehöriger der RZ zu Weinrich3452 sollen in erster Li­ nie persönliche Erwägungen zugrunde gelegen haben.3453 Da er mit Mag­ dalena Kopp und Johannes Weinrich „nicht nur politisch, sondern auch freundschaftlich verbunden war“, so Thomas Kram in der Rückschau, „wollte ich den Kontakt zu ihnen aufrechterhalten, auch wenn es bereits unterschiedliche politische Prioritäten gab.“3454 Vor allem Götting und Fröhlich waren der Gruppe um „Carlos“ mit Kurierdiensten behilflich.3455 Im Gegenzug habe die „Organisation Internationaler Revolutionäre“ den „Revolutionären Zellen“ Waffen und Sprengstoff zugänglich gemacht. An­ geblich soll Weinrich fortwährend versucht haben, weitere Aktivisten der RZ in die Aktivitäten der OIR einzubinden. In Gesprächen habe er argu­ mentiert, es sei ratsam, sich der Gefahr einer Verhaftung frühzeitig durch den Gang in den Untergrund zu entziehen.3456

3448 3449 3450 3451 3452 3453 3454 3455 3456

Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 102, 225. Vgl. Sonnenberg 2016, S. 412. Kram 2009. Ebd. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 69. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 90, 146, 305. Vgl. ebd., S. 84-85; Unsichtbare 2022, S. 67-68.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

7.2.4 Bezug auf Protestbewegungen, Bruch mit der OIR, Debatte anlässlich der „Hepp‑Kexel-Gruppe“, „Offensive“ der „Roten Zora“ (1979 bis 1983) 1979 blickten die „Revolutionären Zellen“ auf weitreichende Veränderun­ gen zurück: Von 1976 an hatten sie eine Vielzahl an Mitgliedern einge­ büßt, welche während der „68er-Bewegung“ und ihres Zerfallsprozesses radikalisiert und in den Aufbau des Netzwerks eingebunden worden wa­ ren. Ein wesentliches strategisches Kernelement – das grenzübergreifende Vernetzen mit gewaltbereiten Akteuren – hatte drastisch an Bedeutung verloren.3457 Die personellen Verluste der vergangenen Jahre kompensier­ ten sie mit einer „neue[n] Rekrutierungswelle“3458. In Westberlin gewan­ nen sie augenscheinlich Aktivisten aus dem Umfeld der zerfallenden „Be­ wegung 2. Juni“.3459 Als potentielle Unterstützer kamen unter anderem Personen „aus der Spontiszene, aus der Gruppe der radikalsten BI-Leute [Aktivisten von Bürgerinitiativen]“3460 in Betracht. Zugleich zogen sie die in den 1970er Jahren politisch wie gesellschaftlich kontrovers diskutierte zivile Nutzung von Kernenergie und die sich an ihr entzündende Protest­ bewegung verstärkt als Ausgangspunkt ihrer Agitation heran.3461 Aus Sicht Johannes Wörles markierte dieser Wandel die Genese einer „‚2. Generati­ on‘ der RZ“3462. Inhaltlich vergleichbar, sprachlich jedoch anderslautend beschrieben 2001 namentlich nicht benannte ehemalige Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ den Ende der 1970er Jahre eingetretenen Um­ bruch in einem Artikel für die Zeitschrift „Jungle World“.3463 Ausdruck der Transformation war zunächst ein abfallendes Aktionsni­ veau der „Revolutionären Zellen“. 1979 blieb eine neue Ausgabe des bislang jährlich erschienenen „Revolutionären Zorns“ aus;3464 lediglich ein Artikel in der Nummer 45 des „Pflasterstrands“ aus Januar 1979 gab Aufschluss über die künftigen Vorhaben der RZ. Schwerpunkte darstellen sollten demnach – neben der Debatte um die Kernkraft – die Politik deutscher Gewerkschaften sowie die Lage „politischer Gefangener“ in

3457 3458 3459 3460 3461 3462 3463 3464

Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010; Unsichtbare 2022, S. 80. Bundeskriminalamt, zit. n. Der Spiegel 1978e, S. 111. Vgl. Horchem 1988, S. 96. Revolutionäre Zellen, zit. n. Der Spiegel 1978d, S. 44. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 90. Wörle 2008b, S. 263. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 106.

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7.2 Aktionsphase

der Bundesrepublik.3465 Insgesamt schrieb das Bundesamt für Verfassungs­ schutz dem Netzwerk acht Anschläge zu.3466 Im Frühjahr 1979 verkündete eine „Revolutionäre Zelle in der IGM [Industriegewerkschaft Metall]“, sie habe die Unterkunft des Ersten Vorsitzenden der „IG Metall“ „rund­ herum eingeteert und seinen Garten mit Unkrautvernichtungsmittel be­ handelt“3467. Außerdem sei das Fahrzeug des Zweiten Vorsitzenden der „Industriegewerkschaft Metall“ angegriffen und im Hausflur seines Wohn­ sitzes „eine ordentliche Portion widerlich stinkender Buttersäure“3468 ver­ teilt worden. Eugen Loderer und Hans Mayr, so die Überzeugung der „Revolutionären Zelle“, verfolgten ausschließlich das Ziel, „optimale Be­ dingungen und Strategien für eine bessere Kapitalverwertung – sprich Aus­ beutung – sprich Rationalisierung zu erarbeiten und durchzusetzen.“3469 Ein – vermeintlich – „nicht enden wollende[r] faschistischer Genozid am palästinensischen Volk“3470 bildete den Hintergrund für einen Sprengstoff­ anschlag der „Revolutionären Zellen“ auf das israelische Importunterneh­ men „Hameico“ im Juni 1979 in Frankfurt am Main. Verbunden war mit ihm die an Händler in Deutschland gerichtete Forderung, den Verkauf israelischer Produkte aufzugeben.3471 Im November 1979 trafen die RZ eine Spedition in Hamburg sowie einen Windmessturm, der auf dem geplanten Gelände eines für radioaktives Material vorgesehenen Zwischen­ lagers in Ahaus errichtet worden war.3472 Im Tatbekenntnis verdeutlichten die „Revolutionären Zellen“, das zunehmende Gewinnen von Atomener­ gie sei in der Bundesrepublik nur durch eine „Kombination politischer und militärischer Methoden“3473 zu verhindern. Nach Auffassung des Ver­ fassungsschutzes fand diese Praxis der RZ in den Kreisen militanter Atom­ kraftgegner Nachhall, gingen diese doch ebenfalls dazu über, schriftliche Rechtfertigungen zu ihren Taten abzugeben und Gewaltbereitschaft in der gegen Nukleartechnologie gerichteten Bewegung zu etablieren.3474

3465 Vgl. Kahl 1986, S. 103. 3466 Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 102. 3467 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 519. 3468 Ebd. 3469 Ebd. 3470 Ebd., Band 1, S. 133. 3471 Vgl. ebd. 3472 Vgl. ebd., S. 355. 3473 Ebd., S. 356. 3474 Vgl. Bundesministerium des Innern 1980, S. 107.

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Wachsende Ähnlichkeiten zwischen den „Revolutionären Zellen“ und linksextremistischen Militanten in Ideologie und Taktik konstatierten die Sicherheitsbehörden gleichermaßen für das Jahr 1980.3475 Punktuell traten sogar Gruppen „im Randbereich des Terrorismus“3476 auf, die den Namen des Netzwerkes in Anspruch nahmen. Im Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz war die Rede von einer „Revolutionären Zelle All­ gäu“ und einer „Revolutionären Zelle Lübeck“.3477 Die RZ selbst führten den „Revolutionären Zorn“ fort. Im April 1980 brachten sie eine Ausgabe ihres Periodikums in Umlauf.3478 Zum „[s]ubversive[n] Kampf in der AntiAKW-Bewegung“3479 äußerten sie sich ausführlich in einem Interview, das die linksextremistische Hamburger Zeitschrift „Autonomie“ im Mai 1980 in einem Doppelheft abdruckte.3480 Die RZ gaben zu, den zivilen Einsatz radioaktiver Stoffe vor allem Mitte der 1970er Jahre als nebensächlich gese­ hen zu haben.3481 Der aus ihm resultierende gesellschaftliche Widerstand sei ihnen „fremd“3482, seine „soziale Basis […] sehr suspekt“3483 gewesen. Wesentlich intensiver habe man sich mit dem Tod des RAF-Mitglieds Hol­ ger Meins befasst. Diese Haltung habe sich erst ab Sommer 1977 langsam verändert.3484 Wie in den Jahren zuvor, zeigten die Anschläge der RZ im Jahre 1980 ein breit gefächertes Zielspektrum: Mit Sprengvorrichtungen trafen sie am 6. Januar 1980 die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg sowie am 23. März 1980 das Bundesarbeitsgericht in Kassel. Im Mai 1980 zündeten sie im Kommunikationszentrum des „Deutsch-Amerikanischen Clubs“ in Osterholz-Scharmbeck als Zeichen gegen die „North Atlantic Treaty Organization“ einen Brandsatz.3485 Eine Aktion gegen einen Kölner Advokaten führte die „Rote Zora“ am 13. August 1980 aus, da dieser im

3475 3476 3477 3478 3479 3480 3481 3482 3483 3484 3485

Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 106, 110. Ebd., S. 110. Vgl. ebd. Vgl. Horchem 1988, S. 87. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 340. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 109-110. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 340. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 340-341. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 109.

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7.2 Aktionsphase

Dienst des Immobilienunternehmers Günther Kaußen steigende Mietprei­ se durchsetze.3486 Rückblickend auf die vergangenen acht Jahre zogen die RZ zu Beginn des Jahres 1981 im „Revolutionären Zorn“ eine in Teilen erkennbar selbst­ kritische Bilanz. Begonnen worden sei der „bewaffnete Kampf“ der „Revo­ lutionären Zellen“ mit dem Wissen um „[d]ie Praxis der RAF, aber auch etlicher anderer subversiver Kerne“3487. Die „Rote Armee Fraktion“ habe „mit einem Tabu aufgeräumt, das in diesem Land [der Bundesrepublik] eine lange Tradition hat. Die Organisation revolutionärer Gewalt gegen den totalitären Gewaltanspruch des Staates in allen seinen Formen war wieder richtig und möglich.“3488 Als Vorbilder gedient hätten daneben unter anderen die „Black Panther Party“, die „Euskadi Ta Askatasuna“ sowie die „Irish Republican Army“. Während der 1970er Jahre, so die RZ, stellten sich die an diesen Akteuren orientierten strategischen Überle­ gungen ihrer Aktivisten zusehends als illusorisch dar. Offenbar nicht aus­ reichend berücksichtigt worden seien die Hürden, denen sich die Agenda des Netzwerks in Westdeutschland schlussendlich gegenübersah.3489 „[D]ie objektive Entwicklung hatte einer Praxis bewaffneten Widerstands teilwei­ se den Boden entzogen“3490. Konsequenz dieser Entwicklung sei eine wachsende Kluft zwischen linken Bewegungen und der „Stadtguerilla“ gewesen, „die im Herbst 77 ihren einstweiligen Höhepunkt erreichte.“3491 Die Friktion wiederum habe zu „technischer Spezialisierung“3492, einem internen Zentralisieren sowie zum Aufbau nicht näher benannter „Bünd­ nisse“ geführt, in denen die „Revolutionären Zellen“ Eigenständigkeit eingebüßt hätten.3493 Verstärkt wurden diese Prozesse nach Auffassung der Autoren des „Revolutionären Zorns“ durch eine Herausforderung, der „jede Guerilla verpflichtet ist – dem Problem der Gefangenen.“3494 Das Befreien „politischer Inhaftierter“ habe nicht den Prämissen der auf eine „Massenguerilla“ zielenden Strategie der RZ entsprochen. Vielmehr sei

3486 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 121. 3487 Ebd., S. 276. 3488 Ebd. 3489 Vgl. ebd. 3490 Ebd., S. 277. 3491 Ebd., S. 279. 3492 Ebd., S. 280. 3493 Vgl. ebd., S. 280-281. 3494 Ebd., S. 281.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

hierbei die unmittelbare Konfrontation mit dem Staat gesucht worden,3495 um die „Genossen“ vor einer „Identitätsauslöschung durch Eliminierung aller sinnlich-konkreten Existenzerfahrungen bis hin zur Liquidierung“3496 schützen zu können. Sie stehe indes nicht zwingend im Widerspruch zum grundsätzlichen Ansinnen der „Stadtguerilla“. Unter Beweis gestellt habe dies die „Bewegung 2. Juni“ mit dem Entführen des CDU‑Politikers Peter Lorenz: „Ihr Erfolg besteht ja nur zum einen – wenn auch wesentlichen – Teil in der erzwungenen Freilassung von 7 Genoss/inn/en [sic]. Gleichzei­ tig war sie immer auch eine praktische Demonstration dessen, dass man sich [sic] mit entsprechender Entschlossenheit, mit Mut und Phantasie, mit List und Witz sowie unter Ausnutzung bestimmter politischer Konstellationen die tatsächlichen Kräfteverhältnisse punk­ tuell auf den Kopf stellen und der staatlichen Gewalt, die von der Behauptung ihrer Unangreifbarkeit lebt, durch die Organisation revo­ lutionärer Gegengewalt eine Schlappe beibringen kann, ohne in der Verfolgung des Ziels auf Mittel und Formen zurückgreifen zu müssen, die denen des Gegners allzu ähnlich sind, als dass in ihnen noch die Inhalte einer radikalen Utopie erkennbar wären.“3497 Zusammenfassend stellten die Autoren des im Januar 1981 veröffentlich­ ten „Revolutionären Zorns“ fest, die RZ hätten nach der Gründung Feh­ ler begangen und als Folge ihrer Irrtümer vor allem Ende der 1970er Jahre eine Krise durchlebt. Deren Ausdruck sei die Entscheidung einzelner Mitglieder gewesen, aus den „Revolutionären Zellen“ auszutreten.3498 An diese Reflexion knüpften sie einen Ausblick zum weiteren Vorgehen, der ebenfalls eine affirmative Haltung zur B2J zu erkennen gab.3499 Teil der Vorschau waren Passagen, in denen die Angehörigen der „autonome[n] Frauengruppe in den RZ“3500, der „Roten Zora“, umfassend ihre politi­ schen Zielvorstellungen im Widerstand gegen „Sexismus als Herrschaftund Spaltungsmittel“3501 legitimierten. Die weiteren Aktivitäten der „Revolutionären Zellen“ bestimmten im Wesentlichen ein Hungerstreik der „Gefangenen“ der „Roten Armee Frak­ 3495 3496 3497 3498 3499 3500 3501

Vgl. ebd., S. 281-282. Ebd., S. 281. Ebd., S. 282. Vgl. ebd., S. 263, 266. Vgl. ebd., S. 259. Ebd., S. 293. Ebd., S. 286.

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tion“ vom 2. Februar bis zum 18. April 19813502 sowie der regionale Pro­ test anlässlich des avisierten Baus der Startbahn West am Frankfurter Flug­ hafen. Kampagnen der vergangenen Jahre wurden lediglich mit einzelnen Aktionen fortgesetzt, so zum Beispiel der Widerstand gegen die Preispoli­ tik im öffentlichen Nahverkehr mit dem Verteilen gefälschter Fahrkarten des „Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr“ (VRR) in größeren Städten des Ruhr­ gebiets im März 1981 sowie die Agitation gegen den – vermeintlichen – Imperialismus der Vereinigten Staaten mit einem Anschlag im Mai 1981 auf eine Großküche der US-Streitkräfte in Frankfurt am Main.3503 Die Nahrungsverweigerung der RAF-Inhaftierten flankierten die RZ im Zuge einer Anschlagsserie, die größtenteils Kaufhäuser und Behörden traf. Wie eine Erklärung der „Revolutionären Zellen“ im linksextremistischen Peri­ odikum „Radikal“ aus Mai 1981 unterstrich, war diese Solidarität nicht Er­ gebnis einer Abkehr von der Kritik, welche die RZ mit Blick auf die ihr als „Opas Guerilla“3504 geltende RAF wiederholt geäußert hatten. Den in der Illegalität agierenden Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ unterstell­ ten sie „Selbstüberschätzung, Vermessenheit und Realitätsverlust“3505. Ihr Programm sei stellenweise „falsch bis unmöglich“3506, der „revolutionäre Charakter“3507 der Gruppe in Gefahr. Im Konflikt um die Startbahn West griffen die „Revolutionären Zellen“ erneut eine Methode auf, die in der Literatur als Charakteristikum der italienischen „Roten Brigaden“ umschrieben wird.3508 Am Morgen des 11. Mai 1981 verschafften sich – nach wie vor unbekannte – Aktivisten der RZ Zutritt zu dem Privatgelände des hessischen Ministers für Wirt­ schaft und Technik, Heinz-Herbert Karry. Nachdem sie die Telefonleitung durchtrennt hatten, erreichten sie über eine Leiter das Fenster zum Schlaf­ zimmer des Hauses. Anschließend gaben sie mehrere Schüsse auf Karry ab, was eine Verletzung seiner Beckenschlagader bewirkte.3509 Auf der Flucht entledigten sich die Täter ihrer Waffe: einer Pistole der Marke „High Stan­ dard“, die Mitglieder der „Black Panther Party“ im November 1970 aus der

3502 Vgl. Horchem 1986, S. 5; Horchem 1988, S. 92. 3503 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 129, 373. 3504 Revolutionäre Zellen, zit. n. Der Spiegel 1984a, S. 75. 3505 Bundesministerium des Innern 1982, S. 123. 3506 Revolutionäre Zellen, zit. n. Bundesministerium des Innern 1982, S. 123. 3507 Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. 3508 Vgl. Backes 1991, S. 88; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82. 3509 Vgl. Der Spiegel 1981c, S. 120; Horchem 1988, S. 91; Rabert 1995, S. 204; Wörle 2008b, S. 267.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

US‑amerikanischen Kaserne in Kirch‑Göns entwendet hatten.3510 Mithilfe der Nachbarn gelang es Karrys Ehefrau, einen Notarzt zu verständigen. Obwohl unverzüglich eine Bluttransfusion veranlasst wurde, erlag er sei­ nen Verletzungen.3511 Mehr als zwei Wochen später wurde ein Bekenner­ schreiben der RZ bekannt, in dem sie den Ausgang des Anschlags einlei­ tend als „Unfall“3512 und „große[n] – nicht einkalkulierte[n] – Zufall“3513 deklarierten. Beabsichtigt gewesen sei ein „Knieschussattentat“, bei dem das Opfer hätte überleben sollen. Die Autoren fügten hinzu: „Dass Karry […] die Reise in die ewigen Jagdgründe antreten musste, bekümmert uns ausschließlich insofern, als dies nicht geplant war, wir damit das Aktions­ ziel verfehlten.“3514 Den Anschlag rechtfertigten sie mit Karrys Stellung als Minister für Wirtschaft und Technik. Er habe die Verantwortung getragen für das Kernkraftwerk Biblis, das Atommülllager Hanau und die Startbahn West am Frankfurter Flughafen. „Unter der Regie Karrys“, so das Urteil der Verfasser, „entwickelte sich im letzten Jahrzehnt Hes­ sen zum Atomland Nr. 1 und die Rhein-Main-Region zum Zentrum der westdeutschen Atomtechnologie.“3515 Der vom Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ als „neue Dimensionen des Terrors“3516 erkannte Mord an einem deutschen Politiker stieß nicht nur im Linksextremismus,3517 sondern auch innerhalb der „Revolutionären Zellen“ auf Ablehnung. Angeblich kam es zu „heftige[n] Auseinandersetzungen“3518, welche die RZ erst 1983 an die Öffentlichkeit brachten. Den Tätern warfen sie einen „Verstoß gegen die Grundsätze revolutionärer Moral“3519 vor; ihr Tatbekenntnis wäre ein Beispiel „verbaler Kaltschnäuzigkeit“3520. Zusammenfassend bekundeten die RZ, die verantwortlichen Aktivisten seien „politisch und praktisch

3510 Vgl. Der Spiegel 1983c, S. 66; Kraushaar 2006c, S. 594. 3511 Vgl. Kahl 1986, S. 138. 3512 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 450. 3513 Ebd. 3514 Ebd. 3515 Ebd., S. 453. 3516 Der Spiegel 1981c, S. 120. 3517 Vgl. Horchem 1988, S. 92; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82; PfahlTraughber 2014a, S. 176. 3518 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 444. 3519 Ebd., S. 446. 3520 Ebd.

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7.2 Aktionsphase

vollkommen überfordert“3521 gewesen – „sowohl in der Ausführung […], als auch in der Auf- und Verarbeitung“3522 der Aktion. Die weiteren Aktivitäten der „Revolutionären Zellen“ in der Auseinan­ dersetzung um die Startbahn West beschränkten sich auf Anschläge gegen Objekte. Zum Ziel wurden Einrichtungen und Fahrzeuge der am Projekt mitwirkenden Behörden und Unternehmen. Im Oktober 1981 beschädig­ ten sie in Frankfurt am Main Baufahrzeuge der Firmen „Jean Bratengeier“ und „Züblin“, im November 1981 ein Funkfeuer am Frankfurter Flugha­ fen sowie das Generalkonsulat Österreichs. Im Dezember 1981 scheiterte ein Sprengstoffanschlag auf das Hessische Ministerium für Wirtschaft und Technik. Bis Sommer 1982 griffen „Revolutionäre Zellen“ die Unterneh­ men „Bilfinger & Berger“ in Frankfurt am Main, Mannheim sowie Wies­ baden, „Philipp Holzmann“ in Neu-Isenburg, „Züblin“ in Duisburg sowie „Dressler Bau“ in Frankfurt am Main an.3523 Ebenfalls in den Konflikt um die Startbahn West – sowie in die Anti-Atomkraft-Bewegung – brach­ ten sich in dieser Phase nach Feststellung der Verfassungsschutzbehörden militante Zirkel ein, die „sich außerhalb terroristischer Kernbereiche gebil­ det“3524 hatten. In Ihrem Selbstverständnis als „Guerilla Diffusa“ zeigten sich deutliche Parallelen zu den organisatorischen Überlegungen der RZ. So formulierten sie Mitte 1981 in einem Schriftstück die Vorstellung au­ tonom agierender Zellen, welche der Wille zum Widerstand gegen die staatlichen Strukturen der Bundesrepublik eine.3525 Vor dem Hintergrund dieser von den Sicherheitsbehörden beobachteten Gewaltbereitschaft kon­ statierten die „Revolutionären Zellen“ Ende 1981 in ihrem Papier „Feuer und Flamme für diesen Staat“ mit sichtbarer Anerkennung, die politische Ordnung in Westdeutschland werde „massenhafter und phantasievoller denn je“3526 in Frage gestellt: „Das Gespenst ist zurückgekehrt nach Europa – als ein ganz anderer Kommunismus. Diesmal schreitet nicht die Partei, ‚die immer recht hat‘, auf tönernen Füßen von Führung und Gefolgschaft daher, son­ dern ein Gewusel von roten Hexen und schwarzen Männern geht

3521 3522 3523 3524 3525

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 414-415, 454, 457-460. Bundesministerium des Innern 1982, S. 124. Vgl. auch Wörle 2008b, S. 267. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 124-125. Vgl. auch Wetzel 2001, S. 123. 3526 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 644.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

eifrig wie Wühlmäuse ihrem staatsfeindlichen Geschäft nach: Mollis [Molotow-Cocktails] fliegen, Schweineautos brennen, Zwangsverteidi­ ger zittern um ihre Knie, Spekulanten um ihre Objekte, Behörden und Ämter werden ausgeräuchert, Industrie- und US-Einrichtungen ausgebombt – es wird in Massen demonstriert und klammheimlich zusammengerottet. Die Zersetzung breitet sich aus!“3527 Die in dieser Passage propagierte Ausdehnung des Widerstands korrespon­ dierte auch mit einer wachsenden Zahl an Anschlägen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz den RZ zuschrieb: Die Summe der Aktionen stieg von acht im Jahre 1980 auf 22 im Jahre 1981.3528 1982 zeichnete das Netzwerk insgesamt für 38 versuchte und ausgeführte Brand- und Spreng­ stoffanschläge verantwortlich.3529 Offenbar war es den „Revolutionären Zellen“ gelungen, die Ende der 1970er Jahre eingetretene Schwächephase zu überwinden. Dennoch blieben interne Differenzen nicht aus. 1982 wiederholte sich die 1976 erstmals geführte grundsätzliche Diskussion zu den internationalistischen Verflechtungen, allerdings in abgeschwächter Form. Grund hierfür waren die zunehmende Publizität der „Organisation Internationaler Revolutionäre“ um Ilich Ramírez Sánchez und die daraus resultierende öffentliche behördliche Berichterstattung zu einer weiterhin existierenden „Internationale[n] Sektion der RZ“3530. Am 16. Februar 1982 verhafteten Polizisten die OIR-Mitglieder Bruno Bréguet und Magdalena Kopp in Paris. Das von ihnen genutzte Fahrzeug enthielt Waffen und Explosivmittel. Laut Kopp waren sie in die französische Hauptstadt gereist, um gemeinsam mit der „Frontu di Liberazione Naziunalista Corsu“ und der ETA eine Aktion gegen eine arabische Auslandsvertretung zu realisie­ ren. Ziel dieses Plans sei gewesen, finanzielle Mittel zu beschaffen.3531 Mehr als eine Woche nach den Festnahmen in Paris schickte „Carlos“ ein persönlich unterzeichnetes, mit Fingerabdrücken versehenes Schreiben an die Botschaft Frankreichs in den Niederlanden. Darin forderte er die französische Regierung auf, Bréguet und Kopp innerhalb eines Monats freizulassen. Andernfalls, so der Brief, würde es zu Vergeltungsschlägen kommen. Nach dem Verstreichen der Frist detonierte am 29. März 1982 in einem Zug auf der Strecke zwischen Paris und Toulouse eine Bombe,

3527 3528 3529 3530 3531

Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 123. Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 103. Ebd., S. 109. Vgl. Kopp 2007, S. 143. Vgl. auch Wunschik 2018, S. 94.

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7.2 Aktionsphase

die fünf Tote forderte und 28 weitere Personen verletzte.3532 Dessen un­ geachtet verurteilte die französische Justiz Bréguet und Kopp im April 1982 zu mehrjährigen Gefängnisaufenthalten.3533 Ersichtlich wurden die Verbindungen zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der „Organisa­ tion Internationaler Revolutionäre“ zudem durch das Verhaften ChristaMargot Fröhlichs im Juni 1982 in Rom. Da sie Sprengstoff in einem Koffer transportierte,3534 erhielt sie eine Haftstrafe von mehr als sechs Jahren.3535 Dieser personelle Einschnitt brachte die OIR nicht von weiteren schwer­ wiegenden Aktionen gegen französische Ziele ab: Unter anderem folgten ein Angriff auf das „Maison de France“ in Westberlin im August 1983 und ein Anschlag auf einen zwischen Marseille und Paris verkehrenden Hochgeschwindigkeitszug im Dezember 1983.3536 Innerhalb der „Revolutionären Zellen“ wurde die Gewalt der OIR au­ genscheinlich mehrheitlich abgelehnt.3537 Nunmehr soll eingetreten sein, was aus Sicht ehemaliger Mitglieder der RZ in der Literatur fälschlicher­ weise für die Auseinandersetzungen nach der in Entebbe gescheiterten Flugzeugentführung angenommen wird: eine endgültige Spaltung zwi­ schen den in Westdeutschland aktiven „Revolutionären Zellen“ und ihren einstigen Mitstreitern in den Reihen der „Organisation Internationaler Revolutionäre“.3538 Primärquellen betitelten die Trennung als „Bruch“3539. Laut Thomas Kram zog dieser Schritt weitreichende Konsequenzen nach sich: „Die Diskussion Anfang der 80er Jahre beinhaltete […], dass die RZ sich logistisch vollständig auf eigene Beine stellte. Wir wollten uns unabhängig machen von allen Kontakten, die wir nicht einschätzen konnten.“3540 Das hier zum Ausdruck kommende logistische Loslösen der RZ von der OIR und der wohl in diesem Zusammenhang erfolgte Übertritt Wilhelmi­ ne Göttings3541 zu der Gruppe um Sánchez erwecken den Eindruck eines

3532 3533 3534 3535 3536 3537 3538 3539 3540 3541

Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 166. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 67. Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 109. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 167. Vgl. Dietl 1995. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 167; Wunschik 2018, S. 94. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 191. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd.; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Ähnlich Unsichtbare 2022, S. 172. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 162.

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nachhaltigen Abbruchs aller Beziehungen zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der „Organisation Internationaler Revolutionäre“. Der Reali­ tät entsprach er indes nicht: Verbindungen existierten auch nach 1982. Fortgeführt wurden sie von Gerhard Albartus, der 1981 aus der Haft entlassen worden war.3542 Auf Wunsch seines langjährigen politischen Weggefährten Johannes Weinrich hatte er anschließend einen Stützpunkt der „Organisation Internationaler Revolutionäre“ im Libanon besucht.3543 Dort hätte Albartus seine Bereitschaft verkündet, „sich der Carlos-Gruppe bedingungslos unterzuordnen und die nationalen Beschränkungen der deutschen RZ […] nicht […] anzuerkennen.“3544 Ende 1981 sei er in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Nicht nur habe er sich durch eine Mitar­ beit in der Partei Die Grünen, als Journalist und in der Unterstützung „politischer Gefangener“ eine legale Existenz aufgebaut.3545 Überdies fand er Anschluss an eine „Revolutionäre Zelle“ in Westberlin, der Sabine Eck­ le, Harald Glöde und Rudolf Schindler angehörten.3546 In der 1982 aufge­ kommenen Diskussion um die internationalen Kontakte der RZ stach er als Kritiker der auf Westdeutschland fixierten strategischen Linie hervor. „Gerd [hielt] fest an der Idee eines unmittelbaren Bezugs auf den palästi­ nensischen Widerstand, nicht zuletzt, weil er sich von der dort erfahrenen Solidarität und subjektiven Radikalität angezogen fühlte.“3547 Für die OIR nahm Albartus in der Folgezeit Unterstützungsaufgaben wahr – er tat dies, so einstige RZ-Mitglieder in einem im Jahre 2022 veröffentlichten Interview, „gegen den erklärten Willen“3548 des Netzwerks. Er habe die „Zellen“ dazu nicht unterrichtet.3549 Als Kurier flog Albartus über den Ostberliner Flughafen in einzelne Staaten des sowjetischen Hegemonial­ bereichs sowie in den Nahen Osten und den Maghreb, unter anderem nach Beirut, Damaskus und Tripolis. Anfang 1983 kundschaftete er poten­ tielle Anschlagsziele für die „Organisation Internationaler Revolutionäre“ in Westberlin aus. Im September 1983 soll er sich an Vorbereitungen beteiligt haben, die im Entführen einer wohlhabenden Ungarin jüdischen Glaubens und der Zahlung von Lösegeld münden sollten. Trotz dieser Hilfsleistungen entwickelte sich zwischen Albartus und der OIR offenbar 3542 3543 3544 3545 3546 3547 3548 3549

Vgl. Rabert 1995, S. 207; Dia-Gruppe 2001. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 107. Ebd., S. 107-108. Vgl. ebd., S. 108. Vgl. Dietrich 2009, S. 154. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 29. Unsichtbare 2022, S. 172. Vgl. ebd.

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ein angespanntes Verhältnis. Unverständnis in den Reihen der „Organisati­ on Internationaler Revolutionäre“ habe er ausgelöst, als er den Gedanken fasste, gänzlich aus dem Terrorismus auszusteigen und in Frankreich um Asyl zu ersuchen. Weinrich soll ihn überdies aufgrund seiner Aussagebe­ reitschaft 1983 in einem Gespräch mit dem MfS zurechtgewiesen haben – Albartus hatte dieses auf einer Reise über die Deutsche Demokratische Re­ publik nach Komplikationen am Ostberliner Grenzübergang Friedrichstra­ ße geführt. Während der Unterredung waren von ihm offenbar sensible Interna der Gruppe um „Carlos“ preisgegeben worden.3550 Die „Revolutionären Zellen“ richteten ihr Augenmerk in den Jahren 1982 und 1983 wieder verstärkt auf Missstände im bundesrepublikani­ schen Wohnungswesen sowie auf – vermeintliche – imperialistische Ma­ chinationen westlicher Staaten,3551 wobei eine Bezugnahme auf die Lage und Positionen der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ er­ neut eine Rolle spielte. In Westberlin trafen die RZ im März 1982 ein Verwaltungsgebäude des Wohnungsunternehmens „Neue Heimat“, dessen Personal sie in einer Taterklärung „persönliche Bereicherung bis in die letzte Managementstufe“3552 vorwarfen. Rund zwei Monate später fügten sie dem Leiter des Liegenschaftsamtes der Stadt Frankfurt am Main Scha­ den zu, indem sie sein Fahrzeug in Brand setzten. Nach Auffassung der „Revolutionäre Zellen“ sei er bestrebt gewesen, „durch Gewaltakte und Er­ pressung gegen die Bewohner verschiedener Frankfurter Stadtteile seinen Weg nach oben“3553 zu beschreiten. Als Signal gegen „Stadtzerstörung“3554 wollten sie hingegen ihren Anschlag auf die Wohnungsbaukreditanstalt im April 1983 in Westberlin verstanden wissen. Erkennbar antiimperialistisch gerierten sich die „Revolutionären Zel­ len“ bereits ab Januar 1982. Nachdem sie in ihrem Bekennerschreiben zur Aktion gegen das Konsulat El Salvadors in Köln auf die Verstrickung der Vereinigten Staaten in den salvadorianischen Bürgerkrieg hingewiesen hatten,3555 konzentrierten sie sich auf die Verteidigungspolitik des Nordat­ lantikpakts. Auslöser war der Besuch des US‑amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan im Juni 1982 in der Bundesrepublik Deutschland anläss­ lich des Bonner Gipfels der NATO, die wenige Jahre zuvor in ihrem 3550 Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 108-110, 162. 3551 Vgl. Rabert 1995, S. 201-202. 3552 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 313. 3553 Ebd., S. 315. 3554 Ebd. 3555 Vgl. ebd., S. 320-321.

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„Doppelbeschluss“ ein atomares Nachrüsten in Westeuropa im Falle einer ablehnenden Haltung der Sowjetunion gegenüber Rüstungskontrolle ver­ kündet und damit der Friedensbewegung in Westdeutschland erhebliche gesellschaftliche Resonanz eingebracht hatte.3556 Nicht nur das Nachrich­ tenmagazin „Der Spiegel“ sprach in diesem Zeitraum von der „größte[n] Massenbewegung in der Geschichte der Republik“3557. In der Nacht zum 1. Juni 1982 griffen die RZ – offenkundig koordiniert – „amerikani­ sche Militäreinrichtungen und Zweigniederlassungen amerikanischer Un­ ternehmen in Bamberg, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Gelnhausen, Hanau und Hannover“3558 an. Registriert wurden acht versuchte oder vollendete Sprengstoffanschläge, welche die Sicherheitsbehörden als Teil „einer bis­ her einmaligen Serie“3559 werteten. Mit der Veranstaltung der NATO in Bonn begründeten die RZ außerdem Aktionen am 4. und 5. Juni 1982 gegen die „Bourns‑Ketronic Gesellschaft für flugtechnische Geräte“ in Hamburg sowie das „Deutsch‑Amerikanische Institut“ in Tübingen.3560 Obgleich dieser antiimperialistische Impetus der „Revolutionären Zel­ len“ eine thematische Annäherung an die „Rote Armee Fraktion“ erken­ nen ließ, trat ein grundlegender Wandel ihrer Beziehung nicht ein. Nach wie vor hielten die RZ an einer „Basissolidarität“ fest, die einen kritischen Umgang mit der RAF einschloss. 1982 äußerten die „Revolutionären Zellen“ in einer Erklärung, als „Stadtguerilla“ bilde das Netzwerk zwar eine „einheitliche Front mit der RAF“3561, diese diene ihm aber nicht als Bezugspunkt. Öffentlich schrieben die RZ der „Roten Armee Fraktion“ „autoritäres und […] elitäres“3562 Gebaren zu. Derartige Einschätzungen wiederholten sie in einem nach 1982 niedergeschriebenen Text, den der ehemalige Richter Eckhart Dietrich auszugsweise in seiner 2009 publizier­ ten Zusammenfassung der zu Westberliner RZ existierenden Gerichtsak­ ten zugänglich machte. Darin wiesen die Autoren die RAF als „unsere ältere Schwester“3563 aus, die sich im Kampf „an der gleichen Front“3564

3556 3557 3558 3559 3560 3561 3562 3563 3564

Bundesministerium des Innern 1983, S. 103. Der Spiegel 1983d, S. 24. Bundesministerium des Innern 1983, S. 103. Vgl. auch Horchem 1988, S. 92. Bundesministerium des Innern 1983, S. 103. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 374. Revolutionäre Zellen, zit. n. Rabert 1995, S. 199. Revolutionäre Zelle aus Westberlin, zit. n. Bundesministerium des Innern 1983, S. 104. Revolutionäre Zellen, zit. n. Dietrich 2009, S. 151. Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd.

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einem „Sektierertum“3565 verschreiben habe. In der Praxis verliehen die „Revolutionären Zellen“ ihrer grundsätzlichen Verbundenheit mit der „Roten Armee Fraktion“ Anfang 1983 im Zuge eines Anschlags auf das Unternehmen „Texas Instruments“ in Nürnberg Ausdruck. Die Aktion widmeten sie „allen NATO‑Kriegsgefangenen, so Christian Klar, Adelheid Schulz und Brigitte Mohnhaupt“3566, sowie türkischen Linksextremisten und „dem Befreiungskampf der Völker im Nahen Osten und in Mittelame­ rika“3567. Dem zugleich auf – angebliche – US-imperialistische Interessen zielen­ den Anschlag in Nürnberg folgten ideologisch ähnlich zugeschnittene Aktionen. Wie dem Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz entnommen werden konnte, zogen die „Revolutionären Zellen“ die Agen­ da des Nordatlantikpakts 1983 bei insgesamt sechs Anschlägen als Recht­ fertigung heran.3568 Im Februar 1983 attackierten die RZ den Firmensitz der „Standard Elektrik Lorenz“ (SEL) in Düsseldorf, im März 1983 das Un­ ternehmen „International Business Machines“ (IBM) in Reutlingen. Beide Konzerne stellten die „Revolutionären Zellen“ anschließend nicht nur als Verantwortliche einer in der bundesdeutschen Wirtschaft voranschreiten­ den Technologisierung dar, sondern auch als Profiteure der militärischen Ausgaben der NATO.3569 Das Bekennerschreiben zum Angriff auf IBM endete im Imperativ: „Die antiimperialistische Front aufbauen!“3570 Aus Protest gegen die Rüstungsplanungen des nordatlantischen Verteidigungs­ bündnisses unternahmen die RZ am Morgen des 21. Mai 1983 eine Akti­ on, welche die alliierte Truppenparade in Westberlin verhindern sollte.3571 Die Tat richtete sich zugleich gegen die „imperialistische Politik der USA in großen Teilen der Welt“3572. Der Konrad Adenauer Stiftung unterstell­ ten die „Revolutionären Zellen“, ihre Aktivitäten in der Dritten Welt füg­ ten sich „bruchlos in das US-imperialistische Gesamtkonzept einer ‚Neu­ ordnung der Welt’ ein“3573. Da sie aus Sicht der Mitglieder der RZ eine

3565 Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. 3566 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 316. 3567 Ebd. 3568 Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 104. 3569 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 375-376, 379-380. 3570 Ebd., S. 380. 3571 Vgl. ebd., S. 381. 3572 Vgl. ebd., S. 382. 3573 Ebd., S. 322-323.

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Entwicklungspolitik mittrug, die „Befreiungskämpfe wie in Salvador oder […] Revolutionen wie in Nicaragua, Mosambik, Angola und Zimbabwe destabilisier[en], untergraben und zerschlagen“3574 sollte, wurde sie im Ju­ ni 1983 Ziel eines Anschlags der „Zellen“. Das Werk der „Maschinenfabrik Augsburg‑Nürnberg“ in Ginsheim-Gustavsburg nahm das Netzwerk im September 1983 aufgrund der Gewinne der MAN im Rüstungsgeschäft ins Visier.3575 Im Gegensatz zur Kampagne der „Revolutionären Zellen“ gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen gerieten ihre Anschläge gegen die NATO sowie US-amerikanische Militäreinrichtungen und Unterneh­ men als Folge einer im undogmatischen Linksextremismus geführten Debatte in die Kritik. Auslöser waren die Aktivitäten der sogenannten Hepp-Kexel-Gruppe, die 1982 Sprengvorrichtungen unter den privaten Fahrzeugen von US-Armeeangehörigen platziert und dabei zwei Soldaten schwer verletzt hatte. 3576 In Abgrenzung zu neonationalsozialistischen For­ derungen diente dem rechtsterroristischen Zirkel ein „undogmatischer antiimperialistische[r] Befreiungskampf gegen den Amerikanismus“3577 in Westdeutschland als Legitimation. Anfang 1983 war die Gruppe durch Exekutivmaßnahmen zerschlagen worden.3578 Die Verhaftungen nahm die Redaktion der linksextremistischen Zeitschrift „Radikal“ zum Anlass, mit Blick auf zurückliegende, mitunter in behördlichen Stellungnahmen fälschlicherweise den RZ zugeschriebene Angriffe gegen Objekte der Ver­ einigten Staaten „so manches Bömbchen mal differenzierter zu betrach­ ten“3579. Allein 1982 war es zu mehr als 50 Anschlägen auf Militärangehö­ rige und -einrichtungen der USA gekommen.3580 Im Ergebnis konstatierte „Radikal“, „dass neonazistische Gruppen mit US‑Feindbild“3581 als Urhe­ ber einiger Aktionen in Betracht kommen könnten. Es wären „Anschläge gelaufen, die nicht nur jeder Klarheit über ihre Bestimmung entbehren,

3574 3575 3576 3577 3578 3579

Ebd., S. 322. Vgl. ebd., S. 324. Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 158. Ebd. Vgl. auch Gräfe 2017, S. 143-145. Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 156. Redaktion der Zeitschrift Radikal, zit. n. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 764. 3580 Vgl. Der Spiegel 1983a, S. 106. 3581 Redaktion der Zeitschrift Radikal, zit. n. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 764.

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sondern vor allem bei vielen von uns [im undogmatischen Linksextremis­ mus] mehr Desorientierung als antörnende Freude ausgelöst haben.“3582 Zu den sich anschließenden Diskussionen in „Radikal“ lieferten die „Revolutionären Zellen“ in ihrem Papier zum Anschlag auf SEL am 28. Februar 1983 einen Beitrag. Sichtbar um ein Schärfen des eigenen antiimperialistischen Standpunkts bemüht, merkten sie unter dem Titel „Wider den linken Antiamerikanismus“ mahnend an, linksextremistische „Angriffe in den homeareas [sic] der yanks leisten einem politisch zurück­ werfenden Aktionismus und Anti-Amerikanismus Vorschub und geben den Herrschenden Waffen in die Hand, die Bestimmung unseres Kampfes zu denunzieren.“3583 Antiamerikanische Haltungen mündeten in „einem platten Nationalismus und […] Rassismus gegen Amerika als Ganzes“3584. In ihrer Erklärung „Beethoven gegen MacDonald“ aus April 1983 gingen die RZ dazu über, die Rolle von „Radikal“ im Beurteilen antiimperialisti­ scher Taten mit Kritik zu belegen. Es sei erforderlich, Formen und Anlie­ gen gewaltbereiten linken Widerstands diskursiv zu bestimmen, allerdings wären „antiamerikanische Anschläge faschistischer Gruppen […] dafür der falsche Diskussionshintergrund“3585. Es verbiete sich, linke Aktionen „in einem Zusammenhang mit der Anschlagsserie der Faschisten“3586 zu bewerten. Denn dieses Vermengen verkenne zum einen die differenten ideologischen Hintergründe der Anschläge. Zum anderen führe es nicht dazu, die von „Radikal“ bemängelte Desorientierung in ihren Ursprüngen aufzuklären.3587 Die Gründe dieses Missstandes lägen in einem „in der deutschen Linken latent verbreitete[n] Antiamerikanismus, eine[r] desin­ teressierte[n] Leichtfertigkeit, mit der die Entwicklungsprozesse im faschis­ tischen Spektrum […] übergangen werden“3588. Eine Verantwortlichkeit der „Stadtguerilla“ und linksextremistischer Militanter lehnten die Auto­ ren des Papiers dabei demonstrativ ab: „Es ist böswillig, zu unterstellen, dass die gegen das US-Militär, gegen militärische Einrichtungen, NATO-Logistik, Kommunikationsanlagen

3582 Redaktion der Zeitschrift Radikal, zit. n. ebd., Band 1, S. 362-363. Vgl. auch Rabert 1995, S. 216-217. 3583 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 378. 3584 Ebd., S. 377. 3585 Ebd., S. 364. 3586 Ebd. 3587 Vgl. ebd. 3588 Ebd.

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oder US-Multis [multinationale Konzerne] gerichteten Anschläge der Revolutionären Zellen, der RAF und zahlreicher autonomer Gruppen auf einer vergleichbaren oder gar ähnlichen Linie des Antiamerikanis­ mus operiert oder diesen begünstig hätten. Fast ohne Ausnahme wa­ ren diese Aktionen antiimperialistisch bestimmt“3589. Diese Rechtfertigungsstrategie zogen sie abermals in ihrem Tatbekenntnis zum Anschlag auf die alliierte Truppenparade in Westberlin im Mai 1983 heran. Die Aktion sei „nicht antiamerikanisch, antifranzösisch oder anti­ britisch“3590, sondern antiimperialistisch. Am Kampf gegen den Imperialis­ mus würden die „Revolutionären Zellen“ festhalten – „ob es nun in Mode ist oder nicht.“3591 Während der Antiimperialismus trotz linksextremistischer Kritik im Fo­ kus des Netzwerks blieb, verloren in den vergangenen Jahren aufgegriffene gesellschaftliche Konfliktthemen, wie zum Beispiel die zivile Nutzung von Kernenergie und der Bau der Startbahn West, ab Ende 1982 sukzessive ihre Relevanz. Das Anknüpfen der RZ an die „Anti-AKW-Bewegung“ erreichte seinen Zenit mit Anschlägen im November 1982 auf die Firma „Intera­ tom“, die „Gesellschaft für Reaktorsicherheit“ und einen Freileitungsmast in der Umgebung eines im Bau befindlichen Atomkraftwerks im nord­ rhein‑westfälischen Kalkar.3592 Die Abkehr der RZ von dem Protest am Frankfurter Flughafen ging mit einem Positionspapier einher, das im un­ dogmatischen Linksextremismus als „arrogant, überheblich, gemein- [sic] und unsolidarisch“3593 empfunden worden sei. In der ab Ende August 1983 verteilten Broschüre „Die Bewegung gegen die Startbahn West“ ana­ lysierten sie den Verlauf des Widerstands, den die Pläne zur Startbahn West entzündet hatten. Ziel der Autoren war, aus den Erfahrungen in diesem Konfliktfeld Schlussfolgerungen zum zukünftigen Agieren in ge­ sellschaftlichen Auseinandersetzungen abzuleiten und zur Diskussion zu stellen.3594 Grundlegend hielten sie fest, der Protest wäre im Scheitern gemündet: Obwohl eine „riesige Mobilisierung und massenhafte Radikali­ sierung“3595 eingetreten war, sei der Bau der Startbahn begonnen worden.

3589 3590 3591 3592 3593 3594

Ebd., S. 365. Ebd., S. 382. Ebd. Vgl. ebd., S. 357. Wetzel 2001, S. 123. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 397. 3595 Ebd.

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Daraufhin habe die Bewegung zahlreiche Akteure eingebüßt; „auch die Linken wandten sich mehr und mehr anderen Themen zu.“3596 Diese Entwicklung sei möglich gewesen, weil die Angehörigen der heterogenen Bewegung nicht ausreichend zusammengewirkt hätten.3597 Ihnen habe eine „über Größe und Mobilität […] hinausgehende Zielgerichtetheit“3598 gefehlt. Die Schuld am Niedergang trüge vor allem die linksextremisti­ sche Szene Frankfurt am Mains, welche auf eine „gebrochene Geschich­ te“3599 zurückblicken, strukturelle Defizite aufweisen und in der Isolation verharren würde. Eine offene Debatte zu dem in der Bewegung vorherr­ schenden Verzicht auf Gewalt sei außerhalb ihres Blickfeldes geblieben; die Agitation der „Revolutionären Zellen“ habe man „kategorisch vom Tisch gewischt.“3600 Außerdem sei es der extremistischen Linken nicht gelungen, als „Katalysator“ zu wirken,3601 „der in bestimmten Situationen die Initiative ergreift, Entwicklungen unterstützt, beschleunigt und zu ihrer Festigung beiträgt“3602. Ihren Versäumnissen stünde die „Entstehung organisierter Militanz“3603 im Kampf gegen das Bauprojekt gegenüber – ein Prozess, der nach Auffassung der Verfasser des Papiers von den RZ angestoßen worden war.3604 Nur wenige Monate nach dem Beitrag zu den Konflikten um das Er­ weitern des Frankfurter Flughafens bewerteten die RZ in einem umfang­ reichen Papier die Friedensbewegung. Im Dezember 1983 erklärten sie unter dem Titel „Krieg – Krise – Friedensbewegung“, das Netzwerk hätte bislang lediglich punktuell in Theorie und Praxis einen unmittelbaren Be­ zug zu den Protesten gegen den „Doppelbeschluss“ der NATO hergestellt. Ursache hierfür seien „inhaltliche Kontroversen“3605. Aus Sicht der „Re­ volutionären Zellen“ bestimmten ausschließlich die Gefahr eines Kriegs zwischen den Weltmächten sowie die damit verbundene „wahnhafte Vor­ stellung von dem alles vernichtenden Untergang“3606 das Agieren der

3596 3597 3598 3599 3600 3601 3602 3603 3604 3605 3606

Ebd., S. 411. Vgl. ebd. Ebd., S. 421. Vgl. ebd., S. 423. Ebd., S. 441. Vgl. ebd., S. 423-424. Vgl. ebd., S. 424. Ebd., S. 447. Vgl. ebd., S. 438-439. Ebd., S. 467. Ebd., S. 468.

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Friedensbewegung. Zum einen böte diese „Katastrophenkultur“3607 dem westdeutschen Staat eine Grundlage zur Rechtfertigung seiner imperialisti­ schen Politik: Jegliche Entscheidung „unterhalb der Schwelle der Katastro­ phe“3608 könne mit dem Willen zur „Abwendung eines vermeintlich grö­ ßeren Übels“3609 begründet werden. Zum anderen habe die „Endzeitstim­ mung […] kein[en] Raum […] für soziale Utopien“3610 gelassen. In der Friedensbewegung sei eine „Unterdrückung sozialrevolutionärer und anti­ imperialistischer Inhalte“3611 zu verzeichnen gewesen. Angesichts dieser Schlussfolgerungen werteten die RZ das Mitwirken linksextremistischer „Autonomer“ am Kampf gegen atomare Aufrüstung besonders kritisch. „[E]ine falsche Politik“, so die Autoren des Papiers, „wird nicht dadurch richtiger, dass man sie von innen her zu radikalisieren versucht.“3612 Statt die strategischen Perspektiven des Protests zu beeinflussen, hätten sich die „Autonomen“ mit der bloßen Existenz einer Bewegung begnügt.3613 Neben dem Wiedererstarken einer antiimperialistischen Linie bei gleichzeitiger Loslösung von bislang begleiteten gesellschaftlichen Kon­ fliktfeldern spiegelte eine Anschlagskampagne der „Roten Zora“ das in den Jahren 1982 und 1983 zu beobachtende thematische Neuausrichten der „Revolutionären Zellen“ wider. Im März 1982 bekannten sich die RZo zu einem Angriff auf den Pharmakonzern „Schering“. Der vom Unternehmen abgeworfene Profit werde „von Frauen in aller Welt mit Schmerzen, Verstümmelung, Tod und Zerstörung der Würde bezahlt.“3614 „Scherings“ Firmenpolitik entspreche folglich den Versuchen, welche in Konzentrationslagern des Dritten Reichs an Frauen unternommen worden waren.3615 1983 führten die als „Zoras“3616 oder „Lolas“3617 betitelten Akti­ vistinnen insgesamt acht Aktionen aus,3618 die in Teilen ebenfalls der Un­ terdrückung von Frauen gewidmet waren. Im Februar 1983 entzündeten sie das Fahrzeug eines Arztes in Hamburg. Als Experte für Sterilisation

3607 3608 3609 3610 3611 3612 3613 3614 3615 3616 3617 3618

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 469. Ebd., S. 470. Vgl. ebd. Ebd., S. 606. Vgl. ebd. Der Spiegel 1987c, S. 83. Dietrich 2009, S. 150. Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 104.

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war er nach Auffassung der „Roten Zora“ beteiligt am imperialistischen Streben nach Kontrolle weiblicher Fertilität, die dem präventiven Bekämp­ fen von Aufständen diene.3619 Wochen später traf die RZo in Köln das „Heiratsinstitut Heinz Kirschner“, in Bonn das Konsulat der Philippinen. Im August 1983 beschädigte sie das Fahrzeug des „Frauenhändlers“ Gün­ ter Menger. Infolge einer Berichterstattung im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ machten die Taten die Öffentlichkeit auf das Geschäftsmodell von „Ehevermittlern“ aufmerksam, die gegen Geldzahlung den Kontakt zwischen Männern in Westdeutschland und Frauen aus der Dritten Welt herstellten.3620 Die Aktivistinnen der „Roten Zora“ führten zu den Aktio­ nen in Selbstbezichtigungsschreiben aus, in der Bundesrepublik existierten „200 Unternehmen – und es werden täglich mehr – [sic] die unter dem Deckmantel ‚Ehevermittlungsinstitut‘ oder ‚Reisebüro‘ regelrechten Frau­ enhandel betreiben mit Asiatinnen, vorzugsweise Philippininnen [sic].“3621 Dieser Wirtschaftszweig fördere Prostitution, in der eine „unbeschreiblich offen brutale Form der Versklaverei“3622 zu erkennen sei. Gestützt würde die „Vermittlung“ von Frauen vom philippinischen Staat, der „Land und Leute verkauft, um sich selbst zu bereichern.“3623 Thematisch erweiterte die „Rote Zora“ ihre Agitation im November 1983 nach Aktionen gegen „Siemens“ in Braunschweig und Witten. Ihre Mitglieder unterstrichen, das Unternehmen sei Nutznießer militärischer Ausgaben und einer in Westdeutschland zunehmend technologisierten Wirtschaft, die „Frauenar­ beitsplätze wegrationalisiert“3624. Sein Erfolg basiere unter anderem auf einem Unterstützen autoritärer Regime in Afrika, Asien und Lateinameri­ ka, die „westliche Multis mit der Geschicklichkeit und Unterwürfigkeit ihrer (!) Frauen“3625 anzuwerben versuchten. Zur Jahreswende 1983/1984 setzte die RZo mit Anschlägen auf Einrichtungen der Firma „Nixdorf“ sowie des „Verbands der Vereine Creditreform“ ein Zeichen gegen „den alles überwachenden Staat […] [und] ein Leben, in dem der Mensch nur noch Opfer der Technologien im Interesse einer abstrakten Macht ist.“3626

3619 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 607-608. 3620 Vgl. Der Spiegel 1983e, S. 77-79. 3621 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 608. 3622 Ebd., S. 611. 3623 Ebd., S. 609. 3624 Ebd., S. 612. 3625 Ebd., S. 613. 3626 Ebd., S. 615.

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Zu ihrer bis in das Jahr 1974 zurückreichenden Historie, der Anschlags­ serie des Jahres 1983 und dem Verhältnis zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“ zogen die „Lolas“ im Juni 1984 umfassend Bilanz. Als Medium wählten sie ein in der Zeitschrift „Emma“ veröffent­ lichtes Selbstgespräch, in dem sie zu eigenen Fragen Antworten präsentier­ ten. Die RZo wäre eine Gruppe von „Frauen zwischen 20 und 51“3627. Sie zähle sich zu der in Westdeutschland wahrnehmbaren Frauenbewe­ gung.3628 Verpflichtet habe sie sich den „gleichen Grundsätzen wie die RZ“3629; außerdem sei sie durch eine „feministische Identität“3630 mit den weiblichen Aktivistinnen der „Revolutionären Zellen“ verbunden. Zu den männlichen Angehörigen des Netzwerks bestehe hingegen eine diffizile Beziehung, wären diese doch „oft erschreckend weit davon entfernt, zu be­ greifen, was antisexistischer Kampf heißt und welche Bedeutung er für eine sozialrevolutionäre Perspektive hat.“3631 Innerhalb der RZo werde da­ her kontrovers diskutiert, welche Formen der Kooperation mit den RZ den eigenen Aktivitäten abträglich seien.3632 Deutlich ablesbar wurde in diesen Aussagen der durch interne Spannungen beförderte Anspruch der „Zoras“, den eigenen ideologischen Zielvorstellungen künftig verstärkt au­ ßerhalb der von den „Revolutionären Zellen“ gesetzten Agenda Geltung zu verschaffen. Zeitgleich betonten die Verfasserinnen des Selbstgesprächs jedoch, sie würden das Mitte der 1970er Jahre entwickelte frauenpolitische Profil des Netzwerks als Fundament heranziehen und die Erfahrungen der „Zellen“ im „bewaffneten Kampf“ beanspruchen.3633 7.2.5 Abspaltung der „Roten Zora“, Agitation gegen Gewerkschaften, „F-Kampagne“, Kampagne gegen Bio- und Gentechnologie (1984 bis 1987) Wie sich aus 2001 veröffentlichten Erinnerungen namentlich nicht be­ nannter Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ schließen lässt, stand das in der „Emma“ proklamierte Autonomiestreben der RZo im Zusammen­ hang mit einer innerhalb der RZ einsetzenden Debatte zum weiteren Vor­ 3627 3628 3629 3630 3631 3632 3633

Ebd., S. 598. Vgl. ebd., S. 604. Ebd., S. 598. Ebd., S. 600. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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gehen. Ausgehend von den Erkenntnissen, welche im Zuge des Mitwir­ kens an den Protesten um die zivile Nutzung der Kernkraft und den Bau der Startbahn West gesammelt worden waren, setzte sich 1984 innerhalb der „Revolutionären Zellen“ die Überzeugung durch, sozialrevolutionäre Forderungen anhand eines selbst gesetzten Themas in die Öffentlichkeit tragen zu müssen. Zur Auflösung gebracht werden sollte die Abhängigkeit des Netzwerks von Bewegungen, die sich als Reaktion auf gesellschaftliche Konfliktfelder gegründet hatten. Differenzen zog die Frage nach sich, wel­ cher – vermeintlichen – Problemlage sich die RZ verschreiben sollten. Die „Revolutionären Zellen“ plädierten mehrheitlich für eine Agitation, die die in Westdeutschland zu diesem Zeitpunkt nur sporadisch beleuchtete Situation schutzsuchender Ausländer aufgriff.3634 Das Fundament hierzu hatten sie im Februar 1984 mit einem Angriff auf das Generalkonsulat der Türkei in Köln gelegt. Im Nachgang war von den RZ erklärt worden: „[P]olitisch Verfolgte und Flüchtlinge […] sind noch lange nicht gerettet, wenn sie den Staatsjägern, Folterern und Henkern ihrer Länder entkom­ men sind.“3635 In Deutschland würden die Behörden mit „immer gemei­ ner ausgeheckte[n] Auflagen und unerfüllbare[n] Vorschriften jegliches Existenzrecht [von Schutzsuchenden] außer Kraft setzen“3636. Die in der „Roten Zora“ aktiven Mitglieder der RZ hingegen lehnten eine „F-Kampagne“3637 ab. Sie favorisierten einen „Kampf gegen Bevölke­ rungspolitik und Gentechnik“3638, von dem sich eine Majorität in den „Revolutionären Zellen“ keinen Erfolg versprochen hätte: Aus ihrer Sicht „schien eine Gentechnikkampagne kaum Besseres einbringen zu können als der vorausgehende AKW‑Zyklus“3639. Da die „Zoras“ nicht bereit wa­ ren, ihre Position als Minderheit weiterhin zu akzeptieren, kam es zu einer „Trennung“3640. Dieser Bruch blieb zunächst jedoch nur inhaltlicher Natur.3641 Die Anschläge im August 1984 auf die Firmen „Kreuzer“ und „Koch“ in Nordrhein‑Westfalen zeigten, dass er außerdem eine punktuel­ le operative Zusammenarbeit zwischen der RZo und Teilen der „Revo­

3634 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 3635 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 321. 3636 Ebd. 3637 Dietrich 2009, S. 157. 3638 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 3639 Ebd. 3640 Ebd. 3641 Vgl. Wörle 2008b, S. 272; Pfahl-Traughber 2014a, S. 176. Vgl. auch Rote Zora 1993.

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lutionären Zellen“ entlang unveränderter ideologischer Schnittmengen nicht ausschloss. In einem Bekennerschreiben übernahmen RZ und „Rote Zora“ gemeinsam die Verantwortung für die Taten.3642 Ihre Begründung fußten sie auf die – vermeintlich – „zerstörerischen Haftbedingungen“3643 in den bundesrepublikanischen Justizvollzugsanstalten, unter denen „die Identität der Gefangenen gebrochen“3644 werde. Die Gefängnisse seien Teil kapitalistischer Verwertungsmechanismen, würden doch Unternehmen die Arbeitskraft der Inhaftierten zur Profitsteigerung beanspruchen.3645 Bevor die „Flüchtlingskampagne“ der RZ Fahrt aufnahm, konsolidierte das Netzwerk 1984 und 1985 in verschiedenen Themenfeldern bereits artikulierte Positionen. Aufgrund von Preissteigerungen im öffentlichen Personennahverkehr führten die „Revolutionären Zellen“ im Februar 1984 eine Aktion gegen den Sitz des VRR in Gelsenkirchen aus.3646 Neuen Auftrieb erhielt überdies die an gewerkschaftlicher Politik geübte Kritik, welche zuletzt im November 1982 durch einen Anschlag auf die Wohnung eines Journalisten der „Braunschweiger Zeitung“ betont worden war.3647 Im Frühjahr 1984 forcierte die „IG Metall“ tarifliche Anpassungen für die von ihr vertretenen Arbeitnehmer. In bundesweiten Gesprächen mit Arbeitgebern befürwortete sie ein Reduzieren der bisherigen wöchentli­ chen Arbeitszeit auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich.3648 Zu dem Vorhaben der Gewerkschaft äußerten sich die „Revolutionären Zellen“ im März 1984 mit ihrem Papier „Wolf im Schafspelz“: Die IG Metall stabilisiere die kapitalistische Ordnung Westdeutschlands.3649 Mit dem Einführen der 35-Stunden-Woche würde sie den Unternehmen die Mög­ lichkeit verschaffen, die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter flexibler als bislang zu gestalten.3650 Ferner monierten die Verfasser „die bewusst diffus gehal­ tene Forderung von ‚vollem Lohnausgleich‘“3651. Ebenfalls im März 1984 hielten die RZ dem deutschen Staat nach einem Angriff auf die „Deutsche

3642 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 318. 3643 Ebd., S. 316. 3644 Ebd., S. 317. 3645 Vgl. ebd., S. 317-318. 3646 Vgl. ebd., S. 128-129. 3647 Vgl. ebd., Band 2, S. 522. 3648 Vgl. Der Spiegel 1984b, S. 19. 3649 Vgl. Bundesministerium des Innern 1985, S. 114. 3650 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 513-514. 3651 Ebd., S. 514.

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Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ in Köln imperialistische Bestrebungen in der Dritten Welt vor.3652 Mit einer Aktion gegen das „Frauenhofer-Institut“ in Duisburg warfen sie im Mai 1984 ein Schlaglicht auf das Forschen zur Mikroelektronik sowie die mit ihm – angeblich – ein­ hergehende „Verfeinerung von Kriegswaffen und Kriegsgeräten“3653. Der Nordatlantikpakt wurde am 14. Juni 1984 abermals Ziel terroristischer Ak­ tivitäten der „Revolutionären Zellen“. Bei Lorch in Baden-Württemberg beschädigten sie eine Versorgungsleitung des Verteidigungsbündnisses. Das Bekennerschreiben gipfelte in dem Ausruf, „die antiimperialistische Front [zu] organisieren!“3654 Im Schlussteil des Papiers wiederholten die Autoren zudem zentrale Forderungen der Inhaftierten aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“, womit der solidarischen Haltung der RZ gegen­ über den „politischen Gefangenen“ der RAF erneut Ausdruck verliehen wurde.3655 Dass diese Verbundenheit unverändert engen Grenzen unterlag, ließ sich Anfang 1985 nachvollziehen. Nachdem verurteilte Aktivisten der „Rote Armee Fraktion“ zwischen dem 4. Dezember 1984 und 5. Febru­ ar 1985 die Nahrungsaufnahme verweigert und die „Aktiven“ der RAF in Absprache mit der französischen „Action Directe“ eine Attentatsserie zum Abschluss geführt hatten,3656 brachte die „Tageszeitung“ einen Text in Um­ lauf, der von einer „Revolutionären Zelle“ unter dem Titel „Die Bilanz ist schlimm“ niedergeschrieben worden war.3657 Sichtbar ernüchtert blickte sie auf die „Offensive“ der RAF zurück: Befördert habe die Dritte Generati­ on „das Gespenst einer westeuropäischen kommunistischen Guerilla, das den Vorwand für eine neue Stufe der deutsch-französischen Innenaufrüs­ tung liefert.“3658 Sie favorisiere Gewalt, „die sich selbst diskreditiert und mit der kein Mensch mehr Befreiung verbinden kann.“3659 Diese Einschät­ zungen waren innerhalb der „Revolutionären Zellen“ offenbar nicht Kon­ sens. Gegen die Veröffentlichung in der „Tageszeitung“ erhob eine weitere RZ Einspruch, der unter anderem in dem vom RAF-Umfeld herausgege­

3652 3653 3654 3655 3656 3657 3658

Vgl. ebd., Band 1, S. 319. Ebd. Ebd., S. 384. Vgl. ebd. Vgl. Horchem 1986, S. 5-6. Vgl. Horchem 1988, S. 93. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 179. 3659 Ebd.

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benen Periodikum „Zusammen Kämpfen“ abgedruckt wurde.3660 Frappie­ rend war die Ähnlichkeit zwischen der dabei vertretenen Argumentation und der ablehnenden Haltung, die Aktivisten des Netzwerks 1977 anläss­ lich des offenen Briefes einer „Revolutionären Zelle“ an die „Rote Armee Fraktion“ bezogen hatten. So äußerten die Kritiker, der in der „Tageszei­ tung“ erschienene Beitrag stamme nicht von den RZ. Er sei „falsch und opportunistisch“3661, seine „Funktion […] Spaltung, Desorientierung, Dis­ kreditierung.“3662 Nutzen bringe er lediglich dem deutschen Staat sowie den „politischen Gegnern revolutionärer Politik.“3663 Die Autoren dieser Bewertungen räumten zwar die von den „Revolutionären Zellen“ aufrecht­ erhaltene Abgrenzung zur „Roten Armee Fraktion“ ein, sprachen sich aber pauschal gegen jegliches öffentlichkeitswirksame Abrechnen mit der RAF aus. Unverkennbar war in diesen Aussagen die Annahme einer im Linksterrorismus existierenden „Basissolidarität“: „Die politische Differenz der RZ zur RAF drückt sich […] seit 1973 in dem Versuch [aus], eine andere, sozialrevolutionäre Linie […] prak­ tisch zu entwickeln. Nur darum geht es und nicht Scheiße auf Freun­ dinnen und Freunde zu schmeißen, die uns in diesem furchtbaren Land näher sind als die meisten anderen.“3664 Am 8. März 1985 griffen die RZ das Scheitern des Arbeitskampfes briti­ scher Bergarbeiter auf: Anschläge trafen die „Industriegewerkschaft Berg­ bau und Energie“ in Bochum, den „Gesamtverband des Deutschen Stein­ kohlenbergbaus“ in Essen sowie das Unternehmen „Schifffahrt KG Peter Döhle“ in Hamburg.3665 Schriftlich schrieben ihnen die „Revolutionären Zellen“ eine Mitschuld am erfolglosen Ausgang des Streiks zu.3666 Glei­ chermaßen antikapitalistisch gerierten sich die RZ im April 1985 mit An­ griffen auf die „Deutsche Bank“, den „Gesamtverband der Metallindustrie“ und den Chemiekonzern „Hoechst“. Verstanden wissen wollten sie die Aktionen als Zeichen gegen den globalen Einfluss von Konzernen, eine

3660 Vgl. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 18-19. 3661 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 180. 3662 Ebd., S. 181. 3663 Ebd. 3664 Ebd. 3665 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 127. 3666 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 524.

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„Neustrukturierung der Produktionsverhältnisse“3667 und einen „Wechsel in eine qualitativ neue und extrem verschärfte Ausbeutungsära.“3668 In ver­ gleichbarem Tenor verbrämte die „Rote Zora“ einen Sprengstoffanschlag gegen „Siemens“ im niedersächsischen Isernhagen. Zusätzlich verwies sie auf die Rolle des Unternehmens im Rüstungsgeschäft.3669 Während die RZo im Frühjahr 1985 die „Entwicklung von Bio- und Gentechnologie“3670 in das Zentrum ihrer Handlungen rückte, hielten die „Revolutionären Zellen“ im Wesentlichen an ihrer bisherigen propa­ gandistischen Arbeit fest. Am 13. April 1985 zündeten die „Zoras“ einen Sprengsatz am entstehenden „Institut für medizinische und biologische Forschung“ der Universität Heidelberg,3671 da in diesem „Bio- und Gen­ technologie weiter entwickelt und gebrauchsfähig gemacht werden [soll] für die Großindustrie.“3672 Die Folgen dieses Fortschritts seien verheerend: So wäre unverkennbar, „dass Hunger in der 3. Welt durch gierige Aus­ beutung imperialistischer Länder produziert wird, und dass die neuen Genprodukte diese Länder noch ärmer und den Hunger noch größer ma­ chen.“3673 Anknüpfend an diese ideologische Stoßrichtung formulierten sie das Tatbekenntnis zum Anschlag auf ein Gebäude des „Max-Planck-In­ stituts“ am 19. August 1985 in Köln.3674 Darin schilderten sie, gentechno­ logische Errungenschaften schüfen „Macht über […] Nahrungsmittel und ihre Produktion“3675. Insofern seien sie zu begreifen als „Waffe der Metro­ polen gegen die ‚3. Welt‘.“3676 Verantwortung für die Aktion gegen das „Botanische Institut“ der Universität Köln am 7. Oktober 1985 übernahm nicht nur die „Rote Zora“, sondern auch eine Gruppe der „Revolutionären Zellen“. Zutage trat damit aufs Neue die bei Aktivisten beider Akteure gegebene Bereitschaft, ungeachtet der 1984 beschlossenen thematischen „Trennung“ Gelegenheiten zur Kooperation auszuschöpfen.

3667 3668 3669 3670 3671 3672 3673 3674 3675 3676

Ebd., Band 1, S. 332. Ebd. Vgl. ebd., S. 332-333. Bundesministerium des Innern 1986, S. 126. Vgl. ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 616. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 126. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 615. Ebd.

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Die „Revolutionären Zellen“ beschädigten im Mai 1985 eine Pipeline der NATO bei Mörfelden.3677 Angriffe auf Anbieter informationstechni­ scher Lösungen in Dortmund und Hamburg Anfang Dezember 1985 er­ klärten sie anhand der „Logik der Computer“3678, welche in der „Ausbeu­ tung und Unterwerfung, der Zersplitterung und Selektion, der Erfassung und Repression“3679 Verwendung fänden. Darüber hinaus suchten die RZ im Herbst und Winter 1985 ein öffentliches Bewusstsein für das Vernetzen der bundesdeutschen Wirtschaft mit dem – vermeintlich – „faschistischen“ Regime der Republik Südafrika zu schaffen. Wie bereits in dem 1977 herausgegebenen Papier zum Anschlag auf MAN3680 werteten die „Revolu­ tionären Zellen“ diese Verflechtungen nach Angriffen auf die „Zahnradfa­ brik Friedrichshafen“, „Daimler-Benz“, „Brüggemann & Brand“ und die „Fahrzeug‑Werke Lueg“ zwischen Oktober 1985 und Januar 1986 als Teil imperialistischer Herrschaftssicherung.3681 Ab 19853682 konkretisierte sich der zuvor in den RZ gefasste „Be­ schluss […], für eine Flüchtlingskampagne überregional zusammenzuar­ beiten“3683. Als treibende Kraft in der Umsetzung lassen sich rückblickend die „Revolutionären Zellen“ in Westberlin identifizieren, in denen sich Mitglieder aus der Entstehungsphase des Netzwerks sammelten. Mitte der 1980er Jahre existierten in der intern als „Insel“ beschriebenen Stadt zwei Gruppen, die unter der Selbstbezeichnung der RZ auftraten: Eine „Zelle“ trugen Matthias Borgmann, Axel Haug sowie ein bislang lediglich unter dem Tarnnamen „Toni“ bekannter Aktivist. In einem weiteren Zusam­ menschluss wirkten Gerhard Albartus, Lothar Ebke, Sabine Eckle, Harald Glöde, Tarek Mousli und Rudolf Schindler. Ebke und Mousli traten im Laufe des Jahres 1985 in die Strukturen der „Revolutionären Zellen“ ein – Mousli durch das Werben Gerhard Albartus‘. Beide hatten zuvor mit „Radio Kebab“ und „Radio Utopia“ eigene illegale Sender aus der Taufe gehoben und schließlich eine „Funkgruppe“ gegründet, die polizeiliche Kommunikation abhörte.3684 In engem Austausch mit den in Westberlin

3677 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 126-127. 3678 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 326. 3679 Ebd. 3680 Vgl. ebd., S. 353. 3681 Vgl. ebd., Band 2, S. 530-533. 3682 Vgl. Kram 2009. 3683 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 99. 3684 Vgl. Dietrich 2009, S. 153-154.

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aktiven Mitgliedern der RZ habe Thomas Kram gestanden, der mit Adri­ enne Gerhäuser (genannt „Lea“), einer Angehörigen der „Roten Zora“, eine Liebesbeziehung führte. Ihm sei – ebenso wie Sabine Eckle – die Position eines „Vordenkers“ zugesprochen worden.3685 Details der auf Flüchtlingspolitik basierenden Agitation waren Gegen­ stand einer Versammlung von etwa 20 bis 22 Mitgliedern mehrerer „Revo­ lutionärer Zellen“ in Österreich. Zu dem Teilnehmerkreis sollen „aktive Militante aus der Gründerzeit“3686 der RZ gehört haben, darunter Kram. Seinen Erinnerungen zufolge debattierten die Anwesenden „das generelle Konzept der Kampagne und […] die Möglichkeit gezielter, nicht lebensge­ fährdender Anschläge gegen ein oder zwei Personen“3687. Er selbst habe derartige Aktionen als denkbar erachtet. Potentielle Anschlagsziele seien nicht besprochen worden.3688 Diskussionen hierzu entspannen sich in der Folge: So ist in Gerichtsakten die Rede von einem Treffen im Jahre 1986, auf dem „Revolutionäre Zellen“ Brandanschläge gegen den Besitz von Mitarbeitern des „Deutschen Roten Kreuzes“ in Westberlin sowie den Schusswaffeneinsatz gegen Harald Hollenberg, Leiter der Westberliner Ausländerbehörde, auf die Tagesordnung setzten.3689 Offenbar ist in diesen Zusammenkünften eine Umkehr der Entwicklung zu sehen, welche im Zuge der Kontroversen 1976 um die im ugandischen Entebbe gescheiter­ te Flugzeugentführung Einzug gehalten hatte: Die nach Wilfried Böses und Brigitte Kuhlmanns Tod ausgebaute Entscheidungs- und Handlungs­ autonomie der am Netzwerk beteiligten Gruppen wich der Bereitschaft, Abstimmungsprozesse zu intensivieren. Eine entsprechende Deutung fand sich in einem 2001 veröffentlichten Zeitungsartikel namentlich nicht be­ kannter ehemaliger Aktivisten der RZ. Sie schrieben, „[ü]ber das gemein­ same Thema [der Flüchtlingskampagne] entwickelte sich, anders als je zuvor, […] eine gemeinsame Diskussion […] um eine […] verbindliche Linie.“3690 Ergebnis der unter den „Revolutionären Zellen“ verstärkten Beziehun­ gen war zunächst eine unter anderen von Matthias Borgmann maßgeblich vorangetriebene Aktion zur Beschaffung monetärer Mittel. Am 25. April 1986 ließen sich Mitglieder der RZ in Westberlin und Westdeutschland – 3685 3686 3687 3688 3689 3690

Vgl. Falck 2007b; Dietrich 2009, S. 155; Kram 2009; Igel 2012, S. 110. Kram 2009. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 157. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 128.

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unter ihnen neben Borgmann Sabine Eckle, Harald Glöde, Axel Haug und Rudolf Schindler – mittels gefälschter Postsparbücher mehrere 100 000 DM auszahlen.3691 Wenige Wochen später – am 1. Juni 1986 – legten die „Revolutionären Zellen“ mit einem gescheiterten Angriff auf das Einwohnermeldezentralamt in Hamburg den Grundstein für eine erste Anschlagsserie, die bis Oktober 1986 anhalten und der Lage der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Schutzsuchenden Publizität ver­ schaffen sollte.3692 Am 17. August 1986 trafen die RZ die Hamburger Ausländerpolizei, am 31. August 1986 das Bundesverwaltungsamt in Köln sowie das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg.3693 In Bekennerschreiben protestierten sie gegen – vermeintlich – ungerechtfertigte Ablehnungen von Asylanträgen3694 sowie gegen „Strategien, die auf eine Liquidierung und Durchstaatlichung der Ausländerkolonien und -communities, ihres Solidaritätsnetzes, ihrer verdeckten Strukturen, ihrer Subkulturen und il­ legalen Lebensformen“3695 ausgerichtet seien. Ins Visier des Netzwerkes geriet im September 1986 ferner der Landesverband des „Deutschen Roten Kreuzes“ in Westberlin, da dieser aus dem Versorgen von Flüchtlingen Profit schlagen würde.3696 Am 25. September 1986 richteten sich Aktionen der „Revolutionären Zellen“ gegen die Ausländerbehörden in Hagen und Hamm; am 28. Oktober 1986 wurde das Flugunternehmen „Lufthansa“ in Köln aufgrund der Beteiligung an Abschiebungen Opfer ihrer Gewalt.3697 Den vorläufigen Höhepunkt der „F-Kampagne“ erreichten die RZ am selben Tag in der Idsteiner Straße in Westberlin. Verwirklicht wurde der von Matthias Borgmann vorgeschlagene Angriff auf Harald Hollenberg, dem umfassende Vorbereitungsmaßnahmen vorausgegangen waren. Zwei Täter gaben mehrere Schüsse auf seine Beine ab. Um die Ermittlungsarbeit der Polizei zu erschweren, setzten sie den anschließend genutzten Flucht­ wagen in Brand.3698 Als „Menschenjäger und […] Schreibtischtäter“3699,

3691 3692 3693 3694 3695 3696 3697 3698 3699

Vgl. Dietrich 2009, S. 156-157. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 135. Vgl. Der Spiegel 1986d, S. 148; Horchem 1988, S. 94. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 546. Ebd. Vgl. ebd., S. 547-548. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 135. Vgl. Der Spiegel 1986d, S. 147; Dietrich 2009, S. 157-158. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 550.

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so die unter Federführung von Borgmann, Eckle und Kram erarbeitete3700 schriftliche Rechtfertigung des Netzwerks, sei Hollenberg „zuständig für den täglichen Terror, für die über hunderttausend Kontrollen, für zehn­ tausende von Festnahmen, für tausende von Razzien im Jahr auf ‚aus­ länderrelevante Orte‘.“3701 Wie Borgmann 2017 in einem Interview mit der „Tageszeitung“ ergänzend ausführte, habe sein Handeln zu einer „un­ menschlichen Abschiebesituation“3702 in der Bundesrepublik beigetragen. Erstmals nach 1981 erzielten die RZ mit dem „Knieschussattentat“ auf Hollenberg Personenschaden. Während des ab März 2001 geführten Gerichtsverfahrens gegen Borgmann, Eckle, Glöde und Haug3703 wurde ersichtlich, dass diese Gewaltqualität innerhalb der Westberliner „Zellen“ umstritten war. Lothar Ebke und Tarek Mousli sollen im Vorfeld des An­ griffs „in einer heftigen und erregten Diskussion“3704 Bedenken geäußert haben. Offenbar verwiesen sie dabei auf den Angriff gegen den hessischen Wirtschaftsminister Heinz-Herbert Karry, den eine „Revolutionäre Zelle“ wohl unbeabsichtigt getötet hatte. Beide wären jedoch schlussendlich von dem Vorhaben überzeugt worden. Ausschlaggebend gewesen sei der Hin­ weis auf bereits vorgenommene Schießübungen, welche das Risiko einer tödlichen Verletzung minimieren sollten.3705 Diese Erkenntnisse fügen sich in das Bild ein, das ehemalige Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ 2001 in einem Beitrag für die „Jungle World“ zu den internen Differen­ zen Mitte der 1980er Jahre zeichneten. Uneinigkeit bestand demnach angesichts der Frage, ob es legitim ist, „einzelne ‚Pigs anzukratzen‘“3706. Kritiker sahen darin wohl einen „Rückbezug auf die siebziger Jahre“3707, der an die Formen des „bewaffneten Kampfs“ aus der Anfangsphase der RZ anzuknüpfen suchte. Da die vom Netzwerk angewandte Gewalt gegen Personen im Umfeld weitaus weniger kontrovers aufgenommen worden wäre, hätte sie im internen Austausch jedoch rasch an Bedeutung verloren. An ihre Stelle getreten sei die Überlegung, „einen beständigen Schutz für die Flüchtlinge“3708 in Deutschland zu gewährleisten. Ins Auge gefasst

3700 Vgl. Dietrich 2009, S. 158. 3701 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 551. 3702 Borgmann/Fanizadeh 2017. 3703 Vgl. Latsch 2001, S. 70. 3704 Dietrich 2009, S. 157. 3705 Vgl. Dietrich 2009, S. 157. 3706 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 3707 Ebd. 3708 Ebd.

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worden wäre die Option, „Ausländerbehörden […] substanziell zu zerstö­ ren, statt nur Löcher in die Wände zu machen“3709. Darüber hinaus habe der Vorschlag Raum erhalten, jede Abschiebung in den Stadtstaaten der Bundesrepublik mit einem Anschlag im innerstädtischen Bereich zu ver­ gelten.3710 Um die Vermittelbarkeit der bislang nur in Bekennerschreiben ideolo­ gisch eingeordneten Agitation gegen den staatlichen Umgang mit Schutz­ suchenden zu steigern, entschieden sich die „Revolutionären Zellen“ für ein Wiederbeleben ihres nach 1981 ungenutzten Sprachrohrs „Revolutio­ närer Zorn“. Ab Ende Oktober 1986 verbreitete sich eine Extraausgabe des Blattes, das sich ausschließlich der „F-Kampagne“ widmete.3711 Anteil an der Erarbeitung und Distribution der Sondernummer hatte unter anderem Thomas Kram.3712 Nach Einschätzung der Autoren war „[d]ie Flüchtlings­ frage […] Teil eines globalen Klassenkampfes und Ausdruck eines vom im­ perialistischen Weltsystem gesetzten Widerspruchs, der ein Proletariat neu­ en Typs hervorbringt; die mobilisierten, vertriebenen, entwurzelten Mas­ sen der 3. Welt.“3713 Das Unterdrücken dieser Massen in den „Metropolen“ müsse durch Widerstand aufgebrochen werden, welcher nicht zuletzt auf „offene Grenzen“3714 drängt. Unterstützung in dieser Auseinandersetzung erwarteten sich die RZ von der „autonome[n] und sozialrevolutionäre[n] Linke[n] in der BRD“3715. Nach dem Veröffentlichen dieser Zeilen gingen die Westberliner „Revolutionären Zellen“ dazu über, die Detonation einer Sprengvorrichtung an der aus ihrer Sicht „rassistischen“3716 Zentralen Sozi­ alhilfestelle für Asylbewerber zu planen. Über mehrere Wochen hinweg spähten ihre Mitglieder die Liegenschaft aus, um Sicherheitsmaßnahmen in Erfahrung zu bringen. In der Nacht zum 6. Februar 1987 installierten sie Explosivstoff an der Außenmauer des Gebäudes, der durch einen Zeit­ zünder detonierte. Es entstand Sachschaden in Höhe von 5000 DM.3717 Die „Rote Zora“ untermauerte unterdessen ihre Intention, bio- und gentechnologische Forschung als gesellschaftliches Konfliktfeld zu etablie­

3709 3710 3711 3712 3713 3714 3715 3716 3717

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 135; Horchem 1988, S. 94. Vgl. Kram 2009. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 542. Ebd., S. 540. Ebd., S. 542. Ebd., S. 552. Vgl. Dietrich 2009, S. 159.

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7.2 Aktionsphase

ren. Am 5. August 1986 legte sie Feuer im „Institut für Humangenetik“ in Münster, dem sie die Funktion eines „Baustein[s] für die in der BRD angestrebten flächendeckenden Kontrollen über menschliches Leben und Reproduktion“3718 zuschrieb. Zudem entwendeten „Zoras“ Unterlagen aus dem Archiv des Instituts, deren Auswertung sie im Januar 1987 prä­ sentierten. Anhand der Materialien schlossen sie auf ein systematisches Verharmlosen des Einflusses externer Faktoren, wie zum Beispiel Medika­ mente und Giftstoffe, im Entstehen von Krankheiten und Mutationen.3719 Mitte September 1986 wandten sich die „Lolas“ mit einem Sprengstoffan­ schlag gegen die „Gesellschaft für biotechnologische Forschung“ in Braun­ schweig. Ein unter Beteiligung Adrienne Gerhäusers vollzogener Angriff auf die „Biotechnische Institut GmbH“ am 18. Oktober 1986 in Westber­ lin scheiterte.3720 Nach dieser Aktion verzichtete die RZo vorerst auf wei­ tere Gewalttaten. In Erscheinung traten sie erst wieder Mitte Juni 1987, als sie versuchten, einen Bombenanschlag auf den Sitz des Textilkonzerns „Adler“ in Haibach zum Abschluss zu bringen.3721 Auch dieser wurde mit Gerhäuser in Verbindung gebracht. Konstruiert worden waren die bei beiden Taten abgelegten Sprengkörper unter anderem mit einem Wecker des Typs „Emes Sonochron“,3722 den ebenso die RZ bei ihrem Angriff auf die „Lufthansa“ im Oktober 1986 verwendet hatten.3723 Entgegen der 1985 und 1986 dokumentierten Gewalthandlungen der „Roten Zora“ bildeten ihre „Vorstellungen von internationaler Solidari­ tät“3724 den Kontext der Agitation gegen „Adler“. Das Unternehmen be­ schäftigte in Europa rund 6000 Mitarbeiter. Die Produktion übernahmen etwa 3200 Angestellte in Südkorea und auf Sri Lanka.3725 Im Auftrag des Konzerns eingesetzte südkoreanische Arbeiter waren im April 1987 in den Ausstand getreten, um Lohnerhöhungen und ein Verbessern ihrer Arbeitsbedingungen durchzusetzen. In der Interpretation der RZo sei der Streik auf Betreiben der Unternehmensleitung durch eine gewaltsame Nie­ derschlagung beendet worden. Außerdem wären Entlassungen zu beob­

3718 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 617. 3719 Vgl. ebd., S. 623-625. 3720 Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 135; Horchem 1988, S. 95; Falck 2007b. 3721 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 77. 3722 Vgl. Falck 2007b. 3723 Vgl. Der Spiegel 1988, S. 95; Der Spiegel 1989a, S. 64; Backes 1991, S. 90. 3724 Rote Zora 1993. 3725 Vgl. Horchem 1988, S. 95; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 83.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

achten gewesen. Laut Bekennerschreiben der „Zoras“ sollte der Anschlag auf die Zentrale in Haibach dem Arbeitskampf in Südkorea Nachdruck verleihen.3726 In den Werken in Südostasien herrsche „Lohnsklaverei“3727, die „auf sexistischer und rassistischer Ausbeutung von Frauen“3728 beruhe. Sie spiegele sich wider in nicht vergüteter Mehrarbeit, niedrigem Stunden­ lohn und Arbeitsunfällen.3729 Die Erklärung der RZo mündete in der Aufforderung, dem „imperialistisch‑patriarchalen System“3730 die Stirn zu bieten. Sie selbst setzte diese Losung erneut am 15. August 1987 um: Nahezu zeitgleich zündeten in „Adler“-Vertretungen in Bremen, Frank­ furt am Main, Halstenbek, Holzwickede, Isernhagen, Kassel, Oldenburg und Neuss Brandsätze. Die in der Filiale in Aachen abgelegten Bomben konnten die Sicherheitsbehörden entschärfen. Der entstandene Schaden belief sich in ersten Schätzungen auf 30 bis 35 Millionen DM.3731 Etwa einen Monat später wurde eine Dependance des Konzerns in Westberlin Opfer einer Frauengruppe, deren Mitglieder sich schriftlich als „Amazo­ nen“ und „Schwestern“ der „Lolas“ vorstellten.3732 Das bundesweite, koor­ dinierte Vorgehen der „Roten Zora“ sei in den „Revolutionären Zellen“ „mit größter Hochachtung“3733 gewürdigt worden. In den Medien fand die Gewaltwelle ebenfalls Resonanz.3734 Die RZo verbuchte sie als „poli­ tische[n] Erfolg“3735. Grund hierfür war der Umgang des Textilunterneh­ mens mit den Angriffen auf seine Vertretungen: Im August 1987 hatte „Adler“ angegeben, die Vergabe von Aufträgen an die südkoreanische Pro­ duktion einzustellen. Dabei unterstrich die Firma das drohende Risiko von Kurzarbeit und Entlassungen.3736 Am 12. September 1987 rückte das Textilunternehmen von dieser Abwehrhaltung ab: Die Leitung machte den Beschluss publik, Kündigungen in Südkorea aufheben und Lohnstei­ gerungen vornehmen zu wollen.3737

3726 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 628, 631. 3727 Ebd., S. 629. 3728 Ebd. 3729 Vgl. ebd., S. 630. 3730 Ebd., S. 631. 3731 Vgl. Der Spiegel 1987c, S. 82. 3732 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 78. 3733 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 3734 Vgl. Der Spiegel 1987c. 3735 Rote Zora 1993. 3736 Vgl. Der Spiegel 1987c, S. 83. 3737 Vgl. Horchem 1988, S. 96.

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7.2 Aktionsphase

Augenscheinlich verschärfte sich in dieser Zeit der Konflikt, den die „Rote Zora“ und die „Revolutionären Zellen“ um die künftige Ausrich­ tung ihrer terroristischen Praxis führten. So berichtete das Nachrichtenma­ gazin „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 24. August 1987 über ein unter dem Titel „Der Weg zum Erfolg – RZ“ erschienenes Buch, in dem die RZo „frauenfeindliche Geschichtsschreibung“3738 zu erblicken vermoch­ ten. Den in den Reihen der „Revolutionären Zellen“ zu vermutenden Urhebern des Werks sprachen sie den Vorwurf aus, „in altbekannter männlicher Alltagsmanier“3739 den Widerstand der Frauen unberücksich­ tigt gelassen zu haben. Dementsprechend plädierten sie für ein Vernich­ ten bereits verteilter Exemplare der Dokumentensammlung.3740 Darüber hinaus forcierte die „Rote Zora“ die organisatorische Abspaltung von den „Revolutionären Zellen“.3741 Welche Erwägungen die „Lolas“ zu diesem Schritt zwangen, machten sie erst 1993 in ihrer umfangreichen Erklärung „Mili’s Tanz auf dem Eis“ transparent. Vor dem Hintergrund der struktu­ rellen Verflechtung skizzierten sie die wiederholte Einbindung „in von Männern gesetzte Diskussionsprozesse“3742. Diese lenkten Frauen „immer wieder auf das Gleis der Orientierung an männlichen Normen“3743 und stünden damit „der Herausbildung einer revolutionär‑feministischen Per­ spektive“3744 entgegen. Vom Streit mit der RZo unberührt blieb das Aktionsniveau der „Re­ volutionären Zellen“. Am 4. Juni 1987 stahlen Angehörige der norddeut­ schen RZ rund 133 Kilogramm gewerblichen Sprengstoffs sowie Spreng­ schnur aus einem Steinbruch bei Salzhemmendorf. 20 Kilogramm der Explosivmittel verstauten die Westberliner „Zellen“ in einem Depot, das Lothar Ebke im Mehringhof in Kreuzberg eingerichtet hatte. Auf einer überregionalen Zusammenkunft der „Revolutionären Zellen“ im Sommer 1987 wurde eine Zwischenbilanz zum Verlauf der „F-Kampagne“ gezogen. Eine Mehrheit plädierte für ein weiteres Attentat auf einen Behördenver­ treter. Als geeignetes Ziel stufte das Netzwerk Günter Korbmacher ein, der die Position des Vorsitzenden Richters im 9. Senat des Bundesverwaltungs­ gerichts in Westberlin wahrnahm. Aktivisten der RZ, darunter Lothar Eb­ ke und Tarek Mousli, stellten sodann fest, ob Korbmacher unter polizeili­ 3738 3739 3740 3741 3742 3743 3744

Rote Zora, zit. n. Der Spiegel 1987c, S. 83. Rote Zora, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Wörle 2008b, S. 272; Dietrich 2009, S. 150; Pfahl-Traughber 2014a, S. 176. Rote Zora 1993. Ebd. Ebd.

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chem Schutz stand. Durch Beobachtungen zeichneten sie außerdem seine Lebensgewohnheiten nach. Am 11. August 1986 brachten Ebke, Glöde und Mousli einen Fluchtwagen widerrechtlich in ihren Besitz. Zur Tat schritten die Westberliner „Zellen“ am 1. September 1987. Nachdem der Richter seine Unterkunft im Berliner Bezirk Lichterfelde verlassen hatte, feuerten sie auf ihn. Zwei Kugeln trafen seinen linken Unterschenkel. Am darauf folgenden Tag brachten die „Revolutionären Zellen“ das Tatbe­ kenntnis in Umlauf.3745 In dem von Ebke und Mousli als „unverständlich und intellektuell überhöht“3746 kritisierten Schreiben gab das Netzwerk an, Korbmacher wäre bereit gewesen, „vehement eine Grundgesetzände­ rung des Asylrechts zu fordern, damit in Zukunft garantiert sei, dass nur noch politisch handverlesene und ökonomisch verwertbare, vorselektierte Immigranten zur Disposition stünden.“3747 Das Bundesverwaltungsgericht trage mit seiner Rechtsprechung zu Asylbescheiden zur „rechtliche[n] Le­ gitimierung einer Praxis internationaler Aufstandsbekämpfung“3748 bei. Neben der ideologischen Einordnung des „Knieschussattentats“ lieferten die Autoren eine ausführliche Erklärung zu Zweck und Grenzen ihrer gegen Personen gerichteten Gewalt. Hierbei ließen sie sich auch zu einzel­ nen Attentaten der „Roten Armee Fraktion“ aus. Während ihnen die „Hin­ richtung des Menschenjägers [Siegfried] Buback“3749 begründet erschien, verurteilten sie den am 10. Oktober 1986 begangenen Mord an Gerold von Braunmühl.3750 Nur wenige Tage nach dem Schusswaffeneinsatz gegen Korbmacher zogen Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ in Nordrhein-Westfalen mit einer Aktion nach. Am 5. September 1987 legten sie Feuer an einem Ge­ bäude in Dortmund, in dem das örtliche Arbeitsamt sowie die Außenstelle des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFL) untergebracht waren. Nahezu vollständig zerstörte der Brand das Aktenar­ chiv des BAFL. Beide Behörden praktizierten nach Auffassung der Täter eine „Sonderbehandlung von Minderheiten mit dem Ziel der Kontrolle und der Selektion, mit der Intention [sic] rassistisch vermittelte Klassen­ spaltung zu schaffen [sic] und der stillschweigenden Akzeptanz der Aus­

3745 Vgl. Dietrich 2009, S. 160-162. 3746 Tarek Mousli, zit. n. Dietrich 2009, S. 162. 3747 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 556. 3748 Ebd., S. 555. 3749 Ebd., S. 558. 3750 Vgl. ebd.

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7.3 Niedergang

pressung in ungarantierten Arbeitsverhältnissen.“3751 Weitere Anschläge unter dem Deckmantel – vermeintlicher – staatlicher Unterdrückung in der Flüchtlingspolitik blieben 1987 aus. Stattdessen beriefen sich die RZ bei einem Angriff auf Transportfahrzeuge des Supermarktbetreibers „Re­ we“ am 1. November 1987 in Wesel auf ein Themenfeld, das bereits die „Rote Zora“ ihrer Gewalt gegen „Adler“ zugrunde gelegt hatte: den Ein­ satz weiblicher Arbeitskraft in der Dritten Welt.3752 Indem „Rewe“ land­ wirtschaftliche Erzeugnisse aus Südafrika feilbiete, stütze das Unterneh­ men das dortige Ausbeuten von Frauen. Arbeiterinnen würden beschäftigt werden „unter Bedingungen, die die gesamte Breite der kapitalistischen und sexistischen Unterdrückung darstellen“3753. 7.3 Niedergang 7.3.1 „Aktion Zobel“, Tod Gerhard Albartus‘, interner Richtungskampf (1987 bis 1989) Die Vielzahl und -falt ihrer Anschläge auf Objekte und Personen schlug sich in Bewertungen nieder, welche deutsche Sicherheitsbehörden zu den „Revolutionären Zellen“ und der mit ihnen bis 1987 verbundenen Frau­ engruppe „Rote Zora“ während der 1980er Jahre aufstellten. 1984 konsta­ tierte das Bundeskriminalamt in einer Analyse, das Netzwerk berge „ge­ genwärtig das stärkste und gefährlichste terroristische Gewalttäterpotenti­ al“3754. Derartige Bewertungen fußten überdies auf dem erfolgreichen Ab­ schirmen interner Strukturen der RZ und RZo gegen nachrichtendienstli­ che wie polizeiliche Ermittlungen.3755 Der letzte substantielle Aufklärungs­ erfolg der Strafverfolgungsbehörden – die Festnahmen 1978 nach der von Hermann Feiling versehentlich ausgelösten Sprengstoffexplosion – lag Jah­ re zurück. Um erneut einen Durchbruch in der Fahndungsarbeit erreichen zu können, konzentrierte sich das BKA wohl ab 1984 auf das Beweismate­ rial, das nach Gewalttaten der „Revolutionären Zellen“ und „Roten Zora“ an den Tatorten gesammelt worden war. In einem Vergleich sichergestell­

3751 Ebd., S. 559. 3752 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 78-79; Horchem 1988, S. 96. 3753 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 536. 3754 Bundeskriminalamt, zit. n. Horchem 1988, S. 92-93. 3755 Vgl. ebd., S. 93.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

ter Bombenkomponenten ergab sich, dass bei rund 40 Anschlägen der im Schwarzwald gefertigte Wecker „Emes Sonochron“ Verwendung gefunden hatte. Als der Hersteller Ende 1984 die Produktion des Geräts auslaufen ließ, erwirkte das Bundeskriminalamt ein Einlagern der letzten Chargen. Auf Zifferblättern, Uhrwerk und Verpackung von rund 4000 Weckern wurde eine mehrstellige Nummer vermerkt. Anschließend dokumentierte das BKA die Auslieferung an den Einzelhandel. In zahlreichen Geschäften, die in räumlichen Aktionsschwerpunkten des Netzwerks (unter anderem Bochum, Dortmund, Essen und Köln) lagen, installierte die Behörde Vi­ deoüberwachung. Insgesamt beliefen sich die hierbei entstandenen Kosten auf etwa 105 000 DM. Zusätzlich kamen Observanten zum Einsatz. Suk­ zessive sammelte das Bundeskriminalamt Bilder zu hunderten Personen, die einen „Emes Sonochron“ erwarben. Die aufwändige Maßnahme zahlte sich aus: Am 11. September 1986 verlangte eine Frau in einem Laden in Köln einen der markierten Wecker. Er diente Wochen später als Zünder im Anschlag auf die „Lufthansa“. Im Februar 1987 ordnete die Polizei das Bild per Zufall der Käuferin Ingrid Strobl zu.3756 Ebenfalls beim Erlangen eines „Emes Sonochron“ beobachtet wurden drei weitere, vom BKA als relevant eingeschätzte Frauen, darunter Adrienne Gerhäuser und Corinna Kawaters.3757 Auf Basis dieser Erkenntnisse traf die Polizei Vorkehrungen für umfang­ reiche Exekutivmaßnahmen gegen 23 Personen,3758 welche sie den „Revo­ lutionären Zellen“ beziehungsweise der „Roten Zora“ zurechneten.3759 Zwischen dem 18. und 21. Dezember 1987 setzten die Sicherheitsbehör­ den die Planungen in der „Aktion Zobel“ um: In Bochum, Essen, Düssel­ dorf, Duisburg, Hamburg, Hannover, Köln und Ratingen verschafften sich Polizeibeamte Zutritt zu Privatwohnungen und Arbeitsräumlichkeiten. Zu den betroffenen Objekten gehörte die Vertretung der „Tageszeitung“ in Bochum, in der Corinna Kawaters als Redakteurin wirkte.3760 Zwölf Personen nahmen die Behörden fest.3761 Arretiert wurden unter anderen die Schriftsetzerin Ursula Penselin und die als Journalistin tätige Ingrid Strobl. Da sich die gegen Penselin gerichteten Verdachtsmomente augen­ scheinlich nicht erhärteten, entließen die Behörden sie wenig später in die 3756 Vgl. Der Spiegel 1988, S. 96; Der Spiegel 1989a, S. 64; Tuffner/Der Spiegel 2019; Strobl 2020, S. 10, 128, 185-186. 3757 Vgl. Der Spiegel 1988, S. 96; Bornhöft 2001, S. 46; Falck 2007a. 3758 Vgl. Winkelmann 1997; Tuffner/Der Spiegel 2019. 3759 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 82. 3760 Vgl. Winkelmann 1997; Bornhöft 2001, S. 46; Strobl 2020, S. 185. 3761 Vgl. Horchem 1988, S. 96; Backes 1991, S. 90.

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7.3 Niedergang

Freiheit.3762 Strobl hingegen musste sich ab Februar 1989 vor dem nord­ rhein‑westfälischen Oberlandesgericht in Düsseldorf in einem Prozess ver­ antworten.3763 Das Verfahren mündete in einem Urteil, das aufgrund des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung eine fünfjährige Freiheits­ strafe vorsah. Diesem Schuldspruch widersprach indes der Bundesgerichts­ hof: Die Beweislage rechtfertigte aus seiner Sicht nicht die Verurteilung nach § 129a StGB. Im Oktober 1990 kam das Düsseldorfer Oberlandesge­ richt zu einer endgültigen Entscheidung. Als erwiesen sahen die Richter nunmehr ausschließlich Strobls Beihilfe zum Anschlag auf die „Lufthansa“ im Oktober 1986 in Köln an, die sie mit drei Jahren Gefängnisaufenthalt sanktionierten. Die verbleibende Strafe setzten sie zur Bewährung aus.3764 Zu der Tat vermerkte Ingrid Strobl in ihren Erinnerungen: „Ich hatte gewusst, wofür ich den Wecker kaufte. Und ich fand den Anschlag, für den er dann verwendet wurde, ziemlich gut.“3765 Herausragende Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“ konnte die Polizei in der „Aktion Zobel“ nicht festsetzen. Grund hierfür waren offenbar mehrere Warnungen, die Mitglieder beider Ak­ teure im Vorfeld des sicherheitsbehördlichen Zugriffs erreichten. Wie Christoph Villinger am 10. April 2007 in der „Tageszeitung“ berichtete, informierte die Ehefrau eines in Köln eingesetzten Polizeibeamten die in den Fokus geratenen Frauen.3766 Eigenen Aussagen zufolge erhielt Thomas Kram durch einen Telefonanruf Kenntnis von den bevorstehen­ den Maßnahmen.3767 Wer ihn kontaktierte, lässt sich inzwischen mit Ge­ wissheit beantworten. Der Journalist Rüdiger Soldt trug 2009 in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zur Verbreitung der These bei, das Ministerium für Staatssicherheit habe Anteil an der Alarmie­ rung gehabt.3768 Ähnliches hatten schon 2001 namentlich nicht bekannte ehemalige Angehörige der RZ im Periodikum „Jungle World“ behaup­ tet.3769 2019 veröffentlichte das Onlineressort des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ ein Interview mit dem ehemaligen BKA-Beamten Martin

3762 Vgl. Der Spiegel 1988, S. 96; Winkelmann 1997; Dia-Gruppe 2001; Strobl 2020, S. 37, 185; Unsichtbare 2022, S. 40, 145. 3763 Vgl. Der Spiegel 1989a, S. 64. 3764 Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 88; Bundesministerium des In­ nern 1990b, S. 74; Der Spiegel 1990a, S. 68; Strobl 2020, S. 186-187. 3765 Strobl 2020, S. 66. 3766 Vgl. Villinger 2007, S. 7. 3767 Vgl. Kram 2009. 3768 Vgl. Soldt 2009, S. 4. 3769 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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Tuffner, der diese Aussage bestätigte. Wie sich laut Tuffner nach dem Mauerfall aus Akten des MfS nachzeichnen ließ, hatte der ostdeutsche Geheimdienst per Funk übermittelte Botschaften des BKA abgefangen und entschlüsselt. Diese enthielten die Zielpersonen der „Aktion Zobel“. Sodann waren Aktivisten der RZ anonym von einem Mitarbeiter des MfS telefonisch benachrichtigt worden.3770 Geschmälert haben dürfte den Erfolg des sicherheitsbehördlichen Zugriffs zudem das rasche Bekanntwer­ den in der Öffentlichkeit. Bereits kurz nach Beginn des Polizeieinsatzes am 18. Dezember 1987 war es dem Büro der „Tageszeitung“ in Westberlin gelungen, die Nachricht zu den Durchsuchungen über Presseagenturen zu verbreiten.3771 Mit dem Wissen um die polizeilichen Ermittlungen wählten mehrere Personen aus dem Umfeld der RZ und der RZo sowie Mitglieder beider Akteure den Weg in den Untergrund, was szeneintern als „in den Wald gehen“ umschrieben wurde.3772 Zu einem „Illegalen“ geriet Uli Dillmann. Welche Rolle er im Zusammenhang mit den „Revolutionären Zellen“ spielte, bleibt unklar. Die Zugehörigkeit zum Netzwerk konnten die Straf­ verfolgungsbehörden ihm jedenfalls nicht nachweisen. Am 12. März 1996 beendete der Generalbundesanwalt schließlich das gegen Dillmann gerich­ tete Ermittlungsverfahren nach § 129a StGB. Wenig später kehrte er in die Legalität zurück.3773 Ebenfalls die Flucht ergriffen im Zuge der „Aktion Zobel“ Corinna Kawaters, Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram sowie eine Frau, die im Quellenmaterial zu den „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“ lediglich als „Barbara D.“ ausgewiesen wird.3774 Dem ging ein überregionales Treffen von RZ‑Aktivisten Ende Dezember 1987 voraus, so Kram. Ziel dieser Zusammenkunft sei gewesen, die Perspek­ tiven der vom polizeilichen Verfolgungsdruck unmittelbar betroffenen Personen sowie die Modalitäten ihres Lebens im Untergrund zu bestim­ men.3775 Erörtert worden wäre zudem die Frage, „mit welchen politischen Mitteln die RZ auf die Razzia reagieren könnte.“3776 Barbara D., Angehö­ rige der „Roten Zora“, baute sich in der Folgezeit eine Existenz in Nica­

3770 Vgl. Tuffner/Der Spiegel 2019. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 145. 3771 Vgl. Bornhöft 2001, S. 48. 3772 Vgl. Ausführungen zum dritten Prozesstag in Protokoll zum Prozess gegen Tarek Mousli 2000; Dietrich 2009, S. 154, 166; Unsichtbare 2022, S. 145, 155. 3773 Vgl. Dillmann/Tolmein 1996, S. 28. 3774 Vgl. Bornhöft 2001, S. 46; Falck 2007a; Keller 2007; Dietrich 2009, S. 154-155. 3775 Vgl. Kram 2009. 3776 Ebd.

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7.3 Niedergang

ragua auf. 1994 beschloss sie ihre Heimkehr nach Deutschland.3777 Die Sozialwissenschaftlerin Corinna Kawaters reiste eigenen Angaben zufolge nach Paris. Im Januar 1988 gelangte sie nach Spanien. Wenige Monate später sei sie nach Frankreich zurückgekehrt, wo sie fortan gelebt habe. 1995 stellte sich Kawaters über ein Aussteigerprogramm des Verfassungs­ schutzes den deutschen Behörden. Die Justiz verurteilte sie 1998 wegen ihrer Mitgliedschaft in der „Roten Zora“.3778 Auch Adrienne Gerhäuser und Thomas Kram verließen die Bundesrepublik.3779 Offenbar bot ihnen Krams Weggefährte Johannes Weinrich Hilfe, indem er in Absprache mit der syrischen Regierung einen Unterschlupf bereitstellte.3780 Kram will in den Jahren danach vor allem brieflich den Kontakt zu den RZ in Deutsch­ land gehalten haben.3781 Beide gaben das Dasein in der Illegalität erst 2006 auf.3782 Ihr Gerichtsverfahren endete im Jahr darauf mit Schuldsprüchen – die Justiz sah ihre Mitgliedschaft im Netzwerk als erwiesen an.3783 Etwa zeitgleich zur „Aktion Zobel“ kam es im Nahen Osten zu einer weiteren personellen Schwächung der „Revolutionären Zellen“. Im No­ vember oder Dezember 1987 flog das langjährige RZ‑Mitglied Gerhard Albartus nach Syrien3784 – wohl in der Absicht, sich aus seinen interna­ tionalen Beziehungen zurückzuziehen.3785 In Damaskus traf er auf Magda­ lena Kopp,3786 der er nach ihrer Entlassung aus französischer Haft im Jahre 1985 die Ausreise aus Europa ermöglicht hatte.3787 Außerdem kam es zu einem Wiedersehen mit „Carlos“ und Johannes Weinrich. Während Weinrich nach Libyen gereist sein soll, wäre Albartus gemeinsam mit Ilich Ramírez Sánchez in den Libanon gefahren.3788 Hier wurde ihm offenbar „der Prozess gemacht“3789. Laut Magdalena Kopp verhörte ihn eine Gruppe um „Carlos“ „mit brutalen Mitteln“3790. Dabei sei ihm „ins

3777 3778 3779 3780 3781 3782 3783 3784 3785 3786 3787 3788 3789 3790

Vgl. Keller 2007. Vgl. Bornhöft 2001, S. 46-48. Vgl. Kram 2009. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 242. Vgl. Kram 2009. Vgl. Falck 2007a; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Wörle 2008b, S. 272. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 31. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 170. Vgl. Kopp 2007, S. 227. Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Kopp 2007, S. 227. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 31. Kopp 2007, S. 228.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Knie geschossen“3791 worden. Die Tortur überlebte er nicht. „Als Gerd tot war, legten sie ihn in ein Erdloch und zündeten ihn an, damit man ihn nicht mehr finden würde.“3792 Zu den Gründen dieser Tat ließen sich in Selbstzeugnissen sowohl Magdalena Kopp als auch Thomas Kram aus. Kopp gab zu verstehen, Ali Kamal Al Issawi – einer der führenden Figu­ ren innerhalb der „Organisation Internationaler Revolutionäre“ – sowie „Carlos“ hätten angenommen, Albartus sei inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Er habe als „Stasi‑Spitzel“3793 gegolten, was von Weinrich nicht dementiert worden wäre.3794 Kram wiederholte diese Argumentation 2010 in einem Interview, zog allerdings auch eigene Schlüsse: Ursächlich für Albartus‘ Tod soll zudem der Vorwurf gewesen sein, Geld unterschlagen zu haben. Ferner habe seine Homosexualität Einfluss auf den Entschluss der Täter gehabt. Kram betonte, der Mord an Albartus wäre den Mitgliedern der RZ in Deutschland zunächst nicht bekannt geworden. Seine ausbleibende Rückkehr aus dem Nahen Osten habe das Netzwerk auf die am 18. Dezember 1987 eingeleiteten Exekutiv­ maßnahmen zurückgeführt. Innerhalb der RZ sei angenommen worden, Albartus wolle sich der staatlichen Repression entziehen.3795 Nach dem Winter 1987 brachen die Aktivitäten der „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“ ein. 1988 blieben Gewalthandlungen der RZ aus: Von einer für dieses Jahr geplanten „umfangreiche[n] Kampa­ gne“3796 gegen den Internationalen Währungsfonds sahen sie ab. Die RZo trat lediglich mit einem versuchten Anschlag auf das Biotechnologische Zentrum der Technischen Universität Braunschweig in Erscheinung, bei dem ein Teil des im Juni 1987 von Mitgliedern der „Revolutionären Zel­ len“ in Salzhemmendorf entwendeten Sprengstoffs zum Einsatz kam.3797 Anknüpfend an die in vergangenen Jahren erarbeitete ideologische Linie äußerten ihre Aktivisten dazu schriftlich, die Bio- und Gentechnologie sei zu begreifen als „biologisch organisierte gigantische Vernichtung von Menschen, Pflanzen und Tieren […] im Dienste des Profits“3798. Überdies

3791 3792 3793 3794 3795

Ebd. Ebd. Ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 225-227. Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 168, 174-175. 3796 Unsichtbare 2022, S. 132. 3797 Vgl. Moreau/Lang 1996, S. 351; Dietrich 2009, S. 160. 3798 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 631.

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7.3 Niedergang

merkten sie an, die in der „Aktion Zobel“ erkennbar gewordene Strafver­ folgung werde den Widerstand der „Zoras“ nicht brechen: „Es gibt für uns nichts zurückzunehmen!“3799 Größeren Schaden erzielten lediglich Personenzusammenschlüsse aus dem Spektrum der „Autonomen“, welche das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht als „Nach­ ahmer-“ und „Resonanz‑RZ“3800 beschrieb. Diese Gruppen bezogen sich in ihrer Agitation erkennbar auf inhaltliche Positionen des Netzwerks. 1988 zeichneten sie für fünf Angriffe verantwortlich. Vier dieser Anschläge wurden den „Amazonen“ zugerechnet, die im Vorjahr die Kampagne der „Roten Zora“ gegen das Unternehmen „Adler“ fortgeführt hatten.3801 Den Quellen zu den „Revolutionäre Zellen“ lässt sich entnehmen, dass sich die RZ im Nachgang zu den polizeilichen Zugriffen im Dezember 1987 zuvorderst dem Wiederherstellen zusammengebrochener Kommuni­ kationslinien3802 sowie dem Eigenschutz widmeten: „Unsere ganze Kraft wurde gebraucht, um die vorhandenen Löcher zu stopfen […] und erst mal zu schauen, wie groß ist überhaupt das Ausmaß an Sicherheitspro­ blemen. Was ist da [im Zuge der Aktion Zobel] alles aufgeflogen? Wie weit geht das?“3803 Die „Zellen“ wussten nicht, „ob die Gegenseite weitere Observationen aufrecht erhält [sic], um auch noch den ganzen Rest abzu­ räumen“3804 – im Lichte dessen nahmen sie organisatorische Anpassungen vor. Einzelne Mitglieder traten nun intern unter neuen Decknamen auf. Die bislang praktizierte Abgrenzung der einzelnen Zellen sei teilweise wei­ ter aufgeweicht worden.3805 Die von der staatlichen Terrorismusabwehr deutlich stärker getroffene RZo wählte einen gegenteiligen Ansatz: Ihre Kontakte reduzierten die „Lolas“ fortan „zum Schutz der Struktur auf ein Minimum“3806. Neben den strukturellen Veränderungen kam es innerhalb der RZ und der RZo zu selbstkritischen Diskussionen. Beide Akteure blickten auf aufwändige Anschlagsserien zurück, die sie entlang eines thematischen Schwerpunkts – der Situation von Flüchtlingen weltweit und in Deutschland beziehungsweise der wachsenden Bedeutung biound gentechnologischer Entwicklungen – gestaltet hatten. Merkliche po­ litische oder gesellschaftliche Umbrüche waren diesen Aktivitäten indes 3799 3800 3801 3802 3803 3804 3805 3806

Ebd., S. 633. Bundesministerium des Innern 1989, S. 90. Vgl. auch Baron 2011, S. 233. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 90. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 158. Ebd., S. 132-133. Ebd., S. 150. Vgl. Dietrich 2009, S. 155. Rote Zora 1993.

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nicht gefolgt. Der in den „Revolutionären Zellen“ forcierte Austausch zum weiteren Vorgehen mündete bald in einer Kontroverse, in der sich sukzessive mindestens vier Positionen herausbildeten. In Norddeutschland und Westberlin lebende Mitglieder der RZ sprachen sich für das Intensi­ vieren der „F‑Kampagne“ aus. Sabine Eckle und Rudolf Schindler dagegen lenkten ihre Aufmerksamkeit primär auf eine gegen patriarchale Struktu­ ren und Sexismus zielende Propaganda. Damit wagten sie sich auf ein Themenfeld, das bereits die RZo besetzt hatte. Im Ruhrgebiet sahen „Zel­ len“ die Notwendigkeit, zum „Kampf“ der „politischen Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ sowie zur Beziehung zwischen Linksterrorismus und linksextremistischer Szene Stellung zu beziehen. Andere Aktivisten aus Nordrhein-Westfalen plädierten gar für ein Auflösen der „Revolutio­ nären Zellen“. Ihre Aktionen sollten durch „No‑name-Gruppen“ eine Fortsetzung erfahren.3807 Resümierend konstatierten ehemalige Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ 2001 in der „Jungle World“ hinsichtlich der damaligen Debatten: Es gab „große Pläne und keine oder kleine Lösun­ gen, viel Kleinmütiges und Katerstimmung.“3808 In einem 2022 veröffent­ lichten Interview mit vormaligen RZ-Aktivisten ist von Ratlosigkeit und Handlungsunfähigkeit die Rede.3809 Ein Blick in das 1993 veröffentlichte Positionspapier „Mili’s Tanz auf dem Eis“ offenbart die zu diesem Zeitpunkt in der „Roten Zora“ auf­ kommenden Bewertungen. Mit der Bio- und Gentechnologie verbanden die Frauen inzwischen „viel Frustration“3810. Bestimmend sei die Erfah­ rung geworden, in der Auseinandersetzung um die Fortschritte dieses Forschungs- und Wirtschaftszweigs rasch auf Schranken zu stoßen. Den eigenen Mitteln standen staatliche und unternehmerische Ressourcen ge­ genüber: „Die Erfahrung unserer eigenen Grenzen spürten Wir in der zwar verlangsamten, aber kontinuierlich voranschreitenden Durchsetzung der technologischen/medizinischen Projekte, begleitet von einem un­ geheuren Werbeaufwand sowie den Akzeptanz- und Befriedungsstrate­ gien von Staat, Wirtschaft und Medizin. Auch die Gegenseite hatte ihre Erfahrungen mit den widerständigen Bewegungen gemacht und fuhr den ‚Dialog- und Einbindungskurs‘ mit den Kritikerinnen. Ängs­

3807 3808 3809 3810

Vgl. Dietrich 2009, S. 167; Unsichtbare 2022, S. 150. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 128, 132. Rote Zora 1993.

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7.3 Niedergang

te wurden aufgegriffen, vielen Frauen der ‚Wind aus den Segeln‘ ge­ nommen (viele haben ihn sich nehmen lassen).“3811 Der RZo gelang es nicht, ihren öffentlich betonten Widerstandswillen mit neuen Aktionen zu untermauern. Beachtung fand sie im Spätsommer 1988, als eine umfangreiche Ausarbeitung mit dem Titel „Praktische Tips [sic] Rote Zora“ verbreitet wurde. Darin zusammengefasst waren Lehren, welche „Zoras“ aus ihrer terroristischen Praxis gezogen hatten.3812 1989 machte die RZo weder durch Erklärungen noch durch Gewalttaten von sich reden.3813 Innerhalb der „Revolutionären Zellen“ zementierten sich unterdessen die Differenzen, die der Diskurs um die künftige Ausrichtung nach sich gezogen hatte. Eine „geordnete Offensive“3814 des Netzwerks, wie sie 1986 und 1987 erreicht werden konnte, war offenbar nicht mehr möglich. Im Februar 1989 geriet der Text „Was ist das Patriarchat?“ in Um­ lauf,3815 der von Sabine Eckle – aufbauend auf dem vor den Festnahmen des Jahres 1987 zu diesem Thema initiierten internen Austausch – verfasst worden sein soll.3816 Ausgehend von der Unterdrückung schwarzer süd­ afrikanischer Frauen suchte das Papier die Facetten der Ausbeutung weib­ licher Arbeitskraft zu ergründen. Demnach sichere die Frau zum einen durch ihre Rolle in der wirtschaftlichen Produktion kapitalistische Profi­ takkumulation.3817 Zum anderen erlaube sie dem Mann, Herrschaft auszu­ üben. Da dem Mann nicht die Last menschlicher Reproduktion obliege, die nach der Schwangerschaft im Umsorgen des Nachwuchses bestehe, verfüge er über einen „Überschuss in der Körperökonomie“3818. Der „Sur­ plus an individuellem und geschlechtskollektivem Spielraum“3819 schaffe das Fundament patriarchaler Gesellschaftsformen. Diesen „Geschlechter­ antagonismus“ bezog die angeblich aus Eckles Feder stammende Schrift nicht nur auf „bürgerliche“ Machtstrukturen, womit sie radikale Kritik an existierenden sozialrevolutionären Gesellschaftsmodellen übte:

3811 3812 3813 3814 3815 3816 3817

Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 90. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 84-85. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 85. Vgl. Schindler 2002; Unsichtbare 2022, S. 128-129, 134. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 583. 3818 Ebd., S. 589. 3819 Ebd.

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„Der revolutionäre Mann verkündet pathetisch das Reich der Freiheit, der Gleichheit, das Ende aller Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Das Ende der Frauenausbeutung durch den Mann kann er damit unmöglich meinen, denn dieses Ende zerreißt alle bisherigen Revolutionsentwürfe als Makulatur, entlarvt sie als das, was sie sind: männliche linke Herrschaftsidyllen.“3820 An der „F‑Kampagne“ festhaltende Mitglieder der „Revolutionären Zel­ len“ holten in Nordrhein‑Westfalen und Hamburg abermals zu einem Angriff auf staatliche Einrichtungen aus. Sprengstoffanschläge trafen am 9. Mai 1989 das Oberverwaltungsgericht in Münster sowie das Verwal­ tungsgericht Düsseldorf. Als Legitimation führten die RZ in einem Be­ kennerschreiben an, die Judikative sei Baustein einer „rassistische[n] Aus­ länderpolitik“3821, welche „die Abschottung der Herrenmenschen [in der Ersten Welt] vor den unnützen Essern, den Farbigen des Trikonts und gleichzeitig ihre Verwertung als Arbeitsvölker“3822 anstrebe. Mitte Novem­ ber 1989 – nur wenige Tage nach dem Fall der innerdeutschen Grenze in Berlin – begingen „Revolutionäre Zellen“ Anschläge auf die Informati­ ons- und Beratungsstelle der Stadt Köln für ethnische Minderheiten und die Hamburger Behörde für Arbeit und Soziales.3823 Im Unterschied zu den bislang in der „F-Kampagne“ verzeichneten Taten bezogen sich die­ se Aktionen nicht auf Ausländer im Allgemeinen. Vielmehr waren sie Ausdruck einer Verbundenheit mit Sinti und Roma, die „[s]chon immer […] Zielpunkt rassistischer Ideologie und der Vernichtung und Deportati­ on ausgesetzt“3824 gewesen seien. In der sich anschließenden schriftlichen Schilderung ihrer Lage in Europa schlugen die RZ eine Brücke zu den po­ litischen Ereignissen in der Deutschen Demokratischen Republik. Da sich Schutzsuchende aus der DDR aufgrund ihrer beruflichen Bildung „allemal besser zur Sanierung der Sozial- und Rentenversicherungen“3825 eigneten als Migranten „aus den verelendeten Regionen der Welt“3826, betreibe Westdeutschland eine selektive Flüchtlingspolitik. „In einer Situation der nationalistischen Begeisterung und Besoffenheit, in der die Träume groß­

3820 3821 3822 3823 3824

Ebd., S. 591. Ebd., S. 562. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 85. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 576. 3825 Ebd., S. 573. 3826 Ebd.

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deutscher – und das heißt imperialistischer Lösungen – wieder ernsthaft erwogen werden“3827, gelte es, ihr eine Opposition entgegenzusetzen. Glei­ chermaßen als Zeichen gegen einen – vermeintlich – benachteiligenden Umgang des deutschen Staates mit der Minorität der Roma wollten die „Revolutionären Zellen“ einen im Mai 1990 fehlgeschlagenen Angriff auf das Amt für öffentliche Ordnung in Köln verstanden wissen.3828 7.3.2 Umbrüche im Ostblock, personelle wie logistische Schwierigkeiten, öffentlicher Richtungskampf (1990 bis 1992) Ab 1990 verschärfte sich die interne Krise der „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Zora“. Dem zugrunde lag ein Zusammenwirken unter­ schiedlicher Faktoren auf personeller, logistischer und weltanschaulicher Ebene. Wie sich anhand von Primärquellen nachzeichnen lässt, paraly­ sierte der Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik die strategische Neube­ stimmung. Geprägt wurde die Wende insbesondere von einer starken Bewegung in Ostdeutschland, welche die nationale Wiedervereinigung begrüßte. Nach Aussage ehemaliger Aktivisten der RZ im Jahr 2001 in der „Jungle World“ verbarg sich darin ein „Phänomen Nation“3829, dem die „Revolutionären Zellen“ nichts entgegensetzen konnten. Unklar geblieben sei, wie das Netzwerk reagieren sollte – zumal die Bewegung das im eige­ nen ideologischen Weltbild positiv besetzte Bild des „Volkes“ erschütterte. War das „Volk“ zuvor revolutionäres Subjekt, so stellte es sich nun auf­ grund seiner als nationalistisch interpretierten Forderungen als Gegner so­ zialrevolutionärer Leitsätze dar. Dieser Eindruck wäre später durch die in der Bundesrepublik wahrnehmbaren Ausschreitungen gegen Flüchtlinge verfestigt worden.3830 Die Implosion des sowjetischen Hegemonialbereichs hinterließ somit tiefe Spuren: „[M]an kam mit der Zeitenwende und der Durchsetzung neuer Gewaltverhältnisse nicht mehr klar.“3831 Die Frauen der RZo sahen die Friedliche Revolution in Deutschland anfangs positiv. Freude hätten sie empfunden angesichts des Niedergangs

3827 3828 3829 3830 3831

Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 70. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. ebd. Ebd.

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eines „patriarchale[n] und staatsbürokratische[n] System[s]“3832, der den Weg für „Frauenkämpfe […] jenseits von Kapitalismus und Kommunis­ mus“3833 zu bereiten versprach. Nach den Ereignissen im Jahr 1989 sei die aufgeschlossene Haltung der Gruppe durch eine „Flut von Horrormel­ dungen“3834 verdrängt worden. Darunter fassten sie den „deutschnationa­ len Volkstaumel in Ost und West, den […] MigrantInnen als eine Flut rassistischer und faschistischer Mobilisierung zu spüren bekamen.“3835 In den Augen der „Lolas“ erhielt der Kapitalismus neue Mittel „brutaler und unverblümter Ausbeutung“3836. Mit „Ohnmachtsgefühle[n], […] ungeheu­ re[r] Hilflosigkeit und Scham“3837 hätten sie darüber hinaus auf den im Januar 1991 beginnenden Zweiten Golfkrieg geblickt. Ihnen sei deutlich geworden, „dass der [weltweite] Zusammenbruch des 2‑Blöcke‑Systems erstmal die politischen Bewegungsspielräume verengt oder zugeschüttet hatte, anstatt Freiräume zu schaffen.“3838 Ebenfalls als Ballast in den Diskussionen der „Revolutionären Zellen“ erwies sich die ab 1989 im Netzwerk zirkulierende Nachricht vom Tod Gerhard Albartus‘. Das Westberliner RZ-Mitglied Tarek Mousli nahm diese Meldung zum Anlass, den bereits 1988 in Erwägung gezogenen Ausstieg aus den Strukturen der RZ zu wählen.3839 Zu Albartus hatte er „ein besonderes Vertrauensverhältnis“3840 unterhalten. Wie zuvor die Gewalt gegen Harald Hollenberg und Günter Korbmacher führte sein Ab­ leben Mousli die Niederungen des „bewaffneten Kampfes“ vor Augen.3841 Betroffen zeigte sich überdies Thomas Kram, der im Herbst 1990 in der Illegalität von der Exekution seines Mitstreiters erfahren haben will. Ange­ sichts des Mordes schien es ihm offenbar unausweichlich, sich dem bis dahin vermiedenen öffentlichen Aufarbeiten internationalistischer Verstri­ ckungen der „Revolutionären Zellen“ zu widmen. Eigenen Angaben zufol­ ge legte er diese historische Altlast Aktivisten der RZ in Deutschland in einem Papier dar. Die Erklärung sei Gegenstand mehrere Monate andau­

3832 3833 3834 3835 3836 3837 3838 3839 3840 3841

Rote Zora 1993. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 171. Ebd. Vgl. ebd.

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7.3 Niedergang

ernder Meinungsverschiedenheiten gewesen.3842 Im Mittelpunkt der Kritik gestanden hätte unter anderem „der sentimentale Tonfall“3843 sowie der „eurozentristische“ Einschlag. Außerdem, so Kram 2010 rückblickend in einem Interview mit der „Tageszeitung“, „kam bei uns die alte Auseinan­ dersetzung um Entebbe und Opec […] wieder hoch.“3844 Die Abkehr Tarek Mouslis blieb nicht der einzige Einbruch, den die RZ in ihrer Mitgliederbasis hinnehmen mussten. Vom Netzwerk lösten sich mit Sabine Eckle und Rudolf Schindler zudem zwei Aktivisten aus der Gründungsphase der RZ. Anhaltende Ablehnung in mitunter „sehr per­ sönlichen Streitereien“3845 hatte ihre Idee einer „Antipatriarchatskampa­ gne“ gefunden,3846 welche nach Auffassung ehemaliger, namentlich nicht bekannter Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ die latente existenzielle „Gefahr […] autoaggressiver Innerlichkeit“3847 barg. Eckle zog Mitte 1990, Schindler Anfang 1991 nach Frankfurt am Main. Beide bauten sich dort eine legale Existenz auf.3848 Auch die „Rote Zora“ erlebte personelle Ab­ wanderungen.3849 Für die RZ kam ein Gewinnen neuer Mitglieder nicht in Betracht, denn es „fehlten die organisatorischen Voraussetzungen“3850. Trotz gravierender innerer Probleme und scheiternder „Projekte zur Geld­ beschaffung“3851 stieg die terroristische Gewalt der „Revolutionären Zel­ len“ 1991 an. Das Bundesamt für Verfassungsschutz schrieb ihnen die Verantwortung für vier Sprengstoff- und sieben Brandanschläge zu. In einer Gesamtschau ließen sich vier Konfliktthemen ausmachen, welche die Angriffe berührten. Ein versuchter Angriff gegen die nordrhein-westfälische Staatskanzlei in Düsseldorf im Januar 1991 sowie der Einsatz von Explosivmitteln gegen die Liegenschaft der Ausländerbehörde Böblingen im August 1991 ver­ festigten den zu migrationspolitischen Entscheidungen eingenommenen Standpunkt.3852 Die Roma seien „in ihren Herkunftsländern mit sowohl

3842 3843 3844 3845 3846 3847 3848 3849 3850 3851 3852

Vgl. Kram 2009. Ebd. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Unsichtbare 2022, S. 136. Vgl. Abschnitt 5 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Bayer 2001; Schindler 2002. Vgl. Rote Zora 1993. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 32.

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staatlich betriebenem oder geduldetem Rassismus wie auch mit Pogromen von Seiten nationalistisch gesinnter Teile der Bevölkerung konfrontiert – und die Roma‑Frauen mit permanenten brutalen sexistischen Angrif­ fen.“3853 Ihr Elend setze sich nach ihrer Flucht in die Bundesrepublik fort, wären sie doch „immer die letzten, die […] gebraucht werden und erwünscht sind, und […] immer die ersten, die abgeschoben werden.“3854 Drei weitere Aktionen der RZ warfen Anfang 1991 ein Schlaglicht auf den Zweiten Golfkrieg. In den Tatbekenntnissen argumentierten die Täter, nach Auflösung des Kräftemessens zwischen Ost und West wolle der west­ liche Imperialismus eine „neue Weltordnung“ etablieren.3855 Am 15. Ja­ nuar 1991 beschädigte ein Sprengsatz der „Revolutionären Zellen“ die Siegessäule in Berlin.3856 Das hierzu gefertigte Bekennerschreiben berück­ sichtigte ebenfalls die Spannungen im Nahen Osten, stellte jedoch nicht – vermeintlich – imperialistische Machinationen an den Pranger. Vielmehr war es in der Absicht verfasst worden, „einen Beitrag zur notwendigen Diskussion über die […] Zusammenhänge von Patriarchat, Nationalismus, Rassismus und Sexismus“3857 zu leisten. Mit ihrer Überzeugung, nationa­ listische Positionen seien „ein aggressives Werkzeug zur Neuformierung männlicher Gewalt“3858, betraten die Autoren ein im Netzwerk umstritte­ nes, mitunter als „Hausfrauisierung“3859 gewertetes Handlungsfeld, dessen ideologischer Rahmen Teile der Westberliner RZ 1989 in dem Papier „Was ist das Patriarchat?“ definiert hatten. Der Anschlag auf die Siegessäu­ le unterbreitete eine Antwort auf die innerhalb der „Revolutionären Zel­ len“ bislang offen gebliebene Frage, „[w]ie […] eine antipatriarchale Stra­ tegie offensiv umzusetzen“3860 ist. In den Anschlagshandlungen der RZ während des Jahres 1991 ließ sich darüber hinaus ein Bezug auf die deutsche Einheit sowie die aus ihr erwachsenden infrastrukturellen und wirtschaftlichen Konsequenzen iden­

3853 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 578. 3854 Ebd., S. 567. 3855 Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 32. 3856 Vgl. Bayer 2001. 3857 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 657. 3858 Ebd. 3859 Abschnitt 5 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kam­ mergerichts Berlin 2004. 3860 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 137.

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tifizieren. Eine Aktion gegen das Reichstagsgebäude am 12. Juni 19913861 werteten die „Revolutionären Zellen“ als Signal gegen die Erhebung Ber­ lins zur Bundeshauptstadt und „Bonzenmetropole“3862. Zwangsläufig wür­ den „die Ärmeren […] in die Betonsilos in [Berlin‑]Hellersdorf und [Ber­ lin-]Marzahn ziehen, um von dort aus zuzusehen, wie gutgekleidete Auf­ steigerInnen in Edelkarossen durch die Stadt kreuzen.“3863 Einem Geld­ haus sowie dem Unternehmen „Kaiser“ hielt das Netzwerk im Nachgang zu Anschlägen vor, die neuen Bundesländer als Absatzmärkte erschließen zu wollen. Zur Begründung des Angriffs gegen einen im Bau befindlichen „Kaiser“‑Supermarkt im Juli 1991 auf dem Gelände des ehemaligen Kon­ zentrationslagers Ravensbrück3864 hoben sie überdies hervor, er ziehe „das Ansehen und Gedenken vieler Antifaschist/inn/en [sic] in den Dreck des neuen deutschen Konsumwahns.“3865 Weitgehend zum Erliegen brachte die neuerliche Anschlagswelle der Entschluss einer „Gruppe aus dem Traditionszusammenhang der Revolu­ tionären Zellen“, in der Öffentlichkeit ungeschönt zurückliegende Taten des Netzwerkes zu bilanzieren.3866 Unter dem Titel „This is not a love song“ verbreitete sich ab Juli 1991 ihr Eingeständnis, in einer „bitter­ ernst[en]“3867 Lage zu sein. Da die legalistische wie auch die gewaltbereite politische Linke mittlerweile sichtbar Relevanz eingebüßt hätten, müsse sozialrevolutionäre Gewalt mit besonderer Umsicht eingesetzt werden. Nicht erfüllt hatten diese Anforderung aus Sicht der Urheber des Papiers die „Rote Armee Fraktion“ sowie Teile der RZ.3868 Vernichtend las sich insbesondere ihre Kritik an den jüngsten Aktionen der „Revolutionären Zellen“ in Berlin. Durch den Bombenanschlag auf die Siegessäule agier­ ten die Täter „völlig außerhalb von Zeit und Raum“3869. Die Aktion sei „unangemessen und lächerlich“3870, die dazu erarbeitete schriftliche Recht­

3861 Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 32. 3862 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 655. 3863 Ebd. 3864 Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 32. 3865 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 657. 3866 Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 33. 3867 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 659. 3868 Vgl. ebd. 3869 Ebd. 3870 Ebd., S. 660.

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fertigung bar „jegliche[r] politische[r] Orientierung“3871. Der Reichstag erscheine „als Angriffsziel militanter Politik völlig ungeeignet“3872, da er „sowohl Symbol des deutschen Nationalismus als auch der historischen Niederlage der Linken“3873 im Zuge des Machtergreifens der Nationalso­ zialisten im Jahre 1933 wäre. Der „bewaffnete Kampf“ bestehe nicht in der „spektakuläre[n] Geste“3874 – er habe „zum Ziel, die gesellschaftlichen Wi­ dersprüche zu verschärfen, soziale Kämpfe voranzubringen und erkämpfte Freiräume abzusichern oder zu erweitern.“3875 Deutlich weitreichender und folgenreicher geriet der in diesen Aussagen aufkommende selbstkritische Umgang mit der Geschichte und künftigen Orientierung der „Revolutionären Zellen“, als im Dezember 1991 das von Thomas Kram entworfene und im Netzwerk mehrfach gruppenübergrei­ fend diskutierte Papier „Gerd Albartus ist tot“ erschien.3876 Augenschein­ lich war dieser Schritt zuvor nicht konsentiert worden. Einleitend hielten die Autoren fest, es „gab und gibt […] Kontroversen, wem mit einer Ver­ öffentlichung gedient ist.“3877 Man habe sich „über all[e] […] Einwände […] hinweggesetzt“3878, da diese nicht dazu dienen dürften, „jeglichen Dreck unter den Teppich zu kehren.“3879 In Erwägung gezogen werden müsse die Möglichkeit, „dass Schwindel und Selbsttäuschung weit mehr zu unserem Scheitern beitragen als die offen geführte Kontroverse um unsere internen Widersprüche“3880. Wer über die „Schattenseiten des Be­ freiungskampfes“3881 den Mantel des Schweigens hülle, lege Zeugnis ab von einer „naiven Revolutionsvorstellung“3882. Die weiteren Schilderungen skizzierten die Beziehungen zwischen Ger­ hard Albartus und der „Organisation Internationaler Revolutionäre“ um den Linksterroristen „Carlos“. Das Verhältnis fuße auf einem „Abschnitt unserer Geschichte, unter den wir aus politischen Gründen schon vor

3871 3872 3873 3874 3875 3876 3877 3878 3879 3880 3881 3882

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 662. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 33; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010; Unsichtbare 2022, S. 115‑116. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 21. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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7.3 Niedergang

etlichen Jahren einen Schlussstrich gezogen haben.“3883 Während der Ent­ führung eines Flugzeugs im Sommer 1976 nach Entebbe kulminierte die für diese Periode charakteristische Verbundenheit der „Revolutionären Zellen“ mit dem palästinensischen Widerstand in der „Bereitschaft, jüdi­ sche Passagiere gleich welcher Staatsangehörigkeit für den Terror und die Grausamkeiten des israelischen Regimes haftbar zu machen und damit sozialrevolutionäre Maßstäbe gegen die der Sippenhaft einzutauschen.“3884 Das darin ersichtliche „Ausmaß an historischer Amnesie und moralischer Desintegration […] ist die schwerste Hypothek“3885 in der Historie des Netzwerks. Den im Nachgang forcierten Abbruch internationaler Kontak­ te habe Gerhard Albartus nicht akzeptiert – er sei weiterhin an der Seite der OIR aktiv gewesen.3886 Im Schlussteil der Erklärung bemerkten die Verfasser, seine Ermordung resultiere aus einer „politischen Programmatik, deren einziger Gehalt die Erringung der Macht und deren Sprache die der künftigen Despoten ist.“3887 Sie könne nicht als „Einwand gegen revolutionäre Praxis über­ haupt“3888 geltend gemacht werden, beweise aber erneut die Existenz unüberwindbarer Gräben zwischen dem nationalen Kampf der „Revolu­ tionären Zellen“ und den Aktivitäten international agierender linksterro­ ristischer Gruppen.3889 Die durch Albartus‘ Tod innerhalb der „Revolutio­ nären Zellen“ beförderten Debatten müssten dem „Zusammenhang von Politik und Moral, dem Gegensatz von nationaler Souveränität und sozia­ ler Befreiung und dem Unterschied zwischen revolutionärer Gewalt und Terror“3890 Gewicht beimessen. Weder der bloße Verweis auf historische Erfahrungen noch die Verankerung im Widerstand außerhalb Deutsch­ lands könnte die Herausforderungen abbauen, vor denen das Netzwerk stehe.3891 Entscheidend sei vielmehr, sich im „bewaffneten Kampf“ „im­ mer wieder eines sozialen Ortes [zu] versichern“3892 und die „konkrete Realität“3893 als Ausgangspunkt des eigenen Handelns zu wählen.

3883 3884 3885 3886 3887 3888 3889 3890 3891 3892 3893

Ebd., S. 22. Ebd., S. 25. Ebd. Vgl. ebd., S. 29-31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 33-34.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Vergleichbar prüfend thematisierte im März 1992 eine von internen Querelen gebeutelte RZ aus dem Düsseldorfer Raum in der Zeitschrift „Konkret“ die Hintergründe der Hinrichtung von Gerhard Albartus.3894 Sie gab zu verstehen, die interne Haltung des Netzwerks zu den Auswüch­ sen der in den 1970er Jahren geknüpften internationalen Beziehungen signalisiere die „Schwäche politischer Moral“3895. Im Gegensatz zu den Ur­ hebern des Textes „Gerd Albartus ist tot“ befasste sich die nordrhein‑west­ fälische „Revolutionäre Zelle“ eingehend mit dem nach 1976 eingeschlage­ nen strategischen Weg der RZ, womit sie den Ausschlag gab für einen öf­ fentlichen Schlagabtausch zwischen den ab 1988 widerstreitenden Lagern des Netzwerks.3896 Ihre Analyse gipfelte in der Einschätzung, die „Revolu­ tionären Zellen“ hätten die von ihnen intendierte „soziale Befreiung auf den Akt des Angriffs immer gleicher Objekte“3897 reduziert. Hierin lägen Vor- und Nachteile verborgen. „Sabotageakte und Sachbeschädigungen, deren politische Wirkung auf Gedeih und Verderb auf die Berichterstat­ tung durch die Medien angewiesen war“3898, hätten zwar der Abschottung des Netzwerks Rechnung getragen und die Risiken für dessen Mitglieder minimiert. Zeitgleich seien damit aber „die politischen Perspektiven und Interventionsfelder“3899 eingeschränkt worden. Die zunehmende Isolation der „Revolutionären Zellen“ habe bereits mit dem Entschluss zum Aufbau der „F‑Kampagne“ „ein irreversibles Sta­ dium“3900 erreicht. Stellvertretend für die in der Bundesrepublik lebenden Schutzsuchenden hätten die RZ Positionen vertreten, „ohne ihre Subjek­ tivität und Erwartungen […] zu kennen.“3901 Diese „Flüchtlingspolitik ohne Flüchtlinge“3902 sei im Dezember 1987 unterbrochen worden durch die „Aktion Zobel“ der Strafverfolgungsbehörden. Aufgrund der Durchsu­ chungen und Festnahmen habe das linksextremistische Umfeld der „Revo­ lutionären Zellen“ staatliche Repression in das Zentrum seiner propagan­ distischen Arbeit gerückt. Andere Themen, wie zum Beispiel die Nutzung der Gen- und Biotechnologie sowie die deutsche Migrationspolitik, wären

3894 Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 31; Wörle 2008b, S. 271; Unsicht­ bare 2022, S. 176. 3895 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 46. 3896 Vgl. Rabert 1995, S. 198, 207. 3897 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 45. 3898 Ebd. 3899 Ebd. 3900 Ebd., S. 40. 3901 Ebd., S. 41. 3902 Ebd.

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7.3 Niedergang

dagegen in den Hintergrund getreten.3903 Damit einhergegangen sei der „Zusammenbruch der bestehenden legalen politischen Strukturen […], auf die wir angewiesen waren.“3904 Das Bewältigen dieser Auswirkungen habe eine „fast vollständige innere Paralyse der gesamten RZ“3905 nach sich gezogen. Hinzu kam ab 1989 der „endgültige Sprung Deutschlands zur Welt­ macht, die Ausrichtung eines deutschen Europa […] nach Osten hin und die Neue Weltordnung für die 90er Jahre mit ihrer sozialen und militärisch‑strategischen Seite“3906. Die „Revolutionären Zellen“ seien von dieser Zäsur unvorbereitet getroffen worden.3907 Die Aktivisten in Nord­ rhein-Westfalen hielten an der „F‑Kampagne“ fest, sollen sich allerdings zusehends frustriert gezeigt haben. Die eigenen Aktionen hätten in der öf­ fentlichen Kontroverse um Flüchtlinge keine Wirkung entfaltet.3908 Die in­ nerhalb der RZ erörterte Alternative, patriarchale Strukturen als Feindbild im „bewaffneten Kampf“ aufzuwerten, sei im „Pott“3909 nicht auf Zustim­ mung gestoßen: „[D]ie Theorielücken waren zu groß, die denkbaren Bezie­ hungen zwischen legalen und illegalen Kampfformen zu unausgegoren, als dass wir daraus eine bewaffnete Politik hätten ableiten können.“3910 Mit dem Mauerfall wäre das Netzwerk nicht in der Lage, sich durch ad­ äquate Reaktionen auf die nationalen wie internationalen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen aus dem „Strudel der Auflösung linker Utopien und kommunistischer Systeme“3911 zu manövrieren. Es sei daher an der Zeit, das Ende der sozialrevolutionären Agitation zu verkünden, wie sie die „Revolutionären Zellen“ praktiziert hätten.3912 Nur die Ent­ scheidung, „eine historische Etappe abzuschließen, verkrustete Strukturen und Kampfmittel aufzugeben“3913, berge die Option, Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen. Gegen den Text „Gerd Albartus ist tot“ und das von der nordrhein-west­ fälischen „Revolutionären Zelle“ proklamierte „Ende unserer Politik“ er­

3903 3904 3905 3906 3907 3908 3909 3910 3911 3912 3913

Vgl. ebd., S. 37-38. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 36. Ebd., S. 38. Dietrich 2009, S. 150. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 39. Ebd. Ebd., S. 36. Ebd., S. 47.

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hoben alsbald andere Akteure aus den Reihen der RZ Einspruch, darunter „[e]inige Ex-RZlerInnen“3914, vermutlich aus dem Frankfurter Raum.3915 Sie brachten noch im März 1992 unter dem Titel „Wenn die Nacht am tiefsten...ist der Tag am nächsten“ die Auffassung hervor, das Auflösungs­ papier aus dem „Pott“ vereine „großmäulige[n] Avantgardeanspruch und […] Fatalismus“3916. Neben einigen Richtigstellungen und Einschätzun­ gen zu den organisatorischen Veränderungen nach 1976, den Nachwehen der „Aktion Zobel“ sowie der „F‑Kampagne“3917 warfen sie ein Schlaglicht auf die genannten Differenzen zur antipatriarchalen Ausrichtung des Netz­ werks. Die hierzu ins Feld geführten Argumente erachteten sie als „[v]öllig unverständlich und vor allem schräg“3918. Unklar sei, aus welchen Grün­ den die nordrhein‑westfälische RZ das Thema an die Öffentlichkeit trug, wurde es doch von den „Revolutionären Zellen“ mit Ausnahme des Textes „Was ist das Patriarchat?“ nicht der Außenwelt zu vermitteln versucht. Seine öffentliche Diskussion sei zwar legitim, setze aber ein präzises Dar­ stellen der Positionen innerhalb der RZ voraus.3919 Da dies nicht erfüllt worden sei, hätte die „Revolutionäre Zelle“ aus dem Düsseldorfer Raum „besser den Mund gehalten“3920. Darüber hinaus monierten die ehemali­ gen Aktivisten der RZ den schiefen Blick auf die weltweiten politischen Umwälzungen in den Jahren 1989 und 1990: „Veränderung heißt […] nicht unbedingt Verschlechterung, auch wenn dieser Prozess subjektiv zunächst als schmerzhafter erlebt wird, weil alte Gewohnheiten und Sicherheiten sich scheinbar schlagartig aufgelöst haben.“3921 Innerhalb der RZ zirkulierte zu diesem Zeitpunkt ein an die Autoren des Papiers „Das Ende unserer Politik“ adressierter Brief, welcher erst im Gerichtsverfahren Anfang der 2000er Jahre gegen die Westberliner „Revolutionären Zellen“ Bekanntheit erlangte. Er stammte aus der Feder Thomas Krams, so Tarek Mousli.3922 Das Schreiben hielt fest, es sei nicht nachvollziehbar, warum „Ihr ausgerechnet die Flüchtlingskampagne zum

3914 3915 3916 3917 3918 3919 3920 3921 3922

Ebd., S. 56. Vgl. Wörle 2008b, S. 271. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 48. Vgl. ebd., S. 49-52. Ebd., S. 55. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 56. Vgl. Dietrich 2009, S. 169.

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7.3 Niedergang

Anlass nehmt, um zu begründen, warum Ihr aufgebt“3923. Gerade dieser inhaltliche Schwerpunkt erweise sich angesichts der in Deutschland wahr­ nehmbaren politisch motivierten Ausschreitungen gegen Schutzsuchende als vielversprechend. Nicht übersehen werden dürfe, dass die Debatte um Asylantragsteller „des Öfteren Bezug auf das nimmt, was wir dazu geschrie­ ben haben.“3924 Das „Ende unserer Politik“ wäre durchzogen von einem „argumentative[n] Dilemma“3925, weil der Entscheidung einer einzelnen Gruppe zur Aufgabe des „bewaffneten Kampfes“ in seiner bisherigen Form eine „historische Tragweite“3926 beigemessen werden würde. Das in der Erklärung gezogene Fazit passe nicht zu der Zustandsbeschreibung. Letzte spreche dafür, „Strukturen und Zusammenhänge zu bewahren und sie zur Vorbereitung auf kommende Entwicklungen zu nutzen, anstatt sie aufzulösen und dies auch noch öffentlich zu propagieren.“3927 In dem anhaltenden Wortgefecht bezog im April 1992 eine weitere „Revolutionäre Zelle“ Stellung,3928 welche sich als „Tendenz für die inter­ nationale soziale Revolution“3929 begriff. Das Papier „Gerd Albartus ist tot“ sei gegen ihren „Willen mit dem Gesamtnamen RZ unterzeichnet“3930 worden. Die darin enthaltene Aussage, während der Geiselnahme in En­ tebbe 1976 habe eine Trennung jüdischer und nicht‑jüdischer Passagie­ re stattgefunden, entspreche „bürgerliche[r] Medienpropaganda“3931 und spiegle somit „politische Unreife“3932 sowie „ein unsägliches Misstrauen gegenüber den eigenen beteiligten GenossInnen“3933 wider. Die Erklärung könne nur begriffen werden als „selbstherrliche[r] Rundumschlag auf Kos­ ten der kämpfenden Völker im Trikont.“3934 Deren Autoren traf der Vor­ wurf, den Schulterschluss mit denjenigen Mächten eingegangen zu sein, die „offen wie verdeckt ökonomisch, militärisch und nicht zuletzt psycho­ logisch Krieg“3935 gegen die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt 3923 Interne Reaktion auf das Papier „Das Ende unserer Politik“, zit. n. Dietrich 2009, S. 169. 3924 Interne Reaktion auf das Papier „Das Ende unserer Politik“, zit. n. ebd., S. 170. 3925 Interne Reaktion auf das Papier „Das Ende unserer Politik“, zit. n. ebd. 3926 Interne Reaktion auf das Papier „Das Ende unserer Politik“, zit. n. ebd. 3927 Interne Reaktion auf das Papier „Das Ende unserer Politik“, zit. n. ebd. 3928 Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 31; Unsichtbare 2022, S. 183. 3929 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 57. 3930 Ebd. 3931 Ebd., S. 58. 3932 Ebd. 3933 Ebd. 3934 Ebd., S. 57. 3935 Ebd., S. 58.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

führten. Entschiedene Ablehnung fand das Bestreben, die „Revolutionären Zellen“ ausschließlich an Konflikten in der Bundesrepublik ausrichten zu wollen.3936 Mit Blick auf den Beitrag „Das Ende unserer Politik“ wurde unmissverständlich verkündet: „Strategie und Taktik bewaffneter Politik weiterzuentwickeln, steht auf der Tagesordnung, nicht das Aufgeben.“3937 Als Endpunkt des zunächst intern, ab 1991 schließlich öffentlichkeits­ wirksam geführten Richtungskampfs innerhalb der „Revolutionären Zel­ len“ gesehen werden kann das ab Mai 1992 zirkulierende Schriftstück „Wir müssen so radikal sein wie die Wirklichkeit“.3938 Mit ihm äußerten sich diejenigen RZ-Aktivisten, welche vor dem Verbreiten ihres Beitrags „Gerd Albartus ist tot“ im Dezember 1991 die Warnung erhalten hatten, sie würden „eine Welle von Reaktionen auslösen […], deren ganzes Aus­ maß [sie] […] weder überschauen noch verantworten könnten.“3939 Sie unterstrichen ihre Intention, das eigene Verhältnis zu den um nationale Souveränität kämpfenden Organisationen in der Dritten Welt einer Neu­ gestaltung aussetzen zu wollen. Unterschiede in der politischen Agenda müssten anerkannt werden.3940 Dies zeige „Chancen und Grenzen einer möglichen Kooperation“3941. Unverkennbar sei der Bedeutungsverlust so­ zialrevolutionärer Ziele in Konflikten, die auf dem Entstehen von Staaten fußen.3942 Erlangen Befreiungsbewegungen die Regierungsgewalt, würden sie „den ihnen […] zur Verfügung stehenden staatlichen Machtapparat zur eigenen Machterhaltung instrumentalisieren“3943. In der kritischen Be­ trachtung internationaler Zusammenarbeit müssten ferner Antizionismus und Antisemitismus Berücksichtigung finden. Vor allem hinsichtlich Anti­ semitismus existiere „ein immenser Nachholbedarf“3944. Infrage zu stellen seien die Grundsätze, nach denen die politische Linke und die „Revolu­ tionären Zellen“ ihre Verbundenheit mit den Palästinensern gestalteten. Gerüttelt werden müsse außerdem an der im linken Diskurs gepflegten Tradition, pauschal eine Abgrenzung zwischen antizionistischen und anti­ semitischen Aussagen zu vertreten.3945

3936 3937 3938 3939 3940 3941 3942 3943 3944 3945

Vgl. ebd. Ebd., S. 62. Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 32. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 21. Vgl. ebd., S. 64. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 64-65. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 66.

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7.3 Niedergang

Die Verfasser des Papiers „Wir müssen so radikal sein wie die Wirklich­ keit“ gaben zu, das von einer nordrhein-westfälischen „Revolutionären Zelle“ angenommene „Ende unserer Politik“ könne als Resultat eines im Netzwerk bestehenden „Unvermögens gewertet werden, interne Wider­ sprüche konstruktiv als ein Moment unserer Weiterentwicklung handha­ ben zu können.“3946 Dieses Eingeständnis hielt sie nicht davon ab, die An­ nahmen der Aktivisten aus dem „Pott“ zu kommentieren. Migrationspoli­ tische Fragen seien weiterhin bedeutsam „für die Entwicklung einer mili­ tanten Politik in der Metropole“3947. Die Haltung der nordrhein-westfäli­ schen RZ zur Möglichkeit einer „Antipatriarchatskampagne“ unterstreiche „völliges Unverständnis von antipatriarchaler Politik.“3948 Zur Verdeutli­ chung dieser Programmatik merkten die Autoren an, sie beinhalte „die Verunsicherung und Demontage männlich dominierten Denkens und Handelns“3949. Antipatriarchale Forderungen würden eine tragende Rolle in dem Versuch spielen, das Fortbestehen der „Revolutionären Zellen“ zu sichern.3950 7.3.3 Rückkehr der „Roten Zora“, „Patriarchat“ als neues Feindbild, Fortsetzung der „F‑Kampagne“ (1993 bis 1995) Während 1992 die Kontroverse um die Zukunft der „Revolutionären Zellen“ prägend war und Anschläge des Netzwerks ausblieben, kennzeich­ nete die darauf folgenden Jahre der Versuch, dem „Selbstzersetzungspro­ zess“3951 und „Siechtum“3952 entgegenzutreten. Das Agitations- und Akti­ onsniveau vergangener Jahre vermochten die RZ indes nicht mehr zu erreichen. Aus Sicht einzelner Aktivisten war die Frustration gestiegen, da sich „[d]as Verhältnis von unsichtbarer zu sichtbar fruchtbringender Arbeit […] weiter zu Ungunsten der Letzteren“3953 verschoben hatte. Au­ ßerdem sollen weitere personelle Abgänge3954 sowie „Einbrüche in der

3946 3947 3948 3949 3950 3951 3952 3953

Ebd. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Ebd. Ebd., S. 70. Wörle 2008b, S. 271. Unsichtbare 2022, S. 140. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ähnlich Unsichtbare 2022, S. 178. 3954 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 140, 175-176.

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Logistik“3955 zu verzeichnen gewesen sein. „[N]ach und nach“, so ehemali­ ge Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ 2001 in der „Jungle World“, „wurde man mürbe“3956. Anknüpfend an die Erklärung „Wir müssen so ra­ dikal sein wie die Wirklichkeit“ nutzte ein Teil der RZ die „F-Kampagne“ als rettenden Anker. In einem im März 1993 in „Interim“ erschienenen Interview befürwortete eine „Revolutionäre Zelle“ ausdrücklich eine terro­ ristische Praxis, welche sich an asyl- und ausländerpolitischen Aspekten orientiert. Allerdings dauerte es mehrere Monate, bis diese Linie in die Tat umgesetzt werden konnte. Im Oktober 1993 wurden „[v]on Berlin aus“3957 nahezu zeitgleich Aktionen gegen das Grenzschutzamt in Frank­ furt an der Oder und die am Flughafen Rotenburg (bei Görlitz) stationier­ ten Bundesgrenzschutzkräfte verwirklicht. Die Täter beklagten schriftlich Anpassungen im Asylrecht sowie die staatliche Regulation von Zuwande­ rungsbewegungen. Dem Bundesgrenzschutz unterstellten sie, „Jagd“ auf Flüchtlinge zu machen.3958 Zu Neujahr 1994 setzten Mitglieder der RZ Fahrscheinautomaten in Frankfurt am Main in Brand. Auslöser der An­ schläge: steigende Preise im öffentlichen Nahverkehr, die nach Auffassung der „Revolutionären Zellen“ vor allem die sozial Schwachen, wie zum Beispiel Migranten, treffen.3959 1993 durchbrach die „Rota Zora“ ihre von 1988 an aufrechterhaltene „Sprachlosigkeit“3960. Unter dem Titel „Mili’s Tanz auf dem Eis“ ließen einige Aktivistinnen die Geschichte der Gruppe Revue passieren. Darüber hinaus gaben sie einen Ausblick auf das weitere Vorgehen. Einleitend konstatierten die Verfasserinnen, die Erklärung sei bereits 1991 entworfen worden und repräsentiere nicht die Meinung aller „Zoras“. Sie habe „im­ mense Widersprüche“3961 hervorgerufen. Das Auflösen dieser Differenzen sei jedoch nicht zur Voraussetzung der Publikation geworden. Wie die weiteren Ausführungen offenbarten, war in der RZo unter anderem infol­ ge der „Aktion Zobel“, des Niedergangs der gegen Bio- und Gentechno­ logie gewandten Bewegung sowie der Transformationen im niedergehen­ den sowjetischen Hegemonialbereich ein „Nachdenken über neue/andere Welt- und Frauenbilder […] und […] eine Auseinandersetzung über unse­ re Form der Organisierung und unsere politischen Mittel als Bestandteil 3955 3956 3957 3958 3959 3960 3961

Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Unsichtbare 2022, S. 178. Vgl. Bundesministerium des Innern 1994, S. 32-33. Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 33. Rote Zora 1993. Vgl. auch Kailitz 2004, S. 120. Rote Zora 1993.

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7.3 Niedergang

eines radikal-feministischen Frauenkampfes“3962 eingetreten. Die im Lau­ fe dieses Prozesses gesunkene Mitgliederzahl zwinge die „Rote Zora“ zu einem „Neuanfang“3963. Von einer „personellen Kontinuität“3964 könne – abgesehen von wenigen Ausnahmen – nicht die Rede sein. Welchen ideologischen Annahmen und Perspektiven dieser Neubeginn unterliegen sollte, gab der Schlussteil des Papiers zu erkennen. Das „im­ perialistische Patriarchat“3965 stehe vor der Aufgabe, die Fortdauer seiner Macht durch Umbau von Herrschaftsstrukturen zu sichern. Gefahr dro­ he ihm von Frauen, welche weltweit „politisches und soziales Terrain er­ kämpft“3966 hätten. Ihr Widerstand müsse aufgegriffen und weitergeführt werden. Als wegweisend betrachteten die „Zoras“ die Bezugnahme auf den in Deutschland eingeleiteten Kampf „der Roma für ihr Bleiberecht; von Flüchtlingen gegen ihre un­ menschliche Unterbringung und Behandlung […]; der geflüchteten Frauen und Migrantinnen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht […]; von Migrantinnen und Afro-deutschen Frauen gegen strukturel­ len und direkten Rassismus; der jüdischen Frauen gegen strukturellen und direkten Antisemitismus; von Krüppelinis gegen eugenische Pra­ xis und Euthanasie […]; von Frauen gegen den § 218 [StGB] […]; von Prostituierten für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.“3967 Den Neuanfang verband die „Rote Zora“ augenscheinlich mit der Bereit­ schaft, sich weltanschaulich und strategisch den „Revolutionären Zellen“ anzunähern. Nunmehr legten beide Akteure verstärkt den Fokus auf die in der Bundesrepublik lebenden Ausländer. Ausfluss der schwindenden Barrieren war 1994 die Wahl ähnlicher Anschlagsziele. Am 13. Juni 1994 griff die RZo in Nürnberg sowie im thüringischen Meilitz Fahrzeuge der zusammenhängenden Unternehmen „Weigl“ und „Meigo“ an.3968 Im Be­ kennerschreiben gingen die „Zoras“ davon aus, Schutzsuchende würden in Deutschland „zu Armutsflüchtlingen und Überbevölkerung gemacht und durch Sondergesetze dann festgeschrieben.“3969 Ihre Lebensbedingungen seien geprägt vom „entwürdigenden, entmündigenden System von ‚Sach­ 3962 3963 3964 3965 3966 3967 3968 3969

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 34. Rote Zora 1994.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

leistungen‘“3970, eingeschränkter ärztlicher Betreuung und einem limitier­ ten Zugang zum Arbeitsmarkt. Stützen und Profiteure dieses Zustands zugleich wären Firmen, die – wie „Weigl“ und „Meigo“ – Essenspakete an Asylantragsteller ausgeben. Nicht nur schlügen sie aus dem Absatz einer Sachleistung Profit.3971 Überdies entsprächen sie dem staatlichen Vorhaben, Ausländer „zu einer abhängigen, bürokratisch handhabbaren Masse zu ‚formen‘, an der Menschenverachtendes leicht praktiziert wer­ den kann.“3972 Mehr als vier Monate später – im Oktober 1994 – über­ nahmen die „Revolutionären Zellen“ die von der „Roten Zora“ vorgege­ bene Schlagrichtung.3973 In Leipzig entzündeten sie Firmenwagen der „Obst- und Gemüseverarbeitung“, die als weiteres Tochterunternehmen von „Meigo“ ebenfalls in die Versorgung von Asylbewerbern involviert war. Gleichermaßen kanzelten die Täter das Verteilen von Sachleistungen an Schutzsuchende ab. Mit dem Bereitstellen von Fertignahrung würden „Lebensmittel als Waffe“3974 eingesetzt. Dies diene einerseits dem Ziel, „vor sozialen Problemen geflohene Menschen abzuschrecken.“3975 Ande­ rerseits sollen damit die in die Bundesrepublik eingereisten Ausländer „ghettoisiert und als Mensch ‚2. Klasse‘ behandelt“3976 werden. Nahezu unbekannt ist, was zu dieser Zeit in den „Revolutionären Zellen“ vorging, welche nicht durch Gewalthandlungen in Erscheinung traten. Zumindest kursorisch lassen sich die Geschehnisse in Berlin nach­ zeichnen, die das von ehemaligen RZ-Aktivisten 2001 in der „Jungle World“ aufgestellte Bild einer logistisch angeschlagenen Struktur unter­ strichen. Offenbar waren die dortigen Aktivisten der RZ bestrebt, ihre personelle Situation zu verbessern. 1994 sprach Harald Glöde den Ausstei­ ger Tarek Mousli an. Beide waren sich zuvor wiederholt in der linksextre­ mistischen Szene Berlins begegnet. Glöde soll Mousli die Frage gestellt haben, ob er den „Revolutionären Zellen“ erneut als aktives Mitglied zur Verfügung stehen wolle. Mousli habe die Bitte geäußert, das Angebot zu überdenken.3977 Bei weiteren Zusammenkünften habe Glöde Mousli Einblicke in den zurückliegenden „Richtungsstreit“3978 sowie die vergan­

3970 3971 3972 3973 3974 3975 3976 3977 3978

Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 33-34. Revolutionäre Zellen 1994. Ebd. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 171. Rabert 1995, S. 207.

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7.3 Niedergang

genen Aktionen der RZ gegeben. Ende 1994 erfuhr Mousli von einer finanziellen Notlage der „Revolutionären Zellen“ beim Betreuen ihrer „illegalen“ Mitglieder: Da ihm die Verfügungsgewalt über „beträchtliche Schwarzgeldkonten“3979 eines im Mehringhof kennengelernten Berliner Linksextremisten oblag, konnte er den RZ kurzfristig ein Darlehen in Hö­ he von 60 000 DM gewähren. Als Glöde Mousli in das Aufbewahren von Sprengstoff aus den Beständen des Netzwerks einbezog, zerriss das zwi­ schen beiden geknüpfte Band. Widerwillig verstaute Mousli auf Wunsch Glödes im März 1995 Explosivmittel im Keller seiner Wohnung in der Ber­ liner Schönhauser Allee. Glöde hätte ihm zuvor zugesichert, das Material müsse nur für kurze Zeit an einem anderen Ort untergebracht werden. Ende März 1995 stellte Mousli augenscheinlich fest, ein Teil des Spreng­ stoffs sei bei einem Einbruch entwendet worden. Telefonisch drängte er anschließend Glöde, die übrige Menge zurückzunehmen. Nachdem dieser sich der Aufforderung widersetzt hatte, entsorgte Mousli die Explosivmit­ tel in einem Wassergraben in Berlin-Weißensee. Ein erneuter Kontakt mit den RZ blieb aus.3980 Die „Rote Zora“ trieb unterdessen einen Anschlag auf die Werft der Firma „Lürssen“ in Lemwerder bei Bremen voran. Am 24. Juli 1995 schrit­ ten ihre Mitglieder zur Tat.3981 Die Aktion solle dazu beitragen, „die Passivität vieler Frauen- und linker Zusammenhänge gegenüber dem kur­ dischen Widerstand und der massiven Repression an den hier [in Deutsch­ land] Zuflucht suchenden und den Widerstand zuhause unterstützenden KurdInnen aufzubrechen.“3982 Dabei verwiesen sie auf die Position des deutschen Staates im türkisch‑kurdischen Konflikt. Die Bundesrepublik „unterstützt das türkische Regime in seinem Krieg gegen die kurdische Be­ völkerung“3983. Deutlich werde dies am Rüstungsgeschäft von „Lürssen“, das unter anderem eine Lieferung militärisch nutzbarer Schnellboote an die Türkei vorsehe. Zeitgleich erschwere die deutsche Regierung den Kur­ den auf Grundlage einer „rassistische[n] Asylgesetzgebung“3984, sich nach Westeuropa in Sicherheit zu bringen. In der Bundesrepublik lebende An­ gehörige dieser Ethnie würden ferner Opfer von „Verfolgung und Krimi­ nalisierung“3985, so im Verbot der kurdischen Arbeiterpartei PKK. 3979 3980 3981 3982 3983 3984 3985

Dietrich 2009, S. 172. Vgl. ebd., S. 153, 172-173. Vgl. Bundesministerium des Innern 1996, S. 41. Rote Zora 1995. Ebd. Ebd. Ebd.

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7 Geschichte der „Revolutionären Zellen“

Wie bereits das 1993 publizierte Papier „Mili’s Tanz auf dem Eis“ formu­ lierte das Tatbekenntnis zum Anschlag auf „Lürssen“ einen selbstkriti­ schen Standpunkt, der ein anhaltendes Ringen um eine zukunftsweisende sozialrevolutionäre Programmatik der RZo anzeigte. Während der Reflexi­ on der vergangenen Jahre seien die „Lolas“ zu dem Schluss gelangt, sie selbst wären „nicht nur Opfer oder widerständige subjekte [sic], sondern auch Beteiligte und Nutznießerinnen der patriarchalen HERRschafts- und Ausbeutungsverhältnisse“3986 zwischen den westlichen Industrieländern und der Dritten Welt. Aus dieser Einsicht hätte Bescheidenheit resultiert: Die RZo habe sich von der Gewohnheit getrennt, stellvertretend für sämt­ liche Frauen zu kämpfen. Dies sei einhergegangen mit einem Rückzug auf sich selbst, was wiederum Isolation befördert haben soll.3987 Inzwischen verträten die „Zoras“ die Position, die Konzentration auf die eigene Lage liege „voll im HERRschenden gesellschaftlichen Trend zur weiteren Indi­ vidualisierung und Auflösung gemeinsamer sozialer Erfahrungen.“3988 Sie müssten in nächster Zeit „Verbindungen eingehen, Netze knüpfen zu den Frauen und ihren Strukturen, die hier rassistisch und sozial ausgegrenzt/ ausgebeutet und misshandelt werden.“3989 7.3.4 Auflösung, Festnahmen, Prozesse (1995 und danach) Um die „Rote Zora“, welche in dieser Betrachtung den „radikale[n] Teil der feministischen Bewegung in der BRD [als] öffentlich kaum mehr sicht­ bar, zurückgezogen und zersplittert in Grüppchen“3990 beschrieb, wurde es ab Sommer 1995 ebenfalls ruhig.3991 Weder meldete sie sich zu Wort noch griff sie zu Gewalt. Selbiges gab das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinen Jahresberichten zu den „Revolutionären Zellen“ an.3992 Die Mitte der 1990er Jahre in der Literatur niedergelegte Annahme, die RZ könnten weiterhin das politische System der Bundesrepublik bedrohen, bestätigte

3986 3987 3988 3989 3990 3991 3992

Ebd. Die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ebd. Ebd. Die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd. Ebd. Vgl. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 83. Vgl. Bundesministerium des Innern 1996, S. 41; Bundesministerium des In­ nern 1997, S. 35; Bundesministerium des Innern 1998, S. 30; Bundesministeri­ um des Innern 1999, S. 92.

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7.3 Niedergang

sich nicht.3993 Im Gegensatz zur „Roten Armee Fraktion“ verzichteten beide Akteure auf die Entscheidung, ihren terroristischen Aktivitäten formal ein Ende zu setzen. Lediglich sicherheitsbehördliche Fahndungs­ erfolge lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Netzwerk und die „Zoras“. Mediale Beachtung fand beispielsweise die Festnahme eines Gründungsmitglieds der „Revolutionären Zellen“, das dem Bundeskrimi­ nalamt als „dienstälteste[r] deutsche[r] Terrorist aller Zeiten“3994 gegolten haben soll. Nachdem Magdalena Kopp 1992 ein Leben in Venezuela er­ möglicht3995 und „Carlos“ im August 1994 im Sudan festgesetzt worden war,3996 kam Johannes Weinrich im Jemen unter. Die Regierung des wie­ dervereinigten Landes offerierte dem Auswärtigen Amt jedoch alsbald sei­ ne Auslieferung. Anfang Juni 1995 wurde er nach Deutschland geflogen. Das 1996 gegen ihn eröffnete Gerichtsverfahren mündete 2000 in einer lebenslangen Haftstrafe. Die Justiz sah seine Beteiligung an dem Anschlag 1983 auf das „Maison de France“ in Westberlin als erwiesen an.3997 Weitere Höhepunkte in der juristischen Aufarbeitung einer Struktur, der je nach Quelle rund 180 bis 250 Anschläge zugerechnet werden,3998 waren das Ergreifen Hans-Joachim Kleins 1998 im französischen SainteHonorine-la-Guillaume3999 sowie das Verhaften der RZ-Aktivisten Matthi­ as Borgmann, Lothar Ebke, Sabine Eckle, Harald Glöde, Axel Haug, Tarek Mousli und Rudolf Schindler in den Jahren 1999 und 2000.4000 Klein trat ab 2000 im sogenannten OPEC-Prozess in Frankfurt am Main, Mousli im Gerichtsverfahren zu den Aktivitäten der Westberliner „Revolutionären Zellen“ als Kronzeuge auf.4001 Während der Prozess in Frankfurt am Main einen Freispruch für Rudolf Schindler sowie eine Verurteilung Kleins erwirkte,4002 wies die Justiz in Berlin allen Angeklagten eine Strafe zu. Tarek Mousli erhielt zwei Jahre Haftstrafe auf Bewährung.4003 Ebenso wie 3993 3994 3995 3996 3997 3998 3999 4000 4001 4002 4003

Vgl. Rabert 1995, S. 208; Moreau/Lang 1996, S. 351. Bundeskriminalamt, zit. n. Der Spiegel 1995b, S. 28. Vgl. Kopp 2007, S. 266. Vgl. Der Spiegel 1994, S. 114; Wunschik 2018, S. 97. Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 29; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 251; Siemens 2006, S. 374; Wunschik 2018, S. 97. Vgl. Der Spiegel 1989a, S. 64; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82; Wörle 2008b, S. 273; Dietrich 2009, S. 150; Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 428. Vgl. Der Spiegel 1998, S. 22. Vgl. Der Spiegel 1999, S. 25; Spiegel Online 1999; Desselberger/Sieverdingbeck 1999; Borgmann/Fanizadeh 2017. Vgl. Mascolo/Pieper 2000; Sontheimer 2004, S. 54; Wörle 2008b, S. 272. Vgl. Friedrichsen 2001b, S. 27. Vgl. Bayer 2001.

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Sabine Eckle wurde Schindler zu drei Jahren und neun Monaten, Matthias Borgmann zu vier Jahren und drei Monaten, Harald Glöde zu zwei Jahren und neun Monaten und Axel Haug zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnisaufenthalt verurteilt.4004 7.4 Zusammenfassung Den (Primär-)Quellen zu den „Revolutionären Zellen“ lässt sich eine Vielzahl an Ereignissen entnehmen, welche die vom Netzwerk gewollten Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zur „Bewegung 2. Juni“ widerspiegeln. Im zeitlichen Verlauf stellen sich diese wie folgt dar: – 1972: Die Geschehnisse rund um die westdeutsche „Stadtguerilla“ kon­ stituierten ein essentielles Moment in der extremistischen Karriere der­ jenigen Aktivisten, welche später die „Revolutionären Zellen“ aus der Taufe heben sollten. Sie radikalisierten sich an und mit den bereits bestehenden linksterroristischen Zirkeln. Das Versterben Georg von Rauchs erschütterte Johannes Weinrich ebenso wie Wilfried Böse und Hans-Joachim Klein. Der Staat, so die Lesart dieser Linksextremisten, habe einen der ihren getötet – daraus zogen sie den Schluss, noch energischer als bislang den Kampf gegen die bundesrepublikanische Demokratie zu führen. Die Gründer der RZ warfen ihren Anker im engeren Umfeld der „Roten Armee Fraktion“. Indem sie in Frankfurt am Main einen lokalen Ableger der „Roten Hilfe“ aufbauten, etablier­ ten sie Strukturen, welche den „politischen Gefangenen“ wie den „Ille­ galen“ der RAF nicht nur propagandistisch, sondern auch logistisch unter die Arme griffen. Die Frage, bis zu welchem Grad man sich mit der Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ identifizierte, beantwortete zu diesem Zeitpunkt noch jeder anders. Weinrichs Verbundenheit stand unter Vorbehalt. Aus einer eher distanzierten Perspektive begriff er die RAF allenfalls als wichtigen Teil des linken Protestmilieus, der stellvertretend für alle (sozialrevolutionären) Linken wertvolle Erfah­ rungen sammle – daraus ergab sich für ihn nicht zwangsläufig die Bereitschaft, selbst zu den Waffen zu greifen. Klein hingegen empfand regelrechte Begeisterung angesichts der „Offensive `72“. Die Aktivitä­ ten der „Roten Armee Fraktion“ stellten sich ihm trotz punktueller 4004 Vgl. Villinger 2004, S. 6; Die Tageszeitung 2006, S. 7; Borgmann/Fanizadeh 2017.

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7.4 Zusammenfassung

Kritik, etwa zur Aktion gegen den Sitz des „Springer“‑Verlags in Ham­ burg, zunehmend als Ausweg aus der selbst erlebten Ohnmacht im legalistischen Bereich der Neuen Linken dar. Deutlich näher als Klein rückte Wilfried Böse an den linksterroristischen Untergrund heran – stets begleitet von Brigitte Kuhlmann. Sie unterhielten Verbindungen zu den „Aktiven“ der RAF sowie – angeblich – zur „Bewegung 2. Ju­ ni“. Gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ profilierte sich Kuhlmann mit dem Bereitstellen konspirativer Unterkünfte, Böse als Waffenbe­ schaffer. Durch seine Botengänge fungierte er außerdem als Scharnier zwischen den über die Bundesrepublik verstreuten Zirkeln der Ersten Generation. Im Wege dieser und anderer Hilfe erhielt er intime Einbli­ cke in das Innenleben der RAF. Als die „Illegalen“ ihn zum Abtauchen bewegen wollten, entzog sich Böse – zu sehr beseelte ihn der Gedanke an einen eigenen Weg. Gemeinsam mit Kuhlmann war er offenbar zu der Überzeugung gelangt, neben der „Bewegung 2. Juni“ eine zweite Alternative zur „Roten Armee Fraktion“ aufbauen zu müssen. Den Leitgedanken des Sich‑Abgrenzens verschmolzen beide – ähnlich wie die Mitglieder der B2J – mit einer „Basissolidarität“: Geriet ein ande­ rer Akteur aus der „Stadtguerilla“ während des gewaltsamen Konflikts mit dem Staat in ernstzunehmende Bedrängnis, musste ihm zur Seite gesprungen werden – ganz nach dem Prinzip: Der Feind meines Fein­ des ist mein Freund. Diese eigentümliche Mischung aus dem Selbst­ verständnis eines Korrektivs und einer ideellen Beistandspflicht sollte jahrelang die Interaktion mit der RAF und der „Bewegung 2. Juni“ bestimmen. Wohl zum Teil aufgrund von Schuldgefühlen – Kuhlmann hatte das Quartier vermittelt, in dem Ulrike Meinhof festgenommen werden konnte – sahen Böse und Kuhlmann hinter der „Basissolidari­ tät“ von Anfang an die Aufforderung, sich für die Inhaftierten der „Stadtguerilla“ einzusetzen – und zwar bis zu ihrem Freilassen. – 1974: Nach dem vergeblichen Versuch eines abgestimmten Vorgehens mit der „Gruppe 4.2.“ der „Roten Armee Fraktion“ – von dem bekannt­ lich nur materielle Hilfe übrig blieb – nahm das Projekt zu einem dritten linksterroristischen Zirkel zusehends Form an. Die hinzukom­ menden Aktivisten zog vor allem eines an: Böses und Kuhlmanns Sicht auf die RAF und die B2J. Nichts lag den Neuzugängen ferner, als dem Willen zum „bewaffneten Kampf“ in diesen Gruppen nachzugehen. Im Falle Hans‑Joachim Kleins fußte der Zuspruch auf eigenen negativen Erfahrungen mit der „Roten Armee Fraktion“. Wie zuvor Böse und Kuhlmann war Klein über logistische Aufgaben immer tiefer in die Struktur der RAF geraten. Das dort Erlebte hatte ihn zunächst von den

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„Illegalen“, später von den Inhaftierten entfernt – und den Wunsch nach einem Eintritt in die „Rote Armee Fraktion“ zerschlagen. Als Klein Böse zu den Erlebnissen mit der RAF berichtete, dürfte sich die­ ser in seinen Annahmen zu einer überfälligen Kurskorrektur bestätigt gesehen haben. Kleins Kontakte zur „Roten Armee Fraktion“ brachen nach dem Anschluss an die „Revolutionären Zellen“ nicht sogleich ab: Weiterhin arbeitete er sporadisch in einer der Drehscheiben des Kom­ munikationssystems der RAF, der Kanzlei Claus Croissants – mitunter als Kurier für Schreiben der Führungsriege aus der Ersten Generation. Der Einblick in die Interna, den Böse 1972 gewonnen hatte, setzte sich hier fort. Wilfried Böse und Hans-Joachim Klein einte überdies das „basissolidarische“ Verständnis zur „Stadtguerilla“ – hieraus erwuchsen bisweilen bizarre Folgen. So schreckten beide – angeblich – nicht davor zurück, sich zustimmend zu dem selbst in linksextremistischen Kreisen scharf verurteilten Mord an Ulrich Schmücker zu positionieren. Weni­ ger frappierend war dagegen Böses Anliegen, Klein für eine Aktion zur Befreiung „politischer Gefangener“ aus der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ zu gewinnen. Die Notwendigkeit einer solchen „Basissolidarität“ drängte sich nach dem Tod Holger Meins‘ mehr denn je auf. Voll des Lobes war Klein im Anschluss an den Anschlag der B2J auf Günter von Drenkmann. Mit der „Bewegung 2. Juni“ standen die „Revolutionären Zellen“ im Austausch – und zwar über Johannes Roos, der schließlich in Hessen Mitglied des Netzwerkes wurde, und einen Aktivisten mit Decknamen „Captain Haddock“. Hin­ ter vorgehaltener Hand begrüßte die B2J ausdrücklich die Existenz der „Zellen“. – 1975: Wilfried Böses Plan einer „Gefangenenbefreiung“ nahm Fahrt auf. Zugleich intensivierte sich die Interaktion mit den anderen Zir­ keln der westdeutschen „Stadtguerilla“. Nachdem die RZ der B2J Waf­ fen überlassen, mithin einen Beitrag zu den Vorkehrungen für die Aktion gegen Peter Lorenz geleistet hatten, weihte Böse die „Bewegung 2. Juni“ in seine Idee einer „kombinierten Operation“ – Geiselnahme in der Luft, Botschaftsbesetzung am Boden – ein. Die erhoffte personel­ le Beteiligung der B2J erreichte er nicht. Auch die „Rote Armee Frakti­ on“ ließ sich nicht gewinnen. Erfolglos bemühten sich die „Revolutio­ nären Zellen“, die RAF von dem Überfall auf die deutsche Auslands­ vertretung in Stockholm abzubringen. Immerhin bedachte die „Rote Armee Fraktion“ – angeblich auf Betreiben der RZ – das einzige in Haft sitzende Mitglied des Netzwerks, als sie ihre Forderungen an die Bundesregierung aufstellte: Johannes Weinrich stand auf der Liste der

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7.4 Zusammenfassung

Freizulassenden. Die Justiz verlegte ihn kurzerhand in die JVA Stutt­ gart-Stammheim. Dort teilte sie Weinrich einem Trakt zu, in dem mit Jan-Carl Raspe einer der Gründer der „Roten Armee Fraktion“ seine Haft verbüßte. Ein Austausch zwischen ihnen ist nicht belegt – wohl aber der über die Ereignisse in Stockholm hinausgehende Kontakt zwischen den Führungspersonen der RAF und der RZ. Baader trat – angeblich – schriftlich an die „Zellen“ heran, der untergetauchte Anwalt Siegfried Haag geriet offenkundig zu einer Schlüsselfigur in der Vernetzung mit den „Revolutionären Zellen“. Ab Mai machten die RZ ihre Haltung gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ öffentlich. In der ersten Ausgabe des „Revolutionä­ ren Zorns“ kam die „Basissolidarität“ zum Tragen, äußerten sich die „Zellen“ doch affirmativ zur Botschaftsbesetzung in der schwedischen Hauptstadt. Außerdem schworen sie Rache für Siegfried Hausner, Hol­ ger Meins, Werner Sauber und Ulrich Wessel. Ein namentlich nicht bekanntes Mitglied verbrämte in einem Interview für den Sammelband „Holger, der Kampf geht weiter“ den Anschlag auf von Drenkmann – und widmete sich ausführlich dem Anspruch der „Zellen“, eine Al­ ternative jenseits der RAF und der B2J anbieten zu wollen. Hierbei wertete er die „Rote Armee Fraktion“ gezielt herab. Dieser Breitseite folgte im September eine solidarische Grußadresse an die RAF und die „Bewegung 2. Juni“: Demonstrativ betonten die RZ die Einheit im „bewaffneten Kampf“. Ende des Jahres bereitete das Netzwerk die Aktion gegen die OPEC in Österreich vor. Die RAF sollte durch das Bereitstellen einer Waffe materielle Unterstützung leisten – was aus die­ sem Ansinnen Böses wurde, bleibt unklar. Was unbestreitbar ist: Wäh­ rend der Tat akzeptierten die Gründer der „Revolutionären Zellen“ den Schulterschluss mit einer Versprengten der „Bewegung 2. Juni“. – 1976: Der Nahe Osten zeigte sich einmal mehr als „Kontakthof“ für die bundesrepublikanische „Stadtguerilla“. Protegiert von Wadi Haddad, hielten sich Aktivisten der RZ und der „Roten Armee Fraktion“ zeit­ gleich im Südjemen auf. Zwischen beiden Akteuren krachte es: Johan­ nes Weinrich kritisierte im Gespräch mit Monika Haas, Siegfried Haag und anderen die RAF. Sodann ging der Dialog in wechselseitigen Vor­ würfen unter. Dennoch zogen die „Revolutionären Zellen“ und die „Rote Armee Fraktion“ im Ausland an einem Strang – und zwar in der Auftragsarbeit für die PFLP-SOG. An einem versuchten Anschlag auf eine Maschine der „Japan Airlines“ waren sie – angeblich – gleicherma­ ßen beteiligt. Mit der „Bewegung 2. Juni“ – Ingrid Siepmann, vermut­ lich auch Gabriele Kröcher‑Tiedemann – entwickelte sich hingegen ein

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enges Verhältnis. Eine temporäre Zweckgemeinschaft entstand, fixiert auf das Freipressen inhaftierter Linksterroristen. Beim Ausspähen des Papstes in Rom durch die B2J hielt sich die internationalistische „Zel­ le“ um Böse noch im Hintergrund – die anschließenden Vorkehrungen der „Bewegung 2. Juni“ für einen Überfall auf die EWG unterstützte Hans‑Joachim Klein. Was die in Westdeutschland ansässigen RZ im Frühsommer nach dem Selbstmord Ulrike Meinhofs mit einem Ver­ geltungsanschlag und dem Andenken an getötete Aktivisten aus den TW, der RAF und dem Umfeld der B2J unterstrichen, signalisierte das grenzübergreifend auftretende Lager der „Revolutionären Zellen“ in Entebbe. Die Flugzeugentführung sollte – ganz im Sinne der grund­ ständigen Verbundenheit – unter anderen sechs Linksterroristen aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ in die Freiheit bringen. Augenscheinlich waren Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann an dieser Geiselnahme beteiligt – das Ausmaß ihres Tatbeitrags liegt allerdings im Dunkeln. Die „Basissoli­ darität“ spiegelte sich überdies im Haftausbruch Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts wider: Die RZ standen ihnen nach der Flucht – angeblich – helfend zur Seite. Im Südjemen erhielten sie den Vorzug einer Waffenausbildung durch Hans-Joachim Klein, der kurz darauf den Anschluss an die „Bewegung 2. Juni“ suchte. Klein war sogar bereit, der B2J in Belgien Waffen aus den Beständen der RZ zu überreichen. Das Geflecht aus der im Ausland wiederbelebten „Bewe­ gung 2. Juni“ und der internationalistischen Strömung des Netzwerks fand mit seinem Ausstieg ein Ende. – 1977: Der offene Brief eines Teils der „Revolutionären Zellen“ an die „Rote Armee Fraktion“ – wohlwollend eingeleitet, im Weiteren zu einem an Deutlichkeit schwer zu überbietenden Frontalangriff aufge­ baut – erhitzte die Gemüter der in Haft sitzenden RAF-Mitglieder. Gudrun Ensslin, die den Brief allenfalls als „Demagogie“ und „Hetze“ verstand, holte in einem Kassiber zu einer Generalabrechnung mit den „Zellen“ aus. Monika Berberich trug den Unmut nach außen. Es sei nicht zu übersehen: Die RZ würden vor dem Staat kapitulieren. Nach dieser Reaktion sahen sich die Verfasser des offenen Schreibens in ihrem Urteil zur „Roten Armee Fraktion“ bestätigt. Ein anderer Teil des Netzwerks befand, der Brief habe den Bogen überspannt. Durch zwei Stellungnahmen suchte er die Wogen zu glätten. Zwar gingen die „Revolutionären Zellen“ im „bewaffneten Kampf“ einen anderen Weg als die RAF, Verbundenheit sei aber unerlässlich, gerade mit Blick auf die „politischen Gefangenen“ – so die Kernbotschaft. Die

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7.4 Zusammenfassung









Schadensbegrenzung verfing nicht, die „Rote Armee Fraktion“ schäum­ te weiterhin. Der Anschlag einer RZ im Februar auf das Fahrzeug eines Pflichtverteidigers inhaftierter RAF-Terroristen zog vernichtende Kommentare der 1975 in Schweden festgenommenen Angehörigen des „Kommandos Holger Meins“ nach sich. Die „Revolutionären Zellen“ sahen davon ab, dies mit Gleichem zu vergelten. Sie entschieden sich – überraschend – für das Gegenteil: Mehrfach verbrämten sie den Mord an Siegfried Buback in ihrer Propaganda als wegweisenden Schritt im „Kampf“ um die Häftlinge. 1978: Zu Beginn des Jahres verliehen die RZ ihrem „Schmerz“ Aus­ druck – die Selbstmorde des „Deutschen Herbstes“ hätten sie erschüt­ tert. Im Mai wandte sich das Netzwerk gegen Rechtsanwälte, welche von der Justiz im „Lorenz-Drenkmann-Prozess“ bestellt worden waren. Sie vertraten Angehörige der „Bewegung 2. Juni“. Wie die Festnahme Hermann Feilings offenbarte, bezogen die „Revolutionären Zellen“ ihr Material mitunter aus Zuwendungen der RAF. 1981: Die „Zellen“ stellten im „Revolutionären Zorn“ eine Bilanz ihres „Widerstands“ auf. Ähnlich den Aussagen sechs Jahre zuvor würdigten sie die Vorreiterfunktion der RAF: An deren Erfahrungen habe das Netzwerk anknüpfen können. Positive Erwähnung fand zudem die – zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existente – „Bewegung 2. Juni“. Die weitere Interaktion mit der „Roten Armee Fraktion“ bewegte sich ent­ lang altbekannter Muster. Einerseits flankierten die RZ den Hunger­ streik der RAF zwischen Februar und April mit einer Anschlagsserie, andererseits überhäuften sie die „Illegalen“ in einem linksextremisti­ schen Szeneblatt mit Vorhalten. 1982: Öffentlich schimmerte der Gedanke des Sich-Abgrenzens aber­ mals durch. Das Netzwerk erklärte, es sehe sich mit der RAF an einer Front. Die „Revolutionären Zellen“ würden hierunter jedoch etwas anderes verstehen als die „Rote Armee Fraktion“ mit ihrem Konzept einer „antiimperialistischen Front“. Intern sollten die RZ von einem sektiererischen Gebaren der RAF sprechen. 1983: Nicht nur erinnerten die „Zellen“ mit einem Anschlag auf ein US-amerikanisches Unternehmen an die Inhaftierten der „Roten Ar­ mee Fraktion“. Im Laufe der von „Radikal“ angestoßenen Debatte um die diffizile Grenzziehung zwischen rechter und linker Gewalt gegen das Militär der Vereinigten Staaten nahmen sie die RAF auch in Schutz: Weder dem Netzwerk noch der „Rote Armee Fraktion“ ginge es um einen Antiamerikanismus.

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– 1984: Im Wege eines Anschlags auf das Versorgungsnetz der NATO im Mai griffen die „Revolutionären Zellen“ die Agitation der „politischen Gefangenen“ aus der RAF auf. Das Tatbekenntnis wiederholte deren zentrale Forderungen. – 1985: Rund acht Jahre nach dem offenen Brief an die „Rote Armee Fraktion“ entlud sich abermals die Abneigung, welche Teile der RZ ge­ genüber der RAF hegten. Das Papier „Die Bilanz ist schlimm“ ließ kein gutes Haar an der zurückliegenden „Offensive“ der Dritten Generation. Mit dem dahinterliegenden Vorgehen könne niemand den Anspruch auf Befreiung verbinden, lautete das pauschale Urteil. Sichtbar um ein Relativieren der lautstarken Kritik bemüht, kanzelte eine andere „Zel­ le“ die Verfasser des Papiers ab. Die RZ würden es anders machen wol­ len als die Aktivisten der „Rote Armee Fraktion“ – dennoch seien diese „Freundinnen und Freunde“. Während die „Illegalen“ der Dritten Ge­ neration schwiegen, griff das Umfeld der „Kommandoebene“ die Kritik der „Revolutionären Zellen“ an den „Revolutionären Zellen“ begierig auf: Kommentarlos platzierten sie diese in der „Zusammen Kämpfen“. – 1987: Das Attentat auf Günter Korbmacher nahmen die RZ zum Anlass, ihre Opposition zur Dritten Generation zu unterstreichen. An­ schlägen wie dem auf Siegfried Buback habe sie etwas abgewinnen kön­ nen – den jüngsten Kampagnen der „Roten Armee Fraktion“ dagegen nichts. – 1991: Paralysiert durch die „Aktion Zobel“ und eine – in Teilen auf die Umbrüche im Ostblock zurückgehende – „Katerstimmung“, hatten die „Revolutionären Zellen“ von der RAF abgelassen. Erst mit dem Text „This is not a love song” widmeten sich Mitglieder der RZ erneut der Dritten Generation – und zwar in drastischem Tonfall. Das Traktat sollte das letzte Ergebnis jenes Anspruchs bleiben, den die Gründer der „Revolutionären Zellen“ formuliert hatten: ein Korrektiv zu sein innerhalb der „Stadtguerilla“. Die sich mit dem Text ankündigenden Friktionen im Gefüge der RZ traten ab Dezember eruptiv hervor. Im Richtungskampf befassten sich die „Zellen“ mit sich selbst – sie verloren dabei aus den Augen, was sich innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ tat. Hieran änderte sich bis zum Zerfall des Netzwerks im Jahre 1995 nichts.

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7.5 Typologische Einordnung

7.5 Typologische Einordnung Aufbauend auf den Typologien der Unterkapitel 2.2.2 und 2.2.3 können die Beziehungen der „Revolutionären Zellen“ zur „Roten Armee Fraktion“ und zur „Bewegung 2. Juni“ wie folgt klassifiziert werden: – 1972 bis 1976: Aus den Erfahrungen in der RAF heraus sowie auf Basis zusammengetragener Informationen zur B2J legten die Gründer der RZ das Fundament für eine „Stadtguerilla“, welche ihr Existenzrecht aus einer genuin kompetitiv-adversativen Beziehung zu den beiden ande­ ren „großen“ Akteuren des bundesrepublikanischen Linksterrorismus ableitete. Vermeiden wollte sie die Fehler der „Roten Armee Frakti­ on“ und der „Bewegung 2. Juni“ – mit dem Ziel, dem „bewaffneten Kampf“ zum ersehnten Durchbruch zu verhelfen. Assoziative Relatio­ nen bildeten hierzu aus Sicht der „Revolutionären Zellen“ mitnichten einen Widerspruch, musste es doch nach ihrem Verständnis trotz der kompetitiv‑adversativen Beziehung ein grundständiges Maß an Verbun­ denheit geben. Entsprechend wechselhaft war das Verhältnis der „Zel­ len“ zur RAF. Es sprang von einer transaktional-assoziativen Interaktion mit der „Gruppe 4.2.“ zu der Bereitschaft für ein synchron-assoziatives Zusammenwirken entlang einer koordinierten „Gefangenenbefreiung“ im Frühjahr 1975 – nur um wenige Monate darauf, nach deklarativ‑as­ soziativen Signalen aus dem „Revolutionären Zorn“, erstmals in einer unverkennbar abgrenzenden Propaganda zu kulminieren. Den Beitrag zum Band „Holger, der Kampf geht weiter“ durchzog der Gedanke einer kompetitiv-adversativen Relation. Gegen Ende des Jahres 1975 suchte das Netzwerk erneut die Nähe zur „Roten Armee Fraktion“: zunächst nur – im September – in Gestalt einer symbolischen, also deklarativ-assoziativen Geste, vor dem Überfall auf die OPEC schließlich in einer transaktional-assoziativen Beziehung. Diese Phase endete abrupt, als Johannes Weinrich 1976 im Südjemen bewusst das kompetitiv-ad­ versative Verhältnis in Gesprächen zwischen ihm und der Zweiten Ge­ neration schürte. Die Interaktion mit der „Bewegung 2. Juni“ war – vergleichsweise – geradlinig. Sie beinhaltete anfangs ausschließlich ma­ terielle, mithin transaktional-assoziative Hilfe. Auf das von der B2J ausge­ schlagene Angebot einer synchron‑assoziativen Relation im Vorfeld der Lorenz‑Entführung und das positive Würdigen Werner Saubers – Aus­ druck einer deklarativ‑assoziativen Schlagrichtung – folgte zwar im Mai 1975 eine Agitation nach Art eines kompetitiv‑adversativen Verhältnisses. Ende 1975 entwickelte sich jedoch im Ausland ein ausgesprochen

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enger Schulterschluss zwischen der „Zelle“ um Wilfried Böse einerund Ingrid Siepmann sowie Gabriele Kröcher‑Tiedemann andererseits. Das extensiv‑assoziative Niveau der Geiselnahme in Wien erwies sich dabei allerdings als Ausnahme. Die Relation pendelte sich auf einer synchron‑assoziativen Stufe ein: Die Zirkel arbeiteten koordiniert und unterstützend, jedoch jeweils mit eigenständigen Aktionen auf dasselbe Ziel hin. Den Höhepunkt dieser Phase konstituierte das Entführen einer Passagiermaschine nach Entebbe – mit der die internationalisti­ sche RZ zugleich das in Deutschland aus Trauer um Ulrike Meinhof wiederbelebte deklarativ-assoziative Verhältnis zur RAF kurzzeitig zu einer transaktional‑assoziativen Relation ausbaute. Denn: Der Akt der Luftpiraterie sollte der „Roten Armee Fraktion“ personelle Verstärkung erbringen. Die Zusammenarbeit der „Revolutionären Zellen“ und der „Bewegung 2. Juni“ im Ausland erreichte sogar den Endpunkt assoziati­ ver Beziehungen, ging doch mit dem temporären Übertritt Kleins das Überbleibsel der grenzübergreifenden „Zelle“ in der B2J auf. – 1977 bis 1981: Der Tod Böses und Kuhlmanns – der wichtigsten Ver­ fechter einer praktischen Solidarität insbesondere mit den Häftlingen aus der „Stadtguerilla“ – wirkte sich nachhaltig auf die Beziehungen zur RAF und zur B2J aus. Teile der „Revolutionären Zellen“ schärften ihr Profil durch eine öffentliche Auseinandersetzung mit der „Roten Armee Fraktion“: Sie bauten die kompetitiv-adversative Relation merk­ lich aus. Nichts unterstrich diese Tendenz mehr als der offene Brief an die RAF und der daraus erwachsende Schlagabtausch. Der andere Teil der RZ lehnte eine solche Entwicklung keinesfalls auf Basis grundsätz­ licher Einwände ab – Bedenken formulierte er angesichts der Intensität, mit der sich das kompetitiv-adversative Verhältnis nunmehr entfaltete. Er dürfte es denn auch gewesen sein, der die „Basissolidarität“ mit der „Roten Armee Fraktion“ durch deklarativ-assoziative Einsprengsel aufrechterhielt – etwa durch das propagandistische Lob zum Mord an Siegfried Buback. Anders als in der Beziehung zur RAF verliehen die RZ dem kompetitiv‑adversativen Gedanken im Verhältnis zur „Bewe­ gung 2. Juni“ keinen Nachdruck. Die Relation kühlte merklich ab – sichtbar wurde sie lediglich 1978 im deklarativ-assoziativen Vorgehen ge­ gen Pflichtverteidiger der B2J. Dieser Zustand hielt bis zur Auflösung der „Bewegung 2. Juni“ an. Hinweise auf eine vom Netzwerk forcierte transaktional-assoziative Relation zu den beiden anderen Akteuren der westdeutschen „Stadtguerilla“ finden sich für diese Phase nicht – ab­ gesehen von den Schilderungen Feilings, deren zeitliches Einordnen allerdings unmöglich ist.

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7.5 Typologische Einordnung

– 1982 bis 1985: Die „Revolutionären Zellen“ sahen sich dem synchron-as­ soziativen Gebaren der „Roten Armee Fraktion“ gegenüber, ließen sich jedoch durch die Idee zu einer „antiimperialistischen Front“ nicht von ihrem kompetitiv-adversativen Verständnis abbringen. Nachdem die „Zel­ len“ insbesondere entlang des „Widerstandes“ der „politischen Gefan­ genen“ mehrfach deklarativ-assoziative Botschaften an die RAF geschickt hatten, brach sich die Konkurrenz 1985 mit dem Text „Die Bilanz ist schlimm“ erneut Bahn. Wie schon 1977 einte dabei die verschiedenen Strömungen der „Revolutionären Zellen“ der Wille zur Abgrenzung – Friktionen rief die Art und Weise hervor, in der das kompetitiv‑adversa­ tive Verhältnis ausgelebt werden sollte. – 1986 bis 1995: Die Beziehung der RZ zur RAF verlor spürbar an Kraft. Dass die „Revolutionären Zellen“ bis zu ihrem Zusammenbruch im Jahre 1995 unverändert an einem kompetitiv-adversativen Standpunkt festhielten, welcher die dem Netzwerk entgegenkommenden Verände­ rungen innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ gänzlich ignorierte, of­ fenbarten die Erklärungen aus den Jahren 1986 und 1991.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“

8.1 Struktureller Aufbau 8.1.1 Befürwortung zellulärer Organisation Der in statu nascendi befindliche bundesrepublikanische Linksterrorismus hatte sich ab Ende der 1960er Jahre mit wesentlichen Fragen des eigenen Wirkens auseinanderzusetzen. Bestimmt werden mussten nicht nur der ideologische Unterbau und das strategische wie taktische Voranschreiten gegen den westdeutschen Staat aus einer Position der Schwäche heraus. Auch galt es zu klären, wie die eigene Gruppe organisatorisch konstituiert werden sollte. Vorbilder finden ließen sich bei jenen, welche der „68erBewegung“ neben anderen ideell Pate gestanden hatten: den Guerilleros Lateinamerikas.4005 Während der Argentinier Ernesto Guevara und sein Wegbegleiter Régis Debray im Angesicht der Erfahrungen aus der Kubani­ schen Revolution strukturelle Elemente einer sich in militärischen „Kolon­ nen“ bewegenden, streng hierarchischen Landguerilla nachzeichneten,4006 deren Aufbau als regelrechte „Gegenarmee“4007 in der dicht besiedelten, flächendeckend von einer Staatsgewalt kontrollierten Bundesrepublik so­ gleich abwegig erscheinen musste, konzipierten seine Nachfolger struktu­ relle Grundsätze unter urbanen Bedingungen, die deutlich eher den Ver­ hältnissen einer westlichen Industrienation glichen. Die Überlegungen zur „Stadtguerilla“ hatten eines gemeinsam: Mit ihnen wurde für das Operie­ ren in einer zellulären Organisationsform plädiert – eine Untergliederung der eigenen Kräfte in lose verbundene, abgeschottete Zirkel. Die in Uruguay ab 1969 verstärkt agierende „Movimiento de Libera­ ción Nacional“ (MLN) setzte auf „bewaffnete Kommandos“4008. Ihre vor­

4005 4006 4007 4008

Vgl. Kraushaar 2006b, S. 517. Vgl. Debray 1967, S. 83-84; Guevara 1998a, S. 54, 78, 112. Huthöfer 2008, S. 351. Núñez 1970, S. 36.

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8.1 Struktureller Aufbau

wiegend aus „der Mittel- und Oberklasse stammen[den]“4009 Mitglieder waren, so ist zeitgenössischen Publikationen der westdeutschen Linken zu entnehmen, „konspirativ organisiert“4010. Sie „arbeitet[en] in Kleingrup­ pen von fünf bis zehn Personen.“4011 Und weiter: „Die Genossen einer Gruppe wissen voneinander nur wenig. Vom Gruppenleiter kennen sie weder Adresse noch Namen.“4012 Das hier beschriebene System des „need to know“ galt gleichermaßen in der Beziehung unter den einzelnen Grup­ pen – auch diese Information zirkulierte Anfang der 1970er Jahre in linken Kreisen der Bundesrepublik.4013 Wie der späteren wissenschaftlichen Auf­ arbeitung zu entnehmen ist, unterstanden die Zellen der „Movimiento de Liberación Nacional“ einem Exekutivkomitee bestehend aus Personen, welche – ebenso wie die übrigen Mitglieder – lediglich unter einem Alias auftraten.4014 Es „legte eine militärische Hierarchie fest und verteilte die Aufgaben und Aufträge auf die einzelnen Zellen.“4015 Das offenbar aus dem Hintergrund agierende Komitee wurde besetzt durch eine National­ versammlung, „in der alle Einheiten vertreten sein sollten“4016. Ab 1969 begann die uruguayische „Stadtguerilla“, mehrere Zellen in „Kolonnen“ mit „einem aus drei Personen bestehenden Direktorium“4017 zusammenzu­ schließen, „eine[r] verkleinerte[n] Kopie der Bewegung als Ganzes“4018. Abgesehen von der „Movimiento de Liberación Nacional“ nahm die in Brasilien gegründete „Ação Libertadora Nacional“ (ALN) Einfluss auf die Debatten der gewaltbereiten westdeutschen Linken. Zu einem Nestor geriet ihr Gründer Carlos Marighella, dessen Einblicke in den starren Zen­ tralismus der kommunistischen Partei Brasiliens zu einer „Besessenheit in Bezug auf Dezentralisierung aus relativ unabhängigen Kommandoein­ heiten“4019 führten. Ganz im Sinne dieser Obsession verfasste Marighella das „Minihandbuch des Stadtguerillero“. Abschätzig blickte er auf klas­ sische Organisationsformen – die „old-type hierarchy, the style of the

4009 4010 4011 4012 4013 4014 4015 4016 4017 4018 4019

Schöller 1970, S. 52. Ähnlich Krumwiede 2008, S. 48. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Huthöfer 2008, S. 351. Vgl. ebd., S. 350. Ebd., S. 351. Ebd., S. 350. Ebd., S. 352. Ebd. Rübenach 2008b, S. 424.

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traditional revolutionaries“4020. Die urbane „Guerilla“ beschrieb er weiter­ führend: „The organization is an indestructible network of firing groups, and of coordinations among them, that functions simply and practically within a general command that also participates in attacks“4021. Eine „Feuergruppe“ umfasse nicht mehr als vier oder fünf Personen, welche Nachlässigkeiten beim Gewährleisten der inneren Sicherheit zu vermeiden haben: „The most important lesson for guerilla security is never, under any circumstances, to permit the slightest laxity in the maintenance of security measures and precautions within the organization.“4022 Ferner müsse der eigene Aufenthaltsort vor Sicherheitskräften verborgen werden.4023 Zwei abgeschottete „Feuergruppen“ bildeten durch die Koordination von ein oder zwei Mitgliedern ein von anderen „Feuergruppen“ getrenntes „Feuer­ team“. Sofern der „strategic command“ Anweisungen gebe, sei diesen der Vorzug zu geben.4024 Indes müsse eine Starrheit – eine „rigidity in the guerrilla organization“4025 – vermieden werden: „This means that, except for the priority of the objectives set by the strategic command, any firing group can decide to raid a bank, to kid­ nap or execute an agent of the dictatorship, a figure identified with the reaction, or a foreign spy, and can carry out any type of propaganda or war of nerves against the enemy, without the need to consult with the general command. No firing group can remain inactive waiting for orders from above. Its obligation is to act.“4026 Zur Rolle des Generalkommandos merkte Marighella weiterführend an: „The general command counts on the firing groups to carry out ob­ jectives of a strategic nature […]. For its part, the general command helps the firing groups with their difficulties and with carrying out objectives of a strategic nature […].“4027 Früh hielt die Struktur der in Uruguay und Brasilien präsenten „Stadtgue­ rilla“ Einzug in die organisatorischen Vorstellungen des bundesrepublika­ nischen Linksterrorismus. Der sich 1969 nicht nur aus „sozial schwäche­ 4020 4021 4022 4023 4024 4025 4026 4027

Marighella 2002a, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 11-12. Ebd., S. 12.

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ren Milieus“4028, sondern auch aus akademischen Bildungsschichten rekru­ tierende4029 Westberliner „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebel­ len“ favorisierte das Konzept der „Movimiento de Liberación Nacional“. Außenstehenden drängte sich dieser Schluss bereits durch den Namen der Gruppe auf: „Tupamaros Westberlin“, benannt nach der Kurzbezeichnung der uruguayischen „Guerilla“. Die Anlehnung an die Guerilleros aus Uru­ guay unterstrich zudem die Publikation einer Schulungsunterlage durch die TW im Jahre 1970, welche unter dem Titel „Stadtguerilla – Neue Stra­ tegie“ mehrere Texte zum Aufbau und operativen Vorgehen der „Movimi­ ento de Liberación Nacional“ beinhaltete. Intern oblag Georg von Rauch – „Sohn eines [renommierten] […] Kieler Universitätsprofessors“4030 und neben seinem ebenfalls aus dem Kieler Bildungsbürgertum stammenden Mitstreiter Thomas Weisbecker einer der „wenigen Studenten unter den sogenannten Haschrebellen“4031 – die Rolle eines strategischen wie orga­ nisatorischen Spiritus Rector, der die Konzepte aus Lateinamerika zu adaptieren versuchte. Von Rauch zählte zu jenen „Haschrebellen“, die nach ihrer militärischen Kampfausbildung in Jordanien „eine neue, der Praxis im Untergrund angemessene Organisationsform in einzelnen abge­ schotteten und zum Teil […] untereinander abgekapselten Zellen“4032 prä­ ferierten. Seine Gedanken zu den strukturellen Anforderungen, die eine westdeutsche „Stadtguerilla“ zu erfüllen hatte, hielt er im Frühjahr 1970 während der Haft fest. Er beschrieb ein Zusammenspiel aus weitgehend eigenständig handelnden mobilen Kleingruppen,4033 deren personelle Stär­ ke die Zahl einer „Autobesatzung nicht überschreiten“4034 sollte. Den Gruppen teilte er jeweils ein spezifisches Aufgabengebiet zu: Eine „Tech­ nikerzelle“4035, eine „Arztzelle“4036 und eine „Chemiezelle“4037 ergänzten einander – so die Theorie. Verglich man die diversen Signaturen der Anschlagsbekenntnisse, wel­ che 1969/1970 nach Aktionen der „Tupamaros“ in Westberlin zirkulierten, konnte der Eindruck einer tatsächlich existierenden, leistungsstarken zellu­

4028 4029 4030 4031 4032 4033 4034 4035 4036 4037

Wunschik 2006b, S. 533. Vgl. Baumann 1980, S. 92; Korndörfer 2008, S. 243. Kraushaar 2006b, S. 515. Ebd. Ebd., S. 518. Vgl. ebd., S. 522, 524. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 524. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd.

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lären „Stadtguerilla“ entstehen.4038 Die Realität stellte sich allerdings weit­ aus weniger imposant dar, wie Dieter Kunzelmann und Michael Baumann in ihren Erinnerungen einräumten. „Wir simulierten durch Wort und Tat eine weit verzweigte Untergrundbewegung“4039, schrieb Kunzelmann. „Da gab es denn über Nacht plötzlich 20 Gruppen“4040, konstatierte Baumann. De facto verbarg sich eine Gruppe von „nur so zehn Leutchen oder so“4041, ein „Aktionskern von maximal 15 Personen“4042 hinter den „Tupamaros Westberlin“. Die Aktivisten teilten sich „in verschiedene selbstständig agierende“4043 Zirkel auf, die „vermittelt über einzelne Mitglieder“4044 direkte Kontakte in das linksextremistische Umfeld pflegten und durch­ gehend bestrebt waren, „neue Leute anzuwerben.“4045 Unter diesen „Ak­ tionskerne[n]“4046 der TW fanden sich laut damaliger Einschätzung der Sicherheitsbehörden die „Ede-“ und die „Zupp‑Gruppe“ um Dieter Kun­ zelmann – genannt „Ede“ – und Hilmar Buddee, bekannt unter dem Alias „Zupp“.4047 Zu diesen gesellte sich in Gestalt der „Tupamaros München“ eine weitere autonom handelnde Zelle, die – so vermutete Wolfgang Kraushaar – „für bestimmte Aktionen“4048 koordinative Absprachen mit den „Tupamaros Westberlin“ traf. Nicht nur von der strukturellen Qualität und Quantität lateinamerika­ nischer Gruppen der „Stadtguerilla“, sondern auch von dem hohen Maß an interner Abschottung und Konspiration, wie es unter anderem die Guerilleros aus Brasilien und Uruguay gefordert hatten, waren die Grup­ pen in Westberlin und München weit entfernt. Die Mitglieder kannten sich untereinander persönlich4049 und hatten sich in der „68er-Bewegung“ teilweise erheblich exponiert. Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann konn­ ten sich ob der Gründung und Mitwirkung an der „Kommune I“ einer bundesweiten Bekanntheit rühmen.4050 Überdies verfügten die Sicherheits­ behörden über hinreichende Einblicke in die Strukturen der „Tupama­ 4038 4039 4040 4041 4042 4043 4044 4045 4046 4047 4048 4049 4050

Vgl. ebd., S. 520. Kunzelmann 1998, S. 127. Baumann 1980, S. 72. Ebd. Kunzelmann 1998, S. 127. Ebd. Ebd. Baumann 1980, S. 74. Kunzelmann 1998, S. 127. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 521. Ebd., S. 529. Vgl. Kahl 1986, S. 54-55. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 59-60; Kraushaar 2006b, S. 521.

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ros“,4051 womit sich deren Durchleuchtung „nicht besonders schwierig“4052 gestaltete. „Jeder Funkwagen hat die Nummern von ihren Autos und sowie [sic] sie ein Auto sehen, sofort anhalten und die Autos durchsuchen, ob sie nichts beihaben [sic]“4053, erinnerte sich Michael Baumann an das möglichst engmaschige Überwachen in Westberlin durch die Behörden. Selbst beim Rekrutieren neuer Aktivisten zeigten sich die TW anfällig für sicherheitsbehördliche Ermittlungen: „Wir haben zwei Leuten [– potentiellen Mitgliedern der Gruppe –] Bomben gegeben; in der Zeit waren schon reichlich hohe Belohnun­ gen ausgesetzt, 20 000 DM für Hinweise zur Aufklärung der Taten. Der Bruder von dem einen Typen wird die Dinger unter dem Bett von dem gesehen haben. Die haben […] in so einer Art Kommune gewohnt. Er geht zur Polizei und sagt [sic] hier, mein Bruder Berni hat genau die Dinger unter’m Bett liegen. Denn die Bomben, die [im Zuge linksterroristischer Aktionen] nicht funktioniert haben, haben die Bullen immer in der Zeitung abgebildet. Das war immer wieder dasselbe Modell. In dem Augenblick fängt die Fahndung an“4054. Aus der Zerschlagung durch die diversen Festnahmen in den Jahren 1970 und 19714055 zogen die westdeutschen „Tupamaros“ Lehren: In Westber­ lin konzentrierten sich die Mitglieder auf die Schaffung einer „klandesti­ ne[n] Zelle, die nicht erkannt wird, deren Kader […] Nacht- und Nebel­ aktionen machen“4056. Augenscheinlich sollte der strukturelle „Dilettantis­ mus“4057, welcher vor der Verhaftungswelle innerhalb der „Tupamaros“ vorherrschte, durch das Verwirklichen eines „höher entwickelte[n] Gueril­ laapparat[s]“4058 abgebaut werden. Die grundsätzlichen, durch Georg von Rauch im Frühjahr 1970 geprägten strukturellen Ideen blieben dabei be­ stehen. Nach wie vor sollte es sich bei den westdeutschen „Tupamaros“ um einen Akteur handeln, der sich auf „kleine selbstständige Zellen“4059, sogenannte „Feuereinheit[en]“4060 stützt und dementsprechend flexibel

4051 4052 4053 4054 4055 4056 4057 4058 4059 4060

Vgl. Baumann 1980, S. 84; Wunschik 2006b, S. 546. Kraushaar 2006b, S. 525. Baumann 1980, S. 84. Ebd., S. 75-76. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 127, 143. Baumann 1980, S. 101. Ebd., S. 77. Ebd., S. 101. Viett 2007, S. 88. Meyer 2008, S. 183.

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„auf politisch-soziale Konflikte reagieren“4061 kann. Bestand hatte also das langfristige Ziel, auf Basis „eine[r] große[n] Anzahl von Widerstandszel­ len“4062 und „einer gemeinsamen politischen Stoßrichtung dezentralisiert anzugreifen“4063. Die Prämissen der nunmehr forcierten Organisation revi­ dierten die Mitglieder insofern, als sie von dem ursprünglich durch von Rauch favorisierten Gedanken einer personellen Spezialisierung innerhalb der „Stadtguerilla“ abließen. Jeder muss „alles lernen“4064, „jeder muss fähig sein, alles zu machen“4065, „[j]eder muss alles können“4066, lautete die ab Mitte 1971 ausgegebene Devise. Baumann zufolge war man „nicht mehr der Fachmann wie früher. Da hatten die Leute einen Passfälscher, einen Bomben- und einen Waffenspezialisten. Du bist [plötzlich] auf allen Gebieten Spezialist“4067. Und weiter: „Du bist Planer genauso wie Ausführender, du kannst überfallen, ge­ nauso wie du einen Überfall aushecken kannst und wie du ihn leiten kannst, du kannst mit Funk umgehen, du kannst Radios umbasteln auf Polizeifunk“4068. Mit dieser Linie folgten die Angehörigen der TW ganz offensichtlich Carlos Marighellas „Minihandbuch des Stadtguerillero“, das hinsichtlich der Ausbildung eines Untergrundkämpfers breitgefächertes Wissen und Können – angefangen von körperlichen Fähigkeiten, wie zum Beispiel Techniken des Nahkampfes, über chemische und medizinische Fertigkei­ ten bis hin zu Kenntnissen im Umgang mit Feuerwaffen – als unabdingbar auswies: „The technical preparation of the urban guerrilla runs from a concern for his physical condition to a knowledge of and apprenticeship in professions and skills of all kinds“4069. Die „Tupamaros“ verbanden hier­ mit in erster Linie die Hoffnung, das Überleben der TW im Falle erneuter exekutiver Ermittlungserfolge durch die allgemeine Verfügbarkeit wesent­ lichen Wissens abzusichern. Entnehmen lässt sich dies einem Gespräch, welches Till Meyer 1971 mit Georg von Rauch – bekannt unter dem Deck­ namen „Dalton“ – führte: „‚Wenn eine Feuereinheit aufgerieben wird,

4061 4062 4063 4064 4065 4066 4067 4068 4069

Viett 2007, S. 88. Meyer 2008, S. 185. Viett 2007, S. 88. Meyer 2008, S. 183. Baumann 1980, S. 106. Georg von Rauch, zit. n. Meyer 2008, S. 183. Baumann 1980, S. 106. Ebd. Marighella 2002a, S. 8.

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8.1 Struktureller Aufbau

muss die andere in der Lage sein, sofort weitermachen zu können‘, erklärte uns Dalton“4070. Der Verzicht auf ein „Spezialistentum“4071 gründete sich ferner auf den Wunsch, Über‑/Unterordnungsverhältnisse im Binnengefü­ ge zu vermeiden. Baumann schrieb in seiner Autobiographie: „Ein weiterer Grund ist, dass keine Autoritätsstrukturen entstehen können. Wenn jeder die gleichen Voraussetzungen hat, kann er nicht sagen, ich bin hier der Chef, die Ausrede gibt es nicht mehr. Die Autorität wird sehr angeknabbert.“4072 Zu sehen ist in dieser Argumentation das Bestreben, den Widerspruch zum Selbstverständnis der TW als „Keimform“ einer libertären Gesell­ schaft aufzulösen, der sich im internen Miteinander verbarg. So hatte sich vor dem organisatorischen Einbruch ab Ende 1970 unter anderem ein erhebliches Gefälle zwischen den männlichen und weiblichen Mitgliedern des Westberliner Zirkels aufgetan. „[D]ie Gruppe war eigentlich schon eine schlimme Männersekte, also echt, das waren glatte Frauenunterdrü­ cker“4073, erinnerte sich einer der Beteiligten. Obgleich die „Tupamaros Westberlin“ eine gleichberechtigte Stellung der Aktivisten durch den Aus­ tausch von Erfahrungen in den Vordergrund rückten, gelang es ihnen nicht, Hierarchien gänzlich zu beseitigen. Zwar existierte keine „dezidierte Führerperson“4074, unbestreitbar hatte aber Georg von Rauch die Position der „wichtigste[n] Mittelpunktfigur“4075 inne, die Weggefährten mit dem „Prototyp[en] des Anarchisten“4076 gleichsetzten. Selbst außerhalb der „Tu­ pamaros“ kam ihm das Attribut des „beste[n] Mann[s]“4077 zu. Diese Stel­ lung verdankte er zum einen dem Status als Gründungsmitglied der TW. Zum anderen konnte sie auf seine persönlichen Fähigkeiten, „seine geisti­ ge und psychische Beweglichkeit“4078 sowie „seine Initiativkraft und starke Ausstrahlung [zurückgeführt werden], durch die er Anziehung ausübte und Einfluss zu nehmen vermochte.“4079 Zeugnisse von Georg von Rauchs prägender Funktion legten die diversen Rückblicke ehemaliger Angehö­

4070 4071 4072 4073 4074 4075 4076 4077 4078 4079

Meyer 2008, S. 183. Baumann 1980, S. 106. Ebd. Ebd., S. 87. Claessens/de Ahna 1982, S. 145. Ebd. Ebd. Baumann 1980, S. 115. Vgl. auch Aust 2020, S. 351. Claessens/de Ahna 1982, S. 145. Ebd.

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riger der „Tupamaros Westberlin“ ab: Er sei „Achse der Gruppe“4080, „Hauptbezugspunkt“4081 und derjenige gewesen, zu dem die „stärkste Be­ ziehung“4082 bestanden habe. Hinter Georg von Rauch rangierten zwangs­ läufig Mitglieder der TW, welche auf eine vergleichbar lange Laufbahn im Linksterrorismus zurückblicken konnten. Neben anderen zählte dazu Michael Baumann, dem neue Mitglieder der Gruppe „[i]nteressiert und mit etwas Respekt“4083 gegenübertraten. Baumann selbst räumte diese informelle, zwangsläufige Über-/Unterordnung im Verhältnis zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen in seinem Selbstzeugnis ein: „Wer […] die meiste Power hat und die wenigsten Verschleißerschei­ nungen auf Grund dieses Drucks von außen, der wird […] das Wort führen, also du hast in so einer Situation [im gewaltsamen, klandesti­ nen Kampf] die Autoritätshierarchie nie ausgeschaltet.“4084 Ein Abbau der „Härte und […] Unsensibilität der Gruppe“4085, eine Rück­ kehr zur „neue[n] Sensibilität“4086, die zuvor – Ende der 1960er Jahre – in den Kommunen experimentell gelebt und innerhalb der „Tupama­ ros Westberlin“ zugunsten eines „rigiden Aktionismus kaputt gemacht“4087 worden war, setzte dagegen nicht ein. Der alltägliche Umgang der Mitglie­ der untereinander stand weiterhin dem propagierten Ideal eines freiheit­ lichen, menschlichen Zusammenlebens entgegen. Innerhalb des Zirkels habe sich ein „totaler Leistungsdruck“4088 aufgebaut, welcher die Belastung durch das sicherheitsbehördliche Fahnden und abkapselnde Reduzieren sozialer Kontakte nach außen4089 ergänzte. Es trat ein, was bereits den Übergang zwischen der „68er-Bewegung“ und dem Linksterrorismus ge­ kennzeichnet hatte: Die „Bedrohung durch Stagnation, Passivität, Regres­ sion“4090 sowie die Möglichkeit, sich mithilfe einer „spektakulären Akti­ on“4091 zu profilieren, etablierte den Ausgangspunkt für einen Wettstreit um den Nachweis sozialrevolutionärer Kampfbereitschaft. Einher ging 4080 4081 4082 4083 4084 4085 4086 4087 4088 4089 4090 4091

Meyer 2008, S. 191. Ebd. Baumann 1980, S. 115. Viett 2007, S. 86. Baumann 1980, S. 106. Ebd., S. 90. Ebd., S. 88. Ebd. Ebd., S. 128. Vgl. Baumann/Neuhauser 1978, S. 24. Claessens/de Ahna 1982, S. 139. Ebd.

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8.1 Struktureller Aufbau

dies – angeblich – mit einem Hintanstellen des „eigene[n] Wille[ns] zur Entscheidung“4092. Maßgeblich sei „nur noch der Gruppenwille“4093 gewe­ sen. „Das Ziel – die Aktion – k[o]nn[te] gar nicht mehr in Frage gestellt werden, nur noch die Mittel, die man einsetzt[e]“4094. Entsprachen Akti­ visten den Erwartungen der Gruppe an ein adäquates Auftreten im „be­ waffneten Kampf“ nicht, setzten sie sich beißender Kritik aus.4095 Durch „Selbstkritik“4096 sollte verspieltes Vertrauen zurückgewonnen werden. Die auf den Mitgliedern liegende Last wirkte sich, so Michael Baumann, nicht nur nachteilig auf die Physis Einzelner aus.4097 Auch die Interaktion zwischen den Aktivisten zog sie in Mitleidenschaft: Die „Spannung […] w[u]rd[e] oft unerträglich.“4098 Hieraus resultierten Streitigkeiten um Ba­ nalitäten: „Wir haben uns einmal über die Frage geprügelt, wohin wir frühstücken gehen.“4099 Wie die „Tupamaros Westberlin“ auf Mitglieder reagierten, die dem internen wie externen Druck durch eine Zusammenarbeit mit den Sicher­ heitsbehörden nach erfolgter Verhaftung oder einen freiwilligen Ausstieg zu entfliehen suchten, beschrieben Primärquellen widersprüchlich. Laut Baumann beschränkte sich der Umgang mit „Verrätern“4100 – also Mitglie­ dern, die sich auf eine Kooperation mit dem Staat einließen – auf eine Option: „Umlegen.“4101 Den „Tupamaros“ aus freien Stücken den Rücken zu kehren, sei schlicht nicht vorgesehen gewesen. Jedem neuen Mitglied, äußerte Baumann, wurde einleitend der Grundsatz erläutert, „[d]er Ein­ tritt ist kostenlos, der Austritt unmöglich.“4102 Allenfalls könne der Zirkel „via Friedhof“4103 verlassen werden. Im autobiographischen Fundus zu den TW überwiegen Darstellungen, welche einen Gegenpol zu der in Baumanns Äußerungen zu findenden Rigidität bilden. „Jemand, der nicht mehr wollte oder Druck nicht mehr aushielt, konnte gehen. So war das grundsätzlich“4104, berichtete Till Meyer mit Blick auf den Zeitraum Ende 4092 4093 4094 4095 4096 4097 4098 4099 4100 4101 4102 4103 4104

Baumann/Neuhauser 1978, S. 25. Ebd. Ebd. Vgl. Meyer 2008, S. 187-188. Ebd., S. 188. Vgl. Baumann 1980, S. 128. Baumann/Neuhauser 1978, S. 24. Ebd. Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Ebd. Ähnlich Baumann 1980, S. 107. Meyer 2008, S. 193.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

1971/Anfang 1972. Inge Vietts Rückblick stimmt in diesem Detail mit Meyers Darlegungen überein: „Rückzüge muss eine Gruppe tolerieren und auch möglich machen.“4105 Für Meyers und Vietts Beschreibungen spricht, dass die „Tupamaros Westberlin“ weder einen „Verräter“ ermordeten noch ausstiegswillige Mitglieder gegen ihren Willen an die Gruppenstruktur ketteten. Michael Baumann, Heinz Brockmann und Hans Peter Knoll traten ohne ernstzunehmende Repressalien aus dem Zirkel aus. Die TW sicherten den Ausstieg teilweise sogar mit „eine[m] falschen Pass, ein paar tausend Mark und d[er] scharfe[n] Auflage [ab], über alles, was er [der Aussteiger] wusste, für immer zu schweigen“4106, so Till Meyer. Die nach dem Neuaufbau Mitte 1971 formulierten Ansprüche blieben nicht folgenlos. Gezielt trieben die Mitglieder der „Tupamaros Westber­ lin“ die zelluläre Organisation voran. Neben dem Kern um Georg von Rauch erwuchs ein Zirkel aus Angehörigen einer unter der Selbstbezeich­ nung „Schwarze Hilfe“ firmierenden Gruppe des linksextremistischen Mi­ lieus zur Unterstützung „politischer Gefangener“.4107 Eine dritte Zelle sollte Till Meyer aus der Taufe heben. Die strukturelle Erweiterung kam keinesfalls einem Zellteilen gleich: Ausgewählte Mitglieder der Kerngrup­ pe um Georg von Rauch trennten sich nicht von dieser ab, um sodann als Nukleus einen neuen Kern heranzubilden. Vielmehr traten Aktivisten der Kerngruppe an ihnen geeignet erscheinende Personen mit der Überlegung heran, diese zunächst – ganz im Sinne der identifizierten Notwendigkeit des Wissenstransfers – zu unterweisen und anschließend in die linksterro­ ristische Praxis zu entlassen. Michael Baumann und Hans Peter Knoll – beide maßgeblich verantwortlich für das Rekrutieren neuer Mitglieder aus der „Schwarzen Hilfe“ – verdeutlichten in ihrem ersten Gespräch mit Inge Viett, einer der Angehörigen der zweiten Zelle: „Unser technisches Wissen stellen wir euch natürlich zur Verfügung: wie ein Auto geknackt, Sprengstoff hergestellt, Geld beschafft wird, Dokumente gefälscht, Waffen bedient werden etc., aber organisieren und beschaffen müsst ihr die Dinge im Wesentlichen selber. Wir kön­ nen euch nicht ausrüsten und außerdem ist dies […] der praktische Prozess zur Entwicklung eurer Fähigkeiten und eurer Autonomie“4108.

4105 4106 4107 4108

Viett 2007, S. 116. Meyer 2008, S. 193. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 150-151. Michael Baumann und Hans Peter Knoll, zit. n. Viett 2007, S. 88.

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8.1 Struktureller Aufbau

Weitaus detaillierter schilderte Till Meyer, wie er und eine weitere Person über Michael Baumann und Georg von Rauch anhand einer Kette an Maßnahmen in die „Stadtguerilla“ eingebunden wurden. Beide erhielten Decknamen4109 und durchliefen einen Initiationsritus mit „Tauglichkeits­ prüfung[en]“4110, welcher wohl nicht nur erste Kenntnisse vermitteln und die persönliche Befähigung abklopfen sollte. Er dürfte auch darauf ausge­ richtet worden sein, die Gruppe vor der Aufnahme zweifelhafter Mitglie­ der zu schützen und die Sicherheit des Zirkels zu erhöhen. Die Prüfungen begrenzten sich auf das angeleitete Begehen vergleichsweise risikoloser Straftaten, die der Logistik der „Tupamaros Westberlin“ zugutekamen: „Es geht los! ‚Lasst uns mal `nen Bruch machen‘, schlug Georg [von Rauch] vor. ‚Mal sehen, wie ihr euch bei einer Aktion verhaltet.‘ Zu­ erst knackten wir in Schöneberg einen VW-Käfer. Mike, der jetzt Benn hieß, und ich wurden wie Lehrlinge an das Objekt herangeführt. ‚Das ist die Wunderwaffe‘, Dalton zeigte uns einen Gewindestab, der vorne spitz zulief und über dem eine verschiebbare Metallhülle saß. ‚Damit knacken wir jedes Auto.‘ Er klemmte sich hinter das Steuerrad, ich neben ihm, und Benn guckte durchs Fenster zu, während Bommi [Mi­ chael Baumann] im Hintergrund ‚sicherte‘. […] Für den ‚Bruch‘ hat­ ten wir uns eine ehemalige Untergrundkneipe, die jetzt nur noch Kne­ te machte, […] ausgesucht. Mit Brecheisen, aber wenig Lärm kamen wir über die Hintertür rein. Benn und ich suchten sofort nach der Kasse, während Dalton und Alex sich breit hinter dem Tresen aufbau­ ten, um erst mal ‚ein leckeres Bierchen zu zapfen.‘ […] Schon einen Tag später machten wir das nächste Ding. Von linken Türken hatten wir erfahren, dass im Wedding ein Kassierer der faschistischen ‚Grauen Wölfe‘ wohnte. Dem wollten wir die Kasse klauen. […] Der Mann war zum Glück nicht zu Hause, wir öffneten die Wohnung, suchten und fanden neben einer Mitgliederliste auch 3500 D-Mark.“4111 Nachdem Till Meyer und „Benn“ sich an diesen Aktionen zur Zufrieden­ heit der alteingesessenen Mitglieder der TW beteiligt hatten, erhielten sie weitreichende Verantwortung. Die Kerngruppe beauftragte sie mit der Bildung „eine[r] eigene[n] ‚Feuereinheit‘“4112. Außerdem erlangten sie nun Zugriff auf die sensiblen Interna der „Tupamaros“: Sie „sollten […]

4109 4110 4111 4112

Vgl. Meyer 2008, S. 179. Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 181-182. Ebd., S. 183.

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alles lernen, was im Untergrund überlebenswichtig ist.“4113 Dazu gehörten der Umgang mit Schusswaffen und das Legendieren gestohlener Fahrzeu­ ge.4114 Um die anfängliche Handlungsfähigkeit der „Feuereinheit“ um Till Meyer zu gewährleisten, überließen die Altmitglieder ihr Pistolen, „ein kleines umgebautes Transistorradio, mit dem wir den Polizeifunk abhören konnten“4115, und „10.000 D-Mark“4116. Frappierend ist, dass sich unter den 1971 rekrutierten Aktivisten ein erheblicher Teil von Personen befand, welche – gemessen an ihrer forma­ len Bildung und den beruflichen Tätigkeiten – als sozial schwach gelten mussten. Till Meyer hatte die Schule nach der achten Klasse verlassen und seinen Unterhalt – ähnlich wie „Benn“ – mit Gelegenheitsjobs bestritten, darunter der Verkauf von Schmuck.4117 Verena Becker verfügte über die Mittlere Reife. Vor ihrer Mitgliedschaft in den „Tupamaros Westberlin“ war sie als „Hilfsarbeiterin in einer Fleischfabrik“4118 beschäftigt worden. Inge Viett schloss ihre schulische Laufbahn mit dem Besuch der Haupt­ schule ab. Zeitweise arbeitete sie in der Zeit danach als Stripperin,4119 „graphische Hilfskraft“4120, „Reiseleiterin, Cutterin, Hausmädchen, Barda­ me“4121 und Putzkraft.4122 Ob die TW den hohen Anteil an Personen aus einem bildungsfernen Umfeld willentlich erreichten, darf bezweifelt werden, auch wenn Baumann einen Hinweis lieferte, der dies nahelegt. Seiner Autobiographie zufolge soll unter den Gründern der „Tupamaros“ vor ihrem Gang in den Untergrund die Intention konsentiert worden sein, „über dieses sogenannte Lumpenproletariat die ersten Kader der Stadtgue­ rilla“4123 zu finden. Die Aufnahme pauschal als „Proletarier“ klassifizierter sozial Schwacher dürfte primär dem Zufall geschuldet sein. Denn nach allem zu urteilen, was sich den Selbstzeugnissen ehemaliger Mitglieder zu Art und Weise der Rekrutierung entnehmen lässt,4124 gewannen die „Tu­ pamaros“ infolge von Kennverhältnissen weitere Personen bei der erstbes­

4113 4114 4115 4116 4117 4118 4119 4120 4121 4122 4123 4124

Ebd. Vgl. ebd., S. 183-184. Ebd., S. 186. Ebd., S. 188. Vgl. Wunschik 2006b, S. 534; Meyer 2008, S. 170, 172. Wunschik 2006b, S. 534. Vgl. Viett 2007, S. 64. Ebd., S. 67. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 72. Baumann 1980, S. 56. Vgl. Viett 2007, S. 86-87; Meyer 2008, S. 147, 176.

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8.1 Struktureller Aufbau

ten Gelegenheit. Voraussetzung war lediglich eine grundsätzliche gedank­ liche Nähe der potentiellen Mitglieder zu den eigenen ideologischen und strategischen Vorstellungen.4125 So trat Michael Baumann an Inge Viett mit der Bemerkung heran, „[w]ir haben dich schon länger im Auge [.] Du bist sehr aktiv und radikal engagiert. Hast du dir schon mal überlegt, mit uns zusammenzuarbeiten?“4126 Zu einer vollendeten zellulären Struktur nach lateinamerikanischem Muster gelangten die westdeutschen „Tupamaros“ bis zur Formation der „Bewegung 2. Juni“ nicht. Zentrale Paradigmen – insbesondere das rigo­ rose Abschotten der Zirkel untereinander sowie die nahezu unbegrenz­ te Selbstständigkeit – wurden geflissentlich außer Acht gelassen – dies, obwohl die ungehinderte Einsichtnahme in die Tatbeiträge einzelner Mitglieder maßgeblich zur Schwächung der „Tupamaros“ durch die Si­ cherheitsbehörden Ende 1970/Anfang 1971 beigetragen hatte. Seinerzeit konnten Annekatrin Bruhn und Hella Mahler nach ihrer Verhaftung um­ fangreiches Tatwissen präsentieren, welches der Polizei einen gewichtigen Ermittlungsfortschritt zutrug.4127 Kennverhältnisse zwischen einem Groß­ teil der Mitglieder, wie sie die uruguayische „Movimiento de Liberación Nacional“ unterbunden hatte, vermieden die Aktivisten keinesfalls. Im Ge­ genteil: „Jeder hatte mit jedem Kontakt“4128. Der zellenübergreifende Aus­ tausch in Plena4129 und „Vollversammlung[en]“4130 bezog alle Mitglieder ein. Auch zu Freizeitaktivitäten verabredeten sich Angehörige unterschied­ licher Zellen.4131 Die Zirkel griffen auf einen „gemeinsamen Topf“4132 aus finanziellen Mitteln zurück. Neu gebildete Zellen akzeptierten selbst auf taktischer Ebene eine anhaltende, engmaschige Supervision durch die Kerngruppe, welche das in Lateinamerika festgelegte Prinzip des „need to know“ gänzlich unterlief. Es erfolgte eine „Rücksprache […] bezüglich beabsichtigter Tätigkeiten“4133 sowie „die ‚Nachbereitung‘ einer durchge­ führten Aktion“4134.

4125 4126 4127 4128 4129 4130 4131 4132 4133 4134

Ähnlich Claessens/de Ahna 1982, S. 151. Viett 2007, S. 87. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 525. Groebel/Feger 1982, S. 421. Vgl. Meyer 2008, S. 188. Ebd., S. 194. Vgl. ebd., S. 189. Claessens/de Ahna 1982, S. 147. Ebd., S. 152. Ebd.

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Unbestreitbar spielte die Beziehung zur parallel erwachsenden „Roten Armee Fraktion“ beim Restrukturieren der „Tupamaros Westberlin“ ab Mitte 1971 eine entscheidende Rolle. Denn mit ihrer Binnenstruktur suchten sich die TW offenbar gezielt von der RAF abzusetzen, die nach Auffassung der „Tupamaros“ zu diesem Zeitpunkt „etwas geordneter und marxistisch‑leninistischer den Aufbau der bewaffneten Organisation be­ trieb“4135, mithin eine „leninistische Avantgardeorganisation“4136 im Sinn hatte. Vor allem die subjektiv empfundene, verstärkte Integration von „Arbeiter[n]“4137 in die eigenen Mitgliederstrukturen und die Absicht, auf Weisungsketten innerhalb des Zirkels zu verzichten, kultivierten sie bewusst als Vorzüge einer „proletarisch bestimmten“4138, „egalitäreren“ 4139 Alternative zu dem „rein studentische[n]“4140, tendenziell autoritären Zusammenschluss um Andreas Baaders, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof. So kehrte Ingrid Siepmann in der zweiten Hälfte des Jahres 1971 von der „Roten Armee Fraktion“ zu den „Tupamaros Westberlin“ zurück, „weil sie deren Binnenstrukturen als weniger hierar­ chisch empfand“4141. Heinz Brockmann schilderte dem Nachrichtenmaga­ zin „Der Spiegel“ 1973, die TW sahen in der „Roten Armee Fraktion“ ein Gefüge bestehend aus „verschiedene[n] Personengruppen“4142, die durch einen „zentralen Führungsstab“4143 gelenkt werden. Statt dem „autoritären Führungsstil einer herausgehobenen Gruppe oder Personenzahl“4144 hät­ ten sie der Überlegung den Vorzug gegeben, der in einer Situation „jeweils Sachkundigste sagt, was notwendig sei“4145. Nicht zu übersehen war indes, dass sich die TW die „Rote Armee Fraktion“ bei allen Bemühungen um ein strukturelles Abgrenzen auch zum Vorbild nahmen – etwa im Hin­ blick auf die Ernsthaftigkeit bei der Schaffung einer verdeckt operierenden „Stadtguerilla“: Durch die forciertere Bildung „eine[s] Apparat[s]“4146 ent­ lang der Vorgaben lateinamerikanischer Stadtguerilleros bei gleichzeitiger

4135 4136 4137 4138 4139 4140 4141 4142 4143 4144 4145 4146

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Kunzelmann 1998, S. 128. Baumann 1980, S. 92. Ebd. Wunschik 2006b, S. 560. Baumann 1980, S. 92. Wunschik 2006b, S. 546. Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 76. Heinz Brockmann, zit. n. ebd. Heinz Brockmann, zit. n. ebd. Heinz Brockmann, zit. n. ebd. Baumann 1980, S. 101.

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8.1 Struktureller Aufbau

„Übung in den ‚preußischen‘ Tugenden von Disziplin, Zuverlässigkeit“4147 und Pflichtbewusstsein konterte die Gruppe implizit die Vorwürfe aus den Reihen der im Entstehen begriffenen RAF, die kurz nach der Gründung der „Tupamaros Westberlin“ die „laschen Sicherheitsvorkehrungen“4148 skeptisch beäugt und schließlich die Überzeugung gewonnen hatte, die TW würden „vollkommen unernst die Sache in Angriff nehmen“4149. Möglich wurde den „Tupamaros“ das organisatorische Abgrenzen von der RAF, weil zwischen der Ersten Generation der „Roten Armee Frakti­ on“ und den TW eine Vielzahl an persönlichen Verbindungen bestand, welche es beiden Gruppen erlaubten, jederzeit an den jeweils anderen Zirkel heranzutreten. Hiermit einher gingen Einblicke in die Strukturen des Gegenübers, die die Grundlage zur Entwicklung alternativer Ideen lieferten. Die Kontakte resultierten zum einen aus einer gemeinsamen Ra­ dikalisierung im eng verflochtenen Westberliner Linksextremismus.4150 So hatten Holger Meins und Irmgard Möller zeitweise gemeinsam mit Die­ ter Kunzelmann und Thomas Weisbecker in einer Kommune gelebt.4151 Kunzelmann wiederum war mit dem Rechtsanwalt Horst Mahler verbun­ den, der ihn vor Gericht vertreten hatte.4152 Nach der Rückkehr der „Tupamaros“ aus Jordanien baute Mahler über eine „Botin“4153 Kontakt auf zu Kunzelmann. Über diese Mittelsfrau ließen sich beide unter Be­ achtung von Vorsichtsmaßnahmen mehrfach „Nachrichten mündlich“4154 zukommen. Auch Michael Baumann hatte Mahlers Dienste als Advokat beansprucht. Von Mahler war er Anfang 1970 wiederholt in der Haft besucht worden.4155 Baumann saß zeitweise „Zelle an Zelle“4156 mit dem im Frühjahr 1970 arretierten Andreas Baader in Haft – beide hatten dort Gelegenheit zum Austausch. Die Kommunikationskanäle unter der RAF und den TW stützten sich zum anderen auf die zahlreichen personellen Übertritte: „Mitglieder wechselten von dieser zu jener Organisation und umgekehrt.“4157 Beispielhaft zu nennen sind Ingeborg Barz, Wolfgang

4147 4148 4149 4150 4151 4152 4153 4154 4155 4156 4157

Claessens/de Ahna 1982, S. 147. Kraushaar 2006b, S. 525. Ähnlich Kraushaar 2017, S. 190. Baumann 1980, S. 91. Vgl. Wunschik 2006b, S. 559-560. Vgl. Kahl 1986, S. 54. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 110-111; Jander 2006, S. 378. Kraushaar 2017, S. 190. Ebd. Vgl. Jander 2006, S. 381. Aust 2020, S. 196. Kraushaar 2017, S. 36.

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Grundmann, Angela Luther, Ralf Reinders, Ingrid Siepmann und Thomas Weisbecker. Ursprünglich den „Tupamaros Westberlin“ zugehörig, schlos­ sen sie sich der „Roten Armee Fraktion“ an. Einzelne wandten sich später erneut den TW zu. Zweifelsohne begünstigte dieser Austausch den von Heinz Brockmann 1973 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ geschilder­ ten Aufbau eines Verbindungswesens zwischen „Roter Armee Fraktion“ und „Tupamaros Westberlin“ im Jahre 1971. Nachdem Brockmann als ausgewählter Vertreter der „Tupamaros“ im Zuge eines Auftakttreffens auf die zu diesem Zeitpunkt in die RAF eingebundene Aktivistin Ingrid Siepmann gestoßen war, erhielt er Zugang zum inneren Kreis der „Ro­ ten Armee Fraktion“. Die Kontakte zur Ersten Generation verliefen an­ schließend über konspirative persönliche Zusammenkünfte sowie telefoni­ sche Absprachen.4158 Wenngleich die „Tupamaros Westberlin“ auf Erkenntnisse zur Struktur der „Roten Armee Fraktion“ zurückgreifen konnten, die aus erster Hand stammten, ist ihr Beschreiben und Bewerten derselben mit Vorsicht zu betrachten. Zu empfehlen ist dies vor allem im Hinblick auf den Ver­ gleich des Binnengefüges der RAF mit den Maximen des Marxismus-Leni­ nismus, unterstellt diese Gleichsetzung doch eine innere Gliederung nach dem pyramidalen Modell einer kommunistischen, dem Demokratischen Zentralismus folgenden Kaderpartei mit eingrenzbaren Posten und Orga­ nen. Zwar schwebte dem selbsternannten „Marxist[en]‑Leninist[en]“4159 Horst Mahler in seiner Rolle als Initiator der RAF „eine am Bolschewis­ mus orientierte Untergrundorganisation vor“4160, die „straffer organisiert und professioneller agieren“4161 sollte als die „Tupamaros Westberlin“. Derartige Vorstellungen kamen in der Praxis aber nie zum Tragen. Tat­ sächlich stellten sich „die Dinge komplizierter, […] unstrukturierter und widersprüchlicher“4162 dar, womit von einer „Überschätzung des Orga­ nisationsgrades der Baader‑Meinhof-Gruppe“4163 durch die „Tupamaros“ gesprochen werden muss. Ähnlich wie die TW – und später die B2J – nahm die „Rote Armee Fraktion“ die Struktur einer „Stadtguerilla“ sui generis an, welche dem Anspruch nach auf die „Erfahrungen der [uruguayischen] Tupamaros“4164 und anderer, vorwiegend in Südamerika 4158 4159 4160 4161 4162 4163 4164

Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 78-79. Kraushaar 2017, S. 190. Ebd. Ebd. Neidhardt 1982a, S. 361. Ebd. Möller/Tolmein 1999, S. 36. Ähnlich ebd., S. 210.

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8.1 Struktureller Aufbau

aktiver Guerillaorganisationen rekurrierte,4165 sich jedoch (langfristig) in bedeutenden Einzelheiten von den lateinamerikanischen Lehren entfernte. Mahler selbst entwickelte sich schon bald nach der Gründung der RAF zum vehementesten Verfechter der Prinzipien eines notorischen Kritikers traditioneller, marxistisch-leninistischer Dogmen der revolutionären Orga­ nisation. Der Rechtsanwalt ließ offenbar „alle Gruppenmitglieder [Carlos] Marighellas [Minihand-]Buch [des Stadtguerillero] lesen“4166. Er habe „die Gruppe nach dessen Prinzipien aufbauen und führen wollen“4167, heißt es in der Forschung zum deutschen Linksterrorismus, die sich auf Aussagen Karl‑Heinz Ruhlands beruft. Mit dieser Haltung war er innerhalb der Ersten Generation nicht isoliert, im Gegenteil: Der gesamte Zirkel akzep­ tierte das „Minihandbuch des Stadtguerillero“ als Leitfaden – und mit ihm spezifische Vorgaben zur Struktur.4168 „Kenntnis und Beherzigung“4169 seiner Inhalte erwartete der Zirkel „von allen Bandenmitgliedern“4170. Im „Konzept Stadtguerilla“ aus April 1971 erklärte die RAF schließlich der Öffentlichkeit: „Stadtguerilla setzt die Organisierung eines illegalen Appa­ rates voraus […]. Was dabei im einzelnen zu beachten ist, hat Marighella in seinem ‚Minihandbuch der Stadtguerilla‘ beschrieben.“4171 Selbstredend lag das Binnengefüge der „Roten Armee Fraktion“ in den ersten Monaten ihres Entstehens fernab von den Vorbildern aus Südameri­ ka. Anfang 1970 bestand lediglich eine „kleine Kerngruppe“4172 mit „rela­ tiv locker[em]“4173 Aufbau, deren Mitglieder sich unter anderem über ihr Engagement im Märkischen Viertel in Westberlin zusammenfanden4174 und das weitere Vorgehen durch einen Kontakt zu den zu diesem Zeit­ punkt bereits sehr aktiven „Tupamaros Westberlin“ zu sondieren versuch­ ten.4175 Wenngleich die Aktivisten wohl schon in dieser Phase eine den TW in ihrer Rigorosität fremde, lehrbuchartige Strukturierung in Gestalt einer „Kaderbildung“4176 in „Gruppen […] von nicht mehr als fünf Leu­

4165 4166 4167 4168 4169 4170 4171 4172 4173 4174 4175 4176

Vgl. ebd., S. 36. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 114. Vgl. auch Der Spiegel 1972a, S. 36. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 114. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 326; Jander 2008, S. 147. Dietrich 2009, S. 18. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 42. Groebel/Feger 1982, S. 427. Neidhardt 1982a, S. 341. Vgl. ebd., S. 325, 341. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 127. Ebd., S. 128.

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ten“4177 mit „einheitliche[m] Oberkommando“4178 bewarben, forcierten sie erst nach der „Baader‑Befreiung“ mit anschließender Illegalisierung sowie der Ausbildung in Jordanien das Gründen eines regelrechten terro­ ristischen Untergrunds.4179 Erkennen ließen sich Formen einer zellulären Organisation, als sich im Spätsommer 1970 mehrere „Aktionsgruppen“4180 formierten, die jeweils ein Geldhaus überfallen sollten.4181 Fortgeführt wurde dieses Untergliedern, nachdem die Erste Generation ob des wach­ senden Fahndungsdrucks in Westberlin auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewichen war. Während Horst Mahler aus der Haft heraus verlangte, „Kommandogruppen [zu] bilden (3er-, 5er-, 10er-Gruppen)“4182, schuf die RAF in mehreren Städten „Subgruppen“4183, denen sie später öffentlichkeitswirksam das Prädikat eines „Kommandos“ zuwies. Neben einer Zelle in Westberlin um Brigitte Mohnhaupt agierten „Einheiten“4184 in Frankfurt am Main, Hamburg und Stuttgart.4185 1976 sollte die „Rote Armee Fraktion“ in der eigenen Propaganda von „acht gruppen in sechs städten“4186 mit gemeinsamer Logistik sprechen, wobei „zwei starke grup­ pen in zwei städten“4187 bestanden hätten. Augenscheinlich oblag den Zirkeln eine weitreichende Autonomie im Hinblick auf die „entscheidung über die operative durchführung“4188 von Aktionen: „das genaue ziel, pla­ nung, checken, zeitpunkt“4189 fielen in ihre jeweilige Hoheit. Gleichermaßen deckten sich zusehends die internen Sicherheitsvorkeh­ rungen mit den hierzu gesammelten Erkenntnissen lateinamerikanischer „Guerilleros“. Im persönlichen und schriftlichen Austausch traten die Mit­ glieder ausnahmslos mit Decknamen auf. Der Umgang mit Außenstehen­ den erfolgte unter Nutzung gefälschter Personalien4190 und Verfremdung mittels Perücken und „falschen Bärten“4191. Darüber hinaus begrenzte die

4177 4178 4179 4180 4181 4182 4183 4184 4185 4186 4187 4188 4189 4190 4191

Andreas Baader, zit. n. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Andreas Baader, zit. n. ebd. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 343. Dietrich 2009, S. 40. Vgl. Der Spiegel 1972a, S. 36-38; Peters 2008, S. 214. ID-Verlag 1997, S. 107. Groebel/Feger 1982, S. 421. Rote Armee Fraktion 1983, S. 212; Möller/Tolmein 1999, S. 58. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 328; Diewald-Kerkmann 2009, S. 246. Rote Armee Fraktion 1983, S. 212. Ebd. Ebd. Ähnlich ebd., S. 24; Möller/Tolmein 1999, S. 58. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 20-21. Ebd., S. 23.

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8.1 Struktureller Aufbau

RAF die Weitergabe von Interna in der Binnenkommunikation entlang der Maxime des „need to know“. Das „Prinzip der ‚offenen Gruppe‘“4192 lehnte sie ausdrücklich ab, „weil man natürlich damit rechnen muss, wenn man gefangen genommen wird, dass es verräter geben kann, dass sie erpresst werden, gefoltert werden.“4193 Kennverhältnisse unter den Mitgliedern und folglich auch die „relativ übersichtliche Organisation (‚je­ der kennt jeden‘)“4194 sowie die „innere Verbundenheit“4195 nahmen paral­ lel zum Anstieg der personellen Stärke der Ersten Generation ab. Zwar standen die „Einheiten“ untereinander vor allem telefonisch im Kontakt: „und wenn die in stuttgart in berlin anrufen, ist das völlig richtig, ganz normal, das hat jeder x-mal am tag gemacht“4196. Diese Verbindungen dienten aber nur grundsätzlichen, koordinativen Absprachen zu „strategie und taktik und […] theorie und analyse“4197 sowie zu Kernpunkten der Organisation. Was Details zu konkreten Handlungen anbelangte, so galt: Jeder Aktivist erhielt nur diejenigen Informationen, welche für seine jewei­ lige Aufgabe erforderlich waren.4198 Misstrauisch blieb die Gruppe beim Rekrutieren weiterer Mitstreiter. Diese unterzog die Erste Generation einer Überprüfung, welche – angeblich – die Gründungsmitglieder des Zirkels verantworteten.4199 Die „Illegalen“ „wollten sicher sein, dass nicht Aben­ teuerlust oder Karrierismus und Wichtigtuerei jemanden antreiben.“4200 Als unerwünscht ordneten sie „Schwätzer, Angeber und Zauderer“4201 ein. Ob einem Beitrittskandidaten die Aufnahme gestattet werden konnte, be­ stimmte sich nach unterschiedlichen Kriterien – darunter eine Distanz zu Suchtmitteln, Verschwiegenheit sowie zuverlässiges und couragiertes Auf­ treten.4202 Er musste, so die plakative Feststellung Horst Mahlers, „unter al­ len Umständen (auch im Bett!) den Mund halten können“4203. Außerdem erwartete die „Rote Armee Fraktion“ von neuen Mitgliedern den Abbruch

4192 4193 4194 4195 4196 4197 4198 4199 4200 4201 4202 4203

Neidhardt 1982a, S. 369. Rote Armee Fraktion 1983, S. 224. Groebel/Feger 1982, S. 426. Ebd., S. 427. Rote Armee Fraktion 1983, S. 225. Ebd., S. 224. Ähnlich ebd., S. 233-234. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 369; Rote Armee Fraktion 1983, S. 224, 234; Dietrich 2009, S. 21. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 244. Möller/Tolmein 1999, S. 37-38. ID-Verlag 1997, S. 107. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 369. ID-Verlag 1997, S. 107.

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aller bisherigen sozialen Beziehungen zu den „eigene[n] Kinder[n], [zu] Frauen [und] Freunde[n]“4204. Kritisch zu beleuchten ist an dieser Stelle die in den Erinnerungen der „Tupamaros Westberlin“ zu findende Charakterisierung der „Roten Armee Fraktion“ als „rein studentische […] Intellektuellengruppe.“4205 Unbestrit­ ten ist, dass „die Mehrheit der Mitglieder […] Studenten“4206 waren, die RAF also offensichtlich vorzugsweise Personen mit einem akademischen Vorlauf absorbierte. Im Zirkel fand sich jedoch ebenfalls eine beachtli­ che Zahl an Aktivisten, die entweder nicht über eine Berufsausbildung verfügten oder „handwerkliche Berufe“4207 wahrgenommen hatten. HansJürgen Bäcker konnte „sieben Jahre praktischen Bergbau hinter“4208 sich bringen. Ingeborg Barz bestritt ihren Lebensunterhalt als Sekretärin,4209 Heinrich Jansen als Kaufmann, Petra Schelm als Friseurin.4210 Eric Grusdat betrieb als „KfZ-Meister“4211 eine Werkstatt für Kraftfahrzeuge. Irene Ge­ orgens verließ die Fürsorgeerziehung, verdingte sich als Haushaltshilfe und versuchte schließlich, die Hauptschule zu absolvieren.4212 Astrid Proll verschrieb sich der Fotografie.4213 Karl‑Heinz Ruhland blickte auf eine lan­ ge Serie von Gelegenheitsarbeiten zurück: „Laufjunge, Landarbeiter, Bin­ nenschiffer, Rangierarbeiter, Nachttankwart, Schnapsfabrikarbeiter, Ofen­ abreißer“4214. Im Grunde handelte es sich bei der „Roten Armee Fraktion“ – ebenso wie bei den TW – um einen soziodemographisch heterogenen Zusammenschluss aus Personen bildungsnaher und -ferner Herkunft, in dem Mitglieder des Bildungsbürgertums den Ton angaben. Neben interner Sicherheit wahrzunehmen war das Bestreben der RAF, Marighellas Paradigma zur allumfassenden Ausbildung der „Gueril­ lakämpfer“ nachzukommen. Anders als es das der RAF unter anderen von den „Tupamaros Westberlin“ zugewiesene Etikett der „Leninisten mit Knarre“4215 implizierte, verständigten sich die Aktivisten der „Roten

4204 4205 4206 4207 4208 4209 4210 4211 4212 4213 4214 4215

Neidhardt 1982a, S. 369. Baumann 1980, S. 92. Horchem 1988, S. 37. Ebd. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 175. Vgl. Jander 2008, S. 149. Vgl. Peters 2008, S. 199. Der Spiegel 1972a, S. 34. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 73. Vgl. ebd., S. 41. Der Spiegel 1972a, S. 34. Kunzelmann 1998, S. 128; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212.

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8.1 Struktureller Aufbau

Armee Fraktion“ nicht auf eine „Art Organisationsplan mit Positionsdefi­ nitionen“4216. Laut Irmgard Möller „sollte [es] keine Spezialisten für dies und für das geben“4217. Auf theoretischer und praktischer Ebene „sollten [alle] möglichst alles können“4218. Heinrich Jansen zufolge bestand die In­ tention, ein „Organisationsmodell zu entwickeln, das zumindest vom Ver­ such her so war, dass jedwede Arbeitsteilung […] aufgehoben werden soll­ te.“4219 Geplant war, die „Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit“4220 des Einzelnen zu stärken. Ulrike Meinhof postulierte im April 1972 in der Erklärung „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassenkampf“ einen „kollektiven Arbeits- und Lernprozess“4221 der „Stadtguerilla“, welcher „tendenziell die Aufhebung von Arbeitsteilung“4222 nach sich ziehe. Diese in der späteren Propaganda als „kaderlinie“4223 titulierte Weisung diente offensichtlich weniger dem Einebnen hierarchischer Gefälle als dem Bei­ behalten einer Handlungsfähigkeit im Falle sicherheitsbehördlicher Fahn­ dungserfolge.4224 „[D]ie Verhaftung eines einzelnen [dürfe nicht] die Kata­ strophe für alle sein“4225, die darin mündet, „dass […] alles völlig orientie­ rungslos dasitzt“4226. Trotz dieses in der Praxis tatsächlich beachteten4227 Anspruchs, der sich weitgehend mit den nach Mitte 1971 vorgenommenen strukturellen Anpassungen innerhalb der TW deckte, ergaben sich in der Ersten Generation „naturwüchsig“4228 Stellen mit spezifischem Arbeitsge­ biet. Begünstigt haben dürften einen solchen Automatismus „besondere Begabungen und Interessen“4229 einzelner Mitglieder. Im Inneren der RAF entwickelten sich „Funktionen wie Geldverwaltung/Kassenführung, Quartiermacherei, Fälschungen, Kfz‑Reparaturen, diverse Einkäufe, Feuer­ schutz geben, Bomben basteln [und] Verlautbarungen schreiben/‚Stimme‘ nach außen“4230 – so die Forschung zum bundesrepublikanischen Linkster­

4216 4217 4218 4219 4220 4221 4222 4223 4224 4225 4226 4227 4228 4229 4230

Neidhardt 1982a, S. 363. Möller/Tolmein 1999, S. 67. Ebd. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 142. Ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 221. Vgl. ebd.; Möller/Tolmein 1999, S. 67. ID-Verlag 1997, S. 142. Rote Armee Fraktion 1983, S. 221. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 67. Neidhardt 1982a, S. 363. Ebd. Ebd.

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rorismus. Die Verwaltung finanzieller Mittel übernahm nach Aussagen von Karl-Heinz Ruhland Gudrun Ensslin, das Erstellen gefälschter Iden­ titätsdokumente Manfred Grashof.4231 Wie Beate Sturm 1972 im Nach­ richtenmagazin „Der Spiegel“ schilderte, oblag Ulrike Meinhof „fast aus­ schließlich“4232 die Aufgabe, der Gruppe Unterkünfte zu beschaffen. Viel ist dazu geschrieben worden, ob und inwiefern in der Ersten Generation ein Über‑/Unterordnungsverhältnis zwischen den Aktivisten bestand. Mitglieder, welche in den 1970er Jahren aus der Gruppe ausstie­ gen, sowie die „Rote Armee Fraktion“ selbst ließen sich hierzu ausführ­ lich ein. So problematisch die Zulieferungen dieser beiden Seiten unter Berücksichtigung der möglicherweise zugrundeliegenden Motivlage – Re­ lativieren der eigenen, pönalisierten Rolle hier, Idealisieren der RAF da – sein mögen:4233 Ihnen gemein ist das wissenschaftlich bestätigte Bild eines faktisch doch sehr hierarchisch angelegten Zirkels, der sich in diesem Punkt – wie in den Schilderungen der „Tupamaros Westberlin“ behauptet – merklich von den übrigen Strukturen der westdeutschen „Stadtguerilla“ abhob.4234 Ebenso wenig wie andere strukturelle Merkmale rechtfertigt das konkrete Beziehungsgeflecht zwischen den Aktivisten jedoch nicht ein Einordnen der „Roten Armee Fraktion“ als „klassisch hierarchische Orga­ nisation“4235, die im Hinblick auf reguläre Militärverbände und langjährig aktive Guerillaarmeen ob der nachhaltig durchgesetzten Weisungsrechte zu unterstellen ist. Zweifellos stützte sich die Erste Generation auf eine „Führungsclique“4236, welche die Triebkraft des Zirkels bildete und mit allen „Subgruppen“ im Kontakt stand.4237 Dieser zumeist in Frankfurt am Main ansässigen „Führungscrew“4238 zuzurechnen waren Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler, Ulrike Meinhof, Holger Meins und JanCarl Raspe,4239 wobei Baader und Mahler eine herausgehobene Stellung ausfüllten. Wiewohl sie sich im Sommer 1970 in Jordanien gegenseitig den Einfluss in der entstehenden „Roten Armee Fraktion“ streitig gemacht

4231 Vgl. Der Spiegel 1972a, S. 29. Zu Ensslins Rolle vgl. auch Bressan/Jander 2006, S. 416-417; Aust 2020, S. 266, 356-358. 4232 Sturm 1972, S. 60. 4233 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 362-363. 4234 Vgl. Groebel/Feger 1982, S. 413, 421, 427, 430. 4235 Straßner 2008b, S. 214. 4236 Groebel/Feger 1982, S. 421. 4237 Vgl. ebd., S. 430. 4238 Neidhardt 1982a, S. 328. 4239 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 364; Jander 2008, S. 149; Diewald-Kerkmann 2009, S. 246.

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hatten,4240 schrieben andere Mitglieder beiden in der ab Spätsommer 1970 einsetzenden Phase der Illegalität die Rolle eines „Wortführer[s]“4241 zu. Diese Konkurrenz endete, nachdem Mahler im Oktober 1970 in Haft ge­ riet. Mit ihm sei „der führende Kopf der Gruppe ‚verlorengegangen‘.“4242 Unterhalb der Kerngruppe traten die verbleibenden Angehörigen des Zir­ kels auf. Ob diese ihrerseits pauschal Rängen zugewiesen wurden, ist kaum mit Sicherheit zu bestimmen. Die „Rote Armee Fraktion“ bestritt 1976 das durch ein ehemaliges Mitglied dargelegte Konstrukt der „einfa­ che[n] mitglieder und […] randmitglieder“4243. Eine derart rigorose Ableh­ nung steht indes nicht mit gesicherten Erkenntnissen zum Innenleben der Ersten Generation im Einklang. So genossen beispielweise Manfred Grashof, Brigitte Mohnhaupt und Irmgard Möller als „Statthalter“4244 der Kerngruppe in Hamburg, Westberlin und Stattgurt augenscheinlich ein höheres Ansehen als Heinrich Jansen und Karl‑Heinz Ruhland. Jansen sei „ewig besoffen“4245 gewesen. Ruhland habe der Zirkel nicht verstärkt in die Aktivitäten eingebunden, da er in ihm offenbar nicht das nötige Potential sah: „Der wird sowieso kein Kader, lohnt sich also nicht.“4246 Im Binnengefüge der „Roten Armee Fraktion“ existierte somit ein perme­ ables „Statussystem“4247, dessen Durchlässigkeit an den „Kampfeswillen“ und individuellen Beitrag zum Gruppenerfolg gekoppelt war. Erfüllte der Einzelne die Anforderungen, stieg er in der Gunst des Zirkels auf. Keinen Einfluss auf den Status hatte offensichtlich das Geschlecht. Grundsätzlich habe Gleichberechtigung bestanden.4248 Im Unterschied zu einer „klassisch hierarchische[n] Organisation“4249 nahm die „Führungsclique“4250 der „Roten Armee Fraktion“ nicht eine formale Autorität kraft Amtes wahr, welche ihre Legitimität über eine mit ihr verbundene, festgefügte Stelle bezog. Ähnlich wie bei Georg von Rauch – der nach der Festnahme Dieter Kunzelmanns einzigen zentralen

4240 4241 4242 4243 4244 4245 4246 4247 4248 4249 4250

Vgl. Jander 2006, S. 382; Wieland 2006, S. 344. Der Spiegel 1972a, S. 44. Ebd., S. 46. Rote Armee Fraktion 1983, S. 223. Neidhardt 1982a, S. 328; Diewald-Kerkmann 2009, S. 246. Vgl. auch Aust 2020, S. 620-621. Sturm 1972, S. 60. Ähnlich Der Spiegel 1972a, S. 29. Ebd. Schmidtchen 1981, S. 53. Vgl. Sturm 1972, S. 63. Straßner 2008b, S. 214. Groebel/Feger 1982, S. 421.

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Gestalt der „Tupamaros Westberlin“ – resultierte die Führung aus einem Zusammenspiel der persönlichen Fähigkeiten, Erfahrung und Resultate des eigenen Auftretens.4251 Die Kernmitglieder der Ersten Generation ge­ rieten „zu Idolen, Leitfiguren und Vorbildern mit starker persönlicher Ausstrahlungskraft und charismatischer Wirkung oder zu Ersatz- und Übervätern bzw. -müttern“4252. Eindrückliche Beschreibungen zu dieser Autorität kraft Person bieten die Erinnerungen ehemaliger Mitglieder aus der Entstehungszeit der RAF. „Was mich an den RAF-Genossen [Baader, Ensslin, Meinhof, Meins und Raspe] besonders anzog“, so Margrit Schiller, „war ihre absolute Ernsthaftigkeit. Sie lebten, was sie sagten, sie spielten nicht. Reden und Handeln standen im Einklang. […] [M]ich faszinierte, wie sie sich für ihre Sache einsetzten.“4253 Gerade Baader „lebte […] nach den Maßstäben, nach denen er kritisierte“4254. Zu den Ursachen der Dominanz, die ihm unter den Kernmitgliedern zukam, zählte im Besonderen das Bewundern des enthemmten „Gesetzlose[n], [der] bereit [ist] zum Verbrechen“4255. Laut Mahler vermochte Andreas Baader „einen antiintellektuellen Impuls auf einem hohen intellektuellen Niveau“4256 zu bedienen. Er sei „über bestimmte Dinge hinaus [gewesen], in denen wir [Mahler und Meinhof] noch drinsteckten und war dadurch natürlich ein Faszinosum“4257. Was sich für einzelne Mitglieder als Herausforderung erwies, hatte Baader bereits erreicht: „Dass man ein Auto knacken kann und dabei keine Schuldgefühle hat“4258. Ähnlich formulierte es Ensslin. An Baader habe sie sich orientieren können, da „er das alte (erpressbar, korrupt) nicht mehr war, sondern das neue: klar, stark, unversöhnlich, entschlossen.“4259 Andere Mitglieder – darunter Beate Sturm – begeisterte „das Konspirative um Baader“4260. Indem er berichtete, welche Maßnah­ men gegen staatliche Abhöraktionen schützen, habe man sich „wie im amerikanischen Krimi“4261 gefühlt und Spaß verspürt.4262 Eigenschaften,

4251 4252 4253 4254 4255 4256 4257 4258 4259 4260 4261 4262

Vgl. Neidhardt 1982, S. 364. Jäger/Böllinger 1981, S. 156. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 48. Ebd., S. 49. Wieland 2006, S. 343. Horst Mahler, zit. n. Jander 2006, S. 381. Horst Mahler, zit. n. ebd., S. 381-382. Vgl. auch Jesse 2001, S. 191. Horst Mahler, zit. n. Jander 2006, S. 382. Gudrun Ensslin, zit. n. Neidhardt 1982a, S. 364. Sturm 1972, S. 60. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 60.

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welche Baaders Position stärkten, konnten sogar der Propaganda der „Ro­ ten Armee Fraktion“ entnommen werden. Verkörpert habe er „von anfang an das […], was die guerilla am meisten braucht: wille, bewusstsein des ziels, entschlossenheit, kollektivität.“4263 An anderer Stelle hieß es: „andre­ as war von anfang an in der raf das, was jeder kämpfer werden will und werden muss: die politik und strategie [der Stadtguerilla] in der person jedes einzelnen.“4264 Mithin galt er in den Augen der Gruppe nicht als „nichtsnutzige[r] Boheme-Typ“4265, sondern „ganz einfach [als] der überle­ gene Guerillakämpfer“4266, der bei fortlaufendem Abstieg in den linkster­ roristischen Untergrund zusehends benötigt wurde.4267 Anders als in der Struktur der „Tupamaros Westberlin“ ging Autorität innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ partiell mit einem Anspruch auf eine ebensolche einher. Jedenfalls lässt sich für Georg von Rauch kein Gebaren belegen, das jenem des unter den ehemaligen „Haschrebellen“ als „Filmfigur“4268 verschrienen RAF-Gründers Andreas Baaders nahekam. Ungeachtet aller Erklärungen der RAF, denen zufolge sich Mitglieder des Zirkels bei Verweis auf einen „führungsanspruch“4269 oder Unterteilung in „führer und untergebene“4270 der Lächerlichkeit preisgegeben hätten, pochte Baader bereits in der Illegalität auf seine Stellung.4271 Laut Gerhard Müller stand für ihn außer Frage: „wo er ist, ist vorderste Front der RAF“4272. „Baader verstand sich als derjenige, der immer vorn ist“4273. Diese Schilderungen untermauerten „Berichte über Privilegien, die er sich zurechnete“4274. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang ein Vorfall, den Beate Sturm überlieferte: „Als wir in Stuttgart waren, hatten wir eine ganze Reihe von Wohnun­ gen, und die Frage war, wer wohnt wo. Es gab eine Wohnung mit Bad, und es war völlig klar, dass Andreas und Gudrun die kriegten. Ja [sic] wieso denn, diese Wohnung entsprach doch nicht Baaders Sicherheits­

4263 4264 4265 4266 4267 4268 4269 4270 4271 4272 4273 4274

Rote Armee Fraktion 1983, S. 24. Ebd., S. 46. Jesse 2008, S. 411. Neidhardt 1982a, S. 364. Vgl. ebd. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Rote Armee Fraktion 1983, S. 219. Ebd., S. 221. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 246. Gerhard Müller, zit. n. ebd. Gerhard Müller, zit. n. ebd. Neidhardt 1982a, S. 364.

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vorschriften? Weil die Wohnung ein Bad hat. Ja, wieso kriegt Andreas ein Bad und wir nicht? Das war doch wohl klar: der hat mal im Knast gewohnt. Das kannst du doch dem nicht zumuten, hieß es, der hat da so im Knast gelitten, der muss also ein Bad haben – so Gudrun“4275. Es wäre indes übertrieben, Baader – oder anderen Aktivisten der Führungs­ riege der Ersten Generation – eine Unantastbarkeit zuzuschreiben, wie sie in einer staatstragenden kommunistischen „Partei mit Generallinie“4276 Usus war. Die tonangebenden Mitglieder sahen sich einem „dauerhafte[n] Rechtfertigungs- und Bewährungsdruck“4277 ausgesetzt – allen voran Baa­ der, der sich mit seinem Habitus innerhalb des Zirkels besonders exponier­ te. Sie selbst unterlagen der Kontrolle und Kritik.4278 Trafen sie Entschei­ dungen eigenmächtig und ohne Rücksprache, gerieten sie rasch in den Fo­ kus interner Reflexion, welche „auf niedermachen drauf aus[lief]. mit dem ergebnis, dass wir stumm wurden.“4279 Eskapaden Baaders kommentier­ ten andere Aktivisten mit dem Hinweis, sie würden diese „nicht mit[ma­ chen]“4280. Spezifische Gegebenheiten könne er „gar nicht wissen“4281. Er solle andere Angehörige des Zirkels „endlich in Ruhe“4282 lassen. Dass Autorität im Inneren der „Roten Armee Fraktion“ allenfalls in einem begrenzten Maße ausgelebt und eingefordert wurde, suggerieren überdies Angaben zu einer diskursiven Kultur der Gruppe. Tatsächlich trifft wohl zu,4283 was Irmgard Möller skizzierte: „Es gab viele Debat­ ten.“4284 Exemplarisch verwies Möller in diesem Zusammenhang auf die Abstimmung des Textes „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassen­ kampf“, der offensichtlich im Sinne eines mehrstufigen Begutachtens ver­ schiedene Stationen durchlief und dabei auf Widersprüchlichkeiten zu prüfen war.4285 Freilich wohnte der augenscheinlich in grundsätzlichen Fragen angestrengten gemeinsamen Willensbildung nicht eine Ungezwun­ genheit inne, die einen ergebnisoffenen Austausch zugelassen hätte. In

4275 4276 4277 4278 4279 4280 4281 4282 4283 4284 4285

Sturm 1972, S. 63. Möller/Tolmein 1999, S. 47. Neidhardt 1982a, S. 364. Vgl. ebd., S. 365. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd. Marianne Herzog, zit. n. Sturm 1972, S. 62. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 49. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 365-366. Möller/Tolmein 1999, S. 47. Vgl. ebd.

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dem Willen, nicht als „Feigling“4286 oder „als unsicherer Kantonist zu gelten oder vor sich selber [sic] vielleicht als Kneifer dazustehen“4287, kam eine bisweilen auftretende Gegenmeinung bewusst nicht zur Sprache. Gewisse Ansichten – vor allem die Überzeugung, „was [zu] machen“4288 gegen die bestehenden Verhältnisse – glichen Glaubensgrundsätzen; 4289 im Bezweifeln dieser Prinzipien lag das Sakrileg. Der von der „Roten Armee Fraktion“ verschiedentlich gerühmte „kollektive diskussionsprozess“4290 fand überdies dort ein Ende, wo das Umsetzen der de facto bedingt kon­ sensualen Beschlüsse anstand. Unumwunden räumte die RAF dies in ihrer Agitation ein: „der prozess der koordination der praxis der gruppen läuft dann, wenn die linie erarbeitet und begriffen ist, militärisch als befehl“4291. Die idealisierende Außendarstellung der Ersten Generation vermag ebenso wenig über die rauen, mitunter „scharf[en] und verletzend[en]“4292 Umgangsformen unter den Aktivisten hinwegzutäuschen. Die „Rote Ar­ mee Fraktion“ sah sich denselben Herausforderungen gegenüber, welche die „Tupamaros Westberlin“ durchlebten. Initiiert durch Fahndungs- und Leistungsdruck4293 baute sich laut Beate Sturm im Binnengefüge ein „Ag­ gressionsstau“4294 auf, den „man nicht nach außen ablassen [konnte], we­ gen der Illegalität“4295. So habe Baader geschrien, als Ulrike Meinhof in der Vergangenheit aufgetretene „Fehler der Einzelnen“4296 zu analysieren suchte. Bei solchen „handfesten Szenen“4297 flossen wüste Beschimpfun­ gen („Votzen“4298, „Arschloch“4299) in den Schlagabtausch ein. Körperliche Auseinandersetzungen blieben kein Tabu.4300 Um einen Dissens langfristig abschwächen zu können, schreckte der Zirkel nicht davor zurück, Aktivis­ ten einer der beiden widerstreitenden Lager aus dem „Hauptquartier“4301

4286 4287 4288 4289 4290 4291 4292 4293 4294 4295 4296 4297 4298 4299 4300 4301

Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 182. Ebd., S. 180. Ebd. Vgl. Schwibbe 2013, S. 81. Rote Armee Fraktion 1983, S. 209. Ebd., S. 24. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 49. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 350. Sturm 1972, S. 62. Ebd. Ebd. Hans-Jürgen Bäcker, zit. n. Neidhardt 1982a, S. Andreas Baader, zit. n. Sturm 1972, S. 62. Vgl. auch Aust 2020, S. 237. Andreas Baader, zit. n. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 48. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 366. Ebd., S. 328.

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Frankfurt am Main in eine andere Stadt „abzuschieben“.4302 Fehltritte zogen unangenehme Konsequenzen nach sich – entweder Rituale der „Selbstkritik“4303, in denen entlang von Unterstellungen „nachgefragt und nicht locker gelassen wird“4304, oder den Verlust des Status im Binnengefü­ ge.4305 Beispielhaft lässt sich hier abermals Beate Sturm zitieren: „[E]in Auto […] sprang [nicht an]. Da habe ich es geschoben, und es sprang immer noch nicht an. Da hatte ich die Nase voll, bin ins Bett gegangen und habe gepennt. Anscheinend hätte ich das noch dreimal anschieben sollen, ich weiß es nicht. Dann kam Ulrike und hat mich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Sie hat vier Stunden geredet und kam zum Schluss darauf, mir fehlte die politische Motivation – das achtzigmal wiederholt, man kam gar nicht zu Wort. Und als sie mich zu Wort kommen ließ, hat sie gesagt: Ja [sic] nun sag doch mal was, sag doch endlich was dazu, du musst mir doch sagen können – ist die politische Motivation da oder nicht? Ich sagte: kann ich nicht sagen, weiß ich nicht. Da hat sie gebohrt und gebohrt und wollte partout ja oder nein wissen.“4306 Bereits früh sah sich die Erste Generation mit Personen konfrontiert, welche ihre Strukturen freiwillig oder im Laufe einer strafrechtlichen Verfolgung nach erfolgter Festnahme verließen. Auch dies hatte sie auf der Ebene der Organisation mit den „Tupamaros Westberlin“ gemein. In ihrer späteren Propaganda konstatierte sie zwar, das Ermorden von Aus­ stiegswilligen sei „grundsätzlich möglich […], in der illegalität kämpfend ist das einfach so“4307. Zugleich bestritt sie aber vehement, bei „trennun­ gen […] von liquidation geredet“4308 zu haben. Erinnerungen ehemaliger Mitglieder legen indes ein anderes Bild nahe. Nachdem sich Hans-Jürgen Bäcker im Anschluss an die Verhaftung Horst Mahlers im Oktober 1970 von der „Roten Armee Fraktion“ löste, „schworen sie [die ‚Illegalen‘] of­ fenbar Rache. Erst redeten sie davon, ihn auffliegen zu lassen, dann gar davon, ihn ‚umzulegen‘.“4309 Letztes habe die RAF – angeblich – mehrfach

4302 4303 4304 4305 4306 4307 4308 4309

Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 246. Neidhardt 1982a, S. 370. Ebd. Vgl. ebd., S. 371. Sturm 1972, S. 63. Rote Armee Fraktion 1983, S. 217. Ebd., S. 216. Der Spiegel 1972a, S. 46.

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versucht.4310 Auffällig entsprachen diese Reaktionen jenen in einer voran­ gegangenen Episode, die durch Medienberichterstattung vergleichsweise große Bekanntheit erlangte. Peter Homanns Distanzierung von der „Ro­ ten Armee Fraktion“ während des Aufenthaltes 1970 in Jordanien sollen Baader und Mahler zum Anlass genommen haben, ihn vor einem hierzu einberufenen „Volksgericht“ zum Tode zu verurteilen. Angeblich sahen Baaders Überlegungen vor, Homann von allen in Jordanien anwesenden Mitgliedern erschießen zu lassen. Bekanntlich scheiterte dieses Vorhaben am Eingreifen der Palästinenser.4311 Was weder im Umgang mit Homann noch im Nachgang zu Bäckers Ausstieg gelang, habe der Zirkel später in einem anderen Fall erfolgreich umgesetzt. Dergleichen gab Gerhard Müller in den 1970er Jahren preis. Angeblich töteten Andreas Baader, Hol­ ger Meins und Jan-Carl Raspe die der sicherheitsbehördlichen Kooperati­ on verdächtige Aktivistin Ingeborg Barz. Bis in die jüngere Vergangenheit hinein hält sich diese Version um das Verschwinden von Barz4312 – dies, obwohl bislang keine stichhaltigen Beweise für ihre „Hinrichtung“ durch die RAF beigebracht werden konnten und zwischenzeitlich andere, eben­ falls plausible Erklärungen zu ihrem Verbleib auftraten.4313 Nicht zu wi­ derlegen ist daher Brigitte Mohnhaupts Darstellung 1976 vor Gericht: „die [Aussteiger der RAF aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre] leben natürlich alle noch. also das ist ganz cool gelaufen. sie haben sich getrennt“4314. Ungeachtet aller Indizien für die Bereitschaft zu einem gewalttätigen Umgang mit ausstiegswilligen Personen ist der „Roten Armee Fraktion“ der Versuch anzulasten, Abkehrer nachhaltig zu brandmarken. Hart gin­ gen sie intern mit diesen ins Gericht: Schnell stand der Vorwurf der „Feig­ heit“4315, des „Verrat[s] an einer nicht durchgehaltenen Konzeption“4316 im Raum. Ferner diskreditierte der Zirkel sie in öffentlichen Verlautbarun­ gen. Das Pamphlet „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassenkampf“ widmete sich in einem eigenen Kapitel „Über Verrat“ den Aussteigern Pe­ ter Homann, Beate Sturm und Karl-Heinz Ruhland. Zu diesen Personalien äußerte die Erste Generation:

4310 4311 4312 4313 4314 4315 4316

Vgl. Der Spiegel 2007, S. 78. Vgl. auch Neidhardt 1982a, S. 371. Vgl. Homann 1972, S. 96; Homann 1997, S. 54-56. Vgl. Der Spiegel 2007, S. 79. Vgl. Jander 2008, S. 149; Peters 2008, S. 299, 820; Aust 2020, S. 618-619. Rote Armee Fraktion 1983, S. 216. Vgl. auch Aust 2020, S. 334. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 184. Ebd.

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„Ruhland fühlt sich in seiner alten Rolle als krimineller Proletarier wohl, in Handschellen und ausgebeutet. Homann in der Rolle des lumpenproletarisch-verlorenen Sohnes, der wie eh und je auf dem Strich der Bourgeoisie […] seine Haut […] zu Markte trägt; die Sturm ist von einem Seitensprung heimgekehrt in den Schoss der Familie. Ruhland bleibt Opfer, Homann Konsument“4317. 8.1.2 Distanzierung von der lateinamerikanischen Praxis Die in organisatorischer Hinsicht bestehenden, erheblichen Gemeinsam­ keiten zwischen der in der Illegalität agierenden Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ und den „Tupamaros Westberlin“ – welche die ehemaligen „Haschrebellen“ mit dem Überbetonen der in der Gesamt­ schau marginal wirkenden Differenzen gezielt in den Hintergrund dräng­ ten – nahmen infolge der Gründung der „Bewegung 2. Juni“ nicht ab. Dies überrascht kaum, ist die B2J doch als Kern der TW unter neuem Namen zu sehen. Zentrales Paradigma der „Bewegung 2. Juni“ blieb zu­ nächst die Aufforderung, ein Konglomerat „aus (möglichst vielen) klei­ nen Kommandotrupps von 3 bis 9 Personen“4318 zu unterhalten, welche „weitgehend selbstständig bei der Planung und Durchführung von Ak­ tionen“4319 vorgehen, „autonom in der Beschaffung von Geld, Waffen, Sprengstoff, Wohnungen, Autos etc.“4320 sein und über einen klandestin tagenden „Delegiertenrat“4321 zu grundsätzlichen Angelegenheiten Einmü­ tigkeit herstellen sollten. In sichtbarer, sprachlicher Anlehnung an Car­ los Marighella – dessen „Minihandbuch des Stadtguerillero“ die B2J im Frühjahr 1972 nachweislich als Referenzrahmen heranzog4322 – fanden derartige Ideen Eingang in das „Programm der Bewegung 2. Juni“: „Die Bewegung versteht sich als Anfang einer Organisation verschiedener au­ tonomer Gruppen der Stadtguerilla“4323, die „bewaffneten, taktischen Ein­

4317 4318 4319 4320 4321 4322 4323

ID-Verlag 1997, S. 140. Claessens/de Ahna 1982, S. 156. Ebd. Ebd. Ebd., S. 172. Vgl. auch ebd., S. 155. Vgl. ebd., S. 148. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 10.

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8.1 Struktureller Aufbau

heiten“4324 respektive „politisch-militärischen Kommandos“4325 gleichkom­ men sollten. Und weiter: „Kein Kommando und keine Koordinationsstelle, kein Zentralkomi­ tee und keine Vollversammlung besitzt das Recht, die Autorität, die Initiative einer Gruppe zu verhindern, die darauf gerichtet ist, eine revolutionäre Aktion auszulösen.“4326 Augenscheinlich gründete dieses Schema nun indes nicht mehr allein auf der Vorstellung, ein strukturelles Erweitern des initialen Nukleus durch eine von den Kernmitgliedern forcierte Zellvermehrung sicherzustellen. Ihm wohnte gleichermaßen ein „Franchise“-Gedanke inne: Von der Kern­ gruppe losgelöste politische Zirkel sollten die Möglichkeit haben, initiativ das Banner der „Bewegung 2. Juni“ aufzugreifen und sich unverbindlich in diese einzureihen. Dies implizierte bereits die Selbstbezeichnung der B2J als „Bewegung“: Bewegungen kommen weniger durch zentralisierte, formale Expansion als durch das sukzessive, lockere Zusammenfinden un­ terschiedlicher Akteure unter einem übergreifenden Thema zustande.4327 Die in Gestalt des Buchprojektes „Der Blues – Gesammelte Texte der Be­ wegung 2. Juni“ einsehbare linksextremistische Geschichtsschreibung zur B2J stellte denn auch fest, ihr „gehören alle an, die sich ihr zugehörig füh­ len.“4328 Für diese Kolportage eines primär auf ideellen Grundlagen fußen­ den Geflechts spricht Norbert Kröchers Werdegang, der in der „Zahl-Kno­ fo-Kröcher-Bande“4329 aktiv war. Dieser Zirkel beteiligte sich an der Grün­ dung der B2J, ging anschließend aber nach Westdeutschland, um dort als „Rote Ruhrarmee“ vollkommen unabhängig von der Kerngruppe in Westberlin zu agieren.4330 Nach dem Zusammenbruch der „Roten Ruhr­ armee“ hob Kröcher in Schweden eine Zelle aus der Taufe, welcher er der „Bewegung 2. Juni“ aufgrund fehlender Kontakte ohne Rücksprache als „Auslandsfiliale“4331 zuschlug.4332 Vergleichbar unabhängig vom Kern in Westberlin trat Werner Sauber auf, der in der Bundesrepublik eine

4324 4325 4326 4327 4328 4329 4330 4331 4332

Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 10-11. Vgl. Rammstedt 1994, S. 97. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 627. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 40. Vgl. Meyer 2008, S. 194. Kröcher 1998. Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 255, 267, 270.

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„Betriebsguerilla“4333 initiierte. Dass er sich trotz der organisatorischen Distanz4334 der B2J zurechnete, untermauerte das wohl aus seiner Feder stammende, 1975 beschlagnahmte Traktat „Mit dem Rücken zur Wand?“: Die darin enthaltenen Ausführungen lesen sich als Lobgesang auf die strategische Ausrichtung der „Bewegung 2. Juni“.4335 Wie schon in den Jahren zuvor verlief das Umsetzen des „Konzept[s] einzelner abgeschotteter Zellen“4336 schleppend. Zurückzuführen ist dies vor allem auf zahlreiche personelle Abgänge infolge von Ausstiegen und Verhaftungen. Die Kerngruppe der B2J umfasste im Frühjahr 1972 zwei Zirkel – einen um Ralf Reinders, einen weiteren um Inge Viett. Letzter zerbrach nach Festnahmen im Mai 1972 bei Bad Neuenahr.4337 Erst im darauf folgenden Jahr entsprachen die Westberliner Strukturen annähernd wieder dem Ideal der zellulären Organisation: Gemeinsam mit der neu gewonnenen Aktivistin Gabriele Rollnik sollte der aus der Haft entflohene „Tupamaro“ Till Meyer eine zusätzliche „Feuereinheit“4338 aufbauen. Das Angliedern einer weiteren, auf den „Raum Frankfurt“4339 konzentrierten Kleinstgruppe über persönliche Verbindungen Till Meyers scheiterte. Die­ ser Zusammenschluss entschied sich für eine Einbindung in das Netzwerk der „Revolutionären Zellen“.4340 Ebenso kam es nicht zum Schulterschluss mit einem in Wolfsburg aktiven Personenkreis, dem Ilse Jandt angehörte. Die Mitglieder dieser Zelle verhaftete die Polizei Mitte 1974 im Nach­ gang zum Mord an Ulrich Schmücker.4341 Auch die Verflechtungen der „Bewegung 2. Juni“ mit der „Bewegung der Revolutionären Linken“ um Inga und Reiner Hochstein in Norddeutschland gipfelten nicht in einer anhaltenden operativen Kooperation. Diese Zelle zerbrach 1975 endgültig aufgrund von Exekutivmaßnahmen.4342 Eine „Delegiertenkonferenz“ mit Vertretern aller linksterroristischen Zirkel, welche sich unter den Schirm der „Bewegung 2. Juni“ zu stellen gedachten, blieb aus.4343

4333 4334 4335 4336 4337 4338 4339 4340 4341 4342 4343

Meyer 2008, S. 61. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 237, 524. Vgl. Viett 2007, S. 113; Meyer 2008, S. 302. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 227-247. Meyer 2008, S. 316. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 159-160; Viett 2007, S. 92; Danyluk 2019, S. 222. Meyer 2008, S. 302. Ebd., S. 284. Vgl. ebd., S. 296, 316. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 160; Wunschik 2006b, S. 549. Vgl. Bundesministerium des Innern 1976, S. 105; Meyer 2008, S. 329. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 155, 172.

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In ihrer selbst zugeschriebenen Rolle als „bewaffnete Untergrundorga­ nisation“4344 verschloss sich die „Bewegung 2. Juni“ unübersehbar der Au­ ßenwelt. Aus Furcht vor Abhörmaßnahmen verzichteten die „Aktiven“ darauf, konspirative Unterkünfte mit einem Telefon auszustatten. War die B2J auf telefonische Kommunikation angewiesen, führte sie die jeweilige Unterredung verschlüsselt.4345 Nachrichten tauschten sie daneben über tote Briefkästen aus: „In alten Häusern mit vielen Mietparteien und ent­ sprechend vielen Hausbriefkästen installierten wir kurzerhand einen zu­ sätzlichen Briefkasten.“4346 Persönliche Treffen mit Sympathisanten erfolg­ ten unter Verwendung von Falschpersonalien4347 „in anonymen Pizzerias in ganz Westberlin“4348 oder in speziell hierfür genutzten Wohnungen, nachdem „komplizierte Absetzbewegungen“4349 durchlaufen worden wa­ ren. Diese Zusammenkünfte nahmen – angeblich – nur jene „Illegalen“ wahr, welche die jeweiligen Unterstützer „selbst agitiert hatte[n]“4350. Of­ fensichtlich bestand im Umfeld der „Bewegung 2. Juni“ kein Mangel an „Genossen […], die am bewaffneten Kampf teilnehmen wollten“4351. Die anfänglich laxe, auf Bewährungsproben basierende4352 Rekrutierungspraxis – von Till Meyer als „oberflächlich und teils grob fahrlässig“4353 beschrie­ ben – verschärfte sich zusehends angesichts der Konsequenzen, die aus dem gegenüber Strafverfolgungsbehörden signalisierten Kooperationswil­ len ehemaliger Mitglieder, wie zum Beispiel Heinz Brockmann, Ulrich Schmücker und Harald Sommerfeld,4354 erwuchsen. „[S]ehr vorsichtig und genau“4355 beleuchtete die Gruppe mögliche Neuzugänge. Festgestellt werden sollte, „wer ein Hitzkopf, ein Schwätzer, ein Provokateur, ein Abenteurer war und wer sich wirklich ernsthaft entschieden hatte und die Tragweite seiner Entscheidung kannte.“4356 Zwingend als Ausschlussgrund wertete die „Bewegung 2. Juni“ den „Charakter eines potentielles Verrä­

4344 4345 4346 4347 4348 4349 4350 4351 4352 4353 4354 4355 4356

Viett 2007, S. 117. Vgl. Meyer 2008, S. 314, 331. Ebd., S. 329. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 150. Meyer 2008, S. 315. Viett 2007, S. 118. Meyer 2008, S. 304-305. Vgl. auch ebd., S. 329. Viett 2007, S. 115. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 148. Meyer 2008, S. 194-195. Vgl. Der Spiegel 1972d, S. 28; Der Spiegel 1973b, S. 74. Viett 2007, S. 117. Ebd., S. 115.

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ters: großspurig, labil, ohne Selbstdisziplin, selbstmitleidig.“4357 Beobach­ tete sie nach der Aufnahme eines Mitglieds dessen mangelhafte Eignung, kam es zur Trennung.4358 Um dem Betroffenen den Ausstieg zu erleich­ tern, habe die Gruppe „eine Zeitlang Rente gezahlt“4359. Erfordernisse eines internen, horizontalen Abschottens blieben demge­ genüber zweitrangig. So wählten die Mitglieder für ihre konspirativen Wohnungen Decknamen, um „ungewollte [sicherheitsbehördliche] Mit­ hörer“4360 in die Irre zu führen. Gleichzeitig verzichtete der Zirkel um Ralf Reinders nicht darauf, die „Einheit“ Till Meyers und Gabriele Roll­ niks „in die gesamte Logistik ein[zuweihen]“4361 und ihnen „die Schlüs­ sel und die Mietkontonummern von allen [klandestin genutzten] Objek­ ten“4362 zu überlassen. Sogar die Daten zu unterstützungswilligen Akteu­ ren, die man gewonnen hatte, tauschten sie untereinander aus.4363 Auch das Tarnen der Aktivisten mit einem Alias konnte streckenweise allenfalls Außenstehende täuschen, kannten sich die Angehörigen der Kerngruppe doch mehrheitlich aufgrund langjähriger Beziehungen unter ihren tatsäch­ lichen Identitäten.4364 Obgleich Ralf Reinders das umfassende Tatwissen beklagte, das Heinz Brockmann nach seiner Verhaftung im Mai 1973 ob des weitreichenden Überblicks zur „illegalen“ Logistik der B2J hatte präsentieren können, verabredeten sich die Angehörigen der einzelnen Zellen unverändert zu gemeinsamen Diskussionen oder Aktionen.4365 Mit­ hin wussten die aktiven, im Untergrund lebenden Angehörigen „alles über die Struktur der Gruppe“4366. Lediglich Einzelheiten – etwa der konkrete Verlauf einer Straftat – unterlagen der Verschwiegenheit.4367 Wohl aufgrund der personellen Schwäche implementierte die „Bewe­ gung 2. Juni“ nach ihrer Gründung ein arbeitsteilig gegliedertes Binnen­ gefüge. Die Angehörigen sollten sich jeweils mit einem Themengebiet vertraut machen.4368 Rasch kehrte sie jedoch zu dem unter den „Tupama­

4357 4358 4359 4360 4361 4362 4363 4364 4365 4366 4367 4368

Ebd., S. 116. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 17. Viett 2007, S. 118. Meyer 2008, S. 301. Ebd., S. 302. Ebd., S. 303-304. Vgl. ebd., S. 304. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 149; Meyer 2008, S. 304. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 157; Meyer 2008, S. 300-302, 317. Meyer 2008, S. 299. Vgl. ebd., S. 333, 337. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 148.

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ros Westberlin“ konsentierten Grundsatz zurück, ein Spezialisieren der Mitglieder in abgegrenzten Tätigkeitsfeldern zu vermeiden und „jeden zu jedem zu befähigen“4369. „Wir vergeben keine Aufträge, wir machen alles selber [sic]“4370, lautete die im Inneren ausgegebene Losung. Inge Viett zufolge achteten insbesondere die weiblichen Angehörigen „sehr darauf […], dass sich keine typische Rollenverteilung bei den Arbeits-, Aktionsund Lebensabläufen einschlich oder gar fixierte.“4371 Dementsprechend vermittelten arrivierte Mitglieder kürzlich aufgenommenen Aktivisten par­ tikulares Wissen, darunter Fertigkeiten zum Herstellen gefälschter Identi­ tätsnachweise.4372 Spätere Versuche, erneut an dem Paradigma des Genera­ listen zugunsten separierter Aufgabenerfüllung zu rütteln, beschrieb die Gruppe als „[e]litär und arrogant“4373. Unverändert korrespondierte dies mit der Absicht, den Zirkel nach erfolgreichen Ermittlungen der Polizei handlungsfähig zu halten.4374 Gleichermaßen beständig erwies sich das Vorhaben, hierarchische Gefäl­ le unter anderem durch „die praktische Erfahrung aller im Kampf“4375 zu vermeiden. Ganz im Sinne des organisationsskeptischen Anarchismus favorisierte die B2J eine Stellung der Mitglieder fernab „fester […] Befehls­ struktur[en]“4376. Die Beziehungen zwischen den „Illegalen“ sollten auf „Gleichberechtigung und Partnerschaftlichkeit“4377, einem „Zusammen­ hang ohne Anführer und Gefolgschaft“4378 basieren. Übereinstimmend hieß es daher in den Selbstzeugnissen ehemaliger Mitglieder: „Bei uns gab es keinen Häuptling.“4379 Als Beleg ziehen sie eine Unterredung zwischen Peter Lorenz und seinen Entführern heran. Auf Lorenz‘ Bitte, den Leiter der Gruppe sprechen zu dürfen, antworteten ihm die Aktivisten der B2J, ein solcher existiere nicht.4380 Offenbar beinhaltete der in der „Bewegung 2. Juni“ propagierte Egalitarismus ebenfalls das Prinzip, Beschlüsse anläss­ lich drängender taktischer und strategischer Aspekte zunächst zu diskutie­ 4369 Ebd., S. 156. 4370 Namentlich nicht bekanntes Mitglied der Bewegung 2. Juni, zit. n. Meyer 2008, S. 318. 4371 Viett 2007, S. 184. Vgl. Auch Groebel/Feger 1982, S. 430. 4372 Vgl. Meyer 2008, S. 303. 4373 Ebd., S. 318. 4374 Vgl. ebd., S. 303, 305. 4375 Viett 2007, S. 176. 4376 Klöpper 1987, S. 64. 4377 Claessens/de Ahna 1982, S. 156. 4378 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 628. 4379 Rollnik/Dubbe 2007, S. 23. Ähnlich Meyer 2008, S. 23. 4380 Vgl. ebd.; Meyer 2008, S. 23; Dietrich 2009, S. 96.

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ren und sodann einstimmig zu fällen.4381 So konnte Viett mit Blick auf die zweite Hälfte des Jahres 1973 von monatelangen, lähmenden Debatten um das künftige Vorgehen der B2J berichten, in denen sich die Mitglieder nicht einig geworden seien.4382 Vergleichbare Schilderungen prägen die Erinnerungen von Ronald Fritzsch, Till Meyer, Ralf Reinders und Inge Viett.4383 Seine Grenzen fand der Verzicht auf Über-/Unterordnungsverhältnisse in der der Illegalität unterworfenen Dynamik der Gruppe. Zwar konnte die Forschung zum deutschen Linksterrorismus der B2J „keine so eindeuti­ gen Führungspositionen und -cliquen“4384 nachweisen, wie sie innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ bestanden. Dass sich „zentrale Positionen“4385 in den Reihen der „Bewegung 2. Juni“ ausmachen ließen, steht aber au­ ßer Frage.4386 Diese quantitativ begründete Beobachtung deckt sich mit den Rückblicken einstiger Aktivisten der Gruppe. Till Meyer räumte ein, die B2J habe auf einer dreigliedrigen Hierarchie gefußt: „ganz oben die Illegalen, […] dann die legalen Aktivisten […] und dann die Sympathi­ santen“4387. Die Ebene der „Aktiven“ wiederum umfasste Mitglieder mit unterschiedlichem Status. Ralf Reinders und Inge Viett befanden sich in einer herausgehobenen Position, konnten sie doch erheblichen Einfluss in der Entscheidungsfindung zur Aufnahme neuer Mitglieder ausüben.4388 Reinders beschrieb die Literatur als eine Leitfigur der „Bewegung 2. Ju­ ni“.4389 Den Vergleich zu Georg von Rauch scheute sie nicht.4390 Glaub­ würdig erscheint Meyers Aussage, derzufolge „Sachzwänge“4391 sowie „Ab­ schottung und Sicherheit“4392 die implizite Über-/Unterordnung zwischen dem Untergrund und seinem Umfeld bedingten. Reinders verdankte die ihm obliegende Stellung wohl nicht zuvorderst einem Führungsanspruch, sondern persönlichen Eigenschaften, welche in der mit Fahndungsdruck belasteten Realität der „Stadtguerilla“ als unerlässlich galten und daher –

4381 4382 4383 4384 4385 4386 4387 4388 4389 4390 4391 4392

Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 148. Vgl. Viett 2007, S. 113. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 75; Viett 2007, S. 126; Meyer 2008, S. 307. Groebel/Feger 1982, S. 430. Ebd. Vgl. ebd., S. 418-419. Meyer 2008, S. 298. Vgl. ebd., S. 299-302, 329. Vgl. Wunschik 2006b, S. 557. Vgl. Korndörfer 2008, S. 244. Meyer 2008, S. 299. Ebd.

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ebenso wie bei Georg von Rauch – Ehrfurcht und Anerkennung erzielten. So jedenfalls war es den Angaben seiner Weggefährten zu entnehmen. Viett schätzte an Reinders die Ähnlichkeit zu ihrer eigenen Person.4393 Geradezu romantisierend konstatierte Meyer: „Atze [Deckname Ralf Reinders‘] imponierte mir mächtig. Er strahlte Ruhe und Sicherheit aus, zeigte keinerlei Ermüdung oder Paranoia, obwohl nun schon seit vier Jahren nach ihm gefahndet wurde. Der alte Routinier des Untergrunds war immer gelassen und äußerst um­ sichtig. Er hatte alle Verhaftungen und Abspaltungen überlebt […]. Von Atze wollte und konnte ich alles lernen, was mir noch zum sicheren Bewegen in der Illegalität fehlte. Ich mochte den stillen Mann mit den sanften braunen Augen und dem trockenen Humor, der ihn selbst in brenzligen Situationen nicht verließ.“4394 Wenngleich Gabriele Rollnik Ralf Reinders in der Illegalität nicht „mehr politische Ahnung“4395 zubilligte, betrachtete sie ihn als Vorbild. Schließ­ lich habe er im Untergrund langjährig Erfahrungen sammeln und Verhaf­ tungen entgehen können. „[D]azu gehört eine bestimmte Fähigkeit, die guckt man sich dann ab und ist […] bereit zu sagen, wenn es um das und das geht, da guck ich auf Ralf, da weiß er am meisten“4396. Rollnik stellte überdies auf Reinders‘ Charakter ab: „Er war sehr ruhig und überlegt und, wie soll ich sagen: listig und auch ein Stück schlitzohrig. Er blieb in jeder Situation gelassen, be­ hielt immer den Überblick und hatte so einen ganz trockenen Berliner Humor.“4397 Neben der propagandistisch als „völlige Gleichwertigkeit“4398 vermarkte­ ten Beziehung zwischen den Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ sah sich auch die in Selbstzeugnissen libertär anmutende Interaktion im Inneren des Zirkels Einschränkungen unterworfen. Der Gruppe waren nur solche Verhaltensweisen genehm, welche sich in das Ideal der von „Disziplin und Konspiration“4399 getriebenen „Stadtguerilla“ als Ausgangspunkt einer freien Gesellschaftsordnung jenseits „bürgerlicher“ Zwänge einfügten. Wi­ 4393 4394 4395 4396 4397 4398 4399

Vgl. Viett 2007, S. 115. Meyer 2008, S. 299. Rollnik/Dubbe 2007, S. 24. Ebd., S. 23-24. Ebd., S. 49. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 628. Viett 2007, S. 116.

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chen Aktivisten von diesem hochgesteckten Ziel ab, traten Muster auf, die gleichermaßen das Innenleben der „Roten Armee Fraktion“ bestimmten: „Rituale von Kritik und Selbstkritik“4400. Bei Handlungen, die gemäß dem Moralkodex der Gruppe einer Verfehlung gleichkamen, sei „immer sehr viel gebohrt worden.“4401 Unverständnis erregte Heinz Brockmann, als er beabsichtigte, die „Bewegung 2. Juni“ für kurze Zeit zu verlassen, um in Westdeutschland aus privaten Gründen Bekannte aufzusuchen. „Für einen Revolutionär gibt es nicht so etwas Bürgerliches wie Urlaub“4402, entgeg­ nete ihm der Zirkel. Später sei Brockmanns „laxe Gruppentätigkeit“4403 der B2J ein Dorn im Auge gewesen. Laut Till Meyer ereilte Gabriele Rollnik der Vorwurf, sie fröne „bürgerliche[m] Fotzenkram“4404, da „sie sich modisch und peppig“4405 kleidete und folglich dem „Szene‑Schmud­ dellook“4406 verschloss – eine Episode, die Rollnik in ihrem Selbstzeugnis nicht zu bestätigen vermochte.4407 Unmut erzeugten darüber hinaus ein freigiebiger Zugriff auf die finanziellen Mittel der „Bewegung 2. Juni“4408 sowie „Nachlässigkeiten, Vergesslichkeiten und mangelndes Geschick“4409. In Misskredit geriet Till Meyer, weil „er mal aus Versehen einen Pass aus dem Autofenster“4410 warf, „seine Waffe in der U-Bahn“4411 vergaß und unpünktlich zu Verabredungen erschien.4412 Rollnik, die Meyer zu verteidigen suchte, stand ebenfalls im Fokus der Kritik. Inge Viett hätte Meyer „am liebsten rausgeworfen.“4413 Unter Rechtfertigungsdruck stan­ den zudem die Aktivisten, die für die gescheiterte Entführung Günter von Drenkmanns verantwortlich zeichneten. Im Plenum entspann sich eine „stundenlange, kontrovers geführte Diskussion“4414, in der die Ausführen­

4400 Wunschik 2006b, S. 557. Vgl. auch Reinders/Fritzsch 2003, S. 70. 4401 Rollnik/Dubbe 2007, S. 48-49. 4402 Namentlich nicht bekanntes Mitglied der Bewegung 2. Juni, zit. n. Der Spie­ gel 1973b, S. 90. 4403 Heinz Brockmann, zit. n. ebd., S. 92. 4404 Meyer 2008, S. 318. 4405 Ebd. 4406 Ebd. 4407 Rollnik/Dubbe 2007, S. 48. 4408 Vgl. Meyer 2008, S. 341. 4409 Wunschik 2006b, S. 557. Vgl. auch Reinders/Fritzsch 2003, S. 70. 4410 Rollnik/Dubbe 2007, S. 48. 4411 Ebd. 4412 Vgl. Meyer 2008, S. 342. 4413 Rollnik/Dubbe 2007, S. 49. 4414 Meyer 2008, S. 334.

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den die Frage zu beantworten hatten, „warum es […] nicht gelungen ist, einen alten Mann aus der Wohnung zu schleppen“4415. Einen eklatanten Widerspruch zu der von der „Bewegung 2. Juni“ rekla­ mierten Achtung des Individuums bildeten zudem die Reaktionen, welche die Zusammenarbeit einzelner Mitglieder mit Sicherheitsbehörden oder öffentliche Berichte ehemaliger Mitstreiter zum Innenleben der „Stadt­ guerilla“ auslösten. Pauschal kennzeichnete die Gruppe entsprechendes Verhalten als Verrat oder Denunziation. Ein derartiges Brandmarken er­ fuhr im Besonderen Michael Baumann, exponierte er sich doch in den 1970er Jahren mehr als andere Aussteiger der B2J durch Interviews mit diversen deutschen Zeitungen und das Abfassen einer Autobiographie.4416 Baumann selbst beteuerte: „Ich habe die Öffentlichkeit gegen mich, die Polizei und meine Genossen.“4417 Im Nachrichtenmagazin „Stern“ verwies er auf „das Gerücht […], dass sie [die ‚Aktiven‘ der B2J] mich umlegen lassen wollen.“4418 Der Umgang mit seiner Personalie gipfelte schließlich 1978 in der öffentlichen Stellungnahme in Haft sitzender „Illegaler“ der „Bewegung 2. Juni“, die Baumann die Funktion einer „Propagandanutte der Herrschenden“4419 unterstellte. Deutlich bezeichnender als der Fall Michael Baumanns gestalteten sich die Entwicklungen um den Tod Ulrich Schmückers. Mit seiner Ermordung kam es erstmals in den Reihen der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ zu einer tödlichen Vergeltungstat von Linken an einem Linken,4420 die unweigerlich Erinnerungen an die „Feme‑Mörder der Reichswehr in den zwanziger Jahren“4421 auslöste. Auch wenn bislang nicht geklärt werden konnte, welchen Beitrag die „Illegalen“ der B2J tatsächlich zur Tötung Ulrich Schmückers leisteten, ist ihre Akzeptanz einer Gewalt evident, welche in drastischem Maße das Bestrafen eines „Abtrünnigen“ sicherstellen sollte. Intern wie extern schoben sie anderslautende Stimmen als Folge einer „zu lasch[en]“4422, „pazifistisch[en]“4423 Gangart bei Seite. Hiermit näherte sich die „Bewe­ gung 2. Juni“ deutlich der „Roten Armee Fraktion“ an, die bereits in ihrer

4415 4416 4417 4418 4419 4420 4421 4422 4423

Ebd., S. 334. Vgl. Viett 2007, S. 116. Baumann/Neuhauser 1978, S. 20. Ebd. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 123. Vgl. Rabert 1995, S. 188. Meyer 2008, S. 312. Ebd., S. 311. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 271.

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Frühphase fatale Gewalt gegen eigene Mitglieder als mögliche Antwort auf defizitäre Treue ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Ungeachtet der überschaubaren Erfolge in der Verwirklichung eines de­ zentralisierten Ansatzes, bei dem „[j]ede Feuereinheit […] autark sein“4424 musste, unternahm die „Bewegung 2. Juni“ wohl Ende 1973/Anfang 1974 den Versuch, ihre organisatorischen Überlegungen weiterzuentwickeln. Eine Abkehr von den lateinamerikanischen Paradigmen lehnte sie ab: Isoliert blieb der kommunistischen Paradigmen verpflichtete Aktivist Till Meyer, der in den internen Diskussionen „den ‚demokratischen Zentralis­ mus‘ favorisierte“4425. Strukturell stärker in das bisherige Schema eines zellulären Aufbaus eingebunden werden sollten nunmehr die in der Lega­ lität agierenden Mitglieder der „Stadtguerilla“ sowie das unterstützende Umfeld. Im Ergebnis gelangte der Zirkel zu dem „‚Konzept der Kreise‘: ein innerer Kreis der Illegalen, die in direkter Beziehung zum zweiten Kreis, nämlich den aktivsten, aber legalen Genossen standen. Um die herum sollte sich der Kreis der Unterstüt­ zer formieren, mit denen wir uns zwar selbst trafen, die aber nicht zu militanten Aktivitäten herangezogen wurden oder nicht wollten. Schließlich ein weiterer Kreis von Informanten und Sympathisanten, die hauptsächlich vom zweiten Kreis betreut wurden und die für uns gleichzeitig propagandistisch aktiv werden sollten. Von einer be­ stimmten Größenordnung an sollte es Zellspaltungen geben. Geplant war, dass sich mit unserer Unterstützung immer neue, kleine Gruppen gründeten, die unter dem Namen ‚Bewegung 2. Juni‘, aber autark ihre Aktionen durchführten.“4426 Auch das Anpassen des auf Georg von Rauch zurückgehenden Gedankens eines aus Zellen bestehenden Geflechts zog in der Praxis keine weitrei­ chenden Erfolge nach sich. Eine Expansion durch Zellvermehrung trat nicht ein.4427 Viel spricht dafür, dass die „Bewegung 2. Juni“ ab Mitte 1974 das Gegenteil dessen erreichte, was sie in der Theorie anzustreben bereit war. Bereits früh fand sich in der Aufarbeitung zum deutschen Linksterrorismus die Schlussfolgerung, die B2J ließ in der Zeit nach der Ermordung Schmückers von der Gliederung in „Mini-Gruppen“4428 ab.

4424 4425 4426 4427 4428

Meyer 2008, S. 303. Ebd., S. 306. Ebd. Vgl. ebd., S. 342. Kahl 1986, S. 91.

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Stattdessen sei eine „zentrale Gruppe“4429 gebildet worden. Betrachtet man die Autobiographien ehemaliger Mitglieder in der Gesamtschau, ist dieser Bewertung zuzustimmen. Indes lässt sich die Distanzierung nicht als be­ wusster Prozess begreifen, dem eine dezidierte Entscheidung der Mitglie­ der vorausging. Vielmehr rückte die Maxime, „Aktionen der ‚Bewegung 2. Juni‘ auf mehrere, im Wesentlichen selbstständig handelnde Gruppen aufzuteilen“4430, schleichend in den Hintergrund. Ausgelöst wurde dies durch den einhelligen Entschluss der Westberliner Kerngruppe der B2J, „politische Gefangene“ im Zuge einer einzelnen, minutiös vorbereiteten Entführung freizupressen. Die „Feuereinheiten“4431 um Ralf Reinders und Inge Viett sowie Till Meyer und Gabriele Rollnik richteten sämtliche Ener­ gien auf diese Aktion,4432 was naturgemäß einen permanenten Austausch sowie kontinuierliche Koordination erforderte. In der Folge lösten sich die ohnehin fließenden Grenzen zwischen beiden Gruppen auf.4433 Von einer organisatorischen Autonomie mehrerer Kleingruppen konnte spätestens ab Herbst 1974 keine Rede mehr sein. Sogar der Wunsch, eine aus arbeits­ teiligem Vorgehen erwachsende Spezialisierung zu vermeiden, verlor de facto an Bedeutung. So räumte Rollnik mit Blick auf die Lorenz-Entfüh­ rung ein: „Es war eine kollektive Aktion. Und wer was gemacht hat, hing immer davon ab, was die einzelnen für Fähigkeiten hatten und was sie gut konnten.“4434 Wie schon die „Tupamaros Westberlin“ standen die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ wiederholt mit der „Roten Armee Fraktion“ im Kon­ takt. Will heißen: Der B2J war es jederzeit möglich, eine Beziehung zur RAF aufzubauen – und umgekehrt. Förderlich war hierbei die phasenwei­ se gemeinsam durchlaufene Radikalisierung, die für einzelne Angehöri­ ge beider Gruppen im Vorfeld ihres Einstiegs in den Linksterrorismus nachweisbar ist. So beteiligte sich Andreas Vogel ebenso wie Mitglieder mehrerer Nachfolgergruppen der Ersten Generation der RAF – darunter Susanne Albrecht, Karl‑Heinz Dellwo und Stefan Wisniewski – an der Hamburger Hausbesetzerszene.4435 Gelegenheiten zur Kontaktaufnahme

4429 4430 4431 4432 4433

Ebd. Ebd., S. 100. Meyer 2008, S. 341. Vgl. Viett 2007, S. 149. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 62-66, 69-72; Rollnik/Dubbe 2007, S. 32-33, 37; Viett 2007, S. 124-128; Meyer 2008, S. 318-319, 323-328, 337-349. Vgl. auch Dietrich 2009, S. 87-88. 4434 Rollnik/Dubbe 2007, S. 34. 4435 Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 73.

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bot der Aufenthalt von Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ im Justizvollzug.4436 Verbindungen dürften ferner über das Netzwerk an Rechtsanwälten zustande gekommen sein, welches die RAF unterstützte und in Teilen ein Rekrutierungsreservoir für den linksterroristischen Untergrund bildete.4437 Keine Änderung im Wege des nachweisbaren Austauschs beider Zirkel erfuhr der Eindruck, den die TW zum Binnengefüge der RAF gewonnen hatten. Aufrecht erhielt die „Be­ wegung 2. Juni“ das Bild eines auf „gleichem Denken“4438 und „gleicher Wertung von Erfahrungen“4439 fußenden „zentralistischen Organisations­ prinzip[s]“4440 – einer „rigiden militärischen Organisationsstruktur“4441, dem sie „autonome, dezentrale Strukturen“4442 entgegensetzte. Im Inneren sollen Ralf Reinders und Inge Viett auf Basis ihrer persönlichen Berüh­ rungspunkte zur „Roten Armee Fraktion“ die Vorstellung genährt haben, bei der RAF handle es sich um eine „Stadtguerilla“ mit allzu hierarchi­ siertem Aufbau.4443 Viett hätten insbesondere die Formen der Interakti­ on zwischen den Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ abgestoßen. Sie erinnerte sich an „Kritiken, die wie Züchtigungen […] wirk[t]en, und Selbstkritiken“4444, welche nach ihrem Verständnis „verzweifelte[n] Unterverwerfungen“4445 glichen. Viett sah im Binnenverhältnis der RAF eine „Gnadenlosigkeit“4446, die einen „lieblos[en] und zersetzend[en]“4447 Umgang fördere. Gleichermaßen stabil erwies sich die von den „Tupama­ ros Westberlin“ aufgestellte Annahme, Teil einer proletarischen Alterna­ tive zur RAF zu sein. Mit Stolz gingen die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ davon aus, zu den „Underdogs, […] ewige[n] Verlierern und Pro­ leten“4448 der westdeutschen Gesellschaft zu zählen. Bestätigt sahen sie die

4436 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66; Rollnik/Dubbe 2007, S. 40; Viett 2007, S. 98-99. 4437 Vgl. Speitel 1980a, S. 38, 46-49; Meyer 2008, S. 58. 4438 Viett 2007, S. 99. 4439 Ebd. 4440 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 810a. 4441 Klöpper 1987, S. 63. 4442 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 810a. 4443 Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 24; Viett 2007, S. 98-99. 4444 Viett 2007, S. 98. 4445 Ebd. 4446 Ebd. 4447 Ebd. 4448 Meyer 2008, S. 32.

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8.1 Struktureller Aufbau

„Vorstellungen, dass es wirklich die Arbeiterklasse ist, die die Revolution macht“4449. Was sich im Vergleich zwischen der im Untergrund wirkenden Ersten Generation der RAF und den „Tupamaros Westberlin“ nicht oder nur eingeschränkt bestätigt, trifft in der Gegenüberstellung der ab Mitte 1972 bestehenden Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ und der 1973 wie­ dererstarkenden „Bewegung 2. Juni“ gänzlich zu. Anders als die RAF, deren Zweite Generation ebenso wie ihre Vorgänger zahlreiche Personen mit akademischem Vorlauf4450 (zum Beispiel Susanne Albrecht, Eberhard Becker, Siegfried Haag, Sieglinde Hofmann, Christian Klar, Hanna Krab­ be, Silke Maier-Witt, Brigitte Mohnhaupt, Helmut Pohl, Margrit Schil­ ler oder Günter Sonnenberg)4451 und vergleichsweise wenige Mitglieder mit schwach ausgeprägtem Bildungshintergrund (Peter-Jürgen Boock, Ste­ fan Wisniewski)4452 integrierte, umfasste die B2J im Zeitraum von 1973 bis zum Abschluss der Lorenz‑Entführung im Frühjahr 1975 nahezu aus­ schließlich Aktivisten, deren Bildungsweg vor einer studentischen Lauf­ bahn geendet hatte.4453 „Keiner von uns, bis auf Ella [Gabriele Rollnik], war über die Volksschule hinausgekommen“4454, konstatierte Meyer. An­ gesichts eines begonnenen Studiums der Sozialwissenschaften, welches sie zugunsten einer Stelle als „Montiererin am Band“4455 beim Unternehmen „AEG-Telefunken“ abbrach, konnte Rollnik auf eine deutlich höhere for­ male Bildung zurückblicken als ihre Weggefährten Till Meyer und Inge Viett.4456 Auch von dem schulischen und beruflichen Werdegang der üb­ rigen Aktivisten unterschied sich ihr akademisches Profil erheblich: Ralf Reinders gelang der Abschluss einer Lehre zum Drucker. Gerald Klöpper hatte seinen Lebensunterhalt als Rohrschweißer, Andreas Vogel als Hafen­ arbeiter bestritten.4457 Ronald Fritzsch war als „Kraftfahrer bei der Reichs­ bahn“4458 angestellt worden. Ohne Weiteres auf die „Bewegung 2. Juni“ übertragbar ist die zu den „Tupamaros Westberlin“ erarbeitete Schluss­

4449 4450 4451 4452 4453 4454 4455 4456 4457

Rollnik/Dubbe 2007, S. 45. Vgl. Wunschik 1997, S. 236. Vgl. ebd., S. 202, 216; Peters 2008, S. 246, 358, 362, 374, 382, 386. Vgl. Peters 2008, S. 127, 483. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 45. Meyer 2008, S. 32. Rollnik/Dubbe 2007, S. 12. Vgl. ebd., S. 8-9. Vgl. Klöpper 1987, S. 66; Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 13; Wunschik 2006b, S. 533-534. 4458 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 12.

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folgerung, derzufolge das Rekrutieren weiterer Aktivisten nicht entlang der sozialen Herkunft und Stellung, sondern in erster Linie nach Gele­ genheit erfolgte. Bat sich die Aufnahme einer ausgewählten Person an, achtete die Gruppe auf die bereits erwähnten spezifischen persönlichen Fähigkeiten und eine Übereinstimmung in politischen und strategischen Fragen.4459 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf den Beitritt Andreas Vogels verwiesen: Nachdem die „Bewegung der Revolutionären Linken“ um Inga und Reiner Hochstein 1974 unter Fahndungsdruck geraten war, suchten sie Schutz bei den Mitstreitern der Westberliner Kerngruppe der B2J.4460 Dem Ehepaar Hochstein verwehrte die „Bewegung 2. Juni“ den Beitritt, Andreas Vogel hingegen nicht.4461 Reiner Hochstein attestierte sie einen Hang zum Verrat.4462 Vogel begeisterte durch seine Haltung: Er habe „überlegt und konsequent zur Idee eines bewaffneten Kampfes [ge]stand[en]“4463. Angenommen worden sei, dass er „die Gruppe […] politisch und ideologisch bereichern konnte.“4464 Während die „Bewegung 2. Juni“ das durch geringfügige Über-/Unter­ ordnungsverhältnisse geformte Binnengefüge der TW übernahm und bei­ behielt, setzte in der RAF ein Prozess ein, welcher die Hierarchien aus der bis Mitte 1972 reichenden Aufbauphase verschärfte. Innerhalb der bundes­ republikanischen „Stadtguerilla“ erreichte sie schließlich den „stärksten Grad an Zentralisierung“4465 und folglich das „Höchstmaß an Organisati­ on“4466. Einher ging diese Entwicklung mit einer faktischen Abkehr von essentiellen Grundsätzen zellulärer Strukturierung. Erste Indizien für eine solche Zäsur zeigten sich bereits 1972. Die aus dem Umfeld stammende Kritik an dem Anschlag auf das „Springer“‑Haus in Hamburg nahm die Erste Generation zum Anlass, die in der Vorbereitung und Durchführung bestehende Autarkie ihrer „Kommandos“ Einschränkungen zu unterwer­ fen. „Wir haben entschieden, dass wir auf gar keinen Fall mehr unabge­ stimmte Aktionen machen. Damit sollte verhindert werden, dass eine Ein­ heit […] etwas Gravierendes übersieht“4467, so Irmgard Möller. Nach der Schwächung der Gründergeneration der „Roten Armee Fraktion“ durch

4459 4460 4461 4462 4463 4464 4465 4466 4467

Vgl. Meyer 2008, S. 299. Vgl. Danyluk 2019, S. 252-253. Vgl. Meyer 2008, S. 329. Vgl. Viett 2007, S. 116. Meyer 2008, S. 330. Ebd. Neidhardt 1982b, S. 463. Ebd. Möller/Tolmein 1999, S. 66.

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8.1 Struktureller Aufbau

erste Verhaftungen im Frühsommer 1972 sprach sich Gudrun Ensslin aus der Haft heraus für ein Aufweichen der internen Abschottung aus. Um das Überleben der Gruppe zu sichern, „muss [jeder] sich von allen alles Wissen (Kontakt etc.) aneignen.“4468 Diese Empfehlung glich in ihren Konsequen­ zen dem Votum Baaders und Ensslins, die von lateinamerikanischen Stadt­ guerilleros geforderte personelle Trennung innerhalb der RAF insofern anzupassen, als „alle RAF-Angehörigen vollen Zugang zur RAF-Führung haben“4469 sollten. Beide hatten beabsichtigt, den „Lernprozess“4470 der Gruppe zu erleichtern. Während der ersten Jahre nach ihrer Verhaftung bewahrten die Grün­ dungsmitglieder der „Roten Armee Fraktion“ auf theoretischer Ebene das Modell eines in Zellen aufgeteilten linksterroristischen Akteurs. Überkom­ men erschien ihnen weiterhin die „organisatorische konzeption […] [der] avantgardepartei“4471. Expressis verbis war das Festhalten an der zellulären Struktur einem Kassiber zu entnehmen, welcher im Februar 1974 in meh­ reren verdeckten Unterkünften der RAF sichergestellt werden konnte. In dem vermutlich von Andreas Baader verfassten Zellenzirkular forderten die „politischen Gefangenen“ die in der Illegalität agierenden Aktivisten auf, sich „einfach mal […] die Bestimmung des ‚Wesens der Guerilla‘ poli­ tisch und militärisch bei Mao, Che und den Tupamaros“4472 vor Augen zu führen. Im Weiteren offenbarten die Gründer das vor und nach der Zer­ schlagung der Ersten Generation Mitte 1972 favorisierte Netz aus „einfach strukturierte[n] Gruppen (aus denen sich die Kommandos bilden)“4473: „8-10 Typen in möglichst jeder größeren Stadt“4474. „Dazu ne [sic] Scene von Freunden, die logistische [sic] Check [,] Verbindungen [,] Propaganda [,] Jobs übernimmt.“4475 Sofern der Zirkel „stark genug“4476 ist, könne eine Zellteilung vollzogen werden. Neben „eine[r] reine[n] nd [nachrich­ tendienstlichen] organisation, die keine[n] anderen Funktionen“4477 ver­ pflichtet ist, entstehe langfristig „ein überregionales HQ [sic] dass [sic]

4468 4469 4470 4471 4472 4473 4474 4475 4476 4477

Gudrun Ensslin, zit. n. Peters 2008, S. 211. Gerhard Müller, zit. n. Kraushaar 2017, S. 269. Gerhard Müller, zit. n. ebd., S. 270. Bakker Schut 1987, S. 141. Bundesministerium des Innern 1975, S. 70. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 71.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

sich nach dem Delegationsprinzip besetzt“4478. Ihm obliege lediglich eine „koordinierende Funktion“4479. Die Zentrale „baut das Nachrichtensystem auf, hat die Auslandskontakte. Soll sowas [sic] wie einen Stab vorbereiten, der die Programmatik [,] die Analysen [,] die politisch militärische Linie [,] Strategie/Taktik bestimmt [,] die Propaganda bringt, die Schulung konzipiert usf“4480. Adressiert war das Zellenzirkular an die ersten Nachfolger der Gründerge­ neration der „Roten Armee Fraktion“. Da der „Gruppe 4.2.“ laut Margrit Schiller das „Wissen über die Organisierung illegaler Arbeit“4481 fehlte, hatte sie den Rat „Andreas Baader[s] und andere[r] Gefangene[r]“4482 gesucht. Daraufhin begannen die Häftlinge, dem Untergrund „sehr ge­ naue Anweisungen“4483 zuzuschicken. Um den Zustand eines „unorgani­ sierte[n] Haufen[s]“4484 verlassen zu können, konzentrierte sich der Zirkel auf eine an die Erste Generation erinnernde regionale Verteilung der eigenen Strukturen. Während eine Gruppe um Helmut Pohl und Ilse Sta­ chowiak in Hamburg den Aufbau eines linksterroristischen Untergrunds in Angriff nahm, ließ sich eine zweite Zelle in Frankfurt am Main nieder. Ganz im Sinne der Maßgabe, welche Ensslin im Frühsommer 1972 zur uneingeschränkten Weitergabe von Informationen ausgegeben hatte, ver­ zichtete die „Gruppe 4.2.“ auf eine interne Abschottung. Die Angehörigen des Hamburger Zirkels besuchten regelmäßig ihre Mitstreiter in Hessen. Umgekehrt reisten die Frankfurter „Illegalen“ nach Norddeutschland. Wer Schillers Biographie folgt, wird die Funktion der Zusammentreffen im ge­ genseitigen Unterrichten zu und gemeinsamen Bewerten von logistischen und organisatorischen Fortschritten sehen.4485 Wenngleich nicht nur die „politischen Gefangenen“, sondern auch ehe­ malige Unterstützer der Ersten Generation der „Gruppe 4.2.“ wertvolles Wissen aus den Anfängen der „Roten Armee Fraktion“ zugänglich mach­ ten,4486 blieb ihre Handlungsfähigkeit begrenzt. Hierin zu sehen ist der Ausgangspunkt für das rigorose Über-/Unterordnungsverhältnis, das sich

4478 4479 4480 4481 4482 4483 4484 4485 4486

Ebd., S. 70. Ebd. Ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 125. Ebd., S. 128. Neidhardt 1982a, S. 332. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 125. Vgl. ebd., S. 125-127. Vgl. ebd., S. 127.

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8.1 Struktureller Aufbau

in der Interaktion zwischen den in Haft sitzenden Angehörigen der RAF und den „Aktiven“ manifestieren sollte. Denn die anhaltende Schwäche der „Gruppe 4.2.“ löste in den Reihen der „politischen Gefangenen“ als­ bald Unmut aus. Allen voran Andreas Baader habe die „Illegalen“ mit „heftige[r] Kritik“4487 konfrontiert. Schließlich, so Margrit Schiller, sah sich Baader gezwungen, „seinen Anwalt Eberhard Becker […] vollgepackt […] mit […] Orientierungslinien“4488 untertauchen zu lassen. Er sollte die „Situation und […] Möglichkeiten [der Gruppe 4.2.] entscheidend verbessern“4489. Mit diesem Entschluss – der Auswahl und Entsendung ei­ nes als vertrauenswürdig ausgewiesenen Interessensvertreters aus Gründen der Kurskorrektur – konterkarierte Baader die Essenz lateinamerikanischer Vorstellungen zur „Stadtguerilla“, welche die führenden Figuren der Ers­ ten Generation durch die Überlegungen zur koordinativen Stellung eines „überregionale[n] HQ“4490 sowie die anfänglich beratende Unterstützung der „Gruppe 4.2.“ durch „Ortsbeschreibungen, Skizzen, Sprengstoffrezepte etc.“4491 anerkannt hatten. Nunmehr akzeptierte er eine auf Supervision ausgelegte Rolle, welche die weitreichende Autonomie zellulärer Organi­ sationsformen zugunsten eines direktiven Einwirkens auf die operativen Handlungen im Untergrund zurückdrängte. Die in Haft sitzenden Akti­ visten lösten die „Illegalen“ in ihrer Position als organisatorischer Mittel­ punkt der „Roten Armee Fraktion“ ab. Angesichts der kurz nach Beckers Beitritt eingeleiteten sicherheitsbe­ hördlichen Zerschlagung der „Gruppe 4.2.“ erwies sich die Installation ei­ nes „Statthalters“ nicht als nachhaltiger Erfolg. Dennoch klammerten sich die „politischen Gefangenen“ an den folgenschweren Schritt hin zu einer zentralistischen Binnenstruktur. Während sie öffentlich wohl aus Schutz vor Strafverfolgung ein Einwirken der Inhaftierten auf die „Aktiven“ als „vollkommene scheiße“4492 zurückwiesen, suchten und erlangten sie in den Jahren nach der Auflösung der „Gruppe 4.2.“ unbeirrt die Kontrolle über die auf taktischer Ebene liegenden Aktivitäten derjenigen Zirkel, die „RAF werden wollte[n].“4493 „Solange die Brandstifter [Andreas Baader und Gudrun Ensslin] lebten, war es eh klar, wer die Führung war“4494, 4487 4488 4489 4490 4491 4492 4493 4494

Ebd., S. 129. Ebd. Ebd. Bundesministerium des Innern 1975, S. 70. Neidhardt 1982a, S. 332. Rote Armee Fraktion 1983, S. 238. Speitel 1980b, S. 30. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 38.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

konstatierte zutreffend Peter‑Jürgen Boock mit Blick auf den Zeitraum Mitte der 1970er Jahre. Verdanken konnten sie dies unter anderem der Strahlkraft, die sie als Gründer und Ideengeber der „Roten Armee Frakti­ on“ umgab. Geschickt zu nutzen wussten sie das ihnen zufallende Privi­ leg, etwaigen Versuchen zur Fortführung des von der RAF propagierten „Konzepts Stadtguerilla“ das Prädikat der politischen Legitimität – den „‚Ehrennamen‘ ‚RAF‘“4495 – verleihen zu können. Nur sie befanden sich in der Lage, Nachfolgegruppen glaubwürdig in den Status des rechtmäßi­ gen Erbwahrers zu hieven, welcher den Ursprungsgedanken der „Roten Armee Fraktion“ unverfälscht am Leben hält. Auf eine solche grundsätzli­ che Anerkennung blickte die Zweite Generation, deren Mitglieder sich fest entschlossen zeigten, in die Fußstapfen ihrer Vorgänger zu treten und nach den Überlegungen der Initiatoren der RAF zu handeln.4496 Die legitimatorische Abhängigkeit bot den Inhaftierten den Schlüssel zu einer lenkenden Intervention. Indem die Erste Generation den „Aktiven“ in Aussicht stellte, die Achtung der Leistungen im Untergrund zu verweh­ ren oder gar zu entziehen, übte sie Druck auf die „illegalen“ Strukturen aus. Wie Volker Speitels Rückblick zu entnehmen ist, prägte diese Form des Führens bereits das Verhältnis zu den Stockholmer Botschaftsbesetzern – der zweiten Nachfolgergruppe der Ersten Generation. Der Zirkel habe „immer einen gemeinsamen Bericht an die Gefangenen [adressiert], der dann […] in den Knast transportiert wurde und von dort mit fürchterlichen Kommentaren beantwortet […] zurückkam. Die Gefan­ genen wollten praktische Ergebnisse sehen, die wir nicht hatten. […] [I]n der Kritik der Gefangenen an uns [kam] mehr als deutlich zum Ausdruck […], dass wir nicht RAF seien, solange nicht `ne erfolgrei­ che Aktion gelaufen wäre […]. […] Wir versuchten nun mit aller Kraft, etwas auf die Beine zu stellen, eine Struktur aufzubauen, Woh­ nungen anzumieten, neue Mitglieder zu rekrutieren und gleichzeitig schon so `ne Art Abcheckliste für mögliche Befreiungsaktionen zu machen.“4497 Auch die dritte Nachfolgegruppe – die „Haag/Mayer-Bande“ – suchten die „politischen Gefangenen“ über das Zu- und Aberkennen politischer Legitimität an sich zu binden. Die engmaschige Supervision erschien ih­ nen notwendiger denn je, hatten sie doch laut Speitel „Angst […], dass

4495 Wunschik 1997, S. 247. Vgl. auch Aust 2020, S. 519. 4496 Vgl. Wunschik 2006a, S. 474. 4497 Speitel 1980a, S. 44.

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8.1 Struktureller Aufbau

die [‚Illegalen‘] eventuell noch mal so einen Scheiß wie die Stockholmer Aktion planen“4498. Nicht verwundern konnte daher die empfindliche Re­ aktion, welche die sporadische Rechenschaft der sich um Siegfried Haag formierende Zelle hervorrief.4499 In dem zurückhaltenden Unterrichten durch die „Aktiven“ sahen die „politischen Gefangenen“ den feindseli­ gen Versuch eines „Putschist[en]“4500, die „Kontrolle über die Illegalen aus[zu]schalten“4501. Um Einfluss auf Haags Gruppe nehmen zu können, „drohten [sie] […] Haag […] an, dass sie sich von ihnen [den ‚Illegalen‘] öffentlich distanzieren würden, sofern sie nicht bis zu einem bestimm­ ten Zeitpunkt einen Tätigkeitsbericht über ihre illegalen Aktivitäten schi­ cken.“4502 Außerdem sollen sie betont haben, „nicht weiter bereit [zu sein], unter dem Gefangenenstatus zu leben.“4503 Sofern die „Aktiven“ nicht einen operativen Durchbruch erzielten, „würden sie [die Häftlinge] ihr politisches Schicksal selbst in die Hand nehmen.“4504 Peter‑Jürgen Boock zufolge begriffen die „Illegalen“ dies als Ankündigung einer „Selbstmord­ aktion“4505. Offensichtlich führte die errichtete Drohkulisse – ähnlich wie im Falle der Stockholmer Botschaftsbesetzer – zum Erfolg. Haags Zirkel konnte sich „dem Einfluss Baaders […] [nicht] entziehen“4506. „[V]irulent blieb“4507 die Kontrolle der „Stammheimer Häftlinge der Baader‑Mein­ hof‑Gruppe“4508. Nicht nur setzte Haags Gruppe die Aufforderung der „politischen Gefangenen“ um, das Anwaltsbüro Klaus Croissants mit Gel­ dern zu versorgen.4509 Überdies folgte Haag der aus den Haftanstalten stammenden Weisung, durch das Zusammenbringen mehrerer Aktivisten den Wiederaufbau eines linksterroristischen Untergrunds zu ermöglichen. Hierbei zeigte sich einmal mehr, welches Gewicht dem Wort der Häftlinge der RAF beigemessen wurde: Bereitwillig akzeptierten die „Aktiven“ Haag als tonangebende Figur im Untergrund, da er „von den Gefangenen beauf­ tragt worden war“4510. 4498 4499 4500 4501 4502 4503 4504 4505 4506 4507 4508 4509 4510

Speitel 1980b, S. 31. Vgl. ebd., S. 31-32. Ebd., S. 32. Ebd. Ebd. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 247. Peter-Jürgen Boock, zit. n. ebd. Peter-Jürgen Boock, zit. n. ebd. Vgl. auch Wunschik 2006a, S. 474. Neidhardt 1982a, S. 332. Ebd. Ebd. Vgl. Speitel 1980b, S. 33. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39.

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Das Verhaften Haags nahmen die Inhaftierten zum Anlass, die bislang vor allem auf eine legitimatorische Abhängigkeit gestützte Führung durch eine Maßnahme zu verschärfen, welche sie in vergleichbarer Form erstmals für die „Gruppe 4.2.“ vorgesehen hatten. Mit Brigitte Mohnhaupt wählten sie aus den Reihen der „politischen Gefangenen“ eine Mitstreiterin aus, die persönlich den Untergrund an den Vorstellungen der Gründer ausrichten sollte.4511 Zu dieser Aufgabe befähigten die Häftlinge Mohnhaupt durch verschiedene Vorkehrungen. Angeblich erhielt sie „exakte Weisungen für den Wiederaufbau ‚draußen‘“4512. Darüber hinaus bauten die in Haft sit­ zenden Mitglieder Mohnhaupt in dem Schriftverkehr mit den „Aktiven“ regelrecht zu einer Autorität auf: Über Monate hinweg hätten ihr die „Briefe der Gefangenen“4513 das Recht zugeschrieben, nach der Entlassung aus der Haft uneingeschränkte Entscheidungsgewalt über die außerhalb der Haftanstalten existierenden Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ auszuüben. Dies schloss – angeblich – die Befugnis ein, Abläufe „neu [zu] organisieren“4514 und „notfalls einen radikalen Bruch [...] mit den Illegalen herbeizuführen“4515. Als Mohnhaupt ihre Haftstrafe abgesessen hatte, trat die gewünschte Situation ein: In Gestalt ihrer Person waren die „politischen Gefangenen“ fortan physisch in der Illegalität präsent. Leiten konnten sie die „Aktiven“ nun nicht mehr nur aus der Distanz durch das Erzeugen psychischen Drucks, sondern auch unmittelbar durch direkte Eingriffe einer mit der nötigen Prokura versehenen Gesandten. Die Bezie­ hung zwischen den „politischen Gefangenen“ und den „Aktiven“ sei „viel fester als jemals zuvor zusammengeknüpft“4516 worden. Speitel zufolge brüstete sich Mohnhaupt mit einer „Säuberungsaktion“4517, die Erinnerun­ gen an die in orthodox‑kommunistischen Parteien gängigen Prozesse zur – vermeintlichen – Wiederherstellung ideologischer Linientreue wecken mussten. Die „Aktiven“ nahmen ihre einschneidenden Entscheidungen an, „weil sie frisch aus Stammheim kam und Order von den Gefangenen hatte […]. […] [D]a gab es keine Diskussionen.“4518 Gelungen sei ihr so,

4511 4512 4513 4514 4515 4516 4517 4518

Vgl. Neidhardt 1982a, S. 332. Speitel 1980b, S. 33. Ebd. Ebd. Volker Speitel, zit. n. Wunschik 1997, S. 248. Speitel 1980b, S. 33. Brigitte Mohnhaupt, zit. n. ebd., S. 34. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39. Vgl. auch Wunschik 1997, S. 183, 248.

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8.1 Struktureller Aufbau

„die alte Ordnung – Führungsfunktion Stammheim“4519 zu restaurieren – einen Erfolg, den die Inhaftierten bereits wenig später zu ihrem Vor­ teil einsetzten: Sie verschickten „Informationsmaterial, das die Illegalen als Nachhilfeunterricht lesen mussten.“4520 Mithilfe dieses Schulungspro­ gramms sollten sie „auf das Niveau der Konterrevolution [Generalbundes­ anwalt und Bundeskriminalamt] kommen“4521. Im Zuge der Neugestaltung des Untergrundes hielt sich Mohnhaupt offensichtlich sehr genau die Pflichten in Erinnerung, welche dem Status „einer persönlichen Vertrauten der Stammheimer Inhaftierten“4522 inhä­ rent waren: Zu den eigenen Tätigkeiten soll sie den Gründern regelmä­ ßig Bericht erstattet haben.4523 Die in sie gesetzten Erwartungen sahen die „politischen Gefangenen“ spätestens mit den ersten Anschlägen des Jahres 1977 als erfüllt an. Wie Speitel hierzu berechtigt feststellte, spielte das Erstarken der „Illegalen“ unter Mohnhaupt den auf Zentralisierung bedachten Inhaftierten in die Karten: „Nach dem Buback-Mord sahen die Gefangenen, dass die Illegalen endlich ‚funktionierten‘ und dass ‚draußen‘ was lief. Folglich bestand die Chance, dass sie endlich rauskommen könnten. Die erfolgreiche Entwicklung der legalen und illegalen Struktur sahen sie (mit Recht) als ihr Werk an, und das bestätigte somit, dass es eben nur dann ‚läuft‘, wenn sie sich in alles hereinmischen und organisatorisch bestimmen, was gemacht wird.“4524 Ebenso einem Über-/Unterordnungsverhältnis unterwarfen die „politi­ schen Gefangenen“ die legalen Unterstützer der „Roten Armee Fraktion“, die sich im Büro des Rechtsanwalts Klaus Croissant sammelten. Entlar­ vend waren in diesem Zusammenhang die Erinnerungen Volker Speitels und Christof Wackernagels – beide Weggefährten Croissants – an die „starke Führung […] der Stammheimer“4525, die ihre Paradigmen biswei­ len schriftlich in der „Cheffarbe Grün“4526 kommunizierten. Die Kanzlei sei in „ein im bürgerlichen Sinn bestehendes Lehrverhältnis“4527 zu den

4519 4520 4521 4522 4523 4524 4525 4526 4527

Speitel 1980b, S. 34. Ebd. Ebd. Wunschik 1997, S. 248. Vgl. Speitel 1980b, S. 34. Ebd., S. 37. Speitel 1980a, S. 39. Wackernagel 2017, S. 267. Speitel 1980a, S. 39.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

„politischen Gefangenen“ geraten, die „ein großes Maß an Disziplin und Verbindlichkeit“4528 verlangt hätten: „Sie gaben Anregungen und Vorschläge selbst für die kleinsten Büro­ abläufe wie Fotokopieren und Telefondienst. Sie konzipierten eine politische Schulung für uns. Sie forderten, als sie gecheckt hatten, dass wir theoretisch überhaupt nicht bewandert waren, dass wir einige von ihnen ausgewählte grundlegende Bücher zu lesen hätten. Über das, was wir gelesen hatten, mussten wir später Berichte, Interpretationen schreiben. Sie entwickelten ein Organisationsmodell über ein Presseund Nachschlagearchiv, das wir dann aufbauten“4529. Zwar erfüllten die legalen Unterstützer eine wichtige organisatorische Funktion als Bindeglied zwischen den Inhaftierten und dem Unter­ grund.4530 Sie waren aber weder gegenüber den „Illegalen“ weisungsbefugt noch verpflichtet, Entscheidungen der „Aktiven“ zu befolgen. Gemeinsam mit den in der Illegalität befindlichen Aktivisten rangierten sie gleichbe­ rechtigt auf einer Hierarchiestufe unterhalb der „politischen Gefangenen“. Ein hierarchisches Gefälle unter den nachgeordneten Gruppen duldeten die in Haft sitzenden Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ nicht. Deut­ lich wurde dies, als die „Illegalen“ um Haag versuchten, der Kanzlei Crois­ sants den Beitrag zum Voranschreiten des „bewaffneten Kampfes“ der RAF abzusprechen. Zwangsläufig hätte ein solches Betragen die Dominanz der „Illegalen“ außerhalb der Justizvollzugsanstalten nach sich gezogen, wären die Häftlinge nicht zugunsten der legalen Unterstützer eingeschritten.4531 Dass sich beide Strukturen gleichermaßen nur den „politischen Gefan­ genen“ gegenüber zu verantworten hatten, unterstrich das Restrukturie­ ren Brigitte Mohnhaupts. Ebenso wie die „Aktiven“ mussten die Legalen Entschlüsse hinnehmen, die ihrer Eigenständigkeit enge Grenzen setzten. Nach Maßgabe der im Gefängnis erhaltenen Instruktionen veränderte Brigitte Mohnhaupt im Anschluss an ihre Freilassung die Arbeitsteilung in der „legale[n] Residenz“4532, dem Büro Klaus Croissants. Den dort Be­ schäftigten habe sie feste Funktionen zugewiesen: Bald hätten sich in der Kanzlei „legale Öffentlichkeitstypen […] und reine Bürotätige“4533 sowie

4528 4529 4530 4531 4532 4533

Ebd. Ebd. Vgl. Diewald-Kerkmann 2009, S. 229-230. Vgl. Speitel 1980b, S. 32. Ebd., S. 34. Ebd.

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„Postanwälte“4534 gefunden, welche den Austausch zwischen den Struktu­ ren innerhalb und außerhalb der Haftanstalten aufrechterhalten sollten. In der Zeit nach Mohnhaupts Eingriffen spitzte sich die strukturelle Ab­ hängigkeit der legalen Unterstützer von den „politischen Gefangenen“ spürbar zu, so Speitel. Zusehends seien die Mitglieder der Gruppe um Croissant zu „reine[n] Befehlsempfänger[n]“4535 geworden. Die täglichen Aktivitäten der Rechtsanwälte wären „nur noch auf die Bedürfnisse der Gefangenen zugeschnitten“4536 gewesen. Die „mühsam diskutiert[en] und beschlossen[en]“4537 Ergebnisse der legalen Unterstützer mussten laut Spei­ tel „abends, nachdem die Anwälte vom Gefangenenbesuch kamen, wieder neu diskutiert werden.“4538 Die zuvor verfassten Texte „sahen […] aus wie vom Oberlehrer korrigiert. Auf Entwürfen für Pressemitteilungen konnte dann mit Rotstift ‚Schwachsinn‘ draufstehen“4539. Das aus der Leitungsfunktion der „politischen Gefangenen“ hervorge­ hende Abweichen von lateinamerikanischen Vorstellungen zur „Stadtgue­ rilla“ setzte sich zwangsläufig im Untergrund fort. Die Zweite Generation der „Roten Armee Fraktion“ bestand aus mehreren, zeitlich versetzt auftre­ tenden Zirkeln, deren Aktivisten sich jeweils um den Gedanken einer „Gefangenenbefreiung“ gruppierten. Mit der operativen Konzentration auf eine einzelne Aktion oder Kampagne zugunsten der Häftlinge ging – ähnlich wie in der „Bewegung 2. Juni“ – das Paradigma einer zellulären Organisation verloren. Keine der Nachfolgegruppen der Ersten Generation forcierte im Zeitraum von 1974 bis zum „Deutschen Herbst“ 1977 ernst­ haft eine Untergliederung der „illegalen“ Struktur in mehrere, voneinan­ der abgeschottete Partitionen mit autonomer taktischer Agenda.4540 Viel­ mehr bestanden sie darauf, die verfügbaren „Aktiven“ in einer einzigen schlagkräftigen Gruppe zu platzieren, welche sämtliche Energien auf ein vorbestimmtes Ziel zu richten hatte. Nach dem Abtauchen Mohnhaupts erfolgte dies in einer Arbeitsteilung der Mitglieder, wie sie die Theorie zur „Stadtguerilla“ eigens abgelehnt hatte.4541 Personell verstärkt wurde der jeweilige Zirkel durch eine Rekrutierungsstrategie, die zunächst bisheri­ gen Mustern der Zuverlässigkeitsprüfung folgte: Die „Illegalen“ vollzogen 4534 4535 4536 4537 4538 4539 4540 4541

Ebd. Ebd., S. 37. Speitel 1980c, S. 31. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Speitel 1980a, S. 41-46; Wunschik 1997, S. 253-258. Vgl. Kahl 1986, S. 116.

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nach, „was […] der, den man rekrutieren will, politisch schon gemacht [hat], […] [ob] er persönliche Probleme [hat] usw.“4542 Später weichte die Zweite Generation der RAF diese Vorsichtsmaßnahmen auf.4543 Geradezu sinnbildlich für den bewussten Verzicht auf ein organisatorisches Unter­ teilen in mehrere Zellen war die „Haag/Mayer-Bande“, sei sie doch der „Initiative [entsprungen], die [existierenden gewaltbereiten] Grüppchen […] zusammenzubringen und zusammenzufassen und zu einer neuen Gruppe zu schmieden“4544. Der Neigung zum Bündeln aller personellen Ressourcen in einem singulären Zirkel leistete die Entscheidung der in Haft sitzenden Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ Vorschub, das Wohl des Untergrunds an den Einsatz eines „Statthalters“ zu knüpfen. Denn diesem Mittel war eine hierarchisierende Sogwirkung inhärent: Die „Illegalen“ suchten einen möglichst engen Kontakt zum „Statthalter“, da dieser die Gruppenidentität qua des ihm verliehenen Sonderstatus in der reinsten Form verkörperte und somit das weitere Vorgehen – vermeintlich – erfolgversprechend zu erkennen vermochte. Der „Statthalter“ wiederum band die übrigen Aktivisten selbst auf räumlicher Ebene an sich, um dem Auftrag der Führung durch Kontrolle gerecht zu werden. Ebenso wenig wie das organisatorische Verhältnis zwischen den „politi­ schen Gefangenen“ und dem Untergrund prägten das jeweilige interne Miteinander gegenseitiges Verständnis und Rücksichtnahme. Dies trifft sowohl auf die Häftlinge als auch auf die „Illegalen“ zu. Wie sehr das Binnengefüge der Inhaftierten dem Ideal „einer offenen und solidarischen Gruppenstruktur“4545 entgegenstand und somit die vor allem von Inge Viett überlieferte ablehnende Haltung der „Bewegung 2. Juni“ gegenüber den inneren Strukturen der in Haft befindlichen RAF als nachvollziehbar zu sehen ist, lassen die Auszüge aus dem und Beschreibungen zum „Info“ – dem Kommunikationssystem der „Roten Armee Fraktion“ Mitte der 1970er Jahre – erahnen. Nach außen von den „politischen Gefangenen“ verbrämt als Mittel, das „keine peitsche [war], mit der die leute eingetrie­ ben worden sind, sondern ne [sic] waffe für jeden von uns“4546, ritualisier­ te „das info“ Prozesse von Kritik und Selbstkritik, welche nach Vorstellung der Häftlinge den eigenen Kampfgeist stärken4547 und die „revolution in

4542 4543 4544 4545 4546 4547

Speitel 1980a, S. 41. Vgl. Wunschik 1997, S. 205. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 26. Schwibbe 2013, S. 128. Rote Armee Fraktion 1983, S. 229-230. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 111.

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einem selbst“4548 herbeiführen sollten: „in einem selbst die herrschende klasse stürzen in der eroberung der proletarisch-revolutionären macht ganz und gar“4549. Unter dieser Prämisse geriet die „ständige Selbstdurch­ leuchtung“4550 zu einem „Gruppenterror“4551. Schwächen und defizitäre ideologische Konformität – alles, was nicht der „restlosen vernichtung“4552 der Bindungen an das bürgerliche Leben vor dem „bewaffneten Kampf“ und dem Sieg über „die schweine, ihre ideologie“4553 zuträglich schien – gipfelte schnell in einer mitunter aggressiven Reaktion fernab jeglichen Erbarmens.4554 Kommentare, wie zum Beispiel „das ist scheiße, was du da redest. dein gedankengang ist imaginär“4555, reihten sich ein in persön­ liche Erniedrigungen: „du bist auch ne [sic] sau“4556, „du blöder idiot“4557, „die zwei tanten [Magrit] schiller und [Marianne] herzog“4558. Zentral war dabei immer wieder der Vorwurf der „Feigheit vor dem Feind“4559. Um nicht „das Schwein [zu sein], das spaltet und einkreist“4560, erkannten die Beschuldigten Vorhalte bisweilen in Akten „völliger Selbstverleugnung und Selbstzerfleischung“4561 an. An den Charakter des „Infos“ erinnerte sich Volker Speitel: „Mit diesen ‚info‘-Paketen sollte und wurde […] die Gruppenstruktur während der Gefangenschaft erhalten. Jeder konnte in den Berichten der anderen die geistige Verfassung, die Probleme oder den Tagesab­ lauf des anderen im Knast erkennen und dementsprechend kritisieren oder anregen. Diese ‚Infos‘ sind außerordentlich hart geschrieben wor­ den, die Kritik ging bis zur Selbstaufgabe, und jeder falsche politische Ansatz wurde schon als Verrat und der Autor als Schwein bezeich­ net.“4562

4548 4549 4550 4551 4552 4553 4554 4555 4556 4557 4558 4559 4560 4561 4562

Ebd., S. 83. Ebd. Süllwold 1981, S. 109. Jäger/Böllinger 1981, S. 160. Bakker Schut 1987, S. 83. Ebd., S. 254. Vgl. Süllwold 1981, S. 110; Schwibbe 2013, S. 127. Rote Armee Fraktion 1983, S. 16. Ebd., S. 20. Bakker Schut 1987, S. 183. Bundesministerium des Innern 1975, S. 165. Jäger/Böllinger 1981, S. 160. Rote Armee Fraktion 1983, S. 14. Jäger/Böllinger 1981, S. 160. Speitel 1980a, S. 39.

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Weitaus plastischer als Speitel beschrieb Margrit Schiller die Grundzüge der Kommunikation unter den „politischen Gefangenen“ sowie deren Aus­ wirkungen auf die eigene Konstitution: „Wenn ich [im Gefängnis] Post bekam, […] durchsuchte [ich] die Briefe mit zitternden Fingern nach Kritik an mir. […] Steckte irgend­ wo ein Halbsatz, ein Ansatz von Kritik an mir, klopfte mein Herz heftig, und viele Stunden konnte ich nichts anderes lesen oder denken als immer wieder an diesen Satzfetzen. Meine Reaktion war zwar über­ steigert, aber im Info selbst ging es […] hart zu. Kritik wurde häufig zum Knüppel und Selbstkritik zur Selbstgeißelung. Die Sprache war oft unerträglich, die Beziehungen nicht solidarisch, sondern Ausdruck der Brutalität der Verhältnisse, in denen wir uns befanden. […] Die Kategorien, die wir für uns selbst benutzten, mit denen wir uns gegen­ seitig schlugen und uns selbst geißelten, zeigten […] [eine] Inquisiti­ onsmethode: Verrat, Kollaboration, Bulle, Sau – Wörter, mit denen wir Gedanken und Gefühle von uns selbst bezeichneten […]. Verrat statt Fehler zu sagen, stellte die ganze Person in Frage, verurteilte ihre Absichten und Anstrengungen insgesamt. […] Wir wollten alles geben für den Kampf, aber wir legten uns auch gegenseitig den Finger in die Wunde bis zur höchsten Qual. Wir wollten uns ganz ‚zur Funktion machen für diesen Kampf‘ und fühlten uns so im Recht und in der Pflicht, uns gegenseitig in allen Lebensäußerungen zu kontrollieren und zu bewerten.“4563 Bestimmend im Austausch der Häftlinge blieb die Führungsriege der Ers­ ten Generation – mit Ausnahme Horst Mahlers, der sich – wie erwähnt – in der Haft von der RAF gelöst hatte. Wie schon in der Illegalität stach Baader besonders hervor, gefolgt von Gudrun Ensslin.4564 Offenbar gelang es Andreas Baader, seine eigene Person durch das Aneignen eines „enor­ me[n] Wissen[s] zu den verschiedensten Themen“4565 und eine stetige „Su­ che nach praktischen Initiativen“4566 dem „moralische[n] Wüten“4567 unter den Inhaftierten zu entziehen. Baader wurde „unangreifbar“4568. Gleichzei­ tig erlangte sein Wort beachtliches Gewicht: „[N]iemand kritisierte ihn, 4563 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 146-147. 4564 Vgl. Neidhardt 1982a, S. 330; Gottschling 2004, S. 193-194, 200; Jesse 2017, S. 195. 4565 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 147. 4566 Ebd. 4567 Jäger/Böllinger 1981, S. 161. 4568 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 147.

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und er konnte mit dieser Geste ‚Na – du musst das mal begreifen‘ oder seinen schnellen Beurteilungen Menschen […] mundtot machen.“4569 Si­ cher sein konnte sich Baader des Respekts und der Bewunderung ande­ rer in Haft sitzender Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“. So räumte beispielsweise Gudrun Ensslin 1976 in einem Kassiber ein, „‚freiheit ist nur im kampf um befreiung möglich..‘ und mir jedenfalls ist vor a. [An­ dreas Baader] niemand begegnet, der das wirklich wollen konnte.“4570 Mitunter sprachen Inhaftierte aus den Reihen der RAF sogar von einer „wahnsinnige[n] angst vor a[ndreas]“4571. Aufbauend auf seinem Sonder­ status konnte er in der Gruppe der „politischen Gefangenen“ Verhaltens­ maßgaben ausgeben, Rechenschaftsberichte fordern und andere Häftlinge bei – vermeintlichen – Fehleistungen durch den Ausschluss aus dem „In­ fo“ sanktionieren.4572 Welchen Beitrag Baader zum Zusammenhalt der Inhaftierten zu leisten im Stande war, zeigte zudem die ihm eingeräumte Möglichkeit, während etwaiger Hungerstreiks „die Gewichtsverluste der verstreut Einsitzenden zu verfolgen und auf diese Weise zu kontrollieren, ob sich alle […] mit konsequenter Nahrungsverweigerung an die Streikan­ ordnung hielten“4573. Angesichts seines Einflusses in der Binnenstruktur der Inhaftierten vermag eine Skurrilität in der Außendarstellung der „Ro­ ten Armee Fraktion“ nicht zu verwundern: Im Gegensatz zu den anderen Akteuren des bundesrepublikanischen Linksterrorismus neigte die RAF in ihrer Propaganda zum Verherrlichen eines einzelnen Mitglieds, welches graduelle Ähnlichkeiten zu kommunistischem Personenkult offenbarte. Entlang persönlicher Eigenschaften stilisierten die „politischen Gefange­ nen“ Baader öffentlichkeitswirksam zu dem „guerilla, von dem che [Er­ nesto Guevara] sagt, dass er die gruppe ist“4574. Er habe „den weitesten blick, die grösste sensibilität und die meiste kraft zur koordination des kollektiven prozesses“4575. Ihn zeichneten „initiative, interaktion und im­ mer, in jedem moment, die durchsetzung des primats der praxis“4576 aus. Baader verkörpere „die einheit von analyse, kollektivität und aktion“4577

4569 Ebd. 4570 Bakker Schut 1987, S. 294. 4571 Namentlich nicht bekanntes Mitglied der Roten Armee Fraktion, zit. n. Neid­ hardt 1982a, S. 365. 4572 Vgl. ebd., S. 332-333, 365, 371. 4573 Ebd., S. 330. 4574 Rote Armee Fraktion 1983, S. 25. 4575 Ebd., S. 24. 4576 Ebd., S. 47. 4577 Ebd., S. 49.

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und die „proletarisierung der kämpfer im kampf“4578. Er sei derjenige, der „in den prozessen von kritik und selbstkritik das am meisten bekämpft: konkurrenz, machtansprüche, unehrlichkeit, die unselbstständigkeit und die unterwürfigkeit, die aus ihr folgt.“4579 Wie sehr die Interaktion zwischen den „Illegalen“ jener der „politischen Gefangenen“ entsprach, lässt sich den Aussagen ehemaliger Mitglieder der Zweiten Generation entnehmen. Peter-Jürgen Boock zufolge praktizier­ ten die „Aktiven“ Formen des Miteinanders, welche Ähnlichkeiten zum „demokratischen Zentralismus“4580 aufwiesen. Weder sei es zu ernstzuneh­ menden Diskussionen noch zu Abstimmungen unter den Gruppenange­ hörigen gekommen.4581 Laut Boock war dies vor allem den Erfordernissen des „bewaffneten Kampfes“ geschuldet: Durchführbar gewesen sei er nur auf Basis „einer militärischen Gegenstruktur […]. Und die kann nur auto­ ritär sein, weil du nicht über alles in einer Situation diskutieren kannst, wo dir jeden Moment der Arsch weggeschossen werden kann.“4582 Mit dieser „militärischen Gegenstruktur“ einher ging ein „denkbar schmale[r] Korri­ dor des Denkens und Fühlens“4583, gepaart mit „gegenseitiger Kontrolle und Kritik“4584. Hinzu gekommen sei unter dem „Druck der ständigen Verfolgung“4585 eine „zum Zerreißen gespannte Emotionalität, die […] in Streitereien, Cliquenbildung und gegenseitigen Sticheleien“4586 kulmi­ nierten. Der Zirkel verlangte von seinen Aktivisten, „integrative Fähigkei­ ten“4587 unter Beweis zu stellen, ergo den ideologischen und operativen Erwartungen durch entsprechende Äußerungen und Handlungen Rech­ nung zu tragen. So adressierten andere „Illegale“ an Susanne Albrecht den „Appell, dass mit mir menschlich und moralisch nichts anzufangen wäre, wenn ich nicht dazu beitrüge, dass die Gefangenen überlebten.“4588 Alteri­ tät – gleich welcher Art – galt in der Illegalität als Ausweis eines mangel­ haften Kampfeswillens. 4589 Ausgehend von diesem Maßstab erwuchs unter

4578 4579 4580 4581 4582 4583 4584 4585 4586 4587 4588 4589

Ebd., S. 310. Ebd. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39. Vgl. ebd. Ebd. Verstappen 2007, S. 93. Kahl 1986, S. 116. Speitel 1980c, S. 35. Ebd. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39. Susanne Albrecht, zit. n. Wunschik 1997, S. 214. Vgl. ebd., S. 356.

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den „Illegalen“ eine Hierarchie: Diejenigen, die aufgrund ausreichender „integrative[r] Fähigkeiten“4590 den Status des „Kader[s]“4591 innehatten, rangierten über allen anderen Mitgliedern. Diese Über-/Unterordnung zementierte die für die Gruppe um Brigitte Mohnhaupt belegte interne Konspiration: Indem einzelne „Aktive“ von ausgewählten Gesprächen und Vorgängen ausgeschlossen wurden, blieb das innerhalb des Zirkels vorhan­ dene Wissen ungleich verteilt.4592 Anders als es der im jeweiligen Binnengefüge der „politischen Gefange­ nen“ und der „Illegalen“ feststellbare Rigorismus erwarten ließ, reagierte die „Rote Armee Fraktion“ Mitte der 1970er Jahre differenziert auf Mit­ glieder, welche aus ihren Strukturen auszubrechen versuchten. Zu einer gewaltsamen Lösung, wie im Umfeld der „Bewegung 2. Juni“ im Falle Ulrich Schmückers gutgeheißen, kam es dabei nicht – dies, obwohl die Häftlinge in ihren Anweisungen für den Untergrund ein solches Vorgehen nicht eigens ausgeschlossen hatten. Nicht nur galt offenbar grundsätzlich: „Gehen […] ist das, was man nicht übelnimmt.“4593 Auch lehnte der Un­ tergrund mit entsetztem Blick auf die Ermordung Schmückers tödliche Angriffe gegen Leib und Leben streckenweise entschieden ab.4594 „Die ‚Kritik der Waffen‘ sollte […] nicht unter uns ein terroristisches Klima erzeugen, in dem der Willkür Tür und Tor geöffnet war“4595, bemerkte Karl‑Heinz Dellwo zur damaligen Sicht der „Illegalen“. Wie die Zwei­ te Generation mit Ausstiegswilligen umgehen sollte, war wohl von Baader in einem Zellenzirkular definiert worden, das die Polizei im Februar 1974 beim Zerschlagen der „Gruppe 4.2.“ sicherstellen konnte. Beachtlich ist dieser Kassiber vor allem deshalb, weil er eine für die RAF geltende Linie durch negative Abgrenzung von der B2J formulierte. „[M]eutenprobleme, wie beim blues“4596, so Baader, durfte es in der „Roten Armee Fraktion“ nicht geben. Der auf die „Bewegung 2. Juni“ projizierten Vorstellung von einer unterentwickelten Gruppe, die innere Konfliktlagen weder in geord­ neten Bahnen noch nachhaltig zu lösen vermochte und dementsprechend selbst zu ihrer Schwäche beitrug, setzte er das Ideal eines festen Prozesses entgegen. Baader ging es um eine „politische bestimmung der widersprü­

4590 4591 4592 4593 4594 4595 4596

Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 39. Ebd. Vgl. Wunschik 1997, S. 205, 259, 342. Gudrun Ensslin, zit. n. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 180. Vgl. ebd., S. 96. Ebd. Bundesministerium des Innern 1975, S. 88.

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che“4597, in der die „Aktiven“ einen Ausweg über „praktische vorwürfe“4598 identifizieren und „die einheit“4599 wahren. Nur wenn dies aussichtslos erschien, konstatierte Baader, war eine Trennung legitim. Akzeptieren müsse der Aussteiger jedoch, „dass man aus der raf nicht einfach austeigt [sic] wie aus einem job“4600. Aufrechtzuerhalten sei die im Zirkel befolgte „disziplin wenigstens noch ein jahr“4601. Nach den Vorstellungen Baaders musste diese Zeit im „sozialistische[n] ausland“4602 verbracht werden. In­ terpretationsspielraum zugunsten drastischerer Maßnahmen erwuchs, als er hierzu abschließend anmerkte: „Läuft […] das nicht […], müsst ihr [die ‚Illegalen‘] eine andere lösung finden.“4603 Mitte der 1970er Jahre sah sich die „Rote Armee Fraktion“ mit zwei nennenswerten Ausstiegen konfrontiert. Der Abkehr Horst Mahlers folgte eine jener „andere[n] lösung[en]“4604, welche Baader im Sinn gehabt ha­ ben dürfte. Die „politischen Gefangenen“ gingen zu einem auf die Person abstellenden Verächtlichmachen über, welches die Reputation des ehema­ ligen Mitglieds schmälern und so möglichen Angriffen des Aussteigers auf die Gruppe die Schlagkraft nehmen sollte. Geradezu begeistert zeigten sich die Häftlinge im „Info“ ob der Entscheidung Mahlers, sich von der RAF abzuwenden. Nunmehr habe man „eine ratte weniger“4605. Sicherlich werde er „als revisionist, kolonialherr, schleimscheisser und marxausbeuter […] demnächst […] irgendein parteibuch“4606 annehmen. Zu wünschen bleibe Mahler „eine gute fahrt zur hölle, eine gesegnete mahlzeit + al­ len bullenratten gute verdauung.“4607 Gänzlich anders stellte sich die Hal­ tung der Inhaftierten zu der Loslösung Volker Speitels aus der Gruppe der späteren Stockholmer Botschaftsbesetzer dar. Speitel reagierte auf die Aufforderung der „politischen Gefangenen“, ihnen die Gründe für den Austritt aus der Illegalität zu nennen.4608 Nach „eine[r] zerfleischende[n] Selbstkritik“4609 habe er darauf bestanden, künftig lediglich „legale Arbeit 4597 4598 4599 4600 4601 4602 4603 4604 4605 4606 4607 4608 4609

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Bakker Schut 1987, S. 63. Ebd. Ebd. Vgl. Speitel 1980b, S. 30. Ebd.

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im Büro [Klaus Croissants] oder […] im Rahmen der Gefangenenbetreu­ ung“4610 zu leisten. Zwar musste sich Speitel „herbe[r] […] Kritik“4611 der Häftlinge stellen. Ihm wurde vorgeworfen, im Untergrund nicht den Ver­ such unternommen zu haben, die mit der Aktion 1975 in Stockholm ge­ scheiterte Agenda der „Illegalen“ in eine andere Richtung zu lenken. Sei­ nem Ansinnen gaben die Inhaftierten aber statt. Obgleich sich Speitel zu einem Sakrileg – dem Bruch mit dem aktiven „bewaffneten Kampf“ – ent­ schlossen hatte, musste er die Struktur der „Roten Armee Fraktion“ nicht verlassen.4612 Bis zum Zerschlagen des aus der Kanzlei Klaus Croissants er­ wachsenen Unterstützerkreises im Nachgang zum „Deutschen Herbst“ ver­ weilte er in der Position eines legalen Angehörigen der RAF.4613 8.1.3 Rückkehr zum Ausgangspunkt Die schleichende Abkehr der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ von den ohnehin nur bedingt in die eigene Praxis überführten organisatorischen Vorgaben lateinamerikanischer Stadtguerilleros blieb im gewaltbereiten westdeutschen Linksextremismus nicht ohne Folgen. Zwei­ felsohne ein Dorn im Auge war ihre begrenzte Umsetzung dem Frank­ furter Aktivisten Wilfried Böse und dessen Freundin Brigitte Kuhlmann, die sich während der Aktionsphase der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ als Unterstützer angedient hatten.4614 Beide bemängelten die „hierarchische und abgeschlossene Struktur der RAF“4615, so Magda­ lena Kopp. Vor allem Böse dürfte es angesichts seiner weitreichenden Einbindung in die Logistik der Gründer der „Roten Armee Fraktion“ und seines Strebens nach einem „größtmöglichen Überblick über die Angele­ genheiten“4616 der RAF gelungen sein, sensible Interna zum Binnengefüge der „Baader/Meinhof‑Gruppe“ zu erhalten und diese als Grundlage zur Festigung seiner alternativen, sich insbesondere „von der RAF-Struktur gravierend unterscheidenden Konzeption“4617 zu nutzen. Der „Bewegung

4610 4611 4612 4613 4614

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 30-31. Vgl. Speitel 1980c, S. 32-34. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592-593; Siemens 2006, S. 285; Kopp 2007, S. 62; Pfahl-Traughber 2014a, S. 174. 4615 Kopp 2007, S. 63. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 15. 4616 Gerhard Müller, zit. n. Kraushaar 2006c, S. 593. 4617 Ebd., S. 595.

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2. Juni“ hingegen, zu der die RZ bereits kurz nach ihrem Entstehen über mehrere Verbindungsglieder einen auf persönlichem Austausch fu­ ßenden Kontakt pflegten,4618 unterstellten die Gründer des Netzwerks eine „zu leichtsinnig[e] und unreflektiert[e]“4619 Personalgewinnung. Derartige Schlussfolgerungen zogen sie nicht nur aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus öffentlicher Berichterstattung zur RAF und der B2J.4620 Böses Vorstellungen zu einem Verbund „autonomer Zellen, die eher einen losen Zusammenhang als eine zentralistische Organisation“4621 kon­ stituieren sollten, korrespondierten weitgehend mit zellulären Prinzipien, wie sie in Berichten zu den uruguayischen „Tupamaros“ und in Carlos Marighellas „Minihandbuch des Stadtguerillero“ niedergelegt worden wa­ ren. Indem die „Revolutionären Zellen“ nach ihren ersten Anschlägen sukzessive zu einem „Ketten- oder Reihennetzwerk“4622 mit „lineare[r] Struktur“4623 avancierten, vollzogen sie eine Rückkehr zu den Ursprüngen linksterroristischer Organisationsformen Ende der 1960er Jahre in West­ deutschland. „[W]ir haben nicht den Anspruch, eine Partei oder eine Rote Armee zu werden“4624, lautete 1975 folgerichtig die unter impliziter Be­ zugnahme auf die bisherigen Organisationsversuche des Linksterrorismus formulierte Kampfansage der RZ. Dabei gelang ihnen eine konspirative Abschottung, welche sich vor allem aufgrund einer vergleichsweise gerin­ gen Zahl an sicherheitsbehördlichen Ermittlungserfolgen als überlegen gegenüber den organisatorischen Schutzmaßnahmen der RAF und der B2J zeigte. „Lange Zeit war nur sehr wenig über Aufbau und Arbeitsweise der Gruppen bekannt.“4625 Ganz im Sinne der im „Revolutionären Zorn“ ostentativ betonten Auf­ fassung, lediglich eine „Gegenmacht in kleinen Kernen“4626, „eine Orga­

4618 4619 4620 4621

4622 4623 4624 4625 4626

Vgl. Meyer 2008, S. 316, 320. Siemens 2006, S. 275. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 96. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Kraushaar 2017, S. 270. Überlegungen zur Struktur terroristischer Formationen, wie sie Wilfried Böse favorisierte, sollten später im deutschen Rechtsextremismus und ‑terrorismus unter dem Begriffspaar „leaderless resistance“ Verbreitung finden. Vgl. Gräfe 2017, S. 69-73. Wörle 2008b, S. 260. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 115. Backes 1991, S. 89. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 115.

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8.1 Struktureller Aufbau

nisation […] [aus] selbstständig operierenden Gruppen […] [bietet] in einem totalitären Überwachungsstaat“4627 die Möglichkeit des Bestehens, stützte sich das Netzwerk der RZ auf „Klein- und Kleinstgruppen“4628 mit jeweils wenigen Mitgliedern.4629 Die personelle Stärke eines Zirkels schwankte wohl zwischen drei und acht Personen.4630 Neue Zirkel sollten nach Vorstellungen der „Revolutionären Zellen“ nicht ausnahmslos von arrivierten Mitgliedern des Netzwerks aus der Taufe gehoben werden,4631 im Gegenteil: Als verfehlt beschrieben sie im Jahre 1978 öffentlich die Hoffnung ihrer Sympathisanten, „eines Tages einen Kontakt [zu] kriegen, der sie dann mehr oder weniger an die Hand nimmt.“4632 Die „Revolutio­ nären Zellen“ kämen nicht einem „Verein [gleich], dem man beitreten kann.“4633 Keinesfalls sei ihre „Politik“ patentiert. Jedermann könne den Namen und die Agenda der RZ übernehmen.4634 Folglich hingen die „Revolutionären Zellen“ nicht einem Schema des Zellteilens, sondern einem „Franchise“-Gedanken an, den die „Bewegung 2. Juni“ nach ihrer Gründung ohne Erfolg umzusetzen versucht hatte. Tatsächlich materiali­ sierte sich diese Idee, als ab Ende der 1970er Jahre erste „Nachahmeroder Resonanz-RZ“4635 in Erscheinung traten, die organisatorisch vom Kernbereich des Netzwerkes losgelöst waren.4636 Allerdings kamen gleich­ falls die Schattenseiten solcher „Nachahmerzellen“4637 hervor, welche die „Revolutionären Zellen“ zu einem auf Kurskorrektur zielenden Appell „an Leute oder Gruppen [zwangen], [die] unseren Namen […] benutzen“4638. Einstige Aktivisten des Netzwerks äußerten dazu in einem im Jahre 2022 erschienenen Interview:

4627 4628 4629 4630 4631 4632 4633 4634 4635 4636 4637 4638

Ebd., S. 247. Rabert 1995, S. 204. Vgl. Backes 1991, 89. Vgl. Kahl 1986, S. 107; Horchem 1986, S. 16; Horchem 1987, S. 10; Horchem 1988, S. 87; Wörle 2008b, S. 261. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 37. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 639. Ebd. Vgl. ebd. Bundesministerium des Innern 1988, S. 77. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 647-648. Bundesministerium des Innern 1983, S. 104. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 648.

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„Es haben sich […] einige Gruppen unter dem Namen ‚RZ‘ gebildet, wo wir dann sagten: ‚Um Gottes Willen, die haben ja alles ganz falsch verstanden.‘ Davon kannst du dich dann aber nur schlecht distanzie­ ren. Es gab zum Teil wirklich hahnebüchene [sic] Anschläge von Gruppen, die sich RZ nannten.“4639 Ein Rekrutieren weiterer Mitstreiter durch Zellen erfolgte offenbar nur dann, wenn sich diese nach einem längeren Zeitraum als vertrauenswür­ dig erwiesen hatten4640 und folglich „für koscher gehalten wurde[n]“4641. Ähnlich wie in den „Tupamaros Westberlin“ und der „Roten Armee Frak­ tion“ sammelten sich innerhalb der RZ nicht ausschließlich Aktivisten, die einen akademischen Vorlauf vorzeigen konnten. Die beruflichen Wer­ degänge waren divers. Die zentralen Figuren aus der Anfangsphase des Netzwerks stammten aus dem studentischen Milieu: Wilfried Böse hatte Soziologie,4642 Brigitte Kuhlmann Pädagogik,4643 Johannes Weinrich Jour­ nalismus4644 studiert. Selbiges galt für Christian Gauger (Psychologie),4645 Thomas Kram (Germanistik und Theaterwissenschaften, später Besuch einer pädagogischen Hochschule)4646 und Sonja Suder (Medizin).4647 Ih­ nen zur Seite standen Mitglieder mit einer gänzlich anderen Biographie. Hans Joachim Klein, dessen konfliktbehaftete Jugend in vielen Aspekten an jene Peter-Jürgen Boocks erinnerte, „konnte im Berufsleben nicht Fuß fassen.“4648 Vor dem Beitritt zu den „Revolutionären Zellen“ bestritt er seinen Lebensunterhalt als „Lagergehilfe beim [Restaurant] Schuldtheiss [sic] im [Frankfurter] Westend für 3,85 die Stunde.“4649 Da ihr die allge­ meine Hochschulreife fehlte, entschied sich Magdalena Kopp für eine Ausbildung zur Fotografin.4650 Rudolf Schindler war 1958 von einer Gü­ tersloher Firma eine Lehre zum Werkzeugmacher ermöglicht worden.4651

4639 4640 4641 4642 4643 4644 4645 4646 4647 4648 4649 4650 4651

Unsichtbare 2022, S. 33. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 16. Klein 1979a, S. 172. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 592. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 28. Vgl. Der Spiegel 1995b, S. 28; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 10; Siemens 2006, S. 133-134. Vgl. Solidaritätskampagne für Sonja Suder und Christian Gauger. Kram 2009. Vgl. Solidaritätskampagne für Sonja Suder und Christian Gauger. Backes 1991, S. 150. Klein 1979a, S. 38. Vgl. Kopp 2007, S. 32-33. Vgl. Schindler 2002.

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8.1 Struktureller Aufbau

Die Angehörigen eines Zirkels der „Revolutionären Zellen“ kannten sich grundsätzlich unter Tarnnamen – vorausgesetzt, sie waren sich zuvor nicht im Wege politischer Aktivitäten unter ihren tatsächlichen Identi­ täten begegnet.4652 Laut Rudolf Schindler, einem langjährigen Mitglied der RZ, „war [das Netzwerk] keine Schwatzbude“4653: Die in einer Zel­ le zusammengefassten Aktivisten verzichteten angeblich darauf, „biografi­ sche Daten, Tatbeteiligung und Tatausführung“4654 zu diskutieren oder hierzu vorhandenes Wissen zu verbreiten. Es sei daher vorgekommen, dass „RZ‑Mitglieder selbst nach längerer Zugehörigkeit nichts voneinan­ der“4655 wussten. Magdalena Kopp zufolge habe jeder Angehöriger „bei Aufträgen immer nur einen kleinen Ausschnitt des ganzen Unterneh­ mens“4656 erblickt. Man habe daher nicht gewusst, „was anschließend pas­ sieren soll“4657. Treffen einzelner Mitglieder seien unter konspirativen und zeitaufwändigen Umständen erfolgt.4658 Nach außen propagierten die An­ gehörigen der Zellen das Ziel, „alle allseitig auszubilden“4659. Verpflichtet sahen sie sich der Losung: „Alle müssen alles können.“4660 Unterbinden sollte dies eine „Arbeitsteilung“4661, ja gar „Funktionalisierung“4662 zwi­ schen „Machern und Fußvolk“4663. Jedes Mitglied sollte, so der Anspruch des Netzwerkes, „Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit“4664 zeigen und folglich selbst über sein „Betätigungsfeld und die Intensität seines Engagements“4665 entscheiden. Die den Mitgliedern auferlegten internen Regeln der Konspiration und weitreichenden Selbstbestimmung galten offenbar ebenso für die einzel­ nen Zellen.4666 Sie blieben „soweit als möglich untereinander abgeschot­

4652 4653 4654 4655 4656 4657 4658 4659 4660 4661 4662 4663 4664 4665 4666

Vgl. Horchem 1986, S. 16; Siemens 2006, S. 297. Schindler 2002. Ebd. Ebd. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 23. Kopp 2007, S. 77-78. Ebd., S. 78. Klein 1979a, S. 173; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 111. Ebd., Band 2, S. 638. Ebd., S. 639. Ebd. Ebd., Band 1, S. 111. Ebd., Band 2, S. 639. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 15. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

tet“4667. Eine Gruppe konnte eigenständig „je nach ihren thematischen Interessen“4668 bestimmen, welchen Beitrag sie unter Würdigung des im Netzwerk existierenden „Grundkonsens“4669 zum „bewaffneten Kampf“ leistet.4670 Die Propaganda der RZ bekräftigte im Jahre 1978, „jede Zel­ le [macht] ihre eigene Politik.“4671 Gerd-Hinrich Schnepel äußerte dazu, „die Gruppen an sich waren autonom, machten ihre eigenen Sachen“4672. Die bewusst begrenzte Kommunikation unter den Bestandteilen des Netz­ werks sowie die Forderung nach Unabhängigkeit erklärten denn auch, wie sich unter der Selbstbezeichnung der „Revolutionären Zellen“ Akteure mit gänzlich unterschiedlicher strategischer und taktischer Ausrichtung entwickeln konnten. Was die Angehörigen der internationalistischen Strö­ mung vorantrieben, war Mitgliedern der in Deutschland aktiven Zellen größtenteils unbekannt. Folglich konnten Letzte kaum Einfluss auf die grenzübergreifenden Handlungen ihrer Mitstreiter nehmen, die sich im­ mer weiter von den ursprünglichen taktischen Paradigmen entfernten. Völlig überrascht zur Kenntnis genommen hätten die in Frankfurt am Main wohnhaften Aktivisten der RZ 1975 das Verhaften Johannes Wein­ richs infolge seines Beteiligens am versuchten Abschuss einer Passagierma­ schine in Frankreich.4673 „Keiner außer den direkt Beteiligten schien über die Aktion informiert gewesen zu sein“4674, erinnerte sich Kopp. Ähnlich berichtete Thomas Kram: „Als Weinrich Anfang 1975 das erste Mal ins Gefängnis kam, hielt ich das für einen Justizirrtum. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er et­ was mit dem Anschlag zu tun hatte. Ich kannte die Texte der RZ und die Aktionen, zu denen sie sich erklärt hatten. Die Palette reichte von gefälschten Fahrkarten über Brandanschläge auf Autos von Miethaien bis hin zu Bomben vor Konzernen wie ITT. Dass es auch noch eine andere Seite gab, konnte man zwar zwischen den Zeilen lesen, aber ohne zu wissen, was sie praktisch beinhaltete. Diese Seite der RZ war abgeschottet. Darüber wurde nicht mit allen diskutiert.“4675 4667 4668 4669 4670 4671 4672 4673 4674 4675

Dietrich 2009, S. 149. Ähnlich Demes 1994, S. 30. Pfahl-Traughber 2014a, S. 174. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Horchem 1986, S. 16; Kahl 1986, S. 107; Wörle 2008b, S. 259. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 638. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Kopp 2007, S. 74. Ebd. Ähnlich Unsichtbare 2022, S. 48. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010.

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8.1 Struktureller Aufbau

Die Folgen der in den „Revolutionären Zellen“ eingehaltenen Verschwie­ genheit zeigten sich gleichermaßen in Krams Äußerungen zu weiteren Aktionen des internationalistischen Lagers: „Der Überfall [Ende 1975] auf die Opec bewegte sich jenseits meines Horizonts. Zwar war Hans‑Joachim Klein in Wien dabei, ich wusste aber noch nicht, dass er Mitglied der RZ war. Diese Zusammenhänge waren mir im Dezember 1975 nicht bewusst. Erst hinterher habe ich gemerkt, wie nah ich da dran war.“4676 Dass die „Zellen“ in ihrer Zusammenarbeit nicht bloß auf einen „Grund­ konsens“ vertrauten, sondern auch fortwährend Absprachen prinzipieller Natur trafen, signalisierten das regelmäßige – indes nicht immer von allen Gruppen gestemmte4677 – Veröffentlichen des „Revolutionären Zorns“4678 sowie thematisch und zeitlich aufeinander abgestimmte Anschlagsserien. Exemplarisch zu nennen sind hier acht Aktionen, welche die RZ im Juni 1982 „gegen amerikanische Militäreinrichtungen und Zweigniederlassun­ gen amerikanischer Unternehmen in Bamberg, Berlin, Düsseldorf, Frank­ furt, Gelnhausen, Hanau und Hannover“4679 richteten. Zudem entwickelte sich über „technische Schulungen“4680 – eine zentralisierte Weitergabe von Fertigkeiten4681 – und materielle Bedarfe immer wieder ein Austausch zwischen den „Revolutionären Zellen“:4682 „Die einen hatten Sprengstoff, die anderen nicht.“4683 Die Beziehungen unter den Zirkeln des Netzwerks verliefen über „zentrale Knotenpunkte“4684: Jede Zelle soll einen „Beauf­ tragten“4685 ausgewählt haben, dem die Kommunikation mit den Kontakt­ personen der anderen Gruppen oblag. Bestimmt wurden diese Repräsen­ tanten – angeblich – auf Basis ihrer Erfahrung und Zuverlässigkeit.4686 Die „Beauftragten“ kamen regelmäßig auf „überregionalen Treffen“4687 zusam­

4676 4677 4678 4679 4680 4681 4682 4683 4684 4685 4686 4687

Ebd. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 82. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 463; Wörle 2008b, S. 260. Bundesministerium des Innern 1983, S. 103. Unsichtbare 2022, S. 85. Vgl. ebd., S. 160. Vgl. Backes 1991, S. 89; Wörle 2008b, S. 260; Unsichtbare 2022, S. 86. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Wörle 2008b, S. 260. Kahl 1986, S. 107; Horchem 1988, S. 87. Ähnlich Neidhardt 1982b, S. 441. Vgl. Siemens 2006, S. 298. Ebd.

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men, die der „Koordination der […] zellenübergreifenden Aktivitäten“4688 verschrieben waren. Wie effektiv die als „Gegenentwurf zum […] Gefüge der RAF“4689 und der B2J angelegte strukturelle Gliederung in „mehrere unabhängi­ ge Cliquen“4690 ohne feste „hierarchische Kommandostrukturen“4691 vor Zugriffen der Sicherheitsbehörden zu schützen vermochte, zeigte sich zum einen in Zwischenbilanzen. Eingedenk der verstärkten Sicherheitsar­ chitektur der Bundesrepublik, welche die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach durch Ver­ haftungen beachtlich geschwächt hatte, konstatierten die RZ selbst im Mai 1977: „Seit unseren ersten Aktionen 1973 […] ist es dem Staatsterror bis heute nicht gelungen, unsere Struktur und Logistik aufzurollen, uns zu finden.“4692 Die Wirksamkeit der Mechanismen, die die Gründer der „Revolutionären Zellen“ im Geiste lateinamerikanischer Stadtguerilleros festzuschreiben bereit waren,4693 ließen sich zum anderen an den geringfü­ gigen Folgen der versehentlichen Sprengstoffexplosion 1978 in Heidelberg ermessen. Zwar gab Hermann Feiling während seines Verhörs Einzelhei­ ten zur Heidelberger Zelle preis, über andere Teile des Netzwerks erfuh­ ren die Ermittler aber vergleichsweise wenig.4694 Lediglich vier Mitglieder der „Zellen“ sollen aufgrund seiner Aussagen in die Illegalität gewechselt sein.4695 Feilings Festnahme löste innerhalb der Frankfurter Strukturen der „Revolutionären Zellen“ kaum Unruhe aus. Magdalena Kopp schilderte hierzu rückblickend: „Mich kannte er nur unter meinem Decknamen Ve­ ra, und so sah ich […] keinen Grund für den radikalen Schritt, in den Untergrund zu gehen.“4696 Zu der im Binnengefüge der RZ angelegten Hierarchie und Diskussi­ onskultur finden sich in propagandistischen Verlautbarungen und kollek­ tiven Erinnerungsstücken ehemaliger Mitglieder einzelne Angaben. An­ knüpfend an das 1975 veröffentlichte Interview eines Mitglieds der „Revo­ lutionären Zellen“, das „Aktion[en] als Mutprobe oder auf Befehl eines

4688 4689 4690 4691 4692 4693 4694 4695 4696

Ebd. Wörle 2008b, S. 259. Groebel/Feger 1982, S. 429. Unsichtbare 2022, S. 33. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 170. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 33. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 598. Vgl. Kopp 2007, S. 117; Unsichtbare 2022, S. 146, 149. Kopp 2007, S. 117.

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8.1 Struktureller Aufbau

Kommandierenden“4697 strikt abgelehnt und für einen offenen Austausch zu den eigenen Ängsten plädiert hatte,4698 strichen die RZ im Mai 1977 ein unter Mitstreitern bestehendes Verhältnis „ohne Konkurrenz, ohne Imageprobleme, ohne Mackertum, ohne jeden Zwang“4699 heraus. Das Netzwerk habe „nie jemand [sic] gezwungen, gedrückt, reingezogen, verleitet. […] Unter uns, zwischen uns und ‚Neuen‘ läuft der mühsame und lang­ wierige Prozess, Entscheidungen immer wieder zu überprüfen, sich selbst und sich gegenseitig kennenzulernen, durch Erfahrungen, durch Reden, Reden, Reden, durch kleine Schritte in gemeinsamer Praxis erst herauszubekommen, ob die Identität zwischen Leben und Politik im bewaffneten Kampf wirklich die jedes/jeder Einzelnen ist.“4700 Vermittels der „Praxissondernummer“ des „Revolutionären Zorns“ aus dem Jahre 1978 verurteilte das Netzwerk eine Struktur, in der „die Bestäti­ gung oder das Dementi eines […] ZKs [Zentralkomitees]“4701 abgewartet wird. Ein derartiges Über‑/Unterordnungsverhältnis sei innerhalb der „Re­ volutionären Zellen“ „nicht vorhanden“4702. Weiterführend betonte die „Praxissondernummer“ die Notwendigkeit vorbehaltloser und aufrichtiger interner Debatten. An künftige Mitstreiter gerichtet, hieß es in der Zei­ tung: „Die wichtigste Praxis einer Zelle ist politische Diskussion. Nur eine Gruppe, in der eingestandene und verdrängte Ängste, Spannungen in den Beziehungen untereinander ausdiskutiert werden, […] die – kurz gesagt – in einem kollektiven Diskussionsprozess daran arbeitet, die Zersplitterung von privat und politisch, von ‚innen‘ und ‚außen‘ aufzuheben, wird ein Ganzes. […] Ihr müsst euch gegenseitig wirklich kennenlernen, ihr müsst euch absolut vertrauen können und in lan­ gen, ausführlichen Diskussionen eure politischen Vorstellungen und Erfahrungen vereinheitlichen. Entscheidend ist, dass ihr dabei nie Leu­ te unter moralischen oder gar physischen Druck setzt, das kann nur schief gehen und verdammt gefährlich werden. Manche verwechseln

4697 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 111. 4698 Vgl. ebd. 4699 Ebd., S. 193. 4700 Ebd. 4701 Ebd., Band 2, S. 639. 4702 Ebd.

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dieses Prinzip mit windelweicher Liberalität. Wir kommen weder mit einer Zwangs- noch mit einer Krankenhausmentalität weiter. Wenn wir beides meiden wie die Pest, sind wir auf dem richtigen Weg, zu uns selbst, innerhalb der Zellen und zu unserer Umgebung ein befreiendes, liebevolles und förderndes – ein revolutionäres Verhältnis zu entwickeln.“4703 Beinahe gleichlautend äußerten Mitglieder des Netzwerkes im sechsten „Revolutionären Zorn“ aus dem Jahre 1981, „[w]ürden wir die RZ als […] Zwangsverband zusammenschustern, […] wären wir allemal längst aufgerieben.“4704 Das Prinzip der „Freiwilligkeit“4705 sei Grundlage „des Ganzen und nicht etwa autoritärer Druck, Terror nach innen oder gar Erpressung.“4706 Noch 2001 beteuerten einstige Aktivisten der RZ, „[d]ie Beteiligten bemühten sich ehrlich um Freundschaft und Solida­ rität, sie diskutierten endlos über die Entwicklung in ‚kämpfenden Kollektiven‘ und versuchten, zugleich der oder dem Einzelnen gerecht zu werden.“4707 Was von dieser wortreichen Agitation der „Revolutionären Zellen“ und ihrer ehemaligen Mitglieder zu einer Struktur „ohne zentrale Führung“4708 zu halten ist, die – sofern zutreffend – einen merklichen Unterschied zum Innenleben der „Bewegung 2. Juni“, mehr noch zum Binnengefüge der „Roten Armee Fraktion“ konstituiert, vermag annähernd der Abgleich mit den wenigen gesicherten Erkenntnissen zur Realität des Netzwerkes wäh­ rend der 1970er Jahre zu beantworten. Wissenschaftliche Untersuchun­ gen attestierten den RZ eine gering ausgeprägte Zentralität,4709 welche deutlich von der durch „einzelne Ideenträger“4710 dominierten „Roten Armee Fraktion“ und den „wechselnden zentralen Positionen“4711 der „Be­ wegung 2. Juni“ abwich. Sie seien „nicht kadermäßig organisiert und ge­ führt“4712 worden. Lediglich für den Zeitraum bis 1976 konnte von einer 4703 4704 4705 4706 4707 4708 4709 4710 4711 4712

Ebd., S. 640. Ebd., Band 1, S. 266. Ebd. Ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 208. Strobl 2020, S. 187. Vgl. Groebel/Feger 1982, S. 429. Ebd. Ebd. Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 81.

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8.1 Struktureller Aufbau

in Ansätzen gegebenen Lenkung innerhalb des Netzwerkes gesprochen werden – dies sowohl in personeller als auch in struktureller Hinsicht. Augenscheinlich kam Wilfried Böse als Initiator „eine[r] Guerillaorganisa­ tion anderen Typs“4713 eine herausgehobene Position zu. Jedenfalls nahm ihn Hans‑Joachim Klein nach seiner Aufnahme in das Netzwerk als „Mo­ tor des Ganzen“4714 und dementsprechend als „Leader“4715 und „Chef der Revolutionären Zellen“4716 wahr. Böse war es, der „die erste Geige spielt[e]“4717. Entgegen der Vorgaben zur Abschottung konnte er auf ein Wissen zu „alle[n] Teile[n] der RZ“4718 zurückgreifen und „Einfluss auf mehrere Zellen […] nehmen“4719. Ob Wilfried Böse diesen Status als „Fa­ milienoberhaupt“4720 forderte und dabei dem Gebaren Baaders gleichkam, bleibt offen. Im Quellenmaterial finden lässt sich lediglich die allgemein gehaltene Aussage, die Gründer der RZ seien durch ihren „ausgeprägte[n] Führungsanspruch“4721 aufgefallen. Abgesehen von der Triebkraft, die Bö­ se zukam, resultierte aus den „bundesweite[n] Delegiertentreffen“4722 des Netzwerks „ein steuernder Einfluss nach Art einer übergeordneten Dach­ vereinigung“4723, welcher „gegenüber den einzelnen örtlichen Zellen“4724 ausgeübt wurde. Nach dem Tod Böses, der innerhalb der „Revolutionären Zellen“ eher Klammer als dezidierte Führungspersönlichkeit gewesen sein dürfte, zer­ stoben die flachen Hierarchien der „Revolutionären Zellen“. Mit Johannes Weinrich soll Böse zwar testamentarisch einen Nachfolger ausgewählt ha­ ben, der ebenso wie er auf vertiefte Kenntnisse zur gesamten Struktur der RZ zurückblicken konnte.4725 Weinrich konnte aber die nach Enteb­ be einsetzende interne Debatte um die internationalistische Komponente der von den „Revolutionären Zellen“ getragenen Strategie4726 weder zu­ gunsten der eigenen Präferenzen für ein Beibehalten grenzübergreifender 4713 4714 4715 4716 4717 4718 4719 4720 4721 4722 4723 4724 4725 4726

Kraushaar 2006c, S. 592. Klein 1979a, S. 172. Ebd., S. 206. Klein/Libération 1978, S. 281. Klein 1979a, S. 172. Wörle 2008b, S. 260. Ebd. Klein 1979a, S. 86. Unsichtbare 2022, S. 49. Dia-Gruppe 2001. Siemens 2006, S. 298. Ebd. Vgl. Klein 1979a, S. 208; Wörle 2008b, S. 260. Dia-Gruppe 2001.

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Zusammenarbeit4727 entscheiden noch vermittelnd im Sinne einer neu­ erlichen Konsensbildung zwischen den beiden widerstreitenden Lagern auflösen. Auch dem unter dem Decknamen „Sharif“ firmierenden Grün­ dungsmitglied Gerd-Hinrich Schnepel, dem Böse vergleichbar großes Ver­ trauen entgegengebracht hatte, gelang dies nicht.4728 Er stieg 1977 aus den RZ aus.4729 Die lockere, durch „Unterzentralisierung“4730 geprägte Diskussionskultur, welche sich beispielsweise Anfang 1976 in einem „für Mitglieder der RAF […] undenkbar[en]“4731 grundlegenden Austausch der Angehörigen mehrerer „Zellen“ im Südjemen zu den „Perspektiven“4732 der „Aktionen gegen Fahrscheinautomaten des öffentlichen Nah-Verkehr [sic]“4733 oder in Debatten zum Niveau der eigenen Praxis und zu persön­ licher Bewaffnung widerspiegelte,4734 zeigte hier erstmals in aller Deutlich­ keit ihren gravierendsten Nachteil. Da es in organisatorischer Hinsicht – anders als in der „Roten Armee Fraktion“ mit ihrem notorischen Hang zum Zentralismus – an einer festen Instanz mangelte, die ob „ideologi­ scher Definitionshoheit“4735 Verbindlichkeit im inneren Diskurs durchset­ zen konnte, „war bei den RZ eine Tendenz zur Zersplitterung vorhan­ den.“4736 In diese Richtung trieben die „heftige[n] […] Diskussionen“4737 infolge der in Entebbe gescheiterten Flugzeugentführung die „Revolutio­ nären Zellen“. Das dabei einsetzende „Ringen um die Position des ‚Ersten unter Gleichen‘“4738 weichte die ohnehin lockere Koordination bis hin zu einer „vollständigen Eigenständigkeit der einzelnen Zellen“4739 auf. Diese genuine Autonomie signalisierte Außenstehenden erstmals der Ende 1976 zirkulierende offene Brief der RZ an die „Rote Armee Fraktion“, welcher öffentliche Gegenreden eines Teils der „Revolutionären Zellen“ provozier­ te.4740 Jahrelang sollte der hierbei deutlich gewordene Verzicht auf eine en­

4727 4728 4729 4730 4731 4732 4733 4734 4735 4736 4737 4738 4739 4740

Kopp 2007, S. 110; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Vgl. Klein 1979a, S. 208. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Schnepel/Wetzel 2001, S. 113. Neidhardt 1982b, S. 464. Demes 1994, S. 29. Klein/Libération 1978, S. 294. Ebd. Vgl. Unsichtbare 2022, S. 26-27, 29. Wörle 2008b, S. 273. Demes 1994, S. 30. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 157, 208-209. Dia-Gruppe 2001. Wörle 2008b, S. 261. Siemens 2006, S. 298. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 82-83. Vgl. Revolutionäre Zellen 1977b; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 169.

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gere flächendeckende Abstimmung jenseits allgemeiner ideologischer und strategischer Kernpunkte anhalten: Bis zur Agitation anlässlich der Lage von Schutzsuchenden Mitte der 1980er Jahre war es dem Netzwerk nicht möglich, sich vermittels der aufrechterhaltenen „Delegiertentreffen“4741 in einer „Phase von Diskussionen“4742 verbindlich auf ein gemeinsames, von der deutlichen Mehrheit der Zirkel getragenes „sozialrevolutionäre[s] Projekt“4743 analog der im Herbst 1975 initiierten Fahrpreiskampagne zu verständigen – selbst längere, grundlegende Traktate, wie zum Beispiel die Erklärungen Anfang der 1980er Jahre zu den Protesten gegen die Startbahn West in Frankfurt am Main und zur Friedensbewegung, wurden unter den Gruppen nicht konsentiert.4744 Nichts ist dazu bekannt, ob und inwiefern sich innerhalb der einzelnen „Zellen“ – entgegen der Propaganda des Netzwerkes – eine Atmosphäre auftat, die Prozesse von „Kritik und Selbstkritik“ im persönlichen Umgang der Aktivisten förderte. Sicherlich entwickelte sich in den RZ ebenfalls „eine ‚Kontrakultur‘, ein Normen- und Sinnsystem anderer Art […], das […] Grenzen setzt, Hemmungen auslöst, Rücksichten gebietet“4745 und insofern einem genuin ergebnisoffenen, ungezwungenen Binnendiskurs abträglich war. Diese gruppendynamischen Entwicklungen dürften indes nicht Auswüchse gezeigt haben wie bei der „Roten Armee Fraktion“. Denn die wesentlichen Ursachen der bis zu persönlichen Herabwertungen und körperlichen Auseinandersetzungen führenden Extreme – die grund­ sätzlich nur durch eine Verhaftung zu durchbrechende Endgültigkeit des Lebens im Untergrund, die in der Illegalität gegebene Drucksituation so­ wie die existentielle Gefährdung dieses Lebens bei Dissens im Inneren – blieben in den „Revolutionären Zellen“ weitgehend ohne Bedeutung. Im Gegensatz zu den Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ und einem Großteil der Aktivisten aus den Reihen der „Bewegung 2. Juni“ behielten die Angehörigen der „Revolutionären Zellen“ ein legales Leben aufrecht, das ihnen jederzeit den Rückzug aus terroristischen Aktivitäten erlaubte. Da eine greifbare Aussicht auf persönliche Alternativen zum „bewaffneten Kampf“ ohne sofortige Strafverfolgung und Verlust der eige­ nen Freiheit bestand, war weder das Schicksal des Einzelnen zwangsläufig

4741 Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Unsichtbare 2022, S. 83. 4742 Horchem 1986, S. 17. 4743 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 181. 4744 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 114-116. 4745 Jäger/Böllinger 1981, S. 157.

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an die Gruppe gekettet noch konnte die Gruppe den Einzelnen mithilfe „rigide[r] Kontrollmechanismen“4746 effektiv an sich binden. Gepaart mit der geringeren individuellen wie kollektiven Belastung durch polizeilichen Fahndungsdruck, welche sich aus den Sicherheitsmechanismen der RZ ergab, schuf die faktisch kaum von außen zu steuernde Verbindlichkeit und Intensität des eigenen Beitrags zum „Widerstand“ des Netzwerks Vor­ aussetzungen für das Einhalten eines Miteinanders, welches die „Revolu­ tionären Zellen“ 1977, 1978 und 1981 in ihrer Agitation sowie ehemalige Angehörige des Netzwerkes im Zuge des geschichtlichen Aufarbeitens Anfang der 2000er Jahre kolportiert hatten. Als weiteres Indiz für die inneren Verhältnisse der „Revolutionären Zellen“ heranziehen lässt sich deren Umgang mit ausstiegswilligen Mit­ gliedern. Wie schon die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Ju­ ni“ sah sich das Netzwerk mit Personen konfrontiert, welche aus freien Stücken eine Abkehr vom „bewaffneten Kampf“ forcierten. Als prominen­ tester Fall zu werten ist der Austritt Hans‑Joachim Kleins – dies nicht nur aufgrund der Präsenz Kleins Ende der 1970er Jahre in Medien mit großer Reichweite, sondern auch infolge der von ihm geschilderten Gefahr für Leib und Leben, die ihm durch seine Mitstreiter gedroht haben soll. Zu seiner ab 1976 einsetzenden Loslösung äußerte Klein 1977 in einem Brief an das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, er „wurde natürlich dafür mas­ siv unter Druck gesetzt.“4747 Ihm sei vorgehalten worden, „dass [er] […] zu viel wisse, vor allem im Internationalen [sic] Rahmen“4748. Man habe versucht, ihn „mit einer obskuren Begründung in ein arabisches Land zu lotsen“4749. Aus diesem wäre er „wohl nicht mehr herausgekommen“4750. 1978 druckte „Der Spiegel“ ein Interview mit Klein ab, in dem dieser zu verstehen gab, „[w]enn meine ehemaligen Leute mich kriegen, legen sie mich um.“4751 Als „Der Spiegel“ im weiteren Verlauf die Frage aufwarf, ob Klein der „Fememord an Schmücker von der ‚Bewegung 2. Juni‘“4752 Sorgen bereite, folgte die Antwort: „Natürlich weiß ich, dass man mich umlegen will.“4753 Diese Schilderungen, die unweigerlich Umgangsformen innerhalb der „Revolutionären Zellen“ mit der im Falle Schmückers 4746 4747 4748 4749 4750 4751 4752 4753

Ebd. Klein 1977, S. 34. Ebd. Ebd. Ebd. Klein/Der Spiegel 1978, S. 70. Ebd., S. 71. Ebd.

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8.1 Struktureller Aufbau

skrupellosen Haltung der B2J gleichsetzten, nährte Klein in seiner 1979 publizierten Autobiographie. Johannes Weinrich und einem weiteren Mit­ glied der RZ unterstellte er implizit die Absicht,4754 ihn während seines bis dahin nicht öffentlich bekannt gewordenen Ausstiegsprozesses „übern Haufen schießen“4755 zu wollen. Selbst Jahrzehnte nach seinem Ausstieg hob Klein die Bereitschaft seiner Mitstreiter hervor, einen Abkehrer vom „bewaffneten Kampf“ zu ermorden.4756 Kleins Angaben lösten im deutschen Linksextremismus Wellen aus. Der „Pflasterstrand“ – eine 1976 von Daniel Cohn-Bendit ins Leben gerufene Zeitung der Frankfurter „Spontis“4757 – schrieb: „Die Stadt-Guerilla sagt von sich, ihre Verkehrsformen seien von Soli­ darität und Liebe geprägt. Wir glauben davon kein Wort. In der Logik der Stadt-Guerilla liegt es viel eher, die sogenannten ‚Widersprüche in den eigenen Reihen‘ militärisch zu lösen. […] Dass Klein-Klein jetzt über Nacht auf der ‚Hinrichtungs‘-Liste steht, können wir uns – leider – vorstellen. Sicher, die Stadt-Guerilla lebt gefährlich: fliegt sie auf, wartet auf sie die Hölle der Isolation und Vernichtung. Aber das Ope­ rieren aus der Illegalität heraus hat auch sein furchtbar Einfaches: man ist der Diskussion, Auseinandersetzung und Veränderung entzogen, man schmeißt den Leuten bewaffnete Fakts vor die Füße – wenn’s sein muss, die Leiche des Verräters.“4758 Die „Revolutionären Zellen“ dementierten Kleins Aussagen mehrfach in öffentlichen Verlautbarungen. Die RZ kenne nicht nur „die Alternative Fighter oder Bulle“4759. Allen sei bekannt, „dass das Verlassen der Guerilla selbstverständlich immer möglich ist.“4760 Wende man sich vom „bewaff­ neten Kampf“ ab, sei dies „kein Verrat“4761. Niemandem würde dabei „auch nur ein Haar gekrümmt“4762 werden. Einem Aussteiger biete sich die Chance, „unauffällig zu leben, und zwar mit Unterstützung von allen,

4754 4755 4756 4757 4758 4759

Vgl. Klein 1979a, S. 96-98. Ebd., S. 211. Vgl. Oey 2006, 49:58 Min.-50:06 Min. Vgl. Garreis 2008. Redaktion der Zeitung Pflasterstrand 1977, S. 237-238. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 193. 4760 Ebd. 4761 Ebd., S. 194. 4762 Ebd.

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mit denen er vorher gekämpft und gelebt hat.“4763 1981 wiederholten die „Revolutionären Zellen“ diese Botschaft: „Wir haben mehr als einmal gesagt, dass die Entscheidung für die Guerilla nicht unwiderruflich sein kann.“4764 Dabei verwiesen die RZ auf personelle Trennungen der vergan­ genen Jahre, die ohne die von Klein angegebenen Konsequenzen verlaufen seien: „Unsere Krise der letzten Jahre hat sich am sichtbarsten gerade darin niedergeschlagen, dass einzelne Militante den RZ den Rücken gekehrt haben. Nicht Leute wie Klein, die ihren Abgang in Szene setzen muss­ ten, sondern Genoss/inn/en, für die einstige Perspektiven fragwürdig geworden waren, denen die Folgen eigenen Handelns über den Kopf gewachsenen [sic] sind, die in die Mühle der inneren Widersprüche geraten sind und davon überrollt zu werden drohten.“4765 Bis in die jüngere Vergangenheit hinein finden sich Stellungnahmen ehe­ maliger Weggefährten Kleins, welche diese Beschreibungen der „Revolu­ tionären Zellen“ zu ihrem Verhältnis gegenüber Abkehrern stützen. 2000 bestritt Gerd-Hinrich Schnepel vor Gericht das Bild eines Netzwerks, das „Klein […] nach dem Leben getrachtet habe.“4766 Die von Klein dargelegte Gefahr sei „völlig ‚hirnrissig‘“4767. „Die ganze Bedrohung […] war ja nur in Hans-Joachim’s [sic] Kopf, wir ahnten sie nicht“4768, äußerte Schnepel später in einem Interview. Erneut versicherte er, die RZ „hatten […] nichts vor“4769, das Klein schaden sollte. Wäre Klein dazu übergegangen, seinen Ausstieg gemeinsam mit dem Netzwerk umzusetzen und „bestimmte Be­ dingungen“4770 zu akzeptieren, hätte nach Überzeugung Magdalena Kopps „eine Lösung gefunden“4771 werden können. In Frage gekommen wäre die Unterbringung in einem Land des Nahen Ostens.4772 Diese Sichtweise vertrat gleichermaßen Thomas Kram im Jahre 2010: „Ich glaube, Klein

4763 4764 4765 4766 4767 4768 4769 4770 4771 4772

Ebd., S. 193. Ebd., S. 266. Ebd. Platen 2000, S. 5. Ebd. Schnepel/Wetzel 2001, S. 109. Ebd., S. 110. Kopp 2007, S. 108. Ebd. Vgl. ebd.

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hätte in Absprache mit der PFLP und den RZ einen anderen Weg wählen können.“4773 Auch wenn sich die „Revolutionären Zellen“ beim öffentlichen Auf­ arbeiten der Geschehnisse um Hans‑Joachim Klein gegen den Eindruck eines drakonischen Bestrafens abweichender Aktivisten wehrten, vermoch­ ten sie es nicht, von dem gleichermaßen bei der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ beobachtbaren Stigmatisieren auf persönli­ cher Ebene abzusehen. Ihre selbstkritischen Töne zu eigenen Versäumnis­ sen bei der Integration Kleins in die Strukturen der RZ vermengten sie zu­ sehends mit diffamierenden Zuschreibungen. Ganz offensichtlich trugen sie Klein das Darlegen „konkreter Einzelheiten, Strukturen, Treffpunkte […] [und] Namen“4774 nach. Die „Revolutionären Zellen“ hafteten ihm Geltungssucht und das Merkmal des Lügners an.4775 Ihn kennzeichne der „verzweifelte Drang, immer der Größte sein zu müssen“4776. Er rangiere auf der Stufe eines Schwätzers,4777 dem „[n]ichts […] zu schäbig, keine Lüge zu gemein, kein Tratsch zu lächerlich, keine Projektion zu nieder­ trächtig“4778 sei. Blendet man den in den Erinnerungen der damals Beteiligten sehr unterschiedlich eingeordneten Austritt Hans‑Joachim Kleins aus, dessen Verlauf sich mangels eingeschränkter Quellenlage nicht abschließend be­ werten lässt, ist wohl zutreffend, was die „Revolutionären Zellen“ in ihrer Außendarstellung Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre mit Blick auf ausstiegswillige Aktivisten zusagten. Anders als die „Rote Armee Frak­ tion“ und die „Bewegung 2. Juni“ suchten die „Revolutionären Zellen“ drastische Maßnahmen gegen Personen, welche mit der „Stadtguerilla“ gebrochen hatten, nicht propagandistisch zu rechtfertigen. Eine unverhoh­ lene Sympathie für Gewalt zulasten sich distanzierender Mistreiter war ihnen fremd. Neben Schilderungen aus dem Inneren des Netzwerkes4779 legten sicherheitsbehördliche Erkenntnisse eine Vielzahl an personellen Abgängen in der Geschichte der RZ nahe.4780 Für keinen dieser Fälle sind

4773 Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 4774 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 194. 4775 Vgl. ebd. 4776 Ebd. 4777 Vgl. ebd., S. 202. 4778 Ebd., S. 203. 4779 Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 114; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 4780 Vgl. Horchem 1986, S. 17.

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gewaltsame und/oder andere Repressalien als Reaktion auf den jeweiligen Austritt belastbar dokumentiert. Dass die von Kopp und Kram angedeute­ te konfliktfreie Trennung unter der Bedingung gemeinsamer Überlegun­ gen des Aussteigers und der Gruppe tatsächlich eine realistische Option darstellte, lässt sich der Biographie Gerd-Hinrich Schnepels entnehmen. Seine als gesichert einzustufende Abkehr von den „Revolutionären Zellen“ im Jahre 19774781 soll er im Anschluss an umfassende Diskussionen auf einem „Delegiertentreffen“ der Zirkel „ohne Probleme“4782 vollzogen ha­ ben. Obgleich die übrigen Teilnehmer dieser Zusammenkunft Schnepels Beweggrund für die Trennung – die Einsicht in die Erfolglosigkeit terroris­ tischer Anschläge – nicht zu teilen vermochten,4783 sei seine Entscheidung „voll akzeptiert“4784 und „respektiert“4785 worden. „Und dann ging ich eben nicht mehr hin.“4786 Das bewusst angestrebte Abgrenzen in Fragen der Struktur und der Binnenverhältnisse bildete auch in den Jahren nach der Gründung der „Revolutionären Zellen“ einen Bedingungsfaktor der Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zur „Bewegung 2. Juni“, die sich weiterhin auf persönliche Kommunikationskanäle stützen konnten.4787 Die Kritik der RZ an der Organisation der vor ihnen gegründeten linksterroristischen Zirkel traf indes deutlich stärker die RAF als die B2J. Während die „Re­ volutionären Zellen“ zur Klarstellung ihrer Beziehung zur „Bewegung 2. Juni“ lediglich 1975 in einem Interview eines ihrer Mitglieder den wohl gleichermaßen in organisatorischer wie strategischer Hinsicht beste­ henden Anspruch verkündeten, nicht das zu wollen, „was […] der 2. Juni [macht]“4788, nannten sie die von ihnen identifizierten Defizite der „Rote Armee Fraktion“ beim Namen. 1981 stellten sie in einer öffentlichen Aus­ einandersetzung mit dem „bewaffneten Kampf“ der RAF fest, diese ist „zu ‚militärisch‘ organisiert“4789. Ganz offensichtlich thematisierten sie da­ mit die an staatliche Hierarchien erinnernde „Überzentralisierung“4790 der

4781 4782 4783 4784 4785 4786 4787

Vgl. Schnepel/Wetzel 2001, S. 113-114; Siemens 2006, S. 219. Platen 2000. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Ebd. Schnepel/Wetzel 2001, S. 114. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Der Spiegel 1976a, S. 30; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 95-96; Schne­ pel/Villinger/Vogel 2000; Reinders/Fritzsch 2003, S. 66. 4788 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 96. 4789 Bundesministerium des Innern 1982, S. 123. 4790 Neidhardt 1982b, S. 464.

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8.1 Struktureller Aufbau

„Roten Armee Fraktion“. Noch deutlicher beschrieben sie intern die sich aus organisatorischen Erwägungen ergebende Trennung zwischen RAF und RZ: „Wir machen keine Armee, wir haben keine Kommandos; wir bilden Zellen aus kritischen und selbstkritischen Genossinnen und Genossen und wir denken, dass dies die Struktur ist, die uns langfristig voran­ bringen wird.“4791 Wie einem Kassiber Gudrun Ensslins aus dem Jahre 1977 zu entnehmen war, erkannten die Leitfiguren der „Roten Armee Fraktion“ ihrerseits die grundsätzlichen Differenzen zur Struktur einer „Stadtguerilla“ an.4792 Die aus diesem Kassiber ablesbare Position zum zellulären Aufbau der „Revolutionären Zellen“ ließ sich als logische Konsequenz aus der bisheri­ gen, durchaus ambivalenten Linie der RAF deuten. Wenngleich sie die Gliederung in Zellen nie expressis verbis in schriftlichen Ausarbeitungen gänzlich verworfen hatte, sollen grundlegende Bedenken gegen ein Zellen­ system bereits früh von Andreas Baader und Gudrun Ensslin artikuliert worden sein.4793 Dies erklärte denn auch die den Gründern zuzurechnen­ de stillschweigende Akzeptanz der faktischen Abkehr vom „Prinzip der ‚Zellenstruktur“4794, welche die Zweite Generation forcierte. Mit ihrem auf Anfang Januar 1977 datierten Zellenzirkular vollzog Gudrun Ensslin stellvertretend für die leitende Ebene der „politischen Gefangenen“ der RAF den Bruch mit der in Lateinamerika konzipierten und von den „Revolutionären Zellen“ weitgehend übernommenen Aufteilung in auto­ nome Zirkel. Ausdrücklich distanzierte sie sich von der „faule[n] struk­ tur“4795 der RZ. Nicht überraschen konnte die Haltung der „Bewegung 2. Juni“ gegen­ über dem organisatorischen Aufbau des Netzwerkes. Diese bildete einen scharfen Kontrast zur Reaktanz der „Roten Armee Fraktion“. Anders als die RAF bewahrte sich die B2J die schon in der Entstehungsphase beobachtbare affirmative Sicht auf eine zelluläre Strukturierung. Die de facto parallel zur „Roten Armee Fraktion“ zugelassene Distanzierung von diesem Organisationsmodell verfestigte sich nicht, im Gegenteil: Die „Be­ wegung 2. Juni“ begrüßte die strukturellen Besonderheiten der „Revolu­

4791 4792 4793 4794 4795

Revolutionäre Zellen, zit. n. Dietrich 2009, S. 151. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 304. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 594. Gerhard Müller, zit. n. ebd. Bakker Schut 1987, S. 306.

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tionären Zellen“. In Anlehnung an die RZ bemühte sich die B2J zudem abermals um ein Umsetzen des Zellenprinzips. Blickt man in Till Mey­ ers Biographie, so empfanden die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ die „Struktur […] der RZ [als] interessant“4796, da auch sie „[d]as Kon­ zept einzelner abgeschotteter Zellen verfolgten“4797. Ganz offensichtlich stellte dieses positive Verhältnis zur Organisation des Netzwerkes einen der wesentlichen Gründe für die Kontaktaufnahme der B2J Mitte der 1970er Jahre zu den „Revolutionären Zellen“ dar.4798 Nach Abschluss der Lorenz‑Entführung, welche in ihrer Dynamik den Grundsatz des zellulä­ ren Aufbaus ausgehebelt hatte, trat im Zuge eines von der B2J forcierten Neuausrichtens der Wille auf, „die Gruppe zu teilen.“4799 Laut Ronald Fritzsch war beabsichtigt, „[d]ass […] jeweils zwei Leute mit drei, vier neuen Leuten weitere Zellen aufbauen.“4800 Diese Schilderungen ähneln den Erinnerungen Gabriele Rollniks und Till Meyers. Rollnik zufolge erwog die „Bewegung 2. Juni“ im Frühjahr 1975 die Möglichkeit, „sich in kleine Gruppen auf[zu]teil[en]“4801. Die einzelnen Zirkel würden sodann „was eigenes mach[en]“4802 – vergleichbar den „Revolutionären Zellen, die damals gegründet wurden“4803. Wie aus Meyers Ausführungen hervor­ ging, sollten sich die neuen Zellen auf dem Gebiet Westdeutschlands verteilen.4804 Befürwortet wurde diese Idee vor allem von Rollnik und Meyer. Meyer griff im Zuge der Debatte Vorstellungen um ein mithilfe von Delegierten kommunizierendes Geflecht aus Gruppen auf, welche er – angeblich – schon vor der Aktion gegen Peter Lorenz ins Auge gefasst hatte.4805 Als Ausfluss dieser Überlegungen gesehen werden konnte ein im Jahre 1975 verfasstes „Internes Papier zur Organisationsfrage“, welches die im Umfeld der Westberliner Kerngruppe der B2J artikulierten Gedanken zu „bewaffneten, taktischen Einheiten […] [als] politisch-militärische Kerne der Volksarmee“4806 konkretisierte. Offenbar suchte das Traktat eine per­

4796 4797 4798 4799 4800 4801 4802 4803 4804 4805 4806

Meyer 2008, S. 316. Ebd. Vgl. ebd. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 47. Ebd. Ebd. Vgl. Meyer 2008, S. 56-57. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 46; Meyer 2008, S. 52, 56-57, 342. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 213.

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spektivische „Organisierung in Form von Zellen“4807 mit dem Ende 1973/ Anfang 1974 erstmals diskutierten „Konzept der Kreise“4808 zu verschmel­ zen. Unter dem Ziel, beständig „neue Gruppen zu initiieren, die […] weiterführende Aktionen selbstständig durchführen können“4809, hielt die Schrift Anforderungen an die einzelnen Zellen fest. Jede Zelle um­ fasse einen „‚Aktivistenkreis‘ von ca. 5 Mann, Zusammensetzung legal/il­ legal“4810. Diesem oblägen Aufgaben, welche zu große Risiken „für die legale Linke“4811 bergen würden – darunter „Beschaffungsaktionen“4812 zum Erhalt von „Geld, Waffen, Sprengstoff“4813. Zur Aufgabenverteilung hieß es: „Absolute Notwendigkeit ist, dass jeder von uns alles kann: Pape [Identitätsdokumente] machen, schießen (Knarren reparieren), Autos kna­ cken […] etc.“4814 Umschlossen werde der „Aktivistenkreis“ von einem „zweite[n] Kreis“4815 bestehend aus mehreren Zirkeln mit einer Stärke von jeweils vier bis acht Personen, deren Mitglieder ausschließlich in der Legalität agierten und im Wesentlichen unterstützende Funktionen übernähmen. In den herausragenden Gruppen des „zweiten Kreises“ soll­ te mindestens ein Angehöriger des „Aktivistenkreises“ vertreten sein.4816 Schließlich verwies das Papier auf einen „Dritte[n] Kreis“4817, blieb dabei aber vage. Augenscheinlich verbarg sich hinter diesem Kreis eine Ansamm­ lung von losen Sympathisanten, zu denen „notfalls auch Liberale“4818 ge­ rechnet werden könnten. Das ambitionierte Vorhaben der „Bewegung 2. Juni“, welches stellen­ weise an die Ende 1970 verwirklichten Pläne der „Roten Armee Fraktion“ zum Verlagern ihres Aktionsschwerpunktes in die Bundesrepublik und das daraus resultierende Untergliedern in Subgruppen mit festem regionalem Standort erinnerte, verlor in der Praxis rasch an Relevanz. Grund hierfür war der Zusammenbruch der „illegalen“ Ebene der Gruppe und ihres logistischen Unterbaus infolge diverser sicherheitsbehördlicher Zugriffe in

4807 4808 4809 4810 4811 4812 4813 4814 4815 4816 4817 4818

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41. Meyer 2008, S. 306. Bewegung 2. Juni, zit. n. Dietrich 2009, S. 64. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd., S. 65. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd., S. 64. Vgl. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd.

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den Jahren 1975 und 1976. Die hiermit einhergehende langfristige Schwä­ chung bewirkte eine Entwicklung, die sich in ähnlicher Form vor der Lorenz-Entführung ergeben hatte: das faktische Loslösen vom Gedanken einer in Zellen gegliederten „Bewegung“ zugunsten der Formation einer „kleine[n] Guerilla-Einheit“4819, welche sich fortwährend durch konspirati­ ves Verhalten (beispielsweise das Verändern des äußeren Erscheinungsbil­ des sowie das Entfernen von Spuren in genutzten Wohnungen)4820 der polizeilichen Fahndung zu entziehen versuchte. Ganz auf das Stärken ihrer finanziellen und personellen Ressourcen konzentriert, widmete die Ende 1976 in der Illegalität wiederbelebte „Bewegung 2. Juni“ ihre Kräfte überwiegend dem Entführen Walter Palmers‘ sowie dem Befreien Till Meyers.4821 Beide Aktionen brachten die B2J in organisatorischer Hinsicht abermals ungewollt in die Nähe der Zweiten Generation der RAF, die durch das Agieren in einem eingrenzbaren Nukleus auffiel. Unweigerlich konstituierten sie damit eine Hürde für eine engere Zusammenarbeit mit den „Revolutionären Zellen“, welche ihre Gründung dezidiert auf ein Ablehnen zentralistischer Präferenzen der bundesrepublikanischen „Stadt­ guerilla“ gestützt hatten. Nahezu unverändert blieben die Binnenstrukturen der „Bewegung 2. Ju­ ni“. Der von der B2J und ihrem Umfeld immer wieder kultivierte und von 1973 bis 1975 tatsächlich existierende soziodemographische Unterschied zu anderen Akteuren des „bewaffneten Kampfes“ – die Zusammensetzung aus „proletarischen Genossen“4822, die „nicht einmal [einen] hauptschul­ abschluss, geschweige denn studiert“4823 hatten – löste sich auf. In ge­ wissem Maße trat ein, was Ralf Reinders 1996 rückblickend feststellen sollte: „[D]ie Bewegung 2. Juni und […] die RAF setzten sich personell ähnlich wie die Gesellschaft zusammen“4824. Neben Inge Viett und Gabrie­ le Rollnik trugen gleichermaßen Aktivisten mit akademischem Vorlauf und solche mit außeruniversitären Lebensläufen den nach 1976 etablier­ ten Untergrund der „Bewegung 2. Juni“. Angelika Goder hatte Anglistik und Politikwissenschaft studiert, Juliane Plambeck sich um ein Soziologie­ studium beworben.4825 Thomas Gratt besuchte ebenfalls eine Hochschu­

4819 4820 4821 4822 4823 4824 4825

Viett 2007, S. 168. Ähnlich Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110. Vgl. Viett 2007, S. 181; Dietrich 2009, S. 119. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75, 81-82; Viett 2007, S. 169, 173-174. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 242. Ebd., S. 176. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Vgl. Wunschik 2006, S. 533.

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8.1 Struktureller Aufbau

le.4826 Gudrun Stürmer war „als Schwesternhelferin in einem Berliner Krankenhaus“4827 tätig, Klaus Viehmann hatte 1974 seine Abschlussprü­ fung zum Buchhändler durchlaufen.4828 Großen Wert legten die Mitglie­ der der B2J auf ein gleichberechtigtes Miteinander, das sich in den Jah­ ren zuvor in dem Anspruch eines ausgeglichenen „Mitsprache- und Ent­ scheidungsrecht[s]“4829 unabhängig vom „Erfahrungshintergrund“4830 und dem Willen zu einem „unabdingbaren Konsensprinzip“4831 gezeigt haben soll. Wie Inge Vietts Selbstzeugnis unterstrich, bestimmte dieses intern gegen Alternativentwürfe einer „straff organisierten Kaderorganisation“4832 verteidigte Paradigma den Umgang der nach 1976 in der „Bewegung 2. Juni“ integrierten Aktivisten. „Nirgendwo [wurde] ein Rollenvorsprung zuerkannt“4833, so Viett. Entlang das Strebens nach vergleichbarer „prakti­ sche[r] Erfahrung“4834 aller Mitglieder sei das „studentische Privileg, sich durch intellektuelle Vorteile Positionen zu verschaffen“4835, durchbrochen worden. Überdies hätten die weiblichen Angehörigen in ihrer Beziehung zu den männlichen Aktivisten auf eine „vehemente Entfaltung der Eigen­ ständigkeit“4836 gepocht. Zu diesen Eigenheiten der B2J und der darin erkennbaren Ablehnung herkömmlicher Normen der „bürgerlichen“ Ge­ sellschaft äußerte der „Blues“ 1978 mit der ihm eigenen Ironie: „Beim 2. Juni unterdrücken die Frauen die Männer und die Proleten die Studen­ ten, sowie umgekehrt.“4837 Anders als in der „Roten Armee Fraktion“ ergab sich auch in der Inter­ aktion zwischen den „Aktiven“ und den „politischen Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ keine Abhängigkeit, die eine Hierarchie nach sich zog. Beide Ebenen agierten eigenständig. Ersichtlich wurde dies spätestens anhand der Ende der 1970er Jahre auftretenden inhaltlichen Differenzen: Ohne Zustimmung der „Illegalen“ wandten sich Inhaftierte der B2J mit grundsätzlichen Erklärungen an die Öffentlichkeit.4838 Der sich anschlie­ 4826 4827 4828 4829 4830 4831 4832 4833 4834 4835 4836 4837 4838

Vgl. Dietrich 2009, S. 119. Diewald-Kerkmann 2009, S. 134. Vgl. ebd. Meyer 2008, S. 342. Ebd. Ebd. Ebd. Viett 2007, S. 176. Ebd. Ebd. Ebd. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 120. Vgl. Meyer 2008, S. 371.

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ßende Versuch der „Illegalen“, den „politischen Gefangenen“ das Recht öffentlicher Äußerungen „im Namen der Bewegung 2. Juni“4839 zu ent­ ziehen und die Deutungshoheit über die ideologische wie strategische Ausrichtung der Gruppe zu erlangen, scheiterte. Die Eigeninitiative der Inhaftierten signalisierte außerdem das unabgesprochene Bemühen weibli­ cher „Gefangener“ der B2J um einen Zusammenschluss mit der „Roten Armee Fraktion“, den die von diesem Vorhaben überrumpelten „Aktiven“ als Eingriff in ihre Entscheidungsfreiheit werteten.4840 Trotz der in der B2J vorherrschenden Abneigung gegen hierarchische Gefälle vermochte der Zirkel aufgrund praktischer Gegebenheiten nicht in Gänze, das Heraus­ bilden von Über-/Unterordnungen zu verhindern. Dies gilt insbesondere für die Spätphase der „Bewegung 2. Juni“. Als einzigem Mitglied aus der Gründungszeit der B2J kam Inge Viett in den Jahren 1979 und 1980 eine herausgehobene Position im personell angeschlagenen Untergrund der Gruppe zu: „Ich war die Älteste, Erfahrenste und das hatte eine zentrale Funktion in der Gruppe. Ich verkörperte […] die Kontinuität der Bewegung 2. Juni. Die Genossen erwarteten von mir alles, was sie nicht mehr oder noch nicht hatten. Orientierung, Erfahrung, Sicherheit, Überzeu­ gung.“4841 Die Verhaftungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sowie die ihnen folgenden Neuformierungen überstand außerdem die Diskussionskultur der „Bewegung 2. Juni“, welche sich bis 1975 durch wiederkehrende De­ batten aller „Illegalen“ um wegweisende Fragen des „bewaffneten Kamp­ fes“ ausgezeichnet4842 und insofern im Einklang mit den Ansprüchen der „Revolutionären Zellen“ einen Gegenpol zu den Binnenstrukturen der „Roten Armee Fraktion“ manifestiert hatte. Der wahrgenommene Wider­ spruch im Auftreten der RAF, die nach außen „Zärtlichkeit und Kollekti­ vität“4843 vertrat, ihre Realität aber konträr zu diesen Prinzipien bestritt, sollte nach wie vor vermieden werden. In welchem Maße die B2J bereit war, dem egalitären Mitbestimmen ihrer Kernmitglieder Raum zu gewäh­ ren, ließ sich aus der bereits vor 1976 nachweisbaren Bereitschaft4844 able­

4839 4840 4841 4842 4843 4844

Ebd. Vgl. ebd., S. 416. Viett 2007, S. 211. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 56. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 120. Vgl. Viett 2007, S. 149.

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sen, Grundsatzdiskussionen nicht in Abwesenheit anderer Mitstreiter zu führen.4845 Der Austausch unter den Mitgliedern erlaubte das Äußern und Abwägen widerstreitender Positionen, die mitunter in einvernehmlicher Trennung mündeten.4846 Einen Eindruck von diesem dem Anspruch nach diskursiven Miteinander bot Till Meyer, als er in seiner Autobiographie mit Blick auf den Aufenthalt 1978 in Bulgarien von „harten Diskussio­ nen“4847 sprach, in denen „Ideen und Pläne […] auf den Tisch [kamen], […] sorgfältig analysiert und verworfen [wurden].“4848 Dass selbst die Preisgabe innerer Zweifel am „bewaffneten Kampf“ ohne ein Sanktionie­ ren durch die Gruppe möglich war, lässt sich aus Inge Vietts Rückblick auf den Alltag der Illegalität Ende der 1970er Jahre schlussfolgern.4849 Derartige Erinnerungen vermögen indes nicht die Grenzen zu verde­ cken, denen der Drang nach libertären Grundzügen des linksterroristi­ schen Untergrunds sowie die ihm innewohnende Toleranz weiterhin innerhalb der „Bewegung 2. Juni“ unterworfen waren. Divergierende Positionen konnten gleichermaßen „verletzend[e] und boshaft[e]“4850 Er­ niedrigungen befördern.4851 Zu beobachten war dies im Zeitraum von 1978 bis 1980 zunehmend unter den „politischen Gefangenen“ der „Bewe­ gung 2. Juni“, welche sich ob ihrer unterschiedlichen Auffassungen unter anderem zum Fortsetzen einer terroristischen Praxis bisweilen mangelhaf­ ten Kampfgeist und den Rückzug in eine „kleinbürgerliche Existenz“4852 vorwarfen. Schließlich boten selbst Grußadressen auf Kassibern Anlass zu „hart[er] und erbarmungslos[er]“4853 Kritik, die sich „privatistische[n] Scheiß“4854 verbot. Engen Limitationen unterworfen blieb ferner die Ak­ zeptanz für Abkehrer vom „bewaffneten Kampf“, wobei der „Bewegung 2. Juni“ ein tatsächliches Distanzieren nicht per se als Rechtfertigung für physische Angriffe erschien. Ein Mitglied konnte „den bewaffneten Kampf aufgeben und eine andere Ebene suchen […], ohne dass ihn die Guerilla dafür verfolgt“4855, beteuerte die B2J in ihrer Agitation. „Menschlichkeit

4845 4846 4847 4848 4849 4850 4851 4852 4853 4854 4855

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 81; Meyer 2008, S. 386. Vgl. Viett 2007, S. 209. Meyer 2008, S. 391. Ebd., S. 392. Vgl. Viett 2007, S. 200-201. Meyer 2008, S. 369. Vgl. Wunschik 2006b, S. 557. Meyer 2008, S. 434. Ebd., S. 417. Ebd., S. 416. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 293.

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[werde nicht] an der Pforte zur Illegalität zurückgelassen“4856. Bewahrte sich der Aussteiger nach dem Verständnis der vormaligen Mitstreiter je­ doch nicht ein Mindestmaß an sozialrevolutionärer Integrität, das sich we­ sentlich durch eine bedingungslose Verschwiegenheit hinsichtlich der Zeit in der Illegalität qualifizierte, geriet er schnell zum Ziel propagandistischer Polemik und implizierter Drohungen gegen Leib und Leben. Tief blicken ließen die öffentlichen Stellungnahmen zu Hans-Joachim Klein und Reiner Hochstein. Klein, 1976 kurzzeitig Mitglied der „Bewe­ gung 2. Juni“, diffamierte die Gruppe nach seinem Ausstieg als „ein hinterhältiges, windiges Schwein, durch und durch käuflich, das seine eigene Großmutter verkaufen würde“4857. Unter Verweis auf die Ermor­ dung Ulrich Schmückers verdeutlichte die B2J, inhaltliche Disparitäten und eine damit einhergehende Abkehr „sind diskutierbar, auflösbar“4858. Hingegen stelle ein Verhalten, das „Genossen dem Feind aus[liefert] für […] [das] eigene Heil“4859, als „Verrat […] ein Verbrechen gegen die revolutionären Kräfte [dar]“4860. Es werde „als solches behandelt“4861, er­ gänzte die Gruppe lakonisch in einer Schlussbemerkung, die angesichts der vorherigen Bezugnahme auf den Fall Schmückers keinen Spielraum für Interpretationen zuließ. Die Aussagebereitschaft Reiner Hochsteins – einem Aktivisten aus dem Umfeld der Kerngruppe der „Bewegung 2. Ju­ ni“ – drängte Till Meyer zu einer Stellungnahme vor Gericht, in der er Hochsteins „Gewäsch“4862 als Folge eines „abhängig[en], korrupt[en] und großmäulig[en]“4863 Wesens brandmarkte. Obgleich solches ebenso in Verlautbarungen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ zu findendes Schmähen eine Gefahrenkulisse für Abkehrer schuf, blieb es in der Praxis ohne Konsequenzen. Nach dem Tod Schmückers trat weder innerhalb der B2J noch in ihrer unmittelbaren Peripherie ein Fall auf, in dem der Bruch mit der „Stadtguerilla“ mithilfe körperlicher Angriffe beantwortet wurde. Die „Rote Armee Fraktion“, zu der die „Bewegung 2. Juni“ ab 1976 bis zum Zeitpunkt der Auflösung im Jahre 1980 immer wieder persön­

4856 4857 4858 4859 4860 4861 4862 4863

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Band 2, S. 887. Ebd., S. 888.

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liche Kontakte aufbauen konnte,4864 erblickte weniger in den allenfalls auf theoretischer Ebene disparaten organisatorischen Strukturen der B2J als vielmehr im Binnengefüge einen Störfaktor auf dem Weg zu einer weiter­ führenden Kooperation. Ersichtlich wurde dies aus den wenigen verfügba­ ren Bruchstücken zu den Gesprächen, welche die letzten „Illegalen“ der B2J im Jahre 1980 mit der „Roten Armee Fraktion“ im Gedanken eines möglichen Zusammenschlusses führten. Anders als in der Bewertung der RAF zu den „Revolutionären Zellen“, die einseitig das Augenmerk auf das zelluläre Organisationsmodell als solches lenkte, konzentrierte sich die „Rote Armee Fraktion“ in ihrer Analyse zum Aufbau der „Bewegung 2. Ju­ ni“ auf den in bewusster Abgrenzung zur RAF formulierten Grundsatz des paritätischen Miteinanders. Nach der Lesart der „Roten Armee Fraktion“ war dieser nicht mit einem revolutionären Anspruch in Einklang zu brin­ gen. Er stelle einen Widerspruch zu den Notwendigkeiten des „bewaffne­ ten Kampfes“ dar.4865 In den Unterredungen, welche den Grundstein leg­ ten für den Eintritt der „Aktiven“ der B2J in die RAF, verlangte die „Rote Armee Fraktion“ denn auch „Kritik an […] [den] kollektiven Struktu­ ren“4866 mit ihren „familiär[en]“4867 Eigenschaften. Dies wiederum nährte das in der „Bewegung 2. Juni“ vorherrschende Bild der „ohne jede Eigen­ ständigkeit“4868 handelnden, von Weisungen geleiteten Mitglieder der RAF. 8.1.4 Verschmelzung zweier Modelle Die Ablehnung der inneren Gepflogenheiten der B2J formulierte die „Ro­ te Armee Fraktion“ in einer Phase, in der sich die eigene, „streng hierarchi­ sche“4869 Gruppenstruktur nach mehreren Erschütterungen rekonsolidiert hatte. 1977 und 1978 war es infolge der Selbstmorde in Stuttgart‑Stamm­ heim und dem mitunter vorübergehenden Festsetzen zentraler Figuren der Zweiten Generation in Jugoslawien und Frankreich zu einem Zusam­ menbruch der tradierten Rangordnung gekommen. Mit dem Tod der Gründer Baader und Ensslin, die als allgemein akzeptierte Identifikations­

4864 4865 4866 4867 4868 4869

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 68-74; Viett 2007, S. 172, 213; Meyer 2008, S. 390. Vgl. Viett 2007, S. 214. Henning Beer, zit. n. Viett 2007, S. 214. Henning Beer, zit. n. ebd. Ebd., S. 215. Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57.

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figuren an der Spitze der ungeschriebenen Über-/Unterordnungsverhält­ nisse im Zusammenhang aus „politischen Gefangenen“ und „Illegalen“ gestanden hatten, zerfiel die über Jahre gefestigte Abhängigkeit des Unter­ grunds von den Vorgaben aus den Haftanstalten. Vergeblich versuchten die in Haft sitzenden Aktivisten, auf die „Aktiven“ Einfluss zu nehmen und die Gewissheiten der „Führungsfunktion Stammheim“4870 beizubehal­ ten. Umgekehrt scheiterten die in der Illegalität agierenden Mitglieder mit ihrem Vorhaben, die Inhaftierten beispielsweise in Fragen ihrer Organisa­ tion zu lenken. Ähnlich der „Bewegung 2. Juni“ traten fortan „politische Gefangene“ und „Illegale“ weitgehend eigenständig in Erscheinung.4871 Während sich unter den Inhaftierten der RAF nicht erneut exponierte Führungspositionen herausbildeten – wie im Zeitraum von 1972 bis 1977 – und somit ein ausgeprägtes Gefälle in ihrer Beziehung ausblieb, sah sich der Untergrund mit einer einschneidenden personellen Fluktuation seiner führenden Angehörigen konfrontiert. Nach dem „Deutschen Herbst“ 1977 kam Brigitte Mohnhaupt weiterhin die Kernfunktion der Zweiten Gene­ ration zu, obgleich sie durch die Suizide in Stuttgart-Stammheim einen elementaren, legitimatorischen Pfeiler ihrer Leitung eingebüßt hatte.4872 Im Binnenverhältnis konstituierte Mohnhaupt gemeinsam mit anderen „Illegalen“ eine „kleinere Gruppe von Leuten, die […] ziemlich federfüh­ rend war“4873. Diese Konstellation veränderte sich schlagartig, als Mohn­ haupt und der ebenfalls als „entscheidend“4874 wahrgenommene Aktivist Stefan Wisniewski 1978 in Haft gerieten. Das auftretende Vakuum füllte unter anderen Christian Klar, der nun zwar für mehrere Monate „eine herausragende Stellung in der Gruppenhierarchie einnehmen“4875, aber nicht dieselben Führungsleistungen erbringen konnte, welche Mohnhaupt 1977 in Gestalt der Restrukturierung und Anleitung des Untergrunds hin zur „Offensive `77“ unter Beweis gestellt hatte.4876 Erst mit Mohnhaupts Freilassung in Jugoslawien und ihrem Wiederanschluss kehrten die „Illega­ len“ der „Rote Armee Fraktion“ zu den von ihr gewohnten Hierarchien zurück. Nach den Veränderungen und Unsicherheiten der Jahre 1977 und 1978 zeichnete sich das innere Gefüge der Zweiten Generation immer stärker 4870 4871 4872 4873 4874 4875 4876

Speitel 1980b, S. 34. Vgl. Kahl 1986, S. 132-133. Vgl. Wunschik 1997, S. 183-184. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 38. Silke Maier-Witt, zit. n. Wunschik 1997, S. 297. Ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 184, 300.

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8.1 Struktureller Aufbau

durch eine Aufteilung in mehrere Stufen aus, denen eine formelle inhalt­ liche Abgrenzung fehlte. Neben einer „Führungsequipe“4877 existierte in deutlichem Unterschied zur „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionä­ ren Zellen“ ein „Zirkel untergeordneter Mitglieder“4878 mit differenter Bedeutung für das Gruppenleben. Ehemalige Aktivisten beschrieben den inneren Zustand als den einer zwischen aktiven und passiven Mitgliedern „gespaltene[n] Gruppe“4879. Auf- und Abstiege innerhalb der Rangfolge der Gruppe richteten sich nach dem eigenen Prestige, das sich aus diversen Kriterien und ihrer Gewichtung durch die jeweiligen Mitstreiter ergab.4880 Höheres Ansehen gründete sich mitunter auf „Draufgängertum und Initia­ tive“4881, auf Zuverlässigkeit, sicherem Auftreten in Gefahrensituationen, einer angemessenen Sprachwahl oder auf der Dauer der Zugehörigkeit zur RAF.4882 Im Regelfall galt: Diejenigen, die im Sinne des „bewaffneten Kampfes“ besonders entschlossen in Erscheinung traten und rigoros han­ delten, gehörten zu den tonangebenden Mitgliedern. Diesen „Führungs­ kader[n]“4883 kam das unangefochtene Vorrecht richtungsweisender Dis­ kussionen und Entscheidungen zu,4884 von denen die übrigen Aktivisten „einfach ausgeschlossen“4885 wurden. „[D]ie mit den Hüten“4886, wie die „stillschweigend als Leader anerkannten“4887 Personen im Duktus der RAF betitelt wurden, verfügten – angeblich – über Wissen zu „alle[n] wichtigen Dinge[n], Planungen und so weiter“4888, darunter „sämtliche Kontakte […] [im] In- und Ausland“4889. Die nachgeordneten Angehöri­ gen „kriegt[en] bestimmte Informationen überhaupt nicht oder erst da­ nach.“4890 Resümierend äußerte Peter‑Jürgen Boock zu dieser Über‑/Unter­ ordnung, die sich kaum von den internen Gegebenheiten vor den Selbst­

4877 4878 4879 4880 4881 4882 4883 4884 4885 4886 4887 4888 4889 4890

Ebd., S. 358. Ebd. Susanne Albrecht, zit. n. ebd., S. 359. Vgl. ebd., S. 358. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd., S. 362. Vgl. Boock/Sternsdorff 1981, S. 114; Wunschik 1993, S. 186; Wunschik 1997, S. 358; Wunschik 2006a, S. 483. Boock/Sternsdorff 1981, S. 114; Der Spiegel 1990b, S. 63; Friedrich/Der Spiegel 1990, S. 57. Vgl. Wunschik 1997, S. 354-355. Boock/Sternsdorff 1981, S. 114. Ähnlich Sternebeck 1990, S. 64. Der Spiegel 1990b, S. 63. Rollnik 2007, S. 145. Boock/Sternsdorff 1981, S. 120. Sternebeck 1990, S. 64. Boock/Sternsdorff 1981, S. 114.

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morden im Herbst 1977 abhob: „Die Struktur war auf jeden Fall von oben nach unten – in ganz krassem Maße.“4891 Brigitte Mohnhaupts Dominanz innerhalb dieser Binnenstruktur, die bis zur Kontrolle über Liebesbeziehungen unter den „Illegalen“ reichte,4892 erklärte sich nicht aus einem Durchsetzen ihrer Stellung vermittels re­ pressiver Mittel. Sie habe „niemals jemanden bedroht“4893, erinnerte sich Susanne Albrecht. Christof Wackernagel schrieb, Mohnhaupt „machte kei­ nen Druck, sie überzeugte, sie steckte an.“4894 Viel spricht für ein Behaup­ ten der herausragenden Rolle auf Grundlage persönlicher Fähigkeiten, welches bereits Andreas Baader gekennzeichnet hatte. Offenbar verkörper­ te Mohnhaupt ein Höchstmaß an sozialrevolutionärer Integrität, das auf ihre Mitstreiter beeindruckend wirkte. Aus Sicht der anderen Mitglieder stellte sie ihre gesamte Person in den Dienst der „Roten Armee Fraktion“, die ihr „heilig“4895 gewesen sei. Alternativlos habe sie ihr Leben dem „bewaffneten Kampf“ verschrieben, „sie war RAF.“4896 Hinzu kam ihre langjährige Mitgliedschaft in der „Roten Armee Fraktion“, die bis in die Gründungszeit zurückreichte. Die Erfahrungen erlaubten ihr, das sprach­ liche Instrumentarium der führenden Köpfe aus der Ersten Generation abzurufen.4897 Ihrem Auftreten mangelte es nicht an Selbstsicherheit und Durchsetzungswillen. Sie artikulierte „die Dinge so deutlich […], dass Widerspruch kaum möglich war.“4898 Wo nötig, setzte sie ihre Position „gnadenlos und unerbittlich“4899 durch. Angeblich verstand es Mohnhaupt ebenfalls, entlang moralischer Linien Schuldgefühle zu wecken, die wie­ derum handlungsstiftend waren.4900 Trotz all dieser Eigenschaften war sie nicht von den Rechtfertigungszwängen befreit, welche die „Rote Ar­ mee Fraktion“ den Mitgliedern im Zuge der Dynamik des Zirkels auferleg­ te. So übte sie gleichermaßen weitreichende Selbstkritik, in der sie von „Verrat an der Gruppe“4901 sprach. Außerdem sah sie sich Ende der 1970er Jahre während eines Aufenthaltes im Südjemen – aufgrund des selbstzer­

4891 4892 4893 4894 4895 4896 4897 4898 4899 4900 4901

Ebd., S. 120. Vgl. Wunschik 1997, S. 367. Susanne Albrecht, zit. n. ebd., S. 368. Wackernagel 2017, S. 278. Susanne Albrecht, zit. n. Wunschik 1997, S. 368. Susanne Albrecht, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 370. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Peters 2008, S. 488. Wackernagel 2017, S. 278. Vgl. Wunschik 1997, S. 368. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd., S. 308.

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störerischen Zuschnitts einer von ihr forcierten Debatte – drastischen Vor­ würfen ausgesetzt.4902 Wie sehr sich die lange vor dem „Deutschen Herbst“ wahrnehmbare „Kollektivität als Anspruch nach außen“4903 selbst in der von mancher­ lei Umbruch und Schwächung geprägten Phase ab 1977 nicht mit dem Alltag des Zirkels deckte, signalisierte keinesfalls nur die Rangordnung. Auch der Umgang der Aktivisten untereinander widersprach dem von der Ersten Generation vorgegebenen Ideal „des radikalen andersseins, des ‚neuen menschen‘“4904, das die subjektiv angenommene Unterdrückung kapitalistischer Ordnung ablösen sollte.4905 Die Gruppe um Mohnhaupt bildete „keine Insel“4906, die ein von Zwängen und Druck befreites Zu­ sammenleben ermöglichte. Im Gegenteil: Laut Sigrid Sternebeck „waren die Beziehungen […] teilweise unfreier als früher in der Legalität.“4907 Solidarisches Agieren und „emotionale Beziehungen“4908 blieben nicht vollkommen ausgeschlossen, so Peter‑Jürgen Boock. Vielfach habe es aber an einem „Ansatz von Offenheit“4909, einer Atmosphäre gefehlt, in der „bestimmte Dinge gesagt werden konnten, ohne dass man gleich für sich Konsequenzen erwarten musste.“4910 Undenkbar gewesen sei, „ganz frei […] Zweifel zu formulieren. Das hätte zum Bruch führen können“4911. An­ gesichts der harschen Bedingungen der Illegalität4912 unterwarf die Gruppe die Interaktion ihrer Mitglieder unverändert einem Konformitätsdruck, der sich zum einen aus der Maxime: wer etwas „in Frage stellt, stellt […] die ganze Gruppe in Frage“4913, zum anderen aus der Erwartung eines uneingeschränkten Beteiligens an den Handlungen des Zirkels, einer „hundertprozentigen Einstellung“4914 zum „bewaffneten Kampf“ speiste.

4902 4903 4904 4905 4906 4907 4908 4909 4910 4911 4912 4913

Vgl. ebd., S. 310. Boock 1990, S. 209. Bakker Schut 1987, S. 27. Vgl. Becker 2007, S. 18. Boock 1990, S. 95. Sternebeck 1990, S. 64. Boock/Sternsdorff 1981, S. 120. Ebd. Ebd. Sternebeck 1990, S. 64. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 98. Werner Lotze, zit. n. Wunschik 1997, S. 346. Ähnlich Boock/Schlittenbau­ er/Britten 1994, S. 37. 4914 Werner Lotze, zit. n. Wunschik 2006a, S. 482.

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„[A]lles Persönliche [musste] dem untergeordnet werden und […] so lau­ fen und […] so lebbar sein.“4915 Nur selten zog eine oppositionelle Haltung oder eine unzureichende Leistung nicht negative Folgen für den Verantwortlichen nach sich – so beispielsweise 1979, als die Verhaftung Brigitte Mohnhaupts kurzzeitig ein Liberalisieren der Diskussionskultur bewirkte. Eine bereits vorbereitete Vergeltungsaktion gegen Polizeibeamte löste entschiedenen Widerspruch aus, welcher zum Abbruch der Tat führte.4916 Die üblicherweise auf Ab­ weichen vom „Gruppenzwang“4917 oder ein Versäumnis folgenden Sank­ tionen zeigten sich divers. Sie reichten von „Runtermache“4918 und wieder­ kehrenden Vorhalten über Ausgrenzung von einzelnen Aktivitäten bis hin zu Hausarrest, Entwaffnung und körperlichen Auseinandersetzungen.4919 Als zentral erwies sich nach wie vor ritualisierte „Kritik und Selbstkri­ tik“4920, in der man „in den kollektiven Würgegriff genommen“4921, „mit vereinter Kraft niedergeknüppelt“4922, „menschlich zur Null gemacht“4923 wurde. Vom Zirkel identifizierte Defizite, die auf Schwächen und Wün­ sche des Einzelnen zurückgingen, lud er zu „irgendwelche[n] ideologi­ schen Differenzen [auf]: Meinst du das mit der Revolution wirklich ernst?“4924 Dies wiederum gipfelte in „teilweise recht herben Seelenstrip­ tease-Geschichten.“4925 Einen Eindruck von derartigen Mechanismen der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ vermittelten die Schilderungen ehemaliger Aktivisten. Nach ihrem Übertritt zur RAF brachte sich Inge Viett immer weniger in die Abläufe im Untergrund ein. „[Z]unehmend schärfer [sei] […] darüber zu Rate gesessen“4926 worden. „Was willst du eigentlich, willst du überhaupt noch was?“4927, habe die an Viett adressierte Grundsatzfrage gelautet. Schließlich hätten andere Mitglieder ihr Auftreten „[n]ach jedem

4915 4916 4917 4918 4919 4920 4921 4922 4923 4924 4925 4926 4927

Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 36. Vgl. Wunschik 1997, S. 303-304, 346, 363. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 35. Boock 1990, S. 287. Vgl. Wunschik 1997, S. 301-302, 309; Wunschik 2006a, S. 482. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 36. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 351. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 37. Susanne Albrecht, zit. n. Wunschik 2006a, S. 482. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 36. Ebd. Viett 2007, S. 221. Ebd.

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kleinen gemeinsamen Akt“4928 kritisiert. „Das macht[e] mich lächerlich und unfrei.“4929 Silke Maier-Witt erinnerte sich an Überlegungen Anfang 1978, die auf einen verlustreichen Anschlag auf US-amerikanische Staats­ bürger zielten. Nachdem sie diese spontan als „Blutbad“4930 klassifiziert hatte, „versuchte jeder aus der Gruppe herauszubekommen, wie ich das meinte.“4931 Sie ereilte der Vorwurf, „alles in Frage [zu] stelle[n], was bisher an Aktionen gelaufen war.“4932 Gegen eine andere, mögliche Aktion der RAF positionierte sich Sigrid Sternebeck. „[D]iese meine Meinung hing mir noch lange Zeit an.“4933 Fortan habe es geheißen, sie sei sich für das damalige Vorhaben „zu fein“4934 gewesen. Eine andere Form des Bestrafens traf Sternebeck, als sie aus der Perspektive der Gruppe „in einer kritischen Situation ‚unklar‘“4935 auftrat. Der Zirkel habe ihr unterstellt, „abhauen“4936 zu wollen. Daher, so Sternebeck, „durfte [sie] […] über mehrere Wochen eine Wohnung nicht verlassen“4937. Peter-Jürgen Boock berichtete dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“: „Einmal ist mir der Kragen geplatzt. Da habe ich all die angestauten Bedenken und alles Mögliche einfach gesagt. Und das hatte sofort Folgen. […] Zum Beispiel die – was sonst nie vorkommt –, dass mir die Waffe weggenommen worden ist.“4938 Dass die bisweilen von einstigen Mitgliedern in Nachbarschaft zu „tota­ le[r] Unfreiheit“4939 gesehene Binnenstruktur einen langjährigen Zusam­ menhalt der „Roten Armee Fraktion“ zu gewährleisten vermochte, lässt sich mitunter auf ein in der Literatur verallgemeinernd beschriebenes Abhängigkeitsverhältnis zurückführen,4940 welches die RAF fundamental von den „Revolutionären Zellen“ unterschied. Das Fehlen von Kontakten außerhalb der „illegalen“ Gruppe infolge vehementen Abschottens sowie die zugleich bestehende Gefahr der Festnahme musste die „Rote Armee 4928 4929 4930 4931 4932 4933 4934 4935 4936 4937 4938 4939 4940

Ebd. Ebd., S. 222. Silke Maier-Witt, zit. n. Wunschik 1997, S. 295. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd., S. 296. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd. Sigrid Sternebeck, zit. n. ebd., S. 301. Sigrid Sternebeck, zit. n. ebd. Sternebeck 1990, S. 64. Ebd. Ebd. Boock/Sternsdorff 1981, S. 118. Viett 2007, S. 235. Süllwold 1981, S. 84.

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Fraktion“ als einziges sicheres Refugium erscheinen lassen. Da der Zirkel oftmals das vorherige „soziale Leben“4941 vollkommen ersetzte und das „Damoklesschwert des Lebenslänglich“4942 über den einzelnen Aktivisten schwebte, verlagerte sich „[d]ie ganze Existenz von einem […] erst mal in [die] […] Gruppe“4943. Aus ihr ausgestoßen zu werden, kam einer existentiellen Gefährdung gleich,4944 war – wie es in der Erinnerung von Zeitzeugen beschrieben wird – „gleichbedeutend mit Tod“4945. Mithilfe dieser Schreckensvision gelang es der „Roten Armee Fraktion“, Aktivisten „in einem Ausmaß durch belohnende oder bestrafende Reaktionen der Gruppe zu beeinflussen, das sonst nicht denkbar ist.“4946 Laut Boock be­ ging der Einzelne „schier unvorstellbare Sachen“4947 aufgrund der „Angst […], was ist mit einem selber [sic], wenn man sich gegen irgendetwas stellt“4948. Eindrücklich berichtete dies auch Susanne Albrecht: „Es wurde an mich sinngemäß die Forderung gestellt, entweder ich ändere mich, oder ich muss die Gruppe verlassen. […] Für mich war dies eine große Bedrohung, und zwar deshalb, weil […] ich als Ponto-Mörder gesucht wurde und es nach meinen damaligen Vorstell­ ungen keine Alternative für mich gab, als irgendwie an der Gruppe zu bleiben. […] Es hätte für mich bedeutet, in’s [sic] Nichts gestoßen zu werden.“4949 Um nicht „im Kröpfchen [zu] landen“4950, zogen sich Mitglieder in den „Opportunismus“4951 zurück. Ihre Meinung, geschweige denn ihre Ableh­ nung zulasten des Gruppenkonsens brachten sie bewusst nicht zur Spra­ che.4952 „[Z]u sagen: So geht es nicht!“4953, geriet zum Unvorstellbaren. „An dem Punkt bog es immer wieder regelmäßig ab.“4954 Wer nicht zum Kreis der besonders radikalen Aktivisten gehörte, „wich nicht mehr ab, 4941 4942 4943 4944 4945 4946 4947 4948 4949 4950 4951 4952 4953 4954

Nomen Nominandum 2007, S. 190. Speitel 1980c, S. 36. Ebd., S. 34. Vgl. Süllwold 1981, S. 84. Nomen Nominandum 2007, S. 190. Süllwold 1981, S. 84. Boock/Sternsdorff 1981, S. 115. Ebd. Susanne Albrecht, zit. n. Wunschik 1997, S. 349. Nomen Nominandum 2007, S. 190. Boock/Sternsdorff 1981, S. 115. Vgl. Wunschik 1997, S. 296, 347; Rollnik 2007, S. 146. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 37. Ebd.

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dachte nicht mehr selber [sic] nach“4955. Vergleichbare Prozesse traten laut Peter‑Jürgen Boock und Gabriele Rollnik in den 1980er Jahren unter den „politischen Gefangenen“ der RAF auf. Resultierend aus dem Dualismus der Inhaftierten, wonach ein Leben „[a]ußerhalb des kollektiven Gruppen­ zusammenhangs […] nur Vereinzelung, Verfall und Verrat“4956 bieten könne, klammerten sich Häftlinge an die Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ in den Haftanstalten. Zwangsläufig fassten sie den Entschluss, „[w]eder in Briefen noch in Gesprächen […] an [der] […] Zugehörigkeit zur Gruppe den geringsten Zweifel [zu] lassen.“4957 Von herrschenden Ansichten abweichende Positionen kamen „meist […] gar nicht auf“4958. Die „Gefangenen“, so Rollnik, überprüften gegenseitig, ob sie die Erwar­ tungen erfüllten, welche aus ihrer Sicht der in der Haft fortgesetzte „Wi­ derstand“ gegen Staat und Gesellschaft bedingte. Maßgeblich gewesen sei vor allem die Haltung, unter keinen Umständen „Terrain an den Gegner, an den Feind“4959 abzutreten. Habe man nicht den Maximen entsprochen, sei ein „merkwürdige[r] Mechanismus“4960 aufgetreten, der schonungslose Kritik an – vermeintlichen – Verfehlungen forcierte. Dieser Reflex der Gruppe habe Inhaftierte „in eine Ausweglosigkeit gedrängt“4961. Zu den Konsequenzen schrieb Rollnik: „Und diese Kritik zieht diese Person sich dann irgendwann einmal an. Und dann sagt sie: Ja, das stimmt wirklich. Ich kämpfe nicht mehr. Es gibt also Prozesse, wo Einzelne sich selbst fertigmachen“4962. Vor dem Hintergrund solcher Rückblicke den pauschalen Schluss auf einen während der 1980er Jahre existierenden monolithischen Block der „politischen Gefangenen“ zu ziehen, welcher Konformität lediglich repressiv durch Zwänge zu gewährleisten vermochte und ausnahmslos Positionen in linearen Diskussionen aller seiner Glieder bestimmte, stellt sich als unzulässig dar. Die räumliche Trennung durch Unterbringung in verschiedenen Justizvollzugsanstalten sowie das mit der Haft verbun­ dene weitreichende Einschränken der Kontaktmöglichkeiten erschwerte den Häftlingen die Absicht, einen eng verflochtenen Zirkel samt der 4955 4956 4957 4958 4959 4960 4961 4962

Rollnik 2007, S. 145. Boock 1988, S. 98. Ebd. Ebd., S. 96. Rollnik/Dubbe 2007, S. 92. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd.

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in den 1970er Jahren von den „politischen Gefangenen“ geschaffenen Kontrollmechanismen zu bilden.4963 Realistischer erscheint das Bild eines Verbundes aus Kleingruppen, in denen sich jeweils eine eigene Dynamik entwickeln konnte.4964 Gabriele Rollnik zufolge setzten sich unter den in Westberlin in Haft sitzenden weiblichen Aktivisten im Laufe der 1980er Jahre mitunter Gepflogenheiten durch, die den „zerfleischend[en]“4965 Ri­ tualen entgegenwirken und „mehr Luft zum Atmen lassen“4966 sollten. Dem vorausgegangen war die Erkenntnis, den Zusammenhang der Häft­ linge vermittels der Grundsätze von „Kritik und Selbstkritik“ zerstören zu können.4967 Laut Lutz Taufer beschritten schließlich die in Celle inhaftier­ ten „politischen Gefangenen“ früh den Weg eines kritischen Auseinander­ setzens mit wesentlichen Etappen in der Geschichte der „Roten Armee Fraktion“.4968 Sie vermieden, so Taufer, den „frommen Gang des Einheits­ kollektivs“4969. Unweigerlich zog diese Eigenständigkeit Konsequenzen nach sich: „Das Markenzeichen ‚die Celler‘ kam in Umlauf, bisweilen auch mit negativem Unterton, um sich vor der inhaltlichen Diskussion zu drücken: Mit denen stimmt etwas nicht.“4970 Wie schon die Erste Generation musste sich der Zirkel um Brigitte Mohnhaupt mit Aktivisten befassen, welche dem „bewaffneten Kampf“ den Rücken kehrten. Wenig überraschen konnte, dass die nach 1977 exis­ tente Zweite Generation ausstiegswillige Mitglieder „sofort zum ‚Schwein‘ deklassiert[e]“4971. Der freiwillig gewählte Weg aus der Illegalität stand für „Verrat [und] […] Unfähigkeit zum Bruch mit der alten Gesellschaft“4972, er zog die „Aberkennung des revolutionären Willens überhaupt“4973 nach sich. Entgegen der Aussagen Volker Speitels und Peter-Jürgen Boocks, die unmittelbar nach ihren Austritten Ende der 1970er beziehungsweise Anfang der 1980er Jahre öffentlich die Möglichkeit einer Ermordung von Abkehrern durch ehemalige Mistreiter der „Roten Armee Fraktion“ in

4963 4964 4965 4966 4967 4968 4969 4970 4971 4972 4973

Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 162, 185-186. Vgl. Boock 1988, S. 95. Rollnik/Dubbe 2007, S. 93. Ebd., S. 92. Vgl. ebd. Vgl. Taufer 2018, S. 117. Ebd., S. 138. Ebd. Süllwold 1981, S. 89. Rollnik 2007, S. 146. Viett 2007, S. 246.

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den Raum geworfen hatten,4974 ging die RAF unter Mohnhaupt in sol­ chen Fällen nicht zu physischen Repressalien über. Stattdessen setzte die Gruppe mit Blick auf Mitglieder, welche sich innerlich vom „bewaffneten Kampf“ distanziert hatten, jedoch nicht eigenständig das Loslösen vom Zirkel vollzogen, die 1974 behördlich sichergestellten, wohl aus der Feder Andreas Baaders stammenden Vorgaben um. Indem sie sukzessive insge­ samt zehn Aussteiger in das „sozialistische ausland“4975 entließ,4976 signali­ sierte sie die Bereitschaft, Austritte im Einklang mit dem Bedürfnis nach Eigenschutz unter spezifischen, kontrollierbaren Bedingungen zuzulassen. In dieser Hinsicht unterschied sich Mohnhaupts Zirkel nicht merklich von der „Bewegung 2. Juni“ in ihrer Spätphase oder den „Revolutionären Zellen“. Diese Gemeinsamkeit spielte in der jeweiligen Beziehung der Akteure indes keine Rolle – entscheidend blieben die Differenzen in orga­ nisatorischer Hinsicht. Peter-Jürgen Boocks Roman „Abgang“, welcher allzu deutlich seine Erlebnisse in der Zweiten Generation der RAF aufarbeitet und dabei immer wieder die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion bis zur Unkennt­ lichkeit verschwimmen lässt, heftete der „Roten Armee Fraktion“ den Versuch an, sich Ende der 1970er Jahre in mehrere Subgruppen aufzutei­ len, die „unabhängig und abgeschottet voneinander auf das jeweilige Ziel hinarbeiten.“4977 Die Kommunikation zwischen den „Kommandos“ sollte mithilfe von „Verbindungspersonen“4978 sichergestellt werden. Wer der Forschung zum bundesrepublikanischen Linksterrorismus folgt, wird eine tatsächliche Rückkehr der RAF zu Paradigmen der zellulären Organisati­ on erblicken können. 1978 entschied die „Rote Armee Fraktion“, sich in drei Zirkeln dem Befreien Stefan Wisniewskis und dem Entführen des US-amerikanischen Generals Alexander Haig anzunehmen. Der Kontakt zwischen den Gruppen verlief über die in ihnen eingesetzten Angehörigen der führenden Ebene der RAF. Aktivisten mit niedrigem Prestige hatten dementsprechend keinen Einblick in die Aktivitäten der jeweils anderen „Zellen“.4979 Anders als in Boocks Roman impliziert, ist diese Entwick­ lung allerdings nicht als Ausfluss einer organisatorischen Grundsatzent­ scheidung zu begreifen. Vielmehr war er den Gegebenheiten des Jahres

4974 4975 4976 4977 4978 4979

Vgl. Speitel 1980c, S. 35; Boock/Sternsdorff 1981, S. 117. Bundesministerium des Innern 1975, S. 88. Vgl. Peters 2008, S. 556-557, 563-567. Boock 1990, S. 109. Ebd., S. 189. Vgl. Wunschik 1997, S. 298-300, 357.

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1978 geschuldet, in dem die „Illegalen“ nach der Verhaftung Mohnhaupts und Wisniewskis um jeden Preis die zuvor festgelegte Planung zur Aktion gegen Haig aufrechterhalten und zugleich im Zuge einer Befreiungsakti­ on ein Stabilisieren des angeschlagenen Untergrunds bewirken wollten. Diese Schwerpunktsetzung machte eine Aufteilung unausweichlich, zumal die Aktionen Planungen in mehreren europäischen Ländern erforderten. Nachdem sich der Ausbruch Wisniewskis als nicht realisierbar offenbart hatte, fanden sich die „Aktiven“ denn auch rasch wieder in altbekannten Strukturen zusammen. An die Treffen der „RAF‑Angehörigen […] in grö­ ßerem Kreis“4980 im August und November 1978 sowie die Versammlung nahezu aller Aktivisten ab Ende 1978 in Aden schloss sich ein gemeinsa­ mes Beteiligen der Mitglieder an den Vorbereitungen zum Anschlag auf Haig an.4981 Mit diesem Bündeln der „Illegalen“ in einem Nukleus, das bis zum Zerschlagen der Zweiten Generation der RAF Ende 1982 anhalten sollte, widersetzte sich die „Rote Armee Fraktion“ abermals, so Karl‑Heinz Dell­ wo rückblickend, „[a]llen Erfahrungen aus Widerstandsstrukturen“4982. Unbeirrt der Bedeutungslosigkeit zugeschrieben wurde das von der „Be­ wegung 2. Juni“ angestrebte und von den „Revolutionären Zellen“ osten­ tativ umgesetzte Prinzip lateinamerikanischer Guerilleros, „unabhängige Kreise [zu] organisieren […], so dass, wenn einer ausfällt, der Rest intakt bleibt.“4983 Einher ging dies mit einer gleichermaßen in den Reihen der B2J und der RZ verurteilten Arbeitsteilung der Mitglieder während der auf Konspiration zugeschnittenen Praxis, welche sich unter anderem durch einen beschränkten Austausch zu Tatwissen und das Unkenntlichmachen von Spuren hervorhob.4984 So galt beispielsweise Peter-Jürgen Boock als „Spezialist in gewissen technischen Dingen“4985, während Silke Maier-Witt zur „Quartierbeschafferin der RAF“4986 avancierte. Brigitte Mohnhaupt oblag das Abfassen öffentlicher Verlautbarungen, „weil die das am besten konnte“4987. Als die Dritte Generation Mitte der 1980er Jahre in die Fußstapfen ihrer Vorgänger trat, erwuchsen für die Sicherheitsbehörden neue Heraus­ 4980 4981 4982 4983 4984 4985 4986 4987

Ebd., S. 301. Vgl. ebd., S. 305, 310, 313. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 173. Ebd. Vgl. Wunschik 1997, S. 311, 345, 359. Boock/Sternsdorff 1981, S. 117. Peters 2008, S. 501. Susanne Albrecht, zit. n. Wunschik 1997, S. 315.

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forderungen, die bis heute nachwirken. Die der „Roten Armee Fraktion“ eigenen Vorsichtsmaßnahmen erreichten ihren Höhepunkt. Beständig we­ niger Spuren hinterließen die „Illegalen“ an Tatorten. Festnahmen konn­ ten sie sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – entziehen.4988 Da sie überdies selbst nach ihrem Niedergang keine Aussteiger verzeichnete, die sich öffentlichkeitswirksam oder im Wege der Strafverfolgung jenseits ideologischer oder strategischer Betrachtungen zu ihrer Mitgliedschaft ein­ ließen,4989 fehlt es nach wie vor an gesicherten Einblicken in das Binnenge­ füge der Dritten Generation, welche über Einzelheiten hinausgehen. Auch bleibt im Dunklen, ob und inwiefern die „Rote Armee Fraktion“ während der 1980er und 1990er Jahre neben ihren vielfältigen Verbindungen zu Gleichgesinnten im Ausland die für die Erste und Zweite Generation nachweisbaren Kommunikationskanäle zu den „Revolutionären Zellen“ unterhielt. Laut der Erinnerungen aus den Reihen der RZ stellte diese Voraussetzung für eine weiterführende, positiv angelegte Beziehung kei­ nesfalls eine triviale Hürde dar: „Schwieriger war es […], die angestrebten Kontakte […] zu finden. Bei weitem nicht alle Organisationen, denen man sich verbunden fühlte, waren erreichbar. Zu vielen gab es keinen Zugang, andere bekundeten wenig Interesse, manche existierten viel zu kurz. Mit wem man also zusammenarbeitete, richtete sich letztlich […] danach, welche Kontak­ te überhaupt möglich waren.“4990 Zwar kann aufgrund der durch Besuchsrechte zugänglichen „politischen Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“, der Existenz eines legal agieren­ den RAF-Umfeldes und des verdeckten Verankerns der „Revolutionären Zellen“ in gewaltbefürwortenden linksextremistischen Szenen4991 ange­ nommen werden, dass jederzeit auf Basis von Kennverhältnissen ein Dia­ log zwischen den „Illegalen“ der Dritten Generation und den „Aktiven“ der RZ hätte aufgebaut werden können, wie er von der „Bewegung 2. Ju­ ni“ in ihrer Beziehung zu den „Revolutionären Zellen“ initiiert worden war: „Wir suchten Kontakt und bekamen ihn auch sehr schnell, weil wir wussten, in welcher linken Ecke wir suchen mussten.“4992 Vielsagend war in dieser Hinsicht der – vermeintliche – Versuch des RZ‑Mitglieds Tarek

4988 4989 4990 4991 4992

Vgl. Straßner 2003, S. 15; Straßner 2006, S. 492, 503-504; Peters 2008, S. 595. Vgl. Straßner 2003, S. 19-20. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Dietrich 2009, S. 153, 155-156. Meyer 2008, S. 316.

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Mousli, 1987 in einem persönlichen Gespräch mit Norbert Kröcher einen aus der Haft entlassenen Gründer der B2J „wieder für die Stadtguerilla zu begeistern“4993 und ihn zu einem Beitritt zu den „Revolutionären Zel­ len“ zu bewegen. Vergleichbare Kontaktaufnahmen zwischen der Dritten Generation der „Roten Armee Fraktion“ und den RZ sind aber nicht nach­ weisbar. Vorstellbar ist daher eine fehlende Verbindungslinie als Bedin­ gungsfaktor der von Distanz gekennzeichneten Beziehung beider Akteure. Wagt man eine Durchsicht organisatorischer Darstellungen zu der nach 1982 aktiven RAF, erscheint der grundlegende strukturelle Aufbau der Dritten Generation als gesichert. Zurückgehend auf ein Vernetzen der Zweiten Generation Anfang der 1980er Jahre mit „legale[n] Antiimperia­ listen“4994, welche in Gestalt von Auftragsarbeiten eine Über-/Unterord­ nung akzeptierten,4995 legten die „Illegalen“ offenbar den Grundstein für ein in der Literatur zunächst als kreisförmig, später als pyramidal ausge­ wiesenes Geflecht aus insgesamt vier Ebenen.4996 „Anschläge und weitere […] Aktionen“4997 waren in diesem Netzwerk „nicht mehr nur die Auf­ gabe der Führungskader“4998. Neben der klassischen Erscheinungsform der RAF – einem im Untergrund agierenden Kern, der sogenannten Kom­ mandoebene – erwuchsen die „Illegalen Militanten“, ein engeres Umfeld und eine weiter gefasste Peripherie aus unmittelbaren Unterstützern. Wäh­ rend „Kommandoebene“ und „Illegale Militante“ Anschläge mit differen­ ter Gewaltintensität vornahmen, konzentrierte sich das engere Umfeld nicht nur auf eigene, niedrigschwelligere Angriffe, sondern auch auf lo­ gistische Hilfestellung. Dem weiteren Umfeld kamen im Wesentlichen agitatorische Aufgaben zu – darunter die Herausgabe der Zeitung „Zusam­ men Kämpfen“.4999 Die Ebenen wurden durch „Nahtstellenpersonen“5000 verbunden und handelten, so die Außendarstellung der RAF, in „Selbst­ bestimmung“5001. Letztes deckte sich jedoch erkennbar nicht mit der Rea­ lität. Wenngleich angesichts der stets informellen, streckenweise sogar

4993 4994 4995 4996 4997 4998 4999 5000 5001

Kröcher/Papenfuß 2017, S. 391. Bundesministerium des Innern 1983, S. 105. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 125. Vgl. Horchem 1986, S. 10-11; Horchem 1988, S. 152-153; Straßner 2003, S. 83-86; Straßner 2006, S. 494‑495; Straßner 2008b, S. 214-216. Straßner 2003, S. 82. Ebd. Vgl. ebd., S. 84-85; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 174; Schweizer 2009, S. 49-50. Straßner 2003, S. 89. Vgl. auch Baron 2021, S. 195. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 15. Ähnlich ID-Verlag 1997, S. 353, 355.

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diffusen Über-/Unterordnungen innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ fragwürdig ist, den vier Ebenen der Dritten Generation eine „straff durch­ organisierte Hierarchie“5002 zu attestieren und somit das Bild militärischer Professionalität zu nähren, muss nicht zuletzt auf Basis der Verhaftung Eva Haules und mehrerer „Militanter“ 1986 in Rüsselsheim5003 von einer Rangordnung ausgegangen werden. Die der viergliedrigen Struktur inne­ wohnende „Willensbildung […] von oben nach unten“5004 gründete auf einem bereitwilligen Anerkennen der aus exzeptioneller Entschlossenheit resultierenden Präponderanz der „Illegalen“,5005 die sich in Anknüpfung an die legitimatorischen Techniken ihrer Vorgänger kritischer Stimmen erwehren konnten. Mit dem Vorhalt, „die Schärfe der gesamten Entwick­ lung [des Imperialismus] nicht [zu] sehen und […] persönlichen Konse­ quenzen aus[zu]weichen“ 5006, stellten sie pauschal das revolutionäre Motiv abweichender Mitstreiter in Frage. Die mitunter in mehreren Zirkeln mit differentem Aktionsschwerpunkt vermuteten5007 „Aktiven“ der „Kommandoebene“ verfügten augenschein­ lich ihrerseits über unterschiedliche Positionen im Binnengefüge, welche wohl auf persönliche Eigenschaften und ihre Anerkennung durch Gleich­ gesinnte zurückgingen. Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld – beide ebenso wie Eva Haule Studienabbrecher, die über Gefängnisbesuche per­ sönliche Kontakte zu „politischen Gefangenen“ der „Roten Armee Frakti­ on“ aufgebaut hatten5008 – zeichneten für den Wiederaufbau der 1982 zer­ schlagenen Strukturen der RAF im Untergrund verantwortlich. Zu Grams‘ Leistungen vermerkte Eva Haule: „Ohne ihn und seine Zähigkeit, mit der er alle praktischen Probleme angefasst und gelöst hat, wäre das nicht ge­ gangen.“5009 Eingedenk der konstitutiven Rolle für die Dritte Generation und der zuvor gepflegten Beziehungen zu Häftlingen der „Roten Armee Fraktion“ vermag die Grams und Hogefeld zugeschriebene zentrale Bedeu­ tung innerhalb des ab Mitte der 1980er Jahre bestehenden Untergrunds nicht zu überraschen.5010 Dass diese herausgehobene Stellung ähnlich wie in der Zweiten Generation unter Brigitte Mohnhaupt aus einer Arbeitstei­

5002 5003 5004 5005 5006 5007 5008 5009 5010

Straßner 2006, S. 494. Vgl. Peters 2008, S. 622. Straßner 2008b, S. 217. Vgl. Hogefeld 1996, S. 48. Ebd., S. 100. Vgl. Straßner 2003, S. 90-91. Vgl. ebd., S. 96, 99, 101; Bönisch/Sontheimer 2007, S. 66; Peters 2008, S. 689. Eva Haule, zit. n. Bönisch/Sontheimer 2007, S. 66. Vgl. Straßner 2003, S. 96; Bönisch/Sontheimer 2007, S. 68.

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lung und einem damit einhergehenden Ungleichgewicht an Erfahrungen erwuchs, kann nicht unterstellt werden. In einer ihrer seltenen Rückblicke zum Alltag der Illegalität zeichnete Birgit Hogefeld ein Bild, welches der Neigung zum Spezialisieren widersprach: „In der Illegalität kommen auf jede/n Unmengen praktischer, politi­ scher und organisatorischer Fragen zu, die alle beantwortet werden müssen – ‚Trott‘ ist in diesem Leben eher selten, und jede/r muss sich unzählige Fähigkeiten verschiedenster Art aneignen.“5011 Nach Einschätzung zeitgenössischer Beobachter sollen die Stimmen der „Illegalen“ in „langwierigen Diskussionen“5012 gleich gewertet worden sein, wobei offenblieb, auf welche Erkenntnisse sich diese Bestätigung der gleichermaßen von der Dritten Generation propagierten „Kollektivi­ tät“5013 stützte. Hogefeld schrieb nach ihrer Verhaftung im Jahre 1993, Alleingänge abseits „eines gemeinsamen Diskussionsprozesses“5014 waren im Untergrund undenkbar. Im Gegensatz zu den „politischen Gefange­ nen“ hätten sich die „Aktiven“ auf eine Kultur „kontroverse[r] Auseinan­ dersetzungen“5015 eingelassen, die „oft nicht einfach“5016 gewesen sei. Die Mitglieder der „Kommandoebene“, so Hogefeld, sprachen „immer wieder miteinander […], um zu einem gemeinsamen Ergebnis zu finden“5017. Zugleich räumte sie die enge Umgrenzung dieses Diskurses ein, indem sie auf einen fehlenden „Raum für Fragen, Unsicherheiten und Zweifel von GenossInnen“5018 verwies. Vor allem „das Aufwerfen unbequemer Fra­ gen [sei als] unerwünscht“5019 verstanden worden. Beispielhaft angeführt werden kann in diesem Zusammenhang das von Hogefeld skizzierte Kli­ ma innerhalb der „Kommandoebene“ nach dem Mord 1985 an Edward Pimental. Obzwar „[n]achträglich […] alle zumindest spürt[en], […] dass mit dieser Aktion Grenzen überschritten worden waren und revolutionäre Politik […] jeden Bezugspunkt hier verloren hat“5020, hätten die „Illega­ len“ in ihrem Austausch reflexartig eine „Legitimation in einem völlig

5011 5012 5013 5014 5015 5016 5017 5018 5019 5020

Hogefeld 1996, S. 49. Horchem 1988, S. 153. ID-Verlag 1997, S. 354. Hogefeld 1996, S. 31. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 113.

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8.1 Struktureller Aufbau

abstrakten Begriffsgebilde“5021 sichergestellt und „alles [insbesondere indi­ viduelle Widersprüche] unter den Teppich gekehrt“5022. Geschuldet gewe­ sen sei die „massive Abwehr“5023 der Befürchtung, „eine ganze Lawine von Fragen“5024 auszulösen, „die weit über diese konkrete Aktion hinaus­ gegangen wäre[n].“5025 Sicherlich beförderten solche Gesetzlichkeiten eine von „Kritik und Selbstkritik“ geprägte Gruppendynamik, wie sie bereits in der Ersten und Zweiten Generation aufgetreten waren. Ob die Dritte Ge­ neration ebenfalls mit ausstiegswilligen Mitgliedern konfrontiert wurde, welche Sicht sie zum Phänomen der Abkehr einnahm und mit welchen Mitteln sie diesem in der Praxis begegnete, lässt sich hingegen mangels entsprechender Indizien nicht abschätzen. Trotz mancher Kontinuität kam das Organisationsmodell der ab Mitte der 1980er Jahre agierenden „Roten Armee Fraktion“ einer Zäsur gleich. Es brach mit der für die RAF typischen Fixation auf das Bündeln sozial­ revolutionärer Kräfte in einem einzelnen Zirkel. Erstmals nach der Akti­ onsphase der Ersten Generation entwickelte sich unter dem Signet der „Roten Armee Fraktion“ gezielt eine langfristige strukturelle Separation in mehrere Gruppen, welche netzwerkartig miteinander in Verbindung standen. Dieser Prozess erinnerte nicht nur hinsichtlich der liberaleren Haltung zur Integration legaler RAF‑Mitglieder an „RZ-Muster“5026. Auch der aus ihm hervorgehende zelluläre Aufbau schuf zwangsläufig eine deut­ liche Parallele zu den „Revolutionären Zellen“. Anders als in klassischer la­ teinamerikanischer Theorie zur „Stadtguerilla“ gefordert und von den RZ umgesetzt, kombinierte die „Rote Armee Fraktion“ das Modell eines Netz­ werkes mit einer Rangordnung und Arbeitsteilung. Letztes widersprach den Grundgedanken des aus der Feder Wilfried Böses stammenden orga­ nisatorischen Alternativentwurfs, welcher den Fokus auf größtmögliche Autonomie und Autarkie gelenkt hatte. Das dennoch beachtliche Sich-An­ nähern der Dritten Generation der RAF an die Paradigmen der „Revolu­ tionären Zellen“ blieb ohne Folgen für ihre Beziehung. Weder griffen die RZ diese anerkennend auf noch äußerten sie sich kritisch zu den verbleibenden Differenzen. Überhaupt spielten organisatorische Aspekte im Verhältnis beider Akteure keine nennenswerte Rolle. Entsprechende

5021 5022 5023 5024 5025 5026

Ebd., S. 114. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Peters 2008, S. 615. Ähnlich Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 174.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

Äußerungen, wie sie bis Anfang der 1980er Jahre üblich waren, fehlen in den Primärquellen zu den nach 1985 existierenden Strukturen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“. Die RZ durchliefen in diesem Zeitraum ebenfalls eine Anpassung der Organisation, die ihrerseits zu dem graduellen Angleichen struktureller Merkmale beitrug. Das nach 1976 verzeichnete lose Verknüpfen der Zel­ len, welches noch Anfang 1985 zu einer widersprüchlichen öffentlichen Positionierung zum „bewaffneten Kampf“ der „Roten Armee Fraktion“ geführt hatte, wich im Anschluss an „eine Phase von Diskussionen“5027 der verstärkten Koordination zugunsten einer gemeinsamen Schlagrich­ tung in der „F-Kampagne“. Eine derartige Straffung ähnelte im Grundsatz dem Willen der Dritten Generation, das einheitliche, abgestimmte Vor­ gehen ihrer vier Ebenen zu gewährleisten. Zum zentralen Medium des engeren Schulterschlusses gerieten die in den 1970er Jahren etablierten Delegiertenversammlungen, welche inzwischen innerhalb des Netzwerkes die Bezeichnung „Miez“ – später „Asamblea“ – trugen. Initiiert wurden diese Treffen mithilfe getarnter Anzeigen im Periodikum „Die Tageszei­ tung“.5028 Abweichend von der in der Vergangenheit sichergestellten rigi­ den Abschottung wohnten den Zusammenkünften „nicht mehr nur […] Einzelne“5029 aus den Zirkeln des Netzwerkes bei. Den Zellen soll das Recht zugekommen sein, „mehrere TeilnehmerInnen zu[zu]lassen“5030. Dieses Aufweichen der strukturellen Trennung setzte sich nach den poli­ zeilichen Maßnahmen des Jahres 1987 fort. So verabredeten sich jeweils mehrere Mitglieder der Westberliner Gruppen 1989 zu einem „gemeinsa­ men ‚Waldspaziergang‘“5031. Wie Rudolf Schindler 2002 vor Gericht be­ tonte, behielten die „Revolutionären Zellen“ hingegen ein anderes, für das Netzwerk prägendes „Essential“5032 bei: die als Korrektur zur „Roten Ar­ mee Fraktion“ aufgebauten „egalitäre[n] Strukturen in autonomen Grup­ pen“5033. Während die Grundsätze des „bewaffneten Kampfes“ der RZ, die „Leitlinien für das weitere Vorgehen“5034 einem verbindlichen Diskurs unterworfen wurden, blieben „konkrete Anschlagsziele“5035 der Entschei­

5027 5028 5029 5030 5031 5032 5033 5034 5035

Horchem 1986, S. 17. Vgl. Dietrich 2009, S. 156-157. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Dietrich 2009, S. 155. Schindler 2002. Ebd. Dietrich 2009, S. 155. Kram 2009.

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8.1 Struktureller Aufbau

dungshoheit der Zirkel vorbehalten. Nach Abschluss der Versammlungen machten die Aktivisten die Ergebnisse in ihren Gruppen bekannt, wo sie abermals einen Meinungsaustausch durchlaufen konnten.5036 Gleichermaßen beständig zeigten sich die internen Sicherheitsvorkeh­ rungen der Zellen, die den Sicherheitsbehörden – ähnlich wie die Vor­ sichtsmaßnahmen der Dritten Generation der RAF – das Aufklären der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ regelmäßig erschwerten. Die zu­ mindest in Westberlin aus akademischen und außeruniversitären Laufbah­ nen stammenden Aktivisten traten unter einem Decknamen auf, welcher anlassbezogen verändert wurde. Nicht in jedem Fall erfuhren sie die tat­ sächliche Identität der Mitstreiter. Zudem galt die Regel des „need to know“: Wissen zum Ablauf von Anschlägen und zur Tatbeteiligung muss­ te verschwiegen werden5037 – fürderhin gab es wohl „keine Gespräche darüber, wer da überhaupt mit dir zusammensitzt in dieser gesamten RZ‑Community, und wie die oder der tickt.“5038 Besondere Vorsicht soll das Netzwerk im Umgang mit personellen Neuzugängen gezeigt haben – deren Aufnahme erforderte die Empfehlung einer den RZ‑Mitgliedern vertrauenswürdig erscheinenden Person, darüber hinaus wurden sie über­ prüft.5039 Neuen Aktivisten wäre ein „tiefe[r] Einblick in die Strukturen der Revolutionären Zellen“5040 zunächst verwehrt worden: Einen Zugang sollen sie erst nach dem Beteiligen an einer Aktion erhalten haben.5041 Wenngleich dieser Mechanismus ein Ungleichgewicht in der Verfügbar­ keit von Kenntnissen begünstigte, traten während der 1980er Jahre Über‑/ Unterordnungsverhältnisse zwischen Mitgliedern einer Zelle – angeblich – nicht ein. Laut Schindler sahen sich die RZ keinesfalls nur nach außen dem „Aufbau egalitärer Strukturen“5042 verpflichtet. „Im Unterschied zu anderen Organisationen“5043 habe sich dieser Anspruch gleichfalls im Bin­ nengefüge durchgesetzt. Daher „hätte sich […] niemand in den RZ“5044

5036 Dietrich 2009, S. 157. 5037 Vgl. Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004; Dietrich 2009, S. 152, 154-156. 5038 Unsichtbare 2022, S. 42. 5039 Vgl. ebd., S. 161-162. 5040 Dietrich 2009, S. 156. 5041 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 163. 5042 Schindler 2002. 5043 Ebd. 5044 Ebd.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

das Zuweisen einer Position, eines Aufgabenschwerpunktes oder eines Auftrags „gefallen lassen“5045. Dieser Position Schindlers widersprach die Justiz im Gerichtsverfahren gegen ehemalige Mitglieder der Westberliner „Revolutionären Zellen“ – angesichts der Erkenntnisse aus der Gruppendynamik der Ersten und Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ sowie der „Bewegung 2. Juni“ ist dies als folgerichtig zu werten. In den Hintergrund geriet das auf theoretischer Ebene vertretene gleichberechtigte Miteinander aufgrund der „besondere[n] Autorität“5046 langjähriger Mitglieder der RZ, welche als „Platzhirsche“5047 einen „bestimmenden Einfluss“5048 in der Entschei­ dungsfindung ausübten und Aktionen gegen den Widerstand ihrer Mit­ streiter durchsetzten. Allen voran die „Wälder“5049 – in der Illegalität lebende „Altmitglieder“5050 des Netzwerkes – waren tonangebend. Ihre Dominanz speiste sich zum einen aus Ansehen und Erfahrung, welche die Dauer ihrer Mitgliedschaft in den „Revolutionären Zellen“ nach sich zog. Zum anderen stützte sie sich auf persönliche Fähigkeiten.5051 Belegen lässt sich dies anhand der Biographie Sabine Eckles, die gemeinsam mit Ru­ dolf Schindler in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre „eine führende Stel­ lung“5052 in einem Zirkel der RZ in Westberlin ausfüllte. Ihre herausgeho­ bene Position ging zurück auf ihr Wesen als „intelligente, redegewandte und diskutierfreudige Theoretikerin“5053. Solche Leitfiguren der RZ konn­ ten sich allerdings nicht auf eine Unangreifbarkeit verlassen. Ihr Handeln löste bisweilen entschiedene Ablehnung aus, die sie zum Rechtfertigen zwang.5054 Diese Erkenntnisse der bundesrepublikanischen Justiz stimmen mit Aussagen vormaliger RZ-Mitglieder in einem Interview überein, das

5045 Ebd. 5046 Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammer­ gerichts Berlin 2004. 5047 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 5048 Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammer­ gerichts Berlin 2004. 5049 Dietrich 2009, S. 156. 5050 Ebd. 5051 Vgl. Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B sowie Unterkapitel VI des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5052 Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammer­ gerichts Berlin 2004. 5053 Ebd. 5054 Vgl. Abschnitt 5 in Unterkapitel VII des Kapitels C in ebd.

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8.1 Struktureller Aufbau

im Jahre 2022 veröffentlicht wurde. Trotz einzelner Gegenmaßnahmen5055 gab es „informelle Strukturen, durch die bestimmte Genossinnen und Genos­ sen mehr Einfluss hatten als andere. Zum Beispiel diejenigen, die mehr oder bessere [sic] beispielsweise auch internationale Kontakte [sic] hatten, oder weil sie mehr wussten. Also meist diejenigen, die den Überblick über den Tellerrand ihrer eigenen Zelle hinaus hatten. Und andere in ihrem Umfeld hatten diese Beziehungen eben nicht, hatten keine umfassenden Informationen. Vieles wurde dann […] unter Sicherheitsaspekten nicht erzählt, sodass auf diese Weise eine hierarchische Struktur entstehen konnte, die sich bis zum letzten Tag durchzog.“5056 Und weiter: „[J]e nachdem [sic] wann wir eingestiegen sind, wurden wir mit einem Geflecht von Machtstrukturen zwischen einzelnen Altkadern konfron­ tiert. […] Und die waren nur schwer zu knacken, die waren einfach da. Wir mussten damit klarkommen. Da sind Sachen gelaufen, die lassen sich nicht so einfach wiedergeben, da gab es Anmaßungen von Macht, die sehr prägnant und prägend gewesen sind.“5057 Neben „informellen Hierarchien“5058 akzeptierten die „Revolutionären Zellen“ in der Phase von 1985 bis 1989 Arbeitsteilungen. Entgegen ihrer zuvor veröffentlichten anderslautenden Propaganda spezialisierten sich Aktivisten auf das Abfassen von Tatbekenntnissen, den Umgang mit Schusswaffen, Sprengvorrichtungen und Zündern, auf Passfälschungen und/oder Funküberwachung.5059 Entlang ihrer Tätigkeiten erlangten Mit­ glieder einen festgefügten Ruf unter anderem als „Vordenker“5060 oder „Mann für das Praktische“5061. Gleichermaßen nur bedingt mit dem eige­ nen Alltag deckte sich der vor allem Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre in der Außendarstellung vehement bekundete Wille, eine libertäre Diskussionskultur zuzulassen. Zwar konnte im Zuge der „F-Kampagne“ 5055 5056 5057 5058 5059 5060 5061

Vgl. Unsichtbare 2022, S. 46-47. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 37. Vgl. Dietrich 2009, S. 155, 166. Ebd., S. 155. Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammer­ gerichts Berlin 2004.

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scharfer Widerspruch geäußert werden. Dieser gipfelte aber mitunter in Abwehrstrategien, wie sie für das enge Korsett interner Diskurse des bun­ desrepublikanischen Linksterrorismus typisch waren. Als beispielsweise Tarek Mousli den geplanten Anschlag auf Günter Korbmacher ob der darin erkennbaren Gewaltintensität kritisierte, kanzelten Sabine Eckle und Rudolf Schindler ihn „mit Bemerkungen wie ‚moralischer Schwächling‘ und ‚Weichei‘“5062 ab. Weiterhin nicht nennenswerten Hürden ausgesetzt war indes der Ausstieg aus den Strukturen des Netzwerkes – dieser wurde sogar im Zuge konfliktreicher Debatten gezielt ins Spiel gebracht, um die Auseinandersetzung aufzulösen.5063 So brach Mousli Anfang der 1990er Jahre ohne sichtliches Abwerten seiner Person oder andere Konsequenzen aus den „Revolutionären Zellen“ aus.5064 Öffentlich Stellung bezogen die RZ in diesem Zeitraum zur Sanktionierung als „Verräter“ gebrandmarkter Mitstreiter anlässlich der Ermordung Gerhard Albartus‘, der ebenso wie Ulrich Schmücker einer selbstauferlegten Justiz gleichgesinnter Akteure zum Opfer gefallen war. Explizit wandten sie sich gegen „Gewalt in den eigenen Reihen“5065, stelle diese doch den „bewaffneten Kampf“ auf eine Stufe mit der als Feindbild verstandenen kapitalistischen Staats- und Ge­ sellschaftsordnung.5066 Die ab 1985 beobachtbare Neigung der RZ, vermittels der Delegierten­ versammlungen alle Mitglieder auf eine gemeinsame Linie zu verpflichten, verlor bereits Ende der 1980er Jahre entlang der Frage einer „PatriarchatsDiskussion“5067 an Bedeutung.5068 Rasch zerfiel eine Koordination, welche nie die Abhängigkeitsverhältnisse innerhalb der Dritten Generation der „Roten Armee Fraktion“ erreicht hatte. Letztes zeigte sich insbesondere im Abspalten der „Roten Zora“, deren differente Perspektiven die RZ nicht zu ihrem Vorteil kanalisieren konnten. An die Stelle des zunehmen­ den strukturellen Vernetzens durch Stärkung eines außerhalb der Zellen liegenden Rates trat die Rückkehr zu einem losen Zusammenhalt aus mehreren Gruppen, die sich – wie in der Periode nach der 1976 in Enteb­ be gescheiterten Geiselnahme – grundsätzlich zum Netzwerk bekannten,

5062 Dietrich 2009, S. 171. 5063 Vgl. Abschnitt 2 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 43. 5064 Vgl. Dietrich 2009, S. 171. 5065 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 33. 5066 Vgl. ebd., S. 32. 5067 Ebd., S. 39. 5068 Vgl. Abschnitt 5 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004.

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8.1 Struktureller Aufbau

indes unterschiedliche Pfade beschritten. Was frappiert: Eine derartige „Li­ nearisierung der eigenen Organisation“5069 setzte sich ebenfalls im Zuge der Neubestimmungen durch, welche die „Rote Armee Fraktion“ Anfang der 1990er Jahre forcierte. Mit der Rücknahme des avantgardistischen Selbstverständnisses und dem nachhaltigen Bekenntnis zu einer „gemein­ same[n], tiefgreifende[n] und grundlegende[n] Diskussion“5070, einer „an­ dere[n] Diskussionskultur“5071 zerstob das für die RAF über Jahrzehnte hinweg konstitutive „Top‑down“5072 des Binnengefüges. Fortan sollte in Außenkontakten sowie innerhalb der Gruppengrenzen der Trias „Guerilla, Militante, Widerstand“5073 das Paradigma gelten, „über alles zu reden, was einem wichtig erscheint“5074, ohne dabei „an jedem Punkt eine ei­ gene glanzvolle Position ein[zu]nehmen“5075 und kritische Äußerungen sogleich als Angriff auf die eigene Position zu begreifen.5076 Letztes sei allenfalls Ausdruck einer „kleinbürgerlichen Haltung“5077. Das von der Dritten Generation geschaffene Geflecht aus legalen und „illegalen“ Grup­ pen verlor damit ihre letzte wesentliche Differenz zur Organisation der „Revolutionären Zellen“. Sowohl die „Rote Armee Fraktion“ als auch das Gefüge der RZ kamen in den 1990er Jahren einem „klandestine[n] Netzwerk ohne zentrale Steuerung“5078 gleich. Wider Erwarten schlug sich diese bemerkenswerte Gemeinsamkeit nicht in ihrer Beziehung nieder – zu sehr beanspruchten die RAF und die „Revolutionären Zellen“ offen­ bar die Nachteile dezentraler Strukturen, die im Wege ihrer jeweiligen Suche nach einer strategischen Perspektive zutage traten. Der Mangel an einer auf Deutungshoheit ruhenden Instanz gipfelte im diskursiven Stillstand, welcher der Öffentlichkeit letztmalig jene Abwehrinstrumente vor Augen führte, die der bundesrepublikanische Linksterrorismus immer wieder zur Neutralisierung interner Kritik beansprucht hatte. Während die Ebenen der „Roten Armee Fraktion“ durch das Aberkennen eines revolu­

5069 5070 5071 5072 5073 5074 5075 5076 5077 5078

Straßner 2003, S. 321. ID-Verlag 1997, S. 418. Hogefeld 1996, S. 47. Taufer 2018, S. 158. ID-Verlag 1997, S. 423. Ebd., S. 420. Ebd. Vgl. ebd., S. 432. Ebd., S. 421. Pfahl-Traughber 2014a, S. 174.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

tionären Impetus,5079 den Vorwurf des „Populismus“5080 und das Betonen „kleinbürgerliche[r] Konkurrenzscheiße“5081 dazu übergingen, „nur noch gegenseitig Gift [zu] verspritzen“5082, unterstellten die RZ einander Groß­ mäuligkeit, fatalistisches Gehabe,5083 „politische Unreife“5084 und „völliges Unverständnis“5085. 8.2 Gruppen- und Aktionsstärke 8.2.1 Helfen und helfen lassen Mehr noch als die Frage der Organisation sollte sich dem bundesrepubli­ kanischen Linksterrorismus das Gewährleisten einer hinreichend stabilen logistischen Infrastruktur als wesentliche Herausforderung des „bewaffne­ ten Kampfes“ darstellen. Unter dem Fernziel des sozialrevolutionären Umbruchs benötigten die Akteure ununterbrochen Personal, Ausbildung, Material, Rückzugsorte und Geldmittel, was vermittels differenter Hand­ lungsansätze zu lösen versucht wurde. Bereits die lateinamerikanischen Theoretiker der Land- und Stadtguerilla hatten diesen keinesfalls banalen praktischen Voraussetzungen für den gewaltsamen „Widerstand“ breiten Raum in ihren Überlegungen geboten. Ernesto Guevara konstatierte in seiner Anleitung zum Guerillakrieg: „Always in guerrilla tactics it is neces­ sary to keep in mind the grave problem of procuring the war materiel necessary for continuing the fight.“5086 An anderer Stelle hieß es: „A good supply system is of basic importance to the guerrilla band.“5087 Für die uruguayischen „Tupamaros“ war der „bewaffnete Kampf […] ein techni­ sches, praktisches Problem, das ebenso viel pragmatisches Wissen, Trai­ ning und Erfahrung erfordert wie Ausrüstung […] [und] Material“5088. Ähnlich differenziert sah es Carlos Marighella. Er interpretierte die „Re­

5079 5080 5081 5082 5083 5084 5085 5086 5087 5088

Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 28. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 247. ID-Verlag 1997, S. 471. Ebd., S. 468. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 48. Ebd., S. 58. Ebd., S. 69. Guevara 1998a, S. 31. Ebd., S. 80. Núñez 1970, S. 31-32.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

volution [als] ein gesellschaftliches Ereignis, das von Menschen, Waffen und Material abhängt.“5089 Zu den Aktivisten einer Revolution schrieb er, diese „müssen eine politisch-revolutionäre Handlungsmotivation […] [und] eine geeignete technisch-revolutionäre Ausbildung besitzen.“5090 Auf die übrigen Grundlagen der „Stadtguerilla“ blickend, hinterlegte er in seinem „Minihandbuch des Stadtguerillero“ eine Formel, welche Mechani­ sierung, Geldbeschaffung, Bewaffnung, Munitionierung und Ausstattung mit Explosivmitteln zu Paradigmen leistungsstarker klandestiner Zirkel erhob:5091 „Money, weapons, ammunition and explosives, and automobiles as well, must be expropriated. The urban guerrilla must rob banks and armories, and seize explosives and ammunition wherever he finds them.“5092 Erstmals bewältigt werden mussten logistische Aspekte terroristischer Ak­ tivitäten Ende der 1960er Jahre im Westberliner Linksextremismus. Nach­ dem sich die „Haschrebellen“ 1969 zusehends radikalisiert hatten, fassten sie einen Kernpunkt des „bewaffneten Kampfes“ ins Auge: den Gebrauch von Schusswaffen. In ihren Reihen erwuchs ein Bedarf an Schulung im Umgang mit Pistolen und Gewehren. Wer den Erinnerungen der dama­ ligen Mitglieder folgt, begreift diesen als eine wesentliche Triebkraft in der aufgenommenen Beziehung zur PLO. Ganz offensichtlich sah die Gruppe um Dieter Kunzelmann und Georg von Rauch in den Palästinen­ sern den einzigen Kooperationspartner, der entsprechende Kenntnisse ad­ äquat vermitteln konnte.5093 Zwar erlangte sie die erwünschten Kenntnisse zum „Schießen und Bombenbauen“5094, ein elementares Problem blieb aber bestehen. Da die PLO den „Haschrebellen“ keine Waffen überließ, verfügten sie nach ihrer Rückkehr weiterhin nicht über ein eigenes Arse­ nal.5095 Dieses Defizit erwies sich zunächst als beständig. Weder wollten die inzwischen unter dem Titel „Tupamaros Westberlin“ firmierenden „Haschrebellen“ Verbindungen zu ihren Bekanntschaften unter Westberli­ ner Kriminellen ausbauen noch Schusswaffen „in Österreich, der Schweiz,

5089 5090 5091 5092 5093 5094 5095

Marighella 1971, S. 82. Ebd., S. 82. Vgl. Marighella 2002a, S. 12. Ebd., S. 13. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 120, 123; Wunschik 2006b, S. 543. Baumann 1980, S. 63. Vgl. ebd.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

Italien oder Belgien kaufen.“5096 Das kriminelle Milieu fürchteten sie ob der dortigen Gefahr des Verrats. Die finanziellen Möglichkeiten sollten anderen Zwecken zugutekommen, waren diese doch eng begrenzt.5097 Hatte die Gruppe anfangs auf „nichts [geblickt] außer ihre[n] Willen zu kämpfen, auch [auf] keine müde Mark, […] wirklich nichts“5098, fand sie sich wohl wenig später in einer verbesserten monetären Situation wieder – dies jedoch auf niedrigem Niveau. Laut Ralf Reinders konnten die TW „gerade mal 800 Mark [einsetzen], um damit die ganze Truppe über den Monat zu kriegen“5099. Zu dem Mangel an Schusswaffen und Finanzen gesellten sich Lücken in anderen Bereichen. Es fehlte an konspirativen Unterkünften sowie an Fähigkeiten zum Beschaffen von Fahrzeugen.5100 Vom „Autoklauen“, so Reinders, „hatten wir […] gar keine Ahnung.“5101 Während die Einnahmen des Zirkels stagnierten, zeigten sich – neben Erfolgen in der personellen Festigung der Gruppe mit bis zu 15 Aktivis­ ten5102 – Fortschritte beim Gewinnen von Quartieren und beim Bewaff­ nen. Weil den Mitgliedern Banküberfälle aufgrund der Risiken als Option zur Finanzierung des „sehr kostenintensiven“5103 Untergrunds abwegig er­ schienen, bestritten sie ihren Unterhalt notdürftig unter anderem mit Ein­ brüchen in Supermärkten und anderen Objekten.5104 Nur mit Barmitteln und Gold, welches Thomas Weisbecker einmalig aus dem „Tresor seines vermögenden Vaters“5105 entwendete, gelang das Anmieten „mehrere[r] Wohnungen und ein[es] abseits gelegene[n] Haus[es] in Zehlendorf“5106. Weiteren Wohnraum überließ den „Tupamaros Westberlin“ eine unter­ stützende Peripherie in Westberlin. Es bildete sich „ein ganzes Netz von Kommunen und Wohngemeinschaften“5107 für Rückzugsmöglichkeiten. Im Zuge der Bewaffnung spielten abermals internationale Beziehungen eine entscheidende Rolle. Was von den Palästinensern nicht forciert wor­ den war, gewährleisteten augenscheinlich Verflechtungen Westberliner

5096 5097 5098 5099 5100 5101 5102 5103 5104 5105 5106 5107

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Vgl. ebd., S. 35-36. Baumann 1980, S. 66. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Vgl. Baumann 1980, S. 66. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 37. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 127. Ebd. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36-37. Kunzelmann 1998, S. 127. Ebd. Kraushaar 2006b, S. 519.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

Linksextremisten mit italienischen Gleichgesinnten. Über diese gelangten die TW offenbar an Schrotflinten. Zeitgleich übten sie sich im Bau von Rohrbomben.5108 Als die „Rote Armee Fraktion“ Mitte Mai 1970 im Zuge der Befrei­ ung Andreas Baaders entstand, wiesen die „Tupamaros“ trotz ihrer Defi­ zite „in logistischer […] Hinsicht […] einen erheblichen Vorsprung“5109 auf. Dieser reduzierte sich bis Herbst 1970 nicht. Statt sich weiterhin auf die Waffenbeschaffung zu konzentrieren, die Andreas Baader und Horst Mahler im April 1970 angestoßen hatten und unmittelbar vor der Baader-Befreiung im Kauf zweier Pistolen über Kontakte in das rechte Milieu West-Berlins gegipfelt war,5110 setzte sich die Erste Generation in beachtlicher Mannstärke ins Ausland ab.5111 Rund zwanzig Aktivisten sammelten sich – angeblich – in Jordanien.5112 Mehr noch als die „Tu­ pamaros Westberlin“ drängten handfeste Gründe die Initiatoren der RAF zu einer Beziehung mit palästinensischen Akteuren. Zum einen identifi­ zierten sie die Palästinenser als Mitstreiter, die ihnen – ausgehend von eigenen Fähigkeiten – die fehlenden Kenntnisse zu den Feinheiten des „Guerillakampfs“ vermitteln konnten.5113 Zum anderen – und dies wog deutlich schwerer – bot der Unterschlupf im Nahen Osten Schutz vor der omnipräsenten sicherheitsbehördlichen Verfolgung, die in Deutschland aufgrund der Baader-Befreiung drohte. So jedenfalls legten es die Erinne­ rungen Peter Homanns nahe. „[E]s ging ja zuerst einmal um praktische Fragen“5114 – „[w]ie man sich dem Zugriff der Polizei entzieht“5115. Im An­ schluss an die Rückreise nach Westberlin nahm die Erste Generation den Aufbau einer „materielle[n] Basis“5116 in Angriff. Ausreichend Personal war vorhanden: „Wir waren fünfundzwanzig Personen, mehr Weiber als Männer.“5117 Als Blaupause zogen sie Carlos Marighellas Logistik-Formel heran.5118 Bis November 1970 schufen sie systematisch eine Infrastruktur 5108 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 37-38. 5109 Kraushaar 2006b, S. 529. 5110 Vgl. Peters 2008, S. 172-173; Jander 2008, S. 145; Winkler 2008, S. 159; Aust 2020, S. 199-200. 5111 Vgl. Jesse 1996, S. 202. 5112 Vgl. Homann 1972, S. 93. 5113 Vgl. Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 50; Homann 1972, S. 93. 5114 Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 50. 5115 Ebd. 5116 Vgl. Jander 2008, S. 147. 5117 Karl-Heinz Ruhland, zit. n. Peters 2008, S. 212. Vgl. auch Neidhardt 1982a, S. 326. 5118 Vgl. Peters 2008, S. 206.

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

für einen „bewaffneten Kampf“ in der Illegalität, welche die bisherigen Bemühungen der „Tupamaros Westberlin“ in den Schatten stellte. Sie mieteten vier konspirative Wohnungen in Westberlin5119 und gelangten „in den Besitz von mindestens 18 Kraftfahrzeugen“5120, die in der Kraft­ fahrzeugwerkstatt Eric Grusdats umlackiert sowie mit alternativen Fahrge­ stellnummern und Kennzeichen versehen werden konnten.5121 Eine der unter falschem Namen erlangten Mietunterkünfte fungierte als Labor zum Bau von Sprengmaterialien. Darüber hinaus sammelten sie Schusswaffen sowie Kenntnisse im Funkverkehr sowie zur Nutzung von Rundfunkfre­ quenzen.5122 Banküberfälle im September 1970 sicherten der Gruppe ein ansehnliches finanzielles Polster.5123 Für die „Rote Armee Fraktion“ und die „Tupamaros Westberlin“ bo­ ten sich in dieser Phase zunehmend Gelegenheiten, voneinander zu pro­ fitieren. Die Schnittmengen in Nachfrage und Angebot lassen sich als zentraler Bedingungsfaktor begreifen, der ihr Verhältnis ungeachtet der strategischen Differenzen positiv beeinflusste. Sowohl die RAF als auch die TW benötigte im Herbst 1970 dringend finanzielle Mittel. Laut Karl-Heinz Ruhland legte Horst Mahler den Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ Mitte September 1970 dar, „[d]ie Gruppe habe kein Geld mehr und könne es sich durch geregelte Arbeit nicht beschaffen“5124. Die „Tupamaros West­ berlin“ klagten ihrerseits über „dauernd[e] Kohleprobleme“5125. Sie waren, so Ralf Reinders, auf der Suche nach „Kohle für Waffen und Logistik.“5126 Die Geldsorgen langfristig aufzulösen vermochten nur Überfälle auf Geld­ häuser. Darin waren sich beide Gruppen in Anlehnung an lateinamerika­ nische Stadtguerilleros einig. „Die Großen [Banken] müssen geschröpft werden“5127, konstatierte Mahler im internen Diskurs. „[W]o liegt das Geld? Auf den Banken!“5128, schlussfolgerten die TW. Alleine konnten sie diesen Schritt allerdings nicht wagen. Denn während die RAF auf „genug Waffen und Material“5129 zurückgreifen konnte, ihr aber Mitglieder mit

5119 5120 5121 5122 5123 5124 5125 5126 5127 5128 5129

Vgl. ebd., S. 212. Dietrich 2009, S. 25. Vgl. Der Spiegel 1972a, S. 36; Aust 2020, S. 239. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 327; Dietrich 2009, S. 37-39. Vgl. Jander 2008, S. 148. Der Spiegel 1972a, S. 36. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 45. Ebd., S. 44. Horst Mahler, zit. n. Der Spiegel 1972a, S. 36. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36. Ebd., S. 43.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

ausgedehnter Erfahrung für Aktionen fehlten, fanden sich in den Reihen der TW erprobte und als zuverlässig geltende Aktivisten5130 ohne ausrei­ chende materielle Ausstattung. Geschickt nutzte die „Rote Armee Frakti­ on“ diese Gegebenheiten, um eine gemeinsame Serie von Banküberfällen unter wechselseitiger Ergänzung der jeweiligen Fähigkeiten ins Spiel zu bringen. Nachdem die TW dem zugestimmt hatten, stellten sie mit Ge­ org von Rauch und Thomas Weisbecker das von der „Roten Armee Frak­ tion“ lange ersehnte5131 Personal, welches während des „Dreierschlags“ am 29. September 1970 ein gestohlenes Kraftfahrzeug der RAF nutzte.5132 Eine sprichwörtliche „Win‑Win-Situation“ tat sich auf: Die „Rote Armee Fraktion“ sicherte das Bestehen ihres Untergrundes finanziell ab. Für die TW zahlte sich diese Kooperation nicht nur insofern aus, als ihre monetäre Schieflage ebenfalls ein Ende fand. Überdies profitierten sie von „zwei Autofachleute[n]“5133 der „Roten Armee Fraktion“. Mit diesen Mitgliedern der RAF – vermutlich Eric Grusdat und Karl‑Heinz Ruhland – tauschten die „Tupamaros“ offenbar Wissen aus, das ihnen das Beschreiten eines weiteren logistischen Terrains erleichterte: die Beschaffung eigener Fahr­ zeuge.5134 Anders als die „Rote Armee Fraktion“ konnten die TW die nunmehr gestärkte Logistik nicht zu ihrem Vorteil nutzen. Merklich verschlechterte sich die personelle Lage der „Tupamaros Westberlin“. Mitte Oktober 1970 zählte der Zirkel lediglich fünf aktive Mitglieder, auf denen inzwischen ein erheblicher Fahndungsdruck lastete. Diese Schwächung lässt sich als Ursache für die nun erfolgenden Übertritte zur RAF sehen. Ganz offen­ sichtlich zwang die dünne Personaldecke die TW zu dem Entschluss, abermals über die zuvor betonten Unterschiede im „bewaffneten Kampf“ hinwegzusehen und Zuflucht in der „Roten Armee Fraktion“ zu suchen. Zu begreifen ist dies vor dem Hintergrund der auf Westberlin begrenzten Operations- und Rückzugsräume der TW, welche infolge der Geständnisse Annekatrin Bruhns und Hella Mahlers eine nennenswerte Gefährdung durch sicherheitsbehördliche Ermittlungen erfuhren. Im Gegensatz zur „Roten Armee Fraktion“, die sich ab Ende 1970 auch das Gebiet der Bun­ desrepublik logistisch erschloss, verfügten die TW zum Zeitpunkt ihrer personellen Verluste nicht über eine ausreichende Infrastruktur in West­

5130 5131 5132 5133 5134

Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 43-44; Winkler 2008, S. 180-181; Dietrich 2009, S. 35, 47. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 37. Vgl. ebd.

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deutschland. Selbst die „Tupamaros München“ zeigten sich außerstande, die illegalisierten Mitstreiter aus Westberlin aufzufangen. Zu schmal war die logistische Basis der TM. Ohne Personal und die aus ihm erwachsende Kraft, die versäumten Stützpunkte jenseits des vertrauten Westberliner Milieus zu errichten, blieb – abgesehen von der Zerschlagung – ausschließ­ lich der Gang in den Untergrund der benachbarten „Roten Armee Frak­ tion“.5135 Wenngleich die RAF ihrerseits im Oktober 1970 durch die Ver­ haftung Mahlers und anderer Mitglieder einen empfindlichen Einbruch in ihrer Aktionsstärke hinnehmen musste, konnte sie die Rolle eines siche­ ren Hafens ausfüllen. Dieses Entgegenkommen musste sich geradezu auf­ drängen, gehörten doch zu den letzten, in Freiheit befindlichen „Tupama­ ros Westberlin“ gestandene Aktivisten, welche eine Bereicherung für den im „bewaffneten Kampf“ vergleichsweise neuen Personalstamm der RAF darstellen konnten. So schloss sich mit Ingrid Siepmann eine „Tupama­ ro“ der „Roten Armee Fraktion“ an, die bereits eine Ausbildung bei den Palästinensern durchlaufen und ihre Beziehungen in den Nahen Osten durch das Unterstützen palästinensischer Schutzsuchender nahe Amman ausgebaut hatte.5136 Dem Verlagern des räumlichen Schwerpunktes der RAF auf West­ deutschland folgten diverse Erfolge logistischer Natur, welche zu einem fortgesetzten Festigen ihrer konspirativen Strukturen beitrugen. Zu diesen Erfolgen zählte das Erlangen von Reisepässen, Blankopersonalausweisen und Stempeln bei Einbrüchen in kommunalen Ämtern, das Gewinnen von Unterkünften durch verdecktes Anmieten oder Bereitstellen sympathi­ sierender Bekanntschaften sowie das Erbeuten von 115 000 DM während mehrerer Banküberfälle in Kassel.5137 Überdies erwarb die Gruppe 35 leistungsstarke Pistolen nur mithilfe der Kontakte zur palästinensischen Fatah.5138 Nachdem sich das Aufbrechen von Waffendepots und -geschäf­ ten als zu risikoreich dargestellt und eine Vereinbarung mit kriminellen Waffenhändlern aufgrund eines Dissenses zu den Lieferkonditionen zer­ schlagen hatte, war die Erste Generation an die PLO mit der Hoffnung herangetreten, ihre Nachfrage nach Schusswaffen zu decken. Somit erwie­ sen sich in der Beziehung zu den Palästinensern abermals genuin prakti­

5135 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 127-128; Möller/Tolmein 1999, S. 33; Kraus­ haar 2006b, S. 525. 5136 Vgl. Kunzelmann 1998, S. 124; Wunschik 2006b, S. 546; Danyluk 2019, S. 191. 5137 Vgl. Der Spiegel 1972a, S. 29; Peters 2008, S. 222-224, 243-244. 5138 Vgl. Jesse 1996, S. 202; Jander 2008, S. 153.

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sche Bedürfnisse als Bedingungsfaktor.5139 Bis zum Zusammenbruch der Ersten Generation, die in ihrer Lebensspanne insgesamt 39 Mitglieder umfasst haben soll,5140 dehnte sich die Ausstattung sukzessive zu einem veritablen Untergrund aus. Obwohl mitunter „irre probleme“5141 beim Bereitstellen von Wohnraum auftraten, gelang es der „Roten Armee Frak­ tion“, mehr als 45 konspirative Quartiere zu nutzen. Bis zu 280 Kraftfahr­ zeuge brachten ihre Mitglieder laut sicherheitsbehördlichen Erkenntnissen durch Diebstahl in ihren Besitz, weitere 80 sollen sie bei Mietwagenfirmen mithilfe falscher Identitäten in Anspruch genommen haben.5142 Im Zuge von Banküberfällen in Hannover, Kaiserslautern und Ludwigshafen ließen sie sich rund 620 000 DM übergeben.5143 Außerdem beschaffte die RAF knapp 750 Kilogramm Sprengmaterialien, mehr als 180 Sprengkapseln und etwa 60 Zündvorrichtungen. Aus diesen Komponenten stellte sie Sprengsätze in unterschiedlichen Varianten her.5144 Der über die Fatah bezogene „Waffengrundstock“5145 dehnte sich infolge des Zukaufs von 32 Faustfeuerwaffen aus.5146 Wilfried Böse verhalf der Gruppe unter anderem zu „Schnellfeuergewehre[n] des Typs AR 16 oder M 16.“5147 Als sich die „Tupamaros Westberlin“ Mitte 1971 wider Erwarten re­ konsolidieren konnten, hatte ihnen die „Rote Armee Fraktion“ in logisti­ schen Fragen längst den Rang abgelaufen. Die Idee einer „zweiten Gue­ rilla-Gruppe“5148 neben der RAF stand im Raum, erforderte jedoch das Beleben des Ende 1970 eingebüßten finanziellen und materiellen Unter­ baus. Zwar mangelte es nicht an Personal – die bereits kurz nach der Neuformierung zweistellige Zahl der Mitglieder nahm sukzessive zu.5149 Aber augenscheinlich sahen die „Tupamaros“ Schwierigkeiten im selbst­ ständigen Beschaffen von Waffen, deren Besitz sie anstrebten, „um damit im Falle einer Schießerei unser Leben zu retten oder uns einer Festnahme entziehen zu können“5150. Denn statt aus eigener Kraft – beispielsweise 5139 5140 5141 5142 5143 5144 5145 5146 5147 5148 5149

Vgl. Peters 2008, S. 225-226; Aust 2020, S. 250. Vgl. Jander 2008, S. 148; Peters 2008, S. 230. Andreas Baader, zit. n. Neidhardt 1982a, S. 328. Vgl. Peters 2008, S. 245, 249. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 328. Vgl. Peters 2008, S. 280, 283; Aust 2020, S. 375-376. Peters 2008, S. 226. Vgl. ebd., S. 244. Gerhard Müller, zit. n. Kraushaar 2006c, S. 592. Meyer 2008, S. 176. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 76; Baumann 1980, S. 98; Claessens/de Ahna 1982, S. 151. 5150 Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 76.

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durch Diebstahl oder betrügerischen Erwerb – Schusswaffen zu erlangen, versprachen sich die TW Starthilfe von jenem Zirkel, den sie inzwischen noch stärker als zuvor aufgrund grundsätzlicher organisatorischer und stra­ tegischer Meinungsverschiedenheiten ablehnten: der „Roten Armee Frak­ tion“. Zu entnehmen ist dies den Erinnerungen Heinz Brockmanns. Da die RAF „reichlich“5151 Waffen gesammelt hatte, avancierten wie schon im September 1970 logistische Bedürfnisse zu einem Ausgangspunkt für ein Annähern beider Akteure. Dass die „Rote Armee Fraktion“ auf die Anforderungen der „Tupama­ ros Westberlin“ einging und sogleich „9-Millimeter-Pistolen“5152 anbot, war mehreren, ebenso praktischen Interessen geschuldet. In erster Linie lockte die Aussicht auf ein personelles Festigen durch Rückgewinnung inhaftierter Mitstreiter, wollten die TW doch die Waffen für ein Befreien von zwei RAF-Mitgliedern in Westberlin einsetzen.5153 Überdies interpre­ tierte die „Rote Armee Fraktion“ das Ersuchen der „Tupamaros“ wohl als Möglichkeit, die TW nach diversen erfolglosen Anläufen als „RAF‑Unter­ gruppe“5154 in ihre Strukturen zu überführen. Auch dies hätte die eigene Aktionsstärke erweitert. Obgleich sich ein Streit um die Zugehörigkeit der RAF-Mitglieder im Falle einer Befreiung durch die „Tupamaros West­ berlin“ ergab, der den auf Personalzuwachs zielenden Eigennutz5155 der TW unmissverständlich freilegte, ging die „Rote Armee Fraktion“ allem Anschein nach unbeirrt von einem für sie vorteilhaften Auftragsverhältnis zu den vormaligen „Haschrebellen“ aus.5156 Anders lässt sich die umfang­ reiche „finanzielle und logistische Unterstützung“5157, welche die RAF den „Tupamaros Westberlin“ während der Vorbereitungen zu der Befrei­ ungsaktion an unterschiedlichen Punkten offerierte, nicht erklären. Diese reichte von mehreren Waffenlieferungen und einem finanziellen Zuschuss in Höhe von 10 000 DM über den Zugang zu einer verdeckten Wohnung der RAF bis hin zu Sägedraht, der für den Ausbruch der RAF-Mitglieder aus den vergitterten Gefängniszellen eingeplant wurde.5158 Vermutlich überließ die „Rote Armee Fraktion“ den TW in dieser Phase auch jenen

5151 5152 5153 5154 5155 5156 5157 5158

Ebd., S. 78. Heinz Brockmann, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Claessens/de Ahna 1982, S. 144. Vgl. Baumann 1980, S. 98. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 78-81; Claessens/de Ahna 1982, S. 144. Meyer 2008, S. 182. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 79-81.

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Ford Transit, den Georg von Rauch im Dezember 1971 Momente vor dem tödlichen Schusswechsel mit der Polizei verlassen sollte.5159 Während sich die Hilfestellungen für die „Rote Armee Fraktion“ ob des Scheiterns der „Gefangenenbefreiung“ und der anhaltenden Autono­ mie der TW als Fehlinvestitionen erwiesen, kamen sie auf Seiten der „Tu­ pamaros“ einem logistischen Durchbruch gleich. Endlich konnten die TW „ein beachtliches Waffenarsenal“5160 ihr Eigen nennen, das eine zentrale Grundlage für das Zusammenstellen eines weiteren linksterroristischen Untergrundes konstituierte. Begünstigend wirkte sich darüber hinaus die Rückkehr Ralf Reinders‘ und Ingrid Siepmanns aus.5161 Die Kenntnisse zur Logistik der „Roten Armee Fraktion“ konnten sie in den Wiederauf­ bau der „Tupamaros Westberlin“ einbringen. Priorität kam in der Folge­ zeit der finanziellen Lage des Zirkels zu, welche ähnlich prekäre Züge zeigte wie im Herbst 1969.5162 „[D]ie illegale Struktur kostet[e] viel“5163. Das zwingend benötigte Geld hatte die wiederbelebte Gruppe bislang lediglich aus Spenden oder dem Aufbrechen von Zigarettenautomaten beziehen können.5164 Letztes war bisweilen ernüchternd: „In einem Fall haben wir nur 1 DM vorgefunden.“5165 Streckenweise hatten „wir […] gar nichts mehr zu fressen“5166, erinnerte sich Baumann an das Ausmaß der finanziellen Knappheit im Anschluss an das Neuformieren der „Tupama­ ros Westberlin“ Mitte 1971. Abhilfe schuf das Erbeuten von Barmitteln ab November 1971, welches mithilfe der Waffen aus den Beständen der „Roten Armee Fraktion“ sowie unter Verwendung von Kraftfahrzeugen – getarnt nach dem Vorbild der RAF – erzielt wurde. Diese Fahrzeuge konnten durch technisches Anpassen der Autoradios den Westberliner Polizeifunk empfangen.5167 Die „Kriegskasse“5168 füllte sich um insgesamt rund 116 000 DM.5169 Der Betrag ging deutlich über die Kosten hinaus, welche die TW tragen mussten. Abzulesen war dies an einer Freigiebigkeit

5159 5160 5161 5162 5163 5164 5165 5166 5167 5168 5169

Vgl. Wunschik 2006b, S. 548. Meyer 2008, S. 183. Vgl. Wunschik 2006b, S. 546; Meyer 2008, S. 185. Vgl. Baumann 1980, S. 101. Meyer 2008, S. 185. Vgl. Baumann 1980, S. 101-102. Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 83. Vgl. auch Baumann 1980, S. 102. Baumann 1980, S. 102. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 83-89. Meyer 2008, S. 185. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 86.

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innerhalb des Zirkels. Während ein Mitglied „mit dem ganzen [gestohle­ nen] Kleingeld den Hut [eines Obdachlosen] vollgemacht“5170 haben soll, erwarben andere „manche unnütze[n] Dinge“5171. Im Gegensatz zur RAF, die auf Basis eines Kassensystems Rechenschaft zu den Ausgaben verlangte, bestanden die TW laut Heinz Brockmann nicht auf einer Kontrolle der Finanzen.5172 Baumann schrieb dazu: „Du hast natürlich plötzlich einen irrsinnigen Berg Geld, den du gar nicht mehr abtragen kannst. Die Magie des Geldes spielt eine Rolle […]. Wenn irrsinnig Geld da ist, da sagt jeder, holen wir uns doch das oder das. […] Da sagst du, wenn ich schon den ganzen Tag hier sitze, dann holen wir uns mal einen Plattenspieler und dann mal 20 LP’s und spielen die ab. Da steht dann nachher schon ein Fernseher in der Ecke und auf einer ganz anderen Ebene machst du den NeckermannTrip dann genauso mit. Oder du sagst: Polizeifunk müssen wir sowieso hören, dann doch gleich Toschiba-Radios, ganz groß, und kaufst dann drei Stück. […] Holst einen gigantischen Berg von Radios, kannst bald damit einen Laden aufmachen, lauter so einen Quatsch. Oder haben einfach einen irrsinnigen Wagenpark angeschafft, da haben sich die Leute im Hause gewundert, dass wir jeden Tag mit nem [sic] neuen Auto vor der Tür standen […]. Dann kannst du natürlich nicht mehr rumlaufen wie früher, da werden immer weiter Samtanzüge angeschafft, und zum Schluss siehst du schon aus wie dem Playboy entsprungen“5173. Um die „Tupamaros Westberlin“ auch personell auf eine Ebene zu hieven, wie sie die „Rote Armee Fraktion“ erreicht hatte, und somit ein größe­ res Maß an Schlagkraft zu garantieren, trieben ihre Mitglieder Anfang 1972 das Zusammenführen außerhalb der RAF organisierter gewaltberei­ ter Linksextremisten voran.5174 Nach dieser primär entlang logistischer Überlegungen vorgenommenen Vereinigung in der „Bewegung 2. Juni“ konsolidierten die Westberliner Kerngruppe und andere Gründer der B2J die monetäre Lage. „Wir brauchten Geld. Viel Geld, denn das Leben im Untergrund war verdammt kostspielig“5175, notierte Nobert Kröcher

5170 5171 5172 5173 5174 5175

Baumann 1980, S. 105. Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 86. Vgl. ebd.; Dietrich 2009, S. 48. Baumann 1980, S. 117-118. Vgl. Meyer 2008, S. 194. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 224.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

in seiner Autobiographie zu dieser Episode. Bis Juli 1973 erbeutete die Kerngruppe bei Banküberfällen mehr als 395 000 DM.5176 8.2.2 Internationalisierung der Logistik Als sich die Erste Generation im Nachgang zu den Verhaftungen des Jahres 1972 auf die propagandistische Arbeit konzentrierte, lag die au­ ßerhalb der Haftanstalten auffindbare Logistik der „Roten Armee Frakti­ on“ in Trümmern. Die „Bewegung 2. Juni“ durchlebte 1973 infolge von Festnahmen und Trennungen einen Einschnitt in ihrem personellen Re­ servoir. Zeitgleich mussten sich die Initiatoren der „Revolutionären Zel­ len“ dem finanziellen wie materiellen Absichern eines neuen Akteurs der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ stellen. Noch bedeutsamer als in den Jahren 1970 und 1971 erwiesen sich in der ab 1973 einsetzenden Aufschwungphase des deutschen Linksterrorismus Kontakte in das euro­ päische wie außereuropäische Ausland: Diese hatten ob ihrer „mannigfa­ che[n] Hilfe“5177 eine „wichtige, oft unterschätzte Rolle […] vor allem für den Fortbestand“5178 der in Westdeutschland vorfindbaren Akteure. Zu Vorreitern gerieten in dieser Hinsicht die ersten Aktivisten der Zwei­ ten Generation, welche später unter dem Titel „Gruppe 4.2.“ Bekanntheit erlangen sollten. Sie versammelten sich, so Margrit Schiller, in „eine[r] kleine[n] Gruppe“5179, welche aus einer „sehr schwierig[en]“5180 Situation der „Roten Armee Fraktion“ hervorgegangen sei. Der Zirkel wies eine äußerst reduzierte Personal- und Aktionsstärke auf. Nicht nur wurde in den Erörterungen zu selbstständigen Aktionen „[i]mmer wieder […] klar, dass […] [man] mehr Mitglieder“5181 benötigte. Auch „fehlte […] [es] an allem“5182 Weiteren: „Es gab keine Infrastruktur, keine Logistik, keine Wohnungen, kaum Waffen, kein Geld, es gab Probleme mit Ausweisen

5176 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 170; Der Spiegel 1973b, S. 89; Diewald-Kerk­ mann 2009, S. 99-101; Danyluk 2019, S. 235. 5177 Jesse 2008, S. 415. 5178 Ebd. 5179 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 119. 5180 Ebd. 5181 Ebd., S. 123. 5182 Ebd., S. 125.

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und Pässen.“5183 Schwer wog darüber hinaus die geringe organisatorische Erfahrung der vereinigten „Illegalen“ der RAF.5184 Nicht verwundern konnte angesichts dieser Lücken die Zusammenar­ beit mit einer alten Bekannten: der Fatah. Hinter den ideologischen Schnittmengen zur Beurteilung der Rolle Israels im Nahen Osten lässt sich eine praktische Vorteilsnahme der „Roten Armee Fraktion“, die Kompen­ sation eigener logistischer Defizite, als treibendes Motiv der geplanten ge­ meinsamen Entführung eines Flugzeugs auf dem Amsterdamer Flughafen ausmachen. Nur durch das von den Palästinensern gestellte Personal5185 und deren „Waffen […], vor allem Maschinenpistolen“5186, rückte das in den Augen der Zweiten Generation unverzichtbare Vorhaben der Befrei­ ung inhaftierter Gründer der RAF kurzzeitig in greifbare Nähe. Diese In­ terpretation einer zuvorderst auf Bereicherung fußenden Beziehung stützt zudem der weitere Verlauf des Schulterschlusses: Nachdem die Fatah ein Unterstützen wohl aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen versagte, brach die Kooperation so schnell ab, wie sie entstanden war.5187 Ebenso auf logistische Notwendigkeiten beschränkt blieb das schlussend­ lich ergebnislose Verhältnis zu „einer bewaffneten Organisation aus Portu­ gal“5188, welche der „Gruppe 4.2.“ augenscheinlich den Zugang zu Waffen als Gegenleistung für das erbetene Herstellen falscher Papiere anbot. Ver­ gleichbare Verbindungen zur „Bewegung 2. Juni“, die an den früheren, zweckdienlichen Personal-, Güter- und Finanzaustausch zwischen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und den „Tupamaros Westberlin“ angeknüpft hätten, forcierte die RAF demgegenüber nicht.5189 Die mageren logistischen Ver­ besserungen der „Gruppe 4.2.“ – darunter das Einrichten konspirativer Wohnungen in Hamburg und Frankfurt am Main, das Sammeln von Schnell- und Faustfeuerwaffen sowie das gewaltsame Entnehmen von 157 000 DM bei einem Banküberfall5190 – lösten sich infolge der Exeku­ tivmaßnahmen im Februar 1974 auf. Beim Durchsuchen der Unterkünfte fiel den Sicherheitsbehörden „viel, ja, sehr viel“5191 in die Hände. Zu dem beschlagnahmten Material zählten unter anderem Gegenstände, die inner­

5183 5184 5185 5186 5187 5188 5189 5190 5191

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 121-122. Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 123. Ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 132-133. Vgl. Peters 2008, S. 358. Taufer 2018, S. 96.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

halb der „Roten Armee Fraktion“ als „schwer zu beschaffend“5192 galten. Abermals versank der logistische Unterbau der RAF in einem desolaten Zustand, wie Volker Speitel rückblickend auf das Jahr 1974 schrieb: „Was von der früheren RAF-Struktur lediglich noch existierte, waren Sprengstoff und Handgranaten sowie ein Manuskript über Fälscher­ techniken und Geld. Der Polizei ist es […] gelungen, die RAF und die erste Nachfolgegruppe – den ‚4.2.‘ – völlig trokkenzulegen [sic].“5193 Der Westberliner Personalstamm der „Bewegung 2. Juni“ reduzierte sich im Herbst/Winter 1973 auf zwei „Illegale“.5194 Anders als Ende 1970 ge­ lang es den wenigen „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“, auf Grundlage ei­ nes „gesicherten Boden[s]“5195 in Westberlin und der Rückendeckung „in der [dortigen] linken […] Szene“5196 die Schwächeperiode zu überstehen. „Die Logistik und die Ausstattung […] [war] bescheiden, aber solide und ausreichend“5197, war einschlägigen Erinnerungen zu dieser Zeit zu ent­ nehmen. Laut Meyer existierte „ein Fundus […], zu dessen Anschaffung einige Jahre“5198 hatten aufgewendet werden müssen. Zu diesem gehörten offenbar „ein Dutzend Pistolen und Revolver, alle großen Kalibers. Ein ameri­ kanisches Schnellfeuergewehr, ein Schnellfeuergewehr der Marke MI, eine kleine Maschinenpistole und zwei Pumpaction der Marke ‚Fusil Rapide‘ […], ferner ein Präzisionsgewehr mit Zielfernrohr der Mar­ ke ‚Browning‘, […] massenhaft Kartons mit Munition der verschiede­ nen Kaliber, etliche Stangen Dynamit, Unmengen Zünder und Zünd­ schnüre, […] Autonummernschilder, […] Krähenfüße, Perücken und Pässe“5199. Darüber hinaus habe die B2J zugreifen können auf „sämtliche Utensilien […] zum Fälschen […], einige hundert Stempel­ vorlagen auf Offsetplatten reproduziert, aus nahezu allen Städten oder Landratsämtern der Bundesrepublik, Entwickleressenzen, Schneidege­

5192 5193 5194 5195 5196 5197 5198 5199

Ebd. Speitel 1980a, S. 41. Vgl. Wunschik 2006b, S. 549; Viett 2007, S. 114. Viett 2007, S. 112. Ebd., S. 107. Meyer 2008, S. 304. Ebd. Ebd., S. 303.

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räte, Skalpelle, Nietzangen und Hunderte von Blanko‑Führerscheinen und Kfz-Scheinen, die wir selbst auf dem Originalpapier gedruckt hatten.“5200 Die personelle Schwächung der B2J währte nur kurz. Positiv wirkte sich der Gefängnisausbruch Till Meyers sowie der Überfluss an „Genossen […] [aus], die am bewaffneten Kampf teilnehmen wollten“5201. Der quantitativ gewachsene Zirkel betrat sodann die ausgetrampelten Pfade der RAF, ver­ folgte dabei jedoch den Willen, Ausbesserungen mit Blick auf „Technik und Know-how“5202 vorzunehmen. Da der „Roten Armee Fraktion“ in der bis Februar 1974 währenden Lebensspanne der „Gruppe 4.2.“, mehr noch aber in den Monaten nach dem Zerschlagen dieser Zelle die nö­ tige Infrastruktur fehlte, konnte die „Bewegung 2. Juni“ nicht auf eine finanzielle oder materielle Unterstützung der RAF hoffen. Wie die „Rote Armee Fraktion“ verzichtete die B2J in dieser Phase auf eine Interaktion mit dem linksterroristischen Gegenüber. Fortschritte beim Gewinnen von „einfache[n] Wohnungen in gut überschaubaren Gegenden, […] Garagen, Werkstätten, […] Dokumente[n] verschiedener Nationen“5203 und Fahr­ zeugen gewährleisteten sie aus eigener Kraft.5204 Lediglich das Beschaffen weiterer Waffen erforderte zusätzlich externe Hilfe. Die „Bewegung 2. Ju­ ni“ griff auf einen bewährten Kanal zurück. In der genuin logistischen Absicht, das eigene „Depot auf[zu]füllen“5205, sei der Zirkel an italienische Gleichgesinnte herangetreten. Die „Roten Brigaden“ sollen zwei Langwaf­ fen akzeptiert haben, die von der B2J zuvor bei einem Überfall 1974 auf ein Waffengeschäft in Berlin‑Spandau gestohlen worden waren. Im Gegen­ zug hätten sie der „Bewegung 2. Juni“ automatische Faustfeuerwaffen und Handgranaten überlassen.5206 Ebenso erfolgreich verlief das Stabilisieren der pekuniären Situation des Zirkels, welche sich unter anderem aufgrund der rund 30 000 DM fassenden Vorbereitungen zur Lorenz-Entführung – angeblich – kurzfris­ tig verschlechtert hatte.5207 Zwei Banküberfälle zwischen Dezember 1974 5200 5201 5202 5203 5204

Ebd., S. 304. Viett 2007, S. 115. Vgl. auch Wunschik 2006b, S. 556. Meyer 2008, S. 284. Viett 2007, S. 118. Vgl. Horchem 1988, S. 51; Reinders/Fritzsch 2003, S. 63-64; Meyer 2008, S. 317-318. 5205 Meyer 2008, S. 338. 5206 Vgl. Viett 2007, S. 120; Meyer 2008, S. 338. 5207 Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 62-63, 65; Rollnik/Dubbe 2007, S. 37; Meyer 2008, S. 326.

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und Februar 1975 brachten insgesamt 108 000 DM sowie 10 000 DM in Fremdwährung ein.5208 Daneben unternahmen die Mitglieder nunmehr den Versuch, Lebenshaltungskosten durch Sparsamkeit zu mindern. „Wir selbst lebten eher spartanisch und bewilligten uns einen wöchentlichen ‚Sold‘ von 150 Mark“5209, schrieb Till Meyer. Anders als innerhalb der „Tupamaros Westberlin“ wurde Verschwendung offenbar geächtet. So ha­ be der Zirkel Meyer wegen des Kaufs einer Lederjacke auf der Basis der erbeuteten Finanzen gerügt.5210 „Wir klauen doch kein Geld, damit ihr euch schöne Klamotten kaufen könnt!“5211, lautete der gegen ihn ins Feld geführte Vorwurf. Gabriele Rollnik äußerte Ähnliches: „Wir sind sehr sparsam gewesen. Wir haben nicht viel ausgegeben.“5212 Und weiter: „[W]ir haben relativ bescheiden gelebt. Wir haben das Geld nicht raus­ geschmissen, sondern wir haben ganz schön überlegt, wofür setzen wir das jetzt ein? Und wir sind auch lange damit ausgekommen, muss ich jetzt einmal sagen, haushälterisch.“5213 Bis Anfang 1975 avancierte die „Bewegung 2. Juni“ zum schlagkräftigsten linksterroristischen Untergrund in Westdeutschland. Auf diesem „Höhe­ punkt ihrer Entwicklung“5214 beanspruchte sie augenscheinlich „eine sta­ bile Logistik, ein Netz von Unterstützern und eine ausreichende Anzahl entschlossener […] Aktivistinnen und Aktivisten“5215. Die B2J habe „bis zu zwölf konspirative Wohnungen und dreißig Fahrzeuge mit gefälschten Kennzeichen gleichzeitig“5216 nutzen können. Dennoch sah sie wohl En­ de 1974/Anfang 1975 die Erforderlichkeit, abermals auf Leistungen ande­ rer linksterroristischer Akteure zuzugreifen. Der „Roten Armee Fraktion“ schlug die „Bewegung 2. Juni“ das Bündeln der personellen Kräfte vor, um die unsicheren Erfolgsaussichten der angestrebten, äußerst risikoreichen „Befreiungsaktion“ zu verbessern.5217 Das Profil der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ bot einen Vorteil, den weder die B2J noch eine andere Gruppe der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ selbst zu er­

5208 5209 5210 5211 5212 5213 5214 5215 5216 5217

Vgl. Horchem 1988, S. 51. Meyer 2008, S. 304. Vgl. ebd., S. 341. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 47. Ebd., S. 21. Pfahl-Traughber 2014a, S. 172. Viett 2007, S. 123. Danyluk 2019, S. 244. Vgl. Speitel 1980a, S. 46-49.

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langen vermochte: einen geschützten Rückzugsraum jenseits der Zugriffs­ möglichkeiten der Bundesregierung. Diesen wesentlichen Trumpf sicher­ ten sich die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“, indem sie die Beziehung zu den Palästinensern im Vorfeld der Lorenz‑Entführung reaktivierten.5218 Das Revolutionsmodell der „Revolutionären Zellen“ ergab nicht nur von Beginn an drastisch verringerte Anforderungen an den bislang müh­ selig im „bewaffneten Kampf“ geschaffenen finanziellen und materiellen Unterbau. Es zwang die Mitglieder auch, logistische Probleme mithilfe von Maßnahmen zu lösen, welche sich in Teilen fundamental von jenen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ unterschieden. Da die RZ niedrigschwellige Anschläge auf Objekte befürworteten, die einen im Vergleich zu den materialintensiven Anschlägen der RAF un­ gleich geringeren technischen Aufwand verlangten,5219 waren die Aktio­ nen des Netzwerks „nicht sonderlich kostspielig“5220. Ihre „Selbstlabora­ te“5221 stellten sie aus simplen Komponenten her, welche sie „häufig in Maler- und Farbengeschäften“5222 sowie „in Bastelabteilungen von Kauf­ häusern“5223 erwerben konnten. Überdies blieben ihnen die monetären Bürden eines regelrechten linksterroristischen Untergrunds, wie zum Bei­ spiel das Anmieten und Unterhalten konspirativer Wohnungen, weitge­ hend fremd. Den begrenzten, aber beständigen Finanzbedarf mussten sie im Rahmen des „Feierabendterrorismus“ auffangen, der Geldbeschaffung mit einer hohen Gefahr der Festnahme zugunsten des Aufrechterhaltens einer legalen Existenz grundsätzlich ausschloss. Dementsprechend verzich­ teten die RZ bis zu ihrer Auflösung Mitte der 1990er Jahre auf die andern­ orts als alternativlos gewerteten (Bank-)Überfälle5224 – „das kam für die RZ nicht in Frage“5225, schrieb Magdalena Kopp. Stattdessen dürften sie Teile ihrer Einnahmen aus dem gewöhnlichen Einkommen der Mitglieder bezogen haben, die parallel zur Einbindung in die RZ mitunter einer geregelten Tätigkeit nachgingen.5226 Keinesfalls abwegig erschien die me­ diale Berichterstattung aus den 1970er Jahren, welche in gewohnt journa­

5218 5219 5220 5221 5222 5223 5224 5225 5226

Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 95; Meyer 2008, S. 346-347. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 441. Ebd. Kahl 1986, S. 109. Ebd. Ebd. Für den Zeitraum bis 1980 vgl. auch Neidhardt 1982b, S. 437, 441. Kopp 2007, S. 91. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 441; Rabert 1995, S. 199-200; Pfahl-Traughber 2014a, S. 173.

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listischem Ton zu berichten wusste: „Randfiguren der Stadtguerilla, so etwa die Amateur‑Bombenbastler aus den ‚Revolutionären Zellen‘, leben vom ‚BAföG‘.“5227 Trotz des reduzierten Kostenaufwandes trat oftmals finanzielle Knappheit auf. Hierin unterschied sich das Konzept der RZ nicht von den Modellen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“: „[W]ir hatten […] echt kein Geld, wir hatten genug Geldschwie­ rigkeiten“5228, räumte Gerd‑Hinrich Schnepel resümierend ein. Zumindest während der ersten Jahre der RZ, als Gewalttaten gegen Per­ sonen gänzlich außerhalb ihrer operativen Überlegungen lagen, flankierte wohl ein geringer Bedarf an Schusswaffen die vergleichsweise marginalen finanziellen Belastungen. Waffen benötigten die Aktivisten allenfalls zum Befüllen ihres persönlichen Depots, das im Falle drohender Festnahme das Leben in der Illegalität erleichtern sollte.5229 Schließen ließ sich dies gleichermaßen aus der Freigiebigkeit, welche die „Revolutionären Zellen“ in den Jahren 1973 und 1974 im Umgang mit ihrem nennenswerten Ar­ senal bestehend aus Pistolen, Maschinenpistolen und Sturmgewehren5230 signalisierten. Der „Gruppe 4.2.“ der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ überließen sie bereitwillig Schusswaffen.5231 Zu den Motiven dieses Gütertransfers lässt sich nur spekulieren. Vermutlich ver­ sprachen sich die wenigen Gründer der RZ im Falle der RAF ein per­ sonelles Unterstützen ihrer Kampagnen – dies legten die Erinnerungen Margrit Schillers nahe, welche von der perspektivischen, schlussendlich jedoch gescheiterten Einbindung der „Roten Armee Fraktion“ in die 1973 anlässlich des chilenischen Staatsstreichs ersonnene Anschlagsserie der RZ berichteten.5232 Gesichert sind derartige Hintergedanken mit Blick auf Wilfried Böses Ansinnen, Anfang 1975 die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ für eine gemeinsame Aktion zur Befreiung „politi­ scher Gefangener“ zu gewinnen. Neben der geteilten Verbundenheit mit den Inhaftierten bildeten personelle Erwägungen eine zentrale Triebkraft, was angesichts der überschaubaren Mitgliederstärke des für „Gefangenen­ befreiung“ verantwortlich zeichnenden, international agierenden Zirkels der RZ unumgänglich sein musste. Unumwunden forderte Böse von der B2J „zwei bis drei Leute, die sich […] beteiligen sollten.“5233 Die Versor­ 5227 5228 5229 5230 5231 5232 5233

Der Spiegel 1979a, S. 70. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Klein 1979a, S. 173. Vgl. ebd., S. 189-190. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131; Meyer 2008, S. 338. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66.

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gung der „Gruppe 4.2.“ mit Schusswaffen könnte daneben als Geste inter­ pretiert werden, die den „Revolutionären Zellen“ den Zugriff auf die Waf­ fenbestände der RAF sichern sollte, sofern sich dazu eine Notwendigkeit ergab. Jedenfalls befand sich Böse ob der Hilfe für die ersten Nachfolger der RAF-Gründer in einer komfortablen Verhandlungsposition, als er En­ de 1975 dazu überging, „sich bei der RAF eine Waffe zu besorgen, die wir [die internationale Zelle der RZ] seiner Meinung nach unbedingt brauchten.“5234 Wo die „Revolutionären Zellen“ aufgrund ihrer Entscheidung gegen eine ausgedehnte „illegale“ Infrastruktur logistische Engpässe erlebten, substituierten sie den Aufbau eigener Fähigkeiten zuvorderst durch den Schulterschluss mit ausländischen Partnern.5235 Deutlich weitreichender als die Erste Generation der „Roten Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ schöpften sie damit internationale Beziehungen entlang handfes­ ter praktischer Bedürfnisse aus. Die Nachfrage nach gefälschten Identitäts­ dokumenten stillten sie zum einen durch die freiwillige Übergabe von Reisepässen aus einer sympathisierenden Peripherie5236 sowie das Entwen­ den von Ausweisen, welche sie „auf Universitätsfeten und in Lokalen“5237 beim Durchsuchen der „an […] Garderoben abgelegte[n] Mäntel und Taschen“5238 vorfanden. Zum anderen bemühten sie die „illegalen“ Vor­ räte der baskischen ETA, die Magdalena Kopp zufolge Materialien zum Herstellen falscher Papiere lieferte und folglich einen „Anfang für die Lo­ gistik der RZ“5239 ermöglichte. Wichtiger als europäische Akteure sollten in der monetären sowie in der immateriellen und materiellen Festigung der „Revolutionären Zellen“ die Palästinenser werden. „[A]ufgrund ihrer weitreichenden logistischen Ressourcen und ihre[r] Verbindungen“5240 kamen sie aus Sicht der RZ „ein wenig […] [der] Heilsarmee auf dem Bahnhof“5241 gleich, zu der nicht nur aus Gründen einer genuinen inter­ nationalistischen Solidarität zwingend Kontakt hergestellt werden muss­ te. Wer den „Anspruch [realisieren wollte], zu lernen und Mittel zu fin­ den, um die Mächtigen an ihren empfindlichen Stellen zu treffen“5242,

5234 5235 5236 5237 5238 5239 5240 5241 5242

Klein/Libération 1978, S. 295. Vgl. Kopp 2007, S. 71. Vgl. Meyer 2008, S. 316. Kahl 1986, S. 109. Ebd. Vgl. auch Klein 1979a, S. 83. Kopp 2007, S. 71. Siemens 2006, S. 316. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Johannes Weinrich, zit. n. ebd.

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so die damalige Überzeugung der Gründer der RZ, „konnte […] sich von den Palästinensern nicht abnabeln.“5243 Oder anders formuliert: „Sie wurden [von den RZ] gesucht, weil man sie brauchte“5244. Die „Revolu­ tionären Zellen“, deren Mitglieder anfangs offenbar kaum „mehr als die eigene Radikalität und die Erfahrung der Straßenmilitanz“5245 zu bedienen vermochten, lockten diverse Vorzüge einer Kooperation mit dem palästi­ nensischen „Widerstand“: das Absichern der Logistik, ohne „dabei teures Lehrgeld“5246 zahlen zu müssen, der Wissenstransfer zum „bewaffneten Kampf“, Rückzugsräume im Nahen Osten und etwaige Optionen, die politische Kanäle Wadi Haddads zu Regierungen boten.5247 Ferner ver­ sprach sich das Netzwerk von einer Zusammenarbeit Aktionen im Sinne der „politischen Gefangenen“ der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“, welche sich „nicht […] mit Leuten machen [ließen], die tagsüber ganz normal arbeiten gingen.“5248 Tatsächlich zahlten sich die Verflechtungen mit der später als „Avantgarde eines praktischen Internationalismus“5249 verbrämten PFLP‑SOG aus. Hans-Joachim Klein hielt dazu in seiner Au­ tobiographie fest: Die „Logistik […] kommt nun mal von denen.“5250 Indes forderte dies den Preis der Korrumpierbarkeit.5251 Die Palästinenser verlangten Gegenleistungen, einen „endlosen Katalog“5252 – ganz nach der Devise: „Wenn wir Euch helfen, dann wollen wir im Gegenzug das und das.“5253 Während die „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ das Abtauchen von Mitgliedern der RZ im Nahen Osten bei wachsendem Fahndungsdruck in Westdeutschland, das Ausbilden an und Ausstatten mit Waffen wie auch das Versorgen mit finanziellen Hilfen gewährleistete,5254 überließen die „Revolutionären Zellen“ der PFLP-SOG unter anderem gefälschte Fluggutscheine, die diese

5243 5244 5245 5246 5247 5248 5249 5250 5251 5252 5253 5254

Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.; Kopp 2007, S. 71, 103. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Klein 1979a, S. 81. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 316. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Ähnlich Klein 1979a, S. 80. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73; Klein/Libération 1978, S. 293; Klein 1979a, S. 78, 191-192; Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Kopp 2007, S. 91, 95-96, 101, 103; Kraushaar 2017, S. 276-277.

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„zu Geld machen konnte“5255, sowie personelle Kräfte zum Vorbereiten und Durchführen von Aktionen.5256 Überdies beinhaltete das gegenseitige Stärken die Übergabe von „Passfälschungen“5257. Anders als die vorwiegend vermittels eigener Kräfte logistisch konso­ lidierte „Bewegung 2. Juni“ und die aufgrund ihres „Feierabendterroris­ mus“ entlasteten „Revolutionären Zellen“ blickten die Aktivisten der zweiten Nachfolgegruppe der „Baader/Meinhof-Gruppe“ – die Stockhol­ mer Botschaftsbesetzer – im Jahre 1974 auf eine beachtlich verminderte Aktionsfähigkeit. Anfangs verfügten die Mitglieder des Zirkels offenbar lediglich über eine konspirative Unterkunft in Frankfurt am Main sowie über eine „Wohnung in Köln und […] ein Briefmarkenalbum, in dem Passstempelabdrücke gesammelt wurden, die zum Fälschen von Pässen notwendig sind.“5258 Wissen zu den Einzelheiten linksterroristischer Akti­ vitäten fehlte: „Die Unwissenheit und Unerfahrenheit im Umgang mit Waffen oder Sprengstoff war […] groß“ 5259. Laut Volker Speitel gingen der Gruppe schließlich aus dem linksextremistischen Umfeld sukzessive „Geld­ spenden oder […] Papiere“5260 zu. „40 oder 50 Pässe“5261 sollen in ihren Besitz gelangt sein. Personalzuwachs gelang ebenso wie das Erweitern der Infrastruktur, welche der Fortbewegung und Unterbringung diente.5262 Das unter anderem aus „eine[r] Art Wildwest-Colt“5263 – einer ehemali­ gen, umgebauten „Requisitenwaffe“5264 – bestehende Waffendepot füllte sich infolge der zu diesem Zweck hergestellten Beziehung zu Züricher Anarchisten um Petra Krause, die den „Einbruch in verschiedene Depots der [Schweizer] Armee“5265 gewagt hatten.5266 Von dieser Gruppe erhielt die „Rote Armee Fraktion“ – angeblich – eine „Reisetasche mit Maschi­ nenpistole, Stielhandgranaten und Sprengstoff“5267. In dem Konsens, sich „nicht so lange im Logistischen verlieren“5268 zu wollen wie die „Gruppe 5255 5256 5257 5258 5259 5260 5261 5262 5263 5264 5265 5266 5267 5268

Kopp 2007, S. 76. Vgl. auch Klein 1979a, S. 191. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 73, 79; Kopp 2007, S. 76, 103-104. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Speitel 1980a, S. 41. Ebd. Ebd., S. 46. Ebd. Vgl. ebd., S. 46-49; Taufer 2018, S. 97. Speitel 1980a, S. 49. Ebd. Gyr 2017. Vgl. Der Spiegel 1977c, S. 34. Ebd. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 93.

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4.2.“ und das subjektiv als schmal empfundene „Zeitfenster“5269 für das Freipressen inhaftierter RAF-Mitglieder einzuhalten, setzten die Stockhol­ mer Botschaftsbesetzer frühzeitig auf Kontakte zu weiteren Akteuren des „bewaffneten Kampfes“. Diese erlaubten ihnen das Schließen einzelner Lü­ cken im Unterbau. Den auch in ihren Reihen existierenden Personalbedarf suchten sie gezielt durch das Anfordern von zwei Aktivisten der „Bewe­ gung 2. Juni“ zu decken.5270 Defizitäre Erfahrung glichen sie aus, indem sie mit Ilich Ramírez Sánchez einen Vertreter der PFLP in die Planungen zu ihrer Aktion einbanden.5271 Der dringend benötigte Zufluchtsort für die zu befreienden „politischen Gefangenen“ war ebenfalls Gegenstand von Absprachen mit den Palästinensern.5272 Den abermaligen Zusammenbruch der Logistik, welcher mit dem Schei­ tern der Geiselnahme in Stockholm einherging, konnte die „Rote Armee Fraktion“ durch die Vermittlung ihrer Gründer rasch in einen Neuaufbau überführen. Ihr Vernetzen schuf eine personelle Basis aus mehreren Grup­ pen, die sich dem Wiedererstarken der RAF widmen konnten. Ausgehend von „ein paar Mark und zwei Pistolen“5273 erweiterte sich die finanzielle und materielle Ausstattung. Hierzu beigetragen haben dürfte zum einen der Grundstock, den die Mitglieder der in der „Roten Armee Fraktion“ aufgehenden „Dorff/Tauras-Bande“ selbstständig durch Banküberfälle5274 und Waffenkäufe in der Schweiz angelegt hatten: „Kalaschnikows, Pistolen und Revolver […] haben wir in der Schweiz gekauft. Die Schweizer gingen damit um wie mit Kuckucksuhren: Was, eine vollautomatische Waffe wollen Sie? Da gehen wir mal in den Keller, da können sie [sic] alles ausprobieren.“5275 Zum anderen gewährleistete die wohl elf Mitglieder fassende Zweite Ge­ neration um Siegfried Haag und Roland Mayer eigeninitiativ das Versor­ gen des Zirkels.5276 Schusswaffen suchte sie „im Aostatal und am Lago Maggiore“5277 zu erwerben. Haag, Mayer und Christian Klar „erstanden

5269 5270 5271 5272 5273 5274 5275 5276 5277

Taufer 2018, S. 97. Vgl. Meyer 2008, S. 58. Vgl. Jander 2008, S. 154. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 122. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 28. Vgl. Wunschik 1997, S. 200. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 106. Vgl. Peters 2008, S. 372. Der Spiegel 1977b, S. 25.

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zwei Revolver sowie zwei Pistolen“5278, Rolf Heißler beschaffte unter Nut­ zung einer falschen Identität ein Fahrzeug.5279 „394 Blankoausweise“5280 erlangte die Gruppe im Zuge eines Einbruchs in ein Tiroler Passamt. Knapp 510 000 DM erbeuteten ihre Mitglieder bei drei Banküberfällen zwischen September und Dezember 1976.5281 Wie schon die „Gruppe 4.2.“ und die Stockholmer Botschaftsbesetzer setzten sie überdies auf die Unterstützung der Palästinenser in praktischen Belangen: Der Aufenthalt im Spätsommer 1976 in einem Ausbildungslager der PFLP-SOG schuf den für ein Rekonsolidieren notwendigen sicheren Raum. Durch ein Trainingsangebot erweiterten sich die Kenntnisse der Aktivisten im Um­ gang mit Schusswaffen.5282 Bei dieser Gelegenheit wurde zudem ein Gü­ tertausch ins Auge gefasst. Angeblich habe Siegfried Haag „vereinbart, dass die RAF‑Aufbaugruppe panzerbrechende sowjetische Raketen bekom­ men und dafür die Palästinenser mit elektronischer Ausrüstung versorgen sollte.“5283 Bis Ende 1976 schuf die Zweite Generation eine logistische Ausgangslage, welche den Sicherheitsbehörden übereinstimmend als „fort­ geschritten“5284 galt. Im Anschluss an die Lorenz-Entführung sah sich die „Bewegung 2. Ju­ ni“ einem Verlust an Schlagkraft gegenüber, von dem sie sich bis Ende 1977 nicht erholen sollte. Zunächst beanspruchte die Westberliner Kern­ gruppe erfolgreich ihre Verbindungen in den Nahen Osten, kam doch offenbar ein Teil der Mitglieder – vermutlich unter Mithilfe der PFLP – im Libanon unter, wo sie eine Kampfausbildung durchlaufen haben sollen.5285 Nach der Rückkehr gewährleistete sie die monetäre Versorgung: Zwei Banküberfälle Mitte 1975 resultierten in einer Gesamtbeute von mehr als 200 000 DM.5286 Ab Ende April 1975 setzte indes der Zerfall ein. Bis März 1976 kam es zur Festnahme von neun Aktivisten der B2J – darunter langjährige, erfahrene Mitglieder, wie zum Beispiel Ralf Reinders

5278 5279 5280 5281 5282 5283 5284

Kraushaar 2017, S. 203. Vgl. ebd. Horchem 1988, S. 63. Vgl. Peters 2008, S. 372-373. Vgl. Sontheimer 2007, S. 108; Peters 2008, S. 426-427; Kraushaar 2017, S. 203. Sontheimer 2007, S. 106-108. Bundesministerium des Innern 1977, S. 125. Zur Einschätzung des Bundeskri­ minalamtes vgl. Kraushaar 2017, S. 204. 5285 Vgl. Viett 2007, S. 145; Meyer 2008, S. 60. Ähnlich Reinders/Fritzsch 2003, S. 109; Rollnik/Dubbe 2007, S. 48. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 273. 5286 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 170; Meyer 2008, S. 69; Danyluk 2019, S. 207.

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und Inge Viett. Angelika Goder „war […] fast die Einzige, die noch in Ber­ lin“5287 im Untergrund agieren konnte. Die Polizei Westberlins entdeckte fünf konspirative Wohnungen, vier Garagen sowie mehrere Fahrzeuge. Sie beschlagnahmte „[n]ahezu alles technische Material“5288: Langwaffen, etliche Pistolen, Munition, ein Fotolabor, gefälschte Identitätsnachwei­ se,5289 „eine größere Anzahl von Blanko-Vordrucken für Kraftfahrzeug­ scheine“5290, „Führerscheine, Filmnegative und Folien für die Herstellung von Kraftfahrzeugscheinen und Führerscheinen […] sowie hunderte von teilweise auf Metallfolie aufgebrachten Stempelabdrücken verschiedener deutscher Städte, Behörden und Bundeswehrdienststellen“5291. Die perso­ nelle und materielle Not der B2J verschärfte sich im Frühjahr 1977, als die Sicherheitsbehörden im Tegeler Forst ein umfangreiches Waffen- und Munitionsdepot entdeckten sowie mit Heinz Herlitz und Harry Stürmer zwei Unterstützer des Zirkels verhafteten.5292 Überstehen konnte die „Bewegung 2. Juni“ diesen Verlust des Mitglie­ derstamms und der „gesamte[n] Logistik“5293 nur dank der fortgesetzten Hilfestellung der Palästinenser. Indem die „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ zwei Gründerinnen der B2J – Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann – über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr einen sicheren Unterschlupf im Südjemen gewährte und ihnen das Vernetzen mit Mitgliedern ande­ rer linkterroristischer Zirkel erlaubte, trug der palästinensische „Wider­ stand“ wesentlich zum Fortbestehen der Westberliner Gruppe bei. Im Rückzugsraum des Nahen Ostens ließen sich Pläne zu einem Wiederauf­ bau fassen, ohne die Vorsichtsmaßnahmen beachten zu müssen, welche üblicherweise aufgrund der bundesrepublikanischen Strafverfolgung ange­ zeigt erschienen. Eine der zentralen Grundlagen der „Stadtguerilla“ – der personelle Unterbau – geriet in dieser Periode abermals in den Fokus. Die B2J verschrieb sich dem Befreien inhaftierter Mitstreiter, konnte aller­ dings nicht die hierfür erforderlichen Ressourcen abrufen. Wie aus den Erinnerungen Hans-Joachim Kleins geschlossen werden konnte, hatten sie

5287 5288 5289 5290 5291 5292

Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110. Viett 2007, S. 168. Vgl. Dietrich 2009, S. 66-82. Ebd., S. 68. Ebd., S. 69. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 121; Dietrich 2009, S. 115-118; Danyluk 2019, S. 495, 530. 5293 Viett 2007, S. 168.

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„Not am Mann“5294. Da die „in den befreiten Zonen“5295 der Palästinen­ ser ansässige internationalistische Strömung der „Revolutionären Zellen“ gleichermaßen das Freilassen „politischer Gefangener“ als verpflichtend wertete und dabei mit einer dünnen Personaldecke umgehen musste, ent­ wickelten sich logistische Überlegungen zur Triebfeder eines temporären Zusammenschlusses unter dem Schirm der PFLP‑SOG, deren Agenda mitunter die Haftentlassung eigener Mitglieder aus israelischer Haft vor­ sah.5296 In diesem Triumvirat konnte jede Gruppe durch das Bündeln der jeweiligen Fähigkeiten und das daraus folgende Maximieren der Ak­ tionsstärke von den anderen beteiligten Akteuren profitieren. Punktuell einbezogen wurden augenscheinlich im Nahen Osten lebende Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“, die mangels belastbarer Strukturen der RAF in Westdeutschland zunächst nicht in den linkterroristischen Untergrund der Bundesrepublik zurückkehren konnten. Wie auch die „Revolutionären Zellen“ zahlte die „Bewegung 2. Juni“ einen Preis für die Vorteile, welche die PFLP‑SOG als „mächtige[r] Freund“5297 einräumte. Zu sehen ist dieser in dem Mitwirken Gabriele Kröcher‑Tiedemanns am Überfall Ende 1975 auf die OPEC-Konferenz in Wien, der allein den Zielen der Palästinenser förderlich sein sollte.5298 Die B2J bediente sich der Kenntnisse und des Personals der interna­ tional auftretenden RZ, um zugunsten inhaftierter Linksterroristen eine Aktion gegen die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ in Brüssel oder Luxemburg vorbereiten zu können.5299 Später brachten sich ihre Mitglie­ der – angeblich – gemeinsam mit der RAF in Überlegungen und Vorkeh­ rungen zu einer von zwei parallelen „Befreiungsaktionen“ ein, die mit den Palästinensern koordiniert worden sein sollen.5300 Von einem solchen Vorhaben übrig blieb die nach Wadi Haddads Vorstellungen konzipier­ te5301 gewaltsame Übernahme einer Maschine der „Air France“ durch ein palästinensisches „Kommando“ unter Beteiligung von Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, in deren Verlauf die „Bewegung 2. Juni“ wohl allen­

5294 5295 5296 5297 5298 5299 5300 5301

Klein 1979a, S. 212. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Klein 1979a, S. 78-80. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 285. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Klein 1979a, S. 53. Vgl. ebd., S. 79, 212. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 84; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 142. Vgl. Kraushaar 2017, S. 277.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

falls eine Nebenrolle in Form von „logistische[r] Hilfe“5302 einnahm.5303 Abgesehen von der „Gefangenenbefreiung“ beinhaltete das in den Jahren 1975 und 1976 beobachtbare Geflecht aus PFLP‑SOG, B2J, RZ und RAF arbeitsteilige Bemühungen zum Beschaffen finanzieller Mittel. Laut Klein akzeptierte die „Bewegung 2. Juni“ eine ursprünglich an die RZ heran­ getragene Idee der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“, welche das Erpressen von fünf Millionen US-Dollar Lösegeld und eine anschließende „Gewinnbeteiligung“5304 für die westdeutsche „Stadtguerilla“ vorgesehen hätte. Die Ausführung habe sie schließlich an die „Rote Armee Fraktion“ abtreten müssen, die erfolglos zur Tat schritt, während Wilfried Böse das Erpresserschreiben auf den Weg brachte.5305 Nach dem Tod Böses und Kuhlmanns nahm die B2J die im Aktions­ raum des Nahen Ostens beheimatete internationalistische Gruppe der RZ auf, welche zu diesem Zeitpunkt lediglich aus Hans‑Joachim Klein bestand. Klein selbst forcierte dieses Zusammenführen in erster Linie ob fehlender Alternativen: Seine Verbindungslinie nach Europa war un­ terbrochen, eine Ausreise aus dem Nahen Osten nur nach Wiederherstel­ len des Kontakts durch die „Revolutionären Zellen“ in Westdeutschland möglich.5306 In der „Bewegung 2. Juni“ boten sich ungleich bessere Per­ spektiven, da deren desolater Unterbau im Zuge des Ausbruchs Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts Mitte 1976 aus der Haft in Westberlin schlagartig eine Stabilisierung erfahren hatte. Mithilfe eines „ETA-Genossen“5307, der in Deutschland aktiven RZ und Verbindungen zu den Palästinensern war es ihnen gelungen, dem Fahndungsdruck durch Zuflucht im arabischen Raum zu entgehen.5308 Die Zusammenführung Plambecks, Rollniks und Vietts mit Gabriele Kröcher-Tiedemann und In­ grid Siepmann sowie die Teilnahme an einer Kampfausbildung in einem Lager der PFLP-SOG im Südjemen5309 mündeten in einer personellen Aus­ gangslage, welche es der B2J erlaubte, das Augenmerk auf eine weitere, ele­

5302 5303 5304 5305 5306 5307 5308 5309

Danyluk 2019, S. 285. Vgl. Meyer 2008, S. 74. Klein 1979a, S. 79. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71; Klein/Libération 1978, S. 293-294; Klein 1979a, S. 79. Vgl. Klein 1979a, S. 207-209. Viett 2007, S. 159. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Rollnik/Dubbe 2007, S. 64. Vgl. Klein 1979a, S. 207-208; Rollnik/Dubbe 2007, S. 63-66; Viett 2007, S. 160-165.

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mentare Voraussetzung des „bewaffneten Kampfes“ zu legen: „die Siche­ rung der ökonomischen Grundlage.“5310 Die Gruppe sei „knapp bei Kas­ se“5311 gewesen und ein finanzielles Unterstützen durch die Palästinenser ins Ungewisse gerückt.5312 In dieser Situation setzte die „Bewegung 2. Ju­ ni“ auf ein eigenständiges Erweitern ihrer Logistik in mehreren europä­ ischen Staaten. Wenngleich sich die zweckdienliche Beziehung zu der von Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann aufgebauten internationalistischen RZ alsbald mit dem Ausstieg Hans‑Joachim Kleins zerschlug,5313 konnte die B2J ihre bewusst forcierte Unabhängigkeit5314 von der Infrastruktur Wadi Haddads beibehalten. Nach und nach etablierte die „Bewegung 2. Juni“ in Italien und Öster­ reich eine aus Waffen, konspirativen Wohnungen und Fahrzeugen beste­ hende logistische Infrastruktur, die „ausschließlich für […] eine Entfüh­ rungsaktion“5315 mit Lösegeldforderung beansprucht werden sollte.5316 Denn Überfälle auf Banken, die der B2J von ihrer Gründung an mehr als 700 000 DM eingebracht hatten, erschienen den „Illegalen“ inzwischen als zu risikoreich.5317 „Die Technik und die Sicherheitsmaßnahmen zur Ver­ teidigung des Geldes waren enorm verstärkt und entwickelt worden“5318, konstatierte Viett rückblickend in ihrer Autobiographie. Ausgehend von den Geldern der Geiselnahme, so die Hoffnung der „Bewegung 2. Juni“, würde ein ausreichendes finanzielles Polster „für Wohnungen, für Autos, für alles Mögliche“5319 erwachsen, mit dem die Gruppe eine „große Befrei­ ungsaktion“5320 in Angriff nehmen könnte. Diese Freipressung suchte die B2J nach der Rückkehr aus dem Südjemen nicht nur in monetärer Hin­ sicht vorzubereiten. Auch auf personeller Ebene sah sie Handlungsbedarf. Zweifellos war das in diesen Zeitraum fallende Sich‑Annähern an die „Ro­ te Armee Fraktion“ primär einem strategischen Konsens in internationalis­ tischen Fragen geschuldet. Ihm wohnten gleichermaßen handfeste prakti­ sche Erwägungen inne: die Kombination der Kräfte zur Verbesserung der

5310 5311 5312 5313 5314 5315 5316 5317 5318 5319 5320

Viett 2007, S. 169. Klein 1979a, S. 213. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 209-210. Vgl. Meyer 2008, S. 387-388. Viett 2007, S. 169. Vgl. ebd.; Dietrich 2009, S. 119-121, 128-131; Danyluk 2019, S. 306. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75. Vgl. auch Der Spiegel 1979a, S. 74. Viett 2007, S. 169. Rollnik/Dubbe 2007, S. 75. Ebd.

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eigenen Erfolgsaussichten. Für die zeitgleich verfolgte Kontaktaufnahme der aktiven Ebenen der B2J zu den RZ dürften diese sogar maßgeblich ge­ wesen sein.5321 Schließlich standen die Strategien beider Akteure einander diametral gegenüber, was sich in der ablehnenden Reaktion der „Revolu­ tionären Zellen“ auf das Anliegen der „Bewegung 2. Juni“ widerspiegel­ te.5322 Nachdem sich ebenfalls die Pläne zu einem Zusammengehen mit der „Roten Armee Fraktion“ zerschlagen hatten, kam es im Untergrund lediglich zu einer niedrigschwelligen Kooperation in genuin logistischen Angelegenheiten sowie in Aspekten des Eigenschutzes. Im Zentrum stand – neben dem vorherigen Benachrichtigen zu anstehenden Aktionen – der Güteraustausch. Die B2J erhielt von der RAF Identitätsnachweise, die „Rote Armee Fraktion“ bat im Gegenzug um Schusswaffen.5323 Wäh­ rend die personelle Stärkung im Vorfeld einer Aktion zugunsten der „po­ litischen Gefangenen“ – abgesehen vom Beitritt Klaus Viehmanns und Thomas Gratts – unerfüllt blieb, schloss die „Bewegung 2. Juni“ die peku­ niären Vorkehrungen Ende 1977 mit der Entführung Walter Palmers‘ ab. Sie erbeutete umgerechnet mehr als vier Millionen DM.5324 In dieser Periode befanden sich die „Revolutionären Zellen“ anfangs in einer komfortablen Stellung. Sie blickten auf ein Netzwerk aus Gruppen in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Westberlin – darunter vier Zirkel in Frankfurt am Main.5325 Zu ihrer Mitgliederzahl fehlten gesicherte In­ formationen. Die Sicherheitsbehörden attestierten ihnen jedoch einen „ho­ hen technischen Ausrüstungsstand“5326. Infolge des Zusammenbruchs der internationalistischen Zelle sowie der Abwanderung ihrer in Westdeutsch­ land lebenden Befürworter in die spätere „Organisation Internationaler Revolutionäre“ fiel der logistische Aufwand weg, welcher sich zum einen aus dem Leben Böses, Kuhlmanns und Kleins in der Illegalität, zum ande­ ren aus den material- wie kostenintensiven Gewalttaten der international agierenden RZ hatte ergeben müssen. An die Stelle der Kontakte zur 1978 zerfallenden PFLP-SOG, deren Aktivisten den „Revolutionären Zellen“ unter anderem Schusswaffen überlassen konnten, sollte eine auf materiel­ le Bedürfnisse fixierte Beziehung zur baskischen ETA treten.5327 Ob dies gelang, lässt sich nicht belegen. Eine erhebliche Belastung erfuhr der per­ 5321 5322 5323 5324 5325 5326 5327

Vgl. ebd., S. 68-74. Vgl. Siemens 2006, S. 361. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110; Meyer 2008, S. 390. Vgl. Korndörfer 2008, S. 252. Vgl. Kahl 1986, S. 108. Bundesministerium des Innern 1979, S. 118. Vgl. Kahl 1986, S. 108.

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sonelle und materielle Unterbau des Netzwerkes erstmals im Jahre 1978, als mehrere Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ den Schritt in den Untergrund vollzogen. Da nach wie vor „für Illegale […] keinerlei Struk­ turen“5328 existierten, konnten die RZ sie in Westdeutschland nicht als „aktive“ Mitglieder halten. Um eine „Gefährdung für unverdächtige Mit­ glieder“5329 auszuschließen, richtete das Netzwerk an etwaige „Illegale“ die Aufforderung, sich aus den „organisatorischen Strukturen heraus[zu]hal­ ten“5330. Nicht wenige waren wohl aufgrund dieser rigorosen Haltung gezwungen, ins Ausland zu fliehen – so zum Beispiel Sabine Eckle, Christi­ an Gauger, Rudolf Schindler und Sonja Suder.5331 Darüber hinaus verlor das Netzwerk im Jahre 1978 infolge des Aufdeckens mehrerer Depots beachtliche Bestände an Waffen, Sprengmitteln und Munition.5332 Wäh­ rend der sich anschließenden Schwächephase setzten die „Revolutionären Zellen“ zum einen auf ein Rekrutieren neuer Aktivisten aus gesellschaftli­ chen Protestbewegungen unter anderem gegen den Bau von Kernkraftwer­ ken.5333 Zum anderen griffen sie entlang „persönlich motivierte[r] Verbin­ dungen“5334 nach den Vorzügen der internationalen Zusammenarbeit: Die OIR avancierte Ende der 1970er Jahre zu einem Lieferanten für Waffen und Sprengstoff, was einzelne Mitglieder der RZ augenscheinlich mit Ku­ rierdiensten vergolten.5335 Einen logistischen Austausch mit der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ initiierten sie hingegen nicht. Spätestens im Jahre 1981 fanden die „Revolutionären Zellen“ zur ihrer vormaligen Aktionsstärke zurück.5336 Anders als zuvor führte das Verhaften führender „Illegaler“ im Novem­ ber 1976 nicht zu einer existentiellen Schwächung der „Roten Armee Fraktion“. Nach der Festnahme Siegfried Haags, Roland Mayers und Wal­ traud Boocks stützte sich die Zweite Generation weiterhin auf ein solides personelles Grundgerüst, welches unter anderen Verena Becker, Peter-Jür­

5328 5329 5330 5331 5332 5333 5334 5335 5336

Schindler 2002. Kram 2009. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1981, S. 112; Schindler 2002; Spiegel On­ line 2012. Vgl. Kahl 1986, S. 140-141, 147; Der Spiegel 1978c, S. 39; Bundesministerium des Innern 1979, S. 118; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 84. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 84, 90, 102, 146, 305; Unsichtbare 2022, S. 68. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 120.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

gen Boock, Knut Folkerts, Rolf Heißler, Christian Klar, Adelheid Schulz, Günter Sonnenberg, Rolf Clemens Wagner und Stefan Wisniewski um­ fasste.5337 Die durch die „Haag/Mayer-Bande“ angesammelte Logistik blieb intakt. Trotz der Verhaftung Beckers und Sonnenbergs im Mai 19775338 zeigte sich die Gruppe in der Lage, ihre Handlungsfähigkeit sukzessive auszubauen. Als „deutliche Verstärkung“5339 sahen ihre Angehörigen den Beitritt Brigitte Mohnhaupts. Unter ihrer Anleitung wuchs die Personen­ zahl der „Illegalen“ auf rund 20 Mitglieder an.5340 Den hohen finanziellen Bedarf – Schätzungen der Sicherheitsbehörden beliefen sich auf mehr als zwei Millionen DM für die Aktionen gegen Siegfried Buback, Jürgen Pon­ to und Hanns Martin Schleyer5341 beziehungsweise auf Ausgaben „pro Nase und Monat […] [in Höhe von bisweilen] bis zu siebzigtausend Mark“5342 – konnten sie decken. 18 weitere Handfeuerwaffen erlangten die „Aktiven“ bei einem Überfall Anfang Juli 1977 auf ein Waffengeschäft in Frankfurt am Main.5343 Ferner griff die RAF 1977 auf mindestens 20 kon­ spirative Wohnungen in mehreren europäischen Ländern sowie auf 23 Fahrzeuge zu.5344 Wie alle Gruppen der „Roten Armee Fraktion“ vor ihm, bediente sich der Zirkel um Mohnhaupt auch der praktischen Möglich­ keiten der Palästinenser, die eigene Defizite auszugleichen vermochten. Während des „Deutschen Herbstes“ – einer Phase erhöhten Fahndungs­ drucks in der Bundesrepublik – kam ein Teil ihrer Aktivisten mithilfe der PFLP-SOG im Nahen Osten unter.5345 In diesem Rückzugsraum genossen sie die in der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ regelmäßig herange­ zogene Option, sich „aus[zu]ruhen vom Schattendasein in den eigenen Gefilden.“5346 Nach zunehmender Aussichtslosigkeit der Schleyer‑Entfüh­ rung kombinierte die RAF daneben ihre vollständig gebundene personelle Kraft mit jener der „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“, indem sie einer zweiten, parallel verlaufenden

5337 Vgl. Wunschik 1997, S. 196, 232-233, 246; Peters 2008, S. 377; Danyluk 2019, S. 485. 5338 Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 121; Aust 2020, S. 699-701. 5339 Wunschik 1997, S. 248. 5340 Vgl. ebd., S. 255; Winkler 2008, S. 308. 5341 Vgl. Der Spiegel 1979a, S. 69. 5342 Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 34. 5343 Vgl. Schulz 2017. 5344 Vgl. Horchem 1988, S. 65; Wunschik 1997, S. 253; Wackernagel 2017, S. 11. 5345 Vgl. Wunschik 1997, S. 265. 5346 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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Geiselnahme unter alleiniger Verantwortung der Palästinenser zustimm­ te.5347 Obgleich sich die PFLP-SOG offenbar nach dem Scheitern der Aktionen in den Kontakten zur „Roten Armee Fraktion“ verärgert darüber zeigte, „dass ihr Kommando in Mogadischu ‚verheizt‘ worden sei“5348, gewährte sie der RAF ununterbrochen Privilegien. Wohl bis Ende 1977 verweilte die „Rote Armee Fraktion“ im Irak und überstand damit weitgehend un­ beschadet die in der Bundesrepublik forcierte Strafaufklärung.5349 Später sollen die Palästinenser sogar das medizinische Versorgen Peter-Jürgen Boocks in Ostberlin arrangiert haben.5350 Konnte die Zweite Generation noch Anfang 1978 basierend auf einem neu geschaffenen logistischen Unterbau in Frankreich5351 und einem „Minimum an Logistik“5352 in Westdeutschland die Vorbereitungen für eine anspruchsvolle Aktion wie das Entführen des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher ansto­ ßen,5353 geriet sie bis Mitte 1978 in personeller wie in finanzieller Hin­ sicht „in eine[n] desolaten Zustand“5354. Durch Verhaftungen in Paris und Zagreb verlor der Zirkel am 11. Mai 1978 fünf Mitglieder, darunter die tonangebenden Aktivisten Peter-Jürgen Boock, Brigitte Mohnhaupt und Stefan Wisniewski.5355 Zeitgleich habe die Gruppe „dringend Geld benötigt“5356 – letztmalig größere Einnahmen erzielt hatte sie Ende 1976 mit einem Banküberfall in Wien. Abermals erwiesen sich nun praktische Bedürfnisse als Bedingungsfaktor einer Interaktion mit anderen Akteuren des Linksterrorismus, wobei die RAF nicht mehr nur auf ausländische Partner setzte. Von Gesprächen mit den „Brigate Rosse“ erhoffte sie sich einen Ausgleich ihres reduzierten Personalstamms in Gestalt einer gemein­ samen Gewalttat. Die B2J sollte um eine Summe aus dem Lösegeld der Entführung Walter Palmers‘ gebeten werden. Beides ließ sich aufgrund verschiedener Gründe – ideologische Vorbehalte der BR, Unauffindbar­ keit der von der „Bewegung 2. Juni“ in Italien vergrabenen Barmittel

5347 5348 5349 5350 5351 5352 5353 5354 5355 5356

Vgl. Peters 2008, S. 427-428; Winkler 2008, S. 329. Wunschik 1997, S. 268. Vgl. Peters 2008, S. 477. Vgl. Wunschik 1997, S. 294. Vgl. ebd., S. 293. Ebd., S. 294. Vgl. Peters 2008, S. 477. Sigrid Sternebeck, zit. n. Wunschik 1997, S. 297. Vgl. Peters 2008, S. 480-481. Silke Maier-Witt, zit. n. Wunschik 1997, S. 385.

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– nicht umsetzen.5357 Allerdings wertete die B2J das Waffenarsenal der RAF auf, überließ sie dieser doch im Tausch für eine Faustfeuerwaffe eine Maschinenpistole.5358 Als rettender Anker erwiesen sich einmal mehr die Beziehungen in den arabischen Raum: Die Verflechtungen mit der PFLP führten zum einen zu dem Freilassen der in Jugoslawien arretierten Mit­ glieder, was der angespannten personellen Lage entgegenwirkte.5359 Diese hatte sich im Herbst 1978 mit dem Tod Willy‑Peter Stolls und Micha­ el Knolls sowie mit dem Verhaften Angelika Speitels erneut verschlechtert – Silke Maier‑Witt sollte später von ruinösen Gegebenheiten sprechen.5360 Zum anderen stellten die Palästinenser ein Darlehen sowie ihre Infrastruk­ tur im Südjemen zur Verfügung, die ein Wiedervereinigen und Ausbilden der Zweiten Generation erlaubte.5361 Nach dem bis Februar 1979 anhaltenden Aufenthalt im Nahen Osten richtete die Zweite Generation den Blick insbesondere auf die Existenzsi­ cherung – mit einer durchwachsenen Bilanz. Im Vordergrund stand der Versuch, der pekuniären Knappheit durch eigene Maßnahmen zu begeg­ nen. Aushelfen musste zunächst die „Bewegung 2. Juni“, von der die „Ro­ te Armee Fraktion“ augenscheinlich eine finanzielle Leihgabe erhielt.5362 Zwar vermochte die RAF, ausgehend von drei Banküberfällen bis Ende 1979 etwa 550 000 DM in ihren Besitz zu bringen. Die Raubzüge forderten aber den Tod Elisabeth von Dycks, die Verhaftung Rolf Heißlers und Rolf Clemens Wagners, den Ausstieg Werner Lotzes sowie den Verlust mehrerer konspirativer Wohnungen in Westdeutschland,5363 welche unter anderem „eine Werkstatt zur Herstellung falscher Ausweispapiere“5364 be­ herbergten. Während sich der Personalstamm durch die Reintegration Peter‑Jürgen Boocks und die Aufnahme Wolfgang Beers und Helmut Pohls schnell erholte,5365 blieb die finanzielle Ausstattung unverändert problembehaftet. Rasch schmolz der monetäre Zugewinn, da der Zirkel für das Vorbereiten des Anschlags gegen den US-amerikanischen General Alexander Haig neben dem grundlegenden Unterbau in Frankreich zeit­ weilig eine sekundäre Logistik in Brüssel unterhalten musste, die zusätzli­

5357 5358 5359 5360 5361 5362 5363 5364 5365

Vgl. ebd., S. 298, 385, 387; Peters 2008, S. 482. Vgl. Peters 2008, S. 513. Vgl. Der Spiegel 1982b, S. 133; Horchem 1988, S. 144; Wunschik 1997, S. 389. Vgl. Wunschik 1997, S. 304-306; Winkler 2008, S. 364-365. Vgl. Wunschik 1997, S. 306; Peters 2008, S. 487. Vgl. Wunschik 1997, S. 385-386. Vgl. ebd., S. 311-312, 318-319, 323-324. Bundesministerium des Innern 1980, S. 103. Vgl. Wunschik 1997, S. 316-317; Peters 2008, S. 508.

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che Miet- und Reisekosten verursachte.5366 Hinzu kamen Forderungen der Palästinenser und der „Bewegung 2. Juni“ nach Rückzahlung der kürzlich gewährten Darlehen.5367 Die Kerngruppe der „Bewegung 2. Juni“ um Gabriele KröcherTiedemann, Gabriele Rollnik, Ingrid Siepmann und Inge Viett, welche nach dem Zerschlagen der selbsternannten „Auslandsfiliale“5368 Norbert Kröchers und Manfred Adomeits in Stockholm als letzte Gruppe den Untergrund der B2J aufrechterhielt,5369 widmete sich im Anschluss an das Entführen Walter Palmers‘ und die aus ihm hervorgehende monetäre Stabilität sowohl dem Erweitern des Personals als auch der materiellen Basis. Der Beitritt Ingrid Barabaß‘, Christian Möllers, Regina Nicolais und Gudrun Stürmers brachte nur bedingt Erleichterung. Nachdem Thomas Gratt festgenommen worden war, gerieten Kröcher-Tiedemann und Möl­ ler in der Schweiz in Haft.5370 Gleichwohl einsetzen konnte „in Italien und Belgien […] [die] Regenerierung der technisch-materi­ ellen Ausstattung […]: Dokumente beschaffen, drucken und fälschen, Waffen und Munition besorgen, Depots anlegen […] [u]nd immer wieder ausgedehnte Touren an die französische Mittelmeerküste, um in den Domänen der Reichen das Lösegeld [der Familie Palmers] zu wechseln.“5371 In Westberlin etablierte die B2J ebenfalls eine auf konspirative Wohnun­ gen gestützte Logistik.5372 Diese bildete den Ausgangspunkt für das Befrei­ en Till Meyers im Mai 1978 aus der Haft. Als Beitrag zur Konsolidierung der Gruppe angelegt,5373 geriet sie zum Auftakt eines personellen wie logistischen Niedergangs. Im Laufe der verbleibenden Monate des Jahres 1978 verlor die „Bewegung 2. Juni“ sechs der zehn aktiven Mitglieder. Klaus Viehmann fassten die deutschen Behörden in Westberlin, Angelika Goder, Till Meyer, Gabriele Rollnik und Gudrun Stürmer in Bulgarien. Ingrid Siepmann kehrte dem Zirkel aufgrund ihrer Zweifel am „bewaffne­ ten Kampf“ in Europa freiwillig den Rücken. In der Illegalität befanden sich nunmehr lediglich Ingrid Barabaß, Regina Nicolai, Juliane Plambeck 5366 5367 5368 5369 5370 5371 5372 5373

Vgl. Peters 2008, S. 500. Vgl. Winkler 2008, S. 366. Kröcher 1998. Vgl. Danyluk 2019, S. 291-292. Vgl. ebd., S. 307, 310-311. Viett 2007, S. 174. Vgl. Dietrich 2009, S. 82-83. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 81.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

und Inge Viett.5374 Fortbestehen konnte der von ihnen konstituierte Unter­ grund abermals auf Grundlage der Unterstützung externer Partner. Mit der Deutschen Demokratischen Republik trat dabei erstmals ein staatlicher Akteur in größerem Umfang an die bislang von linksterroristischen Akteu­ ren – wie beispielsweise der PFLP-SOG, den „Roten Brigaden“, der RAF oder den RZ – dominierte Stelle. Das Ministerium für Staatssicherheit veranlasste zum einen das Freilassen der nach ihrer Flucht aus Bulgarien in der Tschechoslowakei kurzzeitig in Haft geratenen „Illegalen“. Zum anderen bot es ihnen zwischen dem 28. Juni und 12. Juli 1978 einen sicheren Unterschlupf in der DDR.5375 Selbiges leisteten kurz danach die Palästinenser mit ihrer Infrastruktur im Nahen Osten.5376 Als die „Bewegung 2. Juni“ in Paris einen Neubeginn ihres „bewaffne­ ten Kampfes“ ins Auge fasste, konzentrierte sie sich mit einem Personal­ stamm aus teilweise „völlig unerfahren[en]“5377 Aktivisten auf die „alltägli­ chen Aktivitäten […]: Sicherung der Wohnsituation, Depots anlegen und überwachen, Materialien beschaffen, Techniken weiterentwickeln, Doku­ mente herstellen“5378. Als zentraler Standort diente eine verdeckt beschaff­ te Wohnung im Pariser Stadtteil Clichy.5379 Von dort aus unternahmen die „Aktiven“ offenbar regelmäßig Reisen nach Westdeutschland, wo ebenfalls eine Logistik erwachsen sollte.5380 Anders als in Frankreich zeitigten ent­ sprechende Bemühungen begrenzte Erfolge: „Es war unglaublich schwer, […] [in der Bundesrepublik] wieder logistisch Fuß zu fassen“5381, erinner­ te sich Inge Viett. Unter dem Eindruck der „Machtlosigkeit […] [und] Zersplitterung unserer Aktivitäten“5382 nahm die „Bewegung 2. Juni“ die vor dem „Deutschen Herbst“ abgebrochenen Gespräche mit der „Roten Armee Fraktion“ wieder auf. Stellten praktische Erwägungen in diesem Moment – neben strategischer Orientierungs- und Perspektivlosigkeit so­ wie politischer Isolation5383 – allenfalls ein Bruchstück der Motivation dar, wandelten sie sich wenig später zur alleinigen Triebkraft in der Bezie­ hung zur RAF. Denn im Mai 1980 – nach dem wohl ob persönlicher

5374 5375 5376 5377 5378 5379 5380 5381 5382 5383

Vgl. Dietrich 2009, S. 144; Danyluk 2019, S. 315-316, 528. Vgl. Wunschik 1997, S. 393; Viett 2007, S. 205-207; Danyluk 2019, S. 315. Vgl. Viett 2007, S. 208-209. Ebd., S. 209. Ebd., S. 210. Vgl. Danyluk 2019, S. 341. Vgl. Viett 2007, S. 210. Ebd. Ebd., S. 213. Vgl. ebd., S. 211-213.

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Erwägungen vollzogenen Eintritt Juliane Plambecks in die „Rote Armee Fraktion“5384 – durchsuchte die französische Polizei die Unterkunft in Paris-Clichy. Dies zog einen empfindlichen Einbruch im Unterbau der B2J nach sich. Die Hälfte der „Illegalen“ sowie zwei Unterstützerinnen des Zirkels wurden festgenommen. Beschlagnahmen konnten die Sicherheits­ behörden „Sprengstoff, Waffen, Chemikalien, Fachliteratur und Fälscheru­ tensilien“5385. Darüber hinaus entdeckten sie Notizen, welche die Position weiterer konspirativer Quartiere der „Bewegung 2. Juni“ anzeigten.5386 Von der Struktur des Zirkels übrig blieb im Wesentlichen Inge Viett und die Beute aus der Palmers‑Entführung. Diese Notlage gipfelte schließlich im Zusammenführen des Untergrundes der B2J mit jenem der RAF. Inge Viett hielt dazu in ihrer Autobiographie fest: „Ich gehe zur RAF. Eine Alternative sehe ich nicht.“5387 Der „Roten Armee Fraktion“ bot die Zusammenführung mit der „Bewe­ gung 2. Juni“ mehrere gewichtige Vorteile. Das Eingliedern Inge Vietts – einer langjährigen, mehrfach im Nahen Osten ausgebildeten Aktivistin – erweiterte die Personaldecke der RAF, welche infolge der inneren Los­ lösung Susanne Albrechts, Baptist Ralf Friedrichs, Christine Dümleins, Monika Helbings, Werner Lotzes, Silke Maier-Witts, Ekkehard von Se­ ckendorff-Gudents und Sigrid Sternebecks, des Ausstiegs von Peter-Jür­ gen Boock und der Verhaftung Sieglinde Hofmanns veritable Lücken aufwies.5388 Viett brachte darüber hinaus Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit ein. Auch in finanzieller Hinsicht musste sich der RAF die Aufnahme der „Bewegung 2. Juni“ als gewinnbringend zeigen, konnte die­ ser Schritt doch den bedingungslosen Zugriff auf die Restsumme aus der hohen Lösegeldzahlung der Familie Palmers und somit eine Linderung des anhaltenden monetären Defizits in greifbare Nähe rücken lassen. Bei­ des – den Kanal zum MfS, die Barmittel der B2J – machte sich die „Rote Armee Fraktion“ schon bald nach der Auflösung der „Bewegung 2. Juni“ zu Nutze. Der ostdeutsche Geheimdienst entlastete die „illegale“ Struktur der RAF, indem er ab Sommer 1980 zunächst acht ausstiegswilligen Mit­ gliedern das dauerhafte Niederlassen in der Deutschen Demokratischen Republik ermöglichte.5389 Die Finanzen der B2J überführte die „Rote Ar­

5384 5385 5386 5387 5388 5389

Vgl. ebd., S. 210. Danyluk 2019, S. 342. Vgl. ebd. Viett 2007, S. 217. Vgl. Wunschik 1997, S. 328; Wunschik 2006a, S. 484-485; Peters 2008, S. 513. Vgl. Peters 2008, S. 556-557.

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8.2 Gruppen- und Aktionsstärke

mee Fraktion“ ebenso in die eigenen Depots wie die Schusswaffen der „Be­ wegung 2. Juni“.5390 Die RAF konnte die Unterhaltskosten der Illegalität mithilfe der Gelder ausreichend decken, so eine von Danyluk präsentierte Einschätzung Gabriele Rollniks.5391 Dennoch blieb die Aktionsfähigkeit der RAF im Jahre 1980 begrenzt. Zwei weitere „Illegale“ – Wolfgang Beer und Juliane Plambeck – sowie di­ verse Schusswaffen und gefälschte Identitätsnachweise verlor sie aufgrund eines Autounfalls. Der Tod Plambecks mündete zudem im Aufdecken einer konspirativen Unterkunft in Heidelberg sowie im Sicherstellen von 34 000 DM aus den finanziellen Beständen der Gruppe. Ende 1980 stützte sich die „Rote Armee Fraktion“ lediglich auf sieben Mitglieder: Henning Beer, Ingrid Jakobsmeier, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Helmut Pohl, Adelheid Schulz und Inge Viett. Die RAF beanspruchte eine Opti­ on, welche ihr in den vergangenen Jahren wiederholt erlaubt hatte, her­ ausfordernde, mitunter sogar existenzgefährdende Phasen zu überstehen: den Rückzug in ein Ausbildungslager der Palästinenser im Südjemen.5392 Praktische Bedürfnisse bestimmten gleichermaßen den Ausbau der Bezie­ hungen zu einem anderen Akteur. Im September 1980 suchte die „Rote Armee Fraktion“ eine Bereitschaft des MfS zur „finanziell[en] und mate­ riell[en]“5393 Unterstützung zu klären. Neben Barmitteln versprach sich die RAF wohl Zugriff auf Sprengstoff und Trainingseinheiten des Minis­ teriums für Staatssicherheit. Der ostdeutsche Geheimdienst ließ sich auf zwei Unterstützungsleistungen ein: das Nutzen des Staatsgebiets der Deut­ schen Demokratischen Republik als sicheren Hafen und das Ausbilden von RAF-Mitgliedern im Nahkampf sowie an Waffen.5394 Nicht belastbar zu belegen, aber dennoch plausibel ist die Schlussfolgerung zu einer un­ mittelbaren Auswirkung der von der DDR bereitgestellten Hilfen auf die Kontakte der „Roten Armee Fraktion“ zu den Palästinensern, welche die RAF wohl letztmalig 1981 mit einem mehrmonatigen Aufenthalt Inge Vi­ etts im Nahen Osten bediente.5395 Art und Rahmenbedingungen der – angeblich – bis zum Frühjahr 1984 bestehenden5396 Unterstützung des Mi­ nisteriums für Staatssicherheit dürften – abgesehen von der strategischen Neuausrichtung des Jahres 1982 – wesentlich dazu beigetragen haben, 5390 5391 5392 5393 5394 5395 5396

Vgl. Viett 2007, S. 218-220; Danyluk 2019, S. 343. Vgl. Danyluk 2019, S. 309. Vgl. Peters 2008, S. 506, 516, 519. Viett 2007, S. 230. Vgl. Wunschik 1997, S. 395-397; Peters 2008, S. 578-579. Vgl. Viett 2007, S. 243. Vgl. Schulz 2017. Vgl. auch Straßner 2003, S. 271.

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dass die stets unter logistischen Gesichtspunkten aufrechterhaltene Inter­ aktion mit dem palästinensischen „Widerstand“ trotz des ungebrochenen Entgegenkommens der PLO5397 zum Erliegen kam. Das MfS konnte weit­ aus größere Ressourcen abrufen und Inhalte mit höherer Professionalität vermitteln.5398 Überdies war es aufgrund der geringeren räumlichen Dis­ tanz risikoloser zu erreichen als die Strukturen im Nahen Osten, welche vielfach mittels langgestreckter Flugverbindungen über mehrere Staaten besucht werden mussten.5399 Nachdem sich der zwischenzeitlich um Gisela Dutzi erweiterte personel­ le Unterbau aufgrund der 1981 einsetzenden Distanzierung Henning Beers und Inge Vietts abermals reduziert hatte,5400 legte die „Rote Armee Frakti­ on“ ihr Augenmerk zunehmend auf den Gedanken einer „antiimperialisti­ schen Front“. Wie die erste Version aus dem Jahre 1977 offenbarte, wohn­ ten dieser in genuin militärischer Logik erarbeiteten Strategie von Beginn an handfeste personelle und materielle Interessen inne. Laut Volker Speitel sollten die einzelnen Kräfte der „Front“ zur Stärkung der Kampfkraft zu­ sammengezogen werden und auf eine gemeinsame Versorgung zugreifen: „Dem strategischen Entwurf der RAF nach sollte sich […] eine […] Stufe anschließen, in der sich Kommandos bilden, die aus Mitgliedern der verschiedenen [linksterroristischen] Gruppen [in Westeuropa] zu­ sammengesetzt sind. Die Bildung einer gemeinsamen Logistik sollte […] das erste Etappenziel der gesamten Entwicklung sein.“5401 Die offensive Suche der Autoren des „Mai-Papiers“ nach Massierung gleichgesinnter Mitstreiter ließ die RAF augenscheinlich über organisato­ rische und strategische Differenzen hinwegsehen. Denn sie führte die Gruppe zunächst offenbar zu den „Revolutionären Zellen“. Als alleinige Triebkraft konnten logistische Erwägungen die Gräben jedoch nicht über­ winden: Angeblich lehnte das Netzwerk das Bündeln der operativen Mög­ lichkeiten ab.5402 Die sich in der Kooperation mit dem MfS und den Planungen zu einer „antiimperialistischen Front“ widerspiegelnden Engpässe verschärften sich zwischen 1982 und 1984. Die vormals als gesichert geltenden Finanzen

5397 5398 5399 5400 5401 5402

Vgl. Viett 2007, S. 244. Vgl. Winkler 2008, S. 380. Vgl. Viett 2007, S. 227, 242-243. Vgl. Der Spiegel 1981e, S. 31; Peters 2008, S. 563-566. Speitel 1980c, S. 34. Vgl. Der Spiegel 1982b, S. 133.

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des Zirkels bedurften einer Aufstockung. Nach einem knapp dreijährigen Verzicht auf Banküberfälle erbeutete die „Rote Armee Fraktion“ im Sep­ tember 1982 mehr als 110 000 DM.5403 Weitere 171 000 DM erlangte sie im März 1984 bei einem Überfall in Würzburg.5404 Mindestens 65 000 DM entzog die westdeutsche Polizei dem Zirkel, als sie im Herbst 1982 die auf Erddepots in der Bundesrepublik gestützte Logistik der RAF enttarnte.5405 Diesen Erfolg werteten die Sicherheitsbehörden abwechselnd als „beachtli­ chen Einbruch“5406 und „einschneidend[es]“5407 Ereignis. Denn sie be­ schlagnahmten nicht nur Gelder, sondern auch etliche andere Güter der „Roten Armee Fraktion“: „Sechs Maschinenpistolen, fünf Gewehre, siebzehn Pistolen, fünf Handgranaten. Über fünftausend Schuss Munition, 3,6 Kilogramm Sprengstoff. Über zweitausend Ausweise […] [und] Fälschungsutensi­ lien.“5408 Mitte 1984 büßte die RAF zwei konspirative Wohnungen, mehrere Zehn­ tausend DM, sechs Faustfeuerwaffen, über 250 Schuss Munition sowie diverse Identitätsnachweise ein.5409 Daneben verlor sie insgesamt 13 „Akti­ ve“. Mit ihrer Ausreise 1982 in die DDR trennten sich Henning Beer und Inge Viett endgültig von der „Roten Armee Fraktion“. Gisela Dutzi, Chris­ ta Eckes, Barbara Ernst, Stefan Frey, Manuela Happe, Ingrid Jakobsmeier, Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt, Helmut Pohl, Adelheid Schulz und Ernst-Volker Staub gerieten in Haft.5410 8.2.3 Rückgang der Abhängigkeiten Die Aktionsfähigkeit der „Revolutionären Zellen“ steigerte sich Anfang der 1980er Jahre merklich. Sichtbarster Indikator waren die zunehmenden Brand- und Sprengstoffanschläge des Netzwerkes. Überdies mehrten sich die „Anhaltspunkte dafür […], dass sich neue Personenkreise zu ‚Zellen‘

5403 5404 5405 5406 5407 5408 5409 5410

Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 100; Kahl 1986, S. 131. Vgl. Horchem 1988, S. 144; Schulz 2017. Vgl. Horchem 1988, S. 143-144. Generalbundesanwalt, zit. n. Der Spiegel 1982b, S. 130. Bundesministerium des Innern 1983, S. 101. Peters 2008, S. 531. Vgl. auch Kahl 1986, S. 130; Horchem 1988, S. 143-144. Vgl. Peters 2008, S. 597-598. Vgl. ebd., S. 563, 566, 597-598; Schulz 2017.

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zusammengeschlossen“5411 hatten. Räumlich konzentrierten sich die RZ vor allem in Norddeutschland, Nordrhein‑Westfalen, der Rhein‑Main‑Re­ gion sowie in Westberlin.5412 Mindestens acht Zirkel sollen in diesem Zeitraum aktiv gewesen sein.5413 Zur Zahl ihrer Mitglieder existierte wei­ terhin erhebliche Unsicherheit,5414 was sich zum einen in entsprechenden Bekundungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz,5415 zum anderen in den starken Schwankungen behördlicher Schätzungen zeigte. Der 1982 vom Bundesministerium des Innern herausgegebene dritte Band der „Ana­ lysen zum Terrorismus“ sprach von „gegenwärtig […] ungefähr 50 Mitglie­ dern“5416. Der Verfassungsschutzverbund verständigte sich mit Blick auf das Jahr 1983 „auf insgesamt rund 200“5417 Angehörige – im drauf folgen­ den Jahr senkte er die Summe „auf etwa 50, höchstens auf 80“5418 Perso­ nen. Die finanzielle und materielle Versorgung des Netzwerkes entkoppel­ ten ihre Mitglieder wohl gänzlich von ausländischen Hilfen, welche wäh­ rend der 1970er Jahre zentrale praktische Bedürfnisse der „Zellen“ hatten stillen können.5419 Angeblich entzogen sich die „Revolutionären Zellen“ bewusst dem Kontaktspektrum der „Organisation Internationaler Revolu­ tionäre“,5420 das sich laut Thomas Kram vor allem auf „gegenseitige logisti­ sche Unterstützung“5421 gründete. Dieser weitreichende Schritt entsprang nicht allein einer Einsicht in die problematischen Facetten internationa­ ler Verflechtungen oder die ideologischen Unterschiede.5422 Dem Kappen wertvoller Beziehungen ins Ausland vorausgegangen sein dürfte zudem ein nüchternes Abwägen, welches eine ausreichende Versorgung des eige­ nen, weiterhin anspruchslosen Unterbaus auch im Falle fehlender grenz­ übergreifender Verbindungen bestätigte. Ob die „Revolutionären Zellen“ ihre Logistik nach der Trennung von der OIR im Wege von Kontakten zur „Roten Armee Fraktion“ absicherte, lässt sich nicht abschließend klä­ ren. Bislang fehlen jedenfalls plausible Hinweise auf einen in den 1980er 5411 Bundesministerium des Innern 1983, S. 104. 5412 Vgl. Horchem 1986, S. 17; Kahl 1986, S. 143; Rabert 1995, S. 200; Dietrich 2009, S. 150. 5413 Vgl. Neidhardt 1982b, S. 441. 5414 Zu den möglichen Gründen der Unsicherheit vgl. Pfahl-Traughber 2014a, S. 5. 5415 Vgl. Bundesministerium des Innern 1983, S. 104. 5416 Neidhardt 1982b, S. 441. 5417 Horchem 1988, S. 90. 5418 Ebd. Vgl. auch Horchem 1986, S. 17. 5419 Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 5420 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 172. 5421 Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 5422 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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Jahren betriebenen Güteraustausch zwischen RAF und RZ, wie er im vorangegangenen Jahrzehnt bestand. Die ab dem Sommer 1984 aus wenigen Aktivisten erwachsende Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ sah sich einem Wiederbeleben der personellen, finanziellen und materiellen Infrastruktur gegenüber. Da­ bei fehlten ihr Zugänge, mit denen die RAF in der Vergangenheit Schwä­ chephasen überwunden hatte. Die Kanäle zu den Palästinensern waren schon länger nicht mehr bedient, einstige Verbindungen somit unterbro­ chen worden.5423 Anfang 1984 hatte die „Rote Armee Fraktion“ offenbar zudem die streckenweise bemerkenswert ergiebige Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit eingestellt.5424 Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, stützte die Dritte Generation ihre Logistik ganz im Sinne des 1982 manifestierten „Front‑Gedankens“ auf mehrere Säulen in Europa. In Westdeutschland beschafften sich die „Illegalen“ zum einen aus eigener Kraft die für ihren „bewaffneten Kampf“ erforderlichen Mittel. Anfang November 1984 brachten sie im Zuge eines Überfalls auf ein Waffenge­ schäft „22 Pistolen und Revolver, zwei Gewehre und 2.800 Schuss Muniti­ on“5425 in ihren Besitz. Zugeschrieben wurde den „Aktiven“ überdies der Diebstahl „große[r] Mengen an Sprengzündern und Sprengschnüren“5426 im Januar 1985 in Baden-Württemberg. Rund 170 000 DM erbeuteten sie 1985 nach Angriffen auf Geldboten.5427 Zum anderen akzeptierte die Drit­ te Generation in Gestalt seines engeren Umfeldes einen von ihr beeinfluss­ ten Linksterrorismus, der aufgrund seiner exklusiven Ausrichtung gegen Objekte und des Verharrens seiner Mitglieder in der Legalität nicht auf die für den „Kommandobereich“ typische Logistik angewiesen war. Ähnlich wie die Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ konnten die Anhänger des engeren Umfeldes ihren Lebensunterhalt grundsätzlich vermittels re­ gulärer beruflicher Tätigkeit bestreiten und technisch anspruchslosere An­ schläge begehen.5428 Letzte reichten vom Zerstechen von Fahrzeugreifen über das Aufbringen schädigender Substanzen auf Elektroanlagen bis zur Detonation von Sprengmitteln, welche in Feuerlöschern platziert worden waren.5429

5423 5424 5425 5426 5427 5428 5429

Vgl. Horchem 1988, S. 167. Vgl. Schulz 2017. Ebd. Bundesministerium des Innern 1986, S. 122. Vgl. ebd. Vgl. Straßner 2003, S. 85. Vgl. Schulz 2017.

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Von diesem Diversifizieren des strategischen Portfolios der „Roten Ar­ mee Fraktion“ profitierte die Spitze der Dritten Generation zunächst in personeller Hinsicht, gipfelte die aktive Einbindung legaler Mitstreiter doch in einem Anwachsen der Mannstärke, was wiederum ein Mehr an Aktionen mit dem Signet der RAF ermöglichte. Sodann zahlte sich die Er­ weiterung auf logistischer Ebene durch ein gemeinschaftliches Güternut­ zen aus: Die „Illegalen“ und ihr engeres Umfeld teilten Wissen, Material und Quartiere.5430 Unter dem zentralen Vorzug einer legalen Existenz – einem Agieren jenseits polizeilichen Fahndungsdrucks – leisteten allen voran die „Militanten“ einen Beitrag „zur Logistik der RAF, indem sie konspirative Wohnungen anmieteten [und] Geld, Waffen und Ausweise versteckten“5431. Das Bereitstellen von Unterkünften durch vertrauenswür­ dige ideologisch Gleichgesinnte bot eine weitere Risikominimierung im Wohnungswesen der „Roten Armee Fraktion“, welches die „Illegalen“ bereits insofern verfeinert hatten, als nicht mehr das eigenständige Anmie­ ten von Unterkünften durch die „Aktiven“, sondern das Unterkommen in Mietverhältnissen von polizeilich unauffälligen, der RAF nicht näher bekannten Personen vorgesehen war.5432 Als weiterer Pfeiler im Unterbau der Dritten Generation erwiesen sich grenzübergreifende Verbindungen nach Belgien und Frankreich. Diese blieben allerdings weit unterhalb des Niveaus der vorangegangenen Inter­ aktion mit der PFLP und dem MfS, die sowohl einen dem Zugriff west­ deutscher Behörden vollständig entzogenen Rückzugsraum als auch mili­ tärische Ausbildungseinheiten hatten offerieren können. Ihren Sprengstoff bezog die „Rote Armee Fraktion“ nachweislich aus jenen Beständen, wel­ che die „Cellules Communistes Combattantes“ Anfang Juni 1984 aus einem Steinbruch in der belgischen Gemeinde Écaussinnes entwendet haben sollen.5433 Die RAF fand in Belgien Unterschlupf in Wohnungen, welche Mitglieder der CCC gleichermaßen nutzten.5434 Eine enge Bezie­ hung entwickelte sich zu der in Frankreich agierenden, ebenfalls um eine logistische Stärkung bemühten5435 „Action Directe international“ – dies spiegelte sich zuvorderst in gemeinsamen Anschlagskampagnen wider.5436 Beide unterstützten sich zudem „u.a. mit Waffen, Sprengmitteln und Aus­ 5430 5431 5432 5433 5434 5435 5436

Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 124-125. Straßner 2003, S. 85. Vgl. Peters 2008, S. 516-517. Vgl. Horchem 1988, S. 167; Schulz 2017. Vgl. Der Spiegel 1986a, S. 12; Straßner 2003, S. 307; Fendt/Schäfer 2008, S. 196. Vgl. Dartnell 1995, S. 87. Vgl. Gursch 2008, S. 182-183.

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weispapieren“5437. Sprengstoff der ADi setzte die RAF Ende 1984 während ihres Überfalls auf ein Waffengeschäft in Maxdorf ein.5438 Mindestens drei der bei dieser Aktion erlangten Faustfeuerwaffen überreichte die „Rote Armee Fraktion“ der „Action Directe international“.5439 Ferner überließ die Dritte Generation ihren französischen Mitstreitern Fahrzeugscheine5440 sowie eine Gebrauchsanweisung zur Nutzung eines Narkosemittels.5441 Letztes sollte vermutlich im Zuge einer Entführung zum Einsatz kommen, welche die „Action Directe international“ zu diesem Zeitpunkt offensicht­ lich plante.5442 Die ADi wiederum lieh der RAF finanzielle Mittel, was ihr ob des Erbeutens großer Summen bei Banküberfällen problemlos möglich war.5443 Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtete 1987 von einem Darlehen in Höhe von 200 000 DM.5444 Trotz mancherlei Rückschlags – darunter das Verhaften Ingrid Barabaß‘, Karl-Friedrich Grossers und Eva Haule-Frimpongs, das Enttarnen mehrerer konspirativer Wohnungen und das Beschlagnahmen von Waffen durch die Sicherheitsbehörden5445 – avancierte die „Rote Armee Fraktion“ bis Ende 1986 zu einem strukturell gefestigten Akteur. Sie erreichte das in der „antiimperialistischen Front“ verankerte Ziel, ihre Aktionsmöglichkeiten mit mehreren Partnern im Angriff auf – vermeintliche – imperialistische Feindbilder zu bündeln. Die „Illegalen“ verfügten außerdem erneut über „mehrere Verstecke, in denen Waffen, Munition, Sprengstoff […] [und] Personaldokumente“5446 eingelagert wurden. Ihre Ausstattung verfeinerten sie insofern, als sie zusätzlich „Sender‑Suchlaufgeräte“5447 erlangten, wel­ che ihnen das Abhören polizeilichen Funkverkehrs erleichterten. Rückbli­ ckend auf das Jahr 1985 hielt das Bundesamt für Verfassungsschutz fest, „[d]er ‚Kommandobereich‘ der ‚Roten-Armee-Fraktion‘ hat gegenwärtig mit etwa 20 Personen wieder eine Personalstärke wie Mitte der 1970er Jahre.“5448 Auch wenn diese quantitative Einschätzung aufgrund der limi­ 5437 5438 5439 5440 5441 5442 5443 5444 5445

Bundesministerium des Innern 1987, S. 138. Vgl. Straßner 2003, S. 302. Vgl. Der Spiegel 1987a, S. 128. Vgl. Horchem 1988, S. 167. Vgl. Straßner 2003, S. 305. Vgl. Horchem 1988, S. 166; Dartnell 1995, S. 90. Vgl. Dartnell 1995, S. 89. Vgl. Der Spiegel 1987a, S. 129. Vgl. auch Gursch 2008, S. 182. Vgl. Der Spiegel 1987a, S. 128; Bundesministerium des Innern 1986, S. 122; Bundesministerium des Innern 1987, S. 132-133, 139. 5446 Bundesministerium des Innern 1985, S. 112. 5447 Der Spiegel 1989b, S. 18. 5448 Bundesministerium des Innern 1986, S. 120-121.

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tierten Einblicke in den Untergrund der Dritten Generation ebenso mit Vorsicht betrachtet werden muss wie die Mitgliederzahl der „Revolutionä­ ren Zellen“,5449 lässt sich eine ausreichende Personaldecke angesichts der kontinuierlichen Anschläge der „Aktiven“ in den Jahren 1985 und 1986 nicht abstreiten. Die Peripherie der „Roten Armee Fraktion“ trugen wohl mehrere Hundert Aktivisten: Angeblich bis zu 50 Personen beteiligten sich an den Strukturen der „Illegalen Militanten“, rund 200 an den Aktivitäten des engeren, militanten Umfeldes. Etwa 2000 Aktivisten wurden dem weiteren, legalistisch ausgerichteten Bereich zugerechnet.5450 Vor dem Hintergrund der mithilfe ausländischer Unterstützung und eigener Mittel konsolidierten materiellen, finanziellen und personellen Ausstattung der „Roten Armee Fraktion“ vermag die fehlende logistische Zusammenarbeit zwischen der RAF und den RZ – etwa beim Beschaffen und Verarbeiten von Sprengstoffen5451 – nicht zu verwundern. Für den Verzicht auf eine praktische Kooperation ausschlaggebend gewesen sein könnte ein banaler Grund: Da die „Rote Armee Fraktion“ verlässliche Quellen zur Sicherung ihrer Logistik erschlossen hatte, war sie auf einen Austausch mit den „Re­ volutionären Zellen“ nicht (mehr) angewiesen. Die RZ gingen Mitte der 1980er Jahre in der „F-Kampagne“ zu einer bundesweiten Anschlagskampagne über. Obgleich sich ihr Netzwerk wohl zwischenzeitlich durch Auflösungen im Rhein-Main-Gebiet reduziert hat­ te,5452 ließ es nach wie vor eine Vielzahl von Aktionen zu. Den räumlichen Schwerpunkt der „Zellen“ bildete mittlerweile Westberlin – ein Ort, an dem die RZ während der vorangegangenen Jahre strukturelle Schwäche zu beklagen hatten.5453 Dort existierten zwei Zirkel: Eine der „Zellen“ umfasste sechs, die andere drei Personen. Entgegen früheren Grundsät­ zen integrierten die Westberliner RZ illegal lebende Aktivisten in ihren Unterbau.5454 Weitere Gruppen bestanden in Nordrhein-Westfalen und in Norddeutschland.5455 Die Anfang der 1980er Jahre ins Auge gefasste logistische Unabhängigkeit festigte sich. Belastbare Anhaltspunkte für ein

5449 Vgl. Straßner 2003, S. 109. 5450 Vgl. ebd., S. 83; Straßner 2006, S. 494-495. 5451 Vgl. Abschnitt 4 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5452 Vgl. Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in ebd. 5453 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 103-104. 5454 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001; Dietrich 2009, S. 154. 5455 Vgl. Abschnitt 1 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004.

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Beanspruchen der Ressourcen anderer linksterroristischer Akteure im Inund Ausland finden sich nicht5456 – dies, obwohl über Gerhard Albartus unverändert grenzübergreifende Verbindungen bestanden.5457 Offensicht­ lich trat an die Stelle früherer internationaler Unterstützung ein stärkeres Zusammenwirken der „Zellen“. Abzulesen war dies aus zwei Vorhaben: das Erlangen finanzieller Mittel und das Erbeuten großer Mengen an Sprengstoff. Der durch Aktionen und deren Vorbereitung vorgegebene monetäre Bedarf hatte sich infolge der Aufnahme „Illegaler“ erhöht. Die „Revolutionären Zellen“ versorgten diese mit einem monatlichen Betrag in Höhe von bis zu 1500 DM, so Tarek Mousli.5458 Zwar erhielten die RZ in Westberlin regelmäßig nennenswerte finanzielle Zuwendungen aus der örtlichen linksextremistischen Szene. Die Gelder stellte ein mit einem RZ‑Mitglied besetzter „Koordinierungsausschuss“ bereit,5459 wel­ cher auf Grundlage von Spenden „ein jährliches Budget von 100.000,-bis 150.000,-- DM“5460 verwaltete. Derartige Leistungen reichten aber nicht aus.5461 Das Netzwerk entschloss sich daher dazu, Finanzen selbst zu be­ schaffen. Anders als die „Rote Armee Fraktion“, die ihre Gelder bis 1985 unverändert gewaltsam erlangt hatte, griffen die RZ in Übereinstimmung mit ihrem „Feierabendterrorismus“ zu einem risikoloseren Mittel. Ihre Mitglieder fälschten Postsparbücher, die sie 1986 „an über 40 Orten an einem Tag“5462 vorlegten. Gelungen sei ihnen das Auszahlen von etwa einer halben Million DM.5463 Im Jahr darauf stahlen Aktivisten der „Revo­ lutionären Zellen“ in Niedersachsen knapp 133 Kilogramm gewerblichen Sprengstoffs sowie 195 Meter Sprengschnur.5464 Da es sich hierbei um eine „‚Auftragsarbeit‘ für alle RZ-Gruppen“5465 handelte, die auf einem voran­ gegangen Delegiertentreffen beschlossen worden war, teilten die Zirkel die

5456 Vgl. Ausführungen zum ersten und dritten Prozesstag in Protokoll zum Pro­ zess gegen Tarek Mousli 2000. 5457 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 29-31. 5458 Vgl. Abschnitt 9 in Unterkapitel VI des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5459 Vgl. Dietrich 2009, S. 155-156. 5460 Ebd., S. 155. 5461 Vgl. Abschnitt 9 in Unterkapitel VI des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5462 Vgl. Ausführungen zum dritten Prozesstag in Protokoll zum Prozess gegen Tarek Mousli 2000. 5463 Vgl. Ausführungen zum ersten Prozesstag in ebd. 5464 Vgl. Dietrich 2009, S. 160. 5465 Ebd.

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Explosivmittel im Anschluss auf. Während die „Revolutionären Zellen“ den Sprengstoff in Westdeutschland unter anderem in einem Erddepot versteckten,5466 nutzten sie in Westberlin das ehemalige Industriegelände des Mehringhofs in der Gneisenaustraße 2a als gesichertes Lager.5467 Die Eignung des von Linksextremisten genutzten Mehringhofs ergab sich aus seinen baulichen Besonderheiten.5468 Ihm eilte außerdem der Ruf eines „rechtsfreie[n] Raum[s]“5469 voraus. Ein Zugriff der Sicherheitsbehörden erwies sich ob des dortigen „Gewaltpotentials“5470 regelmäßig als Heraus­ forderung. Den Sprengstoff setzten die „Revolutionären Zellen“ und die „Rote Zora“ in den folgenden Jahren bei mehreren Anschlägen ein.5471 Nach wie vor zeichneten sich ihre Tatmittel durch vergleichsweise geringe Komple­ xität und begrenzten Kostenaufwand aus. Eine Vielzahl der in Brand- und Sprengsätzen verbauten Komponenten ließ sich kurzfristig im freien Han­ del erwerben, darunter beispielsweise die Alarmuhr „Emes Sonochron“. In Westberlin stellten die RZ Bomben „unter Verwendung von aus Frank­ reich stammendem orange-rotem Unkraut-Ex und Puderzucker“5472 sowie „einer aus einem Wecker, einer Blockbatterie, Blitzlichtbirnen und Zünd­ hölzern gebauten Zündvorrichtung“5473 zusammen. Dem beigegeben wur­ den „TNT und Ammoniumnitrat“5474. Die riskanten Knieschussattentate auf Harald Hollenberg und Günter Korbmacher bereiteten die „Zellen“ autonom entlang logistischer Maßnahmen vor – analog der „Roten Ar­ mee Fraktion“. Erwarben oder entwendeten die Mitglieder Fluchtfahrzeu­ ge, montierten sie sodann Kennzeichen eines weiteren, baugleichen Fahr­ zeugs. Bei Bedarf stellten sie ein Umlackieren sicher. Während des Kaufs eines VW‑Passats, der nach dem Anschlag auf Hollenberg zum Einsatz kommen sollte, nutzten die RZ eine Falschpersonalie.5475 Identitätsnach­ weise konnten sie auf Grundlage von Ausweispapieren fälschen, welche sie

5466 Vgl. Abschnitt 4 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5467 Vgl. Abschnitt 5 in Unterkapitel II des Kapitels B in ebd. 5468 Vgl. Abschnitt 4 in Unterkapitel VII des Kapitels C in ebd. 5469 Abschnitt 5 in Unterkapitel II des Kapitels B in ebd. 5470 Abschnitt 4 in Unterkapitel VII des Kapitels C in ebd. 5471 Vgl. Dietrich 2009, S. 160. 5472 Vgl. Abschnitt 3 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5473 Ebd. 5474 Ebd. 5475 Vgl. Abschnitte 2 und 4 in Unterkapitel II des Kapitels B in ebd.

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entweder von Unterstützern oder über einen Kontakt in die Bundesdru­ ckerei erhielten.5476 Auch die Verfügbarkeit von Waffen war sichergestellt. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei offensichtlich die Altmitglieder der „Revolutionären Zellen“, welche – vermutlich – auf in den 1970er Jahren angelegte Schusswaffenbestände zugreifen konnten.5477 Ähnlich der „Roten Armee Fraktion“ betrieben die RZ Geräte, mit denen sie den Polizeifunk überwachten.5478 Das Jahr 1987 ging für die „Rote Armee Fraktion“ wie für die „Revolu­ tionären Zellen“ mit Einbrüchen im Unterbau einher. Die RAF verlor Anfang 1987 mit der „Action Directe international“ ihren wichtigsten Partner.5479 Das Verhaften von Mitgliedern der ADi in Frankreich redu­ zierte nicht nur die Schlagkraft der „antiimperialistischen Front“. Überdies entzog es der „Kommandoebene“ eine essentielle Säule ihrer Logistik. Bis zur Selbstauflösung im Jahre 1998 gelang es der „Roten Armee Frakti­ on“ zwar nicht, den eingetretenen Verlust durch gleichwertige grenzüber­ greifende Kontakte zu ersetzen. Annäherungen an italienische und spani­ sche Linksterroristen kulminierten allenfalls in einer propagandistischen Stärkung sowie in einem Wissensaustausch zum Durchbrechen von Pan­ zerungen.5480 Die RAF zeigte sich aber im Stande, die Schwächung zu überwinden. Denn im Herbst 1988 – mehr als eineinhalb Jahre nach dem Zerschlagen der „Action Directe international“ – führten die „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ ihre Gewalttaten fort.5481 Augenscheinlich verließen sie sich nunmehr gänzlich auf den verbliebenen Pfeiler ihres Unterbaus: die eigenen Fähigkeiten im Inland. Stützen konnte sich die Dritte Generation auf von den Sicherheitsbehörden als „beträchtlich“5482 gewertete materielle Vorräte, welche sie in der Vergangenheit unter ande­ rem durch den Überfall 1984 in Maxdorf angelegt hatte.5483 Fehlende Bauteile für Sprengsätze – so zum Beispiel die beim Anschlag auf Al­ fred Herrhausen beanspruchte Lichtschranke – kaufte sie wohl ebenso

5476 Vgl. Ausführungen zum ersten Prozesstag in Protokoll zum Prozess gegen Tarek Mousli 2000; Dietrich 2009, S. 155; Unsichtbare 2022, S. 187, 203. 5477 Vgl. Dietrich 2009, S. 160; Unsichtbare 2022, S. 75. 5478 Vgl. Dietrich 2009, S. 157. 5479 Vgl. Schulz 2017. 5480 Vgl. Der Spiegel 1989b, S. 17; Straßner 2003, S. 311-316; Peters 2008, S. 654. 5481 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 74; Bundesministerium des In­ nern 1989, S. 84. 5482 Bundeskriminalamt, zit. n. Der Spiegel 1989b, S. 18. 5483 Vgl. ebd.; Peters 2008, S. 637.

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wie die Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ im Einzelhandel.5484 Das 1990 gegen Hans Neusel eingesetzte Explosivmittel stellten die „Aktiven“ eigenständig her. Bei dem Sprengstoff handelte es sich um ein in Gasfla­ schen eingefülltes „Selbstlaborat aus einem Chlorat-Zucker-Gemisch“5485. Zugreifen konnte die „Rote Armee Fraktion“ unverändert auf konspirative Wohnungen und gefälschte Identitätsnachweise. Sie beschaffte Fahrzeuge und tarnte diese mit selbst geprägten Kennzeichen.5486 Finanziell sicherte sich die Dritte Generation im Juni 1990 im Wege eines Banküberfalls in Duisburg ab. Die erbeutete Summe überstieg 300 000 DM.5487 Darüber hi­ naus stand der „Kommandoebene“ nach wie vor die Struktur des engeren und weiteren Umfelds der RAF zur Seite. Die in ihr agierenden Zirkel zeigten sich ungeachtet der „zahlreichen Festnahmen von Militanten seit 1986“5488 handlungsfähig.5489 Die „Revolutionären Zellen“ mussten 1987 personelle Abgänge hinneh­ men, welche mitunter auf sicherheitsbehördlichen Ermittlungen gründe­ ten. Alteingesessene, teilweise tonangebende Mitglieder, wie zum Beispiel Gerhard Albartus und Thomas Kram, kehrten nicht in die aktiven Struktu­ ren des Netzwerks zurück.5490 Um der Strafverfolgung zu entgehen, reak­ tivierte Kram die Verbindungen zur „Organisation Internationaler Revolu­ tionäre“, welche ihm – angeblich – zur Flucht verhalf.5491 1988 entdeckte die Polizei zudem in Bielefeld ein Sprengstoffdepot, in dem Explosivmittel aus dem Diebstahl im Jahre 1987 in einem Steinbruch in Niedersachsen eingelagert waren.5492 Wenngleich diese vorwiegend in Westdeutschland aufgetretenen Einbrüche die dortige Infrastruktur der „Revolutionären Zellen“ nicht substantiell reduzierten und die Logistik in Westberlin vollkommen unberührt blieb,5493 markieren die Jahre 1987 und 1988 in der Rückschau den Auftakt zu einer Serie von Ereignissen, welche in ihrer Gesamtheit wachsende Versorgungsschwierigkeiten nahelegen. Inter­

5484 5485 5486 5487 5488 5489 5490

Vgl. Peters 2008, S. 653. Ebd., S. 664. Vgl. Der Spiegel 1989b, S. 18; Peters 2008, S. 656. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990b, S. 63. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 81. Vgl. auch Schulz 2017. Vgl. Peters 2008, S. 643, 657. Vgl. Kopp 2007, S. 225-228; Dietrich 2009, S. 154-155; Kram 2009; Unsichtbare 2022, S. 155. 5491 Vgl. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 242. 5492 Vgl. Dietrich 2009, S. 160. 5493 Vgl. Ausführungen zum dritten Prozesstag in Protokoll zum Prozess gegen Tarek Mousli 2000.

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ne Prozesse der Reflexion und Neubestimmung gipfelten im Selbstauflö­ sen eines in Nordrhein‑Westfalen agierenden Teils der „Revolutionären Zellen“ sowie in mehreren Ausstiegen in Westberlin.5494 Mit Sabine Eckle und Gerhard Schindler verloren die RZ abermals leitende Figuren, die auf eine langjährige Mitgliedschaft im Netzwerk sowie auf zahlreiche Er­ fahrungen zurückblicken konnten. Ein Stärken der beständig dünner wer­ denden Personaldecke5495 scheiterte – angeblich – an mangelnden organi­ satorischen Voraussetzungen.5496 Neben dem Einbüßen von Fähigkeiten zur Funkaufklärung und dem Beschlagnahmen weiterer Sprengstoffvorrä­ te 1992 in Duisburg traten monetäre Engpässe auf.5497 Nachweisen lässt sich dies für die Aktivisten der Westberliner RZ, welche 1994 finanziellen Bedarf in ihrem Umfeld kommunizierten. Daraufhin erhielten sie über persönliche Kennverhältnisse mehrere Zehntausend DM aus Schwarzgeld­ beständen.5498 Nicht alle Bemühungen, die die finanzielle Grundlage der „Revolutionären Zellen“ absichern sollten, endeten derart erfolgreich.5499 Den Weg zu einer erneuten grenzübergreifenden Kooperation, welche Ende der 1980er Jahre in der Unterstützung Thomas Krams durch die OIR aufgeflackert war, versperrte das offene Problematisieren internationaler Kontakte vor dem Hintergrund der Ermordung Gerhard Albartus‘. Nach allem zu urteilen, was bislang zur Dritten Generation der RAF bekannt geworden ist, verharrte die Ausstattung der „Illegalen“ während der 1990er Jahre in Stabilität. Schonen konnten die im Untergrund leben­ den Mitglieder ihre materielle und finanzielle Basis, erklärten sie doch nach den 1991 unter vergleichsweise geringem technischen Aufwand vor­ genommenen Schusswaffenanschlägen auf die US-amerikanische Botschaft in Bonn und Detlev Karsten Rohwedder einen Gewaltverzicht, der ihren „bewaffneten Kampf“ zum Erliegen brachte und ein weiteres Minimieren der zuvor verschafften Vorräte und Barmittel verhinderte. Dass die RAF zu diesem Zeitpunkt noch über bemerkenswerte Ressourcen verfügte, untermauerte sie 1993 mit dem Anschlag auf den Gefängnisneubau in

5494 Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 31; Bayer 2001; Schindler 2002; Abschnitt 5 in Unterkapitel VII des Kapitels C in Erster Strafsenat des Kam­ mergerichts Berlin 2004; Wörle 2008b, S. 271; Dietrich 2009, S. 171; Unsicht­ bare 2022, S. 132, 137, 150, 152. 5495 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 176-177. 5496 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 5497 Vgl. Dietrich 2009, S. 160, 172. 5498 Vgl. Abschnitt 8 in Unterkapitel II des Kapitels B in Erster Strafsenat des Kammergerichts Berlin 2004. 5499 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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Weiterstadt. 200 Kilogramm Sprengstoff stellte die Gruppe bereit.5500 Die Verhaftungen in Bad Kleinen verkleinerten den Personalstamm, hatten aber keine Auswirkungen auf die Logistik der „Aktiven“. Im Nachgang zu den Festnahmen gelang den Sicherheitsbehörden offenbar weder ein nennenswertes Aufdecken konspirativer Unterkünfte noch das Sicherstel­ len von Waffen, Sprengmitteln und Geld.5501 Selbst nach der Auflösung der „Roten Armee Fraktion“ konnten ihr zugerechnete, weiterhin in der Illegalität lebende Aktivisten ungehindert auf vollautomatische und panzerbrechende Waffen zugreifen.5502 Der wohl in großen Teilen intakt bleibende Unterbau der „Kommandoebene“ vermochte jedoch nicht über die sich sukzessive verschlechternden logistischen Rahmenbedingungen hinwegzutäuschen. Die 1992 verkündete und im darauf folgenden Jahr le­ diglich kurzfristig zurückgenommene Abkehr von gewaltsamen Aktionen ließ alle Hoffnungen auf ein Wiederbeleben des in den 1970er und 1980er Jahren in praktischer Hinsicht äußerst gewinnbringenden Internationalis­ mus zerbrechen. Ostentativ wandten sich mögliche Partner im Ausland ab.5503 Infolge der Suche der „Illegalen“ nach einer zeitgemäßen Strategie brach ferner der im Inland existierende organisatorische Pfeiler ein. Das einst der „Kommandoebene“ bereitwillig zuarbeitende Geflecht schwand, die Summe der Unterstützer – und mit ihr die Zahl der Quellen etwaiger Hilfsleistungen – nahm ab.5504 Eine in dieser Situation denkbare Initiative, die eigenen, verbleibenden Möglichkeiten aus Gründen der Existenzwah­ rung mit den ebenso logistisch angeschlagenen „Revolutionären Zellen“ zusammenzulegen, entwickelte sich nicht. Grund hierfür war wohl die Lähmung, welche sich in der für beide Akteure nicht lösbaren Identifika­ tion einer aussichtsreichen strategischen Linie widerspiegelte. Angesichts der Perspektivlosigkeit musste ein Zusammenführen, wie es die „Rote Ar­ mee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ 1980 gewagt hatten, zwecklos erscheinen.

5500 Vgl. Winkler 2008, S. 433. 5501 Vgl. Schulz 2017. 5502 Vgl. Peters 2008, S. 725-726; Gude/Hunger 2016, S. 54; Gude 2016, S. 43; Aust/ Bewarder 2017, S. 1. 5503 Vgl. Bundesministerium des Innern 1993, S. 30; Straßner 2003, S. 308-309, 313-314. 5504 Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 28-29.

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8.3 Zusammenfassung

8.3 Zusammenfassung Dem Unterkapitel 8.1 – ausgerichtet auf den strukturellen Aufbau der RAF, der TW/der B2J und der RZ – können folgende Kernaussagen mit Blick auf die Bedingungsfaktoren der Beziehungen im deutschen Linkster­ rorismus entnommen werden: – Die ersten Gruppen der westdeutschen „Stadtguerilla“ – die „Tupama­ ros Westberlin“, gefolgt von der „Roten Armee Fraktion“ – rekurrier­ ten in ihren organisatorischen Vorstellungen auf lateinamerikanische Vorbilder. Während sich die TW primär an der uruguayischen MLN orientierten, waren für die RAF die Paradigmen des Brasilianers Car­ los Marighella maßgebend. Die zentralen Gedanken dieser Vorbilder, allen voran das mitunter als Gegenentwurf zu kommunistischen Partei­ en aufgestellte Prinzip einer zellulären Organisation mit weitreichen­ der Autonomie ihrer abgeschotteten Glieder, vermochten beide jedoch nicht in ihren Alltag zu überführen. Weder die „Tupamaros Westber­ lin“ noch die „Rote Armee Fraktion“ bestanden dauerhaft aus strikt voneinander separierten Zellen – hinter beiden verbarg sich im Grunde jeweils ein Nukleus aus Aktivisten, welche sich zum einen ausnahms­ los persönlich kannten, zum anderen ihre Aktivitäten weitgehend ge­ meinsam gestalteten. An der strukturellen Praxis dieser „Stadtguerilla“ sui generis schieden sich die Geister – sie geriet zu einem der wesentlichen Bedin­ gungsfaktoren für das kompetitiv‑adversative Verhältnis zwischen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und den „Tupamaros Westberlin“. Wenngleich die RAF nie eine „Kaderorganisation“, geschweige denn eine dem Militär vergleichbare Einheit war, fiel sie durch eine hohe innere Zentralität und den Willen zu struktureller Professionalität auf. Abweichend von der medialen Charakterisierung als „Baader/Meinhof‑Bande“ führten Baader und Ensslin die Erste Generation – dies in Teilen mit einem Anspruch auf Autorität, allerdings nicht ohne Widerspruch und Recht­ fertigungszwang. In den Augen der Mitglieder sollte die eigene Organi­ sation unter anderem bei der Eigensicherheit Hand und Fuß haben – die Gruppe wollte kein dahergelaufener „Haufen“ sein. Entsprechend abschätzig blickte die RAF auf das Gefüge der TW: Den Vorwurf, die „Tupamaros“ gingen nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit an den „bewaffneten Kampf“ heran, zogen sie aus deren laxen internen Sicher­ heitsregeln. Für die TW musste die Organisation der „Roten Armee Fraktion“ Befremden auslösen, hatten sie sich doch in einem dezidiert hedonistischen Milieu radikalisiert. Zwar erhoben sie nach dem Haft­

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ausbruch Georg von Rauchs (ebenfalls) „preußische Tugenden“ zum Maßstab für das Handeln der Mitglieder – von der Binnenstruktur der RAF hielten die „Tupamaros“ aber nichts. Bestärkt durch die Berichte von Ralf Reinders und Ingrid Siepmann, sahen die TW die „Rote Ar­ mee Fraktion“ in unmittelbarer Nachbarschaft zum marxistisch-leninis­ tischen Organisationsmodell. In Abgrenzung zu dem als autoritär emp­ fundenen Innenleben setzten die „Tupamaros Westberlin“ ostentativ auf egalitäres Miteinander mit flachen Hierarchien – gleichwohl konn­ ten sie Über‑/Unterordnungsverhältnisse nicht vermeiden. Allen voran Georg von Rauch kam – wohl mehr zwangsläufig als gewollt – eine Führungsposition zu. Auch in anderen Bereichen, wie zum Beispiel dem Diskussionsklima, ließen sich die selbst formulierten Ideale nicht verwirklichen. Zu einem trennenden Merkmal luden die TW darüber hinaus soziodemographische Elemente auf – und dies, obwohl es hier faktisch keine Unterschiede gab. Die „Tupamaros“ empfanden sich als eine „proletarische“ Alternative, welche – anders als die vermeintlich studentische RAF – Arbeiter, mithin vom Kapital „Ausgebeutete“ habe integrieren können. – Die Rolle des strukturellen Aufbaus als Bedingungsfaktor setzte sich in der kompetitiv‑adversativen Relation zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ fort. Die B2J hielt an dem Vorhaben der TW fest, auf organisatorischer Ebene einen Gegenpol zur RAF zu formen. Ungeachtet aller Abweichungen – etwa die herausgehobene Stellung Ralf Reinders‘, ritualisierte Kritik und Selbstkritik und das unverblüm­ te Legitimieren eines „Fememords“ – nahmen die Aktivisten der „Be­ wegung 2. Juni“ ihren Zirkel als ein von Parität, Dezentralität und Autonomie durchdrungenes Gebilde wahr. Ausgehend unter anderem von gemeinsamen Aufenthalten im Justizvollzug erblickten sie im Auf­ bau der „Roten Armee Fraktion“ Eigenschaften, welche sie für sich kategorisch ausschlossen: ein nach Homogenität strebendes Denken, rigide durchgesetzte Hierarchien, der auf Züchtigen und Unterwerfen basierte Umgang. Die „Bewegung 2. Juni“ nährte zudem die Legende, proletarischer zu sein als die RAF. Wie schon die TW gingen sie da­ von, zu den Depravierten und Marginalisierten der bundesrepublikani­ schen Gesellschaft zu gehören – in der B2J schreite wahrhaftig die Arbeiterklasse zur Revolution. Die Opposition der „Bewegung 2. Juni“ spiegelte die „Rote Armee Fraktion“: Die B2J sei nichts anderes als eine „Meute“, die – ausweislich des Mordes an Ulrich Schmücker – ein „terroristisches Klima“ im Inneren favorisiere. Später monierte sie, das „familiäre“ Binnengefüge der „Bewegung 2. Juni“ könne mit einem

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8.3 Zusammenfassung

revolutionären Anspruch nicht in Einklang gebracht werden. Der Ein­ druck der „Bewegung 2. Juni“ zur inneren Konstitution der „Roten Ar­ mee Fraktion“ deckte sich mit der Wirklichkeit: Über das „Info“ und die Installation von Statthaltern im Untergrund trieb die Führungsrie­ ge aus der Ersten Generation das „Top‑Down“ zu einem – andernorts in der westdeutschen „Stadtguerilla“ nie erlebten – Höhepunkt. Die „Rote Armee Fraktion“ stand unter der Entscheidungsgewalt der „po­ litischen Gefangenen“, sie arbeitete vor allem den „Stammheimern“ Baader und Ensslin zu. Auch wenn diese Abhängigkeit der „Illegalen“ von den Häftlingen nach dem „Deutschen Herbst“ zusammenbrach: Unter den „Aktiven“ hielt sich die notorische Hierarchie aus einer „Führungsequipe“ und „Subalternen“. Gleichermaßen zutreffend war die reklamierte Differenz zur „Roten Armee Fraktion“ in soziodemo­ graphischen Aspekten, allerdings nur im Zeitraum von 1973 bis zum Frühjahr 1975. – Trotz aller Bemühungen, organisatorisch einen anderen Pfad zu wäh­ len als die RAF, distanzierte sich die B2J – zeitgleich zur „Roten Armee Fraktion – immer mehr von dem auf zelluläre Strukturen po­ chenden Leitbild südamerikanischer „Stadtguerilleros“. Diese Tendenz hin zu einer einzelnen festgefügten „Guerilla-Einheit“ mit einer mal mehr, mal weniger ausgeprägten inneren Über-/Unterordnung war dem Kreis um Wilfried Böse ein Dorn im Auge – und entwickelte sich daher zu einem der gewichtigsten Bedingungsfaktoren in der kompetitiv-adversativen Bezie­ hung der „Revolutionären Zellen“ zur RAF und zur „Bewegung 2. Juni“. Kopfschüttelnd beäugten die Mitglieder der RZ den Zentralismus der „Roten Armee Fraktion“: Sich in die Nähe einer Partei oder Armee zu bringen, begriffen sie – wohl vor allem im Lichte der wiederkehrenden sicherheitsbehördlichen Erfolge im Kampf gegen die RAF – als aus­ gemachten Wahnwitz. Der B2J attestierten sie dagegen eine Rekrutie­ rungsstrategie, welche den Eigenschutz aushöhle. Um diese Fehler zu vermeiden, etablierten die Gründer der „Revolutionären Zellen“ ganz im Sinne Carlos Marighellas ein Netzwerk lose miteinander verbunde­ ner Gruppen aus drei bis acht Aktivisten, die gemeinsam „ehrliche Soli­ darität“ fernab aller Zwänge ausleben sollten. Jeder Interessierte könne sich mit einem eigenen Zirkel den RZ anschließen, so das einem „Fran­ chise“-Gedanken ähnelnde Verständnis der „Zellen“. Konspiration war oberstes Gebot. Einesteils sollten die Angehörigen lediglich unter Decknamen auftreten, anderenteils die Außenkontakte ihrer jeweiligen Gruppe auf ein Mindestmaß reduzieren. Letztes erklärte die Wahl von Delegierten, welche auf Versammlungen der RZ in grundsätzlichen Be­

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langen Absprachen trafen. Die weitreichende Autonomie der „Zellen“ – anfangs partiell vor allem durch die Einflussnahme Wilfried Böses beschnitten, nach dem Streit um die internationale Komponente des Netzwerks uneingeschränkt – begünstigte das Entstehen verschiedener Strömungen sowie einen bisweilen widersprüchlichen Außenauftritt. Unterschiedlich lasen sich die Reaktionen der anderen Akteure der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ auf das Organisationsmodell der „Revolutionären Zellen“. Die „Bewegung 2. Juni“ sah dieses mit großem Interesse, nahm es gar zum Anlass für eine Kontaktaufnahme zu den „Zellen“ und als Blaupause für das im Jahre 1975 erwogene – jedoch nie begonnene – strukturelle Umgestalten. Die „Rote Armee Fraktion“ erblickte im Aufbau der RZ nur eine „faule Struktur“ – trotz der Bilanz der „Revolutionären Zellen“: Die Sicherheitsbehörden konnten sie kaum aufklären und ernsthaft schwächen. – Während der 1980er und 1990er Jahre trat die Organisation nicht als Bedin­ gungsfaktor in der Relation der verbleibenden Akteure des westdeutschen Linksterrorismus auf. Weder bezog sich die RAF in ihrem avisierten synchron-assoziativen Verhältnis auf das Binnengefüge der RZ, noch das Gebilde der „Revolutionären Zellen“ – als Ausfluss seines kompe­ titiv‑adversativen Verhältnisses zur „Roten Armee Fraktion“ – auf die strukturellen Eigenschaften der Dritten Generation. Dies erstaunt, nä­ herten sich doch beide in struktureller Hinsicht an. Die RAF wandelte sich zu einem Geflecht aus langfristig separierten Gruppen, welche netzwerkartig miteinander verbunden waren. In diesem zellulären Auf­ bau bestanden eine Rangordnung und Arbeitsteilung. An der Spitze rangierten die sich auf Personenschaden konzentrierenden Kernmit­ glieder, darunter positionierten sich die „Illegalen Militanten“, ein en­ geres Umfeld und eine weiter gefasste Peripherie. Die „Revolutionären Zellen“ konservierten ihr System aus kleineren Gruppen mit – nicht immer durchgehaltenen – egalitären Umgangsformen, forcierten aller­ dings über die „F-Kampagne“ – zulasten des internen Abschottens – das nach 1976 vernachlässigte Zusammenwirken der einzelnen Glieder. Dies glich dem Willen der Dritten Generation, ein einheitliches, abge­ stimmtes Agieren ihrer vier Ebenen sicherzustellen. Noch deutlichere Überschneidungen traten hervor, als die „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ Anfang der 1990er Jahre die Über-/Unterordnung in ihrem Geflecht aus illegalen und legalen Gruppen auflöste. Die gestraffte Ko­ ordination der RZ war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder zerbrochen – hinter dem Netzwerk verbarg sich abermals jener lose Zusammen­

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8.3 Zusammenfassung

halt, der sein Innenleben von Mitte der 1970er Jahre an bestimmt hatte. – Zu der Fähigkeit der Akteure des westdeutschen Linksterrorismus, untereinander Kontakte herzustellen, ergibt sich ein klares Bild. Zwi­ schen der „Roten Armee Fraktion“ und den „Tupamaros Westberlin“ bestanden unzählige persönliche Verbindungen. Über Heinz Brockmann schufen beide sogar eine Art Verbindungswesen. Auch zur „Bewe­ gung 2. Juni“ unterhielt die RAF Kommunikationskanäle – etwa über den gemeinsamen Aufenthalt ihrer Aktivisten im Justizvollzug. Solche Kanäle förderte außerdem eine gemeinsame Radikalisierung mancher Mitglieder, beispielsweise in der Hamburger Hausbesetzerszene. Für die Anfänge der „Revolutionären Zellen“ ist gleichermaßen belegt: Sie hatten jederzeit die Möglichkeit, an die beiden anderen Gruppen der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ heranzutreten. Ein anderes Bild ergibt sich für die 1980er Jahre. Kontaktaufnahmen der RZ zur Dritten Generation – und umgekehrt – sind nicht nachweisbar. Auch wenn gute Gründe dagegensprechen: Das Fehlen einer Verständigungslinie als Bedin­ gungsfaktor der ausgebliebenen assoziativen Beziehung zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ kommt in Betracht. Unterkapitel 8.2 – zugeschnitten auf die Gruppen- und Aktionsstärke – bietet folgende Resultate: – Schon früh erwiesen sich eigene Defizite und die daraus erwachsenden hand­ festen Interessen als zentraler Bedingungsfaktor für die über symbolische Ges­ ten hinausgehenden assoziativen Relationen der hier untersuchten Akteure. Die Überfallserie im September 1970 gipfelte in einer synchron‑asso­ ziativen Beziehung, weil die „Rote Armee Fraktion“ und die „Tupama­ ros Westberlin“ jeweils dringend Geld benötigten und sich in ihrer personellen und materiellen Ausstattung ergänzen konnten. Dass beide mit der Aufnahme der TW in die Strukturen der RAF den Endpunkt assoziativer Verhältnisse erreichten, ist auf das sicherheitsbehördliche Schwächen der „Tupamaros“, also auf einen Mangel an Alternativen zurückzuführen. Die „Bewegung 2. Juni“ verzichtete zunächst darauf, sich der Hilfe der „Roten Armee Fraktion“ zu bedienen – da die Logis­ tik der RAF bis in das Jahr 1974 hinein angeschlagen war, konnte sich die B2J von dieser nichts versprechen. Erst Ende 1974 – nachdem sich die RAF rekonsolidiert hatte – forcierte die „Bewegung 2. Juni“ das Bündeln der Kräfte, um den Erfolg ihrer risikoreichen und damit res­ sourcenintensiven „Gefangenenbefreiung“ abzusichern. Selbiges trifft

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für die „Rote Armee Fraktion“ zu. Zwar entschieden sich die „Revolu­ tionären Zellen“ für ein Vorgehen, das weder aufwändige und kostspie­ lige Anschläge noch einen Untergrund mit all seinen Belastungen vor­ sah. Sie suchten aber ebenso den Kontakt zur „Roten Armee Fraktion“ und zur „Bewegung 2. Juni“ – dies oftmals mit dem Ziel, Mängel in ihren internationalistischen Strukturen auszugleichen. Deren Anliegen, das Freilassen „politischer“ Häftlinge in der Bundesrepublik, überstieg bei Weitem die eigenen Fähigkeiten. Personelle Erwägungen konstitu­ ierten eine zentrale Triebkraft, als Wilfried Böse die „Rote Armee Frak­ tion“ und die „Bewegung 2. Juni“ vor der Lorenz‑Entführung zu einer „Gefangenenbefreiung“ zusammenbringen wollte. Die von ihm Ende 1975 angestrebte assoziative Verbindung zur RAF diente allein dem Aufbessern des Waffendepots der RZ. Der Schulterschluss mit den im Ausland ansässigen Versprengten der B2J drängte sich geradezu auf: Beide Seiten konnten ihre überschaubare Aktionsstärke kombinieren, mithin in eine „Win-Win-Situation“ eintreten. Nur aufgrund des deso­ laten Zustands der grenzübergreifenden „Zelle“ nach Entebbe ging diese schließlich in der „Bewegung 2. Juni“ auf. Ab Ende 1976 trieb die B2J auch aus genuinem Eigennutz ein synchron- bis extensiv‑as­ soziatives Verhältnis zur RAF und zu den RZ voran. Ein Fortsetzen des „bewaffneten Kampfes“ in einem einzelnen Zirkel erschien ihr – im Lichte der anhaltenden Bedeutungslosigkeit – nicht mehr oppor­ tun. Die „Rote Armee Fraktion“ zog es vor, durch einen Güter- und Informationsaustausch mit der „Bewegung 2. Juni“ ihre Logistik und Eigensicherheit aufzubessern. Nach 1977 trat sie von sich aus an die B2J heran – in einem Zeitraum chronischer finanzieller Knappheit. Von einer assoziativen Beziehung zur „Bewegung 2. Juni“ erhoffte sich die Zweite Generation den Ausgleich dieser Schieflage. Letztmalig nah­ men solche praktischen Überlegungen im Zusammengehen der B2J mit der RAF eine Schlüsselfunktion ein. Die B2J entschied sich im Jahre 1980 allein aus personeller Not für das Aufgehen in der „Roten Armee Fraktion“. Der Zweiten Generation kam dieser Schritt gelegen: Zum einen fand der Geldmangel ein Ende, zum anderen erhielt sie mit Inge Viett wertvolle Verstärkung und einen gefestigten Zugang zum MfS. – Während der 1970er Jahre sicherten die „Rote Armee Fraktion“, die „Tupamaros Westberlin“/die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutio­ nären Zellen“ ihre Existenz und Schlagkraft nicht nur durch Verbin­ dungen untereinander, sondern auch durch den Austausch mit Gleich­ gesinnten außerhalb der Bundesrepublik. Das Spektrum der Partner blieb

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8.3 Zusammenfassung

vielfältig, Einseitigkeit stellte sich nie ein. Die Akteure der westdeutschen „Stadtguerilla“ griffen nach jeder helfenden Hand, die sich anbot – etwa in Italien bei den „Brigate Rosse“, in Spanien bei der ETA oder im Nahen Osten bei der Fatah und der PFLP‑SOG. Letzte nahm in den diversen Außenbeziehungen der RAF, der B2J und der RZ spätestens ab 1975 eine herausragende Position ein. Ohne die Ressourcen Wadi Haddads hätten die deutschen linksterroristischen Akteure wesentliche Aktio­ nen, wie zum Beispiel die Lorenz-Entführung, das Freipressen „politi­ scher Gefangener“ in Entebbe und die gewaltsame Übernahme der „Landshut“ im „Deutschen Herbst“, nicht durchführen können. Auch wäre ihnen das Rekonsolidieren nach Einbrüchen in ihren Strukturen deutlich schwerer gefallen, wenn nicht gar unmöglich geworden. Ab Anfang der 1980er Jahre entwickelte sich die DDR zum bedeutsamsten ausländischen Mitspieler der „Stadtguerilla“ – die Palästinenser verlo­ ren als Säule der Logistik ihre Relevanz. Hier dürfte es zum Verdrän­ gen eines Partners durch einen anderen gekommen sein: Die „Rote Armee Fraktion“ sah im MfS wohl aufgrund seiner weitreichenden Möglichkeiten, seiner Professionalität und der geringen räumlichen Distanz die bessere Wahl. – Dass die Kompensation einer lückenhaften Gruppen- und Aktionsstärke nicht als Triebkraft in der Beziehung zwischen der Dritten Generation der RAF und den „Revolutionären Zellen“ auftrat, ist – zumindest mit Blick auf die 1980er Jahre – ihrer zunehmenden Autarkie in logistischen Fragen zuzuschreiben. Die dem Konzept der „antiimperialistischen Front“ inne­ wohnenden handfesten personellen wie materiellen Interessen zahlten sich für die „Rote Armee Fraktion“ nachhaltig aus: Mit dem Unterbau aus „Illegalen Militanten“, dem engeren und weiteren Umfeld wuchs die Mannstärke an. Einerseits erhöhte dies die Schlagkraft, ein Mehr an Aktion zeichnete sich ab. Andererseits ruhte die Logistik fortan auf breiteren Schultern und – bedingt durch die legale Existenz der Aktivisten außerhalb der „Kommandoebene“ – auf risikoärmeren Me­ thoden, welche ohne größeren Aufwand und unter dem Radar der Si­ cherheitsbehörden eingesetzt werden konnten. Der Erfolg dieser Selbst­ versorgung lässt sich aus der Niedrigschwelligkeit des Gütertauschs mit einem begrenzten Kreis aus westeuropäischen Linksterroristen ablesen – er erreichte zu keinem Zeitpunkt die Intensität der 1984 durchbro­ chenen Abhängigkeit von den Palästinensern und dem Ministerium für Staatssicherheit. Dementsprechend konnte die „Kommandoebene“ den Wegfall der belgischen und französischen Mitstreiter vergleichsweise problemlos verkraften. Ihre Aktivitäten setzte sie nur wenig später in

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8 Organisation als Bedingungsfaktor

unverminderter Stärke fort. Die „Revolutionären Zellen“ verließen sich ab Anfang der 1980er Jahre – nach dem weitgehenden Abbruch der Verbindungen zur OIR – gänzlich auf ihre eigenen Fähigkeiten. Neben dem Verzicht auf fordernde Aktionen, wie sie die internationalistische „Zelle“ wiederholt gewagt hatte, stellte ein stärkeres Zusammenwir­ ken innerhalb des Netzwerkes, beispielsweise beim Beschaffen von Sprengstoff und Geld, die logistische Eigenständigkeit sicher. Die in den 1990er Jahren sowohl für die „Illegalen“ der RAF als auch für die RZ feststellbaren Versorgungseinbrüche blieben ohne Folgen für die Beziehung: Da beide Akteure am „bewaffneten Kampf“ zweifelten, musste die defizitäre Logistik in den Hintergrund geraten. Auf die Hypothesen unter Punkt 3.2.3 bezogen, gipfeln die Schlussfolge­ rungen der Unterkapitel 8.1 und 8.2 in folgenden Ergebnissen: – Hypothese 1 lautete: Über bloße deklaratorische Akte hinausgehende assoziative Beziehungen zwischen terroristischen Akteuren entwickeln sich nur dann, wenn Mitglieder der Akteure einen auf persönliche Kennverhältnisse gestützten Kommunikationskanal zur jeweils ande­ ren Entität herstellen konnten. Diese Hypothese bestätigt die Analyse zum deutschen Linksterrorismus: In den 1970er Jahren existierte eine Vielzahl an persönlichen Kontakten unter den Gruppen, transaktionale oder weiter reichende Formen assoziativer Verhältnisse traten immer wieder auf. Das Gegenteil trifft für die 1980er und 1990er Jahre zu. – Hypothese 2 besagte: Ein terroristischer Personenzusammenschluss steht nur dann für eine über symbolische Handlungen hinausgehende posi­ tive Interaktion mit anderen Akteuren zur Verfügung, wenn er das gezielte, hermetische Abschotten seiner Strukturen zugunsten größt­ möglicher Eigensicherheit nicht zu einem Dogma erhoben hat. Diese Hypothese lässt sich am Beispiel der bundesrepublikanischen „Stadt­ guerilla“ nicht bestätigen. Selbst Gruppen, die besonders viel Wert auf Selbstschutz legten (die Zirkel der RZ, die Dritte Generation der „Ro­ ten Armee Fraktion“), pflegten Kontakte nach außen. – In Hypothese 3 hieß es: Ein terroristischer Akteur wagt nur dann den Aufbau von über symbolische Gesten hinausreichenden Beziehungen zu anderen terroristischen Kräften und/oder zu hilfsbereiten Regierun­ gen, wenn er nicht mehr fähig ist, durch interne oder externe Entwick­ lungen ausgelöste operative Bedürfnisse (zum Beispiel: Zufluchtsorte bei erhöhtem Fahndungsdruck, Ausbildungsinhalte zu ausgewählten Kampfmitteln, bleibende Aktionsfähigkeit) aus eigener Kraft zu stillen.

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8.3 Zusammenfassung

Diese Hypothese bestätigt die Arbeit. Die eigene Schwäche kompensier­ te der westdeutsche Linksterrorismus durch Verbindungen untereinan­ der sowie zu ausländischen Partnern. Als er nachhaltig die Fähigkeit zur Selbstversorgung entwickelte, nahmen die Beziehungen zu anderen terroristischen – und staatlichen – Akteuren ab. – Hinter Hypothese 4 verbarg sich die Annahme: Ein terroristischer Ak­ teur, der auf operative Bedürfnisse eingehen muss, akzeptiert nur dann eine Zusammenarbeit mit einer anderen terroristischen Entität, wenn diese passende Ressourcen besitzt, welche die aufgetretenen Bedürfnis­ se auffangen können. Wer die RAF, die TW/die B2J und die RZ verglei­ chend beleuchtet, wird diese Hypothese als bestätigt sehen. So ergab sich eine synchron- oder extensiv-assoziative Verbindung zwischen ih­ nen nur in Konstellationen, die beiden Seiten einen operativen oder logistischen Vorteil versprachen. Selbiges trifft auf die Endpunkte asso­ ziativer Beziehungen zu, welche die Gruppen 1970, 1976 und 1980 erreichten. Assoziative Verhältnisse blieben aus, wenn beim anderen nichts zu holen wahr – so im Falle der „Bewegung 2. Juni“ während der Jahre 1973 und 1974. – Hypothese 6 beinhaltete die Mutmaßung: Wenn sich ein terroristischer Akteur aus Gründen operativer Bedürfnisse mit ressourcenreichen Part­ nern (wie zum Beispiel: Staaten oder ausländischen terroristischen Organisationen) vernetzt hat, dann wird er von einer Zusammenar­ beit mit ressourcenärmeren, strategisch gleichgesinnten Mitspielern ab­ sehen. Diese Hypothese kann anhand der genannten Gruppen nicht bestätigt werden. Der deutsche Linksterrorismus brach nie zugunsten einer einzelnen Beziehung alle übrigen Verbindungen ab. Allenfalls verdrängte ein Partner einen anderen. – Mit Hypothese 8 vermutete der Autor: Wenn terroristische Akteure un­ terschiedliche interne Organisationsmodelle bevorzugen und anwen­ den, dann kommt es entlang eines Wettstreits um den – vermeintlich – erfolgreicheren organisatorischen Ansatz zu adversativen Beziehungen. Diese Hypothese bestätigt sich beim Blick in die Geschichte der bun­ desrepublikanischen „Stadtguerilla“. Der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutio­ nären Zellen“ galt der strukturelle Aufbau als neuralgischer Punkt – mehrfach belastete er ihre Relationen.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor der Beziehungen zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“

9.1 Selbstverständnis 9.1.1 Sozialrevolutionäre Avantgarde Einer der Konstanten in der Geschichte sozialrevolutionärer Bewegungen widmet sich die Frage, welche Rolle die Verfechter einer politischen und gesellschaftlichen Revolution selbst auf dem Weg zur avisierten Zäsur einzunehmen haben. Bereits die Begründer des Anarchismus und Marxis­ mus vertraten hierzu disparate, teils ambivalente Positionen. Karl Marx und Friedrich Engels konstatierten in ihrem 1848 in London erstmals ver­ öffentlichten „Manifest der Kommunistischen Partei“, die Kommunisten „sind […] praktisch der entscheidendste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“5505. Denn „sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegungen voraus.“5506 Dem Marx’schen und Engels’schen Revolutionsmodell mit seinem unver­ kennbaren Gedanken einer Vorhut widersprach der russische Anarchist Michael Bakunin unter anderem 1872 in einem Brief an spanische Mit­ streiter, erblickte er darin doch die Gefahr der „Herrschaft einer intelligen­ ten Minderheit“5507, welche in die „Knechtschaft der Massen“5508 führe. Wie alle übrigen anarchistischen Theoretiker stellte er dem die Hoffnung auf die Spontaneität der Massen entgegen, wobei er in der Praxis nicht das Bemühen unterließ, „eine starke Geheimorganisation zur Vorbereitung und Leitung der Revolution“5509 aus der Taufe zu heben. Deutlich konturierter als Marx und Engels beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts der Marxist Wladimir Iljitsch Lenin das Modell einer sozi­ 5505 5506 5507 5508 5509

Marx/Engels 2009, S. 62. Ebd. Bakunin 1972, S. 184. Ebd. Oberländer 1972a, S. 22.

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9.1 Selbstverständnis

alrevolutionären Avantgarde. Mit seinem 1902 publizierten Werk „Was tun?“ verlieh er der Überzeugung Ausdruck, im Russischen Zarenreich gelange das Proletariat nicht aus eigener Kraft zu einem grundlegenden systemischen Wandel. Ein „politische[s] Klassenbewusstsein“, so Lenin, „kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“5510 Die erforderli­ che „politische Erziehung der Arbeiterklasse“5511 sei Aufgabe der Sozial­ revolutionäre, deren „Ideal […] der Volkstribun“5512 sein müsse. Lenin sprach überdies die Empfehlung aus, die Sozialrevolutionäre in einer „zen­ tralisierten Kampforganisation“5513 zu formieren, in der „strengste Konspi­ ration, strengste Auslese der Mitglieder […] [und die] Heranbildung von Berufsrevolutionären“5514 forciert werden. Diese Vision einer politischen Speerspitze geriet zum elementaren Moment der nach ihm benannten ideologischen Strömung des Leninismus. Im sowjetischen Hegemonialbe­ reich als Dogma zementiert wurde sie durch Josef Stalin, der sich auf eine von Lenin – vermeintlich – begründete „Wissenschaft von der Führung des revolutionären Kampfes des Proletariats“5515 berief. Wie er unter ande­ rem 1924 in einem Zeitungsbeitrag für die russische „Prawda“ deutlich machte,5516 erblickte er in der kommunistischen Partei den „Vorkämpfer des internationalen Proletariats“5517, welcher „die Massen auf das Niveau der [revolutionären] Bewusstheit“5518 hebe. Gleichermaßen apodiktisch positionierte sich der chinesische Autokrat Mao Tse-tung in seinen Schrif­ ten zur Funktion der Kommunisten. So führte er 1948 aus, „[o]hne eine revolutionäre Partei, die gemäß der revolutionären Theorie und dem revo­ lutionären Stil des Marxismus-Leninismus aufgebaut ist, ist es unmöglich, die Arbeitsklasse […] zum Sieg […] zu führen.“5519 Neben den traditionellen kommunistischen Vorstellungen von einer dirigierenden „Partei neuen Typs“ erwuchsen insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auf dem Nährboden von Befreiungsbewe­

5510 5511 5512 5513 5514 5515 5516 5517 5518 5519

Dietz Verlag 1970, S. 211. Ebd., S. 191. Ebd., S. 212. Ebd., S. 261, 264. Ebd., S. 267. Stalin 1972, S. 92 Vgl. ebd., S. 135. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25. Verlag Neuer Weg, S. 1-2.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

gungen in der Dritten Welt – weitere linke Revolutionsstrategien. Diese gingen von gänzlich anderen Rahmenbedingungen aus (darunter die irre­ guläre Kriegsführung gegen staatliche Kräfte überwiegend im ruralen Ge­ biet), rückten indes dasselbe Paradigma ins Zentrum: einen gesellschaftli­ chen Umbruch, ausgelöst und gesteuert von einer Formation aufgeklärter, zu allem entschlossener Kämpfer. Als eine der wohl wirkmächtigsten Hin­ terlassenschaften der neuen Schule zu sehen ist die sogenannte Foquismo (im Deutschen: Fokustheorie), deren Urheberschaft dem Guerillakämpfer Ernesto Guevara und dem französischen Intellektuellen Régis Debray zu­ geschrieben wird.5520 Guevara hatte 1960 in dem Text „Guerillakrieg“ fest­ gehalten, in Südamerika ließen sich soziale Revolutionen durch eine irre­ guläre Kriegsführung von Guerillas im ruralen Raum initiieren. Dabei hob er hervor: „The guerilla band is an armed nucleus, the fighting vanguard of the people.“5521 Das Mitglied dieser Gruppe verklärte er zum „guiding angel“5522, der die Sehnsucht des Volkes nach Befreiung teile.5523 Ähnlich las sich Debrays Werk „Revolution in der Revolution?“, welches ab 1967 durch den „Trikont-Verlag“ in Westdeutschland Verbreitung fand.5524 Vor allem auf Grundlage des kubanischen Befreiungskampfes Ende der 1950er Jahre schlussfolgerte er: „Zuerst geht man vom Kleinsten zum Größten […]. Das Kleinste ist der Guerillafocus – Kern der Volksarmee – und keine Front wird diesen Kern schaffen, sondern erst, wenn der Kern sich entwickelt, kann er eine revolutionäre nationale Front bilden. Eine Front entsteht um irgendetwas bereits Existentes, nicht allein um ein Befreiungspro­ gramm. Der ‚kleine Motor‘ setzt den ‚großen Motor‘ der Massen in Bewegung und beschleunigt die Bildung einer Front, entsprechend der Anzahl der vom ‚kleinen Motor‘ errungenen Siege.“5525 Erfolgreich konnte die Guerilla nach Auffassung Debrays jedoch nur dann sein, wenn sie sich als „politische Avantgarde“5526 etablierte und somit der Bevölkerung „als einziger Fürsprecher und einziger Führer“5527 galt.

5520 5521 5522 5523 5524 5525 5526 5527

Vgl. Gierds 2006, S. 182. Guevara 1998a, S. 10. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. Gierds 2006, S. 182. Debray 1967, S. 88. Ebd., S. 116. Ebd.

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9.1 Selbstverständnis

Während Ernesto Guevara und Régis Debray sich auf den ländlichen Raum als Schauplatz eines gegen staatliche Waffenträger geführten irregu­ lären Krieges konzentrierten, zeichnete der brasilianische Oppositionelle Carlos Marighella in seinem 1969 verfassten „Minihandbuch des Stadt­ guerillero“ das Bild einer im urbanen Gebiet operierenden bewaffneten Gruppe. Sprachlich prägte er dabei den Begriff der „Stadtguerilla“. Auch in Marighellas Ausführungen blieb die Figur des voranschreitenden Kämp­ fers omnipräsent. So verwies er im letzten Kapitel auf einen Nukleus, bestehend aus entschlossenen Kämpfern: „This is the central nucleus, not the bureaucrats […], but rather the men […] who from the very first have been determined and ready for anything, who personally participate in revolutionary actions [sic] who do not waver or deceive.”5528 Dieser Zirkel sei als Rückgrat Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung: „From this backbone will come the marrow of the revolutionary army of national lib­ eration“5529. Er werde die Revolution durch ihre Guerillaphase führen.5530 Angesichts der mit sozialrevolutionärer Historie untrennbar verbunde­ nen Darstellungen wegweisender politischer Fackelträger nimmt es nicht wunder, wenn einzelne Vertreter der Terrorismusforschung den Verant­ wortlichen systematischer linker Gewalt pauschal das Selbstverständnis eines Vorreiters zuschreiben. Linksterroristische Akteure, konstatierte Bru­ ce Hofmann, lassen sich identifizieren anhand ihres Selbstbildes: „[T]hese organizations ‚educate‘ the masses through their self-anointed role as ‚revo­ lutionairy vanguard.‘“5531 Gleichermaßen vertrat Alexander Straßner die Position, Linksterroristen „verstehen sich […] stets als kämpfende Avant­ garde für wirtschaftlich und politisch benachteiligte und unterdrückte Dritte.“5532 Johannes Wörle attestierte „nahezu alle[n] sozialrevolutionären terroristischen Organisationen“ 5533 eine Eigenwahrnehmung als Vorkämp­ fer. Diese generalisierenden Auffassungen stehen indes im Widerspruch zur Forschung, die sich dem deutschen Linksterrorismus widmete. Zwar sprach sie im Zusammenhang mit der „Roten Armee Fraktion“ wiederholt von einem avantgardistischen Anspruch.5534 Die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ wies sie aber als Akteure aus, welche der von 5528 5529 5530 5531 5532 5533 5534

Marighella 2002a, S. 36. Ebd. Vgl. ebd. Hoffmann 2006, S. 232. Straßner 2008a, S. 22. Wörle 2008a, S. 83. Vgl. Demes 1994, S. 8; Peters 2008, S. 660; Schweizer 2009, S. 29; DiewaldKerkmann 2012, S. 135; Kämpfer 2012, S. 18; Schwibbe 2013, S. 255.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

der „Roten Armee Fraktion“ eingenommenen Rolle einer „Speerspitze“ im sozialrevolutionären Widerstand ablehnend gegenüberstanden.5535 Diese Feststellung legt die zu prüfende These nahe, sowohl die B2J als auch die RZ fühlten sich einem stärker anarchistischen Selbstbild verpflichtet, das ein steuerndes Herausbilden und Kanalisieren revolutionärer Postulate in der deutschen Bevölkerung skeptisch wertete. 9.1.2 Führungsansprüche der ersten deutschen linksterroristischen Gruppen Wie eine Gesamtschau der Primärquellen zur „Roten Armee Fraktion“ zeigt, hielt die RAF lange an der Erforderlichkeit einer revolutionären Vor­ reiterfunktion fest, welche sie selbst auszufüllen gedachte. Einem Wandel unterworfen wurde diese Wahrnehmung erst im Zuge der politischen Um­ brüche ab Ende der 1980er Jahre in Deutschland und Osteuropa. Bereits in den Anfängen der Gruppe ließ sich die Vorstellung nachvollziehen, als führender Akteur eines Umbruchs in Erscheinung treten zu müssen. Horst Mahler schilderte in einem 1978 ausgestrahlten Fernsehinterview mit Stefan Aust, für die Aktivisten der sich ab 1969 formierenden RAF war der Zerfall der „68er‑Bewegung“ bestimmend. Nicht hinnehmbar sei aus ihrer Sicht der Rückgang linker politischer Mobilisierung gewe­ sen, den sie im Kern auf die Stärke des bundesrepublikanischen Staates zurückgeführt haben sollen.5536 Laut Mahler bildete diese Analyse den Ausgangspunkt für die – schlussendlich bejahte – Frage, ob „man den Staat irgendwie verwundbar angreifen [kann], so dass der Widerstand wieder Mut bekommt“5537. Wie ein solches Fanal durch eine Minorität gesetzt werden konnte, entnahm die Gruppe jüngerer sozialrevolutionärer Geschichte. „Ganz wichtig“, so Irmgard Möller rückblickend, „waren für uns […] verschiedene Guerilla-Gruppen, die es fast in jedem lateinameri­ kanischen Land gab; in Brasilien, Bolivien, Nicaragua, in Kuba bis zur Revolution.“5538 Diesen Autoritäten folgend, konsentierten ihre Angehö­ rigen ein handlungsbestimmendes Selbstbild: „Wir sahen uns als […] Guerilla“5539 – als anfänglich schwacher politischer Akteur, dessen – ver­

5535 5536 5537 5538 5539

Vgl. Wunschik 2006b, S. 539; Pfahl-Traughber 2014a, S. 177. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 178. Ebd. Möller/Tolmein 1999, S. 36. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 181.

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9.1 Selbstverständnis

meintlich – alternativloser Kampf durch die ihm inhärente Legitimität zunehmend Unterstützung der Bevölkerung erfährt. Erstmals materialisier­ te sich die auferlegte Position des voranschreitenden Lenkers im Frühjahr 1970 mit dem Befreien Andreas Baaders aus der Haft. So jedenfalls wertete es Astrid Proll, als sie mit Blick auf diese Aktion zu verstehen gab, „[w]ir wollten radikal sein, mutig sein, vorneweg sein, wir fühlten uns als Avant­ garde.“5540 Kurz darauf schlug sich der avantgardistische Habitus in den rechtferti­ genden Erklärungen nieder, welche Ulrike Meinhof für den entstandenen Zirkel abgab. Sie dienten nicht der „theoretischen Auseinandersetzung […], sondern vielmehr der apodiktischen Feststellung der […] erkann­ ten und nicht weiter zu diskutierenden Wahrheit.“5541 Mit der ersten Schrift „Die Rote Armee aufbauen“ forderte Meinhof im Juni 1970 die Verantwortlichen der linksextremistischen Szeneschrift „Agit 883“ auf, Baaders Ausbruch aus der Haft „den potentiell revolutionären Teilen des Volkes“5542 zu vermitteln. Nicht nur definierte sie anschließend, welche Personenkreise revolutionäres Potential zeigten und die Agitation der RAF „sofort begreifen können“5543. Überdies gab sie die Botschaft vor, die die­ sen dargelegt werden sollte: „Denen […] habt ihr zu sagen, dass jetzt Schluss ist, dass es jetzt los geht, dass die Befreiung Baaders nur der Anfang ist! Dass ein Ende der Bullenherrschaft abzusehen ist! Denen habt ihr zu sagen, dass wir die Rote Armee aufbauen, das ist ihre Armee.“5544 Im Vertrauen auf das Volk verlangte Ulrike Meinhof somit von der „Agit 883“ nichts Geringeres, als die „Baader/Meinhof‑Gruppe“ öffentlichkeits­ wirksam zum Stellvertreter zu erklären, der einen überfälligen Prozess revolutionärer Umwälzung erfolgversprechend ausgelöst sowie die Inter­ essen der „Massen“ in die Hand genommen hat. Dabei versäumte sie nicht, den postulierten Vertretungsanspruch durch ein pauschales Abwer­ ten kritischer Stimmen aus dem linken politischen Spektrum abzusichern, welche das Befreien Baaders aufgrund seines gewalttätigen Verlaufs nach sich gezogen hatte.5545 Verächtlich sprach sie vom „Geschwätz der ‚Lin­

5540 5541 5542 5543 5544 5545

Astrid Proll, zit. n. Diewald-Kerkmann 2009, S. 41. Hobe 1979, S. 42. ID-Verlag 1997, S. 24. Ebd. Ebd. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. Vgl. Peters 2008, S. 2008; Winkler 2008, S. 168.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

ken‘“5546, von „linken Schleimscheißer[n]“5547 sowie von „intellektuellen Schwätzern, […] Hosenscheißern, […] Alles‑besser‑Wissern“5548. Weniger zugespitzt als im Traktat „Die Rote Armee aufbauen“ lasen sich die im Juni 1970 auszugweise im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ abgedruckten Aussagen, die Meinhof auf Tonband der Journalistin Michè­ le Ray hatte zukommen lassen. In der Aufzeichnung hatte sie sich erneut der „intellektuelle[n] Linke[n]“5549 zugewandt. Meinhof warf ihr vor, die Isolation der entstandenen „Roten Armee Fraktion“ voranzutreiben. Im Ergebnis hielt sie fest, die Gruppe sei in der Position, die „intellektuelle linke Kritik“5550 zur Flucht Andreas Baaders „ignorieren zu können“5551. Daneben schilderte sie den Willen der RAF, revolutionären Teilen der deutschen Bevölkerung im Hinblick auf die Mittel des politischen Kamp­ fes die Augen zu öffnen und damit gewissermaßen erzieherisch auf sie einzuwirken: „Was wir […] zeigen wollen, das ist: dass bewaffnete Auseinanderset­ zungen durchführbar sind, dass es möglich ist, Aktionen zu machen, wo wir siegen und nicht wo die andere Seite siegt.“5552 Bezeichnend für das in der Entstehungsphase präsente Selbstbild der „Ro­ ten Armee Fraktion“ war zudem eine Episode, welche sich wohl nach der Baader-Befreiung in der Redaktion der von den „Tupamaros Westber­ lin“ beeinflussten „Agit 883“5553 abspielte. Wenngleich Holger Meins zu diesem Zeitpunkt noch nicht Mitglied der RAF war, soll er den von ihr propagierten strategischen Ansatz vehement befürwortet haben. Meins ha­ be sich in einer Redaktionskonferenz dafür ausgesprochen, einen für die „Agit 883“ vorgesehenen Beitrag zu einem von Schülern in Westberlin initiierten Streik zu streichen.5554 Als Begründung sei von ihm angeführt worden: „Bewaffneter Kampf ist angesagt“5555. Bereits mit diesem Beispiel offenbarte sich, dass das apodiktische Festlegen einer aktionistischen Linie durch die „Rote Armee Fraktion“ und ihre Anhänger nicht ohne Reaktanz

5546 5547 5548 5549 5550 5551 5552 5553 5554 5555

ID-Verlag 1997, S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24. Meinhof 1970, S. 74. Ebd. Ebd. Ebd., S. 75. Vgl. Wunschik 2006b, S. 545. Vgl. Peters 2008, S. 235. Holger Meins, zit. n. Peters 2008, S. 235.

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9.1 Selbstverständnis

anderer gewaltbefürwortender Linksextremisten blieb. Denn der Aktivist Peter Paul Zahl – später einer der Mitbegründer der „Bewegung 2. Juni“ – warf Meins aufgrund seiner Aussage Arroganz vor.5556 Er soll hinzugefügt haben: „Wenn sich die Avantgarde fünfzehn Kilometer vor die Massen setzt, wird sie kaum Anhänger finden.“5557 Die als Immunisierung angelegten „Hassreaktionen […] gegen Linke oder ganz bestimmte Kreise der Linken, von denen man sich am ehesten Unterstützung erwartet hatte“5558, setzten sich 1971 fort. Im „Konzept Stadtguerilla“ wurden „[e]inige Genossen“5559 adressiert, die der Gruppe eine Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager abgesprochen hätten und somit „in ihrem Urteil über uns schon fertig“5560 seien. Statt dieser Wer­ tung inhaltlich zu begegnen, kanzelte der Text sie sogleich als „falsch und denunziatorisch“ 5561 ab. Zu unwürdigen Diskussionspartnern erklärte er deren Urheber: „Auf einem so miesen Niveau möchten wir uns mit niemandem unterhalten.“5562 Losgesagt wurde sich auch von „Genossen“, die durch – angeblich – unwahre Schilderungen zur RAF in Erscheinung treten würden. Diese seien „Schwätzer, für die sich der antiimperialistische Kampf beim Kaffeekränzchen abspielt“5563. In diesem Zusammenhang definierte das „Konzept Stadtguerilla“, welche Aktivisten des politischen linken Spektrums sich auf Augenhöhe mit der „Roten Armee Fraktion“ bewegen könnten: „Solche, die nicht schwatzen, die einen Begriff von Widerstand haben, denen genug stinkt, um uns eine Chance zu wün­ schen“5564. Folglich klassifizierte die RAF ihr Umfeld rigoros nach einem dualistischen Raster, welches lediglich zwischen andersdenkenden, defen­ siven und gleichgesinnten, gewaltgeneigten Akteuren zu unterscheiden vermochte.5565 Zugleich gerierte sie sich im „Konzept Stadtguerilla“ als „privilegiertes Subjekt der Erkenntnis“5566, beanspruchte sie doch in erkennbarer Abgren­ zung zum Großteil der deutschen linksextremistischen Szenen das Recht,

5556 5557 5558 5559 5560 5561 5562 5563 5564 5565 5566

Vgl. ebd. Peter Paul Zahl, zit. n. ebd. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179. ID-Verlag 1997, S. 27. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd. Ähnlich Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 374-375. Rohrmoser 1981, S. 296.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

die Legitimität, ja gar Unausweichlichkeit terroristischer Gewalt festhalten zu können: „Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstands­ gruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Dass es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Dass der bewaffnete Kampf als ‚die höchste Form des Marxismus-Leninismus‘ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muss“5567. Diese Behauptung stützte die RAF maßgeblich auf ein pessimistisches Betrachten der politischen Lage in der Bundesrepublik, in dem sie das von Wladimir Iljitsch Lenin in „Was tun?“ bediente Argumentations­ muster modifizierte. Marxistisch-leninistische Organisationen könnten in Deutschland – „einem Land, dessen Potential an Gewalt […] groß, dessen revolutionäre Traditionen […] kaputt und schwach sind“5568 – selbst dann „keine revolutionäre Orientierung“5569 schaffen, wenn die Ausgangslage besser werde, als sie es ohnehin schon sei. Durchbrechen ließe sich die anhaltende Erfolglosigkeit wohl ausschließlich durch die „revolutionäre Initiative, […] die praktische revolutionäre Intervention der Avantgarde, der sozialistischen Arbeiter und Intellektuellen“5570, welche die „Rote Ar­ mee Fraktion“ in Gestalt des in Lateinamerika geprägten strategischen Konzepts der „Stadtguerilla“ zu leisten versuche.5571 Diesen überaus spekulativen Ansatz unterwarf sie einem selbst ent­ wickelten Evaluationsprozess: dem „Primat der Praxis“. Demnach könne nur die Aktion zeigen, ob der „bewaffnete Kampf“ in Deutschland mög­ lich und richtig ist.5572 Zwangsläufig verschlossen blieb diese Form der Bewertung allen politischen Akteuren, welche die Mittel des Terrorismus nicht tatsächlich in die Tat umsetzten. Da linksterroristische Gruppen in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre – und auch später – ein Randphänomen waren, erwies sich der Kreis an Aktivisten, die dem „Pri­ mat der Praxis“ entsprachen und somit nach Vorstellung der RAF zum Beurteilen des „bewaffneten Kampfs“ grundsätzlich berechtigt waren, als überschaubar. Bemerkenswert ist mit Blick auf das „Primat der Praxis“ vor 5567 ID-Verlag 1997, S. 31. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt wor­ den. 5568 Ebd., S. 41. 5569 Ebd. 5570 Ebd., S. 37. 5571 Vgl. ebd., S. 41. 5572 Vgl. ebd., S. 40.

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9.1 Selbstverständnis

allem, dass der deutschen Bevölkerung keinerlei Einflussnahme auf das Handeln der „Roten Armee Fraktion“ zugebilligt wurde – dies, obwohl die RAF für sich beanspruchte, im Namen des Volkes terroristisch zu agieren. Den Zuspruch der „Massen“ als berichtigendes Element substituierte Ulri­ ke Meinhof durch ein ausschließlich Linksterroristen zugängliches „trial and error“ 5573. Dieser Abschottungsmechanismus erlaubte der Gruppe, die eigene strategische Haltung weitgehend zu konservieren. Befördert wurde dies außerdem durch die im „Konzept Stadtguerilla“ freimütig eingestan­ dene Entscheidung, die „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ nicht un­ mittelbar am Diskurs eines legalen politischen Milieus teilhaben zu lassen: „Wir wollten, dass jeder von uns gleichzeitig im Stadtteil oder im Betrieb in den dort bestehenden sozialistischen Gruppen mitarbeitet, den Diskussionsprozess mitbeeinflusst, Erfahrungen macht, lernt. Es hat sich gezeigt, dass das nicht geht. […] Dass der einzelne die legale Arbeit nicht mit der illegalen verbinden kann.“5574 Unumwundener als in allen anderen Schriften der Ersten Generation der „Roten Armee Fraktion“ vor den Verhaftungen im Jahre 1972 wurde die Erforderlichkeit einer sozialrevolutionären „Speerspitze“ in Horst Mahlers Text „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ zugegeben. Die Vor­ reiterfunktion wies Mahler darin allerdings nicht explizit der RAF zu, womit er sich von Ulrike Meinhof abhob, deren propagandistische Arbeit Anfang der 1970er Jahre – ganz im Gegensatz zum Wirken Horst Mahlers – weitgehend uneingeschränkte Zustimmung führender Angehöriger der Ersten Generation erhielt. Vielmehr entwarf er ein abstraktes Revoluti­ onsmodell, in welchem dem strategischen Gedanken leitender „studenti­ sche[r] Kader“5575 Bedeutung beigemessen wurde. Die in der Arbeiterklas­ se – vermeintlich – anzutreffende Unzufriedenheit könne lediglich durch ein Eingreifen von außen expandiert werden. Bleibe eine solche Einfluss­ nahme aus, komme es nicht zu einem gesellschaftlichen Umbruch.5576 „Die Führung im revolutionären Prozess durch eine Avantgarde“, schluss­ folgerte Mahler, „ist ein wesentliches revolutionäres Moment.“5577 Als die von ihr zu erbringende Leistung identifizierte er symbolisch die „Bomben

5573 Sozialistischer Hochschulbund/Sozialistische Fraktion zit. n. Fetscher/Münk­ ler/Ludwig 1981, S. 45. 5574 ID-Verlag 1997, S. 42. 5575 Ebd., S. 69. 5576 Vgl. ebd., S. 67-68. 5577 Ebd., S. 69.

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gegen den Unterdrückungsapparat“5578, welche ebenfalls „in das Bewusst­ sein der Massen“5579 geworfen werden würden. Unmissverständlich wies er im Unterschied zu Meinhof darauf hin, als Vorhut beschrieben werden könne lediglich ein Zirkel, dessen exemplarische Taten den „Massen“ in der Praxis als Orientierungspunkt gelten.5580 „Avantgarde ist danach nicht die Gruppe, die sich so nennt oder sich selbst so interpretiert“5581. In seiner Theorie verankerte Mahler folglich eine Rückkopplung zwischen re­ volutionärer Vorhut und revolutionärem Subjekt, in der die Resonanz der Bevölkerung als Korrektiv wirken sollte. Damit legte er die Grundlagen für seine spätere Abkehr von der „Roten Armee Fraktion“, die er maßgeblich auf die eklatante politische Isolation der Gruppe zurückführen sollte.5582 Gleichwohl ist Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig beizupflichten, die in ihrer Exegese des Beitrags „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ ein Vorreiterbewusstsein ausmachten, das „weit über den Elitegedanken in Lenins Theorie der Avantgarde hinausgeht.“5583 Der in Ulrike Meinhofs Trakten erkennbare Wille, die „Rote Armee Fraktion“ zur Speerspitze eines in erster Linie mit Gewalt geführten sozial­ revolutionären Kampfes zu erheben, trieb früh Blüten in der Praxis – so im Verhältnis zu „Quartiergebern“, welche sich nur dann der Anerkennung des Zirkels sicher sein konnten, wenn sie dessen Programmatik teilten. Beate Sturm sagte dazu im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ aus: „Ent­ weder die Leute waren […] politisch aktiv, in Baaders Sinn, oder man hielt sie für dämlich – dann brauchte man keine Rücksicht zu nehmen.“5584 Derart trat die „Rote Armee Fraktion“ auch den Akteuren des gewalttäti­ gen linken Milieus in Westberlin gegenüber, die sie im Allgemeinen als „Dilettanten und Trottel“5585 begriffen haben soll. Nachweislich erwuch­ sen 1971 Verbindungen der RAF zu den TW sowie zu einer Gruppe, der Norbert Kröcher angehörte („Zahl‑Knofo‑Kröcher‑Bande“5586). Mit den „Tupamaros Westberlin“ hatten die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ bereits im März 1970 Gespräche geführt, welche laut Dieter Kunzelmann aufgrund des von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und

5578 5579 5580 5581 5582 5583 5584 5585 5586

Ebd., S. 100. Ebd. Vgl. ebd., S. 69. Ebd. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 192. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 107. Sturm 1972, S. 60. Baumann 1980, S. 91. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 40.

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Ulrike Meinhof geäußerten Ansinnens, „eine quasi leninistische Avantgar­ deorganisation aus der Taufe [zu] heben“5587, ergebnislos verliefen. Gegen­ stand der jeweiligen Diskussion mit den TW und der „Zahl‑Knofo‑Krö­ cher-Bande“ waren offenbar Modalitäten einer Zusammenarbeit, wobei die RAF eine Kooperation – ganz im Sinne der zuvor schriftlich fixier­ ten Maxime – nicht als Ausfluss eines Vernetzens gleichwertiger Partner begriff.5588 Baaders Auftreten während der Gespräche unterstrich die Ent­ schlossenheit des von ihm gelenkten Zirkels, den „bewaffneten Kampf“ in schrankenloser Alleinherrschaft anzuführen. Laut Michael Baumann – einem Mitglied der „Tupamaros Westberlin“ – propagierte Baader „die absolute Ein- und Unterordnung in die Rote Armee Fraktion“5589. Gegen­ über Kröcher soll er sich zu folgender Aussage verstiegen haben: „Ihr habt […] euch sofort der RAF anzuschließen und dem einheitlichen Oberkom­ mando zur Verfügung zu stellen.“5590 Das von Baader als alternativlos vorgetragene Ansinnen belastete die Beziehungen zu den TW sowie zum Zusammenschluss um Norbert Kröcher nachhaltig. Angeblich hieß es in den Reihen der „Tupamaros Westberlin“, man komme mit der „Roten Armee Fraktion“ nicht zurecht.5591 Kröcher galten die Aktivisten der RAF fortan als „Leninisten mit Knarre“5592, womit er die Erste Generation auf eine Stufe hob mit den in der Bundesrepublik agierenden orthodox‑kom­ munistischen „K-Gruppen“, die sich dogmatisch unter anderem dem leni­ nistischen Gedanken der politischen Avantgarde verschrieben hatten. Auf den „marxistisch‑leninistisch-maoistisch gewirkte[n] Einheitsanzug, den die RAF allen Militanten anziehen wollte“5593, so Kröcher, hätten er und andere „[ge]schissen“5594. Die ablehnende Haltung der aus der hedonistisch geprägten „Blues“Szene stammenden Aktivisten gegenüber den Kooptierungsversuchen der Ersten Generation der RAF dürfte sich aus der frappierenden Unverfro­ renheit Baaders ergeben haben, von den logistisch wie aktionistisch weit fortgeschrittenen Terroristen der „Tupamaros Westberlin“5595 ein Anleiten durch die noch junge „Rote Armee Fraktion“ zu fordern. Ursächlich

5587 5588 5589 5590 5591 5592 5593 5594 5595

Kunzelmann 1998, S. 128. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 17. Baumann/Neuhauser 1978, S. 25. Andreas Baader, zit. n. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Vgl. Meyer 2008, S. 178. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Kröcher 1998. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 529; Wunschik 2006b, S. 545.

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war auch der Blick auf die Konsequenzen, die ein solches Über-/Unter­ ordnungsverhältnis für das Binnengefüge der TW gehabt hätte. So soll Georg von Rauch nach den Gesprächen mit der „Roten Armee Fraktion“ geäußert haben, die RAF wolle den „Tupamaros Westberlin“ „den Blues austreiben.“5596 Zu erkennen ist darin die Befürchtung, infolge eines Verei­ nigens mit der „Roten Armee Fraktion“ einen Verlust an Autonomie, ja gar an Identität hinnehmen zu müssen. Ausfluss einer grundsätzlichen programmatischen Differenz kann das Zurückweisen des von Baader vorgetragenen Bestrebens jedenfalls nicht gewesen sein: Das schriftlich von der RAF favorisierte Bild des aufgeklär­ ten Guerilleros glich dem Selbstverständnis derjenigen Teile des Westber­ liner Linksterrorismus, welche die „Rote Armee Fraktion“ Anfang der 1970er Jahre kritisch beäugten. Die „Tupamaros Westberlin“ und ihr Um­ feld vertraten keinesfalls einen anarchistischen Standpunkt, der das Beein­ flussen revolutionärer Subjekte auf Basis einer übergeordneten Stellung pauschal verneinte. Wie unter den Gründern der RAF hatte sich im Kreise des „Blues“ die Einsicht durchgesetzt, den politischen Protest der „68erBewegung“ durch eine gewaltsame Intervention ausgewählter Aktivisten fortführen zu können.5597 Bezugnehmend auf seine Erfahrungen im Jahre 1968 hielt Michael Baumann fest: „Du siehst aber die Möglichkeit, die da drinsteckt, ein kleiner ent­ schlossener Kreis kann […] eine Auseinandersetzung noch ein Stück weiterbringen, kann fürchterliche Breschen hauen ins ganze Gefü­ ge.“5598 Nachdem sich Angehörige des vor allem auf alternative Lebensweisen fixierten „Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen“ 1969 in Jor­ danien durch die Fatah in Kampfhandlungen hatten ausbilden lassen,5599 verstärkte sich das bei ihnen zu beobachtende „Bewusstsein von Avantgar­ de“5600, welches – gleichermaßen wie bei der „Roten Armee Fraktion“ – „insbesondere getragen [wurde] von der ‚romantischen Identifikation‘ mit den Guerilla-Leitbildern“5601. Gezeigt hatte sich dies unter anderem in ihrem Flugblatt „Es ist Zeit zu zerstören“, das durch Handlungsanweisun­

5596 5597 5598 5599 5600 5601

Georg von Rauch, zit. n. Meyer 2008, S. 178. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 133. Baumann 1980, S. 42. Vgl. Horchem 1988, S. 122; Wunschik 2006b, S. 543. Claessens/de Ahna 1982, S. 107. Ebd.

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gen das Erziehen „militanter Kader auf den Dörfern und Metropolen“5602 zu erreichen suchte: „Werdet wild und tut schöne Sachen. […] Alles [sic] was Ihr seht und es gefällt Euch nicht, macht es kaputt! Habt Mut zu kämpfen! Habt Mut zu siegen!“5603 Die im Nahen Osten ausgebildete „Palästina-Fraktion“ reklamierte für sich die Einsicht in die Erfordernisse des weiteren politischen Vorgehens. Als Prüfmaßstab legte sie diese dem Beurteilen verschiedener strategischer Konzepte zugrunde. Mit Blick auf Strukturen und Aktionen des „Zentral­ rats der umherschweifenden Haschrebellen“ hieß es, „die Geschichte, so wie sie jetzt läuft, hat keinen Sinn.“5604 Für sie habe lediglich ein Aus­ weg bestanden: „Wir müssen sofort konkret mit dem bewaffneten Kampf anfangen.“5605 Schließlich, so die Begründung der „Palästina-Fraktion“, bilde sich der ersehnte „neue Mensch […] im Kampf, mit der Waffe in der Hand.“5606 Wie die Selbstbezeichnung „Tupamaros Westberlin“ außen­ wirksam deutlich machte, standen bei der nun eintretenden Gründung eines konspirativen Zirkels die in Uruguay aktiven „Tupamaros“ Pate – „die erste Stadtguerilla-Gruppierung, die es weltweit“5607 gab. Selbiges traf für die „Tupamaros München“ zu. Rekurriert wurde damit auf „Südameri­ ka‑Erfahrungen“5608, in denen ein Kern erlesener Kämpfer den Umbruch einläutet und herbeizuführen versucht. Dieter Kunzelmann verwies in diesem Kontext auf eine „‚Propaganda der Tat‘, von der […] ein Impuls zur Bildung ähnlicher Aktionskerne ausgehen würde.“5609 Diese Steuerung diente dem Ziel, so Fritz Teufel, „die Revolution vorzubereiten“5610. Das von den Aktivisten der „Tupamaros“ favorisierte Selbstverständnis schlug sich alsbald in öffentlichkeitswirksamen Erklärungen nieder: Mit einer Ende 1969 an den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Westberlin, Heinz Galinski, verschickten Tonbandaufnahme deklarierten die TW,5611 5602 Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, zit. n. Claessens/de Ahna 1982, S. 107. 5603 Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, zit. n. ebd. 5604 Palästina-Fraktion des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen, zit. n. Baumann 1980, S. 65. 5605 Palästina-Fraktion des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen, zit. n. ebd. 5606 Palästina-Fraktion des Zentralrats der umherschweifenden Haschrebellen, zit. n. ebd., S. 63. 5607 Kraushaar 2006b, S. 518. 5608 Baumann 1980, S. 66. 5609 Kunzelmann 1998, S. 127. 5610 Fritz Teufel, zit. n. Wunschik 2006b, S. 544. 5611 Vgl. Kraushaar 2006b, S. 519.

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es gebe „EINE revolutionäre Macht von Afghanistan bis Marokko, vom Persischen Golf bis Haifa. Vom revolutionären Focus zur revolutionären Volksbefreiungsarmee.“5612 Wie sehr das avantgardistische Selbstverständnis der „Tupamaros West­ berlin“ in der Theorie dem der „Roten Armee Fraktion“ ähnelte, offenbar­ te die Lektüre eines Pamphlets, das Georg von Rauch im Frühjahr 1970 während seiner Haft angefertigt hatte. Ebenso wie Ulrike Meinhof hatte sich von Rauch mit Guerillatheorien aus der Dritten Welt auseinanderge­ setzt, dabei indes im Gegensatz zu Meinhof – die im „Konzept Stadtgue­ rilla“ Marighella und Debray rezipierte – Ernesto Guevara den Vorzug gegeben.5613 Von Rauch merkte an, „[n]ur die entschlossene Haltung für den Guerillakrieg und die Strategie des bewaffneten Kampfes werden die richtigen politischen Entscheidungen hervorbringen“5614 – eine Annahme, die inhaltlich dem Tenor von Meinhofs „Primat der Praxis“ entsprach. Weiter schrieb von Rauch: „Kommandoaktionen […] [werden] in den Augen der Bevölkerung richtig sein.“5615 In diesem Kommentar schwingt die ebenfalls bei Meinhof zu findende, vereinfachende Überzeugung mit, die Massen würden sich an die Seite selbsternannter, gewaltsam voran­ schreitender Revolutionäre schlagen, da deren Anliegen ihrem genuinen Interesse entsprächen. Von Rauch selbst kam zu dem Schluss, legitimer Stellvertreter der – angeblich – geknebelten Bevölkerung zu sein: „Wir sind die zornigen Vollstrecker des Protests des unterdrückten Volkes.“5616 Unzweifelhaft genoss diese strategische Linie der in Westdeutschland agie­ renden „Tupamaros“ den Rückhalt anderer gewaltgeneigter Mitstreiter aus dem „Blues“-Milieu, räumte doch der gemeinsam mit Peter Paul Zahl und Gabriele Kröcher-Tiedemann unabhängig von den TW agierende Ak­ tivist Norbert Kröcher in seiner Autobiographie ein, „auch wir [träumten] von einer ‚richtigen‘ Guerilla nach südamerikanischem Vorbild.“5617 Im Periodikum FIZZ hatten sie sich seinerzeit unter dem Titel „Die beste Rote Hilfe ist die Rote Armee!“ hinter die mit diesem Ansatz verbundene Vorreiterfunktion gestellt: „Eine Armee des Volkes ist noch nie spontan entstanden. Die Vorstufe für den Aufbau einer Volksarmee ist bei uns die Stadtguerilla!“5618 5612 5613 5614 5615 5616 5617 5618

Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 96. Die Hervorhebung entspricht dem Original. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 39, 42; Kraushaar 2006b, S. 522. Georg von Rauch, zit. n. Kraushaar 2006b, S. 522. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 523. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 210. FIZZ, zit. n. ebd., S. 213.

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9.1 Selbstverständnis

Dem von Andreas Baader Mitte 1971 geforderten organisatorischen Zu­ sammenführen stellten sich die TW vielmehr auch in dem Wissen um die praktischen Folgen entgegen, denen sich der deutsche Linksterrorismus aufgrund seines bisherigen Ausgestaltens der Rolle des revolutionären Vorkämpfers zusehends ausgesetzt sah. Zum Scheidepunkt geriet somit nicht die Frage, ob eine Avantgarde in Gestalt der Guerilla in der – ver­ meintlich – möglichen Revolution erforderlich war. Die Distanzierung resultierte aus disparaten Vorstellungen, wie diese Funktion im Alltag effektiv ausgefüllt werden kann. Michael Baumann merkte in seiner Auto­ biographie an, ab Spätsommer 1971 kristallisierte sich innerhalb der „Tu­ pamaros Westberlin“ der Wille heraus, den „bewaffneten Kampf“ „anders als die RAF“5619 zu verwirklichen. Ausdrücklich führte er als Grund die­ ser Entwicklung die zunehmende Isolation der „Roten Armee Fraktion“ im linken politischen Spektrum an, welche auf einer Ablehnung ihrer Vorgehensweise beruht habe.5620 Für die ebenfalls der „Stadtguerilla“ zuge­ hörenden „Tupamaros Westberlin“ wären daraus gleichermaßen Nachteile erwachsen: „Uns hat kaum noch jemand unterstützt.“5621 Während die „Rote Armee Fraktion“ aus ideologischer Superiorität weiterhin vehement Kritik zurückwies und ausschließlich Unterstützer zu akzeptieren bereit war, die ihr enges politisches Korsett nicht in Frage stellten,5622 gaben sich die „Tupamaros Westberlin“ in bewusster Abgrenzung zur RAF asso­ ziativer. Aufgebaut wurde dabei auf Überlegungen, die schon in der An­ fangsphase des Zirkels existiert hatten: „Elitäre[r] Kaderbildung sowie radi­ kale[r] Abschottung von anderen Linken als freiwillige Selbstisolation“5623 war die Idee eines „möglichst engen, […] fließenden Zusammenhang[s] mit den Gruppen der Protestbewegung“5624 entgegengesetzt worden. Statt die selbst gewählte Vorbildstellung in Form einer isolationistischbornierten Politik gegenüber dem linksextremistischen Umfeld durchzu­ setzen, erschlossen die TW – bei unverändertem Avantgardebewusstsein – Verbindungen zu „Fabrikgruppen, wie Proletarische Linke, die in den Fa­ briken Kader aufgebaut haben. Und zu der Stadtteilgruppe Kreuzberg, die anfing [sic] ein Jugendzentrum zu besetzen.“5625 Ergänzend ließ sich Till Meyers Erinnerungen entnehmen, die „Tupamaros Westberlin“ verfolgten 5619 5620 5621 5622 5623 5624 5625

Baumann 1980, S. 99. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Diewald-Kerkmann 2012, S. 135. Kunzelmann 1998, S. 128. Ebd. Baumann 1980, S. 99.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

die Absicht, ihre finanziellen Ressourcen „autonome[n] Projekte[n] und Initiativen in sozialen Bereichen“5626 zukommen zu lassen. Tatsächlich habe der Zirkel unter anderen der „Roten Hilfe“ Geld zur Verfügung ge­ stellt.5627 1971 trieben die TW zudem Diskussionen mit anderen Akteuren aus der sie umgebenden gewaltbereiten Westberliner Szene voran. Ronald Fritzsch – einer der Teilnehmer dieses Diskurses – sprach von „offene[n] und breite[n]“5628 Gesprächen, in die „viele Leute, die gar nicht unmittel­ bar dabei waren, einbezogen worden“5629 sind. Ralf Reinders, Mitglied der „Tupamaros Westberlin“, teilte diese Einschätzung: „Es hat schon so etwas wie eine breitere Verankerung gegeben.“5630 Die TW durchbrachen damit bewusst eine politischen Diskursen entzogene Praxis, wie sie Ulrike Meinhof im „Konzept Stadtguerilla“ postuliert hatte. Dieses differente Verwirklichen des sowohl von der RAF als auch von den TW befürworteten Avantgardegedankens geriet zu einem der prägen­ den Momente ihrer weiteren Beziehungen. Die „Tupamaros Westberlin“ schlossen sich Anfang 1972 mit einer Reihe gleichgesinnter Akteure zur „Bewegung 2. Juni“ zusammen. Das durch die TW geformte Selbstbild einer bewaffnet kämpfenden Vorhut, welche sich zum einen kooperativ und zugänglich gibt, zum anderen tatsächlichen politischen Rückhalt fin­ det, erhoben die Mitglieder der B2J zu einem wesentlichen Alleinstellungs­ merkmal der Gruppenidentität. Ersichtlich wurde dies aus den Rückbli­ cken mehrerer Zeitzeugen. Bereits der Name der neu formierten Gruppe, so Till Meyer, sollte die Distanzierung vom abkapselnden, hierarchisieren­ den Gebaren der „Roten Armee Fraktion“ unterstreichen, die dem „Blues“ gemeinhin als Abzug leninistischer Organisationsprinzipien erschien. Er repräsentierte den Anspruch der „Bewegung 2. Juni“, weniger außenste­ hender, direktiver als vielmehr paritätischer Teil eines auszubauenden ge­ waltbefürwortenden Widerstands zu sein: „Und der Begriff ‚Bewegung‘ müsse sein, weil uns vorschwebte, kei­ ne geschlossene Kaderorganisation aufzubauen, sondern eine breitge­ fächerte Bewegung, zu der sich alle zählen konnten, die das machten, was wir machten: Stadtguerilla.“5631

5626 5627 5628 5629 5630 5631

Meyer 2008, S. 185. Vgl. ebd., S. 186. Ähnlich Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 243. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 39. Ebd. Ebd. Meyer 2008, S. 197.

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9.1 Selbstverständnis

Dieses Modell einer „Populäre[n] Guerilla“5632, die jeglichen Interessen­ ten „eine Art politisches Gesinnungsetikett für militante Aktionen“5633 offerierte, beinhaltete darüber hinaus das eindeutige Bekenntnis, in der Umsetzung der selbst gewählten politischen Agenda den Bezug zur Reali­ tät wahren zu wollen. Wie Michael Baumann festhielt, sprachen sich die Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ in der Entstehungsphase dagegen aus, „abstrakt eine rote Armee aufzubauen.“5634 Denn eine bewaffnete Gruppe ohne Verankerung in einem Umfeld könne „nur noch abstrakt reagieren“5635, sozusagen losgelöst und entfremdet von realen politischen Entwicklungen existieren. Entscheidend sei gewesen, „Guerilla-Basisarbei­ ten“5636 zu leisten, die einerseits durch legale Mittel „eine rote Hilfe in den Bezirken“5637 in Westberlin bieten, andererseits mit terroristischen Anschlägen „Massenaktionen unterstützen.“5638 In anderen Worten: Für die Angehörigen des Zirkels war es prioritär, „in besonderem Maße an das anzuknüpfen, was nach ihrer Auffassung die Massen bedrückt.“5639 Laut Ralf Reinders sollten dabei nicht „für die Linke […] stellvertretend Aktio­ nen“5640 realisiert werden. Vorgeherrscht habe der Wille, politische Taten als „Teil […] und […] im Zusammenhang mit der legalen Linken“5641 zu vollbringen. Ähnlich beschrieb der aus dem nahen Umfeld der Kerngrup­ pe der B2J stammende, 1975 aufgefundene Text „Mit dem Rücken zur Wand?“ das in der Auseinandersetzung mit der RAF formulierte Selbstbild des Zirkels, welches den mit der „Roten Armee Fraktion“ geteilten Avant­ gardeanspruch von einem Agieren für zu einem Agieren für und mit dem revolutionären Subjekt erklärte: „Sie [die ‚Bewegung 2. Juni‘] hat […] erfahren und gelernt, dass eine Guerilla mit aufklärerischem Konzept keine wirkliche Verbindung zum Volk bekommt, wenn sie nicht von den täglichen nahen Konflik­ ten der Betroffenen ausgeht“5642.

5632 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 259. 5633 Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 116. 5634 Baumann 1980, S. 101. 5635 Ebd. 5636 Ebd., S. 100. 5637 Ebd., S. 101. 5638 Ebd. 5639 Hobe 1979, S. 34-35. 5640 Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. 5641 Ebd. 5642 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 244.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

Nahezu wortgleich äußerten sich im Januar 1979 die Aktivisten der B2J, welche aufgrund der Ermordung Günter von Drenkmanns vor Gericht standen. Zusätzlich verwiesen sie auf die Anfang der 1970er Jahre zuneh­ mende Isolation des deutschen Linksterrorismus als Ursprung des Selbst­ verständnisses der „Bewegung 2. Juni“: „Sie [die B2J] hat aus ihrer Anfangszeit gelernt, dass bewaffnete Wi­ derstandsgruppen mit aufklärerischem Konzept keine wirkliche Ver­ bindung zum Volk bekommen, sogar Gefahr laufen, von vorhande­ nen Verbindungen und Bindungen abgetrennt [sic] werden, wenn sie nicht Teil des Kampfes ums tägliche Leben im Betrieb, Schule, Stadt­ teil, vor Gericht, im Knast und knastähnlichen Institutionen wird. Sie geht von den täglichen Konflikten der Betroffenen aus“5643. Dass eine genuin avantgardistische Haltung im Übergang von den „Tu­ pamaros Westberlin“ zur B2J gewahrt blieb, offenbarte der Öffentlichkeit bereits im Juni 1972 das „Programm der Bewegung 2. Juni“. Darin hieß es, die Gruppe sehe sich „zusammen mit anderen Guerilla‑Organisationen, wie z.B. der RAF, als Vorhut zu Schaffung einer Armee des Volkes“5644. Unter „Vorhut“ verstand sie einen Zusammenschluss „verschiedener auto­ nomer Gruppen der Stadtguerilla“5645, an deren Anfang man gegenwärtig stehe. In diesen Aussagen spiegelte sich der von Till Meyer beschriebene Entschluss der Gruppe wider, die „Stadtguerilla“ im Allgemeinen zum Vorreiter sozialrevolutionärer Ziele zu erheben. Zugewiesen wurde die­ ses Prädikat nicht einem einzelnen Akteur der „Stadtguerilla“, womit dem Hegemonialstreben der „Roten Armee Fraktion“ eine klare Absage erteilt wurde. Die weiteren Inhalte des „Programms“ proklamierten die erwünschten Beziehungen zum Volk. Sie wiesen erstaunliche Parallelen zu Horst Mahlers Avantgardeverständnis in „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ auf – ein Text, der im Gründerkreis der „Roten Armee Fraktion“ ab 1973 als „immer störender, banal, praxisfern“5646 abgewehrt wurde. So verkündete das „Programm“: „Die Bewegung zählt sich nur insoweit zur Avantgarde, als sie ‚zu den ersten zählt, die die Waffe ergreifen.‘ Sie wird nicht dadurch zur Avantgarde, dass sie sich einfach so nennt. Das Gewehr allein und 5643 5644 5645 5646

Ebd., Band 2, S. 506. Ebd., Band 1, S. 12. Ebd., S. 10. Bundesministerium des Innern 1975, S. 52. Vgl. auch Fetscher/Münkler/Lud­ wig 1981, S. 115.

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9.1 Selbstverständnis

der Vollzug ‚revolutionärer Aktionen‘ genügen nicht, den Anspruch zu rechtfertigen. Die Bewegung muss zur Aktion übergehen, eine überzeugende revolutionäre Praxis treiben, sich den Massen durch Kontinuität und vermittelte Aktionen verständlich machen. Sie muss zeigen, dass allein die Aktion die Avantgarde schafft und dass jegliche Avantgarde überflüssig geworden ist, wenn die Aktionen vom Volk aufgegriffen und vermasst sind.“5647 Die „Bewegung 2. Juni“ werde „an der Basis, in den Stadtteilen, Betrie­ ben, Basisgruppen, in den Schulen und Universitäten“5648 sowie in „Mas­ senkämpfen“5649 wirken, um eine „Aufklärung über Möglichkeiten neuer Kampfmethoden“5650 und das Vereinheitlichen politischer Akteure zu er­ reichen. Treffend fasste die linksextremistische Aufarbeitung der Geschichte der B2J zusammen, wie die Gruppe unter Anwendung ihrer Maxime – gleich­ berechtigter Teilhaber der „Stadtguerilla“, Einbindung in den Alltag des revolutionären Subjekts – nach außen als „proletarische Alternative“5651, als „bewaffneter Arm der Linken“5652 wahrgenommen werden wollte. In einem Beitrag für eine Solidaritätsveranstaltung 1980 anlässlich des „Drenkmann‑Lorenz‑Prozesses“ hieß es: „Das ist kennzeichnend von Anfang an, dass […] die Aktionen [der ‚Bewegung 2. Juni‘] […] nicht so einen ‚belehrenden Charakter‘ haben nach dem Motto: die Avantgarde zeigt der bewusstseinsverkrüppelten Masse mal, wo’s [sic] politisch/militärisch längs geht – sondern dass hier Teile des Volkes angefangen haben, sich für ihre Sache entschie­ den einzusetzen und dabei die Mittel einzusetzen, die sie für richtig und erfolgversprechend halten.“5653 Anders als das von Ulrike Meinhof mit dem „Konzept Stadtguerilla“ deter­ minierte Guerillaverständnis der RAF entsprach das von der B2J suggerier­ te „Zugehörigkeitsgefühl zur Unterschicht“5654 in Ansätzen den Leitlinien der lateinamerikanischen Befreiungstheorien, auf die sich der deutsche

5647 5648 5649 5650 5651 5652 5653 5654

Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Staatsanwaltschaft Westberlin, zit. n. Diewald-Kerkmann 2009, S. 217. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 240. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 627. Claessens/de Ahna 1982, S. 157.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

Linksterrorismus implizit wie explizit zu berufen pflegte. Ernesto Guevara hatte zu verstehen gegeben, unabdingbare Voraussetzung eines erfolgrei­ chen Guerillakampfes war der Bezug zur Bevölkerung. Ohne ihn sei der „bewaffnete Kampf“ zum Scheitern verurteilt.5655 Régis Debray bot eine dezidiertere Sicht zum Verhältnis zwischen Guerilla und den „Massen“: „Er [der Guerillakrieg] muss sich auf die Massen stützen, oder er muss verschwinden, er muss die Massen von seiner Berechtigung überzeu­ gen, bevor er sie direkt miteinbezieht, damit die ‚Rebellion‘ wirklich, d.h. durch die Rekrutierung und Herkunft der Kämpfer, zum ‚Volks­ krieg‘ wird. Um die Massen zu überzeugen, muss man sie ansprechen, man muss sich ihnen gegenüber in Reden, Proklamationen, Erklärun­ gen, kurz durch politische Arbeit, durch ‚Arbeit in den Massen‘ ver­ ständlich machen.“5656 Das „libertäre Selbstverständnis“5657 der B2J als „Populäre Guerilla“, die politisch „am Ball bleiben und in der legalen Linken, in den Projekten und Initiativen […] mitreden“5658 wollte, blieb jedoch eine hehre Vorstel­ lung. Zwischen Theorie und Praxis tat sich rasch eine breite Kluft auf, unterlag die Gruppe doch aufgrund des Abtauchens ihrer Mitglieder in die Illegalität ähnlichen Sachzwängen, wie sie bei der „Roten Armee Fraktion“ laut Horst Mahler allgegenwärtig waren: Aufgrund der Schlagkraft der ihnen gegenüberstehenden staatlichen Sicherheitsarchitektur betrachteten die Terroristen „die Umwelt […] nur noch in militärischen Mustern, als befreite Zone, als gefährliches Gebiet usw.“5659 Außerdem sahen sie „die Menschen nicht mehr offen“5660, sondern „als potentielle Verräter oder als Denunzianten“5661, vor denen es sich zu schützen galt. Plastisch skizzierte Michael Baumann vergleichbare Prozesse in der „Bewegung 2. Juni“. Ein „Guerillaapparat“ sowie die damit verbundene „logistische Arbeit“, merkte er in seiner Autobiographie an, „nimmt dich so in Anspruch, dass du für andere Sachen gar keine Zeit mehr hast.“5662 Unausweichlich reduziere sich der „Kontakt zu den Leuten der Basis“5663:

5655 5656 5657 5658 5659 5660 5661 5662 5663

Vgl. Guevara 1998a, S. 10. Debray 1967, S. 48. Klöpper 1987, S. 62. Vgl. auch Kröcher 1998. Meyer 2008, S. 305. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 186. Ebd. Ebd. Baumann 1980, S. 101. Ähnlich Meyer 2008, S. 314. Ebd., S. 127.

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„Du nimmst nicht mehr an einer direkten Weiterentwicklung der ganzen Scene teile. Der lebendige Prozess [sic] der abläuft, da bist du nie mehr voll integriert. Du bist plötzlich eine Randfigur, weil du nicht mehr überall auftreten kannst, nicht mehr in dem Maße direkt drin bist, in den allgemeinen Abläufen.“5664 Eine derart pessimistische Bewertung findet sich in den Selbstzeugnissen anderer Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ zwar nicht. Nach der Grün­ dung der B2J ergab sich, so Till Meyer, „[n]ahezu jeden Tag […] ein Tref­ fen mit Leuten aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen, mit denen wir diskutierten oder die uns einfach nur über die politische Ent­ wicklung auf dem laufenden hielten.“5665 Ronald Fritzsch gab zu verste­ hen, „wir waren alle noch in anderen Gruppen mit drin“5666 und „haben schon eine ganze Menge mitdiskutiert“5667 – und Ralf Reinders sagte aus, „[m]anchmal sind die Illegalen […] mit Leuten, die sie kannten, diskutie­ ren gegangen und manchmal haben sie auch als Gäste an irgendwelchen Gruppentreffen teilgenommen“ 5668. Aber auch diese Primärquellen liefern Belege für ein engen Grenzen unterlegenes Verhältnis der B2J zu ihrem politischen Umfeld. Reinders gab selbstkritisch zu, die Gruppe habe sich nicht ausreichend mit anderen Akteuren ausgetauscht.5669 Die Beziehun­ gen nach außen unterlagen laut Inge Viett zusehends verschärften Sicher­ heitsvorkehrungen.5670 Unweigerlich sei es zu einer Einschränkung der „anfänglich fließende[n] Kommunikation zwischen den legalen Basisgrup­ pen und den Illegalen“5671 gekommen. Trotz dieses realen Erfordernissen geschuldeten Aufweichens der eigenen Rollendefinition pflichtete die For­ schung5672 Einschätzungen aus den Reihen der B2J bei, denen zufolge der Zirkel beachtliche Unterstützung in den linken Kreisen Westberlins erfahren habe.5673 Während die B2J 1972 das auf Vermittelbarkeit zielende Narrativ einer eingebetteten Guerilla schuf, hielt die „Rote Armee Fraktion“ unbeirrt am 5664 5665 5666 5667 5668 5669 5670 5671 5672

Ebd. Meyer 2008, S. 305. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 53. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Viett 2007, S. 118. Vgl. auch Meyer 2008, S. 314. Viett 2007, S. 116. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 157; Rabert 1995, S. 190; Korndörfer 2008, S. 245. 5673 Vgl. Klöpper 1987, S. 64; Rollnik/Dubbe 2007, S. 23; Viett 2007, S. 107.

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Duktus des „Konzepts Stadtguerilla“ sowie an der pauschalen Abwehr jeg­ licher Einwände fest. Im April 1972 erklärte die RAF, der klandestine Gue­ rillakampf in der Bundesrepublik sei eine „gute Idee“5674, die „niemand […] mehr vom Tisch fegen kann“5675. Sein Aufgreifen durch die „Rote Armee Fraktion“ sei Dienst am Volk.5676 Offensiv monierte sie die Gegen­ argumente aus dem Spektrum der Linken, welche aus ihrer Sicht Zeugnis ablegten von einem an Weitblick mangelnden, unreifen Verständnis poli­ tischer Zusammenhänge: „Sie haben nur den Status quo vor Augen.“5677 Extensiv stellte sie ein für sich reklamiertes Privileg höherer Einsicht zur Schau. Dabei versäumte der Zirkel nicht, seinen fehlenden Rückhalt als Produkt des von ihm bekämpften Gegners einzuordnen: „Sie [die Kritiker der RAF] sehen in unserer Isolierung von den Mas­ sen nur unsere Isolierung von den Massen, nicht die wahnwitzigen Anstrengungen, die das System unternimmt, um uns von den Massen zu isolieren.“5678 Eindringlich forderte die „Rote Armee Fraktion“ solidarisches Verhalten linker politischer Kräfte, da die Gruppe andernfalls Opfer der Repressio­ nen des Feindes werden würde.5679 Es sei nicht hinnehmbar, „die Lücke zwischen ihrer Einsicht und unserer Praxis einfach wuchern zu lassen“5680. Wie sich die RAF das Überwinden dieses Grabens im Einzelnen ausmal­ te, ließ sie über eine Tonbandaufzeichnung verkünden, die auf einer Veranstaltung der „Roten Hilfe“ in Frankfurt am Main Ende Mai 1972 abgespielt wurde. Unverhohlen pochte sie auf ein einseitiges strategisches Annähern des sie umgebenden Milieus: „Genossen, hört auf, euch hinter den Massen zu verschanzen! Hört auf, die Frage des Widerstandes auf die Massen abzuwälzen!“5681 Selbst nach dem für die Glaubwürdigkeit der RAF desaströsen Anschlag auf das „Springer“-Haus in Hamburg sowie der durch Bürgerhilfe gelunge­ nen Festnahme nahezu aller Aktivisten der Ersten Generation im Laufe des Jahres 1972 vollzog der Zirkel keine Kehrtwende in der Eigenwahrneh­ mung und -darstellung. Im Gegenteil: Der These des Soziologen Oskar 5674 5675 5676 5677 5678 5679 5680 5681

ID-Verlag 1997, S. 137. Ebd. Vgl. ebd., S. 138. Ebd., S. 136. Ebd. Vgl. ebd., S. 143. Ebd., S. 116. Ebd., S. 150.

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Negt, der durch die „Rote Armee Fraktion“ verkörperten Avantgarde kön­ ne ein Politisieren revolutionärer Subjekte nicht gelingen, widersprach trotzig Ulrike Meinhof im November 1972 im Pamphlet „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“.5682 Sie entgegnete mit der Fra­ ge: „Wieso identifizieren sie sich denn?“5683 Ganz offensichtlich ging sie davon aus, die RAF genieße infolge ihrer bisherigen Agitation merklich Sympathien in der Bevölkerung: „Die RAF […] hat zunehmend bei Schü­ lern, Studenten, Lehrlingen Zustimmung gefunden.“5684 Meinhof kanzelte Negt als „völlig durchgedrehte[n], wild um sich schlagende[n] Kleinbür­ ger“5685 ab. An der Richtigkeit des „bewaffneten Kampfes“ der „Roten Armee Fraktion“ ließ sie somit keinen Zweifel. Beharrlich zementierten die Inhaftierten der Ersten Generation der „Ro­ ten Armee Fraktion“, denen in der über das „Info“ aufrechterhaltenen Binnenstruktur die absolute Deutungshoheit oblag, auch in den Jahren darauf die Notwendigkeit einer politischen „Speerspitze“ sowie die Auffas­ sung, diese Funktion eingenommen zu haben. In einem im Juli 1973 aufgefundenen, vermutlich von Andreas Baader verfassten Kassiber wurde das weitere Vorgehen der „Gefangenen“ beschrieben. Einerseits sollte ein interner Diskurs ausgelöst werden, welcher auf Basis der zurückliegenden Erfahrungen die Frage zu beantworten sucht, „wie muss man es machen, damit […] die guerilla wird [sic] was sie ist: avantgarde d. prol.“5686 Andererseits schwebte dem Verfasser dieser Zeilen ein bis zu 40 Seiten fassendes Positionspapier der RAF vor, das die ersten Texte der Gruppe fortschreiben und eine „korrespondenz zur basis“5687 herstellen sollte. Der Zusammenbruch der Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ 1972 stelle sich als bedauerlich dar, weil eine Situation absehbar gewesen wäre, in der die Kritiker der RAF sich an ihrer Politik, „der wirklichkeit, macht, [hätten] definieren […] müssen“5688 – und nicht umgekehrt. Ungeachtet dieses nahen Erfolgs sei es angezeigt, schriftlich herauszuheben, „dass die revolutionäre bewegung nur noch möglich ist vom militärischen fo­ kus zur politischen bewegung“5689. Andere Revolutionsmodelle führten zwangsläufig zum Misserfolg, dem Scheitern des sozialrevolutionären Um­ 5682 5683 5684 5685 5686 5687 5688 5689

Vgl. ebd., S. 162. Ebd. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164. Bundesministerium des Innern 1975, S. 2. Ebd. Ebd., S. 4. Die Hervorhebungen sind vom Autor hinzugefügt worden. Ebd.

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bruchs.5690 In einem weiteren, ebenfalls im Juli 1973 entdeckten Zellenzir­ kular hieß es klarstellend, die Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ „sind die ‚aventgarde‘ [sic], vorhut oder wie immer, des proletariats“5691. Zugeschrieben wurde die Aussage Gudrun Ensslin.5692 Vor dem Hinter­ grund dieses innerhalb der RAF kultivierten Erkenntnisvorsprungs und Überlegenheitsgefühls, die der „Zugluft konkurrierender Denkansätze und Ideologien“5693 entzogen blieben, erschienen die Deklamationen des Zir­ kels Anfang 1975 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ folgerichtig. Einen Umsturz ohne Mitwirken der Bevölkerung bezeichneten sie als undenkbar, fügten jedoch sogleich die Notwendigkeit einer führenden Hand hinzu, ohne die die „Massen“ unfähig zur Revoluti­ on seien. Die „Rote Armee Fraktion“, so die entsprechende Passage, habe sich dem Ziel verpflichtet, „eine politisch-militärische Avantgarde, einen politisch‑militärischen Kern zu schaffen, der […] den legalen Kämpfen in der Fabrik, im Stadtteil, auf der Straße, an den Universitäten erst Kontinuität, Orien­ tierung, Stärke, Ziel geben kann zu dem, worum es in der Entwick­ lung der ökonomischen und politischen Krise des imperialistischen Systems gehen wird: der Eroberung der politischen Macht.“5694 Im Gespräch mit dem „Spiegel“ grenzte sich die RAF außerdem scharf von traditionellen linksextremistischen Topoi der revolutionären Vorhut ab. Die leninistische Idee einer Kaderpartei wertete sie als antiquiert; zeit­ gemäß sei nur das Formieren einer Guerilla, womit sie sich abermals selbst bestätigte.5695 Tief in das Selbstverständnis der „Roten Armee Frak­ tion“ blicken ließ zudem die „Erklärung zur Sache“, welche die in Stutt­ gart-Stammheim einsitzenden Mitglieder im Januar 1976 während ihres Verfahrens verlasen. Die „Avantgarde, die antiimperialistische Guerilla: RAF“5696 beschrieben die Angeklagten anhand des Verlaufs der „68er-Be­ wegung“ als unausweichlich: Einen „qualitativen Sprung in der Entwick­ lung der Klassenkämpfe“5697 habe dieser Protest nicht vollführen können,

5690 5691 5692 5693 5694

Vgl. ebd. Ebd., S. 164. Vgl. ebd., S. 161. Klaus Wasmund, zit. n. Jäger/Böllinger 1981, S. 151. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 55. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. 5695 Vgl. ebd. 5696 ID-Verlag 1997, S. 235. 5697 Ebd.

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„weil es noch keinen bewaffneten Kampf gab“5698 und er „– ohne den Mo­ tor der bewaffneten Avantgarde – weder die Kraft dazu entwickeln, noch überhaupt die Notwendigkeit und Möglichkeit begreifen konnte“5699. Die­ se Analyse übertrugen sie nahezu inhaltsgleich auf die deutsche Bevölke­ rung, als sie sich dem aus der politischen Linken stammenden Vorwurf der „selbsternannten Avantgarde“ stellten. Aus Sicht der „Roten Armee Fraktion“ würde die Linke schlicht „nicht begreifen, dass so lange die Massen nicht den Bruch mit dem Kapitalverhältnis, also dem Staat vollzogen haben, sie Objekt des Kapi­ tels sind, ihre Identität also vom Staat bestimmt, verstaatlicht ist, dass sie den Bruch aber nur als bewusstes Subjekt des Prozesses des Aufbaus revolutionärer Gegenmacht vollziehen werden – das heißt: bewaffnet –, mobilisiert durch die Vermittlung der bewaffneten Avantgarde, un­ serer Aktion, und zur Identität mit uns kommen werden: zu bewaffne­ ter proletarischer Politik.“5700 Die im „Spiegel“ abgedruckten Aussagen führender Aktivisten der RAF spiegelten ein Präzisieren der Überlegungen wider, welche die Gruppe mit der von ihr einzunehmenden Stellung im revolutionären Prozess verband. Während der Haftzeit der Aktivisten der Ersten Generation wurde sie insofern genauer umrissen, als die angestrebte Avantgardeposition immer stärker den Anstrich einer militärischen, mithin straff gegliederten und schlagkräftigen Kampftruppe erhielt, die sich mit dem Staat im Krieg befand.5701 Die Rede von einem „militärischen fokus“ im genannten, mut­ maßlich auf Andreas Baader zurückgehenden Kassiber aus dem Jahre 1973 konnte als einer der ersten Hinweise auf diese Tendenz gedeutet werden. Mit ihr einher ging eine „Militarisierung der Denkweise“5702 sowie ein Wandel im Auftreten der Ersten Generation – eine „Militarisierung der Politik“5703, welche Außenstehenden den Eindruck vermittelte, die RAF erfülle bereits Kriterien einer militärischen Einheit. So jedenfalls schilderte es Volker Speitel, als er sich an seine Zeit als Unterstützer der „politischen Gefangenen“ aus der Ersten Generation der RAF erinnerte. Die Inhaftier­ ten sollen mit einer „militärischen Terminologie“5704 hantiert haben, die 5698 5699 5700 5701 5702 5703 5704

Ebd. Ebd., S. 236. Ebd. Vgl. Jäger/Böllinger 1981, S. 165; Diewald-Kerkmann 2009, S. 146. Jäger/Böllinger 1981, S. 163. Dellwo 2007a, S. 106. Vgl. auch Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 35. Speitel 1980a, S. 41.

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in ihm die Überzeugung habe wachsen lassen, dahinter verberge sich tat­ sächlich eine entsprechende Struktur.5705 Schlussendlich sprach sich die „Rote Armee Fraktion“ sogar in aller Öffentlichkeit soldatische Professio­ nalität und Operationsfähigkeit zu. Brigitte Mohnhaupt sagte am 22. Juli 1976 vor Gericht aus, der Zirkel ist „ne [sic] militärische organisation […], d.h. kein haufen, der irgendwie in der gegend sitzt“5706. Als Ausdruck der zunehmenden Transformation des idealisierten Vor­ reiterverständnisses hin zu dem einer primär den militärischen Konflikt suchenden Avantgarde kann ebenfalls das im „Spiegel“‑Interview zu be­ obachtende Verurteilen des maßgeblich von Wladimir Iljitsch Lenin ge­ prägten Modells der „Partei neuen Typs“ begriffen werden. Diese nahm in der klassischen kommunistischen Lehre den Platz eines Propagandis­ ten, nicht hingegen den eines waffentragenden Kombattanten ein. Ver­ gleichbare Urteile der RAF finden sich in späteren Dokumenten. 1976 gab sie zu verstehen, „der kampf für die proletarische alternative [kann] nicht von einer kommunistischen partei ausgehen […], nicht von einem apparat“5707. Indes brach die „Rote Armee Fraktion“ nicht gänzlich mit leninistischen Prinzipien, stilisierte sie doch die eigenen Angehörigen wie­ derholt zu „Kadern“ – also zu Berufsrevolutionären, die jegliche Energie dem Realisieren eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs widmen. Zur An­ wendung gebracht hatte diesen Terminus bereits im Jahre 1970 Ulrike Meinhof, die der Journalistin Michèle Ray Andreas Baader als „Kader“ be­ schrieben hatte.5708 Mitte 1973 war er auch von Gudrun Ensslin in einem Kassiber zur Charakterisierung der Binnenverhältnisse der „Roten Armee Fraktion“ herangezogen worden: „jeder einzelne kämpfer/kader ist die […] kleinste einheit der guerilla.“5709 Die Inkonsequenz im Verwerfen der leninistischen Avantgarde schlug sich Mitte der 1970er Jahre in diversen öffentlichen Aussagen nieder. Im Januar 1976 hoben die Inhaftierten die RAF in den Rang einer „kaderorganisation“5710, deren Mitglieder – wie Brigitte Mohnhaupt im Juli 1976 hinzufügte – nach einer „kaderlinie“5711 einheitlich zu einer terroristischen Praxis befähigt werden sollten. Das Glo­ rifizieren der eigenen Aktivisten überschritt stellenweise sogar die Grenze zur Personenverherrlichung. So schanzte der Zirkel Andreas Baader in Ge­ 5705 5706 5707 5708 5709 5710 5711

Vgl. ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 224. Ebd., S. 285. Vgl. Meinhof 1970, S. 74. Bakker Schut 1987, S. 34. Rote Armee Fraktion 1983, S. 46. Ebd., S. 219.

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richtsverfahren das Attribut des archetypischen Revolutionärs zu: „andreas war von anfang in der raf das, was jeder kämpfer werden will und muss: die politik und strategie in der person jedes einzelnen.“5712 Ähnlich hielt es Ulrike Meinhof in ihrem „fragment über struktur“, an dem sie vor ihrem Selbstmord im Jahre 1976 gearbeitet hatte. Baader habe stets Eigenschaf­ ten in seiner Person vereint, die die „guerilla am meisten braucht: wille, bewusstsein des ziels, entschlossenheit, kollektivität.“5713 Der rigorose Elitegedanke sowie die Verteidigungsmechanismen, wel­ che die „Rote Armee Fraktion“ zum Schutz der eigenen Interpretation der Wirklichkeit anwandte, reduzierten den Kreis der in ihren Augen ebenbürtigen Interaktionspartner, bis schließlich nur noch sie selbst üb­ rig blieb.5714 Laut Karl‑Heinz Dellwo kam es zu einem „Bruch in der Kommunikation mit denen, die an die alten [politischen und gesellschaft­ lichen] Verhältnisse angebunden blieben“5715 und nicht den Schritt in den Terrorismus wagten. Das Ansinnen, „in der Bevölkerung wie ein Fisch im Wasser“5716 zu sein, löste der Zirkel von seiner ursprünglichen Bedeutung. Die „Rote Armee Fraktion“ war nicht bereit, das deutsche Volk – und darin insbesondere die extremistische Linke – mit seinen konkurrierenden politischen Ansichten als Umfeld anzunehmen. Günstig erschien ihr lediglich ein selbst geschaffenes Habitat aus ideologisch wie strategisch gleichgeschalteten Mitkämpfern. Dementsprechend wich die in ihren Reihen mit Blick auf die Gründungsphase der RAF Anfang der 1970er Jahre nachgezeichnete – vermeintlich – „breite diskussion mit an­ deren gruppen, auch legalen gruppen oder einzelnen aus legalen antiimpe­ rialistischen organisationen“5717, endgültig einer auf „Unerbittlichkeit“5718 beruhenden instrumentalisierenden Haltung.5719 Ihren Rahmen bildeten Extreme, wie sie Holger Meins 1974 in einem Brief nachgehalten hatte: „entweder du bist ein teil des problems oder du bist ein teil der lösung. dazwischen gibt es nichts.“5720 Die „Rote Armee Fraktion“ bot die Wahl: Wer nicht bedingungslos mit seiner bisherigen Agitation brach, auf die von der RAF vorgegebene Linie einschwenkte und somit als Instrument

5712 5713 5714 5715 5716 5717 5718 5719 5720

Ebd., S. 46. Ebd., S. 24. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 351. Dellwo 2007a, S. 113. Vgl. auch Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 33. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 65. Rote Armee Fraktion 1983, S. 233-234. Jünschke 1988, S. 160. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 90. Bakker Schut 1987, S. 66.

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ihre Prärogative akzeptierte, musste fürchten, von der Gruppe fallengelas­ sen oder als revolutionärer Arbeit unwürdig gebrandmarkt zu werden. Oder in den Worten der RAF: Nur derjenige, der sich „identifiziert […] mit dem konzept stadtguerilla, den typen, die sowas machen, heißt: mit dem ganzen ärger: instrumentalisierung, disziplin, taktik […], schließlich illegalität, knast, tot“5721, sei in der Lage, „die bedingungen rev. politik [zu] begreifen wie wir und [zu] handeln wie wir.“5722 Mehrere Beispiele veranschaulichen das praktische Anwenden des schon 1971 im „Konzept Stadtguerilla“ durch Ulrike Meinhof vertretenen Freund‑Feind‑Schemas. Vermutlich aus der Feder Gudrun Ensslin stamm­ te die 1973 schriftlich fixierte Annahme, es sei Aufgabe der RAF, „die rh [Rote Hilfe] zu ändern, ihre handwerkelei nicht zu dulden, ihre bisherige anarchische idylle so schnell und so gründlich wie möglich zu beenden, diejenigen unermüdlich zu unterstützen, die die änderung betreiben.5723 Während seiner Mitgliedschaft in der „Roten Hilfe“ in Stuttgart erlebte Volker Speitel diese von Ensslin skizzierte kompromisslose und damit spalterische Agenda mit: „Die Roten Hilfen wurden wegen ihrer verwaschenen Terminologie angegriffen, und wir wurden mehr oder weniger vor die Entscheidung gestellt, entweder die RAF ganz zu unterstützen oder gar nicht. ‚Ganz unterstützen‘ war immer noch im Sinne von Gefangenenbetreuung gemeint, aber nicht mehr in der Roten Hilfe, sondern in den inzwi­ schen von RAF-Anwälten gegründeten Komitees gegen die Isolations­ folter.“5724 Im April 1974 hielt Andreas Baader in einem Zellenzirkular fest, Wolfgang Huber – Gründer des als Rekrutierungsbecken der RAF bekannt gewor­ denen „Sozialistischen Patientenkollektivs“ – zähle nicht bereits durch seine Einbindung in das „Info“ zum Zirkel. Voraussetzung sei „ne [sic] grundsätzliche kritik seiner politik vor seiner verhaftung. alles andere ist unmöglich.“5725 Jan-Carl Raspe machte im August 1974 über das „Info“ unmissverständlich das Verhältnis der „Roten Armee Fraktion“ zu marxis­ tisch-leninistischen Organisationen deutlich. Diese seien erst dann für die Gruppe von Interesse, wenn „sie den staat auf der ebene, auf dem niveau,

5721 5722 5723 5724 5725

Rote Armee Fraktion, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 90. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd. Bundesministerium des Innern 1975, S. 22. Speitel 1980a, S. 38. Bakker Schut 1987, S. 49.

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auf dem er das volk kontrolliert, ausbeutet, unterdrückt, bekämpfen: be­ waffnet.“5726 Dass sich Mitte der 1970er Jahre nicht nur die legalistische, sondern auch die gewaltbereite Linke mit einem instrumentalisierenden Gehabe der RAF konfrontiert sahen, bezeugen Primärquellen zum deutschen Linksterrorismus. Mehrfach soll es zu Annäherungen der „Bewegung 2. Juni“ an die „Rote Armee Fraktion“ gekommen sein. Nach dem Tod Holger Meins‘ habe die B2J der RAF das Entführen eines sowjetischen Staatsbürgers vorgeschlagen.5727 Wenige Monate später band die Gruppe die „Rote Armee Fraktion“ in das Vorbereiten der Freiheitsberaubung von Peter Lorenz ein.5728 In beiden Fällen, so die Aussagen der Beteiligten, verlangte die RAF das Recht, auf die Planungen der B2J signifikant Ein­ fluss zu nehmen. Laut Till Meyer wollten die Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ „– wie erwartet – mitdiskutieren.“5729 Sie zielten vor allem darauf, zu „bestimmen, welche Gefangenen auf der Befreiungsliste stehen“5730 – also die Aktivitäten der „Bewegung 2. Juni“ zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Volker Speitel will darin einen „Führungsanspruch“5731 der in der JVA Stuttgart-Stammheim inhaftierten Mitglieder der RAF er­ kannt haben. Das fordernde Verhalten der „Roten Armee Fraktion“ habe die B2J jeweils zum Anlass für den Abbruch der Kontakte genommen.5732 Gleichwohl schreckte die „Bewegung 2. Juni“ nicht davor zurück, vermut­ lich ab Herbst 1976 erneut einen Anlauf zur Intensivierung der Beziehun­ gen zu nehmen. Der dabei gehegte Wunsch, mit der RAF fortan „von gleich zu gleich [zu] überlegen, was zu tun ist“5733, zerbrach abermals rasch an der Realität. Das von 1971 an aufrechterhaltene Überlegenheitsge­ fühl der „Roten Armee Fraktion“ gegenüber dem aus dem „Blues“ hervor­ gegangenen Terrorismus wandte auch bei dieser Gelegenheit ein verstärk­ tes Zusammenarbeiten ab. Die B2J sei nicht willens gewesen, dem von der „Roten Armee Fraktion“ geforderten Unterwerfen nachzukommen.5734 Selbstredend prägte die RAF mit diesem Auftreten ihr Bild, das in der „Bewegung 2. Juni“ und deren Umfeld vorherrschte. Überheblichkeit und

5726 5727 5728 5729 5730 5731 5732 5733 5734

Ebd., S. 141. Vgl. Speitel 1980a, S. 46. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66; Meyer 2008, S. 345-346. Meyer 2008, S. 346. Speitel 1980a, S. 49. Zur Lorenz-Entführung vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66. Speitel 1980a, S. 49. Vgl. Speitel 1980a, S. 49; Meyer 2008, S. 346. Rollnik/Dubbe 2007, S. 69. Vgl. ebd., S. 73.

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Arroganz wurden zu bestimmenden Vorwürfen.5735 Als unerträglich, ja geradezu vergiftend betrachtete Inge Viett die „Unantastbarkeit“5736, die „Ausschließlichkeit in den Gedanken der RAF‑Genossen“5737. Ebenfalls anschaulich fasste Gabriele Rollnik die persönlichen Schlussfolgerungen zusammen, welche sie zum Selbstbild der „Roten Armee Fraktion“ zog: „[S]ie [die Mitglieder der RAF] waren mir zu starr in Bezug auf ihre Linie. Die war nicht mehr diskutierbar. Es ging immer um die richtige Linie und das war von vornherein ihre. […] Es war keine Entwicklung mehr drin, denn sie glaubten, sie hätten das Ei des Kolumbus schon gefunden. Die RAF war ja völlig überzeugt, dass sie die richtige Politik machen, egal wie viele gescheiterte Aktionen sie präsentiert hatten, aber vom Theoretischen her und von ihrer Vorstellung her, den Bruch mit der Gesellschaft gemacht zu haben und auf dem richtigen Weg zu sein, da waren sie schon sehr überzeugt von sich und ihrer Politik“5738. Gleichgelagerte Kritik enthielt das 1975 bei Werner Sauber aufgefunde­ ne Papier „Mit dem Rücken zur Wand?“. In einer vernichtenden Bilanz schrieb es der „Roten Armee Fraktion“ unumwunden eine „Elite-Linie“5739 zu: Den „bewaffneten Kampf“ habe sie auf ein bloß aufklärerisches Kon­ zept reduziert, das Außenstehenden lediglich eine „sympathisierende Zu­ schauerhaltung […], eine ohnmächtige Passivität“5740 übrig lasse. Die RAF sei dementsprechend „weder Fisch im Wasser noch Vogel in der Luft“5741. Die „Bewegung 2. Juni“ stellte dem weiterhin das eigene Avantgarde­ verständnis entgegen. Gabriele Rollnik stieß Ende 1973/Anfang 1974 zur Gruppe.5742 Im Zeitraum ihrer Mitgliedschaft habe sich der Zusammen­ schluss gesehen als „Vorkämpfer […] im Sinne von: vorangehen. Nicht im Sinne von besser sein als die anderen.“5743 Diese Rolle wollten die Mit­ glieder laut Rollnik ausfüllen als „Teil des allgemeinen Widerstands“5744, um „für Bündnisse ansprechbar zu bleiben“5745. Vergleichbar hielt die ab 5735 5736 5737 5738 5739 5740 5741 5742

Vgl. ebd. Viett 2007, S. 99. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 26. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 240. Ebd. Ebd., S. 239. Vgl. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 23; Rollnik/Dubbe 2007, S. 16-17; Meyer 2008, S. 302; Diewald‑Kerkmann 2009, S. 131. 5743 Rollnik/Dubbe 2007, S. 115. 5744 Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 30. 5745 Ebd.

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1975 in der B2J mitwirkende Aktivistin Angelika Goder die Eigenwahr­ nehmung der Gruppe fest.5746 Rückblickend äußerte sie, die „Bewegung 2. Juni“ sei eine „revolutionäre Guerillagruppe“5747 gewesen, welche im Kampf gegen die staatliche Ordnung der Bundesrepublik wegweisend wirken wollte. Trotz aller Beteuerungen, hierbei ein Gegengewicht zur Abgehobenheit der RAF zu bilden, fiel die B2J in der Praxis bisweilen in Verhaltensmuster, die sie der „Roten Armee Fraktion“ zur Last legte. Hart ins Gericht ging sie mit Gegnern der eigenen strategischen Implikationen, denen sie – analog der „Roten Armee Fraktion“ – wahlweise unreifes oder fehlendes revolutionäres Bewusstsein attestierte. Dieser isolationistische Verteidigungsreflex war keinesfalls nur in der aktionistischen Hochphase des Zirkels anzutreffen. Vielmehr zeigte er sich schon in den Anfängen der „Bewegung 2. Juni“. Bezeichnend war eine Episode, die Till Meyer in seiner Autobiographie preisgab: Während seiner Haftzeit 1972 erhielt er einen Brief seines Onkels, in dem dieser den „bewaffneten Kampf“ des Zirkels drastisch abgekanzelt habe.5748 Meyers Reaktion fiel entsprechend aus: „Die Vorwürfe waren nicht neu, viele unserer linken Kritiker, und nicht nur die aus dem DKP‑Spektrum, urteilten über den bewaffneten Kampf ähnlich. Das wehrte ich ab: Revisionisten, Leute, die ihren Frieden mit dem System gemacht haben! Von der Revolution hatten die sich längst verabschiedet. Der Onkel versteht die Verhältnisse hier nicht und begreift nicht, was wir wirklich wollen.“5749 Öffentlichkeitswirksam griff die „Bewegung 2. Juni“ auf herablassende Ar­ gumentationsschemata zurück, als sie 1974 durch das Ermorden Ulrich Schmückers und des Westberliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann mehrfach negative Resonanz in der Linken hervorrief.5750 Nach der Tötung Schmückers sah sich der Zirkel gezwungen, Akteuren des linken Spektrums, welche die Tat in einem offenen Brief verurteilt hatten, „merkmale der bourgeoisie“5751 zu unterstellen. An ihnen seien „die revolutionären aktivitäten […] vorbeigelaufen“5752, ihr Widerspruch

5746 5747 5748 5749 5750 5751 5752

Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 101. Ebd., S. 108. Vgl. Meyer 2008, S. 263. Ebd., S. 264. Vgl. Rabert 1995, S. 188; Pfahl-Traughber 2014a, S. 172. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 271. Ebd.

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wäre „überheblich und unqualifiziert“5753. Die B2J verbot sich jede weitere kritische Stellungnahme, „denn ihr repräsentiert nicht die revolutionäre kraft, mit der wir uns auseinandersetzen wollen.“5754 Den linken Einwän­ den gegen das Ermorden von Drenkmanns, welche in ihm nicht einen ent­ scheidenden Träger staatlicher Repression ausmachen konnten,5755 begeg­ nete sie ostentativ mit ihrer ganz eigenen Sicht der Wirklichkeit. Es sei „nur logisch, dass der Präsident selbst nicht am Richtertisch stand: Wel­ cher Unternehmer macht sich schon selbst die Hände dreckig und hat aber dennoch alle Entscheidungsgewalt in der Hand!“5756 Resümierend gestand Gabriele Rollnik in ihrem Gespräch mit Daniel Dubbe ein, die „Bewe­ gung 2. Juni“ habe dem Infragestellen ihrer Aktivitäten kaum Gewicht zu­ gemessen.5757 Grund hierfür sei ein Gefühl der Superiorität gewesen, ins­ besondere aus dem persönlichen Aufopfern in der Illegalität resultierend: „Wenn du dein Leben einsetzt, glaubst du, über eine höhere Berechti­ gung zu verfügen. Du bist an dem Punkt, wo andere erst hinkommen. […] Das ist der höchste Einsatz, und andere können uns gar nicht mehr kritisieren. Es gibt die Tendenz, dass man selbstgerecht wird und selbstherrlich. Dann kippt es ab. Gut, das sehe ich jetzt im Nachhin­ ein. Damals hätte ich das so nicht gesehen.“5758 9.1.3 „Populäre Guerilla“ als Gegenentwurf Sinnbild des von der „Roten Armee Fraktion“ mit ihrem Selbstverständ­ nis beförderten Polarisierens linksextremistischer Kräfte war nicht nur die ihr entgegengebrachte Abneigung der B2J. Anschauungsmaterial lie­ ferten überdies die Entwicklungen Anfang der 1970er Jahre in Frank­ furt am Main. Ähnlich wie die Aktivisten der „Tupamaros Westberlin“ sammelten dort lebende Linksextremisten in direkten Kontakten negative Erfahrungen mit dem avantgardistischen Habitus der „Roten Armee Frak­ tion“. Die bereits in die Unterstützerszene der Ersten Generation einge­ bundenen Aktivisten Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann sollen einen Standpunkt eingenommen haben, demzufolge „sich die RAF mehr und

5753 5754 5755 5756 5757 5758

Ebd. Ebd. Vgl. Meyer 2008, S. 335. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 198. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 115. Ebd.

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mehr um sich selbst dreht“5759. Zur Sprache gebracht habe Böse im Aus­ tausch mit seinem Weggefährten Hans-Joachim Klein die Neigung der „Roten Armee Fraktion“, Solidarität nur als Mittel zum Zweck zu begrei­ fen.5760 Klein selbst hatte seine Hilfe für „Illegale“ der RAF aufgrund von Drohungen aus deren Umfeld eingestellt.5761 Außerdem war er – wie Volker Speitel – Zeuge des Instrumentalisierens linksextremistischer „Gefangenenhilfe“ durch die „Rote Armee Fraktion“ geworden.5762 Als sie mit weiteren Linken ab 1973 die „Revolutionären Zellen“ aus der Taufe hoben und konsolidierten, einte sie die Intention, dem mit dem Zerfall der „68er-Bewegung“ eintretenden Niedergang sozialrevolu­ tionärer Bestrebungen entgegenzuwirken. Die ersten Mitglieder der RZ waren nicht bereit, „Widerstand, Ent-Rüstung und Engagement gegen den weltweiten Kapitalismus […] aufgrund dieser Abwärtsentwicklung der Bewegung“5763 einzustellen und „zur Tagesordnung über[zu]gehen.“5764 Zugleich verwarfen sie Formen politischer Meinungsäußerung, welche im Rahmen der Legalität erprobt worden waren.5765 Verschärft werden sollte der Protest – darin stimmten sie der „Roten Armee Fraktion“ wie der „Bewegung 2. Juni“ zu – durch Mittel jenseits rechtlicher Grenzen, die das Instrumentarium des auf Lenkung revolutionärer Subjekte ausge­ legten „bewaffneten Kampfs“ bot.5766 Im strategischen Ausgestalten dieses Konzepts mussten jedoch nach Vorstellung der Aktivisten der „Revolu­ tionären Zellen“ zwingend alternative Wege beschritten werden.5767 Das Umdenken war vor allem Ausfluss der eigenen Berührungspunkte mit der RAF5768 sowie einer eingehenden Reflexion ihrer terroristischen Praxis, welche die RZ-Mitglieder als „völlig falsch“5769 erachteten. Nicht zuletzt die Verhaftungen von Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“ waren – angeblich – „Anlass, einiges anders zu machen.“5770

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Kopp 2007, S. 63. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 280. Vgl. Klein 1979a, S. 42. Vgl. ebd., S. 168. Schnepel/Wetzel 2001, S. 107. Ebd. Vgl. Klein 1979a, S. 195-196; Kopp 2007, S. 69. Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 440; Horchem 1988, S. 84. Vgl. Kopp 2007, S. 63. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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Leitend wurde für die Gründer der „Revolutionären Zellen“ das Para­ digma, sich durch ein „enges Wechselverhältnis“5771 vermittelbar in legaler politischer Agitation zu erden und so ein Verselbstständigen der eigenen Agenda zu unterbinden. Die RZ sollten eine „populäre Guerilla“ wer­ den.5772 Dazu kombinierten sie in ihren ersten Selbstbezichtigungsschrei­ ben eine realistische Einschätzung ihrer Lage mit dem Bemühen, sich den Status eines untrennbaren, gleichgestellten Bestandteils der „Massen“ zu­ zuschreiben. Ihre Aktivitäten titulierten sie zurückhaltend als „winzige[n] Teil des antiimperialistischen Kampfes“5773, mit dem man ausschließlich symbolische Wirkung entfalten könne.5774 Die RZ kämpften in Deutsch­ land gegen das „profitgierige, menschenverachtende Bonzenpack“5775 und ihre Herrschaft, deren Folgen „immer wir, die Jugendlichen, die Arbeiter und Angestellten, die Frauen, die Ausländer, die Tante Emmas in ihren Lädchen“5776, zu ertragen hätten. 1975 legten sie der Öffentlichkeit schließ­ lich erste Eckpunkte zum Selbstbild im avisierten revolutionären Prozess vor. Die „Revolutionären Zellen“ zählten sich im „Revolutionären Zorn“ offensiv zur „Stadtguerilla“, die „jetzt und auf absehbare Zeit eine Minder­ heit“5777 sei. Sofern die notwendigen logistischen Voraussetzungen gege­ ben wären, wolle sie „umfassender und offensiver in Massenkämpfe“5778 verwickelt sein. An sich selbst stellte das Netzwerk den Anspruch, nicht nur „mehr oder weniger formal auf Bewegungen“5779 aufzubauen. Der eigene Beitrag sollte politischen Auseinandersetzungen „direkten Nutzen […] bringen, Vorteile […] verschaffen.“5780 Bemerkenswert war: Die RZ sahen in diesen Stellungnahmen von For­ mulierungen ab, welche explizit das Prinzip einer „Speerspitze“ im Kampf um einen gesellschaftlichen Umbruch als unumstößlich auswiesen und die direktive Rolle den eigenen Strukturen zusprachen. Dieser Verzicht auf selbstgefällige sprachliche Konstruktionen, in denen eine „Vorhut“ oder „Avantgarde“ offensichtlich im Mittelpunkt rangierte, hob sie deutlich von

5771 Ebd. Ähnlich Kopp 2007, S. 68. 5772 Vgl. ebd. 5773 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 116. 5774 Vgl. ebd. 5775 Ebd., S. 117. 5776 Ebd. 5777 Ebd., S. 87. 5778 Ebd., S. 91. 5779 Ebd. 5780 Ebd.

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der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ ab, hatten doch beide in ihren Erklärungen extensiv von solchen Schilderungen Gebrauch gemacht. Die „Revolutionären Zellen“ bauten damit begrifflich nicht der­ art aggressiv eine hierarchische Barriere zwischen sich, dem linken Spek­ trum und der Bevölkerung auf, wie es für die RAF und die B2J charakte­ ristisch war. Hierbei handelte es sich um Kalkül. Ableiten ließ sich diese Schlussfolgerung aus einem im Mai 1975 veröffentlichten Interview mit einem RZ‑Mitglied. Das Votum der „Revolutionären Zellen“, nicht dem zu folgen, „was die RAF macht oder der 2. Juni“5781, schloss nach Aussage des Befragten das Ansinnen aus, „eine Partei oder eine Rote Armee zu wer­ den. Wir sind da ganz vorsichtig, wir sind keine Bewegung, sondern nur ein Teil davon.“5782 Letztes proklamierte das RZ‑Mitglied auch an anderer Stelle: „Nicht die Massen sollen sich durch uns befreien lassen, sondern wir wollen uns befreien: wir gehören nämlich dazu!“5783 Demnach wollte das Netzwerk ganz bewusst nicht die unter dem Begriff „Stadtguerilla“ bereits existierenden linksterroristischen Selbstverständnisse übernehmen. Weder identifizierte es sich – analog der RAF – mit der Stellung eines monolithischen, militärisch anmutenden Kerns noch – ähnlich der B2J – mit der Rolle eines übergeordneten lockeren Zusammenschlusses verschie­ dener „Stadtguerilla“-Gruppen, der in seiner – vermeintlichen – Volksnä­ he grundsätzlich allen Sympathisanten terroristischer Gewaltanwendung offenstand. Im Hinblick auf die elitäre Haltung der „Roten Armee Frakti­ on“ räumte der interviewte Aktivist das Sich-Distanzieren der RZ sogar expressis verbis ein: „Auch wir meinen, dass die Papiere [der RAF] oft den Alleinbesitz der richtigen Linie, der Wahrheit hinknallen, wo eigentlich Probleme und Widersprüche aufgezeigt werden müssten. Beispiel dafür ist die Avantgardeproblematik“5784. Präziser als bislang lieferte er eine Antwort auf die Frage, wie die „Revo­ lutionären Zellen“ das von der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewe­ gung 2. Juni“ etablierte Unterscheiden in „Guerilla“ und „Volk“ in einer eigenen Definition der „Stadtguerilla“ aufzulösen gedachten. Ihre Angehö­ rigen sollten „Teil von der politischen Massenarbeit“5785 werden, indem

5781 5782 5783 5784 5785

Ebd., S. 96. Ebd., S. 115. Ebd., S. 99. Ebd., S. 104. Ebd., S. 115.

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sie „in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen arbeiten, kämpfen, intervenieren, schützen“5786. Dabei gelte es, „[j]ede Art von möglicher Instrumentalisierung anderer Menschen durch uns“5787 zu verhindern, sie nicht als bloßes Objekt zu begreifen. Zu sehen und zu behandeln seien sie als das, was sie sind: Individuen.5788 Die aktive Einbindung in politi­ sche Zusammenhänge werde den RZ erlauben, Fehlentscheidungen als solche zu erkennen und zu korrigieren.5789 Somit wollten die „Revolutio­ nären Zellen“ zum mitsprechenden Anhängsel avancieren, das in „Abhän­ gigkeit von der Präsenz und den Launen legaler Bewegungen“5790 agiert. Ohne sich auf seine Theoretiker zu berufen, gerieten die RZ mit diesem Selbstbild in das Fahrwasser des Anarchismus, den eine ausgesprochene Antipathie gegen jede Form der Rangfolge und des Bevormundens kenn­ zeichnete:5791 „Jeder Anarchismus besteht darauf, dass der Anarchist als In­ dividualist mit anderen Individualisten zusammenarbeitet“5792. Insofern ist die Annahme zulässig, im Gegensatz zu den mehr kommunistischen An­ nahmen verpflichteten Selbstinterpretationen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ gerierten sich die „Revolutionären Zellen“ anarchistisch. Zur konkreten Umsetzung der Position legten die RZ mehrfach Re­ chenschaft ab. Bezogen auf ihre Teilnahme am Kampf gegen Preiserhö­ hungen im öffentlichen Personennahverkehr ab Mitte der 1970er Jahre merkten sie an, nach dem Eintritt ihrer Mitglieder in dieses Themenfeld hatten sie angesichts dort herrschender „völliger Ratlosigkeit über die zu benutzenden Kampfformen“5793 Handlungsoptionen aufgestellt und durch Aktionen für ihre Vorschläge Werbung gemacht.5794 Auch dem Engagement der Angehörigen der Anti-AKW- und Frauenrechtsbewegung sollen sich die „Revolutionären Zellen“ angeschlossen haben, um „zusam­ men wie die Hefe im Teig zu wirken.“5795 Vermieden worden sei, die

5786 5787 5788 5789 5790 5791 5792 5793 5794 5795

Ebd. Ebd., S. 111. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 107. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Oberländer 1972a, S. 13; Pfahl-Traughber 2014a, S. 56; Backes 2018, S. 138; Mannewitz/Thieme 2020, S. 33. Oberländer 1972b, S. 305. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 127. Vgl. ebd., S. 126. Ebd., S. 247.

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dortigen gewaltbereiten Aktivisten von ihren bisherigen Tätigkeiten zu lö­ sen und in einer separaten Organisationsstruktur zusammenzuführen5796 – eine Aussage, so Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig, welche mittelbar Kritik am instrumentalisierenden Kuratel der „Roten Armee Fraktion“ übte.5797 In dem gegen Kernenergie gerichteten Protest­ spektrum hätten die RZ auf Grundlage ihrer Anschläge die Anstrengung unternommen, dem eingeengten Blick auf die für Atomanlagen ausgewie­ senen Baustellen zusätzliche Perspektiven darzulegen.5798 Die aufmerksame Orientierung an der gesellschaftlichen Realität mach­ te die „Revolutionären Zellen“ indes nur scheinbar zu einer „bessere[n] RAF“5799. Denn: De facto hing die RZ ebenso leninistischen Grundzü­ gen nach, wie sie die „Bewegung 2. Juni“, mehr noch die „Rote Armee Fraktion“ prägten5800 – sie wollten „mit jeder Initiative etwas in Gang set­ zen.“5801 Selbst räumten sie dies 1981 in der sechsten Ausgabe des „Revolu­ tionären Zorns“ ein, als sie in der Rückschau auf die 1970er Jahre einen „uneingestandenen globalen Führungsanspruch“5802, ja gar eine „Rolle der selbsternannten Avantgarde“5803 identifizierten. Unter der Oberfläche der Eigendarstellung verbarg sich der Glaube der RZ, dass die breite Bevölkerung selbst nicht eine ausreichende Fähigkeit zum Zerschlagen des deutschen Staatssystems entwickeln konnte und daher Hilfsleistungen erforderlich waren, die den Schlüssel zum ersehnten Erfolg formten. Beim Festlegen der Hilfsleistungen zeigten die Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ eine starke Fixation auf die terroristische Konfrontation. Der selbst als richtig empfundene Weg war also das Maß aller Dinge. Dieses genuin avantgardistische Denken brach sich wiederholt in den Schriftstücken des Netzwerks Bahn. Laut Einschätzung weiblicher Mitglieder der RZ aus März 1975 waren „offene Massenorganisationen lebenswichtig und richtig, aber ohne die Herausbildung von Stadt-, Fabrik-, Schul- und Frauenguerillagrup­

5796 Vgl. ebd. 5797 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 171. 5798 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 206. 5799 Gerber 2008. 5800 Ähnlich Demes 1994, S. 26. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 37. 5801 Unsichtbare 2022, S. 35. 5802 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 279. 5803 Ebd.

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pen auf eine bestimmte Sorte von Intervention reduziert […], die für die Bekämpfung dieses Systems einfach nicht mehr ausreicht.“5804 Im Sommer 1975 deklarierten die RZ, ohne „Stadtguerilla“ könne „die Repression die Linke zum Schweigen, zur Machtlosigkeit verurteilen.“5805 Nur durch terroristische Taten werde gesellschaftlicher Unmut vor dem Scheitern bewahrt oder zum Sieg geführt.5806 1978 deklamierten die RZ in der vierten Ausgabe ihres Blattes „Revolutionärer Zorn“ noch deutlicher: „Die Geschichte der Menschheit ist voll von Versuchen, das Problem anders zu lösen, mit Verweigerungsstrategien, mit Petitionen, mit Hungerstreiks, mit Selbstverbrennungen usw. Sie alle appellieren an eine moralische Substanz der Herrschenden, die es nicht gibt. Dage­ gen steht eine andere Tradition, die allein das Risiko, sich in Gefahr zu begeben, lohnt. Nämlich die, sich im Kampf gegen die Menschen­ fresser zu bewaffnen. Denn, wenn je die Unterdrückten ihre Lage verändern konnten, dann nur auf diesem Wege. Das heißt nicht, dass alle Versuche erfolgreich waren, sondern, dass alle Erfolge nur auf diesem Wege erreicht wurden.“5807 Die mit dieser obstinaten Haltung untrennbar verknüpfte Falle politischer Isolation umgingen die „Revolutionären Zellen“ durch Flexibilität.5808 Protestbewegungen, die keine oder negative Resonanz zeigten, drängten die RZ nicht unbeirrt ihre Überzeugungen in der Hoffnung auf, die „Mas­ sen“ würden irgendwann einsichtig werden. Sofern ihre Vorstellungen nicht übernommen wurden, verabschiedeten sich die „Revolutionären Zellen“ und erschienen in Begleitung ihrer strategischen Schablonen an der Türschwelle eines anderen, als interessiert unterstellten Dritten. Sodann richteten sie abermals „Schlaglichter […] auf bestimmte Proble­ me“5809, wobei es erneut der „‚Öffentlichkeit‘ überlassen [wurde], sie auf­ zugreifen oder nicht.“5810 In den Beziehungen zwischen „Roter Armee Fraktion“ und „Revolutio­ nären Zellen“ gerieten die gegensätzlichen Selbstbilder sowie die daraus folgenden Konsequenzen auch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zur

5804 5805 5806 5807 5808 5809 5810

Ebd., S. 124. Ebd., S. 183. Vgl. ebd. Ebd., S. 248. Vgl. Horchem 1988, S. 92. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 59. Ebd.

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Hypothek. Höhepunkt des Dissenses war der offene Brief, den Angehörige einer RZ Ende 1976 an die RAF adressierten. Schonungsloser als in allen bisherigen Erklärungen aus den Reihen der „Stadtguerilla“ stellten sie den in linken Kreisen als „autoritäres Gebaren und Arroganz“5811 klassifizierten Habitus der „Roten Armee Fraktion“ an den Pranger. Nicht mehr zu über­ sehen sei die Kluft, welche zwischen der RAF und der übrigen politischen Linken klaffe. Die „Rote Armee Fraktion“ sei offenbar ein „Fisch“, der „meint, er bräuchte das Wasser nicht zum Schwimmen.“5812 Zum einen verzichte sie auf ein Darlegen ihrer Politik gegenüber linken Aktivisten. Dadurch entstehe der Eindruck, sie hege lediglich Verachtung für alle Außenstehenden. Außerdem würde das Umfeld ihre Agenda kaum noch erkennen können.5813 Zum anderen klassifiziere die RAF andere pauschal „mit der Kategorie: Genosse oder Schwein“5814. Sympathisierende Akteu­ re degradiere sie zu einem „Werkzeug […], das weggeschmissen wird, wenn es stumpf ist.“5815 Frappierend waren die Argumente, die die RAF in der Binnendiskussion gegen diese Kritik der RZ ins Feld führte. Die Auffassung, man könne den Autoren des Briefs nicht mit „gönnerhafter geste“5816 antworten, hielt Gudrun Ensslin nicht davon ab, die Politik der „Revolutionären Zellen“ in einem Kassiber deutlich sichtbar aus einer Warte der Überlegenheit heraus abzuwerten: In eine „reale auseinander­ setzung“5817 mit dem Staat – getragen von einem „bewusstsein des wider­ spruchs“5818 – könne das Netzwerk nur dann treten, wenn seine Mitglieder „den sprung zu ner [sic] bewegung, die kämpft, angreift, […] ins auge fas­ sen.“5819 Ensslin erklärte demnach das Angleichen des Selbstbildes der RZ an das der „Roten Armee Fraktion“ zur conditio sine qua non. Nachdem Monika Berberich die Verfasser des Schreibens im Januar 1977 öffentlich in die Schranken gewiesen hatte,5820 sahen sich diese in ihrem Urteil zur RAF bestätigt.5821

5811 Strobl 2020, S. 101. 5812 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 177. 5813 Vgl. ebd., S. 174, 176-177. 5814 Ebd., S. 175. 5815 Ebd., S. 174. 5816 Bakker Schut 1987, S. 304. 5817 Ebd., S. 306. 5818 Ebd. 5819 Ebd. 5820 Vgl. Berberich 1977. 5821 Vgl. Revolutionäre Zelle 1977a.

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Während die „Revolutionären Zellen“ den Führungsanspruch der „Ro­ ten Armee Fraktion“ nicht anerkannten, erachteten ein Teil der Inhaf­ tierten sowie die „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ dies gegen Ende der 1970er Jahre zusehends als ernstzunehmende Option. Dem stellten sich vehement Mitglieder entgegen, welche das strategische Erbe der B2J bewahren wollten. Im Richtungsstreit offenbarten sich Abweichungen im avantgardistischen Selbstverständnis einmal mehr als wesentlicher Ein­ flussfaktor in den Beziehungen zwischen „Roter Armee Fraktion“ und „Bewegung 2. Juni“. Fritz Teufel, der Anfang Juni 1978 in einem Brief an seine Mitstreiterin Gabriele Kröcher-Tiedemann hinsichtlich der B2J besorgt eine „Geriljaborniertheit“5822 angeprangert hatte, die „die Raf be­ neiden würde“5823, plädierte unter anderem für „Bescheidenheit, Augen­ maß, offene Diskussionen, egalitäre Umgangsformen, Zärtlichkeit und Selbstkritik […] [sowie] äußerste Kontaktbereitschaft“5824 im „bewaffneten Kampf“. Widerstand dürfe „nicht zentralistisch übergestülpt“5825 werden. In karikierendem Ton kontrastierte er diese Ideen mit einer Eigendarstel­ lung, die offensichtlich der der „Roten Armee Fraktion“ entsprach. Laut Teufel wurde in der Propaganda des deutschen Linksterrorismus „dringend empfohlen, sich der Gerilja anzuschließen, sie zu unter­ stützen und unbedingt auf eine öffentliche Kritik an der Gerilja zu verzichten. Interne Kritik reiche allemal aus, zumal die Struktur der Gerilja vorbildlich egalitär und revolutionär kommunistisch sei […]. Gegenteilige Suffassungen [sic] gibt es nur von Verrätern, gekauften Staatsschutzagenten und Renegaten.“5826 Gleichermaßen verwerflich erschien Teufel in diesem Kontext der Hang, ausschließlich ein Umfeld zu akzeptieren, das dem Durchsetzen eigener Interessen dienlich war: „Wer die Praxis der Gerilja nicht guthieß, sollte sich mit seiner Solidarität […] lieber gleich verpissen.“5827 Rückhalt fand er bei einzelnen inhaftierten Gründern der „Bewegung 2. Juni“, darun­ ter Norbert Kröcher. Ebenso wie Teufel hatte Kröcher eine dezidierte Aversion gegen die Haltung der „Roten Armee Fraktion“ entwickelt. In seinen Augen beschränkte sich diese auf das Formulieren „politischer Di­

5822 5823 5824 5825 5826 5827

Fritz Teufel, zit. n. Wunschik 2006b, S. 539. Fritz Teufel, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 405. Ebd. Ebd., S. 400. Ebd., S. 404.

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9.1 Selbstverständnis

rektiven“5828, welche „die ‚Massenbasis‘ […] kommentarlos zu fressen“5829 hatte. Es nahm daher nicht wunder, wenn Kröcher die RAF 1979 herab­ setzend als „allwissendes Oberkraut“5830, später sogar als „minoritäre Sek­ te“5831 einordnete. Unterstützt wurde Teufel zudem von Ronald Fritzsch, Gerald Klöpper und Ralf Reinders. Gemeinsam hielten sie im Sommer 1978 in einem Interview fest, Aufgabe der „Guerilla“ sei es, „die Mög­ lichkeit des Widerstands gegen einen scheinbar allmächtigen Staat und seine Nutznießer aufzuzeigen und zu organisieren.“5832 Dabei gelte es, einen „stinkende[n] Avantgarde-Dünkel“5833 zu vermeiden. Sie selbst sei­ en „keine Prediger, die ‚den Massen‘ die Heilslehre bringen.“5834 Ihren Aussagen zufolge war die „Bewegung 2. Juni“ stets Sinnbild und Resultat linker Kräfte in der Bevölkerung: „[S]ie kamen aus ihr, wurden von ihr genährt und waren von ihr abhängig – auch wenn das heute einige nicht mehr wahrhaben wollen.“5835 In dieser Beziehung habe die B2J versucht, die „partielle Ohnmacht“5836 des revolutionären Subjekts durch „exempla­ rische Aktionen“5837 zu überwinden. Nach wie vor hielten Fritzsch, Klöp­ per, Reinders und Teufel eine solche Symbiose zwischen „Guerilla“ und Volk für unerlässlich. Ein Trennen des „bewaffneten Kampfes“ von Aus­ einandersetzungen in der Legalität unterminiere das Vorankommen sozial­ revolutionärer Bestrebungen.5838 Mahnend fassten sie diese Überlegungen zu einem „‚volkstümliche[n]‘ Erscheinungsbild“5839 der in einer Vorreiter­ rolle harrenden „Bewegung 2. Juni“ im Jahre 1978 in einem weiteren Pamphlet zusammen, das den Titel „Die Welt [sic] wie wir sie sehen“ trug: „[A]ls Teil der [linken] Bewegung ist es unsere Aufgabe, aus Verweige­ rern bewusste Kämpfer zu machen, es ist unsere Aufgabe, unsere eige­ nen Erfahrungen zu vermitteln […], um den Leuten eine Orientierung zu vermitteln. Nicht eine Orientierung an neue [sic] Autoritäten, son­ dern eine Orientierung an die [sic] politischen Aufgaben, innerhalb

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Kröcher 1998. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 783. Kröcher 1998. Fritzsch/Klöpper/Reinders u.a. 2003, S. 120. Ebd. Ebd. Ebd., S. 121. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 126-127. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 497.

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derer sich eine emanzipierte und selbstständige entwikkelt [sic]. Das darf nun aber nicht so verstanden werden, dass wir, die ‚Avantgarde‘, ankommen und allen unsere Gedanken aufdrängen. Vielmehr müssen wir unser Mehrwissen, unsere Erkenntnisse von Zusammenhängen in die Diskussion einbringen und zu vermitteln versuchen. Mehrwissen, mehr Erfahrungen darf nicht zu der satten bekannten Arroganz und stinkendem Avantgardedünkel verleiten, der den Anspruch auf Besser­ wisserei und Führungsrolle stellt. Bewusste Kämpfer kann man nicht nur durch Vermitteln von Zusammenhängen entwickeln, auch indem man bereit ist, auf die Bedürfnisse der direkt Betroffenen einzugehen und noch mehr bereit ist, auch selbst deren Erkenntnisse, deren Wis­ sen lernend aufzunehmen. Denn es kann nicht unser Ziel sein, durch unser Mehrwissen die politischen Aufgaben abzustecken und dann Menschen hinter diese Aufgaben zu hetzen.“5840 Trotz des wiederholten Einspruchs von Ronald Fritzsch, Gerald Klöpper, Norbert Kröcher, Ralf Reinders und Fritz Teufel gaben sich die „Aktiven“ der B2J der instrumentalisierenden Politik hin, welche die „Rote Armee Fraktion“ auch nach den Selbstmorden in der JVA Stuttgart-Stammheim auszeichnete. Sie ließen sich bewusst auf einen Diskussionsprozess ein, in dem die Angehörigen der Zweiten Generation der „Roten Armee Frakti­ on“ den „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ – wie einst Andreas Baader im Falle Wolfgang Hubers – eine selbstkritische Revision ihrer zurück­ liegenden Aktivitäten abverlangten.5841 Das Ergebnis dieses kasteienden Diskurses war vorbestimmt: Akzeptanz und Übernahme der von der RAF bestimmten Positionen. Folgerichtig hieß es in der Auflösungserklärung der „Bewegung 2. Juni“: „Wir […] führen in der RAF – als RAF – den […] Kampf weiter.“5842 Ausdrücklich Abstand genommen wurde in dem Pa­ pier vom Selbstbild der B2J: „Es ist nie die Aufgabe der Guerilla, sich der Bevölkerung gefällig zu zeigen, um ihren Beifall zu bekommen“5843. Die­ ses Modell könne keine „politische Orientierung“5844 ermöglichen. Somit gaben die „Illegalen“ der B2J nicht nur ihre Gruppe auf. Sie sagten sich auch von einer Prämisse los, die den Gründern der „Bewegung 2. Juni“ als essentieller Baustein in der Schaffung einer neuen linksterroristischen Identität gedient hatte: das tatsächliche Verankern in den „Massen“. 5840 5841 5842 5843 5844

Ebd., S. 693. Vgl. Viett 2007, S. 213-217. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 809. Ebd. Ebd.

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Einen ähnlich belastenden Einfluss hatten Fragen der Rollenbestim­ mung im Verhältnis zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der „Bewegung 2. Juni“ nicht. Die Unterschiede benannten ihre Mitglieder weder intern noch in der Öffentlichkeit als Grund der organisatorischen Trennung. Zurückzuführen ist dies darauf, dass die „Revolutionären Zel­ len“ – so ihr Mitglied Gerd‑Hinrich Schnepel – grundsätzlich eine enge­ re Verwandtschaft zur B2J zu erblicken vermochten als zur RAF.5845 In der Tat: Das komparative Betrachten ihrer Selbstverständnisse legt nicht nur Differenzen, sondern auch ein Rückbesinnen auf die Erforderlichkeit einer Basis als gemeinsames Merkmal frei. Zum konstitutiven Element der Eigeninterpretation war diese Eigenschaft bei beiden Akteuren infolge des Bedürfnisses geraten, das von der „Roten Armee Fraktion“ erarbeitete „Konzept Stadtguerilla“ zu modifizieren. Sie grenzte die RZ und die B2J gemeinsam von der RAF ab. In ihrer Agitation unterstrichen die „Revo­ lutionären Zellen“ diese spezifische Gemeinsamkeit indes erst nach dem Auflösungsprozess der B2J, welcher Fritz Teufel im Jahre 1979 zaghaftes Lob für die „Basisnähe“ der RZ abgerungen hatte.5846 Die im Januar 1981 verbreitete sechste Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ gab zu verstehen, die RZ „stimmen mit der Bewegung 2. Juni darin überein, […] eine ‚Populäre Guerilla‘ [zu] wollen! Eine Guerilla, deren Aktionen verstanden wer­ den, die die Sympathie des Volkes genießt und die perspektivisch breit unterstützt wird, ohne deshalb opportunistisch zu werden.“5847 Mit dem Zerfall der B2J prägten ab Ende der 1970er Jahre zwei Akteure die deutsche „Stadtguerilla“, deren Eigeninterpretationen unversöhnliche Gegensätze bildeten. In einer strategischen Neubestimmung hatte die „Rote Armee Fraktion“ nach 1977 die Agitation gegen den – vermeintli­ chen – Imperialismus amerikanischer Provenienz in den Fokus gerückt. Davon unberührt blieb jedoch das Selbstbild der Gruppe als „politisch-mi­ litärische Organisation“5848. Weiterhin habe sie „im Glauben [ge]lebt, die Avantgarde im ‚Volksbefreiungskampf‘ zu sein.“5849 Insbesondere an die extremistische Linke richtete sie unverändert die instrumentalisierende

5845 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 5846 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 741. 5847 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 259. 5848 Knut Detlef Folkerts, zit. n. Horchem 1988, S. 67. 5849 Speitel 1980c, S. 35.

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Erwartung, sich der politischen Linie der RAF zu verpflichten.5850 Das bis Anfang 1980 in die Zweite Generation eingebundene Mitglied Peter‑Jür­ gen Boock räumte 1994 in einem Interview selbstkritisch ein, die „Rote Armee Fraktion“ habe sich zwar auf das Wohl der Bevölkerung berufen, aber einen „furchtbar elitären und avantgardistischen Ansatz [verfolgt], der auf das Bewusstsein der sogenannten breiten Masse […] überhaupt keine Rücksicht genommen hat.“5851 Der RAF, so Boock weiter, „war scheißegal, was die von […] [ihr] denken oder halten würde.“5852 Der Zirkel habe das Volk „nicht mal als Ansprechobjekt wahrgenommen“5853, was angesichts der Resonanz unter deutschen Bürgern gewissermaßen folgerichtig war: Die Erschütterung ob des Ermordens von Menschen durch Linksterroristen war Anfang der 1980er Jahre bei Personen im Alter zwischen 16 und 35 Jahren weit verbreitet.5854 Den Ansichten Boocks vergleichbar beschrieb Inge Viett das Auftreten der Zweiten Generation, die ihrer Lesart nach „nur hauchdünne Verbindungen zu den Geschehnis­ sen und Bewegungen auf den legalen politischen Feldern“5855 vorweisen konnte. In den internen Gesprächen sollen die Mitglieder verächtlich von einem „Mief der Massen“5856 gesprochen haben. Sie seien „von nichts und niemandem korrigiert, kritisiert und befruchtet [worden] als dem eigenen Bewusstsein“5857. Demgegenüber pochten die „Revolutionären Zellen“ auf die Erforder­ lichkeit eines Verschmelzens mit gesellschaftlichem Protest. Vermittelt wurde dieses Paradigma in grundsätzlichen Positionspapieren wie in Kom­ mentaren zur terroristischen Praxis der „Roten Armee Fraktion“. Anfang 1981 schrieben die RZ im „Revolutionären Zorn“, das Netzwerk befinde sich nicht in einem Krieg mit dem Staat. Vielmehr wage es einen „langwie­ rigen, mühseligen Kampf um die Köpfe der Menschen“5858. Indem die „Revolutionären Zellen“ an legalen politischen Bewegungen teilhaben, seien sie in der Lage, ihre ideologischen Botschaften zu verbreiten und

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Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 147. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994, S. 98. Ebd. Ebd. Vgl. Schmidtchen 1983, S. 236. Viett 2007, S. 236. Rote Armee Fraktion, zit. n. Viett 2007, S. 236. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 259.

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9.1 Selbstverständnis

fehlerhafte Auffassungen zu berichtigen.5859 Hiermit ließen sich wiederum „Isolation und […] Entsolidarisierungsprozess[e]“5860 vermeiden. Wenige Monate später brachten die RZ die in diesen Zeilen verborgene Kritik am Selbstverständnis der „Roten Armee Fraktion“ unverhohlen zur Sprache. In der 92. Ausgabe des linksextremistischen Periodikums „Radikal“ – er­ schienen im Mai 1981 – hielten sie der RAF Vermessenheitsverzerrung und einen fehlenden Bezug zur Wirklichkeit vor.5861 Die Gruppe „schere sich – anders als die RZ – ‚um die sozialen Auseinandersetzungen in die­ sem Land [der Bundesrepublik Deutschland] einen Dreck‘“5862. 9.1.4 Annäherung linksterroristischer Selbstbilder Nach 1981 verloren die Unterschiede in der Eigenwahrnehmung der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ sukzessive an Deut­ lichkeit. Diese Entwicklung war Ergebnis einer bilanzierenden Rückschau, die beide Akteure vornahmen: Die RAF geriet zu der Einsicht, „verlore­ nes politisches Terrain in den Basisbewegungen wiedergewinnen“5863 zu müssen. Die RZ hingegen wurden offenbar der „obligatorischen Enttäu­ schungen“5864 überdrüssig, welche die „Konjunkturwellen der jeweiligen Massenbewegungen“5865 bargen. Die strategischen Veränderungen setzten zunächst in der „Roten Armee Fraktion“ ein, die – angeblich – „ungeheuer viel diskutiert und mit anderen Leuten gesprochen“5866 hatte. 1982 fand das Pamphlet „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ Ver­ breitung. Darin äußerte die RAF, in den vergangenen Jahren hatte sie eine Phase durchlaufen, in der ihre Mitglieder das an lateinamerikanische Vor­ bilder angelehnte Konzept der „Stadtguerilla“ durchsetzen konnten.5867 Relativierend ergänzten die Autoren sogleich: „Gewaltsam durchgesetzt, allerdings. In jeder Beziehung. Und isoliert. Nicht nur gegen einen historisch beispiellosen Repressionsapparat,

5859 5860 5861 5862 5863 5864 5865 5866 5867

Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 123. Ebd. Viett 2007, S. 221. Gerber 2008. Ebd. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 101. Möller/Tolmein 1999, S. 149. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 292-293.

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auch gegen die Vorstellung von Leuten, mit denen wir lieber anders zusammengekommen wären.“5868 Nunmehr breche ein neuer Abschnitt im „bewaffneten Kampf“ an, der im Wesentlichen „den Sprung mit beiden Beinen auf den Boden der Situation“5869 in Deutschland beinhalte. Diese Periode wolle die „Rote Armee Fraktion“ gemeinsam durchschreiten mit Gruppen, die „einheitli­ che koordinierte militante Projekte“5870 oder „politische Initiativen zur Vermittlung“5871 sozialrevolutionärer Vorstellungen realisieren. Die Mit­ streiter sollten dabei nicht bloß legaler Annex der RAF sein. Vielmehr müsse jedem Bestandteil der avisierten „Front“ unabhängiges und eigen­ verantwortliches Handeln zugestanden werden.5872 Wer sich für die Ver­ bindung linksextremistischer Kräfte entschließe, überwinde „Auseinander­ setzungen auf immer derselben Stelle, in denen isolierte Standpunkte und Glaubensbekenntnisse einander entgegengehalten werden“5873. Erfor­ derlich sei das Zusammenführen, „weil sonst das Neue, Produktive und Offene […], die Möglichkeit so noch nicht dagewesener Entwicklungen wieder verschwimmt und zerfällt“5874 und der US‑amerikanische Imperia­ lismus ungehindert „zu den äußersten Mitteln“5875 des Herrschaftssicherns schreiten könne. Diese Aussagen dokumentierten einen auf Selbstkritik fußenden Wan­ del in der Eigeninterpretation der RAF, der ihre bislang isolationistische Haltung sowie die Dominanz militärischer Argumentationsmuster auf­ brach. Die Zweite Generation löste sich von strategischen Paradigmen, an denen die Gründer der Gruppe während der 1970er Jahre unbeirrt fest­ gehalten hatten. Die im „Konzept Stadtguerilla“ postulierte Absolutheit der „Guerilla“ auf dem Weg zum ersehnten politischen Umbruch sowie die damit verbundene Unvereinbarkeit von illegaler und legaler politischer Agitation wich dem Wunsch, so Karl‑Heinz Dellwo rückblickend, in Ab­ sprache mit ideologisch Gleichgesinnten „etwas zu entwickeln und […] andere Ebenen zuzulassen als nur die des bewaffneten Kampfes.“5876 Die

5868 5869 5870 5871 5872 5873 5874 5875 5876

Ebd., S. 293. Ebd. Ebd., S. 297. Ebd., S. 298. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 291. Ebd., S. 299. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 174.

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9.1 Selbstverständnis

„Rote Armee Fraktion“ reichte dem Umfeld in einem „partizipative[n] Zug“5877 die Hand, um Gräben in einem Neubeginn überwinden zu kön­ nen. In dieser Form interpretiert wurde der Text „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ ebenfalls von der zur Ersten Generation zählenden RAF-Aktivistin Irmgard Möller: „Es sollte nichts übergestülpt werden. Im Gegenteil. Die Idee war, dass nicht mehr, wie es bis dahin in unserer Vorstellung war, nur die Gue­ rilla das Zentrum bildete, an dem sich alles orientieren sollte. Künftig sollten die anderen Widerstandsformen, die Aktivitäten anderer Grup­ pen ihr eigenes Gewicht haben und damit zusammenwirken.“5878 Nach Möller strebten die für das „Mai-Papier“ verantwortlich zeichnen­ den „Illegalen“ der „Roten Armee Fraktion“ an, „politischer zu handeln, politische Projekte sich entwickeln zu lassen, politische Beziehungen auf­ zubauen.“5879 Den Grund für diese Veränderung vermutete sie im Aufkei­ men neuer gesellschaftlicher Protestfelder Anfang der 1980er Jahre. Selbst die Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ sollen Konflikten um Wohn­ raum sowie der Anti‑Atomkraft- und der Friedensbewegung aufgeschlos­ sen gegenübergestanden haben. In ihren Augen hatte politische Stagnation innerhalb linker Teile der Bevölkerung einer vielversprechenden Dynamik Platz gemacht, welche es aufzugreifen galt.5880 Nicht zu übersehen waren allerdings die engen Grenzen, denen die „Aktiven“ der „Roten Armee Fraktion“ ihre strategische Öffnung unter­ warfen. Inge Viett zufolge mussten diese Einschränkungen als Versuch des Zirkels betrachtet werden, „die Hegemonie über die politische Rich­ tung der Straßenkämpfe [zu] erlangen“5881. Wie sich aus der Schrift „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ ablesen ließ, sollte die „Front“ keinesfalls heterogene politische Ansichten beherbergen. Zur ideologischen Klammer erhob die RAF antiimperialistische Forderungen, welche in aktuellen politischen Auseinandersetzungen als „initiativer, rele­ vanter Faktor“5882 etabliert werden mussten. Zugänglich war die „Front“ lediglich denjenigen, die das „Ziel der Zerstörung des imperialistischen Systems und der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft“5883 teilten. 5877 5878 5879 5880 5881 5882 5883

Taufer 2018, S. 158. Möller/Tolmein 1999, S. 148. Ähnlich Taufer 2018, S. 139. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 147-148. Viett 2007, S. 221. ID-Verlag 1997, S. 299. Ebd., S. 293.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

Als weitere Beitrittsvoraussetzung benannte die „Rote Armee Fraktion“ den Willen, „sich selbst […] in den Zusammenhang der Strategie der Gue­ rilla zu stellen“5884, deren „bewaffnete, illegale Organisation der Kern“5885 des Zusammenschlusses sei. Selbstständig agieren konnten Angehörige der „Front“ demnach lediglich innerhalb der Schranken, welche die stra­ tegischen Leitlinien der „Roten Armee Fraktion“ determinierten. Unter dem Deckmantel einer auf imperialistische Machinationen verweisenden kooperativen Politik hielt die Gruppe somit ihre Überzeugung aufrecht, führender Träger sozialrevolutionären „Widerstands“ zu sein, dem sich „Antiimperialisten“ unterordnen sollten.5886 Oder anders formuliert: Mit­ nichten hatte „die RAF ihren Avantgarde-Anspruch [gänzlich] hinter der Kulisse [der antiimperialistischen Front] verstaut“5887. Obgleich die RAF ihre avantgardistische Haltung 1982 erheblich zu­ gunsten einer assoziativen Agenda anpasste, büßte die am Rollenverständ­ nis der „Roten Armee Fraktion“ geübte Kritik der „Revolutionären Zel­ len“ nicht an Intensität ein. Im Juli 1982 forcierten die RZ erneut ein implizites Abgrenzen vom Selbstbild der RAF. Schriftlich sicherten sie zu, sich „noch nie als abgeschlossene und über allen anderen stehende Organi­ sation verstanden“5888 zu haben. Dabei wiederholten sie ihren Anspruch, andere politische Akteure nicht als Objekt, sondern als unabhängige Ent­ scheidungsträger begreifen zu wollen. Ihnen solle die Möglichkeit offen­ stehen, „selbst das zu tun, was sie richtig finden (und nicht nur zuzusehen und Beifall zu klatschen).“5889 Unmittelbar Bezug auf das „Mai-Papier“ nahm eine „Revolutionäre Zelle“ aus Westberlin, als sie öffentlich ein „au­ toritäres und inhaltlich elitäres Führungsprinzip“5890 der RAF monierte. In einer Ausgabe der „Tageszeitung“ aus August 1982 verkündeten die „Revo­ lutionären Zellen“ zwar eine „einheitliche Front mit der RAF“5891. Dabei distanzierten sie sich aber ausdrücklich von der Vormachtstellung, welche die „Rote Armee Fraktion“ in der von ihr beschriebenen „antiimperialisti­ schen Front“ einzunehmen gedachte. Unmissverständlich hieß es: „Wir

5884 5885 5886 5887 5888

Ebd., S. 292. Ebd., S. 294. Ähnlich Straßner 2003, S. 70. Taufer 2018, S. 145. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 461. 5889 Ebd. 5890 Revolutionäre Zelle aus Westberlin, zit. n. Bundesministerium des Innern 1983, S. 104. 5891 Revolutionäre Zellen, zit. n. Rabert 1995, S. 199.

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9.1 Selbstverständnis

orientieren uns nicht an der RAF“5892. Für die „Revolutionären Zellen“ sei der „gemeinsame Zusammenhang mit anderen Gruppen auf dem Hin­ tergrund der Repression und der US-Militärstrategie“5893 ausschlaggebend. Auch im internen Schriftverkehr sahen sich die RZ mit der „Roten Armee Fraktion“ „an der gleichen Front“5894. Beide trenne unter anderem die weiterhin erkennbare Neigung der RAF, „sich zum Hauptwiderspruch [zu] erklären“5895. Eine Zäsur in der strategischen Ausrichtung der RZ kündigte sich mehr als ein Jahr nach Erscheinen des Papiers „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ an. Erstmals in ihrer Geschichte erarbeiteten sie 1983 umfassende Erklärungen, welche gesellschaftlichen Protestbewe­ gungen ein vernichtendes Zeugnis ausstellten und insofern der eigenen Frustration in der auf politische Einbindung fußenden Vermittlungsarbeit Ausdruck verliehen. Den Auftakt bildete der auf August 1983 datierte Text „Die Bewegung gegen die Startbahn West“, in dem die Verfasser einleitend Wertungen ankündigten, „die viele provozieren und manche als zu hart oder gar unerhört empfinden“5896 würden. Diese begriffen sie als unerläss­ lich, könnten sie doch dazu beitragen, Lehren aus Fehlentscheidungen zu gewinnen.5897 In den nachfolgenden Kapiteln präsentierten die „Revo­ lutionären Zellen“ Ausgangspunkte für das Scheitern der Bewegung, die eine Kampagne gegen das bauliche Erweitern des Frankfurter Flughafens getragen hatte. Sie bemängelten eigens das „sich akzeptierende Nebenei­ nander“5898 der am Protest teilhabenden Kräfte sowie die Unbestimmtheit ihrer politischen Ausrichtung.5899 Es sei unzureichend, den Bau einer Start­ bahn abwenden zu wollen, „ohne zu überlegen, ob und wie sich dieses Ziel erreichen lässt.“5900 Der „Widerstand“ hätte Erfolg erzielen können, wenn er „in den entscheidenden Phasen […] in der Lage gewesen wäre, entschlossener und offensiver vorzugehen“5901. Dass diese Schwelle nicht überschritten wurde, sei auf die extremistische Linke im Rhein-Main-Ge­

5892 5893 5894 5895 5896 5897 5898 5899 5900 5901

Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. Revolutionäre Zellen, zit. n. Dietrich 2009, S. 151. Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 397. Vgl. ebd. Ebd., S. 411. Ebd., S. 410. Ebd., S. 413. Ebd., S. 412.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

biet zurückzuführen. Sie habe versäumt, die äußerst vielfältige Bewegung zielführend zu stabilisieren.5902 Während es den „Revolutionären Zellen“ infolge einer „Propaganda der Tat“ gelungen wäre, Nachahmer terroristi­ scher Aktionsformen zu mobilisieren, sei die legalistische Fraktion des Pro­ tests ohne Orientierung geblieben.5903 Angesichts der von ihr vermiedenen inhaltlichen Positionierung zu den Einwürfen des Netzwerks hielten die RZ der linksextremistischen Szene ferner Ignoranz vor.5904 Im Dezember 1983 merkten die „Revolutionären Zellen“ in ihrem Ar­ tikel „Krieg – Krise – Friedensbewegung“ an, die gegen das militärische Aufrüsten der NATO erwachsenen Demonstrationen der deutschen Be­ völkerung waren Sinnbild einer „falsche[n] Politik“5905, welche keinerlei Raum für linke Alternativentwürfe geboten hatte.5906 Sie ergingen sich in der „wahnhafte[n] Vorstellung von dem alles vernichtenden Untergang, der nur noch Opfer und keine Täter mehr kennt.“5907 Aufbauend auf dieser Einschätzung erblickten die RZ in der „Friedensbewegung“ eine sys­ temsichernde Funktion: Der ängstliche Fokus auf die Apokalypse soll den Herrschenden die Möglichkeit eingeräumt haben, repressive Maßnahmen öffentlichkeitswirksam als Mittel zum Abwenden einer globalen militäri­ schen Katastrophe zu verbrämen.5908 Mit den Stellungnahmen zum Protest gegen die Startbahn West und der Friedensbewegung gestanden die „Revolutionären Zellen“ die begrenzte Wirkung ein, welche die von ihnen reklamierte Stellung des gleichbe­ rechtigten beratenden Anhängers politischer Bewegungen in der Realität erzielte. Bei der Ursachenbeschreibung erwähnten sie zwar eigene Ver­ säumnisse, insgesamt überwogen aber Umstände, die außerhalb ihrer Ver­ antwortung lagen. Unberührt ließen die RZ also die Legitimität ihrer auf Gewalt setzenden Strategie. Nicht den Terrorismus an sich identifizier­ ten die „Zellen“ als Problem; hinsichtlich des bisherigen Kontexts sahen sie Änderungsbedarf. Die anhaltende Erfolglosigkeit ihres „bewaffneten Kampfes“ begründeten sie im Wesentlichen mit dem Zustand der durch gesellschaftliche Konflikthemen politisierten „Massen“. Indem die „Revo­ lutionären Zellen“ ihnen entweder Desorganisation und Engstirnigkeit at­ testierten oder pauschal ein fehlerhaftes politisches Bewusstsein unterstell­ 5902 5903 5904 5905 5906 5907 5908

Vgl. ebd., S. 423-424. Vgl. ebd., S. 412. Vgl. ebd., S. 441. Ebd., S. 470. Vgl. ebd., S. 468. Ebd. Vgl. ebd.

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ten, sprachen sie dem sich Anfang der 1980er Jahre in der Bundesrepublik Bahn brechenden politischen Engagement die Fähigkeit ab, Medium sozi­ alrevolutionärer Veränderungen zu sein. Anfang 1992 schrieb dazu eine „Revolutionäre Zelle“: „Wir waren mit unserer Fixierung auf […] Teilbereichskämpfe in eine Krise geraten, denn die Hoffnung, sie als Keimform einer allgemeinen sozialen Umwälzung interpretieren zu können, hatte sich als Fehlein­ schätzung erwiesen.“5909 Mit der bisweilen an den Vorwurf konterrevolutionärer Bestrebungen grenzenden öffentlichen Analyse ausgewählter Massenbewegungen ent­ fernte sich das Netzwerk von Kernelementen seiner Selbstinterpretation, welche später in der linksextremistischen Aufarbeitung zu den „Revolutio­ nären Zellen“ auf die Begriffe „Massenfetischismus und […] Volksbegeis­ terung“5910 reduziert werden sollten. Tatsächlich aus dem eigenen Rollen­ verständnis entfernt wurde die nunmehr als abträglich wahrgenommene Rückkopplung an eine über den Linksextremismus hinausgehende reale Basis allerdings erst, als innerhalb der RZ mehrheitlich die Entscheidung Zuspruch fand, nicht länger auf den ohne Zutun des Netzwerks aufkom­ menden Unmut in der Bevölkerung aufzuspringen, sondern ihn selbst zu entzünden.5911 Statt weiterhin in Abhängigkeit von „schlechte[n] Kritiken und grüne[r] Pazifizierung“5912 gesellschaftlicher Bewegungen zu stehen, gaben die „Zellen“ einer „eigene[n] Rhythmik“5913 den Vorzug, in der das zuvor stets zur Vorbedingung erhobene Einbetten in ein breites gesell­ schaftliches Umfeld als vager Wunsch an die Zukunft übrig blieb. Diese „Rhythmik“ materialisierte sich ab 1985 in der „F-Kampagne“,5914 die durch den Verweis auf – vermeintliche – Missstände in der bundesre­ publikanischen Flüchtlingspolitik einen „neue[n] Dialog mit der autono­ men Linken“5915 entfachen und dort Akzeptanz für antiimperialistische Botschaften entstehen lassen sollte.5916 Die RZ wollten sich „einem mög­

5909 Ebd., Band 1, S. 40. 5910 Gerber 2008. 5911 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 61. 5912 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 5913 Ebd. 5914 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 98, 119. 5915 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 5916 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 40-41,67.

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lichen revolutionären Subjekt annähern und seine Kämpfe vorwegneh­ men“5917. Ganz im Sinne des skeptischen Blicks auf die „Massen“ geriet dabei die Bindung an den Personenkreis zur Nebensache, dessen Alltag sie sich zu Eigen machten: Nach damaliger interner Sicht der „Revolutio­ nären Zellen“ sollte sich ein Kontakt „zwischen Selbstorganisationsformen der Flüchtlinge und […] sozialrevolutionären Gruppen wenn überhaupt, dann erst im Lauf der Zeit“5918 ergeben. „Niemand hatte ein Problem damit, eine Flüchtlingskampagne ohne Flüchtlinge zu starten“5919. Hierin zu sehen ist der finale Schritt der „Revolutionären Zellen“ in der 1983 begonnenen Übernahme klassischer Züge einer linken Avantgarde, die politisches Neuland in der Annahme beschreitet, ihre anfängliche, selbst gewählte Isolation durch Aufklärung möglicherweise interessierter Adres­ saten verlassen zu können. Unbeschadet blieb in dieser Veränderung die für das Selbstbild der RZ konstitutive Pflicht, die Entscheidungs- und Handlungsautonomie anderer Akteure nicht einzuschränken. Hierarchien zwischen „Guerilla“ und Linksextremisten sollten sich nicht heranbilden. Vielmehr würden beide Strömungen Seite an Seite schreiten. So jeden­ falls legte es die Bilanz einer „Revolutionären Zelle“ im Januar 1992 zur Flüchtlingskampagne nahe. Die auf Migration basierenden Aktivitäten des Netzwerks seien als Proposition angelegt worden. Sie „sollten politisch ori­ entierend wirken, ohne uns in eine avantgardistische Position gegenüber dem legalen Teil des Widerstands zu bringen.“5920 Wer die strategischen Paradigmen gegenüberstellte, die jeweils dem Aufbau der „antiimperialistischen Front“ und der „F-Kampagne“ zugrun­ de lagen, erkannte ein Sich-Annähern von RAF und RZ in Fragen der Eigeninterpretation: Suchte die „Rote Armee Fraktion“ das mit dem „Konzept Stadtguerilla“ manifestierte Abschotten anhand einer Öffnung gegenüber legalistischen antiimperialistischen Kräften abzuschütteln, sub­ stituierten die „Revolutionären Zellen“ das aus dem kritischen Beleuch­ ten der ersten RAF-Generation gewonnene „Postulat der Bürgernähe“5921 durch eine abgekapselte Position, die „andere Gruppen […] auf eine ge­ meinsame Stoßrichtung […] verpflichten“5922 wollte und dabei „Brandund Sprengstoffanschläge als pädagogische[n] Rohrstock“5923 begriff. Im 5917 5918 5919 5920 5921 5922 5923

Ebd., S. 40. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 37. Demes 1994, S. 27. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 38. Autonome, zit. n. Dia-Gruppe 2001.

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Ergebnis verschrieben sich beide Akteure dem Bemühen, in einem eng abgegrenzten Aktionsfeld – die RAF in der Gegnerschaft zum imperialisti­ schen „Militärisch-Industriellen-Komplex“, die RZ in der Offenlegung der Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen – als Vorreiter Zuspruch zu finden. Unterschiedlich waren die Erwartungen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ an das Verhältnis zu potentiellen Kooperati­ onspartnern: Die RAF forderte Ein- und Unterordnen, die RZ hingegen pochten auf Eigenständigkeit. Das Angleichen der Selbstverständnisse war beiden jedenfalls nicht Anlass zum Verringern der Distanz, die ihre Bezie­ hung Mitte der 1980er Jahre kennzeichnete. In ihrer Binnenkommunikati­ on sowie in der öffentlichen Propaganda fanden sich keine Anzeichen für ein wohlwollendes Betrachten der Modifikationen, welche die Eigenwahr­ nehmung der terroristischen Konkurrenz durchlaufen hatte. An der Ernsthaftigkeit ihrer ostentativ bekundeten Bereitschaft zum Überwinden der Gräben im deutschen Linksextremismus ließen die „Rote Armee Fraktion“ und ihre engen Unterstützer zunächst keinen Zweifel. 1983 strebten die als „Antiimps“ firmierenden Anhänger des Zirkels einen Schulterschluss mit der „autonomen“ Szene an, die sich in der Anti-Kriegs­ bewegung exponierte. Wie sich aus der Berichterstattung des Bundesamtes für Verfassungsschutz ablesen ließ, ergab sich punktuell eine Zusammen­ arbeit. Die Anhänger der „Roten Armee Fraktion“ brachten sich vor allem in „Initiativen gegen Munitionstransporte“ ein.5924 Vereinzelt sei es ihnen gelungen, im Linksextremismus „als Bündnispartner akzeptiert zu werden und bisher […] bestehende Vorbehalte gegenüber der RAF“5925 abzubau­ en. 1984 begann das Umfeld der Gruppe, am Konflikt um besetzte Häuser in der Hamburger Hafenstraße mitzuwirken. Auch hier kam es zu Ent­ wicklungen, welche dem Grundgedanken des „Mai-Papiers“ entsprachen: Die Präsenz der RAF-Unterstützer verstärkte die Gewaltbereitschaft der Hausbesetzer.5926 Unterdessen fixierten die „Illegalen“ schriftlich Überle­ gungen zum Ausbau der „Front“. Sie planten, gemeinsam mit Interessier­ ten – dem sogenannten Widerstand – „eine Auseinandersetzung an[zu]fan­ gen“5927, den „Anfang einer Organisierung untereinander“5928 zu wagen. Die „nächsten Schritte“ wolle man „zusammen überlegen“5929. Resultat

5924 5925 5926 5927 5928 5929

Vgl. Bundesministerium des Innern 1984, S. 107. Ebd. Vgl. Horchem 1988, S. 178. Rote Armee Fraktion, zit. n. Peters 2008, S. 598. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd., S. 599. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd.

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dieser Zusicherungen war die „Offensive `84/`85“, die nicht nur Gewalt­ taten der „Kommandoebene“ der RAF und „Illegaler Militanter“ sowie einen Hungerstreik der Inhaftierten umfasste.5930 Daneben organisierte ein unterstützendes Umfeld mehr als 60 Veranstaltungen mit jeweils bis zu 200 Teilnehmern. 15 Demonstrationen konnten die Behörden verzeich­ nen. Einer Kundgebung in Hamburg wohnten 1000 Personen bei, einer in Berlin 1500 Menschen. Unregistrierte Radiosender griffen die Agitation der „Roten Armee Fraktion“ auf.5931 Für die „Gefangenen“ des Zirkels wurde in dieser Mobilisierung das im Papier „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ propagierte „Zusammen-Kämpfen […] zum ersten Mal sichtbar“5932. Die RAF sei im Begriff gewesen, „ein Verhältnis zu einer Revolte, zu einer Bewegung massenhafter Militanz zu gewinnen.“5933 Die „Illegalen“ waren ähnlicher Auffassung, hieß es doch in einem Interview im April 1985: „wir haben noch keinen genauen überblick über alles, was gelaufen ist, aber sicher kann man sagen, dass es jetzt einen festen boden gibt, von dem wir weiter ausgehen können. das starke war ja, dass viele gruppen und einzelne aus den verschiedenen widerstandsbewegungen – auch in anderen europäischen ländern – mit den gefangenen zusam­ men gekämpft haben. und: es war die erste offensive von gefangenen, widerstand und westeuropäischer guerilla. diese erfahrungen müssen jetzt, als bewusster schritt auf die westeuropäische front zu, weiterent­ wickelt werden.“5934 Auf die Frage, welchen Zielen diese Weiterentwicklung folgen solle, ant­ worteten die „Aktiven“, es müssten Strukturen geschaffen werden, „in denen die praktischen schritte von realem boden aus von denen zusammen gemacht werden, die jetzt die gemeinsame vorstellung ha­ ben, oder das wollen […]. der ganze gedanke von front geht aus von selbstbestimmung, von der macht unabhängige politische und prakti­ sche organisierung des angriffs für die eigenen ziele. […] es gibt kein schema oder den ‚großen plan‘, weil front nur als praktischer offener prozess möglich ist. die, die im zusammenhang front kämpfen, oder das wollen, organisieren sich so, wie sie es brauchen: orientiert an der 5930 5931 5932 5933 5934

Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 121, 124. Vgl. Horchem 1986, S. 14; Horchem 1988, S. 150. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 311. Ebd. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 14.

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praxis, die sie wollen, als funktion für sie – an sonst nichts; und das umfasst alle ebenen.“5935 Selbst linkextremistische Akteure außerhalb der „Roten Armee Fraktion“ und ihres Umfelds vermochten in der „Offensive `84/`85“ Ansatzpunkte für eine Kooperation zu erblicken. Innerhalb der einem revolutionären Credo der ersten Person anhängenden Subkultur der „Autonomen“5936 trug Solidarität mit der Nahrungsverweigerung der „politischen Gefange­ nen“ der RAF zur Stärkung organisatorischer Strukturen bei.5937 Auf der von Unterstützern der „Roten Armee Fraktion“ Anfang 1986 in Frankfurt am Main anberaumten überregionalen Tagung „Antiimperialistischer und antikapitalistischer Widerstand in Westeuropa“ sprachen „Autonome“ von Überschneidungen nach der Kampagne der RAF und des sie umgebenden Milieus.5938 Diese Begeisterung nicht teilen wollten Mitglieder der „Revolutionären Zellen“. Im Text „Die Bilanz ist schlimm“ aus Februar 1985 nahmen sie hinsichtlich der „Offensive `84/`85“ enerviert zur Kenntnis, „viele Genossen [sind] darauf abgefahren“5939. Erklären könne dies unter ande­ rem ein „Mangel an Perspektive und Verankerung“5940. Den Verfassern dieser Bewertung stellten sich die Aktionen als „propagandistischer Selbst­ zweck“5941 dar, unter dem agitiert worden sei „für eine Form von Gueril­ la, die sich selbst diskreditiert“5942. Mit den weiteren Ausführungen der Schrift wurde erneut versucht, Unterschiede zwischen den Selbstbildern von RAF und RZ in das Bewusstsein ihrer Umgebung zu rufen. Anders als die „Rote Armee Fraktion“, gaben die Autoren zu verstehen, hatten die „Revolutionären Zellen“ „nicht die Absicht, den radikalisierten Flügel der Friedensbewegung zu spielen“5943. Vor dem Hintergrund der „Offensi­ ve `84/`85“ trat demnach abermals die differente Eigeninterpretation als Bedingungsfaktor der adversativen Beziehung beider linksterroristischer Zirkel zutage. 5935 Ebd., S. 15. 5936 Vgl. Schwarzmeier 2001, S. 60-61; Baron 2011, S. 236; Hoffmann 2011, S. 56; Pfahl-Traughber 2014a, S. 141; Mannewitz/Thieme 2020, S. 107. 5937 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 105. 5938 Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 133-134. 5939 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 179. 5940 Ebd. 5941 Ebd. 5942 Ebd. 5943 Ebd.

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Hinter der Fassade des im April 1985 wiederholten Kooperationsange­ bots fuhr sich die „Rote Armee Fraktion“ bald in altbekannten Mustern fest. Im Sommer 1984 war es zu Verhaftungen gekommen, welche die letzten Mitverantwortlichen der 1982 preisgegebenen strategischen Wen­ de aus den Reihen des Zirkels entfernten. Getragen wurde die Gruppe fortan von Personen, die offenbar die Folgen des in den 1970er Jahren kultivierten Dogmas der Selbstgenügsamkeit sowie die auf ihnen fußen­ den „neue[n] Lernprozesse“5944 nicht in der Illegalität miterlebt hatten. Sie sollen „einen anderen Hintergrund“5945 aufgewiesen haben. Irmgard Möller zufolge machten die Angehörigen der Dritten Generation die im Text „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ geschilderte Abkehr von isolationistischem Gehabe zunichte.5946 Dieses allein auf per­ soneller Diskontinuität aufbauende Schuldzuweisen verkannte allerdings, dass die Dritte Generation mit dem „Mai-Papier“ ein strategisches Erbe annahm, welches in der Frage des Selbstverständnisses „widersprüchlich [war] und schlingert[e]“5947. Mit den selektierenden Anforderungen an mögliche Mitstreiter wurde den Erben theoretisches Rüstzeug an die Hand gegeben, dessen Überführen in die Praxis im Falle aufkommender Widerstände zwei Risiken barg: zum einen ein rigoroses Überlegenheitsge­ fühl der „Guerilla“, zum anderen das Verdrängen aller „Gedanken um eine emanzipatorische Entwicklung“5948. Die Zweite Generation bereitete somit den geistigen Nährboden für das ab Mitte der 1980er Jahre zu verzeichnende Reetablieren eines rein instrumentalisierenden Auftretens der „Roten Armee Fraktion“, welches das eigene Handeln zum alleinigen Maßstab jeglichen sozialrevolutionären „Widerstands“ erhob und sich mit dem daraus resultierenden „insularen Charakter“5949 begnügte. Begünstigt wurde diese Entwicklung einerseits durch das ungebrochene Festhalten an einem Agieren in der Illegalität. Unter dem omnipräsenten Fahndungsdruck drängte sich den Aktivisten der Dritten Generation das eigene Handeln als Partikularität auf, welche die Relevanz anderer Ge­ schehnisse verblassen ließ. Ähnlich wie die einstige B2J-Aktivistin Gabriele Rollnik, die dieses Selbstheroisieren für die „Bewegung 2. Juni“ nachzeich­ nete, bemerkte Birgit Hogefeld:

5944 5945 5946 5947 5948 5949

Möller/Tolmein 1999, S. 148. Ebd. Vgl. ebd. Hogefeld 1996, S. 48 Ebd. Günther Scheicher, zit. n. Straßner 2003, S. 298.

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„Unsere eigene Realität in der Illegalität hat sich stark von der All­ tagsrealität der Mehrzahl der Menschen hier [in der Bundesrepublik] unterschieden. […] In der Illegalität muss mensch ständig mit einer Konfrontation rechnen, die mit Verhaftung oder dem Tod enden kann, das ist in einem solchen Leben jederzeit möglich. Ich denke, es hängt auch mit der Schärfe unserer Lebenssituation zusammen, dass uns eine Verbindung zu den Völkern im Trikont oft näher war als eine zu der Gesellschaft hier. In einem solchen Leben erscheinen einem viele Fragen und Probleme, die sich für Menschen hier aus ihrer Lebensrealität stellen, leicht nebensächlich oder unwichtig.“5950 Die Wiederkehr eines abgelegt geglaubten avantgardistischen Habitus be­ förderte andererseits ein loyales gewaltbefürwortendes Umfeld, das die Vorgaben der „Illegalen“ trotz Kritik aus dem Spektrum der extremisti­ schen Linken weitgehend bedingungslos zu akzeptieren bereit war. Ange­ sichts seiner Zustimmung konnte die beanspruchte Präponderanz nicht als Irrweg begriffen und verworfen werden. Zu dieser „‚reaktionären Symbio­ se‘ von wortführenden Aktivisten und apologetenhaften Anhängern“5951 schrieb Hogefeld: „Die RAF hat ihre ‚neue Strategie‘ vorgestellt, und viele Leute, die sich darauf bezogen haben, haben es als ‚neue Wahrheit‘ aufgenommen. So hat sich die alte ‚Avantgarde‘-Rolle der RAF verlängert – und hat sich auch in den darauffolgenden Jahren nicht geändert.“5952 Zementiert wurde das elitäre Verhalten der „Kommandoebene“ nach der Ermordung des US‑Soldaten Edward Pimental Anfang August 1985, mit der die Dritte Generation die Ebene eines „menschenverachtenden Ma­ chiavellismus“5953 beschritten hatte. Sein Tod war Mittel zum Zweck: einen terroristischen Angriff auf den amerikanischen Luftwaffenstütz­ punkt bei Frankfurt am Main. Aus der politischen Linken ertönte Fun­ damentalkritik. Sie nahm die Dritte Generation „ungläubig bis fassungs­ los“5954 wahr. In der Ausgabe der „Tageszeitung“ vom 13. September 1985 platzierte der Verleger Karl Dietrich Wolff einen offenen Brief an die Dritte Generation, der überschrieben war mit der Zeile: „Alles wäre besser,

5950 5951 5952 5953 5954

Hogefeld 1996, S. 109. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 119. Hogefeld 1996, S. 48. Straßner 2006, S. 500. Hogefeld 1996, S. 89.

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als so weiterzumorden“.5955 Selbst unter den Inhaftierten der RAF und im engeren Umfeld löste die Tat Unverständnis, ja gar Entsetzen aus.5956 Die negative Resonanz verfehlte allerdings ihre Wirkung: Die Dritte Generati­ on verstand sie nicht als konstruktiv, sondern als Angriff. Sie stellte die Urteilsfähigkeit der RAF in Frage, was die im „Mai‑Papier“ niedergelegte strategische Definitionshoheit der „Guerilla“ und damit das Konzept der „antiimperialistischen Front“ zu sprengen drohte. Zwangsläufig kam es zu einer Abwehrreaktion der Dritten Generation, die ihren Gegnern ein mangelhaftes Verständnis zur aktuellen politischen Weltlage vorwarf. Die RAF hänge nicht einem „verklärten […] Blick“5957 auf die Angehörigen der US‑amerikanischen Streitkräfte an. Sie habe längst eingesehen, „dass Krieg ist“5958. Dies müssten auch andere erkennen „– und sich entschei­ den“5959. Ähnlich den vorangegangenen Generationen der „Roten Armee Fraktion“ verschanzten sich die Aktivisten der Dritten Generation unter Rückgriff auf eine militärische Terminologie in einem subjektiv wahrge­ nommenen Ausnahmezustand, der ihnen das Privileg einer erleuchteten „Gegenmacht“ zu imperialistischen Aggressoren zusprach. Sie suchten Zuflucht in der anderen Akteuren verschlossenen Erkenntnis und bean­ spruchten dort das Recht, Kritikern der Diffamation auszusetzen.5960 „Der alte Avantgardeanspruch wurde aus der Mottenkiste geholt und eine Men­ ge Militanter […] damit bevormundet.“5961 Anders gesagt: „Die Spreche­ rinnen und Sprecher der RAF traten autoritär auf, im Befehlston, Chefs, die Angestellte kommandieren. Im festen Glauben, sie seien die Einzigen, die wüssten, wo es langgeht.“5962 In der Rückschau werteten mehrere Aktivisten der RAF dieses Gebaren unter dem Gesichtspunkt langfristiger Konsequenzen als desaströs, darun­ ter Lutz Taufer und Birgit Hogefeld. Infolge des kategorischen Zurückwei­ sens kritischer Stimmen nach dem Tod Edward Pimentals diskreditierte die „Rote Armee Fraktion“ laut Taufer das im „Mai-Papier“ skizzierte Ansinnen, eine „Guerillamentalität […] mit den Erfahrungen und Vor­ stellungen anderer, etwa Autonomen, zu etwas Gemeinsamen [sic] oder

5955 Vgl. Wolff 1985, S. 7. 5956 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 123, 125; Möller/Tolmein 1999, S. 179; 181; Rollnik/Dubbe 2007, S. 111-112. 5957 ID-Verlag 1997, S. 345. 5958 Ebd. 5959 Ebd. 5960 Vgl. Hogefeld 1996, S. 89. 5961 Taufer 2018, S. 158. 5962 Strobl 2020, S. 26.

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Wechselseitigen [sic] weiterzuentwickeln“5963. Hogefeld betrachtete den Umgang mit den Kritikern des Mordes an Pimental als „Anfang vom Ende der ‚Front‑Konzeption‘“5964. Die „Verweigerung einer öffentlichen Diskussion“5965 habe „den Weg für eine gemeinsame Ausrichtung unserer Kämpfe und Initiativen mit anderen Gruppen versperrt“5966. „‚[D]ass Krieg ist‘ – das ist natürlich keine Antwort“5967, merkte sie selbstkritisch an. Die­ se Verteidigungshaltung sei „Ausgeburt der Ignoranz gegenüber allen“5968 gewesen, die „der RAF gegenüber jeder Kritik die Türen zugeschlagen“5969 habe. Sie soll die „Isolierung der RAF innerhalb des linken Spektrums und der Gesellschaft […] festgeklopft“5970 haben. Auch Lutz Taufer war überzeugt, die „Rote Armee Fraktion“ habe nach den Ereignissen im Spät­ sommer 1985 einer Linie angehangen, welche „bei anderen nichts mehr auslöste“5971. „Avantgarde im Kontext RAF“5972 sei dementsprechend „zur ewig tragischen Schönheit“5973 geworden. Fortan habe ihre Agenda Au­ ßenstehenden „mit autoritären Methoden aufs Auge gedrückt“5974 werden müssen, was den „Aktiven“ wiederum den Ruf der „‚Selbstüberschätzung‘, ‚peinlichen Avantgardearroganz‘ und ‚Realitätsferne‘“5975 einbrachte. Einen Eindruck von diesen Methoden ließ sich aus den Selbstzeugnissen Hogefelds sowie aus den Erinnerungen ehemaliger Unterstützer der Drit­ ten Generation gewinnen, die 1988 in Haft genommen worden waren. Vermieden worden seien „Diskussionen und Reibungen, in denen […] immer wieder die eigene Praxis an die Realität und Entwicklungsprozesse angebunden und dahingehend korrigiert werden konnte.“5976 „[D]ie mili­ tärische Aktion“, so die einstigen Mitstreiter der Dritten Generation, „wur­ de zum nicht hinterfragbaren Fetisch.“5977 Laut Hogefeld etablierte sich die unerschütterliche Präferenz, „die Gründe, die ein Zusammenkommen

5963 5964 5965 5966 5967 5968 5969 5970 5971 5972 5973 5974 5975 5976 5977

ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 312. Hogefeld 1996, S. 48. Ebd., S. 90. Ebd. Ebd., S. 48. Ebd. Ebd. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 312. Ebd. Ebd. Ebd. Straßner 2003, S. 284. Hogefeld 1996, S. 113. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 119.

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mit anderen Gruppen […] verhindert haben, ausschließlich bei anderen und nie bei uns selber [sic]“5978 zu vermuten. Gefestigt habe sich eine „verkürzte und scheinradikale Sicht des ‚Wer nicht für uns ist, ist gegen uns‘“5979, welche anderen Akteuren ein Positionieren zur Politik der RAF abverlangte und ihnen – ausgehend von den vertretenen Einstellungen – pauschal die Etiketten „mensch oder schwein“5980 aufdrückte. Den auf Grundlage ihrer „Gesinnungsfrage“5981 erkannten „Schweinen“ hielt die „Rote Armee Fraktion“ vor, „sie würden vor der Realität die Augen ver­ schließen und eigentlich nur ihren Nischenplatz im System suchen.“5982 Dergestalt sollten Andersdenkende als unwürdige Vertreter linker Ziele aus dem Kampf um politische Veränderungen ausgegrenzt werden. Dieser dualistische Rigorismus der Dritten Generation leistete der Nei­ gung Vorschub, politische Subjekte nach dem Aspekt der Verwertbarkeit im eigenen „bewaffneten Kampf“ zu rekrutieren. So erschienen der „Roten Armee Fraktion“ politische Bewegungen, wie zum Beispiel der Protest ge­ gen Atomkraft und die bis Mitte der 1980er Jahre aufrechterhaltene Kam­ pagne gegen das Erweitern des Frankfurter Flughafens, nicht in Gänze als potentielle Teilhaber der „Front“. Derartige Formen politischer Opposi­ tion seien von der RAF „lange Zeit nicht ernst genommen“5983 worden, da ihre Mitglieder diese verdächtigt haben sollen, „Kämpfe für weitere Metropolenprivilegien“5984 auszufechten. Das Augenmerk des Zirkels ha­ be ausschließlich Akteuren gegolten, „die über den jeweiligen konkreten Anlass [der Bewegung] hinaus zu systemsprengenden Perspektiven und Bestimmungen kommen wollten“5985 und somit bereits wesentliche Über­ einstimmung mit Sinn und Zweck des „bewaffneten Kampfes“ zeigten. Signalisierten sie Interesse an einer Kooperation mit der RAF, sei der Ab­ bruch ihrer Verbindungen zum Konfliktfeld gefolgt, aus dem sie stamm­ ten. In der Weltsicht der Dritten Generation avancierten sie damit zum „mensch“ – dies sollte unter allen Umständen beibehalten werden: Das Wiederaufleben der alten Kontakte habe die Gruppe „abgewehrt und mit Totschlag‑Argumenten niedergehalten“5986. Aufgrund der dogmatischen

5978 5979 5980 5981 5982 5983 5984 5985 5986

Hogefeld 1996, S. 90. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 73. Ebd., S. 71. Ebd., S. 86. Hogefeld 1996, S. 114. Ebd., S. 108. Ebd. Ebd. Ebd.

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Haltung seien „kritische Fragen […] ewig verhindert“5987 worden. Die avisierte „Front“ geriet zu einem „enge[n] und ausschließende[n]“5988 My­ thos: „Es gab die […] Vielfalt nicht“5989, schrieb Hogefeld im Juli 1995. Die „Rote Armee Fraktion“ umgab sich ausschließlich mit Kräften, welche ihre Ansichten nicht bezweifelten. Anlehnend an den Text „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ zeichnete die Dritte Generation in öffentlichen Verlautbarungen indes unverändert das Bild einer am Dialog festhaltenden „Guerilla“, deren „Front“ jedem Interessenten den Beitritt ermöglichte und allen Mitgliedern Handlungsfreiheit garantierte. Bisweilen zeigte diese Eigenin­ terpretation eine beachtliche Ähnlichkeit zu anarchistisch anmutenden Selbstzuschreibungen der „Revolutionären Zellen“ aus den 1970er Jahren, die „[j]ede Art von möglicher Instrumentalisierung anderer Menschen […] verhindern“5990 und Außenstehende „als Individuen, als Subjekte […] begreifen“5991 wollten. Im Herbst 1985 proklamierte die RAF mit Blick auf ihr Verhältnis zu anderen linken Aktivisten: „[W]o die diskussion gewollt wird, ist sie natürlich offen, am ziel orientiert – sonst hat sie keinen zweck.“5992 Wenige Monate später teilte sie ihrem Umfeld in einem Positionspapier mit, Aufmerksamkeit gewidmet werden müsse nunmehr einer „intensive[n] konzentrierte[n] Auseinandersetzung zwischen denen, die die bewusste Entscheidung getroffen haben, in der Front zu kämp­ fen – oder die das wollen – darum, wie der revolutionäre Kampf hier weiterentwickelt, organisiert zur Wirkung gebracht werden kann.“5993 Von diesem Diskurs versprach sich die Dritte Generation das Bestimmen einer Praxis sowie das Aufstellen „konkrete[r] Bedingungen für die po­ litisch-militärische Offensive“5994. Heranwachsen sollte im Zuge dieses Voranschreitens „ein politisches, praktisch-kritisches Verhältnis zu allen, die, egal wo, anfangen Widerstand zu leisten“5995. Diese Idee sei nicht

5987 5988 5989 5990 5991 5992 5993 5994 5995

Ebd., S. 115. Ebd., S. 108. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 111. Ebd. Zusammen Kämpfen 1985b, S. 8. ID-Verlag 1997, S. 354. Ebd. Ebd.

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gleichzusetzen mit der „Vorstellung, ‚die Massen‘ von oben zu belehren – was immer heißt, sich das Volk zum Objekt zu machen“5996. Die „Rote Armee Fraktion“ gehe von „Subjekten“ aus, die zum „Antagonist[en] des Systems“5997 geworden sind. Im Anschluss an diese Zusage deklamierte die Dritte Generation: „Selbstbestimmung und die volle Verantwortlich­ keit jedes einzelnen sind an jeder Stelle des Kampfes hier von Anfang an substantiell.“5998 Ihren Willen zur egalitären Zusammenarbeit in einer „Front“ hob die RAF nochmals hervor, als sich tiefgreifende politische Umbrüche im sowjetischen Hegemonialbereich ankündigten. Im Dezem­ ber 1989 merkten die „Aktiven“ an, auf dem Weg zum sozialrevolutionä­ ren Umbruch seien „neue produktive Wechselbeziehungen“5999 erforder­ lich: „[N]ur zusammen können die Kämpfe die nötige Kraft entwickeln, um destruktive Entwicklungen des Imperialismus zu stoppen“6000. Die „Rote Armee Fraktion“ suche die „Diskussion mit allen, die Schluss ma­ chen wollen mit der imperialistischen Zerstörung […] und die diese Aus­ einandersetzung mit uns wollen.“6001 Dieser Diskurs solle einen uneinge­ schränkten Austausch der „verschiedenen Erfahrungen, Vorstellungen und Kritiken“6002 beinhalten. In ihrem Sprachrohr „Zusammen Kämpfen“ stieß die Peripherie der „Roten Armee Fraktion“ ins gleiche Horn. „Illegale Militante“ sprachen im Oktober 1986 von einem langwierigen sozialrevolutionären Kampf, „der offen für jeden ist und seine grundlage in jedem hat, der/die das faschistische system zerschlagen und unsere ziele – kollektivität, selbstbe­ stimmung – durchsetzen will“6003. Die Ausgabe der „Zusammen Kämp­ fen“ aus März 1988 dokumentierte Auszüge einer unter „kämpfenden Einheiten“ geführten Debatte, welche Erwartungen zum Wesen der „an­ tiimperialistischen Front“ enthielten. Eine Gruppe gab zu verstehen, die „Front“ war „nie ein fertiges konzept“6004. Vielmehr sollte sie ausgestaltet werden von allen Akteuren, die sich mit ihr identifizierten – ausgehend „von dem boden […], auf dem sie stehen“6005. Ein anderer Zirkel des

5996 5997 5998 5999 6000 6001 6002 6003 6004 6005

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 392. Ebd. Ebd. Ebd. Zusammen Kämpfen 1986d, S. 5. Zusammen Kämpfen 1988, S. 10. Ebd.

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9.1 Selbstverständnis

„Widerstandes“ vertrat die Ansicht, jeder Mitstreiter müsse sich „einen ei­ genen kopf […] machen“6006, „selbst vorstellungen entwickeln“6007. Nicht erwartet werden dürfe von der RAF, „alle antworten parat“6008 zu haben. 9.1.5 Anerkennung der Erfolglosigkeit tradierter Rollenverständnisse Obgleich zwischen dem theoretischen Darlegen und praktischen Umset­ zen des Selbstverständnisses der „Revolutionären Zellen“ nicht derart gra­ vierende Unterschiede bestanden, blieb auch ihr „bewaffneter Kampf“ während der 1980er Jahre ohne weitreichenden Zuspruch. Der ab 1983 erkennbare „Windbruch“6009 der RZ, welcher entgegen ihrer wesentlich auf „Basisnähe“6010 beruhenden Anerkennung im gewaltbereiten Linksex­ tremismus ein wegweisendes Operieren jenseits politischer Massenbewe­ gungen ins Zentrum rückte, war früh von energischem Widerspruch dem Netzwerk ideologisch nahestehender „autonomer“ Zirkel begleitet wor­ den. Sie hatten darin die Gefahr einer einzelgängerischen Vorhut gesehen und dementsprechend die „Revolutionären Zellen“ in Zeitungsbeiträgen ersucht, das Verankern in und Orientieren an gesellschaftlichem Protest beizubehalten.6011 Ungeachtet dieser Warnungen aus dem „autonomen“ Spektrum beharrten die RZ auf ihrem neuen Avantgardebewusstsein. Al­ lerdings wurde die Position des thematischen Vordenkers bereits 1986 obsolet, als schutzsuchende Ausländer im Zuge der unabhängig vom Linksterrorismus angestoßenen „Asyldebatte“ öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren und das in den Augen der „Revolutionären Zellen“ vielverspre­ chende gesellschaftliche Konfliktfeld entstand. Kurzlebig waren daher die Entkopplung ihrer Agenda von einem realen Bezugspunkt in der Bevölke­ rung sowie der Wunsch, eine politische Bewegung nach eigenen Werten heranwachsen zu lassen. Die Mitglieder der RZ begegneten dem mit Über­ raschung: „[D]amit gerechnet hatte eigentlich niemand.“6012 Ungewollt kehrten sie zur ursprünglichen Rolle der „populären Guerilla“ zurück, die sich mit Dialogbereitschaft und Kritikfähigkeit „auf gesellschaftliche 6006 6007 6008 6009 6010 6011 6012

Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Horchem 1988, S. 89. Bundesministerium des Innern 1984, S. 105. Vgl. ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 119-120, 130.

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Konflikte […] bezieht und […] ins Verhältnis setzt zu einem möglichen Klassensubjekt in der Metropole“6013. Im „Revolutionären Zorn“ – erschienen im Oktober 1986 – bemerkten die RZ, sie konnten den „Kampf gegen die verantwortlichen Instanzen der imperialistischen Flüchtlingspolitik in der BRD“6014 initiieren. Jedoch würden ihre Leistungen „wirkungslos verpuffen, wenn sie nicht zur Ent­ wicklung eines neuen Ansatzes von Antiimperialismus der radikalen Lin­ ken beitragen“6015. An „die autonome und sozialrevolutionäre Linke“6016 adressierten sie den „Vorschlag […], die Flüchtlingsfrage aus einer antiim­ perialistischen Perspektive heraus aufzugreifen und zum Prüfstein des poli­ tischen Handelns auf verschiedenen Ebenen zu machen“6017. Sie zeigten mehrere mögliche Aktionen auf, so zum Beispiel den Aufbau von „Net­ ze[n] zur Verteidigung von Flüchtlingen gegen rassistische Übergriffe“6018 oder die „Unterstützung illegaler Strukturen von Flüchtlingen“6019. Wäh­ rend die terroristischen Taktiken der „Revolutionären Zellen“ vermehrt Nachahmer unter gewaltbereiten „Autonomen“ fanden, stießen diese An­ gebote zur strategischen Ausrichtung nicht auf Akzeptanz.6020 Mit zuneh­ mender Dauer der auf die Lebenswirklichkeit von Schutzsuchenden zie­ lenden Agitation gingen die „Revolutionären Zellen“ bisweilen sogar dazu über, offensiv das Verwirklichen ihrer aktionistischen Linie von anderen linksextremistischen Akteuren zu fordern. In diesen Momenten wich die vorschlagende Funktion des Netzwerks einem an die „Rote Armee Frak­ tion“ erinnernden determinierend‑belehrenden Auftreten, das unüberseh­ bar auf einen Erkenntnisvorsprung abstellte. Exemplarisch verdeutlichen ließ sich diese transformierende Eigendar­ stellung anhand des Tatbekenntnisses, welches die „Revolutionären Zel­ len“ nach Anschlägen auf die Staatskanzlei sowie das Ministerium für Arbeit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen im Januar 1991 in Umlauf brachten. Die Autoren beschrieben einen Lernprozess, in dem sie

6013 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 563. 6014 Ebd., S. 541. 6015 Ebd. 6016 Ebd., S. 542. 6017 Ebd. 6018 Ebd., S. 543. 6019 Ebd. 6020 Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 128; Bundesministerium des In­ nern 1987, S. 136; Bundesministerium des Innern 1988, S. 77; Bundesministe­ rium des Innern 1989, S. 90. Vgl. auch Baron 2011, S. 233.

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9.1 Selbstverständnis

rassistische Einstellungen und Handlungen als elementare „Säule imperia­ listischer Herrschaft“6021 hatten erkennen können. Um „eine Widerstands­ perspektive gegen das imperialistische Großdeutschland“6022 zu gewinnen, müssten „antirassistische Initiativen“6023 in der extremistischen Linken ver­ ankert werden. Nur so könne sie „ihre gesellschaftliche Bedeutungslosig­ keit durchbrechen“6024 und „einen politischen Gegenpol gegen die Politik der Herrschenden“6025 einnehmen. Die in diesen Zeilen hervortretende Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen politischen Analyse wurde nicht dauerhaft zum bestimmenden Merkmal des Selbstverständnisses der „Revolutionären Zellen“, wie sich nur wenige Monate später offenbarte. In einem weiteren, ab August 1991 zirkulierenden Selbstbezichtigungs­ schreiben ließen die RZ die in ihrer Gründungsphase etablierte Eigen­ darstellung aufleben. Die Verfasser kündigten an, sie „werden […] als weißer Zusammenhang für antirassistische Lebensvorstellungen kämpfen und in einer eigenständigen Auseinandersetzung und politischen Praxis umsetzen.“6026 Ihre Aktivitäten sollen „Solidarität […] entwickeln“6027, mit der „den Herrschenden ihre Spaltungs- und Ausbeutungswerkzeuge“6028 abgenommen werden können. Dabei müssten sich allerdings „Ausgangs­ punkt [sic] […] politisches Ziel und […] politische (Alltags-)Praxis […] immer wieder der Diskussion stellen und hinterfragen lassen.“6029 Keines­ falls hätten sich die „Revolutionären Zellen“ einem Stellvertreterkampf für Schutzsuchende verschrieben.6030 Vielmehr hegten sie die „Hoffnung, […] perspektivisch eine politische Kraft [zu] entwickeln, gemeinsam mit ihnen genauso wie mit anderen gesellschaftlichen Gruppen.“6031 Das Netzwerk stehe vor einem „Prozess, der nicht individuell, glatt und platt gelingen kann, sondern mit Menschen aus dem antiimperialistischen Widerstand, mit Flüchtlingen und Immigrant/inn/en allmählich erarbeitet werden muss.“6032 6021 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 581. 6022 Ebd. 6023 Ebd. 6024 Ebd. 6025 Ebd. 6026 Ebd., S. 568. 6027 Ebd., S. 569. 6028 Ebd. 6029 Ebd., S. 568. 6030 Vgl. ebd. 6031 Ebd., S. 568-569. 6032 Ebd., S. 569.

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Trotz aller Anstrengungen geriet die von den RZ forcierte „Vermitt­ lung […] illegale[r] Aktionen […] im Bereich der Flüchtlingspolitik in eine breitere linke bis linksradikale Öffentlichkeit zunehmend zum Prob­ lem“6033. Die „Revolutionären Zellen“ sammelten Erfahrungen, wie sie sie zuvor gleichermaßen in diversen politischen Massenbewegungen gemacht hatten: Weder seien die Taten des Netzwerks von „öffentlichen Solidari­ tätsgruppen“6034 für Flüchtlinge registriert worden, noch hätten sie eine Rolle „in der politischen Auseinandersetzung“6035 mit staatlichen Stellen gespielt. Insgesamt, so bilanzierte eine „Revolutionäre Zelle“ 1992, war die gegen Flüchtlingspolitik gerichtete Agitation „wenig aufrüttelnd“6036. Andere Aktivisten der RZ stellten fest, es „war das eingetreten, was wir unbedingt vermeiden wollten: Wir waren allein, ohne Austauschmöglich­ keit“6037. Angesichts des bereits Ende der 1980er Jahre offensichtlich wer­ denden „Missverhältnis[es] zwischen […] revolutionäre[m] Anspruch und der tatsächlichen politischen Entwicklung“6038 versuchten Teile der „Revo­ lutionären Zellen“ frühzeitig, eine Debatte um – vermeintliche – patriar­ chale und sexistische Machtstrukturen anzustoßen.6039 Erkennbar anknüp­ fen sollte dies an die Frauenbewegung, welche bereits der „Roten Zora“ als Basis diente. Andere Aktivisten des Netzwerks konzentrierten sich auf ge­ sellschaftlichen Unmut, den der Zweite Golfkrieg sowie die Umbrüche in den neuen deutschen Bundesländern bedingten.6040 Mit dem „Anspruch, richtige Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu geben“6041, boten sie ihre terroristische Praxis einem breiteren, bereits politisierten Auditorium als potentiellen Ausweg an. Vor dem Hintergrund der sich in einer Grundgesetzänderung zuspitzenden „Asyldebatte“ setzte eine weitere Strömung innerhalb der „Revolutionären Zellen“ hingegen die „F‑Kampa­ gne“ fort. Bis zum Zerfall des Netzwerks Mitte der 1990er Jahre blieb das in diesen aktionistischen Schwerpunkten konservierte Selbstbild unverän­ dert.

6033 6034 6035 6036 6037 6038 6039 6040 6041

Ebd., Band 1, S. 38. Ebd. Ebd. Ebd., S. 61. Ebd., S. 38. Ebd., S. 42. Vgl. Dietrich 2009, S. 167. Vgl. Bundesministerium des Innern 1992, S. 32. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 659.

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9.1 Selbstverständnis

Spätestens Anfang der 1990er Jahre wurde sich ebenfalls die „Rote Armee Fraktion“ der „tiefe[n] Kluft“6042 bewusst, die sich nach 1985 zwi­ schen ihren Strukturen und denen der übrigen politischen Linken aufge­ tan hatte. Nicht mehr ignorieren konnten ihre Aktivisten die Isolation, in der sich „die Front‑Vorstellung […] langsam totgelaufen“6043 hatte. Anhand einer in der Geschichte der RAF beispiellosen strategischen Zäsur suchte die Dritte Generation den Befreiungsschlag. Im Zuge dieses Wan­ dels ließ sie nicht nur von dem Gedanken einer „antiimperialistischen Front“ ab. Überdies brachen die „Illegalen“ radikal mit dem tradierten „Elitedenken“6044 der „Roten Armee Fraktion“, welches die „Revolutio­ nären Zellen“ zuletzt im Juli 1991 zum Anlass genommen hatten, ihr fehlende „Verankerung und Verbreiterung revolutionärer Politik in die sozialen Prozesse der Gesellschaft hinein“6045 vorzuwerfen. Die „Aktiven“ der RAF zogen einen Schlussstrich unter die bisherige „‚glatte‘ Sicht […], die reale Widersprüchlichkeiten nicht sieht, und ein Denken, das viele Fragen weder stellt noch zulässt“6046. Das Neubestimmen des „bewaffneten Kampfes“ rüttelte an zentralen Gewissheiten im „Widerstand“ der Gruppe – dies förderte ein langsames Auseinanderbrechen der Zusammenhänge zwischen der „Kommandoebene“, den „Gefangenen“ und dem engeren Umfeld. Die Einsicht, den „Entwurf einer politischen Gesamtvorstellung nicht allein [zur] Sache einer Gruppe, eines kleinen politischen Zusammenhan­ ges wie der RAF“6047 erheben zu können, legte die Dritte Generation erstmals im April 1992 in einem knappen Positionspapier dar. Als aus­ sichtslos beschrieb sie ihre bisherige Eigenwahrnehmung und -darstellung, die im Kern die Erwartung an Außenstehende gerichtet habe, den von der „Guerilla“ gefassten Entschlüssen Folge zu leisten.6048 Auf sozialre­ volutionäre Akteure sei die RAF „viel zu wenig […] zugegangen […]; und auf die, die noch nicht aufgestanden waren, gar nicht.“6049 Hierbei nahm die Dritte Generation Bezug auf den nach 1985 eintretenden Wider­ spruch zwischen ideellem und tatsächlichem Selbstbild: Die „Illegalen“

6042 6043 6044 6045 6046 6047 6048 6049

Hogefeld 1996, S. 89. Ebd., S. 48. Strobl 2020, S. 130. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 661. Hogefeld 1996, S. 47. Ebd., S. 62. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 411. Ebd.

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räumten ein, die „Rote Armee Fraktion“ habe ihr Auftreten „oft anders formuliert, aber die Realität war so.“6050 Widmen werde sich der Zirkel künftig „seit langem notwendigen gemeinsamen Diskussionen“6051 sowie dem „Aufbau von Zusammenhängen unter den verschiedensten Gruppen und Menschen; da, wo sie leben, ausgehend vom Alltag der Menschen in dieser Gesellschaft“6052. Sie selbst werde sich in diesem Projekt nicht als „Mittelpunkt“6053 begreifen. Wie Hogefeld 1995 zusammenfassend aus­ führte, spiegelten diese Aussagen „eine andere Diskussionskultur wider, die eigene Überlegungen, Vorstellungen, aber auch Fragen und Unklarhei­ ten anderen Menschen vermitteln und dasselbe von ihnen wissen will, um gemeinsam nach Antworten und Lösungen zu suchen.“6054 Aufbauend auf diesem Selbstbild, ob seines Bruchs mit avantgardistischen Attitüden vor allem von den „Autonomen“ begrüßt,6055 adressierte die Dritte Generation im Juni 1992 eine Botschaft an die sich gegen den Weltwirtschaftsgipfel in München formierende Protestbewegung. Lobend stellte sie die Absicht ihrer Teilnehmer heraus, „Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen, zu gemeinsamen Einschätzungen zu kommen und […] die Erarbeitung gemeinsamer Strategien“6056 zu ermöglichen. Aufgrund der eigenen Historie, „die kaum Diskussionen und Organisationsprozesse aus­ gelöst“6057 hatte, erachteten sie „eine offene Diskussion über neue Grund­ lagen und Orientierungen“6058 sozialrevolutionärer Bestrebungen als uner­ lässlich. Diese sei Voraussetzung eines „neuen Aufbruch[s]“6059. Entgegen aller Widerstände aus den eigenen Reihen machte die Dritte Generation die Abkehr von ihrem Präponderanzdenken, den „Starrheiten, […] Range­ hensweisen und Orientierungen“6060 der Vergangenheit nicht rückgängig. Die „Illegalen“ behielten sie in späteren Wortmeldungen bei.6061 Im März 1994 verkündeten sie: „Es ist absurd zu denken, ausgerechnet eine illegale

6050 6051 6052 6053 6054 6055 6056 6057 6058 6059 6060 6061

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 412. Hogefeld 1996, S. 47. Bundesministerium des Innern 1993, S. 28. ID-Verlag 1997, S. 415. Ebd., S. 417. Ebd. Ebd., S. 418. Ebd., S. 421. Vgl. ebd., S. 420-421, 437, 455.

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Gruppe könnte heute alleine eine umfassende Konzeption in die Welt set­ zen.“6062 Nicht zu übersehen war: Die Dritte Generation schwenkte mit ihrem neuen Rollenverständnis auf eine Position ein, welche von 1973 an maß­ geblich von einem anderen linksterroristischen Akteur geprägt worden war: den „Revolutionären Zellen“. Das nunmehr von der RAF zum Ide­ al gesteigerte Anknüpfen an die Situation der deutschen Bevölkerung sowie die damit verbundene Stellung des gleichberechtigten Gesprächs­ partners waren essentielle Eckpfeiler der von den „Zellen“ bedienten Selbstbeschreibung. Folglich schloss sich die „Rote Armee Fraktion“ nach­ träglich der Position der Gründer des Netzwerks an, welche die bornierte Selbstgenügsamkeit der „Baader/Meinhof-Gruppe“ als Hindernis auf dem Weg zu einem sozialrevolutionären Umsturz registriert hatten. Zugleich gingen die Aktivisten der Dritten Generation über das „Volksnähe“ sug­ gerierende alternative Selbstbild der RZ hinaus. Im Streben nach einer „populären Guerilla“ blieben die „Revolutionären Zellen“ inkonsequent: Sie gaben sich assoziativ, entzogen indes die grundsätzliche Notwendigkeit ihrer terroristischen Praxis einer offenen Diskussion. Auf diesem Terrain vertraten sie einen unerschütterlichen Absolutheitsanspruch, womit sie zu einer Avantgarde sui generis avancierten. In der 1992 vollzogenen Wende stellte die „Rote Armee Fraktion“ hingegen gewalttätige Aktionen zur Debatte: Gewonnen werden müsse eine „Klarheit darüber […], was sie an Veränderungen konkret in Gang setzen können.“6063 Demnach band die RAF ihre gesamten strategischen Paradigmen an Gespräche, die sich mit Interessierten ergeben sollten. Insofern begab sich die Dritte Generation in eine Abhängigkeit von externer Resonanz, die die „Revolutionären Zellen“ für sich nie zu akzeptieren vermocht hatten. Obschon die Diffe­ renzen im Selbstverständnis beider Gruppen 1992 weitgehend aufgehoben wurden, blieben positive Entwicklungen in der Beziehung zwischen „Ro­ ter Armee Fraktion“ und „Revolutionären Zellen“ aus: Das Umdenken der Dritten Generation der RAF in Fragen der Eigendarstellung hatte demnach keinen Einfluss auf ihr Verhältnis.

6062 Ebd., S. 495. 6063 Ebd., S. 412.

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9.2 Internationalismus 9.2.1 Konservierung grenzübergreifender Solidarität der „68er-Bewegung“ Die studentisch dominierte „68er-Bewegung“ bezog ihre Legitimität nicht allein aus – vermeintlichen – Missständen der bundesrepublikanischen Nachkriegsordnung. Neben dem gesellschaftlichen wie systemischen Sta­ tus quo in Deutschland boten der „Außerparlamentarischen Opposition“ Konflikte und Herrschaftsstrukturen in der Dritten Welt Projektionsflä­ chen für Forderungen nach politischen Alternativentwürfen.6064 Besonde­ res Augenmerk legte die Bewegung auf den Stellvertreterkrieg in Indo­ china, in dem das diktatorische Nordvietnam gemeinsam mit der Unter­ grundorganisation des „Vietcong“ gegen die vor allem von den USA ge­ stützten Machthaber im südvietnamesischen Saigon wirkte.6065 Wie ein Blick in die Beiträge des im Februar 1968 in Westberlin abgehaltenen „Internationalen Vietnam-Kongresses“ verriet, stellte sich die APO selbst in Gegnerschaft zu einem angeblichen US-amerikanischen Imperialismus als Verbündeter der um Befreiung ringenden Völker der Dritten Welt in Westdeutschland dar: Der Kampf der „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“ und des nordvietnamesischen Regimes sollte im verwundba­ ren Hinterland ihres Opponenten Unterstützung erfahren. Nur infolge dieses Zusammenwirkens gleichwertiger Auseinandersetzungen könne der Sieg über die zum Aggressor stilisierten Vereinigten Staaten errungen wer­ den. Auf dem „Vietnam-Kongress“ sah Rudi Dutschke „[d]ie wirkliche revolutionäre Solidarität mit der vietnamesischen Revolution […] in der aktuellen Schwächung und der prozessualen Umwälzung der Zentren des Imperialismus.“6066 Noch weiter ging der SDS-Aktivist Hans‑Jürgen Krahl, als er dazu aufrief, „in konkreter Solidarität mit der revolutionären Befreiungsbewegung in der 3. Welt den gigantischen militärischen und staatlichen Machtapparat in den spätkapitalistischen Ländern zu zerschla­ gen.“6067 Die Abschlusserklärung des „Vietnam‑Kongresses“ hielt dement­ sprechend „[e]ine zweite revolutionäre Front gegen den Imperialismus in dessen Metropolen“6068 für unabdingbar. Ihre Eröffnung setze eine „an­

6064 Vgl. Hobe 1979, S. 25; Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 210; Schroe­ der/Deutz-Schroeder 2015, S. 105. 6065 Vgl. Rabert 1995, S. 91; Straßner 2008b, S. 212; Winkler 2008, S. 50. 6066 Dutschke 1968, S. 124. 6067 Krahl 1968, S. 146. 6068 Internationaler Vietnam-Kongress 1968, S. 159.

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9.2 Internationalismus

tiimperialistische Oppositionsbewegung“6069 voraus, welche „die spätkapi­ talistischen Widersprüche politisch zu aktualisieren und den Kampf um revolutionäre Lösungen in Betrieben, Büros, Universitäten und Schulen aufzunehmen“6070 vermag. Dieser während der 1960er Jahre unverkennbare Internationalismus der Neuen Linken – und mit ihm der größtenteils imaginäre Schulter­ schluss mit „Genossen“ aus Entwicklungsländern – konservierte sich in den Zerfallsprodukten der Studentenbewegung, darunter im aufkeimen­ den Linksterrorismus.6071 Er fand sich im „Strandgut an Ideologie, welches die studentische Revolte bis hin zu der ‚RAF‘ erreicht[e]“6072. Unter den Anhängern des linken Terrorismus blieb der internationalistische Fokus indes umstritten. Dies ließ sich sowohl für das Binnenverhältnis der in Deutschland aktiven linksterroristischen Zirkel wie für die zwischen ih­ nen existierenden Beziehungen geltend machen. Die sich widerstreitenden Standpunkte schieden sich an zwei Fragen. Erstens: Sollte sich der „bewaff­ nete Kampf“ in Westdeutschland zuvorderst einen nationalen Rahmen geben oder aber primär in einem internationalen politischen Kontext se­ hen? Und zweitens: Steht der deutsche Linksterrorismus in einem unterge­ ordneten, gleichberechtigten oder superioren strategischen Verhältnis zu ausländischen Sozialrevolutionären? Bereits vor dem Mai 1970 sollen innerhalb der entstehenden RAF – deren Gründer ihre Anschläge 1968 auf Frankfurter Warenhäuser als Fanal ihrer Verbundenheit mit der vietnamesischen Bevölkerung begreiflich ge­ macht hatten6073 und die Urheber der Befreiungsideologien in der Dritten Welt als Autoritäten anerkannten – divergierende Ideen zur eigenen politi­ schen Stellung konkurriert haben. Während der Anspruch auf eine unein­ geschränkte Vorreiterrolle im angestrebten sozialrevolutionären Umbruch in Deutschland auf einem Konsens beruhte, mündete die Frage nach dem geographischen Wirkungsradius im Dissens. Sie wurde – so Horst Mahler – von zwei Strömungen different beantwortet: den „Antiimperialisten“ und den „Sozialguerillas“.6074 Die „Antiimperialisten“ plädierten für die Funktion eines Mitstreiters in den weltweit zu verzeichnenden Aufständen linker bewaffneter Organi­ 6069 Ebd. 6070 Ebd. 6071 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 209; Rabert 1995, S. 104, 144-145; Daa­ se 2006, S. 909. 6072 Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, 214. 6073 Vgl. Jander 2008, S. 143; Straßner 2008b, S. 213. 6074 Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 182.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

sationen. Dabei gingen sie pauschal von einer Einheit zwischen ihrem und dem ideologischen Programm ausländischer Akteure aus, welche sie insbesondere auf die geteilte Feindschaft zu westlichen Demokratien fußten. Zeugnis von dieser ideellen Eigenwahrnehmung der „Antiimperia­ listen“ legten die Erinnerungen Irmgard Möllers ab, die zu den ersten Angehörigen der RAF zu zählen war. Im Gespräch mit dem Journalisten Oliver Tolmein gab sie zu verstehen, die „Rote Armee Fraktion“ habe im Bewusstsein einer „weltweite[n] Bewegung“6075 eine „internationalisti­ sche, keine nationale Perspektive“6076 verfochten. Die Befürworter dieser Position verstanden sich als „Teil einer internationalen Kraft“6077, als Ket­ tenglied eines „Zusammenhangs mit den […] Befreiungskämpfen“6078 im „Trikont“. Anknüpfend an Mao Tse‑tung habe ihre politische Analyse unterschieden zwischen sozialrevolutionärem Widerstand auf den inne­ ren und äußeren Linien. Erster stützte sich auf die Aufstände gegen – vermeintliche – imperialistische Machinationen in der Dritten Welt,6079 Letzter bezog sich auf Schauplätze, „wo der Krieg [gegen den Imperialis­ mus] nicht voll entbrannt ist […]: Das waren die Metropolen, also die Bundesrepublik.“6080 Die „Antiimperialisten“ in der RAF sollen sich der Hoffnung auf ein enges Wechselverhältnis zwischen beiden Linien hinge­ geben haben. Die Gewaltanwendung des Zirkels an der äußeren Linie sollte, so Möller, das Agieren an der inneren Linie erleichtern – und vice versa.6081 Dieser „Identifizierung […] mit dem schon vor sich gehenden militärischen Befreiungskampf in der Dritten Welt“6082 sowie der darin be­ fürchteten Stellung „als 5. Kolonne jener Befreiungsbewegung“6083 in der Bundesrepublik standen die Überlegungen der „Sozialguerillas“ entgegen, welche der „Roten Armee Fraktion“ in erster Linie den Anstrich einer „sozialrevolutionären Kampfgruppe“6084 geben wollten. Die RAF sollte als „Guerilla“ Akzeptanz finden, indem sie sich der Belange des „einfachen“ Bürgers in ausgewählten Stadtvierteln annimmt, sozusagen an regionalen

6075 6076 6077 6078 6079 6080 6081 6082 6083 6084

Möller/Tolmein 1999, S. 36. Ebd. Ebd., S. 167. Ebd. Vgl. ebd., S. 36. Ebd. Vgl. ebd. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 182. Ebd. Ebd., S. 180.

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9.2 Internationalismus

Konflikten partizipiert.6085 Hans-Jürgen Bäcker äußerte dazu: „Gemeint war […] Basisarbeit auf allen Gebieten“6086. Im Gegensatz zu den „Antiim­ perialisten“ sahen die „Sozialguerillas“ nationale Probleme in Deutschland als ausreichende inhaltliche Grundlage für das Vermitteln ihrer terroristi­ schen Aktivitäten. Nach Einschätzung Mahlers fanden in der RAF zunächst die konzep­ tionellen Annahmen der „Sozialguerillas“ mehrheitlich Zustimmung. Auf­ grund des nach Mai 1970 auf dem Zirkel lastenden Fahndungsdrucks und des Illegalisierens seiner Aktivisten habe sich das Mehrheitsverhält­ nis schließlich zugunsten der „Antiimperialisten“ verschoben. Das Ideal der aufklärenden Verankerung in den politischen Betätigungsfeldern der „Massen“ sei in der Praxis nicht mehr zu realisieren gewesen.6087 Ab Som­ mer 1970 dominierte in der Eigenwahrnehmung der RAF-Mitglieder zuse­ hends das Bild einer „Korrespondenzgruppe für die antiimperialistischen Kämpfe aus den Randzonen des imperialistischen Systems in dessen Zen­ trum“6088, was aus rückblickender Sicht Horst Mahlers die Isolierung der „Roten Armee Fraktion“ zementierte: Da sich der Zirkel nunmehr als Teil­ nehmer des Widerstands in der Dritten Welt gerierte, musste seine Gewalt zwangsläufig „als Kriegsführung gegen das eigene Volk“6089 erscheinen. Dies sei „natürlich der Anfang vom Ende“6090 gewesen. Die das Selbstbild der Ersten Generation der RAF kennzeichnende internationalistische Note6091 ließ sich gleichermaßen den Erinnerungen anderer Aktivisten entnehmen, welche den Aufbau des Zirkels Anfang der 1970er Jahre vorangetrieben hatten. Nach Klaus Jünschke wurde die „Rote Armee Fraktion“ als „Partei in einem weltweiten Krieg gegen die USA definiert“6092. Monika Berberich schaute 1996 im Laufe einer Podi­ umsdiskussion zurück auf das in der RAF präsente Gefühl, Teilhaber des „weltweiten antiimperialistischen Befreiungskampfes, der Befreiungs­ kämpfe v.a. in den Ländern des Trikont“6093 zu sein. Ihrer Einschätzung zufolge erlangte der Zirkel hierdurch das Prädikat eines Vorreiters, habe er doch den bereits in der „68er-Bewegung“ gegebenen „Zusammenhang

6085 6086 6087 6088 6089 6090 6091 6092 6093

Vgl. ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 179-180. Dellwo 2007a, S. 103. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179. Ebd. Vgl. Taufer 2018, S. 116. Jünschke 1988, S. 162. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996.

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[…] zwischen dem Kampf um Kommunismus hier [in Deutschland] und den Befreiungsbewegungen in den Kontinenten“6094 zum Gegenstand des „bewaffneten Kampfes“ gemacht – und damit auf ein Niveau gehoben, das „der Ebene der globalen Auseinandersetzung“6095 zwischen Imperialis­ mus und dessen sozialrevolutionären Gegnern gerecht geworden sei. Ge­ meinsam mit zwei „politischen Gefangenen“ aus dem Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ verfasste der 1970 erstmals als RAF‑Mitglied verhaftete Heinrich „Ali“ Jansen im Juli 1992 eine Stellungnahme, in der es hieß: „Selbstverständlich waren die weltweiten Kämpfe der Befreiungsbewegun­ gen von Anfang an der Hintergrund für den Kampf in der Metropole.“6096 Die in diesen Selbstzeugnissen zum Ausdruck kommende politische Haltung der Ersten Generation schlug sich zusehends in ihren öffentlich­ keitswirksamen Verlautbarungen wie auch in ihren Aktionen nieder. Mit der ersten Erklärung aus Juni 1970 fügte die RAF ihre Gründung in die Abfolge linker „Aufbrüche“ im Ausland ein, verzichtete allerdings auf die Zusage ihrer Verbundenheit mit der Dritten Welt. In den letzten Passagen der mit dem Titel „Die Rote Armee aufbauen“ versehenen Schrift schrieb Ulrike Meinhof, „das, was hier jetzt [in Gestalt der terroristischen Aktivitäten der RAF] losgeht, [ist] in Vietnam, Palästina, Guatemala, in Oakland und Watts, in Kuba und China, in Angola und New York schon losgegangen“6097. Die Befreiung Baaders sei „keine vereinzelte Aktion […], nur die erste dieser Art in der BRD“6098. Wesentlich prägnanter formu­ lierte Meinhof die internationalistische Orientierung im April 1971 im „Konzept Stadtguerilla“, das dem primär nationalen, basisnahen Zuschnitt des Selbstverständnisses der Gruppe aufgrund praktischer Erwägungen unverkennbar eine Absage erteilte.6099 Ostentativ hob das Pamphlet die Ursprünge der „Roten Armee Fraktion“ in der „Außerparlamentarischen Opposition“ hervor, welcher es gelungen sei, „den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen“6100 zu schaffen und damit die „provinzialistische Abkapselung der alten Linken“6101 aufzubre­ chen. Positiv wertete Meinhof insbesondere deren „Bewusstsein, Teil einer internationalen Bewegung zu sein, es mit demselben Klassenfeind hier 6094 6095 6096 6097 6098 6099 6100 6101

ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 74. Ebd. Ebd., S. 111. ID-Verlag 1997, S. 26. Ebd. Vgl. ebd., S. 42. Ebd., S. 36. Ebd., S. 35.

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zu tun zu haben, wie der Vietcong dort, mit demselben Papiertiger, mit denselben Pigs.“6102 Folgerichtig schloss das „Konzept Stadtguerilla“ mit dem Versprechen, diesen Nachlass der „68er-Bewegung“ zu bewahren: „Stadtguerilla machen heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv führen. Die Rote Armee Fraktion stellt die Verbindung her zwischen […] nationalem und internationalem Kampf“6103. Ganz auf Linie dieser Agitation lag ein im Dezember 1971 von einer Bürgerin nahe des Wittenbergplatzes in West-Berlin aufgefundener Brief der „Roten Armee Fraktion“, welcher an die kommunistische Partei Nord­ koreas „mit der Bitte um Unterstützung durch militärische Ausbildung und politische Zusammenarbeit“6104 adressiert war.6105 Als mögliche Ver­ fasser wurden zum einen Gudrun Ensslin und Ilse Stachowiak, zum an­ deren Ulrike Meinhof vermutet.6106 Ob eine weitere Ausfertigung des Kommuniqués die stalinistischen Machthaber in Pjöngjang erreichte, ist nicht nachweisbar.6107 Das Schreiben galt der Forschung zum deutschen Linksterrorismus als Schlüsseldokument in der Rekonstruktion der (inter­ nationalistischen) Eigenwahrnehmung des Zirkels: Die Autoren des ersten Bandes der vom Bundesministerium des Innern zu Beginn der 1980er Jahre herausgegebenen „Analysen zum Terrorismus“ empfanden es als „aufschlussreich, weil sie [die RAF] sich in ihrem antiimperialistischen Selbstverständnis legitimatorisch in die Reihe der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt […] einzureihen versucht[e].“6108 Zu einem ähnlichen Schluss gelangte Wolfgang Kraushaar.6109 Diese Bewertungen griffen die einleitenden Worte des Briefes auf, welche die nordkoreanische Regierung mit der „Roten Armee Fraktion“ vertraut machen sollten. In dem entspre­ chenden Ausschnitt wurde der Zirkel als Glied einer konstruierten welt­ umspannenden Phalanx linker Revolutionsträger vorgestellt: „Die Rote Armee Fraktion ist eine zahlenmäßig noch kleine Grup­ pe kommunistischer Arbeiter und Intellektueller, die begonnen hat, den antiimperialistischen Kampf in Westdeutschland und Westberlin

6102 6103 6104 6105 6106

Ebd. Ebd., S. 48. Rote Armee Fraktion, zit. n. Kraushaar 2006e, S. 88. Vgl. Kraushaar 2006c, S. 591; Kraushaar 2006e, S. 87; Aust 2020, S. 336, 347. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 260; Daase 2006, S. 919; Kraushaar 2006c, S. 591. 6107 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 216. 6108 Ebd., S. 218. 6109 Vgl. Kraushaar 2006e, S. 87, 94.

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bewaffnet zu führen. Wir meinen, dass die Organisierung von bewaff­ neten Aktionen in der Metropole Bundesrepublik der richtige Weg ist, die Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika zu unterstützen, der richtige Beitrag westdeutscher und westberliner [sic] Kommunisten zur Strategie der sozialistischen Weltbewegung, die Kräfte des Imperialismus durch Angriffe von allen Seiten zu zer­ splittern und zersplittert zu schlagen.“6110 Wenngleich Horst Mahler sich mit seinem ebenfalls im Frühjahr 1971 ver­ breiteten Text „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ abermals als Verfechter des von den „Sozialguerillas“ der RAF favorisierten, zuvorderst nationalen Wirkungsradius exponiert hatte,6111 nährte schließlich auch er das propagandistische Darbieten einer zwischen dem Linksterrorismus der „Roten Armee Fraktion“ und den Guerillaeinheiten in Entwicklungslän­ dern existierenden Achse. In einer Nachricht an den „Spiegel“, welcher in seiner fünften Ausgabe des Jahres 1972 einem größeren Rezipientenkreis zugänglich gemacht wurde, bekundete er die „Solidarität mit allen Ausge­ beuteten und Unterdrückten, insbesondere mit denen, die in der ‚Dritten Welt‘ ihre Menschenwürde mit der Waffe zurückerobern“6112. Wenige Monate später gelangte Meinhofs Papier „Dem Volk dienen – Stadtguerilla und Klassenkampf“ in Umlauf. Dieses untermauerte – das „Konzept Stadt­ guerilla“ fortführend – den Topos des grenzüberschreitenden Anspruchs einer „antiimperialistischen Stadtguerilla“. Hierzu klagte es zunächst die politische Linke der Bundesrepublik an. Diese habe in „Dogmatismus und […] Engstirnigkeit“6113 davon Abstand genommen, „die Probleme der Dritten Welt zum Gegenstand von Politik hier [in Deutschland] zu machen.“6114 Damit sei ihr Betrug am bundesrepublikanischen Proletariat vorzuwerfen, denn eine „Linke, die nur die Innenpolitik des Kapitals zum Gegenstand ihrer Kritik macht und seine Außenpolitik übergeht, […] sagte der Arbei­ terklasse nur die halbe Wahrheit über den Charakter des Systems, über die Politik des Kapitals, mit der die Arbeiterklasse es zu tun hat, alltäglich, in Lohnkämpfen, in absehbarer Zukunft.“6115

6110 6111 6112 6113 6114 6115

Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd., S. 88-89. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179; ID-Verlag 1997, S. 107. Mahler 1972a, S. 30. ID-Verlag 1997, S. 115. Ebd. Ebd.

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Die Forderungen der „Roten Armee Fraktion“ baute Meinhof sodann zum Gegensatz der – vermeintlich – unredlichen Praxis legal agierender linker Akteure auf, wiederholte sie doch ihre bereits im April 1971 getroffene Feststellung, „Stadtguerilla ist die Verbindung von nationalem und inter­ nationalem Klassenkampf.“6116 Sie verschaffe den „Massen“ einen vollstän­ digen Einblick in „die Zusammenhänge imperialistischer Herrschaft“6117. Im Laufe der weiteren Absätze löste Meinhof dieses Versprechen mithilfe des Beispiels der Arbeitsniederlegungen im Jahre 1971 in der deutschen chemischen Industrie ein.6118 Dem bis April 1972 ausschließlich verbal artikulierten Internationalis­ mus folgten in der „Mai‑Offensive“ korrespondierende Taten. Neben dem Paralysieren der westdeutschen Sicherheitsarchitektur und Medienland­ schaft geriet die Intention, „dem Vietcong und […] anderen Befreiungsbe­ wegungen im Süden“6119 zu verdeutlichen, „dass hier etwas losgeht“6120, zum wesentlichen Motiv für die ersten Anschläge der „Roten Armee Fraktion“. Gerade den ideologischen Weggefährten in Vietnam sollte Rü­ ckendeckung im Aufstand „gegen den westlichen imperialistischen Kriegs­ terror“6121 zugesichert werden. Unter dem Eindruck der von den Verei­ nigten Staaten gegen Nordvietnam verhängten Seeblockade verwirklichte der Zirkel Mitte Mai 1972 einen Anschlag auf das Hauptquartier des V. US-Corps in Frankfurt am Main.6122 Im Bekennerschreiben deklamierten sie, für die „Ausrottungsstrategen von Vietnam“6123 werde es „keinen Platz mehr geben […] in der Welt, an dem sie vor den Angriffen revolutionärer Guerilla‑Einheiten sicher sein können.“6124 Das knappe Bekenntnis gipfel­ te in der Parole: „Für den Sieg des Vietcong!“6125 Nach dem Angriff auf das europäische Hauptquartier der US-Army in Heidelberg am 24. Mai 1972 verlangte die „Rote Armee Fraktion“ öffentlich abermals, von dem Bombardieren nordvietnamesischen Territoriums abzulassen, die maritime Sperre aufzuheben und sämtliches US-amerikanisches Militärpersonal aus

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Ebd., S. 116. Ebd. Vgl. ebd., S. 116-120. Möller/Tolmein 1999, S. 41. Ebd. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 13. Vgl. Jander 2008, S. 151; Peters 2008, S. 285. ID-Verlag 1997, S. 145. Ebd. Ebd.

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Indochina abzuziehen.6126 Kurz darauf drängte die Gruppe gewaltbereite Linksextremisten in einem an die „Rote Hilfe“ in Frankfurt am Main geschickten Tonbandbeitrag Ulrike Meinhofs,6127 „in ihrem Kampf gegen den US-Imperialismus alle amerikanischen Einrichtungen zum Ziel ihrer Angriffe zu machen“6128. Der von Meinhof agitatorisch aufbereitete internationalistische Impetus der „Roten Armee Fraktion“ war in dem 1969/1970 entstehenden linkster­ roristischen Milieu keinesfalls ein singuläres Phänomen. Ähnlich prägend war eine Verbundenheit mit der Dritten Welt aufgrund ihres – vermeintli­ chen – „revolutionäre[n] Potentials“6129 während der Genese der „Tupama­ ros“ in Westberlin und München. Die vor ihrer RAF‑Mitgliedschaft zu den „Tupamaros München“ gehörende Aktivistin Irmgard Möller skizzier­ te vor dem Hintergrund ihrer Zeit in der bayerischen Landeshauptstadt einen „Bezug auf die Befreiungsbewegungen im Trikont“6130, welcher die diversen, zu systematischer Gewalt neigenden Gruppen in Westdeutsch­ land und Westberlin ideologisch verbunden habe.6131 Im Unterschied zur heranwachsenden „Roten Armee Fraktion“, die ihren Antiimperialismus trotz Verbindungen zur PLO vorzugsweise anhand des Krieges in Vietnam determinierte, verschrieben sich die „Tupamaros“ der Pflicht, die 1969 an der Seite der Fatah absolvierte Ausbildung im Nahen Osten durch das Stärken palästinensischer Interessen im Konflikt mit Israel zu vergelten. Michael Baumann erinnerte sich in seiner Autobiographie: „Das Palästi­ naproblem wird eingebracht, Vietnam ist nicht mehr der ideologische Überbau, sondern Palästina.“6132 Nach der Rückkehr aus Jordanien überließ Dieter Kunzelmann dem Szeneblatt „Agit 883“ Ende 1969 seinen „Brief aus Amman“,6133 in dem er eine Haltung als unzureichend empfand, welche sich „mit dem Kampf der Palestinenser [sic] schlicht […] identifizier[t]“6134. Erforderlich sei eine „eindeutige Solidarität mit AL FATAH, die im Nahen Osten den Kampf gegen das Dritte Reich von Gestern und Heute und seine Folgen aufge­

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Vgl. ID-Verlag 1997, S. 148. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 42. ID-Verlag 1997, S. 150. Baumann/Kuhlbrodt 1997, S. 15-16. Möller/Tolmein 1999, S. 32. Vgl. ebd. Baumann 1980, S. 65. Vgl. Jesse 1999, S. 205, 211; Kraushaar 2006d, S. 688; Kraushaar 2013, S. 307. Kunzelmann 1998, S. 123.

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nommen hat.“6135 Zur Klarstellung bemerkte er: „Was heißt Solidarität? UNSEREN KAMPF AUFNEHMEN.“6136 Im Frühjahr 1970 lancierte die „Agit 883“ Kunzelmanns zweiten „Brief aus Amman“, der gleichermaßen das grenzübergreifende Selbstbild der „Palästina-Fraktion“ der TW abbil­ dete.6137 Er stelle sich die Frage, „wann endlich […] der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel“6138 in der Bundesrepublik initiiert werde. „Wann entlasten wir“, so Kunzelmann weiter, „das kämpfende palästinensische Volk durch praktischen Internationalismus?“6139 Günstig wie nie stünden die Chancen, „durch direkte Unterstützung eines Volks­ befreiungskrieges die Revolution im eigenen Land voranzutreiben.“6140 Auch Fritz Teufel – „führende[r] Kopf der Tupamaros München“6141 – verknüpfte den „bewaffneten Kampf“ in Westdeutschland mit dem Wider­ stand in den Entwicklungsländern. Ausschnitte eines von ihm verfassten Schreibens an die „Agit 883“ druckte „Der Spiegel“ Ende März 1970 ab. Ratsam erschien Teufel, „den revolutionären kampf in der dritten welt […] in den metropolen aufzunehmen.“6142 Nicht länger akzeptiert werden könne „eine arbeitsteilung, bei der der revolutionär in der dritten welt sei­ nen kopf hinhält, während der revolutionär in den metropolen feinsinnige analysen schreibt“6143. Denn die „Untätigkeit“6144 in Deutschland „verlän­ gert das leiden in vietnam, palästina, bolivien.“6145 Die Losung innerhalb der TW, den Kampf zugunsten des palästinensi­ schen Volkes einzuleiten, materialisierte sich erstmals am 9. November 1969, als ihre Mitglieder einen Sprengsatz im Jüdischen Gemeindehaus in Westberlin platzierten.6146 Im Nachgang äußerten die „Tupamaros“ schriftlich, ihre „Solidarität wird sich nicht mehr mit verbal-abstrakten Aufklärungsmethoden à la Vietnam zufriedengeben, sondern die enge Verflechtung des zionistischen Israel mit der faschistischen BRD durch konkrete Aktionen schonungslos bekämpfen.“6147 Gelänge das Auflösen 6135 6136 6137 6138 6139 6140 6141 6142 6143 6144 6145 6146 6147

Ebd. Ebd. Vgl. Kraushaar 2013, S. 310. Dieter Kunzelmann, zit. n. ebd., S. 312. Dieter Kunzelmann, zit. n. ebd. Dieter Kunzelmann, zit. n. ebd. Ebd., S. 491. Teufel 1970, S. 100. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 427. Ebd. Vgl. Kraushaar 2006d, S. 687. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 153.

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dieser Beziehung, schaffe man die Voraussetzung für „den Sieg der paläs­ tinensischen Revolution […] und […] die erneute Niederlage des Weltim­ perialismus.“6148 Eine dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in West­ berlin im November 1969 zugeschickte Tonbandaufnahme der TW,6149 welche mit der Selbstbezeichnung „palästinafront (tw)“ endete, unterstrich symbolisch die Zugehörigkeit zur „Palestine Liberation Organization“: „Bei uns ist Palästina. Wir sind Fedajin. Heute […] kämpfen wir für die revolutionäre Befreiungsfront: AL FATAH SCHLÄGT ZU!“6150 Weite­ re Anschläge der „Tupamaros Westberlin“, die die Sicherheitsbehörden in diesem Zeitraum verzeichneten, richteten sich unter anderem gegen US‑amerikanische und israelische Ziele.6151 Frappierend war gerade in der Tonbandaufzeichnung der seinerzeit beispiellose Wille, sich als Arm der Fatah und somit als untergeordneter Akteur einer im Nahen Osten beheimateten Mutterorganisation darzustellen.6152 Dieses Bild vermittelte 1978 in der Rückschau auf den Anschlag vom 9. November 1969 auch Mi­ chael Baumann. Die TW hätten sich damals „als Fünfte Kolonne der Drit­ ten Welt“6153 gesehen, der „die deutschen Arbeitermassen […] ziemlich egal“6154 gewesen seien. Handlungsbestimmend war offenbar die Aussicht auf ein Verbessern der Lebenssituation in den Entwicklungsländern.6155 Diese Perzeption wiederholte er 2013 gegenüber der „Tageszeitung“: „Die [Mitglieder der ‚Palästina‑Fraktion‘] haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, nach einer Thematik hierzulande zu suchen.“6156 Nach Sommer 1970 verlor die internationalistische Säule in der Selbst­ darstellung der TW spürbar an Gewicht. Zurückgeführt werden konnte dies auf die Verhaftung Dieter Kunzelmanns,6157 der als zentraler Ver­ fechter einer Kopplung der eigenen Strategie an den Befreiungskampf in der Dritten Welt zu sehen war. Fortan setzten sich innerhalb des Zirkels Vorstellungen durch, welche die Position einer im Westberliner

6148 6149 6150 6151 6152 6153 6154 6155 6156 6157

Ebd. Vgl. Kahl 1986, S. 58; Kraushaar 2006b, S. 519. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 96. Vgl. Baumann 1980, S. 72; Kahl 1986, S. 57-60; Kraushaar 2006b, S. 519; Korn­ dörfer 2008, S. 246. Ähnlich Claessens/de Ahna 1982, S. 118. Baumann/Neuhauser 1978, S. 24. Ebd. Ebd. Baumann/Reinecke 2013. Vgl. Kahl 1986, S. 54.

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Stadtbezirk Kreuzberg lokal verankerten „Guerilla“ bevorzugten.6158 In abgeschwächter Form wiederbelebt wurde der grenzübergreifende Wir­ kungsanspruch, nachdem sich die „Tupamaros Westberlin“ in Absprache mit anderen Westberliner Militanten Anfang 1972 zur B2J vereinigt hat­ ten. Abgeschwächt war er insofern, als er sich nicht mehr bevorzugt den Palästinensern widmete und überdies die Wahrnehmung als Ableger einer ausländischen Organisation vermied. Triebkraft hinter dem modifizierten Internationalismus sei Michael Baumann gewesen, der sich in den „Tu­ pamaros Westberlin“ augenscheinlich den Ruf eines „Lautsprecher[s] von Kunzelmann“6159 erarbeitet hatte. Inge Viett legte in ihrer Autobiographie dar, angesichts des gewaltsamen britischen Militäreinsatzes in der nordiri­ schen Stadt Londonderry am 30. Januar 1972 insistierte er im Binnendis­ kurs auf die „Solidarität unseres proletarischen Internationalismus.“6160 Sogleich sei die „Bewegung 2. Juni“ in die Planung eines Anschlags eingetreten, welcher den Katholiken in Nordirland zeigen sollte, „dass wir gegen einen gemeinsamen Feind kämpften: den Imperialismus.“6161 Ergebnis war das Deponieren eines Sprengsatzes im britischen Jachtclub in Berlin-Gatow.6162 Ähnliche Hintergründe gehabt haben dürfte die im Juli 1972 vereitelte Absicht der B2J, eine türkische Auslandsvertretung in Westdeutschland anzugreifen.6163 In dem ab Juni 1972 verbreiteten Programm der „Bewegung 2. Juni“ verschmolzen ihre Mitglieder das Streben nach „Basisnähe“ mit der Auffas­ sung, als selbstständiger Akteur Beiträge zu einer globalen sozialrevolutio­ nären Zäsur leisten zu können, in welchem, so Gabriele Rollnik, „das so­ zialistische Staatensystem eine Rolle spielt[e], die Befreiungsbewegungen und wir innerhalb des Imperialismus.“6164 Anders als die „Rote Armee Fraktion“ brachten sie sich dabei insbesondere in die Nähe zu westeuropäi­ schen Mitstreitern: „Das Regime der Schweine wird nicht durch Formeln beseitigt, son­ dern durch den revolutionären Kampf. Dieser Kampf kann nicht national geführt und gewonnen werden, er ist international. Die Be­ wegung arbeitet mit allen sozialistischen Guerilla-Gruppen der Welt

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Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 74; Baumann 1980, S. 99; Meyer 2008, S. 185-186. Albert Fichter, zit. n. Baumann/Reinecke 2013. Michael Baumann, zit. n. Viett 2007, S. 90. Viett 2007, S. 90. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548; Korndörfer 2008, S. 248. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 166; Claessens/de Ahna 1982, S. 159. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 37.

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zusammen […]. Die Bewegung 2. Juni ist Teil einer weltweiten sozia­ listischen Offensive, sie kämpft Schulter an Schulter mit der IRA, den Weathermen, der Gauche Proletarienne, den Roten Brigaden und al­ len anderen Guerilla‑Organisationen.“6165 9.2.2 Konflikt um den Führungsanspruch der Dritten Welt Obwohl die Gründer der RAF ihre Agenda wesentlich ausführlicher und häufiger als die „Bewegung 2. Juni“ mit Geschehnissen auf weltpolitischer Ebene zu legitimieren versuchten, ist an dieser Stelle Bernhard Rabert zu widersprechen, der der Ersten Generation generalisierend ein Selbstbild als „verlängerter Arm der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt“6166 attestierte. Diese Zuschreibung impliziert die Bereitschaft der „Roten Ar­ mee Fraktion“, sich in den Dienst ausländischer sozialrevolutionärer Kräf­ te zu stellen und einseitig deren Ziele zu erfüllen. Für diese Neigung fan­ den sich im Zeitraum von 1969 bis Sommer 1972 keine stichhaltigen Bele­ ge, im Gegenteil: Einschlägige Aussagen der Mitglieder sowie der Gruppe suggerierten eine gleichberechtigte Partnerschaft zu den Befreiungskämp­ fern im „Trikont“, die von einem eigenständigen nationalen „Widerstand“ in Westdeutschland ausgehen sollte. Ein Wandel dieser Eigenwahrneh­ mung, welcher Raberts Lesart entspricht, war erst nach den Festnahmen im Jahr 1972 zu beobachten – allerdings nur für einen kurzen Zeitraum. Er markierte den Beginn einer Periode, die ehemalige Mitglieder der RAF – darunter Heinrich Jansen – rückblickend als Phase beschreiben sollten, in der der „internationalistische Bezug stärker in den Vordergrund“6167 rückte. Die im „Konzept Stadtguerilla“ erstmals explizit bediente Figur einer „antiimperialistischen Stadtguerilla“ avancierte im Allgemeinen zum bevorzugten Mittel der Außendarstellung. Inhaltlich angepasst wurde der Internationalismus der RAF im Herbst 1972 von Horst Mahler und Ulrike Meinhof. Beide heroisierten nunmehr – wie zuvor die „Tupamaros Westberlin“ – den palästinensischen Wider­ stand in der Welt. Aus ihm leiteten sie über das bisherige Selbstbild der „Roten Armee Fraktion“ hinausgehende Schlussfolgerungen ab, de­ nen die „Palästina-Fraktion“ der TW um Dieter Kunzelmann während ihres Wirkens zwischen 1969 und Mitte 1970 nicht widersprochen hätte.

6165 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 12-13. 6166 Rabert 1995, S. 144, 148. 6167 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 114.

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9.2 Internationalismus

Die Veränderungen des grenzübergreifenden Wirkungsanspruchs der RAF spiegelten sich wider in Mahlers Stellungnahme vor Gericht vom 9. Okto­ ber 1972 sowie in der auf November 1972 datierten Schrift „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“, mit der Meinhof den Überfall palästinensischer Terroristen auf israelische Sportler während der Olympi­ schen Spiele unter strategischen Gesichtspunkten analysierte. Weil Mahler die Arbeitnehmer in den „Metropolen“ als Profiteure imperialistischer Machinationen, als „Arbeiteraristokratie“6168 betrachtete, mussten sich aus seiner Sicht die Aktivitäten der „Roten Armee Fraktion“ „in erster Linie nach den Notwendigkeiten des bewaffneten Kampfes der proletarischen Völker in den unterentwickelt gehaltenen Gebieten [der Welt bestimmen]. In zweiter Linie haben wir unsere Praxis zu bestimmen nach den heute schon vorhandenen Möglichkeiten, den bewaffneten Widerstand in den Massen hier zu verankern; wobei es unser Ziel sein muss, beide Momente in Übereinstimmung zu brin­ gen.“6169 Den revolutionären Durchbruch versprach sich Mahler insbesondere von einer „unmittelbare[n] und enge[n] Verbindung mit dem revolutionären Kampf des palestinensischen [sic] Volkes um die Widerherstellung sei­ ner Lebensgrundlagen.“6170 Die Palästinenser – und nach ihnen Kämp­ fer aus der Türkei, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien – wür­ den Deutschland „in den permanenten inneren Belagerungszustand verset­ zen.“6171 Es sei daher Aufgabe der politischen Linken in Westdeutschland, ihnen aktiv Unterstützung zu leisten.6172 Mobilisiert sie daneben die Ju­ gend in der „Metropole“, könnte sie laut Mahler schlussendlich „mehr sein, als nur die ‚fünfte Kolonne‘ der nationalen Befreiungsfronten der proletarischen Völker.“6173 Meinhof abstrahierte in ihrer Schrift vom November 1972 einen sozial­ revolutionären „Führungsanspruch“6174 der „Völker der Dritten Welt“6175. Sie sprach von einer „größeren revolutionären Entschlossenheit der dor­

6168 6169 6170 6171 6172 6173 6174 6175

Mahler 1972b, S. 5. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 13. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 163. Ebd.

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tigen Befreiungsbewegungen“6176, welcher sie ein geringes Revolutionspo­ tential der westdeutschen „Massen“ gegenüberstellte.6177 Die Geiselnahme in München habe nicht nur ihren „Krieg von der arabischen Peripherie des Imperialismus ins Zentrum getragen“6178, sondern auch „das Wesen imperialistischer Herrschaft und des antiimperialistischen Kampfes auf eine Weise durchschaubar und erkennbar gemacht wie noch keine revolu­ tionäre Aktion in Westdeutschland“6179. In der Tat äußerten sich „Mut und […] Kraft […], die die Revolutionäre nur aus ihrer Verbun­ denheit mit dem palästinensischen Volk haben können, ein Klassenbe­ wusstsein, das sich seiner historischen Mission, Avantgarde zu sein, klar bewusst ist“6180. Der „Schwarze September“ habe somit „die revolutionäre Strategie des antiimperialistischen Kampfes in der Dritten Welt und in den Metropolen unter den Bedingungen des entfalteten Imperialismus“6181 determiniert – er rangiere auf einem „ungeheuer hohen Niveau […] revolutionärer Praxis“6182. Dieses Zeugnis legte das Fundament für das neue internationa­ listische Selbstverständnis der „Roten Armee Fraktion“: „Wenn die Völker der Dritten Welt die Avantgarde der antiimperia­ listischen Revolution sind, das heißt: die objektive, große Hoffnung der Menschen in den Metropolen auf ihre eigene Befreiung, dann ist es unsere Aufgabe: den Zusammenhang herzustellen zwischen dem Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt und der Sehnsucht nach Befreiung, wo immer sie in den Metropolen auftaucht“6183. Die RAF habe den „Widerstand“ des „Trikont“ bereits „in die Metropo­ le getragen […], […] ihn vermittelt“6184. Nunmehr müsse der gesamte „Kampf in den Metropolen“6185 als „Kampf der internationalen Brigaden

6176 6177 6178 6179 6180 6181 6182 6183 6184 6185

Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 56. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 166. Ebd., S. 153. Ebd., S. 151. Ebd. Ebd., S. 152. Ebd., S. 159. Ebd., S. 167. Ebd., S. 163. Ebd., S. 169.

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[…] für den Sieg im Volkskrieg vor Quang Tri und Hue, Palästina, Liba­ non, Angola, Moçambique, Türkei“6186 wahrgenommen werden. Bei allen Unterschieden in der Bewertung der Situation der „Massen“ in Westdeutschland6187 zeigten Mahler und Meinhof weitgehende Über­ einstimmung hinsichtlich der leitenden Position revolutionärer Kräfte der Dritten Welt. Beide reduzierten die Bedeutung der Ersten Welt im globalen antiimperialistischen „Kampf“ und unterwarfen so die aktionisti­ sche Schlagrichtung der „Roten Armee Fraktion“ der Superiorität auslän­ discher Organisationen: Fortan würde die RAF als „fünfte Kolonne“ oder „internationale Brigade“ firmieren, welche sich nach dem Vorgehen der Sozialrevolutionäre der Dritten Welt richtet und dieses im „Hinterland“ des Imperialismus zu stützen versucht. Aus der „Metropole“ heraus sollte sie damit den – vermeintlich – am ehesten zur globalen Zerschlagung kapitalistischer Macht befähigten Kräften des „Trikont“ zuarbeiten, deren Agieren auch in Westdeutschland den ersehnten Umbruch herbeiführen würde. In der „Metropole“ behilflich sein könnten ihnen Subjekte, in de­ nen – so Mahler – die „Rebellion noch ursprünglich, lebendig vorhanden, noch nicht verdrängt ist“6188, oder Individuen, die – Meinhof zufolge – „im Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt […] politische Identi­ tät“6189 erlangt haben. Der Zirkel verstand sich demnach nicht mehr bloß unverbindlich als Bestandteil sich wechselseitig stärkender weltweiter Kämpfe in der Ersten und Dritten Welt, die in uneingeschränkter Selbstständigkeit und Parität locker durch ein gemeinsames Feindbild miteinander verbunden waren. Ostentativ begab er sich in eine einseitige Abhängigkeit von den Bedürf­ nissen externer Akteure, welche den Eindruck einer Statthalterrolle vermit­ telte. Mahler und Meinhof sahen demnach im globalen Kontext eine nach Erfolgsaussichten bestimmte Hierarchie revolutionärer Kräfte, welche für die „Rote Armee Fraktion“ ausschließlich eine inferiore, rezipierende Posi­ tion bereithielt. Dies stand nicht im Widerspruch, sondern allenfalls im Kontrast zu der für das bundesrepublikanische Staatsgebiet reklamierten Stellung: Während die RAF in Deutschland von ihrem Umfeld die An­ erkennung als voranschreitender Wegbereiter einer politischen wie gesell­ schaftlichen Revolution forderte, gestand sie dieses Privileg im internatio­ nalen Aufbäumen gegen den Imperialismus anderen Entscheidungsträgern

6186 6187 6188 6189

Ebd. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 61, 78-79. Mahler 1972b, S. 13. ID-Verlag 1997, S. 166.

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zu – insbesondere der „Palestine Liberation Organization“. Die deutsche Avantgarde orientierte sich an der – vermeintlichen – Avantgarde im „Tri­ kont“. Obgleich Mahlers und Meinhofs Texte als Positionspapiere angelegt waren und damit nicht zuletzt innerhalb der RAF richtungsweisend sein sollten, wurde die dezidierte Eigendarstellung des Zirkels als Satrap auf­ ständischer Akteure aus den Entwicklungsländern in der theoretischen Arbeit anderer Mitglieder der RAF nicht aufgegriffen und ausgebaut. Die­ se bedienten das grenzübergreifende Selbstverständnis, welches vor den Verhaftungen im Sommer 1972 in den Schriften der Gruppe niedergelegt worden war. Mahlers und Meinhofs internationalistisches Selbstbild, das im Kern einer von außen, durch den Sieg der Völker der Dritten Welt bewirkten Umwälzung in Deutschland die größten Erfolgsaussichten zu­ sprach,6190 fand nicht ungeteilten Zuspruch. Vor allem Gudrun Ensslin trat als Kritikerin hervor. Wie Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig in ihrem Beitrag zu den vom Bundesministerium des Innern publizierten „Analysen zum Terrorismus“ schlüssig vermuteten, musste ihr bewusst geworden sein, dass „die Orientierung der Gruppen­ aktivitäten an den für die Befreiung der Völker der Drittel Welt gegebe­ nen Erfordernissen“6191 auf eine „Unterstellung der Gruppe unter das Oberkommando einer dieser Befreiungsbewegungen oder zur Beendigung der Aktionen und zur Kritik am ‚Konzept Stadtguerilla‘“6192 hinausliefen. In einem Anfang 1973 angefertigten Kassiber konstatierte Ensslin, „der führungsanspruch der 3. Welt ist schon jetzt nicht das letzte wort der revolution – und nur die revolutionäre können genau das jetzt schon wissen – mit marx“6193. Nicht die politischen Ereignisse in der Dritten Welt erhob sie expressis verbis zum Leitbild, sondern die Entwicklungen in den imperialistischen Zentren. Daraus resultierte die „avantgardefunkti­ on des revolutionären kampfs in den metropolen“6194. Für Ensslin stand die Gleichwertigkeit der Geschehnisse in den „Metropolen“ und der „Peri­ pherie“ außer Frage, womit sie ihren Standpunkt ganz im Sinne der im „Konzept Stadtguerilla“ als „antiimperialistische Stadtguerilla“ definierten internationalistischen Gruppenidentität vortrug. Entsprechend deklarierte sie

6190 6191 6192 6193 6194

Ähnlich Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 223. Ebd., S. 71. Ebd., S. 71-72. Bakker Schut 1987, S. 15. Ebd.

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„die sympathie mit den befreiungskämpfen überall dort, wo ein schim­ mer von bewußtsein die imperiale finsternis durchdringt. ob an der trinkhalle in franfurt [sic] oder im palästinensischen lager: die bour­ geoisie ist der gemeinsame feind.“6195 In ihren theoretischen Betrachtungen ließ Ulrike Meinhof unmittelbar danach die grenzübergreifende Komponente des Selbstverständnisses der „Roten Armee Fraktion“ nahezu unbeachtet. Mahler hingegen beharrte auf seiner internationalistischen Sicht und zementierte so den Bruch mit der „Roten Armee Fraktion“.6196 Andreas Baader schloss sich den Auffas­ sungen Gudrun Ensslins an. Gemeinsam verliehen sie dem Internationalis­ mus stärkeres Gewicht in den strategischen Planungen der RAF, ohne die Relevanz eines unter ihrer Anleitung stehenden nationalen Kampfes in Deutschland zu vernachlässigen. In einem Manuskript unterstrich Baader die Notwendigkeit, in Westdeutschland neben dem lokalen „den interna­ tionalen Kampf gegen den Imperialismus zu führen.“6197 Vor dem Hinter­ grund der „Globalstrategie des Imperialismus“6198 müsse „die Perspektive nationaler Kämpfe internationalistisch […] sein“6199, könne doch „erst die Verbindung nationaler Inhalte mit internationalen traditionellen Kampf­ formen die internationalistische revolutionäre Initiative stabilisieren“6200. Vergleichbare Schilderungen, welche im Unterschied zu Mahlers Aussagen vor Gericht sowie zur Schrift „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“ nicht explizit die strategischen Entscheidungen der RAF primär als Vorteil für den „Aufstand“ der „Völker der Dritten Welt“ verstanden wissen wollten, ließen sich Kassibern sowie den Prozesserklärungen der „politischen Gefangenen“ aus den Reihen der Ersten Generation entneh­ men. Ein im Juli 1973 entdecktes, vermutlich von Baader abgefasstes Zel­ lenzirkular determinierte den „grundzug der nächsten jahre […]: amis raus, und das ist die verbindung der intern. mit der nation. linie“6201. Ende 1974 skizzierten Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Carmen Roll in Vorbereitung auf ein Interview mit dem „Spiegel“ einen dualen Zweck

6195 6196 6197 6198 6199 6200 6201

Ebd., S. 16. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 74, 79. Andreas Baader, zit. n. ebd., S. 222. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd. Bundesministerium des Innern 1975, S. 3.

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der „Roten Armee Fraktion“:6202 Einerseits wolle sie in der Bundesrepublik – aufbauend auf „den mobilisierungs- und organisationsprozessen der lega­ len antirevisionistischen linken“6203 – eine „Front“ eröffnen. Andererseits trage sie bei zur „entwicklung der politisch‑militärischen gegenmacht […] im rahmen des weltrevolutionären prozesses der einkreisung der städte durch den politisch-ökonomisch-militärischen befreiungskampf der völker der 3. Welt“6204. Vergleichbar äußerte sich Baader 1975 in einem an andere „politische Gefangene“ adressierten Brief6205 zu den „zwei füsse[n] der stadtguerilla“6206. Ihre Stellung als „protagonist der klassenauseinanderset­ zungen in den metropolen“6207 sei verknüpft mit einem „proletarischen internationalismus“6208, welcher eine „politisch‑militärische funktion für die äusseren linien der offensive proletarischer politik in den befreiungs­ kriegen der völker der dritten welt“6209 sei. Zusammenfassend verwies er auf eine „front des weltweiten bewaffneten kampfes“6210. Der Öffentlichkeit hingegen stellten die Inhaftierten lediglich das inter­ nationalistische Standbein des Zirkels näher vor,6211 welches sie unter dem Begriffspaar „proletarischer Internationalismus“ zu beschreiben pflegten. Im Gerichtsverfahren zum Haftausbruch Baaders verkündete am 13. Sep­ tember 1974 Ulrike Meinhof, „antiimperialistischer kampf hier ist nicht und kann auch nicht sein: nationaler befreiungskampf“6212. Einer „interna­ tionalen organisation der herrschenden eliten im machtbereich des us-im­ perialismus“6213 widersetze sich „der proletarische internationalismus“6214, der auf dem Aufbegehren der Revolutionäre der Dritten Welt sowie auf dem „bewaffneten Kampf“ des Linksterrorismus, der Keimform eines poli­ tischen Umbruchs in den imperialistischen Kerngebieten fuße. Vertiefend bemerkte sie:

6202 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 46. 6203 Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Carmen Roll, zit. n. Fetscher/Münk­ ler/Ludwig 1981, S. 46. 6204 Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Carmen Roll, zit. n. ebd. 6205 Vgl. ebd. 6206 Rote Armee Fraktion 1983, S. 182. 6207 Ebd. 6208 Ebd. 6209 Ebd. 6210 Ebd., S. 184. 6211 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 47. 6212 Rote Armee Fraktion 1983, S. 63. 6213 Ebd. 6214 Ebd.

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„was der metropolenguerilla, der RAF hier, […] die militärische rele­ vanz gibt, ist die tatsache, dass sie im rahmen der befreiungskämpfe der völker der dritten welt, im solidarischen kampf dem imperialismus hier, von wo aus er seine truppen, seine waffen, seine ausbilder, seine technologie, seine kommunikationssysteme, seinen kulturfaschismus zur unterdrückung und ausbeutung der völker der dritten welt expor­ tiert – in den rücken fallen kann. das ist die strategische bestimmung des metropolenguerilla: im hinterland des imperialismus die guerilla, den bewaffneten, antiimperialistischen kampf, den volkskrieg entfes­ seln, in einem langwierigen prozess.“6215 In den Aufzeichnungen eines schriftlichen Austauschs zwischen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe und dem Nach­ richtenmagazin „Der Spiegel“ von Anfang 1975 hieß es: „[D]ie Metropolenguerilla [ist] Stadtguerilla […] im strategischen, im politisch-militärischen Sinn, indem sie die Unterdrückungsmaschine des Imperialismus von innen, in den Metropolen angreift, als Parti­ saneneinheit im Rükken [sic] des Feindes kämpft. Das ist es, was wir unter proletarischem Internationalismus heute verstehen. […] In […] einem Staat [wie der Bundesrepublik] kann die Entwicklung von proletarischer Gegenmacht, Befreiungskampf, die Zerrüttung der herr­ schenden Machtstruktur von Anfang an nur internationalistisch sein, ist nur im strategischen und taktischen Zusammenwirken mit den Befreiungskämpfen der unterdrückten Nationen möglich.“6216 In Übereinstimmung mit dieser Eigendarstellung verlieh Irmgard Möller im Mai 1975 vor Gericht ihrer Überzeugung von der Notwendigkeit sozialrevolutionärer Opposition Ausdruck.6217 Diese werde repräsentiert durch die „Stadtguerilla“, die als „armee in den metropolen […] mit den befreiungsarmeen der völker der dritten welt zusammen kämpft“6218 und folglich „teil der befreiungskämpfe im prozess der weltrevolutionen“6219 ist. Während der Phase des Stammheimer Gerichtsverfahrens, in der Anti­ imperialismus laut Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Lud­

6215 6216 6217 6218 6219

Ebd. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 54-55. Vgl. Rote Armee Fraktion 1983, S. 311. Ebd. Ebd.

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wig „durch prozesstaktische Erwägungen bedingt“6220 allgemein ein größe­ res Gewicht in der Ideologie der Gruppe erlangte, hielt das Konstrukt der Überlegenheit linker Akteure der Dritten Welt schließlich erneut Einzug in das Außenstehenden vorgetragene Gedankengebäude der „Roten Ar­ mee Fraktion“. Zu Beginn des Jahres 1976 gaben die in der Justizvollzugs­ anstalt Stuttgart‑Stammheim einsitzenden führenden RAF‑Mitglieder eine „Erklärung zur Sache“ ab, welche umfassende Einsichten in ihre weltan­ schauliche Legitimation bot. Ausschnitte der Rede fanden sich in der 1977 erstmals veröffentlichten Dokumentensammlung „texte: der RAF“ sowie in der 1997 vom ID-Verlag herausgegebenen Zusammenstellung der zentralen Verlautbarungen des Zirkels. Unter anderem befasste sich der Beitrag mit der „Außerparlamentarischen Opposition“: In ihrer Zer­ fallsphase habe die „68er-Bewegung“ die „kämpfenden völker der dritten welt nur noch zum objekt überheblicher pseudoanalyse“6221 degradiert, „aus der position des chauvinistischen weissen der metropolen über den charakter und die perspektive dieser kämpfe“6222 sinniert. Somit soll die APO nicht begriffen haben, dass die Gewalttaten in den Entwicklungslän­ dern zur „Orientierung und Vermittlung für den Anfang des Befreiungs­ krieges in den Metropolen“6223 und folglich die „kämpfenden völker der dritten welt […] zum hauptkern des weltproletariats geworden sind, d.h. in ihrem aufstand und durch ihn zur avantgarde der proletarischen revolu­ tion“6224. Aufgrund dieses Versäumnisses, so die „politischen Gefangenen“ der RAF, „war ihre Aktion nicht mehr militant, ihre Perspektive nicht revolutionär: bewaffneter Kampf“6225. Wie sich aus den weiteren Passagen der „Erklärung zur Sache“ ergab, sah sich die „Rote Armee Fraktion“ als Gruppe, die diese in der Neuen Linken eingetretene historische Fehlent­ wicklung durchbrechen konnte. Indem sie den im Ausland vorgezeichne­ ten „bewaffneten Kampf“ in die Bundesrepublik getragen habe, sei es ihr gelungen, zu den „[U]ntersten des Weltproletariats“6226 mit „ihre[r] Avant­ garde-Rolle in der weltweiten Auseinandersetzung“6227 aufzuschließen und

6220 6221 6222 6223 6224 6225 6226 6227

Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 74. Rote Armee Fraktion 1983, S. 189. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 239. Rote Armee Fraktion 1983, S. 190. ID-Verlag 1997, S. 237. Ebd., S. 239. Ebd.

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selbst zum Vorreiter zu werden, zur „avantgarde proletarischer politik in den metropolen.“6228 Demnach kehrte die „Rote Armee Fraktion“ nicht zu dem Argumentati­ onsmuster zurück, welches Horst Mahler während seiner Rede 1972 vor Gericht und Ulrike Meinhof im November 1972 gewählt hatten. Vielmehr erläuterten sie, wie die von Gudrun Ensslin 1973 in einem Kassiber ange­ deutete „avantgardefunktion des revolutionären kampfs in den metropo­ len“6229 zustande kam. Die Häftlinge führten zwar eine leitende Position der Revolutionäre der Dritten Welt sowie ein daraus resultierendes Un­ gleichgewicht zwischen den „Kämpfen“ in der Ersten und Dritten Welt an, dies aber in einem geschichtlichen Sinn und nicht – wie zuvor Mahler und Meinhof – im Hinblick auf die gegenwärtige globale Situation und das künftige strategische Vorgehen der Gruppe. Nach ihrem Verständnis war der „Trikont“ nur insofern als Speerspitze zu etikettieren, als sich in ihm die ersten Akteure zur gewaltsamen Opposition gegen den Imperialismus bereitgefunden hatten. Eine über diesen zeitlichen Horizont hinausgehen­ de Avantgardestellung, die unweigerlich in einer Inferiorität der „Roten Armee Fraktion“ gipfeln musste, gestanden sie ihm nicht zu. Diesen Blickwinkel auf die Entwicklungsländer verschmolzen die Inhaf­ tierten im Zuge der „Erklärung zur Sache“ mit dem Anfang 1973 reeta­ blierten internationalistischen Standpunkt des „Konzepts Stadtguerilla“. Zum Zusammenspiel zwischen nationalem und internationalem „Wider­ stand“ fassten sie zusammen, die RAF agiere auf einer weltpolitischen Büh­ ne, welche geprägt werde von mehreren „linien und ihrer dialektik“6230. Zu diesen „Linien“ rechneten die Inhaftierten den „befreiungskrieg, der nationalen und sozialen revolution an der peripherie, die zur militärischpolitischen offensive, zur FRONT gegen den imperialismus, entwickelt ist“6231. Daneben sei von einer „sich durch die ökonomischen, politischen, ideologischen rückwirkungen der politischen krise des kapitals an der peripherie zum antagonismus entwickelnden demarkationslinie zwischen kapital und arbeit in den metropolen“6232 auszugehen. Wiederholt wur­ de dieses subjektivistische Auslegen der Realität im Frühjahr 1976 in einem von den „politischen Gefangenen“ der Ersten Generation erstellten Konzept. Dem Papier zufolge kennzeichnete bereits eine „demarkationsli­

6228 6229 6230 6231 6232

Rote Armee Fraktion 1983, S. 193. Bakker Schut 1987, S. 15. Rote Armee Fraktion 1983, S. 193. Ebd. Ebd.

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nie“6233 die Weltordnung, deren „system der nationalstaaten“6234 die RAF mit einem „system von frontabschnitten im krieg“6235 zwischen dem glo­ balen Proletariat und dem US-Imperialismus verglich. Diese „Demarkati­ onslinie“ verlaufe zwischen dem Norden – den imperialistischen Zentren – und der als Süden begriffenen Dritten Welt.6236 Es sei an der Zeit, eine zweite „Demarkationslinie“ in den „Metropolen“ zu schaffen, eine „FRONT zu entwickeln“6237, welche die „politisch-militärische auseinan­ dersetzung“6238 sucht. Dabei würde es zu einem Polarisieren der bundes­ republikanischen Gesellschaft kommen, durch das „widerstand – illegale struktur – guerilla als die sache jedes einzelnen und aller, die ihre lage im imperialismus erkannt haben, begriffen werden kann“6239. Dieser von der RAF vorangetriebene Prozess, der „hier [in Deutschland] antizipiert [sic] was proletarische politik heute ist: befreiungskrieg“6240, werde „den klassenkampf in den metropolen als teil des befreiungskrieges in der 3. Welt“6241 bestimmen. Nicht nur die Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ schrieben der Solidarität mit dem „Trikont“ erhebliche Relevanz zu. Ebenso maßgeblich war sie für die nach 1972 in die Illegalität abtauchenden Angehörigen der Zweiten Generation, die laut Lutz Taufer „lebten, dachten und kämpf­ ten […] als Teilnehmer eines weltweiten Aufstands gegen das US-impe­ rialistische Weltsystem.“6242 Gegolten habe das Diktum, den im Ausland existierenden sozialrevolutionären Organisationen „mit dem Versuch des bewaffneten Kampfs in den Zentren des Imperialismus […] mit allen Kräften beizustehen.“6243 Das neben Taufer für die Botschaftsbesetzung im Jahre 1975 in Stockholm verantwortlich zeichnende RAF-Mitglied Karl‑Heinz Dellwo sagte aus, er selbst und andere Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ hätten nicht „der verlängerte Arm des Vietcong“6244 sein wollen. Vielmehr habe sich die Gruppe betrachtet als „selbstbestimmter

6233 6234 6235 6236 6237 6238 6239 6240 6241 6242 6243 6244

Ebd., S. 28. Ebd., S. 30. Ebd. Vgl. ebd., S. 28. Ebd. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 88. Ebd., S. 89. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 140.

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Teil innerhalb einer antiimperialistischen Bewegung in der Welt, die von ihrer sozialen und politischen Verortung her links war.“6245 Vergleichbar beschrieb die strategischen Paradigmen der Zweiten Generation ein Akti­ vist der „Haag/Mayer-Bande“, die nach der Aktion in Stockholm entstand und bis 1976 aktiv war. Roland Mayer zufolge sah sich die RAF „ziemlich selbstverständlich als Bestandteil internationaler Befreiungskämpfe“6246. Stefan Wisniewski erläuterte, der „internationalistische Ansatz“ der „Ro­ ten Armee Fraktion“ sei von einer „Einkreisung der [imperialistischen] Städte durch die Dörfer [des Trikont]“6247 ausgegangen. Von dieser Lage habe sich die Gruppe Friktionen im imperialistischen Machtgefüge ver­ sprochen, „in denen wir uns auf Dauer sozial verankern und festkrallen können.“6248 Kaum zu überraschen vermochte das Übereinstimmen der in diesen Haltungen erkennbaren Argumentationsmuster mit der ab 1973 insbesondere von Andreas Baader und Gudrun Ensslin aufgebauten und später von Ulrike Meinhof mitgetragenen internationalistischen Ausrich­ tung der „Roten Armee Fraktion“. Die „politischen Gefangenen“ galten intern uneingeschränkt als Vordenker.6249 Im Unterschied zur Ersten Generation legten ihre Nachfolger den Fokus wesentlich stärker auf die praktische Ebene des Internationalismus. Hatten sich die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ vornehmlich durch schriftli­ che Bekenntnisse und symbolische Taten solidarisch zu Gleichgesinnten im Ausland positioniert, ergab sich für die Zweite Generation die Notwen­ digkeit, tatsächliche Beziehungen ins Ausland aufzubauen. Als Partner wählten sie zuvorderst die von Mahler und Meinhof 1972 glorifizierten Palästinenser. Angeblich verabredete die „Gruppe 4.2.“ gemeinsam mit der Fatah das Entführen eines israelischen Flugzeugs.6250 Die Geiselnahme in der Deutschen Botschaft in Stockholm erfolgte im Anschluss an Planun­ gen, in die der für die PFLP-SOG agierende Linksterrorist „Carlos“ invol­ viert war.6251 Die „Haag/Mayer-Bande“ hielt sich 1976 in einem Lager der Wadi Haddad unterstehenden Splittergruppe auf.6252 Schließlich flankierte die „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ die Geiselnahme Hanns Martin Schleyers durch eine mit der 6245 6246 6247 6248 6249 6250 6251 6252

Ebd. Ähnlich Folkerts/Mayer/Dellwo u.a. 1998, S. 204. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 28. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 23. Ebd. Vgl. Daase 2006, S. 922. Vgl. Schiller/Mecklenburg 1999, S. 121-122. Vgl. Jander 2008, S. 154. Vgl. Peters 2008, S. 426-427.

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RAF abgesprochene gewaltsame Übernahme einer Passagiermaschine der „Lufthansa“.6253 Obgleich die Zweite Generation erfolgreich eine operati­ ve Zusammenarbeit mit palästinensischen Terroristen aus der Taufe hob, verzichtete sie darauf, dies als Nachweis ihres internationalistischen Selbst­ verständnisses agitatorisch zu verwerten. Wer der Forschung zu den grenz­ übergreifenden Kontakten der „Roten Armee Fraktion“ nach 1972 folgt, attestiert der RAF einen ausgeprägten Willen zum Wahren ihrer eigenen Autonomie: Aktionen führte sie nicht im Namen der Palästinenser durch; das 1976 unterbreitete Angebot Wadi Haddads, die „Rote Armee Fraktion“ in die PFLP-SOG zu integrieren, lehnte sie ab. Die Aufnahme und Pflege des Kontakts zu den Palästinensern verband der Zirkel lediglich mit einem Zweck: dem Befreien der in Westdeutschland einsitzenden RAF-Mitglie­ der. Einen Bedarf, ihnen durch aktive, uneigennützige Hilfe zu Fortschrit­ ten im „Widerstand“ gegen die israelische Regierung zu verhelfen, sah die Zweite Generation darin nicht.6254 Der reservierte, eigennützige Umgang mit den Kontakten in den Nahen Osten wirkte angesichts des theoretischen Internationalismus der Inhaf­ tierten der RAF gewissermaßen folgerichtig. Denn abgesehen von Horst Mahlers „Erklärung zum Prozessbeginn“ und Ulrike Meinhofs Schrift „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“ war im Weltbild der „po­ litischen Gefangenen“ ein greifbares Sich-Vernetzen mit Revolutionären der Dritten Welt nie vorgesehen. Bei aller Solidarität mit dem „Trikont“ beharrten insbesondere Andreas Baader und Gudrun Ensslin ab 1973 auf dem Primat der nationalen „Befreiungskämpfe“, welche eigenständig verlaufen und ausschließlich durch ein geteiltes Feindbild – den Imperia­ lismus – an einem Strang ziehen würden. Grenzüberschreitende, antiim­ perialistische Solidarität mit Entwicklungsländern benötigte nach ihrer Lesart keinesfalls eine Kooperation oder Zuarbeit zu den Anliegen auslän­ discher Kräfte. Sie erreichte bereits durch ideelle Gemeinsamkeiten die Stufe einer profitablen gegenseitigen Unterstützung. Der ideologisch‑stra­ tegische Konsens des Zirkels beinhaltete somit nicht die Aufforderung, die auf Westdeutschland konzentrierten Aktivitäten um einen Terrorismus zugunsten sozialrevolutionärer Organisationen des „Trikont“ zu erweitern. Während die „Illegalen“ der Zweiten Generation in der Zusammenar­ beit mit der PFLP‑SOG die Gefahr eines Vereinnahmens und Unterord­ nens in Kauf nahmen, welche die Grenzen dessen zu sprengen drohte, was die Inhaftierten in der Ablehnung des von Mahler und Meinhof 6253 Vgl. Winkler 2008, S. 330, 334. 6254 Vgl. Daase 2006, S. 922-924.

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vertretenen „Führungsanspruchs der Dritten Welt“ postuliert hatten,6255 bewegten sie sich an anderer Stelle innerhalb des Spielraums des in den Haftanstalten festgelegten Internationalismus. In Ihren Fokus gerieten ne­ ben den Palästinensern westeuropäische terroristische Akteure, zu denen sich in der Ideologie der Häftlinge keine derart ausführlichen Vorgaben des Zusammenwirkens fanden, wie sie im Verhältnis zur Dritten Welt und den Palästinensern aufgestellt worden waren. Nach der Freilassung Brigitte Mohnhaupts legte die Zweite Generation das Fundament für eine Strategie, die das internationalistische Selbstverständnis der „Roten Armee Fraktion“ ab Ende der 1970er Jahre entscheidend prägen sollte: der „Wi­ derstand“ einer antiimperialistischen Front in Westeuropa. Volker Speitel berichtete, die Zweite Generation habe noch vor dem „Deutschen Herbst“ den „perspektivischen Zusammenschluss aller illegalen bewaffneten Grup­ pen in Europa“6256 erwogen. Für den Aufbau der Partnerschaft sei ein zweistufiges Verfahren vorgesehen gewesen: Zunächst käme es zu synchro­ nisierten Anschlägen der eingebundenen Gruppen auf das Militär der Vereinigten Staaten oder andere US-amerikanische Ziele. Schließlich ge­ länge man über eine logistische Basis zu gemeinsam unterhaltenen „Kom­ mandos“.6257 Dass sich diese aufgrund der „Offensive `77“ in den Hinter­ grund getretenen Überlegungen erheblich von der Kooperation mit den Palästinensern unterschieden, verdeutlichte auch die Entschlossenheit der Zweiten Generation, das Sich-Verständigen mit anderen westeuropäischen Terroristen außenwirksam in das internationalistische Selbstbild des Zir­ kels einfließen zu lassen. Speitel führte dazu aus, nach dem „getimten Angriff“6258 der beteiligten Akteure „oder zur selben Zeit sollten […] ein paar Journalisten die Möglichkeit haben, auf einer Pressekonferenz mit einem Gremium aus Vertretern der einzelnen Gruppen zu sprechen. Dort sollte […] ein schon vorher vorbereitetes Communique [sic] verteilt werden, das alle Gruppen un­ terzeichnen.“6259 Mitte der 1970er Jahre wirkte sich die für ihr Selbstbild konstitutive Ver­ bundenheit mit ausländischen Revolutionären erstmals auf die Beziehung zwischen „Roter Armee Fraktion“ und „Bewegung 2. Juni“ aus. Zuvor hat­

6255 6256 6257 6258 6259

Vgl. Jander 2008, S. 154. Speitel 1980c, S. 33. Vgl. ebd., S. 33-34. Ebd., S. 33. Ebd., S. 34.

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te sie im Verhältnis beider Akteure keine Rolle gespielt: Die Kongruenzen bis Ende 1972 nahmen ihre Mitglieder nicht anerkennend wahr. Hingegen gerieten die anschließend auftretenden programmatischen Differenzen, welche auf den vor allem in der Propaganda überbordenden „internationa­ len Ankratz“6260 der RAF zurückgingen, zum belastenden Faktor. Laut Ge­ rald Klöpper – spätestens ab Ende 1974/Anfang 1975 Mitglied der B2J6261 – erschien der „Bewegung 2. Juni“ das auf den „Trikont“ bezogene Gebaren der „Roten Armee Fraktion“ „abgehoben“6262. Die B2J gelangte offenbar zu der – unzutreffenden – Überzeugung, dass sich die „RAF […] – schon von ihren intellektuellen Ursprüngen her – im globalen Zusammenhang als verlängerter Arm der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen“6263 verstand. Dies habe einen Kontrast geschaffen zum eigenen Vorgehen: „[W]ir brauchten die Bombardements des vietnamesischen Volkes nicht als unsere Begründung für den Widerstand.“6264 Ralf Reinders pflichtete Klöpper bei, als er 1996 während einer Podiumsdiskussion in der Techni­ schen Universität in Berlin sagte: Die B2J sei nicht gewillt gewesen, „für die 3. Welt stellvertretend Aktionen durchzuführen.“6265 Derartige Kritik blieb sogar Außenstehenden nicht verborgen. Das bei Werner Sauber, einem Mitglied der „Bewegung 2. Juni“,6266 nach seinem Tod im Jahre 1975 aufgefundene Papier „Mit dem Rücken zur Wand?“ widmete sich ausführlich den disparaten Selbstbildern der RAF und der B2J. Zum inter­ nationalistischen Gebaren der „Roten Armee Fraktion“ hielt der Text fest, ihre Mitglieder „machten sich […] als revolutionäre ‚Geheimdiensttruppe [sic] stark, die nur in den Befreiungsbewegungen der drei Kontinente [Afrika, Asien und Südamerika] ihre Basis sah.“6267 Sogleich führte er ergänzend aus: „Ihrem antiimperialistischen Konzept entsprechend wäre es besser ge­ wesen, sich einer Befreiungsbewegung der dritten Welt anzuschließen und von dieser konkreten Basis aus gegen die Metropolen zu kämp­ fen.“6268

6260 6261 6262 6263 6264 6265 6266 6267 6268

Kröcher 1998. Vgl. Dietrich 2009, S. 61. Klöpper 1987, S. 63. Ebd. Ebd. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Vgl. Horchem 1988, S. 55. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 239. Ebd.

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Das Verurteilen der im weltweiten Kontext gesehenen Position der RAF durch die „Bewegung 2. Juni“ war daneben einer Notiz zu entnehmen, welche Gudrun Ensslin am 8. Mai 1976 abfasste. Darin ging sie zum einen auf einen Brief Fritz Teufels, zum anderen auf ein halbseitiges Papier von Ralf Reinders ein. Aus Letztem abstrahierte sie den an die „Rote Armee Fraktion“ gerichteten Vorwurf der B2J: „wir sind zu internationalistisch gewesen, müssen nationaler werden“6269. Unmissverständlich brandmarkte Ensslin diese Sichtweise als reaktionär.6270 Aufrecht erhielt die „Bewegung 2. Juni“ den 1972 in ihrem Programm niedergelegten Internationalismus, der sich im Vergleich zum reklamier­ ten internationalen Wirkungsradius der RAF als „antiimperialistische Stadtguerilla“ deutlich zurückhaltender las. Ihre Aktivisten sahen sich nicht losgelöst vom „Widerstand“ im „Trikont“. Zwar vermochten sie ihm bisweilen exemplarischen Charakter zuzusprechen. Sie sahen aber davon ab, der Verbundenheit mit dem Ausland eine ähnliche Dominanz im Selbstbild der Gruppe einzuräumen, wie sie für die „Rote Armee Fraktion“ charakteristisch wurde. Der Eindruck einer „populären Guerilla“, die lokal am Alltag des gewöhnlichen Bürgers ansetzte und sich dabei als Zahnrad eines imaginären globalen Vormarsches revolutionärer Akteure sah, sollte gewahrt bleiben.6271 Entsprechend dieser Eigeninterpretation verständigte sich die in Westberlin aktive Kerngruppe der B2J im Jahre 1975 während der Lorenz‑Entführung darauf, das Signum der auf Kuba gegründeten „Solidaritätsorganisation der Völker Asiens, Afrikas und Lateinamerikas“ (kurz: „Trikontinentale“) zu übernehmen.6272 Laut Ralf Reinders sollte das Emblem „[a]ls Hinweis für unseren Internationalismus“6273 dienen. In der propagandistischen Aufarbeitung der gegen Peter Lorenz gerichte­ ten Aktion ging der Zirkel lobend auf die Demokratische Volksrepublik Jemen ein, die den anhand der Entführung freigepressten deutschen Links­ terroristen Zuflucht geboten hatte. Die Südjeminiten „wehrten sich tapfer gegen sabotage und überfälle von außen und innen.“6274 Ähnlich positiv stellten sie wenige Monate danach als Reaktion auf den Mord an Werner Sauber die gewaltsame Opposition in Indochina und im Nahen Osten dar: Die „Bewegung 2. Juni“ sei sich bewusst, „dass jede Befreiungsbewegung

6269 6270 6271 6272 6273 6274

Bakker Schut 1987, S. 278. Ebd. Vgl. Klöpper 1987, S. 63. Vgl. auch Rabert 1995, S. 190. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 40; Analyse und Kritik 2004, S. 29. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 40. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 192.

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ihren Fortschritt mit Blut und Schmerz bezahlen muss“6275. Statt „den Kopf […] verschreckt und ängstlich hängen zu lassen“6276, müsse „vom heldenhaften palästinensischen Volk“6277 und vom „Vietcong“ gelernt wer­ den. Schließlich habe der „Viet-cong dreißig Jahre gekämpft […] und hun­ derttausende Schwestern und Brüder verloren“6278. 9.2.3 Divergierende Bedeutung internationaler Kontakte Eine Verbundenheit mit der Dritten Welt charakterisierte ebenfalls die selbst zugewiesene Stellung der „Revolutionären Zellen“. Wie die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ ließen sich die ersten Mitglieder der RZ in ihrer Radikalisierung mitunter von politischen Entwicklungen im Ausland treiben. Augenscheinlich verfolgte Johannes Weinrich in den 1960er Jahren aufmerksam das Kriegsgeschehen in Indo­ china. Eigenen Angaben zufolge zog er aus dem Konflikt das Bedürfnis, politisch nicht passiv zu bleiben. Zu Beginn der 1970er Jahre konkretisier­ te sich diese Haltung mit der Absicht, den Vereinigten Staaten Schaden zuzufügen.6279 Gleichermaßen mobilisierte die – vermeintliche – „Aus­ rottungspolitik der amerikanischen Kriegsverbrecher vom Pentagon und Weißen Haus“6280 Hans-Joachim Klein. Keinesfalls habe er „Zuschauer eines Völkermordes“6281 sein wollen. Überdies sei er nicht umhingekom­ men, sich „mit dem Palästinenser‑Problem etwas näher auseinanderzuset­ zen.“6282 Sein Weggefährte Wilfried Böse galt ihm als Aktivist, der auf umfassende Kenntnisse zu gewaltsamem „Widerstand“ in verschiedenen Regionen der Welt, darunter im „Trikont“, blicken konnte.6283 Neben anderen Entwicklungen im In- und Ausland bewertete Magdalena Kopp den Zweiten Indochinakrieg sowie die Krise im Nahen Osten ebenfalls als wesentliche Ursachen ihres eigenen Hinwendens zur Gewalt:

6275 6276 6277 6278 6279 6280 6281 6282 6283

Ebd., S. 373. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Siemens 2006, S. 121, 126, 187. Klein 1979a, S. 130. Ebd. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 172.

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„Der Krieg in Vietnam, der Schah in Persien, Putsch in Chile, Diktatu­ ren in Griechenland und Spanien, die Vertreibung der Palästinenser aus Israel, der Radikalenerlass und die Notstandsgesetze, die zuneh­ mende Aufrüstung als Folge des Kalten Kriegs, das Gefühl, dass sich der Staat nach rechts entwickelte – auf all das musste man eine Ant­ wort finden.“6284 Aus dieser Politisierung zentraler Figuren der Entstehungsphase der RZ erklärte sich denn auch das Motiv für die ab November 1973 einsetzenden Aktivitäten des Netzwerks. Die Anschläge auf Niederlassungen des Unter­ nehmens ITT wurden realisiert, um nach dem Staatsstreich des Militärs unter Augusto Pinochet die Verbundenheit mit dem Volk Chiles im Allge­ meinen sowie mit dem linksextremistischen chilenischen Akteur „Movimi­ ento de Izquierda Revolucionaria“ (MIR) im Speziellen zu unterstreichen. Die RZ würden „an seiner Seite kämpfen.“6285 Mit dem Angriff auf das chilenische Konsulat in West-Berlin im Juni 1974 untermauerten sie die­ sen ideellen Schulterschluss.6286 In beiden Aktionen stellte sich ein grenz­ übergreifendes Selbstbild dar, das bereits die „Rote Armee Fraktion“ wäh­ rend der „Mai‑Offensive“ des Jahres 1972 sowie die „Bewegung 2. Juni“ mit ihrem Programm in Anspruch genommen hatten. Die „Revolutionä­ ren Zellen“ schlugen eine Brücke zu den „antikolonialen Befreiungsbewe­ gungen, die sich den bewaffneten Kampf auf ihre Fahnen geschrieben hat­ ten.“6287 Namentlich nicht bekannte ehemalige Mitglieder der RZ äußer­ ten 2001 in einem Zeitschriftenartikel, Westdeutschland betrachteten die Angehörigen des Netzwerks „als Teilabschnitt einer weltweiten Front“6288. Ähnlich der RAF und der B2J hingen sie offenbar einer ideologischen Analyse an, derzufolge „die Kämpfe in den Metropolen und in den drei Kontinenten [einander] bedingten und ergänzten“6289. In besagtem Artikel hieß es dazu: „Die Schwächung des Imperialismus an der Peripherie war eine Vor­ aussetzung für den Kampf in den Zentren. Und umgekehrt konnten

6284 Kopp 2007, S. 69. 6285 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 116. 6286 Vgl. ebd., S. 117; Unsichtbare 2022, S. 17. 6287 Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 6288 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 6289 Ebd.

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die trikontinentalen Befreiungsbewegungen ohne den Angriff im Her­ zen der Bestie nicht gewinnen.“6290 Ebendiese im deutschen Linksterrorismus omnipräsente internationale La­ gebeurteilung wirkte sich positiv auf die Beziehung zwischen der sich formierenden Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ und den im Entstehen begriffenen „Revolutionären Zellen“ aus – so jedenfalls las­ sen sich Margrit Schillers Erinnerungen verstehen. Augenscheinlich waren 1973 auch die Angehörigen der „Gruppe 4.2.“ der RAF – unter ihnen Schiller, die eigenen Angaben zufolge eine „starke Sympathie und Verbun­ denheit mit den nationalen Befreiungsbewegungen auf allen Kontinen­ ten“6291 aufwies – nicht abgeneigt, „wegen des Militärputsches in Chile im September 1973“6292 zur Tat zu schreiten. Ernsthaft in Erwägung gezogen haben sollen die Mitglieder ihres Zirkels das Unterbinden von Waffenlie­ ferungen an die chilenische Junta. Diese aus einer internationalistischen Eigenwahrnehmung herrührende Idee schuf im Vorfeld der Aktionen gegen ITT im November 1973 die Grundlage für Diskussionen mit den Initiatoren der RZ.6293 Die Überzeugung, Teil eines globalen Kampfes gegen den imperialisti­ schen Kapitalismus zu sein, schlug sich schon bald nach der Gründung der „Revolutionären Zellen“ in einem Fokussieren auf den Nahost-Konflikt nieder:6294 „Wir fühlten uns solidarisch mit den Palästinensern als unter­ drücktem Volk und akzeptierten ihre Kampfform“6295, so Kopp in der Rückschau. Auch darin zeigten sich Parallelen zu den anderen deutschen linksterroristischen Gruppen. Anschläge der RZ im September 1974 gegen eine Mannheimer Maschinenfabrik sowie das Frankfurter Büro des Unter­ nehmens „EL‑AL“ anlässlich einer angeblichen „Völkermordstrategie der Zionisten gegenüber den Palästinensern“6296 bildeten die Schwerpunktset­ zung ab. Neu an diesem Internationalismus war der Wille, Solidarität mit dem „Trikont“ auch in einen unmittelbaren Beitrag zum Erfolg dortiger bewaffneter Organisationen zu überführen. In den Augen der Gründer der „Revolutionären Zellen“ musste er zu einer tatsächlichen „Unterstützung des emanzipatorischen Widerstandskampfes eines unterdrückten, verrate­

6290 6291 6292 6293 6294 6295 6296

Ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 96. Ebd., S. 131. Vgl. ebd. Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Kopp 2007, S. 71. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 89.

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nen und verkauften Volkes, der Palästinenser,“6297 kommen, die Theorie somit in die Praxis überführt werden. Dadurch „sollte die Perspektive wachsen, Verbindungen herzustellen zwischen den Kämpfen in den Län­ dern und international.“6298 Anders formuliert: Innerhalb der RZ bestand eine Strömung, welche das Netzwerk als Struktur präsentieren wollte, „die es ernst meinte, was die Solidarität mit dem Kampf der Palästinenser anging.“6299 Basierend auf einem Glauben an „die Rechte des palästinensi­ schen Volkes“6300, an „den Krieg für die Menschen in Palästina“6301 hing sie der Ambition an, „ihrem Schicksal gegenüber nicht in Gleichgültigkeit [zu] leben“6302 und dem „Begriff des Internationalismus eine konkrete Ge­ stalt“6303 zu geben. Gepaart mit pragmatischen, auf Existenzsicherung und Ressourcenerweiterung ausgerichteten Erwägungen leitete dieser Idealis­ mus zu der Bereitschaft, die beständige Kooperation mit palästinensischen Revolutionären zu suchen.6304 Mit der Mitte der 1970er Jahre zu beobachtenden Beziehung zur PFLPSOG ging die außerhalb Westdeutschlands agierende Strömung der „Re­ volutionären Zellen“ weit über den im Auftreten der B2J zu verzeich­ nenden Internationalismus hinaus. Übertroffen wurde selbst die „Rote Ar­ mee Fraktion“, unterhielt diese doch ihre Verbindungen zu Wadi Haddad trotz der wiederholt hervorgehobenen Verbundenheit mit dem palästinen­ sischen Volk primär zum eigenen Nutzen. An der Seite der Palästinen­ ser zerstob jedoch rasch „die Vorstellung [der RZ], man könnte aus unterschiedlichen Positionen heraus solidarisch und gleichberechtigt zu­ sammenarbeiten“6305. Ehemalige Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ räumten 2001 ein, „[w]ie im wirklichen Leben bestimmte auch hier der Stärkere, wo’s langging.“6306 Der versuchte Abschuss eines Flugzeugs am Lufthafen Paris-Orly, der Überfall auf die OPEC-Konferenz in Wien sowie das Entführen einer Maschine der „Air France“ nach Entebbe ließen sich als Auftragsarbeiten der von Wadi Haddad gelenkten Organisation bestim­

6297 6298 6299 6300 6301 6302 6303 6304

Brigitte Kuhlmann, zit. n. Schnepel/Wetzel 2001, S. 112. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 316. Kopp 2007, S. 96. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 18. Wilfried Böse, zit. n. Danyluk 2019, S. 286. Kopp 2007, S. 76. Wilfried Böse, zit. n. Danyluk 2019, S. 286. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zel­ len 2001; Kopp 2007, S. 71. 6305 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 6306 Ebd.

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men.6307 Bei allen drei Aktionen unterwarfen sich die beteiligten RZ‑Mit­ glieder Vorgaben und Bedürfnissen eines ausländischen Akteurs. Bewusst avancierten sie damit zu einem „Anhängsel anderer Interessen“6308, einer genuinen „internationalen Brigade […] für den Sieg im Volkskrieg […] [in] Palästina“6309, wie sie Ulrike Meinhof Ende 1972 in ihrem Text „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“ dargelegt hatte. Für die „Revolutionären Zellen“ wurde der von der RAF zeitweise verkündete, von der B2J hingegen stets abgelehnte „Führungsanspruch der Dritten Welt“ Wirklichkeit. Die Entscheidung „[E]inzelne[r] aus dem RZ-Zusammenhang“6310, den Anspruch einer „Front […] mit den Palästinensern“6311 zu verwirklichen, soll von Beginn an Gegenstand kontroverser Diskussionen innerhalb der „Revolutionären Zellen“ gewesen sein. Laut Gerd‑Hinrich Schnepel grün­ dete sich Widerspruch auf der Annahme, die internationalistische „Dimen­ sion […] wäre zu abstrakt und zu weit weg.“6312 Ähnlich äußerte sich Thomas Kram: „Für Außenstehende war schwer nachvollziehbar, was das Ganze sollte.“ 6313 Als Ausfluss dieses Dissenses gesehen werden konnte das fehlende propagandistische Vermarkten der operativen Kontakte zur „Spe­ cial Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ in den schriftlichen Erklärungen des Netzwerks. „Diese Seite der RZ war abgeschottet“6314, erinnerte sich Kram. Ihre Darstellung und Interpretation überließ das Netzwerk anderen Meinungsmachern, darunter die bundesre­ publikanischen Medien. Bereits kurz nach dem Angriff auf die Sitzung der OPEC Ende 1975 in Wien konnten diese verweisen auf die unter anderen von Böse und Kuhlmann getragenen „Fäden des Terrorismus […], die gleich Zündschnüren quer über die Kontinente verlaufen.“6315 Unter Be­ rücksichtigung der internen Kritik wurde die unterordnende Vernetzung mit der PFLP-SOG lediglich beiläufig in einem Interview mit einem of­ fensichtlich der internationalistischen Gruppe angehörenden RZ-Mitglied angedeutet – und zwar in der Broschüre „Holger, der Kampf geht weiter“

6307 Vgl. Klein 1979a, S. 52-53; Horchem 1988, S. 125-126; Kraushaar 2006c, S. 583; Kopp 2007, S. 103-104; Wörle 2008b, S. 265; Kraushaar 2017, S. 276-277. 6308 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 6309 ID-Verlag 1997, S. 169. 6310 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 6311 Ebd. 6312 Ebd. 6313 Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 6314 Ebd. 6315 Der Spiegel 1976a, S. 28.

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von 1975. Der befragte Aktivist berührte einen als richtig empfundenen „Teil unserer Politik“6316, welcher aufbaue auf einem „Internationalismus, wo es primär um die Solidarität mit den Genossen ausländischer Gue­ rillabewegungen geht und die Solidarität mit den kämpfenden Völkern anderer Länder.“6317 Dass es bei diesen Ausführungen blieb, wurde vor dem Hintergrund seiner anschließenden Schilderungen nachvollziehbar. Er räumte ein, das Zusammenwirken mit Kräften außerhalb Deutschlands könnten „viele Genossen nicht verstehen und nicht akzeptieren“6318. Eben­ so würden „die Massen [diesen Schritt] nicht verstehen und […] vorläufig auch nicht interessieren“6319. Eingedenk dieser realistischen Einschätzung zur begrenzten Vermittel­ barkeit eines internationalistischen Selbstbildes beschränkten sich die „Re­ volutionären Zellen“ in ihrer Agitation auf ein zumindest in der extremen Linken salonfähiges6320 antiimperialistisches Gebaren, das dem der RAF inhaltlich glich, jedoch nicht denselben Stellenwert in der Außendarstel­ lung einnahm. In der ersten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ aus Mai 1975 merkten die „Revolutionären Zellen“ nur am Rande an, sie würden sich auf dem Boden Westdeutschlands einer „Perspektive […] der bewaffneten Bekämpfung der chilenischen Faschisten in der ganzen Welt“6321 verschreiben. Eine solche indirekte Unterstützung der Völker im „Trikont“, welche auf das selbstständige Bekämpfen der Gegner sozialrevo­ lutionärer Akteure der Dritten Welt in einem imperialistischen Zentrum abstellte, reklamierten sie ebenfalls in kursorischer Form für den „Kampf“ der Palästinenser. Ausgehend von den zurückliegenden Anschlägen in Mannheim und Frankfurt am Main reihten sie sich ein in die Oppositi­ on gegen den „Ausrottungsfeldzug der Zionisten in Palästina.“6322 Ganz offensichtlich sollte die „Hauptlinie“6323, das Streben nach Anerkennung als „populäre Guerilla“ in „alltäglichen sozialen Kämpfe[n]“6324 auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland, nicht durch ein überbordendes internationalistisches Gebaren gefährdet werden. Das auf nationalen Pro­

6316 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 113. 6317 Ebd. 6318 Ebd. 6319 Ebd. 6320 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 48, 225. 6321 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 89. 6322 Ebd., S. 90. 6323 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 6324 Unsichtbare 2022, S. 20.

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blemstellungen fußende Standbein der „Stadtguerilla“ genoss unverkenn­ bar Vorrang gegenüber dem Zusammenwirken mit Revolutionären im „Trikont“. Insofern standen die RZ mit ihrem propagierten Internationa­ lismus der „Bewegung 2. Juni“ näher als der RAF. Nach der Geiselnahme 1976 in Uganda verlor der strategische Ent­ schluss, Gewogenheit für die bewaffneten Kräfte der Dritten Welt prak­ tisch umzusetzen, innerhalb der RZ zusehends an Gewicht.6325 Untragbar geworden war aus Sicht der Fürsprecher einer nationalen Verankerung des Netzwerks die im deutschen Linksterrorismus bis dahin einmalige Be­ reitwilligkeit,6326 Internationalismus jenseits bekannter Handlungsansätze kontinuierlich Rechnung zu tragen.6327 Ihre Konsequenzen – insbesondere die in Entebbe gescheiterte Flugzeugentführung – hatten einen „massiven Ansehensverlust“6328 hervorgerufen und sich somit nachteilig auf das Ver­ hältnis zum linken Umfeld in Deutschland ausgewirkt. Dies ließ sich nicht zuletzt für die Beziehungen zur „Roten Armee Fraktion“ und zur „Bewegung 2. Juni“ nachzeichnen: Beide Gruppen lehnten die gewaltsa­ me Übernahme einer „Air France“‑Maschine entschieden ab.6329 Mit dem langfristigen Rückzug aus dem Einfluss der PFLP‑SOG tilgten die „Re­ volutionären Zellen“ die eklatante Divergenz, welche sich zwischen der faktischen Subordination einzelner RZ‑Angehöriger unter dem palästinen­ sischen Terrorismus und dem in der Propaganda präsentierten nationalen Beitrag zugunsten ausländischer Revolutionäre aufgetan hatte. Das auf eine unverbindliche Wechselwirkung zwischen den Kämpfen im In- und Ausland pochende Selbstverständnis der RZ offenbarte sich abermals ab Mitte 1976, als das Netzwerk in einer Anschlagsserie Einrich­ tungen des US‑amerikanischen Militärs in Hessen traf. Nach dem Angriff auf Anlagen der US‑Army im Juni 1976 in Frankfurt am Main äußerten die „Revolutionären Zellen“ in einem Tatbekenntnis, die Aktion sei zu sehen als „Teil des weltweiten bewaffneten Kampfes gegen ein System, das in den 200 Jahren seines Bestehens […] Kontinente versklavt und die

6325 Vgl. Schnepel/Villinger/Vogel 2000; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001; Unsichtbare 2022, S. 80. 6326 Vgl. Horchem 1988, S. 125. 6327 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 27; Schmaldienst/Matschke 1995, S. 17; Ehemalige Mitglieder der Revolutio­ nären Zellen 2001; Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. 6328 Pfahl-Traughber 2014a, S. 176. Vgl. auch Möller/Tolmein 1999, S. 84. 6329 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 743-744; Möller/Tolmein 1999, S. 84; Wis­ niewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 45-46; Dellwo 2007a, S. 112; Dellwo/Peter­ sen/Twickel 2007, S. 142.

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ganze Welt ausgeplündert hat.“6330 Die RZ agierten im Hinterhof des von den Vereinigten Staaten geführten Imperialismus, dem Aufmarschgebiet für „die Unterwerfung und Vernichtung der europäischen Völker, der Völker des Nahen Ostens und während des Indochinakriegs, der Völker des Fernen Ostens“6331. Ende 1976 machten die „Revolutionären Zellen“ im Nachgang zu einem Angriff auf die Rhein-Main Air Base erneut ihren Willen zur Unterminierung – vermeintlicher – US-imperialistischer Ma­ chenschaften deutlich. Denn „[m]it dem Imperialismus zu leben, heißt: noch viele Chiles möglich zu machen; zu dulden, dass England weiterhin Nordirland blutig be­ setzt hält; dass die BRD den Revolutionsprozess in Portugal abwürgt. Heißt dem Völkermord an den Palästinensern zuzusehen und ermög­ licht eine ‚Befriedungsstrategie‘ in den südafrikanischen Ländern“6332. Indem die RZ in Westdeutschland Anschläge auf das US-Militär unternah­ men, so ein Selbstbezichtigungsschreiben aus Januar 1977, hätte den USA im Widerstreit zwischen Imperialismus und seinen Gegnern ein Gebiet streitig gemacht werden können, auf „dem sich die US-Armee von ihren Niederlagen, dem revolutionären Widerstand, dem Hass, der ihr in aller Welt entgegenschlägt, erholt, sich regeneriert.“6333 Im November 1978 schrieben sie, die um Befreiung kämpfenden Akteure der Dritten Welt könnten ausschließlich im Zusammenwirken mit einer in den „Metropo­ len“ aktiven internationalistischen Linken einen Erfolg erlangen. Die im Kernbereich des Imperialismus agierenden Sozialrevolutionäre seien um­ gekehrt mit den Kräften des „Trikont“ verbunden.6334 Nicht umhin kamen die RZ, symbolisch ihre in praktischen Fragen reduzierte Solidarität mit der PFLP-SOG zu untermauern: „Der palästinensische Revolutionär Wadi Haddad hat im Rahmen dieses Konzepts, nämlich die ganze Welt zum Aktionsfeld des antiim­ perialistischen Widerstands zu machen, einen Beitrag zur internationa­ len Zusammenarbeit der Befreiungsbewegungen zu leisten, eine große Bedeutung.“6335

6330 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 160. 6331 Ebd. 6332 Ebd., S. 370. 6333 Ebd., S. 371. 6334 Vgl. ebd., S. 208. 6335 Ebd.

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Neben anderen Differenzen beförderte die geschilderte grenzübergreifen­ de Eigendarstellung der „Revolutionären Zellen“ schließlich einen offen ausgetragenen Konflikt mit den in Haft sitzenden Angehörigen der „Roten Armee Fraktion“. In dem ab Dezember 1976 verbreiteten offenen Brief an die RAF warfen die RZ die Frage auf, ob der „Roten Armee Fraktion“ die oppositionellen Initiativen und Kräfte in der Bundesrepublik „nicht wichtig genug [waren], im Rahmen des Internationalismus“6336. Öffentlich äußerte sich die RAF hierzu nicht. Dennoch ließ sich ihre Haltung zu die­ sem Komplex nachzeichnen. Ein von Gudrun Ensslin im internen Diskurs abgefasstes Zellenzirkular sprach sich gegen das als widersprüchlich wahr­ genommene Selbstverständnis der „Revolutionären Zellen“ aus. Eigens verwies es auf die „sache, die bei ihnen falsch ist – was einfach ist: dass’n schmierig diffuser und wo er sich national artikuliert [sic] chauvinistischer po­ pulismus und der internationalismus in ihren texten unverbunden nebeneinanderstehen“6337. Dass die „Rote Armee Fraktion“ demgegenüber von einem engen Wech­ selverhältnis zwischen revolutionärer Gewalt in den Industrie- und Ent­ wicklungsländern ausging sowie Theorie und Praxis in Deutschland al­ lein auf einen internationalen politischen Durchbruch der weltweit Unter­ drückten ausrichtete, machte sie den „Revolutionären Zellen“ als Reaktion auf einen Anschlag verständlich, den RZ-Mitglieder im Februar 1977 zu­ gunsten „politischer Gefangener“ der RAF ausgeführt hatten.6338 Häftlinge der „Roten Armee Fraktion“ monierten am 11. März 1977 die fehlende „internationale vermittlung“6339 der Tat. Offenbar in der Annahme der eigenen strategischen Überlegenheit schrieben sie weiterführend: „revolutionäre politik muss hier von anfang an antiimperialistische politik sein. sie entsteht aus und operiert für den globalen antagonis­ mus – oder sie hat keine strategie. die stadtguerilla entwickelt in den metropolen […] den klassenkrieg und konstituiert im bewaffneten angriff kleiner illegaler gruppen eine internationalistische front gegen den us-imperialismus.“6340

6336 6337 6338 6339 6340

Ebd., S. 175. Bakker Schut 1987, S. 306. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 118. Kommando Holger Meins der Roten Armee Fraktion 1977. Ebd.

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Mit Blick auf die zweite Hälfte der 1970er Jahre konstatierte Peter-Jür­ gen Boock 1981 in einem Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, die programmatische Arbeit der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ habe einer „Zwangsläufigkeit von Fortsetzungen“6341 un­ terlegen. Misst man diese Feststellung am Selbstbild der RAF, so trifft sie nur bedingt zu. Unverändert zeigte sich nach dem „Deutschen Herbst“ im Jahre 1977 der grundsätzliche internationalistische Einschlag der Gruppe. Angesichts seiner herausgehobenen Relevanz in den theoretischen Ausar­ beitungen der Ersten Generation sowie der bereitwilligen Akzeptanz anti­ imperialistischer Deutungsmuster durch die Mitglieder der ihr nachfolgen­ den Zirkel vermochte dies nicht zu verwundern. Weiterhin sah sich die RAF als „antiimperialistische Stadtguerilla“6342 in einem Zusammenhang mit Gleichgesinnten im Ausland. Der den Tod der zentralen Gründer der „Roten Armee Fraktion“ überdauernde „Anspruch, Teil eines weltweiten Kampfes zu sein“6343, erfuhr indes in seiner Begründung und Perspektive eine erhebliche Veränderung, welche das insbesondere von Andreas Baa­ der und Gudrun Ensslin zum Verhältnis zwischen Erster und Dritter Welt wiederholte Primat der nationalen „Befreiungskämpfe“ aktualisierte und erweiterte. 1979 fanden sich die ersten Anzeichen für das Modifizieren des interna­ tionalistischen Selbstbildes der „Roten Armee Fraktion“. In der Erklärung am 20. April 1979 zur Nahrungsverweigerung der „politischen Gefange­ nen“ hieß es, die Inhaftierten der RAF gingen aus von einer „Solidarität mit allen Gefangenen, die angefangen haben, im Knast Widerstand zu leisten.“6344 Dabei bezogen sie sich auf Häftlinge, die „[i]n Irland, Spanien, Italien, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Israel kämpfen“6345. Das in dieser Aufzählung zum Ausdruck kommende Fokussieren auf Westeuro­ pa war nicht zufälliger Natur, merkten die Verfasser des Papiers doch ergänzend an, die Bundesregierung strebe das Etablieren ihres – vermeint­ lich – repressiven Herrschaftsmodells („Modell Deutschland“) in anderen westeuropäischen Staaten an.6346 Die dort in Haftanstalten vorfindbaren Bedingungen seien „von der BRD durchgesetzt worden.“6347 Rund zwei Monate nach Beginn des Hungerstreiks richteten die „Illegalen“ der RAF 6341 6342 6343 6344 6345 6346 6347

Boock/Sternsdorff 1981, S. 114. Boock 1988, S. 97. Boock 1990, S. 125. ID-Verlag 1997, S. 282. Ebd. Vgl. ebd., S. 281. Ebd.

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ihre Gewalt gegen den US‑amerikanischen General Alexander Haig. Im Tatbekenntnis führten sie einen „‚neuen Kurs‘ […] der amerikanischen Strategie“6348 an. Aufgrund der „Befreiungssiege in Südostasien und Afrika hat sich die Front näher an das Zentrum, an die Metropolen selbst herangeschoben und den Rückzug des US-Imperialismus – die sogenannte Verlagerung des stra­ tegischen Schwerpunkts nach Westeuropa – taktisch und strategisch unvermeidlich gemacht.“6349 Deutschland avanciere auf Wunsch der Vereinigten Staaten und vermittels der NATO zur „aggressivsten US-Base“6350, die nicht nur Ausgangspunkt für imperialistische Aktionen gegen den „Trikont“, sondern überdies „ei­ serner Kragen für die angrenzenden Länder“6351 werde. Die 1979 verbreitete Hungerstreikerklärung sowie die Rechtfertigung des gescheiterten Attentats auf Haig lenkten die Aufmerksamkeit zum einen auf eine – angebliche – Dominanz der von den USA abhängigen westdeutschen Regierung in Europa, zum anderen auf eine für die Ver­ einigten Staaten zugenommene geostrategische Bedeutung Westeuropas im globalen Wettstreit zwischen Imperialismus und sozialrevolutionären Kräften. Dieser sich ganz dem „US‑Imperialismus unter seinem Kronprinz BRD in Europa“6352 widmende inhaltliche Zuschnitt hob die Zweite Ge­ neration von den Texten ab, welche die Mitglieder der Ersten Generation in der Haft verfasst hatten. Die Stammheimer „Gefangenen“ waren in erster Linie von einer „Sozialdemokratisierung Europas“6353 ausgegangen, in der die SPD „über die sozialistische internationale“6354 einen „neuen faschismus in europa durchzusetzen“6355 versuche. Mit dem Aufwerten Westeuropas verlieh die Zweite Generation dem „bewaffneten Kampf“ im Kernbereich imperialistischer Herrschaft neues Gewicht, ohne die elemen­ tare Grundkonstante des internationalistischen Selbstbildes der „Roten Armee Fraktion“ zu berühren – das Berücksichtigen der Dritten Welt als peripherer Schauplatz des „Widerstands“ gegen imperialistische Interessen. Dies zeigte der Schlussteil des zum Angriff auf Alexander Haig formulier­ 6348 6349 6350 6351 6352 6353 6354 6355

Ebd. Ebd. Ebd., S. 283. Ebd. Speitel 1980c, S. 33. Ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 27. Ebd.

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ten Schreibens, in dem sie ungebrochen von einer Verbundenheit mit außereuropäischen Revolutionären ausging, darunter die Palästinenser in ihrem „Kampf […] gegen die imperialistische Endlösung“6356. Welche Konsequenzen die „Rote Armee Fraktion“ aus dem Neubewer­ ten des imperialistischen Hauptgebiets im Konflikt zwischen West und Ost sowie Nord und Süd zu ziehen bereit war, deutete sie 1979 lediglich fragmentarisch an. Aus ihrer Sicht kam es darauf an, die „Antiimperialis­ tische Front in den Metropolen“6357 zu errichten und „den bewaffneten Widerstand in Westeuropa“6358 zu organisieren. Auch in diesen Zeilen verband die Zweite Generation existente und neue theoretische Überle­ gungen. Die Entwicklung einer Front gegen den Imperialismus in dessen Kerngebiet hatten 1976 nach dem Verlesen der „Erklärung zur Sache“ bereits die Inhaftierten der Ersten Generation ins Auge gefasst.6359 Anders als die Gründer der RAF, welche sich hinsichtlich der Formierung des „Widerstands“ in der „Metropole“ selbstgenügsam auf den Aktionsraum Westdeutschland fixiert hatten, platzierte die Zweite Generation Mitte 1979 in ihrer Agitation zaghaft die legitimatorische Grundlage für einen Schulterschluss mit anderen westeuropäischen Sozialrevolutionären. Der vor dem „Deutschen Herbst“ lediglich auf praktischer Ebene zu verzeich­ nende Ausbau des grenzübergreifenden Selbstbildes der „Roten Armee Fraktion“ brach sich nun ebenfalls in der Theorie Bahn. Nachdem die an die Öffentlichkeit herangetragene „antiimperialistische Front“ Ende 1979 im internen Diskurs mit konkreten konzeptionellen Annahmen hinterlegt worden war,6360 geriet sie in der Propaganda der Gruppe unter dem bereits von der Ersten Generation bedienten Stichwort des „proletarische[n] Internationalismus“6361 zum zentralen Anliegen. Eine weitere Nahrungsverweigerung der „politischen Gefangenen“ ab Febru­ ar 1981 bot Anlass, die angepasste internationalistische Stellung der „Ro­ ten Armee Fraktion“ in konsolidierter Form schriftlich zu präsentieren. Erneut stand die Feststellung, die „Befreiung hier [ist] vom Befreiungs­ kampf der Völker der Dritten Welt nicht zu trennen“6362, neben der – in eine Verbundenheit mit irischen und palästinensischen Inhaftierten gebetteten – Aufforderung, eine gewaltsame Opposition in Westeuropa zu 6356 6357 6358 6359 6360 6361 6362

ID-Verlag 1997, S. 284. Ebd. Ebd. Vgl. Rote Armee Fraktion 1983, S. 28. Vgl. Wunschik 1997, S. 187. ID-Verlag 1997, S. 287. Ebd.

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organisieren.6363 Als „Basis, auf der die Linien des antiimperialistischen Kampfes vereinheitlicht werden“6364 sollten, schlug die RAF den „Wider­ stand“ gegen den – angeblichen – Imperialismus US‑amerikanischer Pro­ venienz vor.6365 Ihre „Aktiven“ untermauerten diese Proposition, indem sie im Spätsommer 1981 den Luftwaffenstützpunkt bei Ramstein und den US‑General Frederick Kroesen zum Ziel von Anschlägen machten. Ende August 1981 drängten sie darauf, die „Front für die Revolution in Europa [zu] entwickeln“6366 sowie den „Kampf in der Metropole gemeinsam mit den Revolutionären in der Dritten Welt [zu] führen.“6367 Gleiches schrie­ ben sie Mitte September 1981. Die Überzeugung, in Zusammenwirken mit den linken Akteuren im „Trikont“ könne „ein neuer Durchbruch erkämpft werden“6368, kombinierten sie mit der Hoffnung auf eine „revo­ lutionäre Front in Westeuropa“6369. Erstmals benannte die RAF expressis verbis, welche Kräfte die westeuropäische „Front“ konstituieren sollten: „Guerilla, der Kampf der Gefangenen aus der Guerilla, der Kampf der an­ tiimperialistischen Militanten“6370. Augenfällig war das Begrenzen dieser Aufzählung auf mögliche Partner, welche der antiimperialistischen Linie der RAF am ehesten gewogen sein mussten. Wie zuvor die Erste Generati­ on lehnte die Zweite Generation eine Anbindung an Akteure ab, die in gesellschaftlichen Konfliktfeldern in Deutschland agierten. Die zitierten Beiträge der „Roten Armee Fraktion“ aus dem Jahre 1981 lieferten daneben vertiefte Einblicke in die veränderte Sicht des Zirkels auf den Zustand der imperialistischen Zentren. Um seine – infolge der „Befreiungskämpfe“ im Trikont geschmälerte – Machtsphäre zu rekonstru­ ieren, so das Selbstbezichtigungsschreiben zur Aktion gegen die US-Luft­ waffenbasis bei Ramstein, stelle sich der Imperialismus unter US-amerika­ nischer Vorherrschaft auf eine „Kriegsführung an allen Fronten in Euro­ pa und in der Dritten Welt“6371 ein. Der „imperialistische Vernichtungs­ krieg“6372 stehe vor der Rückkehr „aus der Dritten Welt nach Europa […],

6363 6364 6365 6366 6367 6368 6369 6370 6371 6372

Vgl. ebd., S. 287-288. Ebd., S. 287. Ebd. Ebd., S. 289. Ebd. Ebd., S. 290. Ebd. Ebd. Ebd., S. 288. Ebd.

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von wo er ausgegangen war.“6373 Die europäischen „Massen“ erhielten „jetzt eine direkte, körperlich nahe Vorstellung davon, was für Menschen in Afrika, Asien, Lateinamerika seit Hunderten von Jahren Wirklichkeit ist“6374. Dass diese Einschätzungen die in den 1970er Jahren von der RAF in ihren Internationalismus integrierte und zuletzt von Rolf Heißler am 14. September 1981 in einer Prozesserklärung6375 genannte „Hinterland­ theorie“ – also die Deutung der „Metropolen“ als durch den Imperialismus gesichertes Terrain weit hinter der Frontlinie der gewalttätigen Auseinan­ dersetzung zwischen dem Kapital und seinen Feinden – ablösen mussten, sah die Zweite Generation ein. Die Erklärung zum fehlgeschlagenen At­ tentat auf Kroesen verdeutlichte dies. Nicht ohne Fingerzeig auf die eigene Leistung schrieben die „Illegalen“: „Westeuropa ist nicht mehr Hinterland, von dem aus der Imperialis­ mus Krieg führt – es ist nach den Siegen in den Befreiungskriegen in der 3. Welt, nach der Entwicklung der Guerilla in Westeuropa, nach dem Einbruch der imperialistischen Gesamtkrise auch Teil der weltweiten Front geworden.“6376 Bilanzierend ließ sich festhalten: Die „Rote Armee Fraktion“ zementierte 1981 in allen Erklärungen nicht nur das spätestens 1971 mit dem „Konzept Stadtguerilla“ etablierte „dialektische Verhältnis“6377 des Kampfes in den Zentren und Randgebieten des imperialistischen Weltgeschehens. Darüber hinaus festigte sie die gedankliche Relation zwischen dem eigenen Ak­ tionismus und anderen terroristischen Initiativen im (westeuropäischen) Kernbereich des Imperialismus, was sie mit einem Angleichen der Qualität imperialistischer Machtsicherung in den „Metropolen“ an die konfliktrei­ che politische Situation in der Peripherie des Imperialismus begründete. In Anknüpfung an die Verlautbarungen des Jahres 1979 trieb die „Rote Armee Fraktion“ damit die Expansion des internationalen Kontextes ihrer Gewalt sowie des eigenen internationalistischen Selbstbildes voran. Mit anderen Worten: Die Zweite Generation schickte sich an, den Interna­ tionalismus der Ersten Generation in Gestalt einer „Europäisierung“6378 ihrer strategischen Paradigmen zu übertreffen. Dies spiegelte sich auch

6373 6374 6375 6376 6377 6378

Ebd. Ebd., S. 289. Vgl. Wunschik 1997, S. 183. ID-Verlag 1997, S. 290. Ebd., S. 287. Daase 2006, S. 927.

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in dem Versuch wider, den diversen „Widerstandsherden“ gegen den Im­ perialismus einen unterschiedlichen Stellenwert einzuräumen. Während die Erste Generation zur Aufwertung ihrer terroristischen Praxis darum bemüht war, eine Gleichwertigkeit der Kämpfe in der imperialistischen Peripherie und den „Metropolen“ zu suggerieren, beschritt die Zweite Ge­ neration einen anderen Weg. Im Selbstbezichtigungsschreiben zum An­ griff auf Frederick Kroesen gab sie zu verstehen, Westeuropa sei „zum Angelpunkt dafür geworden […], dass der Prozess der Befreiung auf der ganzen, weltweiten Linie wirklich weitergeht.“6379 Die RAF erhob folglich den eigenen Operationsraum zur gegenwärtig entscheidenden Walstatt im Niederringen imperialistischer Macht. Sie stärkte das nationale Standbein der „Stadtguerilla“. Was führende Mitglieder der Ersten Generation im Hinblick auf das von Horst Mahler und Ulrike Meinhof 1972 konstatierte Verhältnis zwischen Erster und Dritter Welt revidiert hatten, kehrte die Zweite Generation nun um. Das Sich-Festlegen der Zweiten Generation auf ein westeuropäisches Zusammengehen sozialrevolutionärer Akteure war bemerkenswert, führte man sich die Erfahrungen vor Augen, welche die RAF in der Interakti­ on mit ideologisch Gleichgesinnten aus Europa gesammelt hatte. Erst 1978/1979 hatte die Zweite Generation mit ihrem Vorhaben, die italieni­ schen „Brigate Rosse“ zu einer Zusammenarbeit zu bewegen, Schiffbruch erlitten.6380 Dabei war ein Sich-Annähern nicht von vornherein ausge­ schlossen gewesen. Zwar hatten sich die BR kritisch zur „Mai‑Offensive“ 1972 positioniert,6381 der vor dem „Deutschen Herbst“ entworfene und laut Volker Speitel an die „Roten Brigaden“ herangetragene Gedanke einer Absprache europäischer Linksterroristen war von ihren Aktivisten aber wohlwollend aufgenommen worden.6382 In dem Austausch der beiden Gruppen ab 1978 verprellte die RAF schlussendlich einen der zentralen genuin linksterroristischen Akteure in Europa aufgrund ihrer avantgardis­ tischen Attitüde und ihrer strukturellen Gegebenheiten.6383 Trotz der hier­ durch erlebten Ernüchterung forcierte die RAF die Idee einer westeuropäi­ schen Front, was mit einem Stilllegen der Beziehungen in den Nahen Osten einherging. Hatte die Zweite Generation nach 1977 noch ausgiebig die Infrastruktur sowie die Kontakte der „Special Operations Group“ der

6379 6380 6381 6382 6383

ID-Verlag 1997, S. 290. Vgl. Wunschik 1997, S. 387-388. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 71. Vgl. Speitel 1980c, S. 34. Vgl. Morucci/Kraatz/Sternsdorff 1986, S. 113; Wunschik 1997, S. 388.

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„Popular Front for the Liberation of Palestine“ beansprucht,6384 verzichte­ te sie ab 1981 offenbar gänzlich auf deren logistische Hilfe.6385 Bezogen auf das internationalistische Selbstbild der „Bewegung 2. Juni“ während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ließ sich ebenfalls von einer Transformation sprechen. Im Unterschied zur „Roten Armee Fraktion“ konnte dieser Prozess allerdings nicht als Ausfluss einer gemeinsamen Wil­ lensbildung gesehen werden. Vielmehr hatte er mehrere diskursive Aus­ gangspunkte. Geschuldet war dies dem räumlichen Zerstreuen der Mit­ glieder der B2J, welche sich Mitte der 1970er Jahre getrennt voneinander und unter differenten Bedingungen im Nahen Osten, in Schweden sowie innerhalb und außerhalb deutscher Haftanstalten aufhielten. Die hieraus erwachsende Zersplitterung in internationalistischen Fragen vermochte die „Bewegung 2. Juni“ nie aufzulösen, im Gegenteil: Die unterschiedli­ chen Positionen zu grenzübergreifender Solidarität trugen zur internen Spaltung der B2J sowie zum Zusammenschluss eines Teils der Gruppe mit der „Roten Armee Fraktion“ bei. Sieht man von einem zuvorderst materiellen Austausch Ende 1974/An­ fang 1975 mit den „Roten Brigaden“ ab,6386 ergab sich für die Gruppe im Zuge und nach der Lorenz‑Entführung eine bis dahin nicht erreichte Verbundenheit mit ausländischen Revolutionären. Aufbauend auf Abspra­ chen mit der PFLP6387 wurden unter anderen die Gründungsmitglieder Gabriele Kröcher-Tiedemann und Ingrid Siepmann in den Südjemen aus­ geflogen. Indem die „Popular Front for the Liberation of Palestine“ die Aufnahme durch die südjeminitische Regierung wunschgemäß ermöglich­ te, realisierte sie die im Programm der „Bewegung 2. Juni“ bekundete Solidarität zwischen den linken Kämpfen in verschiedenen Teilen der Welt. Die befreiten Linksterroristen revanchierten sich augenscheinlich mit einer Bereitschaft zur Teilnahme an den operativen Aktivitäten der PFLP-SOG,6388 womit sie – durchaus ähnlich, jedoch nicht in derselben Intensität wie die Begründer der internationalen Strömung der „Revolu­ tionären Zellen“ – zu einem Anhängsel der Palästinenser gerieten. Ob das Einspannen Kröcher-Tiedemanns und Siepmanns in fremde In­ teressen einem – bei den ersten Mitgliedern der RZ zu beobachtenden

6384 6385 6386 6387 6388

Vgl. Wunschik 1997, S. 388-389; Peters 2008, S. 480, 487. Vgl. Daase 2006, S. 924-925. Vgl. Viett 2007, S. 120; Meyer 2008, S. 338. Vgl. Meyer 2008, S. 346-347. Ähnlich Reinders/Fritzsch 2003, S. 95. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71; Klein/Libération 1978, S. 293-294; Klein 1979a, S. 79, 199; Rabert 1995, S. 207.

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– aufrichtigen Bedürfnis nach Unterstützung der Organisation um Wadi Haddad entsprang und/oder Ergebnis eines Mangels an Alternativen war, welcher sich auf die lange Zeit gekappten Verbindungen6389 zu den Akti­ visten der B2J in Europa stützte, lässt sich nicht abschließend bestimmen. Jedenfalls fiel auf: Die „Bewegung 2. Juni“ brüstete sich in ihrer Propa­ ganda – ähnlich der „Roten Armee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ – nicht mit den Beziehungen zur „Special Operations Group“ der „Popular Front for the Liberation of Palestine“ während der Jahre 1975 und 1976. Folglich flossen sie nicht in das nach außen getragene internationalistische Selbstverständnis der Gruppe ein. Dem direkten Ein­ fluss Wadi Haddads entzog sich die „Bewegung 2. Juni“ erst 1976 nach dem Haftausbruch Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts sowie deren Flucht in den Südjemen. Auf die in einem Lager der PFLPSOG gemeinsam mit Siepmann und Kröcher‑Tiedemann durchlaufene Kampfausbildung folgte vermutlich im Herbst 1976 die Rückreise nach Europa.6390 Wie Quellen zur „Bewegung 2. Juni“ zu entnehmen war, hinterließ der Aufenthalt der aktiven Mitglieder der B2J im Nahen Osten erhebliche Spuren in ihrem strategischen Horizont und Selbstverständnis. Inge Viett zufolge verschob die „Verbindung mit dem Befreiungskampf der Palästi­ nenser unseren politischen Blick hin zu globaleren Betrachtungen“6391. Von Wadi Haddad begünstigt, seien sie vor allem einer „westliche[n] imperiale[n] Politik“6392 gewahr geworden. Intensiver als bislang sollen die Frauen „die außenpolitischen Interessen der BRD […], ihre EuropaPolitik, die Rolle der NATO, die Rolle der BRD in ihr“6393 reflektiert haben. Im Südjemen sei Westdeutschland als „kleine[s] Ungeheuer nun in seinen großen Zusammenhängen“6394 gesehen worden. Vor diesem Hintergrund hätte die „innergesellschaftliche Bewegung“6395 in der Bun­ desrepublik an Relevanz verloren. Sie wirkte „bedeutungslos und ohne Einfluss auf die verhängnisvollen Weichenstellungen in den strategischen [imperialistischen] Zentren“6396, so Viett. „[W]ir […] setzten allein auf uns

6389 6390 6391 6392 6393 6394 6395 6396

Vgl. Viett 2007, S. 160; Meyer 2008, S. 60. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 63-64, 68; Viett 2007, S. 160, 168. Viett 2007, S. 168. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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selbst“6397, nicht mehr auf die Neue Linke in Deutschland. Gabriele Roll­ niks Schilderungen stützten die Angaben ihrer einstigen Mitstreiterin. In der Rückschau auf die Zeit nach ihrem Gefängnisausbruch 1976 hielt sie 2003 im Gespräch mit dem Journalisten Daniel Dubbe fest: „Unsere Vorstellungen hatten sich allmählich verändert. Wir wollten im internationalen Zusammenhang kämpfen. Ein Ziel, auf das wir uns konzentrierten, war, die NATO anzugreifen“6398. An anderer Stelle fügte sie hinzu: „Wir haben gedacht, der Kapitalismus wird eingekreist. Ein Teil ist schon Staatssozialismus, der uns nicht gefiel. Aber zumindest hat dort das Kapital nicht mehr geherrscht. Und dann gab es die Befrei­ ungskämpfe, die reißen auch ein paar Länder aus der kapitalistischen Beherrschung. Wir können im Inneren der Metropolen strategische Angriffe machen, und so kann man vielleicht das Ganze [den Kapi­ talismus] zu einer Umwälzung bringen. Mal gucken, was dann pas­ siert.“6399 Ausführlicher stellten sich die selbstkritischen Erzählungen Rollniks wäh­ rend einer Diskussion mit ehemaligen RAF‑Mitgliedern in den 1990er Jahren dar: „Der Niedergang der [deutschen] Linken […] war unübersehbar. Die weiterkämpfen wollten – und das wollten wir nach unserem Ausbruch aus dem Frauenknast 1976 – mussten neue Bezugspunkte suchen. […] Wir […] fanden es richtig, die Machtstrukturen in der BRD als Teil des imperialistischen Gesamtsystems anzugreifen, unabhängig von den Themen, die die Linke oder die bundesrepublikanische Gesellschaft gerade beschäftigten. Wir wollten nicht am vorherrschenden Bewusst­ sein ansetzen, sondern durch Veränderung der politischen Verhältnis­ se das Bewusstsein verändern. In dieser Loslösung aus den politischen Diskussionen und Prozessen in der BRD und der Orientierung im internationalen Zusammenhang […] sehe ich die Ursache der späteren militaristischen Degenerierung der Stadtguerilla in der BRD.“6400

6397 6398 6399 6400

Ebd., S. 169. Rollnik/Dubbe 2007, S. 69. Ebd., S. 72. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 35.

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Demnach distanzierten sich Kröcher-Tiedemann, Plambeck, Rollnik, Siep­ mann und Viett gedanklich von dem Topos der „populären Guerilla“. Mit der „Zielvorstellung […] eine[r] Weltrevolution“6401 stärkten sie im internen Diskurs das internationalistische Standbein des Selbstbildes der „Bewegung 2. Juni“, was sie in eine Auseinandersetzung mit der „Blues“Strömung der B2J bringen musste. Rückhalt erwarten konnten sie dage­ gen von der in Westdeutschland zurückgebliebenen „Illegalen“ Angelika Goder, die sich eigenen Aussagen zufolge ohnehin „im Zusammenhang der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt“6402 sah. Ihr Umdenken voll­ zogen Kröcher-Tiedemann, Plambeck, Rollnik, Siepmann und Viett ent­ lang eines Themas, das gleichermaßen für die Zweite Generation der „Roten Armee Fraktion“ ab 1979 zum Grundstein ihres zunehmenden Internationalismus werden sollte: die Rolle Westdeutschlands in Europa und im Nordatlantikpakt. Eine weitere Parallele zur späteren Aktualisie­ rung des Internationalismus der RAF zeigte sich in der Abnahme ihrer Verflechtung mit dem palästinensischen „Widerstand“. Augenscheinlich bestand unter den „Illegalen“ der B2J nicht die Bereitschaft, den inzwi­ schen favorisierten Antiimperialismus nach 1976 in einer beständigen operativen Bindung zur PFLP-SOG münden zu lassen. Dies hatte offen­ bar nicht ideologische Gründe. Laut Rollnik ließ die Verschiebung ihrer politischen Perzeption in Richtung Westeuropa die Annahme einer Legi­ timität palästinensischer Gewalt unberührt.6403 Nach wie vor habe das Unterstützen der Palästinenser zu ihrem „Verständnis von Solidarität“6404 gezählt. Till Meyer zufolge zogen sich die „Aktiven“ aus den Kontakten mit Wadi Haddad zurück, um ihre Eigenständigkeit sicherzustellen und ein Ausforschen durch nahöstliche Nachrichtendienste zu vermeiden.6405 Die „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“ beschränkten sich in der Folgezeit augenscheinlich auf ein finanzielles Fördern der „Palestine Liberation Or­ ganization“.6406 Unabhängig von der außerhalb der bundesdeutschen Gefängnisse agie­ renden Kerngruppe der „Bewegung 2. Juni“ und ihren im Nahen Osten aufkommenden Erwägungen zu einem stärkeren internationalistischen Profil des Zirkels erhob die sich um Manfred Adomeit und Norbert

6401 6402 6403 6404 6405 6406

Rollnik/Dubbe 2007, S. 65. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 110. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 79. Ebd. Vgl. Meyer 2008, S. 387-388. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 79; Viett 2007, S. 171; Meyer 2008, S. 389.

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Kröcher formierende schwedische „Auslandsfiliale“6407 der B2J ebenfalls eine grenzübergreifende Agenda zum wesentlichen Motiv ihrer Aktivitä­ ten. 1998 räumte Kröcher rückblickend ein, Intention der Mitglieder sei gewesen, „den Kampf in den Metropolen mit dem der Befreiungsbewe­ gungen in der sogenannten 3. Welt zu verbinden“6408. Das schwedische Königreich habe sich ihnen als idealer Aktionsraum dargestellt, da es mit seiner „liberale[n] Flüchtlingspolitik zu einer internationalen Drehscheibe geworden“6409 war. Anders als die in Westdeutschland verankerten Aktivis­ ten der „Bewegung 2. Juni“ sollen sie Verbindungen zu Palästinensern von Beginn an abgelehnt haben. So berichtete Kröcher von einer – nicht ange­ nommenen – Kontaktaufnahme einer „Gruppe des äußerst dubiosen [pa­ lästinensischen Terroristen] Abu Nidal“6410. Entgegen der ursprünglichen aktionistischen Ausrichtung des Zirkels rückten Adomeit und Kröcher schließlich das Freipressen „politischer Gefangener“ in den Mittelpunkt ihrer Taten.6411 Ihr internationalistischer Einschlag verblasste. Gewichtiger wurde der Internationalismus der B2J überdies in den Überlegungen der in Westdeutschland einsitzenden Inhaftierten des Zir­ kels. Die Auswüchse der grenzübergreifenden Solidarität des deutschen Linksterrorismus, „[d]ie OPEC-Geschichte, Mogadischu und Entebbe“6412, seien aus ihrer Sicht „einfach nicht vermittelbar“6413 gewesen. Diese Wer­ tung habe sich ergeben, weil das praktische Umsetzen eines Internatio­ nalismus durch die „Rote Armee Fraktion“ und die „Revolutionären Zel­ len“ „mit der sozialen Situation der Ausgebeuteten in Deutschland nichts zu tun hatte“6414. Im Gegensatz zu den anderen Häftlingen aus der „Be­ wegung 2. Juni“ verbanden Till Meyer und Andreas Vogel diese Sicht zu einzelnen, im Ausland begangenen Taten nicht mit einer grundsätzli­ chen Kritik am internationalistischen Selbstbild der RAF und der RZ. Vor allem Meyer gelangte in der Haft zu Schlüssen, die Versatzstücken unterschiedlicher Analysen der „Roten Armee Fraktion“ aus der Periode zwischen 1972 und 1976 glichen. Für beide sei die „internationalistische Linie der RAF“6415 maßgeblich geworden: „eine Welt, ein Feind, ein

6407 6408 6409 6410 6411 6412 6413 6414 6415

Kröcher 1998. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Der Spiegel 1979b, S. 47-49. Meyer 2008, S. 388. Ebd. Ebd. Ebd., S. 367.

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Kampf.“6416 Ideologisch hätten sie sich auf den „Kampf der Völker um Befreiung in der dritten Welt“6417 konzentriert, in dem „die Dörfer […] die Metropolen“6418 einkesseln. Meyer und Vogel befürworteten daher das Ansinnen, „im Herzen der Bestie“6419 einen dem „Widerstand“ im „Tri­ kont“ gleichenden „Kampf auf der politischen und auf der militärischen Ebene zu führen“6420. Diese selbst zugewiesene Stellung in einer globalen Umwälzung, welche stark an das von den RAF‑Häftlingen Anfang 1975 gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ erläuterte grenzüber­ greifende Standbein der „Guerilla“ erinnerte, brachte beide in Opposition zur tradierten Eigeninterpretation der „Bewegung 2. Juni“: „Das Konzept ‚Basisguerilla‘ hielten wir […] für gescheitert“6421. Hieraus entsprang ein handfester Meinungsstreit zwischen den Inhaftierten der B2J, in dessen Verlauf beide Seiten ihre Auffassungen unnachgiebig in schriftlichen Bei­ trägen wiederholten. Wie der als „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“ firmierende „Blues“ das von Meyer und Vogel vertretene Selbstbild interpretierte, legte er in seinem Brief an das Ende Januar 1978 abgehaltene „Treffen in TUNIX“ dar. Der RGO zufolge sah deren „Konzept […] aufgrund der Korrumpie­ rung der Massen in der Metropole BRD eine breite Entwicklung proletari­ scher Gegenmacht“ 6422 als ausgeschlossen. Zur „Basis für einen weltweiten revolutionären Kampf“6423 erhebe es die „Völker der Dritten Welt“6424. In dem nach Januar 1978 verbreiteten Pamphlet „Die Welt wie wir sie se­ hen!“ hieß es ergänzend, „die Interessen der Dritten Welt zu vertreten“6425 bedeute, „der verlängerte Arm der Dritten Welt zu sein.“6426 Mit dem an das „Treffen in TUNIX“ adressierten Schreiben und dem später veröffent­ lichten Beitrag „Die Welt wie wir sie sehen!“ gaben sie darüber hinaus ihre Perspektive zu sozialrevolutionärem Internationalismus preis, wobei sie sich grundsätzlich in das programmatische Spektrum des deutschen Linksterrorismus einordneten:

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Ebd., S. 366. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 644. Ebd. Ebd. Ebd., S. 707. Ebd.

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9.2 Internationalismus

„Während z.B. für die RAF der antiimperialistische weltweite Kampf im Vordergrund steht und sie ihre Hoffnungen auf die Kräfte der Drit­ ten Welt setzen, verknüpfen solche Bewegungen wie der 2. Juni und die RZ die Frage des militanten Widerstands mehr mit den täglichen (hiesigen) Problemen des Lebens.“6427 Zweifellos müsse, so der Brief an das „Treffen in TUNIX“, „die praktische Solidarität mit den Völkern der Dritten Welt und deren Befreiungskämp­ fen ein wesentlicher Bestandteil unseres Kampfes sein.“6428 Diese Verbun­ denheit sollte indes ihren Ausdruck finden im „Aufbau einer starken revo­ lutionären Widerstandsbewegung“6429 in Westdeutschland. In Anlehnung an Wladimir Iljitsch Lenin hieß es im Text „Die Welt wie wir sie sehen!“: „Die Weltrevolution kann […] nur siegen, wenn das Proletariat der kapitalistischen Länder den Befreiungskampf der Völker der kolonia­ len und halbkolonialen Länder und das Proletariat der Kolonien und Halbkolonien den Befreiungskampf des Proletariats der kapitalis­ tischen Länder unterstützt […]. D.h. nichts anderes als dass der Kampf in der Dritten Welt und der Kampf in den Industrienationen aufeinan­ der angewiesen ist [sic].“6430 Nachdruck verlieh der „Blues“ seinem internationalistischen Blickwinkel am 22. Januar 1979 während des Gerichtsverfahrens zur Entführung von Peter Lorenz und der Ermordung Günter von Drenkmanns. Wirklich­ keitsfremd sei die Ambition, den „Konflikt in den Industriestaaten […] nur über die außereuropäischen und 3. Welt-Kämpfe wieder aufzubre­ chen“6431. Selbstredend sehe sich die B2J „verbunden und verbündet mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt“6432; die in den Indus­ trie- und Entwicklungsländern agierenden Sozialrevolutionäre verkörper­ ten eine „gemeinsame Front gegn [sic] den Imperialismus und Kapitalis­ mus.“6433 Es sei allerdings „politisch/militärischer Wahnsinn“6434, aus die­ sem Schulterschluss „eine einheitliche Strategie“6435 ableiten und „dabei

6427 6428 6429 6430 6431 6432 6433 6434 6435

Ebd., S. 638. Ebd., S. 645. Ebd. Ebd., S. 703. Ebd., S. 509. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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hauptsächlich die Interessen der 3. Welt vertreten“6436 zu wollen. Die Gewalt der „Bewegung 2. Juni“ könne ausschließlich begriffen werden als „ein besonderer Kampf an einem bestimmten Abschnitt der großen Front“6437, welcher „sich an den Widersprüchen im eigenen Land orien­ tiert“6438. Die von der RGO gegen Meyer und Vogel ins Feld geführten Vorhal­ tungen konnten größtenteils als begründet aufgefasst werden. Meyer und Vogel hingen in der Tat einem Argumentationsmuster an, das Horst Mahler und Ulrike Meinhof 1972 zum Missfallen anderer Gründer der „Roten Armee Fraktion“ bedient hatten. So erklärte Meyer in seiner Autobiographie, damals nahmen er und Vogel an, die „Massen“ in den imperialistischen „Städten“ profitierten durch einen „relativen Wohlstand [von] der Überausbeutung der dritten Welt“6439. Aus der – vermeintlichen – Korrumpierung der Bevölkerung Westdeutschlands6440 leiteten sie eine herausgehobene Rolle der Dritten Welt sowie die Bereitschaft ab, in erster Linie als Spannmann deren revolutionäre Bestrebungen zu stützen. Ihrer Meinung nach befand sich der „Trikont“ im weltweiten Aufbegehren ge­ gen imperialistische Kräfte an der „Hauptkampflinie“6441. Wie Meyer nach seiner Verhaftung im Juni 1978 in Bulgarien unterstrich, plädierte er für das Entzünden eines vollwertigen „Brandherds“ in den „Metropolen“, wel­ cher dem in der Peripherie strategisch in Nichts nachstand. Basierend auf einer „klassenidentität mit den um ihre freiheit und nationale unabhängig­ keit kämpfenden völker [sic] der 3. Welt“6442 sollte sich die „Guerilla“ in Europa gegen imperialistische Macht richten, wobei Meyer insbesondere „US‑Imperialisten“, ihre Bündnisse (unter anderem die NATO) und die ihnen angeblich als „Statthalter“ dienende Bundesregierung als Ziele her­ vorhob.6443 Der „konkrete zusammenhang mit dem befreiungskampf der völker der 3. welt“6444, die „offensiv‑position für den kampf der interna­ tionalen befreiungsfronten“6445 könnte der deutschen „Stadtguerilla“ das

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Ebd., S. 510. Ebd. Ebd. Meyer 2008, S. 366-367. Vgl. ebd., S. 367. Ebd., S. 366. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 204. Vgl. ebd., S. 204-205. Ebd., S. 204. Ebd., S. 205.

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politische Überleben sichern.6446 Zu diesen Betrachtungen, welche nicht nur im Widerspruch standen zum Programm der B2J, sondern auch zu der Ablehnung eines geschwächten „Klassenstandpunkt[s] des Proletariats in den Metropolen“6447 und dem Verurteilen einer gänzlichen „Identifikation mit den Massen der 3. Welt“6448 durch die RAF, merkte Meyer zusammen­ fassend an: „die völker der welt im kampf um soziale revolution auf der einen gegen den imperialistischen moloch auf der anderen seite. das ist der kampf, in dem die zukunft der menschheit liegt!!!“6449 Im September 1978 verlas Meyer vor Gericht detailliertere Ausführun­ gen zu dem von ihm akzeptierten Internationalismus, welcher zulasten eines auf gesellschaftliche Konflikte Westdeutschlands abstellenden Aktio­ nismus ging. Erneut unterstrich er eine Verbindung zwischen dem „Wi­ derstand“ in den imperialistischen Kern- und Randgebieten, wobei er den Kampf im imperialistischen Zentrum als „die strategische Verlängerung des Befreiungskampfes der Völker der 3. Welt“6450 ausgab. Antiimperialis­ mus in Westdeutschland – der Angriff auf die „militärischen, politischen, ökonomischen Instanzen“6451 des Imperialismus – diene der „Vereinheit­ lichung der Front zwischen Imperialismus und Befreiungsbewegungen der 3. Welt mit der Front zwischen Kapital und Arbeit in den Metropo­ len“6452. Neben dem Ausrichten der Praxis an der Entwicklung und den Bedürfnissen der Sozialrevolutionäre im „Trikont“ wurde ersichtlich, dass Meyer die bundesdeutsche Bevölkerung trotz ihrer Etikettierung als Nutz­ nießer globalen Ausbeutens nicht vollkommen abschrieb. Mit der avisier­ ten „Front“ der „Stadtguerilla“ sollte die westdeutsche Gesellschaft einer „Politisierung“6453 zugeführt werden, die „revolutionäre Solidarität und [die] Organisation von proletarischer Macht gegen den Staat“6454 initiiert. Von ihrer einseitigen Fixation auf das räumliche Ausdehnen des Kamp­ fes im „Trikont“ legten Meyer und Vogel abermals 1979 in mehreren schriftlichen Beiträgen Zeugnis ab. „Stadtguerilla“ definierten sie im Au­

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Vgl. ebd., S. 204. Gudrun Ensslin, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 72. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 78. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 205. Ebd., Band 2, S. 562. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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gust 1979 als das „HEREINZIEHEN DER FRONT VON DER PERIPHE­ RIE IN DIE IMPERIALISTISCHEN ZENTREN“6455, welche die „basis imperialistischer raubzüge destabilisiert UND die einkreisung der revolu­ tionären bewegung hier durchbricht.“6456 Ausschließlich der „internatio­ nalismus der metropolen-guerilla“6457 könne die Politik der von der SPD geführten Bundesregierung unterminieren, die einen „prozess der faschi­ sierung“6458 der imperialistischen „Städte“ zur Vorbereitung der „zentren für den sich verschärfenden krieg gegen die völker im süden“6459 stütze. Von einem Anschluss des Linksterrorismus an den „Widerstand“ der Drit­ ten Welt versprachen sich Meyer und Vogel somit die Lösung nationaler und internationaler Missstände. Expliziter trat die hierin sich widerspie­ gelnde avantgardistische Stellung des „Trikont“ in ihrer Stellungnahme vom 6. November 1979 zutage. So vertraten sie eine Meinung, derzufolge „die schlacht gegen den imperialismus nicht in den kernländern, sondern an der peripherie entschieden wird“6460. Die Bundesrepublik sei lediglich „hinterland der aggressiven US‑politik […] gegen die um befreiung kämp­ fenden völker der 3. welt.“6461 Aufgabe der „Stadtguerilla“ müsse es sein, die im „Trikont“ eröffnete „front direkt in die zentren imperialistischer macht“6462 zu transferieren. Obgleich vor allem Meyer beanspruchte, die Strategie der „Roten Armee Fraktion“ als Maßstab zu sehen, unterstri­ chen diese Zeilen einmal mehr Abweichungen vom internationalistischen Selbstbild der RAF. Ganz offensichtlich übernahmen Meyer und Vogel nicht die Positionen der Zweiten Generation der „Roten Armee Frakti­ on“, welche bereits zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Tatbekenntnis zum Anschlag auf Alexander Haig Westeuropa als entscheidenden Schauplatz eines weltrevolutionären Prozesses aufbaute. Erst im Herbst 1980 sprach sich zumindest Till Meyer im Zuge seiner Schlusserklärung im sogenannten Drenkmann-Lorenz-Prozess für einen Internationalismus aus, der sich mit der 1981 verkündeten grenzübergrei­ fenden Selbstinterpretation der Zweiten Generation weitgehend deckte und damit seinen bisherigen Standpunkt verwarf. Dem „US-Imperialis­ mus“ attestierte er nun ebenfalls einen Zustand, in dem ihn „die Weltre­ 6455 6456 6457 6458 6459 6460 6461 6462

Ebd., S. 683. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. Ebd. Die Hervorhebung entspricht dem Original. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 667. Ebd. Ebd.

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volution […] eingekreist hat.“6463 „Das internationale Kräfteverhältnis hat sich […] weltweit zugunsten des Sozialismus verändert“6464. Um dieser Si­ tuation Herr zu werden, stelle sich der Imperialismus auf „eine gewaltsame Lösung seiner enormen und stetig wachsenden […] Schwierigkeiten“6465 ein. Einerseits ziele er auf das Unterdrücken der „zunehmenden Wider­ sprüche […] in den entwickelten Ländern“6466. Zur Abwendung der „Ge­ fahr von Klassenkämpfen in den Metropolen“6467 greife er zu einem Sys­ tem der „präventive[n] Konterrevolution“6468. In Europa etabliert werden würde dieses Modell von der Bundesrepublik – beruhend auf ihrer Stel­ lung als „mächtigste politische, militärische und ökonomische Macht“6469, welche unmittelbar von den Vereinigten Staaten abhängig sei.6470 Anderer­ seits neige der Imperialismus zu einem Krieg,6471 in dem er die „Entschei­ dungsschlacht gegen den Sozialismus“6472 in Westeuropa suchen werde: „[D]as Pentagon verteidigt die USA – aber die Schlacht wird hier stattfin­ den.“6473 Meyer unterstellte den Vereinigten Staaten den Willen, „nötigen­ falls Atomwaffen einzusetzen und dabei die Zerstörung Europas in Kauf zu nehmen.“6474 Diese Bewertung der gegenwärtigen weltpolitischen Lage führte ihn zu einem nationalen Standbein der „Stadtguerilla“, hinter das die Verbunden­ heit mit dem „Trikont“ zurücktrat. Weiterhin zeigte er sich solidarisch mit der Dritten Welt, was insbesondere seine positive Sicht des vietnamesi­ schen Kampfes im Zweiten Indochinakrieg belegte.6475 Indes verzichtete er darauf, sie als tonangebend zu beschreiben. Unübersehbar wurde die­ ses Selbstverständnis in den abschließenden Passagen seines vor Gericht vorgetragenen Einwurfs. Verhindern könne die „Guerilla“ die „Entschei­ dungsschlacht“6476 des Imperialismus, indem sie in Westdeutschland eine

6463 6464 6465 6466 6467 6468 6469 6470 6471 6472 6473 6474 6475 6476

Ebd., S. 900. Ebd., S. 892. Ebd. Ebd. Ebd., S. 894. Ebd., S. 893. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 899. Ebd., S. 893. Ebd. Ebd., S. 897. Vgl. ebd., S. 901. Ebd., S. 903.

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„politisch/militärische Perspektive“6477 vermittelt, „die konkret von der Situation der Menschen hier ausgeht, an den Erfahrungen der Menschen hier ansetzt und diese zum Ausgangspunkt/und Basis des Widerstands entwickelt“6478. Antiimperialistischer „Widerstand“ sei „ihr Kampf und letztlich ihr Sieg“6479. Er könne „nur über den Klassenkampf im eigenen Land“6480 geschaffen werden. Insgesamt, so Meyer, erlaube eine antiimpe­ rialistische Linie, die „Eroberung der politischen Macht, soziale Revolu­ tion weiter zu verfolgen“6481 und zur „Weltrevolution“6482 zu gelangen. Meyers Befürworten einer am Alltag der deutschen „Massen“ ansetzenden „antiimperialistischen Guerilla“ war als einzige Wertung aufzufassen, mit der er vom Selbstbild der Zweiten Generation der „Roten Armee Frak­ tion“ abwich. Die RAF interpretierte ihre antiimperialistische Linie als maßgeblichen Ausgangspunkt, den ihre Umgebung anzunehmen hatte. Meyer selbst gab diese Differenz in seiner Autobiographie zu: „Damit hatte ich direkt auf die internationalistische Strategie der RAF gezielt. Bemerkt hat das allerdings niemand.“6483 Meyers ideologische Kehrtwende kam demnach nicht nur einem SichAnnähern an die RAF, sondern überdies einem Einschwenken auf die Position der „Revolutionäre‑Guerilla‑Opposition“ gleich. Besonders deut­ lich wurde dies aus einem Vergleich seiner Thesen mit dem Schlusswort Ralf Reinders‘ im 1980 beendeten „Drenkmann-Lorenz-Prozess“, welches thematisch an den Beitrag des „Blues“ vom 22. Januar 1979 anknüpfte. Reinders betonte, „die Unterstützung für die Befreiungsbewegungen im Kampf gegen den Imperialismus – und besonders den US-Imperialismus – […] bleibt […] wichtig“6484. Sie könne jedoch nicht „tragende Säule unseres Kampfes gegen die kapitalistische Maschinerie werden“6485, da sie „nicht unsere eigene Unterdrückung [zu] beseitigen“6486 vermöge. Es gelte, „den Klassenkampf hier voranzutreiben“6487 und so das Fundament des Imperialismus zu zersetzen. Folgerichtig behauptete Reinders, „dass

6477 6478 6479 6480 6481 6482 6483 6484 6485 6486 6487

Ebd., S. 902. Ebd. Ebd., S. 903. Ebd., S. 903-904. Ebd., S. 904. Ebd. Meyer 2008, S. 439. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 866. Ebd. Ebd. Ebd., S. 867.

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[…] die Hauptschlacht gegen den Imperialismus, seine totale Niederlage, nur im Herzen der Bestien selbst laufen kann.“6488 Trotz der Kongruenz zwischen Meyers und Reinders‘ Stellungnahmen blieben die sich unter anderem um die Frage des Internationalismus erwachsenen Strömungen der B2J-Häftlinge bestehen, kam doch Andreas Vogel nicht zu denselben Schlüssen wie Till Meyer. Führte man sich den Verlauf der von beiden Lagern ab 1977 geführten Debatte vor Augen, wurde erklärbar, warum sich der dem „Blues“ zuzurechnende Aktivist Klaus Viehmann nach Auflö­ sung der B2J den „Revolutionären Zellen“ anschloss, Vogel hingegen der „Roten Armee Fraktion“ beitrat.6489 Ebenso wenig wie Till Meyer und Andreas Vogel ließen sich die „Ille­ galen“ der „Bewegung 2. Juni“ nach dem Reetablieren ihrer Strukturen Ende 1976 von der Relevanz beeinflussen, welche die „Revolutionäre‑Gue­ rilla‑Opposition“ in Übereinstimmung mit den „Revolutionären Zellen“ einer Stellung des deutschen Linksterrorismus im internationalen Rahmen einräumte. Ihr Votum stand fest: „Für uns hatte der Kampf […] eine ande­ re Stufe erreicht und musste im internationalen Zusammenhang geführt werden.“6490 Wer Gabriele Rollnik folgt, sieht hierin eine positive Auswir­ kung auf die bis dahin angespannte Beziehung zur „Roten Armee Frakti­ on“. Das nach der Rückkehr aus dem Südjemen forcierte Ansinnen einer stärkeren Zusammenarbeit sei aufgekommen, weil die „Illegalen“ der „Be­ wegung 2. Juni“ sich „dem angeglichen [hatten], was wir von der RAF wussten.“6491 Im Vergleich zu der bislang vorrangig national definierten Ausrichtung der B2J habe die „Rote Armee Fraktion“ einer „weitertragen­ de[n] Strategie“6492 angehangen. Auf welche strategischen Überlegungen der RAF Rollnik hier abstellte, erklärte sie anschließend: „Diese Strategie ist stark von den Stammheimern, Andreas, Gudrun, Jan und Ulrike, geprägt worden. Sie schöpften noch aus dem Theo­ riefundus der Studentenrevolution. Die war selbst international orien­ tiert, man denke an den internationalen Vietnamkongress, auf dem die Frage: ‚Wie kämpft man hier in den Metropolen?‘ gestellt wurde. Der intellektuelle Hintergrund war sehr von den Befreiungsbewegun­ gen in der Dritten Welt geprägt.“6493

6488 6489 6490 6491 6492 6493

Ebd., S. 876. Vgl. Meyer 2008, S. 435, 447, 449. Rollnik/Dubbe 2007, S. 81. Ebd., S. 72-73. Ähnlich Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 35. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70-71.

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Ganz offensichtlich hatten sich auch die „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“ mit den öffentlichen Verlautbarungen der Inhaftierten der Ersten Genera­ tion nach 1972 gegenüber Medien und Gerichten befasst und den darin gezeichneten „proletarischen Internationalismus“ der „Stadtguerilla“ als im Grunde akzeptabel eingestuft. Entsprechend gestalteten sich die Inhal­ te des gedanklichen Austauschs, den sie gemeinsam mit Verena Becker und Günter Sonnenberg aus der Zweiten Generation der „Roten Armee Fraktion“ eingingen. Um feststellen zu können, ob die beiden Gruppen „auf einen Nenner“6494 gelangen, diskutierten sie über die „Weltrevoluti­ on […] auf dem Hintergrund der Kräftekonstellation, wie sie […] 1989 dann zerstört wurde.“6495 Dieser Diskurs habe sich den „Illegalen“ der B2J vielversprechend dargestellt: „Daraus zogen wir den Schluss, wir müssen praktisch zusammenkommen.“6496 Nachdem die RAF die Gesprächspart­ ner ausgetauscht hatte, sei die Beziehung am avantgardistischen Gehabe der Zweiten Generation zerbrochen und auf das Niveau der im deut­ schen Linksterrorismus existierenden „Basissolidarität“ zurückgefallen.6497 Gemeinsam mit Till Meyer, den sie 1978 aus der Haft befreiten, setzten sie in der Folgezeit unabhängig von der „Roten Armee Fraktion“ den Auf­ bau einer gegen den Nordatlantikpackt gerichteten internationalistischen Schlagrichtung der B2J fort.6498 Selbst nach den folgenreichen Verhaftun­ gen in Bulgarien stand dieses Projekt im Vordergrund.6499 Bei Ingrid Siep­ mann war in dieser Phase sogar ein Verschärfen der grenzübergreifenden Verbundenheit zu beobachten. Da sie den „bewaffneten Kampf“ in Europa als aussichtslos empfunden habe, setzte sie in letzter Konsequenz in die Tat um, was insbesondere Horst Mahler 1972 theoretisch hergeleitet hatte. Siepmann trat im Nahen Osten an die Seite der Palästinenser.6500 Sicherlich begünstigten die im Konzept der „Bewegung 2. Juni“ ent­ haltenen Parallelen zur RAF das Zusammenführen beider Gruppen im Jahre 1980, wobei die strukturelle Schwäche der B2J wesentlicher Grund bleibt. Jedenfalls übernahm die „Bewegung 2. Juni“ mit der im Unter­ grund abgefassten und insbesondere von ihren weiblichen Inhaftierten gestützten Auflösungserklärung das internationalistische Selbstverständnis der Zweiten Generation. Der Imperialismus strebe danach, „die erneute, 6494 6495 6496 6497 6498 6499 6500

Ebd., S. 70. Ebd. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 73, 79. Vgl. Meyer 2008, S. 392. Vgl. Viett 2007, S. 210. Vgl. ebd., S. 209.

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und dann wohl letzte strategische, militärische niederlage in der 3. welt […] durch die entfesselung des krieges in europa“6501 abzuwenden. Die „Entscheidung in der internationalen Konfrontation“6502 werde sich im imperialistischen Zentrum ereignen, „weil sich die siegreichen […] Befrei­ ungsbewegungen der 3. Welt […] konsolidieren müssen“6503. Die „ganze Linke in Westeuropa“6504 müsse sich daher fragen, ob sie für die „Zerschla­ gung des Staates, Selbstbestimmung, Identität“6505 eintritt oder aber dem Kampf gegen den Imperialismus den Rücken kehrt. Mit der auf diese Fra­ ge von der „Guerilla“ gefundenen Antwort endete das Papier: „EINHEIT IM ANTIIMPERIALISTISCHEN BEWAFFNETEN KAMPF“6506. 9.2.4 Alter und neuer Internationalismus im Wettstreit Was die Zweite Generation der „Roten Armee Fraktion“ zwischen 1979 und 1982 lediglich bruchstückhaft angekündigt hatte, offenbarte der Text „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ 1982 im Detail. Im Anschluss an den „Deutschen Herbst“ im Jahre 1977 habe sich „die Stel­ lung des bewaffneten Kampfs im Zentrum im Rahmen des internationa­ len Klassenkriegs“6507 gewandelt. Vor allem die vietnamesische Wiederver­ einigung habe die zwischen den imperialistischen Zentren und der Peri­ pherie aufgebaute „Konfrontationsstellung: Zentrum des Befreiungskriegs, Front [in der Dritten Welt] und Hinterland“6508 in den Industriestaaten grundlegend verändert. Nunmehr könnten auch die „Städte“ zu einem „Abschnitt […] des Befreiungskriegs“6509, einem Bestandteil „einer einzi­ gen Front“6510 gegen die „ausholende imperialistische Maschine“6511 ausge­ baut werden. Als Selbstverständlichkeit las sich die Aussage der Erklärung,

6501 Bewegung 2. Juni 1980. Wohl aufgrund eines Druckfehlers ist diese Aussage in den Abzügen der Auflösungserklärung aus dem Quellenfundus „Der Blues – Gesammelte Texte der Bewegung 2. Juni“ unvollständig dokumentiert. 6502 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 809. 6503 Ebd. 6504 Ebd. 6505 Ebd. 6506 Ebd. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original. 6507 ID-Verlag 1997, S. 291. 6508 Ebd., S. 294. 6509 Ebd., S. 295. 6510 Ebd. 6511 Ebd., S. 301.

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der „Seite an Seite“6512 mit den aktuellen sozialrevolutionären Bemühun­ gen im „Trikont“ zusammenwirkende Kampf in den „Metropolen“ könne „nur aus seiner eigenen Kraft, aus seiner besonderen Entwicklung und seinen besonderen aktuellen und historischen Bedingungen wirklich zur Front“6513 avancieren. Global gesehen, so die weiteren Inhalte des Beitrags, komme dem westeuropäischen Zentrum eine herausragende Stellung im antiimperialistischen „Widerstand“ zu. Es sei „zu einem Angelpunkt in der weltweiten Auseinandersetzung geworden“6514, über den sich „die Ten­ denz zur Stagnation des globalen Befreiungsprozesses jetzt im Ost-WestGegensatz und durch die Zwänge der staatlichen Entwicklung in den national befreiten Ländern [der Dritten Welt]“6515 aufheben ließe. Nach den Verhaftungen der Jahre 1982 und 1984 formte ein internatio­ nalistisches Selbstverständnis weiterhin die ideologische Rechtfertigung und Praxis der „Roten Armee Fraktion“.6516 1992 schrieb die Dritte Gene­ ration rückblickend, ihre Aktivisten verfolgten die „Perspektive, im gleich­ zeitigen internationalen Kampf den Durchbruch für Befreiung zu schaf­ fen.“6517 Von ihnen wurde die RAF stets im „internationalen Kontext der Befreiungskämpfe begriffen und bestimmt“6518, merkte Birgit Hogefeld übereinstimmend in ihren Erinnerungen an. Die Gruppe habe „immer wieder auf die eskalierende Situation hier und die Schärfe der Entwick­ lung im Trikont hingewiesen“6519. Im Fokus stand jedoch die Lage in den imperialistischen „Metropolen“. Sofern eine alternative „Vorstellung von konkretem Internationalismus“6520 im engeren Umfeld der „Roten Armee Fraktion“ erwuchs, welche – analog der ersten Anschläge der RAF und der RZ in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Indochinakrieg beziehungsweise dem Militärputsch in Chile – zuvorderst die Situation in der Dritten Welt berücksichtigte, sei diese von den „Illegalen“ rigoros abgewehrt worden. So hätten sie sich gegen die Idee gestemmt, im Falle der spätestens von 19836521 an offen „im Raum stehenden und angedroh­

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Ebd., S. 295. Ebd. Ebd., S. 300. Ebd. Vgl. Straßner 2003, S. 299; Daase 2006, S. 926-928. ID-Verlag 1997, S. 417. Hogefeld 1996, S. 105. Ebd., S. 109. Ebd. Vgl. Der Spiegel 1983b.

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ten Militärintervention in Nicaragua gemeinsam und koordiniert einzu­ greifen, um […] zusammen politischen Druck dagegen aufzubauen.“6522 Diese Abwehrhaltung erschien zwangsläufig, übernahm die Dritte Ge­ neration doch annähernd wortgleich die ab 1979 von ihren Vorgängern aus dem internationalen Kontext hergeleiteten strategischen Leitlinien des „bewaffneten Kampfes“ in Deutschland und Europa. Nachweisen lässt sich dies anhand der zentralen Ausführungen, welche die RAF zwischen den Jahren 1985 und 1989 an die Öffentlichkeit brachte. Im Januar 1985 bezog sie unter der Parole „Für die Einheit der Revolutionäre in Westeuropa“ Stellung zu „alle[n] ideologischen Debatten und abstrakten Programme[n] ‚über den Internationalismus‘“6523. Als „materielle Umsetzung des proleta­ rischen Internationalismus, den die Situation heute verlangt“6524, wertete sie „[d]ie Strategie der westeuropäischen Guerilla“6525, die „Zerstörung der imperialistischen Strukturen“6526. Ausgehend von der „Zentralität Westeu­ ropas […] für die Rekonstruktion nach dem Einbruch des internationalen Kräfteverhältnisses durch die Befreiungskämpfe im Süden“6527 müsse es Aufgabe des Linksterrorismus sein, „die politisch‑militärische Front in Westeuropa als Abschnitt des weltweiten Kriegs zwischen Proletariat und imperialistischer Bourgeoisie“6528 zu konstituieren. Ein im September 1985 in der „Zusammen Kämpfen“ abgedrucktes Interview mit den „Aktiven“ der RAF schloss Auswirkungen der propagierten westeuropäischen Ein­ heit terroristischer Sozialrevolutionäre auf die Eigenständigkeit der ver­ bundenen Akteure aus: Nicht existent sei „ein europäisch‑draufgesetztes zentralkommando […], das irgendwelche direktiven und aktionslinien be­ schließt.“6529 Damit bewahrten die „Illegalen“ der Dritten Generation ein Prinzip, welches sich Anfang der 1970er Jahre im internen Dissens um die internationale Position der „Roten Armee Fraktion“ als unumstößlich herauskristallisiert hatte. Auch sie legten größten Wert auf das Vermeiden einer inferioren Stellung der RAF gegenüber ausländischen Interessen. Anfang 1986 – nach der vernichtenden Resonanz zur Ermordung Ed­ ward Pimentals – adressierte die „Kommandoebene“ der „Roten Armee Fraktion“ ein Papier an ihr engeres Umfeld. Unübersehbar trat sie darin 6522 6523 6524 6525 6526 6527 6528 6529

Hogefeld 1996, S. 109. ID-Verlag 1997, S. 330. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 328. Ebd. Zusammen Kämpfen 1985b, S. 8.

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für ein Beibehalten der bisherigen Agenda ein. Grenzübergreifende Solida­ rität bilde „das fundamentale Bewusstsein für den revolutionären Kampf in den Metropolen.“6530 Von Beginn an gelte es, „als internationales Prole­ tariat zu denken und zu handeln“6531, um „die Rekonstruktion der Klasse in den Metropolen als Teil des Weltproletariats“6532 und „die soziale Revo­ lution als Weltrevolution“6533 zu ermöglichen. Wesentlich seien hierbei „politisch-militärische Angriffe gegen […] Machstrukturen“6534 des Impe­ rialismus. Dieses Argumentationsmuster wiederholten die „Illegalen“ in den Tatbekenntnissen zu den Ende der 1980er Jahre begangenen Anschlä­ gen.6535 Wenngleich sie Ende 1989 angesichts des zerfallenden sowjeti­ schen Hegemonialbereichs die Unausweichlichkeit einer Neubestimmung der Basis und des Verlaufs eines sozialrevolutionären Umbruchs eingestan­ den,6536 schrieben sie die westeuropäische „Front“ nicht ab. Nach dem Anschlag auf Alfred Herrhausen verkündete die Dritte Generation: „[N]ur zusammen […] können wir hier in Westeuropa gemeinsam mit den Befreiungskämpfen weltweit einen einheitlichen, internationalen und langandauernden Umwälzungsprozess durchsetzen.“6537 Ausfluss dieser Programmatik waren Beziehungen zu diversen westeuro­ päischen Akteuren des Terrorismus. Zwar überboten sie damit die glei­ chermaßen für die Erste und Zweite Generation prägende praktische in­ ternationale Verbundenheit, politische Erfolge blieben aber auch ihnen verwehrt. Tragfähigkeit erlangte lediglich die Kooperation mit der „Ac­ tion Directe international“. Die Kontakte zur BR-PCC kamen über eine gemeinschaftlich erarbeitete Erklärung sowie eine propagandistisch insze­ nierte Mitverantwortung der „Brigate Rosse“ für den gescheiterten Angriff auf Hans Tietmeyer nicht hinaus. Das Verhältnis zu den spanischen GRA­ PO kulminierte in wechselseitigen Solidaritätsbekundungen.6538 Mit ihrem Internationalismus hob sich die „Rote Armee Fraktion“ auch während der 1980er Jahre deutlich vom Selbstbild der „Revolutionären

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ID-Verlag 1997, S. 359. Ebd., S. 360. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 375, 382, 388. Vgl. ebd., S. 392. Ebd., S. 393. Vgl. Vgl. Bundesministerium des Innern 1989, S. 85, 92; Bundesministerium des Innern 1992, S. 34-35; Straßner 2003, S. 311-312, 315-316.

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Zellen“ ab – dies auf theoretischer und – mehr noch – auf praktischer Ebene. Die RZ gerierten sich zwar ebenfalls als Vertreter einer politischen Verbundenheit, welche auf ideologisch Gleichgesinnte im Ausland zielte. 1983 hoben sie hervor, „[w]ir sind von Herzen internationalistisch. Wir leben, lieben, lachen und kämpfen mit unseren Genossinnen und Genos­ sen aus Westeuropa oder Mittelamerika“6539. Abermals stellten sie 1986 in Anlehnung an den Duktus der RAF heraus, „[k]ämpfende Revolutionä­ re in den Metropolen sind Teil einer internationalen Front gegen den Imperialismus.“6540 Bereits das Gewicht dieser Haltung im eigenen „be­ waffneten Kampf“ auf deutschem Boden stellte sich beiden Akteuren aber unterschiedlich dar. Mitte der 1980er Jahre merkten die „Revolutionären Zellen“ im Selbstbezichtigungsschreiben zum Anschlag auf das Treibstoff­ versorgungsnetz der NATO bei Mörfelden an: „So sicher wir wissen, dass eine revolutionäre Umwälzung hier für die BRD nur international möglich ist und wir uns auch so verstehen, so sicher steht für uns doch der Aufbau regionaler und überregionaler Strukturen im Vordergrund.“6541 Das Priorisieren eines „Aufbaus regionaler und überregionaler Strukturen“ in der Bundesrepublik konnte als Hinweis auf den weiterhin gültigen Beschluss der RZ interpretiert werden, ihr nationales Standbein nicht nur nach den Geschehnissen auf weltpolitischer Bühne, sondern auch – und gerade – nach lokalen deutschen Konfliktfeldern zu determinieren. Aus ihrer Sicht erschöpfte sich der „bewaffnete Kampf“ keinesfalls im Angriff auf imperialistische Strukturen und seinem Zusammenspiel mit Aktivitä­ ten ausländischer Revolutionäre. In aller Deutlichkeit signalisierten sie diese Entscheidung, indem sie 1984 und 1985 dualistische Parolen an das Ende einzelner Selbstbezichtigungsschreiben stellten. Drängte die „Ro­ te Armee Fraktion“ ausschließlich auf eine „antiimperialistische Front“, betonten die RZ eine „Einheit im sozialrevolutionären und antiimperialis­ tischen Kampf“6542. Sie pochten auf die „proletarische Gegenmacht […] [und] die antiimperialistische Front“6543. Anfang 1986 hieß es bei den „Revolutionären Zellen“ schließlich:

6539 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 381. 6540 Ebd., Band 2, S. 535. 6541 Ebd., Band 1, S. 392. 6542 Ebd. Die Hervorhebung ist vom Autor hinzugefügt worden. 6543 Ebd., S. 384.

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„Orientierungspunkt für die westeuropäischen revolutionären Bewe­ gungen kann […] nicht nur der Befreiungskampf der Völker der 3. Welt sein, auch wenn er in der Regel weiter entwickelt ist. Ausgehend von den Verhältnissen hier in den imperialistischen Zentren und auf­ bauend auf den Widersprüchen einer kapitalistischen Metropolenge­ sellschaft, die Entwicklung eines breiten militanten Widerstandspoten­ tials voranzutreiben, ist die primäre Aufgabe der Revolutionäre in der momentanen Phase des Klassenkampfes.“6544 Zur Erfüllung der hier genannten Aufgabe würden die „Revolutionären Zellen“ fortwährend Themen aufgreifen, welche sie zuvor entsprechend „ihrer Bedeutung und Wichtigkeit für die imperialistische Herrschafts­ strategie“6545 und unter Zugrundelegen des „internationalen Zusammen­ hang[s]“6546 als entscheidend klassifiziert hatten. Bedient man an dieser Stelle die im Jahre 1978 von Horst Mahler auf die Gründungsphase der RAF projizierten Kategorien,6547 so müssen die Mitglieder der Dritten Ge­ neration als „Antiimperialisten“, die Aktivisten der RZ dagegen als „Sozial­ guerillas“ und „Antiimperialisten“ gesehen werden. Zu diesem – von den 1970er Jahren an – beobachtbaren Unterschied traten spätestens 1981 Divergenzen im Beurteilen Westdeutschlands als imperialistisches „Subzentrum“. Im Gegensatz zur RAF begründeten die RZ ihren internationalistischen Einschlag nicht mit einer geostrategisch singulären Stellung Deutschlands und Westeuropas als Scheidepunkt in einem – vermeintlichen – globalen Widerstreit zwischen Imperialismus und sozialrevolutionären Kräften. Dementsprechend fehlte in ihren Papie­ ren die Auffassung, terroristische Opposition in den Industriestaaten kön­ ne eine größere Wirkung entfalten als der „Widerstand“ im „Trikont“. „Metropolen“ wie die Bundesrepublik sahen die „Revolutionären Zellen“ als „Frontstaat“ im Ost-West-Konflikt, im Kampf zwischen den imperia­ listischen „Metropolen“ und der Dritten Welt unverändert als „Hinter­ land“.6548 Diese entgegengesetzten Einschätzungen mündeten in differen­ ten Perspektiven. Während die RAF mit ihrem Internationalismus in erster Linie sozialrevolutionäre Aktivitäten im westeuropäischen Ausland

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Ebd., Band 2, S. 535. Ebd., Band 1, S. 378. Ebd. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 182. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 373, 385.

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sowie das „europäische Proletariat“6549 agitatorisch beleuchtete, hielten die „Revolutionären Zellen“ die bereits während der 1970er Jahre gegebene Neigung aufrecht, die Situation der Völker des „Trikont“ als propagandis­ tischen Schwerpunkt zu interpretieren.6550 „Wir sind mitverantwortlich für die Menschen in der dritten Welt, auf deren Kosten wir leben und die täglich verhungern oder ermordet werden“6551, äußerten sie 1981. „Deshalb werden wir nicht aufhören, gegen den US‑Imperialismus […] zu kämpfen.“6552 Bei anderer Gelegenheit – im Mai 1983 – sprachen sie von einer „besondere[n] Solidarität“6553 mit Mittelamerika, weil dieser Raum „Schauplatz imperialistischer Kriegsführung gegen die Befreiungs­ bewegungen“6554 geworden sei. Den zentralen Stellenwert der Entwick­ lungsländer im Selbstbild der RZ machte vor allem ein Papier vom Juni 1984 deutlich. Deren Bevölkerung werde im Vergleich zu den „Massen“ in den imperialistischen „Städten“ stärker durch kapitalistische Fehlentwick­ lungen belastet.6555 Daher verschrieben sich die „Zellen“ dem „Ziel, zu einer tatsächlichen proletarischen Gegenmacht zu werden, die sich eindeutig im Zusammenhang mit den um Befreiung kämp­ fenden Völkern in den Neokolonien des Imperialismus und den jun­ gen sozialistischen Ländern der 3. Welt begreift.“6556 Ohne die „Rote Armee Fraktion“ unmittelbar anzusprechen, kritisierten die RZ schon im Januar 1981 die schwindende Rolle des „Trikont“ in linksextremistischen Analysen sowie deren Konzentration auf die sich zuspitzenden Gegebenheiten in Europa. Nach Meinung ihrer Mitglieder bestand nicht für die westeuropäischen Staaten, sondern auf anderen Kon­ tinenten eine Kriegsgefahr – so in Afrika und Asien.6557 Das zunehmende Berücksichtigen der innereuropäischen Situation spiegele somit einen Eu­ rozentrismus wider, „der die dunklen Befürchtungen vor dem möglichen Übermorgen […] wichtiger nimmt als die Realität der Kriege, die heute

6549 ID-Verlag 1997, S. 331. 6550 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 21, 117-118. 6551 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 373. 6552 Ebd. 6553 Ebd., S. 382. 6554 Ebd. 6555 Vgl. ebd., S. 383. 6556 Ebd. 6557 Vgl. ebd., S. 300.

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bereits in der 3. Welt geführt werden oder unmittelbar bevorstehen.“6558 Daneben bemängelten die „Revolutionären Zellen“ abstrakte Bezugnah­ men auf die „Massen“ des „Trikont“. Bisweilen offen lasse linksextremisti­ sche Politik, welche Völker adressiert werden und in welcher Form sie dem Imperialismus entgegentreten.6559 Vor diesem Hintergrund begreiflich wurde die Bereitschaft der RZ, sich in extenso spezifischen Kalamitäten der Dritten Welt sowie deren Folgen zu widmen. 1982 beschrieben sie die politischen Verhältnisse in El Salvador, was der „Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacio­ nal“ Rückhalt verschaffen sollte.6560 Als Reaktion auf die bisherige grenz­ übergreifende Verbundenheit der deutschen Linken, der „die Lateiname­ rikaner, die Palästinenser, die Iraner stets näher“6561 gewesen seien als „schwarze Widerstandskämpfer“6562, initiierten die RZ 1985 eine bis 1989 anhaltende Kampagne gegen die Innen- und Außenpolitik des südafrika­ nischen Apartheidregimes. Unverkennbar war dabei ihre Solidarität mit den „gegenwärtigen Kämpfe[n] der schwarzen Mehrheit“6563 in Südafrika sowie mit den vom Machtstreben ihrer Regierung betroffenen „Massen“ der „südliche[n] Hemisphäre Afrikas“6564 – darunter die Bevölkerungen Namibias, Angolas, Lesothos und Mosambiks. Zugunsten autochthoner südafrikanischer Frauen verengt wurde dieser breite Fokus in der Erklä­ rung aus dem Jahre 1987 zum Anschlag auf das Unternehmen „Rewe“ sowie in dem 1989 veröffentlichten Text „Was ist das Patriarchat?“.6565 1988 bedachte das Netzwerk in seiner Agitation zur Situation schwarzer Südafrikanerinnen und Südafrikaner den palästinensischen „Widerstand“, da den „Aufständen“ in Afrika und im Nahen Osten ähnliche Ursachen zugrunde lägen.6566 Die 1986 einsetzende „F‑Kampagne“ rückte einerseits sozialpolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik,6567 andererseits ein – vermeintlich – aus der destruktiven imperialistischen Politik hervorge­

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Ebd. Vgl. ebd., S. 297. Vgl. ebd., S. 320-321. Ebd., Band 2, S. 533. Ebd. Ebd., S. 531. Ebd., S. 533. Vgl. ebd., S. 536-537, 582-587. Vgl. ebd., S. 538. Vgl. ebd., S. 540.

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gangenes „Proletariat neuen Typs“6568 in den Mittelpunkt: „die mobilisier­ ten, vertriebenen, entwurzelten Massen der 3. Welt.“6569 Ausgehend von ihrem thematisch weitreichenden Internationalismus verurteilten die „Revolutionären Zellen“ Mitte der 1980er Jahre mehrfach ein in seiner Rechtfertigung eng gefasstes internationalistisches Selbstver­ ständnis, wie es die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ vertrat. Zentraler Vorwurf ihrer Äußerungen war, antiimperialistische Eigenwahr­ nehmung korrespondiere weder mit dem Alltag in den „Metropolen“ noch mit der Lage im „Trikont“. So hielten die RZ im Februar 1985 in einer Stellungnahme zum zurückliegenden Hungerstreik der RAF fest, „Klassenkampf und […] Weltrevolution haben andere Fronten als die Militärblöcke [in Ost und West].“6570 Folglich werde der „wirkliche soziale Krieg gegen die Völker der drei Kontinente und Teile der Klassen in Westeuropa […] nicht von der NATO geführt.“6571 Der Blick sei vielmehr zu lenken auf den Konflikt „oben gegen unten, Ausbeutung, Armut, soziale Verelendung und tägliche[n] Völkermord gegen den Kampf um ein besseres Leben.“6572 Auch in der Propaganda zu Flüchtlingen wollten die „Revolutionären Zellen“ ihren Internationalismus als Gegenentwurf verstanden wissen. Hierbei prangerten sie allerdings nicht expressis verbis die „Rote Armee Fraktion“ an. Der die „F‑Kampagne“ erläuternde „Revo­ lutionäre Zorn“ aus Oktober 1986 beklagte, Antiimperialismus werde in Deutschland nicht jenseits der „beiden Pole der Solidarität mit den Befrei­ ungsbewegungen der 3. Welt und der Bekämpfung der imperialistischen Kriegsmaschinerien“6573 gesehen. Dieses Defizit abzustellen, sei Ziel der RZ.6574 Ihre Mitglieder strebten an, „den Trikont ins Land zu holen, und zwar in Bezug zur konkreten sozialen Wirklichkeit.“6575 Anders als die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ nahmen die „Revolutionären Zellen“ ihren theoretisch niedergelegten Internatio­ nalismus nicht zum Anlass, verstärkt Verbindungen ins Ausland aufzubau­ en. Ihre Kontakte zur PFLP substituierte die RAF durch Beziehungen zu westeuropäischen Terroristen. Die RZ hingegen fassten 1982 den Be­ schluss, selbst die geringwertige Beziehung zur „Organisation Internatio­ 6568 6569 6570 6571 6572 6573 6574 6575

Ebd., S. 542. Ebd. Ebd., Band 1, S. 179. Ebd. Ebd. Ebd., Band 2, S. 542. Vgl. ebd., S. 539. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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naler Revolutionäre“ aufzulösen.6576 Damit sollte eine völlige Eigenstän­ digkeit des Netzwerks sichergestellt werden.6577 Insofern gelangten die „Revolutionären Zellen“ im Laufe der 1980er Jahre endgültig zu einer Hal­ tung, welche die Mitglieder der Ersten Generation der „Roten Armee Frak­ tion“ aufgrund ihrer „ideologische[n] Selbstgenügsamkeit“6578 als akzepta­ bel empfunden hatten. Nach Auffassung der RZ erforderte grenzübergrei­ fende Verbundenheit nicht das unmittelbare Unterstützen von oder Mit­ wirken an ausländischen Strukturen. Vielmehr materialisiere sie sich be­ reits mit Solidaritätsbekundungen und symbolischen Gewalthandlungen. Festzuhalten ist: Die von der „Roten Armee Fraktion“ abweichende Praxis grenzübergreifender Solidarität wurde innerhalb ihrer Beziehung nicht zum belastenden Faktor. Die wiederholt implizit auf die RAF und ihr Um­ feld bezogene Kritik an dem im deutschen Linksextremismus präsenten Internationalismus berührte ausschließlich Aspekte analytischer Natur. 9.2.5 Internationale Verbundenheit in der Krise Nach 1990 rüttelten sowohl die Mitglieder der RAF als auch die „Revo­ lutionären Zellen“ an den Grundfesten ihres jeweiligen grenzübergreifen­ den Selbstverständnisses. Die „Rote Armee Fraktion“ stellte die Anfang der 1980er Jahre zementierten Paradigmen angesichts des unübersehbaren Scheiterns der „westeuropäischen Front“ in Frage.6579 Innerhalb der RZ führte der Tod Gerhard Albartus‘ – einer der energischsten Verfechter der Kooperation mit ausländischen Terroristen – zu einer Kontroverse um den internationalistischen Einschlag des Netzwerks. Die Selbstreflexion durchliefen beide Akteure annähernd zeitgleich. Jedoch erwuchsen daraus weder gemeinsame Diskussionen noch vergleichbare Schlussfolgerungen. Internationalismus schuf somit auch in dieser Phase nicht das Fundament für eine Besserung des Verhältnisses zwischen RAF und „Revolutionären Zellen“. Kritisch betrachtet wurde die bisherige internationale Verbundenheit ab Dezember 1991 zunächst nur von einem Teil der RZ. Die öffentlich ausge­ tragene Debatte stieß der Text „Gerd Albartus ist tot“ an, welcher antiim­ perialistischen Akteuren unterstellte, „unter dem Banner des Internationa­

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Vgl. ebd. Vgl. Kram/Fanizadeh/Villinger 2010. Daase 2006, S. 912. Vgl. Hogefeld 1996, S. 48-49, 53.

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9.2 Internationalismus

lismus eine falsche Einheit“6580 sowie „falsche Harmonievorstellungen“6581 zu suggerieren. Im Kern verwiesen die Autoren auf unüberbrückbare Wi­ dersprüche, die sich hinter dem beschworenen ideellen Zusammenschluss mit nationalen „Befreiungskämpfen“ der Dritten Welt verbergen würden. Basierend auf dem „Bild eines homogenen Befreiungsprozesses“6582 in der Welt hätten die „Revolutionären Zellen“ den „Widerstand“ gegen Fremdbestimmung pauschal als Ausdruck eines sozialrevolutionären Um­ bruchs gedeutet.6583 Die Träger der nationalen Opposition seien daher stets „Adressat internationaler Solidarität“6584 gewesen. Ignoriert habe die­ se Sicht die tatsächlichen Bedingungen und Auswirkungen politischer Umwälzungen in der Dritten Welt. Zum einen gingen Revolutionäre im „Trikont“ oftmals davon aus, „dass […] gegen den Feind alles erlaubt sei, wenn es nur der Sache dient“6585. Dieser Habitus entfalte „die schlimmsten Kräfte“6586, die einen revolutionären Anspruch diskreditierten. Zum ande­ ren erwiesen sich die führenden Figuren der „Befreiungsbewegungen“ nach ihrem Sieg als „Protagonisten brutaler Entwicklungsdiktaturen“6587, welche „den sozialen Gehalt der Revolution in fast allen Fällen“6588 unter­ grieben. Vor allem der von Sozialrevolutionären im Ausland angelegte Maßstab, wonach der Zweck die Mittel heilige, bilde einen Gegensatz zur terroristischen Gewalt der RZ in der Bundesrepublik, der sich nicht aufheben ließe.6589 Gegen die Grundgedanken des Papiers „Gerd Albartus ist tot“ erhob im Mai 1992 eine innerhalb der „Revolutionären Zellen“ existierende „Tendenz für die internationale soziale Revolution“ Einspruch. Sie fa­ vorisierte uneingeschränkt ein „aktives und kritisches Miteinander der Kämpfenden“6590 im In- und Ausland, dem „ein gemeinsamer revolutio­ närer Entwicklungsprozess“6591 entspringen könne. Dem entgegneten die Verfasser des Textes „Gerd Albartus ist tot“, es sei an der Zeit, „eine

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ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 21. Ebd., S. 28. Ebd., S. 27. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 32. Ebd. Ebd., S. 27. Ebd. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58.

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Neubestimmung antiimperialistischer Solidarität“6592 zu wagen. Denn die Machtübernahme linker Revolutionäre im „Trikont“ sowie die daraus fol­ gende Nationenbildung gingen unter anderem einher mit der Abkehr von „ursprünglich formulierten Utopien“6593 sowie mit „nationalistische[r] und rassistische[r] Ausgrenzung anderer“6594. Wie die Begründungen zu den letzten Anschlägen der „Revolutionären Zellen“ in den Jahren 1993 und 1994 vermuten ließen, setzte sich dieses Plädoyer innerhalb der RZ durch. Obwohl sich „Revolutionäre Zellen“ und „Rote Zora“ in den 1990er Jahren thematisch annäherten, griff das Netzwerk lediglich den ge­ gen die bundesrepublikanische Flüchtlingspolitik gerichteten Aktionismus der Frauengruppe auf.6595 Ihre 1995 ostentativ bekundete Solidarität mit dem kurdischen Kampf in der Türkei6596 schlug sich nicht in Aktionen der RZ nieder. Endgültig auf den Prüfstand stellte die Dritte Generation den maßgeb­ lich durch das Pamphlet „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ festgelegten Internationalismus ab April 1992. Als überholt wertete die RAF den bis dahin verfolgten Gedanken, „im gemeinsamen interna­ tionalen Kampf einen Durchbruch für Befreiung zu schaffen“6597. Der Schulterschluss mit ausländischen Gleichgesinnten habe nicht als Gegen­ gewicht zur imperialistischen Aggression dienen können.6598 Trotz dieses Bilanzierens erachteten die „Illegalen“ der RAF eine grenzübergreifende Verbundenheit weiterhin als elementaren Bestandteil des Selbstverständ­ nisses. Diesem sollten allerdings künftig andere Erwägungen zugrunde liegen. So beschrieben sie das Erfordernis, „Kämpfe um Befreiung […] aus dem Selbstbewusstsein der eigenen, speziellen Geschichte der Völker, den authentischen Bedingungen und Zielen“6599 abzuleiten, als Voraussetzung einer „neue[n] internationalen Kraft“6600. Diese Vorstellung präzisierte die „Rote Armee Fraktion“ im Juni und August 1992. Zum nationalen „Fuß“ der „Stadtguerilla“ erhoben sie den Anspruch, eine „soziale Gegenmacht von unten“ mit allen Aktivisten aufzubauen, „die gemeinsam die Proble­

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Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd. Vgl. Revolutionäre Zellen 1993; Revolutionäre Zellen 1994; Rote Zora 1994; Bundesministerium des Innern 1995, S. 33-34. Vgl. Rote Zora 1995. ID-Verlag 1997, S. 410. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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9.3 Revolutionsmodell

me, mit denen sie tagtäglich konfrontiert sind, in die Hand nehmen und für konkrete Lösungen kämpfen“6601. Aus der „alltäglichen Lebensrealität der Menschen“6602 in der „Metropole“ solle eine Kraft entstehen, welche „ihr Gewicht in einen neuen internationalen Umwälzungsprozess einbrin­ gen“6603 kann. Wenngleich nachfolgende Erklärungen der RAF diese konzeptionellen Überlegungen ähnlich vage darlegten,6604 war die Übernahme des bis Ende 1991 beobachtbaren internationalistischen Selbstbildes der „Revolu­ tionären Zellen“ offensichtlich. Was die RZ der RAF 1986 im „Revolutio­ nären Zorn“ vorgeworfen hatten, stellte die Dritte Generation im Zuge ihrer Neuausrichtung ab. Der Anknüpfungspunkt des grenzübergreifen­ den Standbeins – die Absicht, einen Beitrag zu einem weltrevolutionären Umbruch zu leisten – sah die RAF nun in realen Konflikten der deutschen Gesellschaft. Unmissverständlich legte sie dies im März 1994 dar, als sie das Bestreben, die politischen Verhältnisse Deutschlands zu verändern, zur „vordringliche[n] Aufgabe internationalistischer Politik der Linken“6605 erhob. „Da fängt der Internationalismus an“6606, kommentierten die „Ille­ galen“. Wie die „Rote Armee Fraktion“ 1998 in ihrer Auflösungserklärung zugab, vermochte der forcierte Wandel des in den 1980er Jahren geform­ ten Selbstverständnisses „zu einem neuen […] internationalistischen Kon­ zept der Neunziger“6607 den eigenen Niedergang indes nicht zu durchbre­ chen. Auch eine Besserung der Beziehung zu den „Revolutionären Zellen“ löste er nicht aus. 9.3 Revolutionsmodell 9.3.1 Lateinamerikanische Landguerilla und ihr Scheitern Nach dem Erobern der Stadt Santa Clara und der sich anschließenden Flucht Fulgencio Batistas übernahm die Fidel Castro unterstehende „Be­ wegung des 26. Juli“ Anfang 1959 auf Kuba die politische Macht. Voraus­ gegangen war dieser Zäsur ein rund zweijähriger gewaltsamer Aufstand 6601 6602 6603 6604 6605 6606 6607

Ebd., S. 418. Ebd., S. 451. Ebd., S. 453. Vgl. ebd., S. 455, 464. Ebd., S. 496. Ebd. Rote Armee Fraktion 1998, S. 226.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

gegen die diktatorische Regierung in Havanna,6608 welcher als einer der Archetypen des Guerillakriegs gilt.6609 Die hierbei gesammelten Erfahrun­ gen fasste Ernesto Guevara zwischen 1959 und 1963 sowohl dokumenta­ risch in einer später unter dem Titel „Kubanisches Tagebuch“ editierten Artikelserie6610 als auch abstrahierend in den Werken „Der Guerillakrieg“ und „Guerillakrieg – Eine Methode“ zusammen. Vor allem die ab 1960 verbreitete Schrift „Guerillakrieg“ erschien als Beitrag zur Entwicklung einer allgemeinen Theorie des irregulären Kampfführens, welche Guevara Mittel zum Erobern der Herrschaftsgewalt in einem Land war.6611 Akteure aus der Bevölkerung wären in der Lage, so Guevara, einen Krieg gegen militärische Einheiten des Staates siegreich abzuschließen. Nicht erforder­ lich sei, das Eintreten aller Bedingungen für einen Umbruch abzuwarten – der Kampf könne diese schaffen. Bezogen auf die Entwicklungsländer Südamerikas merkte Guevara an, der ländliche Raum bilde den primären Schauplatz für das Agieren der Guerilla.6612 Ausgehend von diesen Paradigmen beschrieb er die zentralen Schritte auf dem Weg zum Erfolg. Anders als der „Partisanenführer und -theoreti­ ker“6613 Mao Tse-tung, dessen theoretische Arbeit Guevara kannte, sah er den Ausgangspunkt revolutionärer Arbeit nicht in einer kommunistischen Partei,6614 sondern in einem Nukleus („foco“), bestehend aus wenigen Kämpfern, die in schwer zugänglichem, ruralem Gelände Rückzugsraum suchen.6615 Einerseits müsse der Guerillero kontinuierlich Angriffe auf die Armee des Feindes unternehmen sowie dessen Infrastruktur durch Sabotageakte unterminieren. Beides zersetze die Moral des Kontrahenten. Andererseits sei ein Aufklären der „Massen“ zu den Absichten und Forde­ rungen des „Widerstands“ unerlässlich. Gewinne man die Loyalität der Bevölkerung, seien zunächst logistische Unterstützungsleistungen, später Massenaktionen in den Zentren des wirtschaftlichen Lebens zu erwarten. Während ihrer militärischen und propagandistischen Aktivitäten konsoli­ diere sich langsam die territoriale, organisatorische und politische Lage der Guerilla. Erlange sie ausreichend Bewaffnung und Kämpfer, solle sie neue Kolonnen bilden, welche ihren Aktionsradius ausdehnen. In der 6608 6609 6610 6611 6612 6613 6614 6615

Vgl. Lahrem 2005, S. 30-38. Vgl. Kraushaar 2006a, S. 32. Vgl. Centro de Estudios Che Guevara/Ocean Press 2011, S. 11. Vgl. Guevara 1998b, S. 142. Vgl. Guevara 1998a, S. 7. Lahrem 2005, S. 79. Vgl. auch Nerb 2008, S. 94-95. Vgl. Lahrem 2005, S. 79; Rübenach 2008a, S. 101, 109-110. Vgl. Guevara 1998a, S. 77.

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9.3 Revolutionsmodell

Schlussphase des „Widerstands“ sei es unumgänglich, einen regulären Krieg gegen schwer verteidigte Gebiete des Feindes auszulösen, der von den genannten irregulären Aktionen im Rücken des Gegners – seinem urbanen Herrschaftsbereich – flankiert werde. Entscheidend war aus Sicht Guevaras darüber hinaus ein Generalstreik der Bevölkerung.6616 Mit der 1963 veröffentlichten Stellungnahme „Guerillakrieg – Eine Me­ thode“ konstatierte Guevara die Anwendbarkeit des von ihm 1960 expli­ zierten Modells der Kubanischen Revolution auf andere Länder Südameri­ kas,6617 was ihm den Vorwurf des Voluntarismus einbrachte.6618 Den süd­ amerikanischen Kontinent kennzeichne eine instabile Balance zwischen der von Unmut getragenen Bevölkerung und oligarchischen Diktaturen, die sich auf Bourgeoisie und Landbesitzer stützten. Die Regierungen wür­ den ihre selbst auferlegten Grenzen der Legalität überschreiten, um dem Drang der „Massen“ entgegenwirken zu können. Da sie die Maske der Demokratie fallen ließen, sei es an der Zeit, gleichermaßen zur Gewalt zu greifen.6619 Der Guerillakrieg erschien Guevara in diesem Zusammenhang besonders geeignet, da das Aufbegehren gegen die Herrschenden notwen­ digerweise das Niederringen der von ihnen zur Unterdrückung eingesetz­ ten Streitkräfte einschließe. Gelingen werde dies nur durch das Schaffen einer populären Gegenarmee. Außerdem könne mit dem auf den ruralen Raum abstellenden kubanischen System eine gesicherte geographische Basis der Revolution etabliert werden, in der sich die Führung des Auf­ stands schützen sowie die Keimform eines neuen Staatsapparates errichten lasse. Für den bewaffneten Kampf spreche zudem das prekäre Dasein la­ teinamerikanischer Bauern, die sich feudalen Strukturen ausgesetzt sähen. Dies könne sich zu Nutze gemacht werden. Als drittes Argument führte Guevara die kontinentale Natur der Befreiungskämpfe in Südamerika an. Dem revolutionären Durchbruch in einem Lande drohe stets Gefahr von außen, so durch den „US-Imperialismus“. Dieser würde unter anderem reaktionäre Staaten gegen die neue Gesellschaft aufstacheln. Der Einheit der repressiven Kräfte sei folglich mit einem Zusammenhalt der revolutio­ nären Akteure zu begegnen. Eine politische Umwälzung müsse in allen Staaten angestrebt werden, in denen die Unterdrückung ein intolerables Maß erreiche.6620

6616 6617 6618 6619 6620

Vgl. ebd., S. 14-18, 78-79. Vgl. Guevara 1998b, S. 143. Vgl. Lahrem 2005, S. 79. Vgl. Guevara 1998b, S. 146-147. Vgl. ebd., S. 151-153.

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Die mit dem Werk „Guerillakrieg – Eine Methode“ unterstellte Über­ tragbarkeit des kubanischen Wegs erwies sich in der Realität als Fehl­ schluss. Im Kongo dirigierte Guevara 1965 eine Formation von mehr als 100 Kubanern, welche an der Seite einheimischer bewaffneter Oppositio­ neller stand. Rasch sah er sich mit Bedingungen konfrontiert, die ihn desil­ lusionierten. Nicht nur mangelte es den lokalen Führern des Widerstands anfangs an der Bereitschaft, seine Einheit in den bewaffneten Kampf einzubinden. Überdies unterschieden sich die strukturellen und personel­ len Gegebenheiten der örtlichen Rebellenorganisationen erheblich vom Zustand der Guerilla, die auf Kuba eine Revolution initiiert hatte. Rück­ blickend stellte Guevara den im Kongo kämpfenden Akteuren ein vernich­ tendes Zeugnis aus. Außerdem räumte er das Scheitern der Kubaner ein, führte dieses allerdings in erster Linie auf äußere Ursachen zurück.6621 Ab November 1966 unternahm er in Bolivien erneut einen Versuch, auf frem­ dem Boden eine irreguläre Kampfeinheit zu konsolidieren und zu lenken. Zwar gelang ihm dieses kurzfristige Ziel; die Guerilla vermochte es aber nicht, nachhaltige Unterstützung der Landbevölkerung zu gewinnen.6622 Damit fehlte eine von Guevara selbst in seiner Schrift „Der Guerillakrieg“ definierte Voraussetzung für den strategischen Erfolg.6623 Im Oktober 1967 wurde er gefangen genommen und in der bolivianischen Ortschaft La Higuera erschossen.6624 Obgleich die Geschehnisse im Kongo und in Bolivien die von Guevara begründete „Foquismo“ Mitte der 1960er Jahre widerlegten, fand sie grö­ ßere Beachtung innerhalb wie außerhalb der bundesrepublikanischen Stu­ dentenbewegung. Bezug genommen wurde dabei allerdings weniger auf Ernesto Guevaras Arbeit. Die Aufmerksamkeit richtete sich primär auf das in Deutschland erstmals Anfang 1967 vom „Trikont‑Verlag“ veröffentlich­ te Buch „Revolution in der Revolution?“, das der Franzose Régis Debray – „Castros […] Chefideologe“6625 und Guevaras Weggefährte in Bolivien – verfasst hatte.6626 Darin verkündete er: „Entscheidend für die Zukunft ist die Gründung militärischer Foci und nicht politischer ‚Foci‘.“6627 In weitgehender Übereinstimmung mit Guevara suchte er einem südamerika­ nischen Auditorium einen Leitfaden an die Hand zu geben, welcher das 6621 6622 6623 6624 6625 6626 6627

Vgl. Lahrem 2005, S. 93-96. Vgl. Rübenach 2008a, S. 111. Vgl. Guevara 1998a, S. 10. Vgl. Lahrem 2005, S. 98-99. Rübenach 2008a, S. 97. Vgl. Gierds 2006, S. 182. Debray 1967, S. 127.

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9.3 Revolutionsmodell

Realisieren einer sozialrevolutionäre Linie erlauben sollte.6628 Energisch stilisierte Debray den ruralen Raum zum geographischen Schwerpunkt des Guerillakrieges, da ihm die Annehmlichkeiten urbaner Gebiete als Auslö­ ser geistiger Korrumpierung galten.6629 Dementsprechend sah er in etwai­ gem „Terrorismus in der Stadt“6630 nur dann einen strategischen Wert, wenn er der auf dem Lande agierenden Guerilla untergeordnet war.6631 Die Lebensspanne einer Guerillaorganisation untergliederte Debray in mehrere Phasen.6632 Am Beginn eines Guerillakrieges stehe der Guerilla­ kern, der in Kontakten zu anderen politischen Gruppen aufgrund seiner Schwäche Zurückhaltung walten lassen müsse.6633 Auch sei „Misstrauen gegenüber der Zivilbevölkerung“6634 angebracht, befinde sich diese doch unter der Kontrolle des Feindes. Die Guerilla bewege sich verdeckt, ihre Mitglieder würden zu Tarnnamen greifen.6635 Sie halte sich ausschließlich in dünn besiedelten Regionen auf.6636 Nachdem der Fokus „die Etappe des ‚Fuß‑Fassens‘“6637 überwunden, also Kommunikations- und Versorgungs­ strukturen etabliert sowie personellen Zuwachs erlangt hat,6638 trage er in ständiger Bewegung einen „pausenlosen Offensivkrieg“6639 aus – dieser diene zuvorderst dem Zweck, „das militärische Potential des Feindes zu zerstören“6640. Im gewaltsamen Bekämpfen des Gegners sah Debray auch den Schlüssel zu späterer propagandistischer Vermittlung: Der Waffen­ gang signalisiere dem Volk, „[d]ass die Revolution bereits im Gange und der Feind nicht unverletzbar ist.“6641 Diese Erkenntnis sei Voraussetzung für den Dialog zwischen der Guerilla und den „Massen“. In dieser Argu­ mentation wandte sich Debray eigens gegen die in Südamerika bisweilen vertretene Vorstellung, agitatorische Aufgaben hätten Vorrang gegenüber militärischen Operationen.6642

6628 6629 6630 6631 6632 6633 6634 6635 6636 6637 6638 6639 6640 6641 6642

Vgl. Gierds 2006, S. 194. Vgl. Debray 1967, S. 72-73. Ebd., S. 78. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 88. Ebd., S. 43. Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 56, 58-59.

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Bei zunehmender Stärke könne der „foco“ dazu übergehen, sich mit anderen politischen Gruppen zusammenzuschließen.6643 Ist er auf 120 bis 150 Mitglieder angewachsen, „lösen sich […] durch natürliche Teilung andere Zellen ab, die wiederum Keime in sich tragen.“6644 Diese unter Führung des ursprünglichen Fokus stehenden „Kolonnen“ eröffneten das Kampfgeschehen in anderen Gebieten.6645 Kryptisch hielt Debray fest, im Zuge ihres Voranschreitens hinterlasse die Guerilla „immer irgendet­ was, zumindest irgendjemanden […], womit eine solide Basis für einen Stützpunkt organisiert werden kann“6646. Den hier genannten Stützpunkt beschrieb er weiterführend als das „Embryo eines Volksstaates“6647, des­ sen Bevölkerung politisch aufzuklären und mit administrativen Aufgaben vertraut zu machen sei. In diesem Gebiet könnten ferner wirtschaftliche Produktionsmechanismen angepasst, Steuern erhoben und Bildungsein­ richtungen geschaffen werden.6648 Ausgehend von diesen Überlegungen gelangte Debray zu der Annahme, die Guerilla bilde die Vorstufe der im Marxismus-Leninismus vorgesehenen Avantgardepartei. Während des Guerillakrieges binde sie nach und nach weitere politische Kräfte an ihre Programmatik, was nach der Revolution im Gründen einer genuinen Ka­ derpartei münden könnte.6649 Da die „Foquismo“ somit eine „jahrzehnte­ lange Trennung von marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis“6650 aufhebe, sei sie „fähig […], die Völker zum Sozialismus zu führen“6651. Insbesondere vor dem Hintergrund des Fiaskos in Bolivien diskutierte die westdeutsche Studentenbewegung 1968 neue Formen des revolutionä­ ren Kampfes im Kontext des „beginnende[n] Befreiungskampf[s] in der 3. Welt und in den Metropolen […] gegen die Konterrevolution und den modernen Revisionismus“6652. Die Fokustheorie als Instrument des Machteroberns verwarf sie nicht. Vielmehr begriff die APO sie als eines von mehreren Mitteln. So war aus Sicht von Rudi Dutschke und anderen fraglich, ob „der politischen und ökonomischen Auseinandersetzung, der

6643 6644 6645 6646 6647 6648 6649 6650 6651 6652

Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 84. Ebd., S. 58. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 112. Ebd., S. 113. Ebd., S. 135. Dutschke/Käsemann/Schöller 1968, S. 15-16. Vgl. hierzu auch Gierds 2006, S. 200-201.

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9.3 Revolutionsmodell

revolutionär‑subversiven Arbeit in den Institutionen, den Städten eine viel größere Bedeutung als bisher innerhalb einer gesamtgesellschaftlichen Guerilla“6653 eingeräumt werden musste. Sie unterschieden zwischen ur­ baner und ruraler Guerilla. Anders als Guevara und Debray waren sie der Auffassung, die jeweiligen geschichtlichen Gegebenheiten legten fest, welcher Spielart der Guerilla der Vorzug zu geben sei. Somit wandten sie sich gegen eine Haltung, die per se der Landguerilla die größte Relevanz zuschrieb. Weiterhin differenzierten sie zwischen Gewaltanwendung und klandestinem Entrismus, welcher auf ein von innen heraus erfolgendes Zersetzen kapitalistischer Organe abstellte.6654 Letzter sollte nach ihrem Ansinnen künftig forciert werden: Der Revolutionär dürfe „den opportu­ nistischen Gewerkschaften und Parteibürokraten das städtische GuerillaFeld“6655 nicht überlassen. Es sei unzureichend, ausschließlich Waffenge­ walt zu beanspruchen und sich auf den Gang in die Berge zu konzentrie­ ren.6656 Angesichts dieser von der Führungsebene der „Außerparlamentarischen Opposition“ eingeschlagenen Linie erschien das Ende der 1960er Jahre in der Neuen Linken aufgekommene Interesse an Vorgehensweisen und konzeptionellen Überlegungen südamerikanischer Stadtguerilleros nicht verwunderlich. Deren Zahl nahm in diesem Zeitraum aufgrund der in Südamerika eingetretenen politischen, sozialen und räumlichen Verände­ rungen deutlich zu, womit die Landguerilla als vorherrschendes Mittel des irregulären Kampfführens abgelöst wurde.6657 Beachtung fanden in der Bundesrepublik vor allem die Kampagnen brasilianischer und urugu­ ayischer Aktivisten, die inzwischen in der Forschung als Urheber einer Theorie der Stadtguerilla gesehen werden.6658 Carlos Marighella, Anfüh­ rer der „Ação Libertadora Nacional“, machte sich zwar Elemente der De­ bray’schen „Foquismo“ zu eigen – darunter das Ablehnen fester Basen zugunsten einer permanenten Beweglichkeit der Guerilla sowie die Unab­ hängigkeit von einer politischen Partei. Insgesamt grenzte er sich aber von ihr ab. Denn nach seiner Überzeugung musste der Guerillakrieg in der Stadt einsetzen und sich sodann auf das Land ausweiten.6659 Seine strategischen und taktischen Annahmen fasste Marighella in mehreren, 6653 6654 6655 6656 6657 6658 6659

Dutschke/Käsemann/Schöller 1968, S. 18. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Gierds 2006, S. 200, Rübenach 2008b, S. 414. Vgl. Huthöfer 2008, S. 345; Rübenach 2008b, S. 411. Vgl. Rübenach 2008b, S. 415.

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auch in Deutschland verfügbaren Schriften zusammen. 1970 erschien das „Minihandbuch des Stadtguerillero“ in der in Westberlin herausgegebenen Zeitschrift „Sozialistische Politik“.6660 Marighella verschrieb sich der Absicht, die Macht der brasilianischen Armee durch eine Herrschaft der unter Waffen stehenden Bevölkerung zu ersetzen. Hierin sah er ebenfalls einen Schlag gegen den von ihm zum „Hauptfeind“ stilisierten Imperialismus US-amerikanischer Proveni­ enz. Um beides zu realisieren, sollten Guerilleros in den Städten und im ruralen Gebiet eine Qualität revolutionärer Aktion etablieren, welche die Regierung zwinge, von einem politischen zu einem militärischen Kon­ fliktlösen überzugehen. In einer solchen Situation würde Unzufriedenheit sämtliche Gesellschaftsschichten ergreifen.6661 Die Stadtguerilla sah Marig­ hella dabei lediglich als Teil eines Befreiungskampfes, der auf dem Land entschieden werde. Ihr komme die Aufgabe zu, die Landguerilla zu un­ terstützen. Die Stadtguerilla werde zu einer Bandbreite von Taten grei­ fen, die von Hinterhalten über Sabotage, Enteignungen und bestrafenden Handlungen bis hin zum Verteilen von Flugblättern und Wandmalereien reiche. Derartige Aktionen könnten nicht nur den Feind daran hindern, seine Kräfte auf das Bekämpfen der Landguerilla zu konzentrieren. Sie würden der Stadtguerilla überdies Sympathien der urbanen Bevölkerung sichern. Daneben sei entscheidend, sie in Massenbewegungen der Stadt zu verankern, könne dies doch andere Kräfte (insbesondere Studenten und Arbeiter) dazu befähigen, ebenfalls zum bewaffneten Kampf zu schrei­ ten.6662 Der Landguerilla hingegen falle die Pflicht zu, mithilfe eines Kampfes gegen Großgrundbesitzer den Zuspruch der Bauern zu erhalten. Aus Marighellas Sicht sollten beide Säulen – Stadt- und Landguerilla – auf ein Vereinigen der Landbewohner, des Proletariats und der Studenten hinauslaufen. Fehle dieser Zusammenschluss, lasse sich der politische Sieg nicht erreichen.6663 Als Schlussphase des Befreiungskriegs, in der die mili­ tärischen Formationen des Staates vernichtet worden sind, sah er – ebenso wie Guevara – einen Generalstreik in den Städten vor.6664 Neben der ALN, welche in der Praxis wesentlich stärker einer terroris­ tischen Organisation als einer Guerillaeinheit glich,6665 rückte die bundes­

6660 6661 6662 6663 6664 6665

Vgl. Taufer 2018, S. 249. Vgl. Marighella 2002b, S. 38. Vgl. ebd., S. 39-40. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Rübenach 2008b, S. 427-428, 433.

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republikanische Linke die unter dem Kürzel „Tupamaros“ firmierende „Movimiento de Liberación Nacional“ in den Fokus.6666 Zwischen 1969 und 1971 machten sie in Uruguay mit Banküberfällen und Entführungen auf sich aufmerksam.6667 Während dieser Hochphase der „Tupamaros“ er­ schien unter anderem in Westberlin ein Bericht von Carlos Núñez, der die im Vergleich zur brasilianischen Stadtguerilla deutlich unverbindlicheren Vorstellungen der MLN im Detail nachzeichnete. Diese bezogen sich aus­ schließlich auf den urbanen Guerillakampf. Den Aufbau einer Landgueril­ la lehnte die selbst ernannte Bewegung angesichts der Geographie und Bevölkerungsstruktur Uruguays ab.6668 Laut Núñez waren die „Tupama­ ros“ nicht bereit, zunächst eine strategische Linie in allen Einzelheiten zu entwerfen und diese anschließend in die Tat umzusetzen. Bedeutsam sei für ihre Mitglieder das Sich-Orientieren an der Realität gewesen.6669 Dementsprechend sollen sie sich auf das Festlegen „einige[r] allgemeinver­ bindliche[r] strategische[r] Richtlinien“6670 beschränkt haben. Wie in den übrigen Passagen der von Núñez angefertigten Schrift ersichtlich wurde, werteten die „Tupamaros“ im Wesentlichen Gewaltanwendung, Mobilisie­ rung von Massenbewegungen und Internationalismus als zentrale Säulen ihrer Strategie.6671 In Anlehnung an Ernesto Guevara sei die MLN davon ausgegangen, der bewaffnete Kampf könne die Voraussetzungen für einen politischen Umbruch herbeiführen.6672 Aus ihrer Sicht habe er eine polarisierende Funktion: Er fordere von der Linken, „sich für ihn zu entscheiden und ihn fortzuführen oder zu verschwinden.“6673 Greife eine Gruppe zu den Waf­ fen, müsse sich ferner das Volk festlegen: Die „Massen“ hätten die Wahl zwischen „unwahrscheinlichen und weit entfernt liegenden Veränderun­ gen“6674, welche in legalistischer politischer Arbeit verkündet werden wür­ den, und einem auf Gewalt fußenden „direkten Weg“6675. Núñez betonte: Die MLN verabsolutiere nicht die politische Tat. Ebenso entscheidend sei aus ihrer Sicht die propagandistische Vermittlung gewesen. Die „Tupama­

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Vgl. Kraushaar 2006b, S. 517-518. Vgl. Huthöfer 2008, S. 357-358. Vgl. Núñez 1970, S. 35. Vgl. ebd., S. 33. Ebd. Vgl. ebd., S. 37-38. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd.

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ros“ hätten den Diskurs mit Aktivisten gesucht, die gewerkschaftlich orga­ nisiert oder in Massenbewegungen eingebunden waren.6676 Diese Kontakt­ personen sollten ihrerseits radikalisieren und somit „eine Atmosphäre […] schaffen“6677, die der Stadtguerilla zugutekommt. Als langfristige Perspek­ tive habe der MLN vorgeschwebt, „Teil eines politischen Apparates der Massen“6678 zu werden. Daneben plädierte sie laut Núñez für ein Sich-Ver­ netzen mit anderen sozialrevolutionären Bewegungen im Ausland, das Grundlage abgesprochener Aktionen werden sollte.6679 9.3.2 Adaption der Stadtguerilla im linksterroristischen Milieu Westberlins Wer der bisherigen Forschung zum deutschen Linksterrorismus folgt, er­ kennt ein implizites wie explizites Heranziehen der Fokustheorie sowie der an sie anknüpfenden Überlegungen lateinamerikanischer „Guerille­ ros“ als Fundament in der Bestimmung einer strategischen Agenda des westdeutschen „bewaffneten Kampfs“.6680 Gestützt wird diese Argumenta­ tion nicht zuletzt durch Rückblicke ehemaliger Mitglieder. Wie Beate Sturm anmerkte, hatte „man sich mit konkreten Schriften beschäftigt – wie mit dem berühmten Mini-Handbuch von Marighela [sic].“6681 Klaus Jünschke – ebenfalls Angehöriger der Ersten Generation der RAF – sah die Wurzel des von der „Roten Armee Fraktion“ angestrebten Revolutionsmo­ dells in der verallgemeinernden Darstellung der Kubanischen Revolution durch Régis Debray.6682 Selbiges sagte Irmgard Möller aus.6683 Zusätzlich hielt sie fest: „Besonders wichtig waren für uns die Erfahrungen der Tu­ pamaros, die nach dem Tod von Marighella 1969 die einzige Stadtguerilla waren.“6684 Margrit Schiller zufolge befasste sich die RAF Mitte der 1970er

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6681 6682 6683 6684

Vgl. ebd., S. 30-31. Ebd. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 37-38. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 114, 169, 172; Neidhardt 1982a, S. 326; Neidhardt 1982b, S. 435; Horchem 1988, S. 160; Demes 1994, S. 19; Wun­ schik 1997, S. 46-47; Jander 2008, S. 141; Wörle 2008b, S. 259; Dietrich 2009, S. 18‑19; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 156. Sturm 1972, S. 57. Vgl. Jünschke 1988, S. 163. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 36. Ebd.

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Jahre mit den „Erfahrungen der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt in den letzten zwanzig Jahren“6685. Ihre Mitglieder „stritten sich über die neuen Theoretiker wie Regis Debray [sic].“6686 Birgit Hogefeld sprach von einer „einfache[n] Übertragung der Analysen und Theorien von Gue­ rillabewegungen aus Lateinamerika auf die Realität“6687 in Deutschland. Laut Gabriele Rollnik richtete sich die B2J „schon an den lateinamerikani­ schen Vorbildern und auch daran [aus], wie es in Kuba gelaufen ist.“6688 Gerald Klöpper erinnerte sich an „theoretische Diskussionen […] über die Focus-Theorie von Che Guevara oder Carlos Marighelas [sic] Handbuch des Stadtguerilleros und die Positionen der Tupamaros.“6689 Obgleich die „Rote Armee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ die Urheber lateinamerikanischer Guerillatheorie als Autoritäten anerkannten, integrierten sie deren Konzepte nicht mecha­ nisch in die eigene Programmatik. Vielmehr war die Bezugnahme auf Überlegungen Guevaras und anderer Theoretiker des Befreiungskampfes von einer ähnlich selektiven, bisweilen taktisch bedingten Sichtweise ge­ prägt, wie sie sich in der linksterroristischen Interpretation sozialrevolutio­ närer Klassiker auftat.6690 Hieraus erwuchsen grundlegende strategische Differenzen zwischen der RAF, B2J und den RZ, welche ihre Beziehungen zueinander nachhaltig belasteten. Diese Entwicklung deutete sich bereits Anfang der 1970er Jahre an, als in Westberlin die Gruppen um Dieter Kunzelmann beziehungsweise Georg von Rauch und Horst Mahler sowie Andreas Baader zum Terrorismus schritten. Von Rauch hatte sich zuvor in einer unter dem Namen „Wieland-Kom­ mune“ firmierenden Wohngemeinschaft radikalisiert,6691 deren Angehöri­ ge mitunter Ernesto Guevaras und Régis Debrays Annahmen rezipiert haben sollen.6692 Gemeinsam mit Dieter Kunzelmann und anderen ließ er sich 1969 in Jordanien an Schusswaffen ausbilden.6693 Während dieses Auslandsaufenthalts „entstand erstmals die Idee, […] in Berlin nach dem Vorbild südamerikanischer Großstädte eine Stadtguerilla‑Gruppe aufzu­

6685 6686 6687 6688 6689 6690 6691 6692 6693

Schiller/Mecklenburg 2000, S. 145. Ebd. Hogefeld 1996, S. 103. Rollnik/Dubbe 2007, S. 19. Klöpper 1987, S. 64. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 28. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 515. Vgl. Baumann 1980, S. 46. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 518.

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bauen“6694. Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik setzte sich zumin­ dest Kunzelmann näher mit den „Raubdrucke[n] über die Taktik der süd­ amerikanischen Stadtguerillagruppen“6695 auseinander. Er suchte Kontakt zu Personen, „mit denen […] [er] über das Projekt Stadtguerilla disku­ tierten konnte.“6696 Wie schließlich Anschlagsbekenntnisse öffentlichkeits­ wirksam verdeutlichten, spielten insbesondere die Überlegungen Guevaras und Debrays für die auf Kunzelmanns Bestreben zurückgehenden „Tu­ pamaros Westberlin“ eine herausragende Rolle in ihrem „Kampf gegen die Faschisten im demokratischen Mantel“6697. So hatten die TW Ende 1969 keinen Zweifel an der Aktualität der „Foquismo“, als sie lakonisch festhielten: „Che lebt.“6698 Erkennen ließen sie ihre Intention, „[v]om revo­ lutionären Focus zur revolutionären Volksbefreiungsarmee“6699 avancieren zu wollen. Die Gruppe war bestrebt, „zu jeder Zeit überall zuschlagen, zurückweichen und erneut zuschlagen“6700 zu können. Dass die TW lediglich ausgewählte Lehrsätze der Fokustheorie, nicht jedoch das darin enthaltene Ungleichgewicht zwischen Land- und Stadt­ guerilla akzeptierten, ergab sich aus einem Manuskript, welches die zweite zentrale Figur der Gruppe6701 – Georg von Rauch – im Frühjahr 1970 verfasste. Offenbar war er als einziges Mitglied der „Tupamaros Westber­ lin“ darauf bedacht, die kursorischen, größtenteils rekurrierenden strategi­ schen Überlegungen des Zirkels in ein tiefergehendes, auf die gesellschaft­ liche Situation Westdeutschlands bezogenes Konzept zu überführen. Da­ mit unterschied er sich deutlich von seinem Weggefährten Kunzelmann, der die „Stadtguerilla“ in der Bundesrepublik Ende 1969/Anfang 1970 pri­ mär zum Interessenswahrer palästinensischer Terroristen aufzubauen such­ te.6702 Von Rauch orientierte sich nachweislich an Ernesto Guevaras Werk „Der Guerillakrieg“ sowie an Carlos Núñez‘ Beitrag zur uruguayischen MLN,6703 welchen die TW 1970 als Schulungstext in Umlauf brachten.6704

6694 6695 6696 6697 6698 6699 6700 6701 6702

Kunzelmann 1998, S. 125. Ebd., S. 126. Ebd. Tupamaros Westberlin, zit. n. Baumann 1980, S. 69. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 96. Ebd. Ebd. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 528. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 123; Kraushaar 2013, S. 312. Vgl. auch Bau­ mann/Neuhauser 1978, S. 24; Baumann/Reinecke 2013. 6703 Vgl. Kraushaar 2006b, S. 522. 6704 Vgl. Der Spiegel 1970c, S. 109.

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Seine Schrift akzeptierte zwei der drei Prinzipien, die Guevara im Hinblick auf den Guerillakampf in Lateinamerika aufgestellt hatte: die Möglichkeit eines siegreichen „Widerstands“ des Volkes gegen eine Armee sowie die Annahme, eine Revolution auch ohne Vorliegen aller Voraussetzungen in Gestalt eines „Fokus“ initiieren zu können.6705 Das dritte Paradigma Guevaras wandelte er ab. Von Rauch konstatierte, „[i]n den entwickelten Ländern wie Deutschland muss der Schauplatz des bewaffneten Kampfes grundsätzlich das städtische Gebiet sein.“6706 Aus Sicht der TW war laut Michael Baumann evident, „dass Stadtgue­ rilla [in Westdeutschland] möglich ist.“6707 In der Retrospektive räumte er ein, die Gruppe habe sich „frischen Südamerika‑Erfahrungen [hingege­ ben], die noch nicht richtig reflektiert waren“6708. Ähnlich wie Carlos Ma­ righella setzte von Rauch auf eine „Provokation mit militärischen Mit­ teln“6709, welche „die Konsequenz und offene Organisierung des latenten Faschismus“6710 hervorbringen sollte. Im Vordergrund stand für ihn somit die Transformation des auf subtile Formen politischer Unterdrückung zurückgreifenden bürgerlichen Staates zu einer gewaltsam auftretenden Macht. Die strikte Herrschaftssicherung der Regierung würde die Bevölke­ rung vereinen: „Die ansteigende Repression bringt größere Massen zur Solidarität untereinander.“6711 Neben dem Durchführen sabotierender, „exemplarische[r] Aktionen“6712 gegen Verantwortliche des repressiven Si­ cherheitsapparats und Objekte der wirtschaftlichen Produktion6713 müsse es Ziel der „Guerilla“ sein, eine „Zusammenarbeit mit den Kadern unter den Arbeitern“6714 zu forcieren. Denn ohne die „totale Unterstützung“6715 der lokalen „Massen“ sei „der Beginn der Guerilla sinnlos“6716. Daneben vermerkte von Rauch in seinem Manifest, der Kampf der „Tupamaros Westberlin“ bilde den Startpunkt eines tatsächlichen „Krieg[s] gegen regu­ läre Armeen“6717. Demnach würde der bundesrepublikanische Linksterro­ 6705 6706 6707 6708 6709 6710 6711 6712 6713 6714 6715 6716 6717

Vgl. Kraushaar 2006b, S. 522-523. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 523. Baumann 1980, S. 66. Ebd. Georg von Rauch, zit. n. Kraushaar 2006b, S. 523. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 524. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 523. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd.

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rismus zusehends die Gestalt irregulärer bewaffneter Einheiten annehmen, welche die militärischen Formationen der deutschen Regierung – analog der Kubanischen Revolution – in einer Entscheidungsschlacht niederrin­ gen. Einer „Totalzerstörung“6718 preisgegeben würden in diesem „Volks­ krieg“6719 darüber hinaus weitere Glieder des Staates „wie Justiz, Polizei, Medien, Erziehungsapparat, Kulturindustrien.“6720 Zur geographischen Basis ihres „Guerillakriegs“ erhoben die TW im Herbst 1971 den Westberliner Stadtteil Kreuzberg, weil er offenbar zu die­ sem Zeitpunkt aufgrund seiner soziodemographischen Eigenschaften als „das einzige Armutsgebiet in Berlin“6721 gewertet wurde und seine Gege­ benheiten den Anhängern der „Tupamaros Westberlin“ vertraut waren.6722 Damit folgten die TW implizit Marighella, hatte dieser doch in seinem „Minihandbuch des Stadtguerillero“ festgehalten: „Our experience is that the ideal guerilla is one who operates in his own city and thoroughly knows its streets, its neighbourhoods, its transit problems, and its other pe­ culiarities.”6723 In Kreuzberg hätten sie den „Aufbau einer Art Gegenmacht […], eine[r] befreite[n] Doppelstruktur gegen die repressive staatliche“6724 angestrebt, schilderte Till Meyer in seiner Autobiographie. Das revolutio­ näre Subjekt, den Adressaten ihrer politischen Botschaften identifizierten die TW in der „Lehrlings- und Jungarbeiterscene“6725. Ganz im Sinne einer vermeintlichen „Volksnähe“ sahen sie nicht nur ein finanzielles Un­ terstützen örtlicher politischer Projekte,6726 sondern überdies eine Nach­ ahmbarkeit ihrer terroristischen Taten als wünschenswert an. Baumann zufolge galt das Prinzip, den „Volkskrieg mit den einfachsten Mitteln“6727 zu führen. Denn die Mitglieder des „Vietcong […] haben genauso ange­ fangen […], die sind ja nicht gleich mit nem [sic] Flackgeschütz [sic] irgendwo erschienen.“6728 Die „Tupamaros Westberlin“ hätten Aktionen bevorzugt, „die jeder andere auch machen kann.“6729 Dementsprechend

6718 6719 6720 6721 6722 6723 6724 6725 6726 6727 6728 6729

Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 524. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 523. Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 524. Baumann 1980, S. 99. Vgl. Baumann 1980, S. 99. Ähnlich der Spiegel 1973b, S. 74. Marighella 2002a, S. 15. Meyer 2008, S. 185-186. Baumann 1980, S. 99. Vgl. Meyer 2008, S. 186. Baumann 1980, S. 92. Ebd. Ebd., S. 91.

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seien „Bomben immer so primitiv“6730 wie möglich gestaltet worden. Sym­ pathien suchten die TW ferner durch ein Mitwirken an „ganz normale[r] Agitationsarbeit“6731 zu erlangen: „zum Beispiel von Tür zu Tür gehen und Unterschriften sammeln gegen die sinnlose Sanierungspolitik des [Westberliner] Senats“6732. Die TW bauten zwar eine „illegale“ Struktur auf – bestehend aus konspirativen Wohnungen und entwendeten Fahrzeu­ gen (sogenannten Dubletten).6733 Aber ihre Aktivisten sahen davon ab, grundsätzlich in den Untergrund zu gehen. In Frage kam dieser Schritt lediglich bei gewichtigem polizeilichem Verfolgungsdruck. Die Mitglieder der „Tupamaros Westberlin“ bewegten sich mithin in der Legalität.6734 Den Leitlinien Marighellas entsprachen die TW auch insofern, als sie das Befreien „politischer Gefangener“ in die eigene Programmatik aufnah­ men. Einerseits waren sie gewillt, inhaftierte Mitstreiter mithilfe symbo­ lischer Aktionen in den Mittelpunkt politischer Solidarität zu rücken. Andererseits gingen sie dazu über, die von Marighella empfohlenen Über­ fälle auf Haftanstalten6735 in die Tat umzusetzen. Das Verhaften Michael Baumanns im Februar 1970 und Fritz Teufels Mitte Juni 1970 bot den „Tu­ pamaros Westberlin“ Anlass, das Freilassen in Haft sitzender Mitglieder zur zentralen Forderung einer Gewaltkampagne zu erheben. In diesem Zu­ sammenhang verübte die in die TW eingebundene Aktivistin Hella Mahler einen schweren Brandanschlag auf das Westberliner Kammergericht.6736 Um dem Vorhaben der „Gefangenenbefreiung“ näherzukommen, soll Ge­ org von Rauch das Entführen prominenter Personen in Erwägung gezogen haben. Ralf Reinders hingegen forcierte Pläne, welche Baumann unter Anwendung von Gewalt die Flucht aus dem Gefängnis erlauben sollten. Da Baumann eine geringe Haftstrafe verbüßte, habe er Reinders Ansinnen widersprochen.6737 Verbunden fühlten sich die „Tupamaros Westberlin“ nicht ausschließlich mit den Häftlingen aus den eigenen Reihen. Auch zu dem im Frühjahr 1970 einsitzenden RAF-Gründer Andreas Baader hatten sie eine solidarische Haltung, da sie – so Reinders – aus eigener Erfahrung der Überzeugung waren, „dass ein Mensch nicht sitzen sollte.“6738 Eine

6730 6731 6732 6733 6734 6735 6736 6737 6738

Ebd. Ebd., S. 99. Ebd. Vgl. Baumann 1980, S. 74, 98. Vgl. ebd., S. 74, 77, 84, 99, 101; Kunzelmann 1998, S. 126-127. Vgl. Marighella 2002a, S. 28. Vgl. Baumann 1980, S. 89; Claessens/de Ahna 1982, S. 123-124. Vgl. Wunschik 2006b, S. 545. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36.

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von der RAF angefragte Unterstützung der Baader‑Befreiung lehnten die TW jedoch mit dem Hinweis ab, die Gruppe sei für eine solche Tat noch nicht bereit.6739 Größere Bedeutung maßen die „Tupamaros Westberlin“ dem Sujet der Inhaftierten erneut ab Sommer 1971 bei. Die TW hätten „dann als nächste Aktion an eine Gefangenenbefreiung gedacht“6740, konstatierte Baumann. Diese taktische Schwerpunktsetzung führte nunmehr zu einer Annähe­ rung an die „Rote Armee Fraktion“, welche in diesem Zeitraum ebenfalls verstärktes Interesse an Aktionen zugunsten „politischer Gefangener“ zeig­ te. Während sich ein gemeinsam abgewogener Ausbruch Dieter Kunzel­ manns und Horst Mahlers als unrealistisch erwies, wagten die TW im Oktober 1971 den Versuch, Mitglieder der RAF aus der Justizvollzugsan­ stalt Berlin‑Moabit zu befreien.6741 Das anscheinend defizitär präparierte Vorhaben scheiterte allerdings.6742 Ende 1971 kursierten innerhalb der „Tupamaros Westberlin“ Überlegungen zur Entführung des in West-Berlin eingesetzten französischen Stadtkommandanten. Mit ihm sollten Inhaftier­ te freigepresst werden. Da eine solche Freiheitsberaubung die eigenen Fähigkeiten überstieg, ließ die Gruppe von der Aktion ab.6743 Abgesehen von der Frage des Befreiens „politischer Gefangener“ erga­ ben sich insgesamt nur temporär größere Schnittmengen zwischen dem Revolutionsmodell der „Tupamaros Westberlin“ und den operativen An­ nahmen der parallel heranwachsenden RAF. Festhalten lässt sich dies für das Frühjahr 1970. Geistiger und organisatorischer Initiator der „Ro­ ten Armee Fraktion“ war Horst Mahler, der bereits 1969 während einer Reise nach London für den „Vorschlag [warb], eine Guerilla-Gruppe zu gründen“6744. Mahler favorisierte Anfang 1970 eine Praxis, wie sie südame­ rikanischen Akteuren der Stadtguerilla zugeschrieben wurde. Noch vor den TW sah er „soziale Auseinandersetzungen, Arbeitskämpfe, Auseinan­ dersetzungen in Stadtviertel [sic]“6745 als Nährboden für niedrigschwellige terroristische Gewalt.6746 Innerhalb der sich um ihn scharenden Gruppe

6739 6740 6741 6742 6743 6744 6745 6746

Vgl. ebd., S. 33, 36. Baumann 1980, S. 98. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 144; Wunschik 2006b, S. 547. Vgl. Der Spiegel 1973b, S. 81, 83; Meyer 2008, S. 182-183; Aust 2020, S. 329-330. Vgl. Wunschik 2006b, S. 547; Meyer 2008, S. 194. Jander 2008, S. 144. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179. Vgl. ebd.

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soll diese an Marighella erinnernde „Stadtteilarbeit“6747 – so Mahler selbst – mehrheitsfähig gewesen sein.6748 Die nascierende RAF warf indes nicht den Blick auf das ökonomisch randständige Kreuzberg, sondern auf den sozialen Brennpunkt Märkisches Viertel im Berliner Bezirk Reinickendorf. In einer Korrespondenz mit Rudi Dutschke Mitte April 1970 bat Mahler um Informationen zu Mietstreiks und Selbsthilfe von Mietern in Großbri­ tannien, weil „sich zur Zeit im Märkischen Viertel in Berlin sehr inter­ essante Dinge entwickeln“6749. Im Falle eines Entmietens größerer Famili­ en aufgrund ausstehender Mietbeiträge wären die Gruppenmitglieder – angeblich – bereit gewesen, entsprechend zu intervenieren. Vorstellbar waren offenbar Aktionen gegen die verantwortliche Wohnungsbaugesell­ schaft und die Justiz.6750 Insbesondere Vermieter sollten „unter Druck [ge]setzt“6751 werden – dies „immer unter Hinweis auf das Recht des Volkes gegen das Profitinteresse“6752. Von diesem Vorgehen habe sich die „Rote Armee Fraktion“ zweierlei versprochen: zum einen eine Nach­ vollziehbarkeit, zum anderen das Untermauern der Effektivität ihres Han­ delns.6753 „Auf diese Weise sollte das Bewusstsein, dass hier ein gerechter Kampf gekämpft wird gegen Macht- und Profitinteresse, in den Kreisen der Betroffenen, also im Stadtviertel, lebendig werden“6754, schilderte Mah­ ler 1978 rückschauend. Was er in diesem Kontext unter einem adäquaten „Militanzniveau“6755 verstand, zeigte er im Frühjahr 1970: In Begleitung weiterer Gruppenmitglieder warf er einen Brandsatz auf ein Verwaltungs­ gebäude, das im Märkischen Viertel lag.6756 Laut Willi Winkler verfasste Mahler überdies einen „Vorläufigen Plan für ein Beispiel des Kampfes in den Metropolen“6757, welcher die „Einheit der Arbeiter, Angestellten und der jungen Intelligenz“6758 konstituieren sollte. Das Papier sprach sich für eine Hausbesetzung aus.6759

6747 6748 6749 6750 6751 6752 6753 6754 6755 6756 6757 6758 6759

Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 180. Horst Mahler, zit. n. Winkler 2008, S. 160. Vgl. auch Jesse 2001, S. 185. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 181. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 181-182. Ebd., S. 179. Vgl. Jander 2006, S. 381; Aust 2020, S. 191. Horst Mahler, zit. n. Winkler 2008, S. 160. Horst Mahler, zit. n. ebd. Vgl. ebd.

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De facto nahm die Gruppe zunächst die im Märkischen Viertel leben­ den Jugendlichen als potentielle Rezipienten ihrer Programmatik in den Blick – eine Entscheidung, die später auch die „Tupamaros Westberlin“ treffen sollten. Am 1. Mai 1970 drangen Meinhof und der ebenfalls zum Zirkel um Mahler gehörende Aktivist Peter Homann gemeinsam mit rund „einhundertfünzig jungen Leuten“6760 in ein Bürogebäude des für das Verwalten des Märkischen Viertels zuständigen Wohnungsbauunterneh­ mens „Gesobau“ ein.6761 Homann zufolge sollte das Gebäude zu einem „Freizeitheim für Jugendliche“6762 umgebaut werden. Nach dieser infolge eines Polizeieinsatzes abgebrochenen Aktion wirkte Ulrike Meinhof an der Richtungsdebatte mit, welche die im Märkischen Viertel verankerte, poli­ tisch links ausgerichtete „Sonntagsgruppe“ zum weiteren Vorgehen führ­ te. Augenscheinlich war Meinhof bereits ab der Jahreswende 1969/1970 in dieser Zelle aktiv. Im Zuge der grundsätzlichen Diskussion erklärte sie sich mit anderen bereit, einen Text zur künftigen Strategie zu erarbei­ ten. Tatsächlich verfasst wurde der Beitrag von ihr und einem weiteren, namentlich nicht bekannten Studenten.6763 In ihm wurden das im Märki­ schen Viertel lebende Proletariat im Allgemeinen sowie „die kinderreichen Familien, […] die von Exmittierung bedrohten Familien, […] die […] Jugendlichen“6764 im Speziellen als revolutionäres Subjekt anerkannt. Es sei notwendig, „konsequent und zielstrebig auf eine Mobilisierung und Politisierung“6765 dieser Akteure hinzuwirken, um langfristig einen „Bei­ trag […] zur Entfaltung der Klassenkämpfe in Berlin“6766 leisten zu kön­ nen. Zurückgegriffen werden sollte hierbei auf diverse Mittel, darunter Lautsprecherwagen, Versammlungen und Informationszelte.6767 Die in der entstehenden RAF verfolgte dualistische Strategie, die glei­ chermaßen terroristische Gewalt sowie legalistische Agitation auf lokaler Ebene beinhaltete, entsprach weitgehend dem, was Georg von Rauch An­ fang 1970 in seinem Manifest angedeutet hatte und ab Sommer 1971 von den „Tupamaros Westberlin“ in die Tat umgesetzt wurde.6768 Gleichwohl begünstigte dies nicht einen engeren Schulterschluss zwischen beiden Zir­

6760 6761 6762 6763 6764 6765 6766 6767 6768

Peters 2008, S. 191. Vgl. Jesse 1996, S. 201; Winkler 2008, S. 160. Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 49. Vgl. Trend Onlinezeitung 2013. Meinhof u.a. 1970, S. 3. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 4. Vgl. Baumann 1980, S. 101.

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keln, wie er 1971 aus dem gemeinsamen Interesse an inhaftierten Gleich­ gesinnten erwachsen sollte. Grund hierfür war, dass die „Rote Armee Frak­ tion“ zuvor im theoretischen Diskurs eine Linie vertreten hatte, die im Wi­ derspruch zu ihrer wenige Monate später gewählten Praxis stand. Die im März 1970 zustande gekommene Unterredung zwischen Vertretern der RAF und der TW scheiterte laut Kunzelmann, weil „Horst Mahler […] im Verlauf des […] Treffens detailliert und schlüssig […] unser Stadtgueril­ la‑Konzept auseinandergenommen hatte“6769. Der Kernpunkt der von Mahler und anderen Gründern der „Roten Armee Fraktion“ vorgetrage­ nen Kritik habe sich auf eine „Verbindung [des Linksterrorismus] mit den legal tätigen Gruppierungen der außerparlamentarischen Opposition“6770 bezogen. Kunzelmann zufolge pochte die RAF auf „ein Konzept der frei­ willigen Illegalisierung“6771, womit offensichtlich ein obligatorischer Gang in den Untergrund gemeint war, welcher für die Gruppe eine weitgehende Reduktion externer Kontakte nach sich ziehen würde. Die TW verwiesen ihrerseits auf die Notwendigkeit eines „möglichst engen, ja fließenden Zu­ sammenhang[s] mit den Gruppen der Protestbewegung“ 6772. Somit beweg­ ten sie sich stärker als die Strömung um Mahler entlang der ostentativ be­ kundeten „Volksnähe“ der zum Vorbild genommenen südamerikanischen Guerilleros. 9.3.3 Aushöhlung der Theorien zur urbanen Guerilla Zurecht merkte Kunzelmann in seiner Autobiographie an, die „Tragweite dieser Diskussion“ 6773 zwischen den „Tupamaros Westberlin“ und der sich formierenden RAF habe sich erst in den darauf folgenden Jahren offen­ bart. Die bis Mai 1970 ausschließlich auf ideeller Ebene existierenden Dif­ ferenzen manifestierten sich nach dem Befreien Andreas Baaders ebenso in praktischer Hinsicht. War die Illegalität bis dahin faktisch als fakultative Option betrachtet worden, erwies sie sich den Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ angesichts des unmittelbar einsetzenden polizeilichen Fahndungsdrucks nunmehr als alternativlos. Mehrere Primärquellen zur

6769 6770 6771 6772 6773

Kunzelmann 1998, S. 128. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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RAF unterstrichen eine Zwangsläufigkeit des Abtauchens.6774 Im Unter­ grund sahen sich die Aktivisten rasch mit Einsichten konfrontiert, welche ebenfalls die „illegalen“ Angehörigen aus dem Kreis der TW in Kauf neh­ men mussten:6775 Die aus der Illegalität resultierenden Schutzvorkehrun­ gen gegen sicherheitsbehördliche Ermittlungen ließen sich nicht mit der Absicht vereinbaren, durch eine Präsenz in anderen politischen Gruppen oder Protestbewegungen Einfluss auf dortige Willensbildungsprozesse zu nehmen.6776 Insofern wurde die im Märkischen Viertel verfolgte Idee einer „Stadt­ guerilla“ „durch die Ereignisse überrollt […], praktisch an den Rand gespielt“6777. Indes gelang es der „Roten Armee Fraktion“ vorerst nicht, auf eine Strategie einzuschwenken, die der veränderten Lage Rechnung trug. Peter Homann zufolge bestand in dieser Situation „keinerlei politi­ sches Programm, auf das man sich zuvor geeinigt hatte.“6778 Da die Ener­ gien der Aktivisten in erster Linie darauf gerichtet wurden, der Polizei auszuweichen, „ließ sich auch keins entwickeln.“6779 Nach außen blieb die Gruppe ihrem vor dem 14. Mai 1970 geprägten strategischen Denken verhaftet. Dies zeigten die Erklärungen Ulrike Meinhofs im Anschluss an Baaders Flucht aus der Haft. Wie sich der ab dem 5. Juni 1970 verbreiteten Schrift „Die Rote Armee aufbauen“ entnehmen ließ, hielt die RAF an den „Jugendlichen im Märkischen Viertel“6780, den „kinderreichen Famili­ en“6781 sowie an den „Familien in den Sanierungsgebieten“6782 als Adres­ saten ihrer Programmatik fest. Ferner stützte sie sich auf Mädchen und junge Frauen, die in Kinder- und Jugendheimen Westberlins lebten.6783 Den „Jungarbeitern und Lehrlingen, den Hauptschülern, […] den Arbei­ terinnen von Siemens und AEG‑Telefunken, von SEL und Osram, den verheirateten Arbeiterinnen, die zu Haushalt und Kindern auch noch den Akkord schaffen müssen“6784, sprach die Gruppe ebenfalls die Fähigkeit

6774 Vgl. Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 50-52; Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179. 6775 Vgl. Baumann 1980, S. 127. 6776 Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179-180. 6777 Ebd., S. 180. 6778 Homann/Hentschel/Sternsdorff 1971, S. 50. 6779 Ebd. 6780 ID-Verlag 1997, S. 24. 6781 Ebd. 6782 Ebd. 6783 Vgl. ebd. 6784 Ebd.

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zu, Träger einer sozialen Revolution zu sein. Erreicht werden sollte dieser Umbruch, indem zeitgleich gewaltsame Aktionen und „politische Arbeit im Betrieb und im Wedding und im Märkischen Viertel und in der Plötze [Frauenhaftanstalt Plötzensee in Westberlin] und im Gerichtssaal“6785 ent­ faltet werden. Beides würde „die Konflikte auf die Spitze treiben“6786 und schließlich im „Ende der Bullenherrschaft“6787 münden. Ähnliche Aussagen Meinhofs, die in ihrer Kürze deutlich hinter den elaborierten Schemata strategischer Vordenker aus Südamerika zurückblie­ ben, druckte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 15. Juni 1970 ab. Sie betonte die Intention der „Roten Armee Frakti­ on“, eine politische Kooperation mit demjenigen Teil der Arbeiterschaft eingehen zu wollen, der von kompensierenden Zusatzleistungen für wirt­ schaftliche Ausbeutung ausgeschlossen sei.6788 Hierzu rechnete Meinhof die bereits im Papier vom 5. Juni 1970 erwähnten revolutionären Subjek­ te, darunter „die kinderreichen Familien“6789 und „die proletarischen Ju­ gendlichen, die keine Perspektive haben, aber auch noch nicht Familie haben, womit sie gezwungen werden, angepasst zu leben.“6790 Weiterfüh­ rend skizzierte sie abermals die zweigliedrige Strategie der RAF: Die legale Agitation in den Stadtvierteln und Fabrikhallen müsse flankiert werden von einem Griff zu den Waffen.6791 Nur die Kombination dieser Metho­ den würde es erlauben, „Auseinandersetzungen durchzusetzen: die Auseinandersetzungen, die kommen werden in dem Moment, wo ein Konzern eben nicht mehr in der Lage ist, einen Streik auf seine Art, durch Aussperrung, kaputt zu machen; wo natürlich die Staatsgewalt einsetzen wird, wo natürlich die Bullen kommen“6792. Nach dem Aufenthalt im Sommer 1970 an der Seite der Fatah in Jordani­ en, welcher im Unterminieren der von Mahler beanspruchten gruppenin­ ternen Entscheidungshoheit gegipfelt war, trieb die RAF das logistische Vorbereiten des „bewaffneten Kampfes“ voran. Handlungsbestimmend waren in dieser Phase die Ratschläge Carlos Marighellas in seinem „Mi­ 6785 6786 6787 6788 6789 6790 6791 6792

Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 24. Vgl. Meinhof 1970, S. 74. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

nihandbuch des Stadtguerillero“.6793 Angeblich ließ Mahler sämtliche Mit­ glieder des Zirkels den Leitfaden lesen.6794 Auch an anderer Stelle dürfte der 1969 verstorbene Brasilianer Pate gestanden haben. So fand sich die von Marighella in seinem Anfang 1969 verfassten Aufsatz „Problems and Principles of Strategy“ aufgestellte Annahme, eine nationale Liberation müsse sich gegen den „US‑Imperialismus“ – den „common enemy of humanity“6795 – richten, in dieser Zeit zusehends in den strategischen Überlegungen der „Roten Armee Fraktion“. Demnach konzentrierte sich die Gruppe auf einen in militärischen Kategorien interpretierten globalen Kampf gegen die Regierungspolitik der Vereinigten Staaten und der ihr – vermeintlich – unterworfenen Nationen, den vor Marighella bereits Er­ nesto Guevara in seinem Text „Guerillakrieg – Eine Methode“ angedeutet hatte.6796 Für das ursprünglich ins Auge gefasste Durchsetzen örtlicher In­ teressenslagen blieb in diesem weitreichenden, ambitionierten Vorhaben kein Platz.6797 Geradezu symptomatisch erschien das im Oktober 1970 eingeleitete geographische Diversifizieren des Aktionsraums der RAF: Als Operationsbasis wurde das den Gründern des Zirkels hinreichend vertrau­ te politische Milieu Westberlins durch mehrere Orte Westdeutschlands ersetzt, welche allesamt größere Anonymität versprachen.6798 Mit der operativen Weichenstellung – für die Mitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“ laut Mahler der einzig gangbare Weg6799 – brachte sich der Zirkel gänzlich in Widerspruch zu den Paradigmen der „Tupamaros Westberlin“ und deren Umfeld. Plastisch skizzierte Irmgard Möller die daraus resultierende politische Frontenbildung. Der von ihr und anderen vollzogene Wechsel von den „Tupamaros München“ zur RAF habe eine Kontroverse hervorgerufen, da sie die Idee der „Roten Armee Fraktion“ geteilt haben sollen, „durch offensive strategische Aktionen die Konfron­ tation zwischen herrschender Macht, Imperialismus, Staat und […] dem Widerstand, den Leuten, die Subjekt sein wollen, offen sichtbar und ver­ änderbar zu machen.“6800 Ehemalige Mitstreiter Irmgard Möllers hätten

6793 6794 6795 6796 6797

Vgl. Jander 2008, S. 147. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 114. Marighella 2002b, S. 39. Vgl. Guevara 1998b, S. 152-153. Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179-182. Vgl. auch die Aussagen Karl-Heinz Roths in Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. 6798 Vgl. Peters 2008, S. 222-227. 6799 Vgl. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 180. 6800 Möller/Tolmein 1999, S. 34.

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dieser Position ablehnend gegenübergestanden.6801 Offenbar wollten sie „in ihren Projekten in den Städten bleiben“6802 und „eine revolutionäre Aufbauarbeit praktisch ‚vor Ort‘“6803 leisten. Plakativ verwies Möller auf „solche Debatten damals wie, na vereinfacht gesagt, wollt ihr gegen die Zentren der Macht vorgehen oder lieber für einen Kinderladen kämp­ fen.“6804 An derartige Auseinandersetzungen zwischen dem „Blues“ und der RAF erinnerte sich ebenfalls Margrit Schiller. In ihrer Autobiographie ging sie beiläufig auf einen Konflikt um „die politische Bestimmung von Aktionen“6805 ein, der sich in den Jahren 1970 und 1971 zugetragen haben soll. Die „Rote Armee Fraktion“ habe dem „Blues“ populistisches Gebaren vorgeworfen.6806 Sie selbst soll gefordert haben: „Es müsse um strategische Aktionen gehen, die die Machtzentren treffen, vor allem […] um Angriffe gegen die USA, die in der BRD ‚wie in einer Kolonie‘ auftraten.“6807 Augenscheinlich verlief der Dissens dabei nicht ausschließlich entlang des Zwecks politischer Gewalt. Selbst rein technische Aspekte, wie zum Beispiel die Schlagkraft von Aktionen sowie die ihr zugrunde liegende Professionalität, wurden zu trennenden Merkmalen aufgeladen. Dies legte Baumann in seinem Selbstzeugnis nahe. In der Wahrnehmung der TW fand sich die Vorstellung, „die [Aktivisten der RAF] fangen an und sagen gleich Ruckzuck […]: ‚Mal richtig bamm machen‘.“6808 Die RAF habe „gesagt […], immer ordentliche Aktionen, die zeigen es.“6809 Ein Dorn im Auge war dem Zirkel folglich die Präferenz der TW, Anschläge auf Grund­ lage nachbaubarer Mittel zu vollziehen, darunter „[z]um Beispiel die Bom­ be aus der Drogerie.“6810 Aufgrund der Alltagstauglichkeit der einzelnen Komponenten solcher Sprengsätze waren sie – so das Kalkül der „Tupama­ ros Westberlin“ – vor staatlichem Reglementieren geschützt und somit überall ohne Hürden für jeden möglichen Sympathisanten der „Stadtgue­ rilla“ verfügbar: „Pattex können sie nicht verbieten. Das ist unmöglich, sie können ja nicht einen ganzen Industriezweig lahmlegen.“6811 Wie

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Vgl. ebd., S. 33-34. Ebd., S. 34. Ebd. Ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 132. Vgl. ebd. Ebd. Baumann 1980, S. 92. Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Ebd.

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bereits die Baader‑Befreiung signalisierte, zielte die RAF demgegenüber auf komplexere Vorhaben mit spektakulärer Wirkung, welche nicht ohne Weiteres kurzfristig von als interessiert unterstellten Dritten wiederholt werden konnten. Resümierend erklärte Baumann hierzu, im Allgemeinen handelten die „Tupamaros Westberlin“ und die „Rote Armee Fraktion“ ähnlich. Die RAF habe sich jedoch „auf einer noch abgefahreneren Ebe­ ne“6812 bewegt. Den strategisch bedingten Riss durch die linksterroristische Szene West­ deutschlands zementierte die „Rote Armee Fraktion“ mit dem „Konzept Stadtguerilla“, in dem sie einleitend die Schrift „Die Rote Armee auf­ bauen“ als kursorisch bemängelte,6813 die im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ verbreiteten Auszüge aus einer Stellungnahme Ulrike Meinhofs als „nicht authentisch“6814 und Resultat „privatistischer Diskussion“6815 verwarf. Die weiteren Passagen des Pamphlets bauten einerseits die Bun­ desrepublik zum Satrapen eines Imperialismus US-amerikanischer Prove­ nienz auf. 6816 Andererseits boten sie eine pessimistische Einschätzung zum sozialrevolutionären Potential Westdeutschlands. Skeptisch sah die „Rote Armee Fraktion“ die Möglichkeit, „eine Organisation zu schaffen, die gleichzeitig Ausdruck und Initiator des notwendigen Vereinheitlichungs­ prozesses“6817 im deutschen Proletariat ist. Jedenfalls ließe sich das Band zwischen Sozialisten und Arbeitern nicht „durch programmatische Erklä­ rungen ‚schweißen‘“6818. Im Geiste Guevaras und Debrays – in ihren Schriften jeweils notorische Kritiker legalistischer kommunistischer Orga­ nisationen6819 – erteilte sie damit dem Revolutionsmodell der leninisti­ schen „Partei neuen Typs“ eine Absage. Zeitgleich warf sie den Blick auf die ihr opportun erscheinende Vorgehensweise: „den konkreten antiimpe­ rialistischen Kampf“6820. Hierunter verstand die „Rote Armee Fraktion“ eine an lateinamerikanische Stadtguerilleros angelehnte „revolutionäre In­ terventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften.“6821 Welche strategischen Etappen diese Kräfte im Einzelnen zu durchschreiten

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Ebd. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 27. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 32-33. Ebd., S. 37. Ebd. Vgl. Debray 1967, S. 69; Lahrem 2005, S. 79. ID-Verlag 1997, S. 37. Ebd., S. 41.

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hatten, ließ die „Rote Armee Fraktion“ im „Konzept Stadtguerilla“ aller­ dings weitgehend offen. Unter dem Grundsatz des „Primats der Praxis“ richtete sie ihr Augenmerk in erster Linie auf den Moment des beginnen­ den „bewaffneten Kampfes“6822 – dies erinnerte stark an die programmati­ sche Arbeit der uruguayischen „Tupamaros“. Auch diese hatten zugunsten strategischer Flexibilität davon abgesehen, zunächst detaillierte operative Planungen vorzunehmen und diese sodann zu realisieren.6823 Berechtigt ist daher der in der Literatur zu findende Vorwurf eines „Theoriedefizits der ‚Roten Armee Fraktion‘“6824. Lediglich mit einzelnen, allgemein gehaltenen Passagen schilderte die RAF, wie sie die „Massen“ auf ihre Agenda einzuschwören beabsichtig­ te. So sollten terroristische Aktionen darauf zielen, „den staatlichen Herr­ schaftsapparat an einzelnen Punkten zu destruieren, stellenweise außer Kraft zu setzen“6825. Dies würde „den Mythos von der Allgegenwart des Systems und seiner Unverletzbarkeit […] zerstören“6826. Infolge der An­ griffe der „Stadtguerilla“ ergebe sich schließlich die „Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt“6827 der in der Legalität agierenden „pro­ letarische[n] Organisationen“6828. Auch würden hierdurch Klassenkämpfe vorangetrieben werden.6829 Die langfristige Perspektive der „Roten Armee Fraktion“ bestand in dem Willen, durch einen nationalen politischen Um­ bruch in Westdeutschland nicht nur die deutsche Bevölkerung vom – vermeintlichen – kapitalistischen Joch zu befreien, sondern auch zum glo­ balen Zersplittern imperialistischer Macht beizutragen.6830 Frappierend ist: Die RAF legte beim Formulieren dieser strategischen Leitlinien besonde­ res Gewicht auf die Taktik, aus dem Untergrund heraus zu agieren. Zwar gestand sie ein, das Abtauchen in die Illegalität schließe die Mitarbeit in und das Beeinflussen von legalen politischen Projekten aus.6831 Das Wissen um eine solche Abschottung mündete aber nicht in einem nüchternen, kritischen Blick. Im Gegenteil: Das Abreißen aller Brücken zur Legalität verklärte das „Konzept Stadtguerilla“ unverhohlen zur revolutionären Tu­

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Vgl. ebd., S. 40. Vgl. Núñez 1970, S. 33. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 43. ID-Verlag 1997, S. 42. Ebd. Ebd., S. 31. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 42.

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gend. Was vor der Baader‑Befreiung theoretisch von den RAF-Gründern favorisiert worden, praktisch jedoch nicht zum Tragen gekommen war, galt nunmehr endgültig und ausnahmslos als erstrebenswert. Die Illegali­ tät wertete das Papier als „Offensiv-Position für revolutionäre Interventi­ on“6832, welche „dem Zugriff der Polizei entzogen bleibt.“6833 Folgerichtig postulierte die „Rote Armee Fraktion“, terroristischer Gewalt gehe „die Organisierung eines illegalen Apparates voraus“6834. Der in der Illegalität verweilende Terrorist kämpfe, „[o]hne den Rückzug in bürgerliche Berufe offen zu halten, ohne die Revolution nochmal an den Nagel im Reihen­ haus hängen zu können“6835. Tatsächlich nahm die „Rote Armee Fraktion“ erheblichen Aufwand in Kauf, um einen linksterroristischen Untergrund aufzubauen. Es entstand ein Netzwerk aus konspirativen Wohnungen, das um einen Fuhrpark aus gestohlenen Fahrzeugen und Geräten zum Fälschen von Ausweisdo­ kumenten ergänzt wurde.6836 Die Mitglieder selbst veränderten ihr Äuße­ res.6837 Wie Irmgard Möller zugab, bildete diese Taktik der RAF einen wei­ teren „Streitpunkt“6838 in den nach der Baader-Befreiung zu verzeichnen­ den Gesprächen mit dem „Blues“: „Ist es richtig, wenn eine ganze Gruppe in die Illegalität geht, oder sollen nur die abtauchen, die müssen, weil sie gesucht werden?“ 6839 Der hierzu und zu anderen Punkten geführte Schlag­ abtausch sei stark von Emotionen bestimmt gewesen. Eine durchgehend sachliche inhaltliche Diskussion habe nicht stattgefunden – die Fronten seien verhärtet gewesen: „Vieles wurde gar nicht mehr ausgesprochen un­ ter uns.“6840 Diese Darstellung korrespondiert mit den Aussagen ehemali­ ger Mitglieder der „Tupamaros Westberlin“. Die Entscheidungen der „Ro­ ten Armee Fraktion“, sich in der Illegalität unter anderem durch ein ange­ passtes optisches Erscheinungsbild unkenntlich zu machen und den eige­ nen Aktionsraum aus Gründen der Tarnung auszudehnen, reduzierten die TW verächtlich auf das simplifizierende Stereotyp, die Mitglieder der RAF bewegten sich „im Vertreter‑Outfit“6841 und „rasen […] irgendwo durch

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Ebd., S. 48. Ebd., S. 42. Ebd. Ebd., S. 43. Vgl. Horchem 1988, S. 43-44. Vgl. Jäger/Böllinger 1981, S. 170; Peters 2008, S. 218-219, 295-296. Möller/Tolmein 1999, S. 34. Ebd. Ebd. Michael Baumann, zit. n. Meyer 2008, S. 177.

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Westdeutschland im BMW.“6842 „Die waren […] in Neubauwohnungen verschwunden, mit kurzen Haaren und da standen dikke [sic] Autos vor der Tür“6843, schrieb Baumann ergänzend. Diesem Vorgehen im Verborge­ nen stellten die „Tupamaros Westberlin“ bewusst ihre Regionalität und die daraus resultierende Vernetzung in den örtlichen Gegebenheiten in Westberlin entgegen.6844 „[W]ir [folgten] der Auffassung der RAF nicht, die von einem zentralen Führungsstab aus verschiedene Personengruppen in einzelne Orte lenkte, ohne dass diese Personen sich dort hinsichtlich der Örtlichkeit, der Bewohner und deren aktuellen [sic] Problemen [sic] auskannten“6845, schilderte Heinz Brockmann. Mithin verwirklichten die „Tupamaros“ die initialen Ideen der „Roten Armee Fraktion“. Mit dem „Konzept Stadtguerilla“ verschrieb sich die RAF einer opera­ tiven Ausrichtung, welche in dieser Form nur Fragmente der lateiname­ rikanischen Stadtguerilleros umsetzte. Weder Marighella noch die „Tu­ pamaros“ waren von einer Gruppe ausgegangen, die in Gänze auf ein Mit­ gestalten legaler politischer Diskurse verzichtet. Gerade in diesem Stand­ bein der „Stadtguerilla“ hatte Marighella ein Mittel zum Mobilisieren der städtischen Bevölkerung gesehen: „Our strategic principle with respect to the urban mass movement is to participate in it with the objective of creating an infrastructure for armed struggle by the working class, students and other forces”6846. Ähnliche Annahmen waren in den theore­ tischen Überlegungen der MLN zu finden.6847 Nicht übersehen werden durfte jedoch, dass sich das „Konzept Stadtguerilla“ keinesfalls auf ein homogenes, gruppeninternes Meinungsbild stützte. Wenngleich die „An­ tiimperialisten“ ab Sommer 1970 den Ton angaben, konnten sie einer basisbezogenen, – vermeintlich – „volksnahen“ Strömung und deren tra­ ditionalistischer Haltung gegenüber lateinamerikanischen Befreiungstheo­ rien nicht das Wasser abgraben. Dies kulminierte im Frühjahr 1971 in einer öffentlichkeitswirksamen Konkurrenz nach differierenden Prämissen gestalteter strategischer Programme aus den Reihen der RAF. Denn kurz nach dem „Konzept Stadtguerilla“ zirkulierte das Traktat „Über den be­ waffneten Kampf in Westeuropa“ von Horst Mahler – Verfechter einer

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Baumann 1980, S. 99. Ebd., S. 91. Vgl. ebd., S. 99. Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 76. Marighella 2002b, S. 40. Vgl. Núñez 1970, S. 30-31.

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wahlweise als „Sozialguerilla“6848 und „stadtteilguerilla“6849 beschriebenen terroristischen Gruppe. Mahler saß ab Oktober 1970 in Haft und war dementsprechend weitgehend abgekoppelt von der Willensbildung im ter­ roristischen Untergrund. 6850 Eigenen Aussagen zufolge verschaffte ihm die Haft „die Möglichkeit, einerseits theoretische Dinge aufzuarbeiten, zum anderen […] eine kritische Distanz einzunehmen zu dem, was draußen […] weiterlief.“6851 Angeblich war Mahler eine solche Reflexion zuvor in der Illegalität als Aufgabe im Falle seiner Verhaftung zugewiesen wor­ den.6852 Anders als Meinhof gab sich Mahler nicht unter Verweis auf die Vor­ rangigkeit terroristischer Praxis mit kursorischen Ausführungen zum Re­ volutionsmodell des Zirkels zufrieden. Mit seinem im Mai 1971 unter dem verschleiernden Titel „Die neue Straßenverkehrsordnung“ veröffent­ lichten Beitrag stellte er eine Ausarbeitung bereit, die „als einzige der verschiedenen Texte der ‚RAF‘ eine geschlossene Strategie entwickelte.“6853 Durchdrungen war sie von dem Gedanken, die „aussichtsreichen Formen des militärischen Kampfes zur Entmachtung des Kapitals“6854 zunächst analytisch zu bestimmen und anschließend in der Praxis zu überprüfen und anzupassen.6855 Wie zuvor Meinhof verwarf Mahler die Vorstellung einer sozialen Revolution nach klassischen marxistisch‑leninistischen Prin­ zipien.6856 Dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich ganz im Sinne Wladimir Iljitsch Lenins mit der Frage auseinanderzusetzen, aus welchen Gründen die industrielle Arbeiterschaft in Deutschland nicht an revolutio­ nären Aktivitäten mitwirke, „junge Angehörige der Intelligenzschicht, ins­ besondere Studenten“6857, hingegen „an allen Fronten“6858. Letztgenannte seien „Träger des zeitgenössischen revolutionären Bewusstseins“6859, weil ihre persönliche Situation im kapitalistischen Herrschaftssystem die Fähig­ keit einräume, zurückliegende Erlebnisse und daraus gezogene Schlussfol­

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Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 182. Bakker Schut 1987, S. 108. Vgl. Jander 2006, S. 384. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 188. Vgl. Jander 2006, S. 384. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 116. Vgl. auch Jesse 2001, S. 197. ID-Verlag 1997, S. 52. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 52-53. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 66.

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gerungen begreifend in die eigenen Gedankenprozesse zu integrieren.6860 Mithin würden sie über ein „Abstraktionsvermögen verfügen, das es ihnen ermöglicht, die in den Klassenkämpfen der Gegenwart gesammelten Er­ fahrungen auf dem historischen Hintergrund […] zu analysieren […] und zu verallgemeinern.“6861 Ihr Antikapitalismus resultiere aus einer „Sensibi­ lität für Herrschaftsstrukturen“6862, die wiederum auf eine Zwischenpositi­ on der Studenten im Verhältnis von Ausbeutern und Arbeitern sowie auf die mit ihr verbundene reale Gefahr eines Abrutschens in das Proletariat zurückgehe.6863 Dem Proletariat fehlten diese Eigenschaften aufgrund der „Anpassung an seine ökonomische Position im Produktionsbereich“6864. Hiermit schrieb Mahler die Arbeiterschaft allerdings nicht ab. In ihr mein­ te er eine ubiquitäre Aggressivität erkennen zu können, welche sich durch avantgardistisches Anleiten kanalisieren ließe.6865 Bei korrektem Vorgehen würden die Studenten „die heute noch abseitsstehenden Schichten des Proletariats mobilisieren und mitreißen.“6866 In dieser Situation erwachse aus dem individuellen ein kollektiver proletarischer Unmut, womit die zentrale Bedingung für einen politischen Umbruch gegeben wäre.6867 Nicht unbeantwortet ließ Mahler, welche Schritte die Studenten künftig zu unternehmen hatten.6868 Seiner Einschätzung nach bedurfte es auf dem Weg zu einer Zäsur zwingend „eines langwierigen bewaffneten Kampfes gegen den staatlichen Unterdrückungsapparat“6869, vor allem gegen die ihm unterstellten Streitkräfte. „Abzutragen ist der Berg der militärischen Potenz des bürgerlichen Staates.“6870 Diese Herausforderung müsse mithil­ fe eines gewaltsamen Konfliktes gelöst werden, da andere Optionen, wie zum Beispiel ein landesweiter koordinierter Aufstand der Arbeiter oder eine das Militär schwächende kriegerische Auseinandersetzung mit einem anderen Staat, nicht erfolgversprechend oder greifbar seien. In seinen wei­ teren Ausführungen bediente Mahler extensiv lateinamerikanische Vor­ stellungen zum Agieren einer „Stadtguerilla“, wobei der von Ulrike Mein­

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Vgl. ebd., S. 64. Ebd. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 65-66. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 67-68. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 53. Ebd., S. 72.

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hof hergestellte Konnex zwischen nationaler Befreiung und dem globalen Kampf gegen den Imperialismus keine ausführliche Würdigung erfuhr.6871 Theorien zur ruralen Guerilla ließ er bewusst außen vor.6872 Unübersehbar war ein Beeinflussen Mahlers durch die Annahmen Carlos Marighellas.6873 Den Beginn eines „Guerillakriegs“ sah er in der Bildung bewaffneter Einheiten in diversen urbanen Räumen, deren erste Aktionen dem Prole­ tariat die Existenz und Überlebensfähigkeit einer gewaltsam agierenden Opposition anzeigen sollten.6874 Mahler sprach sinnbildlich von Spreng­ mitteln, die in „das Bewusstsein der Massen“ 6875 geworfen werden würden. Erforderlich sei in jedem Fall eine Vernetzung dieser Gruppen.6876 Durch koordiniertes Vorgehen solcher Zirkel gegen „alle Institutionen des Klas­ senfeindes“6877 – einschließlich terrorisierender Maßnahmen gegen Ein­ zelpersonen aus Verwaltungs-, Bildungs-, Sozial- und Justizbehörden6878 – sehe sich der Staat rasch mit „örtliche[n] Widerstandszentren“6879 kon­ frontiert, die ihn zur räumlichen Konzentration seiner Sicherheitskräfte zwingen würden. Einerseits könne die „Stadtguerilla“ hierdurch größere Gruppen des Feindes angreifen. Andererseits begünstige dies einen par­ tiellen territorialen Kontrollverlust des Staates, könne dieser doch nun­ mehr nicht weiterhin permanente flächendeckende polizeiliche Präsenz zeigen.6880 Darüber hinaus komme es zu einem zunehmenden Demora­ lisieren der gegnerischen Kampfformationen.6881 In den Bereichen, die nicht mehr durchgehend unter staatlicher Aufsicht stünden, könne eine „politische Organisation des Proletariats“6882 durch das Zurückdrängen der „Herrschaft der Besitzenden“6883 die Grundlagen einer neuen Gesell­ schaftsordnung schaffen. Zur Erfüllung dieser Aufgabe würde sie bei Be­ darf auf „Milizgruppen“6884, „bewaffnete Abteilungen des Proletariats“6885

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Vgl. ebd., S. 72-77. Vgl. ebd., S. 72. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 114. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 86. Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 75. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 77-78. Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 74-76. Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd., S. 75. Ebd., S. 85.

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zurückgreifen. Die „Guerilla“ solle die Funktion dieser „Miliz“ nur in Aus­ nahmefällen wahrnehmen.6886 In der Schlussphase des „Guerillakriegs“, der nach Auffassung Mahlers zwangsläufig eine Transformation des bür­ gerlichen demokratischen Staates zu einer offen faschistischen Diktatur mit sich bringt,6887 müssten „Aktionen der Massen in den Produktionsbe­ trieben“6888 sowie Aktivitäten des bewaffneten Proletariats die verbleiben­ de, schwache Wehrkraft des Gegners zerschlagen. Von der Bevölkerung erhoffte er sich „Demonstrationen, Streiks, Barrikaden“6889. Besonderes Gewicht wies er einem Generalstreik zu.6890 In seinen konzeptionellen Ideen zur „Stadtguerilla“ sah Mahler folglich eine zweigliedrige Struktur vor, deren Komponenten arbeitsteilig zusam­ menwirken. Während die „Stadtguerilla“ den Staat in einem direkten Konflikt stelle, ersetze eine legalistische Struktur der Arbeiterschaft sowie deren bewaffneter Arm kapitalistische Gewohnheiten durch sozialrevolu­ tionäre Mechanismen. Die „Guerilla“ beschrieb er allerdings nicht durch­ gehend als eine rein militärisch anmutende Untergrundorganisation, wo­ mit er sich erheblich von Ulrike Meinhof abhob. Ihre Angehörigen „soll­ ten, solange es irgendwie geht, an der offenen politischen Arbeit in den Betrieben, in den Wohnbezirken und in der Universität teilnehmen.“6891 Diese im Schlussteil seines Beitrags beiläufig vorgestellte Ansicht korre­ spondierte mit dem von Mahler selbst proklamierten „Gebot, in allem der Massenlinie zu folgen“6892. Das Gebot begriff er als die Pflicht, die Meinungen unter Studenten wie der Arbeiter in einem direkten Kontakt in Erfahrung zu bringen und zu bewerten.6893 Als richtig empfundene Überlegungen aus dem Volk müssten schließlich „in verallgemeinerter Form in die Massen zurückgetragen“6894 werden. Nach dem Frühjahr 1971 sah die RAF von etwaigen Signalen ab, wel­ che auf ein Auflösen der mit Meinhofs und Mahlers Positionspapieren im Raum stehenden strategischen Disparitäten hindeuteten. 1974 räumte Meinhof in einem Kassiber ein, die „Illegalen“ hätten Mahlers oppositio­ nelles Traktat weder attackiert noch „eingezogen, nachdem es ohne unser

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Vgl. ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 103-104. Ebd., S. 85. Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 107. Ebd., S 66. Vgl. ebd. Ebd.

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wissen rausgekommen war.“6895 Dieses Stillhalten wurzelte nicht in einer Unkenntnis seiner Inhalte. Die Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ war von den im Untergrund operierenden Aktivisten der Ers­ ten Generation en detail zur Kenntnis genommen und bewertet worden. Pauschal beurteilt hatten sie diese laut Meinhof als „scheisse […], schon weil sie so akademisch-ambitioniert, ml-gestelzt“6896 abgefasst worden war. Besonderen Unmut soll Mahlers Diktum erregt haben, revolutionäre Ta­ ten bedürften zuvor theoretischer Herleitung.6897 Dies sei als verräterisch aufgefasst worden, „denn raf heißt praxis, bewaffneter antiimperialistischer kampf und nicht: noch ne theorie.“6898 Der Verzicht auf eine außenwirksa­ me Reaktion zu Mahlers Gedanken begünstigte das Verstetigen der inhalt­ lich heterogenen propagandistischen Arbeit, in der die RAF ihr Revoluti­ onsmodell gegenüber der Öffentlichkeit kommunizierte. Dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ versicherte Mahler Anfang 1972 das in seiner Schrift „Über den bewaffneten Kampf in Westeuro­ pa“ dargelegte Vertrauen auf das revolutionäre Potential der deutschen Bevölkerung: „Die Legende von der Apathie der Massen ist nur ein Alibi für Versammlungs- und Zirkelsozialisten.“6899 So habe sich die „Zwischen­ schicht der Intelligenz“6900 vom Kapitalismus entfremdet und sozialrevolu­ tionäre Ziele akzeptiert. Nicht nur an diese adressiere die „Rote Armee Fraktion“ ihre Botschaften. Zu den revolutionären Subjekten rechne sie überdies „die Randschichten, […] die Jugend der neuen Mittelschichten, […] das Fabrikproletariat, insbesondere […] Lehrlinge und Jungarbeiter, […] die Partisanen in den Institutionen (Funk, Fernsehen, Presse, Verwaltung, Management usw.).“6901 Eine „Stadtguerilla“ in Westdeutschland müsse anfangs beispielhafte Ak­ tionen vornehmen, welche den staatlichen Apparat treffen. Von einer solchen „Propaganda der Tat“, die bereits während der 1880er Jahre der Anarchist Johann Most gerechtfertigt hatte,6902 versprach sich Mahler ein Unterrichten der Öffentlichkeit zur Bildung und Überlebensfähigkeit ei­ 6895 6896 6897 6898 6899 6900 6901 6902

Bakker Schut 1987, S. 107. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Mahler/Der Spiegel 1972, S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Most 1972, S. 294.

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nes Gegenspielers bestehender Herrschaftsstrukturen. Sie würde den Auf­ takt bilden für einen „Volkskrieg“, der Jahrzehnte in Anspruch nehmen könne.6903 Ohne Bezugnahme auf Mahlers operative Vorstellungen festigte Ulrike Meinhof ihre Interpretation theoretischer Vermittlung mit dem im April 1972 erschienenen Text „Dem Volk dienen“. Inhaltliche Schwerpunkte des Papiers waren aktuelle politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zu­ stände im – vermeintlich – imperialistischen Deutschland. Anhand dieser Analyse suchte sie das in der westdeutschen Linken vertretene Argument zu revidieren, „die Bundesrepublik sei nicht Lateinamerika“6904. Folglich ging es Meinhof in erster Linie um ein Rechtfertigen des einsetzenden Terrorismus. Entsprechend des „Primats der Praxis“ merkte sie lediglich am Rande an, die Gruppe vertrete einen Standpunkt, demzufolge „die Idee der Guerilla, die Mao, Fidel, Che, Giap, Marighella entwickelt haben, eine gute Idee ist“6905. Diese Feststellung war gleichermaßen irreführend wie kryptisch. Sie suggerierte ein universales Modell des Guerillakriegs, das sich selbst bei einem flüchtigen Blick in die Biographien und Schriften der von Meinhof angeführten Theoretiker als unhaltbar erweisen musste. Außerdem ließ sie – anders als Mahlers Pamphlet aus Mai 1971, das in An­ lehnung an Marighella expressis verbis Funktion und Stellung der „Stadt­ guerilla“ niedergelegt hatte – gänzlich unbeantwortet, welche Teilaspekte des chinesischen, kubanischen, vietnamesischen und lateinamerikanischen Guerillakampfes die „Rote Armee Fraktion“ zu übernehmen bereit war. Hinweise hierzu fanden sich indes vereinzelt in anderen Passagen des von Meinhof erarbeiteten Beitrags. Die „Stadtguerilla“ reduzierte sie auf die „Möglichkeit, im Bewusstsein der Menschen die Zusammenhänge im­ perialistischer Herrschaft herzustellen.“6906 Sie bringe die Klassenkämpfe in Westdeutschland voran, weil sie die bisherige legale politische Agitati­ on um ein „illegales“ Standbein erweitere. In der Verknüpfung dieser beiden Säulen sah sie den Schlüssel zum Erfolg, womit sie einem Prinzip zustimmte, das jeder der genannten Theorien des Guerillakriegs inhärent war. Stärker den Lehren des kubanischen Strangs der Guerillatheorie folg­ te Meinhof, als sie klarstellend hinzufügte, die Guerilla könne sich nicht

6903 6904 6905 6906

Vgl. Mahler/Der Spiegel 1972, S. 57. ID-Verlag 1997, S. 128. Ebd., S. 137. Ebd., S. 116.

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„als ‚illegaler Stab‘ einer legalen Organisation bilden“6907. Dies würde zur Zerschlagung der in der Legalität agierenden Struktur führen.6908 Bei allen Unterschieden zwischen Mahlers und Meinhofs strategischen Visionen durfte der übereinstimmende Grundtenor des „Konzepts Stadt­ guerilla“ und des Beitrags „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ nicht übersehen werden: Bestimmendes Element des avisierten „bewaffne­ ten Kampfes“ der „Roten Armee Fraktion“ würde ein kriegsähnliches, dem traditionellen Guerillakampf nahekommendes Bekämpfen der Sicherungs­ mechanismen des in Deutschland – vermeintlich – herrschenden Kapitals sein. Zu dieser ab Mitte 1970 feststellbaren „Kriegsanalogie“6909 der RAF schilderte Mahler, „[w]ir befanden uns subjektiv in irgendeiner Weise im Krieg und haben uns […] in dieser Weise als Soldaten begriffen“6910. Irm­ gard Möller deutete eine „Konfrontation auf Leben und Tod“6911 an, in der sich der Zirkel mit der Polizei gesehen habe. Karl-Heinz Ruhland verwies in der Rückschau auf eine „strategie […] der ‚militärischen‘ zerstörung die­ ses systems“6912 der Bundesrepublik. Der Kerngedanke eines bevorstehen­ den Kriegs, welcher „die Dimension der kriegerischen, bewaffneten Aus­ einandersetzungen im globalen Süden eins zu eins auf die BRD‑Situati­ on“6913 übertrug, fand sich ebenfalls in weiteren, von der RAF Ende 1971/ Anfang 1972 erarbeiteten Dokumenten. Das im Dezember 1971 entdeck­ te Schreiben an die nordkoreanische Regierung legte den Schwerpunkt im Allgemeinen auf eine „militärische Ausbildung“6914, im Speziellen auf das „Pistolen- und Maschinenpistolenschießen“6915. Die RAF hob hervor, sie könnte revolutionäre „Arbeit, wenn wir militärisch besser ausgebildet wären, besser machen“6916. Im Januar 1972 ließ Baader der „Deutschen Presseagentur“ einen persönlich unterzeichneten Brief zukommen, in dem die operative Ausrichtung der „Roten Armee Fraktion“ den „Widerstand gegen die Faschisierung der parlamentarischen Demokratie“6917 beinhalte­ te. Zweifelsohne war damit ein gewaltsames Aufbäumen gegen die als zu­

6907 6908 6909 6910 6911 6912 6913 6914 6915 6916 6917

Ebd., S. 137. Vgl. ebd. Jäger/Böllinger 1981, S. 163. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 188. Möller/Tolmein 1999, S. 59. Karl-Heinz Ruhland, zit. n. Jander 2008, S. 152. Taufer 2018, S. 57. Rote Armee Fraktion, zit. n. Kraushaar 2006e, S. 90. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd. Baader 1972.

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nehmend repressiv empfundene Sicherheitsarchitektur Westdeutschlands gemeint. Des Weiteren ginge es um den „Aufbau der ersten regulären Einheiten der Roten Armee im Volkskrieg“6918. Die in militärischen Kategorien angelegte Strategie der „Roten Armee Fraktion“, der „Angriff der RAF auf das ‚Herz des Staates‘“6919 spiegelte sich denn auch im Frühjahr 1972 in der „Mai-Offensive“ wider – dies in praktischer und propagandistischer Hinsicht. Mit Ausnahme des Anschla­ ges auf das „Springer“‑Verlagshaus in Hamburg traf die Gewalt staatliche Macht, wobei mit jeweils zwei Aktionen gegen das US-Militär und die westdeutsche Polizei bevorzugt bewaffnete Organe angeblicher Gegenspie­ ler ins Visier gerieten. Den Anschlägen folgten kurze Erklärungen, welche – so Irmgard Möller – „vermitteln sollten, worum es uns ging.“6920 Da­ rin dienten sicherheitspolitische Reaktion und Eskalation im In- und Aus­ land als Grundlage zur Begründung des „bewaffneten Kampfes“. Aktuelle ökonomische oder soziale Problemstellungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft deutete die RAF lediglich mit dem Hinweis an, im Kapitalis­ mus seien die Werktätigen „Dreck“6921. Einer „brutalen Selbstherrlichkeit der Fahndungsbehörden, dem ‚kurzen Prozess‘ der Faschisten“6922 sowie dem – vermeintlich – verbrecherischen Handeln der US‑amerikanischen Armee6923 in der Dritten Welt stelle der Zirkel einen „schrittenweisen Auf­ bau der revolutionären Guerilla“6924 entgegen. Mit derartigen Aussagen präsentierte die „Rote Armee Fraktion“ in nuce eine „Tit for tat“-Strategie, welche die von ihr als negativ beurteilten staatlichen Schachzüge durch de­ struktive Handlungen zu beantworten suchte. Hiermit verband sie nichts Geringeres als den Anspruch, nationale und internationale Entwicklungen rückgängig machen oder durchbrechen zu können. Dieses von der RAF gezeichnete Bild eines im Grunde technischen Kräftemessens waffenstar­ render Parteien wies mitunter erpresserische Züge auf: Die „Guerilla“ werde „sooft und solange Sprengstoffanschläge gegen Richter und Staats­ anwälte durchführen, bis sie aufgehört haben, gegen die politischen Gefan­ genen Rechtsbrüche zu begehen.“6925 Annähernd gleichlautend las sich das Tatbekenntnis zum Anschlag auf den Verlag „Axel Springer“: „Wir 6918 6919 6920 6921 6922 6923 6924 6925

Ebd. Dia-Gruppe 2001. Möller/Tolmein 1999, S. 58. ID-Verlag 1997, S. 147. Ebd., S. 145. Vgl. ebd., S. 145, 148. Ebd., S. 145-146. Ebd., S. 146.

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werden unsere Aktionen gegen die Feinde des Volkes erst einstellen, wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“6926 Während sich die „Rote Armee Fraktion“ Anfang 1972 auf die Legitima­ tion und das Verwirklichen ihrer zum „Krieg“ stilisierten terroristischen Kampagne fokussierte, schlossen sich die „Tupamaros Westberlin“ mit anderen Westberliner Aktivisten zur „Bewegung 2. Juni“ zusammen. Von Beginn an definierte diese Gruppe ihre strategische Ausrichtung über eine negative Abgrenzung zur RAF. Gesehen werden wollte sie als „eine pro­ letarische Antwort, eine Antwort der Subkultur auf die Ansprüche der RAF“6927, will heißen: Mit Blick auf die operativen Entscheidungen des linksterroristischen Mitstreiters kultivierten die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ explizite Antworten auf die Frage, was sie nicht anzunehmen gedachten. Eigene Vorstellungen zum präferierten Revolutionskonzept be­ standen innerhalb des Zirkels hingegen nur in rudimentärer Form. Lutz Korndörfer zufolge war „die Revolution beziehungsweise Überwindung des verachteten kapitalistischen Systems zwar ‚Fernziel‘“6928 der B2J. Ihr „fehlte […] [aber] ein übergeordneter Plan, mittels dessen es zu erreichen gewesen wäre.“6929 Bemerkbar machte sich dies vor allem in der propagan­ distischen Vermittlung: Im Gegensatz zur „Roten Armee Fraktion“ blieb die „Bewegung 2. Juni“ durch spärliche und inhaltlich karge Erklärungen „eine ‚blasse‘ Erscheinung“6930. Verglichen mit der RAF lag somit ein noch größeres theoretisches Defizit vor. Gezeichnet wurde dieses Bild nicht allein durch wissenschaftliche Ab­ handlungen. Auch ehemalige Protagonisten der „Bewegung 2. Juni“ ka­ men rückblickend zu einem derartigen Urteil. Laut Till Meyer hatten die Gründer des Zirkels „keine genaue Vorstellung davon, wie das [die ‚Stadt­ guerilla‘] aussehen sollte“6931. Und weiter: „Vieles war völlig unklar“6932. Offenbar setzte sich diese anfängliche Unsicherheit fort, denn Meyer hielt mit Blick auf den Zeitraum nach seinem Gefängnisausbruch Ende 1973 fest: „[U]nsere Vorstellungen waren diffus, und oftmals fehlte uns der rich­ tige Ansatzpunkt.“6933 Diese Schilderung deckte sich mit den Erinnerun­ gen Gerald Klöppers. „[E]ine Vorstellung von systematisch geplanter ‚Stra­ 6926 6927 6928 6929 6930 6931 6932 6933

Ebd., S. 147. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Korndörfer 2008, S. 248. Ebd. Ähnlich Diewald-Kerkmann 2009, S. 217. Rabert 1995, S. 191. Meyer 2008, S. 197. Ebd. Ebd., S. 308.

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tegie‘ hatten wir eigentlich nicht“6934, schrieb er zu seiner Mitgliedschaft in der „Bewegung 2. Juni“. Besonders bezeichnend war in diesem Kontext zudem eine Replik auf die Auflösungserklärung der B2J, welche Ronald Fritzsch, Ralf Reinders und Klaus Viehmann 1980 verfassten. Demnach sei der Zirkel „aus den sozialen Zusammenhängen“6935 seiner Mitglieder entstanden und nicht – wie die „Rote Armee Fraktion“ – auf dem Boden eines „theoretischen Revolutions‑Modells.“6936 Neben dem avantgardistischen Selbstbild der „Roten Armee Fraktion“ lehnte die „Bewegung 2. Juni“ einen hochgesteckten strategischen An­ spruch ab, wie ihn die RAF während ihrer „Mai-Offensive“ 1972 mit Bom­ benanschlägen erstmals materialisierte. In den Augen von Ralf Reinders hatte die Gruppe um Andreas Baader „an zu vielen Punkten angefangen, Fronten aufzubauen: zum Staat, zu den USA durch die antiimperialisti­ schen Aktionen, zur Justiz.“6937 Damit vertrat Reinders einen Standpunkt, den gleichermaßen die italienischen „Roten Brigaden“ um Renato Curcio in ihrem distanzierten Verhältnis zur „Roten Armee Fraktion“ einnehmen sollten.6938 Als problematisch erachtete die B2J zudem die Form, in der die RAF ihren „bewaffneten Kampf“ realisierte. Nicht zielführend war aus ihrer Sicht, lediglich „irgendwelche Einzelaktionen durchzuführen, die zwar eine hohe militärische Wirkung haben […], aber den ganzen Kon­ flikt auf die Ebene des Krieges bringen.“6939 Diesem Vorwurf einer „völli­ ge[n] Verselbstständigung des bewaffneten Kampfes zum Krieg“6940 lagen mehrere Annahmen zugrunde. Für die „Bewegung 2. Juni“ blieben die antiimperialistisch begründeten, aufsehenerregenden Anschläge der RAF ohne mobilisierende Funktion. Anhand derartiger Angriffe sei ausschließ­ lich unter Beweis gestellt worden, so Klöpper, dass einzelne Aktivisten sich technische Expertise angeeignet haben und „intellektuell in der Lage sind, ihr Konzept von der Guerilla […] in den Zusammenhang der Krise des Imperialismus zu stellen“6941. Darüber hinaus gingen die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ im Gegensatz zur „Roten Armee Fraktion“ nicht von der Idee aus, die staatliche Sicherheitsarchitektur „mit zwei Dutzend

6934 6935 6936 6937 6938 6939 6940 6941

Klöpper 1987, S. 64. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 810a. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 24. Vgl. auch Baumann 1980, S. 129. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 71. Klöpper 1987, S. 63-64. Ebd., S. 62. Ebd., S. 64.

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Leuten“6942 auf der Stufe einer unmittelbaren gewaltsamen Konfrontation erfolgreich bekämpfen zu können. Dies „wäre ja eine absurde Vorstellung gewesen – so läuft das ja nicht“6943, äußerte Fritzsch. Derselben Auffassung war Rollnik, als sie zu verstehen gab: „Wir haben uns nie als superstark gesehen und gedacht, wir können hier jetzt den Staat stürzen.“6944 Eine Gegenposition formulierte die B2J ferner in „der Frage der Illegali­ sierung der Kader, die die RAF zum Prinzip erhob.“6945 Auf den „Bruch mit dem bürgerlichen Leben […] hatten wir keinen Bock“6946, erinnerte sich Norbert Kröcher. Laut Inge Viett idealisierte die „Bewegung 2. Juni“ einen Zustand, in dem die Mitglieder „in der legalen Basisarbeit verankert, noch nicht im Fahndungsraster des Staatsschutzes gespeichert waren und gleichzeitig in der illegalen Organisation mitarbeiteten.“6947 „Wir wollten […] die legale Arbeit mit der illegalen politischen Arbeit verbinden“6948, zitierte 1972 das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ein verhaftetes Mit­ glied der B2J. War das Abtauchen in den Untergrund angesichts fortge­ schrittener polizeilicher Ermittlung unvermeidlich, zögerten die Aktivis­ ten jedoch nicht, einen solchen Schritt zu vollziehen.6949 Diese Position habe die Gruppe „aus den für unser Verständnis negativen Erfahrungen der RAF“ 6950 abgeleitet. Das Aufrechterhalten einer legalen Existenz befür­ wortete die „Bewegung 2. Juni“ nicht bloß, weil „es schon genug Leute [gab], die bewaffnet und mit Micky-Maus-Papieren wie Falschgeld durch die Gegend liefen.“6951 Ausschlaggebend für diese Entscheidung war takti­ sches Kalkül.6952 Die Legalität erlaubte den Mitgliedern des Zirkels eine risikoarme Teilnahme an politischen Diskursen, welche sich in der Öffent­ lichkeit ergaben.6953 Überdies minimierte sie die zu erbringende logisti­ sche Arbeit. Anschaulich äußerte Reinders zu diesem Aspekt:

6942 6943 6944 6945 6946 6947 6948 6949 6950 6951 6952 6953

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 115. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 810a. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Viett 2007, S. 145. Namentlich nicht bekanntes Mitglied der Bewegung 2. Juni, zit. n. Der Spie­ gel 1972d, S. 28. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 53. Klöpper 1987, S. 66. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212. Vgl. Schwibbe 2013, S. 74. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 53; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 212.

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„Für jeden Illegalen brauchst du Leute, die eine Pappe [gefälschter Identitätsnachweis] zur Verfügung stellen, brauchst eine Wohnung, ein enormer zusätzlicher Aufwand. Das hätten wir allein als Illegale gar nicht leisten können.“6954 Wie den Primärquellen zur B2J entnommen werden konnte, behielt die Gruppe als „proletarische Alternative“6955 die elementaren strategischen Grundgedanken der „Tupamaros Westberlin“ bei. Auch insofern ließ sich das Entstehen der „Bewegung 2. Juni“ nicht als „existenzielle Neugrün­ dung“6956 begreifen. Aufbauend auf lokalen gesellschaftlichen Auseinan­ dersetzungen und im Zusammenspiel mit legalistischen politischen Initia­ tiven sollten ausgewählte Aktionen die Bevölkerung zu revolutionärem Aufbegehren ermutigen. Die anfänglich nur begrenzte Sympathie für eine soziale Revolution würde sich langsam ausbreiten und schließlich die Ebe­ ne eines Bürgerkriegs erreichen, in dem der Staat militärisch zu schlagen war. Retrospektiv fasste Gerald Klöpper dieses Konzept, das sich „gegen eine Überinterpretation der militärischen Auseinandersetzung Guerilla – Staat gewehrt“6957 habe, unter dem Begriff des „libertären, nicht autoritä­ ren Populismus“6958 zusammen. 1974 äußerte Baumann in einem Interview mit dem Nachrichtenmaga­ zin „Der Spiegel“, in der Wahrnehmung der Mitglieder des Zirkels sollten mithilfe der „Propaganda der Tat, eine[r] alte[n] anarchistische[n] Sache, […] Konflikte angeheizt“6959 werden. Die Aktivisten „wollten durch ständige Verschärfung des Klassenkampfes, bei Fahr­ preiserhöhungen und Lohnkonflikten beispielsweise, allmählich eine revolutionäre Stimmung herbeiführen und sie dann zum Volkskrieg aufladen.“6960 In seiner später erschienenen Autobiographie führte Baumann präzisie­ rend aus, ursprüngliche Intention der „Bewegung 2. Juni“ sei vor allem gewesen, auf alltägliches wirtschaftliches Ausbeuten mit einschüchternden Angriffen auf Unternehmer und Betriebe zu reagieren. Sofern Arbeiter unter zweifelhaften Bedingungen eingesetzt würden, sollte der Privatbesitz

6954 6955 6956 6957 6958 6959 6960

Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 53 Staatsanwaltschaft Westberlin, zit. n. Diewald-Kerkmann 2009, S. 217. Korndörfer 2008, S. 248. Klöpper 1987, S. 65. Ebd., S. 66. Baumann/Der Spiegel 1974, S. 32. Ebd.

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des verantwortlichen Geschäftsführers beschädigt werden. Immobilienfir­ men, welche auf Kosten ihrer Kunden dubiose Entschlüsse trafen, wären „die Büros zerbombt“6961 worden. Zum Erfolgskriterium einer Aktion erhob der Zirkel nicht deren materiellen oder personellen Schaden. Viel­ mehr beurteilte er Aktivitäten nach dem Grad ihrer Nachvollzieh- und Nachahmbarkeit.6962 Laut Baumann versprach sich die B2J von ihren An­ schlägen einerseits ein grundlegendes Umdenken, ein „Zurückschrecken“ der betroffenen Unternehmensleitungen vor unlauterer wirtschaftlicher Praxis.6963 Vergleichbar beschrieb dies Ronald Fritzsch: „Wenn da welche operieren, die notfalls zurückschlagen, dann […] ist die andere Seite schon vorsichtiger.“6964 Andererseits, so die Hoffnung der Gruppe, hätten terroristische Aktionen den – vermeintlich – Ausgebeuteten zu verstehen gegeben, „man kann sich wehren, wenn man […] angreift“6965. Durch Gewaltanwendung würden sie begreifen, dass Veränderungen grundsätz­ lich möglich sind und sich „der Staat zu Zugeständnissen zwingen“6966 lässt. Als revolutionäre Subjekte wertete die „Bewegung 2. Juni“ allerdings nicht ausschließlich gewöhnliche Bürger, wie zum Beispiel Mieter, deut­ sche Proletarier und „Gastarbeiter“6967. Inge Viett zufolge richtete sie ihr Augenmerk überdies auf linke Organisationen, welche in „politisch‑sozia­ le[n] Konflikte[n]“6968 aktiv waren. Langfristiges Ziel etwaiger Interven­ tionen der B2J im Umfeld der als interessiert unterstellten Dritten sei gewesen, die dortige, ohnehin „hohe, aber diffuse Militanzbereitschaft zu organisieren und politisch effektiver zu machen.“6969 Individuen sollten dazu gebracht werden, „bei erlittenem Unrecht nicht immer wieder klein beizugeben“6970. Das Resultat dieses Prozesses, der „die Köpfe und Herzen der Menschen“6971 zu erobern suchte, beschrieben ehemalige Mitglieder

6961 6962 6963 6964 6965 6966 6967 6968 6969 6970 6971

Baumann 1980, S. 100. Vgl. Klöpper 1987, S. 63-64. Vgl. Baumann 1980, S. 100. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41. Baumann 1980, S. 100. Rollnik/Dubbe 2007, S. 18. Baumann 1980, S. 101. Viett 2007, S. 88. Ebd. Klöpper 1987, S. 66. Ebd.

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der „Bewegung 2. Juni“ variierend als gesellschaftliche „Gegenmacht“6972, „Massenbewegung“6973 oder „größeren, breiten Widerstand“6974. Bereits kurz nach der Gründung der B2J machten Norbert Kröcher und Peter‑Paul Zahl dem sympathisierenden Umfeld die in der Gruppe zirku­ lierenden fragmentarischen Gedanken zu einer Strategie des „bewaffneten Kampfes“ zugänglich.6975 Im „Programm der Bewegung 2. Juni“ gerierte sich der Zirkel erstmals öffentlichkeitswirksam als Kontrast zu den Überle­ gungen der Theoretiker der „Roten Armee Fraktion“, die – Meinhof mehr noch als Mahler – die oberste Priorität der „Stadtguerilla“ im Militärischen angesiedelt hatten. Das „Gewehr allein und der Vollzug ‚revolutionärer Aktionen‘“6976 seien im „Widerstand“ nicht ausreichend, konstatierten die Verfasser des Textes. Vielmehr sei ein „Aufzeigen revolutionärer Inter­ ventionsmethoden zur Lösung des Grundwiderspruchs in kapitalistischen Ländern“6977 angezeigt. Hierunter subsumierte die B2J unterschiedlichste Aktionen, darunter „die direkte Unterstützung von Massenkämpfen, […] die Propagie­ rung von Kampfmethoden nationaler und internationaler Lohnabhän­ gigenmassen, […] die Aufklärung über Möglichkeiten neuer Kampf­ methoden.“6978 Wie sehr diese operativen Prinzipien von denen der RAF abwichen, zeigte sich an der Definition des Kriegsbegriffs. Zwar rückte auch die „Bewegung 2. Juni“ einen „Krieg gegen Staat und Kapital6979“ in den Mittelpunkt. Das „Kriegführen“6980 legte sie aber nicht als Praxis aus, welche der Links­ terrorismus selbst bereits in seiner gegenwärtigen Situation reklamieren könnte. Die B2J sah hierin eine graduelle Entwicklung, die auf Grundla­ ge von Lernprozessen und unter Einbeziehung als interessiert unterstell­ ter Dritter ihrem Höhepunkt entgegenschreiten würde.6981 Entsprechend hielt sie fest, „Praxis heißt für uns: Schaffung militanter legaler Gruppen, Schaffung von Milizen, Schaffung von Stadtguerilla – bis zur Armee des

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Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 41. Rollnik/Dubbe 2007, S. 19. Ähnlich Viett 2007, S. 88. Klöpper 1987, S. 63. Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 228. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 10. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd. Vgl. ebd.

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Volkes.“6982 Um diese vielfältigen Aufgaben wahrnehmen zu können, verpflichte sich die B2J einem parallelen Agieren in der Legalität und Illegalität: „Die militärische Linie der Bewegung 2. Juni ist nicht von der politischen Linie getrennt und ist ihr nicht untergeordnet.“6983 So würden die „legal arbeitenden Genossen […] an der Basis, in den Stadtteilen, Be­ trieben, Basisgruppen, in den Schulen und Universitäten“6984 wirken und dort die Gründung „revolutionärer Milizen […] propagieren und […] in­ itiieren“6985 sowie die „Vereinheitlichung der städtischen Massenfront“6986 vorantreiben. Demnach zeichnete das Programm der „Bewegung 2. Juni“ nicht die von Meinhof und Mahler angenommene schematische Arbeits­ teilung nach, die der „Stadtguerilla“ das Destruieren des Staates6987 und Abtragen seiner „militärischen Potenz“6988 überließ, den legalistischen sozialrevolutionären Strukturen hingegen den Aufbau der „neuen Gesell­ schaft“. Wer Inge Viett folgt, versteht die sich im „Konzept Stadtguerilla“ sowie in der programmatischen Schrift der B2J manifestierenden strategisch-tak­ tischen Differenzen als Grundstein für das im Allgemeinen angespannte Verhältnis zwischen beiden Akteuren. Fortan hätten sich „zwei politische Linien“6989 weitgehend unversöhnlich gegenübergestanden: „‚In Berlin wird keine Politik entschieden, was versteckt ihr euch in der politischen Provinz‘, hatte uns die RAF oft vorgeworfen. ‚Hier haben die Kämpfe begonnen, hier ist unsere Basis, hier kennen wir uns aus‘, haben wir geantwortet. Wir müssen auf dem Niveau des Gegners angreifen, sagte die RAF, und wir fanden: auf dem Niveau der fortschrittlichen Teile der Massen. Massentick und Opportunismus war das für die RAF. Die Wahrheit braucht keine Vermittlung, sie agitiert immer, sagte sie. Die Schweine aus der Elite anzugreifen, das versteht jeder…“6990 Das „Programm der Bewegung 2. Juni“ erschien in einem Zeitraum, in dem die „Rote Armee Fraktion“ aufgrund der Festnahme ihrer Mitglieder

6982 6983 6984 6985 6986 6987 6988 6989 6990

Ebd. Ebd., S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 42. Ebd., S. 72. Viett 2007, S. 99. Ebd.

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erstmals Schiffbruch erlitt. Polizeiliche Fahndung sowie deren Unterstüt­ zung durch die Bevölkerung offenbarten die inferiore Position einer auf die Illegalität fixierten „Stadtguerilla“. Mit der Inhaftierung der Gründer der RAF ergab sich für die Gruppe eine gänzlich neue Ausgangslage des „bewaffneten Kampfs“, welche sich nachhaltig auf Strategie und Taktik auswirkte. Die Inhaftierten der RAF nahmen zunächst unterschiedliche Revolutionsmodelle in den Blick und verschrieben sich schließlich gänz­ lich einer modifizierten Form des bereits vor den Verhaftungen Mitte 1972 konstruierten Topos der kriegführenden Partei,6991 der maßgeblich ihren „Widerstand“ gegen das Haftregime des westdeutschen Strafvollzugs prä­ gen sollte. Die im Untergrund heranwachsenden Nachfolgegruppen der Ersten Generation konzentrierten sich dagegen in extenso auf das kurzfris­ tige Ziel der „Gefangenenbefreiung“.6992 Zweifelsohne vertieften diese Entwicklungen die auf strategischer Ebene existierenden ideellen Gräben zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“. In tak­ tischer Hinsicht jedoch ließ sich eine Angleichung beider Zirkel beobach­ ten, die – zumindest für kurze Zeit – positive Auswirkungen auf ihre Be­ ziehung hatte. 9.3.4 „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“ Noch ehe die Zweite Generation der RAF unter anderem aus dem „Sozia­ listischen Patientenkollektiv“ und linksextremistischer „Gefangenenhilfe“ erwuchs, schlugen die Strategen der Gründergeneration eine gegenüber den „Massen“ skeptische bis feindliche Linie ein, welche die bisherigen Annahmen zu politischen Anknüpfungspunkten in der westdeutschen Be­ völkerung größtenteils verwarf. Mit seiner Rede vor Gericht vom Oktober 1972 wandte sich Horst Mahler von den Arbeitnehmern ab. In ihnen sah er eine Klasse, die „insgesamt im Vergleich zu den Massen in den unter­ entwickelt gehaltenen Gebieten [der Welt] eine privilegierte Stellung“6993 ausschöpfe. Sohin sei die „Revolution [..] ins Exil geschickt“6994 worden, was nach Mahlers Intention wörtlich begriffen werden sollte: Die größte Hoffnung auf eine sozialrevolutionäre Zäsur in einer Industrienation, wie sie die Bundesrepublik verkörperte, sah er in gewaltsamen Kämpfen im

6991 6992 6993 6994

Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 117, 119. Vgl. Jesse 2008, S. 419. Mahler 1972b, S. 5. Ebd.

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unterentwickelten Ausland, dem dortigen „Volkskrieg gegen den Imperia­ lismus“6995. Mithilfe eines Sich-Ausrichtens an den Erforderlichkeiten die­ ser Konflikte6996 suchte er den deutschen Linksterrorismus von einer Bin­ dung an und Rücksichtnahme auf eine Gefolgschaft im Volk zu befreien. Allerdings war er nicht bereit, mit diesem Schachzug die Tür zu einem re­ volutionären Subjekt innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft gänzlich und endgültig zuzuschlagen.6997 Wenn nicht sogleich, so doch langfristig ließen sich die „Massen“ aus seiner Perspektive ebenfalls an den – vermeintlichen – Befreiungskrieg in der Dritten Welt anbinden.6998 Dieser periphere, gegen Ende seiner Prozesserklärung entwickelte Gedan­ kengang barg keine Überraschung. Vielmehr bot er alten Wein in neuen Schläuchen, konservierte Mahler doch in ihm das ab dem Frühjahr 1970 in seinen theoretischen Rechtfertigungen erscheinende Motiv der „Stadt­ teilguerilla“. Wie schon in seinem Text „Über den bewaffneten Kampf in West­ europa“, der ein wachsendes „kämpferisches antikapitalistisches Engage­ ment“6999 der Jugend heraufziehen sah, schrieb er den Jugendlichen im Oktober 1972 eine positive Funktion zu. Den jugendlichen Angehörigen des Proletariats sowie den – nicht näher definierten – Mittel- und Rand­ schichten attestierte er pauschal eine „Wut über vergebliches Leben, […] Empörung wegen erlittener Erniedrigung und […] Hass auf die Schinder­ knechte des Kapitals, die sich zum Bedürfnis nach Revolution formen lassen.“7000 Zu Nutze machen müsse sich die revolutionäre Linke den Antrieb der Jugend, um die „proletarischen Wohnviertel zu revolutionie­ ren.“7001 Unter diese Aufgabe fasste er „Widerstand gegen Bodenspekulan­ ten, Umweltzerstörer, Behördenschnüffler, Mietwucherer, Gerichtsvollzie­ her und […] die Ausländerpolizei“7002 sowie das Schaffen diverser „Selbst­ hilfeeinrichtungen – Kinderläden, Jugendkommunen, Freizeitheime“7003. Das Wirken der Jugend würde die Bewohner der Wohnviertel zu einer revolutionären „Masse“ zusammenschließen. Dieser Prozess könnte auf die

6995 6996 6997 6998 6999 7000 7001 7002 7003

Ebd., S. 8. Vgl. ebd. Vgl. auch Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 50. Vgl. Mahler 1972b, S. 14. ID-Verlag 1997, S. 98. Mahler 1972b, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd.

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„Fabriken“ übergreifen.7004 Obgleich die Lohnabhängigen Profiteure im­ perialistischer Machinationen seien, bleibe ihr „Hunger nach einem sinn­ erfüllten Leben, nach Entfaltung der menschlichen Anlagen und Neigun­ gen, nach menschlicher Wärme und Liebe“7005. Unter dem Eindruck der sich radikalisierenden Wohnquartiere erlangten „diese unbefriedigten Be­ dürfnisse jene Wucht, die die eingeredete und eingebildete Zufriedenheit zerreißt.“7006 Das Bündnis aus mobilisierten Wohnvierteln und „Fabrik­ guerilla“ bilde den Gegenpol zu den „Besatzungstruppen des Kapitals“7007, wobei es seine Waffen durch ein subversives Unterwandern der Bundes­ wehr zunehmend aus deren Beständen erhalten würde.7008 Die „organische Verbindung zum bewaffneten Widerstand“7009 in der Dritten Welt gelän­ ge schließlich durch ein Einbinden ausländischer Proletarier. Mahler ver­ mochte hierin „Basis und Aktionsmöglichkeiten für grenzüberschreitende Kommandos“7010 zu identifizieren. Hinsichtlich des Revolutionspotentials der deutschen Bevölkerung we­ niger drastisch als Mahlers operative Revision vollzog sich Ulrike Meinhofs Bruch mit vorheriger legitimatorischer Arbeit. Öffentlich erklärte sie im November 1972 stellvertretend für die „Rote Armee Fraktion“ in ihrem Traktat „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“, dem west­ deutschen Kapitalismus sei es gelungen, „die Massen […] tief in seinen eigenen Dreck zu ziehen“7011. Daher hätten sie „das Gefühl für ihre Lage als Ausgebeutete und Unterdrückte, als Objekt des imperialistischen Sys­ tems weitgehend verloren“7012. Durch materiellen Konsum, „für’s Auto, ein paar Plünnen, `ne Lebensversicherung und `nen Bausparvertrag“7013 seien sie bereit, verbrecherische Maßnahmen des Kapitals stillschweigend zu akzeptieren. Als Konsequenz dieser Bewertung sah Meinhof im Ge­ gensatz zu Mahler nicht die Notwendigkeit, die marxistische Klasse der industriellen Arbeitnehmer im eigenen Revolutionsmodell vorerst explizit abzuschreiben.7014 Stattdessen weichte sie das konturierte Bild auf, welches

7004 7005 7006 7007 7008 7009 7010 7011 7012 7013 7014

Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 15. ID-Verlag 1997, S. 166. Ebd. Ebd. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 79.

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die RAF zuvor von möglichen Adressaten ihrer Agenda gezeichnet hatte. Meinhof erarbeitete eine weit gefasste Definition zu dem als interessiert unterstellten Dritten: Revolutionäres Subjekt sei „jeder […], der sich aus diesen Zwängen [kapitalistischer Herrschaft] befreit und seine Teilnahme an den Verbrechen des Systems verweigert.“7015 Dies könnten Individuen sein „in den Schulen, in den Hochschulen, in den Betrieben, in den Fa­ milien, in den Gefängnissen, in Großraumbüros, Krankenhäusern, Verwal­ tungen, Parteien, Gewerkschaften – überall.“7016 Meinhof plädierte zwar ebenfalls für eine Anbindung zum „Widerstand“ bereiter Personen an „die Völker der Dritten Welt“7017, vermied aber erneut eine eindeutige, richtungsweisende Positionierung zum weiteren strategischen Vorgehen. Ausdruck dieses anhaltenden Theoriedefizits war der Hinweis: „Die Fragen, wie und an welcher Stelle das System am besten zu bekämpfen, am besten zu erpressen, selbst am schwächsten ist – die Fragen haben wir zu beantworten – nicht nach der Devise: eins nach dem anderen, sondern in der Dialektik von Theorie und Praxis.“7018 In der Literatur zur „Roten Armee Fraktion“ wurden in Meinhofs Schrift „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“ erste Anzeichen einer Strategie der Sabotage erblickt, die politischen Mitstreitern im Aus­ land zum Nutzen gereichen sollte. 7019 So hatte sie beiläufig festgehalten, in den Industrienationen dürfe nicht auf sabotierende Aktivitäten verzichtet werden. Andernfalls „kommt es auf den Ausspruch raus: Die Völker der Dritten Welt sollen mit ihren Revolutionen so lange warten, bis die Mas­ sen in den Metropolen soweit sind“7020. Den Hintergrund dieser Aussage bildete offenbar der Anschlag des „Schwarzen September“ am 4. August 19727021 auf ein Lager der Transalpinen Ölpipeline bei Triest.7022 In späte­ ren Zellenzirkularen Meinhofs zeigte sich der Aspekt der „intervention im bereich imperialistischer logistik“7023 erneut, wobei sie unter den Begriff der „Logistik“ verschiedene Ziele fasste: „militärische Organisation [des

7015 7016 7017 7018 7019 7020 7021 7022 7023

ID-Verlag 1997, S. 166. Ebd., S. 167. Ebd. Ebd. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 118. ID-Verlag 1997, S. 160. Vgl. Riegler 2017, S. 47. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 119. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd.

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Imperialismus]; […] Organisation der Multinationalen Konzerne, deren Mittel ‚Kriegsmittel‘ [sic]; […] Investitionen im Rohstoffbereich.“7024 Mahlers und Meinhofs Überlegungen zur Kopplung des „bewaffneten Kampfs“ an gewalttätige Befreiungsbewegungen im „Trikont“ sowie da­ raus resultierende operative Implikationen wurden innerhalb der RAF scharf kritisiert und schließlich aus dem gruppeninternen Diskurs ver­ drängt.7025 Offenbar nahm Meinhof dies zum Anlass, von einer kursori­ schen zu einer tiefgehenden Identifikation oppositioneller Haltungen in der bundesrepublikanischen Bevölkerung zurückzukehren, die an ihre Beiträge aus dem Jahre 1970 erinnerte. Zum leitenden Gedanken ihres Neupositionierens geriet der bereits im Papier „Die Aktion des ‚Schwar­ zen September‘ in München“ thematisierte Konsum, wobei sie diesen nunmehr nicht einseitig negativ darstellte. Während der ersten Hälfte des Jahres 1973 entwickelte Meinhof unter dem Titel „Die Massen und der Konsum“ eine Analyse, in der sie „aus dem ‚Konsumismus‘ das poten­ tielle revolutionäre Subjekt in den Metropolen herauszudestillieren“7026 suchte. Darin stellte sie zwar das westdeutsche Volk erneut als ein Kol­ lektiv dar, dessen Angehörige sich in Gänze dem Konsum hingegeben hätten. In diesem Verzehr erblickte sie aber zwei Facetten: Einerseits würden die „Massen“ konsumieren, um ihr bloßes menschliches Dasein abzusichern.7027 Andererseits könne durch Konsum eine Sehnsucht nach einem Leben „jenseits der Sphäre der eigentlichen, materiellen Produkti­ on“7028 in einem „Reich der Freiheit“7029 gestillt werden. Um konsumie­ ren zu können, müssten die Arbeitnehmer entweder „viel und schwer arbeiten“7030 oder „fürchterlich viel in den Warenhäusern klauen.“7031 Auf­ bauend auf dieser Dichotomie verstieg sich Meinhof zu der Behauptung, in westdeutschen Haftanstalten säße nicht der Kriminelle ein, sondern lediglich der „kleine Teil der Massen, der beim Klauen erwischt worden ist“7032, sich also „von der herrschenden kapitalistischen Eigentumsfrage bewusstseinsmäßig emanzipiert“ 7033 habe. Dementsprechend war aus ihrer

7024 7025 7026 7027 7028 7029 7030 7031 7032 7033

Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 72, 114-115. Ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 79-80. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 80. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 81. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd.

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Sicht eine soziale Revolution bereits ausgebrochen. Dass diese gegenwärtig nicht von der breiten Bevölkerung getragen wurde, führte sie zurück auf Polizeigewalt und die „eigene berechtigte Angst vorm [sic] Knast.“7034 Die entscheidende Aufgabe sah sie daher im Kampf gegen die Macht der bun­ desrepublikanischen Sicherheitsarchitektur, vor allem gegen polizeiliche Kräfte.7035 Stützen müsse sich dieser auf „diejenigen, deren Einkommen nur für den 1. Teil des Konsums aus­ reicht, die von der Teilnahme am 2. Teil des Konsums ausgeschlossen sind, insofern ihr Drang nach dem 2. Teil des Konsums am stärksten ist. – Studenten, Lehrlinge, Frauen, Schüler, ausl. Arbeiter etc.“7036 Andere in der Haft sitzende Gründer der „Roten Armee Fraktion“ schlu­ gen in ihren theoretischen Überlegungen Wege ein, welche sich an la­ teinamerikanischer Guerillastrategie orientierten und grundsätzlich gegen ein Schwächen des „Klassenstandpunkt[s] des Proletariats in den Metro­ polen“7037 wehrten. Wenngleich dies die ab Ende 1972 durch Mahlers und Meinhofs Internationalismus vertieften Unterschiede zur Strategie der „Bewegung 2. Juni“ abschwächte, waren operative Paradigmen weiterhin trennendes Element im Verhältnis beider Gruppen. So setzte sich Baader Anfang 1973 im Zuge seiner strategischen Reflexion mit der Idee ausein­ ander, „im Rahmen der Praxis kleiner Betriebsgruppen im Stadtteil oder in kleinen Betrieben auf militärischem Niveau zu intervenieren“7038. In dieser Vorstellung erblickte er resümierend eine „ausgesprochen volunta­ ristisch[e]“7039 Vorgehensweise, welche nicht an das operative Agieren süd­ amerikanischer Guerillaorganisationen heranreichen könne. Diese Bewer­ tung barg erhebliche Konsequenzen für das künftige Verhältnis der RAF zu ihrem Umfeld: Nicht nur kanzelte Baader expressis verbis eine Agenda ab, wie sie die „Bewegung 2. Juni“ in ihrem Programm als Reaktion auf den verfehlt geglaubten „bewaffneten Kampf“ der „Roten Armee Frakti­ on“ determiniert hatte. Kategorisch schloss er auch eine Kooperation aus mit „Gruppen, die im Stadtteil oder im Betrieb arbeiten“7040. Ganz im Sin­ ne dieses avantgardistischen Immunisierens stellte Baader den bemängel­ ten konzeptionellen Annahmen ein dreigliedriges Revolutionsmodell ent­ 7034 7035 7036 7037 7038 7039 7040

Ulrike Meinhof, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Ulrike Meinhof, zit. n. ebd., S. 82. Gudrun Ensslin, zit. n. ebd., S. 72. Andreas Baader, zit. n. ebd., S. 69. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd.

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gegen, das im Wesentlichen die Aufbauphase der „Roten Armee Fraktion“ bis zur „Mai-Offensive“ 1972 abbildete. Unverkennbar rekurrierte er dabei stellenweise auf die Fokustheorie und einen ihrer Urheber – den Franzo­ sen Régis Debray. In der ersten Stufe sollten „Aufbau u. Ausbildung, Infrastruktur, Logistik, Geld/Waffen“7041 sowie „Kontakte zu anderen aus­ länd. Kommandos“7042 im Vordergrund stehen. Die zweite Periode ziele auf ein Verankern: Neben einem nachrichtendienstlichen Aufklären des Gegners würde infolge propagandistischer Arbeit eine „Gegenöffentlich­ keit“7043 geschaffen werden. Schließlich bestünden die Voraussetzungen für ein taktisches Aufspalten der „Guerilla“: „[D]er Focus teilt sich“7044. Zum dritten Stadium hielt Baader lakonisch fest: „Militärische Offensive, Aktionen.“7045 Diese Linie fand sich überdies in einem ihm zugeschriebenen Kassiber, den die Sicherheitsbehörden im Juli 1973 entdeckten. Als Schlussfolge­ rung zu den Verhaftungen im Jahre 1972 enthielt das Zirkular die Passage: „aber das soll uns nicht hindern, hindert auch gar nicht das festzustel­ len, die richtigkeit des ‚schockierenden neuen‘, ‚die neue dialektik der aufgabe‘, (debray), was nur eben heißt, dass die revolutionäre bewe­ gung nur noch möglich ist vom militärischen fokus zur politischen be­ wegung, und jeder andere ansatz weder zum einen noch zum anderen führt, sond. an der niederlage mitarbeitet, von innen wie von außen aufgefressen wird“7046. Wie die übrigen Zeilen des Kassibers offenbarten, sollte diese Einsicht in einer weiteren Veröffentlichung der „Roten Armee Fraktion“, einem mit­ unter als „minihandbuch des rev. kampfs brd metropole“7047 vorgesehenen Nachschlagewerk etwaigen „sympathisanten […] (nat. vor allem die an der trinkhalle, an den bus- und ubahn-haltestellen)“7048 zugänglich gemacht werden. Obschon die benannte Zielrichtung der Schrift eine inhaltliche Ausrichtung an Carlos Marighella nahelegte, wurden Régis Debrays Buch „Revolution in der Revolution?“ sowie sein 1971 publizierter Beitrag zu den uruguayischen Tupamaros als Grundlagen des avisierten Papiers be­ 7041 7042 7043 7044 7045 7046 7047 7048

Andreas Baader, zit. n. ebd., S. 116. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd. Andreas Baader, zit. n. ebd. Bundesministerium des Innern 1975, S. 4. Ebd., S. 3. Ebd.

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nannt: In der Zusammenstellung seiner Inhalte würden diese „ziemlich maximal“7049 sein. Gemeint war hiermit nicht eine unverbindliche Orien­ tierung, sondern eine inhaltstreue Übernahme. Denn mit Blick auf die genannten Werke Debrays ließ sich dem Zellenzirkular ergänzend entneh­ men: „von der ‚übertragung‘ eines konzepts, was aller anfang ist, kann […] durchaus schon nicht mehr nur die rede sein, das scheint mir außer zweifel zu stehen.“7050 Gudrun Ensslin teilte die Auffassung, die Strategie der „Roten Armee Fraktion“ entlang der Debray’schen Fokustheorie gestalten zu müssen. Eine solche Übereinstimmung mit Baaders Vorgaben zeigte eine ebenfalls im Juli 1973 in der Haft aufgefundene Notiz, die aus ihrer Feder stam­ men soll. In dieser galt der Aufbau einer Guerilla in Westdeutschland als einzig denkbare Option, wobei zu den Gründen ausgeführt wurde: „und warum/wieso steht außer in unserer erfahrung z.b. nirgends so gut/analy­ tisch wie bei debray, ‚rev. in der rev.‘ und ‚tupamaros‘“7051. Das revolutio­ näre Subjekt beschrieb das Zirkular lediglich vage mit dem Begriff der „Massen“.7052 Ähnlich wie Baader, der in der ihm zugerechneten Korre­ spondenz im Allgemeinen die arbeitende Bevölkerung Westdeutschlands als potentiellen Interessenten sozialrevolutionärer Agitation in den Blick nahm,7053 erhoffte sich Ensslin Zuspruch vom Proletariat. Zu Beginn des Jahres 1973 verwies sie auf die „lösung […] durch das proletariat, die prole­ tarische revolution“7054. Zugerechnet wurde ihr außerdem das Imperativ: „die volksfront aufbauen, das proletariat schützen, gegen die einkreisung die gegeneinkreisung organisieren.“7055 Die operativen Disparitäten innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ ab Ende 1972 nahmen spätestens 1974 deutlich ab. Die tonangebenden „politischen Gefangenen“ akzeptierten einen Standpunkt, der zum einen „eine zunehmende Distanz […] gegenüber den Massen“7056, zum anderen eine unter dem Deckmantel des (Guerilla-)Kriegs verborgene „genuin ter­ roristische Strategie“7057 zu erkennen gab, welche allenfalls in einzelnen Aspekten den Vorgaben der Theoretiker des südamerikanischen „Befrei­

7049 7050 7051 7052 7053 7054 7055 7056 7057

Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 2. Bakker Schut 1987, S. 15. Bundesministerium des Innern 1975, S. 20. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 68. Ebd., S. 120.

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ungskampfes“ entsprach. Insofern trat eine theoretische Kehrtwende ein, die das zuvor insbesondere von Gudrun Ensslin scharf kritisierte Untermi­ nieren des „Klassenstandpunkt[s] des Proletariats in den Metropolen“7058 unter den Inhaftierten salonfähig werden ließ. Die Frage nach den Ursa­ chen dieses frappierenden Wandels bieten Gelegenheit zur Interpretation, da das zugängliche Quellenmaterial hierzu nicht Gewissheit zu schaffen vermag. Eine Lektüre der 1981 veröffentlichten Untersuchung Iring Fet­ schers, Herfried Münklers und Hannelore Ludwigs zur Strategie der „Ro­ ten Armee Fraktion“ suggerierte, dass sich die „politischen Gefangenen“ der Gruppe mit der Analyse „Guerilla im Industriestaat“ befasst hatten, die vom Bundeswehrangehörigen Hans‑Joachim Müller-Borchert im Jahre 1973 erstellt worden war. Anhand Mahlers Traktat „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ gelang Müller-Borchert eine fundierte Falsifikati­ on der in linksterroristischer Propaganda vehement vertretenen These, lateinamerikanische Guerillamodelle könnten auch auf dem Boden eines Industriestaates zur Anwendung kommen. Realiter sei die „Stadtguerilla“ in Westdeutschland nicht in der Lage, so Müller‑Borchert, die Gewalt des Staates territorial zurückzudrängen und in den befreiten Gebieten eine alternative Regierung aus der Taufe zu heben. Konventionelle Arten des militärischen Operierens seien ihr folglich nicht zugänglich. Sie könne lediglich danach streben, den Staat zu unverhältnismäßiger Repression zu verleiten, die im Volk Sympathien für den Linksterrorismus schürt.7059 Müller-Borcherts Kernpunkte fanden sich laut Fetscher, Münkler und Ludwig alsbald in Interna der in Haft sitzenden Mitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“, wobei diese keine Anzeichen für ein unmittelbares Beein­ flussen durch die Studie „Guerilla im Industriestaat“ beinhalteten. Jan-Carl Raspe deckte einen „Gegensatz von Volkskrieg und SG [Stadtguerilla]“7060 auf: Während Erster sich hervorhebe durch die „objektive Möglichkeit, befreite Gebiete zu schaffen, sei es auch nur zeitlich begrenzt, als Vor­ aussetzung der Verankerung in den Massen“7061, stünde Letzte vor einer „gesellschaftliche[n] Situation“7062, die gezeichnet sei „durch die potentiel­ le und aktuelle Allgegenwart der Staatsgewalt.“7063 Raspe machte ferner auf die Methodik palästinensischer Terroristen aufmerksam, welche nach

7058 7059 7060 7061 7062 7063

Gudrun Ensslin, zit. n. ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 117, 120. Jan-Carl Raspe, zit. n. ebd., S. 120. Jan-Carl Raspe, zit. n. ebd. Jan-Carl Raspe, zit. n. ebd. Jan-Carl Raspe, zit. n. ebd.

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seiner Lesart den Staat Israel mit der Absicht attackierten, „Reaktionen des Imp. und Zionismus zu provozieren, die – indem sie sich gegen die palästinensischen und arabischen Massen richten, diese aufrütteln und gegen die etablierten arabischen Regierungen treiben“7064. In das von Fetscher, Münkler und Ludwig gezeichnete Bild fügt sich ein auf den 22. Juli 1974 datierter Kassiber Ulrike Meinhofs ein, in dem sie auf den Vorschlag Kay‑Werner Allnachs reagierte, jeder Inhaftierte der „Roten Ar­ mee Fraktion“ müsse die Inhalte des Pamphlets „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ hinterfragen.7065 Womöglich sollte nun in der RAF nachgeholt werden, was in der Wissenschaft durch Müller-Borchert bereits geleistet worden war. Meinhof stand diesem Ansinnen allerdings ablehnend gegenüber. Ihrer Auffassung nach hatte sich die „Rote Armee Fraktion“ 1971 im Untergrund ausreichend zu Mahlers Konzept positio­ niert. In ihrer Rückmeldung zu Allnachs Anregung hieß es denn auch knapp: „die wirkliche raf-feindliche position in der stvo [Mahlers Text ‚Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa‘] – und in der erklärung vom 9. oktober [1972 vor Gericht] wiederholt – ist, dass er [Mahler] da drin nicht stadtguerilla […] propagiert – also nicht, wie lenin zb [sic] sagt (und was die politik der raf ist): ‚sich eine strategie ausarbeiten, die der besten internationalen strategie der »am meisten aufgeklärten« fortgeschrittenen bourgeoisie gewachsen ist, das ist es, was man tun muss‘ – sondern eine strategie, wie er sich vorstellte, dass die massen darauf abfahren würden“7066. Ein ihr als adäquat geltendes sozialrevolutionäres Gegenstück zur Herr­ schaftssicherung des Kapitals, das fernab eines „Massenopportunismus“7067 rangieren sollte, legte Meinhof der Öffentlichkeit nur wenige Monate nach diesem Herabstufen der von Mahler – und anderen Linksterroristen, darunter die in Westberlin agierende Kerngruppe der B2J – getragenen „Stadtteilguerilla“ vor. Bemerkenswert war ihre Rede am 13. September 1974 im Gerichtsverfahren zur Befreiung Andreas Baaders, weil sie der mit Müller-Borcherts Arbeit „Guerilla im Industriestaat“ prognostizierten Ak­ tions‑Repressions‑Spirale zwischen Staat und Terrorismus breiten Raum bot. Aus legitimatorischen Gründen bezog sich Meinhof – ohne das gebo­

7064 7065 7066 7067

Jan-Carl Raspe, zit. n. ebd. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 107. Ebd., S. 108. Ebd.

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tene Kontextualisieren – unter anderem auf eine Aussage Carlos Marighel­ las in seinem Aufsatz „Problems and Principles of Strategy“: „The basic principle of revolutionary strategy […] ist to release […] such a volume of revolutionary action that the enemy will be obliged to transform the political situation into a military one. Then dissatis­ faction will reach all the strata of society, and the military will be held absolutely responsible for all failures.”7068 Meinhof verwies in ihrer Rede vor Gericht auf eine „dialektik des antiim­ perialistischen kampfes“7069, welche sich aus der „eskalation der konterre­ voution“7070 ergebe. Infolge der vom Staat forcierten Transformation des auf politische Lösungsmechanismen bauenden Status quo „in den militä­ rischen Ausnahmezustand“7071 wachse oppositionelles Bewusstsein in der bundesrepublikanischen Bevölkerung. „[D]urch seinen eigenen terror“7072 mache das Kapital „den revolutionären kampf zwingend“7073. Die „Rote Armee Fraktion“ sei „entschlossen, den stein, den der imperialistische staat gegen uns aufgehoben hat, ihm auf seine eigenen füße fallen zu lassen.“7074 Genau genommen war Meinhofs Absicht, „die staatliche Gewalt, die Po­ lizeiaktionen [zu nutzen], um politisches Bewusstsein zu produzieren“7075, nicht neu. Denn schon in einem im Sommer 1973 aufgefundenen Zel­ lenzirkular hatte eine Angehörige der RAF – vermutlich Gudrun Ensslin – festgehalten, die politische Macht der in Deutschland – vermeintlich – regierenden kapitalistischen Klasse lasse sich nur wirksam bekämpfen, „in dem [sic] man da angreift, […] wo ihre wahre fresse zum vor­ schein kommt, ihr (faschistischer) teile- und herrsche-charakter, […] wo also die schweine selbst zur aufhebung ihrer ideologie gezwungen sind“7076. Jedoch war Meinhof das erste Mitglied der RAF, das dieses strategische Prinzip in der an das Umfeld adressierten propagandistischen Arbeit der Gruppe zum handlungsbestimmenden Paradigma erhob. Mit ihrer Erklä­

7068 7069 7070 7071 7072 7073 7074 7075 7076

Marighella 2002b, S. 38. Rote Armee Fraktion 1983, S. 72. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 196. Bundesministerium des Innern 1975, S. 163.

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rung vom 13. September 1974 tappte die Gruppe endgültig in eine Denk­ falle, welche vor ihr gleichermaßen Marighellas „Ação Libertadora Nacio­ nal“ erreicht hatte: Zwar reklamierte sie das Attribut einer Guerillaorgani­ sation, ihre Praxis gelangte aber nicht über klassische terroristische Agita­ tion hinaus.7077 Meinhofs Aktions‑Repressions-Spirale griffen bald andere Aktivisten aus der Führungsebene der „Roten Armee Fraktion“ auf7078 – allen voran Andreas Baader, der im internen Diskurs seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, in der Bundesrepublik könne sich „die guerilla nicht so entwickeln, wie in irland“7079. Möglich sei „ihre organisation zur volks­ armee nur nach einer langen phase der qualifizierung“7080. Basierend auf dieser Skepsis gegenüber klassischer Guerillatheorie äußerte Baader im Juli 1975, die „Stadtguerilla“ entfalte ihre Wirkung über „die aufgeblähten repressiven apparate und die überdeterminierung, die sie ausdrücken“7081. Die „offen repressive reaktion des systems“7082 auf das Vorgehen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ könne sozialrevolutionärer Politik den Zuspruch der „Massen“ sichern. Gemeinsam mit Ensslin, Meinhof und Raspe fixierte Baader zudem eine schriftliche Aussage, welche am 21. August 1975 in das Gerichtsverfahren in Stuttgart-Stammheim einging. Darin hieß es: „die form der mobilisierung, die hier möglich ist, ist polarisierung der öffent­ lichkeit am offenen, überdeterminierten auftreten der staatlichen reaktion gegen die guerilla.“7083 Diese von Baader später auch in Kassibern7084 beschriebene Funktion des Linksterrorismus unterstrich er nochmals im Frühjahr 1976 in Abstimmung mit Ulrike Meinhof. Ausführlicher als bis­ lang beschrieben beide in ihrem „konzept zu einem anderen prozess“ eine „strategie, die wir aus unserer erfahrung und dem, was wir hier so gelernt haben, im auge haben.“7085 Im Weiteren war die Rede von einer „linie, auf der das kapital und sein staat gezwungen ist [sic], auf den angriff kleiner revolutionärer gruppen überdeterminiert zu reagieren und ihn zu multiplizieren – d.h. die mechanik des apparats selbst entwickelt im imperialismus eine front und damit seine antithese:

7077 7078 7079 7080 7081 7082 7083 7084 7085

Vgl. Rübenach 2008b, S. 427-428. Vgl. Hogefeld 1996, S. 102-103. Andreas Baader, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 122. Andreas Baader, zit. n. ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 95. Ebd. Ebd., S. 100. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 253. Rote Armee Fraktion 1983, S. 28.

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eine politische situation, in der die polarisierungsprozesse in gang kommen, in denen widerstand – illegale struktur – guerilla als die sache jedes einzelnen und aller, die ihre lage im imperialismus erkannt haben, begriffen werden kann“7086. Unübersehbar war in diesen Zeilen die reservierte Haltung, welche die „Rote Armee Fraktion“ inzwischen im Verhältnis zu klassischen revolutio­ nären Subjekten, wie zum Beispiel dem Proletariat, eingenommen hatte. Nicht mehr eine gesellschaftliche Klasse, sondern das im Sinne der RAF politisch aufgeklärte Individuum sollte den avisierten gesellschaftlichen Umbruch tragen. Diese Rückkehr zu dem in Ulrike Meinhofs Schrift „Die Aktion des ‚Schwarzen September‘ in München“ präsentierten, als interessiert unterstellten Dritten7087 hatte sich in der genannten Prozesser­ klärung vom 14. September 1974 angekündigt. Von Meinhof war „das volk durch alle schichten und von allen seiten im griff und unter der kon­ trolle des systems“7088 gesehen worden. Eindringlich verwiesen hatte sie auf das „entfremdete bewusstsein des proletariats“7089, das die „Rote Armee Fraktion“ als Tatsache anerkenne. Ein weitaus drastischeres Zeugnis stellte die RAF der deutschen Intelligenz aus: So seien „80% der intellektuellen ungeziefer“7090. Kritisch positionierten sich Baader und Ensslin Ende 1974 zur Frage des revolutionären Potentials der wirtschaftlich Marginalisierten. Das Subproletariat sei „ganz sicher […] jetzt nicht das revolutionäre Sub­ jekt“7091. Als katastrophal begriffen sie die bisherigen Versuche der „Roten Armee Fraktion“, diese Schicht zu agitieren.7092 Bis in das Jahr 1976 hinein setzte sich eine Argumentation der Inhaftierten fort, die sukzessive den Kreis möglicher gesellschaftlicher Adressaten ihrer politischen Botschaften reduzierte. Meinhof hielt Hanna Krabbe im März 1976 in einem Brief vor, „die massen bewaffnen – das macht immer noch am ehesten das kapital: die bullen und das militär und die rechtsradikalen.“7093 Die Grup­ pe müsse von einem größeren Vertrauen in die „Massen“ absehen, da sich die Gewissheiten sozialrevolutionärer Klassiker nicht auf die Situation

7086 7087 7088 7089 7090 7091 7092 7093

Ebd., S. 28-29. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 166. Rote Armee Fraktion 1983, S. 67. Ebd. Bundesministeriums des Innern 1975, S. 120. Andreas Baader/Gudrun Ensslin, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 67. Vgl. ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 18.

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Westdeutschlands übertragen ließen.7094 Ausdrücklich verwarf Meinhof eine Annahme des vietnamesischen Revolutionsführers Ho Chi Minh, der im Jahre 1922 festgehalten haben soll, „die masse ist grundsätzlich zur rebellion bereit, aber vollständig unwissend, sie will sich befreien, aber sie weiß nicht, wie sie das anfangen soll.“7095 Im September 1976 reaktivierte Ensslin die bislang tabuisierte Vorstellung eines korrumpierten Proletariats, sprach sie doch von dem „total verwaltete[n] arbeiter, der am monopolprofit ‚partizipiert‘ bei gleichzeitiger intensivierung seiner ei­ genen ausbeutung.“7096 Anhand der Agitation der „Roten Armee Fraktion“ zwischen 1974 und 1976 wurde denn auch begreiflich, was der Zirkel inzwischen in­ haltlich unter dem Begriff des Kriegs verstand, den Andreas Baader am 13. Juli 1974 in einem Zellenzirkular zur Einfassung der Lage der RAF beansprucht hatte: „die situation der raf ist – gefangen oder nicht – im revolutionären krieg.“7097 Was objektiv allenfalls als Vorstufe einer Auseinandersetzung militärisch hochgerüsteter Akteure gesehen werden konnte, stellte sich im subjektiven Verständnis der Gruppe gänzlich anders dar: Die durch den Linksterrorismus in politischer Isolation forcierte Ak­ tions‑Repressions-Spirale galt ihr als zentraler Baustein eines bereits initi­ ierten „langandauernden krieg[s]“7098, in dem „die neue gesellschaft (um die guerillaarmee + schliesslich die reguläre armee) um die revolutionäre partei, ihre werte, ihren neuen menschen“7099 entsteht und „das alte […] zerrüttet + schließlich zerstört“7100 wird. Während die Erste Generation der RAF ihr strategisches Konzept ange­ sichts des eigenen Scheiterns im Jahre 1972 mehrfach justierte, konnte die „Bewegung 2. Juni“ ihren Anspruch eines Gegenentwurfs in Ansätzen erfüllen. Offenbar waren die Mitglieder in der Lage, das Spannungsver­ hältnis zwischen illegalen Aktivitäten und legaler politischer Partizipation auszutarieren und das Prinzip einer „gegenseitige[n] Ergänzung“7101 im Verhältnis zur „breiteren undogmatischen Bewegung“7102 mit Leben zu füllen. Anschläge und Banküberfälle gelangen ebenso wie das Finanzieren

7094 7095 7096 7097 7098 7099 7100 7101 7102

Vgl. ebd. Ho Chi Minh, zit. n. ebd. Bakker Schut 1987, S. 295. Ebd., S. 103. Ebd., S. 217. Ebd. Ebd. Klöpper 1987, S. 65. Ebd.

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legalistischer Projekte7103 und das Durchführen von „Treffen mit Leuten aus unterschiedlichen politischen Zusammenhängen“7104, in deren Verlauf es zu Diskussionen gekommen sei. Gruppenmitglieder, welche nicht im Visier der polizeilichen Fahndung standen, hielten ihre bürgerliche Exis­ tenz aufrecht. Diese Legalität nutzten sie, um diskursiv auf ihre alltägliche Umgebung Einfluss zu nehmen. Plastisch schrieb Gerald Klöpper dazu: „Ich z.B. habe […] ganz normal als Rohrschweißer gearbeitet […]. Meine ‚Doppelrolle‘ sah ganz einfach so aus: Ich habe im Bauwagen gesessen und mich mit Arbeitskollegen z.B. auch über die Aktionen der RAF auseinandergesetzt. Das artete natürlich manchmal aus, weil die Kollegen mir dann ihre reaktionären Ansichten, ihre BILD-Zei­ tungs-Lesefrüchte um die Ohren gehauen haben. […] Natürlich warst du bei den Kollegen als ‚Kommunist‘ verschrien, aber das war halt die tägliche Konfrontation mit dem deutschen Volksempfinden. Wenn am nächsten Tag in der Zeitung stand, dass das Gericht gebrannt hat und du wusstest, die Guerilla hat mal wieder zugeschlagen, konntest du den Kollegen grinsend und bestens informiert darstellen, wie der Staat mal wieder eine Ohrfeige erhalten hat – und in welchem symbo­ lischen Zusammenhang mit diesen […] oder jenen Gerichtsurteilen dieser Anschlag zu verstehen war.“7105 Zwar waren sich die Aktivisten der B2J in ihrer Ablehnung des von der RAF favorisierten Revolutionsmodells sowie der damit verbundenen, auf „immer schwerer verständlichen Traktaten“7106 bauenden Agitation einig. Auseinandersetzungen um die taktischen Schwerpunkte der Gruppe ver­ hinderte dieser Konsens aber nicht. Mitglieder, wie zum Beispiel Michael Baumann und Werner Sauber, plädierten in erster Linie für ein „populä­ res“ Auftreten der „Bewegung 2. Juni“. Ihrer Auffassung nach sollten die Angehörigen des Zirkels stets möglichst nahe und intensiv am Umfeld und etwaigen revolutionären Subjekten wirken.7107 Andere Aktivisten hin­ gegen traten für ein Stärken der „illegalen“ Struktur und Aktionsfähigkeit der B2J ein, welches die beanspruchte „Basisnähe“ als handlungsstiftendes Prinzip in den Hintergrund drängen musste. Zu dieser Fraktion zählten

7103 Vgl. ebd.; Reinders/Fritzsch 2003, S. 63; Rollnik/Dubbe 2007, S. 23. 7104 Meyer 2008, S. 305. Vgl. auch Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 496; Reinders/ Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 53; Meyer 2008, S. 317. 7105 Klöpper 1987, S. 66-67. 7106 Kröcher 1998. 7107 Vgl. Baumann 1980, S. 117-120; Viett 2007, S. 112-113.

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die in Nordrhein‑Westfalen wirkende „Rote Ruhrarmee“ um Norbert Krö­ cher und Peter‑Paul Zahl7108 sowie einige in Westberlin verbleibende Mit­ glieder, unter ihnen Ingrid Siepmann.7109 Die als paralysierend beschriebe­ nen7110 gruppeninternen Differenzen legten sich erst mit Änderungen in der personellen Struktur der Westberliner Kerngruppe, die sich aufgrund von Austritten und Wegzügen ergaben. In der Folge waren dort die Befür­ worter eines Professionalisierens der „Bewegung 2. Juni“ tonangebend. Nicht gänzlich von der Hand weisen ließ sich der Vorwurf des „populä­ ren“ und mitunter hedonistisch auftretenden Lagers, die Strömung um Siepmann würde sich der „Roten Armee Fraktion“ angleichen wollen.7111 De facto zeichneten Ingrid Siepmann und andere Mitglieder für Entwick­ lungen verantwortlich, die jenen innerhalb der RAF bis zur „Mai‑Offen­ sive“ 1972 punktuell ähnelten. Wie Vietts Autobiographie entnommen werden konnte, baute der Zirkel einen bemerkenswerten terroristischen Untergrund auf: „Als Studenten mieteten wir einfache Wohnungen in gut überschau­ baren Gegenden, abseits von den Zentren politischer Aktivitäten. Mit unauffälligen, komplett gedoubelten Autos bewegten wir uns durch die Stadt, besorgten Garagen, Werkstätten, eine Druckerei, fälschten oder druckten Dokumente verschiedener Nationen, sicherten die ille­ gale medizinische Betreuung, beschafften Geld und Waffen.“7112 Ähnlich führte Meyer aus: „Tage- oder nächtelang waren wir unterwegs, um Wohnungen oder Garagen aufzutreiben, Nummernschilder oder Autos zu klauen. Die Nummernschilder brauchten wir, um von ihnen die Stempel abzulö­ sen und sie dann auf neue Schilder für unsere Doubletten-Autos setzen zu können. Aber auch die Doubletten konnte man nicht allzu lange benutzen, sie wurden wie die Wohnungen aus Sicherheitsgründen öfter gewechselt.“7113 Im Gegensatz zur RAF, die spätestens mit dem Befreien Baaders einer dezi­ diert antiimperialistischen Schlagrichtung anhing, blieb die Westberliner Kerngruppe der B2J indes einer verbindlichen inhaltlichen Ausgestaltung 7108 7109 7110 7111 7112 7113

Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 244. Vgl. Meyer 2008, S. 198. Vgl. Viett 2007, S. 113. Vgl. Baumann 1980, S. 122. Viett 2007, S. 118. Meyer 2008, S. 317.

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der in ihrem politischen Programm lediglich schemenhaft niedergelegten strategischen Vision schuldig. Indem sich der Zirkel weiteren zehrenden Richtungsdebatten entzog, trieb er in einem planerischen Vakuum. Dies machte sich ebenfalls auf taktischer Ebene bemerkbar. Laut Meyer erör­ terte die B2J in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Reihe von An­ schlagskampagnen, angefangen bei Angriffen auf Medienvertreter über Attentate auf Rauschgifthändler bis hin zu Aktionen gegen gerichtlich an­ geordnete Pfändungen.7114 Während diese Vorhaben nicht zur Umsetzung kamen, erlangte ein bereits durch die „Tupamaros Westberlin“ geformtes aktionistisches Standbein neue Bedeutung: das Befreien „politischer Ge­ fangener“.7115 Grund hierfür war in erster Linie das Verhaften mehrerer Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ zwischen den Jahren 1972 und 1975 so­ wie das daraus resultierende Erfordernis personeller Aufstockung.7116 Aus­ schlaggebend dürften allerdings auch Erwägungen gewesen sein, wie sie Gabriele Rollnik und Inge Viett in ihren Autobiographien darlegten. Zum einen hätten die teilweise der linksextremistischen „Gefangenenhilfe“ ent­ stammenden7117 „Aktiven“ aus persönlicher Solidarität verhindern wollen, „dass Genossen jahrelang im Knast bleiben.“7118 Zum anderen sollte eine Verbindung hergestellt werden zur sozialrevolutionären Agitation, welche sich in den bundesrepublikanischen Gefängnissen entfaltete. Hiervon habe man sich eine mobilisierende Wirkung versprochen.7119 Je intensiver die „Bewegung 2. Juni“ eine Aktion zugunsten inhaftierter Linksterroristen vorbereitete, desto stärker trat zudem die Aussicht auf einen monetären Zugewinn hervor.7120 Zwar waren die Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ in internen Dis­ kussionen nicht bereit, das Befreien von Inhaftierten gedanklich mit einer Strategie gleichzusetzen.7121 Tatsächlich geriet sie aber rasch zum allesbe­ stimmenden operativen Leitbild. Besonders bezeichnend waren die Erin­ nerungen Rollniks an die Zeit nach dem Eintritt in die B2J im Jahre 1974:

7114 7115 7116 7117 7118 7119 7120 7121

Vgl. ebd., S. 308. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 17-18; Meyer 2008, S. 327. Vgl. Viett 2007, S. 113-115. Vgl. Der Spiegel 2007, S. 79. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 19. Vgl. Viett 2007, S. 112. Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 63; Meyer 2008, S. 326-327. Vgl. Viett 2007, S. 112.

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„Es hieß: Wir machen erstmal die Befreiungsaktion und danach müs­ sen wir eine Linie entwickeln und schauen, wie wir hier langfristig kämpfen wollen und worauf die Aktionen zielen sollen.“7122 Diese Vorgabe konterkarierte den erklärten Anspruch der „Bewegung 2. Juni“, sich als alternative Version der „Stadtguerilla“ zu profilieren. Denn mit der Konzentration aller Aktivitäten auf das Ziel der „Gefange­ nenbefreiung“ geriet sie unweigerlich in das Fahrwasser der sich zusehends isolierenden „Roten Armee Fraktion“. Obwohl die leitenden Figuren der RAF nach ihrer Inhaftierung im Jahre 1972 sukzessive zu einem aus ihrer Sicht erfolgversprechenden theoretischen Modell des „bewaffneten Kamp­ fes“ in Westdeutschland gelangten und dieses vor allem in Prozesserklä­ rungen eingehend zur Schau stellten, spielte es für die Nachfolgegruppen in der Praxis keine herausragende Rolle. Bedingt durch entsprechende Forderungen aus den Haftanstalten7123 forcierten diese unter dem Banner eines – vermeintlich – revolutionären „Krieges“ nicht unmittelbar eine Ak­ tions‑Repressions-Spirale. Vielmehr stand die Intention im Vordergrund, gewaltsam eine Haftentlassung der „Gefangenen“ aus der Ersten Genera­ tion zu erzwingen.7124 Nach Überzeugung der Nachfolger hätte dieses Vorgehen die „Rote Armee Fraktion“ nachhaltig stärken sowie eine durch­ schlagende Strategie ermöglichen sollen. „[W]ir brauchten sie schlicht und einfach […] draußen. Wir waren nur ganz wenige“7125, merkte Karl‑Heinz Dellwo an. „[A]lles Weitere klären“7126 – laut Lutz Taufer erschien dies al­ lenfalls unter Einbindung entflohener Häftlinge aus der Ersten Generation als eine denkbare Option. „Damals dachten wir“, so Stefan Wisniewski, „wenn wir die Gefangenen befreit haben, dann können wir wieder auf die ursprünglichen Ziele der RAF zurückkommen“7127. Wie Fritz Teufel und die Zweite Generation der RAF unter Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt später unabhängig voneinander selbstkri­ tisch eingestehen sollten,7128 avancierten sowohl die „illegale“ Struktur der „Bewegung 2. Juni“ als auch der Untergrund der „Roten Armee Fraktion“

7122 Rollnik/Dubbe 2007, S. 46. 7123 Vgl. Bundesministerium des Innern 1975, S. 100; Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 124; Neidhardt 1982a, S. 332. 7124 Vgl. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 33; Diewald-Kerkmann 2009, S. 39; Schwibbe 2013, S. 37; Pfahl‑Traughber 2014a, S. 157; Taufer 2018, S. 99. 7125 Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 107. 7126 Taufer 2018, S. 99. 7127 Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 34. 7128 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 741; ID-Verlag 1997, S. 304.

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ab 1973 zu Akteuren, deren Handeln als „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“7129 einem „Rückzug […] auf sich selbst“7130 glich. Nicht mehr ausgebeute­ te und unterdrückte Subjekte der bundesdeutschen Bevölkerung waren Bezugspunkt und potentielle Profiteure des terroristischen Agierens außer­ halb der Gefängnisse, sondern Mitstreiter aus den eigenen Reihen. Die Inhaftierten selbst besorgten den notwendigen legitimatorischen Referenz­ rahmen dieses von realen ökonomischen und gesellschaftlichen Missstän­ den entkoppelten Handelns, wobei die arretierten Mitglieder der RAF eine weitaus tragendere Funktion übernahmen als die „politischen Gefan­ genen“ der B2J. Neben dem Erarbeiten strategischer Grundsätze suchten die zentralen Angehörigen der Ersten Generation anhand ihrer Haftbe­ dingungen jene Repression zu belegen, welche sie der westdeutschen Staatsstruktur wiederholt propagandistisch zur Last gelegt hatten. Stetig nährten sie das Narrativ eines ultimativ auf physisches Vernichten ausge­ legten Haftregimes, das sich mitunter einer „Isolationsfolter“ bediene.7131 Obwohl der Öffentlichkeit unter anderem durch Medienberichterstattung Einblicke in die vergleichsweise günstigen Haftbedingungen der einsitzen­ den Aktivisten der Ersten Generation gegeben wurden,7132 erwies sich die Agitation mit Blick auf die erzeugte Resonanz als „außerordentlich wirkungsvoll“7133. Um die – vermeintliche – Unterdrückung in den Justizvollzugsanstal­ ten aufzubrechen, vertrauten die „Gefangenen“ nicht allein auf die „Ak­ tiven“. Ihre „Körper als Mittel im Krieg gegen den Imperialismus“7134 begreifend, verweigerten sie in wiederkehrenden Phasen die Nahrungsauf­ nahme. Die Forderungen – niedergelegt unter anderem in dem 1974 verbreiteten „Provisorischen Kampfprogramm für den Kampf um die politischen Rechte der gefangenen Arbeiter“7135 – beinhalteten zunächst im Kern den Wunsch nach „Gleichstellung der politischen Gefangenen mit allen anderen Gefangenen“7136. Stellvertretend für alle Häftlinge in bundesrepublikanischen Strafanstalten verlangte die RAF Konditionen, welche ihnen die Option bieten sollten, „als politische Menschen zu über­

7129 7130 7131 7132 7133 7134 7135 7136

Kröcher 1998. Neidhardt 1982a, S. 360. Vgl. auch Aust 2020, S. 486. Vgl. Horchem 1988, S. 189. Vgl. Der Spiegel 1974c, S. 27-28; Aust 2020, S. 554. Wieland 2006, S. 349. Bressan/Jander 2006, S. 421. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 190. Ebd., S. 187. Vgl. auch Jünschke 1988, S. 123; Möller/Tolmein 1999, S. 76; Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 10; Schwibbe 2013, S. 134.

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leben“7137. Diese Verbesserungen sollten auch dazu dienen, „die trennung zwischen politischen und kriminalisierten gefangenen“7138 aufzuheben. Gemeint war hiermit indes nicht ein permanentes räumliches Zusammen­ legen beziehungsweise Durchmischen im Zuge einer „Integration in den Normalvollzug“7139, sondern ein einseitiges politisches Angleichen beider Gruppen:7140 Die wegen nicht-politischer Straftaten inhaftierten Insassen wurden als interessiert unterstellte Dritte gewertet und als solche zu rekru­ tieren versucht.7141 Dieser – angeblich – auf eine „Luxusbehandlung“7142 verzichtende Kampf erhielt den Rückhalt der Inhaftierten der „Bewegung 2. Juni“, schlossen sich diese doch dem von den „politischen Gefangenen“ der RAF im Herbst 1974 orchestrierten Hungerstreik an.7143 Ganz offen­ sichtlich waren die Häftlinge der B2J dabei bereit, Überlegungen zurück­ zustellen, die sich zu ihrer eigenen Rolle im Strafvollzug ergeben hatten. Denn anders als die gemeinsame Nahrungsverweigerung Ende 1974 ver­ muten ließ, unterschieden sich die Ansprüche der wenigen einsitzenden Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ von denen der zahlreicheren Häftlin­ ge der „Roten Armee Fraktion“. Die Aktivisten der B2J befürworteten einen engen Kontakt mit nicht-politischen Insassen und mieden die Selbst­ zuschreibung des „politischen Gefangenen“7144, welche die RAF ungeach­ tet ihrer von Horst Mahler bemängelten „spalterische[n] Funktion“7145 extensiv in der Außendarstellung bediente. „Die Bewegung 2. Juni hat bis Mitte der siebziger Jahre für die Integration [in den Normalvollzug] gekämpft“7146, konstatierte Viett in ihrer Autobiographie. Die unübersehbaren Schnittmengen im taktischen Ausgestalten des „be­ waffneten Kampfs“ und in der Agitation innerhalb der westdeutschen Justizvollzugsanstalten schufen zwischen Herbst 1974 und dem Frühjahr 1975 ein schmales Fenster für einen Schulterschluss der „Bewegung 2. Ju­ ni“ und der „Roten Armee Fraktion“, das große Parallelen zur Annähe­ rung der „Tupamaros Westberlin“ und der Ersten Generation im Oktober

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Möller/Tolmein 1999, S. 168. Bundesministerium des Innern 1975, S. 162. Jünschke 1988, S. 144. Vgl. Bundesministerium des Innern 1975, S. 162. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 91. Möller/Tolmein 1999, S. 168. Vgl. Chronologische Eckdaten 2003, S. 173; Dellwo 2007b, S. 204. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 358. Horst Mahler, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 92. Vgl. auch Jesse 2001, S. 186. 7146 Viett 2007, S. 309.

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1971 aufwies. Die B2J ergriff die Initiative: Zunächst unterbreitete sie den „Illegalen“ der RAF das Angebot eines gemeinsamen Vorgehens zur Befrei­ ung von Inhaftierten, wenig später bezog sie die „politischen Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ in die Auswahl der durch die Lorenz‑Entfüh­ rung freizupressenden Häftlinge ein.7147 Außerdem signalisierte sie ihre Solidarität mit dem Ermorden Günter von Drenkmanns. Dieses Attentat „sollte die Forderungen der hungerstreikenden Gefangenen doch noch durchsetzen.“7148 Auch die RAF ging offenbar auf die B2J zu. So soll sie die „Bewegung 2. Juni“ Ende 1974 um personelle Unterstützung gebeten ha­ ben.7149 Während die „Bewegung 2. Juni“ mehrmals die Bereitschaft signa­ lisierte, theoretische und praktische Differenzen zugunsten eines gemein­ samen Erfolgs zu überwinden, beharrte die RAF insgesamt – abgesehen von einer wohlwollenden öffentlichen Bewertung der Aktion gegen von Drenkmann7150 – auf ihrem avantgardistischen Gebaren. Damit schloss sich das Fenster: Die Gruppen fielen in die Beziehung zurück, welche ihre Interaktion von 1970 an mit einzelnen Unterbrechungen kennzeichnete. Mit dem Entführen von Peter Lorenz und dem Besetzen der Deutschen Botschaft in Stockholm verwirklichten sie konkurrierende Aktionen, die sich in ihrem Zuschnitt, dem Ergebnis und der sich anschließenden po­ litischen Rechtfertigung drastisch voneinander abhoben. Entlang dieser Unterschiede wärmten die „Bewegung 2. Juni“ und die „Rote Armee Fraktion“ Vorwürfe auf, die sich gegen die Strategie des jeweils anderen richteten. Die B2J untermauerte ihr – vermeintlich – nach den „Kampfformen der am meisten Ausgebeuteten: Frauen, Ausländer, junge Hilfsarbeiter“7151 ausgerichtetes „Konzept des Volksnahen“7152 sowie das damit verbundene Bild einer Teilhabe der „Stadtguerilla“ am Schicksal des gewöhnlichen Bürgers, indem sie nach dem Freilassen von Lorenz das Anliegen einer Mutter öffentlich darstellten, die den CDU‑Politiker brieflich um Unter­ stützung für ihre behinderte Tochter gebeten hatte.7153 Der Mutter selbst ließen sie Bargeld zukommen, das Peter Lorenz bei seiner Geiselnahme

7147 Vgl. Speitel 1980a, S. 46-49; Reinders/Fritzsch 2003, S. 66; Rollnik/Dubbe 2007, S. 40; Meyer 2008, S. 346. 7148 Rollnik/Dubbe 2007, S. 29. 7149 Vgl. Wunschik 2006b, S. 552. 7150 Vgl. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56. 7151 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 239. 7152 Rollnik/Dubbe 2007, S. 39. 7153 Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 182-183.

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mit sich geführt hatte.7154 In dem Pamphlet „Die Entführung aus un­ serer Sicht“ erklärte die „Bewegung 2. Juni“, sie sei „nicht ein haufen von leuten, die nach dem motto ‚je schlimmer, desto besser‘ wahllos draufschlagen“7155. Verstanden wissen wollte sie sich als „teil des allgemei­ nen widerstandes“7156, der seine „möglichkeiten realistisch“7157 sehe und beständig Ausschau halte nach Personen, welche ähnlich „denken und was verändern wollen.“7158 Und weiter: „stadtguerilla bedeutet phantasie und tatkraft; fähigkeiten, die das volk besitzt.“7159 Nachdruck verliehen die Aktivisten der B2J diesem Mantra im Juli 1975, als sie im Laufe von Banküberfällen „[r]evolutionäre Negerküsse“7160 an die „verdatterten Kunden“7161 verteilten.7162 Was diese humoristische Art der Bevölkerung unmissverständlich verdeutlichen sollte: Die Gruppe war trotz aller Ge­ walttätigkeit „doch anders“7163 und richtete sich nicht gegen Unbeteiligte. Obwohl zu großen Teilen taktisches Geschick der „Bewegung 2. Juni“ im Frühjahr 1975 das Freipressen fünf „politischer Gefangener“ ermöglich­ te, war die RAF nicht bereit, in Stockholm ähnlich zu handeln. Erst lange nach der Auflösung der „Roten Armee Fraktion“ gestand Stefan Wisniew­ ski ein, „[a]m Augenmaß der Bewegung 2. Juni hätten wir uns ruhig ein Beispiel nehmen können.“7164 Die in der Lorenz-Entführung zum Ausdruck kommende strategische Maxime der B2J, sozialrevolutionäre Forderungen innerhalb der engen Grenzen der realen Wirkmöglichkeiten terroristischen Handelns zu verfolgen, war der RAF Mitte der 1970er Jahre erkennbar ein Dorn im Auge. Ehemaligen Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ zufolge kulminierte die Ablehnung in dem Vorhalt der „Roten Armee Fraktion“, „[w]ir seien kompromisslerisch, weil wir nicht das Un­ mögliche gefordert hatten.“7165 Besonders harsch fiel die Kritik der RAF an dem Versuch der B2J aus, über das Verwerten der bei Lorenz aufge­ fundenen Materialien eine „Robin-Hood-Mentalität“7166 nach außen zu 7154 7155 7156 7157 7158 7159 7160 7161 7162 7163 7164 7165 7166

Vgl. Klöpper 1987, S. 65. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 176. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd. Ebd., S. 179. Ebd., S. 171. Edition ID-Archiv 2003, S. 8. Vgl. Horchem 1988, S. 55. Rollnik/Dubbe 2007, S. 54. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 36. Reinders/Fritzsch 2003, S. 65. Viett 2007, S. 137.

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tragen und somit den Topos der „populären Guerilla“ zu stärken. „Die RAF hat gesagt: das sei unser Populismus, dass wir uns gemein machen mit den Leuten und denken, das wäre Politik“7167, erinnerte sich Gabriele Rollnik. Wie Ralf Reinders schilderte, erhielt diese Argumentation der „Roten Armee Fraktion“ nach den Banküberfällen im Ende Juli 1975 Auf­ trieb: „Ab diesem Tag waren wir die populistische Fraktion. Es würde uns nur noch auf Populismus ankommen, wir würden die Sache nicht mehr ernst nehmen.“7168 Laut Inge Viett „schätzte die RAF unsere poli­ tischen Vorstellungen zur Entwicklung einer revolutionären Bewegung und unsere bewaffneten Aktionen [als] gering und bedeutungslos“7169 ein. In Kassibern beklagten die Inhaftierten der RAF außerdem bitterlich die dualistische Taktik subversiver Anschläge und legalistischer politischer Partizipation: Da die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ ihre Funktion als Sozialrevolutionäre bloß als Beruf empfinden würden,7170 seien sie Anhän­ ger einer „inkonsequenten illegalen linie“7171. Umgekehrt ließen die „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ nach der Akti­ on in Stockholm kein gutes Haar an dem, was sie als „typisch RAF“7172 empfanden. „[E]infach verrückt“7173 und „aussichtslos“7174 war in ihren Augen das Ansinnen der „Roten Armee Fraktion“, sozialrevolutionäre Anschläge als „Machtprobe“7175 mit staatlichen Kräften anzulegen und auszuführen. Als falsch begriffen sie das Verlangen der RAF, „dem Staat eine demonstrative Niederlage zu[zu]fügen“7176 und dabei ausschließlich über ihre revolutionäre „Unbedingtheit“7177 Teile der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Die darin verborgene „Geringschätzung der anderen Seite, wozu die in der Lage ist“7178, zeigte sich der „Bewegung 2. Juni“ zufolge insbesondere in der Hoffnung der Stockholmer Botschaftsbesetzer, trotz der vorangegangenen, sicherheitspolitisch schwer vermittelbaren Nachgie­ bigkeit der Bundesregierung während der Lorenz‑Entführung und der

7167 7168 7169 7170 7171 7172 7173 7174 7175 7176 7177 7178

Rollnik/Dubbe 2007, S. 40. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 50. Viett 2007, S. 101. Vgl. Bakker Schut 1987, S. 279. Ebd., S. 285. Rollnik/Dubbe 2007, S. 51. Viett 2007, S. 101. Ebd. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 50. Ebd. Ebd., S. 51.

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Ermordung von Botschaftspersonal nicht nur die zentralen Köpfe der Ers­ ten Generation, sondern auch zahlreiche weitere Inhaftierte aus der west­ deutschen Haft befreien zu können. Für die B2J war das Missverhältnis zwischen Verhandlungsposition und Forderungen offensichtlich.7179 Wie gravierend sich die in der Aktion in Stockholm eindrücklich herauskristal­ lisierenden strategisch‑taktischen Gegensätze zwischen „Roter Armee Frak­ tion“ und „Bewegung 2. Juni“ auf ihre Beziehung auswirkten, spiegelte sich in der „ziemlich selbstgerechte[n]“7180 Erklärung „Zum Tod unseres Genossen Werner Sauber“ wider. Dieses an die Öffentlichkeit adressierte Papier stand in deutlichem Gegensatz zu den kooperativen Bemühungen der B2J vor der Lorenz-Entführung. Unter Verweis auf die gescheiterte Botschaftsbesetzung ermahnte sie potentielle Sympathisanten, nicht blind­ lings zu agieren und den Gegner zu unterschätzen – „erst recht nicht, wenn er ein sozialdemokratisches Gesicht hat.“7181 Die eigenen Kräfte müssten realistisch eingestuft werden.7182 Mit dem Abschluss der Lorenz-Entführung gelangte die B2J an das Ende einer Phase, in der ihre ideologisch begründeten Anschläge „meist sponta­ nen, racheähnlichen Charakter“7183 hatten. „Die terroristische Vereinigung agierte nicht, sondern reagierte nur.“7184 Nach wie vor fehlte unter den Mitgliedern der „Bewegung 2. Juni“ eine einheitliche Meinung zu der Frage, wie die Gruppe „sich am alltäglichen Widerstand in den Fabriken und Arbeitervierteln […] orientieren“7185 und im Zuge dessen eine „Ten­ denz bei denjenigen [fördern sollte], die sagen, dass die Revolte gegen Ar­ beitshetze, Lohnabbau, Mietsteigerungen, Zwangsräumungen und gegen die Knäste eine klare Massenperspektive besitzt.“7186 Im Zeitraum nach der Freilassung Peter Lorenz‘ suchten die Westberliner Kerngruppe und andere Gründer der B2J – darunter Peter-Paul Zahl – das geflissentlich ver­ nachlässigte und inzwischen abermals virulente7187 strategische Vakuum zu füllen. Während dieses diskursiven Prozesses kam es zu einem Neben­ einander von Ideen, welches sich langfristig als Scheidepunkt erweisen sollte:

7179 7180 7181 7182 7183 7184 7185 7186 7187

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 50-51; Meyer 2008, S. 58. Rollnik/Dubbe 2007, S. 51. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 373. Vgl. ebd. Korndörfer 2008, S. 248. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 246. Ebd. Vgl. Viett 2007, S. 149.

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9.3 Revolutionsmodell

„Jetzt, wo uns die Aktion [gegen Peter Lorenz] nicht mehr einte, tra­ ten die politischen Widersprüche im 2. Juni, aus denen immer stärker auch persönliche wurden, wieder deutlich hervor.“7188 Ein Teil der „Illegalen“ – allen voran Till Meyer und Gabriele Rollnik – rüttelte an den Grundfesten der Gruppenidentität. Er emanzipierte sich von dem Gedanken einer lokal wirkenden, räumlich verankerten „Stadt­ guerilla“. Meyer und Rollnik erkannten die veränderten realen Bedingun­ gen an, unter denen der „bewaffnete Kampf“ künftig geführt werden musste: Einerseits war im Westberliner Raum der Fahndungsdruck infolge der Lorenz‑Entführung erheblich gewachsen.7189 Andererseits blieb der „Sympathiebonus“7190, den sich der Zirkel durch vergangene Aktionen erarbeitet haben will, ohne konkretes Ergebnis. Westberlin erschien nun nicht mehr als ideales Habitat terroristischer Strukturen, sondern als ein­ engende Enklave, in der „sich […] eine große revolutionäre Bewegung [nicht] entwickeln“7191 konnte. Folgerichtig plädierten Meyer und Roll­ nik für ein örtliches Verlagern der Gruppenaktivitäten nach Westdeutsch­ land.7192 Einen weitreichenderen strategischen Bruch wagten sie nicht, blieben sie doch der für das Selbstbild der „Bewegung 2. Juni“ konstituti­ ven Arbeit am Puls der arbeitnehmenden Bevölkerung – der „einfachen Leute“7193 und „unteren Massen“7194 – treu. Rollnik schrieb dazu: „Wir wollten mehr etwas in Richtung Arbeiterklasse machen, und da waren in Westdeutschland die Betriebe, wo man sich aufhalten musste.“7195 Nicht einverstanden zeigte sie sich mit anderen, erkennbar populäreren Ansätzen, die in den Diskussionen des Zirkel kursierten – unter ihnen die Überlegung, „ob man einen Supermarkt kurzfristig besetzen und den Leuten sagen sollte: Ihr könnt jetzt umsonst einkaufen.“7196 Solche Vorha­ ben lagen ganz auf Linie einer Strömung innerhalb der B2J, welche im Gegensatz zu Meyer und Rollnik beabsichtigte, über „Agitation in den Betrieben, bewaffnete Propaganda, […] Nachdruck von Fahrscheinen für die öffentlichen Verkehrsbetriebe, Fälschungen von Kantinenessens‑Bons

7188 7189 7190 7191 7192 7193 7194 7195 7196

Meyer 2008, S. 52. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 46. Ebd., S. 50; Meyer 2008, S. 57. Rollnik/Dubbe 2007, S. 46. Vgl. Meyer 2008, S. 52-57. Rollnik/Dubbe 2007, S. 39. Ebd. Ebd., S. 46. Ebd.

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in Großbetrieben u.a.“7197 in Westberlin „zu den Wurzeln zurückzukeh­ ren“7198. Tatsächlich platzierte die „Bewegung 2. Juni“ im Sommer 1975 gefälschte Tickets für den Personennahverkehr in den Briefkästen Westber­ liner Haushalte.7199 Fortgeführt wurden in dieser Periode strategischer Unsicherheit die An­ strengungen Peter‑Paul Zahls, der 1974 während seines Gerichtsverfahrens den bis dahin überschaubaren und inhaltlich vagen theoretischen Textkor­ pus der „Bewegung 2. Juni“ schriftlich vertieft hatte. Unter dem Titel „Massenkampf und Guerilla einen“ war Zahl entlang ausgewählter Prin­ zipien Ernesto Guevaras und Régis Debrays auf das Revolutionsmodell eines „Volkskriegs“7200 eingegangen, welcher sich im Wesentlichen auf eine Arbeitsteilung zwischen der „städtische[n] Massenfront, die öffentlich operiert“7201, und der „Stadtguerilla“ stützte. Dieses Konzept war erkenn­ bar als Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit Westdeutschlands angelegt. Es ging somit nicht von einem bevorstehenden, sondern von einem bereits weit fortgeschrittenen politischen Wandel aus. Zum Begriff der „Massenfront“ lieferte Zahl eine Definition, die sich sowohl hinsicht­ lich der Mitglieder als auch mit Blick auf die Aktivitäten der „Front“ aus­ schweifend las. Neben der „Gesamtarbeiterschaft“7202 rechnete er „Rent­ ner, Schüler […], Studenten und Militärs, Priester und Kleinhändler, Hausfrauen und Ingenieure“7203 zur „Front“. Sie materialisiere sich in der „ständige[n] Notwehr [dieser revolutionären Subjekte] gegen die ständige ‚Gewalt gegen Personen und Sachen‘ durch die Schweine“7204. Diese Not­ wehr sah er in legalistischen Methoden, wie zum Beispiel Demonstratio­ nen oder Streiks,7205 sowie im thematisch eingegrenzten Handeln kleine­ rer Bürgerzusammenschlüsse. Letzte galten Zahl als eine Spielart der „Gue­ rilla“, welche den „Beginn der Volksmiliz“7206 markiere. So sprach er von der „Betriebsguerilla“7207, die unter anderem sabotiere, den Werkschutz ausspähe und unternehmerische Mechanismen offenlege. Ferner verwies

7197 7198 7199 7200 7201 7202 7203 7204 7205 7206 7207

Kröcher 1998. Ebd. Vgl. Rabert 1995, S. 190. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 210. Ebd. Ebd., S. 221. Ebd., S. 214. Ebd., S. 210. Vgl. ebd. Ebd., S. 211. Ebd.

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er auf eine „Stadtteil- und Mieterguerilla“7208, die aktiv werde, „wo der Häuser- und Stadtteilkampf an seine Grenzen gelangt ist.“7209 Schließlich erwähnte er eine „Agitationsguerilla“7210, deren Mitglieder die Vorzüge der Technologisierung zum Verbreiten revolutionärer Botschaften nutzten. Verbunden würden die einzelnen Komponenten der „Massenfront“ durch ein „logistische[s] Netz“7211 aus legalen Aktivisten, die „Wohnungen, Geld, Waffen, Werkstätten und Lagepläne“7212 bereitstellten. Wie Zahl weiterführend anmerkte, erfahre der „Widerstand“ der Bevöl­ kerung eine essentielle Ergänzung durch die „bewaffnete, taktische Ein­ heit (die SG-Gruppe)“7213, welche sich „aus jeweils wenigen geschulten Kadern“7214 zusammensetzen würde. Diese „Kader“ hätten sich zuvor in der „Massenfront“ und in der logistischen Arbeit umfassendes Wissen angeeignet und seien im Idealfall „noch nicht in den Untergrund gezwun­ gen“7215 worden. Auf ein Leben in der Illegalität würden sie sich jedoch vorbereiten.7216 Das Gewicht der „Stadtguerilla“ ruhte in Zahls Augen auf zwei Aspekten: Zum einen griffen ihre Aktivisten als „bewaffnete Militan­ te der Revolution“7217 ein, „wenn andere Gruppen an einer […] Scheide­ marke der Möglichkeiten, der Illegalität, aufhören müssen.“7218 Der Links­ terrorismus war somit ein Fortsetzen des in der Gesellschaft erwachsenen Unmuts mit anderen Mitteln. Zum anderen habe die „Stadtguerilla“ einen internen Aufbau, der „den Kommunismus entscheidend vorwegnimmt, antizipiert.“7219 Zahl erwartete nunmehr von der politischen Linken in Westdeutschland, die Vorzüge linksterroristischen Agierens mit dem lega­ listischen „Kampf“ der Bevölkerung zu verschmelzen.7220 Diese „Verbin­ dung von Massenfront, Logistik, Milizen und Stadtguerillagruppen“7221 sei derzeit die „Kernfrage der revolutionären Arbeit“7222.

7208 7209 7210 7211 7212 7213 7214 7215 7216 7217 7218 7219 7220 7221 7222

Ebd., S. 212. Ebd. Ebd. Ebd., S. 211. Ebd. Ebd., S. 213. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 218-219. Ebd., S. 216. Ebd., S. 213. Ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 218. Ebd. Ebd.

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Die der Strategie der RAF völlig entgegenstehenden Ideen Zahls fanden sich in Papieren, welche die Sicherheitsbehörden unter anderem im Zu­ ge der Festnahme Fritz Teufels und Gabriele Rollniks Mitte September 1975 entdeckten.7223 Sie enthielten „[e]inige Gedanken zum Verhältnis legaler/illegaler Arbeit“7224. Eindringlich empfahlen die Verfasser, die „Be­ wegung 2. Juni“ müsse sich mit ihren „Aktionen an bestehende Aktivitä­ ten anschließen und versuchen, sie voranzutreiben.“7225 Gemeint waren hierbei Aktivitäten der politischen Linken, „die einen Widerhall in der Be­ völkerung haben“7226, so beispielsweise der „Häuserkampf“, die Agitation gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, Kampagnen zum Schutz der Umwelt und Arbeitsniederlegungen. Einschränkend merkten die Autoren an, die Gruppe solle sich nur solchen gesellschaftlichen Aus­ einandersetzungen widmen, welche über „eine entsprechende Öffentlich­ keit“7227 verfügten – „sei es durch Presse oder Gegenöffentlichkeit durch linke Gruppen, Bürgerinitiativen.“7228 Denn diese Konflikte würden „im Bewusstsein der Bevölkerung als Probleme“7229 wahrgenommen werden. Sofern eine solche Kontroverse identifiziert wurde, müsse die „Stadtgueril­ la“ einen angemessenen „Grad von Militanz“7230 bestimmen. Sie könne nicht gleich mit spektakulären Anschlägen intervenieren. Deutlich fiel an dieser Stelle die Kritik an der „Roten Armee Fraktion“ aus: Aktionen wie der Angriff auf das V. US-Corps am 11. Mai 1972 „kann man wohl erst machen, wenn man sich durch andere Aktionen einen Sympathierückhalt verschafft hat.“7231 Diese Vorarbeit erlaube der Gesellschaft einen Sprung in ihrem Bewusstsein, stelle sie sich doch dann die Frage: „Die haben […] die und die gute Aktion gemacht, warum machen die jetzt so was?“7232 Ein weiteres, als „[i]nternes Papier zur Organisationsfrage“7233 abgefasstes Schriftstück der B2J hielt fest, gegenwärtig bestehe die Aufgabe eines terro­

7223 7224 7225 7226 7227 7228 7229 7230 7231 7232 7233

Vgl. Dietrich 2009, S. 78-80. Bewegung 2. Juni, zit. n. Dietrich 2009, S. 63. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd., S. 64.

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ristischen Zirkels – „Zusammensetzung legal/illegal“7234 – darin, mit dem Ziel des Vermassens gewaltsamer Protestformen „Aktionen durchzuführen, zu denen die legale Linke nur schwer oder gar nicht in der Lage ist, in Verbindung mit Basisgruppen Kampf­ formen zu entwickeln, unser Wissen weiterzuvermitteln und neue Gruppen zu initiieren, die legal sind, aber weiterführende Aktionen selbstständig durchführen können.“7235 Das Potpourri an strategisch-taktischen Perspektiven brachten die Mitglie­ der der B2J nicht zur Auflösung. Eine finale Entscheidung verschoben sie auf die Zeit nach der Wiedervereinigung mit den vormals Inhaftierten, die aufgrund der Lorenz-Entführung Zuflucht im Südjemen gefunden hatten.7236 Durchkreuzt wurde dieses Vorhaben von den zahlreichen Ver­ haftungen im Jahre 1975, welche die „illegale“ Ebene der „Bewegung 2. Ju­ ni“ erheblich schmälerten. Nach dem Haftausbruch Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts im Sommer 1976 traf der wiederbeleb­ te Untergrund der Gruppe im Nahen Osten auf Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher-Tiedemann. Diese personelle und geographische Kon­ stellation erwies sich als folgenreich. Durch das sicherheitsbehördliche Aufrüsten, die zerschlagene operative Basis in Westberlin sowie den – vermeintlichen – „durchdringende[n] Verfall revolutionärer Perspektiven in der gesamten linken Bewegung“7237 Westdeutschlands gänzlich ernüch­ tert, stießen die aus der Bundesrepublik anreisenden Aktivisten fernab des bisherigen Alltags mit Ingrid Siepmann auf eine Aktivistin, die seit je­ her einen stärker antiimperialistisch zugeschnittenen Linksterrorismus ver­ fochten hatte.7238 Dass ein unmittelbarer „Kampf“ gegen den staatlichen Apparat der Bundesrepublik und dessen internationale Verflechtungen in den Gesprächen der Frauen zum Konsens geriet, durfte daher nicht überraschen. Sie nahmen sich vor, auf westdeutschem Boden die „Macht­ frage“7239 zu stellen. Das „ursprüngliche Konzept“7240 der B2J aus dem Zeitraum zwischen 1972 und 1975, den Versuch eines Befähigens politisch interessierter Arbeitnehmer zum eigenen „Widerstand“7241 schrieben die 7234 7235 7236 7237 7238 7239 7240 7241

Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd. Vgl. Viett 2007, S. 149; Meyer 2008, S. 55. Viett 2007, S. 166. Ähnlich Rollnik/Dubbe 2007, S. 70. Vgl. ebd., S. 113. Rollnik/Dubbe 2007, S. 69. Viett 2007, S. 169. Vgl. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 106.

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„Illegalen“ somit ab. „[J]etzt hatten wir“, so Inge Viett, „die Linke [in Deutschland] aufgegeben und setzten allein auf uns selbst und das enge Spektrum von Sympathisanten.“7242 Einem gänzlichen Neuausrichten kam diese Zäsur allerdings nicht gleich. Zwar nahm die „Bewegung 2. Juni“ eine andere Strategie an, ihre Taktik bewegte sich aber entlang altbekann­ ter Muster. Das avisierte Kräfteringen mit der Bundesrepublik sollte sich am „Kampf“ der „politischen Gefangenen“ entscheiden. Konkret nahmen sich die „Aktiven“ vor, sämtliche Häftlinge aus westdeutschen Justizvoll­ zugsanstalten zu befreien, welche die Justiz aufgrund linksterroristischer Straftaten arretiert hatte.7243 Offenbar richteten sie ihr Augenmerk auf dieses Themenfeld, weil es das größte Mobilisierungspotential barg. Nach Auffassung der „Illegalen“ sah sich die Bundesregierung vor der Gefahr ei­ nes Umschlagens des „starke[n] humanitäre[n] […] Engagement[s] gegen die repressive Politik des Staates gegenüber den Gefangenen“7244 in eine „politische Qualität zur Unterstützung“7245 inhaftierter Linksterroristen. Anhand dieser Lageeinschätzung und der aus ihr gewonnenen Schlussfol­ gerungen ließ sich als zutreffend erachten, was Ronald Fritzsch und Ralf Reinders rückblickend zu der Aktion gegen Peter Lorenz anmerkten. Sie waren der Annahme, „dass ab diesem Zeitpunkt alle nur noch daraufhinarbeiteten [sic], Gefangene rauszuholen, dass die Gefangenen mit einem Mal total im Mittelpunkt standen und ansonsten politisch nichts mehr weiter­ ging.“7246 Mit den Diskussionen der Frauen im Nahen Osten wurde die schon vor der Lorenz-Entführung unterlaufene Intention eines Korrektivs zur Stra­ tegie der „Roten Armee Fraktion“ vollends Makulatur. „Wir haben uns […] der RAF-Politik angenähert“7247, räumte Gabriele Rollnik ein. Das Sich-Angleichen in strategisch-taktischen Aspekten7248 wirkte sich sogleich positiv auf das Verhältnis beider Gruppen aus. Erneut unternahm die „Bewegung 2. Juni“ den ersten Schritt: Ausgehend von der anerkennend bewerteten „weitertragende[n] Strategie“7249 der in Stuttgart‑Stammheim 7242 7243 7244 7245 7246 7247 7248 7249

Viett 2007, S. 169. Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 69. Viett 2007, S. 166. Ebd. Reinders/Fritzsch 2003, S. 65. Rollnik/Dubbe 2007, S. 69. Vgl. auch Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 35. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 440. Rollnik/Dubbe 2007, S. 70.

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einsitzenden RAF-Gründungsmitglieder drängte die B2J ab Ende 1976 auf einen Kontakt zu den „Illegalen“ der Zweiten Generation.7250 Der von ihr in Gestalt einer gemeinsamen Häftlingsbefreiung gedachte Zusammen­ schluss beider Gruppen scheiterte jedoch abermals an den bekannten Gründen: Aus einer Position subjektiv wahrgenommener Superiorität he­ raus forderte die „Rote Armee Fraktion“ die „Aktiven“ der „Bewegung 2. Juni“ offensiv auf, ihr strategisches Scheitern einzugestehen.7251 9.3.5 Erneuter Versuch einer strategischen Korrektur Bis Mitte der 1970er Jahre manövrierte sich die Anfang des Jahrzehnts in Westberlin erwachsene „Stadtguerilla“ in eine operative Sackgasse. Die langfristigen Revolutionsmodelle der RAF und der B2J traten immer deut­ licher hinter den Anspruch zurück, sich über das Befreien „politischer Ge­ fangener“ Schlagkraft zu verschaffen. Der Pluralismus in strategischen Fragen machte einer beinahe uniformen Taktik des „bewaffneten Kamp­ fes“ Platz. In dieser Situation formierte sich in Frankfurt am Main „die dritte Strömung […] der linken Terrorszene“7252 Westdeutschlands. Die „Revolutionären Zellen“ suchten sich nicht nur im Hinblick auf Selbst­ verständnis und internationalistische Solidarität eigenständig zu positio­ nieren. Auch den Weg zum politischen Umbruch wollten ihre Mitglie­ der anders als die Vorreiter der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ beschreiten.7253 Magdalena Kopp zufolge zogen die Gründer der RZ die Rechtfertigung für einen weiteren Akteur im westdeutschen Linksterro­ rismus insbesondere aus dem strategischen Vorgehen der „Roten Armee Fraktion“. In den Überlegungen der RAF „drehte sich alles nur noch um die Isolationsfolter und die Befreiung der Kader aus dem Knast“7254, nachdem die Erste Generation 1972 infolge von Verhaftungen zerschlagen worden war. Kritisch beäugt hätten Böse und Kuhlmann unter anderem die „Art ihrer Aktionen, an der sie abzulesen glaubten, dass […] die RAF mehr und mehr um sich selbst“7255 kreiste. Dabei waren sie dem Ziel des Freilassens inhaftierter Linksterroristen keinesfalls abgeneigt, ließ sich

7250 7251 7252 7253 7254 7255

Vgl. ebd., S. 69-70. Vgl. ebd., S. 73. Neidhardt 1982b, S. 440. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Kopp 2007, S. 63. Ebd.

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doch anhand der Erinnerungen ihrer politischen Weggefährten ein früh­ zeitiges, teilweise sehr persönliches Interesse an einer Aktion zugunsten der „politischen Gefangenen“ aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ nachweisen.7256 Die ersten Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ folgten der Absicht, sozialrevolutionäre Agitation in der Praxis einerseits auf die Lage arre­ tierter Mitstreiter, andererseits auf „laufende Auseinandersetzungen“7257 im nationalen und internationalen politischen Kontext zu fußen. Auf die­ sen verschiedenen Aktionsfeldern sollten sich die Angehörigen der RZ nach Vorstellung Böses und Kuhlmanns unter Beibehaltung ihrer legalen beruflichen wie politischen Existenz bewegen.7258 Neben terroristischen Aktivitäten würde diese „bürgerliche Mimikry“7259 eine Teilhabe an gesell­ schaftlichen Debatten ermöglichen. Die Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ wollten nicht gezwungen sein, „90 Prozent aller Zeit und Ener­ gie auf die Organisation im Untergrund zu verwenden“7260. „Damit“, so Gerd-Hinrich Schnepel rückblickend, „haben wir uns sehr von der RAF unterschieden und teilweise auch von der Bewegung 2. Juni, wobei uns der 2. Juni verwandter war.“7261 Wie die Autobiographie Margrit Schillers nahelegte, war Böse und Kuhlmann in der Entstehungsphase der „Revolutionären Zellen“ daran gelegen, die Nachfolger der Ersten Generation der RAF in einer gemein­ samen Kooperation für ihren zu diesem Zeitpunkt noch rudimentären strategischen Ansatz zu gewinnen und somit der Fixation auf die Inhaf­ tierten entgegenzuwirken. Folglich markierte nicht ein dem Umfeld vor­ getragenes konfrontatives Sich-Abgrenzen den Startpunkt der Beziehung zwischen beiden Akteuren. Dies ließ sich als Gegensatz zu dem Verhältnis begreifen, welches die B2J zur RAF pflegte. Die RZ versuchten zunächst, hinter den Kulissen Einfluss auf die aus ihrer Sicht fehlgehende Strategie der „Roten Armee Fraktion“ zu nehmen. Die Gespräche mit der „Grup­ pe 4.2.“ im Jahre 1973 offenbarten indes rasch die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens. Zu sehr gaben deren Mitglieder der vor allem von Andreas Baader angemahnten „Gefangenenbefreiung“ Priorität.7262 Ganz im Sinne 7256 Vgl. Klein 1979a, S. 46; Kopp 2007, S. 71; Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 7257 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 7258 Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131. Ähnlich Kopp 2007, S. 63. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 30. 7259 Rabert 1995, S. 199. 7260 Magdalena Kopp, zit. n. Siemens 2006, S. 297. 7261 Schnepel/Villinger/Vogel 2000. 7262 Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131.

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Ulrike Meinhofs, die sich 1972 ostentativ gegen die Möglichkeit eines „Rückzug[s] in bürgerliche Berufe“7263 ausgesprochen hatte, lehnte die Zweite Generation außerdem den „Feierabendterrorismus“7264 Böses und Kuhlmanns ab. Der Gang in den Untergrund galt der „Roten Armee Frak­ tion“ weiterhin nicht als eine nach Möglichkeit zu vermeidende ultima ratio, sondern – um mit Schnepel zu sprechen – „als revolutionäre[r] Akt und Vorbedingung für den Guerillastatus“7265. Anschaulich skizzierte Schiller die Haltung der „Gruppe 4.2.“ gegenüber dem Standpunkt, den die RZ zur Illegalität einnahmen: „Schon von weitem waren sie [Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann] durch ihre Kleidung als Linke zu erkennen. Wir fanden das alles un­ möglich, unernst. Wir dachten, sie spielten nur mit dem Gedanken an Revolution, wollten sich jedoch nicht ganz und gar dafür einsetzen. Wir waren überzeugt, dass bei diesem Konzept der Verfassungsschutz viele Chancen hätte, sie zu infiltrieren.“7266 In welchem Umfang sich die RZ mit ihrer Strategie von der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ abzuheben gedachten, machten der Öffentlichkeit weniger die ersten Tatbekenntnisse zwischen November 1973 und Juni 1974 deutlich. Durch das Aufgreifen des Staatsstreiches in Chile, der Beschäftigungspolitik eines Westberliner Unternehmens sowie der Auflösung eines Jugendzentrums in Westberlin suggerierten sie zwar ihre Bereitschaft, die im Linksterrorismus dominierende Stellung des „Wi­ derstands“ inhaftierter Aktivisten aufzuweichen und politische Gewalt ent­ lang aktueller Ereignisse unterschiedlichster Tragweite auszurichten. Ein Revolutionsmodell präsentierten sie aber nicht. In den Bekennerschreiben begnügten sich die RZ mit der Zusage, das sozialrevolutionäre Aufbäu­ men gegen politische wie ökonomische Verhältnisse „massenhafter“7267 werden zu lassen. Erreicht werden sollte dies über ein Entwickeln „neue[r]

7263 ID-Verlag 1997, S. 43. 7264 Kailitz 2004, S. 119; Pfahl-Traughber 2014a, S. 173. Ähnlich Backes 1991, S. 89; Moreau/Lang 1996, S. 346; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 81; Siemens 2006, S. 297; Wörle 2008b, S. 257. 7265 Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 276. 7266 Schiller/Mecklenburg 2000, S. 131. 7267 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 116.

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Kampfformen“7268. Erforderlich sei, „mit all den uns zur Verfügung ste­ henden Mitteln [zu] kämpfen“7269. Erst 1975 deckten die „Revolutionären Zellen“ in mehreren Veröffent­ lichungen auf, welche Annahmen sich hinter solch vage gehaltenen Aus­ sagen verbargen. Verbunden wurde dieser Vorstoß mit ersten kritischen Äußerungen zur Agitation der RAF und der B2J. Laut einem Tatbekennt­ nis vom März 1975 empfanden die RZ „offene Massenorganisationen [als] lebenswichtig und richtig“7270. Deren Wirkmöglichkeiten reduzierten sich jedoch auf Mittel, „die für die Bekämpfung dieses Systems einfach nicht mehr ausreichen.“7271 Daher müssten flankierend „Stadt-, Fabrik-, Schulund Frauenguerillagruppen“7272 aktiv werden. Ein namentlich nicht be­ kanntes Mitglied der „Revolutionären Zellen“ schilderte in einem im Mai 1975 verbreiteten Interview, während des Aufbaus des Netzwerks seien dessen Mitglieder „nicht in der Lage [gewesen], positiv und konkret was Neues zu benennen“7273. Einigkeit habe in der Einschätzung bestanden, „das, was die RAF macht oder der 2. Juni“7274, nicht übernehmen zu wol­ len. Stattdessen sollte die eigene Agenda „an gesellschaftlichen Konflikten anknüpf[en].“7275 Wie die weiteren Ausführungen des befragten RZ‑Akti­ visten zeigten, hatten sich die „Revolutionären Zellen“ zwischenzeitlich auf das Führen eines „Guerillakriegs“ verständigt, welcher – ohne sich eigens auf diese zu berufen – stärker Elemente der von Carlos Marighella begründeten urbanen Guerilla als Annahmen aus der Fokustheorie Ernes­ to Guevaras und Régis Debrays7276 enthielt. Ganz ähnlich wie im März 1975 hieß es im Interview: „Was wir wollen, ist Gegenmacht in kleinen Kernen zu organisieren, die autonom in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen arbei­ ten, kämpfen, intervenieren, schützen, ein Teil von der politischen Massenarbeit sind. Und irgendwann mal, wenn wir ganz viele Kerne

7268 7269 7270 7271 7272 7273 7274 7275 7276

Ebd. Ebd. Ebd., S. 124. Ebd. Ebd. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd. So Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 169.

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sind, ist die Stoßrichtung für die Stadtguerilla als Massenperspektive geschaffen.“7277 Um maßgeblich an gesellschaftlichen „Kämpfen beteiligt zu sein, sie vor­ anzutreiben“7278 und den „Guerillakrieg gegen das Herrschaftssystem zu beginnen“7279, müsse der Linksterrorismus sein Handeln an den „Stand der [jeweiligen] Auseinandersetzung“7280 anpassen und „Aktionen […] klar, durchsichtig und eindeutig“7281 realisieren. Gerade beim Vermitteln gewaltsamer Aktivitäten habe die „Rote Armee Fraktion“ in der Vergan­ genheit versagt: Ihre Erklärungen waren „abstrakt und militärisch, d.h. dem Stand des Kampfes und der Widersprüche […] unangemessen“7282. Diese seien nicht für die „Massen“, sondern „für die Linke geschrieben“7283 worden. Selbst ideologisch Gleichgesinnten falle es jedoch schwer, sie inhaltlich nachzuvollziehen. „Bei den Papieren der RAF blicken wir selbst nicht richtig durch, obwohl wir eine ähnliche Praxis haben“7284, merkte das befragte Mitglied der „Revolutionären Zellen“ an. In den folgenden Passagen des Interviews hob er das Ziel hervor, durch ein geeignetes Mit­ tel aus dem Spektrum der Widerstandsformen – darunter wirtschaftliche Sabotage, „Enteignung“7285 und Freiheitsberaubungen – staatliche Struktu­ ren an vulnerablen Punkten zu treffen und sie zu entblößen. Vor allem unter den „Angehörigen der herrschenden Klasse“7286 solle ein Gefühl der Unsicherheit erzeugt werden. Langfristig müsse der Staat dazu gedrängt werden, „wirklich alles und jedes Objekt“7287 mit seinem Sicherheitsappa­ rat abzusichern. Dieses räumliche Zersplittern der Exekutive beschrieb der befragte RZ‑Aktivist als Vorgehensweise, mit der sich „Machtpositionen erkämpfen und Erfolg“7288 herbeiführen ließen.

7277 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 115. Vgl. hierzu Marighella 2002a, S. 11-12; Marighella 2002b, S. 40. 7278 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 115. 7279 Ebd., S. 110. 7280 Ebd., S. 109. 7281 Ebd., S. 113. 7282 Ebd., S. 104. 7283 Ebd. 7284 Ebd. 7285 Ebd., S. 109. 7286 Ebd., S. 109-110. 7287 Ebd., S. 110. 7288 Ebd., S. 109.

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Zusätzliche Einblicke in ihre Strategie gaben die „Revolutionären Zel­ len“ in der ersten Ausgabe ihres Sprachrohrs „Revolutionärer Zorn“, welche ebenfalls ab Mai 1975 zirkulierte. Mit der Herausgabe dieses Pe­ riodikums versuchten die RZ offensichtlich auch, bisherige Kommunika­ tionsformen linksterroristischer Gruppen zu erweitern und der eigenen Kritik an der Vermittlungspraxis der „Roten Armee Fraktion“ Rechnung zu tragen. Im Gegensatz zur RAF und der B2J, die ihre Botschaften nach 1972 anlassbezogen als Verteidigung vor Gericht, im Zuge von Hunger­ streiks oder nach Anschlägen verbreiteten, setzten die RZ in Gestalt einer Zeitschrift zusätzlich auf ein kontinuierliches Darlegen ihrer handlungsbe­ stimmenden Paradigmen, auf die „Vermittlung von Erfahrungen in die [sozialen] Bewegungen hinein“7289. Insofern waren sie gewillt, eine bestän­ dige „Brücke zwischen der Guerillatätigkeit und der Linken Szene“7290 so­ wie etwaigen revolutionären Subjekten zu schaffen. Dieser Ansatz zeitigte entsprechende Folgen: Zurecht wurde in der Forschung davon ausgegan­ gen, „[k]eine andere deutsche Terrorgruppe […] [hat] ähnlich detaillierte Schilderungen und Begründungen ihres Vorgehens“7291 vorgelegt. Der „Revolutionäre Zorn“ vom Mai 1975 zeigte erste Adressaten auf, welche die RZ anzusprechen beabsichtigten. Zum einen rechneten sie die Befreiungsbewegungen der Entwicklungsländer und in Westdeutschland lebende ausländische politische Funktionsträger, zum anderen das Proleta­ riat, die Jugend sowie Frauen zu den als interessiert unterstellten Dritten ihrer Aktionen.7292 Nur wenn die zuletzt genannten revolutionären Sub­ jekte innerhalb der deutschen Gesellschaft „Widerstand auf allen Ebenen, in allen Bereichen, mit allen Mitteln“7293 ausübten und sich – neben der gegenwärtig minoritären „Stadtguerilla“ – eine „Schul- und Universitäts­ guerilla“7294 sowie eine „autonome Guerilla von Frauen“7295 herausbilde­ ten, sei ein politischer Umbruch in Form der „Guerilla […] als Massenper­ spektive“7296 greifbar. „Widerstand“, so die Autoren des „Revolutionären Zorns“ weiterführend, „fängt an, wo man lebt und arbeitet.“7297 Sofern der

7289 7290 7291 7292 7293 7294 7295 7296 7297

Ebd., S. 265. von Baeyer-Katte 1982, S. 195. Kailitz 2004, S. 119. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 88, 90. Ebd., S. 90. Ebd., S. 87. Ebd. Ebd., S. 87-88. Ebd., S. 90.

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9.3 Revolutionsmodell

Einzelne dazu übergeht, „sich zu organisieren, den eigenen Lebensbereich zu verändern, zu lernen, sich als handelndes Subjekt zu begreifen, Phanta­ sie und Kampfkraft zu entwickeln“7298, trete er in einen Kampf gegen die existierenden Verhältnisse. Nach Vorstellung der „Revolutionären Zellen“ sollte sich dieser „Widerstand“ der Bevölkerung herausbilden, indem der Linksterrorismus „umfassender und offensiver in Massenkämpfe[n]“7299 interveniert und es ihm gelingt, „mit […] Aktionen direkten Nutzen zu bringen, Vorteile zu verschaffen.“7300 Dabei müsse er sich der Taktiken des „revolutionären Guerillakrieg[s]“7301 bedienen: „Die Verantwortlichen, die Nutznießer dieses Systems überall angreifen, zur Rechenschaft ziehen, die Mechanismen ihres Unterdrückungsinstrumentariums überall unter­ brechen und zerstören.“7302 Diese schon von Carlos Marighella als Teil des Guerillakriegs propagierten,7303 faktisch jedoch einem genuinen Terro­ rismus gleichkommenden7304 Kampfformen hätten indes „nur dann einen Sinn, wenn sie nicht vereinzelt bleiben, wenn sie sich häufen, nachgemacht werden, wenn überall Autos, Villen, Flugzeuge, Gemäldesammlungen brennen, wenn Antreiber verprügelt werden, Politiker sich nicht mehr in ‚ihre‘ Wahlbezirke trauen können.“7305 Habe sich ein derartiger „Widerstand“ im Volk entwickelt, entstehe in den Reihen der „Unterdrücker“ Angst und Schrecken. Denn nunmehr müsse „[j]eder Direktor, Geschäftsführer, Spekulant, Pfaffe, jeder Faschist, Berufsverboterlasser, jedes Bürokratenschwein […] damit rechnen, persön­ lich bestraft, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“7306 Dieses Klima habe „erzieherische Wirkung“7307 und würde „den Forderungen der Arbeiter, Jugendlichen, Frauen […] Nachdruck“7308 verleihen. Vergleicht man diese Ausführungen mit den Inhalten des ab Mai 1975 verfügbaren Interviews, so bezweckten die RZ mit ihren Angriffen einerseits ein Überdehnen und Schwächen der Sicherheitskräfte, andererseits ein auf Einschüchtern

7298 7299 7300 7301 7302 7303 7304 7305 7306 7307 7308

Ebd. Ebd., S. 91. Ebd. Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. Marighella 2002a, S. 28-29. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 168. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 91. Ebd. Ebd. Ebd.

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beruhendes moralisches Zersetzen der zulasten der „Massen“ agierenden Akteure. Wie sich aus mehreren Passagen des „Revolutionären Zorns“ ablesen ließ, konzentrierten sich die „Revolutionären Zellen“ allerdings nicht nur auf das „äußerst langwierig[e] und schwierig[e]“7309 Fördern des „Widerstands“ der Bevölkerung. Überdies maßen sie in der ersten Ausgabe ihres Sprachrohrs einem weiteren taktischen Element aus Marighellas „Mi­ nihandbuch des Stadtguerillero“7310 Gewicht bei, welches ihrer Strategie allenfalls mittelbar zum Vorteil gereichen konnte: dem Befreien „politi­ scher Gefangener“. Dieses Ziel sei ein „von ihrer Existenz untrennbarer Teil“7311. Das Netzwerk benötige „die Genossen in Freiheit, nicht als Mär­ tyrer hinter Gittern.“7312 Unverkennbar bezog sich diese Absichtserklärung auf die Inhaftierten der RAF und der B2J, fanden sich doch zu diesem Zeitpunkt – abgesehen von dem in der Justizvollzugsanstalt Bochum und zeitweise in Stuttgart‑Stammheim einsitzenden Aktivisten Johannes Wein­ rich7313 – keine Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ in Haft.7314 Die nationale „Anknüpfungsstrategie“7315 – die Absicht, sich „interven­ tionistisch auf Bewegungen“7316 zu beziehen – manifestierte sich alsbald im Anschlagsmuster der RZ. Nach Maßgabe der mit ihr implizierten „All­ gegenwart des revolutionären Subjekts“7317 bezogen sich die Anschläge des Netzwerks nicht auf die Lage einer ausgewählten, politisch geschlos­ senen gesellschaftlichen Klasse, wie sie in den traditionellen Lehren des Marxismus und Anarchismus zu finden war. Vielmehr adressierten die qualitativ diversen Aktionen auf Grundlage aktueller gesellschaftlicher Konfliktthemen ein breiteres Spektrum an als interessiert unterstellten Dritten, für die es „keinen gemeinsamen politischen Nenner […] gab.“7318 Über eine Aktion gegen das Bundesverfassungsgericht, eine Kampagne gegen steigende Fahrpreise des öffentlichen Personennahverkehrs, das Auf­ treten in Obdachlosenheimen und eine Sachbeschädigung zulasten eines Immobilienbesitzers bekundeten sie in den Jahren 1975 und 1976 ihre Verbundenheit mit den um eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts

7309 7310 7311 7312 7313 7314 7315 7316 7317 7318

Ebd., S. 87. Vgl. Marighella 2002a, S. 27-28. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 86. Ebd., S. 91. Vgl. Siemens 2006, S. 311-314. Vgl. hierzu auch Kopp 2007, S. 71. Rabert 1995, S. 210. Unsichtbare 2022, S. 28. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 171; Horchem 1988, S. 86. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 171.

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kämpfenden Frauen, mit Bahn- und Busfahrenden, Schwarzfahrern, in Armut lebenden Menschen und Mietern.7319 Die auf rasches Nachahmen ausgehende „populistische Dimension“7320 der Angriffe zeigte sich vor al­ lem in der Fahrpreiskampagne und im Unterstützen von Wohnungslosen. Durch das Verteilen gefälschter Fahrkarten und Wertbons sowie das Zer­ stören von Fahrscheinautomaten und einer Schwarzfahrerkartei boten die RZ einem unüberschaubaren Personenkreis in Gestalt finanzieller Erspar­ nisse oder ausbleibender strafrechtlicher Verfolgung unmittelbar persönli­ che Vorteile.7321 Die „Revolutionären Zellen“ liefen damit der „populären Guerilla“ der „Bewegung 2. Juni“ den Rang ab, hatte diese doch ihre – vermeintliche – Volksnähe bisher – wie erwähnt – ausschließlich mithilfe einer monetären Zuwendung an die Mutter eines behinderten Kindes sowie des Verteilens von Schaumküssen bei Banküberfällen unter Beweis gestellt. Während der Verwirklichung des strategischen Konzepts der „Revolu­ tionären Zellen“ gelang es ihren Aktivisten, sich im Sinne Böses und Kuh­ lmanns als „Feierabend-Terroristen“ zu etablieren. Die Mitglieder unter­ hielten ein Doppelleben, indem sie berufliches und möglichst zurückhal­ tendes politisches Engagement mit klandestinem Handeln verschmolzen: „Viele waren nicht nur Stadtguerilla, sondern haben sich auch öffentlich politisch betätigt, in der Uni, der Fabrik, im Stadtteil, im Jugendzentrum, in der Bürgerinitiative.“7322 Oftmals wurde allerdings das „legale Leben stark vom Einsatz für die Sache beschränkt.“7323 Zunehmend diffiziler sei das Beibehalten sozialer Kontakte geworden, da „man sich fünf Stunden absetzte, um zwei Stunden“7324 mit anderen Mitgliedern der RZ zu disku­ tieren. Plastisch schilderten Hans‑Joachim Klein und Magdalena Kopp die parallelen Existenzen der RZ-Angehörigen. 1978 führte Klein im Gespräch mit der französischen Zeitung „Libération“ zu den Geschehnissen nach seinem Eintritt in die RZ Ende 1974 aus: „Man hat mich in alle Guerillaangelegenheiten eingeführt: Sicherheit, Kode, Waffen… Ich habe gelernt, Papiere zu fälschen. Und in der restlichen Zeit setzte ich mein Leben als Mitglied der Roten Hilfe

7319 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 120-127. 7320 Moreau/Lang 1996, S. 350. 7321 Vgl. hierzu auch Kopp 2007, S. 69-70. 7322 Unsichtbare 2022, S. 30. 7323 Kopp 2007, S. 116. 7324 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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fort. Und ich wurde mit meinen Äußerungen für die Guerilla etwas zurückhaltender, wie mir Boese empfohlen hatte.“7325 Ausführlicher erläuterte Klein den von ihm praktizierten „Feierabendter­ rorismus“ in seiner Autobiographie: „Bonni erklärte mir, dass es nicht gerade der Sache dienlich sei, wenn ich immer das neueste Waffen‑Journal […] mit auf Rote Hilfe-Plenen […] schleppte und dort meine Vorträge über Vor- und Nachteile von Revolver und Pistole hielt. Überhaupt sollte ich mal, was meine Mili­ tanz und meine Propaganda für den bewaffneten Kampf betraf, leiser treten bzw. in einigen Punkten Ruhe geben. Aber so, dass es nicht schon wieder auffällig wird. […] Getreu unseren Überlegungen, dass das Leben im Untergrund erst seine Daseinsberechtigung findet, wenn man dazu ‚gezwungen‘ wird, führte ich von nun ab zwei Leben. Das des Rote-Hilfe-Genossen Klein und das des RZ-Mitglieds ‚Schnitzel‘, der später in ‚Angie‘ umbenannt wurde. […] Das Leben des ‚SchnitzelAngie‘ schirmte ich fein säuberlich von jedem [sic] Genossen/in ab, die [sic] nicht von der RZ, RAF oder dem ‚2. Juni‘ waren [sic]. Der Rote Hilfe‑Genosse Klein indessen war der alte geblieben, wenn auch merklich leiser.“7326 Ähnlich wie Klein erging es Magdalena Kopp. In ihren Erinnerungen hielt sie zum Anschluss an die „Revolutionären Zellen“ fest: „Ich war stolz und berührt, dass sie [die RZ] das Vertrauen entgegen­ brachten und mich einweihten. Ich hatte ein kleines Kind, deshalb wollte ich damals nicht viel riskieren. […] Vorsichtshalber dachte ich mir einen Decknamen aus: Vera – wahr und glaubwürdig. Meine Hauptaufgabe bestand zunächst darin, bei der Herstellung von Stem­ peln und Papieren behilflich zu sein.“7327 Zu ihrer legalen Existenz schrieb Kopp im weiteren Verlauf: „Der Leiter der Druckerei [‚Gegendruck‘ in Gaiganz] brauchte zu der Zeit gerade Verstärkung in der Reproabteilung. Ich hatte zwar keine Erfahrung im Umgang mit großen reprographischen Geräten, aber mit meinen Vorkenntnissen konnte ich mir das hierfür nötige Wissen schnell aneignen. Gerd Schnepel und der Druckereichef wohnten da­

7325 Klein/Libération 1978, S. 281. 7326 Klein 1979a, S. 173-174. 7327 Kopp 2007, S. 70.

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mals in einer Wohngemeinschaft in einem großen renovierten Bauern­ haus mitten im Dorf, die Druckerei selbst war in einem umgebauten Stall untergebracht. […] Angesichts meiner unbefriedigenden Lage in Frankfurt schien mir das eine gute Perspektive.“7328 Da ihre Mitglieder terroristische Aktivitäten unter dem Deckmantel der Legalität auszuführen vermochten, setzte innerhalb der „Revolutionären Zellen“ nicht eine „Professionalisierung“7329 ein, wie sie die „Rote Armee Fraktion“ und – mit Abstrichen – die „Bewegung 2. Juni“ durchlaufen hatten. Die „Sachzwänge der Illegalität“7330 konnten sie umgehen: Fremd war den RZ ein komplexer Untergrund, bestehend aus getarnten Woh­ nungen und legendierten Fahrzeugen, in dem sich „Illegale“ polizeilichem Verhaften entziehen konnten. Indirekt bestätigte dies Magdalena Kopp, als sie in ihrem Selbstzeugnis die Situation Wilfried Böses und Brigitte Kuhl­ manns nach dem Tod Michel Moukarbals 1975 in Paris rekapitulierte. Zu befürchten stand offenbar, dass die deutschen Sicherheitsbehörden infolge seiner Ermordung auf die Verbindungen Böses und Kuhlmanns zu „Car­ los“ stoßen und Strukturen der „Revolutionären Zellen“ aufdecken.7331 Für beide „blieb eigentlich nur noch der Weg in die Illegalität“7332, merkte Kopp an. Indes hatten die „RZ […] weder die Struktur noch das nötige Geld, um das zu organisieren.“7333 Als letzten Ausweg hätten Böse und Kuhlmann schließlich die Flucht ins Ausland verstanden.7334 Gestützt wurden Kopps Ausführungen durch den Rückblick Till Meyers auf seine Mitgliedschaft in der „Bewegung 2. Juni“. Schon damals sei der B2J das Votum der „Revolutionären Zellen“ bekannt gewesen, das Illegalisieren der Mitglieder zwingend zu vermeiden. „[D]aher war eine ausgebaute illegale Struktur wie bei uns nicht nötig: Für ihre Bombenwerkstatt reichte […] der Küchentisch einer sicheren Wohnung.“7335 Weitaus deutlicher als die Praxis unterstrichen die Rechtfertigungs­ schriften der RZ aus dem Jahre 1975 die von Gerd‑Hinrich Schnepel festgehaltene strategische Verwandtschaft zwischen dem Netzwerk und der gleichermaßen als Korrektiv zur RAF formierten „Bewegung 2. Juni“,

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Ebd., S. 72. Aierbe 1991, S. 119. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. Kopp 2007, S. 90. Ebd. Ebd., S. 90-91. Vgl. ebd., S. 91. Meyer 2008, S. 316.

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welche auch innerhalb der B2J unumstritten war: „Politisch hatten wir mit den Anschlagszielen und den Theoriepapieren zu den RZ keine Probleme. Damit standen sie uns näher als etwa die RAF“7336, räumte Meyer ein. Aus­ gehend von der – vermeintlichen – Erfolglosigkeit legalistischer Protestfor­ men setzten beide Akteure auf ein Vermassen ihrer zu „neue[n] Kampfme­ thoden“7337 stilisierten, mit „phantasie und tatkraft“7338 auszuführenden terroristischen Maßnahmen, die über eine direkte Partizipation an der „po­ litischen Massenarbeit“7339 beziehungsweise „städtischen Massenfront“7340 erwirkt werden sollte. Wie zuvor die „Bewegung 2. Juni“7341 richteten die „Revolutionären Zellen“ ihre Aufmerksamkeit auf Arbeiter, Ausländer, Frauen und Jugendliche. Ähnlich wie Peter-Paul Zahls Traktat „Massen­ kampf und Guerilla einen“7342 legten die Verlautbarungen der RZ aus dem Jahre 1975 die Überlegung frei, die „Stadtguerilla“ müsse mit weiteren, aus der Mitte der Bevölkerung gebildeten Guerillagruppen in einem engen Wechselverhältnis zusammenwirken. Folglich vertrauten RZ und B2J auf eine Revolution eigenständiger, durch gemeinsame programmatische For­ derungen verbundener Foci. Kernpunkte des Interviews mit einem anony­ men RZ-Mitglied sowie der ersten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ ließen sich zudem in internen Strategiepapieren finden, welche die B2J in ihrem operativen Vakuum nach der Lorenz‑Entführung abfasste. Der Text „Einige Gedanken zum Verhältnis legaler/illegaler Arbeit“ betonte spezifi­ sche soziale Konflikte mit herausragender Publizität,7343 die als solche den „Revolutionären Zellen“ ebenfalls als adäquater Anknüpfungspunkt ihrer Agitation galten. Ferner fand sich darin das von den RZ zuvor geforderte Augenmaß: Terroristische Taten müssten in einem angemessenen Verhält­ nis zum Zustand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stehen. Da der „Bewegung 2. Juni“ unter anderem die „Strategie der RZ inter­ essant“7344 erschien, entwickelte sich ab 1974 eine tragfähige Zusammenar­ beit zwischen der B2J und den RZ. So jedenfalls legt es Till Meyers Erinne­

7336 7337 7338 7339 7340 7341 7342 7343 7344

Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 11. Ebd., S. 179. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 115. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 11. Vgl. ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 211-213. Vgl. Dietrich 2009, S. 63-64. Meyer 2008, S. 316.

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9.3 Revolutionsmodell

rung nahe.7345 Die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ bauten ein veritables „Verbindungswesen“ auf, tauschten Schusswaffen aus und widmeten sich gemeinsam „verschiedene[n] kleine[n] Aktionen“7346. Zu einer über diese Interaktion hinausgehenden engeren Kooperation in Westdeutschland kam es indes nicht – dies muss angesichts der hohen Übereinstimmung in konzeptionellen Fragen überraschen. Grund hierfür war der Zusammenbruch der „illegalen“ Ebene der B2J im Jahre 1975 infolge zahlreicher Verhaftungen, welche die initialen Ansätze einer basis­ bezogenen Praxis zum Stillstand führten. Mit dem Verteilen gefälschter Fahrkarten des öffentlichen Personennahverkehrs hatte die Westberliner Kerngruppe der „Bewegung 2. Juni“ erstmals ihr bis dahin folgenloses Versprechen einzulösen versucht, eine gegenwärtige, reale soziale Kontro­ verse – in diesem Fall den öffentlichen Unmut zum Erhöhen von Fahr­ preisen – in ihrem Sinne durch das Aufzeigen ungekannter Formen des „Widerstands“ zu beeinflussen. Dieser gänzlich der Devise des „Revolutio­ nären Zorns“ entsprechende Schritt hätte die Gruppe langfristig mit den RZ zusammenführen können, zumal das Netzwerk zeitgleich die Preispo­ litik öffentlicher Nahverkehrsanbieter als vielversprechendes Betätigungs­ feld einstufte. Das Wiederbeleben der aktiven Strukturen der B2J nach dem Haftausbruch Juliane Plambecks, Gabriele Rollniks und Inge Vietts 1976 barg keine vergleichbaren Aussichten, da sie die „Bewegung 2. Juni“ schnell zu dem von der RAF als vordringlich erachteten Bekämpfen impe­ rialistischer Machinationen trieb. In den Augen der RZ‑Mitglieder war diese „völlig falsch“7347. Nach dem Sommer 1975 beschränkte sich die Zusammenarbeit auf ein Themenfeld, in dem die „Bewegung 2. Juni“ zuvor den RZ ihre Unterstüt­ zung versagt hatte. Noch vor der Lorenz-Entführung – einem Zeitraum also, in dem RAF und B2J ihre Abgrenzung zugunsten der „Gefangenen­ befreiung“ aufzuweichen suchten – soll Wilfried Böse versucht haben, das gleichermaßen von den „Revolutionären Zellen“ geteilte Interesse an der Lage inhaftierter Aktivisten in eine Anschlagskampagne aller drei deutschen linksterroristischen Akteure zu überführen. Offenbar befürwor­ tete Böse die Überlegung, einerseits eine Auslandsvertretung der Bundesre­ publik Deutschland zu überfallen, andererseits ein Passagierflugzeug zu entführen. Die „Bewegung 2. Juni“ lehnte dieses Ansinnen jedoch wohl

7345 Vgl. ebd., S. 316, 320, 338. 7346 Meyer 2008, S. 316. 7347 Schnepel/Villinger/Vogel 2000.

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aufgrund grundsätzlicher strategischer Erwägungen ab:7348 „Flugzeugent­ führungen hätte der 2. Juni niemals gemacht, da herrschte Konsens in der Gruppe.“7349 Augenscheinlich scheiterte auch der Schulterschluss mit der RAF, weil die RZ – so Hans-Joachim Klein – den konkreten Zuschnitt der Botschaftsbesetzung in Stockholm als „Wahnsinn“7350 werteten. Als Folge der Aktion gegen Peter Lorenz traf die internationalistische Strömung der „Revolutionären Zellen“ im Nahen Osten auf Mitglieder eines Teils der „Bewegung 2. Juni“, welcher auf taktischer Ebene für ein Sich-Angleichen an die „Rote Armee Fraktion“ eintrat. Anders als die in Westdeutschland ansässigen Mitglieder der B2J verwahrten sich Ingrid Siepmann und Gabriele Kröcher‑Tiedemann nicht gegen drastischere For­ men des „bewaffneten Kampfes“. Beide schlossen sich im Ausland unter anderen mit dem RZ-Mitglied Hans-Joachim Klein zusammen, „um die Gefangenen aus den Knästen in Westdeutschland zu befreien.“7351 Was vor der Lorenz‑Entführung im Verhältnis zwischen „Roter Armee Frak­ tion“ und „Bewegung 2. Juni“ nicht gelungen war, wurde nun in der Beziehung der B2J und der „Revolutionären Zellen“ Wirklichkeit: Eine gemischte Gruppe aus Aktivisten beider Akteure reiste nach Europa, um Gelegenheiten für eine Aktion zum Freipressen „politischer“ Inhaftierter ausfindig zu machen. Nachdem das von der „Bewegung 2. Juni“ vorgese­ hene Entführen des Papstes in Rom auf Anraten Wadi Haddads verworfen worden war, spähte die Gruppe – angeblich – Einrichtungen der „Europä­ ischen Wirtschaftsgemeinschaft“ in Brüssel und Luxemburg aus.7352 Zurückgestellt wurden diese Pläne zugunsten des Entführens einer Ma­ schine der „Air France“, an der die B2J laut Meyer nur am Rande beteiligt war.7353 Indem Böse und Kuhlmann Insassen eines Flugzeugs zur Geisel nahmen und später nach Juden und Nicht-Juden separierten, übertrafen sie die gewaltsamen Anstrengungen, welche die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ zugunsten inhaftierter Linksterroristen unter­ nommen hatten. Mit dem bis dahin nur von palästinensischen Organisa­ tionen in die Tat umgesetzten „Hijacking“7354 erreichten sie eine Stufe des „bewaffneten Kampfs“, die sich negativ auf die Beziehungen zu den ande­ ren Gruppen der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ auswirkte. Nicht 7348 7349 7350 7351 7352 7353 7354

Vgl. Reinders/Fritzsch 2003, S. 66-67. Meyer 2008, S. 58. Klein 1979a, S. 51. Ebd., S. 78-79. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 79; Klein 1979a, S. 79, 212; Meyer 2008, S. 387. Vgl. Meyer 2008, S. 74. Vgl. Kraushaar 2013, S. 23.

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nur das in Westdeutschland einsitzende basisbezogene Lager der B2J sowie der mit ihm ideologisch verbundene Aktivist Norbert Kröcher verurteilten die Tat.7355 Kröcher sprach rückblickend von einem „an die Nazis erin­ nernden Spuk“7356, der vor allem aufgrund des Trennens der Passagiere „in Juden und Nichtjuden“7357 inakzeptabel gewesen sei. Auch der „Roten Armee Fraktion“ ging die Flugzeugentführung zu diesem Zeitpunkt zu weit.7358 Ähnlich wie in der „Bewegung 2. Juni“ spielte dabei wohl der antisemitische Grundzug der Geiseltrennung eine Rolle, was – eingedenk des von der RAF genährten, bisweilen in den Antisemitismus abdriftenden Ablehnens israelischer Politik – beachtlich war. Stefan Wisniewski zufolge belegten die in Stuttgart‑Stammheim inhaftierten RAF‑Mitglieder die Gei­ selnahme mit entschiedener Kritik, weil sich „zwei deutsche RZ-Mitglie­ der an einer Aktion gegen Israel [beteiligt hatten], dem Land, das ja […] der Fluchtort für die Opfer des Holocaust war.“7359 Auch in den Monaten nach den Ereignissen in Entebbe blieb der perso­ nell geschwächte internationalistische Flügel der RZ an der Seite der radi­ kaleren Strömung der B2J, welche schließlich durch Plambeck, Rollnik und Viett Verstärkung erfuhr.7360 Die gedankliche Nähe dieses Teils der „Bewegung 2. Juni“ zur rigorosen antiimperialistischen Strategie der „Ro­ ten Armee Fraktion“ erwies sich für die grenzübergreifend auftretenden Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ nicht durchgehend als positiv. So berichtete Hans-Joachim Klein in seiner Autobiographie von Vorwürfen, die die „Bewegung 2. Juni“ mit Blick auf den „Feierabendterrorismus“ der „Revolutionären Zellen“ formuliert haben soll. Da sie ähnlich wie die RAF „das in den Untergrund-Gehen zu ihrem ‚Vaterunser‘ erhoben“7361 hatte, sei von ihr in einer Auseinandersetzung mit den RZ angeführt worden: „‚Ihr geht deshalb nicht in den Untergrund, weil ihr zu feige seid, diese Todesschwelle zu überschreiten. Denn im Untergrund könnt ihr nicht mehr so lavieren wie bisher, da müsst ihr kämpfen, auch ums Überleben, ohne Wenn und Aber und ohne die rettende Tür eurer Legalität.‘“7362

7355 7356 7357 7358 7359 7360 7361 7362

Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 743; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 317. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 317. Ebd. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 45. Ebd., S. 46. Vgl. Klein 1979a, S. 207-210. Ebd., S. 173. Bewegung 2. Juni, zit. n. ebd.

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Weitaus gravierender wog Böses und Kuhlmanns Idee einer „legale[n] Guerilla“7363 Mitte der 1970er Jahre in den Beziehungen zur „Roten Ar­ mee Fraktion“, die sich „deswegen immer fürchterlich“7364 echauffiert ha­ be. Im Nahen Osten stieß der internationalistische Teil der RZ 1975 auf Siegfried Haag und andere Angehörige der RAF, deren „‚freiwillige Ab­ setzbewegung‘ in den schützenden Jemen“7365 vor allem Johannes Wein­ rich ein Dorn im Auge gewesen sei. Ihre gemeinsamen Unterredungen kreisten laut Weinrich im Wesentlichen um „die RAF-Ansicht […], die meinte, nur aus der Illegalität heraus, völlig frei von bürgerlichem Scheiß mit der Kanone in der Tasche, kann man wirkungsvoll militanten Wider­ stand leisten.“7366 Zwar hätten die Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ dem „Feierabendterrorismus“ der „Revolutionären Zellen“ eine größere Effizienz als dem eigenen Leben im Untergrund zugebilligt. Ihren Stand­ punkt hätten sie aber nicht aufgegeben. Der Austausch habe in gegensei­ tigen, diffamierenden Anschuldigungen geendet.7367 „Eine Annäherung zwischen RAF und RZ war wieder einmal gescheitert“7368 – so Weinrich zu dieser Episode. Da die taktischen Unterschiede der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ in der Zeit nach der in Entebbe beendeten Gei­ selnahme aufgrund jeweiliger interner Kurskorrekturen zunahmen, steuer­ ten beide schnell auf einen weiteren Tiefpunkt ihrer Beziehung zu. Zum Scheidepunkt geriet ab Sommer 1976 die Agitation zur Lage der „poli­ tischen Gefangenen“. Während die RZ ihre Unterstützung inhaftierter Linksterroristen spürbar auf symbolische Anschläge gegen Pflichtverteidi­ ger und die Frankfurter Anwaltskammer reduzierten,7369 verschärfte die RAF ihren „Kampf“ für die Inhaftierten zunächst in terminologischer, schließlich sogar in praktischer Hinsicht. Anhand ihrer zusehends in strategischen Grundsatzerklärungen bedienten Kriegsanalogie hatte die „Rote Armee Fraktion“ nicht nur die eigene politische Rolle und aktio­ nistische Schlagkraft aufgewertet. Indem sie ihre Gewalt als Teil eines Krieges auswies, war von ihr implizit auch ein im Völkerrecht verankerter Kombattantenstatus für diejenigen reklamiert worden, die linksterroristi­ 7363 7364 7365 7366 7367 7368 7369

Ebd., S. 172. Ebd., S. 173. Vgl. auch Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 36. Schmaldienst/Matschke 1995, S. 95. Johannes Weinrich, zit. n. ebd., S. 96. Vgl. ebd. Johannes Weinrich, zit. n. ebd. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 161-164.

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sche Gewalt ausübten. Dieser Gedankengang geriet ab Mitte der 1970er Jahre7370 sukzessive zum allesbestimmenden Thema im „Widerstand“ der „politischen Gefangenen“ der RAF, was stärker prozesstaktischen als pro­ pagandistischen Motiven entsprang.7371 Entgegen der bisherigen Agitation, welche sich auf ein Gleichstellen mit den „sozialen Gefangenen“ kapriziert hatte,7372 wurde der Ruf nach einem Anwenden der Genfer Konventionen im Falle inhaftierter Linksterroristen und einem rechtlichen Anerkennen als Kriegsgefangene in der Öffentlichkeit immer lauter.7373 Diese Forde­ rungen ging einher mit dem Verlangen, arretierte Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ in sogenannten interaktionsfähigen Gruppen zusammen­ zulegen.7374 Einen ersten Gipfel erreichte die Kampagne mit dem von der RAF initiierten Hungerstreik im Frühjahr 1977.7375 Den Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ war „das ganze Militäri­ sche [der RAF] natürlich zuwider, […] zumal die meisten […] früher Radikalpazifisten […] gewesen waren“7376. Die Ablehnung dieses „Blöd­ sinn[s]“7377, dieses „Militarismus“7378 brachten die RZ in ihrem offenen Brief vom Dezember 1976 zum Ausdruck, wobei dieser zu einem über die Kritik am Kriegsgefangenenstatus hinausgehenden Rundumschlag ge­ gen die Strategie der RAF geriet – darin brach der innerhalb der RZ bestehende „Widerwille gegen bestimmte Leute aus der RAF […] [hervor], die sich in sehr herablassender Weise gegenüber den ‚Unterklassen‘ geäu­ ßert“7379 hatten. Die Verfasser des Schreibens konstatierten: In der Ver­ gangenheit habe die „Rote Armee Fraktion“ die „Aufhebung der Sonder­ behandlung“7380 im Justizvollzug sowie die „Gleichstellung mit anderen Gefangenen“7381 befürwortet. Nunmehr würde sie auf „ein Stück Papier, nämlich die Genfer Konvention beharren.“7382 Die Gruppe müsse unmiss­

7370 7371 7372 7373 7374 7375 7376 7377 7378 7379 7380

Vgl. Bundesministerium des Innern 1977, S. 126; Schwibbe 2013, S. 136. Vgl. Speitel 1980b, S. 32; Jäger/Böllinger 1981, S. 163. Vgl. Taufer 2018, S. 88-89. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 10-11. Vgl. Schwibbe 2013, S. 135; Taufer 2018, S. 109. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 265-267. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. Siemens 2006, S. 276. Gerd-Hinrich Schnepel, zit. n. ebd. Unsichtbare 2022, S. 73. Ebd., S. 16. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 178. 7381 Ebd. 7382 Ebd.

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verständlich klarstellen, ob sie sich für den „Aufbruch der Isolation“7383 oder aber „für die Genfer Konvention, für ein geschlossenes KZ“7384 und somit gegen die in der „Gefangenenhilfe“ aktiven „Revolutionären Zellen“ und linken Akteure entscheide. Das Beanspruchen des Kriegsgefangenen­ status übergehe erkennbar „die Interessen der anderen Gefangenen.“7385 In den Justizvollzugsanstalten, so die RZ, sollte die „gegenseitige Stärkung aller Gefangenen“7386 im Vordergrund stehen. Mit Blick auf eine weitere Nahrungsverweigerung in den Gefängnissen adressierten die Verfasser des Briefs abschließend die mahnende Frage an die RAF: „Wollt ihr wirklich für eine wahnwitzige Forderung, also Kriegsgefangene, euer Leben weg­ werfen?“7387 Andere Passagen des Schreibens warfen ein Schlaglicht auf die operati­ ven Differenzen zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der „Roten Armee Fraktion“. Bezugnehmend auf die Skepsis der RAF gegenüber den bundesrepublikanischen „Massen“ äußerten die RZ, die „Geschichte der letzten Jahre zeigt doch, wie wenig bestochen die Massen hier sind und wie fruchtbar der Boden sein kann“7388. Exemplarisch verwies das Netzwerk an dieser Stelle nicht nur auf die eigene Praxis, sondern unter anderem auch auf „Straßenschlachten in Frankfurt wegen der Fahrpreiser­ höhungen und Hausbesetzungen“7389. Neben der Haltung der „Roten Ar­ mee Fraktion“ zu potentiell revolutionären Subjekten rückten die „Revo­ lutionären Zellen“ die vermittelnde Arbeit der RAF in den Fokus, welche sie intern ob der „abgehobenen Theoriepapiere […] [und] dogmatischen Floskeln“7390 ablehnend beäugten. Ähnlich wie das ab Mai 1975 verbreite­ te Interview mit einem namentlich nicht bekannten RZ‑Mitglied hielten die Autoren des offenen Briefes fest, „Erklärungen müssen in westdeutsch [sic] geschrieben sein, damit sie jeder verstehen kann.“7391 Die Beiträge der

7383 7384 7385 7386 7387 7388 7389 7390 7391

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 175. Ebd. Schnepel/Wetzel 2001, S. 108. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 178.

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„Roten Armee Fraktion“ würden „[n]ur noch […] Insider“7392 begreifen. Der Öffentlichkeit blieben ihre Inhalte unzugänglich.7393 Nach dem Erscheinen des offenen Briefes bemängelte die „Rote Armee Fraktion“ ihrerseits strategische Prämissen, wie sie zuletzt der „Revolutio­ näre Zorn“ im Mai 1976 dargelegt hatte: In der zweiten Ausgabe des Sprachrohrs der RZ war von einem „langwierigen revolutionären Pro­ zess“7394 ausgegangen worden, der einerseits auf „politisch-militärische[n] Kerne[n] der revolutionären Linken“7395, andererseits auf „Organe[n] der Volksmacht“7396 basiere, „in denen sich Arbeiter, Frauen, Studenten offen bzw. halblegal organisieren“7397. Eingeleitet werden könne dieser Prozess nur, wenn die politische Linke den „Massen“ signalisiert, wie „Kämpfe des Volkes […] möglich sind, wie sie verteidigt werden können.“7398 Der „Revolutionäre Zorn“ selbst hatte dieser Losung Rechnung getragen, ent­ hielt die zweite Ausgabe doch praktische Hinweise zu „Möglichkeiten, den staatlichen Gewaltapparat in Trab [sic] zu halten, ihn sinnlos zu beschäfti­ gen und dadurch ein Gutteil zu destruieren.“7399 Anknüpfend an Andreas Baader, der basisbezogene Varianten der „Stadtguerilla“ pauschal aufgrund ihrer – vermeintlich – voluntaristischen Note verschmähte,7400 sah Gudrun Ensslin in diesem Handlungsansatz der „Revolutionären Zellen“ einen „schmierig diffuse[n] und […] chauvinistische[n] populismus“7401. Dieser könne nicht mit einer Strategie gleichgesetzt werden, schlussfolgerte sie in einem Kassiber vom 6. Januar 1977. Außerdem mangele es den Aktio­ nen der RZ an einer Taktik,7402 sie seien „ratlose und ambivalente manö­ ver“7403. „[E]ben scheiße“ war nach Ensslins Meinung zudem die Tendenz des Netzwerks, „in der frage legalität‑illegalität zu schlingern, statt sie aus dem klassenverhältnis, das illegale politik will […] – revolutionären krieg – zu begreifen“7404.

7392 7393 7394 7395 7396 7397 7398 7399 7400 7401 7402 7403 7404

Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 156. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 157. Ebd., S. 154. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 69. Bakker Schut 1987, S. 306. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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Diese innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ kommunizierte Interpre­ tation des „bewaffneten Kampfs“ der „Revolutionären Zellen“ fand sich schließlich im Frühjahr 1977 in einer Prozesserklärung der „politischen Gefangenen“, welche aufgrund des Überfalls auf die Deutsche Botschaft in Stockholm arretiert worden waren. Dem militärischen Denken der „Ro­ ten Armee Fraktion“ verhaftet, bot das ehemalige „Kommando Holger Meins“ seiner Überzeugung Raum, die „guerilla […] klärt die situation, orientiert im angriff, der das ziel hat: befreiung durch antiimperialisti­ schen krieg.“7405 Ihre Bestimmung bestehe darin, „den globalen antago­ nismus“7406 herzustellen, „die machtfrage […] und ihre revolutionäre lö­ sung“7407 zu forcieren. Andernfalls habe sie „keine strategie.“7408 Die RAF folge nunmehr seit mehreren Jahren der Absicht, eine solche Konfrontati­ on mit imperialistischen Strukturen zu suchen. Nicht zuletzt spiegele sich dies in „der überdeterminiertheit staatlicher reaktion“7409 in Westdeutsch­ land wider. Den „Revolutionären Zellen“ hingegen fehle die Qualität einer „Guerilla“, da diese – wie andere Gruppen der politischen Linken – nicht in der Lage seien, „den antagonismus zu entwickeln, das heißt, als offensiv-position proletarischer politik die illegalität zu organisieren.“7410 Anhängen würden die RZ einem „subjektivismus, der die objektiven not­ wendigkeiten revolutionärer politik“7411 ignoriere und sich in „ziellose[r] taktiererei“7412 verliere. Die Situation der „politischen Gefangenen“ zementierte ab 1976 auch insofern eine Polarität innerhalb der deutschen „Stadtguerilla“, als die aus ihr resultierenden operativen Vorstellungen bei einem Teil der „Bewegung 2. Juni“ die ohnehin bestehende oppositionelle Haltung zur „Roten Ar­ mee Fraktion“ nährten. Inhaltlich glich die Kritik der B2J dem Standpunkt der „Revolutionären Zellen“: Die gemeinhin als „Blues“ beschriebene Gruppe um die in Westberlin einsitzenden Aktivisten Ronald Fritzsch, Gerald Klöpper, Ralf Reinders und Fritz Teufel – der nach seiner Verhaf­ tung im Jahre 1977 zudem Norbert Kröcher angehörte – entschieden sich für eine „Übertragung der politischen Haltung in den Knast, die […]

7405 7406 7407 7408 7409 7410 7411 7412

Kommando Holger Meins der Roten Armee Fraktion 1977. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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vorher im Stadtteil“7413 forciert worden war. Aus ihrer Sicht war „die Auseinandersetzung [im Gefängnis] genauso zu führen, wie […] draußen im Betrieb oder im Stadtteil […] mit jedem Kollegen“7414, erinnerte sich Klöpper. Folgerichtig beanspruchte der „Blues“ nicht eine „Sonderbehand­ lung“7415 und „Gettoisierung [sic] der politischen Gefangenen, sondern […] den Normalvollzug.“7416 Dem Verbleib in Hochsicherheitstrakten setzte der Zirkel, so Kröcher, den Wunsch nach einer „Anerkennung als Kriminelle“7417 entgegen. „Modelle […], die im Krieg für das Militär Schutz bedeuten“7418, darunter die Genfer Konventionen, lehnten seine Mitglieder entschieden ab.7419 In den Überlegungen des „Blues“ gelangte der nicht-politische Häftling in die Rolle eines möglichen Sympathisanten, da er ebenfalls Opfer der „Isolation im Gefängnis“7420 sei und „in der Regel an die Grundpfeiler des Systems geschifft hat, die da heißen: Mehrwert zu schaffen und Eigen­ tum zu achten.“7421 Klöpper und andere gleichgesinnte Inhaftierte der „Bewegung 2. Juni“ hätten sich die im Strafvollzug bestehenden Spielräu­ me zu Nutze gemacht, um die „normalen Gefangenen“7422 für sich zu gewinnen.7423 So sei es dem „Blues“ gelungen, konspirativ Flugblätter „in jeden Winkel“7424 der Justizvollzugsanstalt Berlin-Moabit zu senden. Dies habe „einen Austausch unter den Gefangenen“7425, später das Beteiligen nicht‑politischer Inhaftierter an den Hungerstreiks des „Blues“ bewirkt. Ähnlich positiv äußerte sich die bis Juli 1976 in der Lehrter Straße in Westberlin inhaftierte Linksterroristin Gabriele Rollnik zum Verhältnis zwischen den arretierten Mitgliedern der B2J und nicht-politischen Haftin­ sassen: „Die normalen Gefangenen waren damals stark politisiert, viele sym­ pathisierten mit uns, weil unser Kampf […] für sie eine Hoffnung war.

7413 7414 7415 7416 7417 7418 7419 7420 7421 7422 7423 7424 7425

Klöpper 1987, S. 71. Ebd., S. 70. Bundesministerium des Innern 1979, S. 125. Klöpper 1987, S. 70. Kröcher 1998. Klöpper 1987, S. 72. Vgl. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 295. Klöpper 1987, S. 71, Kröcher 1998. Klöpper 1987, S. 70. Vgl. Danyluk 2019, S. 258. Klöpper 1987, S. 71. Ebd.

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Sie waren meist gut informiert über die aktuellen Aktionen der RAF und der Bewegung 2. Juni und hatten natürlich […] von unserm [sic] Banküberfall mit den Schokoküssen gelesen.“7426 Schon im März 1976 verurteilte die „Rote Armee Fraktion“ im internen Diskurs die Strategie, welche vor allem die männlichen „Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ in der Haft anstrebten. Für Ulrike Meinhof stand au­ ßer Frage, „dass man im imperialismus nicht leben kann, ohne gegen ihn krieg zu führen“7427. Dies könne selbst „in der erzwungenen legalität des knasts [nicht] anders sein“7428. Weiterführend konstatierte sie, im Gegen­ satz zur RAF werte die B2J den „kampf im gefängnis“7429 nicht als „teil des kriegs“7430. Die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ seien somit Vertreter eines „Militärfetischismus“7431, welche die „totalität dieses kriegs [zwischen Imperialismus und sozialrevolutionären Kräften]“7432 nicht begreifen wür­ den. Wiewohl die strategischen Paradigmen der Inhaftierten aus den Rei­ hen der B2J und der RAF unüberbrückbare Gegensätze formten, nahm der „Blues“ gemeinsam mit Till Meyer und Andreas Vogel im Frühjahr 1977 an der Nahrungsverweigerung der „Roten Armee Fraktion“ teil.7433 Dem vorausgegangen waren allerdings „lange Diskussionen“7434 unter den Häftlingen der „Bewegung 2. Juni“. Zu dieser abwegig wirkenden Koope­ ration mit der RAF führte die im deutschen Linksterrorismus existierende „Basissolidarität“. Für die Inhaftierten der B2J war es selbstverständlich, trotz der „unterschiedlichen politischen Einschätzungen und nicht einheit­ lichen Forderungen eine möglichst breite Kampffront [in den Haftanstal­ ten]“7435 zu formieren. Ferner dürften Erwägungen grundsätzlicher Natur den Ausschlag für die Entscheidung gegeben haben, sich kurzzeitig über die sonst spaltenden operativen Differenzen hinwegzusetzen: Beteilige sich die Gruppe nicht am Hungerstreik, nehme sie sich selbst die Fähigkeit zum Fortsetzen des in Freiheit aufgebauten „Widerstands“ gegen Staat und Gesellschaft. Meyer schrieb dazu:

7426 7427 7428 7429 7430 7431 7432 7433 7434 7435

Rollnik/Dubbe 2007, S. 58. Bakker Schut 1987, S. 256. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Meyer 2008, S. 356. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 402.

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„Hungerstreik ist das einzige einem Gefangenen noch zur Verfügung stehende Mittel, sich gegen die Allmacht des Staates, der er in Haft unterworfen ist, zur Wehr zu setzen. Den eigenen Körper als Waffe einzusetzen – mehr hatten wir ja nicht –, bedeutete trotz der äußersten Defensive, in der wir uns als Gefangene befanden, immer […] Angriff. Wir nahmen wieder unsere eigene Lebensgeschichte in die Hand, ge­ gen die Totalität der Fremdbestimmung.“7436 Die augenfällige Einigkeit, welche die nationale Strömung der „Revolu­ tionären Zellen“ und die B2J beim Ablehnen der von der RAF in den Gefängnissen ausgegebenen Linie zeigten, blieb in der Praxis außerhalb der Haftanstalten ohne positive Folgen. Zu sehr klafften inzwischen die Ziele ihrer jeweiligen aktiven Strukturen auseinander, sah doch die „Bewe­ gung 2. Juni“ – anders als die RZ – davon ab, die einseitige Fixation auf die „politischen Gefangenen“ zu durchbrechen und deren Befreiung zu­ gunsten gesellschaftlicher Konfliktfelder zurückzustellen. Weder der RAF noch der B2J gelang somit eine Emanzipation vom Wesen einer „Befreitdie-Guerilla-Guerilla“, wie sie die in Westdeutschland verankerten „Revo­ lutionären Zellen“ nach der in Entebbe gescheiterten Geiselnahme entlang interner Auseinandersetzungen vollzogen hatten. Geradezu zwangsläufig erschien daher die Reaktion der RZ auf das ab Ende 1976 aufkommende Vorhaben der B2J, „mit der RAF und den RZ eine gemeinsame Politik [zu] entwickeln“7437 und „langfristig eine einheitliche Organisation“7438 zu bilden. Grundstein der künftigen Zusammenarbeit sollte eine Aktion zugunsten der in Westdeutschland inhaftierten Linksterroristen sein.7439 Rollnik schilderte dazu: „Für die RZ waren andere Projekte vorrangig und das hatte sicher […] mit ihrer anderen Politikvorstellung [zu tun]: Den Frontalangriff auf den Staat am Beispiel einer Befreiungsaktion der wichtigsten poli­ tischen Gefangenen zu machen, hielten sie für fragwürdig. Im Gegen­ satz zur RAF und zu uns waren sie nicht von der Richtigkeit einer solchen Aktion überzeugt.“7440 In der Folgezeit boten die „Revolutionären Zellen“ der „Bewegung 2. Ju­ ni“ lediglich indirekt Unterstützung. Ähnlich wie im Februar 1977, als sie 7436 7437 7438 7439 7440

Meyer 2008, S. 356-357. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 35. Ebd. Rollnik/Dubbe 2007, S. 74. Gabriele Rollnik, zit. n. Siemens 2006, S. 361.

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eine Aktion gegen einen Pflichtverteidiger der „Roten Armee Fraktion“ unternommen hatten, führten die RZ im Mai 1978 zwei Anschläge auf Rechtsanwälte aus, die arretierten Mitgliedern der B2J beigeordnet worden waren.7441 Laut der dritten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ aus Mai 1977 erachtete das Netzwerk seine um antiimperialistische Elemente er­ gänzte nationale „Anknüpfungsstrategie“ nach wie vor als maßgeblich: „Da, wo es [gesellschaftliche] Kämpfe gibt, verhalten wir uns dazu. Da, wo es keine Massenbewegung gibt, halten wir fest am antiimperialistischen Kampf“7442. Zwischen Winter 1976 und Herbst 1978 griffen die „Revolu­ tionären Zellen“ mehrfach US-amerikanische Militäreinrichtungen in Westdeutschland an. Einer der Anschläge nahm erkennbar Bezug auf rea­ len Unmut der Bevölkerung: Ihre Aktion gegen den Kasernenneubau in Garlstedt begriffen die RZ als Ausfluss einer örtlichen Volksinitiative, wel­ che erfolglos rund 45 000 Unterschriften gegen die Präsenz des US‑Mili­ tärs gesammelt hatte.7443 Den Anschlägen auf die Rhein-Main Air Base im Dezember 1976, ein Brennstoffdepot nahe der Stadt Lahn im Januar 1977 sowie auf ein Offizierscasino in Wiesbaden im Juni 1978 gaben die „Revo­ lutionären Zellen“ einen internationalen politischen Anstrich.7444 Neben den Betroffenen der Preispolitik des öffentlichen Personennahverkehrs er­ achtete das Netzwerk zunehmend die wachsende Bewegung gegen Atom­ kraft als potentiellen Interessenten. Die Aktion gegen MAN im August 1977 bildete den Auftakt einer einschlägigen Kampagne.7445 9.3.6 Diadochenkampf zwischen „Populisten“ und „Antiimperialisten“ Während sich die „Revolutionären Zellen“ gegen eine selbst geförderte Isolation der „Stadtguerilla“ stemmten und damit die eigene Rolle eines „intendierte[n] Korrektiv[s]“7446 unter Beweis stellten, forcierten die „Be­ wegung 2. Juni“ und die „Rote Armee Fraktion“ nochmals ihr strategi­ sches Abkapseln. Unabhängig voneinander trieben beide Gruppen den

7441 Vgl. Horchem 1988, S. 92; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialge­ schichte 1993, Band 1, S. 163‑164; Meyer 2008, S. 384. 7442 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 172. 7443 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 177. 7444 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 370-372. 7445 Vgl. ebd., S. 353. 7446 Demes 1994, S. 25.

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„Kampf“ um die „politischen Gefangenen“ voran. Nachdem eine mit der Kerngruppe der B2J ideell verbundene „Auslandsfiliale in Stockholm“7447 verhaftet und ihr Plan einer Entführung mit anschließendem Freilassen inhaftierter Linksterroristen im April 1977 zerschlagen worden war,7448 steuerte die RAF auf den „Deutschen Herbst“ zu. Obgleich die Gruppe die zugunsten der „Gefangenenbefreiung“ eingesetzte Gewalt in Form von parallelen Geiselnahmen im In- und Ausland steigern konnte, schei­ terte sie ebenfalls. Endgültig brach das von 1973 an faktisch verfolgte Modell der „Befreit‑die‑Guerilla-Guerilla“ im Sommer 1978 zusammen. Zwar konnte die „Bewegung 2. Juni“ erneut ihr mit dem „bewaffneten Kampf“ der RAF kontrastierendes taktisches Augenmaß unterstreichen, indem ihren „Illegalen“ im Mai 1978 durch konspiratives Eindringen in eine Haftanstalt erstmals nach der „Lorenz‑Entführung“ das Befreien eines inhaftierten Linksterroristen gelang. Dieser Durchbruch geriet aber nur wenige Wochen später zu einem schweren Misserfolg. Die deutsche Poli­ zei verhaftete neben dem entflohenen Till Meyer weitere „Aktive“ der B2J, was die „illegale“ Ebene des Zirkels nachhaltig schwächen sollte.7449 Der Einsatz der GSG 9 in Mogadischu sowie die Kooperation des Bundeskrimi­ nalamts mit den Strafverfolgungsbehörden des sozialistisch regierten Bul­ gariens untermauerten die Aussichtslosigkeit einer Strategie, welche das Freilassen „politischer Gefangener“ als conditio sine qua non betrachtete. Die Ereignisse im Herbst 1977 wirkten sich vor allem auf die Bezie­ hung zwischen der inhaftierten, basisbezogenen Strömung der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“ aus. Dem Verhältnis zwischen ihren „illegalen“ Ebenen schadeten sie hingegen nicht. Die „Illegalen“ der B2J monierten, die Zweite Generation der RAF hätte die Aktionen im Herbst 1977 ausschließlich „auf Sieg geplant“7450. Ähnlich wie nach der Botschaftsbesetzung in Stockholm verurteilten sie den Hang der „Ro­ ten Armee Fraktion“, die eigenen operativen Möglichkeiten zu überschät­ zen.7451 Grundsätzlich zeigten sie sich jedoch weiterhin einverstanden mit der antiimperialistisch‑internationalistischen Strategie der RAF. Das Über­ einstimmen mündete schließlich in der Übergabe einer Teilmenge des Geldbetrags, den die „Bewegung 2. Juni“ 1977 infolge der Entführung

7447 7448 7449 7450 7451

Kröcher 1998. Vgl. Bundesministerium des Innern 1978, S. 119. Korndörfer 2008, S. 254; Nehring 2015, S. 415. Viett 2007, S. 172. Vgl. ebd.

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Walter Palmers‘ erbeutet hatte.7452 Bemerkenswert war die finanzielle Un­ terstützung auch insofern, als die der strategischen Linie des „Blues“ nahe­ stehenden „Revolutionären Zellen“ offenbar nicht am Lösegeld beteiligt wurden. Abgesehen von der RAF hätten lediglich palästinensische Orga­ nisationen Geld erhalten.7453 Trotz der Affinität zum Antiimperialismus gingen die „Illegalen“ der B2J nicht dazu über, operative Konzepte dieser von ihr unterstützten Akteure in Gänze zu übernehmen. Als sich im An­ schluss an Till Meyers Befreiung erstmals seit Langem in Bulgarien die Option bot, eine grundlegende strategische Vision zu diskutieren, einigten sie sich auf eigenständige Vorstellungen, welche Versatzstücke aus dem gegen imperialistische Machinationen ausgerichteten Vorgehen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und der „Vermassungsstrategie“ der RZ verschmol­ zen. Laut Meyer war den „Aktiven“ daran gelegen, „in der Bundesrepublik Fuß [zu] fassen“7454 und „mit Sympathisanten und Unterstützern in die Diskussion [zu] kommen“7455. Verwirklicht werden sollte dies durch eine Bezugnahme auf die Anti-Atomkraft- sowie die Friedensbewegung, die an­ gesichts der politischen Überlegungen zum atomaren Aufrüsten in West­ europa Zulauf erhielt.7456 Vor allem Letzter sollte „die fehlende Schärfe [ge]geben“7457 werden. Angeblich beabsichtigten die „Illegalen“, zu diesem Zweck einen hochrangigen Befehlshaber der NATO zu entführen und ihm brisante Interna zu entlocken. Derartige Informationen hätten sodann der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.7458 Nach den Verhaftungen in Bulgarien fand sich ein Großteil der antiim­ perialistischen Strömung der „Bewegung 2. Juni“ in einer Situation, wie sie der „Blues“ seit Jahren erlebte: Nunmehr galt es, aus der Haft heraus den „bewaffneten Kampf“ zu bestimmen und zu vertreten. In den weite­ ren Diskussionen der inhaftierten „Antiimperialisten“ der B2J spielte der zuvor am Schwarzen Meer erörterte Dritte Weg zwischen „Roter Armee Fraktion“ und „Revolutionären Zellen“ keine Rolle. Endgültig wurden nunmehr Positionen maßgeblich, welche zum theoretischen Repertoire der RAF zählten.7459 Einher ging dies mit einem Abwerten des als „Revo­

7452 7453 7454 7455 7456 7457 7458 7459

Vgl. Rollnik/Dubbe 2007, S. 79. Vgl. ebd. Meyer 2008, S. 391. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 392-393. Ebd., S. 392. Vgl. ebd., S. 393. Vgl. ebd., S. 366-367, 416.

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lutionäre-Guerilla-Opposition“ auftretenden „Blues“,7460 der sein strategi­ sches Profil vor allem im Anschluss an den „Deutschen Herbst“ durch ein kritisches Auseinandersetzen mit der zurückliegenden Agitation der „Roten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionä­ ren Zellen“ zu schärfen versucht hatte. Vom „Blues“ in Zweifel gezogen worden war die Annahme der RAF, der bundesrepublikanische Staat habe Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan‑Carl Raspe in der JVA Stutt­ gart‑Stammheim hinrichten lassen.7461 Solche Aussagen seien „Quatsch und dient[en] nur der Legendenbildung“7462. Aus der Sicht des „Blues“ hatte die „Rote Armee Fraktion“ zudem den Gedanken der „Stadtguerilla“ durch das Entführen einer deutschen Passagiermaschine pervertiert.7463 Eine entsprechende Wertung war in den Brief aufgenommen worden, der sich Anfang 1978 an das „Treffen in TUNIX“ richtete.7464 Im Allgemeinen sprach sich das Schreiben gegen die erkennbar von der RAF geprägte Nei­ gung des deutschen Linksterrorismus aus, „sich in einer rein militärischen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat“7465 beweisen und damit das ihm „zugewiesene Ghetto“7466 annehmen zu wollen. Der „Blues“ stilisierte sich darin zu „Leute[n] wie du und ich“7467, die „nicht in erster Linie als anti‑imperialistische Fighter (=Kriegsgefangene, =Sonderstatus nach der Genfer Konvention)“7468 auftreten würden. Ihnen schwebe eine „starke revolutionäre Widerstandsbewegung“7469 in Deutschland vor, welche die B2J – ähnlich wie die „Revolutionären Zellen“ – entlang der „täglichen (hiesigen) Probleme des Lebens“7470, auf Grundlage des „alltäglichen Wi­ derstandsverhalten[s]“7471 realisieren müsse: „Ansatzpunkte gibt es mehr als genug, und der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.“7472 Aufbauend auf diesen Verlautbarungen hatten sich die Mitglieder des „Blues“ im März 1978 in einem Interview selbst als „Populisten“7473 be­ 7460 7461 7462 7463 7464 7465 7466 7467 7468 7469 7470 7471 7472 7473

Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 679. Vgl. Meyer 2008, S. 367, 390. Der Blues, zit. n. ebd., S. 367. Vgl. Klöpper 1987, S. 70. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 645. Ebd., S. 644. Ebd. Ebd., S. 638. Ebd. Ebd., S. 645. Ebd., S. 638. Ebd., S. 647. Ebd. Ebd., S. 652.

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schrieben: Sozialrevolutionäre Gewalt „muss […] populär sein. Verbun­ den mit dem Teil des Volkes, der sich wehrt, der bereits kämpft, als ein Teil des gemeinsamen Kampfes“7474. Im Mai 1979 befasste sich Fritz Teufel ausführlich mit dem „bornierte[n] Geriljakonzept [sic] der ‚Befreitdie-Gerilja-Gerilja‘ [sic]“7475. Die RAF, die „Aktiven“ der B2J und eine Gruppe der „Revolutionären Zellen“ hätten das Freilassen verurteilter Linksterroristen zur zentralen Herausforderung linker politischer Kräfte in Westdeutschland erhoben.7476 Vor allem die „Rote Armee Fraktion“ habe damit operative Überlegungen zurückgestellt, welche „den Kampf in allen Lebensbereichen, in Betrieben und Stadtteilen zum unverzichtbaren Hauptinhalt revolutionärer sozialistischer Praxis erklärte[n]“7477. Insofern sei ihr Scheitern zwangsläufig gewesen. Hoffnung machen würde unter anderem das gegenwärtige Vorgehen der „Revolutionären Zellen“, orien­ tiere sich dieses doch an der gesellschaftlichen Basis.7478 Zwei Jahre nach dem Schreiben an das „Treffen in TUNIX“ stellte der „Blues“ nochmals ausführlich seine Anforderungen an eine sozialrevolu­ tionäre Strategie dar. Als Antwort auf linke Gegenstimmen zum Brief an den TUNIX-Kongress hieß es im Januar 1980 in „Die Welt wie wir sie sehen!“, der „Dogmatismus der Vergangenheit“7479 könne überwunden werden, wenn linke Politik nicht ausschließlich in terroristischer Gewalt gesehen werde. Statt Einseitigkeit müsse die „Stadtguerilla“ Pluralismus forcieren:7480 „[J]ede Form des Kampfes [ist] anzuwenden (Streik, Demo, bewaffneter Kampf).“7481 Denn es lasse sich „nichts voneinander tren­ nen“7482. Weder könne der „gemeinsame Kampf“7483 aller linken Akteure „vom Einzelnen (autonomen)“7484 noch der „einzelne Kampf […] vom gemeinsamen Kampf (Revolution)“7485 separiert werden. Akzeptiere linker „Widerstand“ dieses Paradigma, würden „alle Gruppen gleichberechtigt mit und nebeneinander arbeiten können, am gemeinsamen Ziel, der Re­

7474 7475 7476 7477 7478 7479 7480 7481 7482 7483 7484 7485

Ebd. Ebd., S. 741. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 695. Vgl. ebd., S. 694. Ebd., S. 694-695. Ebd., S. 695. Ebd. Ebd. Ebd.

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9.3 Revolutionsmodell

volution.“7486 Zentrales, verbindendes Anliegen auf dem Weg zu diesem Umbruch sei das Erobern eines „freien Aufmarschgebietes, um von diesem Freiraum aus den nächsten, größeren“7487 in Besitz zu nehmen. Weiterführend präsentierte der „Blues“ die von ihm favorisierte Variante dieser Strategie. Im Kern folgte sie dem – von 1975 an – in der „Bewegung 2. Juni“ umstrittenen Gedanken, „von unten massenhaft in die Produk­ tionsverhältnisse ein[zu]greifen. Erst ein Jugendhaus, dann eine Fabrik, dann ein Stadtteil, eine Stadt usw., usw.“7488 Ein solches Vorgehen münde nicht kurzfristig in Erfolgen. Vielmehr verlange es Ausdauer.7489 Entschei­ dend sei dabei, „jeden Kampf, der gegen das System oder einen Teil davon gerichtet ist, zu unterstützen“7490 und so die Selbstbestimmung der – ver­ meintlich – unterdrückten „Massen“ zu fördern. Ununterbrochen müsse revolutionären Subjekten zu verstehen gegeben werden: „kämpft um eure Lebensbereiche, erobert sie, gestaltet sie selbst, gestaltet euer Leben selbst. Lernt kämpfen, um zu leben und lebt, um zu kämpfen!“7491 Um ein enges Wechselverhältnis zwischen der „Stadtguerilla“ und denjenigen zu garantieren, die den „Kampf“ aufgenommen haben, war ein nachvollzieh­ bares und damit „volksnahes“ Agieren anzustreben. Vermieden werden müsse, dass sich die Bevölkerung infolge sozialrevolutionärer Gewalt als gefährdet sieht. Sie solle sich selbst im Kampf der „Stadtguerilla“ erblicken können.7492 Implizit grenzte sich der „Blues“ hierbei von antiimperialisti­ schen Teilen des deutschen Linksterrorismus ab: „Nur wer mit politischer Blindheit geschlagen ist, kann es fertigbringen und leugnen, dass der Kampf populär sein muss.“7493 Auf Grundlage dieser „Popularität“ sollten dem Kapital schließlich nach und nach „der Staatsapparat“7494 sowie „seine Betriebe, seine Schulen, seine Horrorstadtteile, seine Fließbänder“7495 und „Reproduktionsstätten“7496 abgenommen werden. Noch deutlicher als in diesen Zielen brachte der „Blues“ an anderer Stelle in seinem Traktat „Die Welt wie wir sie sehen!“ zum Ausdruck,

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Ebd. Ebd., S. 696. Ebd. Vgl. ebd., S. 728. Ebd., S. 700. Ebd., S. 728. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 727. Ebd. Ebd.

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welche operativen Annahmen der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ er als verfehlt sah. In extenso widmete er sich dem auch in der eigenen Propaganda genutzten Begriff des Krieges. Sozialrevolutionäre Agitation, so der „Blues“, habe die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und seinen Kontrahenten pauschal als kriegerischen Konflikt umschrieben, obgleich „das Volk einen anderen Begriff von Krieg hat.“7497 Bedingt durch selbst gesammelte Erfahrungen verstünden die „Massen“ unter Krieg „Luftschutz, Granaten, Krüppel, Hunger usw.“7498 Indem Teile der politischen Linken die gesellschaftliche Situation in der Bundesrepublik als Krieg entlarven wollten, nehme die Bevölkerung inzwischen an, die „Stadtguerilla“ habe einseitig eine Kriegserklärung an staatliche Strukturen gerichtet.7499 Der Bürger wähne „den Staat in einem Notwehrkampf“7500 und verwehre daher dem Linksterrorismus seine Unterstützung. Verant­ wortlich für diese Entwicklung sei ein strategisches Konzept, welches die repressive Natur staatlichen Handelns durch eine Eskalation der Gewalt offenzulegen suche und hierbei „Krieg (BRD) mit Krieg (3. Welt)“7501 auf eine Stufe setze. Offensichtlich auf die „Rote Armee Fraktion“ und das von ihr befürwortete Aktions-Repressions-Modell blickend, stellte der „Blues“ fest, die subjektive Vorstellung zu einem Krieg müsse mit der Realität im Einklang stehen – andernfalls erziele die „Stadtguerilla“ lediglich Misser­ folge.7502 Objektiv sei die Neigung, „die technische Seite des Kampfes [zu] verbessern und […] Schläge härter werden“7503 zu lassen, nicht zu rechtfer­ tigen. Von einer solchen Haltung profitieren würde allein die staatliche Gegenwehr, manövriere sie doch die „Stadtguerilla“ von einem politischen zu einem technischen Duell, in dem der Staat seine Überlegenheit ohne Rücksicht ausspielen könnte.7504 Folglich habe „das rein Militärische […] bei uns nichts zu suchen.“7505 Neben strategischen Grundsatzfragen spiegelte Ende der 1970er Jahre der „Widerstand“ in den Gefängnissen den an Intensität gewinnenden strategischen Richtungskampf zwischen dem „Blues“ sowie der „Roten Armee Fraktion“ und ihr nahestehender Inhaftierter aus den Reihen der

7497 7498 7499 7500 7501 7502 7503 7504 7505

Ebd., S. 723. Ebd. Vgl. ebd., S. 724. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 725-726.

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B2J wider. Die dem Hungerstreik der „politischen Gefangenen“ im Früh­ jahr 1979 vorausgehende Kontroverse brachten die in den Haftanstalten über Gruppengrenzen hinausgehende „Basissolidarität“ zur Auflösung. Erste Anzeichen für den Zwist bot Fritz Teufels Text „Solidarität und Hungerstreik“. Mit ihm rüttelte Teufel öffentlich an der weitgehend unan­ gefochtenen zentralen Stellung, welche linksterroristische Häftlinge der Nahrungsverweigerung in ihrer Agitation zugewiesen hatten. Er habe „die Schnauze voll von den Hungerstreiks der gefangenen Gerilja [sic], […] mehr noch von der Art und Weise, wie sie ablaufen“7506. Teufel führte persönliche Motive und taktische Annahmen ins Feld. Bisherige Hunger­ streiks seien von der RAF eingeleitet worden, „ohne die Sachen auszu­ diskutieren, bzw. mit Forderungen wie Genfer Konvention“7507, die der Agenda des „Blues“ widersprachen. Indem sich die „politischen Gefange­ nen“ der Ernährung des Justizvollzugs entzogen und somit ihr Leben aufs Spiel setzten, hätten sie den Diskurs mit dem linken Umfeld außerhalb der Gefängnisse gelähmt.7508 Niemand sei willens gewesen, „Genossen zu kritisieren, die im Begriff sind, abzukratzen.“7509 Hinzu kämen die Auswirkungen der Nahrungsverweigerung auf das Binnengefüge inhaftier­ ter Linksterroristen. Dem einzelnen Inhaftierten sei nicht das Recht ein­ geräumt worden, sich individuell aus dem Hungerstreik zurückzuziehen. Abweichler habe der Vorwurf getroffen, sie würden den „Widerstand“ der „politischen Gefangenen“ gefährden.7510 Außerdem habe „man sich […] gegenseitig beim Hungern des ‚Mogelns‘ verdächtigt.“7511 Die Nah­ rungsverweigerung, so Teufel, sei „zum solidaritätszerstörenden Gruppen­ sprengstoff“7512 geworden. Schließlich: Der „Kampf“ in den Haftanstalten erschöpfe sich nicht im Hungerstreik. Ihm stünden alle Mittel der „Kom­ munikation […], schriftlich und mündlich,“7513 zur Verfügung. An künf­ tige Nahrungsverweigerungen stellte Teufel Anforderungen, wie sie der „Blues“ mit Blick auf den „bewaffneten Kampf“ außerhalb der Haftanstal­ ten bestimmt hatte:

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Ebd., Band 1, S. 397. Ebd., S. 402. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 403. Ebd., S. 404. Ebd., S. 403. Ebd., S. 404.

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„Es kommt nicht darauf an, Rekorde an Militanz, Ausdauer und Op­ fern aufzustellen. […] Vernunft, Bescheidenheit, Augenmaß, offene Diskussionen, egalitäre Umgangsformen, Zärtlichkeit und Selbstkritik, äußerste Kontaktbereitschaft, wachsame Skepsis und leidenschaftliche Hoffnung gilt es wachzuhalten und zu stärken.“7514 Als sich im ersten Quartal 1979 unter den Häftlingen der RAF und der B2J konkrete Gespräche zu einer erneuten Nahrungsverweigerung entwickelten, bezog der „Blues“ erkennbar eine Position, welche die Kern­ punkte des Textes „Solidarität und Hungerstreik“ zu berücksichtigen such­ te. Anders als zuvor war er nicht bereit, selbst gesteckte Ziele zugunsten der in der Vergangenheit bemühten gruppenübergreifenden „Basissolida­ rität“ in den Hintergrund treten zu lassen. Laut Meyer hielt er unbeirrt an der Absicht fest, stellvertretend für politische wie nicht‑politische Inhaf­ tierte „Freiheit“ zu verlangen.7515 Meyer empfand diese Linie als verfehlt, da nach seiner Auffassung die Justizvollzugsanstalten keinesfalls als „‚Spie­ gelbild der Gesellschaft draußen‘“7516 verstanden werden konnten. Auch die weiblichen Häftlinge der „Bewegung 2. Juni“ standen in Opposition zum „Blues“. So war aus Sicht Angelika Goders ausschließlich eine Kampa­ gne der Inhaftierten denkbar, welche – gestützt auf die Genfer Konventio­ nen – für deren „Zusammenlegung in großen Gruppen“7517 eintrat. Glei­ chermaßen befürwortet wurde dieser Standpunkt von der „Roten Armee Fraktion“. Die divergierenden Meinungen der „politischen Gefangenen“ schlugen sich in mehreren Erklärungen nieder, die nach Beginn des Hungerstreiks am 20. April 1979 an die Öffentlichkeit gelangten. Während die „Rote Armee Fraktion“ sowie die mit ihr sympathisierenden Inhaftierten der „Bewegung 2. Juni“ in separaten Verlautbarungen die „Mindestgarantien der Genfer Konventionen“7518 sowie die „Zusammenfassung der Gefange­ nen zu interaktionsfähigen Gruppen“ 7519 zu Bedingungen für ein Ende des Hungerstreiks erhoben, beschrieb der „Blues“ die Fürsprecher solcher Pos­ tulate als Angehörige einer Sekte.7520 Deren Wunsch nach einem „Kriegs­

7514 7515 7516 7517 7518 7519 7520

Ebd., S. 405. Vgl. Meyer 2008, S. 417-418. Ebd., S. 418. Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 118. ID-Verlag 1997, S. 281. Ähnlich Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 387. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 387. Ähnlich ID-Verlag 1997, S. 282. Vgl. ebd., S. 389. Vgl. auch ebd., Band 2, S. 769.

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gefangenenstatus“7521 werde sowohl inner- als auch außerhalb der Haftan­ stalten abgelehnt.7522 Es gehe ihnen allein darum, linksterroristische Häft­ linge von nicht-politischen „Gefangenen“ zu trennen.7523 Aufrecht erhal­ ten würden sie eine Isolation, „damit wir von den inzwischen unerträglich gewordenen, ewigen ‚anti‑imperialistischen‘ Phrasen und Vulgäranalysen nicht flüchten können.“7524 Dem gegenüber stehe der „Blues“, der „sowas wie normales Leben […] im Knast […] mitbekommen“7525 wolle und daher den Kontakt zu „den Knackis“7526 suche. Nur der Austausch mit den nicht-politischen „Gefangenen“ könne die „menschliche und politische Identität“7527 der „Stadtguerilla“ sichern. Die Differenzen unter den Häftlingen traten im Herbst 1979 erneut hervor. Till Meyer und Andreas Vogel artikulierten ab dem 10. Oktober 1979 in einem Hungerstreik Protest gegen das Verlegen der inhaftierten Aktivistinnen Monika Berberich und Ilse Jandt nach Lübeck.7528 Wie zuvor begriffen sie dabei die „zusammenlegung der gefangenen“7529 als „bedingung zum überleben im knast.“7530 Fünf Tage später lancierte der „Blues“ eine Erklärung, in der er eine separate Nahrungsverweigerung rechtfertigte. Im Gegensatz zu Meyer und Vogel verwies er nicht nur auf die Haftbedingungen der in bundesrepublikanischen Gefängnissen einsit­ zenden Linksterroristen. Auch andere Straffällige, darunter Drogenabhän­ gige – sogenannte Fixer – und ausländische Häftlinge, standen im Fokus der „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“.7531 Der Beitrag des „Blues“ gip­ felte in der Feststellung, das westdeutsche Haftregime lasse sich lediglich dann verbessern, wenn Erleichterungen „grundsätzlich und für alle Ge­ fangenen durchgesetzt“7532 werden. Rückhalt erhielt die im Westberliner Justizvollzug untergebrachte „populistische“ Strömung der „Bewegung 2. Juni“ insbesondere von Norbert Kröcher. Dieser sah die Forderung nach „interaktionsfähigen Gruppen“ sowie dem Anwenden der Genfer

7521 7522 7523 7524 7525 7526 7527 7528 7529 7530 7531 7532

Ebd., Band 1, S. 390. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 388. Ebd. Ebd., S. 389. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 385. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 393-394. Ebd., S. 396.

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Konventionen in den Fällen westdeutscher Linksterroristen abwechselnd als „Quatsch“7533 und „Unfug“7534. Seiner Meinung nach fehlten den in der Bundesrepublik aktiven Mitgliedern der „Stadtguerilla“ essentielle Merkmale, die sie unter den international anerkannten Begriff des Kom­ battanten fallen ließen: „einheitliches Oberkommando, offenes Tragen der Waffen, Kennzeichnung der Kämpfer mindestens durch Armbinden“7535. Ferner hielt er die Genfer Konventionen für eine Farce: Wirksamen Schutz würden sie einer „Stadtguerilla“ ohnehin nicht bieten können.7536 Ostentativ vertrat Kröcher diese Haltung Ende 1979 in mehreren Beiträ­ gen für linksextremistische Periodika.7537 Mit seinem Traktat „Himmel mit Muster“ bezog er Stellung gegen die „opfer des genfer syndroms“7538, die sich als „politische Gefangene“ strikt von nicht-politischen Häftlingen abgrenzten.7539 Kröcher sah im „politischen Gefangenen“ einen Mythos, da alle Insassen westdeutscher Haftanstalten – „zuhälter, totschläger, be­ trüger, penner, einbrecher, schizophrene, giftmörder und […] stadtgueril­ leros“7540 – sich gegen Mehrwert und Eigentum gestellt und damit die Gesetze gebrochen hätten.7541 Insofern seien sie unterschiedslos „gefange­ ne der politischen verhältnisse, […] kriegsgefangene des krieges von staat und kapital gegen den menschen.“7542 Kröcher gelangte zu dem Ergebnis, der Ruf nach Zusammenschluss linksterroristischer Häftlinge in „interak­ tionsfähigen Gruppen“ sei in sein Gegenteil zu verkehren: „Politische Ge­ fangene“ müssten ohne Ausnahme ihre Integration in den gewöhnlichen Strafvollzug verlangen.7543 Die „Isolation“ von Inhaftierten sei generell abzulehnen,7544 ebenso „JEDE FORM VON ‚SONDERBEHANDLUNG‘ FÜR ‚SPEZIELLE‘ GEFANGENE“7545. Kröchers harsche Kritik an einem von der RAF geprägten Konzept des „politischen Kampfes“ in den Gefängnissen bildete den Auftakt für einen weiteren Schlagabtausch im konfliktträchtigen Verhältnis zwischen 7533 7534 7535 7536 7537 7538 7539 7540 7541 7542 7543 7544 7545

Kröcher/Papenfuß 2017, S. 315. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 757. Vgl. ebd. Ebd., S. 759. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 763-764. Vgl. ebd., S. 764. Ebd. Die Hervorhebungen entsprechen dem Original.

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9.3 Revolutionsmodell

dem basisbezogenen Teil der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“. Die von ihm und den anderen Angehörigen des „Blues“ ver­ tretenen Argumente fanden auch Ende der 1970er Jahre innerhalb der RAF keine Mehrheit. Vehement abgelehnt wurden selbst die in diesem Zeitraum wahrnehmbaren Bemühungen aktiver und ehemaliger Mitglie­ der der „Roten Armee Fraktion“, in der Frage des Verhältnisses der „po­ litischen Gefangenen“ zu den nicht-politischen Inhaftierten eine andere Richtung einzuschlagen. So berichtete Stefan Wisniewski, er habe nach seiner Verhaftung im Jahre 1978 für ein strategisches Profil geworben, welches die Justizvollzugsanstalten als „gesellschaftliches Terrain“7546 sah. Ausgesprochen habe er sich gegen die Tendenz der „Roten Armee Frakti­ on“, den Ruf nach einem Kriegsgefangenenstatus zu einem Dogma zu er­ heben. Gelinge der RAF nicht die Kooperation mit „sozialen“ Häftlingen, müsse bezweifelt werden, ob sie ihre Agenda außerhalb des Justizvollzugs realisieren könne. Denn in der Haft seien die Bedingungen für eine sozi­ alrevolutionäre Agitation ideal: Inhaftierte erlebten unmittelbar das repres­ sive System der Bundesrepublik. Eigenen Aussagen zufolge entfremdete sich Wisniewski aufgrund dieser Sichtweise zusehends von den übrigen „Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“.7547 Vergleichbare Erfahrungen referierte der zur Ersten Generation der RAF zählende Aktivist Klaus Jünschke, der sich 1977 während der Haft aus der Gruppe zurückzog. 1980 habe er mit anderen Häftlingen der „Roten Armee Fraktion“ eine Debatte führen wollen zu ihrer Überführung in den „Normalvollzug“ und einem einheitlichen Haftregime für politische und nicht-politische Insassen westdeutscher Justizvollzugsanstalten. Laut Jünschke schenkten seine ehemaligen Mitstreiter dieser Initiative keine Beachtung.7548 Nicht zu überraschen vermochten somit die deutlichen Reaktionen, welche einzelne Inhaftierte der RAF zu Kröchers Papier an die Öffent­ lichkeit trugen. Karl-Heinz Dellwo schrieb Anfang November 1979, die Mauern zwischen den politischen und nicht-politischen Gefängnisinsassen könnten keinesfalls durch ein Entpolitisieren inhaftierter Linksterroristen eingerissen werden. Vielmehr müssten die nicht-politischen Kriminellen auf das Niveau der politischen treten.7549 Ausgeschlossen sei für arretierte Aktivisten der RAF der vom „Blues“ avisierte Gedanke, „als missionar

7546 7547 7548 7549

Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 9. Vgl. ebd., S. 10-14. Vgl. auch Möller/Tolmein 1999, S. 168-169. Vgl. Jünschke 1988, S. 138. Vgl. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 771.

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unter die gefangenen [zu] gehen“7550. Schließlich führe dieser Ansatz zu einem Verlust der eigenen politischen Identität. Aus Dellwos Perspektive war die in Kröchers Papieren erkennbare Auseinandersetzung um eine operative Vorgehensweise in den Justizvollzugsanstalten symptomatisch für die Beziehung der B2J zur „Roten Armee Fraktion“:7551 Weil die „Bewegung 2. Juni“ nicht fähig sei, „eine bestimmte politische linie zu verstehen“7552 und sich auf eine inhaltliche Debatte einzulassen, würden zum einen die Unterschiede zwischen der B2J und der RAF in den Haft­ anstalten, zum anderen die Disparitäten zwischen dem „populismus und massentrip“7553 der „Bewegung 2. Juni“ und dem Vorgehen der „Roten Armee Fraktion“ außerhalb der Gefängnisse bestehen bleiben. Mit ihrer Strategie im Justizvollzug komme der RAF „immer noch ne [sic] größere relevanz“7554 zu als dem „Blues“ – so Dellwo abschließend. Letzter übe sich ausschließlich in „sozialisationstypische[m] ‚knacki-verhalten‘“7555. Ebenfalls polemisch las sich Heinrich Jansens Replik auf Kröchers Bei­ trag „Himmel mit Muster“. Jansen zufolge existierte die von Kröcher ge­ zeichnete „heile knastwelt“7556 nicht. Die „Rote Armee Fraktion“ sei über Jahre hinweg für Haftbedingungen eingetreten, die denen der nicht‑poli­ tischen Häftlinge glichen. Diese Kampagne habe das Ziel beinhaltet, Kon­ takte zu Insassen aufzubauen, welche zuvor einer Politisierung entgangen waren.7557 Gescheitert sei sie aus mehreren Gründen. Einerseits hätten sich nicht-politische „Gefangene“ aufgrund ihrer Verbindungen zu inhaftierten Mitgliedern der „Stadtguerilla“ Nachteilen im Gefängnisalltag ausgesetzt gesehen. Der Justizvollzug habe sie unter Druck gesetzt. Andererseits habe sich die Verbundenheit unter den Insassen westdeutscher Haftanstalten als Illusion gezeigt:7558 Die „knastler [gehören] in der regel nicht zu den ‚be­ wusstesten‘ teilen des eh schon ‚unbewussten‘ volkes“7559. Ihr Zusammen­ leben sei geprägt von gegenseitigem Verrat.7560 Schon für „ein paar pack [sic] tabak ist der immer noch größte teil […] der knastler für jede schwei­

7550 7551 7552 7553 7554 7555 7556 7557 7558 7559 7560

Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 772. Vgl. ebd., S. 771. Vgl. ebd., S. 771-772. Ebd., S. 772. Vgl. ebd.

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nerei bereit.“7561 Daher habe die RAF eine Position eingenommen, welche im Kern eine gemeinsame Unterbringung der der Justiz kompromisslos entgegenstehenden „Genossen“ vorsah. Alternative Vorstellungen, wie sie Kröcher vertreten hatte, galten Jansen vor diesem Hintergrund als oppor­ tunistisch.7562 Ähnlich sah es Ronald Augustin. Augustins Verständnis zufolge war der Begriff des „sozialen Gefangenen“ eine Fiktion. Die mit ihm suggerierte Einheitlichkeit unpolitischer Insassen entspreche nicht der Realität.7563 Unter den „sozialen“ Häftlingen – den „typen [sic] die nur ihren schwanz, geld und die bundesliga im kopf haben […], knackis, un­ terschiedliche[n] ausländer-gruppen, junkies, zuhälter[n]“7564 und anderen – würden sich nur wenige finden, „bei denen es überhaupt eine spur von widerstand gibt“7565. Oftmals kennzeichneten Rivalitäten, Prahlerei, ein Konkurrieren um Statussymbole und heuchlerisches Verhalten ihre Beziehungen.7566 Unmut werde grundsätzlich nur durch „stumpfsinniges geschrei und runtertreten von schwächeren“7567 geäußert. Der nicht-politi­ sche Kriminelle sei ein „äußerst […] entfremdetes wesen“7568, das zulasten anderer auftrete. Er avanciere zu einem „politischen Gefangenen“ und damit zu einem revolutionären Subjekt, wenn er „wirkliche orientierung findet […] in denen [sic] die für befreiung […] kämpfen.“7569 Kröchers Auffassung nach spiegelten die Stellungnahmen zu seinem Traktat den Schwachpunkt der von der RAF favorisierten Strategie wi­ der. In der 309. Ausgabe des „Informations-Diensts zur Verbreitung unter­ bliebener Nachrichten“ äußerte er, das Revolutionsmodell der „Roten Ar­ mee Fraktion“ fuße nicht auf den tatsächlichen Ansprüchen „widerständi­ ger“ Teile der Bevölkerung, sondern ausschließlich auf Abstraktion.7570 Ihm liege ein „in seiner Konsequenz faschistische[s] Menschenbild“7571 zugrunde. Wie die lateinamerikanische „Stadtguerilla“ habe sich die RAF selbst zerstört. Es sei an der Zeit, solche Einsichten in der Öffentlichkeit zur Diskussion zu stellen und als Fundament für Verbesserungen zu ak­

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Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 773. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 775a. Ebd., S. 775a.

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zeptieren. Gestaltet werden müssten die Debatten zwischen den Lagern der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ entlang der zunehmend gerin­ geren Schnittmengen.7572 Dies schließe indes „diesen und jenen freund­ schaftlichen Tritt ans Schienenbein [sic] keineswegs aus“7573. Dass die hier von Kröcher geforderte „[k]ritische Solidarität“7574 nicht als Versöh­ nungsangebot, sondern als Aufforderung zum schonungslosen Benennen bestehender Defizite in den strategischen Annahmen der „Roten Armee Fraktion“ angelegt war, unterstrich das mit beißendem Spott formulierte „Märchen von der Diestel“. Neben dem avantgardistischen Selbstverständ­ nis bemängelte Kröcher darin die Idee eines militärisch anmutenden Du­ ells mit staatlichen Kräften.7575 Während die Inhaftierten ihre allgemeine Verbundenheit im Streit um die Grundpfeiler einer sozialrevolutionären Strategie innerhalb wie außerhalb der Gefängnisse vollends zerrieben, hielten sich die Überres­ te der „illegalen“ Ebene der „Bewegung 2. Juni“ zunächst an den in Bulgarien erörterten operativen Gedanken fest. Aufgrund der desolaten personellen Situation der Gruppe und eines subjektiv empfundenen Be­ deutungsverlusts der „Stadtguerilla“ erwuchs jedoch laut Viett rasch eine strategische Perspektivlosigkeit.7576 In den nunmehr einsetzenden Gesprä­ chen mit der „Roten Armee Fraktion“ prallte das Modell eines Krieges gegen imperialistische Macht auf die in den Anfängen der „Bewegung 2. Juni“ entwickelten operativen Paradigmen: „RAF heißt Offensive, heißt Angriff.“7577 Ein Dorn im Auge sei der RAF vor allem das „massenori­ entierte Konzept“7578, das Festhalten am „Mief der Massen“7579 gewesen. Obgleich sich die „Illegalen“ der B2J von dem dahinterliegenden Leitbild längst zugunsten einer antiimperialistischen Agitation distanziert hatten, sollten sie sich auf Drängen der „Roten Armee Fraktion“ nachdrücklich mit Selbstkritik von vergangenen strategischen Ansätzen lossagen. Inge Vi­ ett sei dies nicht gelungen: An der Richtigkeit der bis 1975 sichtbaren Stra­ tegie der „Bewegung 2. Juni“ habe sie keinen Zweifel gehabt.7580 Zwar ent­ schied sie sich für einen Beitritt in die RAF, eine Akzeptanz der operativen

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Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 783. Vgl. Viett 2007, S. 209-213. Rote Armee Fraktion, zit. n. Viett 2007, S. 213. Ebd., S. 214. Rote Armee Fraktion, zit. n. ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 214.

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Annahmen der „Roten Armee Fraktion“ bewirkte dies aber – angeblich – nicht.7581 In der antiimperialistischen Schlagrichtung habe sie lediglich einen „potemkinsche[n] Bewusstseinsakt“7582 erblicken können. Juliane Plambeck hingegen – einst laut Viett notorische Kritikerin der RAF – befürwortete uneingeschränkt das Revolutionsmodell der Zweiten Genera­ tion. In der wohl von ihr und Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ maßgeblich erarbeiteten Auflösungserklärung der „Bewegung 2. Juni“7583 erläuterten die „Antiimperialisten“ der bundesrepublikanischen „Stadtgue­ rilla“ letztmalig in gewohnter Schärfe, inwiefern die vom „Blues“ entwor­ fene und verteidigte „‚spontane proletarische Politik‘“7584 einen Gegensatz zu ihrer Kriegsanalogie formte. Die B2J habe den „Kampf“ aufgenommen, ohne sich zuvor ein Bild von den politischen und gesellschaftlichen Bedin­ gungen gemacht zu haben.7585 Ihr Handeln sei nicht den „Friktionen in der imperialistischen Strategie“7586 entsprungen. Vielmehr, so die Autoren des im Juni 1980 verbreiteten Auflösungspapiers, habe die Intention im Vordergrund gestanden, Teile der Bevölkerung „anzutörnen“7587 und einer „populistischen Linie“7588 Rechnung zu tragen. Die „Stadtguerilla“ dürfe nicht auf die Interessen der Gesellschaft eingehen, „um ihren Beifall zu bekommen“7589. Ihr obliege die Aufgabe, Differenzen politischer Natur durch Gewaltakte in die Eskalation zu führen und den Staat zu schwä­ chen.7590 „Was die Guerilla in der Metropole nur sein kann: der […] Sprengstoff im imperialistischen Gefüge“7591. Bevor der „Blues“ aufgrund der sich unterschiedlich entwickelnden poli­ tischen Werdegänge seiner Anhänger ebenfalls langsam an Bedeutung ver­ lor, bäumte er sich gegen das in der Auflösungserklärung ersichtliche Dik­ tat der „Roten Armee Fraktion“ auf. Der Beitrag lasse offen, für welches Ziel und mit welchen Akteuren eine „Stadtguerilla“, die sich nicht nach der Bevölkerung richtet, agieren soll. Linker Politik fehle das revolutionä­ re Moment, wenn sie auf gesellschaftlichen Zuspruch verzichte. Ohne

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Vgl. ebd., S. 218, 236-237. Ebd., S. 236. Vgl. ebd., S. 210, 219. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 809. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.

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Sympathien im „Volk“ mangele es außerdem an einer Basis, die der „Stadt­ guerilla“ zu einem räumlichen Ausdehnen, zu Bewegungsfreiheit, logisti­ schen Strukturen und Aktionen verhelfe.7592 Die „Rote Armee Fraktion“ erhebe „den bewaffneten Kampf zum Fetisch“7593 und wende sich damit gegen die Vordenker des Guerillakrieges, unter ihnen Mao Tse-Tung, Er­ nesto Guevara und der nordvietnamesische General Võ Nguyên Giáp.7594 Künftig müsse sich der westdeutsche Linksterrorismus stärker „mit dem Kampf der Linken und […] dem alltäglichen Widerstand des Volkes“7595 identifizieren. Als Vorbild benannte der „Blues“ die „Revolutionären Zel­ len“.7596 Essentiell seien nachvollziehbare exemplarische Taten, welche die Erforderlichkeit des gewaltsamen „Widerstands“ vermitteln. Abschließend listete er einzelne Aktionsformen auf, die in ihrem Zuschnitt stark an die Taktik der RZ erinnerten: das Zerstören von Hochspannungsmasten und Baukränen als Ausdruck des Protests gegen das Nutzen der Atomkraft, das Beschädigen des Besitzes von Immobilienkäufern, Knieschussaktionen ge­ gen leitende Figuren des Justizvollzugs.7597 9.3.7 Neubestimmungen Mit seinem Kommentar zum Auflösungspapier der „Bewegung 2. Juni“ nahm der „Blues“ anerkennend Bezug auf die „Anknüpfungsstrategie“ der „Revolutionären Zellen“, welche von 1977 an durch Sachbeschädigun­ gen, wie zum Beispiel den Anschlag auf einen Wetterturm bei Ahaus, die Anti‑Atomkraft‑Bewegung für den sozialrevolutionären „Kampf“ zu mobilisieren versuchten. Als einen weiteren entscheidenden Adressaten verstanden die „Zellen“ Ende der 1970er Jahre die Betroffenen kommuna­ ler Städteplanung und ökonomischer Interessen lokaler Wohnungsbauun­ ternehmen. Ihre Aufmerksamkeit lenkten sie insbesondere auf Initiativen zur Besetzung von Wohnraum.7598 Anders als die B2J und die RAF sah das Netzwerk überdies Kampagnen zur Stärkung der Frauenrechte als bedeu­

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Vgl. ebd., S. 811-812. Ebd., S. 812. Vgl. ebd. Ebd., S. 813a. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 813b. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 312-315; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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tendes Rekrutierungsfeld.7599 Nach Auflösung der RAF Ende der 1990er Jahre beklagte Stefan Wisniewski die „fehlende Auseinandersetzung [der Zweiten Generation] mit der Frauenbewegung“7600, welche die RZ – allen voran die zu ihnen gehörende „Rote Zora“ – ebenfalls ab 1977 verstärkt in den eigenen Botschaften aufgegriffen hatten. Mit Blick auf die genannten gesellschaftlichen Spannungsfelder gaben die „Revolutionären Zellen“ zu Beginn des Jahres 1978 die von Anfang an geltenden Losungen aus. Wich­ tig sei, „Aktionen primär unter dem Gesichtspunkt der Vermassung durchzu­ führen, d.h. sie dort anzusetzen und mit den Mitteln durchzuführen, die sie für die Leute nachmachbar machen bzw. mit denen sie sich identifizieren können.“7601 Geschaffen werden müsse „ein immer dichteres Netz von großen und kleinen Aktionen“7602, das den Krisenzustand des Kapitals und seiner staat­ lichen Kontrolle zuspitze. Die in diesen Zeilen offenkundige Distanz zu den operativen Prämissen der „Roten Armee Fraktion“ unterstrichen die RZ im November 1978, als sie in einem Papier zum Austritt Hans-Joachim Kleins dem Gedanken eines Krieges zwischen der „Stadtguerilla“ und den bewaffneten Kräften der Bundesrepublik expressis verbis eine Absage er­ teilten. „[D]er Vernichtungswille des Staates wird uns nicht zum militäri­ schen Schlagabtausch provozieren.“7603 Keinesfalls werde das technische Duell mit der Bundesregierung den Linksterrorismus aus seiner isolierten Position führen.7604 Gelingen könne dies ausschließlich mithilfe eines stra­ tegischen Programms, das infolge seiner Akzeptanz in der Bevölkerung eine „politische Weiterentwicklung der Vielen, […] die Entstehung vieler selbstständiger politisch‑militärischer Kerne kurz: […] eine revolutionäre – und das heißt auch militante – Bewegung des Volkes“7605 lostrete. Deren Gewalt sei Grundlage eines langfristigen Prozesses, der Auflösungen „auf

7599 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 170. 7600 Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 26. 7601 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247. Vgl. auch Schroeder/Deutz‑Schroeder 2015, S. 428. 7602 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 246. 7603 Ebd., S. 205. 7604 Ebd. 7605 Ebd.

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allen Ebenen“7606 befördere und die „Massen“ zu einem Gegengewicht aufbaue. Hierbei legten die RZ dar, welches Motiv die protestierende Bevölke­ rung in die erhoffte Gewaltbereitschaft zu manövrieren vermochte. Offen­ bar erblickten sie in Massenbewegungen eine „immanente Dynamik“7607: Unvermeidlich gerate jede Bewegung im Laufe ihres Bestehens an einen Scheidepunkt, welcher lediglich die Wahl lasse zwischen einer resignati­ ven, aufgebenden Haltung und einem gewaltsamen Fortsetzen des „Kamp­ fes“.7608 In der Darstellung dieses Determinismus bauten die „Revolutionä­ ren Zellen“ ein Argumentationsmuster aus, dem sie sich Ende 1977 in der Erklärung zum Anschlag auf eine Zulieferfirma atomarer Energieanlagen bedient hatten.7609 Seinerzeit war von den „Zellen“ Folgendes beobach­ tet worden: Die Anti-Atomkraft-Bewegung „ist an dem Punkt angelangt, wo Massendemonstrationen mit Explosivgranaten beschossen werden.“7610 Dementsprechend könne sie „in die Gefahr steriler Ohnmacht geraten, wenn ihr keine neuen Ideen einfallen“7611. Die übrigen Inhalte des Beitrags vom November 1978 entsprachen bis­ herigen Schilderungen der „Zellen“. Sie verknüpften das Vorhaben, „an die Grenzen der Repression gestoßene […] Bewegung[en] in der vielfäl­ tigen Subversion“7612 fortzuführen, mit einem Bekämpfen – angeblich – imperialistischer Machenschaften und der Solidarität gegenüber den „politischen Gefangenen“.7613 Neben Bekanntem war dem Text punktuell Überraschendes zu entnehmen. Frappierend war eine Passage, in der die RZ beiläufig in Abweichung von ihren 1975 erhobenen Ansprüchen7614 verkündeten, nicht auf das Erringen politischer Macht zu zielen.7615 Statt den Austausch staatlicher Verwaltung sollten ihre Angriffe „die Zerstö­ rung von politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Strukturen“7616 bewirken. Damit legte das Netzwerk erstmals öffentlich ein entscheiden­ 7606 Ebd. 7607 Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 173. 7608 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 205. 7609 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 175. 7610 Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. 7611 Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd., S. 175-176. 7612 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 206. 7613 Vgl. ebd., S. 207-209. 7614 Vgl. ebd., S. 109. 7615 Vgl. ebd., S. 205. 7616 Ebd.

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des Merkmal seines inzwischen partiell redefinierten Revolutionsmodells frei, das in der weiteren Agitation der „Zellen“ kaum Erwähnung finden sollte: Erst vor dem Hintergrund ihrer Rückblicke Anfang der 1990er Jahre betonten die „Revolutionären Zellen“ erneut den Verzicht auf Machtstel­ lungen, der sich lückenlos in das mehr anarchistisch als kommunistisch ge­ prägte Selbstverständnis einfügte.7617 Was ob seiner geringen propagandis­ tischen Relevanz als Nebensache erscheinen mochte, konstituierte einen weiteren fundamentalen Unterschied zwischen den Strategien der „Roten Armee Fraktion“ und der RZ. Inwiefern sie am Endpunkt eines politischen Umbruchs Machtpositio­ nen für die siegreichen Revolutionäre vorsah, beantwortete zwar auch die RAF selten explizit.7618 Diesbezüglich getroffene Aussagen sind aber dennoch entlarvend. So hatten die leitenden Köpfe der Ersten Generation im Jahre 1975 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ bekundet, eine Zäsur in Westdeutschland sei nur vermittels einer Avantgarde zu erreichen, welche den legalistischen linken Bewegungen „erst […] Ziel geben kann zu dem, worum es in der Entwicklung der […] Krise des imperialistischen Systems gehen wird: der Eroberung der politischen Macht.“7619 Die spätere Propaganda der „Roten Armee Frakti­ on“ untermauerte ihre Absicht, in Deutschland die Machtfrage stellen zu wollen.7620 Nach seiner Verhaftung gab Christian Klar zu verstehen, die „Rote Armee Fraktion“ habe „das Verhältnis Guerilla‑Staat auf den Punkt geführt, der in allen Kämpfen der Kern ist: dass es um die Machtfrage geht, wir oder sie“7621. Sollte im operativen Konzept der RZ eine „Bewe­ gung des Volkes“ staatliche Macht schlechthin durch „Verbreitung sozialer Selbstbestimmung“7622 zersetzen, hielt das Revolutionsmodell der RAF grundsätzlich an der Idee politischer Machtausübung fest. Dieser im tra­ dierten Spannungsverhältnis zwischen Anarchisten und Kommunisten7623 liegende strategische Gegensatz blieb indes in der gegenseitigen Wahrneh­ mung beider linksterroristischer Akteure ohne Resonanz und wirkte sich daher nicht negativ auf ihre Beziehung aus.

7617 7618 7619 7620

Vgl. ebd., Band 2, S. 661. Vgl. Demes 1994, S. 17. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 55. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 304, 320. Vgl. auch Folkerts/Mayer/Dellwo u.a. 1998, S. 208. 7621 Christian Klar, zit. n. Der Spiegel 1984a, S. 73. Vgl. auch Rollnik/Dellwo/ Mayer u.a. 1998, S. 34. 7622 Wörle 2008b, S. 268. 7623 Vgl. Oberländer 1972a, S. 12-13, 28-29; Mannewitz/Thieme 2020, S. 33.

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Gleichermaßen bemerkenswert war die aus der propagandistischen Ar­ beit des Jahres 1978 ablesbare Anstrengung der „Revolutionären Zellen“, gewaltbereite Teile sozialer Bewegungen entlang des eigenen Aktionismus nicht sogleich zu einem „revolutionären Guerillakrieg“7624 zu drängen.7625 Das 1975 in der ersten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ ostentativ als maßgeblich beworbene Konstrukt der „Guerilla […] als Massenperspekti­ ve“7626 geriet in den Hintergrund. Nunmehr sollte der „Widerstand“ der politisierten Bevölkerung zunächst auf eine qualitativ niedrigere Stufe ge­ hoben werden, welche die RZ unter dem Begriff des „klandestinen Kamp­ fes“ beschrieben: „Wenn von Praxis und Techniken des verdeckten, klandestinen Kamp­ fes die Rede ist, dann ist damit noch nicht Guerillakampf gemeint, sondern eine Methode, die viele Abstufungen kennt und daher mas­ senhaft möglich ist. Es ist eine Ebene des Kampfes, auf der die notwen­ digen politischen und praktischen Erfahrungen gemacht werden kön­ nen, auf der man sich selber kennenlernen kann, von wo man wieder zurück kann oder aber aufgrund dieses Lernprozesses den Entschluss fassen kann, den Widerstand mit Waffen zu führen.“7627 Die geminderten Ansprüche an die initialen sozialrevolutionären Aktivi­ täten mobilisierter „Massen“ resultierten laut Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig insbesondere aus dem ausbleibenden Zuspruch der Arbeiterklasse, auf die sich die „Revolutionären Zellen“ 1975 berufen hatten. Nicht zu übersehen war außerdem das gedankliche Auseinandersetzen mit der 1973 publizierten Studie Hans‑Joachim MüllerBorcherts zur „Guerilla im Industriestaat“:7628 Den obigen Aussagen zum „klandestinen Kampf“ fügten die RZ eine Schlussfolgerung Müller‑Bor­ cherts zur Aussichtslosigkeit eines Guerillakriegs in einer industrialisierten Gesellschaft bei.7629 Wie zuvor die „Rote Armee Fraktion“ leiteten die „Re­ volutionären Zellen“ aus dem Enttäuschen ursprünglicher Visionen und der Reflexion politischer Gegebenheiten in Westdeutschland strategische Implikationen ab. Die RAF hatte dies von der Legitimität einer Aktions7624 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 86. 7625 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 32. 7626 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 87-88. 7627 Ebd., S. 245-246. 7628 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 171-172. 7629 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247.

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Repressions-Spirale überzeugt, wie sie in Müller-Borcherts Analyse als ein­ zig denkbarer Ausweg der „Stadtguerilla“ geschildert worden war.7630 Das Netzwerk dagegen behielt seine anfänglichen strategischen Vorstellungen bei. Lediglich der taktische Schwerpunkt verlagerte sich. Ganz im Sinne der Ankündigungen des Jahres 1978 bauten die RZ eine stärker an den Erfahrungen der Adressaten orientierte Kommunikation mit dem Umfeld aus,7631 die sie als Ausgangspunkt einer „Gegenpropagan­ da“7632 bestehend unter anderem aus „Zeitungen und Schwarzsendern“7633 verstanden wissen wollten. Entgegen der vor allem Anfang der 1970er Jahre innerhalb der westdeutschen „Stadtguerilla“ landläufigen Position, allein das erfolgreiche Durchführen einer beispielhaften Aktion könne die Bevölkerung zum Nachahmen derselben verleiten, forcierte das Netzwerk die bereits 1976 ausgelobte allgemeine Verfügbarkeit technischen Wissens zum „Bau von Brand- und Sprengsätzen, Fälschen, […] zum Senderbau usw.“7634 Dabei verkündeten die RZ, sie würden weder ein Patent zu ihrer Selbstbezeichnung noch zum „bewaffneten Kampf“ aufweisen. Letzten hätten sie eingeleitet, fortgesetzt würde er von allen.7635 Weitaus stärker als die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“ waren die „Revolutionären Zellen“ somit bestrebt, jeden möglicherweise interessier­ ten Dritten durch einen Zugriff auf die angesammelten Fachkenntnisse linksterroristischer Akteure tatsächlich handlungsfähig werden zu lassen. Dies äußerte sich zum einen in Texten der RZ anlässlich von Unfällen mit selbst hergestellten Explosivmaterialien. Mit ihnen warnten sie vor dem Einsatz von Sprengsätzen, die Kraftstoffe enthielten. Ferner riefen sie Linksextremisten dazu auf, erprobte Techniken bekannt zu machen und zum Reduzieren von Fehlern beizutragen.7636 Zum anderen zeigte die Herausgabe einer im Wesentlichen auf Carlos Marighellas „Minihand­ buch des Stadtguerillero“ fußenden „Praxissondernummer“ des „Revolu­ tionären Zorns“ im April 1978,7637 wie das Netzwerk seine Kommunika­

7630 Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 117, 120. 7631 Vgl. Unsichtbare 2022, S. 28. 7632 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247. 7633 Ebd. 7634 Ebd. 7635 Vgl. ebd., Band 2, S. 639. 7636 Vgl. ebd., S. 646-647. 7637 Vgl. ebd., S. 642-643; Marighella 2002a, S. 35-36.

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tion dem Mantra „Schafft viele Revolutionäre Zellen“7638 unterordnete. Einleitend entkräftete das Blatt einzelne taktische Grundsätze der RAF. Wer einen „revolutionären Kleinkrieg in den Metropolen“7639 initiieren wolle, benötige nicht zwangsläufig einen Untergrund „mit 3 klandestinen Wohnungen […], 5 Ausweichwohnungen, 5 Garagen“7640. Ähnlich „idio­ tisch“7641 sei die Annahme, „der erste Schritt wäre die Illegalität“7642. Eine legale Existenz solle aufgegeben werden, wenn andere Auswege nicht zur Verfügung stünden. Denn Westdeutschland biete nicht die Voraussetzun­ gen, um langfristig illegal politisch aktiv zu sein.7643 Weiterführend präsentierten die Verfasser der „Praxissondernummer“ Fallstricke im konspirativen Alltag sowie Möglichkeiten, diese zu umge­ hen. Die Hinweise berührten stellenweise allgemeine Prinzipien, wie beispielsweise den Zuschnitt und die nachträgliche Legitimation von An­ schlägen: Diese müssten sich stets selbst erklären.7644 Bekennerschreiben sollten das Ziel und die Dimension einer Tat verdeutlichen, nicht „nach­ träglich aufmöbeln.“7645 Andere Ratschläge waren kleinteiliger. So enthielt die Passage zur Herstellung von Sprengstoff detaillierte, teilweise banale Empfehlungen zum Arbeitsplatz. An diesem müsse zunächst Ordnung hergestellt werden. Oberflächen seien mit Zeitungspapier zu bedecken, Baumaterialien aus der eigenen Wohnung nicht zu verwenden. Ohne Aus­ nahme sollten in Sprengsätze Sicherheitsmechanismen – darunter Kon­ trollleuchten und Schalter – integriert werden.7646 Derartige Anleitungen vertieften die „Revolutionären Zellen“ Ende 1981 in der Broschüre „Feuer und Flamme für diesen Staat“.7647 Dass die RZ das 1980 vom „Blues“ final bestimmte „populistische“ Erbe der aufgelösten „Bewegung 2. Juni“ annahmen und insofern dem traditio­ nalistischen Teil dieser Gruppe Tribut zollten, demonstrierten sie in der sechsten Ausgabe des „Revolutionären Zorns“. Diese kombinierte die zen­ tralen Punkte aus der Propaganda des Jahres 1978. Neuen Auftrieb gab

7638 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 247. 7639 Ebd., Band 2, S. 638. 7640 Ebd. 7641 Ebd. 7642 Ebd. 7643 Vgl. ebd. 7644 Vgl. ebd., S. 642. 7645 Ebd., S. 641. 7646 Vgl. ebd. 7647 Vgl. ebd., S. 644-645.

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sie damit der basisbezogenen Schule der westdeutschen „Stadtguerilla“, die vor allem außerhalb der Gefängnisse den ab Anfang der 1970er Jahre mit der antiimperialistischen Strömung geführten Wettkampf um die wirk­ samste Strategie aufgrund des Beitritts der „Bewegung 2. Juni“ zur „Roten Armee Fraktion“ zu verlieren schien. Unter Verweis auf die B2J begründe­ ten die „Revolutionären Zellen“ ihre Praxis, ausgehend vom politischen Diskurs in sozialen Konflikten Aktionen zu konzipieren, welche den Pro­ test der Bevölkerung voranbringen.7648 Selbstredend greife das Netzwerk überdies zu Mitteln, „die primär aus […] [den] eigenen Zusammenhängen bestimmt sind, z.B. Geldbeschaffung oder […] die Bestrafung von beson­ ders schweinischen Richtern und Zwangsverteidigern, um Gefangene zu schützen.“7649 Wie auch in der „Anknüpfungsstrategie“ vermieden werde hierbei ein Anspruch, den Staat in einem unmittelbaren „Kampf“ zu be­ zwingen. Weder stellten die RZ die Machtfrage noch führten sie einen Krieg.7650 Sie würden nicht „in irgendeiner militärischen Etappe“7651 ver­ weilen und dort auf einen „militärischen Sieg“7652 hoffen. Vergleichbar ge­ rierte sich die „Rote Zora“ im „Revolutionären Zorn“. Zu kurz greife nach Auffassung ihrer Mitglieder eine Argumentation, derzufolge die Frauenbe­ wegung bereits durch Aktionen gegen imperialistische Militärstrukturen eine sozialrevolutionäre Ausrichtung erlange.7653 Vernachlässigt würden so „die alltäglichen Gewaltverhältnisse, in denen Zerstörung, Unterdrückung und Ausbeutung erfahrbar sind“7654. Befreiung beginne schon dort, wo „einem schweinischen Hausbesitzer […], der Atommafia usw. ein bisschen Feuer unterm Arsch [ge]mach[t]“7655 wurde. Laut der sechsten Ausgabe ihres Sprachrohrs verfolgten die „Revolu­ tionären Zellen“ eine „Defensivstrategie“7656, die „am Anfang eines lang­ wierigen, mühseligen Kampfes […] die Köpfe der Menschen“7657 einneh­ men wolle. Gelenkt werden müssten die „Massen“ zu Formen der politi­ schen Auseinandersetzung, die den Regierenden Schaden zufügen und

7648 7649 7650 7651 7652 7653 7654 7655 7656 7657

Vgl. ebd., Band 1, S. 259. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 285. Ebd. Ebd. Ebd., S. 259. Ebd.

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deren Strukturen paralysieren.7658 An dieser Stelle unterschieden die RZ zwischen alltäglichen Mitteln des „Widerstands“ und solchen, die sie spe­ zifisch auf soziale Bewegungen zuschnitten. Neben „Klauen, Plündern, Schwarzfahren, Häuserbesetzen, Volksstrom benutzen, Krankfeiern“7659 sei der „verdeckte Kampf“7660 in den Massenbewegungen zu forcieren. Dieser als Vorstufe der „Stadtguerilla“ angelegte „Kampf“ biete jedem zu­ nächst die Möglichkeit, Wissen und Erfahrungen zu gewinnen und das eigene Verhalten im klandestinen „Widerstand“ wahrzunehmen.7661 Von dem Verbreiten alltäglicher Formen politischer Unbotmäßigkeit und einer wachsenden Militanz in gesellschaftlichen Protestfeldern versprachen sich die „Revolutionären Zellen“ in erster Linie nicht unmittelbare persönliche Nachteile für die „Herrschenden“. Vielmehr sollten beide Prozesse die „Ohnmacht […] der Menschen“7662 auflösen und demnach das „Herz des Staates“7663 treffen. Auch hierin spiegelte sich die neue operative Schwerpunktsetzung der „Revolutionären Zellen“ wider. Hatten sie 1975 öffentlich das Augenmerk auf das in lateinamerikanischer Guerillatheorie postulierte Zersplittern und Einschüchtern staatlicher Kräfte gelegt, stand inzwischen vor allem eine zentrale Herausforderung im Mittelpunkt, die vor Beginn einer Revolution zu lösen war: das Überwinden der – angebli­ chen – Trägheit der „Massen“. Den Wechsel von einer „Stadtguerilla als Massenperspektive“7664 zu einem niedrigschwelligeren und somit – vermeintlich – besser vermittelba­ ren „klandestinen Kampf“ machten die RZ in den weiteren Abschnitten des „Revolutionären Zorns“ transparent. Die Überzeugung, Taktiken des Guerillakrieges könnten sich rasch innerhalb der Bevölkerung verbreiten, habe sich als naiv erwiesen. Denn Massenbewegungen würde die Fähigkeit fehlen, selbst zu einem kontinuierlichen Handeln zu gelangen. Anders als von Iring Fetscher, Herfried Münkler und Hannelore Ludwig vermutet, abstrahierten die RZ diese Einsichten nicht aus der geringen Resonanz unter der bundesrepublikanischen Arbeiterschaft. Das Netzwerk gewann sie aus einem Beleuchten der 1975 zum revolutionären Subjekt aufgelade­ nen Jugendbewegung. Die Bildungs- und Sicherheitspolitik der Bundesre­ gierung habe diese mehr und mehr zu pragmatischem Handeln getrieben. 7658 7659 7660 7661 7662 7663 7664

Vgl. ebd., S. 260. Ebd. Ebd., S. 259. Vgl. ebd., S. 261. Ebd., S. 283. Ebd. Ebd., S. 115.

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9.3 Revolutionsmodell

Fortan, so die „Revolutionären Zellen“, konzentrierte sie sich auf ein Wir­ ken in eng umgrenzten gesellschaftlichen Bereichen, wie zum Beispiel Fa­ briken, Gewerkschaften, Schulen, Jugendwohnheimen oder Treffpunkten von Wohnungslosen. In Vergessenheit geraten sei daher die Perspektive einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung.7665 Kritisch reflektierten die „Revolutionären Zellen“ darüber hinaus die vergangenen Bemühungen der westdeutschen „Stadtguerilla“ zum Freilas­ sen inhaftierter Mitstreiter. Wohl auf das Agieren der „Roten Armee Frak­ tion“ und der internationalistischen Strömung der RZ blickend, verurteil­ ten die Verfasser des sechsten „Revolutionären Zorns“ im Allgemeinen eine „Politik […], die den Kampf gegen die Knäste und dessen spezifi­ sche Form, die Befreiung, als höchstes Ziel verabsolutiert“7666. Nicht dem Vorwurf der „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“ setzten die „Revolutionären Zellen“ die „Bewegung 2. Juni“ aus, im Gegenteil: In der Entführung Peter Lorenz‘ erblickten die RZ eine gelungene Kombination taktischer Elemente, welche gleichermaßen in ihrer Strategie zentrale Bausteine bil­ deten. Einerseits habe die Aktion das „Problem der Gefangenen“7667 in Teilen gelöst. Andererseits schuf sie „neue Energien, Hoffnungen und Orientierungen“7668 – so die RZ. Wie sich die „Revolutionären Zellen“ zu den strategischen Aspekten des „Kampfes“ in den bundesrepublikanischen Haftanstalten verhielten, ließ der sechste „Revolutionäre Zorn“ unbeant­ wortet. Ersichtlich wurde die Position des Netzwerks zu dem maßgeblich von Häftlingen der RAF gestalteten „Widerstand“ in den Gefängnissen aus der Reaktion zum Hungerstreik der „politischen Gefangenen“ im Frühjahr 1981. Eingeleitet hatte ihn eine Erklärung der „Roten Armee Fraktion“, die ein Zusammenlegen arretierter Linksterroristen in ihrer – vermeintli­ chen – Funktion als „Kriegsgefangene mit Geiselstatus“7669 zur Bedingung für einen Abbruch des Streiks machte.7670 Zwar trugen die „Revolutionä­ ren Zellen“ das Mittel der Nahrungsverweigerung grundsätzlich mit. Ihre „Basissolidarität“ endete aber an den Forderungen, welche die Inhaftierten der „Roten Armee Fraktion“ vertraten. Öffentlich wies das Netzwerk die RAF in die Schranken, da diese sich abermals auf die Genfer Konventio­ nen berufen hatte.7671 Die „Revolutionären Zellen“ wiederholten, was der 7665 7666 7667 7668 7669 7670 7671

Vgl. ebd., S. 276-277. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd., S. 282. ID-Verlag 1997, S. 286. Vgl. ebd.. Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 123; Horchem 1988, S. 92.

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„Roten Armee Fraktion“ 1976 im offenen Brief hinsichtlich des „Kampfs“ im Justizvollzug zur Last gelegt worden war. Der Ablehnung der RZ stand die Reaktanz der RAF gegenüber: Aus Sicht der „Roten Armee Fraktion“ war die Strategie des Netzwerks wei­ terhin inakzeptabel. Keine Rolle spielte in der Bewertung der Zweiten Generation die ab 1978 beobachtbare Abkehr der „Revolutionären Zellen“ von einem Konzept des Guerillakriegs, das sich an lateinamerikanischen Vorbildern orientierte. Das negative Echo der RAF fußte allein auf einer – von der Gründung der RZ an – bestehenden grundlegenden Differenz, welche sich ebenfalls im Verhältnis zu den „Populisten“ der B2J als un­ überwindbar erwiesen hatte. Wie schon die Erste Generation erachteten die Angehörigen der 1977 um Brigitte Mohnhaupt aufgebauten Gruppe die strategischen Überlegungen der „Revolutionären Zellen“ als problem­ behaftet, weil das Netzwerk „den Begriff des internationalen Klassenkriegs [nicht] in den Mund […] nehmen“7672 wolle. Immer noch unausweichlich erschien der RAF ein militärisch anmutendes Niederringen des global agierenden Imperialismus amerikanischer Provenienz – das Vorhaben, „die Knotenpunkte der Herrschenden zu treffen“7673. Nach dem Scheitern der „Befreit-die-Guerilla-Guerilla“ im „Deutschen Herbst“ ging die „Ro­ te Armee Fraktion“ langsam dazu über, diesem jahrelang in der eigenen Taktik vernachlässigten Gedanken Relevanz beizumessen.7674 Spätestens mit dem Anschlag auf den US-amerikanischen General Alexander Haig Mitte 1979 glich sich die Praxis der auf ein „Primat des Militärischen“7675 konzentrierten Theorie an. Wie sich aus den Erklärungen der Zweiten Generation und den Aussa­ gen ihrer Angehörigen vor Gericht ablesen ließ, sah die „Rote Armee Fraktion“ Ende der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der Rüstungsde­ batte im Nordatlantikpakt eine wachsende Aggression des – angeblich – weltweit agierenden Imperialismus unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika.7676 In ihrem Prozess gaben Gert Schneider und Christof Wackernagel am 12. Juni 1980 zu verstehen, „das us-kapital bereitet den krieg vor und ist […] bereit […], ihn zu führen.“7677 Ähnlich äußerte sich die RAF nach dem Angriff auf den US‑amerikanischen Stützpunkt 7672 7673 7674 7675 7676 7677

Christian Klar, zit. n. Der Spiegel 1984a, S. 74. Rollnik/Dellwo/Mayer u.a. 1998, S. 36. Vgl. Wunschik 1997, S. 186-189; Viett 2007, S. 246. Taufer 2018, S. 99. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 94; ID-Verlag 1997, S. 282. Gerd Schneider und Christof Wackernagel, zit. n. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 94.

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9.3 Revolutionsmodell

bei Ramstein im August 1981. Die USA zielten auf kriegerische Auseinan­ dersetzungen „an allen Fronten in Europa und in der Dritten Welt“7678. Angesichts der destruktiven Gefahren imperialistischer Machinationen ver­ langte die Zweite Generation in ihrer Propaganda, „[a]lle Kämpfe für Le­ bensbedingungen in allen Bereichen als antiimperialistischen Kampf [zu] führen“7679. Aus der Perspektive der RAF stand dieser „antiimperialistische Kampf“ jenseits der „resignativen Fluchtphantasien vom atomaren Inferno und de[r] komplementären hilflosen pazifistischen Wünsche“7680, womit sie die legalistischen Protestformen der in Westdeutschland heranwachsen­ den Friedensbewegung bewusst aus ihrem Revolutionsmodell ausschloss. Ausschließlich sollte der „Kampf“ eine Gestalt annehmen, welche die „Il­ legalen“ der „Roten Armee Fraktion“ im September 1981 als „Angriff gegen den konterrevolutionären Angriff“7681 verbrämten, die Inhaftierten der RAF in den 1990er Jahren als „Strategie gegen ihre Strategie“7682 hin­ terfragten: Um die militärische Gewalt der Imperialisten verhindern zu können, müssten vorzugsweise deren bewaffnete Organe zerstört werden. Dementsprechend war die Kriegsanalogie der „Roten Armee Fraktion“ ab Ende der 1970er Jahre wörtlich zu verstehen: Der Begriff des Krieges umschrieb in der Agitation der Gruppe nicht mehr eine Aktions-Repres­ sions-Spirale und die ihr zugrunde liegende Annahme, die Bevölkerung durch sicherheitsbehördliche Überreaktion auf terroristisches Handeln von einem Systemwandel überzeugen zu können. Tatsächlich implizierte „Krieg“ in der Terminologie der RAF nach 1977 eine Strategie, die ein organisiertes Duell auf militärischer Ebene zwischen antiimperialistischen und staatlichen Kräften, einen „exklusiven Zweikampf zwischen einem kleinen Kern willensstarker RevolutionärInnen und dem Staat“7683 mit dem Ziel der nachhaltigen Schwächung des Gegners forderte. Das Revolu­ tionsmodell der Zweiten Generation verschob das Augenmerk von einer psychologischen, genuin terroristischen Wirkung zu einem technischen Schlagabtausch. Statt der Resonanz der „Massen“ erklärte es die Aktionsfä­ higkeit imperialistischer Strukturen zum Gradmesser für einen sozialrevo­ lutionären Fortschritt. Wer Irmgard Möller folgt, sieht diese operativen

7678 7679 7680 7681 7682 7683

ID-Verlag 1997, S. 288. Ebd., S. 290. Ebd., S. 289. Ebd., S. 290. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 310. Danyluk 2019, S. 338.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

Verschiebungen als Ausdruck der Intention, das in den 1970er Jahren von der RAF aufgebaute Modell einer „Guerilla“ zu vertiefen.7684 Was die „Rote Armee Fraktion“ zwischen 1979 und 1981 lediglich in Ansätzen dem Umfeld präsentierte, goss sie 1982 mit Zustimmung der Inhaftierten unter dem Titel „Guerilla, Widerstand und antiimperialisti­ sche Front“ in ein Grundsatzpapier. Einleitend konstatierten die Autoren des Textes, der im vergangenen Jahrzehnt erfolgte „Kampf“ zwischen der „Stadtguerilla“ und der westdeutschen Regierung habe das repressive We­ sen der Bundesrepublik freigelegt. Sie sei „zum reinen starken Staat“7685 avanciert, der sich „als unentrinnbarer Apparat der Gesellschaft bis in die feinsten Verästelungen gegenüberzustellen“7686 und „jede auch nur kritische Geste niederzuwalzen“7687 vermochte. Weiterführend gab die RAF zu, sich isoliert zu haben: „[D]er Gedanke an Befreiung [konnte] kaum mehr durch die meterdicken Schichten von Korrumpierung, Ent­ fremdung, Deformierung die Herzen und Hirne erreichen.“7688 Beide Ent­ wicklungen stilisierte die „Rote Armee Fraktion“ zu Grundlagen eines „neuen Abschnitt[s] in der revolutionären Strategie im imperialistischen Zentrum“7689. Indirekt räumte sie damit das Scheitern des Konzepts ein, das Ulrike Meinhof im September 1974 der Öffentlichkeit vorgestellt hatte: Zwar hatte sich der westdeutsche Staat aus der Sicht der Zweiten Generation ob der Herausforderungen durch politisch motivierte Gewalt als unterdrückerisches Instrument entlarvt, dies war aber nicht Auftakt für einen Schulterschluss zwischen den „Massen“ und der RAF. Unter dem „neuen Abschnitt“ linksterroristischer Agitation verstand der Beitrag „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ einen globalen „revolutionären Krieg“7690, welcher aufgrund einer historisch ein­ maligen „Instabilität des imperialistischen Systems“7691 das Potential eines politischen Einschnitts biete. „[A]n jedem Punkt des Weltsystems“7692 kön­ ne der – vermeintliche – US‑Imperialismus „in die endliche Krise […] kippen“7693 – dies vor allem in Westeuropa, wo der zerstörerische Cha­

7684 7685 7686 7687 7688 7689 7690 7691 7692 7693

Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 147. ID-Verlag 1997, S. 292. Ebd. Ebd. Ebd., S. 293. Ebd., S. 291. Ebd., S. 299. Ebd., S. 294. Ebd. Ebd.

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9.3 Revolutionsmodell

rakter imperialistischen Machtausübens nicht mehr nur „spontane, kurze Wut“7694, sondern Hass als Nährboden für eine „revolutionäre Front“ geschaffen habe.7695 Unterbunden werden müssten im „revolutionären Krieg“ insbesondere die gegenwärtigen imperialistischen Bemühungen, sich entlang einer „militärisch konzipierten Offensive“7696 abermals eine Weltmachtstellung zu sichern. Den Schlüssel zum Erfolg erblickte die Zweite Generation einerseits in einem Zusammenschluss des „bewaffne­ ten Kampfs aus der Illegalität und des politisch‑militanten Widerstands aus der Legalität“7697, der das offensive Vorgehen des Imperialismus auf westdeutschem Boden in seinen „konkreten Projekten angreift“7698. An­ dererseits müsste sich diese Agitation in Westdeutschland parallel zu den antiimperialistischen Kampagnen in anderen Ländern entfalten.7699 Wenngleich sozialrevolutionäre Kräfte in der Bundesrepublik unterlegen seien, könnten ihre wiederholten Angriffe der Bevölkerung aufzeigen, wie der Imperialismus in der „Metropole“ zur Bewältigung seiner existentiel­ len Krise zunehmend soziale, gesellschaftliche und militärische Kontrol­ le übernimmt7700 und folglich selbst elementare Stützen des Systems – „Demokratie, Wohlstand, innerer Friede“7701 – gefährdet. Zur Auflösung gebracht werde so der „dünne ideologische Faden“7702 zwischen dem Staat und den „Massen“. Dies wiederum unterminiere das weltweite „Restruk­ turierungsprojekt“7703 des „US‑Imperialismus“, setze es doch „imperialisti­ sche Zentren ohne ernsthafte, durchgreifende Friktion“7704 voraus. „Über den Bruch im antiimperialistischen Kampf hier kommt ihr Projekt in den internationalen Widersprüchen nicht durch“7705. Ende 1984 fasste Brigitte Mohnhaupt die Kernpunkte der 1982 gewag­ ten strategischen Neubestimmung zusammen. Deutlicher als das „Mai-Pa­ pier“ offenbarte sie das veränderte Kriegsverständnis der „Roten Armee Fraktion“. Der Imperialismus unter US-amerikanischer Führung forciere

7694 7695 7696 7697 7698 7699 7700 7701 7702 7703 7704 7705

Ebd., S. 296. Vgl. ebd. Ebd., S. 301. Ebd., S. 297. Ebd., S. 303. Vgl. ebd., S. 293, 295, 301, 303. Vgl. ebd., S. 299. Ebd. Ebd. Ebd., S. 300. Ebd. Ebd.

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weltweit das Rückerobern verlorener Macht.7706 Hierzu binde er alle westlichen Industrienationen in einen „imperialistischen block“7707 ein, der als „homogene[s] kriegskommando“7708 auftreten und – gestützt auf eine „militärstrategie“7709 – dem Ziel einer „militärische[n] offensive“7710, einer „entscheidungsschlacht“7711 verpflichtet sein solle. Mohnhaupt zufol­ ge war Krieg „überall im imperialistischen system die realität“7712, daher intensiviere die RAF „den prozess der zerrüttung, der erosion des sys­ tems“7713, welcher langfristig den Imperialismus zusammenbrechen lassen werde. Den „revolutionäre[n] krieg“7714 führe die „Rote Armee Fraktion“ gegen zwei Widersacher: einerseits gegen die „innere machtstruktur“7715 des Imperialismus, andererseits „gegen die klammer des ganzen, den usmilitärapparat.“7716 Neben einer Modifikation des Selbstverständnisses der „Roten Armee Fraktion“ barg das Papier „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ ein verändertes Verhältnis zu dem Prinzip, lediglich aus dem Un­ tergrund heraus sozialrevolutionäre Strategie zu verwirklichen. Während die Erste Generation stets an dem Dogma festgehalten hatte, terroristische Aktivitäten könnten sich in der Legalität nicht angemessen entfalten, si­ gnalisierte die Zweite Generation Kompromissbereitschaft: Für sich nahm sie weiterhin in Anspruch, nur in der Illegalität zu agieren. Indes war sie bereit, antiimperialistische Gruppen als Kooperationspartner zu akzeptie­ ren, deren Angehörige eine legale Existenz aufrechterhielten. Entgegen der von der Ersten Generation eingenommenen Skepsis gegenüber den „Mas­ sen“ identifizierte das „Mai-Papier“ zudem ein revolutionäres Subjekt in­ nerhalb der westdeutschen Bevölkerung. Obwohl der Gedanke einer „an­ tiimperialistischen Front“ erkennbar dem gesamten westdeutschen Volk Nutzen bringen sollte,7717 sah die „Rote Armee Fraktion“ davon ab, dieses als Ganzes zu einem potentiellen Rekrutierungsfeld zu erheben. Selbst aus­

7706 7707 7708 7709 7710 7711 7712 7713 7714 7715 7716 7717

Vgl. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 5. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 6. Ebd. Ebd. Vgl. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 94.

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gewählte gesellschaftliche Klassen gerieten nicht zu einem als interessiert unterstellten Dritten. Mit ihrer Neuausrichtung wollte die RAF primär Individuen ansprechen, die auf Basis ihrer Lebensumstände, Biographie und ihres „subjektiven Prozess[es]“7718 einen Beitritt zur „Front“ als mög­ lich erachteten.7719 Anders formuliert: Adressiert wurden „marginalisierte Bereiche der Gesellschaft“7720, namentlich die „militanten, radikalen Teile der Linken“7721, wie zum Beispiel die „autonome“ Szene.7722 Ab Mitte der 1980er Jahre überführte die „Rote Armee Fraktion“ die Paradigmen des „Mai-Papiers“ in die eigene Praxis. Ganz im Sinne der auf militärisches Aufreiben ausgelegten „Strategie gegen ihre Strategie“7723 platzierten sie eine Autobombe an der NATO-Schule in Oberammergau, um „die Militärs dort direkt auszuschalten.“7724 Mit der Ermordung Ernst Zimmermanns verband die RAF ein Schwächen des imperialistischen „Mi­ litärisch-Industriellen-Komplexes“7725. Der Angriff auf die Rhein-Main Air Base der Vereinigten Staaten diente in ihren Augen dem Stören einer glo­ bal präsenten „Militärmaschine“7726. Das revolutionäre Subjekt – gewaltbe­ reite „Antiimperialisten“ – integrierten die „Illegalen“ auf verschiedenen Ebenen in ein organisatorisches Gefüge.7727 Zum Schutz ihrer Angehöri­ gen etablierten die in enger Absprache mit der „Kommandoebene“ und den „Kämpfenden Einheiten“ agierenden „Militanten“ eine Tarnung, die dem „Feierabendterrorismus“ der „Revolutionären Zellen“ glich: Unter dem Deckmantel einer bürgerlichen Existenz mit geregeltem Beruf gingen die Mitglieder terroristischen Aktivitäten nach.7728 In der Umsetzung der von der Zweiten Generation erdachten „antiim­ perialistischen Front“ veranlassten die Nachfolger der im Sommer 1982 zerschlagenen Gruppe um Brigitte Mohnhaupt weitere strategische Ver­ änderungen, welche insbesondere die Kommunikation zwischen der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und Außenstehenden berührten. Erstmals erschien Ende 1984 das Periodikum „Zusammen Kämpfen“, das nach Angabe sei­

7718 7719 7720 7721 7722 7723 7724 7725 7726 7727 7728

ID-Verlag 1997, S. 293. Vgl. ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 306. Ebd. Vgl. Horchem 1988, S. 174. Taufer 2018, S. 157. ID-Verlag 1997, S. 327. Ebd., S. 331. Ebd., S. 342. Vgl. Straßner 2003, S. 83. Vgl. ebd., S. 85.

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ner Verantwortlichen die Diskussion „über die tatsache und bestimmung revolutionärer politik in der metropole westeuropa“7729 fördern sollte. An die Leser richteten die aus dem legalen Umfeld der RAF stammenden Autoren der Zeitung7730 den Appell, erhaltene Kopien des Blattes zu ver­ vielfältigen und „in ihre zusammenhänge [zu] geben“7731. Wenngleich „Zusammen Kämpfen“ nicht die Qualität einer Plattform erreichen sollte, auf der die Agitation der „Roten Armee Fraktion“ unter Zulassung kriti­ scher Meinungen tatsächlich reflektiert wurde,7732 erweiterte sie die anlass­ bezogene Rechtfertigung der „Illegalen“ um eine kontinuierliche Vermitt­ lung. Nicht zu übersehen war auch hier die Ähnlichkeit zu den RZ, die bereits kurz nach ihrer Gründung mit der Herausgabe des „Revolutionä­ ren Zorns“ eine Diversifikation ihrer Kommunikationsmittel sichergestellt hatten. In Gestalt eines Anfang 1986 unter dem Titel „Antiimperialisti­ scher und antikapitalistischer Widerstand in Europa“ abgehaltenen Kon­ gresses ging das engere Umfeld der „Kommandoebene“ indes weit über die gängigen Gepflogenheiten zur Verbreitung linksterroristischer Inhalte hinaus.7733 Betrachtete man die nach 1982 gefestigte Strategie der „Roten Armee Fraktion“ in der Gesamtschau, stach ein Gegensatz ins Auge: Das von der Zweiten und Dritten Generation angesichts wachsender politischer Isolation vertretene Motiv strategischer Adaption bestimmte das Handeln außerhalb der bundesrepublikanischen Haftanstalten. Die Aktivitäten der mehr als 40 Häftlinge aus den Reihen der RAF7734 blieben dem Gedan­ ken des Erneuerns hingegen entzogen – und dies, obwohl der operative Zuschnitt ihrer zurückliegenden Kampagnen wiederholt energische Kritik linksextremistischer Akteure ausgelöst hatte. Die „politischen Gefangenen“ zementierten als Teil der „antiimperialistischen Front“ die von 1976 an vernehmbaren Rufe, sie als Kombattanten im Sinne der Genfer Konventio­ nen einzustufen und zu behandeln.7735 Der in die Anschlagskampagnen der „Illegalen“ und „Kämpfenden Einheiten“ eingebettete Hungerstreik ab Dezember 1984 forderte „Mindestgarantien gegen Folter und Vernichtung für Kriegsgefangene“7736, darunter das räumliche Zusammenführen inhaf­ 7729 7730 7731 7732 7733 7734 7735 7736

Zusammen Kämpfen 1985a, S. 2. Vgl. Straßner 2003, S. 86. Zusammen Kämpfen 1984, S. 2. Vgl. Horchem 1988, S. 173. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 133. Horchem 1986, S. 11. Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 75. ID-Verlag 1997, S. 323.

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tierter Linksterroristen.7737 Mit diesem Zuschnitt ihres „Widerstands“ ver­ banden die Häftlinge die Hoffnung, „den totalitären Anspruch des impe­ rialistischen Projekts auf dem Terrain, wo er die größte Macht besitzt“7738, unterminieren zu können. Für die angespannte Beziehung zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ blieben die Schlussfolgerungen des Pa­ piers „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ sowie deren Verwirklichung folgenlos: Noch immer betonten die RZ bevorzugt die fundamentalen operativen Unterschiede, welche sich aus der Haltung der RAF zum „Kampf“ in den Justizvollzugsanstalten sowie zu den sozialen Bewegungen speisten. Letzte werteten die „Illegalen“ der Dritten Genera­ tion laut Birgit Hogefeld als belanglos, ja gar als potentiell konterrevo­ lutionär.7739 Einem nach 1982 niedergeschriebenen internen Beitrag des Netzwerks war zu entnehmen, die „Zellen“ „halten so ziemlich alle stra­ tegischen Implikationen des KSV [‚Kommunistischer Studenten Verein‘, Deckname der RZ für die RAF] für falsch“7740, weil dessen Mitglieder „die militärische Gegnerschaft verabsolutieren“7741. Dieses Argument ge­ gen den Anspruch, „dem Staat irgendwelche Bastionen abzujagen“7742, bildete den Schwerpunkt einer im Februar 1985 veröffentlichten Stellung­ nahme, in der sich eine „Revolutionäre Zelle“ an die „Rote Armee Frakti­ on“ wandte. Die Idee einer „antiimperialistischen Front“ sei „vollkommen leer“7743, sie würde „außer HS [Hungerstreik] und Krieg dem Kriegsimpe­ rialismus überhaupt nichts rüberbring[en].“7744 Niemand könne „mit der Phrase ‚Haupttendenz ist Krieg‘“7745 einen Befreiungsprozess assoziieren. Die Kritik der RZ entzündete sich zudem an der Schlagrichtung des im Dezember 1984 initiierten Hungerstreiks. Dabei baute sie offensichtlich auf der Ende der 1970er Jahre erwachsenen Kontroverse um die Positio­ nierung zu den „sozialen Gefangenen“ auf: Die Nahrungsverweigerung, so die „Revolutionäre Zelle“, hätte größere Resonanz unter den nicht‑po­ litischen Inhaftierten hervorrufen können, „wenn die Forderungen nur

7737 7738 7739 7740 7741 7742 7743

Vgl. ebd. Ebd., S. 327. Vgl. Hogefeld 1996, S. 108. Revolutionäre Zellen, zit. n. Dietrich 2009, S. 151. Revolutionäre Zellen, zit. n. ebd. Unsichtbare 2022, S. 28. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 179. 7744 Ebd. 7745 Ebd.

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irgendwie bezogen auf den Knast erweiterungsfähig gewesen wären.“7746 Zwar relativierte eine weitere „Revolutionäre Zelle“ diese Abrechnung, um die „Basissolidarität“ zwischen RAF und RZ aufrechtzuerhalten.7747 Sie räumte aber ebenfalls ein, das Netzwerk hänge einer „andere[n], sozial­ revolutionäre[n] linie“7748 an. Trotz aller propagandistischen und aktionistischen Bemühungen, sozi­ alrevolutionäre Strategie als Korrektiv zur „Roten Armee Fraktion“ an­ schlussfähiger werden zu lassen, gerieten die „Revolutionären Zellen“ ab Anfang der 1980er Jahre zusehends in eine operative Krise. Der „‚bewe­ gungsorientierte‘ Neuanfang“7749 nach den Ereignissen im Jahre 1976 in Entebbe sowie die mit ihm verbundenen Hoffnungen auf einen politi­ schen Durchbruch zerstoben angesichts der Erfahrungen des Netzwerks in den Protestbewegungen gegen den Bau der Startbahn West am Frank­ furter Flughafen und regionale Wohnungsbaupolitik. Bezugnehmend auf den „Häuserkampf“ räumten die „Revolutionären Zellen“ im April 1983 enerviert ein, die „anfänglichen Vorstellungen, […] gesellschaftliche Ausbeutung und Demütigung könne sich über die ersten Ansätze hinaus [zu] eine[r] starke[n] sozialrevolutionäre[n] Bewegung entwickeln, haben sich als weit aufgeschoben erwiesen.“7750 Endgültig in eine Sackgasse geriet die „Vermassungsstrategie“ der RZ, als sie eine „Pazifikation“ der bundesrepublikanischen Antikriegsbewegung zu erkennen glaubten, die im „Heißen Herbst“ des Jahres 1983 erfolg­ los gegen ein Neustationieren atomarer Mittelstreckenraketen in West­ deutschland protestiert hatte.7751 Zugleich erwies sich ein weiteres stra­ tegisches Standbein des Netzwerks als problembehaftet: Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zu rechtsterroristischen Anschlägen löste die antiimperialisti­ sche Aktionslinie der RZ im Linksextremismus eine Kontroverse um die Grenzen linker Gewalt gegen US-amerikanisches Militär aus.7752 Nunmehr standen die „Revolutionären Zellen“ vor einem Dilemma: Entweder sie

7746 7747 7748 7749

Ebd. Vgl. Zusammen Kämpfen 1985a, S. 18. Ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 94. 7750 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 315. 7751 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7752 Vgl. Rabert 1995, S. 216-217; Wörle 2008b, S. 267.

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behielten die bislang wirkungslose Nähe zu gesellschaftlichen Konfliktthe­ men sowie die niedrigschwelligen Angriffe auf US-amerikanische Militär­ einrichtungen bei, oder sie wandten sich von Grundfesten ihrer Strategie ab, mit denen sie von 1973 an ihr Dasein als Korrektiv zur RAF legitimier­ ten. Letztes hätte die „Revolutionären Zellen“ – wie Mitte der 1970er Jahre die „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ – zu der von der „Roten Armee Fraktion“ geprägten antiimperialistischen Schlagrichtung führen können, war doch bislang im deutschen Linksterrorismus keine weitere nennenswerte strategische Alternative zu einem basisbezogenen Zuschnitt des „bewaffneten Kampfs“ identifiziert worden. Noch im Frühjahr 1985 fanden sich deutliche Zeichen für die im Jahre 1983 eingetretene operative Lähmung der „Revolutionären Zellen“. So merkte eine „Zelle“ in einer Er­ klärung an, aktuell existiere nicht „die gewissheit eines ‚sozialrevolutionä­ ren projektes‘ der RZ“7753. Seit Jahren stockten die hierzu intern geführten Diskussionen. Es gelinge nicht, eine Initiative zu konzipieren, welche „auf die krise der gesellschaft und der revolutionären strategien eine adäquate theoretische und praktische antwort gibt.“7754 Zwar fasste das Netzwerk schließlich den Entschluss, die „Anknüpfungs­ strategie“ sowie das antiimperialistische Standbein in einer modifizierten Variante aufrechtzuerhalten. Statt Akteure aus der Bevölkerung sollten nunmehr die „Zellen“ selbst ein Themenfeld wählen und aufbauen, an der sich eine gesellschaftliche Debatte als Voraussetzung für eine breite Akzeptanz sozialrevolutionärer Kampfformen entzünden sollte. Verfloch­ ten sein würde diese nationale Agenda mit einem Internationalismus, der seinen Schwerpunkt abseits der gewohnten Angriffe auf US-Militär und Strukturen der NATO sah. Das Netzwerk vermochte aber nicht, sich auf eine inhaltliche Grundlage dieser operativen Säulen zu verständigen. Wäh­ rend die RZ die „F-Kampagne“ einleiteten und der als regionale imperia­ listische „Ordnungsmacht“7755 beschriebenen südafrikanischen Regierung zu schaden suchten,7756 erhob die „Rote Zora“ Gen- und Biotechnologie zum Ankerpunkt einer womöglich systemverändernden gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Deutschland. Ein Stärken antiimperialistischer Be­ wegungen in der Dritten Welt versprach sich die RZo von Aktionen ge­ gen Akteure der Wirtschaft und Forschung, welche aus ihrer Sicht einen

7753 Zusammen Kämpfen 1985a, S. 19. 7754 Ebd. 7755 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 531. 7756 Vgl. ebd., Band 1, S. 37.

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Beitrag zum weltweiten Ausbeuten und Unterdrücken von Frauen leisten würden.7757 Diese strategischen Differenzen mündeten schließlich in der organisatorischen Abspaltung der „Roten Zora“. Wie sehr die „Revolutionären Zellen“ in ihrer Programmatik ab Mitte der 1980er Jahre bisherigen theoretischen Paradigmen treu zu bleiben versuchten, offenbarte der Anfang 1992 veröffentlichte Rückblick einer RZ: Mit ihrer Agenda zugunsten schutzsuchender Menschen und der „Un­ terstützung des schwarzen Befreiungskampfes in Südafrika“7758 hätten die „Zellen“ einer „militante[n] Politik“7759 angehangen, „die immer auf dem Prinzip der Verankerung und Vermassung aufgebaut war“7760. Ziel sei gewesen, einerseits Zuspruch eines „aktiven linksradikalen Umfelds“7761 zu finden, andererseits Zustimmung außerhalb „diese[r] linksradikale[n] Szene“7762 zu erlangen. Insbesondere mit dem Aufgreifen der bundesrepu­ blikanischen Migrationspolitik sollte eine „breitere linke bis linksradikale Öffentlichkeit“7763 dem sozialrevolutionären Kampf im Sinne der „Revolu­ tionären Zellen“ zugeführt werden. Entsprechend der Anfang der 1980er Jahre angenommenen Skepsis gegenüber nicht‑extremistischen Teilen der Bevölkerung erwarteten die RZ indes nicht, auf Basis der Flüchtlings­ kampagne „Verbindungslinien zu den linken Bewegungen, den Arbeits­ losen, Sozialhilfeempfängerinnen, […] Arbeiterinnen usw. in absehbarer Zeit […] herstellen“7764 zu können. Auch einen „‚sozialrevolutionären Dialog‘“7765 mit Flüchtlingen sahen die „Revolutionären Zellen“ als Op­ tion, die sich „wenn überhaupt, dann erst im Lauf der Zeit entwickeln würde.“7766 Somit spielten als interessiert unterstellte Dritte außerhalb des linksextremistischen Milieus im überarbeiteten „Revolutionskonzept“ der RZ faktisch nur noch eine nachrangige, zeitlich weit in die Zukunft verlegte Rolle. Zum primären Adressaten ihrer Botschaften avancierte die „autonome Linke“7767, welche sich bereits Anfang der 1980er Jahre gegen­

7757 Vgl. ebd., Band 2, S. 628-633; Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7758 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 37. 7759 Ebd. 7760 Ebd. 7761 Ebd. 7762 Ebd. 7763 Ebd., S. 38. 7764 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7765 Ebd. 7766 Ebd. 7767 Ebd. Vgl. auch Baron 2011, S. 233.

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über den konzeptionellen Überlegungen der RZ aufgeschlossen gezeigt hatte.7768 Ähnlich wie die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ in ihrem „Mai-Papier“ konzentrierten sich die „Zellen“ vorrangig darauf, einen Personenkreis zu gewinnen, der aufgrund seiner fortgeschrittenen Radikalisierung eine grundsätzliche Sympathie für sozialrevolutionäre Per­ spektiven signalisierte und dementsprechend leichter zu mobilisieren war. In der Propaganda der „Zellen“ erkennbar wurde dieses taktische Ab­ werten der westdeutschen „Massen“ ab Oktober 1986. Die als Sonder­ nummer titulierte neunte Ausgabe des „Revolutionären Zorns“ richtete sich ausschließlich „an die autonome und sozialrevolutionäre Linke in der BRD“7769, die im Zusammenwirken mit den RZ eine „subversive Praxis“7770, bestehend aus gewaltsamen „Angriff[en] auf die polizeiliche und sozialbehördliche Kontrolle“7771 und gewaltfreien Projekten, initiie­ ren sollte. Zu Letzten zählte das Netzwerk Maßnahmen zum Verbes­ sern der Lebensverhältnisse von Flüchtlingen, wie zum Beispiel das Ver­ teilen gefälschter Fahrkarten und Wertgutscheine.7772 Außerdem begrüß­ ten die „Revolutionären Zellen“ eine „Unterstützung illegaler Strukturen von Flüchtlingen“7773 durch das Überlassen von Wohnraum und Identi­ tätsdokumenten sowie Proteste in öffentlichen Verkehrsmitteln und an Flughäfen.7774 Ausgehend von den kombinierten Anstrengungen der RZ und linksextremistischer Szenen würden – so die Hoffnung des Netz­ werks – Räume entstehen, welche Geflohenen ein Leben in „Selbstorga­ nisation“7775 jenseits staatlicher Kontrolle und Reglementierung ermögli­ chen,7776 ihnen „Luft […] verschaffen“7777. Weiterführend sprachen die „Revolutionären Zellen“ von „freie[n] Flüchtlingsstädte[n]“7778 und einem „faktische[n] Aufenthaltsrecht für alle Immigranten und Flüchtlinge“7779

7768 Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 125. 7769 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 542. 7770 Ebd., S. 540. 7771 Ebd. 7772 Vgl. ebd., S. 542-543. 7773 Ebd., S. 543. 7774 Vgl. ebd. 7775 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7776 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 540. 7777 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7778 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 540. 7779 Ebd., S. 542.

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in Westdeutschland. Ehemalige, namentlich nicht bekannte Mitglieder des Netzwerks führten hierzu 2001 ergänzend aus, „in einzelnen Städten [soll­ te] eine Präsenz aufgebaut [werden], die einen beständigen Schutz für die Flüchtlinge bedeutet hätte.“7780 Wie derartige Errungenschaften in einem grundlegenden Neugestalten des politischen Systems der Bundesrepublik münden sollten, ließen die RZ offen. Kryptisch äußerten sie im „Revolu­ tionären Zorn“, die extremistische Linke könne in Gestalt der „F‑Kampa­ gne“ dort eingreifen, wo „sich rassistisch vermittelte Klassenspaltungen [zwischen Deutschen und Ausländern] tendenziell aufbrechen lassen“7781. Langfristig würden Flüchtlinge und „Teile der westdeutschen Unterklas­ sen […] gemeinsame Interessen entwickeln“7782. Jedenfalls verschlossen sich die „Revolutionären Zellen“ nach wie vor der Idee eines militärischen Abnutzens bundesrepublikanischer Machtstrukturen: Unübersehbar blieb in einzelnen Passagen des Periodikums die Kritik an der von der RAF ge­ nährten „Illusion, man befände sich im Krieg“7783. Wie die RZ einleitend festhielten, könne sozialrevolutionäres Vorgehen „nicht allein [im] Angriff auf militärisch‑industrielle Apparate“7784 bestehen. Im Schlussteil des „Re­ volutionären Zorns“ wiederholten sie diese Position, suchten sie sich doch von der „Bekämpfung der imperialistischen Kriegsmaschinerien“7785 abzu­ grenzen. Die neunte Ausgabe des Sprachrohrs der „Revolutionären Zellen“ war symptomatisch für das in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren zu beob­ achtende Verhältnis der RAF und der RZ: Wenngleich das Sich-Annähern in taktischen Aspekten nunmehr auch in der Auswahl des revolutionären Subjekts unübersehbar wurde, würdigte dieses weder die „Rote Armee Fraktion“ noch das Netzwerk der „Revolutionären Zellen“. Im Gegensatz zur Dritten Generation, die sich öffentlich nicht mit den operativen Paradigmen der RZ auseinandersetzte, hoben die RZ offensiv die auf strategischer Ebene existierenden fundamentalen Differenzen hervor. In­ sofern zementierten sie die belastete Beziehung beider Akteure. In der Folge konkurrierten zwei strategische Richtungen um die Gunst des ge­ waltbereiten westdeutschen Linksextremismus: Während die RZ vor allem 7780 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7781 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 542. 7782 Ebd. 7783 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7784 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 539. 7785 Ebd., S. 542.

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durch Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Funktionsträger auslän­ derrechtliche Verwaltungsakte einzuschränken, „die Verantwortlichen ein­ zuschüchtern“7786 und „die Anonymität des [für Ausländerfragen zustän­ digen, regionalen] Verwaltungsapparates aufzubrechen“7787 beabsichtigte, forcierten die „Kommandoebene“ und die ihr nachgeordneten Ebenen der „Roten Armee Fraktion“ mit Attentaten und Bombenanschlägen ein per­ sonelles sowie materielles Schwächen des westeuropäischen „MilitärischIndustriellen Komplexes“. Die „Revolutionären Zellen“ pochten über ein thematisch eng eingegrenztes Konfliktfeld in erster Linie auf ein lokales Zurückdrängen der Staatsmacht in ausgewählten Regionen Westdeutsch­ lands, die RAF vor dem Hintergrund des Kalten Krieges auf ein grenzüber­ greifendes Vernichten überregionaler Verteidigungs- und der sie stützen­ den Rüstungsstrukturen. Zu ihrem operativen Kalkül legte die Dritte Generation Anfang 1986 erneut Rechenschaft ab. In ihrer Grundsatzerklärung „An die, die mit uns kämpfen“ hob sie mit Blick auf den zurückliegenden Anschlag auf die Rhein-Main Air Base hervor, dieser sei Ausdruck einer Linie, welche die „Zentren, Basen der US-Kriegsmaschine und diejenigen Truppen, die un­ mittelbar im Krieg zwischen Revolution und Imperialismus stehen,“7788 at­ tackiere. Wie auch der Angriff auf die NATO-Schule in Oberammergau sei die Aktion gegen den US-amerikanischen Luftwaffenstützpunkt entlang der „Angriffslinie […] US/NATO-Militärstrategie“7789 realisiert worden. Dieser „Kampf gegen die imperialistische Kriegsstrategie ist […] unmittel­ bare materielle Funktion“7790 der RAF, weil er einerseits eine zentrale Grundlage – angeblicher – imperialistischer Restauration „erschüttern, […] stören, sabotieren“7791, „zersplitter[n]“7792, ihr „die letzten Momente von Legitimität/Attraktivität“7793 entziehen könne: Nach Auffassung der Dritten Generation richtete die „imperialistische Staatenkette“7794 sämtli­ che politischen, sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen an der mili­ tärischen Konfliktlösung aus. Die „Militärstrategie“ bilde die Klammer für die Regierungen des Nordatlantikpaktes. Überdies determiniere sie

7786 7787 7788 7789 7790 7791 7792 7793 7794

Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 349. Ebd. Ebd., S. 350. Ebd., S. 359. Ebd., S. 357. Ebd., S, 354. Ebd., S. 350.

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die Entwicklung der Gesellschaften in den westlichen Industrienationen sowie die Struktur der globalen Ökonomie.7795 Andererseits würden sich im „Widerstand“ gegen den – vermeintlichen – Krieg des Imperialismus „Bewusstsein und neue[r] Widerstand gegen das System“7796 ergeben. Als möglichen Nährboden einer solchen Mobilisierung benannte die RAF gesellschaftliche Protestbewegungen. Dort eingebundene Aktivisten erleb­ ten durch „Bullen, BGS, Wasserwerfer, Observation, Verhaftungen, Knüp­ pel“7797 die Übermacht staatlicher Kontrolle, welche Veränderungen nicht zulasse. Gemeinsam mit allen, die „den ewigen Kreislauf von Aufbruch – Abfuck in Resignation, Entschlusslosigkeit, Vereinzelung“7798 aufzulösen gedachten, wollte die Dritte Generation in einer „antiimperialistischen Front“ den „Aufbau […] revolutionäre[r] Gegenmacht“7799 initiieren. Zu­ sammenfassend konstatierte die RAF: Die Herrschaft des imperialistischen Kapitals sei „nur zu brechen, indem die Front die konkreten aktuellen Projekte der imperialistischen Strategie bricht.“7800 Auf weiterführende Aussagen zu ihrer Strategie ließ sich die RAF in ihrem Text „An die, die mit uns kämpfen“ nicht ein. Ähnlich wie die „Revolutionären Zellen“ konzentrierte sich die Dritte Generation gänz­ lich auf die Schritte in naher Zukunft. Unbeantwortet blieb die Frage, welche Wegmarken der von der Gruppe favorisierte „Guerillakrieg“ pas­ sieren musste, nachdem die „Rote Armee Fraktion“ auf Grundlage ihrer terroristischen Anschläge eine veritable Anhängerschaft gewonnen hatte. Diese Lücke war keinesfalls unbeabsichtigt, im Gegenteil: Die Suche „nach dem großen strategischen Plan“7801 wertete die Dritte Generation pauschal als sinnentleertes Unterfangen. Konträr zu den „Revolutionären Zellen“, welche die dunklen Flecken ihrer Strategie unkommentiert ließen, substi­ tuierte die RAF das theoretische Herleiten und Begründen eines Revoluti­ onsmodells expressis verbis durch einen genuin voluntaristischen Ansatz: Entscheidend sei der Kampf, die „subjektive Aktion. Wille, Politisierung, bewusste Entscheidung – Politik.“7802 Hier wiederholte sich der theore­ tisch verbrämte Hang zum „Theoriedefizit“7803, der schon für die Erste Ge­

7795 7796 7797 7798 7799 7800 7801 7802 7803

Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 353. Ebd. Ebd. Ebd., S. 359. Ebd., S. 355. Ebd. Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 179.

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neration der „Roten Armee Fraktion“ – besonders für die strategischen Auffassungen Ulrike Meinhofs in ihrem „Konzept Stadtguerilla“ – charak­ teristisch gewesen war. In der sich an das Papier „An die, die mit uns kämpfen“ anschließenden „Offensive 86“ richtete die „Kommandoebene“ der RAF ihre Anschläge gegen Karl‑Heinz Beckurts und Gerold von Braunmühl. Beide Aktionen folgten der Intention, „die imperialistische Strategie hier [in Westdeutsch­ land] zu durchkreuzen“7804. War Beckurts von der „Roten Armee Frakti­ on“ aufgrund seiner – vermeintlichen – Zugehörigkeit zu den „internatio­ nalen Militärisch-Industriellen Komplexe[n]“7805 ausgewählt worden, „die zu der politisch-ökonomischen Basis der Metropolen geworden sind“7806, hatte von Braunmühl die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich gezogen, weil er – so die Begründung der Dritten Generation – den „aggressiven BRD‑Staatsapparat in seiner Funktion als Kernstaat der politischen For­ mierung Westeuropas in der imperialistischen Kriegsstrategie“7807 stützte. Nach knapp zweijähriger Pause stemmte sich die „Rote Armee Fraktion“ 1988 mit ihrem Angriff auf Hans Tietmeyer abermals „gegen konkrete Projekte in der imperialistischen Strategie“7808. Wichtig sei, diesen „po­ litisch-materielle Grenze[n] zu setzen, ihre Durchsetzung zu blockieren und zu verhindern“7809. Zu diesem Zeitpunkt hatten die „Revolutionären Zellen“ bereits den Höhepunkt ihrer „F‑Kampagne“ erreicht: Die „Knie­ schussattentate“ auf Harald Hollenberg und Günter Korbmacher sollten die „für die unmenschliche Abschiebesituation verantwortlich[e]“7810 deut­ sche Exekutive und Judikative treffen. Kritiklos übernahmen die der „Kommandoebene“ nachgeordneten Be­ reiche der RAF, was diese Anfang 1986 mit dem Pamphlet „An die, die mit uns kämpfen“ vorgegeben hatte – einschließlich der Neigung, lang­ fristige strategische Planungen als bedeutungslos abzutun. Nachzeichnen ließ sich dies bei einem Blick in die nach 1985 verbreiteten Ausgaben der „Zusammen Kämpfen“. Im Frühjahr 1987 schrieben „Illegale Militan­ te“, die „front ist nie ein fertiges konzept gewesen“7811. Deren konkrete

7804 7805 7806 7807 7808 7809 7810 7811

ID-Verlag 1997, S. 382. Ebd., S. 370. Ebd. Ebd., S. 376. Ebd., S. 388. Ebd. Borgmann/Fanizadeh 2017. Zusammen Kämpfen 1988, S. 10.

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Ausgestaltung müsse von ihren Anhängern „erkämpft werden“7812. „fertige konzepte und […] partei[en], die die lösungen schon parat haben“7813, seien Elemente, die sie „gar nicht haben“7814 wollen. Ganz im Sinne der Dritten Generation der RAF begnügte sich das organisatorisch an sie ange­ bundene Umfeld mit dem Propagieren von Ideen, welche ausschließlich den gegenwärtigen Kampf gegen den Imperialismus betonten. „imperialis­ tischer krieg“, so eine „militante Gruppe“ in der „Zusammen Kämpfen“ aus Januar 1986, spiegele „die logik und notwendigkeit des imperialisti­ schen systems“7815 wider. Durchbrochen werden könne er „nur durch den revolutionären kampf“7816. Dieser „Widerstand“ müsse sich „gegen die säulen der imperialistischen macht [wenden]: staat, die unterdrückungs­ maschinerie der imperialistischen staatenkette mit der nato als spitze, die faschistische strategie der schweine“7817. Ein solches Vorgehen mache es möglich, die „aggression der imperialisten in schach zu halten“7818, „dem imperialistischen block die mittel aus der hand zu schlagen“7819, „den ge­ samten prozess der imperialistischen restrukturierung zu blockieren“7820. Mit anderen Worten: „die revolutionäre strategie in der metropole in der phase jetzt hat zum ziel, die zentrale funktion westeuropas innerhalb des imperialisti­ schen gesamtsystems zu destabilisieren, die militärische ökonomische und politische basis, über die westeuropa zum strategischen kriegszen­ trum wird, zu zerrütten“7821. Eng verwoben wurde die antiimperialistische Schlagrichtung in der „Zu­ sammen Kämpfen“ mit den Forderungen der „politischen Gefangenen“. Widerhall fand vor allem das Ansinnen der Häftlinge, in sogenannte in­ teraktionsfähige Gruppen zu gelangen.7822 Die Inhaftierten selbst suchten diese Position im Februar 1989 abermals im Wege eines Hungerstreiks durchzusetzen. Nach etlichen Kampagnen der Nahrungsverweigerung in 7812 7813 7814 7815 7816 7817 7818 7819 7820 7821 7822

Ebd. Ebd. Ebd. Zusammen Kämpfen 1986a, S. 9. Ebd. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Zusammen Kämpfen 1986d, S. 5. Ebd. Zusammen Kämpfen 1988, S. 4. Vgl. Zusammen Kämpfen 1986d, S. 6; Bundesministerium des Innern 1988, S. 75.

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der inzwischen ein Jahrzehnt einnehmenden Agitation der „politischen Gefangenen“ bedürfe es keiner ausführlichen Rechtfertigung, schrieben die Häftlinge in ihrer Erklärung. Aufrechterhalten werde der zehnte Hun­ gerstreik bis zur Zusammenlegung.7823 Obgleich die Aussagen der inhaf­ tierten Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ im Grundsatz der Argu­ mentation entsprachen, die während der zurückliegenden Hungerstreiks präsentiert worden war, boten sie eine Überraschung. Zentrale Punkte, welche von 1977 an den „Kampf“ der „politischen Gefangenen“ geprägt hatten,7824 blieben in den Ausführungen zur zehnten gemeinschaftlichen Nahrungsverweigerung unerwähnt: Weder reklamierten die Inhaftierten den Status von Kriegsgefangenen noch beharrten sie auf Regularien der Genfer Konventionen, was mitunter als „Hundertachzig-Grad-Wen­ dung“7825 der „Gefangenen“ galt. Im Fokus standen – neben der gemeinsa­ men Unterbringung – das Freilassen gesundheitlich angeschlagener Häft­ linge aus den Reihen der RAF sowie eine „[f]reie politische Information und Kommunikation […] mit allen gesellschaftlichen Gruppen.“7826 Mit deutlicher Verspätung setzte somit auch in der operativen Program­ matik der „politischen Gefangenen“ eine Veränderung ein. Treibende Kraft war die Einsicht in die Erfolglosigkeit bisheriger Kampagnen und eine sich daraus ergebende Suche nach Alternativen, welche die Inhaftier­ ten – wie zuvor die „Illegalen“ im Vorfeld des „Mai-Papiers“ 1982 – von der Notwendigkeit engerer Verbindungen zu einem sympathisierenden Umfeld überzeugt hatte. „Wir wollten neue Kontakte – das, was uns in den Jahren davor so sehr gefehlt hat: einen Austausch über die Situation drinnen und draußen, der eine Basis legt für neue Entwicklungen“7827 – so Irmgard Möller rückblickend. Der in militärischen Kategorien ausge­ legte „Widerstand“ in den Gefängnissen sollte der politischen Debatte wei­ chen.7828 Insofern ging die operative Neuausrichtung der Häftlinge sogar über die Anpassungen der „Illegalen“ Anfang der 1980er Jahre hinaus. Für die Beziehung zwischen „Roter Armee Fraktion“ und den „Revolutio­ nären Zellen“ blieb dies indes folgenlos. Nicht dokumentiert sind positive Reaktionen der RZ auf den Wegfall des gerade von ihnen in der Vergan­ genheit stark kritisierten Gedankens einer Einstufung inhaftierter Linkster­

7823 7824 7825 7826 7827 7828

Vgl. ID-Verlag 1997, S. 389. Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 75. Möller/Tolmein 1999, S. 188. ID-Verlag 1997, S. 391. Möller/Tolmein 1999, S. 190. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 178; Taufer 2018, S. 119.

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roristen als Kriegsgefangene und die Abkehr der „politischen Gefangenen“ vom „Kriegsverhältnis“7829. Grund hierfür waren die drängenderen strate­ gischen Fragen, denen sich das Netzwerk – ebenso wie die „Rote Armee Fraktion“ – inzwischen gegenübersah. 9.3.8 Angleichung der Strategien Denn spätestens ab dem Winter 1989 implodierte das Revolutionsmodell des westdeutschen Linksterrorismus. Dies gilt für die Idee eines „antiim­ perialistischen Kriegs“ der „Roten Armee Fraktion“ wie für das „Vermas­ sungskonzept“ der „Revolutionären Zellen“, die zuvor Gegenstand erster kritischer interner Reflexionen gewesen waren. Die „Illegalen“ der „Ro­ ten Armee Fraktion“ konnten sich einer Grundsatzdiskussion um das weitere Vorgehen nicht mehr entziehen: Diverse internationale Kooperati­ onspartner der RAF, welche in ihren Augen elementare Bausteine eines westeuropäischen „Widerstands“ gegen den Imperialismus unter US‑ame­ rikanischer Vorherrschaft dargestellt hatten, waren in den Jahren zuvor durch erfolgreiche Anti‑Terrorismus-Maßnahmen – vermeintlich – impe­ rialistischer Sicherheitsapparate zerschlagen worden. Die „antiimperialisti­ sche Front“ fristete ein Dasein in der gesellschaftlichen Isolation. Signifi­ kante Mobilisierungserfolge hatte sie selbst unter gewaltbereiten Linksex­ tremisten nicht erzielt. Angesichts des Zusammenbruchs kommunistischer Regierungen im Ostblock schien sich das von der Dritten Generation propagandistisch aufgebaute Szenario der globalen „imperialistischen Re­ strukturierung“, des Wiederaufstiegs „imperialistischer Macht“ zur Welt­ herrschaft zu erfüllen. Sämtliche Gewaltakte der Dritten Generation, zu denen die operativen Paradigmen des „Mai-Papiers“ 1982 das Fundament geliefert hatten, mussten sich nunmehr im Gedankengebäude der „Roten Armee Fraktion“ als wirkungslos entpuppen. Die unter anderem aufgrund des Mauerfalls „in Auflösung begriffen[en]“7830 RZ verloren sich Anfang der 1990er Jahre in einem – von 1988 an – schwelenden Richtungskampf, der sich zwischen den Polen der Bankrotterklärung des „bewaffneten Kampfes“, des unbeirrten Festhaltens am antiimperialistischen Kampf und des Veränderns bisheriger Revolutionsmodelle bewegte. Zeichen eines innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ einsetzenden operativen Umbruchs konnten im August 1990 der 12. Ausgabe der 7829 Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 178. 7830 Borgmann/Fanizadeh 2017.

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9.3 Revolutionsmodell

„Zusammen Kämpfen“ entnommen werden. Eine „Kämpfende Einheit“ wehrte sich gegen den Vorwurf, die Aktivitäten der „Illegalen Militanten“ seien „abgekapselt vom rest des widerstandes und den bewegungen“7831. Die „Rote Armee Fraktion“ nehme „bezug auf die anti‑akw‑bewegung […] [und] die anti-gentech-bewegung“7832, schließlich favorisiere sie die „(neu)organisierung einer revolutionären bewegung, mit möglichst vielen und unterschiedlichen menschen“7833. Wie der Zuschnitt und die Recht­ fertigung der Anschläge auf die US‑amerikanische Botschaft in Bonn und den Präsidenten der Treuhandanstalt zeigten, wurden derartige Überle­ gungen ab 1991 für die Dritte Generation der RAF maßgeblich. Anders als die vorangegangenen Angriffe der „Kommandoebene“, welche dem der „antiimperialistischen Front“ inhärenten Kalkül eines militärischen Duells, eines „Zweikampf[s] Staat-Guerilla“7834 entsprungen waren, grün­ deten sich beide Aktionen auf dem Willen, aus den in der deutschen Bevölkerung diskutierten politischen Themen Kapital zu schlagen. Der Be­ schuss der US‑Botschaft im Februar 1991 mit Leuchtspurmunition sollte die „Rote Armee Fraktion“ in der Anti‑Kriegsbewegung verankern, die sich anlässlich des Zweiten Golfkriegs formierte.7835 Ausdrücklich begrüß­ te die Dritte Generation in ihrem Tatbekenntnis einen engen Zusammen­ hang zwischen dem Linksterrorismus und „allen Initiativen, Demos, Mahnwachen, Kriegsdienstverweigerungen, Sabotage-Aktionen, in denen für die Leute die Auseinandersetzung darum anfängt, sich ein eigenes, von den Herrschenden unabhängiges Bewusstsein darüber zu erobern, was richtig und notwendig ist.“7836 Dieses Verschmelzen des „bewaffneten Kampfes“ mit niedrigschwelligen, teilweise überaus individuellen Taten der Bevölkerung prägte gleicherma­ ßen den Tenor zur Ermordung Detlev Karsten Rohwedders. Die RAF wolle „Kampfphasen“7837 in Absprache mit jenen definieren, „die die Wirklichkeit im Kapitalismus als erdrückend empfinden und erfahren und die anfangen, sich dagegen für ihre eigenen Vorstellungen zu orga­ nisieren“7838. Das im „Front-Konzept“ der 1980er Jahre auf den gewalt­ 7831 7832 7833 7834 7835 7836 7837 7838

Zusammen Kämpfen 1990b, S. 23. Ebd. Ebd., S. 24. Vgl. Heinrich Jansen in Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 403, 440. Ebd., S. 404. Ebd., S. 409. Ebd.

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bereiten Linksextremismus reduzierte revolutionäre Subjekt erkannte die „Rote Armee Fraktion“ nun überall dort, wo kleine Anzeichen des Pro­ tests gegen die Lebenswirklichkeit im politischen System auftraten. Beson­ ders plastisch wurde dies wenig später, als die in Lübeck inhaftierten „politischen Gefangenen“ in einem 1992 im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlten Interview ausgesprochen positiv von dem „Widerstand der Anwohnerinnen und der Anwohner der Hamburger Stresemannstraße […] [berichteten], die nach dem Tod eines Kindes [im August 1991] wochenlang gegen den Lastwagenverkehr protestiert“7839 hatten. Diese Auffassung teilten im August 1992 die „Illegalen“ der RAF.7840 Zu einem als interessiert unterstellten Dritten aufgewertet wurden 1991 selbst gesell­ schaftliche Akteure, die in der Propaganda der „Roten Armee Fraktion“ bisher vernachlässigt worden waren: Das Bekennerschreiben zum Attentat auf Rohwedder spiegelte eine Solidarität mit den – vermeintlichen – Op­ fern „menschenfeindliche[r] Asyl- und Ausländergesetze“7841, den Betroffe­ nen der in Deutschland – angeblich – herrschenden Frauenfeindlichkeit sowie mit den Leidtragenden des in § 218 StGB kodifizierten Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen wider.7842 Ihre „zu einem Sammelsurium, zu einer linearen ‚Vielfalt von Kämp­ fen‘“7843 umgedeutete Strategie beschrieb die RAF alsbald öffentlich als „Gegenmacht von unten“7844, welche auf Basis breiter Diskussionen um „Vorstellungen, […] Erfahrungen und Geschichte“7845 einen „eigenen so­ zialen Sinn entwickelt und diesen an konkreten praktischen Fragen des Alltagslebens durchsetzt.“7846 Das neue Konzept ging nicht nur mit einem für die „Rote Armee Fraktion“ bis dahin völlig untypischen Selbstverständ­ nis und einer freizügigen Auswahl potentieller Adressaten sozialrevolutio­ närer Botschaften einher, sondern auch mit einem Distanzieren von der Illegalität und einem Anpassen ihrer Kommunikation. Hatte die Dritte Generation noch im September 1990 den von Ulrike Meinhof zementier­ ten Grundsatz wiederholt, bei der RAF handele es sich um „eine bewaff­ net kämpfende Gruppe, die aus der Illegalität operiert“7847 und folglich

7839 7840 7841 7842 7843 7844 7845 7846 7847

Möller/Tolmein 1999, S. 200-201. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 452. Ebd., S. 407. Vgl. ebd. Straßner 2003, S. 181. ID-Verlag 1997, S. 412. Hogefeld 1996, S. 42. Ebd., S. 61. ID-Verlag 1997, S. 399.

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9.3 Revolutionsmodell

keine legalen Mitglieder aufweist,7848 setzte sie dieses in der Vergangen­ heit entschieden verteidigte Paradigma im Frühjahr 1992 außer Kraft.7849 „[D]en Platz in der Illegalität“7850 begriff sie „in dieser Zeit nicht als den produktivsten und offensivsten“7851. Wer Birgit Hogefeld folgt, spricht der Dritten Generation zudem das Bemühen um ein inhaltliches Anpassen der für die RAF charakteristischen Rechtfertigungen zu, welche in den 1980er Jahren gemeinhin als „Politchinesisch“7852 abgetan worden waren. Die „Kommandoebene“ strebte eine alternative „Diskussionskultur“7853 an, die Hogefelds Auffassung nach die sprachliche Verständlichkeit der seit jeher im „militaristischen Jargon“7854 gehaltenen schriftlichen Äußerungen aus den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ verbesserte.7855 Zu den Gründen für diesen Wandel legte die Dritte Generation im August 1992 umfassend Rechenschaft ab. Die unreflektierte Übernahme des im Jahre 1982 im „Mai-Papier“ fixierten Kampfs „gegen die strategi­ schen imperialistischen Entwicklungen“7856, die „Projekte und Strategien des Imperialismus“7857 habe ihren operativen Blickwinkel verengt: Die „Rote Armee Fraktion“, so die „Kommandoebene“, hätte fortan eine „möglichst schnelle und scharfe Wirkung“7858 ihrer Aktionen angestrebt, die „fast automatisch zur militärischen Eskalation“7859 geführt habe. Der „bewaffnete Kampf“, das Schaffen „illegaler“ Strukturen sei nicht gesehen worden „als ein Teil im Gesamten“7860, sondern als Aufgabe, welche „den höchsten Wert hatte.“7861 Politische Prozesse und Möglichkeiten jenseits gewaltsamer Taten seien bewusst ignoriert worden7862 – dies habe eine „Austrocknung der […] Auseinandersetzung mit vielen GenossInnen“7863 bewirkt:

7848 7849 7850 7851 7852 7853 7854 7855 7856 7857 7858 7859 7860 7861 7862 7863

Vgl. ebd. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 350. Ebd. Ebd. Der Spiegel 1984a, S. 73. Hogefeld 1996, S. 47. Taufer 2018, S. 151. Vgl. Hogefeld 1996, S. 47. ID-Verlag 1997, S. 426. Ebd., S. 428. Ebd., S. 426. Ebd. Ebd., S. 428. Ebd. Vgl. ebd., S. 426. Ebd., S. 429.

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„[W]ir haben […] überhaupt nicht überlegt, wie wir die Verbindung zu den Bewegungen und Menschen herstellen können, die gegen die Raketenstationierung und imperialistische Zerstörung aufgestanden waren oder in Kämpfen gegen Projekte [sic] wie z.B. WAA [Wieder­ aufbereitungsanlage] Wackersdorf [sic] gesteckt haben, um mit ihnen zusammen eine Kraft gegen die ganze Zerstörung aufzubauen.“7864 Angesichts der aus der „antiimperialistischen Front“ resultierenden Iso­ lation und der sich wandelnden internationalen Situation7865 habe sich die RAF von der „Konzentration auf [den] Angriff gegen die Macht“7866 gelöst. Was auf dieses Revolutionsmodell folgen sollte, beantwortete die Dritte Generation nicht. Zwar präsentierte sie abermals die Idee einer „Gegenmacht von unten“, die dahinter liegende Strategie ließ sie aber weitgehend im Dunklen. Zurückhaltend sprach sie von der Möglichkeit, als „Waffe der sozialen Bewegung“7867 zu agieren, die in einem engen Wechselverhältnis unter anderem mit den „Kämpfen in den Stadttei­ len“7868 stehe. Die „Gegenmacht“ solle der „repressiven Walze [des Staates] Grenzen“7869 aufzeigen und „Räume erkämpf[en], in denen ‚das Neue‘ wächst“7870. Dass das von der RAF propagierte Konzept einer „Gegenmacht von unten“ in der ab August 1992 verbreiteten Erklärung schemenhaft blieb, war – anders als im vorangegangenen Jahrzehnt – nicht Ergebnis eines bewusst in Kauf genommenen, subjektivistisch legitimierten Theoriever­ zichts. Das Identifizieren von „Gedanken für den Umwälzungsprozess“7871, das Bestimmen der Wege und Formen, welche den sozialrevolutionären „Kampf“ künftig prägen sollten, erkannte die Dritte Generation durchaus als essentielle Aufgabe. Das Bewältigen dieser Herausforderung setzte je­ doch laut der RAF einen Diskurs zwischen der „Kommandoebene“ und einem interessierten Umfeld voraus: „Die Gedanken und die Praxis aller sind gefragt.“7872 Die Abstimmung sollte zunächst „die kurzfristigen und langfristigen Ziele“7873, sodann den Entschluss erbringen, „wie gekämpft 7864 7865 7866 7867 7868 7869 7870 7871 7872 7873

Ebd., S. 426. Vgl. ebd., S. 432-433. Ebd., S. 428. Ebd., S. 433. Ebd., S. 437. Ebd., S. 448. Ebd., S. 452. Ebd., S. 454. Ebd. Ebd., S. 443.

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9.3 Revolutionsmodell

werden muss.“7874 Dieses Prinzip eines offenen strategischen Konzeptes, das auf einer geteilten Verantwortung beruhte, wiederholte die Dritte Generation in den weiteren Passagen ihres Textes. Sollte die mit der „Gegenmacht von unten“ beabsichtigte „politische Organisierung von Fundamentalopposition“7875 scheitern, wäre – so die „Kommandoebene“ in erkennbarer Anspielung auf den Zerfallsprozess der „68er-Bewegung“ – eine Rückkehr terroristischer Gewalt die „historisch logische Antwort“7876. Diese Entscheidung obliege allerdings nicht der „Roten Armee Fraktion“, sondern allen Akteuren in dem nunmehr notwendigen operativen Diskus­ sionsprozess.7877 An der Umsetzung der mit der „Gegenmacht von unten“ verbundenen Ansprüche hinderte die Dritte Generation einerseits der personelle Ein­ bruch infolge der Ereignisse in Bad Kleinen im Juni 1993, andererseits die Lage der „politischen Gefangenen“, deren strategisches Umdenken im Zuge des 1989 vorgenommenen Hungerstreiks laut der „Kommandoebe­ ne“ ebenfalls den nach 1990 beobachtbaren Einschnitt befördert hatte.7878 Während sich die Dritte Generation im Anschluss an den Mauerfall von ihrer dezidiert antiimperialistischen Schlagrichtung löste, behielt sie eine andere Konstante ihrer Geschichte unbeirrt bei: die selbst gewählte Abhän­ gigkeit von inhaftierten Mitstreitern. Die Beziehung zu den „politischen Gefangenen“ zählte die „Kommandoebene“ zu den „Grundsätze[n] und Selbstverständlichkeiten, die nicht in Frage gestellt werden müssen“7879. Ganz im Sinne dieses Dogmas platzierte sie in ihren schriftlichen Äuße­ rungen mehrfach die Anregung, die Haftbedingungen verurteilter Links­ terroristen als Medium für ein Zusammenwirken zu nutzen, aus dem die „Gegenmacht von unten“ hervorgehen sollte.7880 Dieses enge Ausrichten am „Kampf“ in den Gefängnissen erwies sich spätestens ab 1993 als nach­ teilig: Die von der „Kommandoebene“ als Fluchtpunkt gewählte Einheit der Inhaftierten zerbrach unter dem Eindruck folgenloser Kompromissbe­ reitschaft, welcher der deutsche Staat in Gestalt der „Kinkel-Initiative“ signalisiert hatte. Zwangsläufig warf dies die Dritte Generation zurück: Sie wurde gezwungen, sich in einem einst inhaltlich gradlinigen, Orientie­ rung bietenden Themenfeld einer Wahl zwischen den widerstreitenden 7874 7875 7876 7877 7878 7879 7880

Ebd. Ebd., S. 446. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 432. Ebd., S. 461. Vgl. ebd., S. 412, 419, 445, 461.

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Positionen sowie dem Risiko eines Zerwürfnisses mit einem Teil der In­ haftierten zu stellen. Außerdem geriet das Konstrukt einer „Gegenmacht von unten“ in den destruktiven Sog, der von den Differenzen unter den Inhaftierten ausgelöst worden war. Zu der Kritik von außen, die sich im deutschen Linksextremismus an den Grundzügen der mit der „Gegen­ macht von unten“ eingeschlagenen Richtung entzündet hatte,7881 trat eine Kritik von innen. Bis zu ihrer Selbstauflösung im Jahre 1998 gelang es der „Kommandoebene“ nicht, eine breite Akzeptanz für ihre strategischen Überlegungen zu schaffen, die das Festzurren eines neuen Revolutionsmo­ dells erlaubt hätte. Die zwischen 1990 und 1992 von der „Kommandoebene“ forcierten Veränderungen waren insofern beachtlich, als die RAF mit ihnen zentrale strategische Elemente übernahm, die ein weiterer Akteur des deutschen Linksterrorismus während der 1970er Jahre in seiner selbst zugeschriebe­ nen Funktion eines Korrektivs zum „bewaffneten Kampf“ der „Roten Ar­ mee Fraktion“ hergeleitet hatte: die „Revolutionären Zellen“. Frappierend glich die „Gegenmacht von unten“ jener „Anknüpfungsstrategie“, die von der Ersten und Zweiten Generation der RAF unter dem Begriff des „Populismus“ wiederholt „mit dem Bannstrahl belegt worden“7882 war. Beide Konzepte drängten darauf, ausgehend von einer Teilhabe an den Debatten der politischen „Basis“ reale soziale Konflikte als Keimform einer sozialrevolutionären Zäsur zu verstehen. Die der „Gegenmacht von unten“ zugrunde liegende, breit gefächerte Auswahl als interessiert unterstellter Dritter hatte die Forschung zum bundesrepublikanischen Terrorismus An­ fang der 1980er Jahre als „Allgegenwart des revolutionären Subjekts“7883 im Revolutionsmodell der „Revolutionären Zellen“ identifiziert. Neben dieser strukturellen Ähnlichkeit war eine inhaltliche Überschneidung of­ fensichtlich: Mit der Bezugnahme auf Frauen und Ausländer griff die RAF Adressaten auf, welche seit Jahren eine besondere Rolle im strategischen Profil der RZ ausgefüllt und das propagandistische Auftreten des Netz­ werks geprägt hatten. Eine differenzierte Sicht auf das Leben im Unter­ grund, wie sie die Dritte Generation ab 1992 pflegte, war von Wilfried Bö­ se und Brigitte Kuhlmann zum Anlass genommen worden, die „Revolu­ tionären Zellen“ auf einen „Feierabendterrorismus“ zu verpflichten. Der Wille zum Modifizieren des in den Pamphleten der RAF vorherrschenden Duktus deckte sich mit der im Dezember 1976 in der Agitation der RZ

7881 Vgl. ebd., S. 418, 420, 455. 7882 Straßner 2003, S. 201. 7883 Fetscher/Münkler/Ludwig 1981, S. 171.

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9.3 Revolutionsmodell

festgehaltenen Notwendigkeit, „Erklärungen müssen in westdeutsch [sic] geschrieben sein, damit sie jeder verstehen kann.“7884 Das in Form der „Gegenmacht von unten“ vorgenommene strategi­ sche Angleichen konnten die „Revolutionären Zellen“, so Alexander Straßner, „bestenfalls als massive Anbiederung“7885 sehen. Reichlich pathe­ tisch hielt die in linksextremistischen Periodika aufgearbeitete Historie des in Deutschland geführten „bewaffneten Kampfes“ 2008 zu dieser Ent­ wicklung fest, „[d]amit wuchs […] wieder zusammen, was zusammenge­ hört[e].“7886 Obgleich das von 1982 an beobachtbare operative Sich-Annä­ hern der „Roten Armee Fraktion“ an die „Revolutionären Zellen“ in den Jahren 1991 und 1992 erkennbar seinen Höhepunkt erreichte, kam es in der Beziehung beider Akteure nicht zu einer spürbaren Besserung. Im Gegenteil: Die RZ unterstellten der RAF den strategischen Bankrott. Aus­ drücklich verwiesen sie auf die operative Widersprüchlichkeit der Dritten Generation. Die „Rote Armee Fraktion“, so ein Papier einzelner Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ aus Juli 1991, beschieße die US-amerikani­ sche Botschaft in der Absicht, Menschen anzusprechen, die sich gegen militärisches Gewaltanwenden engagieren.7887 „Besser kann eine bewaff­ nete Gruppe das von ihr gezeichnete ‚terroristische Schreckgespenst‘ gar nicht medienwirksam in Szene setzen“7888, resümierten die Verfasser. An die Stelle „spektakuläre[r] Geste[n]“7889, die „politische Vermittlung mit bürgerlicher Öffentlichkeit“7890 verwechselten, müssten Aktionen mit dem Ziel treten, „die gesellschaftlichen Widersprüche zu verschärfen, soziale Kämpfe voranzubringen und erkämpfte Freiräume abzusichern oder zu er­ weitern.“7891 Ähnlich ablehnend positionierte sich im Januar 1992 eine RZ aus Nordrhein-Westfalen in ihrer Auflösungserklärung zu dem Anschlag auf die US-Botschaft in Bonn. Das darin zum Ausdruck kommende „Ge­ fühl für Leuchtspurgeschosse“7892 sah sie als verhängnisvolle Sackgasse des „bewaffneten Kampfes“: Wäre dieses „Gefühl“ innerhalb der „Revolutionä­

7884 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 178. 7885 Straßner 2003, S. 201. 7886 Gerber 2008. 7887 Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 659. 7888 Ebd. 7889 Ebd. 7890 Ebd., S. 662. 7891 Ebd. 7892 Ebd., Band 1, S. 35.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

ren Zellen“ aufgekommen, hätte sich die eigene Abkehr von terroristischer Gewalt womöglich deutlich früher ergeben.7893 Kritischen Wertungen zum Anschlag auf die US-Botschaft in Bonn, wie sie 1991 aus den Reihen der „Revolutionären Zellen“ hervorgingen, setzte sich die Dritte Generation 1992 entgegen. Nicht zutreffend sei die Feststellung, bei der Tat handle es sich um eine symbolische Geste.7894 Zu der Aktion habe sich die RAF „sehr schnell entschieden“7895. Dabei habe die Dritte Generation nicht die Hoffnung gehegt, auf einer „materi­ ellen Ebene in diesen Krieg [Zweiter Golfkrieg] ein[zu]greifen.“7896 Das Beschießen der Auslandsvertretung sollte das „Kräfteverhältnis gegen den imperialistischen Krieg […] stärken.“7897 Diese Replik erzeugte innerhalb der „Revolutionären Zellen“ keine Resonanz. Der kurze Schlagabtausch zum Angriff auf die US-amerikanische Botschaft in Bonn sollte die letzte Interaktion bleiben, in der sich die Qualität der Beziehung zwischen der RAF und den RZ, vor allem aber die sie beeinflussenden strategischen Erwägungen offenbarten. Obzwar die „Rote Armee Fraktion“ eine ergebnisoffene Diskussion zu den Perspektiven des „bewaffneten Kampfes“ als zwingend erachtete, ging sie öffentlich nicht auf die folgenreichen Schlussfolgerungen der Erklä­ rung einer RZ von Januar 1992 zur Zukunft linksterroristischer Gewalt ein. Erstaunlich war dies, weil ein Teil des Netzwerks darin auf Grundlage jahrelanger praktischer Erfahrungen ungeschönt zentrale Defizite einer Variante der „Stadtguerilla“ benannte, die die Dritte Generation zusehends für sich entdeckte. Unter den „Revolutionären Zellen“ hingegen löste sie einen öffentlichen Richtungsstreit um die nationale Strategie des Netz­ werks aus. Wenngleich ehemalige Mitglieder der RZ in ihrem Textbeitrag aus dem Jahre 2001 für die „Jungle World“ bemängelten, der Beitrag zum „Ende unserer Politik“ weise argumentative Defizite auf, da er einen zuvor getroffenen Entschluss zur Abkehr vom „bewaffneten Kampf“ im Nach­ hinein zu rechtfertigen suchte, gestanden sie den Autoren des Pamphlets zu, „richtige Vorahnungen“7898 niedergeschrieben zu haben. Bereits in der Einleitung konstatierten die Verfasser der Erklärung „Das Ende unserer Politik“, die operativen Paradigmen der „Revolutionären Zellen“ wären

7893 7894 7895 7896 7897 7898

Vgl. ebd. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 440. Ebd. Ebd., S. 441. Ebd. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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9.3 Revolutionsmodell

Resultat der mit der „68er-Bewegung“ ausgelösten politischen Entwicklun­ gen in der Bundesrepublik.7899 Mit den nationalen wie internationalen Ereignissen nach dem Mauerfall seien vollkommen neue politische Ver­ hältnisse eingetreten, die „im Grunde eine ganz andere Stufe der Organi­ sierung des militanten und revolutionären Widerstands“7900 verlangten. Es verbiete sich, „stellvertretend für eine historische Tendenz in der BRD seit Anfang der 1970er Jahre weiter[zu]machen“7901, zumal sich das Vorgehen der RZ schon im Vorfeld des Zusammenbruchs kommunistischer Regie­ rungen als problembehaftet entpuppt habe. Die „Revolutionären Zellen“ hätten auch in der „F-Kampagne“ der irrigen Annahme angehangen, das komplexe Gefüge aus politischen, kulturellen, sozialen und organisatori­ schen Aspekten einer Gesellschaft ausschließlich auf Basis der „eigene[n], subjektive[n] Entscheidung […] für bewaffnete Anschläge“7902 und der „Zustimmung der Linken zu unseren Aktionen“7903 beeinflussen zu kön­ nen. Wandel wäre mit dem „Akt des Angriffs immer gleicher Objekte“7904 gleichgesetzt worden, dessen „politische Wirkung auf Gedeih und Verderb auf die Berichterstattung durch die Medien angewiesen war“7905. Gerade hierin zeige sich rückblickend eine „Distanz zu den gesellschaftlichen Prozessen“7906 in Deutschland. Zugleich gaben die Verantwortlichen des Papiers zu, aufgrund ihres überkommenen „analytische[n] Instrumentari­ ums“7907 gegenwärtig nicht die Fähigkeit aufbringen zu können, ein Neu­ bestimmen linksterroristischer Strategie einzuleiten und zum Abschluss zu führen. Sie würden mit „Bildern konfrontiert werden“7908, in denen sich „das Wesen der Emanzipation der Klasse nicht erkennen“7909 ließe. Verschlossen bleibe ihnen die Bedeutung, welche sich hinter den aktuellen „Kämpfe[n] und Aneignungsformen im proletarischen Spektrum, in den Subschichten der jugendlichen ImmigrantInnen, der sozial entrechteten Frauen, der Opfer der Deregulation im Osten“7910 verberge. Somit biete

7899 7900 7901 7902 7903 7904 7905 7906 7907 7908 7909 7910

ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 35. Ebd., S. 35-36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Ebd.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

sich nur die Option an, die kommenden politischen Ereignisse ohne einen reflexartigen Rekurs auf „antik-kommunistische Politikmuster und Orga­ nisationsmodelle“7911 zu beobachten. Was die Autoren des Textes „Das Ende unserer Politik“ vorsichtig mit ihrem Verweis auf „Kämpfe und Aneignungsformen“ gesellschaftlicher Akteure angedeutet hatten, beschrieben ehemalige Mitglieder der RZ 2001 vermittels deutlicherer Worte. Auf die Umwälzungen nach 1989 nicht übertragen werden konnte nach ihrem Verständnis das rigorose FreundFeind-Schema, das der deutsche Linksterrorismus in seinen Anfängen ins­ besondere aus den Guerillatheorien südamerikanischer Revolutionäre her­ ausgebrochen und fortan als Säule eigener Revolutionsmodelle verwendet hatte: Im sozialrevolutionären Kampf stehe der dem Kapitalismus dienli­ che Staat als Täter auf der einen, das von diesem unterdrückte Volk als Opfer auf der anderen Seite. Obgleich die Bevölkerung von den „Revolu­ tionären Zellen“ vor der Friedlichen Revolution zunehmend skeptisch beäugt worden war, hatten sie nicht mit diesem Dogma gebrochen. Stets war das Volk grundsätzlich positiv als wesentlicher Nutznießer wahrge­ nommen worden, dessen Leiden man zu lindern vorgab. Nach dem Mau­ erfall wirkte in den Augen der „Zellen“ nicht mehr nur „das alte Bonner System“7912 als Auslöser und Träger sozialer Fehlentwicklungen, sondern auch der Deutsche, der sich durch sein Unterstützen der Wiedervereini­ gung und teilweise gewaltsame Angriffe auf Ausländer in Nationalismus und Rassismus ergehe.7913 Vermeintlich marginalisierte und ausgebeutete Gesellschaftsschichten akzeptierten in der Wahrnehmung der RZ plötzlich bereitwillig die Position eines Täters, aus der heraus sie Verbrechen begin­ gen, welche bislang nur für das Kapital charakteristisch gewesen wären. Diese Erkenntnis barg Implikationen mit nicht zu übersehender Spreng­ kraft: In der ab den 1970er Jahren beobachtbaren linksterroristischen Logik hätte sie zu der operativen Schlussfolgerung führen müssen, das aus seiner Rolle als Opfer und potentielles revolutionäres Subjekt heraus­ gefallene deutsche Volk zu bekämpfen. Eine solche „Konfrontation mit dem Mob“7914 erschien den „Revolutionären Zellen“ allerdings jenseits des Denk- und Durchhaltbaren. Dieses Zurückschrecken erschien folgerichtig, hätte der Angriff auf das Volk doch allzu schnell den Nukleus linker Iden­ tität pervertiert und den Weg zu einer noch deutlicheren Realitätsfremde

7911 7912 7913 7914

Ebd., S. 36-37. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Vgl. ebd. Ebd.

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9.3 Revolutionsmodell

linksterroristischer Gewalt geebnet. Offenbar fürchteten die RZ mit Blick auf mögliche linksterroristische Aktionen gegen fremdenfeindliche Gewalt auch, ein unbeherrschbares „Klima der Gewalt an[zu]heizen“7915. Die sich angesichts derartiger Einsichten in einem Teil der RZ ergeben­ de strategische Ohnmacht stieß innerhalb des Netzwerks auf vehemente Kritik. Während eine „Revolutionäre Zelle“ eine „konsequente antiimpe­ rialistische Politik des Angriffs auf die Urheber des Elends der Völker der Drei Kontinente“7916 als Lösung in den Raum stellte, welche sich nicht ausschließlich „auf die linksradikale Szenerie“7917 Deutschlands be­ ziehen sollte, verteidigte eine andere die „Flüchtlingskampagne“ und das darin verankerte Prinzip des Vermassens sozialrevolutionären Wider­ stands.7918 Letzte plädierte für eine „Neubestimmung linksradikaler Poli­ tik“7919 unter Berücksichtigung antipatriarchaler Gesichtspunkte. Ebenso wie die Vermittelbarkeit eines antiimperialistischen Ansatzes, welcher die in den 1970er und 1980er Jahren in extenso erprobten und schlussendlich gescheiterten operativen Prinzipien in das neue Jahrzehnt hinüberzuret­ ten beabsichtigte, blieb die Erfolgsaussicht dieses Vorschlags zweifelhaft. Denn eine Diskussion um das Patriarchat war von den RZ 1987 initiiert und 1989 an die Öffentlichkeit getragen worden. Nennenswerte Fortschrit­ te hatte die Debatte bislang nicht erreichen können – dies musste im Wesentlichen auf ihre Ausmaße zurückgeführt werden: Sie rüttelte an nie hinterfragten Kontinuitäten linker Strategie. Ähnlich dem Blick auf die sich transformierende Rolle der deutschen Bevölkerung erschütterte sie über Dekaden hinweg zementierte Selbstverständlichkeiten. Die „An­ tipatriarchatsdebatte“ beruhte auf einer fundamentalen Kritik an linken Revolutionsmodellen, die diese als „männliche […] Herrschaftsidyllen“7920 zu entlarven suchte, in denen zwar Freiheit und Gleichberechtigung ver­ kündet, de facto aber „die Frauenausbeutung durch den Mann“7921 nicht aufgehoben werde. Notwendig, so die Forderung dieser Linie, „ist das Ende des historischen Mannes.“7922 Wie dieses Ende erreicht werden und welche linksterroristische Strategie im Anschluss realisiert werden sollte, vermochte diese Strömung nicht zu sagen: Mit einer „antipatriarchale[n] 7915 7916 7917 7918 7919 7920 7921 7922

Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 61. Ebd. Vgl. ebd., S. 67-68. Ebd., S. 70. Ebd., Band 2, S. 591. Ebd. Ebd.

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feministische[n] Politik […] waren wir […] heillos überfordert. Vor allem hatten wir keine Ahnung, was das für unsere Praxis heißen würde“7923, so ein einstiges RZ-Mitglied in einem im Jahre 2022 publizierten Interview. Dieser Ansatz konzentrierte sich auf das Zersetzen des Bestehenden, nicht auf das Schaffen neuer operativer Lösungen. Insofern wohnte ihm – wie auch der Analyse zu den politischen Aktivitäten der deutschen Gesellschaft – das Risiko einer Selbstdemontage inne. Aus diesem Grunde wurde sie innerhalb der RZ mit Ablehnung be­ wertet.7924 Da die aus der „Antipat‑Debatte“7925 zu ziehenden operativen Konsequenzen mit großer Unsicherheit behaftet gewesen seien, hätte sie allzu rasch eine „Selbstkritik am eigenen Machismus“7926 auslösen kön­ nen. Schließlich war diese „vergleichsweise leichter zu haben“7927, äußer­ ten ehemalige Mitglieder der RZ 2001 in der „Jungle World“. Auf eine derartige Selbstkritik hätten sich die „gesetzte[n]“7928 Aktivisten des Netz­ werks indes nicht eingelassen: Diese waren „nicht mehr so leicht zu bewe­ gen, die private Sphäre einer grundsätzlichen Kritik auszuliefern.“7929 Die skeptische Haltung gegenüber den Resultaten einer Diskussion um das Patriarchat brach sich im öffentlichen Richtungskampf nach Januar 1992 Bahn. So erschienen der für das „Ende unserer Politik“ verantwortlich zeichnenden RZ die vor dem Hintergrund einer antipatriarchalen Ideolo­ gie „denkbaren Beziehungen zwischen legalen und illegalen Kampfformen zu unausgegoren, als dass wir daraus eine bewaffnete Politik […] ableiten können.“7930 Die „Antipatriarchatsdebatte“ laufe in ihrer gegenwärtigen Form auf „Selbstentmündigung und Entpolitisierung“7931 hinaus, nicht auf eine „Neubestimmung sozialrevolutionärer Politik.“7932 Eine der „An­ tipat-Debatte“ aufgeschlossen gegenüberstehende „Revolutionäre Zelle“ räumte in Erwiderung auf das Papier „Das Ende unserer Politik“ ein, ein Diskurs um das Patriarchat „kann nur die Zerstörung lieb gewordener Gewissheiten“7933 zur Folge haben. Selbstredend würden dem Netzwerk

7923 7924 7925 7926 7927 7928 7929 7930 7931 7932 7933

Unsichtbare 2022, S. 128. Vgl. ebd., S. 136-137. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 39. Ebd. Ebd. Ebd., S. 69.

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9.4 Gewaltverständnis

„erstmal die Felle davon schwimmen, bevor wir zu einem von Grund auf neuen Verständnis unserer Rolle im Prozess radikaler Veränderung vorgedrungen“7934 sind. Mit diesen Feststellungen kam der in der Öffent­ lichkeit ausgetragene strategische Richtungsstreit der „Revolutionären Zel­ len“ zu einem abrupten Stillstand. Die Frage, welches Revolutionsmodell das Agieren der „Zellen“ nach Ende des Kalten Krieges bestimmen sollte, blieb im theoretischen Austausch unbeantwortet. „[V]ielleicht wäre man irgendwann […] angelangt […] bei einer Alltagsguerilla neuen Typs“7935, so ehemalige Mitglieder in ihrer Rückschau in der „Jungle World“ ohne weitere Erläuterung – eine „Guerilla“, die sich entlang geeigneter Maßnah­ men gegen die alltäglich erfahrenen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus wehrte. In der Praxis setzten die „Revolutionären Zellen“ mit Anschlä­ gen zur Flüchtlingspolitik und der Erhöhung von Fahrpreisen im öffent­ lichen Nahverkehr die in den 1970er Jahren konzipierte „Vermassungs­ strategie“ fort.7936 Das Beibehalten dieses unter gänzlich anderen politi­ schen Rahmenbedingungen entwickelten Alleinstellungsmerkmals der RZ hielt allerdings nur bis 1994 an. Anschließend akzeptierte das Netzwerk stillschweigend eine Tatsache, welche die „Rote Armee Fraktion“ 1998 schriftlich verkündete: das Scheitern eines Modells, in dem zahlenmäßig unterlegene politische Akteure anhand eines im Kern primär auf Gewalt fußenden Vorgehens die staatliche Ordnung bekämpfen. 9.4 Gewaltverständnis 9.4.1 Parallele Steigerung der Gewalt Das unter dem Begriff der Gewalt zusammengefasste physische und psychische Beeinträchtigen von Menschen sowie das Beschädigen oder Zerstören von Sachen sind ureigenste Merkmale des Terrorismus. Wie kaum ein anderes Charakteristikum einen sie Akteure, denen das Attribut terroristischen Handelns zugeschrieben wird. Die dieser Kategorisierung zugrunde liegende Ähnlichkeit ist jedoch trügerisch. Sie vermittelt ein Übereinstimmen terroristischer Gruppen in Fragen des Gewaltanwendens, welches in der Realität zwar grundsätzlich, keinesfalls aber mit Blick

7934 Ebd. 7935 Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001. 7936 Bundesministerium des Innern 1994, S. 32-33; Bundesministerium des Innern 1995, S. 33.

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auf Einzelheiten bestand und besteht. Geradezu exemplarisch hierfür ist der deutsche Linksterrorismus, der seine internen Friktionen nicht nur mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf Selbstverständnis, Internationalis­ mus, Revolutionsmodell und Kommunikation rechtfertigte. Auch die Ge­ walt – vor allem selbst gesetzte Grenzen gewaltsamer Handlungen und der daraus folgende spezifische Zuschnitt von Anschlägen – stellt sich als zentraler Baustein einer Erklärung dar, die die Ursachen der von ge­ genseitigem Dulden geprägten Beziehung zwischen der „Roten Armee Fraktion“, der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“ prä­ sentiert. Im deutschen Linksterrorismus entwickelten sich Positionen zu politisch motivierter Gewalt, die sich diametral entgegenstanden. Wie vie­ le andere strategische Differenzen lösten sich diese Reibungspunkte erst Anfang der 1990er Jahre auf. Den Auftakt zu den systematischen gewalttätigen Aktionen, welche die Bundesrepublik ab Ende der 1960er Jahre erleben sollte, konstituierte am 3. April 1968 die Brandstiftung in zwei größeren Warenhäusern in Frank­ furt am Main. Der dabei entstandene Schaden belief sich auf mehrere Hunderttausend Deutsche Mark.7937 Als erster großer Anschlag, der sich vor dem Hintergrund der in der „68er-Bewegung“ diskutierten politischen Inhalte ereignete, spiegelte er die Einschätzung wider, „dass Gewalt gegen Sachen ein legitimes […] Mittel sei.“7938 Ein Überschreiten der Schwelle zu Angriffen, die gezielt Körperverletzungen oder gar menschliche Verlus­ te herbeizuführen versuchen, wurde zu diesem Zeitpunkt nicht in Erwä­ gung gezogen. Vor Gericht sagten Andreas Baader und Gudrun Ensslin aus, „sie hätten nicht die Absicht gehabt, Menschen zu gefährden“7939. Diese Stellungnahme korrespondierte mit dem Ablauf der Brandstiftung im Kaufhaus Schneider: Baader und Ensslin hatten ihre Brandsätze mit Zeitzündern versehen, die eine Detonation um Mitternacht – in einer Zeit­ spanne ohne Kundenverkehr – erlaubten.7940 Das Landgericht Frankfurt, das die beiden Aktivisten zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilte, sah allerdings die billigende Inkaufnahme einer Gefahr für Leib und Leben des im Warenhaus Schneider eingesetzten Wachpersonals als erwiesen an.7941

7937 7938 7939 7940 7941

Vgl. Hakemi/Hecken 2006, S. 316. Ebd., S. 317. Landgericht Frankfurt 1968, S. 183. Vgl. ebd., S. 179; Hakemi/Hecken 2006, S. 324. Vgl. Landgericht Frankfurt 1968, S. 200.

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9.4 Gewaltverständnis

Anders als die Initiatoren der „Roten Armee Fraktion“, die Ende der 1960er Jahre – abgesehen von wenigen Äußerungen während ihrer Ge­ richtsverhandlung in Frankfurt am Main – keine konzeptionellen Überle­ gungen zu ihrem Gewaltverständnis präsentieren konnten, verschafften die Gründer der „Tupamaros Westberlin“ insbesondere über ihre Texte Einblick in das von ihnen favorisierte und sukzessive ausgedehnte Spek­ trum terroristischer Gewalt. Umstritten war in ihren Reihen der Brandan­ schlag in Frankfurt am Main. Indes fußte die vor allem von Dieter Kunzel­ mann geäußerte Kritik auf einem Unverständnis, welches sich aus dem raschen Verhaften der Täter ergeben hatte. Keine Ablehnung rief die Form des Protests hervor, die Baader, Ensslin und andere gewählt hatten.7942 „Ob die da nun ein Kaufhaus angesteckt haben oder nicht, war mir in dem Augenblick scheißegal“7943, so Michael Baumann. Begrüßenswert sei in erster Linie gewesen, „dass da mal Leute aus dem Rahmen ausgebrochen sind“7944. Die hier deutlich werdende konkludente Zustimmung zu An­ schlägen mit erheblichem Sachschaden schlug sich nicht sogleich in den Handlungen der Gruppe nieder, die später die „Tupamaros Westberlin“ formieren sollte. Als Richard Nixon im Februar 1969 West-Berlin einen Besuch abstattete, deponierte Michael Baumann eigenen Aussagen zufolge einen Sprengsatz an der Fahrtroute des kurz zuvor gewählten US‑ameri­ kanischen Präsidenten. Die Bombe war hergestellt worden, um „Herrn Nixon mal einen kurzen Schrecken einzujagen“7945, ein Fanal zu setzen. Menschlicher Schaden sollte bei dem Anschlag vermieden werden:7946 Baumann habe die Sprengvorrichtung unter der Maßgabe abgelegt, „keine Passanten zufällig [zu] verletzen“7947. Aufgrund eines technischen Defekts zündeten die verbauten Explosivmittel nicht.7948 Die unter anderen von Baader und Ensslin vorgelegte Gewaltqualität erreichten die nunmehr als „Tupamaros Westberlin“ firmierenden „Haschrebellen“ Ende 1969, nach­ dem ein Teil aus Jordanien mit der Vorstellung zurückgekehrt war, „der neue Mensch […] entsteht im Kampf, mit der Waffe in der Hand.“7949 Im November 1969 platzierten die TW einen Sprengsatz im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin. Explodieren sollte er „während einer Gedenkver­ 7942 7943 7944 7945 7946 7947 7948 7949

Vgl. Baumann 1980, S. 30. Ebd. Ebd. Ebd., S. 47. Vgl. Baumann/Neuhauser 1978, S. 21. Baumann 1980, S. 47. Vgl. ebd. Ebd., S. 63.

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anstaltung zum 9. November“7950 – zu einem Zeitpunkt also, an dem sich Menschen im Gemeindehaus aufhalten würden. Laut Kunzelmann galt innerhalb der „Tupamaros Westberlin“ der Grundsatz, „dass im Zuge unserer Aktionen niemand verletzt werden sollte“7951. Mehr noch als die Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am Main offenbarten Ort und Zeit­ punkt der gescheiterten Aktion gegen das Jüdische Gemeindehaus die Am­ bivalenz derartiger interner Prinzipien des erwachsenden deutschen Links­ terrorismus. Wie zuvor Baader und Ensslin beabsichtigten die Mitglieder der TW nicht menschlichen Schaden, die Möglichkeit eines solchen Scha­ denseintritts schlossen sie jedoch nicht aus. Stillschweigend akzeptierte der „Blues“ diese Unsicherheit. Alsbald sahen die „Tupamaros Westberlin“ die billigende Inkaufnahme eines wahllosen Personenschadens als Problem in der Vermittelbarkeit ihrer terroristischen Handlungen, denn im Laufe der zwischen November 1969 und Januar 1970 vorangetriebenen „Justizkampagne“ lenkten die TW ihre propagandistische Aufmerksamkeit auf die mit ihren Aktionen einhergehende Gefahr für Unbeteiligte. Hintergrund hierfür waren jene Anschläge der Gruppe, die sich unmittelbar an den Wohnadressen ausge­ wählter Einzelpersonen ereigneten und Sachschaden erzielten – darunter der Angriff gegen die Wohnhäuser des Landgerichtsdirektors Hans Hein­ sen und des Oberstaatsanwalts Horst Severin am 28. und 29. November 1969, ein Brandanschlag auf die Unterkunft des Anstaltsleiters der JVA in Berlin-Tegel am 26. Januar 1970 sowie eine Aktion gegen das vom Prä­ sidenten des Strafvollzugs genutzte Wohnquartier am 28. Januar 1970.7952 Im Tatbekenntnis zu dem unter anderen von Georg von Rauch verübten Anschlag vom 28. November 1969, der eine Gefahr für eine Hausange­ stellte und eine Reinigungskraft bedeutet und ein entsprechend negatives Medienecho ausgelöst hatte,7953 betonten sie, „nichtbeteiligte Personen [würden] sich […] durch ihre Anwesenheit“7954 in den Privatwohnungen von Justizbeamten einem Risiko aussetzen. Mit dem Veröffentlichen dieses Hinweises verbanden sie die Überzeugung, „[a]lle Personen, die in Häu­ sern von Richtern und Staatsanwälten wohnen, sind jetzt ausreichend ge­ warnt.“7955 Nicht zu übersehen war in diesen Zeilen das fehlende Distan­

7950 7951 7952 7953 7954 7955

Kraushaar 2006d, S. 687. Kunzelmann 1998, S. 127. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 122. Vgl. Kunzelmann 1998, S. 128. Tupamaros Westberlin, zit. n. Baumann 1980, S. 71. Tupamaros Westberlin, zit. n. ebd.

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zieren von terroristischer Gewalt, die Menschen zu Schaden kommen ließ. Mit ihrer Argumentation wiesen die TW eine derartige Dimension ihrer Taten als gegebene Bedingung des „bewaffneten Kampfes“ aus. Zugleich suchten sie die Verantwortung für die Gefährdung von Leib und Leben, welche im Rahmen künftiger terroristischer Taten zwangsläufig entstehen würde, an die potentiellen Opfer abzutreten: Kämen bei kommenden Aktionen Menschen zu Schaden, träfe die Schuld nicht den Linksterroris­ mus, sondern die Geschädigten – schließlich hätten diese auf Basis der Erklärungen der „Tupamaros Westberlin“ der Gefahr ausweichen können. Neben der unverhohlenen Akzeptanz von Kollateralschäden offenbarte die Stellungnahme zum Angriff auf die Wohnung des Landgerichtsdirektors Heinsen die Bereitschaft innerhalb der „Tupamaros Westberlin“, gezielte physische Gewalt gegen Personen als Mittel des sozialrevolutionären „Wi­ derstands“ zu etablieren. An die Haushaltshilfen, die in den Unterkünften staatlicher Funktionsträger Reinigungsdienste leisteten, richteten sie die Aufforderung: „Ihr müsst selbst diese Schweine verhauen“7956. Der im Spätherbst 1969 in der Theorie der Gruppe beobachtbare Über­ tritt zur Gewalt gegen Personen vollzog sich nur wenig später gleicherma­ ßen in der Praxis der TW. Nachdem der Journalist Horst Rieck einen nach Auffassung der „Tupamaros Westberlin“ „ganz bösartigen Artikel geschrieben“7957 hatte, der die Aktivitäten der TW beleuchtete, drangen mehrere „Tupamaros“ Anfang Februar 1970 in Riecks Wohnung ein.7958 Offenbar schlugen sie ihm dort mit einer Bierflasche auf den Kopf. Wei­ tere Schläge folgten. Schließlich fesselten sie den Journalisten an einen Stuhl.7959 Georg von Rauch – einer der Beteiligten des Angriffs auf Rieck – befasste sich während der anschließenden Haftzeit in extenso mit dem weiteren Vorgehen der „Tupamaros Westberlin“. Die dabei schriftlich nie­ dergehaltenen Gedanken legten Zeugnis ab von einer sich zuspitzenden Gewaltbereitschaft des deutschen Linksterrorismus. Um die „totale Zerstörung“7960 kapitalistischer Gegebenheiten herbei­ zuführen, erschienen aus Sicht von Rauchs zwei Arten terroristischer Ak­ tionen legitim: zum einen das als Sabotage verbrämte Beschädigen von Objekten, zum anderen ein „Terror gegen Personen, die Inkarnation der Unterdrückung sind und an denen regelrecht Vergeltung und Rache geübt

7956 7957 7958 7959 7960

Tupamaros Westberlin, zit. n. ebd., S. 72. Baumann 1980, S. 78. Vgl. Kraushaar 2006b, S. 524. Vgl. Baumann 1980, S. 78-79. Georg von Rauch, zit. n. Kraushaar 2006b, S. 523.

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werden muss.“7961 Von Rauchs Verständnis zu sabotierenden Handlungen zeigte sich in seinen Vorschlägen zu einer Kampagne gegen die Olympi­ schen Spiele im Jahre 1972. Unter anderem sollten Schiffe der US-ameri­ kanischen Marine gesprengt werden, die während der Olympiade in deut­ schen Häfen liegen.7962 Den „Terror gegen Personen“ untergliederte er in die von den TW bereits praktizierte „Zerstörung ihrer Produktionsmittel (Auto etc.)“7963 und die „Ermordung“7964. Die Notwendigkeit des Tötens unterstrich er auch an anderer Stelle seiner in Haft niedergeschriebenen Überlegungen, als er von „Verbindungsleute[n] des Feindes“7965 sprach und dazu den Journalisten Horst Rieck zählte. Diese, so von Rauch, „müs­ sen wir liquidieren.“7966 Rückblickend auf den Überfall Anfang Februar 1970 in Riecks Wohnung hielt er in einem Brief an Dieter Kunzelmann fest, „[d]as Humansein muss ich, müssen wir, einfach in solchen Situa­ tionen liquidieren.“7967 Expressis verbis zog von Rauch in Betracht, was bislang im gewaltbereiten Linksextremismus nicht forciert worden war: ein über die Körperverletzung hinausgehender Akt des „sozialrevolutio­ nären Kampfes“, der auf das Leben von Personen zielte. Als rote Linie dieser Gewalt festigte er erkennbar die Funktion des jeweiligen Opfers. Zu potentiellen Zielen physischer Gewalt erklärte von Rauch Angehörige der Wirtschaft und der Medien sowie Träger staatlicher Strukturen.7968 Im Umkehrschluss bedeutete dies: Sämtliche Personen, die außerhalb der genannten gesellschaftlichen Bereiche standen, würden nicht Adressaten des „Terrors“ werden. Darüber hinaus erhob von Rauch Waffengewalt zu einem defensiven Mittel. In seinen Ausführungen zu den Olympischen Spielen 1972 hieß es: „Wenn die Polizei schießt, schießen wir zurück.“7969 Innerhalb der sich parallel formierenden „Roten Armee Fraktion“ war ein Prozess, der dem von Georg von Rauch in der Theorie vollzogenen Schritt hin zum dezidiert lebensgefährlichen Gewalteinsatz ähnelte, zu­ nächst nicht ersichtlich. Rudimentär waren Anfang des Jahres 1970 die Ideen zur Gewalt, welche mit dem eigenen strategischen Konzept einher­ gehen sollte. Angeblich schwebte Horst Mahler ein niedriges „Militanz­

7961 7962 7963 7964 7965 7966 7967 7968 7969

Georg von Rauch, zit. n. ebd., S. 524. Vgl. Kraushaar 2013, S. 489. Georg von Rauch, zit. n. Kraushaar 2006b, S. 524. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Georg von Rauch, zit. n. ebd. Vgl. ebd. Georg von Rauch, zit. n. Kraushaar 2013, S. 488.

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niveau“7970 vor. Geeignet erscheinende Ziele sollten „in irgendeiner Wei­ se“7971 attackiert werden. Dies schloss die Bereitschaft ein, Einzelpersonen zu bedrohen – „[m]it irgendwelchen Dingen“7972. Ulrike Meinhof, die in der Kaufhausbrandstiftung im Jahre 1968 ein „progressive[s] Moment“7973 hatte erkennen können, befasste sich im Gegensatz zu Mahler zuvorderst mit legalistischen Formen des Protests.7974 Im Kontrast zu dem auf kon­ zeptioneller Ebene unterentwickelten Gewaltverständnis stand alsbald die Praxis der Gruppe, die eine faktische Bereitschaft zum psychischen wie physischen Beeinträchtigen von Personen offensichtlich machte. Vor allem Baader bemühte sich ab Anfang März 1970, in den Besitz von Schusswaf­ fen zu gelangen. Diese sollten sodann in einem Überfall auf einen Super­ markt genutzt werden.7975 Wochen nach seiner Verhaftung schlug Ulrike Meinhof während der Besetzung einer Möbelfabrik im Märkischen Viertel in Berlin mit einem Holzknüppel einen Polizeibeamten.7976 Was Andre­ as Baader nicht gelungen war, holten andere Mitglieder der Gruppe kurz darauf nach. Sie erlangten Pistolen und eine Langwaffe. Statt einem Raub trieben die Aktivisten nunmehr das gewaltsame Befreien Baaders voran. In der äußerst risikoreichen Aktion – der Inhaftierte wurde von zwei bewaffneten Justizvollzugsbeamten bewacht – entwickelte sich trotz des offenbar zuvor konsentierten Verzichts auf den Schusswaffeneinsatz gegen Menschen7977 eine Konfrontation, welche die bisherigen Ausmaße der gegen Personen gerichteten linksterroristischen Gewalt deutlich übertraf. Nicht nur verletzten die Befreier einen Unbeteiligten durch einen Schuss in die Leber schwer, sie feuerten auch Warnschüsse über die Köpfe der beiden Bewacher, die Baader begleiteten. Im sich anschließenden Gerangel versuchte einer der Angreifer gar, seine Waffe gegen einen der beiden Jus­ tizvollzugsbeamten einzusetzen. Nur aufgrund einer Ladehemmung blieb der Beamte unverletzt.7978 Das präzedenzlose Gewaltniveau der Baader-Befreiung stilisierte die „Rote Armee Fraktion“ im Juni 1970 zu einer Selbstverständlichkeit des

7970 7971 7972 7973 7974 7975 7976 7977

Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 179. Ebd., S. 181. Ebd., S. 179. Ulrike Meinhof, zit. n. Jander 2008, S. 144. Vgl. Meinhof u.a. 1970, S. 4. Vgl. Peters 2008, S. 171; Winkler 2008, S. 159. Vgl. Peters 2008, S. 191-192. Vgl. Monika Berberichs Ausführungen in Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. 7978 Vgl. Peters 2008, S. 179-182; Sontheimer 2020.

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„bewaffneten Kampfes“, welche – ähnlich der Gretchenfrage – eine La­ gerbildung im bundesrepublikanischen Linksterrorismus befördern sollte. Anders als Georg von Rauch, der der Gewalt in der Auseinandersetzung mit der Polizei beiläufig einen defensiven Charakter zugewiesen und sich im Wesentlichen mit politisch motivierter Gewalt gegen exponierte Ein­ zelpersonen des Kapitals befasst hatte, konzentrierte sich die RAF in der Darlegung ihres Gewaltverständnisses auf bewaffnete Organe des Staates. Im Gespräch mit der Journalistin Michèle Ray formte Ulrike Meinhof den vielzitierten Satz, „natürlich kann geschossen werden“7979. Dieser Rigoris­ mus bildete den Gipfel einer Position, in der sie sich explizit von den bis­ herigen Protestformen der deutschen Linken abzugrenzen suchte. Mein­ hofs Auffassung nach differenzierte diese in ihrem Verhältnis zu staatlicher Ordnungsmacht zu sehr zwischen der Funktion und der Person. Die Linke führe an, „ihrer Funktion nach müssen sie [die Angehörigen der Polizei] Unter­ drückung betreiben, aber das ist ja […] nur die Uniform, […] und der Mann, der sie trägt, ist vielleicht zu Hause ein ganz angenehmer Zeitgenosse.“7980 Damit, so Meinhof, komme die deutsche Linke „überhaupt nicht dazu, das System […] zu bekämpfen“7981. Aus dieser Annahme leitete sie eine folgenreiche Schlussfolgerung ab, welche sinnbildlich für die jahrelange gewaltsame Konfrontation zwischen Polizei und „Roter Armee Fraktion“ sein sollte. „[D]er Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen.“7982 Und weiter: „[E]s ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden“7983. Begriff man Mein­ hofs Linie wörtlich, so war kein Abweichen von der Haltung von Rauchs erkennbar. Denn Meinhof sah den Gebrauch von Schusswaffen gegen die Polizei offenbar nicht als Verpflichtung: Auf Polizisten könne, müsse jedoch nicht geschossen werden. Wie von Rauch knüpfte Meinhof Gewalt gegen Angehörige der Polizei an Bedingungen. Allerdings vermied sie ein Konkretisieren dieser Umstände. Georg von Rauch und Ulrike Meinhof scheuten jedenfalls gleichermaßen davor, ein systematisches Töten von Polizeibeamten als Mittel des „bewaffneten Kampfes“ zu proklamieren.

7979 7980 7981 7982 7983

Meinhof 1970, S. 75. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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9.4 Gewaltverständnis

Während Meinhof staatliche Sicherungskräfte dehumanisierte und da­ raus die grundsätzliche Rechtfertigung für eine Gewaltqualität zog, die ausdrücklich die Option eines lebensgefährlichen Schusswaffeneinsatzes vorsah, ließ sie die in der Baader-Befreiung erkennbare Haltung zum Ge­ fährden Unbeteiligter offen – obgleich sich im Umfeld Unverständnis und Ablehnung ob des Verletzens Georg Linkes verbreiteten.7984 Selbst die späteren Initiatoren der „Bewegung 2. Juni“ blickten kopfschüttelnd auf den Gewaltausbruch, was angesichts der in Georg von Rauchs Papieren erkennbaren Schwerpunkte terroristischer Anschläge nicht zu überraschen vermochte. Zu dem Schuss auf einen „harmlose[n] alte[n] Opa“7985 äußer­ te Michael Baumann rückblickend, die Mitglieder der RAF „haben als erste Schusswaffen eingesetzt in einem irrationalen Moment, wo es echt nicht hingehört.“7986 Norbert Kröcher hielt in seinen Erinnerungen fest: „Das hätte nicht passieren dürfen.“7987 Zwar hatten sich die TW bereits vor der „Roten Armee Fraktion“ in der Theorie mit Waffengewalt befasst, diese spielte aber in der Praxis der aus dem „Blues“ hervorgegangenen Gruppe keine Rolle. Die „Tupamaros Westberlin“ griffen im Sommer 1970 zu Brandanschlägen, um die eigene sozialrevolutionäre Programmatik voranzutreiben.7988 Der banale Grund: „Wir […] hatten […] keine Waffen“7989, merkte Ralf Reinders zu dem kargen Arsenal der TW an. Dies änderte sich im Laufe des Jahres 1970 augenscheinlich durch Beziehungen zum linksextremistischen Spektrum Italiens. Nach dem Erproben eines „alte[n] Trommelrevolver[s]“7990 im Frühjahr 1970 hantierte die Gruppe schließlich mit „abgesägte[n] Schrot­ flinte[n]“7991. Indes kam es nicht zu den von Georg von Rauch geforder­ ten „Mordaktionen“7992. Aufgrund der desolaten finanziellen Lage der „Tupamaros Westberlin“ traten tödliche Attentate als Mittel des „bewaff­ neten Kampfes“ in den Hintergrund. Ähnlich der „Roten Armee Fraktion“ lenkten die TW ihre Aufmerksamkeit auf das Geldbeschaffen. Opportun

7984 Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 126-127; Neidhardt 1982a, S. 343; Sontheimer 2020. 7985 Baumann 1980, S. 92. 7986 Ebd. 7987 Kröcher/Papenfuß 2017, S. 210. 7988 Vgl. Wunschik 2006b, S. 545-546. 7989 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 35. Ähnlich Baumann 1980, S. 91. 7990 Kunzelmann 1998, S. 129. 7991 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 38. 7992 Kraushaar 2006b, S. 529.

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erschienen ihnen Überfälle auf Banken.7993 Angesichts der Risiken derar­ tiger Aktionen, welche aus dem Verhalten der Angestellten und den Re­ aktionen anwesender Kunden erwachsen konnten, führten die „Tupama­ ros“ eingehende „Diskussionen über den Einsatz von Waffen.“7994 Angeb­ lich akzeptierten die Mitglieder das Paradigma, im Laufe von Überfällen grundsätzlich nicht von der Waffe Gebrauch zu machen. Sofern sich ein Mitarbeiter der Bank oder ein Kunde zur Wehr setzte, sollte ihm ein Schlag auf den Kopf versetzt werden.7995 Ausdrücklich versahen die TW diesen Kodex mit der Einschränkung, „im allerschlimmsten Fall wird […] ins Bein geschossen.“7996 Der restriktive Griff zur Schusswaffe galt ebenso für die Flucht: „[K]einer wollte auf der Straße auf einen schießen, der hinterherfährt.“7997 Wer Heinz Brockmann und Ralf Reinders folgt, wird den Grundsatz defensiven Handelns als prägend zum einen für die Haltung zu Unbetei­ ligten, zum anderen für das Verhältnis zur Polizei begreifen. Die internen Debatten zu den Grenzen des Waffeneinsatzes behielten dabei den Kern des Standpunkts bei, den Georg von Rauch in der Haft eingenommen hatte. Nicht nur bei Banküberfällen, sondern auch bei anderweitigen Zu­ sammentreffen mit Polizeibeamten musste Zurückhaltung gewahrt wer­ den. „Wir hatten […] nicht vor, wie wild um sich schießende Cowboys jeden Polizeibeamten, den wir antrafen, umzuschießen“7998, beteuerte Brockmann 1973 im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Lediglich in ausweglosen Situationen sollte es gestattet sein, „auf den Bullen anzule­ gen“7999 – und „nicht [sic] wenn du in eine Polizeikontrolle fährst, weil dein Auto keine Beleuchtung hat. Da denkst du nicht: Hat der Bulle Pech gehabt.“8000 Diese Ausnahme versahen die TW wiederum mit dem Zusatz, Waffen in Notfällen „als Bedrohungs- oder Einschüchterungsin­ strument“8001, keinesfalls als „Todbringer“8002 zu begreifen. „Eher aufge­ ben als zu versuchen, sich den Fluchtweg freizuschießen“8003, besagte die

7993 7994 7995 7996 7997 7998 7999 8000 8001 8002 8003

Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 36, 43-44; Wunschik 2006b, S. 546. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 54. Vgl. ebd., S. 45; Meyer 2008, S. 183. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 45. Ebd., S. 48. Heinz Brockmann, zit. n. Der Spiegel 1973b, S. 78. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 56. Ähnlich der Spiegel 1973b, S. 78. Ebd. Meyer 2008, S. 183. Ebd. Ebd.

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gruppeneigene Maxime. Diesen Limitationen lag primär ein taktisches Ab­ wägen zugrunde. Die „Tupamaros Westberlin“ nahmen an, im Falle zügel­ loser Gewalt gegen Polizeibeamte Ziel eines hohen staatlichen Fahndungs­ drucks zu werden.8004 Zudem beurteilten sie die Stellung polizeilicher Funktionsträger im – vermeintlich – repressiven System der Bundesrepu­ blik anders als die „Rote Armee Fraktion“. Das Trennen zwischen Beruf und Person, welches die RAF der deutschen Linken im Text „Die Rote Armee aufbauen“ zur Last gelegt hatte, erkannten die „Tupamaros West­ berlin“ als maßgebende Argumentation an. Polizeibeamte sahen die TW als Berufstätige, die „ja auch abends nach Hause gehen“8005 wollen. Nach der Rückkehr aus Jordanien debattierte die Erste Generation der „Roten Armee Fraktion“ ebenfalls die eigene Gewalt. „Wann und auf wen durfte geschossen werden?“8006, lautete nach Aussagen von Margrit Schiller die zentrale Frage. Die Ergebnisse dieses Austauschs kontrastierten die Außendarstellung der RAF, die entlang der zugespitzten Ankündigung künftiger Zusammenstöße zwischen „Stadtguerilla“ und Polizei sowie der fehlenden Position zur Gefährdung unbeteiligter Dritter den Eindruck schrankenloser terroristischer Gewalt vermittelt hatte. Angeblich bereute Ulrike Meinhof inzwischen, das Veröffentlichen des Michèle Ray dargeleg­ ten Gewaltverständnisses zugelassen zu haben, „ohne dass darüber vorher nochmal diskutiert worden“8007 war. Daneben reflektierten die Mitglieder den Verlauf der Baader‑Befreiung. Irmgard Möller zufolge werteten sie das Verletzen Georg Linkes als „nicht notwendig[e]“8008 Tat. Ohne diese „hätte die […] Aufbauphase [der RAF] anders, viel ruhiger laufen können“8009. Beruhend auf dieser Einschätzung gelangte die „Rote Armee Fraktion“ im Hinblick auf die Ausmaße sozialrevolutionärer Gewalt zu einer taktisch motivierten Auffassung, die weitgehend dem Standpunkt der „Tupamaros Westberlin“ glich. Die Gruppe habe sich vorgenommen, bei weiteren Aktionen „eine Schießerei auf jeden Fall zu vermeiden“8010 und „nie Menschen unnötig [zu] gefährden.“8011 Fortan sollte „alles, was […] an Eventualitäten eingefallen ist, so lange besprochen und durchgespielt“8012

8004 8005 8006 8007 8008 8009 8010 8011 8012

Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 56. Ebd. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 50. Ebd., S. 51. Möller/Tolmein 1999, S. 50. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. auch Jander 2008, S. 149. Möller/Tolmein 1999, S. 50.

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werden, bis „sichergestellt war, dass niemand in einer […] Situation [wie der Befreiung Andreas Baaders] schießt“8013, schrieb Irmgard Möller in ihrer Autobiographie. „Darüber gab es einen umfassenden Konsens.“8014 Bei Banküberfällen durfte lediglich „im äußersten Notfall“8015 geschossen werden – „nicht, um an das Geld heranzukommen.“8016 Ferner hätten die Angehörigen der Ersten Generation vereinbart, Begegnungen mit Poli­ zeibeamten in „ganz alltäglichen Situationen“8017 nach Möglichkeit ohne Schusswaffeneinsatz aufzulösen. Ein Waffeneinsatz sollte nur dann in Be­ tracht gezogen werden, wenn er unter Berücksichtigung der jeweiligen Gegebenheiten die Aussicht auf ein Entkommen bot.8018 Neben dem ideo­ logischen Begutachten des „einfachen“ Polizisten als Feind sozialrevolutio­ närer Aktivitäten war in dieser Sonderregelung der zweite geringfügige Unterschied zum Gewaltverständnis der „Tupamaros Westberlin“ zu se­ hen. Die Erwägungen der Ersten Generation schlugen sich im April 1971 in der öffentlichen Agitation der „Roten Armee Fraktion“ nieder. Was in der Erklärung „Die Rote Armee aufbauen“ und in dem Gespräch Ulrike Mein­ hofs mit Michèle Ray nicht erfolgt war, holte die Gruppe im „Konzept Stadtguerilla“ nach. Eindeutig bezog sie Stellung zum Verletzen Georg Linkes während der Baader-Befreiung: „Die Frage, ob die Gefangenenbefreiung auch dann gemacht worden wäre, wenn wir gewusst hätten, dass ein Linke dabei angeschossen wird – sie ist uns oft genug gestellt worden – kann nur mit Nein beantwortet werden.“8019 Zugleich bemühte sich die RAF, jegliche negative Resonanz zu zerstreuen, die dieses Grenzüberschreiten nach sich gezogen hatte. Die Erste Genera­ tion relativierte die eigene Verantwortung für die Tat: Aus ihrer Sicht bestand im Laufe der Vorbereitungen keinerlei „Grund für die Annahme, […] ein Ziviler [könnte] sich noch dazwischenwerfen“8020. Überdies un­ terstellte sie jenen unlautere Motive, welche die Frage nach dem „was

8013 8014 8015 8016 8017 8018 8019 8020

Ebd. Ebd., S. 51. Karl-Heinz Ruhland, zit. n. Der Spiegel 1972a, S. 38. Karl-Heinz Ruhland, zit. n. ebd. Möller/Tolmein 1999, S. 51. Vgl. ebd. ID-Verlag 1997, S. 30. Ebd.

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wäre gewesen, wenn“8021 aufgeworfen hatten. Hierin zu sehen sei der „Ver­ such, revolutionäre Gewalt und bürgerliche Gewalt auf einen Nenner zu bringen“8022. Weiterführend hob die „Rote Armee Fraktion“ hervor, ihre Mitglieder feuerten nicht ohne Rücksicht Schusswaffen auf die „Vollzugs­ beamten des Monopolkapitals“8023 ab. Der Waffeneinsatz gegen die Polizei sei stets „gezielt“8024 und defensiv: „Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird. Den Bullen, der uns laufen lässt, lassen wir auch laufen.“8025 Die nahezu zeitgleich zum „Konzept Stadtguerilla“ erschienene Grund­ satzerklärung Horst Mahlers „[ü]ber den bewaffneten Kampf in Westeuro­ pa“ präsentierte ebenfalls ein Gewaltverständnis der „Roten Armee Frakti­ on“. Dieses nahm nicht auf die bisherige Praxis der Gruppe Bezug. Viel­ mehr bemühte es sich um ein weitreichendes theoretisches Herleiten des gewaltsamen Bekämpfens staatlicher Strukturen. Hierbei hob sich Mahlers Gewaltbegriff von dem ab, was Meinhof zuvor dargelegt hatte. Sein Ansatz ging selbst über jene Vorstellungen hinaus, welche im Frühjahr 1970 von Georg von Rauch schriftlich fixiert worden waren. Unter der Losung, „Bestraft einen und erzieht Hunderte“8026, sah Horst Mahler einen „revo­ lutionären Terror“ gegen „Exponenten des Ausbeutungssystems und […] Funktionäre des Unterdrückungsapparates, […] die zivilen und militäri­ schen Führer und Hauptleute der Konterrevolution“8027 als wirksames Mit­ tel. Diese seien „gezielt und abgestuft zur Rechenschaft zu ziehen.“8028 Indem Mahler akklamierend Wladimir Iljitsch Lenins Einschätzungen zum „Partisanenkrieg“ zitierte, offenbarte er jene Züge dieses „Terrors“, die sein Einverständnis erhielten. Mahler spielte mit dem Gedanken der Ermordung, der „Liquidation von einzelnen Funktionären des Unterdrü­ ckungsapparates“8029. Diese Opfergruppe würde nicht nur hochrangige Beamte umfassen, im Gegenteil: Mahler betrachtete das gesamte „Heer der Hosenscheißer“8030, welche „sich für eine berufliche Laufbahn […] [im deutschen Staatswesen]

8021 8022 8023 8024 8025 8026 8027 8028 8029 8030

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 83. Ebd., S. 78. Ebd., S. 81. Ebd., S. 78.

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entschieden haben“8031, als „Organe“8032 des Kapitals sowie als „Feinde des Proletariats“8033 und somit als potentielle Ziele terroristischer Gewalt.8034 Dies galt gleichermaßen für Polizeibeamte, griff er doch in seinem Pam­ phlet „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ auf Lenins Aussage zurück, „die Tötung von […] Vorgesetzten und Subalternen im Polizeiund Heeresdienst“8035 sei Teil des „Partisanenkampfes“. Somit schreckte Mahler – anders als Meinhof und von Rauch – nicht davor zurück, un­ eingeschränkt die Gewaltqualität zu übernehmen, die sich in den als Refe­ renzrahmen genutzten, historischen Theorien des Guerillakriegs verbarg. Die in seinem Pamphlet glorifizierte offensive Gewalt gegen alle Ebenen des Staatsdienstes fand ihre Grenze an den Nutznießern des sozialrevolu­ tionären „Widerstandes“ – hierin stimmte Mahler gänzlich mit den ande­ ren geistigen Leitfiguren des westdeutschen Linksterrorismus überein. Der „Terror“, so Mahler, „richtet sich selbstverständlich nicht gegen das Volk, gegen die Mas­ sen, auch nicht gegen solche Schichten, die nach ihren Lebensbedin­ gungen und ihrer Klassenlage dem Proletariat zwar nahestehen, sich aber nicht zur Teilnahme an der revolutionären Bewegung entschlie­ ßen können.“8036 Ähnlich wie die Überlegungen Georg von Rauchs gelang Mahlers Gewalt­ niveau nicht der Sprung in die Praxis. Denn anders als Meinhof konnte sich der zu diesem Zeitpunkt in Haft sitzende Mahler nicht auf die Zu­ stimmung der in der Illegalität agierenden Gruppe stützen. Nach dem Veröffentlichen der Texte „Das Konzept Stadtguerilla“ und „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“ durchlief die RAF weiterhin ihre Phase des logistischen Konsolidierens. Zunehmend zur Makulatur geriet dabei das Postulat Ulrike Meinhofs, gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei nicht zu forcieren. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war eine am 15. Juli 1971 eingeleitete Großfahndung in Hamburg. Werner Hoppe und Petra Schelm versuchten, eine polizeiliche Umstellung zu durchbrechen. Beide feuerten wiederholt Schüsse auf die Beamten ab, trafen indes nicht. Schelm kam schließlich infolge eines Kopfschusses ums Leben.8037 Ganz 8031 8032 8033 8034 8035 8036 8037

Ebd. Ebd., S. 83. Ebd. Vgl. ebd. Wladimir Iljitsch Lenin, zit. n. ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Vgl. Peters 2008, S. 253.

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im Sinne des Papiers „Die Rote Armee aufbauen“ aus dem Jahre 1970 entgegnete Hoppe im Anschluss an seine Festnahme: „Schade, von euch Schweinen hätte ich gerne noch ein paar umgelegt!“8038 Im Oktober 1971 verstarb ein Polizeibeamter, nachdem ein Mitglied der „Roten Armee Fraktion“ aus nächster Nähe sechs Schüsse auf ihn abgegeben hatte. Ende Dezember 1971 schoss die RAF einem weiteren Polizisten im Laufe eines Banküberfalls in Kaiserslautern in den Rücken. Er erlag ebenfalls seinen Verletzungen. Beide Beamte hatten zuvor nicht ihre Dienstwaffe auf jene Angehörige der „Roten Armee Fraktion“ gerichtet, die für ihren Tod ver­ antwortlich zeichneten. Im Januar 1972 entkam Andreas Baader durch Waffengewalt einer Verkehrskontrolle. Als Thomas Weisbecker Anfang März 1972 von zwei Polizisten mit vorgehaltener Waffe angehalten wur­ de, bewegte er seine Hand unvermittelt zur mitgeführten Pistole. Nach eigenen Aussagen verletzten die Beamten ihn in Notwehr tödlich. Wenig später feuerte Manfred Grashof in Hamburg während eines polizeilichen Zugriffs Schüsse auf den Oberkörper eines Polizisten ab, der nach einem mehr als zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt verstarb. Obgleich Grashof mehrere Kugeln trafen, überlebte er.8039 Wie Irmgard Möller in ihren Erinnerungen berichtete, verfestigte sich nach dem Tod Petra Schelms die Idee einer von der Polizei gewollten „Konfrontation auf Leben und Tod“8040. Die zuvor nur theoretisch bemüh­ ten Bilder des tödlichen Duells zwischen Staat und „Stadtguerilla“ sah die Erste Generation plötzlich in der Realität der Gruppe.8041 „In dem Bewusstsein haben wir uns bewegt und agiert – und waren entschlossen, das weiterzumachen“8042, so Möller. Den Alltag habe fortan eine größere Ernsthaftigkeit durchzogen.8043 Erklärbar wurde vor diesem Hintergrund zum einen die nach Juli 1971 einsetzende Tendenz der „Roten Armee Fraktion“, ein Verhältnis zur Polizei anzustreben, in dem „es […] nicht mehr um Revolution und Mobilisierung, sondern um Abrechnung, eine ‚interne‘ Auseinandersetzung“8044 ging. Den Tod Petra Schelms nahmen die Mitglieder der Ersten Generation zum Anlass, eine rein der Vergel­ tung dienende Aktion gegen niedrigrangige Polizeibeamte zu diskutieren. Angeblich verständigten sie sich auf den Plan, eine Splitterbombe in 8038 8039 8040 8041 8042 8043 8044

Werner Hoppe, zit. n. ebd. Vgl. ebd., S. 255-260. Möller/Tolmein 1999, S. 59. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 60.

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einer legendierten Unterkunft der „Roten Armee Fraktion“ im Hambur­ ger Stadtteil St. Pauli zu installieren. Dieser Sprengsatz sollte Polizisten während einer Durchsuchung verletzen. Zur Umsetzung kam dieses Vor­ haben nicht, weil der notwendige Sprengstoff fehlte.8045 Das innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ – vermeintlich – vorherrschende Gefühl einer lebensgefährlichen Bedrohung durch die westdeutsche Polizei ließ sich zum anderen als Grundlage für die ab Sommer 1971 beobachtbare Bereit­ schaft begreifen, den Einsatz von Handfeuerwaffen nicht von dem im „Konzept Stadtguerilla“ beschriebenen Schusswaffeneinsatz angetroffener Polizeibeamter abhängig zu machen. Die Schwelle zur lebensbedrohlichen Gewalt gegen Polizisten sank merklich. Der sich verschärfende Blick auf die „Auseinandersetzung Polizei – RAF“8046 lieferte ferner den Kontext zu einer nach Oktober 1971 innerhalb der „Roten Armee Fraktion“ einsetzenden Diskussion, in der sich das vom „Konzept Stadtguerilla“ entfernende Gewaltverständnis der Ersten Generation als belastender Faktor im Verhältnis zu den „Tupamaros West­ berlin“ erwies. Auslöser der Kontroverse war die Reaktion des RAF-Mit­ glieds Gerhard Müller, der zuvor gemeinsam mit Ulrike Meinhof einer polizeilichen Kontrolle entkommen war. Der mit dieser Flucht einherge­ hende Tod des Polizeibeamten Norbert Schmid soll Müller erfreut, ja gar begeistert haben.8047 Beurteilt man diese Haltung nach dem Maßstab der Gruppe, demzufolge der Ersten Generation in Zusammentreffen mit der Polizei ausschließlich die Wahl zwischen Leben und Tod blieb, so war Müllers Reaktion folgerichtig: In der Logik der „Roten Armee Frakti­ on“ war er dem sicheren Tod entkommen. Offenbar waren die zur RAF hinzugestoßenen „Tupamaros“ nicht bereit, die sich in Müllers Verhalten abzeichnende Spirale der Gewalt mitzutragen. Ralf Reinders und Ingrid Siepmann erschien der fatale Schusswaffeneinsatz gegen Polizeibeamte als ein Ereignis, welches nicht als Ausdruck einer besonderen Radikalität des sozialrevolutionären „Widerstands“ interpretiert werden durfte. Mit dieser Position kehrten sie zu den „Tupamaros Westberlin“ zurück.8048 Ob es tatsächlich – wie in Primärquellen behauptet – allein aufgrund der selbst gesetzten Zurückhaltung der TW bis Ende 1971 „nie Schießerei­ en [mit polizeilichen Einsatzkräften] gegeben“8049 hat, ist fraglich. Zahlrei­

8045 8046 8047 8048 8049

Vgl. Peters 2008, S. 254. Möller/Tolmein 1999, S. 60. Vgl. Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 54. Vgl. ebd. Ebd., S. 56.

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che „Tupamaros“ saßen 1971 in Haft.8050 Auf der Gruppe lastete nicht ein Fahndungsdruck, welcher der gegen die „Rote Armee Fraktion“ gerichte­ ten sicherheitsbehördlichen Aufklärung glich. Sicher ist hingegen, dass die „Tupamaros Westberlin“ ebenso wie die RAF ihren mit Schranken gespickten Gewaltkodex sukzessive aufweichten. Das Paradigma, „[e]her aufgeben als zu versuchen, sich den Fluchtweg freizuschießen“8051, verlor spätestens ab Herbst 1971 seine Bedeutung. Nach Einschätzung der TW waren in Westdeutschland und Westberlin inzwischen Verhältnisse ein­ getreten, „in der die Bullen […] auf jeden geschossen haben.“8052 Dies führten sie auf die gewaltsamen Zwischenfälle zurück, in der die „Rote Armee Fraktion“ Schüsse abgegeben hatte: „Über diese Baader-MeinhofGeschichten war das Klima bei den Bullen […] angewachsen“8053. Um der veränderten Lage begegnen zu können, fassten die „Tupamaros“ den Be­ schluss, drohende Exekutivmaßnahmen künftig unter Zuhilfenahme von Waffengewalt abzuwenden. Baumann schrieb dazu: „Wir haben die Knarre beigehabt [sic], damit wir nicht mehr verhaftet werden. Darum haben wir die Dinger eingesteckt, nicht dass wir mit erhobenen Händen dastehen und uns der Reihe nach umschießen lassen“8054. Schnell gipfelte dies in Auseinandersetzungen mit der Polizei, wie sie die RAF bereits mehrfach durchlaufen hatte. Laut Michael Baumann und Till Meyer setzten Mitglieder der TW – darunter Georg von Rauch – im Herbst sowie im Dezember 1971 Waffen gegen Polizeibeamte ein, um sich einer bevorstehenden Festnahme zu entziehen.8055 Nachdem Georg von Rauch tödlich getroffen worden war, erwuchs bei den übrigen anwesenden „Tu­ pamaros“ der Wunsch nach unmittelbarer Rache: Gezielt schossen sie auf einen der Beamten, der die Aktivisten festgesetzt hatte. Ein Bauchdurch­ schuss verletzte ihn.8056 Im Februar 1972 geriet Till Meyer in Bielefeld in das Visier polizeilicher Ermittlungen. Im Anschluss an eine Personenkon­ trolle unternahm er den Versuch, dem bevorstehenden Zugriff zu entkom­ men. Dabei ergab sich ein Schusswechsel, in dem Meyer eigenen Aussagen 8050 8051 8052 8053 8054 8055

Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 143. Meyer 2008, S. 183. Baumann 1980, S. 110. Ebd. Ebd., S. 109-110. Vgl. Baumann/Der Spiegel 1974, S. 32; Baumann 1980, S. 109; Meyer 2008, S. 182, 192. Vgl. auch Danyluk 2019, S. 199. 8056 Vgl. Wunschik 2006b, S. 547.

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zufolge seine Pistole in der Absicht abfeuerte, die Polizisten „auf Distanz [zu] halten“8057. Während die TW im Frühjahr 1972 eine neue terroristische Gruppe eta­ blierten, trieb die RAF ihrer „Mai-Offensive“ entgegen. Begleitet wurden die Vorkehrungen von einem grundsätzlichen Austausch zur Dimension der Gewalt, welche die bevorstehende Kampagne annehmen sollte. Irm­ gard Möller zufolge stand zum einen die Option im Raum, vermittels gewaltsamer Aktionen „materiell was zu bewirken, also wertvolle Güter und Einrichtungen zu zerstören“8058. Zum anderen habe die Erste Genera­ tion die Möglichkeit in Betracht gezogen, „Aktionen zu machen, die vor allem eine politische Botschaft transportieren“8059. Was derartige Aktionen implizierten, sollte sich später zeigen: die Bereitschaft, Menschen bis hin zum Tod zu verletzen. Im Laufe der Abstimmung einigten sich die Akti­ visten darauf, „propagandistische Aktionen“8060 der Gewalt gegen Sachen vorzuziehen. Letzte sollte zu einem späteren Zeitpunkt eingesetzt werden – „wenn wir mehr sein würden, mehr Erfahrungen […] hätten“8061, so Möller. Bezogen auf die Gewalt lagen den für 1972 geplanten Anschlägen der „Roten Armee Fraktion“ zwei Konstanten zugrunde: Um dem Eindruck entgegenzuwirken, die Erste Generation wolle „[j]eden Gemüsemann und jede Bürokauffrau“8062 gefährden, sollten unter keinen Umständen „Unbe­ teiligte getroffen werden“8063. Der „Roten Armee Fraktion“ lag es fern, die Bevölkerung wahllos als Ziel der Gewalt auszuwählen, ein „bloßes Ge­ metzel“8064 zu verrichten. Personenschaden war nach dem Verständnis der Mitglieder „lediglich“ unter der Maßgabe zulässig, „Verantwortliche“8065 notfalls unter Einsatz von Gewalt gegen ihre „Bewacher“8066 zur Rechen­ schaft zu ziehen. Dass der Begriff der „Verantwortlichen“ eher eine un­ bestimmte Zahl an Personen mit ähnlichen Merkmalen oder Aufgaben als einzelne, herausragende Funktionsträger beschrieb, offenbarten die im Frühjahr 1972 geführten Debatten um Angriffe auf die Polizei: Diese

8057 8058 8059 8060 8061 8062 8063 8064 8065 8066

Meyer 2008, S. 204. Möller/Tolmein 1999, S. 39. Ebd. Ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 58. Ebd., S. 61. Neidhardt 1982a, S. 358. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 99. Ebd.

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9.4 Gewaltverständnis

mussten denjenigen schaden, welche „Killfahndungsaktion[en]“8067, wie sie sich aus Sicht der RAF im März 1972 gegen Thomas Weisbecker gerich­ tet hatten, ausführen. Gemeint waren hiermit weder „die Dienststelle, die die Polizisten losgeschickt hat“8068, noch „der Polizeipräsident“8069 oder gar über diesem stehende Hierarchieebenen, sondern niedrigrangige „Fahnder“8070. Auf Grundlage von „Bestrafungsaktionen“ würden sie sich, so die Hoffnung der RAF, künftig „zweimal überlegen, ob sie noch mal einen von uns erschießen.“8071 9.4.2 „Mai-Offensive“ als Scheidepunkt Zwischen dem 11. und 24. Mai 1972 beging die „Rote Armee Fraktion“ sechs Anschläge, welche ihre primär auf menschliche Verluste ausgelegte Strategie widerspiegelten: Vier Angehörige der US‑amerikanischen Streit­ kräfte starben, mehr als 50 Personen zogen sich teilweise schwere Verlet­ zungen zu.8072 Ein Großteil der Aktionen entsprach dem Muster von Bom­ benanschlägen, die in einem gewissen Radius möglichst destruktiv gegen Mensch und Sache wirken sollten. Schnell erwies sich das in der „Mai-Of­ fensive“ erreichte Gewaltniveau als propagandistisches Fiasko. Denn An­ gehörige der RAF hatten den zuvor im Hinblick auf die eigene Gewalt abgesteckten, „als moralisch empfundene[n] Code“8073 mehrfach gebro­ chen. Trotz Sicherungsmaßnahmen wurden unbeteiligte Dritte verletzt: Abweichend von den Ergebnissen, welche die RAF beim Ausspähen Wolf­ gang Buddenbergs erlangt hatte, stieg seine Frau am Tag des Anschlags in das gemeinsam genutzte Fahrzeug und löste damit die für ihn vorgesehene Sprengfalle aus.8074 Den Angriff auf das „Springer“‑Hochhaus in Hamburg kündigte die Gruppe telefonisch an. Die bis zur Detonation verbleibende Zeit reichte indes nicht aus, um ein vollständiges Evakuieren herbeizu­ führen. 38 Angestellte – also ein „Teil des Volkes, für den man vorgab, […] [den] Kampf zu führen“8075 – verletzten die im Hochhaus platzierten

8067 8068 8069 8070 8071 8072 8073 8074 8075

Möller/Tolmein 1999, S. 59. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd. Ebd., S. 61. Vgl. Jander 2008, S. 151. Neidhardt 1982a, S. 358. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 61. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 189.

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Bomben. Größerer menschlicher Schaden blieb aus, da mehrere Sprengsät­ ze nicht explodierten.8076 Angesichts der nunmehr pervertierten Zusage der „Roten Armee Fraktion“, ihre Taten „richte[n] sich selbstverständlich nicht gegen das Volk, gegen die Massen“8077, fielen die internen wie exter­ nen Reaktionen vernichtend aus.8078 Nicht zu übersehen war, „dass die Praxis [der Ersten Generation] sich völlig loslöste von dem, was […] unter Praxis“8079 eingefasst worden war. Vor allem der Angriff auf den „Springer“-Verlag belastete das ohnehin angespannte Verhältnis zur Nachfolgegruppe der „Tupamaros Westber­ lin“, der „Bewegung 2. Juni“. Norbert Kröcher sprach in seinen Erinnerun­ gen mehrfach von einer „ersten ernsthaften Zäsur“8080 in der Beziehung beider Akteure, die der Zuschnitt der Aktion nach sich gezogen habe. Fortan galt der B2J der Anschlag auf das „Springer“-Hochhaus – sowie im Übrigen die Angriffe auf das US-Militär – als mahnendes Beispiel eines problematischen Gewaltverständnisses.8081 Verständlich wurde diese ablehnende Position der „Bewegung 2. Juni“, wenn man sich den selbst­ kritischen Diskurs vor Augen führte, den sie kurz nach ihrer Gründung durchlief. Welch unkalkulierbarer Natur terroristische Bombenanschläge waren, erfuhr die B2J im Februar 1972, als ihr im Yachthafen in Ber­ lin-Gatow abgelegter Sprengsatz versehentlich einen Hausmeister tötete. Nicht nur löste dieses Töten eines Unbeteiligten durch eine Aktion, wel­ che ursprünglich ausschließlich Sachschaden hervorrufen sollte, große persönliche Betroffenheit unter den Mitgliedern aus.8082 Sie mündete in einem negativen medialen Echo. 8083 Wohl in erster Linie „um der Vermitt­ lung in das eigene Umfeld willen“8084 nahm die „Bewegung 2. Juni“ in der Folgezeit eine reservierte Haltung gegenüber risikobehafteten Mitteln des „Guerillakampfes“ im Allgemeinen sowie dem Sprengstoffanschlag im Speziellen ein.8085 So berichtete Gerald Klöpper von einem „Lernpro­ zess innerhalb des ‚2. Juni‘“8086, der das Paradigma manifestierte, „niemals

8076 8077 8078 8079 8080 8081 8082 8083 8084 8085 8086

Vgl. Peters 2008, S. 289. ID-Verlag 1997, S. 83. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 65; Jander 2008, S. 151-152; Peters 2008, S. 290. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 189. Kröcher/Papenfuß 2017, S. 232. Ähnlich Kröcher 1998. Vgl. Klöpper 1987, S. 63. Vgl. Claessens/de Ahna 1982, S. 154; Wunschik 2006b, S. 548. Vgl. Viett 2007, S. 91. Pfahl-Traughber 2014a, S. 171. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548. Klöpper 1987, S. 63.

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mehr Anschläge“8087 zu wagen, „die es von vorneherein riskierten, dass nach einem Zufallsprinzip […] Menschen zu Tode […] [kommen], die in keinerlei direktem Zusammenhang mit der Aktion“8088 standen – ganz „nach dem Motto: Du schmeißt eine Bombe […] und überlässt es dem Zufall, wer dort gerade langgeht, wenn die Bombe hochgeht.“8089 Wenn­ gleich diese Linie gezielte, lebensbedrohliche Aktionen gegen Personen nicht ausschloss, legte sie das Fundament für eine sich um Zurückhaltung bemühende Variante linksterroristischer Gewalt, die jene der „Roten Ar­ mee Fraktion“ quantitativ unterschreiten sollte. Weitere, im Frühjahr 1972 verübte Anschläge der B2J entsprachen den kürzlich aufgestellten Krite­ rien: Anstelle von Sprengmitteln setzten die Aktivisten Brandsätze ein. Obwohl die Aktion gegen des Landeskriminalamt in Westberlin als Ver­ geltung für den Tod Thomas Weisbeckers konzipiert worden war, blieb menschlicher Schaden aus.8090 Unter den sich im deutschen Linksextremismus formierenden Gegnern des widersprüchlichen Gewaltverständnisses der „Roten Armee Fraktion“ fanden sich früh Aktivisten, welche die ersten Jahre der „Revolutionären Zellen“ begleiten würden. Gänzlich verurteilte Johannes Weinrich das Er­ morden der im „kapitalistischen Repressionsapparat“ beschäftigten Perso­ nen sowie die billigende Inkaufnahme unbeteiligter Opfer. „Diese Art von Militanz war damals noch nicht unsere Art“8091, äußerte er 2005 in einem Interview mit Anne Maria Siemens. Entscheidender als der Angriff auf Menschen war nach seinem Verständnis das Vorgehen gegen Verflechtun­ gen zwischen Westdeutschland und autokratischen Regierungen der Drit­ ten Welt.8092 Anders als Weinrich und die Mitglieder der „Bewegung 2. Ju­ ni“ erachtete Hans-Joachim Klein das mit der „Mai‑Offensive“ der RAF einhergehende willkürliche Verletzen und Töten von „Verantwortlichen“ im – vermeintlich – existierenden imperialistischen Weltgefüge nicht per se als verwerflich. Ausdrücklich begrüßte er den Tod eines US-amerikani­ schen Soldaten während des Bombenanschlags am 11. Mai 1972,8093 war dieser doch – so Klein – „ein hochrangiger Vietnam-Veteran“8094 und

8087 8088 8089 8090 8091 8092 8093 8094

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Wunschik 2006b, S. 548; Korndörfer 2008, S. 248; Pfahl-Traughber 2014a, S. 171. Johannes Weinrich, zit. n. Siemens 2006, S. 273. Vgl. ebd., S. 275. Klein/Libération 1978, S. 279. Klein 1979a, S. 162.

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somit Teilnehmer eines – angeblichen – Vernichtungskrieges gegen die vietnamesische Bevölkerung.8095 Lob sprach er überdies für den Anschlag der RAF auf die US-Streitkräfte in Heidelberg aus.8096 Folglich akzeptierte Klein gleichermaßen die menschlichen Verluste dieser Tat. Seine Meinung zur linksterroristischen Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ deckte sich insofern mit der Auffassung der B2J, als er ein Gefährden von Personen ausschloss, die erkennbar nicht zu den tragenden Figuren kapitalistischen Ausbeutens und Unterdrückens gezählt werden konnten. „Dass es […] [Wolfgang Buddenbergs] Frau erwischte, fand ich […] nicht gut“8097, schrieb er in seiner Autobiographie. Drastischer ließ sich Klein in seinen Erinnerungen zur Aktion aus, die Verletzte und Sachscha­ den im „Springer“-Hochhaus in Hamburg hinterließ. Hätten alle im Ge­ bäude abgelegten Bomben ihre Wirkung entfaltet, so Klein, „wäre wohl […] ein Teil der Belegschaft […] draufgegangen“8098. Aus seiner Sicht hatten „die Arbeiter und Angestellten mit Springer [nichts] zu tun, au­ ßer […] seinen Dreck [zu] drucken“8099. Wer sie zu „Verantwortlichen“ erklärt, könne gleich „anfangen […], alle Autoschlosser in den polizeili­ chen Kfz‑Werkstätten zu bebomben.“8100 Auch die Tötung einzelner hö­ herrangiger Angestellter des „Springer“‑Verlags lehnte Klein nach eigenem Bekunden ab: Diese seien „austauschbar“8101, ihr Tod habe keinen Einfluss auf die Praktiken des Unternehmens. Mit Kritik belegte er darüber hinaus die von der RAF intensivierte Gewalt gegen Polizisten. Denn dieser wohne das Risiko eines „Privatkrieg[s] zwischen den beiden Parteien“8102 inne, welcher das politische Motiv des Linksterrorismus in den Hintergrund drängen könnte. Eigenen Aussagen zufolge sah Klein während der späte­ ren Kontakte zur RAF nicht davon ab, seine Einschätzung zum Ablauf der gegen den „Springer“-Verlag gerichteten Aktion vorzubringen. Als „absurd und naiv“8103 habe er den warnenden Anruf der Ersten Generation im Vorfeld des Anschlags zum Schutz unbeteiligter Dritter beschrieben. Die Gegenpositionen im westdeutschen Linksextremismus zur bisheri­ gen linksterroristischen Gewalt, wie sie sich in den Biographien Weinrichs

8095 8096 8097 8098 8099 8100 8101 8102 8103

Vgl. ebd. Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 72. Klein 1979a, S. 166. Ebd., S. 167. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 166. Ebd.

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und Kleins zeigten, gerieten ab 1973 neben der „Anknüpfungsstrategie“ und dem „Feierabendterrorismus“ zu einem der konstitutiven Merkma­ le des dritten Akteurs der bundesrepublikanischen Stadtguerilla.8104 Die „Revolutionären Zellen“ konsentierten ein Gewaltverständnis, das das Be­ schädigen und Zerstören von „Objekte[n] mit Symbolfunktion“8105 dem gezielten, „Mitleid erregende[n]“8106 Angriff auf Menschen vorzog und grundsätzlich die aus terroristischen Aktionen erwachsenden Gefahren für Personen zu minimieren suchte.8107 „Anschläge und Sabotageakte waren mögliche Mittel, sollten aber stets mit der größten Umsicht angewandt werden, so dass dabei keine Menschen zu Schaden kämen“8108, äußerte Magdalena Kopp zu dem in den ersten Jahren der RZ festgelegten Kodex. Wie die Vorbereitung und der Modus Operandi der vom Netzwerk ab 1973 begangenen Taten zeigten, ergriffen die Aktivisten der „Revolutionä­ ren Zellen“ mehrere Maßnahmen, um das in den Aktionen der RAF und der B2J eingetretene Risiko des versehentlichen Verletzens Unbeteiligter zu vermeiden. Zum einen legten sie Wert auf ein ausgiebiges vorheriges Beobachten ausgewählter Ziele. Ersichtlich wurde dies aus den Erinnerun­ gen ehemaliger Mitglieder: Gerd‑Hinrich Schnepel beteiligte sich dem eigenem Bekunden nach am Auskundschaften privatwirtschaftlicher Ein­ richtungen. Festgestellt werden sollte „die Routine des Personals […], da­ mit ja nicht Hausmeister, Nachtwächter oder Putzfrauen bei einem mög­ lichen Anschlag anwesend sind.“8109 Zum anderen griffen die „Zellen“ vorzugsweise auf „technisch einfache und in ihren Wirkungen begrenz­ te“8110 Brand- und Sprengsätze zurück, die deutlich hinter Autobomben oder vergleichbaren Explosivmitteln zurückblieben.8111 Exemplarisch zu nennen sind die Anschläge im Mai 1974, welche als „Bestrafung“ Peter Sötjes sowie des Geschäftsführers der in Westberlin gelegenen Krone-Wer­ ke entworfen worden waren: In beiden Fällen legten die RZ Feuer an einem Fahrzeug.8112

8104 8105 8106 8107 8108 8109 8110 8111 8112

Vgl. Horchem 1988, S. 82. Backes 1991, S. 88. Ebd. Vgl. Moreau/Lang 1996, S. 346. Kopp 2007, S. 69. Schnepel/Wetzel 2001, S. 108. Neidhardt 1982b, S. 441. Vgl. Siemens 2006, S. 297; Unsichtbare 2022, S. 120. Vgl. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 119-120.

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Auch abseits ihrer terroristischen Kampagnen gelang es den „Revolutio­ nären Zellen“, auf physische wie psychische Gewalt gegen Personen zu verzichten. Ihre Logistik und Aktionsfähigkeit sicherten sie ohne Zuhilfe­ nahme lebensbedrohlicher Handlungen. Ursächlich hierfür waren nicht in erster Linie die internen Vorgaben zum Vermeiden menschlicher Schä­ den, sondern die fehlende „illegale“ Infrastruktur und die Anonymität der RZ-Mitglieder. Anders als die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewe­ gung 2. Juni“ benötigte das Netzwerk nicht große Mengen an Bargeld, die den Unterhalt von konspirativen Wohnungen und im Untergrund lebenden Aktivisten garantierten. Während sich die der Öffentlichkeit bekannten Angehörigen der RAF und B2J kontinuierlich einer polizeili­ chen Fahndung zu entziehen hatten, boten die „Revolutionären Zellen“ kaum Ansatzpunkte für sicherheitsbehördliche Zugriffe. Daher mussten die RZ weder auf das unberechenbare Mittel des Banküberfalls zurückgrei­ fen noch sich drohenden Festnahmen durch den – vor dem Hintergrund dieses Szenarios wohl intern immer wieder diskutierten8113 – Einsatz von Schusswaffen entziehen.8114 Bis zum Jahre 1975 verharrten die Aktivitäten des Netzwerks deutlich unterhalb der Qualität, welche die Gewalt der „Bewegung 2. Juni“, mehr noch die der „Roten Armee Fraktion“ charakte­ risierte. Für diesen Zeitraum existieren keine Berichte, die menschliche Schäden als Folge von Aktivitäten der „Revolutionären Zellen“ ausweisen. Hervorgehoben werden ausschließlich „hohe Sachschäden“8115. Die Inten­ tion der RZ, selbst in Fragen der Gewalt als Korrektiv zu den arrivierten Akteuren des bundesrepublikanischen Linksterrorismus aufzutreten, deck­ te sich mit der Praxis. Als weitgehend konstant erwies sich nach 1972 das Gewaltverständnis der „Bewegung 2. Juni“. Bei Banküberfallen „sollte möglichst kein Schuss fallen“8116, berichtete Gabriele Rollnik. Kunden und Bankangestellte so­ wie Passanten, die sich vor dem Bankgebäude aufhielten, durften unter keinen Umständen verletzt werden.8117 Losgelöst von den Vorgaben zu Banküberfällen übernahmen die Mitglieder der B2J – angeblich – das Paradigma, hinsichtlich der eigenen Gewalt „das richtige Augenmaß [zu] bewahren.“8118 Laut Ralf Reinders sollten „die Verluste auf beiden Seiten

8113 8114 8115 8116 8117 8118

Vgl. Unsichtbare 2022, S. 27. Vgl. Neidhardt 1982b, S. 441. Horchem 1988, S. 82. Rollnik/Dubbe 2007, S. 22. Vgl. ebd., S. 22-23. Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996.

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[…] und […] die Gewaltanwendung so gering wie möglich gehalten“8119 werden. Wären Aktivisten der Gruppe mit Blick auf Polizeikontrollen für einen rücksichtslosen Gebrauch von Schusswaffen eingetreten, so Ronald Fritzsch, hätten sie „keine Schnitte gemacht [sic].“8120 Derartige Prinzipi­ en, welche der Gewalt der „Bewegung 2. Juni“ eine Position zwischen den Polen der von der RAF favorisierten Angriffe gegen Personen und der auf Sachschaden drängenden Strategie der RZ zuwies, ließen indes die Op­ tion lebensgefährlicher Straftaten offen. Denn die B2J diskutierte mehrere Aktionen, die einer in Italien unter dem Begriff der „gambizzazioni“8121 bekannt gewordenen Form des sozialrevolutionären „Kampfes“ glichen: dem Knieschussattentat. Till Meyer zufolge war geplant, Schüsse auf die Beine exponierter Vertreter Westberliner Medien abzufeuern.8122 Aufgege­ ben wurden diese Gedanken zugunsten der später ebenfalls verworfenen Idee, „Heroinhändler zur Strecke [zu] bringen“8123. Dass die „Bewegung 2. Juni“ den Mord zu ihrer Klaviatur des sozialrevo­ lutionären „Kampfes“ zählte, legte sie dem Umfeld 1974 dar. Zunächst rechtfertigte sie das Töten des Linksterroristen Ulrich Schmücker Anfang Juni 1974 durch einen Zirkel, der Verbindungen zur B2J gesucht hatte. Aus ihrer Sicht war er zu einem „instrument des klassenfeindes“8124 gewor­ den. Monate später erschossen Mitglieder der Gruppe Günter von Drenk­ mann, als dieser sich gegen seine Entführung wehrte. Die Todesfälle bar­ gen Nova linksterroristischer Gewalt: Offensichtlich erachteten Teile der „Stadtguerilla“ inzwischen nicht mehr nur lebensbedrohliche Handlungen zulasten der in Wirtschaft und Staat an zentralen Positionen eingesetzten Personen, sondern auch tödliche Folgen für jene als legitim, die ihren lin­ ken „Widerstand“ durch eine Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehör­ den „verrieten“. Gewalt in den eigenen Reihen – das Töten eines Linken durch Linke – galt plötzlich als salonfähig.8125 Ferner spiegelte sich in der Ermordung von Drenkmanns erstmals die Bereitschaft wider, einem unbewaffneten Opfer von Angesicht zu Angesicht gezielt schwersten Scha­ den zuzufügen. Hierin ließ sich eine im Vergleich zu vorangegangenen Anschlägen gänzlich andere Gewaltqualität identifizieren, hatten die Ur­ 8119 Ebd. 8120 Reinders/Fritzsch/Hein u.a. 2003, S. 55. 8121 Holzmeier/Mayer 2008, S. 291. Vgl. auch Schroeder/Deutz-Schroeder 2015, S. 428. 8122 Vgl. Meyer 2008, S. 308. 8123 Ebd. 8124 Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 271. 8125 Vgl. Rabert 1995, S. 188.

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heber linksterroristischer Akte doch bislang den Einsatz von Sprengvor­ richtungen präferiert, die nach Ablauf einer gewählten Zeitspanne ohne Anwesenheit der Täter detonierten. Anders formuliert: Der Brand- oder Sprengsatz hatte die Ausführenden nicht gezwungen, die Folgen ihrer Gewalt unmittelbar mitzuerleben. Die beispiellosen Morde an Schmücker und von Drenkmann brachten die B2J in der breiten Öffentlichkeit sowie im Linksextremismus in Ver­ ruf.8126 Als Antwort auf die nach dem Tod von Drenkmanns laut werden­ de Aussage, der Linksterrorismus bilde eine Gefahr für die Allgemeinheit, verteilte die „Bewegung 2. Juni“ ein Pamphlet zu den Grundzügen ihres Gewaltverständnisses. In unverkennbarer Übereinstimmung mit dem von Horst Mahler während der Haft erarbeiteten Papier „Über den bewaffne­ ten Kampf in Westeuropa“ hieß es, das Vorgehen der „Stadtguerilla“ habe „sich nie gegen das Volk gerichtet“8127 und werde unter keinen Umstän­ den den „Werkzeugmacher, den Gemüsehändler an der Ecke oder die Verkäuferin im KaDeWe […] treffen“8128. Der Linksterrorismus greife die­ jenigen an, „die das Volk ausbeuten, belügen, betrügen und verraten“8129 – Personen also, die „mit unmenschlichen Wohnverhältnissen, mit Ar­ beitshetze, mit einem Ausbildungssystem, das nur ihre eigenen Kinder ausbildet, [oder] mit Gefängnissen“8130 zur Unterdrückung beitragen. Der Text gipfelte in der Zusage, „das Volk hat die ‚Terroristen‘ nicht zu fürch­ ten!“8131 Innerhalb der „Stadtguerilla“ rief die spezifische Gewalt der Morde da­ gegen kein negatives Echo hervor, im Gegenteil: Die Tötung als solche erlangte individuellen wie kollektiven Zuspruch. Zu entnehmen war dies den autobiographischen Schilderungen Karl‑Heinz Dellwos und Hans‑Joa­ chim Kleins sowie einem 1975 verbreiteten Interview der RAF-„Gefan­ genen“ mit dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Ähnlich wie das RAF‑Mitglied Dellwo und die führenden Köpfe der Ersten Generation8132 nahm Klein den Tod von Drenkmanns mit Begeisterung auf.8133 Eigenen Aussagen zufolge hatte Klein bereits zuvor mit seiner drastischen Meinung zur Ermordung Schmückers von sich reden gemacht. „Als das passiert war, 8126 8127 8128 8129 8130 8131 8132 8133

Vgl. ebd.; Korndörfer 2008, S. 249. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 197. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 198. Vgl. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56. Vgl. Klein 1979a, S. 196; Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S.

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gab es bei mir [sic] Riesenhallo.“8134 Wer mit dem Staat zusammenarbeite, so der damals von Klein gegenüber anderen Linksextremisten vertretene Standpunkt, müsse umgebracht werden.8135 Diese Auffassung teilte – an­ geblich – der Initiator der „Revolutionären Zellen“: Laut Klein billigte Wilfried Böse ebenfalls die skrupellose Gewalt gegen Schmücker. Beide gingen sogar so weit, ihre Akzeptanz im Rahmen des Engagements in der „Roten Hilfe“ schriftlich festzuhalten.8136 Während sich die Reaktion Del­ lows nahtlos in das Gewaltverständnis der RAF einfügte, bildeten Kleins und Böses Einschätzungen einen Widerspruch zu der dem Umfeld präsen­ tierten Linie der RZ, „Menschenleben [nicht] zu gefährden“8137. Sie lassen sich retrograd als erste Anzeichen für das ambivalente Gewaltverständnis begreifen, welches die RZ vor allem 1975 und 1976 kennzeichnen sollte. In ihrer öffentlichen Selbstdarstellung bemühte sich die „Rote Armee Fraktion“ Mitte der 1970er Jahre um ein Begrenzen des Schadens, den ihre „Mai-Offensive“ im Jahre 1972 hinterließ. Nachdem die RAF unverhohlen das Töten israelischer Sportler während der Olympiade in München als Ausdruck von „Mut und […] Kraft“8138, ja gar „Menschlichkeit“8139 glori­ fiziert, gemeinsam mit Palästinensern Vorbereitungen für das Entführen einer israelischen Passagiermaschine in den Niederlanden getroffen8140 und damit einmal mehr die Dehnbarkeit ihres auf – vermeintliche – impe­ rialistische Verantwortliche blickenden8141 Gewaltverständnisses unterstri­ chen hatte, schien sie in den darauf folgenden Jahren dem Aspekt der Ver­ mittelbarkeit größeres Gewicht zuzumessen. Wenngleich sie Gewalt wei­ terhin als „einzige produktivkraft“8142, als „einzige Möglichkeit“8143 werte­ te, „auf die’s [sic] ankommt“8144, grenzte sie sich scharf von indifferenten Taten gegen Unbeteiligte ab. Anlässe zum Distanzieren von willkürlichem Personenschaden boten der „Roten Armee Fraktion“ unter anderem Bom­ benexplosionen in den Jahren 1974 und 1975 in den Hauptbahnhöfen Bre­ mens und Hamburgs mit insgesamt 17 teilweise schwer verletzten Passan­

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Klein/Der Spiegel 1978, S. 71. Vgl. ebd.; Klein 1979a, S. 44. Vgl. Klein 1979a, S. 44-45, 195. Kopp 2007, S. 102. ID-Verlag 1997, S. 151. Ebd. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 121. Vgl. Wunschik 1997, S. 162. Bakker Schut 1987, S. 139. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56. Bakker Schut 1987, S. 139.

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ten.8145 Im Januar 1975 erklärten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan‑Carl Raspe gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, Anschläge, wie jener auf den Bremer Hauptbahnhof, nähmen das Volk ins Visier und seien daher „Faschistenaktionen nach dem Muster von CIA-Aktionen“8146. Derartigen Handlungen stellten sie das Vorgehen der „Stadtguerilla“ entgegen, welches sich gegen die „Angehörigen der herrschenden Klasse“8147 wende. Erneut griffen die „politischen Gefangenen“ diese Argumentation im August 1975 während ihres Prozesses auf: Der Linksterrorismus „macht sich die Massen [nicht] zum Objekt“8148, sondern „trägt die Angst in den Apparat.“8149 Da er „immer auf der Seite der Massen“8150 stehe, zielten seine Aktionen „nie gegen das Volk. sie [sic] sind immer Aktionen gegen den imperialistischen Apparat.“8151 Rund einen Monat später – im Sep­ tember 1975 – sprachen die in der JVA Stuttgart‑Stammheim einsitzenden Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ im Anschluss an die Sprengstoffde­ tonation im Hamburger Hauptbahnhof von einer „faschistische[n] Provo­ kation“8152. Ihre vorherige Stellungnahme nahezu wortgleich aufgreifend, äußerten sie: „Die politisch-militärische Aktion der Stadtguerilla richtet sich nie ge­ gen das Volk. Die RAF greift den imperialistischen Apparat, seine mi­ litärischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Institutionen, seine Funktionäre in den repressiven und ideologischen Staatsappara­ ten gezielt an.“8153 Die im Januar, August und September 1975 abgegebenen Zusicherungen zu den Schranken linksterroristischer Gewalt korrespondierten mit einem ebenfalls im Jahre 1975 veröffentlichten Kassiber, den vermutlich Baader Anfang 1974 oder früher verfasst hatte. Darin war die gewaltsame Schlag­ richtung der „Stadtguerilla“ ausschließlich in zwei Bereichen gesehen worden: „a) militär […]; b) multinationals unter us-kontrolle in der brd

8145 8146 8147 8148 8149 8150 8151 8152 8153

Vgl. Radio Bremen 2014; Altenmüller 2015. Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975, S. 56. Ebd. Rote Armee Fraktion 1983, S. 119. Ebd. Ebd. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 196. Ebd.

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[,] banken [,] verwaltung [,] industrieanlagen [,] leitende angestellte“8154. Zu dem Anschlag auf das „Springer“-Hochhaus im Jahre 1972, welcher erkennbar im Widerspruch zu solchen Grenzziehungen der Gruppe stand, sagte Brigitte Mohnhaupt Mitte 1976 vor Gericht aus, dieser wäre inner­ halb der „Roten Armee Fraktion“ mit „starke[r] kritik“8155 belegt worden, „weil die raf grundsätzlich nie aktionen mit der implikation konzipiert hat, dass dabei zivilisten getroffen werden könnten.“8156 Dies „war ein wesentlicher grundsatz in allen diskussionen“8157. Tatsächlich hielten sich die „Illegalen“ der RAF zunächst an die Grund­ sätze des Gewaltverständnisses, das die Inhaftierten in ihren Papieren fixierten. Die erste Aktion nach der „Mai-Offensive“ traf staatliche Funk­ tionsträger. In Stockholm überfiel ein „Kommando“ die Deutsche Bot­ schaft. Dabei setzten die Angreifer eine Tendenz fort, welche sich in dem skrupellosen Ermorden Günter von Drenkmanns erstmals materialisiert hatte und „in den folgenden Jahren zu einem traurigen Standard“8158 avancieren sollte: das Brutalisieren linksterroristischer Gewalt zugunsten des „Widerstands“ der „politischen Gefangenen“. Wie die Mörder von Drenkmanns erschossen die Stockholmer Botschaftsbesetzer ihre Opfer „auf grausame Weise“8159 aus nächster Nähe. Hierbei übertrafen sie inso­ fern die in ihren Eigenheiten beachtliche Gewaltqualität der „Bewegung 2. Juni“, als sie die Legitimität ihrer Taten nicht aus der spezifischen, im imperialistischen System eingenommenen persönlichen Verantwortung der getöteten Regierungsangehörigen bezogen. Die Täter sahen den Wert der Botschaftsmitarbeiter in ihrer bloßen Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst. Dergestalt zur Verhandlungsmasse degradiert, waren sie beliebig austauschbar. Im Angriff auf die Auslandsvertretung traten somit Züge einer willkürlichen Opferwahl hervor, welche die „Rote Armee Fraktion“ mit Blick auf Anschläge gegen Zivilisten entschieden von sich zu wei­ sen wusste. Zutreffend schrieb Karl‑Heinz Dellwo – einer der Botschafts­ besetzer – rückblickend von „eine[r] völlige[n] Verdinglichung des Men­ schen“8160. Die Dimension linksterroristischer Gewalt, die die Geiselnahme in Stockholm annahm, bildete einen starken Kontrast zu der kurz zuvor 8154 8155 8156 8157 8158 8159 8160

Bundesministerium des Innern 1975, S. 68. Rote Armee Fraktion 1983, S. 213. Ebd. Ebd. Taufer 2018, S. 116. Ebd., S. 101. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 12.

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beendeten Entführung Peter Lorenz‘. Nach den im Umfeld missbilligten Taten des Jahres 1974 besann sich die „Bewegung 2. Juni“ augenscheinlich auf ihre ursprüngliche Prämisse, um der Vermittelbarkeit willen „das rich­ tige Augenmaß“8161 anzunehmen. Die Rückkehr zu alten Idealen gelang ihr nicht auf Anhieb: Als sie in Erwägung zog, einen Staatsbediensteten der Sowjetunion zu entführen, offenbarte sie nochmals ein Gewaltver­ ständnis, das vor dem eigenen ideologischen Lager nicht Halt machte. Die RAF veranlasste dies zum Abbruch einer weiteren Zusammenarbeit mit der „Bewegung 2. Juni“. Zudem drohte sie, der B2J den Nahen Osten als Rückzugsraum über die existierenden Verbindungen zu palästinensischen Terroristen zu versperren.8162 Um Umsicht bemühtes Handeln stellte sich erst in den sich anschließenden Überlegungen ein: Im Laufe der Planun­ gen, die der Freiheitsberaubung vorangingen, befassten sich die Aktivisten eingehend mit der Frage, wie sie Lorenz‘ Fahrer überwältigen sollten, oh­ ne ihn dabei zu töten. Um ihre Erfolgsaussichten nicht bereits zu Beginn der Aktion drastisch zu schmälern, wollten sie „einen Schusswechsel auf jeden Fall vermeiden“8163. Als Folge langer Diskussionen hätten sie sich schließlich darauf verständigt, den Fahrer mit einer Eisenstange bewusstlos zu schlagen.8164 Ausführen sollte dies ein Mitglied der Gruppe, dem die übrigen Aktivisten aufgrund seiner Erfahrungen im Boxsport zutrauten, die erforderliche Kraft „sehr gut [zu] dosieren.“8165 Tatsächlich konnte die „Bewegung 2. Juni“ Peter Lorenz ohne lebensgefährliches Verletzen seines Fahrers entführen.8166 Lorenz selbst war im „Volksgefängnis“ der B2J nicht Ziel von Misshandlungen: Bewusst verzichteten die Entführer darauf, „brutale Methoden an[zu]wenden“8167. Mit zunehmender Dauer der Freiheitsberaubung ergaben sich – angeblich – Zweifel an der Absicht, Lorenz zu ermorden, sofern die intendierte „Gefangenenbefreiung“ aus­ blieb: „Wir hatten den unten im Keller, alle haben sich den angeguckt und dann ging es übereinstimmend rum: Wer soll den denn umlegen,

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Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. Vgl. Neidhardt 1982a, S. 358; Wunschik 1997, S. 176, 385. Reinders/Fritzsch 2003, S. 75. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Dietrich 2009, S. 92-93. Reinders/Fritzsch 2003, S. 81.

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wenn der ganze Plan nicht klappt? Alle haben das gesagt. War gar kein Schwein mehr. Eher naiv.“8168 Da die Entführung weder an einem polizeilichen Eingriff noch an einer unnachgiebigen Haltung der Bundesregierung scheiterte, geriet die „Bewe­ gung 2. Juni“ – anders als später die Stockholmer Botschaftsbesetzer – nicht in eine ausweglose Situation, die rasch in tödlicher Gewalt hätte münden können. Begünstigt wurde das nunmehr entstehende Bild des umsichtigen Linksterrorismus durch öffentliche Aussagen Peter Lorenz‘. Der CDU-Politiker äußerte in einer Pressekonferenz, die Mitglieder der Gruppe „haben sich – wenn man die allgemeinen Umstände dieser Art in Betracht zieht – mir gegenüber korrekt verhalten.“8169 Er sei „nicht in besonderer Weise schikaniert oder drangsaliert“8170 worden. Nachdem es der „Bewegung 2. Juni“ gelungen war, glaubhaft an ihr ursprüngliches Gewaltverständnis anzuknüpfen und der im Umfeld gras­ sierenden Kritik an rücksichtsloser Gewalt des deutschen Linksterrorismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, wartete die „Rote Armee Fraktion“ mit dem gezielten Töten von Beamten und dem Beschädigen der Deut­ schen Botschaft in Stockholm durch versehentlich ausgelöste Sprengsätze auf. Wie schon 1972, als die B2J die Lehren aus dem Tod des Bootsbau­ ers Erwin Beelitz als Grundlage für ein Ablehnen gleichgelagerter Fehler der RAF während der „Mai-Offensive“ herangezogen hatte, nahm sie die Aktion in Schweden eingedenk unmittelbar zuvor gesammelter Erfahrun­ gen mit Unverständnis wahr. Nicht die von den Stockholmer Botschafts­ besetzern angewandte Gewalt als solche, sondern die Wirkung, die sie zu erzeugen vermochte, versetzte die Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ in Rage. Nach Auffassung der B2J produzierte sie lediglich „schreckliche Bilder, die in alle [sic] deutschen Wohnstuben flimmerten“8171. Im Sym­ pathisantenumfeld könnte eine „öffentliche Hinrichtung“8172, welche die „Rote Armee Fraktion“ im Falle des Botschaftsangehörigen Heinz Hille­ gaart vollstreckt hatte, überdies die politische Weltanschauung der Täter diskreditieren, sei sie doch „weltweit das Synonym für faschistische Bru­ talität.“8173 Aufgrund derartiger Aspekte lehnte die B2J die „brutale […]

8168 8169 8170 8171 8172 8173

Ebd. Peter Lorenz, zit. n. ebd., S. 98. Peter Lorenz, zit. n. ebd. Meyer 2008, S. 58. Ebd. Ebd.

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Aktion“8174 der Zweiten Generation grundsätzlich ab. Hierzu „herrschte Konsens in der Gruppe“8175, so Meyer. Folglich geriet ein differentes Ge­ waltverständnis im Jahre 1975 abermals zum belastenden Faktor im Ver­ hältnis zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Ju­ ni“. Ablesen ließ sich dies auch anhand der Erklärung, welche die B2J nach dem Tod Werner Saubers während eines Schusswechsels mit Polizeibeam­ ten an die Öffentlichkeit adressierte: Offenkundig grenzte sich die Gruppe von der RAF ab, als sie zu verstehen gab, „die Polizei [ist] nicht unser Hauptfeind“8176. Ihre Mitglieder „gehen den Polizisten aus dem Weg“8177, sei es doch nicht ihre Absicht, diese „zu töten.“8178 Gewalt gegen die Poli­ zei setze die „Bewegung 2. Juni“ nur ein, wenn ihre Strukturen „angegrif­ fen werden“8179. 9.4.3 Doppelte Standards Ungleich besser als der „Bewegung 2. Juni“ gelang es den „Revolutionären Zellen“ bis Ende 1975, sich – unter anderem – über ihr Gewaltverständnis als Korrektiv zur „Roten Armee Fraktion“ aufzubauen. Ebenso wie in der Beziehung zwischen RAF und B2J geriet dies zu einem belastenden Faktor im Verhältnis beider Akteure: Missbilligend nahm die „Rote Ar­ mee Fraktion“ die RZ als „Sachschaden‑Fraktion“8180, als Verantwortliche eines „Sachschadenprogramms“8181 wahr, „die nichts mit dem militanten Kampf zu tun haben“8182 und insofern „nicht die Nestwärme aufs Spiel setzen“8183 wollte – dies, obwohl sich in der Propaganda der „Zellen“ zwischenzeitlich Indizien für eine erhebliche Sympathie zugunsten terro­ ristischer Gewalt gegen Personen mehrten. Die von den Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ ob der Aktionen der „Revolutionären Zellen“ emp­ fundene Freude8184 spiegelten die RZ, indem sie dem Ermorden Günter

8174 8175 8176 8177 8178 8179 8180 8181 8182 8183 8184

Ebd. Ebd. Bewegung 2. Juni, Band 1, S. 373. Ebd. Ebd. Ebd. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 200. Vgl. auch Aust 2020, S. 435. Boock 1990, S. 144. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 200. Boock 1990, S. 144. Vgl. Meyer 2008, S. 316.

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von Drenkmanns öffentlich eine positive Funktion zuschrieben. So hob ein namentlich nicht bekanntes Mitglied der „Revolutionären Zellen“ in einem im Mai 1975 abgedruckten Interview hervor, infolge der Tat werde „eine Polarisierung innerhalb der Linken beschleunigt“8185. Es sei nunmehr „schneller und klarer zu sehen […], wer hat einen revolutionä­ ren Anspruch und wer ist schon längst auf dem reformistischen Dampfer abgefahren.“8186 Die „Mai‑Offensive“ der RAF betrachteten die „Revolutio­ nären Zellen“ in ihren ersten Grundsatzpapieren von 1975 als historischen Meilenstein der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“. „Wir haben da­ ran nichts zu kritisieren, außer, was sie [die Aktivisten der RAF] selbst schon kritisiert haben“8187, schilderte das genannte RZ-Mitglied. Während den „Revolutionären Zellen“ der jüngste Angriff der „Roten Armee Frak­ tion“ – der Überfall auf die Deutsche Botschaft in Stockholm – intern als „Wahnsinn“8188 galt, stellten sie ihn gegenüber dem eigenen Umfeld als eine unter den gegenwärtigen Bedingungen „richtige Aktion“8189 dar, welche sich lediglich nach taktischen Gesichtspunkten bemängeln ließe: Nach Auffassung der RZ war der Überfall gescheitert, da „nur deutsche Beamte, nur ‚kleine Lichter‘“8190 als Geiseln genommen wurden „und alles […] sich im Ausland, nicht im direkten Verantwortungsbereich der BRDRegierung ab[spielte]“8191. Damit habe es die „Rote Armee Fraktion“ dem deutschen Staat leicht gemacht, den Forderungen der Botschaftsbesetzer nicht nachzukommen.8192 Mehr noch als in den Reaktionen der B2J auf die Aktion in Stockholm offenbarte sich in derartigen Zeilen eine opportunistische Linie, welche die Notwendigkeit schwerer Gewalttaten mit Personenschaden befürwor­ tete, indes ihr Überführen in den linksterroristischen Alltag aus Furcht vor einem Reputationsverlust unterließ. Dass die Kommentare zur „Roten Ar­ mee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ nicht bloß als Worthülsen des medienwirksamen Beibehaltens einer „Basissolidarität“ der bundesrepubli­ kanischen „Stadtguerilla“ dienten, sondern einer genuinen Überzeugung von der Legitimität jeglicher Instrumente des sozialrevolutionären „Wider­

8185 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 105. 8186 Ebd. 8187 Ebd., S. 103. 8188 Klein 1979a, S. 51. 8189 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 85. 8190 Ebd. 8191 Ebd. 8192 Vgl. ebd.

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stands“ entsprangen, legten andere Passagen aus der 1975 geleisteten pro­ pagandistischen Arbeit der RZ nahe. Ihre Zusage, nie würden sich „ihre Aktionen […] gegen das Volk richten“8193, schloss Gewalt gegen Angehöri­ ge der „andere[n] Seite“8194 – des Staates und der Wirtschaft – nicht aus. In dem bereits zitierten Interview mit einem Aktivisten der „Revolutionären Zellen“ hieß es, „eine Guerilla [,] praktiziert von Massen“8195, müsse ihre Gegner ebenbürtig bekämpfen. Selbstredend dürfe sie „mit Revolvern und Bomben und Erpressung und Entführung arbeiten“8196. Auf den Vorwurf der deutschen Linken angesprochen, „durch den Angriff auf Institutionen und Personen“8197 werde „kein [nachhaltiger] Beitrag geleistet […] zu den Klassenkämpfen“8198, äußerte das befragte RZ-Mitglied an anderer Stelle, „mit welchen Mitteln und Möglichkeiten man interveniert“8199, sei abhängig vom aktuellen Zustand des „Kampfes“ sowie von der eigenen Bewertung, welche zu diesem Zustand eingenommen werde. Und weiter: „Natürlich sind Personen [des Staats- und Wirtschaftsapparates] ersetzbar, aber die [durch Angriffe auf Individuen entstehende] Unruhe ist so ein­ fach nicht wieder aufzuheben.“8200 Schließlich beanspruchte der Aktivist der RZ mit Blick auf das Revolutionsmodell des Netzwerks „alle Formen des Kampfes in der jeweiligen richtigen Situation […] – von der Sabotage im Betrieb bis zur Enteignung und Entführung“8201. Ganz im Sinne dieses dehnbaren Gewaltverständnisses gelangten die „Revolutionären Zellen“ Mitte der 1970er Jahre in ihrem Handeln zuse­ hends zu doppelten Standards, welche ob ihrer Paradoxie ein zwangsläufig explosives Spannungsverhältnis zwischen der nationalen Strömung und dem internationalistischen Teil der RZ konstituierten. Bot Westdeutsch­ land als Aktionsraum nicht die „richtige Situation“ für eine über Sachschä­ den hinausgehende Praxis, präsentierte sich der „bewaffnete Kampf“ im Ausland als zwangloses Betätigungsfeld. Denn hier war linksterroristisches Gebaren dem gefürchteten Argusauge der bundesrepublikanischen „Mas­ sen“ entzogen: Da sich diese nach Auffassung der internationalistischen „Revolutionären Zelle“ für Geschehnisse im Ausland „vorläufig […] nicht

8193 8194 8195 8196 8197 8198 8199 8200 8201

Ebd., S. 134. Ebd., S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 105. Ebd., S. 109. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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interessieren“8202, konnten außerhalb der Grenzen Deutschlands nicht dieselben Kontrollmechanismen zum Tragen kommen, wie sie die von den RZ im Inland forcierte Interdependenz zwischen Linksextremismus und sympathisierendem Umfeld prägte. Mit dieser Argumentation stellten sich die „Revolutionären Zellen“ selbst einen Freifahrtschein für ein im Internationalismus angesiedeltes Vorgehen aus, das laut der Schilderungen des RZ‑Mitglieds Hermann Feiling keinerlei Rücksichtnahme auf mensch­ liches Leben verschrieben war8203 und somit in einen eklatanten Wider­ spruch zum nationalen Gewaltbegriff des Netzwerks geriet. Die bis 1976 eintretenden Folgen dieser Strategie nach zweierlei Maß ergaben ein ein­ deutiges Bild: „Waren im Inland […] nur Objekte, die mit einer gewissen Symbolik behaftet waren, Ziel der Anschläge, waren bei Aktionen im Ausland immer Personen das Ziel.“8204 Nach Aussagen Hans-Joachim Kleins konzentrierte sich die internatio­ nalistische „Zelle“ um Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann früh auf Erwägungen, welche im Falle des Ausführens mitunter in einem „entsetz­ liche[n] Blutbad“ 8205 gemündet hätten. So soll Klein für Pläne der interna­ tionalen Strömung gewonnen worden sein, die eine Geiselnahme in der Auslandsvertretung eines nicht näher bestimmten Staates sowie bei Nicht­ erfüllen der Forderungen schwere Bombenanschläge auf differente, von Menschen frequentierte Objekte vorsahen. Später beteiligte sich Klein am Ausspähen des Botschafters der Vereinigten Arabischen Emirate in Groß­ britannien, um dessen Entführung zu ermöglichen.8206 Im Gegensatz zu Klein, der bereitwillig das Mitwirken an nationalen Vorhaben der „Revo­ lutionären Zellen“ für eine Verwicklung in die internationalistischen Be­ strebungen des Netzwerks aufgab, versperrten sich andere Mitglieder der in Westdeutschland wirkenden „Zellen“ mit Verweis auf das im Ausland eingenommene Gewaltverständnis (zunächst) einer aktiven Einbindung. Exemplarisch zu nennen ist Magdalena Kopp, die sich erst nach dem Tod Böses und Kuhlmanns an der Seite Johannes Weinrichs weitreichend in den internationalen Terrorismus verstrickte. Zwar sei sie 1975 grundsätz­ lich mit dem auf die Situation der Palästinenser fixierten Internationalis­ mus einverstanden gewesen.8207 „An einer Aktion, bei der Menschen zu

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Ebd., S. 113. Vgl. Kahl 1986, S. 110. Wörle 2008b, S. 264. Klein 1979a, S. 48. Vgl. ebd., S. 48-50. Vgl. Kopp 2007, S. 77.

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Schaden kämen, konnte und wollte […] [sie aber] aus moralischen Grün­ den nicht teilnehmen.“8208 Bekanntheit erlangte der internationalistische Flügel durch seine Teil­ nahme an drei Aktionen, welche die Gewalt des deutschen Linksterroris­ mus auf eine neue Stufe hoben und folglich die ab Anfang der 1970er Jahre einsetzende Eskalation des „bewaffneten Kampfes“ fortführten. Dies gilt weniger für den mit der Stockholmer Botschaftsbesetzung vergleich­ baren Überfall auf die Konferenz der erdölexportierenden Staaten Ende 1975 in Wien als für den versuchten Abschluss einer Passagiermaschine am Flughafen Paris-Orly sowie das Entführen eines Flugzeugs der „Air France“ nach Entebbe. Wenngleich die „Revolutionären Zellen“ in Orly nicht selbst Panzerabwehrgranaten abfeuerten, nahmen sie durch das Unterstüt­ zen der Täter das schwerwiegende Beschädigen einer vollbesetzten Boeing des israelischen Luftfahrtunternehmens „El Al“ sowie ein daraus resultie­ rendes Töten Unbeteiligter in Kauf. Da die Maschine beim Abschuss der zweiten Granate auf der Startbahn beschleunigte, hätte ein Treffer Desas­ tröses bewirken können. Die passive Rolle in Orly kehrte sich über die Geiselnahme in Wien mit drei Toten in eine aktive Verantwortung wäh­ rend der gewaltsamen Inbesitznahme einer Passagiermaschine Mitte 1976 um.8209 Sowohl der Anschlag in Orly als auch das Entführen eines Flugzeugs der „Air France“ bildeten insoweit ein Novum, als sie einem vollkommen indifferenten Terrorismus den Vorzug gaben, dessen Opferauswahl nicht nach qualitativen, sondern gänzlich nach rein quantitativen Merkmalen erfolgte. Wichtig war – anders als in Wien – nicht die spezifische politische oder wirtschaftliche Stellung angegriffener Individuen. Vielmehr stand der Wunsch im Vordergrund, sich nach Vorbild der Willkür bewusst gegen eine möglichst große Zahl an zufällig am selben Ort anwesenden Men­ schen zu richten. Einem solchen Terrorismus konnte potentiell jeder zum Opfer fallen – darunter sämtliche Teile der „Massen“, deren „Befreiung“ die RZ in der Bundesrepublik als Monstranz vor sich hertrugen. Hierin übertrafen die Taten in Orly und Entebbe den Angriff auf die Deutsche Botschaft in Stockholm, hatte dieser doch Zeugnis abgelegt von einer beliebigen Austauschbarkeit des Ziels, welche ausschließlich mit Blick auf das eng definierte Feld des öffentlichen Dienstes gewollt war. Eine weitere, mit ihnen einhergehende Neuerung in der Gewaltbereitschaft des deut­ schen Linksterrorismus resultierte aus dem offenkundigen Befürworten 8208 Ebd. 8209 Vgl. Kraushaar 2006c, S. 583; Wörle 2008b, S. 265.

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von Aktionsmitteln, die sich die Strukturen der vulnerablen Luftfahrt zu Nutze machten. Besonders perfide boten sich diese von palästinensischen Gruppen zur Perfektion gebrachten Methoden dar, weil sie ihren Opfern keine Möglichkeit zu einer selbstständigen Flucht ließen. Im Flugzeug dicht gedrängt, blieben sie dem Geschick oder Gutdünken der Angreifer ausgesetzt. Bislang hatte keine andere Gruppe der westdeutschen „Stadt­ guerilla“ Angriffe auf Passagiermaschinen tatsächlich in die eigene Praxis integriert. Den als „Gruppe 4.2.“ betitelten Nachfolgern der Gründergene­ ration der „Roten Armee Fraktion“ waren derartige Angriffe zwar laut Margrit Schiller nicht fremd – deren Legitimität sollten sie erst später in Zweifel ziehen, „weil […] von vornherein viele Menschen in Lebensgefahr gebracht werden, die mit dem Kampf nichts zu tun haben.“8210 Die für das Jahr 1973 beschriebene Involvierung der „Gruppe 4.2.“ in eine Aktion gegen die Luftfahrt ging aber im Unterschied zu den „Revolutionären Zellen“ nie über das Stadium des Planens und Vorbereitens hinaus.8211 Vor allem die im ugandischen Entebbe beendete Flugzeugentführung löste Schockwellen im linken Spektrum Westdeutschlands aus. Überschrit­ ten worden war für einen Großteil der bundesrepublikanischen „Stadtgue­ rilla“ eine rote Linie. Lange vor Entebbe hatte sich die „Bewegung 2. Juni“ mit der Frage befasst, ob sie sich – analog den Palästinensern – Geiselnah­ men an Bord von Passagiermaschinen bedienen sollte. Die Antwort hierzu fiel deutlich aus: Flugzeugentführungen rechnete die um „Volksnähe“ be­ mühte B2J zu jenen Aktionen, die sie „niemals gemacht“8212 hätte. Das Entführen „von unbeteiligten Dritten“8213 empfand sie als „konterrevolu­ tionär“8214: „Wir greifen nicht die Leute an, die wir agitieren wollen“8215, so Ronald Fritzsch und Ralf Reinders zu den Schlüssen, welche die „Be­ wegung 2. Juni“ aus ihrer internen Debatte zog. Auch innerhalb der in Westdeutschland agierenden „Revolutionären Zellen“ konnte sich „[k]ein Mitglied […] vorstellen, ein Flugzeug zu entführen“8216. Nicht verwun­ dern konnte daher die Reaktanz, die dem in Entebbe vorgeführten Gewalt­ verständnis innerhalb der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ folgte. Ralf Reinders rekapitulierte 1996 in einer Podiumsdiskussi­

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Schiller/Mecklenburg 2000, S. 122. Vgl. ebd., S. 121-123. Meyer 2008, S. 58. Reinders/Fritzsch 2003, S. 67. Ebd. Ebd. Kopp 2007, S. 76.

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on, wie die damals weitgehend in Haft befindlichen Mitglieder der B2J auf die Nachricht von der Geiselnahme in Entebbe reagierten: „Ich stand […] mit auf der Liste der zu befreienden Gefangenen. Für viele, die es vielleicht nicht wissen: Es war eine Aktion palästinensi­ scher Genossen und Genossinnen; an der Aktion waren eine Frau und ein Mann aus der RZ beteiligt. Für uns, den größten Teil der Gefange­ nen, haben wir Flugzeugentführungen, Aktionen gegen Unbeteiligte abgelehnt. Es kann und darf nicht sein, dass sich die Leute, mit denen wir irgendwann die Befreiung anstreben, dass die sich von uns bedroht fühlen.“8217 Bekanntermaßen sprach sich auch die „Rote Armee Fraktion“ gegen die Flugzeugentführung von Wilfried Böse, Brigitte Kuhlmann und der Pa­ lästinenser aus. Zurückführen ließ sich dies indes nicht auf die mit ihr verbundene Entblößung, welche das in der Vergangenheit mehrfach wie­ derholte Zusichern eines Gewaltverzichts gegenüber den „Massen“ als Lippenbekenntnis freilegte. Empörung verbreitete sich in der RAF allein aufgrund des gegen Israel gerichteten Zieles der Aktion – nicht aufgrund des Gefährdens Unbeteiligter. Stefan Wisniewski zufolge konnte der ableh­ nenden Haltung der in der JVA Stuttgart-Stammheim einsitzenden „poli­ tischen Gefangenen“ zur Geiselnahme in Entebbe die Andeutung entnom­ men werden, „dass es anders bewertet werden muss, wenn ein deutsches Flugzeug entführt wird.“8218 Die Angaben zu dieser taktischen Positionie­ rung der „Gefangenen“, welcher eine affirmative Stellung zu Flugzeugent­ führungen innewohnte, erscheinen zumindest in Teilen glaubwürdig an­ gesichts der Erinnerungen Margrit Schillers zu den Vorhaben der „Gruppe 4.2.“: Ob der Einflussnahme der Inhaftierten der RAF auf die „Illegalen“ der Zweiten Generation kaum vorstellbar ist die Annahme, die Gründer der „Roten Armee Fraktion“ hätten den Überfall auf ein israelisches Flug­ zeug in den Niederlanden mit dem Ziel ihres Befreiens durch ein gemisch­ tes „Kommando“ aus Aktivisten der „Gruppe 4.2.“ und palästinensischen Terroristen nicht zumindest billigend zur Kenntnis genommen. Zu erstaunen vermochte die schroffe Kritik, welche die in Westdeutsch­ land inhaftierten Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ an dem Gewaltver­ ständnis der internationalistischen „Revolutionären Zelle“ übten. Schließ­ lich gerieten ihre nach den Verhaftungen des Jahres 1975 in der Illegalität verbleibenden Aktivisten im Nachgang zur Lorenz-Entführung ebenfalls 8217 Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996. 8218 Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 46.

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in die Abhängigkeit der PFLP‑SOG. Ähnlich den Mitgliedern der inter­ national agierenden RZ nahmen sie ein Auflösen des Kodexes in Kauf, den die B2J im Wege ihrer Aktivitäten in der Bundesrepublik einhellig akzeptiert hatte. Allerdings schädigte dies nicht ihre Beziehungen zu den anderen Akteuren der westdeutschen „Stadtguerilla“: Die entsprechenden Handlungen blieben – anders als die Vorbereitungen der internationalisti­ schen „Revolutionären Zelle“ im Jahre 1976 – ohne Konsequenzen und waren daher der Aufmerksamkeit des Umfelds entzogen. Auch nach ihrem Bekanntwerden durch Aussagen Hans‑Joachim Kleins Ende der 1970er Jahre spielten sie in den Beziehungen unter den Gruppen der „Stadtgueril­ la“ keine Rolle. Während sich das Beteiligen Gabriele Kröcher-Tiedemanns an der Geiselnahme im Dezember 1975 in Wien – einer Tat, die im Gegensatz zur Botschaftsbesetzung in Stockholm nicht im Hinrichten von Geiseln kulminierte – in das Gewaltverständnis der B2J einzufügen vermochte, ließ sich dies für andere Handlungen nicht konstatieren. Ver­ wiesen sei an dieser Stelle zum einen auf die von Hans-Joachim Klein ge­ schilderte Bereitschaft der im Nahen Osten untergekommenen Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“, im Auftrag der PFLP‑SOG eine Bombe an Bord einer Passagiermaschine der „Japan Airlines“ zu platzieren. Der Sprengsatz war in der Absicht konstruiert worden, das Flugzeug während des Fluges zum Absturz zu bringen, will heißen: Größtmöglicher Schaden unter Un­ beteiligten sollte herbeigeführt werden. Der verlustreiche Anschlag schei­ terte nicht an moralischen Skrupeln, sondern an einer banalen Hürde. Ein überfüllter Gepäckraum hinderte die B2J daran, die Bombe in einem ausgewählten Flugzeug der „Japan Airlines“ unterzubringen.8219 Anzufüh­ ren ist zum anderen Till Meyers Autobiographie, derzufolge „Illegale“ der „Bewegung 2. Juni“ sich im Laufe der Flugzeugentführung der inter­ nationalistischen RZ auf dem Flughafen in Entebbe aufhielten.8220 Laut Karl-Heinz Dellwo hatte sich die B2J in diesem Zeitraum selbst darauf vor­ bereitet, eine Passagiermaschine gewaltsam in ihren Besitz zu bringen.8221 Wer Meyer und Dellwo folgt, wird der an der Seite der Palästinenser agie­ renden B2J einen immer stärkeren Hang zu einer Aktionsform attestieren, die sie in Deutschland als „konterrevolutionär“ brandmarkte. Das Mitte der 1970er Jahre feststellbare ambivalente Gewaltverständnis der „Revolutionären Zellen“ und der „Bewegung 2. Juni“ fand sich in

8219 Vgl. Klein/Der Spiegel 1978, S. 71; Klein/Libération 1978, S. 293-294; Klein 1979a, S. 79, 199-200. 8220 Vgl. Meyer 2008, S. 74. 8221 Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 142-143.

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nahezu identischer Form bei der „Roten Armee Fraktion“. Hierfür sprach nicht nur die Stellungnahme der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Gründer zur Flugzeugentführung nach Entebbe. Gleichermaßen ersicht­ lich wurde dies in der gegenüber der PFLP‑SOG geleisteten Zusage, nach dem faktischen Scheitern der B2J nochmals den Versuch zu wagen, eine Sprengvorrichtung auf einer Maschine der „Japan Airlines“ zu verstauen. Tatsächlich schuf die RAF nach Aussagen von Hans-Joachim Klein die Voraussetzungen für das schlussendlich am Eingreifen einer Flugbegleite­ rin gescheiterte wahllose Töten zahlreicher unbeteiligter Dritter: Sie stellte die Bombe in einem Flugzeug ab.8222 Darüber hinaus soll sie 1976 gemein­ sam mit der B2J im Nahen Osten an einem Training mitgewirkt haben, welches dem Entführen eines Flugzeugs dienen sollte.8223 In Westdeutsch­ land dagegen beharrten Mitglieder der Ersten Generation propagandis­ tisch, die Nachfolger in internen Debatten auf den Fundamenten, die bereits in der Vergangenheit den Gewaltbegriff der „Roten Armee Frak­ tion“ getragen hatten. Weiterhin sah die RAF den Banküberfall sowie das mit ihm einhergehende psychische wie physische Bedrohen von Per­ sonen als geeignetes Mittel.8224 Laut Peter‑Jürgen Boock stand es jedem Mitglied der Gruppe grundsätzlich frei, zur Waffe zu greifen. Jedoch war die Empfehlung ausgesprochen worden, Kollateralschäden des „bewaffne­ ten Kampfes“ zu umgehen, wie sie bei Zusammentreffen mit Polizeibeam­ ten erwachsen konnten. Von der Schusswaffe sollte nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn andere Optionen nicht zur Verfügung standen. Die Abgabe tödlicher Schüsse musste unbedingt vermieden werden,8225 so zum Beispiel durch den Einsatz der Waffe gegen die Füße eines Opfers.8226 Angehörige von Staat und Wirtschaft sowie deren Mitarbeiter mussten demgegenüber fürchten, durch ein Attentat oder einen Bombenanschlag der Gruppe ermordet zu werden. Ausgehend von diesem Credo erreichte die Zweite Generation der RAF bis Herbst 1977 in der Praxis ein Gewaltniveau, das der Brutalität vorangegangener Aktionen der westdeutschen „Stadtguerilla“ weitgehend glich. Unmittelbar nach einem Banküberfall Ende 1976 in Wien schoss Waltraud Boock auf Polizeibeamte, um der drohenden Festnahme zu

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Vgl. Klein 1979a, S. 199-200. Vgl. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 142-143. Vgl. Peters 2008, S. 372-373. Vgl. Wunschik 1997, S. 193. Vgl. Boock 1990, S. 142.

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entkommen.8227 Christian Klar verletzte Anfang 1977 einen Polizisten schwer, als er versuchte, ein Fahrzeug zu stehlen. Im Mai 1977 zog sich ein weiterer Polizeibeamter schwere Verletzungen im Zuge der Verhaftung Günter Sonnenbergs und Verena Beckers zu.8228 Am 7. April 1977 feuerte ein Mitglied der RAF mit einem Sturmgewehr aus nächster Nähe Schüsse auf Siegfried Buback ab. Ganz im Sinne der von Margrit Schiller bezeug­ ten Auffassung der Ersten Generation, die Gewalt gegen „Bewacher“ im Rahmen eines Attentats als legitim auswies,8229 tötete die „Rote Armee Fraktion“ neben Buback seinen Fahrer. Ein weiterer Begleiter erlag später seinen Verletzungen.8230 In einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht schossen Mitglieder der Gruppe mehrfach auf Kopf und Oberkörper Jür­ gen Pontos.8231 Mit beiden Morden setzte die Zweite Generation eine von der „Bewegung 2. Juni“ im Anschlag auf Günter von Drenkmann begründete Linie fort, die vor schwerster physischer Gewalt in der direk­ ten Konfrontation mit dem Opfer nicht zurückschreckte. Eine weitere Ähnlichkeit zu dem Gewaltniveau der vergangenen Jahre zeigte sich im versuchten Angriff auf das Gebäude des Generalbundesanwalts im August 1977: Durch den Einsatz eines Raketenwerfers sollten wahllos Angehörige des öffentlichen Dienstes verletzt und getötet werden.8232 Während der Entführung Hanns Martin Schleyers wenig später erschossen Aktivisten der „Roten Armee Fraktion“ die als Begleitschutz zugeteilten Polizeibeam­ ten. Einen der Beamten trafen dabei rund 20 Schüsse.8233 Obgleich sich die Gruppe zuvor darauf verständigt haben soll, Schleyers Fahrer nicht zu töten, überlebte dieser den Überfall ebenfalls nicht.8234 Mitte September 1977 verletzten RAF-Mitglieder zwei niederländische Polizeibeamte durch den Gebrauch ihrer Waffe schwer, einen weiteren töteten sie.8235 Im Oktober 1977 brach die Zweite Generation unter Brigitte Mohn­ haupt schließlich in ihrer Gesamtheit das zuvor mit Blick auf linksterroris­ tische Gewalt mühsam vermittelte „Normensystem“8236, welches Aktionen gegen die als Unbeteiligte gewerteten Angehörigen der bundesrepublikani­

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Vgl. Peters 2008, S. 373. Vgl. Schulz 2017. Vgl. Schiller/Mecklenburg 2000, S. 99. Vgl. Peters 2008, S. 380-381. Vgl. Kellerhoff 2017. Vgl. Peters 2008, S. 394-396. Vgl. ebd., S. 403-404. Vgl. Wisniewski/Groll/Gottschlich 2003, S. 38. Vgl. Peters 2008, S. 424-425. Neidhardt 1982a, S. 358.

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schen „Massen“ verdammte. Ab der „Offensive `72“ war dieser „als mora­ lisch empfundene Code“8237 eingehalten worden – mit Ausnahme des An­ fang 1977 von Christian Klar beabsichtigten Fahrzeugdiebstahls, der auch im Verletzen einer Passantin gipfelte.8238 Um den Forderungen der Schley­ er-Entführung Nachdruck zu verleihen, akzeptierte die „Rote Armee Frak­ tion“ das Vorhaben der PFLP-SOG, eine Passagiermaschine der „Lufthan­ sa“ in ihre Gewalt zu bringen. Die arbeitende Bevölkerung, „welche die Baader-Meinhof-Gruppe in ihren Grundsatzerklärungen noch zu schonen versprochen hatte, war nun alleiniges Opfer einer ‚Aktion‘.“8239 Diesen für die Glaubwürdigkeit des eigenen Gewaltverständnisses folgenreichen Schritt unternahm die Zweite Generation offenbar in bewusster Missach­ tung entsprechender Maßgaben der „politischen Gefangenen“. Während die inhaftierte Erste Generation sich nach Entebbe – anders als die B2J – keineswegs kategorisch vom Mittel der Flugzeugentführung distanziert hatte, war in ihren Kassibern die Weigerung zum Ausdruck gebracht wor­ den, sich selbst durch „Hijacking“ freipressen zu lassen.8240 Der Entschluss der Gruppe um Brigitte Mohnhaupt fiel indes nicht ohne Widerstand in den eigenen Reihen: Angeblich positionierte sich ein Teil der Zweiten Generation „gegen die Methode, mit den Passagieren ‚Geiseln aus dem Volk‘ zu nehmen.“8241 Dem von der Zweiten Generation gezahlten ho­ hen Preis – dem bewussten Aufgeben der „moralischen“ Integrität im „bewaffneten Kampf“ – folgte bekanntlich nicht der ersehnte Durchbruch. Am Schluss der „Offensive `77“ sah sich die Zweite Generation genötigt, Hanns Martin Schleyer zu erschießen. Die Umstände seines Todes glichen einer Hinrichtung: Schleyer starb durch drei Schüsse auf seinen Hinter­ kopf.8242 Der mit der „Offensive ´77“ in Westdeutschland erreichte vorläufige Höhepunkt linksterroristischer Gewalt schlug in der „Stadtguerilla“ ähn­ lich hohe Wellen wie die „Mai-Offensive“ des Jahres 1972, wobei die Reaktionen differenziert ausfielen. Die Anschläge gegen Buback, Ponto und Schleyer resultierten grundsätzlich im Beifall der „Revolutionären Zellen“ und der „Bewegung 2. Juni“. Im April 1977 unterstrichen die RZ erneut ihre Doppelmoral, die sie insbesondere 1975 vermittels ihrer

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Ebd. Vgl. Schulz 2017. Wunschik 1997, S. 175. Vgl. Bönisch 1997, S. 62. Sternebeck 1990, S. 62. Vgl. Peters 2008, S. 469.

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ersten Grundsatzerklärungen freigelegt hatten. Noch immer sahen es die „Revolutionären Zellen“ nicht als Widerspruch, grundsätzlich auf Perso­ nenschaden zu verzichten, gleichzeitig aber die gegen Individuen gerich­ teten skrupellosen Attentate anderer Akteure des Linksterrorismus unver­ hohlen in der Öffentlichkeit zu glorifizieren. So forderte eine RZ im April 77: „Schafft viele Bubacks!“8243 In einer weiteren Erklärung zum Attentat gegen Buback äußerten die „Revolutionären Zellen“, sie „finden […] die Hinrichtung des obersten Staatsschützers [Siegfried Buback] zu diesem Zeitpunkt richtig.“8244 Das Netzwerk freue sich „mit vielen legalen und illegalen Genossen über diese gelungene Aktion“8245. Diesen Zuspruch teilten Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“. „Mitleid mit dem obersten Verfolger der Republik hatten wir nicht“8246, so Till Meyer zur Haltung der im Gefängnis befindlichen Mitglieder der B2J. Das Entführen Schleyers missbilligten die „Illegalen“ der Gruppe unter takti­ schen Gesichtspunkten, nicht jedoch aufgrund der in ihm deutlich wer­ denden Gewaltbereitschaft.8247 „Schleyer [war] genau die richtige Person für eine Befreiungsaktion“8248, schreib Viett in ihrer Autobiographie. Ähn­ lich sahen dies Häftlinge der „Bewegung 2. Juni“.8249 Seine Ermordung im Anschluss an den Selbstmord der Gründer der RAF sei nach damaliger Sicht der „Illegalen“ „eine folgerichtige Entscheidung“8250 gewesen. Die „populistische“ Strömung der B2J präsentierte im März 1978 eine Zusam­ menfassung der positiven Einschätzungen zu den einzelnen Taten der „Of­ fensive ´77“, nachdem sie die vergleichbar skrupellosen Morde an Ulrich Schmücker und Günter von Drenkmann als „nicht besonders populär, aber notwendig“8251 bewertet hatte. Buback, Ponto und Schleyer, „Schwei­ ne der übelsten Sorte“8252, waren „die richtigen“8253 Ziele. Zu den getöte­ ten Begleitern Bubacks und Schleyers schrieb die „Bewegung 2. Juni“ ent­ gegen anderslautender Stimmen einzelner Angehöriger,8254 die Mitglieder 8243 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 161. 8244 Ebd. 8245 Ebd. 8246 Meyer 2008, S. 358. 8247 Vgl. Viett 2007, 172. 8248 Ebd. 8249 Vgl. Klöpper 1987, S. 69. 8250 Viett 2007, S. 173. 8251 Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 652. 8252 Ebd., S. 653. 8253 Ebd. 8254 Vgl. Klöpper 1987, S. 69.

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der RAF „mussten sich innerhalb der Aktion schützen“8255. „[A]ußerdem waren das alles kleine Schweine, keine Unbeteiligten.“8256 Gänzlich anders lasen sich die Auffassungen, welche innerhalb der bun­ desrepublikanischen „Stadtguerilla“ zur Entführung der „Landshut“ zirku­ lierten und schließlich an das Umfeld gerieten. Die bereits vor der Aktion in den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ eingetretene Kontroverse setz­ te sich andernorts fort: Insbesondere die „politischen Gefangenen“ der RAF missbilligten das offensichtliche Abweichen vom geltenden Gewalt­ verständnis. Unter ihnen, so Klaus Jünschke, „gab es 1977 […] den Kon­ sens, dass die Entführung der Urlaubermaschine keine legitime Handlung in einem Befreiungskampf sein kann.“8257 Die Tat sahen sie als folgen­ schwere Fehlentwicklung des bundesrepublikanischen Linksterrorismus, an der „sich […] alles geschieden“8258 habe. Statt „Solidarisierungen [zu] erzeugen und den Gegner [zu] isolieren“8259, wandte sich die „Rote Ar­ mee Fraktion“ gegen „Urlauber, für deren Freiheiten wir irgendwo doch gekämpft haben.“8260 Hierin identifizierten die Inhaftierten einen „Bruch mit der Metropolengesellschaft schlechthin“8261, der „tabula rasa mit […] Positionen [der Gruppe] gemacht und dem Staat mehr oder weniger die ganze Gesellschaft zugetrieben“8262 hätte. Diese Einsichten führten bei einzelnen „politischen Gefangenen“ der RAF zu tiefer Desillusionierung. Plastisch beschrieb Karl-Heinz Dellwo die persönlichen Auswirkungen der Entführung: „Als ich 1995 aus dem Gefängnis kam, hatte ich meine Katastrophen hinter mir. Die größte waren [sic] die Flugzeugentführung nach Mo­ gadischu, also die Zerstörung der Gewissheit, dass wir eine Grenze haben, Ausweis von Gegenmoral und Selbstverpflichtung; damals ist mit der Entführung zufällig und wahllos vorgefundener Menschen der Aufbruch zum ersten Mal grundsätzlich, also im Namen der gesamten RAF, verraten worden.“8263

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Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 653. Ebd., S. 653-654. Jünschke 1988, S. 168. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 170. Irmgard Möller, zit. n. ebd. Bäcker/Mahler/Aust 1979, S. 202. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 304. Dellwo/Petersen/Twickel 2007, S. 170. Dellwo 2007a, S. 112.

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Die „Revolutionären Zellen“ und die „Bewegung 2. Juni“ positionierten sich wahrnehmbar gegen die Lücke, welche zwischen der Theorie und dem tatsächlichen Beachten des Gewaltbegriffs der „Roten Armee Frakti­ on“ klaffte. Wohl im Gedanken an die eigenen Erfahrungen in Entebbe schrieben die RZ im November 1978: „Fast jede Befreiungsaktion unterliegt Bedingungen, die wir nicht wol­ len: eine Machtauseinandersetzung zwischen Staat und Guerilla. Dies kann und darf nicht heißen, dass der Zweck die Mittel heiligt. Auch Befreiungsaktionen dürfen nicht zur Identifizierung des Volkes mit dem Staat führen, dürfen nicht in Widerspruch zu unseren politischen Perspektiven stehen, dürfen sich nicht gegen das Volk richten.“8264 Im Namen der B2J übte die „populistische“ Strömung des „Blues“ vehe­ mente Kritik an der Aktion gegen die „Landshut“; die antiimperialisti­ sche Linie sah hingegen aus Rücksicht auf die „Basissolidarität“ zwischen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“ von einer außenwirksamen Stellungnahme zu der intern abgelehnten Entführung ab.8265 Wie die „Revolutionäre-Guerilla-Opposition“ auf den Endpunkt des „Deutschen Herbstes“ reagierte, konnte den Rückblicken Ralf Rein­ ders‘, Norbert Kröchers und Gerald Klöppers entnommen werden. Laut Reinders entsetzte die in Haft befindlichen Mitglieder der B2J vor allem das Ermorden des Piloten Jürgen Schumann.8266 „Wir hatten es nicht für möglich gehalten, dass Leute mit revolutionärem Anspruch auf Unbetei­ ligte losgehen“8267 und somit „volksfeindlich, ergo konterrevolutionär“8268 auftreten. Nach Ansicht des um „Basisnähe“ bemühten Lagers der „Bewe­ gung 2. Juni“ war es „widersinnig […], Leute zu entführen und zur Geisel zu machen, für die ich doch vorgebe zu kämpfen: wenn ich ganz gewöhnliche Touristen als Instrument benutze, um die eigenen Genossen freizu­ pressen.“8269 Ein solches Vorgehen, so die mehr taktisch als moralisch geprägte Über­ zeugung der „politischen Gefangenen“ um Ralf Reinders, konnte lediglich 8264 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 209. 8265 Vgl. Meyer 2008, S. 371, 388-389, 394. 8266 Vgl. Reinders 2003, S. 142. 8267 Ebd. 8268 Kröcher/Papenfuß 2017, S. 317. 8269 Klöpper 1987, S. 70.

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dem bekämpften Staat in die Karten spielen. Denn durch die Aktion gegen die Maschine der „Lufthansa“ hatte „die BILD-Zeitung endlich recht be­ kommen mit ihrem Bild vom Terrorismus“8270, demzufolge er getragen werde von „rücksichtslose[n] Killer[n]“8271. Ab 1978 flocht der „Blues“ seinen Unmut ob des inzwischen pervertier­ ten Gewaltverständnisses der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“ in seine Propaganda ein. Mit dem Brief an den TUNIX‑Kongress Anfang 1978 rief er in Erinnerung, „[w]ir haben alle und immer gesagt, die Aktion und Politik der Guerilla richtet sich niemals gegen das Volk, immer gegen die Herrschenden.“8272 Offensichtlich an die „Rote Armee Fraktion“ adres­ siert, fügten sie sogleich hinzu: „Aber […] wer sitzt da eigentlich in den Urlauber-Maschinen der Billig-Route nach Mallorca??“8273 Wenig später beschrieben sie das Entführen von Flugzeugen als ein Instrument, dem im „sozialrevolutionären Widerstand“ in Deutschland keinerlei Raum gebo­ ten werden dürfe. Allerdings unterstrichen sie hierbei Verständnis für die von Palästinensern in ihrem Kampf begangenen Aktionen gegen die zivile Luftfahrt, womit sie abermals die im Wesentlichen taktisch bestimmte Motivation freilegten, welche sich hinter der Kritik an der Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ verbarg.8274 Lakonisch konstatierte der „Blues“ im Juni 1980, „[w]ir sind vor 10 Jahren alle unter der Parole ‚dem Volke deinen‘ angetreten. In Mogadischu wurde sich des Volkes bedient.“8275 Und weiter: „Unsere ganzen Anstrengungen, der Bullenpropaganda entge­ genzuwirken, dass es […] die ‚Blumenfrau von der Ecke‘ treffen könnte, wurden mit einem Schlag unglaubwürdig gemacht.“8276 9.4.4 Auflösung der Widersprüche Gegen Ende der 1970er Jahre verlor das jeweilige Gewaltverständnis der Akteure des bundesrepublikanischen Linksterrorismus sukzessive die bis dahin beobachtbare Doppelbödigkeit. Insofern festigte sich der Gewaltbe­ griff, den die „Rote Armee Fraktion“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ ihrem Umfeld vermittelten. Eng verbunden war 8270 8271 8272 8273 8274 8275 8276

Ebd., S. 69. Meyer 2008, S. 388. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 645. Ebd. Vgl. ebd., S. 654. Ebd., S. 812. Ebd.

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dieser Prozess mit einer Abkehr von internationalen Verbindungen, deren eigene Gesetzlichkeit deutsche Linksterroristen zu einer Akzeptanz der im Inland vehement abgelehnten Gewalttaten geführt hatte. Während er innerhalb der B2J binnen kurzer Zeit zum Abschluss gelangte, forderte er sowohl in der RAF als auch in den RZ eine Übergangsphase, welche Streitigkeiten um das – vermeintlich – richtige Maß an linksterroristischer Gewalt prägten. Als die „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ vermutlich im Herbst 1976 aus dem Nahen Osten nach Europa zurückkehrten, reaktivier­ ten sie das tradierte Gewaltverständnis der Gruppe. Obgleich sie Waffen bei sich trugen, so Angelika Goder, hegten sie nicht die Absicht, „wahllos in der Gegend herum[zu]ballern und Menschen um[zu]bringen.“8277 In diesem Punkt stimmten sie mit den Ansichten der in zwei Strömungen gespaltenen Inhaftierten der B2J überein. Beide Lager zogen in ihrer Propaganda eine rote Linie, die ein physisches wie psychisches Beeinträch­ tigen der arbeitenden Bevölkerung zum Sündenfall erhob. Legitim sei „[r]evolutionäre Gewalt als Notwehr gegen Menschenverachtung und Le­ bensfeindlichkeit des Raubtierkapitalismus“ 8278, nicht hingegen „Aktionen gegen Unbeteiligte als Zielgruppe“8279 oder „Bomben, die Unbeteiligte gefährden“8280. Eine Tat, die „undifferenziert jeden treffen kann“8281, „leh­ nen wir ab“8282, schrieben die „Gefangenen“. Die „Stadtguerilla“ müsse Angriffe „gegen den Klassenfeind und seine Handlanger“8283, gegen „all die kleinen und großen Volksfeinde“8284 wagen. So erlange beispielsweise „ein Knastdirektor […] weniger durch Petitionen und Bettelbriefe `nen Eindruck vom Knastalltag, als durch ein paar Kugeln in die Beine“8285. Ähnlich äußerte sich Till Meyer im September 1980 zum Kodex des „sozi­ alrevolutionären Widerstands“: „Aktionen der Guerilla sind nie gegen das Volk gerichtet. Sie sind durch die genaue Wahl des Ziels und der Methode des Angriffs ein­ deutig – und […] nicht als propagandistische Waffe für die Herrschen­ den politisch ausnutzbar. Terror ist die Sprache der Herrschenden,

8277 8278 8279 8280 8281 8282 8283 8284 8285

Goder/Pehrs/Weirauch 2001, S. 109. Bewegung 2. Juni, Band 2, S. 510. Ebd., S. 729. Ebd. Ebd., S. 812. Ebd., S. 510. Ebd., S. 812. Ebd., S. 813b. Ebd.

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die Sprache der Guerilla ist eine andere; die Guerilla greift gezielt die Herrschaftsstrukturen des Klassenstaates, seine militärischen, poli­ tischen, ökonomischen Instanzen und seine Funktionsträger an.“8286 Gewalt gegen (exponierte) Verantwortliche – und Objekte – der als aus­ beuterisch wahrgenommenen Ordnung blieb somit in den Gedanken der Mitglieder der B2J ein unverzichtbares Mittel des „bewaffneten Kampfes“. Von dieser bis zur Auflösung der Gruppe bestehenden Konstante legten die Taten der „Illegalen“ gleichermaßen Zeugnis ab – angefangen von der vorbereiteten Entführung der ehemaligen schwedischen Ministerin für Einwanderungsfragen durch eine selbsterklärte „Auslandsfiliale“ der „Bewegung 2. Juni“ über die gegen Walter Palmers gerichtete Freiheitsbe­ raubung und den geplanten Überfall auf einen General der NATO bis hin zum Bedrohen und Verletzen von Justizbeamten im Zuge der Befreiung Till Meyers 1978.8287 Nach der Eskalation im Herbst 1977 unternahm die RAF weder in ihrer Agitation noch in ihrer Praxis den Versuch, die Glaubwürdigkeit ihres Gewaltverständnisses wiederherzustellen. Stattdessen ergingen sich die in der Illegalität verbleibenden Aktivisten in drastischen Gewaltphantasien, welche – wie zuvor das Entführen der „Landshut“ – einen Bruch unter den „Aktiven“ auslösten. „Einige in der Gruppe entwickelten Pläne zu Selbst­ mord-Aktionen nach dem Vorbild der Palästinenser“8288, erinnerte sich Sigrid Sternebeck im Jahre 1990. Nicht nur sahen die Überlegungen der „Roten Armee Fraktion“ gezielte, mitunter lebensgefährliche Gewalttaten gegen Einzelpersonen vor – unter ihnen Hans‑Dietrich Genscher, der Vor­ standssprecher der Deutschen Bank, Wilfried Guth, der Bankier Wilhelm Christians und der US-amerikanische General Alexander Haig.8289 Über­ dies forcierten Aktivisten der Zweiten Generation in einer internen Debat­ te das wahllose Töten amerikanischen Militärpersonals. „Allgemein kam in der Diskussion immer wieder zum Ausdruck, dass es darum ging, viele umzulegen“8290, gab Silke Maier-Witt zu verstehen. Die Überlegungen um­ fassten die Option, einen mit US-Soldaten besetzten Lastkraftwagen durch eine Sprengladung zu zerstören,8291 sowie die Möglichkeit, „das Haus eines

8286 Ebd., S. 885. 8287 Vgl. Korndörfer 2008, S. 252; Meyer 2008, S. 392; Dietrich 2009, S. 136-137; Kröcher/Papenfuß 2017, S. 270-271. 8288 Sternebeck 1990, S. 62. 8289 Vgl. Wunschik 1997, S. 184-186, 299, 301; Peters 2008, S. 477-478. 8290 Silke Maier-Witt, zit. n. Wunschik 1997, S. 295. 8291 Vgl. ebd.; Peters 2008, S. 478.

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hohen amerikanischen Offiziers zu überfallen“8292 und währenddessen „al­ les um[zu]legen […], was sich einem in den Weg stellt.“8293 Maier-Witt warf den Befürwortern derartiger Handlungen vor, ein „Blutbad“8294 zu wollen. Aufgrund dieses Einwands erfuhr sie erhebliche Kritik.8295 Zu weitaus intensiveren Spannungen kam es, als Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ im Herbst 1978 offenbar Vergeltung für das tödliche Verwun­ den Michael Knolls durch Polizeibeamte forderten. Sie vergruben an drei Orten Tretminen und tarnten diese anschließend als Schießplätze, die von der RAF genutzt wurden. Mit einem Anruf sollten Polizisten zu den Stel­ len gelockt werden.8296 Dieses als „Joghurt-Topf“ bezeichnete Vorhaben mündete – angeblich – in einer „fürchterliche[n] Diskussion“8297 unter den Aktivisten der Zweiten Generation. Verwiesen wurde hierbei unter anderem auf das Risiko, unbeabsichtigt einen Unbeteiligten töten zu kön­ nen. Schließlich fassten die „Illegalen“ den Entschluss, die Tretminen zu entfernen.8298 Wie auch innerhalb der „Bewegung 2. Juni“ stellte sich Ende der 1980er Jahre der Angriff auf ausgewählte Individuen im Diskurs der Zweiten Generation unverändert als konsensfähig dar. Dass dabei nach wie vor ein – mitunter fatales – Verletzen weiterer Personen billigend in Kauf genommen wurde, zeigte im Jahre 1979 die Aktion gegen Alexander Haig: Statt den General und weitere Insassen seines Fahrzeugs tödlich zu treffen, fügte die unterhalb der Fahrbahndecke platzierte Bombe aufgrund ihrer verspäteten Zündung lediglich den Haig zugeteilten Personenschützern leichte Blessuren zu.8299 Darüber hinaus war die Bereitschaft zum Einsatz der Schusswaffe gegen Polizeibeamte ungebrochen. So setzten Mitglieder der RAF Ende September 1978 ihre Waffen ein, nachdem sie von Polizis­ ten im Anschluss an eine Schießübung entdeckt worden waren. Einen der Beamten trafen zwei Kugeln. Wenige Wochen später verletzten Mitglieder der Gruppe als Folge einer Personenkontrolle zwei niederländische Grenz­ beamte durch Schüsse tödlich.8300 Die in der „Roten Armee Fraktion“ vorherrschende Akzeptanz der Gewalt gegen Personen materialisierte sich

8292 8293 8294 8295 8296 8297 8298 8299 8300

Silke Maier-Witt, zit. n. Wunschik 1997, S. 295-296. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd., S. 296. Silke Maier-Witt, zit. n. ebd. Vgl. Peters 2008, S. 478. Vgl. Wunschik 1997, S. 302-304; Winkler 2008, S. 365. Werner Lotze, zit. n. Wunschik 1997, S. 304. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 315; Peters 2008, S. 497. Vgl. Peters 2008, S. 486-487.

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ebenfalls während ihrer logistischen Aktivitäten. Um finanzielle Mittel zu erhalten, griff sie bevorzugt auf Banküberfälle zurück, die zwangsläufig zumindest mit einem psychischen Beeinträchtigen von Bankangestellten und -kunden einhergingen. Anders als bei bisherigen Überfällen auf Geldhäuser sah sich die Zweite Generation im Jahre 1979 mehrfach mit Extremsituationen konfrontiert, welche dem Mittel des Bankraubs als Risiko inhärent waren. Die RAF brachte diese Vorfälle zur Auflösung, indem sie wiederholte, was Chris­ tian Klar Anfang 1977 im Zuge eines Fahrzeugdiebstahls gezeigt hatte: den Gebrauch der Schusswaffe gegen Unbeteiligte. Als im März 1979 ein Bankkunde Klar zu überwältigen versuchte, feuerte Adelheid Schulz einen Schuss auf das Bein des Kunden ab.8301 Wesentlich drastischer endete ein Banküberfall im November 1979 in Zürich: Auf der Flucht setzte Christian Klar seine Pistole gegen einen Bankangestellten ein, der die Verfolgung aufgenommen hatte. Klar verfehlte sein Ziel. In einer stark frequentierten Ladenpassage schossen er und weitere Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ auf einen Polizisten. Ein Querschläger traf eine sechsundfünfzigjährige Frau in den Hals. Die Passantin verstarb kurz da­ rauf. Schließlich bemühte sich Klar um einen Fluchtwagen. Der Insassin eines aufgefundenen Fahrzeugs schoss er aus nächster Nähe in die Brust. Schwerverletzt überlebte sie. Zu sehen ist in beiden Gewaltausbrüchen zulasten zufällig anwesender Passanten ein weiterer Beleg für die inner­ halb der Zweiten Generation existierende Bereitschaft, den von den Grün­ dern der „Roten Armee Fraktion“ vehement geforderten und verteidigten Schutz des „gewöhnlichen“ Bürgers notfalls bei Seite zu schieben. Die Ausmaße, die diese Bereitschaft in Zürich erreicht hatte, erzeugten in den Reihen der RAF Entsetzen – die B2J und die RZ nahmen sie hingegen augenscheinlich nicht wahr. Ein kritisches Aufarbeiten durch die „Rote Armee Fraktion“ erfolgte indes nicht, im Gegenteil: Die mahnende Stim­ me Silke Maier-Witts wurde ignoriert.8302 Erst 1992 räumte Christian Klar mit Blick auf den Banküberfall in der Schweiz zähneknirschend ein, „Waf­ fen [wurden] zum Teil mit einem Mangel an Umsicht eingesetzt […], zum Teil […] mit schlimmer Rücksichtslosigkeit, die in solcher Umgebung nicht sein darf.“8303 Und weiter:

8301 Vgl. ebd., S. 494. 8302 Vgl. Wunschik 1997, S. 318-319, 325; Peters 2008, S. 502-505. 8303 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 160-161.

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„Es gehört zur grundsätzlichen Verantwortlichkeit, dass der Einsatz der Waffen, wenn dem schon nicht mehr ausgewichen werden kann, dann so geschieht, dass keine Unbeteiligten gefährdet werden.“8304 Wenngleich diese Reflexion offenbar vor dem Zerschlagen der Zweiten Generation 1982 unter den „Illegalen“ nicht einsetzte, sollte sich die zwischen 1977 und 1979 bei logistischen Aktionen feststellbare bewuss­ te Gewaltanwendung gegen Unbeteiligte in den folgenden Jahren nicht wiederholen. Unter der Parole des „Krieges gegen den imperialistischen Krieg“ konzentrierte sich die RAF fortan auf die bereits im gescheiterten Attentat gegen Haig verfolgte Prämisse, Figuren eines – vermeintlich – bestehenden globalen imperialistischen Systems unter Vorherrschaft der Vereinigten Staaten ins Visier zu nehmen. Hierzu zählten Angehörige USamerikanischer und deutscher Streitkräfte sowie politische Würdenträger, Wirtschaftsfunktionäre und Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden.8305 Ent­ sprechend dieser Zielvorgabe richtete sich die „Rote Armee Fraktion“ 1981 mit zwei Aktionen gegen niedrig- wie hochrangige US-Soldaten. Im Grun­ de kleidete die Zweite Generation jenes Gewaltverständnis in ein neues Gewand, welches die Erste Generation im Laufe ihrer „Mai-Offensive“ präsentiert hatte. Sichtbarster Ausdruck dieser Parallele war der Anschlag auf den US-Stützpunkt bei Ramstein im August 1981, glich dieser doch in seiner Intention den Angriffen im Jahre 1972 auf das Hauptquartier des V. US-Corps in Frankfurt am Main und die Liegenschaft der amerikanischen Armee in Heidelberg: Durch Sprengstoff sollte größtmöglicher menschli­ cher Schaden unter zufällig anwesendem Militärpersonal erzielt werden. Die Aktion verletzte insgesamt 17 Menschen teilweise schwer.8306 Neben dieser Gewalt geriet die „Rote Armee Fraktion“ Anfang der 1980er Jahre abermals aufgrund des situationsbedingten Schusswaffeneinsatzes gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden in die Schlagzeilen: Die aus der B2J stammende Aktivistin Inge Viett entzog sich 1981 einer drohenden Fest­ nahme, indem sie einen Polizisten durch ihre Schusswaffe schwer verletz­ te. Der Beamte blieb nach diesem Zusammenstoß querschnittsgelähmt.8307 Knapp zwei Jahre nach dem Zusammenschluss mit den in Gewaltfragen grundsätzlich ähnlich ausgerichteten „Illegalen“ der „Bewegung 2. Juni“ formulierte die Zweite Generation erstmals selbst eine explizite Kritik an dem während des „Deutschen Herbstes“ diskreditierten und in der Folge­ 8304 8305 8306 8307

Ebd., S. 161. Vgl. Peters 2008, S. 517. Vgl. Winkler 2008, S. 378. Vgl. Viett 2007, S. 239-242.

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zeit vielfach abgelehnten Gewaltverständnis der „Roten Armee Fraktion“. Die im Papier „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ ent­ haltene Distanzierung las sich ob ihrer eindeutigen Worte bemerkenswert schonungslos. So übernahm die RAF Verantwortung für „die taktisch und strategisch falschen Bestimmungen“8308 der 1977 veranlassten Flugzeugent­ führung, „über die […] viel geredet worden“8309 sei. Diese Aktion müsse als Fehler begriffen werden, da sie die Intention der „Offensive ´77“ – die „Polarisierung in der Metropole, den Bruch zwischen Volk und Staat“8310 – unterhöhlt habe. Diejenigen, „die in dem Flugzeug saßen, [wurden] […] in die gleiche Objektsituation gedrückt […], wie es der imperialistische Staat sowieso und immer mit den Menschen macht“8311. Mit diesem bei­ spiellosen Vergleich, der Fragmente der eigenen Gewalt unverblümt auf die Stufe des im Linksterrorismus per se als menschenverachtend und verbrecherisch wahrgenommenen staatlichen Handelns hob, schlug die Zweite Generation eine Brücke zu dem Mitte der 1970er Jahre limitierten Gewaltbegriff der Gründungsmitglieder der „Roten Armee Fraktion“. Wie die Erste Generation vor ihr reklamierte sie öffentlich eine rote Linie sozi­ alrevolutionärer Gewalt, welche sich gegen eine indifferente Auswahl und Behandlung von Opfern – vor allem aber gegen das Degradieren von Men­ schen als Mittel zum Zweck – im Wege politisch bestimmter Aktionen stemmte. Dieses Grenzziehen bildete den letzten Baustein des Gewaltver­ ständnisses, das die „Rote Armee Fraktion“ zwischen 1980 und 1982 mehr durch praktische Demonstrationen als durch öffentliche Vermittlungen annahm und nach den Verhaftungen Christian Klars und Brigitte Mohn­ haupts als Vermächtnis hinterließ. Die Dritte Generation griff die Arbeit ihrer Vorgänger auf, beging jedoch nach einem Weiterentwickeln dieser Arbeit eine Tat, die – analog dem Anschlag auf das „Springer“‑Hochhaus und dem Entführen der „Landshut“ – den im Gewaltbegriff kodifizierten moralischen Kompass der Gruppe ad absurdum führte. Innerhalb der „Revolutionären Zellen“ erwiesen sich die Positionen der unter anderen von Johannes Weinrich getragenen Strömung nicht als mehrheitsfähig.8312 Diese Bestrebung hatte sich in der unmittelbar nach Entebbe einsetzenden internen Diskussion, die nicht nur internationalisti­ sche Verflechtungen, sondern auch den Aspekt der „Gefährdung von Men­

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ID-Verlag 1997, S. 305. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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schen“8313 im Wege linksterroristischer Aktivitäten beleuchtete, „für An­ schläge ohne Rücksicht darauf, ob Personen zu Schaden […] [kommen], ein[gesetzt].“8314 Augenscheinlich war von ihren Angehörigen als Vergel­ tung für den Tod Böses und Kuhlmanns geplant worden, Anschläge auf stark frequentierte Objekte vorzunehmen. Die Wahl der Anschlagsziele – ein „Luxus-Hotel“8315 und ein Flughafen8316 – implizierte die Bereitschaft, im Widerspruch zu dem in Deutschland geltenden Gewaltverständnis der RZ eine unbegrenzte Zahl zufällig am jeweiligen Ort anwesender Perso­ nen zu verletzen oder gar zu töten. Ihre Ablehnung der Ereignisse in Entebbe sowie des medialen Verwertens der erfolgreichen Geiselbefreiung bekundeten Teile der RZ schließlich vermittels einer Anschlagsserie, die in ihrer Umsetzung ganz auf der Linie des ursprünglichen Gewaltbegriffs des Netzwerks lag. In Kinosälen legten ihre Mitglieder Brandsätze ab, die „nachts abbrennen [sollten], damit keine Menschen dabei zu Schaden“8317 kamen. Anders als bislang begnügten sie sich nicht mit der praktischen Demonstration des zentralen Motivs ihrer sich um Zurückhaltung bemü­ henden terroristischen Strategie. Den bei Anschlägen durch verschiedene Maßnahmen angestrebten Schutz Unbeteiligter bewarben sie überdies of­ fensiv in der eigenen Propaganda. So hieß es im Tatbekenntnis zu den Angriffen auf die Lichtspielhäuser: „Dieses Mal haben wir durch Art und Umfang unserer Aktion sichergestellt, dass niemandem etwas geschehen kann.“8318 Solche Aussagen traten in den Jahren darauf wiederholt auf. Dergestalt vergessen machen wollten die „Zellen“ offenbar die Schatten, welche das Vorgehen des internationalen Lagers geworfen hatten. 1978 verkündeten die RZ im Nachgang zum Sprengstoffanschlag auf die Wohnung des Sozi­ aldezernenten der Stadt Mainz, das „Geschrei […] der Presse“8319, demzu­ folge „nur durch ein Zufall […] keiner […] umgekommen“8320 sei, „lässt uns kalt.“8321 Denn: „Wir haben nur so viel gemacht und werden immer nur so viel machen, dass wir ausschließen können, einen Unschuldigen zu

8313 8314 8315 8316 8317 8318

Schmaldienst/Matschke 1995, S. 100. Kahl 1986, S. 110. Ebd. Vgl. Klein/Libération 1978, S. 295; Klein 1979a, S. 81. Kopp 2007, S. 106. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 131. 8319 Ebd., S. 313. 8320 Ebd. 8321 Ebd.

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treffen. Mehr haben wir dazu nicht zu sagen.“8322 Im Juni 1979 zeigten sich die „Revolutionären Zellen“ bestürzt ob des gescheiterten Anschlags einer unter dem Namen „Revolutionäre Zelle Nicaragua“ auftretenden Gruppe auf ein Gebäude der Firma „Daimler‑Benz“, sei hierbei doch das Leben unbeteiligter Personen in Gefahr gebracht worden.8323 An anderer Stelle hob das Netzwerk „nochmals deutlich“8324 hervor, seine Aktionen richteten sich „niemals gegen die Menschen der unterdrückten Klasse, son­ dern gegen die imperialistischen Technokraten.“8325 Eine „diffuse, gegen Teile des Volkes gerichtete Politik“8326, wie sie „Strategien […] des Blutba­ des“8327 innewohne, läge ihm fern. 1984 äußerte eine „Zelle“, ihre Mitglie­ der hätten den Ablageort für einen Sprengsatz in der Absicht gewählt, weder die in der Umgebung lebenden Menschen noch ein in der Nähe ge­ legenes Geschäft zu gefährden.8328 Stellvertretend für das gesamte Geflecht der RZ wehrte sich die „Rote Zora“ im Juni 1984 kurz vor ihrer inhaltli­ chen Trennung von den „Revolutionären Zellen“ eindringlich gegen den Vorwurf, mit ihren Anschlägen „unter Umständen [ein Risiko für] das Leben Unbeteiligter“8329 darzustellen. Die „Lolas“ entgegneten, „[g]erade die Möglichkeit, Leben zu gefährden, zwingt uns zu besonderer Verant­ wortlichkeit.“8330 Die Gruppe könne „einpacken“8331, wenn ihr tatsächlich eine Gefahr für die körperliche Integrität der am „bewaffneten Kampf“ nicht mitwirkenden Bevölkerung zuzuschreiben sei. Weiterführend gaben die Aktivisten der RZo zu verstehen: „Es wäre doch paradox, gegen ein System zu kämpfen, dem menschli­ ches Leben nur so viel wert ist, wie es verwertbar ist und im Zuge des­ sen ebenso zynisch, ebenso brutal zu werden, wie die Verhältnisse [sic] sind. Es gibt -zig Aktionen, die wir wieder verworfen haben, weil wir die Gefährdung Unbeteiligter nicht hätten ausschließen können.“8332

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Ebd. Ebd., Band 2, S. 648. Ebd., Band 1, S. 380. Ebd. Ebd., S. 365. Ebd. Vgl. ebd., S. 129. Ebd., Band 2, S. 604. Ebd. Ebd. Ebd.

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Was mit Blick auf eine Gefahr für Dritte gelang, konnte in der Frage der Gewalt gegen Feindbilder sozialrevolutionärer Ansprüche nicht erreicht werden: das Verpflichten der „Revolutionären Zellen“ auf ein gemeinsa­ mes Verständnis. Während die RZ nach 1976 nicht erneut unbeteiligte Menschen derart in Gefahr brachten, wie dies im Laufe ihrer Aktionen in Paris-Orly, Wien und Entebbe festzustellen war, erwuchs unter den An­ gehörigen einzelner Gruppen eine bislang abwesende Bereitschaft zum le­ bensgefährlichen Verletzen ausgewählter, in Deutschland agierender „Ver­ antwortlicher“. In diesem Zusammenhang sprach Friedhelm Neidhardt 1982 von „anhaltend[en] und tiefgreifend[en]“8333 Auseinandersetzungen im Netzwerk. Hinweise für den innerhalb der „Revolutionären Zellen“ unter Widerstand heranwachsenden Willen, die im Inland akzeptierte Grenze zum Personenschaden selbst zu überschreiten, fanden sich in einem Anfang 1977 veröffentlichten Papier. War den Erklärungen der RZ bis dahin eine grundsätzlich von Akzeptanz gezeichnete Haltung zu „[b]ewaffnete[n] Angriffe[n] und Vergeltungsaktionen gegen einzelne Funktionsträger des Gewaltapparates“8334 zu entnehmen, die entsprechen­ de Taten der RAF und der B2J glorifizierte, ein körperliches Schädigen – vermeintlicher – Gegner jedoch aus taktischen Erwägungen heraus nie ein­ seitig präferiert hatte, trug die Propaganda des Netzwerkes nun dezidiert einen „Hass […] gegen […] Zwangsverteidiger und ihre Nachfolger“8335 vor. Er kulminierte in der später öffentlich von den RZ unter taktischen wie strategischen Gesichtspunkten kritisierten8336 Ankündigung: „[W]enn sie […] nicht sofort ihre Bullenarbeit beenden, werden wir sie liquidie­ ren – während der Prozess läuft oder später – den Zeitpunkt bestimmen wir.“8337 Diese Aussage verschärfte in ihrer Rigorosität den Widerspruch, der nach den ersten Grundsatzpapieren zwischen der mit Personenschaden kokettierenden Theorie und der exklusiv auf materielles Zerstören ausge­ legten Praxis der nationalen „Revolutionären Zellen“ existierte. Rund ein Jahr später schwächte er sich über eine in Italien verbreitete, in Deutsch­ land dagegen kaum beachtete terroristische Aktionsform ab: das Knie­ schussattentat. Als Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ im Mai 1978

8333 Neidhardt 1982b, S. 442. 8334 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 155. 8335 Ebd., S. 162. 8336 Vgl. ebd., Band 2, S. 641. 8337 Ebd., Band 1, S. 162.

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in Westberlin auf die Beine eines Pflichtverteidigers schossen,8338 führten sie erstmals in der Geschichte des Netzwerks auf deutschem Boden einen Angriff gegen eine Person aus. Dabei sannen sie „weniger auf Tötung als auf Einschüchterung“8339. Offen beanspruchten die „Zellen“ sodann die Urheberschaft einer Tat, deren Charakteristika ein Novum bildeten für das Netzwerk, ebenso für den deutschen Linksterrorismus. Unverhohlen erneuerten sie in ihrem Bekennerschreiben ihre Drohung: „Die Zwangsverteidiger sollen wissen, dass sie nicht auf Kosten der gefangenen Genossen das große Geld kassieren können. Sollten sie weiterhin auf diese Art die dicke Kohle machen wollen, werden sie mit weitergehenden Konsequenzen als jetzt zu rechnen haben“8340. Dass die „Revolutionären Zellen“ diese Vision nicht in die Tat überführten und sich erst 1981 abermals an das Mittel des Knieschusses wagten, unter­ strich ebenfalls, welch isolierte Stellung die Advokaten eines zunehmend gegen Personen wirkenden Gewaltverständnisses einnahmen. Ursächlich für ihr Petitum waren wohl nicht zuletzt spezifische regionale Gegeben­ heiten, die in dieser Form nicht in anderen Teilen der RZ zum Tragen kamen. So wurde der Anschlag auf den Pflichtverteidiger Hohla im Mai 1978 in der Literatur auf die „engen Verbindungen zwischen den Berliner RZ und der ‚Bewegung 2. Juni‘“8341 gestützt. Augenscheinlich scheute der Großteil des Netzwerkes eine Eskalation, welche die immer wieder als Al­ ternative vermarktete Strategie der RZ allzu schnell in die Nähe der kaum vermittelbaren Brutalität der „Roten Armee Fraktion“ sowie der in ihr auf­ gehenden B2J leiten konnte. Der Verlauf des zweiten Knieschussattentates im Jahre 1981 vermochte die Skepsis nicht zu zerstreuen, im Gegenteil: Indem die Aktion in einem Ergebnis mündete, das der Gewaltbegriff der „Revolutionären Zellen“ im Kern stets zu vermeiden versucht hatte, erwies sie sich nicht als kompatibel mit der erklärten Absicht, die Idee einer „Stadtguerilla“ jenseits ausgetretener Pfade mit Leben zu füllen. Anknüpfend an die Anfang der 1980er Jahre zunehmenden gesellschaft­ lichen Proteste gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens gab ein Mitglied der „Revolutionären Zellen“ Schüsse auf den Unterkörper des hessischen Wirtschaftsministers Heinz-Herbert Karry ab, als dieser schla­

8338 Vgl. Horchem 1988, S. 92; Unsichtbare 2022, S. 121. 8339 Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82. 8340 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 164. 8341 Horchem 1982, S. 92.

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fend in seinem Haus lag. Im Fall Karrys zerbrach die von Teilen der RZ konstruierte Mär vom Knieschussattentat als harmlosere und insofern ver­ mittelbarere Variante eines von schwerem Personenschaden gekennzeich­ neten „bewaffneten Kampfes“, wie ihn die Zweite Generation der „Ro­ te Armee Fraktion“ ab 1979 vorantrieb. Der Knieschuss erschien als jene Aktionsform, die sie bei nüchterner Betrachtung war: eine Tat mit kaum zu kontrollierender Lebensgefahr, in der je nach Ausgangslage buchstäb­ lich wenige Zentimeter den Ausschlag geben konnten für eine tödliche Verletzung. Von den sechs Kugeln, die der auf einer Leiter am Schlafzim­ merfenster stehende Täter abfeuerte, traf eine Karrys Beckenarterie. Kurz darauf verstarb er.8342 Hatten die „Zellen“ 1978 in Westdeutschland das erste Attentat gegen eine Einzelperson begangen, mussten sie knapp drei Jahre später Verantwortung übernehmen für den ersten Todesfall ihrer auf die Bundesrepublik projizierten „Anknüpfungsstrategie“. Schlagartig stand die Gewalt der RZ in ihren Auswirkungen auf einer Stufe mit dem Vorgehen der RAF, die im September 1981 ohne Erfolg zu einem Angriff auf Frederick Kroesen ansetzte. Das Echo des sympathisierenden Umfelds legte Zeugnis ab von dem Ansehensverlust, den dieser Bruch mit dem in der Öffentlichkeit dominie­ renden Bild zum Gewaltbegriff des Netzwerks nach sich zog.8343 Ohne ein Zeichen von Reue bemühte sich die ausführende „Zelle“ sogleich um Schadensbegrenzung. Übereinstimmend mit früheren Äußerungen der RZ, in denen sie eine „Logik der Waffen“8344 von sich gewiesen und damit indirekt die Abgrenzung zur eskalativen Gewalt der RAF forciert hatten, erklärten die Attentäter, „nichts liegt uns ferner, als den Einsatz der Knarre als das Mittel militanten Widerstands zu propagieren.“8345 Die Umstände der Aktion habe der Gedanke bestimmt, Karry eine langwierige Verletzung zuzufügen8346 und dabei „die Gefährdung anderer Personen (z.B. […] Fahrer und andere Begleiter) auszuschließen“8347. „Hätten wir Karry umlegen wollen“, so die Autoren des Bekennerschreibens, „hätten

8342 Vgl. Sieverdingbeck 2001. 8343 Vgl. Horchem 1988, S. 92; Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006, S. 82; PfahlTraughber 2014a, S. 176. 8344 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 209. 8345 Ebd., Band 2, S. 451. 8346 Vgl. ebd., S. 450. 8347 Ebd., S. 451.

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wir ein anderes Kaliber benutzt und vor allem sein [sic] Kopf (bzw. seinen Oberkörper) ins Visier genommen. Das wäre leichter gewesen.“8348 Zu dem externen Druck, dem sich die verantwortliche RZ mithilfe dieser Zeilen stellte, gesellte sich intern das Unverständnis der aus rein tak­ tischen Gründen auf Gewalt gegen Sachen pochenden Mehrheit.8349 Zum einen sah sie Anschläge auf Personen als ein Mittel, welches dem Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Westdeutschland „meilenweit voraus war“8350. Zum anderen seien die „Revolutionären Zellen“ in ihrer Gesamtheit einer generell gegen Menschen gerichteten Strategie weder in politischer noch in organisatorischer Hinsicht gewachsen.8351 Die innere Debatte hatte anhaltende Konsequenzen. Wiewohl sich die Verantwortli­ chen des Karry‑Mordes öffentlich vorbehalten hatten, „das Angriffsmittel Knarre […] in Zukunft ausschließlich gegen Personen anzuwenden, bei denen das Risiko des nicht-beabsichtigten [sic] Todes eingegangen werden kann“8352, blieben unmittelbare Anschläge der „Revolutionären Zellen“ auf Personen bis zum Höhepunkt der „F‑Kampagne“ in den Jahren 1986 und 1987 ein Tabu. Stattdessen musste dem Netzwerk ein Potpourri an dezidiert antimateriellen Handlungen zugerechnet werden. Dieses korre­ spondierte mit einem Mantra, welches die RZ 1980 ganz im Sinne ihres – vermeintlich – jenseits avantgardistischer Dünkel rangierenden Selbstbil­ des propagiert hatten: Keinesfalls existiere in ihrem Gewaltverständnis ein „hierarchisches System von Aktionen, ganz unten steht das Flugblattvertei­ len und ganz oben die bewaffnete Aktion.“8353 Immer wieder ließen sich die RZ auf Protestformen ein, die aus der klassischen, medial vor allem entlang der Kampagnen von RAF und B2J aufbereiteten Schreckensrolle linksterroristischer Gewalt herauszufallen schienen. Neben Brand- und Sprengstoffanschlägen gegen Sachen fanden sich vergleichsweise niedrig­ schwellige Taten, wie zum Beispiel das Ausbringen von „Luftballons […] mit Alustreifen zur Störung des Flugverkehrs“8354 am Frankfurter Flugha­ fen oder das Verteilen „einer stinkenden Flüssigkeit“8355 in der Wohnung eines Journalisten.

8348 8349 8350 8351 8352 8353 8354 8355

Ebd., S. 450. Vgl. ebd., S. 444-447. Ebd., S. 447. Vgl. ebd. Ebd., S. 451. Ebd., Band 1, S. 350. Ebd., S. 53. Ebd., Band 2, S. 522.

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Betrachtet man das zu Beginn der 1980er Jahre gegebene Gewaltver­ ständnis der „Revolutionären Zellen“ in der Gesamtschau, hielt sich der Eindruck eines innerhalb des westdeutschen Linksterrorismus bestehen­ den Gegenpols. Mit dem tödlichen Anschlag auf Karry hatten sich die RZ qualitativ dem Aktionsniveau der übrigen, in der „Roten Armee Fraktion“ zusammengekommenen Aktivisten der „Stadtguerilla“ angenähert. Von einem quantitativen Angleichen konnte allerdings nicht die Rede sein. In Zahlen gesehen, bewegten sich die „Zellen“ merklich hinter der „Brutali­ tät“8356 der RAF: Der Fokus richtete sich unverändert auf Sachschaden. Während die Sicherheitsbehörden im Zeitraum von 1981 bis 1985 weitere Anschläge der „Revolutionären Zellen“ auf Leib und Leben nicht verzeich­ nen konnten, summierte sich die Zahl der versuchten und vollendeten Brand- und Sprengstoffanschläge gegen Objekte auf 115.8357 Mit diesem Zahlenverhältnis knüpften die „Zellen“ an die Bilanz vergangener Jahre an. Einer Erhebung des Bundesministeriums des Innern zufolge zeichne­ ten die RZ bis 1980 für 85 Anschläge auf Objekte sowie für fünf Aktionen gegen Personen verantwortlich, wobei unklar bleibt, wie die Summe der gegen Menschen gerichteten Taten ermittelt wurde. Tatsächlich entfielen auf die „Revolutionären Zellen“ in dieser Periode vier Angriffe mit anti­ personeller Ausrichtung: die gemeinsam mit palästinensischen Terroristen geplanten und/oder ausgeführten Aktionen in Paris‑Orly, Wien und En­ tebbe sowie das Knieschussattentat im Mai 1978 in Westberlin. Die „Ro­ te Armee Fraktion“ hingegen beging laut der Statistik des Innenministeri­ ums zwischen 1968 und 1980 46 Angriffe auf Personen sowie 22 Anschläge auf Objekte, die „Bewegung 2. Juni“ 13 Aktionen gegen Personen sowie 46 gegen Objekte. Die im Vergleich zur RAF und der B2J niedrigere Ge­ waltintensität der „Revolutionären Zellen“ spiegelte sich in den amtlichen Zählungen auch in der Kategorie der sonstigen schweren Delikte wider, die unter anderem gravierende Taten, wie beispielsweise Banküberfälle und Waffendiebstahl, umfasste. Verzichteten die RZ im genannten Zeit­ raum gänzlich auf derartige Mittel und somit auf das Risiko einer gewalt­ tätigen Konfrontation mit Polizeibeamten und intervenierenden Bürgern, griff die „Rote Armee Fraktion“ in 35, die „Bewegung 2. Juni“ in 18 Fällen zu entsprechenden Aktionsformen.8358

8356 Horchem 1988, S. 93. 8357 Vgl. Bundesministerium des Innern 1982, S. 123; Bundesministerium des In­ nern 1983, S. 103; Bundesministerium des Innern 1984, S. 104; Bundesministe­ rium des Innern 1985, S. 113; Bundesministerium des Innern 1986, S. 126. 8358 Vgl. Neidhardt 1982b, S. 437.

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Die Lücke, die nach wie vor zwischen dem Gewaltbegriff der „Revolu­ tionären Zellen“ und jenem der RAF klaffte, belastete unverändert die Beziehung beider Akteure. So wiederholte Christian Klar mit Blick auf die Anfang der 1980er Jahre zunehmenden antiimperialistischen Anschläge der RZ den alten Vorwurf der „Sachschaden-Fraktion“8359: „Wie die RZ das macht, zu betonen, dass bei den Angriffen auf US-Konzerne keine kleinen Angestellten getroffen werden, ist eben die defensivste Linie.“8360 Umgekehrt rechneten die „Revolutionären Zellen“ mit der neuerlichen Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ ab, welche nunmehr von der Drit­ ten Generation bestimmt wurde. Die zusammenhängenden Attentate auf René Audran und Ernst Zimmermann in den ersten Monaten des Jahres 1985 beschrieben sie als „Morde an zwei Leuten, bei deren Tod keiner aufatmet, der unter ihnen gelitten hätte.“8361 Wenn die „Stadtguerilla“ schon zu Anschlägen auf Personen griff, so die weitere Argumentation in ihrem Schreiben „Die Bilanz ist schlimm“, müssten gänzlich andere, sym­ bolträchtigere Ziele gewählt werden, darunter ehemalige Funktionsträger des Dritten Reiches, wie zum Beispiel der im Januar 1985 aus der Haft ent­ lassene, ehemalige SS-Sturmbannführer Walter Reder.8362 Hierin zu sehen war ein weiterer Beweis für das taktische Verhältnis der RZ zur Gewalt ge­ gen Personen, dessen Motiv sich mitnichten aus einem prinzipiellen Ver­ neinen von Personenschaden unter humanitären Gesichtspunkten speiste. Die Kritik an der „Roten Armee Fraktion“ fand indes nicht den uneinge­ schränkten Zuspruch des gesamten Netzwerkes, womit abermals die von 1976 an periodisch wiederkehrenden internen Differenzen zur Gewaltfra­ ge zutage traten. Eine „Gruppe aus dem ‚Traditionsverein‘ der RZ“ entgeg­ nete unter dem Titel „Es ist zum Kotzen“, „[d]ie Erschießung von Audran und Zimmermann damit zu kritisieren, dass sich niemand über ihren Tod gefreut habe, ist die dümmste (und zudem nicht richtige) aller denk­ baren Kritiken.“8363 Die Aktionen hätten „zwei Leute getroffen, die wie wenige andere an der Militarisierung Westeuropas verantwortlich beteiligt waren.“8364 Sie seien insofern wertvoll, als sie die Ebene der „unsichtba­ ren, unbekannten, feinen, gebildeten Schreibtischtäter, Manager und Auf­

8359 Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 200. 8360 Christian Klar, zit. n. Der Spiegel 1984a, S. 74. 8361 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 179. 8362 Vgl. ebd. 8363 Ebd., S. 180. 8364 Ebd.

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sichtsratsvorsitzenden“8365 in das öffentliche Bewusstsein katapultiert und folglich der „Entwicklung des Imperialismus“8366 entgegengewirkt hätten, der „Herrschaftsverhältnisse […] für den einzelnen nicht identifizierbar, abstrakt, anonym“8367 hinterlasse. Daneben zogen sie in bemerkenswerter Deutlichkeit die Ambivalenz ins Lächerliche, welche dem taktischen Geba­ ren der Gewalt gegen Sachen befürwortenden Mehrheit des Netzwerkes innewohnte: „Wenn die Verfasser/innen des dokumentarischen Schreibens [‚Die Bilanz ist schlimm‘] jemand anderen für einen Anschlag ‚vorziehen‘ – warum machen sie es nicht?“8368 9.4.5 Zunehmende Parallelen Unbeachtet ließen die „Revolutionären Zellen“ den ihnen partiell entge­ genkommenden Wandel im Gewaltverständnis der „Roten Armee Frakti­ on“, der aus dem Aufbau einer „antiimperialistischen Front“ durch die Dritte Generation resultierte. Zwar festigte die „Kommandoebene“ den traditionell stärker auf Personenschaden ausgelegten „bewaffneten Kampf“ der RAF,8369 indem ihre Mitglieder bewusst einen Weg „hin zu[r] […] Reduktion auf ‚gezielt tödliche Aktionen‘“8370 einschlugen, der „zusätzlich […] mit Metallteilen“8371 gefüllte „Bomben-Autos […], die Menschen […] zerreißen sollten“8372, sowie den fatalen Schusswaffengebrauch „zu etwas beinah [sic] Normalem verkommen ließ“8373. Abweichend von ihren Vorgängern akzeptierten sie aber in Gestalt der „Illegalen Militanten“ oder „Kämpfenden Einheiten“ einen Linksterrorismus, welcher sich weit­ gehend antimateriellen Anschlägen widmete. Dieser Dualismus lag bereits der ersten „Offensive“ zugrunde, die die „Rote Armee Fraktion“ nach dem Zerschlagen der Zweiten Generation im Jahre 1982 wagte. Die Spitze der Dritten Generation brüstete sich mit einem gescheiterten Anschlag auf die NATO-Schule in Oberammergau. Vermittels eines mit 25 Kilogramm

8365 8366 8367 8368 8369 8370

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Jesse 2008, S. 417-418. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 83. Ähnlich Taufer 2018, S. 152, 157. Vgl. auch Wunschik 1993, S. 183. 8371 Hogefeld 1996, S. 160. 8372 Ebd. 8373 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 83.

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Sprengstoff, „drei Gasflaschen“8374 und „96 schwere[n] Gleisbauschrau­ ben“8375 präparierten Fahrzeugs sollte er „Militärs direkt ausschalten“8376. Wenige Monate später bediente sich die „Kommandoebene“ eines Mittels, das angesichts der Angriffe auf Günter von Drenkmann, Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer nicht neu, jedoch nach wie vor Ausdruck besonderer Kaltblütigkeit war: des Ermordens aus nächster Nähe. Zwei Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ setzten Ernst Zimmermann im Februar 1985 in seinem Wohnhaus zunächst auf einen Stuhl und schossen ihm anschließend in den Hinterkopf.8377 In Primär- und Sekundärquellen rangiert die Tat auf der Ebene einer „regelrechte[n] Hinrichtung.“8378 Beiden Aktionen der „Stadtguerilla“ – dem fehlgeschlagenen Anschlag auf die NATO und dem Attentat auf Zimmermann – standen die zahlrei­ chen, „gegen Sachwerte“8379 gerichteten Anschläge des „Widerstands“ ge­ genüber, die bisweilen sogar in ihrem konkreten, erkennbar Personenscha­ den vermeidenden Zuschnitt der dezidiert antimateriellen Gewaltqualität der „Revolutionären Zellen“ glichen. So attackierten „Illegale Militante“ unter Nutzung von Explosivmitteln Anfang Mai 1985 die NATO‑Pipeline nahe des nordrhein-westfälischen Dorfes Ehringhausen. Die RZ hatten die Versorgungslinie 1984 bei Lorch ins Visier genommen. Ende Mai 1985 beschädigten sie die Pipeline in der Nähe von Mörfelden.8380 Insbesondere in den auf Personen zielenden ersten Aktionen der Drit­ ten Generation sah die wissenschaftliche Aufarbeitung zum westdeut­ schen Linksterrorismus den Auftakt zu einem „blanken Terror ohne Grenzen“8381, der „nicht mehr auf die eventuelle Tötung Unbeteiligter Rücksicht zu nehmen beabsichtigte.“8382 Verwiesen wird dabei auf den versuchten Anschlag in Oberammergau, der in seiner Wirkweise unbestrit­ ten einen größtmöglichen Schaden unter den im Detonationsradius zufäl­ lig anwesenden Menschen anrichten sollte. Diese Wertung ist insofern problematisch, als sie die Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ lediglich von außen betrachtet. An den maßgeblicheren eigenen Vorstellungen der

8374 8375 8376 8377 8378 8379 8380

Winkler 2008, S. 399. Peters 2008, S. 602. ID-Verlag 1997, S. 327. Vgl. Peters 2008, S. 605. Ebd. Ähnlich Taufer 2018, S. 150. Bundesministerium des Innern 1986, S. 124. Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 124, 127; ID-Archiv im Internatio­ nalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 382. 8381 Manfred Klink, zit. n. Straßner 2003, S. 136. 8382 Ebd.

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Gruppe misst sie diese hingegen nicht. Eine Verzerrung ist die Folge: Das Prädikat des „blanken Terror[s] ohne Grenzen“8383 hebt die Anschläge der „Roten Armee Fraktion“ auf die Stufe indifferenter und opferreicher terroristischer Taten, darunter der Gebrauch von Schusswaffen und Hand­ granaten durch die „Japanische Rote Armee“ auf dem Flughafen von Tel Aviv im Jahre 1972 (26 Tote, 80 Verletzte)8384 sowie die Bombenexplosion im Hauptbahnhof von Bologna Anfang August 1980 (85 Tote, mehr als 200 Verletzte).8385 Unberücksichtigt bleibt, dass auch die „Kommandoebe­ ne“ der Dritten Generation einem eigenen, als bindend empfundenen Gewaltkodex unterlag und dabei limitierende Grundsätze achtete, wie sie die Erste und Zweite Generation aufgestellt hatten. Aus Sicht der RAF soll­ te der gescheiterte Anschlag in Oberammergau nicht wahllos Zivilisten, sondern Angehörige militärischer Einheiten treffen – mithin einen einge­ grenzten Kreis an Personen, der schon 1972 und 1981 bei den Autobom­ benanschlägen in Heidelberg und Ramstein aufgrund seiner – vermeintli­ chen – Verantwortlichkeit im imperialistisch‑kapitalistischen System die Rolle des Opfers hatte einnehmen müssen. Dieser zwischen „Verantwortli­ chen“ und „Unbeteiligten“ differenzierende Blick, welcher von der Grün­ dung der „Roten Armee Fraktion“ an bewusst lohnabhängige Bürger aus der terroristischen Gewalt auszuschließen versuchte, ließ sich gleicherma­ ßen allen weiteren politisch motivierten Anschlägen und Attentaten der Dritten Generation entnehmen. Dennoch ist der „Kommandoebene“ ein mehrmaliges Überschreiten selbst gesetzter Grenzen anzulasten: Die sich in ihrer Frequenz, nicht jedoch in ihren Ausmaßen von der Brutalität der Vorgänger unterscheidende Gewalttätigkeit gegen „Verantwortliche“ hielt Einzug in die logistischen Aktivitäten der Dritten Generation.8386 Galt der Ersten und Zweiten Generation Gewalt gegen Personen im Kontext ihrer Beschaffungskriminalität als zu vermeidende Eskalation, die – wenn überhaupt – nur zur Flucht oder Verteidigung herbeigeführt werden sollte, sah sie die Dritte Generation als Mittel zum Zweck. Im Juni 1985 setzten Mitglieder der RAF „[o]hne Vorwarnung“8387 und aus geringer Distanz eine Schusswaffe gegen einen Geldboten ein, um finan­ zielle Mittel zu erbeuten. Sie trafen den Boten am Hals und verletzten

8383 8384 8385 8386 8387

Manfred Klink, zit. n. ebd. Vgl. Edelmann 2008, S. 323; Eddel 2018, S. 112. Vgl. Weinberg/Eubank 1987, S. 48. Vgl. Straßner 2003, S. 297. Peters 2008, S. 609.

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ihn schwer.8388 Anfang August 1985 ermordete die Dritte Generation den US‑amerikanischen Soldaten Edward Pimental „mit einem aufgesetzten Schuss in den Hinterkopf.“8389 Die infolge des Mordes erlangte Ausweis­ karte ermöglichte der Gruppe den Zutritt zur Rhein‑Main Air Base, wo wenige Stunden später ein mit 126 Kilogramm Sprengmittel und fünf Gasflaschen beladener Kraftwagen zwei Personen tötete und 23 Menschen verletzte.8390 Im September 1985 schlugen enge Unterstützer der „Kom­ mandoebene“ zwei Frauen mit Meißeln nieder, die eine größere Geldsum­ me bei sich führten. Beiden fügten sie erhebliche Verletzungen am Kopf zu.8391 Anders als die von der Öffentlichkeit kaum diskutierten Überfälle auf Geldboten sowie die in ihnen zu beobachtende Gewalt gegen Unbetei­ ligte diskreditierte der beispiellose Mord an Edward Pimental nachhaltig das Gewaltverständnis der Dritten Generation. Mit ihm wiederholte sie auf logistischer Ebene willentlich jenen Schritt, den die ihr vorangegangene Generation im „Mai‑Papier“ aus dem Jahre 1982 zu der Entführung der „Landshut“ im „Deutschen Herbst“ als gravierenden Fehltritt des „bewaff­ neten Kampfes“ beschrieben hatte.8392 In der Rechtfertigung der Aktion, die unumwunden das Erlangen eines Identitätsnachweises als Ziel des Todes beschrieb,8393 entfaltete sich vor den Augen des Umfeldes ein „funk­ tionales Verhältnis“8394 zur Gewalt. Erkennbar schreckte dieser „Utilitaris­ mus“8395 nicht davor zurück, „willkürlich und beliebig“8396 ausgewählte „Menschen zum Objekt“8397 zu machen. Ein derartiges Gebaren wider­ sprach indes gängigen linksextremistischen Prinzipien: „[I]n keiner Wei­ se“, so Birgit Hogefeld in ihrer selbstkritischen Beleuchtung der Tat, ließ es sich „mit revolutionärer Moral und Utopien von einer menschlichen Gesellschaft vereinbar[en]“8398. Nicht zu verwundern vermochten daher die vernichtenden Reaktionen, die Teile der „politischen Gefangenen“ in einem „heftigen Streit“8399, Akteure des gewaltbereiten Linksextremismus

8388 8389 8390 8391 8392 8393 8394 8395 8396 8397 8398 8399

Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 122. Peters 2008, S. 611. Vgl. Der Spiegel 1985b, S. 77; Peters 2008, S. 610. Vgl. Peters 2008, S. 609. Vgl. Hogefeld 1996, S. 89; ID-Verlag 1997, S. 305. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 344-345. Hogefeld 1996, S. 89. Straßner 2003, S. 148. Möller/Tolmein 1999, S. 180. Hogefeld 1996, S. 89. Ebd., S. 82. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1995, S. 311.

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in Bekundungen zeigten.8400 Im öffentlichen Diskurs festigte sich das Bild einer an die sowjetische Geheimpolizei erinnernden „Roten Armee Frakti­ on“, die „ganz im Tscheka‑Stil mit Genickschuss“8401 mordet. Halbherzig formulierte die „Kommandoebene“ eine Distanzierung, wel­ che das Töten eines „einfache[n] GI“8402 nicht grundsätzlich, sondern vor dem Hintergrund „der konkreten Situation im Sommer“8403 1985 ablehn­ te. „Wir sagen natürlich nicht [sic] dass wir jetzt jeden GI, der um die Ecke kommt, erschießen – oder dass andere Genossen das tun sollen.“8404 Da der „Krieg gegen den US‑Imperialismus“8405 in Westdeutschland ge­ genwärtig nicht eine ausreichende „strategische Qualität“8406 aufweise, ar­ gumentierte die RAF, könnten derzeit keinesfalls „alle Angehörigen der US‑Streitkräfte an jedem Ort und zu jeder Zeit [zu] militärische[n] An­ griffsziele[n]“8407 erhoben werden. Im Umkehrschluss hieß dies: Ein Mord, wie ihn die „Rote Armee Fraktion“ an Edward Pimental begangen hatte, würde in einem fortgeschrittenen Stadium des „bewaffneten Kampfes“ zu einem regulären Mittel der „Stadtguerilla“ aufsteigen. Nach dem Veröf­ fentlichen dieser Position setzte die Dritte Generation ihre zweigleisige Gewalt unbeirrt fort, verzichtete dabei aber auf ein weiteres Brutalisieren ihrer logistischen Aktivitäten. Die „Kommandoebene“ zeichnete bis ein­ schließlich 1990 für fünf weitere Anschlagsversuche auf Personen verant­ wortlich, von denen zwei scheiterten und drei im Tod der jeweiligen Op­ fer mündeten. Gerold von Braunmühl streckten Mitglieder der „Roten Ar­ mee Fraktion“ vor seinem Haus in Bonn mit zwei Schüssen in den Ober­ körper nieder. Er verstarb an zwei weiteren Schüssen, die – ähnlich wie bei dem Attentat auf Ernst Zimmermann im Jahr zuvor – aus geringer Distanz auf seinen Kopf abgegeben wurden. Im Zuge des Bombenanschlags auf Karl-Heinz Beckurts im Juli 1986 starb ebenfalls der von ihm beanspruchte Fahrer. Der Chauffeur Hans Tietmeyers entging – ebenso wie Tietmeyer selbst – einem körperlichen Schaden, da die Maschinenpistole, mit der er „gezielt […] ausgeschaltet werden sollte“8408, nach Aussagen der RAF eine Ladehemmung aufwies. Alfred Herrhausens Begleitung überlebte das

8400 8401 8402 8403 8404 8405 8406 8407 8408

Vgl. Bundesministerium des Innern 1986, S. 123. Wolff 1985, S. 7. Möller/Tolmein 1980, S. 180. ID-Verlag 1997, S. 349. Ebd., S. 347. Ebd., S. 349. Ebd. Ebd. Ebd., S. 388.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

1989 ausgeführte Attentat mit schweren Verletzungen.8409 Die im zusätzli­ chen Personenschaden liegende Besonderheit der Anschläge auf Beckurts, Tietmeyer und Herrhausen bot keine Überraschung, im Gegenteil: Sie bestätigte die von der Zweiten Generation in die Praxis überführte und von den „politischen Gefangenen“ verteidigte8410 Linie, derzufolge sich das Verletzen und Töten von Fahrern wie Leibwächtern als Kollateralschäden billigend in Kauf nehmen ließen. Die mit dem „Kommandobereich“ zusammenwirkenden Ebenen der „Roten Armee Fraktion“ legten ihr Augenmerk in der „Offensive `86“ abermals auf Brand- und Sprengstoffanschläge, welche eine „Zerstörung von Sachwerten“8411 bewirken sollten. Im Gegensatz zu den Aktionen der „Offensive `84/`85“ blieb der antimaterielle Charakter einzelner Angriffe des engeren Umfelds der RAF im Jahre 1986 zweifelhaft. Hervorzuheben waren die Anschläge auf die Firma „Dornier“ und das Bundesamt für Ver­ fassungsschutz in Köln, beide unter Einsatz von Autobomben begangen. Analog dem Vorgehen der Dritten Generation 1984 in Oberammergau suchten die Täter die Wirkung der Sprengsätze durch die Zugabe von „Schrauben und Muttern“8412 zu steigern, was mit einem erhöhten Risiko für Personenschaden einherging.8413 Die übrigen Aktionen der nachgela­ gerten Gruppen bewegten sich auf einem Niveau, das bereits die „Revo­ lutionären Zellen“ fest besetzt hatten. Exemplarisch zu nennen ist das Beschädigen einer Trafostation und einer Sendeanlage des Bundesgrenz­ schutzes in Swisttal-Heimerzheim durch „Illegale Militante“, das gänzlich den Fundamenten des Gewaltverständnisses der RZ entsprach. Wie schon im Jahre 1985 wiesen einige der auf materielle Verluste ausgelegten An­ griffe der „Roten Armee Fraktion“ sogar in ihrer Zielauswahl Parallelen zu den Kampagnen der „Zellen“ auf. Der Konzern IBM erlitt 1983 in Reutlingen durch eine Aktion der RZ, Ende 1986 in Heidelberg aufgrund eines Gewaltaktes der „Kämpfenden Einheiten“ Sachschaden.8414 Hatten die „Revolutionären Zellen“ im Mai 1984 die „zukünftige Filiale der Frauenhofer-Gesellschaft in Duisburg“8415 attackiert, verübten „Illegale Mi­

8409 8410 8411 8412 8413 8414

Vgl. Peters 2008, S. 617, 628, 652-653. Vgl. Möller/Tolmein 1999, S. 180. Bundesministerium des Innern 1987, S. 131. Ebd., S. 132. Vgl. Straßner 2003, S. 297. Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 132; ID-Archiv im Internationa­ len Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 379-380. 8415 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 319.

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litante“ im Juli 1986 einen Sprengstoffanschlag auf die Liegenschaft des „Frauenhofer‑Instituts für Lasertechnik“.8416 Während die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ mit ihrem Gewaltverständnis neue Wege beschritt, fielen die „Revolutionären Zel­ len“ – deren Mitglieder sich wohl „in der Regel nicht bewaffnet“8417 bewegten und das Risiko einer Gewaltspirale – angeblich – wiederholt de­ battierten8418 – Mitte der 1980er Jahre in alte Muster zurück. Im Zuge des Wiederbelebens ihrer „Vermassungsstrategie“ entlang der „F-Kampagne“ erhielt eine Strömung Auftrieb, die nach der internen Kontroverse um den Anschlag auf Heinz-Herbert Karry und dem ablehnenden Bewerten der von der OIR in den Jahren 1982 und 1983 gegen zivile Ziele verübten Angriffe stillgehalten hatte. Erneut stützte sie sich auf die Westberliner Strukturen der RZ mit ihren regionalen Eigenheiten. Früh schrieb ihnen die Forschung eine „besondere Militanz“8419 zu, deren herausragende Qua­ lität durch die Auflösung der „Bewegung 2. Juni“ beeinflusst worden sei. Aktivisten aus dem Umfeld der für Personenschaden bekannt gewordenen B2J traten offenbar nach 1980 in die Westberliner „Zellen“ ein.8420 Dort verbanden sie sich mit Mitgliedern der „Revolutionären Zellen“, welche die Gründungsphase des Netzwerkes durchlaufen hatten – unter ihnen die mit den Decknamen „Judith“ und „Jon“ versehenen, tonangebenden Alt­ mitglieder Sabine Eckle und Rudolf Schindler.8421 Wer den Prozessakten aus den Gerichtsverfahren gegen Westberliner Mitglieder der RZ Anfang der 2000er Jahre folgt, erkennt das Bemühen der Beiden, mit Blick auf Personenschaden offensiv „das Recht zu richten“8422 einzufordern. Mit die­ ser Haltung widersprachen sie nicht nur der Mehrheitsmeinung innerhalb der „Revolutionären Zellen“, die „sehr genau darauf achtet[e], niemanden zu verletzen“8423 – und sich zu diesem Zweck – angeblich – der „klare[n] Vereinbarung [unterwarf], dass man warnt, wenn man weiß, dass eine Bombe nicht hochgegangen ist.“8424 Auch traten Eckle und Schindler in Opposition zu Aktivisten aus den eigenen Reihen. Mehreren Angehörigen der beiden in Westberlin agierenden „Zellen“ galten Anschläge auf Perso­

8416 8417 8418 8419 8420 8421 8422 8423 8424

Vgl. Bundesministerium des Innern 1987, S. 131. Unsichtbare 2022, S. 76. Vgl. ebd., S. 77. Horchem 1988, S. 94. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. Dietrich 2009, S. 154-155. Sabine Eckle, zit. n. ebd., S. 161. Strobl 2020, S. 66. Vgl. auch Unsichtbare 2022, S. 126-127. Unsichtbare 2022, S. 176.

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nen als unvertretbar. Einer der Kritiker – Tarek Mousli – argumentierte angeblich auf Grundlage ethischer Erwägungen gegen derartige Taten. Be­ fürchtet wurden überdies ein erhöhter Fahndungsdruck sowie der Verlust an Solidarität in der politischen Peripherie.8425 Zu den in Westdeutschland verzeichneten Anschlägen der „Flüchtlings­ kampagne“, die erklärtermaßen „kein Menschenleben gefährden“8426 und unter anderem behördliche Aktenbestände, die Klimaanlage des Bundes­ verwaltungsamtes in Köln und Verhandlungssäle eines Gerichts zerstören sollten,8427 bildete ein gewichtiger Teil der Aktionen in Westberlin einen scharfen Kontrast. Von den vier Angriffen, welche die dortigen Gruppen 1986 und 1987 im Kontext der „F‑Kampagne“ wagten, richteten sich zwei gegen Menschen. Dabei führten die „Zellen“ die 1978 begründete Tradition der Knieschussattentate fort. 1986 schossen sie zunächst dem Leiter der Berliner Ausländerbehörde, Harald Hollenberg, aus nächster Nähe „in die rechte und sodann in die linke Wade.“8428 1987 – offenbar nach Übungen an Schusswaffen zur Schadensbegrenzung – verletzten die Westberliner RZ Günter Korbmacher vor seinem Wohnhaus durch zwei Schüsse am linken Unterschenkel.8429 Wiewohl der Widerspruch des link­ extremistischen Umfeldes an dieser Vorgehensweise im Vergleich zu den Reaktionen nach dem Tod Karrys weniger drastisch ausfiel und somit den Tätern nicht spürbar Einhalt gebot,8430 sollte die Aktion gegen Korb­ macher die letzte ihrer Art bleiben. Vermutlich bedingt durch das im Nachgang zur „Aktion Zobel“ gestiegene Sicherheitsbedürfnis und die in­ terne strategische Reflexion Ende der 1980er Jahre zeichneten die „Revolu­ tionären Zellen“ ausschließlich für Sachschäden verantwortlich, denen ein niedrigeres Risiko sicherheitsbehördlicher Aufklärung sowie eine geringe­ re Verletzungsgefahr für unbeteiligte Personen inhärent war. Gemessen an ihren spezifischen Umständen ließen die weiteren Angriffe ebenfalls die Grenzen zwischen dem Gewaltverständnis des Netzwerkes und jenem des engeren Umfeldes der „Roten Armee Fraktion“ verschwimmen. Im November 1987 thematisierten die RZ in derselben Form die südafrikani­ sche Apartheid, wie sie die nachgeordneten Ebenen der RAF 1986 bedient 8425 Vgl. Dietrich 2009, S. 161, 171; Unsichtbare 2022, S. 77-78, 121-122. 8426 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 541. 8427 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 76; ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 540-541. 8428 Dietrich 2009, S. 157-158. 8429 Vgl. ebd., S. 162; Unsichtbare 2022, S. 125. 8430 Vgl. Ehemalige Mitglieder der Revolutionären Zellen 2001.

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hatten: mit einem Anschlag auf das Eigentum eines deutschen Unterneh­ mens, dem „enge geschäftliche Verbindungen zur Republik Südafrika […] nachgesagt“8431 wurden. Durch Brandsätze beschädigten die „Revolutionä­ ren Zellen“ 29 abgestellte Lastkraftwagen der Supermarktkette „Rewe“.8432 Trotz der sich jahrelang in der Praxis abzeichnenden Annäherung er­ wies sich die Qualität sozialrevolutionärer Gewalt unverändert als belas­ tender Faktor in der Beziehung der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“. Unmissverständlich verdeutlichte dies die Erklä­ rung, welche die RZ 1987 nach dem Attentat auf Günter Korbmacher in Umlauf brachten. Im Kern als schlichtes Tatbekenntnis angelegt, das die Aktion in gewohnter Weise ideologisch einordnen sollte, arbeitete sie wie kaum ein anderes Dokument aus der Feder der „Zellen“ zum einen das seit jeher taktisch bedingte Verhältnis des Netzwerks zur Gewalt gegen Personen, zum anderen die fundamentalen Differenzen zwischen dem Gewaltverständnis der „Illegalen“ der RAF und jenem der in der Legalität agierenden Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ heraus. Zum zentralen Motiv der Knieschüsse auf Korbmacher erhob das Bekennerschreiben eine Funktion des „bewaffneten Kampfes“, welche die RZ bereits mehrfach in ihrer Agitation – insbesondere zur Rechtfertigung einzelner Morde der „Roten Armee Fraktion“ – bedient hatten. Durch den Angriff auf Korbma­ cher, so die Verfasser des Textes, sollte sich die weitgehend anonyme Ebe­ ne der „Schreibtischtäter“8433 in das „öffentliche Bewusstsein brennen“8434. Nach dieser Betrachtung zur grundsätzlichen Funktion eines Attentats manifestierte sich die Abgrenzung von der RAF. „Der Angegriffene und unmittelbare Tatzeuge“, schrieben die Westberliner „Zellen“, „soll überle­ ben, ja er muss es unter allen Umständen“8435. Denn entscheidend sei auch, das Opfer selbst mithilfe einer „langwierige[n] körperliche[n] Beein­ trächtigung“8436 und der daraus folgenden beruflichen Konsequenzen für seine – vermeintlichen – Verbrechen angemessen zu bestrafen.8437 Unmittelbar an diese Einschätzung anknüpfend, konzentrierten sich die Verantwortlichen des Tatbekenntnisses in ihrer weiteren Argumen­ tation auf das Töten von Menschen. Erkennbar entwickelten sie ihren 8431 Bundesministerium des Innern 1987, S. 134. 8432 Vgl. Bundesministerium des Innern 1988, S. 78-79. 8433 ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 557. 8434 Ebd. 8435 Ebd., S. 556. 8436 Ebd., S. 557. 8437 Vgl. ebd., S. 557-558.

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Standpunkt ausgehend von landläufigen Vorstellungen zu einem bewaff­ neten Konflikt zwischen Staat und Guerilla: Der Mord an politischen Opponenten setze einen „offene[n] Klassenkrieg“8438 voraus, „in dem die Liquidierung des Gegners zu einer Macht- und Überlebensfrage der Un­ terklassen wird“8439. Die Bedingungen in Westdeutschland seien indes „weit entfernt“8440 von einer solchen Auseinandersetzung. Dementspre­ chend würden tödliche Anschläge auf Personen im gegenwärtigen Stadi­ um des sozialrevolutionären „Kampfes“ engen Grenzen unterliegen, die sich nach Ansicht der RZ exklusiv aus der „politischen Dimension“8441, also der tatsächlichen Möglichkeit speisten, „ein Gefühl der Befreiung und Ermutigung“8442 hervorzubringen. Eingehalten werden könnten sol­ che Grenzen ausschließlich bei Attentaten auf „allgemein verhasste und gefürchtete Volksfeind[e]“8443. Angriffe auf Personen, lautete folglich die Schlussfolgerung der „Zellen“, müssten „äußerste und extremste Mittel im Klassenkampf“8444 bleiben. Aus dieser Position heraus, welche die Ver­ mittelbarkeit ihrer affirmativen Haltung zu schweren Personenschäden geschickt durch relativierende Einschübe zu steigern suchte, setzten die Westberliner „Zellen“ zu einem verbalen Schlag gegen den Gewaltbegriff der Dritten Generation an. Anders als die „Hinrichtung des Menschenjä­ gers Buback“8445 könne ein Anschlag, wie ihn die „Rote Armee Fraktion“ 1986 gegen Gerold von Braunmühl richtete, nicht die Mindestanforderung einer „Zuspitzung des Klassenbewusstseins“8446 erfüllen: „[W]as sagt die Aktion anderes aus als: da war jemand, der für das und das verantwortlich war und jetzt ist er weg, aus der Welt geschafft. Das Volk erfährt von seiner Existenz erst, nachdem sie ausgelöscht ist. Es gibt keine Chance, ihn zu hassen, seinen Tod zu wünschen. Ein solcher Tod kann kein Aufatmen, keine Erleichterung auslösen.“8447 Überdies, so ein ergänzender, jedoch deutlich subtiler geäußerter Vorwurf der „Revolutionären Zellen“, trage die „Rote Armee Fraktion“ aufgrund

8438 8439 8440 8441 8442 8443 8444 8445 8446 8447

Ebd., S. 558. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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des „inflationären Gebrauch[s]“8448 des im Grunde nur in Ausnahmefällen legitimen politischen Mordes zu seinem Entwerten bei. Beide Kritikpunk­ te kulminierten in einem schonungslosen Fazit: Wer weder den strategi­ schen Anforderungen eines tödlichen Anschlags Rechnung trage noch zurückhaltend von diesem Mittel Gebrauch mache, breche „leichtfertig […] absolut verpflichtende Gesetze der politischen Moral und Verantwor­ tung“8449. Und weiter: „Eine Guerilla, […] die zunehmend ihre Skrupel – dieses wesentliche Merkmal, das revolutionäre Frauen und Männer vom Klassenfeind un­ terscheidet – über Bord wirft, verspielt und verliert damit auch ihren eigentlichen Kredit und Anspruch: einen Klassenkampf mit dem Volk und für das Volk zu führen“8450. Was als demonstrative Generalabrechnung mit den „Offensiven“ der Drit­ ten Generation und ihren Grenzüberschreitungen auf logistischer Stufe verstanden werden konnte, ließ die „Kommandoebene“ der „Roten Ar­ mee Fraktion“ unkommentiert. Die Kritik der „Guerilla“ an der „Guerilla“ verpuffte. Erst Mitte 1990 – rund drei Jahre nach dem ungewohnt scharfen Delegitimieren durch die „Revolutionären Zellen“ – zeichnete sich ein Umdenken der „Aktiven“ der RAF ab, schlugen sie doch beim Erörtern ihrer Gewalt unvermittelt andere Töne an. Dieser Wandel dürfte indes we­ niger auf das Mahnen der „Zellen“ als auf die Notwendigkeit eines strate­ gischen Neuorientierens zurückzuführen sein, welche sich nach dem Mau­ erfall aufdrängte. Strukturell gesehen, wohnten der in den Jahren 1989 und 1990 forcierten Anschlagskampagne der „Roten Armee Fraktion“ kei­ ne neuen Elemente inne. Das ab 1985 im Gewaltverständnis der Dritten Generation zu beobachtende Wohlwollen gegenüber Gruppen, die im Geflecht der „antiimperialistischen Front“ zu Gewalt gegen Sachen grif­ fen, war ungebrochen: Die „Illegalen Militanten“ flankierten die Angriffe auf Herrhausen und den im Bundesministerium des Innern eingesetzten Staatssekretär Hans Neusel mit vier Sprengstoff- und Brandanschlägen auf Einrichtungen von Unternehmen, darunter „Bayer“, die „Deutsche Bank“ und „Siemens“.8451 Zu erstaunen vermochte dagegen ein Hinweis, den die „Kommandoebene“ in ihrem Bekennerschreiben zum gescheiterten Atten­

8448 8449 8450 8451

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Bundesministerium des Innern 1990a, S. 81; Bundesministerium des In­ nern 1990b, S. 63.

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tat auf Hans Neusel hinterlegte. Den Fehlschlag der Aktion erklärte sie mit der Menge an Explosivstoffen, den ihre Mitglieder im Sprengsatz verbaut hatten. Da die Gruppe den „hundertprozentigen Schutz Unbeteiligter [ha­ be] gewährleisten“8452 wollen, sei diese zu niedrig bemessen worden. Was beim flüchtigen Lesen als banale Begründung erschien, konnte sich in einem Vergleich mit vorangegangenen Papieren der Dritten Generati­ on als frappierende Abweichung darstellen. Erstmals war dem in der Öf­ fentlichkeit präsentierten Gedankengebäude der „Kommandoebene“ die Absicht zu entnehmen, unbeteiligte Dritte vor den Auswirkungen ihrer Gewalt zu schützen. Dies spiegelte insofern einen sprachlichen Bruch wider, als die Dritte Generation sich in bisherigen Erklärungen termino­ logisch ausschließlich auf das Ermorden von Personen konzentriert hatte. In martialischem Duktus hob sie bis 1990 stets einseitig ihren Willen hervor, Menschen „auszuschalten“8453, ja gar hinzurichten.8454 Auch in anderer Hinsicht musste die Formulierung im Tatbekenntnis zum erfolg­ losen Angriff auf Neusel bemerkenswert erscheinen. Indem die Dritte Ge­ neration den Schutz der am „bewaffneten Kampf“ nicht beteiligten Per­ sonen eigenen Aussagen zufolge bereits in der Vorbereitungsphase einer Aktion durch geeignete Maßnahmen zu garantieren suchte, erinnerte sie in ihrem Vorgehen an einen weiteren Akteur der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“: die „Revolutionären Zellen“. Das Sich-Annähern im Ge­ waltverständnis, welches ab 1985 auf der Ebene der „Illegalen Militante“ verzeichnet werden konnte, setzte sich damit in den Überlegungen der „Kommandoebene“ fort. Weitaus deutlichere Indizien für das in Gewaltfragen zunehmende Übereinstimmen der „Illegalen“ der RAF und der Mitglieder der RZ lie­ ferte Anfang 1991 der Anschlag auf die Auslandsvertretung der Vereinig­ ten Staaten in Bonn. Parallelen zeigten sich zum einen in der Tat selbst, zum anderen im nachträglichen Rechtfertigen. Im Beschuss des Botschafts­ gebäudes mittels Leuchtspurmunition während der Abendstunden – einer Zeitspanne, in der sich kaum Personal auf der Liegenschaft aufhielt – of­ fenbarte sich eine dezidiert antimaterielle Ausrichtung, die qualitativ von dem zwischen 1984 und 1990 ungeachtet externer Kritik beibehaltenen Gewaltniveau der „Kommandoebene“ abwich. Maßgeblich gewesen sei, so das Bekennerschreiben der RAF, der Schutz der Menschen, die anlässlich des Zweiten Golfkriegs vor der Botschaft eine Mahnwache abhielten. Um

8452 ID-Verlag 1997, S. 394. 8453 Ebd., S. 327. Ähnlich ebd., S. 388. 8454 Vgl. ebd., S. 391.

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das Verletzen Unbeteiligter auszuschließen, hätten die „Illegalen“ kurz vor dem Anschlag das Gelände vor der Auslandsvertretung „kontrolliert“8455 und auf den Einsatz von „Leuchtspur‑Munition“8456 bestanden. Durch den Gebrauch dieser Munitionsart sollten Unbeteiligte sogleich erfahren, „wo genau sich die Schießerei abspielt“8457 und in welche Richtung sie ohne Gefahr hätten flüchten können.8458 Dass die Aktion gegen die US‑Bot­ schaft zwar einer Zäsur, nicht aber einer schlagartigen Abkehr von der Gewalt gegen Personen gleichkam, signalisierte die „Kommandoebene“ nur wenige Monate später. Mit einem Schnellfeuergewehr erschoss sie im April 1991 aus größerer Distanz Detlev Karsten Rohwedder – ein Anschlag, der ob seiner militärisch anmutenden Präzision und des Man­ gels an verwertbaren Spuren zur Feststellung der Täterschaft bis heute als Projektionsfläche für haarsträubende Spekulationen herhält.8459 Nahtlos reihte er sich ein in die Gewalttaten, welche ab Mitte der 1980er Jahre das Bild der Dritten Generation als besonders skrupelloser, zur „Eskalation des Militärischen“8460 neigender Gruppe gefestigt hatten. Die „Revolutionären Zellen“ erblickten im sich wandelnden Gewaltbe­ griff der „Roten Armee Fraktion“ keine Besserung der von ihnen in der Vergangenheit hervorgehobenen Defizite, im Gegenteil: Bestätigt sah ein Teil der RZ die Beobachtungen, die 1987 im Nachgang zum Attentat auf Günter Korbmacher schriftlich dokumentiert worden waren. Folglich konnten die neuerlichen Anpassungen im Gewaltverständnis – ähnlich den übrigen Änderungen, die die Dritte Generation Anfang der 1990er Jahre an ihrer Strategie vornahm – das Verhältnis zwischen „Roter Ar­ mee Fraktion“ und „Revolutionären Zellen“ ebenfalls nicht positiv beein­ flussen. Erschließen ließ sich dies aus einem Papier, das eine „Gruppe aus dem Traditionszusammenhang der Revolutionären Zellen“ im Juli 1991 unter dem geradezu programmatischen Titel „This is not a love song“ veröffentlichte. Zunächst griffen die Autoren die jüngsten Aktivitäten der „Stadtguerilla“ auf. Unübersehbar verschafften sie dabei ihrem Unver­ ständnis Raum, das aus dem „Beschuss der Bonner US‑Botschaft durch ein Kommando der RAF“8461 sowie den hierzu im Bekennerschreiben fixierten 8455 8456 8457 8458 8459 8460 8461

Ebd., S. 404. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Peters 2008, S. 27-28; Sagatz 2020. Hogefeld 1996, S. 160. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 659.

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Überlegungen resultierte. Der „ziellose“8462 Gebrauch von Waffen gegen ein Objekt, in dessen Nähe Aktivisten „aus der Anti‑Kriegsbewegung“8463 protestierten, „entwerte[te] […] den Einsatz revolutionärer Gewalt“8464. Ein „nicht zu überbietender Zynismus“8465 zu sehen sei in der Aussage der „Roten Armee Fraktion“, „die Gefährdung Unbeteiligter durch die Mi­ schung der tödlichen Geschosse mit Leuchtspurmunition ausgeschlossen zu haben“8466. Zweifellos, so die Interpretation der RZ, hätte der Anschlag „völlig unbeteiligte Menschen in Gefahr gebracht“8467. Im weiteren Verlauf des Textes gelangten die Verfasser zu einem grund­ sätzlichen Betrachten linksterroristischer Gewalt, das sich gegen eine „ver­ hängnisvolle Tendenz zum Militarismus“8468 stemmte. Auch in dieser weitreichenden Perspektive stand die „Rote Armee Fraktion“ im Zentrum. Taten, wie zum Beispiel der „Mord an dem US-Soldaten Pimental“8469, hätten „fatale politische Folgen für die Linke hervorgebracht“8470. Ableiten lasse sich ihre Notwendigkeit „nicht aus der Funktion des Gegners, wie die RAF uns das seit Jahren predigt.“8471 In diesem Zusammenhang griffen die „Revolutionären Zellen“ implizit die gedankliche Kette der Dritten Generation auf, welche die Schüsse auf Rohwedder mit der Rolle des Treuhandvorsitzenden als „im Interesse von Macht und Profit8472“ agieren­ der „Schreibtischtäter“8473 begründet hatte. Die Autoren des Papiers „This is not a love song“ konstatierten, der Tod eines „bis dahin anonyme[n] Schreibtischtäters“8474 erziele mitnichten eine nachhaltige „politische Wir­ kung“8475. Sodann wiederholten sie jenes harsche Urteil, das sich in der 1987 veröffentlichten Kritik am Attentat auf Gerold von Braunmühl fand. Das Ermorden eines staatlichen oder wirtschaftlichen Funktionsträgers

8462 8463 8464 8465 8466 8467 8468 8469 8470 8471 8472 8473 8474

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 661. Ebd. Ebd. Ebd. ID-Verlag 1997, S. 405. Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 2, S. 661. 8475 Ebd.

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„verschafft niemandem eine Atempause, hat nichts Befreiendes und Mobilisierendes. […] [D]ie inflationäre Anwendung dieses Mittels zer­ stört den revolutionären Befreiungsanspruch von Innen – dieses letzte Mittel im revolutionären Kampf verkommt zum Spektakel. Eine mili­ tante Linke, die die absolut verpflichtenden Grundsätze von Politik und Moral leichtfertig aufgibt und ihre Skrupel verliert – dieses we­ sentliche Merkmal, was revolutionäre Frauen und Männer vom Geg­ ner unterscheidet – verliert den Kredit und den Anspruch, einen revo­ lutionären Kampf für eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu führen.“8476 Abschließend stellten die „Revolutionären Zellen“ dem in ihren Augen unverändert problembehafteten Gewaltbegriff der Dritten Generation eine eigene Vision linksterroristischer Gewalt entgegen, die letztmalig in der Geschichte des Netzwerks einen Einblick in die – von 1973 an – sukzessive propagandistisch aufbereiteten Maxime des „bewaffneten Kampfes“ der RZ geben sollte. Ganz im Sinne des 1980 präsentierten Mantras, „[e]s gibt für uns kein hierarchisches System von Aktionen“8477, verkündete das Pamphlet „This is not a love song“, „[m]ilitante Aktionen“8478 bildeten nicht das, sondern eines der „unverzichtbare[n] Mittel politischer Inter­ vention.“8479 Mit Blick auf derartige Taten unterschieden die Autoren in bekannter, taktisch bedingter Weise zwischen „Bestrafungsaktionen“8480 und dem „politischen Mord“8481. Erste seien legitim, sofern sich mit Si­ cherheit ausschließen lasse, „dass die angegriffene Person getötet wird und Unbeteiligte gefährdet werden“8482. Denn: „Für das Regime sind Menschen Schachfiguren; unser Kampf spielt nicht mit dem Leben von Menschen!“8483 Das Töten von Personen hingegen lehnten die „Revolutio­ nären Zellen“ ab. Diese Haltung bezog sich indes nicht auf alle Phasen des „sozialrevolutionären Kampfes“. Von Morden sehe das Netzwerk ab, so die Verantwortlichen des Textes „This is not a love song“, „weil der Stand der sozialen Kämpfe in diesem Land weit davon entfernt ist, dass die Liquidierung des politisches Gegners zu einer Macht- und Überlebensfrage

8476 8477 8478 8479 8480 8481 8482 8483

Ebd., S. 661-662. Ebd., Band 1, S. 350. Ebd., Band 2, S. 662. Ebd. Ebd., S. 661. Ebd. Ebd. Ebd.

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geworden wäre.“8484 Im Umkehrschluss legte dieser Einschub nahe, die „Zellen“ würden „den politischen Mord“ akzeptieren, sobald die erforder­ lichen Rahmenbedingungen gegeben seien. Während sich die „Revolutionären Zellen“ nach dem Veröffentlichen dieser Zeilen in einem Richtungsstreit „verschiedene[r] Tendenzen“8485 verloren, der im Kern der Identifikation einer angemessenen Strategie diente und dabei den Gewaltbegriff des Netzwerkes vollkommen unreflek­ tiert bestehen ließ, rang sich die „Kommandoebene“ der „Roten Armee Fraktion“ zu einem Schritt durch, der den wesentlichen Topos des eigenen Revolutionsmodells radikal in Frage stellte. Hatten Teile der RZ im Juli 1991 eine Diskussion zum Wie sozialrevolutionärer Gewalt angestoßen, rüttelten die „Illegalen“ der RAF ab April 1992 an dem im Linksterroris­ mus als sakrosankt geltenden Ob des „bewaffneten Kampfes“. Inwiefern die beißende Kritik der „Revolutionären Zellen“ dieses beispiellose Han­ deln beeinflusste, ließ sich den Primärquellen nicht entnehmen: Wie be­ reits in den Jahren zuvor enthielten die Erklärungen der „Roten Armee Fraktion“ keine Hinweise auf ein Würdigen des Gegenstandpunkts der RZ. Die Dritte Generation blieb sich in dieser Hinsicht treu, hatte sie doch während ihres Bestehens – anders als ihre Vorgänger – nie unmit­ telbar Positionen des zweiten großen Lagers im bundesrepublikanischen Linksterrorismus aufgegriffen. Unter Bezugnahme auf eine interne Revi­ sion verkündete die „Kommandoebene“ im Jahre 1992 einen an Bedin­ gungen geknüpften Gewaltverzicht,8486 der sich sukzessive als Spaltpilz im komplexen strukturellen Geflecht, bestehend aus den „Aktiven“, den ihnen folgenden „Militanten“ und Sympathisanten sowie den „politischen Gefangenen“, erweisen sollte. Die bisherigen Aktionen könnten „allein aus sich heraus […] den Verbrechen der Herrschenden keine wirksamen Grenzen setzen“8487, äußerten die „Illegalen“. Sie „produzieren falsche Trennungen, anstatt zusammenzubringen.“8488 Als die „Kommandoebene“ den Beschluss zum Einstellen ihrer gewaltsamen Aktivitäten fasste, hatten sich ihre Angehörigen nach Aussagen Birgit Hogefelds bereits auf das Votum verständigt, Anschläge „allenfalls gegen Sachen“8489 zu richten, sofern künftig ein Fortsetzen des „bewaffneten Kampfes“ angezeigt er­

8484 8485 8486 8487 8488 8489

Ebd. ID-Archiv im Internationalen Institut für Sozialgeschichte 1993, Band 1, S. 57. Vgl. ID-Verlag 1997, S. 410-412. Ebd., S. 417. Ebd., S. 427. Hogefeld 1996, S. 117.

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9.4 Gewaltverständnis

schien. „[D]ieser Kampf [sollte] nicht weitere Menschenleben fordern“8490, konsentierte die Gruppe.8491 Mit dieser Haltung kam die „Kommandoebene“ dort an, wo sich die Erste und Zweite Generation nie gesehen hatten: in der „SachschadenFraktion“8492 des deutschen Linksterrorismus. Auf theoretischer Ebene fielen 1992 die im Gewaltbegriff liegenden Hürden zu einer positiven Beziehung zwischen „Roter Armee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ weg. Wenig später materialisierte sich die Kongruenz selbst in der Praxis. So führte die RAF 1993 einen letzten Anschlag aus, welcher in dieser Form auch von den RZ hätte stammen können.8493 Auf den Neubau der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt zielend, erfüllte er alle Kriterien einer dezidiert antimateriellen Aktion. „[M]ehrere RAF‑Mitglieder [waren] stun­ denlang […] damit beschäftigt, all diese [auf dem Gelände der JVA anwe­ senden] Leute [des Justizvollzugsdienstes] in Sicherheit zu bringen.“8494 Nachdem die „Illegalen“ 200 Kilogramm Sprengstoff in dem Gefängnis platziert und die Zufahrtstraße mit einem Sperrband verschlossen hatten, an dem ein Schild mit der Aufschrift „KNASTSPRENGUNG IN KÜRZE – LEBENSGEFAHR SOFORT WEGRENNEN!“ hing,8495 hinterließ die De­ tonation der Sprengmittel den höchsten Sachenschaden, „der durch eine vorsätzliche Sprengstoffexplosion in der Geschichte der Bundesrepublik verursacht wurde.“8496 Im Bekennerschreiben unterstrichen die „Aktiven“ ihre nunmehr gegen Sachen zielende Strategie. Sie wehrten sich gegen die „Behauptung, wir hätten das Leben der [vor dem Anschlag aus der JVA unter Zwang evakuierten] Wachleute und untersten Justiztypen allein aus ‚derzeitigen taktischen‘ Gründen geschützt“8497. Schließlich habe die „RAF […] kein Interesse daran, solche Leute zu verletzen oder zu töten.“8498 Dabei verwies die „Kommandoebene“ auf die „Warnplakate“8499, welche im Umfeld der JVA installiert worden waren. Dass die Dritte Generation trotz solcher Bekenntnisse die für die „Rote Armee Fraktion“ typischen Reaktionsmuster nicht gänzlich abzustreifen vermochte, zeigte der polizei­

8490 8491 8492 8493 8494 8495 8496 8497 8498 8499

Ebd. Vgl. ebd., S. 118. Peter-Jürgen Boock, zit. n. Wunschik 1997, S. 200. Ähnlich Straßner 2018, S. 436. Hogefeld 1996, S. 118. Vgl. Peters 2008, S. 678-682. Ebd., S. 682. ID-Verlag 1997, S. 464. Ebd. Ebd.

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

liche Zugriff Mitte 1993 in Bad Kleinen. Ganz in der Tradition der Grün­ der der RAF, die sich zuspitzende Begegnungen mit der Polizei durch Waffengebrauch aufzulösen versucht hatten, gab Wolfgang Grams aus kur­ zer Distanz zehn Schüsse auf heraneilende Beamte der GSG 9 ab. Einen Beamten verletzte er schwer, ein weiterer überlebte den durch die Kugeln hervorgerufenen Schaden nicht.8500 Die „Revolutionären Zellen“ – selbst paralysiert durch Uneinigkeit – kommentierten die 1992 veröffentlichte Entscheidung der Dritten Genera­ tion nicht – dies, obwohl sie grundsätzlich weiterhin an der Erforderlich­ keit „sozialrevolutionärer“ Gewalt festhielten. Die Rückkehr einer von der RAF zu verantwortenden Praxis im Jahre 1993 in Weiterstadt und Bad Kleinen ließen sie gleichermaßen unbeantwortet. Mithin spielte das Gewaltverständnis beider Akteure zu diesem Zeitpunkt keine Rolle in ihrer Beziehung. Stattdessen bäumten sich die RZ bis 1995 in einer letz­ ten Abfolge von Aktionen gegen die als ausbeuterisch wahrgenommene Staats- und Gesellschaftsordnung auf. Da der Gewaltbegriff der „Zellen“ die internen Differenzen unbeschadet überstanden hatte, boten Art und Weise der Anschläge keine Überraschung. Im Gegenteil: Im Beschädigen von Fahrkartenautomaten und Fahrzeugen8501 zu sehen war ein Vorgehen, das gänzlich auf der Linie lag, welche die nationale Strömung des „Netz­ werkes“ im Laufe der 1970er Jahre mit Blick auf ihr Gewaltverständnis ausgegeben hatte. Hierin verbarg sich sozusagen eine Rückkehr zu den Wurzeln. Die „Rote Armee Fraktion“ vermochte nicht, aus diesem Vorge­ hen Impulse zum Fortführen ihrer 1993 verwirklichten Vorgabe des anti­ materiellen „Kampfes“ abzuleiten. Bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1998 sah sie von weiteren Gewalttaten ab. 9.5 Zusammenfassung Das Unterkapitel 9.1 – gemünzt auf das Selbstverständnis der zentralen Akteure im deutschen Linksterrorismus – kulminiert in den nachfolgen­ den Schlussfolgerungen zu den Bedingungsfaktoren der Beziehungen zwi­ schen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Be­ wegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zellen“:

8500 Vgl. Peters 2008, S. 695. 8501 Vgl. Bundesministerium des Innern 1995, S. 33-34.

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9.5 Zusammenfassung

– Von Beginn an prägte die westdeutsche „Stadtguerilla“ ein avantgardis­ tisches Selbstverständnis. Graduelle Unterschiede zeigten sich jedoch entlang der Art und Weise des reklamierten Anspruchs, Träger einer höheren Erkenntnis, mithin „Speerspitze“ für die als interessiert unter­ stellten Dritten – die revolutionären Subjekte – zu sein. Diese Differen­ zen in der Eigeninterpretation nährten die kompetitiv-adversative Relation zwischen der RAF und den TW – sie fielen unter die Bedingungsfaktoren ihrer Beziehung. Bereits kurz nach ihrer Gründung pochte die „Rote Armee Fraktion“ auf die absolute Superiorität ihrer Positionen: Die eigenen Ansichten zur Diskussion zu stellen, sie der „Zugluft“ anderer Meinungen auszusetzen – aus der Perspektive der Meinungsmacher war Derartiges undenkbar. Der Zirkel immunisierte sich gegen konkur­ rierende Ideen, indem er seine politische Peripherie zusehends nach einem Freund‑Feind-Schema beurteilte und sich entlang der binären Sicht sukzessive von der Außenwelt abkapselte. An ihrer Seite akzep­ tieren wollte die Gruppe immer häufiger nur jene, die die Ideen der Ersten Generation buchstäblich unterwürfig hinnahmen. Wer anders als die „Rote Armee Fraktion“ dachte, den traf zwangsläufig eines der vielen diffamatorischen Pauschalurteile: „Schwätzer“, „Hosenscheißer“, „Denunziant“, „Kleinbürger“, ja gar „Dümmling“, „Verrückter“ oder „Schwein“. Hautnah erlebten die TW diesen dualistischen Rigorismus in ihrer Kommunikation mit der RAF – und wehrten sich darin gegen jegliches Unterordnen. Die „Rote Armee Fraktion“ reagierte stereotyp: In ihrer Wahrnehmung sanken die vormaligen „Haschrebellen“ auf die Stufe dilettantischer „Trottel“. Keinesfalls wollten die „Tupamaros“ ihre Autonomie und Identität durch den „Einheitsanzug“ der Ersten Generation einbüßen. Zwar ruhte das Selbstbild der TW gleicherma­ ßen auf dem Schluss, legitimer Stellvertreter einer systematisch unter­ drückten Bevölkerung zu sein – und hatte daher nichts mit anarchisti­ schen Idealen zu tun. Den als Leninismus gedeuteten elitär‑isolationis­ tischen Habitus der „Roten Armee Fraktion“ wollten sie aber nicht replizieren, im Gegenteil: Sie propagierten ein enges Einbetten der vor­ anschreitenden „Stadtguerilla“ in gesellschaftlichen Protest. Die Akteu­ re des „bewaffneten Kampfes“ sollten der „Fisch im Wasser“ sein. Um breiten Rückhalt erlangen zu können, legten die „Tupamaros Westber­ lin“ gerade in der Praxis Wert auf einen Dialog mit dem Umfeld. – Der Avantgardegedanke beeinflusste ebenso die kompetitiv-adversative Inter­ aktion zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“. Schon mit ihrer Selbstbezeichnung suchte sich die B2J vom direktiven

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Stil der RAF abzugrenzen: Der Begriff der „Bewegung“ sollte Zugäng­ lichkeit und Gleichheit vermitteln – alternativ zu allen Formen einer „Kaderorganisation“. Wahrgenommen werden wollte die „Bewegung 2. Juni“ als „volkstümliche“, „populäre“ Vorhut, welche die Abstrakt­ heit der „Roten Armee Fraktion“ durch Arbeit an der Basis – nahe der „Massen“ – vermeidet. Ihrem Anspruch nach agierte die B2J nicht bloß für, sondern für die und mit den revolutionären Subjekten. Beleh­ rendes Auftreten musste dabei vermieden werden. Die Realität blieb indes oftmals hinter der – lateinamerikanischen Vorbildern nahekom­ menden – Theorie zurück. Immer wieder durchbrach die B2J das Nar­ rativ der nahbaren „Stadtguerilla“, einerseits durch die Sachzwänge des Lebens im Untergrund, andererseits infolge des Umgangs mit Kritik. Letztes zeigte sich vor allem in der abkanzelnden Reaktion auf das Ent­ setzen, welches der Mord an Ulrich Schmücker unter Linksextremis­ ten hervorgerufen hatte. Obgleich die „Bewegung 2. Juni“ in solchen Situationen de facto Verhaltensmuster der „Roten Armee Fraktion“ annahm, ließ sie keine Gelegenheit aus, die Unantastbar-, Ausschließ­ lich- und Überheblichkeit der RAF zu beklagen. Der „Roten Armee Fraktion“ – welche ihre Avantgardeposition Mitte der 1970er Jahre entlang militärischer Kategorien mit dem Bild einer auf soldatischer Professionalität fußenden Kampftruppe verschmolz – attestierten sie kopfschüttelnd die Überzeugung, das „Ei des Kolumbus“ entdeckt zu haben. Ins selbe Horn stieß das engere Umfeld der Kerngruppe der B2J: Ganz im Sinne einer Elite reduziere die „Rote Armee Fraktion“ die Akteure ihres Umfeldes auf die Rolle des Zuschauers. Die RAF hielt ih­ rerseits nichts von dem Selbstverständnis der „Bewegung 2. Juni“. Die „Stadtguerilla“ dürfe ihr Handeln nicht bloß nach dem Motiv ausrich­ ten, den Gefallen des Volkes zu erwecken – so die Zweite Generation. Ab 1976 bröckelte die Fundamentalopposition der B2J. Während die „Illegalen“ und einige „politische Gefangene“ zunehmend bereit wa­ ren, sich der beanspruchten Präponderanz der „Roten Armee Fraktion“ zu fügen, griff der „Blues“ die RAF unverändert ob des „stinkenden Avantgardedünkels“ an. Er hielt fest an der symbiotischen Beziehung zwischen einem voranschreitenden Linksterrorismus und den als inter­ essiert unterstellten Dritten – und mit ihr an einem der Gründe für die Konkurrenz zur RAF. – Die Gründer der „Revolutionären Zellen“ leiteten die Legitimität ihres Konzeptes aus den Konsequenzen ab, die sich aus dem spezifischen Selbstbild der „Roten Armee Fraktion“ ergaben. Folglich konstituierte die Eigeninterpretation auch im kompetitiv-adversativen Verhältnis zwischen

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9.5 Zusammenfassung

den RZ und der RAF von Anfang an einen zentralen Bedingungsfaktor. Im unterstützenden Milieu der „Roten Armee Fraktion“ beobachtet hatten die Initiatoren des Netzwerks die Tendenz der „Baader/Meinhof‑Grup­ pe“, auf sich selbst Bezug zu nehmen. Erfahren hatten sie überdies, wie die RAF Hilfswillige für ihre Zwecke instrumentalisierte, Solidarität also nur einseitig begriff. Ihr Schluss lautete daher: Die „Stadtguerilla“ müsse jenseits der „Roten Armee Fraktion“ versuchen, das Verselbst­ ständigen des „bewaffneten Kampfes“ durch eine wechselseitige Ver­ bindung mit den „Massen“ zu umgehen. In ihrer Stellung als Korrektiv schrieben die „Zellen“ insbesondere dem paritätischen Miteinander eine herausragende Relevanz zu – sie seien ein (minoritärer) Teil des Volkes und lehnten es ab, ihr Gegenüber zum Objekt zu degradieren. Zusammenwirken wollten die „Revolutionären Zellen“ mit anderen wie die „Hefe im Teig“. Hinter diesem unverkennbar anarchistischen Selbstbild verbarg sich leninistische Attitüde: Der eigene Weg war das Maß aller Dinge – die übrigen Optionen würden ausnahmslos im Miss­ erfolg münden. Dennoch isolierten sich die RZ nicht. Statt Außenste­ hende abzuwerten und auf die Übernahme ihrer Sicht zu insistieren, tauschten sie ihrer Mitstreiter sang- und klanglos aus. Losgelöst von dieser eigentümlichen avantgardistischen Praxis verurteilten die „Revo­ lutionären Zellen“ zentrale Merkmale des Selbstverständnisses der „Ro­ ten Armee Fraktion“ während der 1970er Jahre scharf – allen voran den „Alleinbesitz“ politischer Erkenntnis und das reflexartige Unterschei­ den nach „Genosse und Schwein“. An der RAF prallte dies ab, sie er­ wartete unbeirrt ein Sich-Angleichen des Netzwerks an ihre Ideen. Wie­ wohl sich die selbst zugeschriebene Funktion der „Bewegung 2. Juni“ – als lockerer übergeordneter Zusammenschluss gewaltbereiter Zirkel – ebenfalls von der Eigeninterpretation der „Zellen“ unterschied, luden die RZ sie nicht zu einer trennenden Eigenschaft auf. Das heißt: Fragen des Selbstbildes wirkten sich nicht förderlich auf die kompetitiv-adversative Beziehung zwischen den „Revolutionären Zellen“ und der B2J aus. Wie das Netzwerk nach der Auflösung der „Bewegung 2. Juni“ deutlich mach­ te, hatte das gegenüber der „Roten Armee Fraktion“ geteilte Paradigma der „populären Guerilla“ die Differenzen überlagert. – Im Laufe der 1980er Jahre glich sich die Eigeninterpretation der „Ro­ ten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ beachtlich an. Gleichwohl prägte sie als Bedingungsfaktor weiterhin die kompetitiv-adver­ sative Relation zwischen der RAF und den RZ. Selbstkritisch sagte sich die „Rote Armee Fraktion“ 1982 von der bislang präferierten isola­ tionistischen Avantgarde los – und reichte einem sympathisierenden

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Umfeld im Wege der „antiimperialistischen Front“ die Hand. Mit die­ sem partizipativen Schritt konservierte sie in abgeschwächter Form ihre reklamierte Vorreiterfunktion: Unabhängig und eigenverantwort­ lich mit der „Stadtguerilla“ zusammenwirken konnten innerhalb der „Front“ nur solche Akteure, die Ideologie und Strategie der „Roten Ar­ mee Fraktion“ akzeptierten. Die „Revolutionären Zellen“ schrieben der RAF – trotz der Zäsur – elitär-autoritäres Auftreten, ja gar die Absicht zu, sich zum „Hauptwiderspruch“ zu erheben. Dies hielt das Netzwerk jedoch nicht davon ab, von seinem Postulat der „Bürgernähe“ abzurü­ cken. Nachdem die RZ dem Protest gegen die Startbahn West sowie der Friedensbewegung öffentlich ein desaströses Zeugnis ausgestellt hatten, manifestierte sich in der „F‑Kampagne“ der Wunsch, eine „eige­ ne Rhythmik“ zu begründen: Frei von den „Launen“ gesellschaftlicher Konflikte und ohne Anbindung an ein revolutionäres Subjekt sollte die selbst definierte Agenda durchgesetzt werden. Damit wandelten sich die „Zellen“ zu dem, was sie – laut ihrer Agitation – nie hätten sein sollen: eine klassische politische „Speerspitze“, die auf das Einsehen der „Massen“ hoffte. Diese Entwicklung währte allerdings nur kurz. – Die in Westdeutschland aufkeimende allgemeine Debatte um das Asyl­ recht warf die RZ auf ihr ursprüngliches Selbstverständnis zurück. Bis zu ihrem Zerfall Mitte der 1990er Jahre gerierten sie sich als so­ lidarische und diskursive „Guerilla“. Hierbei übertroffen wurde das Netzwerk spätestens ab 1992 von einem Mitstreiter, der dies angesichts seiner Vergangenheit nicht hatte erwarten lassen. Den 1985 nach dem Mord an Edward Pimental de facto restaurierten avantgardistischen Habitus der 1970er Jahre streifte die „Rote Armee Fraktion“ ab. Ihr gesamtes Weltbild stellte die „Dritte Generation“ zur Disposition – ostentativ signalisierte sie die Bereitschaft, alternative Sichtweisen zu akzeptieren. Eine „illegale“ Gruppe, so die „Kommandoebene“, könne nicht länger im Mittelpunkt des sozialrevolutionären „Widerstands“ stehen. Zwar entzog dieser Entschluss der – letztmalig Anfang der 1990er Jahre erneuerten – Kritik der „Revolutionären Zellen“ an der Abgehobenheit der RAF die Grundlage. Ihre Beziehung blieb aber unbe­ rührt: Die propagierte Rolle der „Roten Armee Fraktion“ als Gesprächspart­ ner auf Augenhöhe und das bereitwillige Ablegen des langjährig verteidigten Präponderanzgedankens veranlassten die RZ nicht zu einer Reaktion. Das Unterkapitel 9.2 untersuchte die grenzübergreifende Eigeninterpreta­ tion der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewe­ gung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“. Zu den Bedingungsfakto­

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9.5 Zusammenfassung

ren ihrer Relationen können dem Kapitel folgende Schlüsse entnommen werden: – Die westdeutsche „Stadtguerilla“ rang mit dem Internationalismus, einem Erbe der „68er‑Bewegung“. Welcher Platz diesem im Selbstver­ ständnis gebührte und welche Folgen ein internationalistischer Standpunkt für das Verhältnis zu den „Befreiungskämpfen“ im Ausland haben sollte – diese Fragen führten selbst innerhalb der einzelnen Zirkel zu unterschiedli­ chen Antworten, welche lange Zeit – bis Mitte der 1970er Jahre – kaum Einfluss auf die Beziehungen im bundesrepublikanischen Linksterrorismus haben sollten. Die „Tupamaros Westberlin“ begriffen sich anfangs – bedingt durch die Deutungshoheit der „Palästina-Fraktion“ unter Die­ ter Kunzelmann – regelrecht als Arm, als „fünfte Kolonne“ der im „Widerstand“ gegen Israel befindlichen Fatah. Die Palästinenser, so die Position der TW, sollten durch den „bewaffneten Kampf“ entlastet werden – und nicht das bundesrepublikanische Proletariat. Später do­ minierte unter den „Tupamaros“ der Gedanke einer „Sozialguerilla“, die sich primär an regionalen politischen Konflikten in Westdeutsch­ land orientiert, ohne dabei einen Bezug zu Sozialrevolutionären im Ausland gänzlich abzulegen. Umgekehrt verlief die Diskussion um ein grenzübergreifendes Selbstbild in den Reihen der „Roten Armee Fraktion“: Favorisierten deren Mitglieder zunächst eine an lokalen Aus­ einandersetzungen ausgerichtete „Stadtguerilla“, verfestigten sie über Ulrike Meinhofs Traktate und die „Mai‑Offensive“ – gewidmet in Tei­ len den ideologischen Weggefährten in Vietnam – die Rolle des selbst­ ständigen Glieds einer weltumspannenden Achse antiimperialistischer Gleichgesinnter. Die RAF sei eine von vielen „Befreiungsbewegungen“, welche den Kampf gegen den Imperialismus US-amerikanischer Prove­ nienz suche. Im Herbst 1972 plädierten Teile der „Roten Armee Frak­ tion“ für jenen Internationalismus, den Kunzelmann innerhalb der „Tupamaros Westberlin“ verantwortet hatte. Mahler und Meinhof un­ terwarfen den „bewaffneten Kampf“ der RAF der Führung linker Revo­ lutionäre im „Trikont“. Zu einer „internationalen Brigade“ avancierte die Gruppe danach jedoch nicht – zu sehr stieß Mahlers und Meinhofs Verständnis auf innere Opposition. Bis zum „Deutschen Herbst“ von den „Stammheimern“ beständig aufgewertet wurde das insbesondere im „Konzept Stadtguerilla“ definierte Verhältnis der eigenen Aktivitä­ ten zu denen im Ausland: Der „Kampf“ in den „Metropolen“ und in der „Peripherie“ bildeten gleichwertige Säulen ein und desselben Antiimperialismus. Unter dem Begriffspaar des „proletarischen Interna­

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tionalismus“ warb die RAF dafür, beide auf ideeller Ebene eng zu verzahnen. Autonomie sollte hierbei nicht eingebüßt werden – die nationalen „Befreiungskämpfe“ gegen den Imperialismus mussten ei­ genständig geführt werden. Entsprechend zurückhaltend zeigte sich die „Rote Armee Fraktion“ in der Zusammenarbeit mit Mitstreitern außerhalb der Grenzen Westdeutschlands. – Von den „Tupamaros Westberlin“ übernahm die „Bewegung 2. Juni“ die Vorstellung zu einer – locker in das globale „Revolutionsgesche­ hen“ eingebetteten – „Sozialguerilla“. Weder wollten ihre Angehörigen Ableger eines ausländischen Akteurs noch ausschließlich Kontrahent des US-Imperialismus sein – die Nähe zu den gegenwärtigen Proble­ men westdeutscher Bürger war oberstes Gebot. Dahinter rangierte die Solidarität mit dem Ausland. Diese internationalistische Lesart begriff die B2J 1974/1975 als Gegenpol zur grenzübergreifenden Eigeninterpretation der „Roten Armee Fraktion“ – sie geriet also zu einem Bedingungsfaktor der kompetitiv-adversativen Beziehung zwischen der „Bewegung 2. Juni“ und der „Roten Armee Fraktion“. In den Augen der Aktivisten aus der B2J nahm die RAF allenfalls die Funktion eines Stellvertreters oder „verlängerten Arms“ der Dritten Welt ein. Den nationalen „Kampf“ vernachlässige sie. Streng genommen müsse sie sich einer „Befreiungs­ bewegung“ im „Trikont“ anschließen, hieß es im Umfeld der Kern­ gruppe der „Bewegung 2. Juni“. Die „Rote Armee Fraktion“ sah in all dem nur „reaktionäres“ Betragen. Während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zerbrach der Konsens, den die Mitglieder der B2J zur Re­ levanz internationaler Fragen hergestellt hatten. Die im Nahen Osten ansässigen Aktivistinnen akzeptierten eine Zuarbeit für Wadi Haddads Organisation – und erinnerten damit an die von Ulrike Meinhof im Jahre 1972 skizzierte „internationale Brigade“. Wenngleich sie diese Po­ sition spätestens Ende 1976 ablegten, verhaftete sich der antiimperialis­ tische Blickwinkel – das zuvor hinten angestellte internationalistische Standbein der „Bewegung 2. Juni“ hatte nun Vorrang. Dieser Wandel – der sich ebenso für die Aktivisten der schwedischen „Auslandsfiliale“ nach­ zeichnen ließ – bestärkte die „Illegalen“ um Ingrid Siepmann und Inge Viett in ihrer Entscheidung, nach der Rückkehr aus dem arabischen Raum ein as­ soziatives Verhältnis zur RAF zu wagen. Er trug vermutlich ebenso zum Ver­ schmelzen der B2J mit der „Roten Armee Fraktion“ bei, spiegelte sich doch in der Auflösungserklärung der „Bewegung 2. Juni“ in nuce der auf „internatio­ nale Konfrontation“ ausgehende Topos der RAF wider. Als Bedingungsfaktor rangierte der Umbruch in der Eigenwahrnehmung der B2J indes stets hinter den bereits erwähnten praktischen Bedürfnissen der „Bewegung 2. Juni“ –

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9.5 Zusammenfassung

sowohl in der Annäherungsphase Ende 1976 als auch im Austausch der Jahre 1979 und 1980. Während ein Teil der „politischen Gefangenen“ der „Bewegung 2. Juni“ dem Internationalismus ebenfalls – allerdings mit der Bereitschaft, künftig die Interessen der Dritten Welt durchzusetzen – ein größeres Gewicht beimaß als dem Selbstbild der „populären Guerilla“, brachte sich der „Blues“ gegen derartige Verschiebungen in Stellung. Sein Votum für die „Sozialguerilla“ ging einher mit einer radikalen internen Kritik an und öffentlichen Abgrenzung von der in­ ternationalen Schlagrichtung der „Roten Armee Fraktion“. Folglich be­ wahrte die „Revolutionäre‑Guerilla‑Opposition“ grenzübergreifende Fragen des Selbstverständnisses als Triebkraft der kompetitiv-adversativen Relation – bis zum Zusammenbruch der „Bewegung 2. Juni“. – In der Solidarität mit der „Dritten Welt“ sahen die „Revolutionären Zellen“ eine Selbstverständlichkeit: Ihre ersten Anschläge sollten Be­ wusstsein schaffen für die Situation der Chilenen nach dem Staats­ streich Pinochets. Die Ansicht, Seite an Seite zu „kämpfen“ mit „Revolu­ tionären“ im Ausland, bot die Grundlage für Überlegungen zu einer asso­ ziativen Beziehung mit der „Gruppe 4.2.“ der RAF – inwieweit logistische Engpässe diese Schnittmengen in ihrer auslösenden Funktion übertrafen, lässt sich entlang der Quellen nicht mit Gewissheit beantworten. Sicher ist: Nach außen konzentrierten sich die „Zellen“ in der Zeit danach – ähn­ lich wie die „Bewegung 2. Juni“ bis 1975 – auf das Selbstbild einer „po­ pulären Guerilla“. Während die internationale Säule in der Agitation nachrangig blieb, verständigten sich einige Mitglieder hinter vorgehal­ tener Hand auf die Absicht, dem Internationalismus der bundesrepu­ blikanischen „Stadtguerilla“ erstmals Taten folgen zu lassen. Mitstreiter außerhalb Westdeutschlands sollten Unterstützung erfahren, mithin in ihrem „Widerstand“ vorangebracht werden. Dieser Anspruch materiali­ sierte sich in der Interaktion mit den Palästinensern: Die Strömung um Wilfried Böse akzeptierte eine Stellung als „Anhängsel“ der PFLP-SOG, deren Qualität im westdeutschen Linksterrorismus ihres Gleichen such­ te. Wesentlich entscheidender für diese Kooperation waren allerdings – so stellt es sich in der Gesamtschau dar – handfeste praktische Erwä­ gungen. Die „Revolutionären Zellen“ wollten über Wadi Haddad vor allem eigene Defizite ausgleichen. Die Art und Weise, in der ein Lager der RZ den Internationalismus in Entebbe auslebte, beeinflusste ihr Verhältnis zu den anderen Akteuren der „Stadtguerilla“ – im negativen Sinne. Sie brachte das Netzwerk in den Reihen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ in Verruf. Nachdem die „Revolutionären Zellen“ sich im Binnendiskurs auf den Entschluss geeigneten hatten, auch ihre Praxis

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zuvorderst nach den Maximen einer „Sozialguerilla“ auszurichten, griffen sie die grenzübergreifende Komponente im Selbstbild der RAF an – und bedienten damit ihrerseits den Internationalismus als Bedingungsfaktor der kompetitiv‑adversativen Beziehung. Ob der „Kampf“ in Westdeutschland nicht wichtig genug wäre, lautete die an die „Rote Armee Fraktion“ adressierte Frage. Daraufhin unterstellte die RAF dem Netzwerk den Fehler, nationalen und internationalen „Widerstand“ nicht zu verbin­ den. Die RZ müssten sich im „globalen Antagonismus“ sehen, andern­ falls seien sie funktionslos. – Die Zweite Generation der „Roten Armee Fraktion“ gab dem Interna­ tionalismus der Gruppe eine eigene Note – und zwar in Gestalt einer „Europäisierung“. Hatte die RAF der Ersten Generation an einer Pari­ tät antiimperialistischer Initiativen im In- und Ausland festgehalten, schrieb der Zirkel ab 1979 unter Brigitte Mohnhaupt dem sozialrevolu­ tionären Agieren in Westeuropa eine Superiorität gegenüber der Rolle des „Trikont“ zu – ohne die allgemeine Verbundenheit mit der „Drit­ ten Welt“ abzulegen. Nach Meinung der Zweiten Generation waren die Bundesrepublik und deren westliche Nachbarn nicht mehr „Hin­ terland“ des US‑Imperialismus, sondern zentrales Schlachtfeld im anti­ imperialistischen „Kampf“. Im Alltag der Dritten Generation zog die­ ser Gedanke ein auf Gleichberechtigung bedachtes Zusammenwirken mit westeuropäischen „Guerillas“ nach sich – Aktionen zugunsten der „Sozialrevolutionäre“ in Afrika, Asien und Lateinamerika fielen weg. Die RZ übernahmen den neuen Internationalismus der „Roten Armee Fraktion“ weder theoretisch noch praktisch. Sie verstanden sich weiter­ hin als „populäre Guerilla“ – und gaben dieser hier und dort einen antiimperialistischen Anstrich. Die grenzübergreifende Eigenwahrneh­ mung der „Revolutionären Zellen“ rekurrierte auf die Traditionen der 1970er Jahre: Westdeutschland sei „Hinterhof“ imperialistischer Machinationen, auf die Lage der Menschen im „Trikont“ müsse Bezug genommen werden. Diesen alten Internationalismus deutete das Netzwerk als Gegenentwurf zur „Roten Armee Fraktion“ – er konstituierte also einen Bedingungsfaktor des von den „Zellen“ bis in die 1990er Jahre hinein forcierten kompetitiv‑adversativen Verhältnisses zur RAF. Der „Roten Ar­ mee Fraktion“ attestierten die RZ einen eurozentristischen Impetus: Die „Weltrevolution“ spiele sich jenseits der militärischen „Fronten“ in Westeuropa ab. – In den 1990er Jahren stellten die RAF und ein Teil der „Revolutionä­ ren Zellen“ ihr jeweiliges internationalistisches Selbstbild in Frage. Während innerhalb der RZ – im Lichte der zweifelhaften Konsequen­

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9.5 Zusammenfassung

zen sozialrevolutionärer „Befreiungsbewegungen“, vor allem nach dem Machtergreifen solcher Formationen – eine Fundamentalkritik an der Solidarität mit der Dritten Welt laut wurde, schwenkte die Dritte Generation auf die Eigeninterpretation der „Sozialguerilla“ ein. Der Internationalismus, so die „Rote Armee Fraktion“, beginne mit dem Anknüpfen an reale Konflikte der westdeutschen Gesellschaft. Diese frappierende Annäherung an die „Revolutionären Zellen“ beeinflusste die Relation beider Akteure indes nicht. Mit dem Unterkapitel 9.3 griff die Arbeit die im bundesrepublikanischen Linksterrorismus zirkulierenden Überlegungen zu einem Revolutionsmo­ dell auf. Dabei stellte der Autor Folgendes mit Blick auf die Bedingungs­ faktoren des Verhältnisses zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ fest: – Eklektisch an lateinamerikanische Vordenker des Guerillakrieges an­ knüpfend, spielten die „Tupamaros Westberlin“ und die „Rote Armee Fraktion“ früh mit dem Gedanken an eine „Stadtteilguerilla“. Im West­ berliner Bezirk Kreuzberg wollten die TW – ganz im Sinne der Fokus­ theorie – vom Kleinen zum Großen kommen. Zum einen würden sie durch beispielhafte, nachahmbare Aktionen eine auf Repression zielen­ de Überreaktion des Staates auslösen, welche die „Massen“ zusammen­ bringt. Zum anderen hegten sie die Absicht, mit politisierten Indivi­ duen aus der Bevölkerung – vor allem mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen – zu kooperieren. Daher verzichteten sie grundsätzlich auf den Gang in den Untergrund. Diese zweigleisige Strategie würde, so die Annahme der „Tupamaros“, in einer zunächst lokal begrenzten „Gegenmacht“ – einer alternativen Struktur zur staatlichen Kontrolle mit eigenem geographischem Herrschaftsbereich – münden. Sie bilde den Ausgangspunkt für einen „Volkskrieg“, der nach und nach die Säu­ len der Bundesrepublik Deutschland einreiße. Als zentrales Element dieses Revolutionsmodells zeigte sich ferner das taktische Element der „Gefangenenbefreiung“: Mistreitern musste zum Ausbruch aus dem Justizvollzug verholfen werden. Die entstehende „Rote Armee Frakti­ on“ baute auf die Bewohner im Westberliner Märkischen Viertel – mithilfe einer „Militanz“ und legalistischer Mittel sollten sie mobili­ siert und langfristig zum „Klassenkampf“ geführt werden. Diese an das Konzept der TW erinnernde „Stadtteilarbeit“ verwarf die RAF nach der Baader-Befreiung – mit Konsequenzen für die Beziehung zu den „Tupamaros Westberlin“. Priorität hatte anschließend ein nach militä­

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rischen Mustern interpretierter Kampf gegen die USA und deren – vermeintliche – Satrapen: der unmittelbare Angriff auf die „Zentren der Macht“, der Staatsgewalt buchstäblich zerstöre und somit den Weg „freikämpfen“ würde für die legalen linken Organisationen. Die RAF verließ Westberlin, erhob das Agieren in der Illegalität zu einer con­ ditio sine qua non und favorisierte fortan anspruchsvolle Anschläge mit spektakulärer Wirkung. Für die TW war all dies ein rotes Tuch. Der „Offensive“ gegen das „Herz des Staates“ stellten sie ihre Regio­ nalität entgegen – gefolgt von einem Plädoyer für das Beibehalten einer unangepassten legalen Existenz und das Ausführen technisch ein­ facher Aktionen. Diesen Alternativentwurf belegte die „Rote Armee Fraktion“ pauschal mit dem Stigma des „Populismus“. Differenzen um allgemeine und spezielle Aspekte des Revolutionsmodells formten also einen Bedingungsfaktor der kompetitiv-adversativen Beziehung zwischen der RAF und den TW. Lediglich die theoretischen Positionen zur Taktik des „Gefan­ genenbefreiens“ stimmten überein – hierin verbarg sich eine Triebkraft für die punktuelle assoziative Interaktion beider Akteure, die indes stets hinter praktischen Erwägungen rangierte. – Sich nicht auf das von der „Roten Armee Fraktion“ geforderte Kräftemes­ sen mit dem Staat, den „Kampf“ gegen die „Schweine aus der Elite“ ein­ lassen – indem die Gründer der „Bewegung 2. Juni“ sich diesem Mantra verpflichteten, schufen sie früh einen Bedingungsfaktor für die Konkurrenz zwischen ihrer Gruppe und der RAF. Der Zirkel begnügte sich mit einer Negativdefinition, welche die unbedingte „Machtprobe“ der „Ro­ ten Armee Fraktion“ wahlweise als absurd, verrückt oder aussichtslos, die Kommunikation der RAF als schwer begreifbar und das Ausstei­ gen aus der „bürgerlichen Existenz“ mit Zurückhaltung wertete. Es gelang ihm nicht, ein über die grundsätzlichen Ideen der „Tupamaros Westberlin“ hinausgehendes Konzept für die avisierte Revolution zu­ gunsten des gewöhnlichen Bürgers aus der Taufe zu heben – mit der Folge eines langjährigen strategischen Vakuums. Mitte 1975 – nach Vorarbeit Peter‑Paul Zahls – konkretisierte sich das bis dahin brach­ liegende Vorhaben, über ein Anknüpfen an gesellschaftlichen Protest den „bewaffneten Kampf“ beständig in Richtung eines Bürgerkriegs zu vermassen: Mitglieder der B2J brachten sich in die Kampagne gegen Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr ein. Die „Rote Ar­ mee Fraktion“ – die hinter dem rudimentären strategischen Gedanken­ gebäude der „Bewegung 2. Juni“ abwechselnd einen opportunistischen „Massentick“, schieren Voluntarismus, kompromisslerisches Verhalten oder Inkonsequenz zu erkennen vermochte – leistete eine wesentlich

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9.5 Zusammenfassung

intensivere Theoriearbeit. Über Umwege kulminierte diese in der Ent­ scheidung, den angestrebten „Krieg“ mit der Bundesrepublik in Form einer genuin terroristischen Aktions‑Repressions‑Spirale zu verwirkli­ chen: Infolge der Anschläge der „Stadtguerilla“ sollte der Staat zum Ausnahmezustand, ja gar zu Mitteln des Terrors gedrängt werden. Dabei verliere er seine demokratische Maske – der Faschismus als „wahre Fresse“ der Bundesrepublik käme zum Vorschein. Hierdurch würden die „Massen“ zum „Widerstand“ getrieben werden. Zugleich reduzierte die „Rote Armee Fraktion“ die Adressaten ihrer politischen Botschaften: Die Teilnahme am militärischen „Kampf“ gegen den Im­ perialismus traute sie schließlich nur noch den in ihrem Sinne auf­ geklärten Individuen zu. Während die „politischen Gefangenen“ der RAF die „Kriegsanalogie“ auf ihre Praxis übertrugen, spielten die sich dahinter verbergenden Paradigmen im Alltag der „Illegalen“ zunächst keine Rolle. Ihren operativen Fokus lenkten die „Aktiven“ exklusiv auf das taktische Moment des Befreiens inhaftierter Mitstreiter. Da auch die zunehmend auf einen terroristischen Untergrund bauende „Bewegung 2. Juni“ diesen Gesichtspunkt – als faktisches Substitut für die defizitäre Strategie – favorisierte, kam es zwischen Herbst 1974 und dem Frühjahr 1975 zu Versuchen einer eng umgrenzten assoziativen Beziehung. Die ideel­ len Schnittmengen ergänzten erneut praktische Bedürfnisse, den primären Bedingungsfaktor der gewollten Interaktion. – Nach 1975 gerieten die „Aktiven“ der B2J in das Fahrwasser der RAF, votierten sie doch für die unmittelbare Konfrontation mit staatlicher Macht – und gegen das Ausweiten spezifischen regionalen Unmuts zum „Volkskrieg“. Umsetzen wollten die „Illegalen“ diese Strategie durch das Freilassen sämtlicher „politischer“ Häftlinge aus dem bun­ desrepublikanischen Justizvollzug, später durch das Verschärfen der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung in Westdeutschland mithilfe einer Kampagne zulasten der NATO. Die grundlegende Intention, sich mit der Staatsgewalt duellieren zu wollen, konstituierte den Rahmen für die zwischen 1976 und 1980 zuvorderst entlang praktischer Erwägungen vorangetriebenen assoziativen Relationen zwischen den illegalen Ebenen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“. Die „RevolutionäreGuerilla-Opposition“ grenzte sich weiterhin vom Revolutionsmodell der RAF ab – und konservierte damit das kompetitiv-adversative Verhältnis. Nicht nur befürwortete sie einen Ansatz, der das selbst gewählte „Ghetto“ des auf „Krieg“ pochenden „anti-imperialistischen Fighters“ sowie das Bild der „Befreit‑die‑Guerilla-Guerilla“ durch ein koordiniertes Auftreten der „Stadtguerilleros“ und oppositioneller Teile der Bevölkerung – das

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

gemeinsame Erobern von „Freiräumen“ und „Aufmarschgebieten“ für die weitere Revolution – vermeiden sollte. Auch zerriss die RGO die Agitation der „Roten Armee Fraktion“ in den Haftanstalten, welche das ursprüngliche Ziel – ein Gleichstellen mit nicht-politischen Insassen westdeutscher Gefängnisse – Mitte der 1970er Jahre verworfen hatte. Da der „Blues“ die Haftbedingungen für „politische“ wie „soziale“ In­ haftierte zu verbessern suchte, galt ihm der Ruf der RAF nach einem Anwenden der Genfer Konventionen, dem Status als „Kriegsgefange­ ne“ und dem Zusammenschluss in „interaktionsfähigen Gruppen“ als sektiererischer „Quatsch“. Er setzte auf eine Integration in den „Nor­ malvollzug“. Die „Rote Armee Fraktion“ wertete die strategisch-takti­ schen Positionen der RGO nach altbekannten Mustern ab – nicht verstehen würde der „Blues“ die „Totalität“ des „Krieges“ gegen den Imperialismus. – Die „Revolutionären Zellen“ entstanden unter der Maßgabe, den Weg zu einem politischen Umbruch in Westdeutschland anders zu beschrei­ ten als die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewegung 2. Juni“. Lang war die Liste der Fehler, welche die „Zellen“ insbesondere der RAF vorwarfen: militärisch verbrämter Antiimperialismus, Abkehr vom Volk, Dominanz der „Gefangenenbefreiung“ in der Praxis, zum Dog­ ma erhobenes Abtauchen in den Untergrund, allenfalls von „Insidern“ begreifbare Kommunikation – und „wahnwitziges“ Drängen auf einen „Kriegsgefangenenstatus“. Das heißt: Von Beginn an füllten Differenzen zum operativen Vorgehen die Funktion eines Bedingungsfaktors der kompe­ titiv‑adversativen Beziehungen aus, welche die RZ zur RAF wie zur B2J unterhielten. Das Netzwerk stimmte für eine „Anknüpfungsstrategie“ – und überführte diese in die Tat. Die RZ strebten danach, sich in gesellschaftliche Proteste einzubringen und nennenswerte Vorteile zu verschaffen. Ihre Aktionen sollten – aufbauend auf einer Allgegenwart als interessiert unterstellter Dritter – allmählich zum Nachahmen er­ mutigen. Selbiges galt für die propagandistische Arbeit, welche in Gestalt des „Revolutionären Zorns“ alternative Vermittlungsformen bediente. Das Kalkül: Entwickle sich am Vorbild der RZ eine Vielzahl sozialrevolutionärer Zirkel, lasse sich die Stufe einer von den „Massen“ getragenen „Stadtguerilla“ erreichen. Mit ihren Anschlägen würde die „Gegenmacht in kleinen Kernen“ – so die Hoffnung der „Revolutio­ nären Zellen“ – einerseits die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik überdehnen, andererseits staatliche Funktionsträger einschüchtern und demoralisieren. Beides bringe die Entscheidung in einem Prozess, den die RZ als langwierigen „Guerillakrieg“ beschrieben. Dieses Modell des

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9.5 Zusammenfassung

Vermassens bot der Taktik des „Gefangenenbefreiens“ Platz – denn die „Stadtguerilla“ benötige jeden „Genossen“ außerhalb des Justizvoll­ zugs. Überdies etablierten die „Zellen“ einen „Feierabendterrorismus“: Ihr „bewaffneter Kampf“ erfolgte aus der Legalität heraus. Das bürgerli­ che Dasein wurde grundsätzlich aufrechterhalten – die Illegalität war nur ultima ratio. Zu den strategischen und taktischen Überlegungen der „Zellen“ formulierten die „Rote Armee Fraktion“ und die „Bewe­ gung 2. Juni“ unterschiedliche Urteile. Während die RAF den „Revolu­ tionären Zellen“ mangelnde Ernsthaftigkeit, diffuses Manövrieren und „Subjektivismus“ zuschrieben, beobachtete die B2J das Revolutionsmo­ dell aufgrund der Nachbarschaft zu eigenen Prinzipien zunächst mit Interesse. Hieraus folgte – flankiert von praktischen Bedürfnissen – die von der „Bewegung 2. Juni“ angestoßene transaktional‑assoziative Beziehung Ende 1974/Anfang 1975, welche an Intensität gewonnen hätte, wäre die B2J nicht kurz darauf zerschlagen worden. Die „Antiimperialisten“ der B2J monierten in der Zeit danach eine im „Feierabendterrorismus“ zu sehende „Feigheit“ – und plädierten für jenen „Frontalangriff“ auf den Imperialismus, den die RZ als fragwürdig etikettierten. Lediglich die in Haft sitzenden „Populisten“ liebäugelten weiterhin mit dem Vorgehen der „Zellen“ in der Bundesrepublik. – Dass die „Revolutionären Zellen“ vor allem in den Jahren 1975 und 1976 selbst eine assoziative Relation zu denjenigen Teilen der „Stadtguerilla“ vor­ antrieben, deren Strategie sie verdammte, lag – abgesehen von den eigenen logistischen Unzulänglichkeiten – an den schmalen Schnittmengen mit Blick auf die Taktik der „Gefangenenbefreiung“. Dieses Bemühen zerschellte nach „Entebbe“ – nicht nur weil mit Böse und Kuhlmann die Treiber der assozia­ tiven Beziehungen zu den „Antiimperialisten“ aus der RAF und der B2J starben. Ausschlaggebend war wohl auch ein Verdacht des Antisemitismus, der sich Mitgliedern der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Ju­ ni“ bei näherem Betrachten der Geiselnahme aufdrängte. Jedenfalls büßte das Freipressen „politischer“ Häftlinge sein Gewicht im strategischen Konzept der „Revolutionären Zellen“ langfristig ein. – Ab Ende der 1970er Jahre durchliefen das Netzwerk der RZ sowie die „Rote Armee Fraktion“ jeweils eine Phase operativer Neubestim­ mung. Die „Revolutionären Zellen“ änderten ihre „Anknüpfungsstrate­ gie“ insofern ab, als sie nicht mehr das Zersetzen und Demoralisieren im Wege eines „Bürgerkrieges“ sowie das Erringen politischer Macht in den Vordergrund rückten – entscheidend seien der „klandestine Kampf“ und das Verbreiten „sozialer Selbstbestimmung“. Hinter dieser – an anarchistische Ideale erinnernden – Strategie stand der Wille,

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revolutionären Subjekten unverbindlich die Gelegenheit zu bieten, Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln sowie das eigene Agieren in einem verdeckt auftretenden „Widerstand“ kennenzulernen. Von ihrem niedrigschwelligen – mitunter auf dem Veröffentlichen prakti­ scher Ratschläge beruhenden – Plan versprachen sich die „Revolutionä­ ren Zellen“, die – vermeintliche – Trägheit der „Massen“ als wesentli­ che Herausforderung vor Beginn einer Revolution durchbrechen zu können. Sein Gewicht verlor er, nachdem die „Zellen“ den Entschluss zur „F-Kampagne“ gefasst hatten. Mit ihr suchten die RZ insbesondere Akteure aus dem „autonomen“ Spektrum für sich zu gewinnen – das Politisieren als interessiert unterstellter Dritter außerhalb des Linksex­ tremismus wurde nachrangig. Die Kampagne zielte auf das Etablieren rechtsfreier Räume, in denen Schutzsuchende ein Leben ohne Verfol­ gung genießen sollten. Ideen zu einer grundlegenden Neugestaltung der politischen Ordnung Westdeutschlands offenbarte sie nicht. Die Zweite Generation wandte sich von der Aktions-Repressions-Spirale der „Stammheimer“ ab – und belebte mit der „antiimperialistischen Front“ den Gedanken eines genuin technischen Schlagabtauschs, der in einer Erosion, schließlich im Zusammenbruch staatlicher Macht gipfelt. Ansprechen sollte dieser „exklusive Zweikampf“, das Stellen der „Machtfrage“ insbesondere die gewaltbereite Linke in der Bundesrepu­ blik, etwa die „Autonomen“. Unter der Dritten Generation fanden sich in der wesentlich durch das „Mai-Papier“ im Jahre 1982 begründeten Strategie einzelne taktische Züge, welche die Vorgänger entweder en­ ergisch abgelehnt oder ignoriert hatten: das Agieren in der Legalität – ein „Feierabendterrorismus“ – sowie ein Diversifizieren der Kommu­ nikationsmittel. Letztes spiegelte sich unter anderem im Periodikum „Zusammen Kämpfen“ sowie im Abhalten größerer Veranstaltungen durch die unterstützende Peripherie wider. Keine Anpassungen erfuhr dagegen der „Widerstand“ im Justizvollzug: der „Kriegsgefangenensta­ tus“ sowie das Zusammenführen der „politischen Gefangenen“ galten als das Maß aller Dinge. Obgleich sich die RAF mit ihrer „Front“ beachtlich an die RZ annäherte und zugleich auf Kritik am Vorgehen des Netzwerkes verzichtete, bildeten Disparitäten in strategischer Hinsicht weiterhin einen wesentlichen Bedingungsfaktor des kompetitiv‑adversativen Verhältnisses der „Zellen“ zur „Roten Armee Fraktion“: Die RZ empfanden den „Kriegs­ begriff“ der RAF als Illusion, die Agitation in den Gefängnissen als engstirnig. – Daran änderte der Wandel im „Kampf“ der „politischen Gefangenen“ der „Roten Armee Fraktion“ ab Ende der 1980er Jahre sowie das im Laufe der

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9.5 Zusammenfassung

1990er Jahre neugefasste Revolutionsmodell der „Kommandoebene“ nichts. Die Inhaftierten legten Wert auf eine politische Debatte – die „Illega­ len“ sprachen von einer „Gegenmacht von unten“. Während unklar blieb, wie diese „Gegenmacht“ in einer politischen Zäsur münden sollte, zeigte sich zu taktischen Elementen ein deutliches Bild: Die Drit­ te Generation votierte für eine Allgegenwart revolutionärer Subjekte und rückte von ihrer starren Haltung zur Illegalität ab. Ferner sollte der „militärische Jargon“ in der Kommunikation abgelegt werden. Mit diesen Weichenstellungen kam die „Rote Armee Fraktion“ bei jenem „Populismus“ an, den sie in den 1970er Jahren vehement abgekanzelt hatte. Das Unterkapitel 9.4 rückte das Gewaltverständnis im bundesrepublikani­ schen Linksterrorismus in den Mittelpunkt. Darin finden sich folgende Ergebnisse: – Schon in ihrer Entstehungsphase neigte die westdeutsche „Stadtgueril­ la“ in der Frage der Gewalt zu einer ambivalenten Position. Zwar legte sie sich – aus taktischen, nicht aus moralischen Gründen – Grenzen auf, diese wurden aber immer wieder – gerade im Hinblick auf Kollate­ ralschäden – propagandistisch wie praktisch unterlaufen. Noch vor der „Roten Armee Fraktion“ rechtfertigten die „Tupamaros Westberlin“ tödliche Gewalt gegen ausgewählte Einzelpersonen – Vertreter des ver­ hassten „Kapitals“. Unbeteiligte – vor allem arbeitnehmende Bürger – durften nicht zu Schaden kommen. Insbesondere bei Banküberfällen sollte nicht der Eindruck schießwütiger „Cowboys“ entstehen, gewalt­ sames Handeln gegen die Polizei einen defensiven Charakter haben – schließlich seien Polizisten gewöhnliche Berufstätige, die ein Leben jenseits der Arbeit führten. Es galt die Maxime, in einer Konfrontation mit den Sicherheitsbehörden aufzugeben, sollte der Schusswaffenein­ satz die einzig verbleibende Option sein. Die heranwachsende RAF schloss den Gebrauch von Waffen gegen Menschen aus – zeichnete da­ nach jedoch für das Verletzen eines Bibliotheksangestellten und Schüs­ se auf Justizvollzugsbeamte im Wege der Baader‑Befreiung verantwort­ lich. Beim Gewaltverständnis konzentrierte sich die Gruppe einseitig auf bewaffnete staatliche Organe – eine Trennung zwischen Beruf und Person, nach der unter anderem die TW eine Grenzziehung vorge­ nommen hatten, lehnte die „Rote Armee Fraktion“ ab. Erst nach der Rückkehr aus Jordanien akzeptierte die Erste Generation einen Gewalt­ kodex, der mit jenem der „Tupamaros“ weitgehend übereinstimmte:

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

Getroffen werden mussten „Verantwortliche“ – zu einem „Gemetzel“ im Volk sollte es nicht kommen. Der darin proklamierte Gedanke, sich allenfalls aus „Notwehr“ gegen die Polizei verteidigen zu wollen, geriet im Laufe der logistischen Arbeit des Jahres 1971 zur Makulatur. Mitglieder der RAF forcierten regelrecht die Eskalation im Verhältnis zu Sicherheitskräften, mitunter aus Rache. Wiewohl die „Tupamaros Westberlin“ sich – angesichts der Gefährdung von Hausangestellten bei Brandanschlägen und des Verlaufs eigener Zusammenstöße mit der Polizei – keinesfalls durch Prinzipientreue hervorhoben, monier­ ten sie die Gewalt der Baader-Befreiung sowie den Hang der Ersten Generation, rücksichtsloses Töten von Polizeibeamten als Ausdruck besonderer Radikalität zu sehen. Demnach bildete das Gewaltverständnis einen Bedingungsfaktor der kompetitiv-adversativen Beziehung der TW zur „Roten Armee Fraktion“. – Als Scheidepunkt der „Stadtguerilla“ erwies sich die „Mai-Offensive“ der RAF. Mit ihrem auf größtmöglichen menschlichen Schaden aus­ gelegten Zuschnitt erreichte sie ein neues Maß der Gewalt – und widersprach dabei unübersehbar dem in der Neuen Linken geradezu sakrosankten Diktum, das Volk zu schonen. Während die tonangeben­ den Inhaftierten in der Folgezeit – vor allem in ihrer Propaganda – alles daransetzten, diesen Bruch vergessen zu machen, billigten sie das Brutalisieren ihrer Gewalt im Verlauf der 1970er Jahre – hin zu einem Töten teilweise willkürlich ausgesuchter staatlicher Funktions­ träger und ihrer Begleiter von Angesicht zu Angesicht. Zu doppelten Standards gelangte die RAF ab 1976 durch das Zusammenarbeiten mit den Palästinensern: Anders als im Inland beteuert, schonte die Gruppe im Ausland nicht das Leben unbeteiligter Bürger. Die „Bewe­ gung 2. Juni“ stellte dem nach Mai 1972 wahrnehmbaren Gewaltniveau der RAF einen Alternativentwurf entgegen – lud das Gewaltverständnis also zu einem Bedingungsfaktor ihrer kompetitiv‑adversativen Relation zur „Roten Armee Fraktion“ auf. Sie siedelte sich unterhalb der Gewaltquan­ tität der Zweiten Generation an: Zwar zählte sie den Mord zu ihrem Instrumentarium, das Gefährden und Töten von Menschen nach dem „Zufallsprinzip“ schloss sie aber aus – die B2J wollte „Augenmaß“ wah­ ren, lebensgefährliche Straftaten nicht inflationär ausführen. Während sie dabei Opfer unter den „Massen“ strikt ablehnte, ließ sie Gewalt in den ei­ genen Reihen salonfähig werden – dies bisweilen zum Entsetzen anderer Ak­ teure der „Stadtguerilla“, die mit ernstzunehmenden Konsequenzen drohten. Aufbauend auf ihrer um Zurückhaltung bemühten Position verstiegen sich die Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ zu dem Vorwurf, die RAF

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9.5 Zusammenfassung

greife zu „faschistischer Brutalität“. Die Entführung der „Landshut“ kritisierten sie, weil die Aktion das Bild „rücksichtsloser Killer“ nähre – und dies, obwohl die antiimperialistischen Versprengten der B2J 1976 in ihrem Zusammenwirken mit Wadi Haddad selbst schrankenlose Gewalt in Kauf genommen hatten. – Ausgehend vor allem von der – aus ihrer Sicht entgrenzten, beinahe „privatistischen“ – Gewalt der „Mai-Offensive“ verpflichteten sich die „Revolutionären Zellen“ einem Gewaltverständnis, das symbolische Sachbeschädigung den Mitleid erregenden Angriffen auf Personen vor­ zog. Daraus folgt: Auch die RZ formten die sozialrevolutionäre Gewalt zu einem Bedingungsfaktor ihrer kompetitiv-adversativen Relationen zu den üb­ rigen Zirkeln des westdeutschen Linksterrorismus. Um der Vermittelbarkeit ihrer politischen Agenda willen griffen die „Zellen“ in der Bundesre­ publik – nach Ausforschen der Tatorte und dem Bau von Brand- wie Sprengsätzen mit begrenzter Wirkung – zu Anschlägen auf Objekte. Selbst in ihrer logistischen Arbeit vermieden sie gegen Menschen zie­ lende Aktionen, wie zum Beispiel Banküberfälle oder Schusswechsel mit der Polizei. Der Gewaltbegriff des Netzwerks hob sich indes von Anfang an durch eine eklatante Doppelmoral hervor. Hiervon legten zum einen der Beifall zu den Morden der B2J und ihres Umfeldes im Jahre 1974, zum anderen das propagandistische Verbrämen der Stockholmer Botschaftsbesetzung und des Attentats auf Siegfried Bu­ back Zeugnis ab. In der Praxis schlug sich die grundsätzliche ideelle Akzeptanz einer antipersonellen Strategie der „Stadtguerilla“ in den Aktivitäten der internationalistischen „Zelle“ nieder: Sie richtete sich im Ausland ausschließlich gegen Menschen. Vorschub leistete die Strö­ mung um Wilfried Böse einem indifferenten, zu besonders perfiden Methoden greifenden Terrorismus, dem jeder zum Opfer fallen konn­ te. Die „Rote Armee Fraktion“ verdammte insbesondere die Gewalt der RZ im Inland – die „Bewegung 2. Juni“ dagegen nur jene außerhalb der Bundesrepublik. Für die objektbezogene Gewalt der „Zellen“ präg­ te die RAF den – abwertenden – Begriff der „Sachschaden‑Fraktion“: Diese wolle mit dem „bewaffneten Kampf“ nichts zu tun haben. Die B2J erblickte im Gewaltverständnis der grenzübergreifenden „Zelle“ die „Konterrevolution“. – Die in der Gewalt gegen Unbeteiligte liegende Doppelbödigkeit löste sich spätestens Anfang der 1980er Jahre auf – parallel zu den abneh­ menden Kontakten in den Nahen Osten. Die Zweite Generation reakti­ vierte den Gewaltbegriff der Gründer: Gewöhnliche Bürger vermittels ihrer Taten in eine „Objektsituation“ zu bringen, sei falsch. Als legitim

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9 Strategie als Bedingungsfaktor

verstand die „Rote Armee Fraktion“ Attentate auf Einzelpersonen so­ wie Aktionen gegen einen eingrenzbaren Personenkreis mit dem Ziel, hohe Verluste zu verursachen. Die Dritte Generation ergänzte dies um ein Novum: die Akzeptanz dezidierter Gewalt gegen Sachen. Zwar gelangten die RZ ebenfalls zu dem Konsens, Aktionen ohne Rücksicht­ nahme auf personelle Verluste unter den „Massen“ nicht zu wiederho­ len. In der Diskussion um antipersonelle Gewalt gegen Feindbilder sozialrevolutionärer Ansprüche kam es aber zum Zwist. Die Mehrheit der RZ lehnte diese zugunsten eines Potpourris an antimateriellen Aktivitäten ab. Eine Minderheit – bestehend im Kern aus Mitgliedern der Westberliner „Zellen“ – nahm sie in Anspruch. Durch „Knieschuss­ attentate“ sollten Vertreter der Staatsmacht „bestraft“ werden. Wie der Tod Heinz-Herbert Karrys offenbarte, ließ sich dabei die Schwelle zum Mord – der de jure vermieden werden sollte – schnell überschreiten. Die differente Gewalt der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ befeuerte als Bedingungsfaktor auch während der 1980er Jahre ein kompetitiv-adversatives Gebaren. Die RAF hielt sich mit abfälligen Kom­ mentaren zusehends zurück – nach dem Zusammenbruch der Zweiten Generation holte sie nicht erneut gegen den Gewaltbegriff des Netz­ werkes aus. Die „Revolutionären Zellen“ positionierten sich wiederholt zu den Taten der „Roten Armee Fraktion“ – vor allem zu den Aktivitä­ ten der Dritten Generation, deren Gewalt sich ab 1985 mit den „utilita­ ristischen“ Aktionen gegen Edward Pimental und mehrere Geldboten von dem löste, was zuvor als moralischer Kompass festgezurrt worden war. Die RZ verurteilten eine „Logik der Waffen“: Durch den Tod einzelner Funktionsträger atme niemand auf – stattdessen werde das Attentat als Mittel des sozialrevolutionären „Kampfes“ entwertet, ja gar der „Kredit“ der „Stadtguerilla“ verspielt. – Anfang der 1990er Jahre erneuerten die „Revolutionären Zellen“ ihre Kritik am Gewaltverständnis der „Roten Armee Fraktion“ – in einer Phase, die das sukzessive Einschwenken der Dritten Generation auf Gewalt gegen Objekte prägte. Selbst nach dem Anschlag auf den Gefängnisneubau in Weiterstadt – einer Aktion, die allen Ansprüchen der auf Sachschaden ge­ münzten Strategie der „Zellen“ Rechnung trug – äußerte sich das Netzwerk nicht anerkennend. Die RZ zogen es vor, sich in Schweigen zu hüllen. Wer die Resultate der Unterkapitel 9.1 bis 9.4 mit den Hypothesen aus Punkt 3.2.3 abgleicht, gelangt zu folgenden Schlussfolgerungen:

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9.5 Zusammenfassung

– Hypothese 5 lautete: Wenn ein terroristischer Akteur eine Partnerschaft mit einer anderen terroristischen Entität eingeht, dann zeigen sich vergleichbare strategische Auffassungen als sekundäre Triebkraft, die hinter operativen Bedürfnissen als primärem Bedingungsfaktor angesie­ delt sind. Diese Hypothese bestätigt die Analyse zum deutschen Links­ terrorismus: Allen voran Überschneidungen im internationalistischen Selbstverständnis sowie in der Taktik der „Gefangenenbefreiung“ kon­ stituierten den Rahmen für assoziative Beziehungen, die zuvorderst auf praktischen Erwägungen fußten. – Hinter Hypothese 7 verbarg sich die Annahme: Eine zur Beseitigung operativer Bedürfnisse aufgenommene assoziative Beziehung zwischen terroristischen Akteuren löst sich dann auf, wenn die Bedürfnisse be­ friedigt wurden und Meinungsverschiedenheiten – etwa um strategi­ sche – Fragen hervortreten. Diese Hypothese bestätigt die Arbeit – vor allem anhand der „Revolutionären Zellen“. Die RZ brachen die Verbindungen zur PFLP-SOG und zu den „Antiimperialisten“ der B2J weitgehend ab, als die für diese Kontakte ausschlaggebende logistische Nachfrage wegfiel und sich das Netzwerk von der Taktik des Freipres­ sens „politischer Gefangener“ faktisch distanzierte. – Hypothese 9 besagte: Wenn terroristische Akteure ihre ideologischen Forderungen entlang differenter strategischer Paradigmen (etwa zum geographischen Wirkungsradius, zu internationaler Solidarität, zum konkreten Revolutionsmodell oder zur Gewalt) in die Tat umzusetzen versuchen, dann treten sie – zum Beispiel über gegenseitiges Abwer­ ten durch Antisemitismusvorwürfe – in eine negative Interaktion ein, in der sie um die Resonanz der Adressaten ihrer politischen Botschaf­ ten konkurrieren. Diese Hypothese bestätigt sich beim Blick in die Geschichte der bundesrepublikanischen „Stadtguerilla“, wobei der Vor­ halt des Antisemitismus allenfalls eine marginale Rolle spielte. Die „Tupamaros Westberlin“, die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutio­ nären Zellen“ begriffen sich als strategisches Korrektiv zur RAF, das den „bewaffneten Kampf“ hoffähig machen wollte. Schmähungen wie „Leninisten mit Knarre“ konterte die „Rote Armee Fraktion“ insbeson­ dere mit dem Begriff des „Populismus“.

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10 Schluss

10.1 Zusammenfassung 10.1.1 Entwicklung der Beziehungen Eine der beiden zentralen – in Unterkapitel 1.2 aufgeworfenen – Fragen der Arbeit lautet: Welche Beziehungen bestanden zwischen den linksterroristi­ schen Gruppen „Rote Armee Fraktion“, „Tupamaros Westberlin“/„Bewegung 2. Juni“ und „Revolutionäre Zellen“ im gesamten Zeitraum ihres Bestehens? Diese Leitfrage konkretisierte der Autor mithilfe dreier Unterfragen. Die erste: Wie lassen sich die Beziehungen zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ im Allgemeinen charakterisieren: als Kooperation, als Konkurrenz oder gar als ausgeprägter Konflikt? Hierauf lässt sich, aufbauend auf den Schlussfolgerungen der Punkte 5.5, 6.5 und 7.5, wie folgt antworten: Die Erste Generation der „Roten Armee Fraktion“ und die „Tupama­ ros Westberlin“ standen grundsätzlich – gemessen an den Typologien der Unterkapitel 2.2.2 und 2.2.3 – in einer kompetitiv-adversativen Relation, also in einer von Konkurrenz durchzogenen Beziehung. Hier und dort durchbrach eine auf praktische Hilfe zielende (transaktionalassoziative) Interaktion das belastete Verhältnis – bei einer Gelegenheit kam es sogar zu einer synchron‑assoziativen Beziehung, welche tempo­ rär im Endpunkt des Spektrums freundschaftlich‑kooperativer Verbin­ dungen im Terrorismus mündete. Auch zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Bewegung 2. Juni“ existierte in nuce ein kompe­ titiv‑adversatives Verhältnis, das punktuell von symbolischen (dekla­ rativ-assoziativen) und handfesten unterstützenden (transaktional‑asso­ ziativen) Gesten begleitet wurde. Wie die „Revolutionären Zellen“ – die sich mit der RAF und der B2J gleichermaßen (kompetitiv‑adversa­ tiv) in einem Wettstreit befanden, dabei jedoch mitunter die Ebene extensiv‑assoziativer Verhältnisse erreichten – pflegten sie eine „Basis­ solidarität“ in der Relation zu den anderen Akteuren der „Stadtgueril­ la“. Die „Bewegung 2. Juni“ signalisierte diese indes deutlicher als die „Rote Armee Fraktion“. Selbst in Phasen ausgeprägter Konkurrenz zerschnitten die „großen Drei“ des deutschen Linksterrorismus das Tischtuch nie ganz – die in mancherlei politischen Konflikten wahr­ nehmbare Schwelle zu einer destruktiv-adversativen Beziehung mit

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10.1 Zusammenfassung

dem Wunsch des gegenseitigen Vernichtens blieb unerreicht. Es galt: Gegenüber dem Feind, dem Staat, muss im Zweifel zusammengehal­ ten werden – amicus meus, inimicus inimici mei. Die zweite Unterfrage: Wie äußerte sich eine Zusammenarbeit beziehungsweise eine Konkurrenz oder Feindschaft in Aktionen und in der Agitation der drei Gruppen? Zu dieser Unterfrage warf der Autor zwei weiterführende Fragen auf: Beschränkte sich eine Kooperation auf propagandistische und logistische Hilfsleistungen, oder mündete sie schließlich – beispielsweise über umfassende und kontinuierliche Absprachen bei taktischen und strategischen Fragen – in einem organisatorischen Verschmelzen? Und weiter: Führten adversative Bezie­ hungen zu gegenseitigen persönlichen und/oder öffentlich geäußerten ideologi­ schen Abwertungen oder gar zu Gewalttaten zwischen den Gruppen, welche dem jeweils anderen nachhaltig Schaden zufügen sollten? Zu diesen Fragen liefert die Arbeit auf Basis der Unterkapitel 5.4, 6.4 und 7.4 folgende Antworten: Formte sich eine assoziative Relation innerhalb der bundesrepublika­ nischen „Stadtguerilla“, bestand sie im Regelfall aus unverbindlichen Grußadressen – vor allem anlässlich des Todes von Aktivisten aus einer anderen Gruppe – und einem Güteraustausch. Letzter kennzeichnete sich durch Vielfalt – er reichte von Waffen und Finanzen über Fahr­ zeuge und konspirative Unterkünfte bis hin zu dem Willen, einem Konkurrenten vermittels einer „Gefangenenbefreiung“ „verlorenes“ Personal zuzuführen. Durch eine Überfallserie im Jahre 1970 und die Geiselnahme einer gemischten Zelle Ende 1975 offenbarten sich die seltenen Fälle einer synchron- und extensiv-assoziativen Relation. Mehrfach – 1970, 1976 und 1980 – verschmolzen Teile der „Stadtgue­ rilla“, nachdem sie kurz zuvor assoziative Verhältnisse durchlaufen hatten. Die im westdeutschen Linksterrorismus gängige kompetitiv-adversati­ ve Interaktion schlug sich sowohl in der Propaganda als auch in der Praxis nieder. In ihrer vermittelnden Arbeit gingen die Akteure wie­ derholt aufeinander ein – nicht konstruktiv, sondern diffamatorisch. Der jeweils andere sollte – vor den Augen der Öffentlichkeit – vorge­ führt, regelrecht diskreditiert werden. In Grundsatzerklärungen, Tat­ bekenntnissen, ja gar in offenen Briefen jagte ein pauschaler Vorwurf den nächsten. Dasselbe ist für die – während der 1970er Jahre übli­ chen – persönlichen Treffen der Mitglieder festzuhalten. Vor allem die „Rote Armee Fraktion“ setzte dabei auf eine begriffliche Klaviatur, welche – neben der Sache – die Person verächtlich machte. Stellenwei­ se zweifelte sie – ganz nach Art ihres Präponderanzgedankens – offen

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10 Schluss

an der Zurechnungsfähigkeit und an der Vernunft der Konkurrenz. Dass derartiges Erniedrigen und Kränken sich weder affektiv noch aus genuiner Rache in körperlichen Auseinandersetzungen mit ernst­ zunehmenden Folgen entlud – Andreas Baader und Georg von Rauch standen bei einem Treffen wohl kurz davor –, überrascht. Im Alltag lebten die Akteure der „Stadtguerilla“ ihre Konkurrenz zumeist über den Zuschnitt ihrer Taten aus. Bisweilen führten sie Aktionen aus, die als dezidierter Gegenentwurf zu den Handlungen der anderen Zirkel zu verstehen waren. Geradezu beispielhaft sind die Lorenz-Entführung und die Stockholmer Botschaftsbesetzung: Die B2J wollte das der RAF abgehende „Augenmaß“ unter Beweis stellen, die „Rote Armee Frakti­ on“ das „kompromisslerische“ Gebaren der „Bewegung 2. Juni“ tilgen. Die dritte Unterfrage: Veränderte sich das Verhältnis zwischen den Gruppen? Weiterführend wollte der Autor wissen: Wann kam es zu Veränderungen? In­ wiefern veränderte sich die Beziehung? Folgende Antworten kann die Arbeit dazu geben – ausgehend von den Punkten 5.5, 6.5 und 7.5: In der Gesamtschau präsentieren sich die Interaktionen innerhalb der „Stadtguerilla“ als stabil. Grundlegender Wandel – ein langfristiger Umbruch – trat zwar ein, dieser war aber nicht alltäglich – und er kam weniger während der 1970er Jahre als im Laufe der 1980er Jahre auf. Im ersten Jahrzehnt des westdeutschen Linksterrorismus verzeich­ nete die Relation zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und der „Be­ wegung 2. Juni“ insofern eine Zäsur, als die „Antiimperialisten“ der B2J Ende 1976 vom kompetitiv-adversativen Gedanken entschieden abkehrten – und eine assoziative Beziehung anstrebten. Hierauf ließ sich die RAF nach und nach ein – zu ihren Bedingungen. Im Verhält­ nis zwischen der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zel­ len“ trat das Gegenteil ein: Die zuvor in der Praxis – zugunsten assozia­ tiver Verbindungen – kaum forcierte kompetitiv‑adversative Relation festigte das Netzwerk nach 1976. Die – mit Abstand – bemerkenswer­ teste Veränderung zementierte die Zweite Generation der „Roten Ar­ mee Fraktion“ spätestens mit dem Papier „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“. Auch wenn sie es nicht eigens zugab: Die langjährige Konkurrenz zu den „Revolutionären Zellen“ ersetzte die RAF durch das Angebot einer synchron-assoziativen Beziehung. Eine tragende Säule des kompetitiv-adversativen Verhältnisses zwischen der „Roten Armee Fraktion“ und den „Revolutionären Zellen“ brach also weg. Freilich ließ die RZ dies unbeeindruckt – mit der Folge weitge­ hend unvermittelt nebeneinander existierender Stränge des „bewaffne­

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ten Kampfes“. Selbst während der 1990er Jahre – in der Phase der existentiellen Krise, welche der „Stadtguerilla“ ein Neubestimmen auf­ drängte – fanden die „Rote Armee Fraktion“ und die „Revolutionären Zellen“ nicht zusammen. Mehr noch als für die 1970er Jahre trifft mit Blick auf diesen Zeitraum eine Lesart aus Inge Vietts Autobiographie zu den Relationen im deutschen Linksterrorismus zu: „Wir lassen sie sein, und sie lassen uns sein“8502. 10.1.2 Bedingungsfaktoren der Beziehungen Die zweite zentrale Frage der Arbeit heißt: Welchen Bedingungsfaktoren unterlag die jeweilige Interaktion zwischen der „Roten Armee Fraktion“, den „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und den „Revolutionären Zel­ len“? Diese Kernfrage präzisierte der Autor ebenfalls in Form dreier Unterfra­ gen. Als erste Unterfrage stellte er auf: Welche Rolle spielten interne Fakto­ ren, also die in Eigenverantwortung begründeten und gesteuerten Merkmale der Gruppen in ihrer Interaktion? Tiefergehend fragte der Autor: Wählten sie (in-)kompatible operative Strukturen (also: flache oder straffe Hierarchie, Zellenstruktur oder „Kaderorganisation“), die Anknüpfungspunkte für gemein­ same Aktionen konstituierten oder Streitpunkte bildeten? Und weiter: Schufen Stärken und Schwächen, die sich aus der eigenen Aktionsfähigkeit ergaben, Grundlagen für eine Interaktion? Schließlich: Zog ein vergleichbarer oder dif­ ferenter Modus Operandi der Gruppen (zum Beispiel in puncto Zielauswahl, Gewaltintensität und Kommunikation) in dem von ihnen gewaltsam geführten „Kampf“ das Wohlwollen oder den Unmut ihrer Mitstreiter nach sich? Folgende Antworten ergeben sich bei einem Blick auf die Unterkapitel 8.3 und 9.5: Suchten die Akteure der westdeutschen „Stadtguerilla“ untereinander – über symbolische Handlungen hinausgehende – assoziative Bezie­ hungen aufzubauen, hatte dies Gründe, wie sie in der angelsächsischen Terrorismusforschung allen voran Tricia Bacon betonte. Bacons essen­ tielle These des Bedürfniserfüllens lässt sich auf den Linksterrorismus der Bundesrepublik anwenden – sie wird infolge der Fallstudie dieser Arbeit validiert. Die RAF, die TW/die B2J und die RZ sahen den jeweils anderen dann als Partner, wenn sie personelle, materielle und/ oder finanzielle Defizite – etwa geringe Mannstärke und fehlende Waf­

8502 Viett 2007, S. 99.

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fen – kompensieren mussten beziehungsweise das Gegenüber Abhilfe für die eigenen beschränkten Möglichkeiten versprach. Eine Rolle spielten dabei ferner partielle Schnittmengen auf strategischer Ebene – in internationalistischen Fragen, mehr noch in der Taktik des „Ge­ fangenenbefreiens“. Beispielhaft für dieses Zusammenspiel aus prakti­ schen Nachfragen und punktuellem ideellem Übereinstimmen als Be­ dingungsfaktoren assoziativer Relationen im westdeutschen Linkster­ rorismus waren das Sich-Annähern der „Roten Armee Fraktion“ und der „Tupamaros Westberlin“ im Herbst 1970 sowie Mitte 1971, die Kooperation zwischen den „Antiimperialisten“ der „Bewegung 2. Ju­ ni“ und den „Internationalisten“ der „Revolutionären Zellen“ in den Jahren 1975 bis 1976 sowie das Herantreten der RAF im Jahre 1978 an die B2J. Dass die Dritte Generation der „Roten Armee Fraktion“ und die RZ keinerlei assoziative Relationen aufbauten, liegt nicht an ihrem – auf strengem Abschotten beruhenden – Eigenschutz. Ursächlich ist wohl ein banaler Umstand, welcher sich unter den von Ely Karmon, Brian Phillips, Tricia Bacon und Vivian Hagerty benannten „opportu­ nity factors“ findet: Ihren Aktivisten dürfte das Wissen zum Aufbau von Kontakten zum jeweils anderen gefehlt haben. Die kompetitiv-adversativen Verhältnisse ruhten auf Bedingungsfakto­ ren, die sich zwangsläufig aus dem Selbstverständnis der TW/der B2J und der RZ als Korrektiv zu den übrigen Teilen der „Stadtguerilla“ ergaben. Der Autor bestätigt die kursorischen Erklärungen Friedhelm Neidhardts, Tobias Wunschiks und Armin Pfahl-Traughbers: Die „Tu­ pamaros Westberlin“ und die „Bewegung 2. Juni“ wollten es besser machen als die „Rote Armee Fraktion“, die „Revolutionären Zellen“ besser als die RAF und die B2J – in organisatorischer und strategischer Hinsicht. Den TW und den Mitgliedern der B2J war das „Autoritäre“ und „Studentische“ im strukturellen Profil der „Roten Armee Frakti­ on“ zuwider. Sie setzten dem einen – vermeintlich – „libertären“, „proletarischen“ Aufbau entgegen. Kopfschüttelnd nahmen die „Zel­ len“ die aus ihrer Sicht verhängnisvolle Tendenz des Linksterrorismus wahr, aus einem einzelnen Nukleus heraus zu agieren. Sie plädierten – rückkehrend zu lateinamerikanischen Vorbildern – für eine zelluläre, auf kollektiver wie individueller Autonomie fußende Organisation. Trotz – oder gerade wegen – dieser Alternativentwürfe verteidigte die „Rote Armee Fraktion“ ihre nach Professionalisieren und Hierarchisie­ ren strebende Struktur. Die Raison d'être bezogen die TW/die B2J und die RZ fürderhin aus einem Sich-Abgrenzen in elementaren taktischen Attributen. Sie

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verurteilten Avantgardeverständnis sowie Gewicht und Gestalt des In­ ternationalismus im Selbstbild der „Roten Armee Fraktion“. Von dem wörtlich ausgelegten „Krieg führen“ der RAF fernab der „Massen“ und mit verquasten Kommuniqués wollten diese Zirkel zumeist nichts wissen – sie beabsichtigten, die Revolution „bürgernah“ und „popu­ lär“ entlang lokaler gesellschaftlicher Konfliktthemen vom Zaun zu brechen. Dementsprechend setzten sie auf Nachahm- und Vermittel­ barkeit, auch in der Kommunikation. Die Geister schieden sich ferner am Stellenwert der Illegalität und an der Gewaltqualität – hier brach­ ten sich die „Revolutionären Zellen“ gegen die „Bewegung 2. Juni“, vor allem aber gegen die „Rote Armee Fraktion“ in Stellung. Das Netz­ werk verschrieb sich einem „Feierabendterrorismus“ – die bürgerliche Existenz war aufrechtzuerhalten. Obgleich die B2J ein Leben in der Legalität favorisierte, geriet sie zusehends zu einer reinen Untergrund­ organisation analog der RAF. Während die RZ im Inland das Töten von Menschen de facto ablehnten, hielt die „Bewegung 2. Juni“ dies in Maßen für vertretbar. Die Angehörigen der „Bewegung 2. Juni“ sahen mehrheitlich davon ab, nach dem Vorbild der RAF durch Anschläge eine unbegrenzte Zahl an Menschen aus ausgewählten Personenkrei­ sen – etwa aus dem Umfeld des US-Militärs – zu ermorden oder – ähnlich wie das internationalistische Lager der „Zellen“ – willkürlich gewöhnliche Bürger als Geisel zu nehmen. Die „Rote Armee Fraktion“ wischte all diese taktischen Anpassungen grundsätzlich als „reaktionä­ re“ Spielereien eines funktionslosen „Populismus“ rigoros vom Tisch. Was frappiert: Die RAF glich im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre in zentralen Eigenschaften immer mehr den RZ. Mit dem Etablieren eines „Feierabendterrorismus“ und dem Befürworten antimaterieller Aktionen in den eigenen Reihen nahm die Kongruenz ihren Lauf – den Gipfel erreichte sie Anfang der 1990er Jahre, als die Dritte Genera­ tion zum einen den Avantgardeanspruch und die – vermeintlich – re­ volutionäre Tugend des Abtauchens in den Untergrund zurücknahm, zum anderen ein „Vermassungskonzept“ samt dem Willen nach pro­ pagandistischer Arbeit ohne „Politchinesisch“ vertrat. Die RAF wurde zu dem, was sie während ihres ersten Dezenniums in der Auseinan­ dersetzung mit den „Revolutionären Zellen“ nie gewollt hatte. Dass dies die Beziehung der beiden Akteure nicht nachhaltig zum Besseren wandte, muss ihren inneren Querelen zugeschrieben werden – die „Rote Armee Fraktion“ und die „Revolutionären Zellen“ befassten sich mit sich selbst, Kraft für den Blick über den Tellerrand blieb nicht.

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Die zweite Unterfrage: Hatten externe Faktoren, also Reaktionen beziehungs­ weise Entwicklungen in ihrer Umwelt Einfluss auf das Beziehungsgeflecht? Hier interessierte im Weiteren: Wirkten sich verstärkte Fahndungsmaßnahmen und Ermittlungserfolge der deutschen oder internationalen Sicherheitsarchitektur auf die Interaktion zwischen den Gruppen aus? Sodann: Löste die Resonanz (zum Beispiel: Akklamation oder Kritik) deutscher linksextremistischer Akteure zu den Gewalthandlungen der westdeutschen „Stadtguerilla“ eine Kooperation oder Rivalität aus? Und abschließend: Inwiefern beeinflussten im Ausland unterhal­ tene Kontakte der RAF, der TW/der B2J und der RZ (durch den damit einherge­ henden Ressourcentransfer, durch Erfolge und Misserfolge solcher Vernetzungen) die unter ihnen bestehenden Verbindungen im Inland? Diese Fragen lassen sich – anknüpfend an die Punkte 8.3 und 9.5 – wie folgt beantworten: Äußere Faktoren beeinflussten die Relationen unter den Akteuren der „Stadtguerilla“ – dies gilt für ihre assoziativen wie für ihre adversa­ tiven Ausprägungen. Die für die freundschaftlich‑kooperativen Bezie­ hungen ausschlaggebenden praktischen Bedürfnisse erwuchsen nicht nur aus selbst zu verantwortenden Entwicklungen, wie zum Beispiel freiwilligen Austritten. Streckenweise resultierten sie auch aus Eingrif­ fen der Sicherheitsbehörden, etwa dem Beschlagnahmen von Waffen, dem Festnehmen von Mitgliedern oder dem Tod von Aktivisten im Zuge von Schusswechseln mit Fahndern. Besonders bezeichnend sind die Endpunkte assoziativer Verhältnisse, welche die „Rote Armee Frak­ tion“, die „Tupamaros Westberlin“/die „Bewegung 2. Juni“ und die „Revolutionären Zellen“ gemeinsam erreichten. Die TW gingen 1970 in der RAF auf, weil ein Großteil der Mitglieder zuvor in Haft gera­ ten und der Fahndungsdruck – aufgrund von Aussagen arretierter Mitstreiter gegenüber der Polizei – merklich gestiegen war. Als alterna­ tivlos begriff die internationalistische Strömung der RZ nach dem Ver­ sterben Böses und Kuhlmanns in Entebbe den Schulterschluss mit den „Antiimperialisten“ der B2J. Vorbehaltlos akzeptierte die „Bewegung 2. Juni“ im Jahre 1980 das Kooptieren der RAF, da sich die Zahl der „Aktiven“ im Vorfeld ob polizeilicher Exekutivmaßnahmen drastisch verringert hatte. Die Bedingungsfaktoren der kompetitiv-adversativen Beziehungen im bundesrepublikanischen Linksterrorismus hatten ihren Ursprung von Beginn an in der Resonanz der Peripherie. Gerade weil die „Rote Armee Fraktion“ den „bewaffneten Kampf“ durch ihre Interpretati­ on dieser Strategie selbst in gewaltbefürwortenden Teilen der Neuen Linken immer mehr in Verruf brachte, entschlossen sich die Mitglie­ der der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ zum

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Beschreiten anderer Pfade. Mithilfe ihrer Anpassungen wollten die B2J und die RZ „verlorenes Terrain“ wiedergewinnen – insbesondere unter undogmatischen Linksextremisten. Sie richteten sich nach dem, was vermittelbar war, darunter „libertäres“ Auftreten und Gewalt ge­ gen Sachen. Anders als sich anhand von Bacons und Hagertys Arbeiten vermuten lässt, verhinderte das Vernetzen mit Gleichgesinnten im Ausland kei­ nesfalls – im Sinne eines Verdrängens des einen Partners durch einen anderen – assoziative Relationen innerhalb der „Stadtguerilla“. Im Gegenteil: Intensivere Beziehungen wurden bisweilen erst durch die Vorzüge der grenzübergreifenden Kooperation möglich. Man denke nur an das Verbandeln der Versprengten der „Bewegung 2. Juni“ und der „Internationalisten“ der „Zellen“ unter der Ägide Wadi Haddads. Gleichermaßen befeuern konnten Kontakte ins Ausland die kompeti­ tiv‑adversativen Verhältnisse – dies unterstreichen exemplarisch die in Entebbe gescheiterte Geiselnahme sowie die Flugzeugentführung im „Deutschen Herbst“. Die dritte Unterfrage: Lässt sich eine Gewichtung der Faktoren vornehmen, welche das Verhältnis zwischen der RAF, den TW/der B2J und den RZ beding­ ten, prägten und veränderten? Ins Detail ging die Arbeit auch an dieser Stelle: Können etwaige Faktoren nach Einfluss beziehungsweise Bedeutung ge­ ordnet werden? Weiter: Rührten die Beziehungen eher von internen als von externen Faktoren her – oder umgekehrt? Und: Überwogen Faktoren auf ideeller oder solche auf praktischer Ebene? Nachfolgende Antworten bieten sich an – resultierend aus den Schlussfolgerungen der Unterkapitel 8.3 und 9.5: Unterschiedliche Triebkräfte bedingten die assoziativen und adversati­ ven Beziehungen innerhalb der „Stadtguerilla“, mit jeweils eigener Rangfolge. Erste unterlagen zuvorderst Faktoren auf der praktischen Ebene – und zwar solchen interner (operative Lücken ohne Zutun der Sicherheitsbehörden) wie externer Natur (zum Beispiel Festnahmen). Dahinter rangierten – ganz so wie es Vivian Hagerty in ihrer Arbeit an­ nahm – ideelle Kriterien, nämlich strategisch‑taktische Kongruenzen. Die Konkurrenz der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros West­ berlin“/der „Bewegung 2. Juni“ und der „Revolutionären Zellen“ ging auf einen externen, praktischen Faktor (Sicht der Peripherie auf die „Stadtguerilla“) sowie die daraus hervorgehenden (internen) theoreti­ schen Disparitäten zurück. Was die einzelnen kompetitiv‑adversativen Relationen anbelangt, so lassen sich Aspekte nach Einfluss ordnen. Im Verhältnis zwischen der RAF und den TW/der B2J nahm das Revolu­

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tionsmodell, dicht gefolgt vom nationalen und internationalen Selbst­ verständnis das größte Gewicht ein. Die Interaktion der „Roten Armee Fraktion“ und der „Revolutionären Zellen“ belasteten ebenfalls in ers­ ter Linie grundlegende strategische Vorstellungen zum Ablauf des avi­ sierten Umbruchs. Sodann sind das Gewaltverständnis, das Selbstbild und das Organisationsmodell zu nennen. Die Relation zwischen der „Bewegung 2. Juni“ und den RZ stützte sich auf vergleichsweise weni­ ge Friktionen – namentlich die Struktur und das Revolutionsmodell. 10.2 Offene Fragen Die „blinden Flecken“8503 im bundesrepublikanischen Terrorismus – es gibt sie, nach wie vor, allerdings kaum noch in der Geschichte der „Roten Armee Fraktion“. Beim Abfassen der Arbeit konnte der Autor einige iden­ tifizieren. Die folgenden Fragen spiegeln sie wider: – Wer genau waren jene beiden Figuren, die ein – für deutlich mehr An­ schläge als die RAF verantwortlich zeichnendes – Netzwerk Dutzender Aktivisten aus der Taufe hoben: Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann? Wie kam es zu ihrer Radikalisierung? Wer und was prägte sie? – Mit welcher Intensität interagierten die einzelnen Zirkel der „Revolu­ tionären Zellen“? Wie oft und wie genau lief diese Interaktion ab? – Kooperierten Teile der „Revolutionären Zellen“ mit dem Ministerium für Staatssicherheit? Falls ja: Wann und wie lief diese Zusammenarbeit ab? Wer zeichnete dafür verantwortlich? Was umfasste die Verbindung? – Welchen Blick hatten die Palästinenser auf den deutschen Linksterro­ rismus? Was sagen arabische Quellen – zum Beispiel Selbstzeugnisse – zu den Beziehungen Wadi Haddads und anderer palästinensischer Terroristen nach Europa aus? – Welchen Bedingungsfaktoren unterlag die Zusammenarbeit deutscher Rechtsterroristen mit den Palästinensern? Ist diese – gemessen an In­ tensität und Triebkräften – mit den Kontakten des bundesrepublikani­ schen Linksterrorismus in den Nahen Osten vergleichbar? Wo liegen Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? – Traten nur deutsche Rechtsterroristen an die Palästinenser heran, oder war dieses Phänomen auch im Rechtsterrorismus anderer europäischer Länder üblich – etwa in Italien? 8503 Kraushaar 2017, S. 28.

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10.2 Offene Fragen

– Welche Beziehungen pflegten die ehemaligen Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“, der „Tupamaros Westberlin“/der „Bewegung 2. Ju­ ni“ und der „Revolutionären Zellen“ nach dem Zusammenbruch der „Stadtguerilla“ im Jahre 1998? Hielten sie an den Differenzen der zu­ rückliegenden Dezennien fest? Oder suchten sie die Aussöhnung? Gibt es heute noch Netzwerke unter den Ehemaligen? Zu diesen Fragen ist bislang allenfalls kursorisch geforscht worden. Exten­ sive Arbeit steht aus. Werden sie im Wege der Forschung aufgegriffen, erweitert sich vor allem das Verständnis zur Dynamik terroristischer In­ teraktion – und mit ihr die Grundlage für (staatliche) Bekämpfungsstra­ tegien. Böses und Kuhlmanns Biographien dürften über Gespräche mit Familienmitgliedern und ehemaligen Weggefährten aus den Phasen vor und nach dem Hinwenden zum Linksextremismus rekonstruierbar sein – das Geschichtsprojekt eines Bamberger Gymnasiums zu Böse, unterstützt von Wolfgang Kraushaar, ist ein Schritt in die richtige Richtung.8504 Was die Kontakte unter den „Revolutionären Zellen“ anbelangt, so könnte sich zum einen eine Anfrage zur Einsicht in Aufzeichnungen bundesre­ publikanischer Sicherheitsbehörden, zum anderen das Recherchieren in den Akten des MfS lohnen. Letztes gilt gleichermaßen für das Erhellen der Beziehungen zwischen dem Netzwerk der RZ und der DDR. Wer sein Interesse auf die aufgeworfenen Fragen zu den Palästinensern rich­ tet, kommt über arabischsprachige Suchen in etwaigen Literaturdatenban­ ken zum Ziel. Beziehungen des europäischen Rechtsterrorismus in den Nahen Osten ließen sich – ähnlich wie in dieser Arbeit – entlang eines systematischen Auswertens von Primärquellen erschließen. Ob vormalige deutsche Linksterroristen nach dem „bewaffneten Kampf“ zusammenfan­ den und wie sie mit ihren Differenzen der Vergangenheit umgingen und umgehen – diese Fragen könnten herangezogen werden, um das diffizile Unterfangen eines Interviews mit einstigen Aktivisten der „Stadtguerilla“ zu wagen.

8504 Vgl. Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg 2015.

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11 Quellen- und Literaturverzeichnis

11.1 Quellen Bäcker/Mahler/Aust 1979: Hans-Jürgen Bäcker/Horst Mahler/Stefan Aust; Die Linke und der Terrorismus – Gespräche mit Stefan Aust; in: Rotbuch-Verlag Berlin (Hrsg.); Die Linke im Rechtsstaat; Band 2; Bedingungen und Perspekti­ ven sozialistischer Politik von 1965 bis heute; Berlin 1979; S. 174-204. Baader 1972: Andreas Baader; Brief an die Deutsche Pressagentur; 1972; abrufbar unter: https://socialhistoryportal.org/raf/text/307146 (zuletzt abgerufen am: 16. April 2019). Baader/Meinhof/Ensslin u.a. 1975: Andreas Baader/Ulrike Meinhof/Gudrun Ensslin/Jan-Carl Raspe/Der Spiegel; „Wir werden in den Durststreik treten“ – SPIEGEL-Fragen an Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe; in: Der Spiegel; Nr. 4/1975; S. 52-57; abrufbar unter: http://magazin.spieg el.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/41558626 (zuletzt abgerufen am: 19. Juli 2017). Bakunin 1972: Michael Bakunin; An die Brüder der Allianz in Spanien; in: Erwin Oberländer (Hrsg.); Dokumente der Weltrevolution; Band 4; Der Anarchismus; Olten 1972; S. 173-186. Baumann/Der Spiegel 1974: Michael Baumann/Der Spiegel; „Freunde, schmeißt die Knarre weg“ – SPIEGEL-Interview mit dem Untergrund-Anarchisten Micha­ el Baumann; in: Der Spiegel; Nr. 7/1974; S. 32; abrufbar unter: https://magazin. spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/41784109 (zuletzt abgerufen am: 12. April 2019). Baumann/Neuhauser 1978: Michael Baumann/Peter Neuhauser; Interview im Un­ tergrund – Der gesuchte Ex-Bombenwerfer Michael „Bommi“ Baumann über die deutsche Terrorszene; in: Stern; Nr. 23/1978; S. 18-27. Baumann 1980: Michael Baumann; Wie alles anfing; München 1980. Baumann/Kuhlbrodt 1997: Michael Baumann/Detlef Kuhlbrodt; „Am besten `ne Kurpackung“ – Bommi Baumann, Ex-„Umherschweifender Haschrebell“ über Subkultur-Rauschgiftfreaks von Berlin, Goa und anderswo; in: Die Tageszei­ tung; Nr. 5212 vom 25. April 1997; S. 15-16; abrufbar unter: http://www.taz.de/! 1403442/ (zuletzt abgerufen am: 3. Januar 2019). Baumann/Reinecke 2013: Michael Baumann/Stefan Reinecke; „Im Nachhinein ist jeder schlauer“ – Wie antisemitisch war die radikale Linke in den 1970er Jahren? – Bis auf wenige Ausnahmen kaum, sagt Bommi Baumann, früherer Haschrebell und Stadtguerillero; 2013; abrufbar unter: http://www.taz.de/!5067 549/ (zuletzt abgerufen am: 3. Januar 2019). Bakker Schut 1987: Peter Bakker Schut; das info – briefe von gefangenen aus der raf aus der diskussion 1973-1977; Kiel 1987.

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11 Quellen- und Literaturverzeichnis Bendkowski/Berberich/Jansen u.a. 1996: Halina Bendkowski/Monika Berbe­ rich/Heinrich Jansen/Johann Kresnik/Ralf Reinders/Karl-Heinz Roth/Monika Seifert/Christian Ströbele/Klaus Wagenbach; Podiumsgespräch auf der Veran­ staltung zum 20. Todestag von Ulrike Meinhof im Auditorium Maximum der TU Berlin; 1996; abrufbar unter: https://socialhistoryportal.org/sites/default/files /raf/0019960503_0.pdf (zuletzt abgerufen am: 3. Januar 2019). Berberich 1977: Monika Berberich; Stellungnahme zum angeblichen RZ-Brief; in: info BUG; Nr. 138 vom 10. Januar 1977; ohne Seitenangaben; abrufbar unter: http://www.freilassung.de/div/texte/rz/ib138_100177a.htm (zuletzt abgerufen am: 8. April 2018). Bewegung 2. Juni: ohne Verfasser; Der Blues – Gesammelte Texte der Bewegung 2. Juni; 2 Bände; ohne Ort und Datum. Bewegung 2. Juni 1972: ohne Verfasser; Radikal sein heißt: Das Übel an der Wur­ zel packen!; 1972; abrufbar unter: http://bewegung.nostate.net/mate_radikal.h tml (zuletzt abgerufen am: 4. September 2017). Bewegung 2. Juni 1980: ohne Verfasser; Erklärung zur Auflösung der „Bewegung 2. Juni“; 1980; abrufbar unter: https://socialhistoryportal.org/raf/text/307181 (zuletzt abgerufen am: 10. Februar 2019). Boock/Sternsdorff 1981: Peter-Jürgen Boock/Hans-Wolfgang Sternsdorff; „Im Schützengraben für die falsche Sache“ – Spiegel-Gespräch mit Ex-Terrorist Peter-Jürgen Boock über seine Erfahrungen in der RAF; in: Der Spiegel; Nr. 9/1981; S. 110-123; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelive ry/spiegel/pdf/14328242 (zuletzt abgerufen am: 24. Oktober 2017). Boock 1988: Peter-Jürgen Boock; Schwarzes Loch – Im Hochsicherheitstrakt; Rein­ bek bei Hamburg 1988. Boock 1990: Peter-Jürgen Boock; Abgang; Reinbek bei Hamburg 1990. Boock/Schlittenbauer/Britten 1994: Peter-Jürgen Boock/Eva Schlittenbau­ er/Uwe Britten; „Mit dem Rücken zur Wand…“ – Ein Gespräch über die RAF, den Knast und die Gesellschaft; Bamberg 1994. Borgmann/Fanizadeh 2017: Matthias Borgmann/Andreas Fanizadeh; „Er ist da schon sehr nah dran“ – Matthias Borgmann, einst Mitglied der Revolutionären Zellen in Berlin, über Hans Schefczyks Roman „Das Ding drehn“, die Wende­ zeit und echte und fiktive Agenten; 2017; abrufbar unter: http://www.taz.de/!54 11598/ (zuletzt abgerufen am: 25. Juni 2018). Brief eines Jemand 1977: ohne Verfasser; Brief von Jemand (erschienen in: Pflas­ terstrand; Nr. 10/1977); in: Hans-Joachim Klein; Rückkehr in die Menschlich­ keit – Appell eines ausgestiegenen Terroristen; Reinbek bei Hamburg 1979; S. 238‑239. Bundesministerium des Innern 1975: Bundesministerium des Innern (Hrsg.); Dokumentation über Aktivitäten anarchistischer Gewalttäter in der Bundesre­ publik Deutschland; ohne Ort, 1975. Chronologische Eckdaten 2003: ohne Verfasser; Chronologische Eckdaten; in: Ralf Reinders/Ronald Fritzsch (Hrsg.); Die Bewegung 2. Juni – Gespräche über Haschrebellen, Lorenz-Entführung, Knast; Berlin 2003; S. 155-182.

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11 Quellen- und Literaturverzeichnis Der Spiegel 1980f: ohne Verfasser; Voll unter Fittichen; in: Der Spiegel; Nr. 48/1980; S. 136-137; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliv ery/spiegel/pdf/14330593 (zuletzt abgerufen am: 29. April 2018). Der Spiegel 1981a: ohne Verfasser; Peter-Jürgen Boock; in: Der Spiegel; Nr. 9/1981; S. 111; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/s piegel/pdf/14328261 (zuletzt abgerufen am: 8. Oktober 2017). Der Spiegel 1981b: ohne Verfasser; Großer Klops; in: Der Spiegel; Nr. 12/1981; S. 36-42; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/143 19086 (zuletzt abgerufen am: 15. Oktober 2017). Der Spiegel 1981c: ohne Verfasser; Nur der Atem; in Der Spiegel; Nr. 21/1981; S. 120-121; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/1 4332171 (zuletzt abgerufen am: 11. Februar 2018). Der Spiegel 1981d: ohne Verfasser; Schüsse und Blumen; in: Der Spiegel; Nr. 37/1981; S. 34; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/s piegel/pdf/14342524 (zuletzt abgerufen am: 18. Juni 2017). Der Spiegel 1981e: ohne Verfasser; New Generation; in: Der Spiegel; Nr. 44/1981; S. 29-31; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/143 40716 (zuletzt abgerufen am: 3. November 2017). Der Spiegel 1982a: ohne Verfasser; Findelkind vor der Tür; in: Der Spiegel; Nr. 38/1982; S. 82-87; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliver y/spiegel/pdf/14352800 (zuletzt abgerufen am: 30. April 2018). Der Spiegel 1982b: ohne Verfasser; Knarren im Wald; in: Der Spiegel; Nr. 46/1982; S. 130-133; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliv ery/spiegel/pdf/14354928 (zuletzt abgerufen am: 2. November 2017). Der Spiegel 1983a: ohne Verfasser; Machtvolle Kader; in: Der Spiegel; Nr. 8/1983; S. 106; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/1402 2641 (zuletzt abgerufen am: 20. Mai 2018). Der Spiegel 1983b: ohne Verfasser; „Hände weg von Nicaragua“; in: Der Spiegel; Nr. 25/1983; S. 88‑97; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/sp iegel/pdf/14018138 (zuletzt abgerufen am: 11. Februar 2019). Der Spiegel 1983c: ohne Verfasser; Perle im Dreck; in: Der Spiegel; Nr. 34/1983; S. 64-66; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/140 21346 (zuletzt abgerufen am: 10. Dezember 2017). Der Spiegel 1983d: ohne Verfasser; „Diesmal wollen wir nicht schweigen“; in: Der Spiegel; Nr. 35/1983; S. 24-32; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDe livery/spiegel/pdf/14021346 (zuletzt abgerufen am: 20. Mai 2018). Der Spiegel 1983e: ohne Verfasser; Wie Vieh; in: Der Spiegel; Nr. 38/1983; S. 77-79; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf /14020655 (zuletzt abgerufen am: 21. Mai 2018). Der Spiegel 1984a: ohne Verfasser; Wir oder sie; in: Der Spiegel; Nr. 5/1984; S. 72-75; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/135 10578 (zuletzt abgerufen am: 2. November 2017).

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11.2 Literatur Der Spiegel 1984b: ohne Verfasser; Zufällig über den Weg; in: Der Spiegel; Nr. 13/1984; S. 19-21; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliver y/spiegel/pdf/13509999 (zuletzt abgerufen am: 27. Mai 2018). Der Spiegel 1985a: ohne Verfasser; „Hier spricht die RAF“; in: Der Spiegel; Nr. 6/1985; S. 17-25; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/ spiegel/pdf/13510943 (zuletzt abgerufen am 3. November 2017). Der Spiegel 1985b: ohne Verfasser; Der P-Man; in: Der Spiegel; Nr. 34/1985; S. 76-77; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/135 15308 (zuletzt abgerufen am 6. November 2017). Der Spiegel 1986a: ohne Verfasser; Belgische Helfer; in: Der Spiegel; Nr. 1/1986; S. 12; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13517 309 (zuletzt abgerufen am: 5. November 2017). Der Spiegel 1986b: ohne Verfasser; „Da waren Superprofis am Werk“; in: Der Spiegel; Nr. 29/1986; S. 17‑29; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDe livery/spiegel/pdf/13518075 (zuletzt abgerufen am: 21. April 2017). Der Siegel 1986c: ohne Verfasser; „Signifikante Schwachstellen“; in: Der Spiegel; Nr. 39/1986; S. 44; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spieg el/pdf/13520709 (zuletzt abgerufen am: 8. November 2017). Der Spiegel 1986d: ohne Verfasser; Tote Festung; in: Der Spiegel; Nr. 45/1986; S. 147-148; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/1 3519915 (zuletzt abgerufen am: 25. Juni 2018). Der Spiegel 1987a: ohne Verfasser; Tüten zu; in: Der Spiegel; Nr. 11/1987; S. 128-129; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/p df/13521731 (zuletzt abgerufen am: 8. November 2017). Der Spiegel 1987b: ohne Verfasser; Gnadenlose Hinrichtung; in: Der Spiegel; Nr. 33/1987; S. 82; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spieg el/pdf/13524225 (zuletzt abgerufen am: 7. November 2017). Der Spiegel 1987c: ohne Verfasser; Flambieren, demolieren; in: Der Spiegel; Nr. 35/1987; S. 82-83; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliver y/spiegel/pdf/13525678 (zuletzt abgerufen am: 21. Mai 2018). Der Spiegel 1988: ohne Verfasser; Gottverdammter Zufall; in: Der Spiegel; Nr. 8/1988; S. 95-96; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/ spiegel/pdf/13528747 (zuletzt abgerufen am: 27. Juni 2018). Der Spiegel 1989a: ohne Verfasser; Falsch bombadiert; in: Der Spiegel; Nr. 7/1989; S. 64-47; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/134 93712 (zuletzt abgerufen am: 26. Juni 2018). Der Spiegel 1989b: ohne Verfasser; „Wir können jeden erledigen“; in: Der Spiegel; Nr. 49/1989; S. 14‑23; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/sp iegel/pdf/13496228 (zuletzt abgerufen am: 9. November 2017). Der Spiegel 1990a: ohne Verfasser; Erst mal wegschließen; in: Der Spiegel; Nr. 21/1990; S. 68-73; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliver y/spiegel/pdf/13499807 (zuletzt abgerufen am: 15. Juli 2018).

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11 Quellen- und Literaturverzeichnis Der Spiegel 1990b: ohne Verfasser; Die mit den Hüten; in: Der Spiegel; Nr. 34/1990; S. 62-63; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliver y/spiegel/pdf/13501209 (zuletzt abgerufen am: 13. November 2017). Der Spiegel 1990c: ohne Verfasser; Schnell und kühn; in: Der Spiegel; Nr. 46/1990; S. 154-155; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliv ery/spiegel/pdf/13501549 (zuletzt abgerufen am: 14. November 2017). Der Spiegel 1992a: ohne Verfasser; Nur hinderlich; in: Der Spiegel; Nr. 3/1992; S. 79-81; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/136 79366 (zuletzt abgerufen am: 15. November 2017). Der Spiegel 1992b: ohne Verfasser; Wolf in der Wüste; in: Der Spiegel; Nr. 10/1992; S. 124-126; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDeliv ery/spiegel/pdf/13681438 (zuletzt abgerufen am: 27. März 2018). Der Spiegel 1994: ohne Verfasser; Treibjagd auf den Schakal; in: Der Spiegel; Nr. 34/1994; S. 114-117; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/ spiegel/pdf/13684615 (zuletzt abgerufen am: 10. August 2018). Der Spiegel 1995a: ohne Verfasser; „Ein ehrenvoller Auftrag“; in: Der Spiegel; Nr. 3/1995; ohne Seitenangaben; abrufbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-9157738.html (zuletzt abgerufen am: 17. Februar 2018). Der Spiegel 1995b: ohne Verfasser; Pick up the gun; in: Der Spiegel; Nr. 24/1995; S. 26-29; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/919 7570 (zuletzt abgerufen am: 29. Januar 2018). Der Spiegel 1997: ohne Verfasser; Peter Homann; in: Der Spiegel; Nr. 21/1997; S. 53; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/8716 523 (zuletzt abgerufen am: 10. September 2017). Der Spiegel 1998: ohne Verfasser; „Klein-Klein“ im Wahlkampf; in: Der Spiegel; Nr. 38/1998; S. 22-25; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/sp iegel/pdf/8001767 (zuletzt abgerufen am: 12. August 2018). Der Spiegel 1999: ohne Verfasser; Plaudernde Revoluzzer; in: Der Spiegel; Nr. 52/1999; S. 25; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/s piegel/pdf/15317042 (zuletzt abgerufen am: 12. August 2018). Der Spiegel 2007: ohne Verfasser; Verräter und Verschwundene; in: Der Spiegel; Nr. 40/2007; S. 78‑79; abrufbar unter: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/sp iegel/pdf/53135553 (zuletzt abgerufen am: 18. Juni 2017). Desselberger/Sieverdingbeck 1999: Alex Desselberger/Detlef Sieverdingbeck; Re­ volutionäre Plaudertaschen; in: Focus; Nr. 52/1999; ohne Seitenangaben; abruf­ bar unter: https://www.focus.de/politik/deutschland/verbrechen-revolutionaere -plaudertaschen_aid_179687.html (zuletzt abgerufen am: 12. August 2018). Dia-Gruppe 2001: Dia-Gruppe; This Is Not A Love Song – Eine kleine Geschichte der Revolutionären Zellen/Roten Zora (RZ); in: Jungle World; Nr. 12/2001; ohne Seitenangaben; abrufbar unter: https://www.jungle.world/artikel/2001/12/ not-love-song (zuletzt abgerufen am: 7. Juni 2021). Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg 2015: Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg; Kaindenkmal-Boese; Bamberg 2015; abrufbar unter: https://kaindenkmal-boese.j imdofree.com/ (zuletzt abgerufen am: 11. Januar 2022).

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11.2 Literatur Die Tageszeitung 2006: ohne Verfasser; Revoluzzer in der Zelle; in: Die Tageszei­ tung; Nr. 8046 vom 12. August 2006; S. 7; abrufbar unter: http://www.taz.de/!39 1801/ (zuletzt abgerufen am: 12. August 2018). Dietl 1995: Wilhelm Dietl; Schöne, kalte Heidi; in: Focus; Nr. 45/1995; ohne Seitenangaben; abrufbar unter: https://www.focus.de/politik/deutschland/terr orismus-schoene-kalte-heidi_aid_154512.html (zuletzt abgerufen am: 10. Mai 2018). Dietl/Hirschmann/Tophoven 2006: Wilhelm Dietl/Kai Hirschmann/Rolf Topho­ ven; Das Terrorismus‑Lexikon – Täter, Opfer, Hintergründe; Frankfurt am Main 2006. Dietrich 2009: Eckhart Dietrich; Angriffe auf den Rechtsstaat – Die Baader/Mein­ hof-Bande, die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen und die Stasi im Operationsgebiet Westberlin; Norderstedt 2009. Diewald-Kerkmann 2009: Gisela Diewald-Kerkmann; Frauen, Terrorismus und Justiz – Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Ju­ ni; Düsseldorf 2009. Diewald-Kerkmann 2012: Gisela Diewald-Kerkmann; Die RAF und die Bewegung 2. Juni – Die Beziehung von Gewaltgruppen und radikalem Milieu im Ver­ gleich; in: Stefan Malthaner/Peter Waldmann (Hrsg.); Radikale Milieus – Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen; Frankfurt am Main 2012; S. 121-142. Dovermann 2011: Ulrich Dovermann; Einleitung; in: Ders. (Hrsg.); Linksextremis­ mus in der Bundesrepublik Deutschland; Bonn 2011; S. 7-11. Drake 1995: Richard Drake; The Aldo Moro Murder Case; Cambridge/London 1995. Durkheim 1984: Émile Durkheim; Die Regeln der soziologischen Methode; Frank­ furt am Main 1984. Easson/Schmid 2011: Joseph Easson/Alex Schmid; 250-plus Academic, Govern­ mental and Intergovernmental Definitions of Terrorism; in: Alex Schmid (Hrsg.); in: The Routledge Handbook of Terrorism Research; Abingdon 2011; S. 99-157. Ebbrecht-Hartmann 2014: Tobias Ebbrecht-Hartmann; Kampfplatz Kino – Filme als Gegenstand politischer Gewalt in der Bundesrepublik; in: José Brunner/ Doron Avraham/Marianne Zepp (Hrsg.); Politische Gewalt in Deutschland – Ursprünge, Ausprägungen, Konsequenzen; Göttingen 2014; S. 161-180; abrufbar unter: http://www.tau.ac.il/GermanHistory/TAJB_2014_Ebbrecht-Hartmann. pdf (zuletzt abgerufen am: 26. April 2018). Eddel 2018: Katja Eddel; Japan und der Linksterrorismus der Roten Armee; in: Sebastian Liebold/Tom Mannewitz/Madeleine Petschke/Tom Thieme (Hrsg.); Demokratie in unruhigen Zeiten – Festschrift für Eckhard Jesse; Baden-Baden 2018; S. 109-118. Edelmann 2008: Florian Edelmann; Die Schimäre der Weltrevolution – Rote Ar­ mee Fraktion, Vereinigte Rote Armee und Japanische Rote Armee – Bewaffne­ ter Kampf in Japan und im internationalen Kontext; in: Alexander Straßner (Hrsg.); Sozialrevolutionärer Terrorismus – Theorie, Ideologie, Fallbeispiele, Zukunftsszenarien; Wiesbaden 2008; S. 305-327.

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8505 Interessierten stellt der Autor diese Arbeit auf Anfrage zur Verfügung.

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