119 89 14MB
German Pages [240] Year 1994
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 22
V&R
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz
REIHE B: DARSTELLUNGEN Band 22
Heide-Marie Lauterer Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1994
Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft Der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes von
Heide-Marie Lauterer
Mit 4 Abbildungen
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1994
Redaktionelle Betreuung dieses Bandes: Hannelore Braun
Die Deutsche Bibliothek -
CJP-Einheitsaufnahme
Lauterer, Heide-Marie: Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft: der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes / von Heide-Marie Lauterer. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 22) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-525-55722-1 NE: Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte / Β
© 1994 Vandenhoeck & Ruprecht, 37070 Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Bindearbeiten: Hubert & Co., Göttingen
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort
7
Einleitung
9
A. VORAUSSETZUNGEN I. Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932 1. Anfänge im 19. Jahrhundert 2. Die Gründung des Kaiserswerther Verbandes deutscher Diakonissenmutterhäuser im Jahr 1916 3. Ein Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege 4. Politische Einstellungen der Verbandsvorsitzenden am Vorabend des Dritten Reiches
21 21 27 31 38
B. ZWISCHEN ANPASSUNG UND SELBSTÄNDIGKEIT II. Der Kaiserswerther Verband in der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime im Jahr 1933 1. Gleichschaltung des Kaiserswerther Verbandes? 2. Die Diakoniegemeinschaft 3. Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft 4. Die Diakoniegemeinschaft eine „ Abwehrgemeinschaft" ? 5. Zur politischen Mentalität Auguste Mohrmanns
49 49 59 70 73 77
III. Der Kaiserswerther Verband in der Auseinandersetzung mit der verfaßten Kirche im Jahr 1933 1. Voraussetzungen: Die Beziehungen zur verfaßten Kirche 1919-1932 . 2. Im Kirchenkampf: Der Fall v. Bodelschwingh 3. Bemühungen um die werdende Reichskirche 4. Hans Lauerer und die Reichskirchenpolitik
83 83 85 90 101
C. KOOPERATION UND RESISTENZ IV. Der Kaiserswerther Verband vor der Frage der Zwangssterilisation und der Euthanasie 1 9 3 3 - 1 9 4 3 1. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1933/34 2. Beteiligung evangelischer Anstalten an Sterilisation und Abtreibung. .
111 111 117
6
Inhaltsverzeichnis
3. Die Richtlinien der Inneren Mission 4. Zur finanziellen Situation evangelischer Anstalten 5. Äußerungen des zweiten Verbandsvorsitzenden zur Frage der Zwangssterilisierung und der Euthanasie 6. Die fehlende Grundentscheidung 7. Euthanasieaktionen in Anstaltendes Kaiserswerther Verbandes V. D i e z ö g e r n d e A n n n ä h e r u n g des K a i s e r s w e r t h e r Verbandes an die B e k e n n e n d e K i r c h e i m J a h r e 1934 1. Die Stellung zur Bekenntnisgemeinschaft 2. Die Forderung nach einem Anschluß der Inneren Mission an die Bekennende Kirche auf der Bekenntnissynode von Barmen 3. Die Auswirkungen auf den Kaiserswerther Verband 4. Kritik einzelner Mutterhausvorsteher an der Verbandspolitik 5. Mutterhäuser im Kirchenkampf und das Verhalten des Verbandsvorstandes
127 130 133 138 141
149 149 157 162 178 182
Anstelle eines F a z i t s : Varianten der Resistenz
199
Q u e l l e n - u n d Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen
202 202 205
Abkürzungen
218
Personenregister/Biographische Angaben
220
O r t s - u n d Sachregister
237
VORWORT Am Anfang meiner Forschungen über die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie standen Gespräche mit alten und einigen jüngeren Diakonissen. Besonders erwähnen möchte ich Frau Oberin i.R. Gertrud Schaaf, Diakonissenmutterhaus Jerusalem, Hamburg; Oberin i.R. Dora Betz, Schwäbisch Hall; Oberin Erika Kirse, Minden; Diakonisse Irene Güttemeyer, Diakonisse Anna Sticker, beide Kaiserswerth; Diakonisse Bertha Zimmer, Altenberg; Oberin Hanna Lachemann, Frankfurt; Oberin i.R. Luise Schäfer, Kassel; Diakonisse Elisabeth Jakob, Wertheim; Oberin i.R. Luise Deutschmann, Marktheidenfeld; Oberin i.R. Dore Schellenberg, Diakonisse Luise Georgi, Diakonisse Irene Laube, alle drei Mutterhaus Sarepta, Bethel. Die Archivarin des „Fliedner-Archivs" und des Archivs des Kaiserswerther Verbandes, Diakonisse Ruth Felgentreff, half mir bei der Quellenbeschaffung und begleitete meine Forschungen als Gesprächspartnerin. Dank schulde ich auch der Archivarin des Archivs des Neuendettelsauer Mutterhauses, Diakonisse Elisabeth Benkert sowie Diakonisse Erika Albus. Helmut Talazko führte mich in das Archiv und Herr Deppe in die Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD in Berlin ein, beiden verdanke ich wichtige Gespräche und Hinweise. Gerta Scharffenorth regte mich zu meinem Thema an und begleitete mich mit Fachkompetenz und Ermutigungen. H.E. Tödt und Ernst-Albert Scharffenorth, die damaligen Leiter des Heidelberger Forschungsprojektes „Widerstand, Kirchenkampf und Judenverfolgung", nahmen mich, die „Profan"-Historikerin, in ihre Runde auf. Ihnen verdanke ich nicht zuletzt mein Wissen über die Geschichte des Kirchenkampfes. Besonders danken möchte ich den Mitgliedern der Forschungsgruppe Herbert Anzinger, Christine-Ruth Müller, Sabine Schleiermacher, Uwe Gerrens, Gerd Mönkemeier und Andreas Kersting. Meinem Doktorvater Hartmut Soell verdanke ich, daß ich nicht vom schmalen Pfad der Historie abirrte. Seine Kritik und seine Hinweise bildeten ein wichtiges Gegengewicht zu den kirchengeschichtlichen Diskussionen; wertvoll waren die anregenden und lebhaften Gespräche im damaligen Doktorandenkolloqium - besonders erwähnt seien Christian Jansen, Mathias Frese, Pia Nordblom und Antje Sommer. Mein Mann, Hans-Jürgen Pirner, finanzierte meine Arbeit über mehrere Jahre hin. Ihm verdanke ich, daß ich mich meinen Forschungen widmen konnte. Danken möchte ich auch Leonore Siegele-Wenschkewitz, die meine Arbeit nicht nur mit Sachverstand, Ermutigungen und Anregungen begleitete, sondern mir auch Gelegenheit gab, meine Forschungen in die Seminare
8
Vorwort
der Evangelischen Akademie Arnoldshain einzubringen. Theodor Strohm, Diakoniewissenschaftliches Institut Heidelberg, gab mir manche Gelegenheit zur Mitarbeit in seinem Seminar und unterstützte die Materialsammlung durch einen Kopierkostenzuschuß. Der Morgenländischen Frauenmission (Berlin-Lichterfelde) danke ich für freundliche Herberge während dieser und inzwischen anderer Archivarbeiten. Wichtig waren mir die kritischen Auseinandersetzungen mit den Arbeiten Jochen-Christoph Kaisers und Kurt Nowaks. Ich verdanke Kurt Nowak, der Teile meines Manuskriptes gelesen hat, nicht nur viele Anregungen, sondern auch den ermunternden Hinweis auf den Schlußsatz in Joseph v. Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts". Ursula Baumann (Berlin) war mir eine kritisch unterstützende Gesprächspartnerin. Dies gilt auch für die Berner Ethnologin Simone Prodolliet, die Historikerin Brigitte Schnegg (Bern) und die Historikerin Anne-Marie Kaeppeli (Genf), auch ihnen möchte ich für ihre Begleitung auf einer wichtigen Wegstrecke danken. Der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte danke ich für die Aufnahme meiner Studie in die Reihe der „Arbeiten für kirchliche Zeitgeschichte"; besonderer Dank aber gebührt Hannelore Braun für die unermüdliche Unterstützung bei der Vorbereitung für die Publikation. Gewidmet sei dieses Buch Gerta Scharffenorth, Ernst-Albert Scharffenorth und Heinz-Eduard Tödt (f).
EINLEITUNG
In den letzten Jahren erweckten bisher vernachlässigte Problemkreise das Interesse der allgemeinen und kirchlichen Zeitgeschichte: die Zwangssterilisierung und die Euthanasieaktionen im Dritten Reich sowie die Beteiligung von Ärzten und Krankenschwestern, großen Institutionen und kirchlichen Anstalten. Auch die Massenmedien nahmen sich dieses Themas an und öffneten in Fernsehsendungen und Zeitungsberichten die „Kammer des Schreckens" (Kurt Nowak) für ein breites Publikum. Autoren wie Ernst Klee, der sich seit den 80er Jahren unermüdlich um die Aufdeckung geschehenen Unrechtes bemüht, verschafften ihm eine hohe Konjunktur. Im Betroffenheitsstil gehalten hinterließen vor allem Klees Fernsehsendungen bei der breiten Öffentlichkeit erschütternde Eindrücke. In der vorliegenden Druckfassung meiner im Winter 1989 beendeten Dissertation geht es mir nicht darum, diese Eindrücke zu verstärken. Mein Hauptinteresse gilt vielmehr dem Verhalten eines großen Wohlfahrtsverbandes des freien Protestantismus in der politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Umbruchsituation des Jahres 1933/34, und ich will nach den Folgen dieses Verhaltens für den Verband und seine Pflegebefohlenen unter den Bedingungen der sich etablierenden nationalsozialistischen Diktatur fragen. Deshalb interessierte mich auch die Beteiligung der Mutterhausdiakonie an der Zwangssterilisierung und ihr späteres Verhalten gegenüber den Euthanasieaktionen. Der 1916 gegründete „Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser" war 1933 der größte evangelische Schwesternverband im Bereich der Inneren Mission. Ihm gehörten 27638 Diakonissen und 3 708 diakonische Hilfskräfte in 69 über das ganze Deutsche Reich verstreut liegenden Mutterhäusern an. Die Diakonissen arbeiteten im Erziehungswesen - in Kindergärten, Elementarschulen und höheren Schulen - in der geschlossenen, halboffenen und offenen Fürsorgearbeit, in Anstalten für körperlich und geistig Behinderte und im Pflegebereich als Gemeinde- und Krankenschwestern 1 . Den „Grundordnungen der Kaiserswerther Generalkonferenz" zufolge, denen sich alle Mutterhäuser verpflichtet fühlten, geschah das diakonische Handeln im „Auftrag Jesus Christus" (sie!), „aus Dankbarkeit für die Liebe
1
V g l . W . ENGELMANN, Statistik, S. 2 3 6 ff.
10
Einleitung
dessen, der sein Leben für uns gelassen hat" 2 . Im Vergleich zu dem humanitär begründeten Dienst des Deutschen Roten Kreuzes und dem politischen Dienst der NS-Schwesternschaft 3 war der Diakonissendienst religiös motivierte „Liebestätigkeit" 4 . Einzelne Mitglieder der Mutterhausdiakonie arbeiteten in dem 1848 gegründeten Centraiausschuß für die Innere Mission von Anfang an mit. Im Unterschied zu der Inneren Mission, die neben praktischer „Liebestätigkeit" satzungsgemäß auch sozialpolitisch tätig war 5 , sparte der Kaiserswerther Verband jedoch die Möglichkeit Verbands- und gesellschaftspolitischer Einflußnahme aus seinen Grundordnungen, Satzungen und seinem Selbstverständnis aus; in der ausgehenden Weimarer Republik verlangte er darüber hinaus von seinen Mitgliedern politische Neutralität. Wie verhielt sich dieser Verband der christlichen Liebestätigkeit unter dem Gleichschaltungsdruck von NSDAP und Reichsinnenministerium im Jahre 1933, welche Orientierungsmöglichkeiten blieben ihm, nachdem ihm alle gesellschaftspolitischen Voraussetzungen für seine autonome Selbstbestimmung genommen waren? Wie ist das Bemühen um die institutionelle Bestandssicherung, das der Verbandsvorstand im Jahr 1933/34 immer mehr zu seiner Hauptaufgabe machte, zu beurteilen? Kann hier, wie Jochen-Christoph Kaiser im Blick auf die Innere Mission herausgestellt hat, von einem „Resistenzpotential", von „evangelisch-kirchlichem Teilwiderstand", ja sogar von einem „zähen, unerbittlichen Kampf gegen die Euthanasie" 6 gesprochen werden? Kaiser bezog sich in seiner Studie 7 implizit auf den Resistenzbegriff Martin Broszats 8 ; auch mir erschien dieser Begriff zunächst geeignet, das Verhalten des Kaiserswerther Verbandes, insbesondere aber das Verhalten und die Funktion der „Diakoniegemeinschaft" im NS-Staat zu untersuchen. Diese Organisation wurde im Herbst 1933 auf Betreiben des Kaiserswerther Verbandes und anderer Diakonissenverbände gegründet 9 . Deshalb, und weil die Diakoniegemeinschaft keine nationalsozialistische Schwesternorganisation war, wurde sie von der Verbandsgeschichtsschreibung als „Ab2 Die Grundordnungen wurden im Gründungsjahr 1861 verabschiedet und in der Folgezeit mehrmals überarbeitet (vgl. A K V , K V Grundordnungen). 3 Vgl. Richtlinien der NS-Schwesternschaft, 21.6.1934. In: H.VORLÄNDER, N S V , S.309 ( D o k . N r . 118). 4 Vgl. R G G 2 , Bd. 3, Sp. 1648 f. (Art. Liebestätigkeit, II). 5 § l a der Satzungen sagte, der Centraiausschuß wolle insbesondere „die Innere Mission als Aufgabe und Arbeit der Kirche und der lebendigen Christusgemeinde zur Geltung bringen und sie vor der Öffentlichkeit, insbesondere den Behörden gegenüber vertreten, auch Fühlung mit der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege und sonstigen verwandten Bestrebungen suchen"
( v g l . H A N D B U C H , B d . 1, S . 6 ) . 6
Protestantismus, S. 456.
7
EBD.
Vgl. Resistenz, S. 691 ff. » Vgl. unten Kap. I I . 2 , S . 5 9 f f . 8
Einleitung
11
wehrgemeinschaft" eingeordnet. Was auch mir auf den ersten Blick als resistent erschien, erwies sich bei näherem Hinsehen als Mischung zwischen unkritischer Anpassung - vorwiegend in den ersten Jahren des Nationalsozialismus - und innerer Emigration, die in den späteren Jahren hervortrat, jedoch in meiner Studie nicht untersucht wird. Von der erstgenannten Verhaltensweise ging keine die nationalsozialistische Herrschaft begrenzende Wirkung aus, weil die Diakoniegemeinschaft in das nationalsozialistische Gesundheitswesen integriert war und es bis 1945 unterstützte. D a sich der Verband während der Weimarer Republik nur unzureichend an der in der Gesellschaft und in den Fachverbänden geführten Diskussion über grundsätzliche Fragen der freien Wohlfahrtspflege, besonders aber über die eugenischen Sterilisationspläne und die Euthanasie beteiligt hatte, waren die Verantwortlichen geistig schlecht vorbereitet auf die Entscheidungen, die sie nach 1933 unter dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses treffen mußten. Jetzt fehlte es nämlich an Urteilsfähigkeit und reflektierten Einstellungen, die zu einer Grundentscheidung gegen die Zwangssterilisierung hätte führen können. Diese Grundentscheidungen hätte der Verband allerdings jetzt noch von der Theologie der Bekennenden Kirche her für sich entwickeln können, doch das Verhältnis zur Bekennenden Kirche war beim Verbandsvorstand ambivalent. A b November 1933 wollte sich der Kaiserswerther Verband zwar „innerlich" der Bekennenden Kirche zurechnen, aber der Vorstand wehrte sich auch dagegen, die Bekennende Kirche als das einzige legitime Kirchenregiment anzuerkennen und sich ihr zuzuordnen. Einzelne Diakonissen, Oberinnen und Vorsteher litten unter der mangelnden Entschiedenheit des Verbandsvorstandes der Bekennenden Kirche gegenüber. Vor allem Diakonissen, die unmittelbar mit den körperlichen und seelischen Bedürfnissen, den Leiden und Freuden der Kranken konfrontiert waren, waren von ihrer Einstellung her oft nicht bereit, ihre Pfleglinge der nationalsozialistischen Rassenideologie zu opfern. Doch weil sie aufgrund der patriarchalischen Leitungsstrukturen in den Mutterhäusern an Weisungen ihrer Hausvorstände gebunden waren und kein Mitspracherecht im Verband hatten, wurden viele dieser Frauen zu Handlungen gezwungen, die ihr Gewissen schwer belasteten. Ich habe den Zeitraum der Untersuchung im wesentlichen auf die Jahre 1933-1934 beschränkt, ihn jedoch dann ausgeweitet, wenn sich dadurch bestimmte, das Problem verschärfende Entwicklungen besser verfolgen oder erklären ließen. Meine Studie ist in fünf Kapitel eingeteilt: Im ersten Kapitel beschäftige ich mich mit der Vorgeschichte des Verbandes, seiner Entstehung und Entwicklung in der Weimarer Republik und untersuche die im 19. Jahrhundert entstandene und 1916 modifizierte Struktur der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie. Eine Analyse der politischen Mentalität des Verbandsvorstandes in der Umbruchszeit 1932/33 beschließt dieses einleitende Kapitel.
12
Einleitung
Im zweiten Kapitel will ich die Veränderungen, die die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik vom Verband forderte, zunächst am Beispiel der Verbandssatzung darstellen. Danach soll die Diakoniegemeinschaft unter Auguste Mohrmann sowie die Integration der Schwesternschaften in das nationalsozialistische Gesundheitssystem beleuchtet werden. Erstmals setze ich mich hier mit dem Broszatschen Resistenzbegriff auseinander. Im letzten Abschnitt (II.5) geht es um Auguste Mohrmann; ich analysiere die in der Zeitschrift „Die christliche Kinderpflege" enthaltenen Elemente nationalsozialistischer Ideologie und versuche, auf dieser Basis Aussagen über die politische Mentalität Auguste Mohrmanns zu machen, die seit 1932 Schriftleiterin dieses Blattes war. Im dritten Kapitel geht es mir um die Stellung des Verbandes im Kirchenkampf des Jahres 1933. An der Entscheidung zwischen Friedrich V.Bodelschwingh, dem designierten Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche und Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, dem Vertrauensmann und Bevollmächtigten Adolf Hitlers als alternativem Reichsbischofskandidaten, will ich deutlich machen, in welchem Ausmaß politische Motive die kirchenpolitische Einstellung des Verbandsvorstandes bestimmten. Diesen Befund will ich im letzten Abschnitt mit der Analyse des kirchenpolitischen Handelns Hans Lauerers, des Rektors der Neuendettelsauer Anstalten und zweiten Vorsitzenden des Verbandes erhärten. Hier wird die Verbindung des Kaiserswerther Verbandes mit anderen wichtigen Institutionen und Persönlichkeiten der Kirchengeschichte des Jahres 1933 sichtbar; denn Lauerer wurde im Dezember 1933 von Reichsbischof Ludwig Müller als Mitglied seines zweiten Geistlichen Ministeriums berufen. Der Dritte im Bunde, der eher zögerliche, oft wider besseres Gewissen handelnde Verbandsvorsitzende Siegfried Graf v. Lüttichau, der über wichtige Verbindungen zur Ministerialbürokratie und zum Centraiausschuß für die Innere Mission in Berlin verfügte, trat in den beiden ersten Jahren der NS-Herrschaft hinter dem zweiten Vorsitzenden und Mohrmann an Bedeutung zurück. Er wird in Kapitel II.3 gewürdigt. Daß die Haltung des Verbandsvorstandes nicht von allen Verbandsmitgliedern gutgeheißen wurde, zeigt die ebenfalls im dritten Kapitel durchgeführte Untersuchung der Haltung einzelner Hausvorstände in dieser Frage. Im vierten Kapitel untersuche ich das Verhalten des Kaiserswerther Verbandes, einzelner Vorsteher, Diakonissen und Ärzte zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Im Abschnitt IV. 7. gehe ich dabei auf den Zusammenhang zwischen der Beteiligung der evangelischen Krankenanstalten an der Zwangssterilisation und den nationalsozialistischen Krankenmorden, die sog. Euthanasie, ein. Das fünfte Kapitel knüpft an die Chronologie des dritten Kapitels an und stellt das ambivalente Verhältnis des Kaiserswerther Verbandes zur Bekennenden Kirche im Jahr 1933/34 dar. Der Vorstand sah sich nun zu einer
Einleitung
13
Entscheidung gezwungen zwischen den totalitären Ansprüchen des Staates einerseits und der Barmer Theologischen Erklärung andererseits, die gerade diese Ansprüche des Staates verwarf. Unterhalb der Verbandsspitze gab es zu dieser Frage sehr unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen; ich habe deshalb in besonderen Abschnitten alternative Entscheidungen einzelner Mutterhausvorstände und deren Folgen in die Darstellung einbezogen. Das Schlußkapitel will keine Zusammenfassung der einzelnen Teile sein, da diese jeweils ein eigenes Resümee beinhalten. Anstelle eines Fazits möchte ich noch einmal das Verhalten eines großen protestantischen Verbandes in den Jahren der nationalsozialistischen Gleichschaltung und der „totalen" Gesellschaftsreglementierung in den Blick nehmen. Der Kaiserswerther Verband widerstrebte der nationalsozialistischen Gleichschaltung in der Absicht, die eigene Selbständigkeit zu bewahren. Sein Verhalten soll mit dem darüberhinausweisenden Verhalten einzelner Verbandsmitglieder konfrontiert werden, um aus dieser Perspektive den wirkungsgeschichtlichen Resistenzbegriff Martin Broszats noch einmal zu überdenken. Quellen
Neben zeitgenössischen Broschüren, Zeitschriftenartikeln aus dem Bereich der Inneren Mission und der freien Wohlfahrtspflege, sog. Schwesterngrüßen, Festschriften und Vorträgen beruht meine Studie vor allem auf unveröffentlichten Archivalien: auf Vorstandsprotokollen und Rundschreiben des Verbandes aus der Zeit der Weimarer Republik und der ersten Jahre des Dritten Reiches; auf Rundschreiben der Diakoniegemeinschaft und Berichten Auguste Mohrmanns; auf dem Briefwechsel zwischen dem ersten und zweiten Vorsitzenden und dem Briefwechsel des zweiten Verbandsvorsitzenden mit Verbandsmitgliedern. Die Material- und Quellensuche war außerordentlich schwierig und erforderte einen großen Zeitaufwand. Auf Anregung Gerta Scharffenorths habe ich bereits 1984 innerhalb ihres Studienprojektes „Schwestern" einen Aufsatz zum Thema „Schwesternschaften im Nationalsozialismus" veröffentlicht, der auf der Basis von Gesprächen mit „Feierabendschwestern"10 sowie der Auswertung von Aufsätzen aus dem Organ des Kaiserswerther Verbandes „Die Diakonisse" beruhte 11 . Damals war die Geschichte der Diakonie im Nationalsozialismus noch weitgehend unerforscht 12 . Bemühungen in dieser Richtung stießen nicht selten auf Unverständnis oder Abwehr bei den zuständigen Vorstehern und Oberinnen, die ihre alten Diakonissen vor vermeintlich schmerzhaften Erinnerungen bewahren wollten und deshalb unsere Bitten um Gespräche zunächst abschlugen. Es kam hinzu, daß auch noch 10
D . h . Diakonissen im Ruhestand.
11
Vgl. H . - M . LAUTERER-PIRNER, G e f ä h r d u n g .
12
Vgl. unten S. 16f.
14
Einleitung
zu Beginn meiner Arbeit an der Dissertation im Jahre 1985 die zur Verfügung stehenden Archivbestände oder Quellensammlungen die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie betreffend nicht verzeichnet waren - und es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bis heute nicht sind. Außerdem existierten für die bestehenden Sammlungen und Archive nur selten umfassende Findbücher; deshalb war die Quellensuche weit über das gewöhnliche Maß hinaus vom Zufall abhängig. Einige zusätzliche Recherchen mußten deshalb aus Zeitgründen unterbleiben. Weil ich nicht nur die Verbandsgeschichte „von oben" erforschen, sondern auch die Einstellung und das Verhalten der Verbandsmitglieder in den Blick nehmen wollte, habe ich trotz der beschriebenen Situation elf Mutterhäuser in der Bundesrepublik und eines in der damaligen D D R besucht und dort einen oder mehrere Tage bei den Schwestern verbracht. Auf diese Weise habe ich aus unmittelbarer Anschauung und „teilnehmender Beobachtung" viel vom Leben in einem Mutterhaus Kaiserswerther Prägung erfahren und alte und jüngere Diakonissen kennengelernt, deren Lebenswege, Erfahrungen und Weisheit mich beeindruckten 13 . In Einzel- und Gruppengesprächen habe ich ca. 50 Feierabendschwestern nach ihren Erfahrungen im Nationalsozialismus befragt und die auf Tonband aufgenommenen Gesprächsprotokolle transskribiert. In die Endfassung meiner Dissertation konnte dann nur ein Bruchteil dieser Gespräche einfließen. Nach und nach öffneten mir die Oberinnen auch den Zugang zu den mutterhauseigenen Quellensammlungen und Archiven: so ζ. B. Frau Oberin i. R. Luise Schäfer, Diakonissenmutterhaus Kassel und Diakonisse Ria Ratz, Elisabethenstift Darmstadt. Andere Mutterhäuser hatten ihre Akten aus der NS-Zeit bereits vernichtet; hier halfen einzelne Diakonissen gelegentlich mit privat aufbewahrten Quellenstücken aus. Manche Mutterhausvorstände waren erst nach gewachsenem Vertrauen bereit, mir Einblick in ihre Akten zu gewähren. Im Falle des Mutterhauses Bad Kreuznach geschah dies kurz vor Abschluß meiner Arbeit, so daß ich die wichtigen Bestände über den Beginn der Euthanasiemaßnahmen im Mutterhaus Bad Kreuznach nicht mehr für meine Studie berücksichtigen konnte 14 . Wichtigster Fundort für die Verbandsgeschichte „von oben" war das Kaiserswerther Fliedner-Archiv; hier liegen Rundschreiben und Verbandsprotokolle seit der Gründung des Verbandes bis in die Zeit des Nationalso-
1 3 Den Lebensweg einer dieser Frauen, D r . Gertrud Schaaf, Oberin i . R . des Diakonissenmutterhauses Jerusalem, Hamburg, habe ich in einer Kurzgeschichte nachgezeichnet (vgl. H . -
M. LAUTERER-PIRNER, T o tali t er). 1 4 U w e Kaminsky, der seit 1990 im Auftrag des Diakonischen Werkes im Rheinland eine Dokumentation über Zwangssterilisation und Euthanasie in den Einrichtungen der Inneren Mission des Rheinlandes während des Dritten Reiches erarbeitet, hat diesen Quellenbestand inzwischen gesichtet.
Einleitung
15
zialismus. Auch die leider sehr lückenhaften Rundschreiben der Diakoniegemeinschaft sowie einige wenige Referate, die auf ihren Veranstaltungen gehalten wurden, konnte ich hier einsehen. Bedauerlicherweise gelten die Nachlässe Auguste Mohrmanns, der Führerin der Diakoniegemeinschaft, und Siegfried Graf v. Lüttichaus, des ersten Verbandsvorsitzenden, als verschollen. Besonders aufschlußreich für die Erhellung der politischen Einstellung der beiden Verbandsvorsitzenden waren deshalb die Bestände des Archivs der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, zu denen ich erst sehr spät Zugang erhielt. Neben der gesamten publizistischen Produktion Hans Lauerers findet sich hier der Briefwechsel zwischen ihm und v. Lüttichau sowie anderer Verbandsmitglieder, der die Verbandspolitik, wie sie in den Beständen des „Fliedner-Archivs" dokumentiert ist, von dem in diesen Briefen ungeschminkt zu Tage tretenden Blickwinkel der beiden Vorsitzenden aus beleuchtet. Zu den mich ebenfalls interessierenden Registraturakten der Diakonissenanstalt erhielt ich keinen Zugang. Das Archiv des Diakonischen Werkes Berlin bot weitere, in Kaiserswerth nicht auffindbare Vorstandsprotokolle sowie einzelne Rundschreiben der Diakoniegemeinschaft; die dort archivierten Protokolle der Geschäftsführerkonferenz des Centraiausschusses für die Innere Mission enthalten außerdem Hinweise auf die Politik des Kaiserswerther Verbandes. Die Leiterinnen und Leiter von einigen der genannten Einrichtungen führten mit mir ausführliche Gespräche über Inhalte, Ziele und über die von ihnen vermutete Tendenz meiner Arbeit, eine, wie ich lernte, übliche Praxis in Privatarchiven, die sich von den sachlichen Beratungsgesprächen in staatlichen Archiven unterschied. Obwohl der Verband in den Jahren 1933/34 Verhandlungen mit Beamten verschiedener Reichsministerien - vor allem des Reichsministeriums des Innern - führte und zwischen der in der Geschäftsstelle des Verbandes tätigen Auguste Mohrmann und der Reichsfrauenführerin Gertrud ScholtzKlink gute Kontakte bestanden, fand ich im Bundesarchiv in Koblenz keine für die Verbandsgeschichte wichtigen Dokumente. Hier spiegelt sich eine Praxis der revolutionären Phase des NS-Staates, in der die Gleichschaltungsmaßnahmen ohne gesetzliche Grundlage im gesellschaftlichen Bereich vor allem dann, wenn es sich um Organisationen handelte, die die neue Regierung anerkannten, kaum protokolliert wurden. Im Document Center Berlin waren jedoch die Parteidossiers von Hans Lauerer, Siegfried Graf v. Lüttichau und Auguste Mohrmann einzusehen. Die landeskirchlichen Archive sowie das Evangelische Zentralarchiv in Berlin verfügen über Vorgänge die einzelnen Anstalten betreffend, nicht jedoch über Verbandsquellen; für das Jahr 1933 war z.B. im Generallandesarchiv Karlsruhe nur ein einziges Blatt den Kaiserswerther Verband betreffend erhalten. Dieser Befund wurde später durch einen Vergleich mit dem 1987/88 erschienenen „Inventar staatlicher Akten zum Verhältnis von Staat und Kirchen 1933-1945" erhärtet. Der
16
Einleitung
Kaiserswerther Verband ist hier nur ein einziges Mal aufgeführt 15 , Siegfried Graf v. Lüttichau ebenfalls, Hans Lauerer und Auguste Mohrmann dagegen nicht. Da ich meine Dissertation bereits zum Jahresende 1989 abgeschlossen hatte, konnte ich aus finanziellen Gründen und wegen anderer Verpflichtungen Akten zum Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Dritten Reich, im Bundesarchiv Abt.Potsdam vor allem den Bestand 51.01 (Reichskirchenminister) und hier etwa die Akte 23.247 (Reichsbischof 1933-1939), nicht mehr auf ihre Ergiebigkeit für die Geschichte der Diakonie überprüfen. Forschungsstand Erst in letzter Zeit beginnen sich Kirchen- und Sozialgeschichte der Erforschung der freien protestantischen Verbände und Werke zu widmen. Deren Geschichte wurde bisher vor allem in Verbands- oder anstaltseigenen Broschüren und Festschriften 16 dargestellt, die in den wenigsten Fällen einer wissenschaftlichen Beurteilung standhalten. Die Erforschung der Verbandsgeschichte des freien Protestantismus begann zunächst bei der Inneren Mission 17 und richtet sich nun auch auf deren Mitgliedsverbände18. Die Geschichte des Kaiserswerther Verbandes ab 1916 fand bisher, sieht man von den verbandseigenen Darstellungen einmal ab, noch nicht das Interesse wissenschaftlich-kritischer Forschung. Dagegen wurden die Entstehungsgeschichte der weiblichen Diakonie in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie die Lebensbilder ihrer Gründerinnen und Gründer 1961 von der damaligen Archivarin und Historikerin des FliednerArchives, Diakonisse Anna Sticker erarbeitet 19 . Catherine Prelinger 20 konnte an diese sozial- und frauengeschichtlichen Ansätze in einem Aufsatz zur Entstehung der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie anknüpfen. Sie ging davon aus, daß die Struktur des Diakonissenmutterhauses nach dem Vorbild des „ganzen Hauses" geschaffen wurde. Von hier aus ergaben sich neue Fragen nach der Stellung der Diakonisse im hierarchischen Gefüge des 1 5 Vgl. Bd. 1, S. 337 (Nr. 2475: Kommissarische Übernahme der Leitung des Diakonissenhauses Elisabethenstift Darmstadt durch die NSV. - Eingabe des Kaiserswerther Verbandes Deutscher Diakonissenmutterhäuser e.V. 1939). 1 6 Die Verbandsgeschichte wurde zum 75. Jubiläum des Kaiserswerther Verbandes von der Archivarin des „Fliedner-Archivs" vorgelegt (vgl. R. FELGENTREFF, Profil). 1 7 Vgl. M.GERHARDT, Jahrhundert, Bd. 1 - 2 ; DERS., Johann Hinrich Wichern, Bd. 1 - 3 ;
E . BEYREUTHER, G e s c h i c h t e ; J . - C H R . KAISER, P r o t e s t a n t i s m u s . 1 8 So legte die Altoberin des Zehlendorfer Diakonievereins L.KATSCHER (Krankenpflege) eine zweibändige Untersuchung über die Schwesternschaften des evangelischen Diakonievereines im Dritten Reich vor. Eine Geschichte der Diakonenschaft wird auf J.-Chr. Kaisers Anregung hin von Michael Häusler, Universität Münster, erarbeitet. 1 9 ANNA STICKER (Friederike Fliedner) stellte erstmalig die Bedeutung Friederike Fliedners für die Entstehung der Diakonissenanstalt dar; der Begründer des „Fliedner-Archivs", M. GERHARDT, schrieb eine Biographie Theodor Fliedners (Theodor Fliedner). 2 0 Frauendiakonie.
Einleitung
17
Mutterhauses, die, so Prelinger, mit der Stellung von unverheirateten Töchtern im „ganzen Haus" vergleichbar war. Fragt man nach dem Arbeitsbegriff 21 innerhalb der weiblichen Diakonie und schließt von hier aus auf die Stellung der Diakonisse im Mutterhaus, so liegt ein Vergleich mit der Arbeit von Mägden näher. Harald Jenner kam es in seiner historischen Dissertation, die die Flensburger Diakonissenanstalt in den Jahren 1874-1933 darstellt, darauf an, die Wechselwirkung des Diakonissenhauses mit seinem gesellschaftlichen Umfeld zu zeigen. So wurde erstmalig die gesellschaftliche Bedeutung einer religiösen Anstalt, zum Beispiel auf gesundheitspolitischem Gebiet, Thema einer sozialgeschichtlichen Untersuchung. Neben dem sozial- und frauengeschichtlichen Interesse 22 zeichnet sich als zweiter Schwerpunkt diakoniegeschichtlicher Forschung die Zeit des Nationalsozialismus ab. Hier wird zum einen die Geschichte einzelner Werke im Dritten Reich, wie z.B. die des Stephansstifts in Hannover 23 , einzelner Fachverbände der Inneren Mission, wie z.B. des evangelischen Kinderpflegeverbandes24, oder einzelner Provinzialverbände der Inneren Mission wie z.B. des Rheinischen Verbandes 25 untersucht. Zum anderen konzentriert sich die Forschung auf die Problematik der Euthanasieaktionen und die Beteiligung evangelischer Anstalten 26 , und auf den facettenreichen Widerstand einzelner Vorsteher, wie z.B. des Anstaltsleiters der Hoffnungstaler Anstalten und Bürgermeisters von Lobetal Paul Gerhard Braune 27 . Eine erste Bestandsaufnahme dieser Forschungen bis zum Jahr 1990 enthält der von Theodor Strohm und Jörg Thierfelder herausgegebene Sammelband „Diakonie im Dritten Reich". Nur wenige der genannten Autorinnen und Autoren, die sich mit dem Dritten Reich beschäftigen, verstehen ihre Studien auch als Beitrag zur Widerstands- und Resistenzforschung, wie sie in der Sozialgeschichte seit den 1980er Jahren von Martin Broszat et al. in dem Forschungsprojekt „Bayern in der NS-Zeit" entwickelt wurde. Zu diesen wenigen gehört der 21
Diesen und ähnlichen F r a g e n geht J u t t a Schmidt in ihrer am Heidelberger Diakoniewissen-
schaftlichen Institut entstehenden Dissertation nach. 22
Z u erwähnen sind hier sozialgeschichtliche Studien zur F u n k t i o n und Bedeutung religiöser
Frauenverbände in der Weimarer Republik und im D r i t t e n Reich, die jedoch die Diakonissenverbände nur am R a n d e erwähnen; vgl. U . BAUMANN, Protestantismus; C.KOONZ, M o t h e r s ; Μ . PHAYER, W o m e n . 23
Vgl. CHR. MEHL, Stephansstift.
24
Vgl. R . BOOKHAGEN, Kinderpflege.
25
Vgl. U . KAMINSKY, Innere Mission.
26
Vgl. C H R . - R . M Ü L L E R / H . - L . SIEMEN, W a r u m ; M . W U N D E R / I . GENKEL/H. JENNER, E b e -
ne; P. G Ö B E L / H . E . TORMANN, Verlegt; K . MORLOK, W o ?; H . RÜCKLEBEN, D e p o r t a t i o n . Viele Arbeiten, die sich mit diesem T h e m e n s c h w e r p u n k t befassen, beziehen sich auf die jeweiligen Werke und haben nur einen kleinen Publizitätsgrad. E i n e v o n CHR. BECK (Sozialdarwinismus) zusammengestellte Bibliographie berücksichtigt auch diese „ g r a u e " Literatur. 27
Vgl. K . NOWAK, Suchet.
Einleitung
18
bereits erwähnte Leipziger Kirchenhistoriker Kurt Nowak, der schon 1971 in seiner Dissertation 2 8 Momente des Widerstandes innerhalb der Kirchen, die Innere Mission eingeschlossen, gegenüber der Euthanasie aufzeigen wollte 2 9 . Die erst 1981 publizierte Arbeit eröffnete der traditionellen Kirchen kampfforschung ein neues Feld; Kurt Meier und Kurt Nowak widmeten sich jetzt verstärkt der Erforschung der volkskirchlichen Mitte im Dritten Reich und übertrugen die Ansätze der Resistenzforschung Martin Broszats auf die kirchliche Zeitgeschichte und auf die Geschichte der Inneren Mission. An diese Forschungen knüpfte J . - C h r . Kaiser in seiner bereits erwähnten Studie zur Geschichte des Centraiausschusses für die Innere Mission an. Kaiser sieht sich im Einklang mit dem „Widerstandsmodell der Leipziger Schule", wenn er das legitime Interesse kirchlicher Werke und Verbände an ihrer Bestandssicherung als „Resistenzpotential", als „Widersetzlichkeit" der Inneren Mission faßt. In kritischer Auseinandersetzung mit den drei zuletzt genannten Arbeiten geht es mir darum, das Verhalten eines großen protestantischen Schwesternverbandes in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, der Zeit der Machtergreifung und der Etablierung des NS-Systems, dicht zu beschreiben. Mich interessierte also nicht in erster Linie die Geschichte des Gesamtverbandes über einen längeren Zeitraum hinweg, sondern die Mikroanalyse zweier entscheidender Jahre in der Verbandsgeschichte, die ich exemplarisch an einzelnen Entscheidungsfeldern darstelle. Da ich möglichst viele Faktoren, die dieses Verhalten erklären konnten, zur Analyse heranziehen wollte, mußte ich historisch ältere und bis heute überdauernde Strukturen, wie ζ. B. die patriarchalische Organisation des Mutterhauses, das religiöse Selbstverständnis des Verbandes und die in der Weimarer Republik gewachsene finanzielle Abhängigkeit der einzelnen Mutterhäuser von staatlichen Zuschüssen in die Analyse einbeziehen. Die dem Verbandsvorstand gewidmeten Teile meiner Untersuchung, die Darstellung seiner Entscheidungen sowie deren Motive und die Folgen für die Verbandsbasis können sich nicht als Beitrag zur Widerstandsforschung verstehen. In kritischer Aufnahme des Resistenzbegriffes von Martin Broszat versuche ich jedoch, Varianten resistenten Verhaltens, das bei einzelnen Verbandsgliedern unterhalb der Verbandsspitze möglich war, darzustellen, ohne den Anspruch eines „Resistenzpotentials" für die Mutterhausdiakonie insgesamt zu proklamieren.
28 29
„Euthanasie". EBD., S. 129f.
19
Einleitung
Hans Lauerer (1884-1953)
Siegfried Graf von Lüttichau (1877-1965)
Auguste Mohrmann (1891-1967)
Theodor Hickel (1878-1945)
Α. Voraussetzungen
KAPITEL
I
WEICHENSTELLUNGEN: KAISERSWERTHER M U T T E R H A U S D I A K O N I E 1833-1932
1. Anfänge im 19.
Jahrhundert
Die Anfänge der Kaiserswerther Mutterhausdiakonie gehen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Strukturveränderungen, bedingt durch das in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende Bevölkerungswachstum und die Entstehung des Industriekapitalismus, erschütterten die Gesellschaft. Doch „vor dem Massenpauperismus, vor der nicht nur materiellen, sondern auch spirituellen Verelendung der endlos anwachsenden ländlichen und städtischen Unterschichten", versagten Staat und verfaßte Kirchen gleichermaßen. Sie wurden durch das „Ausmaß des Bevölkerungswachstums und seinen sozialmoralischen Konsequenzen vermutlich ebenso überrascht wie die Staatsverwaltung"1. Die Städte und Kommunen, in deren Regie die Armenpflege bisher stand, waren mit den neuen Problemen überfordert 2 . In dieser Situation waren es auch im kirchlichen Bereich einzelne Pfarrer wie Theodor Fliedner mit seiner Ehefrau Friederike Fliedner und Johann Hinrich Wichern oder sozial engagierte Bürgerinnen wie Elizabeth Fry in England und Amalie Sieveking in Hamburg, die die Initiative ergriffen, weil sie mit den in Not geratenen Menschen unmittelbar konfrontiert waren. Das Ehepaar Fliedner setzte sich in Kaiserswerth am Rhein, der Gemeinde Theodor Fliedners in der Nähe der Großstadt Düsseldorf, zunächst für entlassene weibliche Strafgefangene ein. Die Fürsorgearbeit Elizabeth Frys, die Fliedner auf seiner Kollektenreise nach England und Holland im Jahr 1823 kennengelernt hatte, diente ihnen dabei als Vorbild3. 1833 gründeten die Fliedners in Kaiserswerth ein Asyl und nahmen bald auch verwahrloste Kinder und arme Kranke auf, die sie von christlichen Frauen pflegen ließen. Träger des Asyls war ein „christlicher Verein für weibliche Pflege zur christlichen 1
H . U . WEHLER, G e s e l l s c h a f t s g e s c h i c h t e , B d . 2, S. 468.
2
V g l . C H R . S A C H S S E / F . T E N N S T E D T , G e s c h i c h t e , B d . 1, S . 1 7 9 f .
3
T H . FLIEDNER, G e s c h i c h t e , S. 3.
22
Voraussetzungen
Pflege weiblicher Gefangener, Kranker, Verbrecherkinder, Waisenkinder und armer Verlassener" 4 . Theodor Fliedner räumte in seinem ersten Satzungsentwurf weiblichen Vereinsmitgliedern eine Zweidrittelmehrheit in der Leitung des Fördervereines ein 5 . Im Unterschied zu seinen Zeitgenossinnen Elizabeth Fry und Amalie Sieveking, die sich für „eine Emancipation der Frau im christlichen Sinn" 6 einsetzten und den Frauen das (Berufs)-Feld der christlichen Liebestätigkeit erschlossen, ging es Fliedner vorrangig um die Beseitigung des sozialen Elendes seiner Zeit. In den Frauen sah er ein brachliegendes Potential, das er ausbilden und zu diesem Zweck einsetzen wollte. Nach der 1836 tatsächlich beschlossenen Satzung sollte der Verein, „dem hülfsbedürftigen und leidenden Theile der bürgerlichen Gesellschaft vorzugsweise den armen Kranken Hülfe leisten, mittels evangelischer Pflegerinnen. . ." 7 . Zur Ausbildung der Pflegerinnen, oder der „Diakonissen", wie Fliedner die Frauen, die aus ihrer christlichen Uberzeugung heraus Dienst taten 8 , auch nannte, wurde im Frühjahr 1836 mit dem Ankauf eines Hauses in Kaiserswerth eine Pflegerinnen-Anstalt errichtet, die den Grundstein für die bis heute bestehende Diakonissenanstalt bildete 9 . Selbständige Verantwortung der Frau blieb nur noch im Amt der Vorsteherin der PflegerinnenAnstalt bestehen, allerdings unter der Oberaufsicht einer männlichen „Direction", bestehend aus einem Präsidenten, einem Sekretär, einem Schatzmeister, und mehreren Sachverständigen, wie ζ. B. Ärzten 10 . Weil der Verein „mit den kirchlichen Gemeinden in Verbindung treten wollte", sollten alle anderen Mitglieder des Direktoriums der evangelischen Kirche angehören 11 . Zu diesem Direktorium - dem späteren Kuratorium der Diakonissenanstalten - zählte auch ein Inspektor, der der Vorsteherin vorgesetzt war 12 . Unter der Leitung von Inspektor und Vorsteherin - in anderen, später gegründeten Diakonissenanstalten bürgerten sich auch die Bezeichnungen Vorsteher und Rektor sowie Oberin ein - vollzog sich im Innenraum der Anstalt schwesternschaftliches Leben. Die Pflegerinnen waren als „Schwestern" zum Dienst an ihren notleidenden Mitmenschen und zum Dienst untereinander verpflichtet. Direktion und Hausvorstand - Vorsteherin und Vorsteher - gegenüber nahmen sie die Stellung unmündiger Töchter ein. So Schloß die Direktion der Diakonissenanstalt mit den künftigen Einsatzstellen 4
Christlicher Verein. I n : A u K , 79, 1927, S. 144ff. D e r erst 1927 wiedergefundene Satzungs-
entwurf ist auch bei P. PHILIPPI, Vorstufen, S. 1 7 5 - 1 7 8 abgedruckt. S § 6 , EBD., S. 145; (S. 176). 6
Vgl. den Aufruf v o n Sieveking in: R . REME, Amalie Sieveking, S. 4 1 .
7
TH. FLIEDNER, Grundgesetze ( § 2 ) , S. 2 0 5 .
8
EBD., S. 2 0 9 .
9
Vgl. TH.FLIEDNER, Geschichte, S . 2 f f . ; A.STICKER, Friederike Fliedner, S . 9 0 f f . ; M . G E R -
HARDT, T h e o d o r Fliedner, B d . 1, S. 5 7 f f . 10
T H . FLIEDNER, Grundgesetze (§ 9), S. 206f.
11
EBD., S. 207.
12 EBD.
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1 8 3 3 - 1 9 3 2
23
der Diakonissen in Krankenhäusern, Privathäusern und Gemeinden Verträge ab. Diese wiederum vergüteten deren Dienste mit einer Geldsumme, die sie direkt an die Direktion zahlten. Die Schwestern erhielten von der Direktion Kost und Logis, Kleidung, die Tracht, eine Kranken- und Altersversorgung und in der Gründungszeit ein Gehalt 13 , das nach Friederike Fliedners Tod im Jahre 1842 allmählich zu einem Taschengeld umgewandelt wurde 14 . Ohne Einspruchsrecht mußten sie sich zu allen ihnen zugewiesenen Arbeitsplätzen bereiterklären („Sendungsprinzip") 15 . In zunehmenden Maße genoß die Diakonissenanstalt öffentliche Anerkennung und finanziellen Zuwachs. 15 Jahre nach ihrer Gründung war das Haushaltsvolumen um das Vierfache angewachsen, und sie konnte sich auf nahezu dreitausend Förderer, darunter die meisten protestantischen Königshäuser Deutschlands stützen 16 . Auf finanzielle Unterstützung und Anerkennung aus diesen Kreisen war die Kaiserswerther Diakonie von Anfang an angewiesen. Am 20. November 1846 wurde der „Rheinische westfälische Verein für die Bildung und Beschäftigung evangelischer Diakonissen" vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. per Kabinettsorder bestätigt 17 . Es meldeten sich immer mehr Frauen zum Diakonissendienst - vor allem Töchter aus ländlichen und kleinbürgerlichen kinderreichen Familien, deren Arbeitskraft im elterlichen Hause nicht mehr gebraucht wurde. Kaiserswerth konnte ihnen neben einer Ausbildung und einem Lebensberuf ein Leben in der Schwesterngemeinschaft als Ersatz für die verlorene oder nicht gegründete Familie bieten 18 . Auch Töchter aus Adelsfamilien entschieden sich für den Diakonissenberuf; in den Diakonissenhäusern, die mit Fliedners Hilfe nach dem Kaiserswerther Vorbild im Deutschen Reich sowie im Ausland gegründet wurden, übertrug man ihnen oft die Oberinnenstellen. 1861 bestanden in Deutschland, im europäischen Ausland und in Nordamerika 27 Mutterhäuser Kaiserswerther Prägung 19 . Die Zahl der in Kaiserswerth gepflegten Kranken nahm von Jahr zu Jahr 13
Vgl. A . STICKER, Friederike Fliedner, S. 3 3 8 .
14
Bei den Beratungen der G r u n d o r d n u n g e n im J a h r e 1861 wurde die Regelung über das
Taschengeld schriftlich fixiert und von allen Mutterhäusern ü b e r n o m m e n (vgl. M . GERHARDT, T h . Fliedner, B d . 2 , S. 7 7 8 ) . I m Protokoll hieß es: „Die C o n f e r e n z erklärt es einstimmig für heilsam, daß die Diakonissen kein Gehalt b e k o m m e n , sondern in ihren Bedürfnissen v o m Mutterhause versorgt werden, damit sie nicht in Versuchung k o m m e n , Schätze auf E r d e n sammeln zu wollen, die die M o t t e n und der R o s t fressen, sondern sich ungestört ganz dem Dienst des H e r r n hingeben können, ohne Sorgen für N a h r u n g und Kleidung. Einiges Taschengeld ihnen zu geben, findet sie jedoch nicht u n z w e c k m ä ß i g . " ( C o n f e r e n z . I n : A u K , 13, 1861, S. 2 1 7 ) . 15
EBD.
16
Vgl. C . PRELINGER, Frauendiakonie, S. 2 7 6 .
17
Vgl. M . GERHARDT, T h e o d o r Fliedner, B d . 2, S. 156.
18
Vgl. C . PRELINGER, Frauendiakonie, S . 2 7 1 ; G . SCHARFFENORTH/H.-M. LAUTERER-PIR-
NER, Frauen, S. 183; U . BAUMANN, Protestantismus, S. 4 8 f . 19
Vgl. C o n f e r e n z . I n : A u K , 1 3 , 1 8 6 1 , S. 176.
24
Voraussetzungen
zu 20 . Die Arbeitsfelder der Diakonissen erstreckten sich neben der Krankenpflege im eigenen Hospital auf Privatpflegen, Krankenpflege in fremden, z.B. städtischen Hospitälern, Waisenhäuser, Asyle, Armenhäuser, Irrenanstalten, Gemeindepflegen, Kleinkinderschulen und Elementarschulen. Trotz der wachsenden Anerkennung und der finanziellen Abhängigkeit versuchte Fliedner jedoch die organisatorische Selbständigkeit der einzelnen Mutterhäuser vor staatlicher und landeskirchlicher Einflußnahme zu wahren 21 . Angesichts des Massenpauperismus wurden neben der Qualität (Professionalisierung) die Quantität der Hilfeleistung entscheidend. Unter dieser Herausforderung entwickelte sich nach dem Tode Friederike Fliedners im Jahre 1842 die innere Organisation der Diakonissenanstalt immer mehr zur Struktur eines katholischen Klosters hin; viele Regelungen aus der Gründungszeit wurden modifiziert. So verschärfte sich die Hierarchie in der Beziehung zwischen Vorsteher und Oberin und zwischen Oberin und Diakonissen. Erinnerte die Aufgabenverteilung zwischen Vorsteherin und Vorsteher in der Kaiserswerther Gründungszeit noch an die Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau im „ganzen Haus" - hier verfügte die Frau innerhalb der patriarchalen Struktur des Hauses über einen eigenen Verantwortungsbereich - so wurde nun der Bereich der Oberin, ja man kann sagen, die Oberin selbst - dem Vorsteher untergeordnet. In den 1861 beratenen und 1901 beschlossenen „Grundordnungen", die alle nach dem Kaiserswerther Vorbild gegründeten und in der Kaiserswerther Generalkonferenz (1861) verbundenen Mutterhäuser anerkannten, hieß es: „Der Vorsteher ist als Träger des geistlichen Amtes nach natürlicher und kirchlicher Ordnung (l.Kor 11) das Haupt auch für die Vorsteherin. Letztere ist als Hausmutter die nächste Vorgesetzte der Schwestern." 22 Innerhalb der Grundordnungen war diese Bestimmung die einzige, die mit der Autorität einer Bibelstelle untermauert wurde. Sie begründete nicht nur die bestehende Hierarchie zwischen Vorsteher und Vorsteherin, sondern wies der Oberin eine doppelt abhängige Stellung zu: Aufgrund ihres Geschlechtes war sie 2 0 Nach TH. FLIEDNER wurden zwischen 1836 und 1841 im ersten Jahr 60 (Erster Jahresbericht, S. 1), im zweiten 85 (Zweiter Jahresbericht, S.2), im dritten 101 (Dritter Jahresbericht, S. 3), im vierten 160 (Vierter Jahresbericht, S. 2) und im fünften 192 (Fünfter Jahresbericht, S. 17) Frauen, Männer und Kinder gepflegt. Dazu kamen Familienpflegen. In Preußen stieg die Zahl der öffentlichen Krankenanstalten von 155 (1822) auf 567 (1852). 1846 wurden darin 87.764 Kranke behandelt (vgl. W. CONZE, Sozialgeschichte S. 459). 21
V g l . D . DISSELHOFF, J a h r z e h n t , S. 2 2 3 ff.; P . PHILIPPI, V o r s t u f e n , S. 2 2 7 .
Grundordnungen der zur Kaiserswerther Generalkonferenz verbundenen DiakonissenMutterhäuser. Anerkannt von der XIII. Kaiserswerther Generalkonferenz 1901. Der Passus über die Oberin wurde aus den Beratungen von 1861 übernommen. Noch in dem neuen Entwurf aus dem Jahre 1917 hieß es: „Den Hausvorstand bilden der Pastor als Vorsteher und neben ihm - unter Festhaltung des biblischen Grundsatzes: Der Mann ist des Weibes Haupt die Oberin als Vorsteherin." (AKV, KV Grundordnungen). 22
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
25
dem Manne untergeordnet (1.Kor 11,3), als Diakonisse aber unterstand sie ihrem Vorsteher als dem Träger des geistlichen Amtes. Außer dieser Bestimmung enthielten die Grundordnungen keine, die das Oberinnenamt unabhängig vom Amt des Vorstehers beschrieb. Die Stellung der Oberin wurde mit einer Bibelstelle begründet, die zur Begründung der Unterordnung der Frau in der Ehe diente. Historisch gesehen hatte sich zwar das Ehepaar Fliedner die Leitung der Diakonissenanstalt in Kaiserswerth geteilt; bis 1861 waren jedoch neue Mutterhäuser gegründet worden, die dieses Leitungsmodell nicht mehr praktizierten. Die Leitung der Anstalt wurde aus den familiären Bindungen gelöst und auf „Funktionäre", auf Vorsteher und Vorsteherin, übertragen. Doch wie das bereits erwähnte Bibelzitat andeutete, blieb auch dieses Modell dem patriarchalen Familienmodell und den damit verbundenen Rollenzuweisungen und Werturteilen verhaftet. Eine auf die Sache bezogene, gleichwertige Arbeitsbeziehung zwischen Mann und Frau wurde deshalb erschwert. Deutlich wird dies an folgenden Zusammenhängen: Der Vorsteher war als evangelischer Pfarrer verheiratet und wohnte mit seiner Familie auf dem Gelände der Diakonissenanstalt, obwohl seine Ehefrau nicht an deren Leitung beteiligt war. Die Vorsteherin dagegen bekannte sich als Diakonisse zur Ehelosigkeit. Durch die Bestimmung 1.Kor 11 war sie aber als Frau und Geschlechtswesen angesprochen und dem Vorsteher der Diakonissenanstalt als ihrem Haupt zu- und untergeordnet. Der verheiratete Vorsteher lebte demnach - überspitzt ausgedrückt - in biblisch begründeter, partiell platonischer Bigamie 23 . Dazu kam, daß der Vorsteher als „Träger des geistlichen Amtes" 2 4 vor seinem Amtsantritt zum Pastor ordiniert wurde. Als solcher hatte er ein ordentliches Studium an einer theologischen Fakultät absolviert und war Inhaber eines kirchlichen Amtes, das über den engeren Bereich der Diakonissenanstalt hinauswies. Die Oberin, der als Frau ja bekanntlich der Zugang zu den theologischen Fakultäten verwehrt war, mußte keine dieser Voraussetzungen mitbringen. Als Frau und Diakonisse bekleidete sie auch kein kirchenrechtlich anerkanntes Amt. Für ihren Dienst wurde sie - wie alle Diakonissen nach einer Probezeit - vom Pastor und Vorsteher eingesegnet. Im Vergleich zu dem amtlichen Charakter der Ordination war die Einsegnung der Diakonissen ein feierlicher Ritus, der die Aufnahme in und die Zugehörigkeit zu der Schwesterngemeinschaft dokumentierte. Hieraus ergaben sich zwar bestimmte Rechte und Pflichten, sie blieben jedoch ganz auf den Raum der Diakonis-
2 3 Daß sich aus dieser Konstellation vor allem Konflikte für die Oberinnen ergaben, ist nicht überraschend. In meinen Gesprächen mit Feierabendschwestern habe ich immer wieder erfahren, daß viele Oberinnen unter Depressionen litten. 2 4 Vgl. Grundordnungen II.2 von 1901 (AKV, KV Grundordnungen).
26
Voraussetzungen
senanstalt beschränkt 2 5 . Die Oberin war Diakonisse und deshalb Teil der Schwesterngemeinschaft; als Mitglied des Hausvorstandes jedoch war sie „Hausmutter" und „nächste Vorgesetzte der Schwestern". Auch in dieser Beziehung war also die Stellung der Oberin ungleich: Ihr herausgehobener Status konnte dazu führen, daß sie von den Diakonissen nicht als eine der ihren - als Schwester - anerkannt wurde. Im Gefüge der Diakonissenanstalt nahmen die Diakonissen die Stellung von Töchtern ein - als Schwestern lebten sie zusammen in der Lebens- und Dienstgemeinschaft des Mutterhauses. D e m Hausvorstand gegenüber waren sie zu Gehorsam verpflichtet - eine Vorschrift, die aus ihrem Töchterstatus abgeleitet war. Dieser Status wurde auch aus der folgenden Bestimmung deutlich: Als Angehörige der Schwesterngemeinschaft verpflichtete sich die Diakonisse zur Ehelosigkeit - eine Bestimmung, die in der Kaiserswerther Anfangszeit noch nicht galt; die Heirat blieb aber immer ein vom Mutterhaus anerkannter Austrittsgrund. Doch das Mutterhaus erwartete „von einer Diakonissin, wie Eltern von ihren Kindern, daß dieselbe bei einem etwaigen Heiratsantrag sofort, ehe sie die Entscheidung trifft, ihrem Vorstande aufrichtig Mitteilung mache, um dessen Rat einzuholen" 2 6 . Der Vorstand behielt sich also vor, in die intimsten persönlichen Beziehungen der Schwestern einzugreifen und verlangte von ihnen als Töchtern Gehorsam. Dieses „Elternrecht" bezog sich auch auf die Freundschaften der Schwestern untereinander. Nicht selten wurden Freundinnen, deren Beziehung in den Augen des Vorstandes zu eng waren und deshalb die Gemeinschaft gefährdeten, voneinander getrennt. Der Hausvorstand - der Vorsteher in Absprache mit der Oberin - bestimmte über die Art und Anzahl der Ausbildungen, die die einzelne Schwester erhielt, über ihren Arbeitseinsatz, über ihre Arbeitsstelle. Diesen Entscheidungen über die berufliche Laufbahn mußte Folge geleistet werden, so wollte es das „Sendungsprinzip". Der Vorstand setzte auch die Arbeitszeit und die Freizeit der Diakonissen fest. Der Vorsteher Schloß mit den verschiedenen Arbeitsstationen der Diakonissen Arbeitsverträge für sie, zog ihr Gehalt ein und teilte ihnen ein Taschengeld 2 7 zu. Selbstverständlich galt diese Regelung auch für die Oberin, nicht aber für den Vorsteher. Alle Neugründungen Kaiserswerther Prägung im In- und Ausland übernahmen diese Leitungsstruktur. Für die Gemeinden und Kommunen garantierte die Kaiserswerther Organisationsform Effektivität und Kontinuität einer professionalisierten „Liebestätigkeit"; die Kaiserswerther Schwesterntracht wurde bald zum Markenzeichen qualifizierter Krankenpflege.
2 5 An dieser Praxis hat sich auch heute nichts geändert; vgl. G . SCHARFFENORTH/F. RUPPRECHT, Schwestern, S. 217ff. 2 6 Grundordnungen III.14 von 1901 (AKV, K V Grundordnungen). 27
G r u n d o r d n u n g e n IV. 16.-19 (EBD.).
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
27
2. Die Gründung des Kaiserswerther Verbandes deutscher Diakonissenmutterhäuser im Jahr 1916 Während des ersten Weltkrieges wurde der Staat zum Auftraggeber der freien Wohlfahrtspflege 28 . Kaiserliche Kommissare und das Kriegsministerium bestimmten außerdem darüber, welche Organisationen sich in welchem Umfang am Sanitätsdienst beteiligen durften; da die Mutterhausdiakonie effektiv an der Kriegswohlfahrt mitarbeiten wollte, sie aber bisher nur lose in der 1861 gegründeten Kaiserswerther Generalkonferenz 29 , zu der auch ausländische Mutterhäuser gehörten 30 , zusammengefaßt war, mußte sie einen „Zweckverband" gründen, „damit die staatlichen Organe wissen, mit wem sie zu verhandeln haben" 3 1 . Der deutsche Verband, der am 5. Dezember 1916 den Status einer juristischen Person erhielt, unterschied sich von der bisherigen Organisationsform der Mutterhausdiakonie in einigen wichtigen Punkten. Im Gegensatz zur Generalkonferenz war der Kaiserswerther Verband nunmehr ein Zweckund Interessenverband der deutschen Diakonissenmutterhäuser mit eigener Satzung 32 , eigenem Vorstand und Beirat, der 1921 beim Amtsgericht Berlin als Verein eingetragen wurde 33 . Seine Aufgabe war laut Satzung von 1916 „die gemeinsamen Angelegenheiten der ihm angehörenden Mutterhäuser zu behandeln und nach außen zu vertreten, besonders im Verkehr mit den Behörden" (§ 1). Der Verband anerkannte die Grundordnungen der Kaiserswerther Generalkonferenz und enthielt sich „der Einmischung in die Angelegenheiten der einzelnen Mutterhäuser" (§4). Er finanzierte sich durch Mitgliedsbeiträge; jedes Haus bezahlte einen Jahresbeitrag pro Diakonisse (§5) und ab 1921 einen Jahresgrundbeitrag. 1921 wurde die Satzung zum ersten Mal den veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen angepaßt. Der nicht mehr als zeitgemäß empfundene patriarchalische Führungsstil der Generalkonferenz mit einem rein männlichen Präsidium wurde revidiert und die Oberinnen an der Verbandsleitung beteiligt 34 . Diese Modernisierung wirkte sich auch auf die Grundordnungen der gesamten Generalkonferenz aus, die 1929 überarbeitet wurden. Hier entfiel die biblisch begründete Unterordnung der Oberin unter den Vorsteher. „Der Pastor als Vorsteher
28
V g l . C H . SACHSSE/F. TENNSTEDT, G e s c h i c h t e , S. 4 6 ff.
Organ der Kaiserswerther Generalkonferenz war die von Fliedner begründete Zeitschrift „Der Armen- und Krankenfreund", 1. Jg. 1849ff. 3 0 1916 gehörten der Generalkonferenz 2 Mutterhäuser in Frankreich, 9 in Holland, 1 in Österreich, 8 in Rußland, 4 in der Schweiz, 4 in Skandinavien, 4 in Nordamerika an; vgl. Kaiserswerther Verband. In: AuK 68,1916, S. 228 ff. 29
31
V g l . T H . SCHMIDT, G e n e r a l k o n f e r e n z , S. 1 5 1 .
32
Die Satzung von 1916 ist abgedruckt in: R. FELGENTREFF, Profil, S. 17. BERICHT über die XVIII. Kaiserswerther Generalkonferenz, S. 58.
33 34
T H . SCHMIDT, G e n e r a l k o n f e r e n z , S. 1 5 5 .
28
Voraussetzungen
und die Oberin als Vorsteherin" bildeten nun den Hausvorstand 35 . An der bereits erwähnten strukturellen Ungleichheit zwischen Mann und Frau in der Leitung des Mutterhauses änderte sich jedoch insofern nichts, als der Vorsteher nach wie vor ordinierter Pastor war und die Vorsteherin Diakonisse sein oder es werden sollte. Diese Satzung 36 galt bis 1933, sie soll deshalb hier erläutert werden: Verbandsorgane waren die alle drei Jahre zusammentretende Mitgliederversammlung, der Vorstand und der Beirat. Zur Mitgliederversammlung (§ 3) entsandte jedes Mutterhaus, also jedes Mitglied „einen Vertreter" 37 . Diese Bestimmung bezog sich auch auf die Oberinnen und Diakonissen, da die Stimmberechtigung in der Mitgliederversammlung nicht an das Vorsteher- oder Oberinnenamt gebunden war. In der Praxis war es dann meistens so, daß Oberin und Vorsteher zusammen die Versammlung, die auch „Verbandsversammlung" genannt wurde, besuchten. Sie sollte alle drei Jahre zusammentreten und wählte den Verbandsvorstand in geheimer schriftlicher Abstimmung auf sechs Jahre. Der Vorstand bestand aus vier männlichen und zwei weiblichen Vorstandsmitgliedern. Zu diesen sechs Mitgliedern kamen der vom Vorstand vorgeschlagene und vom Beirat gewählte Verbandsdirektor 38 und der Vorsteher des Kaiserswerther Mutterhauses als geborenes Mitglied hinzu. Das „Urmutterhaus" Kaiserswerth behielt damit eine Vorrangstellung. Der Vorstand wählte aus seiner Mitte den männlichen Vorsitzenden, dessen Stellvertreter der Verbandsdirektor war (§ 8). Die Beschlüsse des Vorstandes erlangten mit einfacher Mehrheit ihre Gültigkeit und mußten schriftlich niedergelegt werden. Der Beirat (§11), dessen Vorsitz der Vorstandsvorsitzende innehatte, wurde von diesem zur Beratung wichtiger Fragen einberufen. Zum Beirat gehörten die Mitglieder des Vorstandes, die Vorsteher der vier Mutterhäuser mit der größten Schwesternzahl, vier weitere Vorsteher und fünf weitere Vorsteherinnen. Die Oberinnen waren in diesem Gremium zwar zahlreicher vertreten als im Vorstand, aber auch hier kamen auf jede Oberin zwei Vorsteher 39 ! 1929 umfasste der deutsche Verband 66 Mutterhäuser mit insgesamt 24.839 Schwestern einschließlich Probeschwestern und 3.939 Hilfskräften; sie arbeiteten in insgesamt 9.105 Arbeitsfeldern, die den gesamten Bereich der Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsfürsorge erfaßten 40 . Der Grundordnungen II.8.von 1929 (AKV, K V Grundordnungen). Satzung des Kaiserswerther Verbandes deutscher Diakonissenmutterhäuser e. V. Fassung, 5.9.1929, bis Frühjahr 1933 in Kraft, (AKV, FB MKGIIIb). 3 7 Mutterhäuser mit mehr als 300 Schwestern konnten zwei Vertreter/innen schicken, noch größere Häuser sogar drei. 3 8 Zum ersten Verbandsdirektor wurde am 29.6.1921 Pastor Johannes Thiel, der Vorsteher des Centraldiakonissenmutterhauses Bethanien in Berlin gewählt. Vgl. unten Kap. 1.3, S 31. 3 9 Den Beirat bildeten 14 Vorsteher und 7 Vorsteherinnen. 35
36
40
Vgl. HANDBUCH, Bd. 1, S. 9 6 (Organisation).
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
29
Kaiserwerther Verband war Mitglied des Centraiausschusses für die Innere Mission. Die Generalkonferenz, die weiter bestand und als deren Teil sich der Verband verstand, wurde zum Ort theologisch-diakonischer und gemeinschaftlicher Besinnung; der deutsche Verband befaßte sich mit dringenden Sachfragen, die die Organisation und Finanzierung der christlichen Liebestätigkeit im Deutschen Reich, sowie die gesetzliche Regelung der Ausbildung der Diakonissen betrafen und beteiligte sich an der Politik der konfessionellen und freien Wohlfahrtsverbände auf Reichsebene. Der erste Weltkrieg und die folgende Inflation hatten die bisherige Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege durch Spenden und Stiftungen - also aus großen Privatvermögen - zerstört. Deshalb litten vor allem die Anstalten der freien Wohlfahrtspflege unter den Kriegsfolgen. Außer den laufenden Betriebskosten fehlten ihnen auch die Mittel zur Wiederherstellung und Modernisierung ihrer Gebäude und ihres Inventars, das im Kriege vernachlässigt worden war. Die Folge davon war eine hohe Verschuldung der freien Anstalten. Obwohl der Staat mit der Festschreibung spezifischer sozialer Grundrechte besonders in den Artikeln 151, 157, 161 und 163 der Weimarer Reichsverfassung die Verantwortung für die Lösung der sozialen Probleme übernommen hatte 41 , blieb die Zukunft der freien Wohlfahrtspflege ungewiß. Da die neue sozialdemokratische Regierung 1919/20 ihr Verhältnis zur freien und konfessionellen Wohlfahrtspflege im unklaren ließ, fürchteten die Verbände die „Kommunalisierung der Wohlfahrtspflege" und die Übernahme des Heil- und Pflegepersonals in den öffentlichen Dienst 42 . Um ihre Interessen wirkungsvoll nach außen vertreten zu können, schlossen sich der Verband der katholischen Kranken- und Pflegeanstalten, der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser, der Verband der Krankenpflegeanstalten vom Roten Kreuz, der Bund der Jüdischen Kranken- und Pflegeanstalten und, im Februar 1920, der Verband der nichtkonfessionellen gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten, der sog. Fünfte Verband, am 28. Oktober 1919 zum „Reichsverband der privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands" zusammen 43 . Der Kaiserswerther Verband als einer der größten karitativen Fachverbände spielte bei der Gründung eine wichtige Rolle; deshalb übernahm sein Verbandsdirektor Johannes Thiel im Reichsverband zunächst den stellvertretenden Vorsitz; nach dem Tod des ersten Vorsitzenden übertrug man ihm dessen Amt. Thiel erwirkte mit einer Eingabe an den Reichstag am 22. Juni 1922 eine Reichsbeihilfe für die angeschlossenen Anstalten in der Höhe von 41
V g l . D i e VERFASSUNG, S. 4 9 , 5 1 ff.; D . J . PEUKERT, W e i m a r e r R e p u b l i k , S. 3 4 f f . ; V. H E N T -
SCHEL, G e s c h i c h t e , S. 125 ff. 42
Vgl. Beschlüsse der zweiten Tagung des Kaiserswerther Verbandes. In: A u K , 72, 1920,
S. 38. 43
Vgl. EBD.; H . HARMSEN, G e s u n d h e i t s f ü r s o r g e , S. 7f.
30
Voraussetzungen
einer Milliarde Mark, die im Nachtragshaushalt bewilligt wurde 4 4 . Die Beihilfe gelangte über die Spitzenverbände an die einzelnen Anstalten; dem Kaiserswerther Verband fiel die Aufgabe zu, die Finanzmittel an die evangelischen Anstalten zu verteilen 4 5 . Durch § 60 des Finanzausgleichsgesetzes 46 wurden zunächst nur den kommunalen Wohlfahrtseinrichtungen 7 5 % der inflationsbedingten Mehraufwendungen für ihre Personalkosten erstattet; der Reichsverband erreichte jedoch, daß in einem Zusatzparagraphen auch diejenigen freien Anstalten, die öffentliche Wohlfahrtsaufgaben übernommen hatten 4 7 , mit Ausgleichszahlungen bedacht wurden, allerdings in geringerem Maße als die öffentlichen Anstalten 4 8 . So war eine Kooperation zwischen Wohlfahrtsstaat und freier Wohlfahrtspflege gewährleistet 49 . Für die freie Wohlfahrtspflege wirkte sich günstig aus, daß die Zentrumspartei, die sich entschieden für eine Zusammenarbeit zwischen staatlicher und freier Wohlfahrtspflege einsetzte, ab Juni 1920 das Reichsarbeitsministerium, das für die Sozialpolitik des Reiches zuständig war, mit Heinrich Brauns 5 0 besetzte. An der Spitze der 1922 eingerichteten Abteilung V I I I des Ministeriums, die zuständig für alle Fragen der sozialen Fürsorge war 5 1 , stand Ministerialdirektor Erwin Ritter; seine Referentin, Regierungsrätin Julia Dünner, später Ministerialrätin, arbeitete eng mit den Verbänden zusammen 5 2 . Da die Reichsbeihilfen, wie bereits erwähnt, nur an Zentralverbände vergeben wurden, reagierten die Verbände und richteten moderne Verwaltungen und zentrale Geschäftsstellen ein. Auch der Kaiserswerther Verband erkannte die Bedürfnisse der Zeit und nahm die wichtigen Modernisierungen in Angriff 5 3 . Durch die immer engere Zusammenarbeit mit dem Reichsarbeitsministerium wurde außerdem die Notwendigkeit eines engeren Zusammenschlusses der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege deutlich und schrittweise in die Praxis umgesetzt. Hier gelang es dem Kaiserswerther Verbandsdirektor, zentrale Positionen der freien Wohlfahrtspflege zu besetzen. Vgl. EBD., S. 12. BERICHT über die XVIII. Kaiserswerther Generalkonferenz, S.58. Zur Verteilung der Gelder auf die einzelnen Verbände vgl. J.-CHR. KAISER, Protestantismus S. 126, Anm. 80. Ein halbes Jahr später wurde diese Summe der Inflation angepaßt und auf 20 Milliarden erhöht. 4 ' RGB1.1,1923, S. 494. 44
45
47
BERICHT ü b e r die X V I I I . K a i s e r s w e r t h e r G e n e r a l k o n f e r e n z , S. 6 2 f.
Vgl. H. HARMSEN, Gesundheitsfürsorge, S. 12. Zu den Finanzproblemen der freien Wohlfahrtspflege in der Inflationszeit vgl. J.-CHR. KAISER, Protestantismus, S. 124ff. 48
49
V g l . C H R . SACHSSE M ü t t e r l i c h k e i t S. 2 2 3 f f . ; F . TENNSTEDT, W o h l t a t , S. 161 f.
50
Heinrich Brauns blieb bis 1928 Arbeitsminister.
51
V g l . J . - C H R . KAISER, P r o t e s t a n t i s m u s , S. 127.
52
V g l . F . TENNSTEDT, W o h l t a t , S. 1 6 2 .
» Vgl. unten Kap. 1.3, S. 31 ff.
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1 8 3 3 - 1 9 3 2
31
Im März 1923 gründete der Reichsverband, zusammen mit den anderen Spitzenverbänden, die sich 1921 in der Reichsgemeinschaft zusammengeschlossen hatten 54 , in Abstimmung mit dem Reichsarbeitsministerium eine Bank, die „Hilfskasse gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands" (Hika) 5 5 . Zweck des Geldinstitutes war die Verwaltung der Reichsmittel und die Finanzierung wohlfahrtspflegerischer Aufgaben auch mit (ausländischen) Krediten. Auch hier saß der Kaiserswerther Verbandsdirektor Thiel wieder an einer wichtigen Stelle: er hatte den Aufsichtsratsvorsitz inne. Thiel führte außerdem im Centraiausschuß für die Innere Mission den Vorsitz der Wirtschaftsabteilung und arbeitete in den Finanz-und Satzungsreformkommissionen mit. In der 1924 gegründeten „Liga der freien Wohlfahrtspflege" 56 , die an die Stelle der Reichsgemeinschaft trat - einem Zusammenschluß von Caritas, Centraiausschuß für die Innere Mission, Zentralwohlfahrtssteile der deutschen Juden, „Fünftem" Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsausschuß der christlichen Arbeiterschaft und Rotem Kreuz arbeitete Thiel im Präsidium mit 5 7 . Der Verbandsdirektor war außerdem Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Entschuldungs- und Zwecksparaktiengesellschaft (Deuzag), einer Tochtergesellschaft der Deutschen evangelischen Heimstätten Gesellschaft (Devaheim) der Inneren Mission 5 8 und Mitglied des Hauptausschusses des Kirchlichen Hilfsvereins 59 .
3. Ein Spitzenverband der freien
Wohlfahrtspflege
Gründung und Ausbau der Geschäftsstelle Weil der Kaiserswerther Verband gezwungen war, sich in einer für ihn neuen Weise in der Verbandsarbeit der freien Wohlfahrtspflege zu engagieren, mußte er notwendige sachliche und personelle Veränderungen einleiten. Die Mitgliederversammlung beschloß deshalb, eine Geschäftsstelle zu gründen. Sie wurde am 1. Oktober 1920 zunächst im Mutterhaus Bethanien in Berlin, das Pastor Thiel damals noch als Vorsteher leitete, eingerichtet 60 . Ein Jahr später stand Thiel dem Verband als Direktor hauptamtlich zur Verfügung. Wegen der wachsenden Aufgaben wurde die Geschäftsstelle in den folgenden Jahren immer mehr erweitert. Im Jahr 1927 erwarb der Verband ein 54
Vgl. J . - C H R . KAISER, Protestantismus, S. 116ff.
55
EBD., S. 129ff.
56
EBD., S. 135 ff.
57
BERICHT über die VI. K o n f e r e n z des Kaiserswerther Verbandes, S. 87.
58
BERICHT über die X I X . Kaiserswerther Generalkonferenz, S . 2 1 9 ; vgl. H.SCHUMACHER,
Devaheim, S. 17. 59
BERICHT über die VI. K o n f e r e n z des Kaiserswerther Verbandes, S. 87.
60
E i n e Sekretärin mit einem Jahresgehalt v o n 9 0 0 0 R M w u r d e angestellt. D i e K o s t e n der
Geschäftsstelle beliefen sich auf 2 0 0 0 0 R M p r o Jahr. Dieser Betrag wurde durch die Mitgliedsbeiträge finanziert, vgl. Rundschreiben des Verbandsvorstandes N r . 1 / 1 9 2 1 ( A K V , K V R u n d . ) .
32
Voraussetzungen
eigenes Haus, in dem sich außer der Geschäftsstelle auch die Wohnung des Verbandsdirektors befand 61 . Von hier aus konnte der Verband alle anstehenden Sachfragen wie z.B. Ausbildungsfragen, Versicherungsfragen, arbeitsrechtliche Fragen, Versorgungs- und Finanzierungsfragen zentral bearbeiten. Außer dem Direktor arbeiteten in der Geschäftsstelle eine Verbandssekretärin, eine Kassenführerin und eine Mitarbeiterin, die die Jahresberichte der außerdeutschen Häuser auswertete. Pastor Ernst Siebert, Divisionspfarrer a.D. und Studienrat, war 1925 als zweiter Verbandsgeistlicher eingestellt worden. Oberregierungsrat Dr. Prahler diente dem Verband als juristischer Berater 62 . Eine Altersversorgungskasse für die Diakonissen 63 und eine Krankenzuschußkasse waren der Geschäftsstelle angegliedert. Für sie waren jeweils zwei Sekretärinnen zuständig. Im Jahre 1925 begründete der Verband eine monatlich erscheinende Verbandszeitschrift, „Die Diakonisse". Das Blatt wollte neben der Pflege der Verbandsgemeinschaft und der Information über wichtige Entwicklungen auf dem Wohlfahrtssektor auch ein neues Image der Mutterhausdiakonie vermitteln: Die Diakonie als Teil der freien Wohlfahrtspflege, die kein isoliertes Eigendasein führte, und die mit der staatlichen Wohlfahrtspflege zusammenarbeitete 64 . Das Blatt hatte den Anspruch, eine in der Öffentlichkeit gelesene Fachzeitschrift zu werden; als Mitarbeiter suchte man „namhafte Persönlichkeiten aus den Kreisen der Kirche, der Inneren Mission und der Wohlfahrtspflege" 65 . Obwohl die Mitarbeit von Diakonissen erwünscht war, waren es doch in erster Linie Vorsteher und Pastoren, die künftig in der „Diakonisse" publizierten. Das Referat Kinderpflege Der Kaiserswerther Verband entschied sich 1927 dafür, sein angestammtes Arbeitsfeld Kinderpflege auszubauen, und Verbandsdirektor Thiel setzte sich für die Anstellung einer Referentin für das Gebiet der Kinderpflege- und Fürsorge ein 66 . Für die personelle Besetzung folgte er einem Vorschlag des Vorsitzenden des Reichsverbandes evangelischer Kinderpflege Hermann v. Wicht, der die Vorsitzende des Reichsverbandes evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen, Auguste Mohrmann ins Gespräch gebracht hatte. Das Referat Kinderpflege- und Fürsorge wurde 1927 bei der Geschäftsstelle des Kaiserswerther Verbandes eingerichtet und Auguste Mohrmann als dessen Leiterin gewonnen 67 . Sie sollte für „Fragen 61 Rundschreiben des Verbandsvorstandes N r . VII/1927 (EBD.). Das H a u s lag in BerlinWilmersdorf, Landhausstr. 10. 62 Z u m A u f b a u der Geschäftsstelle vgl. R. FELGENTREFF, Profil, S. 27 ff. 63 Z u m verbandseigenen Versicherungswesen vgl. EBD., S. 33 ff. 64 Rundschreiben des Verbandsvorstandes N r . XIX/25, 1925 (AKV, KV Rund.). 65
EBD..
66
Rundschreiben des Verbandsvorstandes N r . VII/27,1927 (EBD.).
67
EBD.
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
33
der Ausbildung, der Versorgung, der Anlehnung der Kindergärtnerinnen an die Mutterhäuser und ihres Zusammenschlusses untereinander" zuständig sein und Beziehungen zu den verschiedenen evangelischen Kinderpflegeeinrichtungen und Verbänden aufnehmen, um „die jetzt nebeneinanderlaufenden Linien zusammenzuführen" 68 . Außerdem sollte sie auch die gesetzgeberische Tätigkeit auf ministerieller Ebene auf dem Gebiet des Erziehungswesens verfolgen und mit den Organisationen der freien Wohlfahrtspflege zusammenarbeiten. Auguste Mohrmann galt als versierte Fachfrau, die „diesem Aufgabenbereich nach allen Richtungen hin in besonderem Maße gewachsen schien" 69 . Vor ihrer Beschäftigung beim Kaiserswerther Verband war sie als Angestellte der Stadt Essen mit der Oberaufsicht über die städtischen Kindergärten beauftragt gewesen. Die ausgebildete Jugendleiterin und Lehrerin hatte eng mit dem Kaiserswerther Mutterhaus zusammengearbeitet 70 . Mohrmann wechselte hauptamtlich zur Berliner Geschäftsstelle. Ihre Gehaltsvorstellungen richteten sich nach der Höhe ihres bisherigen, „verhältnismäßig großen" Gehaltes bei der Stadt Essen. Um ihren Forderungen entsprechen zu können, erhöhte der Verbandsvorstand kurzerhand die Mitgliedsbeiträge 71 . Obwohl Auguste Mohrmann also nicht wie die Diakonissen „Dienst ohne Lohn" tat, sondern hochdotierte Angestellte des Verbandes war, trug sie, im Unterschied zu ihren Kolleginnen in der Geschäftsstelle, Schwesterntracht, doch ihr Kleid war keinem besonderen Mutterhaus zugeordnet. Auguste Mohrmann wurde im Verband „Schwester Auguste" genannt, aber sie war weder Diakonisse noch Oberin Kaiserswerther Ordnung und deshalb auch keinem Vorsteher zu- oder untergeordnet. Von ihren Kolleginnen in der Geschäftsstelle unterschied sich Mohrmann durch den bereits genannten Umfang ihres Aufgabenbereiches. 1932, nach fünf Jahren, hatte sie sich eine Vertrauensstellung bei der Referentin des Kultusministeriums erworben und verfügte über gute Beziehungen zum Reichsinnenministerium, wo Ministerialrätin Dr. Gertrud Bäumer u. a. für die Jugendfürsorge zuständig war. Mohrmann arbeitete an Erlassen und Gesetzen die Kinderpflege betreffend mit. Mohrmann war darüber hinaus auch praktisch tätig, nahm an der Einrichtung von Seminaren und Kindergärten teil, leitete pädagogische Kurse und hielt Vorträge. Sie war Vorsitzen-
68
EBD.
69
EBD.
70
EBD.
71 Der Grundbeitrag pro Mutterhaus wurde von 200 auf 300 RM pro Jahr und die Umlage pro Diakonisse von 1,50 RM auf 1,75 RM erhöht. Bei 69 Mutterhäusern und ca. 28.000 Diakonissen erhielt Mohrmann ein Gehalt von 7.600 RM im Jahr. Sie hatte angegeben, ihre verarmte Familie unterstützen zu müssen, EBD.
34
Voraussetzungen
de mehrerer Fachverbände und Schriftleiterin des Fachblattes „Christliche Kinderpflege" 7 2 . Mohrmann hatte also die in sie gesetzten Erwartungen bei weitem übertroffen. Innerhalb des Kaiserswerther Verbandes verkörperte sie einen neuen Frauentyp: Im Gegensatz zu den Oberinnen und Diakonissen, die eingebunden in die patriarchalische Kaiserswerther O r d n u n g für die inneren Belange des Mutterhauses zuständig waren und sich nur in Ausnahmefällen gesellschaftspolitisch engagierten, war Auguste Mohrmann von diesen traditionellen Hemmnissen frei. Eine Oberin Kaiserswerther Prägung hätte Mohrmanns Tätigkeitsbereich in diesem Umfang nicht wahrnehmen können, ohne die Kaiserswerther O r d n u n g in Frage zu stellen. In Bezug auf Gehalt und Aufgabenbereich war Auguste Mohrmann deshalb eher mit qualifizierten Beamtinnen in der Verwaltung vergleichbar. Kritik am Ausbau der Organisationstätigkeit Der Ausbau der Geschäftsstelle, die rege Verwaltungs-und Beratungsstätigkeit sowie die verbandspolitische Betätigung stießen bei den Verbandsmitgliedern nicht nur auf Zustimmung. Auf der 5. Konferenz des Kaiserswerther Verbandes im August 1923 wurde Kritik an der „unausgesetzten Vielgeschäftigkeit in äußeren Dingen" laut. Manche sprachen auch von „überflüssiger Organisationsmache" 7 3 . Einige Mutterhäuser beschwerten sich über die zu hohen Kosten der Geschäftsstelle. Doch der Vorstand gab zu bedenken, daß sich die Mutterhausdiakonie vor der Gefahr der Isolierung hüten müsse. Die Mitarbeit der Geschäftsstelle an „den großen Bewegungen der caritativen Wohlfahrtspflege" sei notwendig. Mit den anderen Organisationen der freien Wohlfahrtspflege verbinde den Kaiserswerther Verband die große „Sorge um den Erhalt der freien Liebestätigkeit in unserem Volk". Die große Idee - die Idee des Opfers - müsse durch „unsere am Egoismus erkrankte Zeit" hindurchgerettet werden und daran müsse sich gerade die Mutterhausdiakonie verantwortlich beteiligen 74 . In Wirklichkeit aber profitierten die Mutterhäuser von der Geschäftsstelle; die erhöhten Kosten stellten nur einen kleinen Bruchteil dessen dar, was die Geschäftsstelle den Mutterhäusern an Beihilfen vermittelte 75 . Daß die Kritik an einer unreflektierten Organisationstätigkeit und Expansion im Kern dennoch berechtigt war, zeigte sich spätestens 1929/30. Damals verbuchte die „Hilfskasse gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands" (Hika), bei der der Kaiserswerther Verband seine Vermögenswerte angelegt hatte, Verluste in H ö h e von 5,29 Mio RM. Die Expansion ins Kredit-und Bankgeschäft, die bankmäßige Ausnutzung öffentlicher, ge72
R u n d s c h r e i b e n des V e r b a n d s v o r s t a n d e s N r . 12/1932, (EBD.).
73
BERICHT über die XVIII. Kaiserswerther Generalkonferenz, S. 61 und S. 64. EBD., S. 65. Vgl. BERICHT über die VI. Konferenz des Kaiserswerther Verbandes, S. 77.
74 75
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
35
meinnütziger Gelder und deren risikoreiche Anlage sowie Unterschlagungen hatten die Bank der freien Wohlfahrtspflege an den Rand des Konkurses gebracht. Er konnte nur vermieden werden, weil die Spitzenverbände beschlossen, ihre Bank zu halten und die Verluste aus ihren Betriebskreditfonds (z.B. dem Dispositionskredit des Kaiserswerther Verbandes) deckten, die sich aus Reichsmitteln zusammensetzten, die für die Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege, aber nicht zur Sanierung von Banken gedacht waren 7 6 . Auch der Kaiserswerther Verband beschloß, sein Vermögen bei der Hilfskasse zu belassen 77 . Schlimmer noch als dieser Beinah-Konkurs traf den Verband der Zusammenbruch der Devaheim-Deuzag A G im Juli 1931. Er war durch Korruption und schlichte Unkenntnis des Geschäftsführers, einem ehemaligen Gemüsehändler, der bereits einen Konkurs hinter sich hatte, verschuldet worden. Die 1931 einsetzende Bankenkrise brachte die bisher vertuschte MißWirtschaft ans Licht. 4 Mio. Bauspargelder waren verwirtschaftet und weitere 7 Mio. fehlgeleitet worden 7 8 . Verbandsdirektor Thiel war als Mitbegründer und Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Entschuldungs-und Zwecksparaktiengesellschaft (Deuzag), die eng mit der Devaheim verflochten war, persönlich in den Skandal verwikkelt. Der Kaiserswerther Verband war von dem Zusammenbruch insofern betroffen, als noch im September 1930 ein, wie sich herausstellte, zwielichtiger Vertrag über einen Zwischenkredit zum Erwerb des Hauses in der Landhausstr. 11 abgeschlossen worden war 7 9 . Der Finanzskandal veranlaßte den Verband, seine eigene Buchführung zu überprüfen. Sie hatte bisher in der Hand einer Hilfskraft gelegen und befand sich bis 1928 in einem unübersichtlichen Zustand. Nach dem Aussscheiden dieser Kraft waren die Unterlagen zwar geordnet worden, zeigten aber immer noch erhebliche Mängel. Der Verband verfügte über viele verschiedene Konten, die bei der Bank getrennt geführt wurden, zudem waren Bilanzen bislang nicht erstellt worden. Thiel hatte lediglich alljährlich dem Verbandsvorstand einen mündlichen Vermögensnachweis und eine Rechnungsübersicht vorgelegt. Jetzt schlug er vor, einen bilanzsicheren Buchsachverständigen mit der Buchführung zu beauftragen und die Jahresrechnungen von einem „außerhalb des Verbandes stehenden vereidigten Sachverständigen" 8 0
76
V g l . F . TENNSTEDT, W o h l t a t , S. 166.
Stand Oktober 1931: 111.352,63 R M als Barbestand und 151.800 R M als Nominalwert des Effektenbestandes. Protokoll der Vorstandssitzung, 10.10.1931, S. 5 (AKV, K V Prot.Vorstand). 77
78
V g l . F . TENNSTEDT, W o h l t a t , S. 168; M . GERHARDT, J a h r h u n d e r t , B d . 2, S. 3 3 9 ; H . SCHU-
MACHER, D e v a h e i m , S . 2 5 . 79
Protokoll des Vorstandes, 29.10.1931, S. 6 ff. (AKV, KV, Prot. Vorstand).
80
EBD., S.2.
36
Voraussetzungen
prüfen zu lassen. In der Vorstandssitzung vom 29. Oktober 1931 legte Thiel sein Amt nieder. Nach den schlechten Erfahrungen mit ihrem übermächtigen Verbandsdirektor änderten die Mitglieder auf der IX. Verbandstagung vom 29. August bis 1. September 1932 zunächst die Satzung, die bisher nicht zwingend die Trennung zwischen dem Amt des Vorsitzenden des Verbandsvorstandes und dem Amt des Verbandsdirektors vorgeschrieben und keine Bestimmung enthalten hatte, wer Vorsitzender des Verbandes im Sinne des Gesetzes war. § 9 bestimmte jetzt den Vorsitzenden des Vorstandes dazu. Außerdem wurde beschlossen, daß das Amt des Verbandsdirektors zeitweilig unbesetzt bleiben konnte. In diesem Fall mußte der Vorstand einen oder mehrere Stellvertreter aus seiner Mitte wählen 81 . Da in derselben Sitzung alle Vorstandsmitglieder ihre Amter niederlegten, wählten die Versammelten einen neuen Vorstand. Ihm gehörten vier Vorsteher und zwei Oberinnen an, dazu Pastor Siegfried Graf v. Lüttichau, als Vorsteher des Mutterhauses Kaiserswerth geborenes Mitglied. Er wurde zum Vorsitzenden gewählt, und der Rektor des Mutterhauses Neuendettelsau Hans Lauerer, der schon seit Dezember 1927 dem Vorstand angehört hatte, wurde sein Stellvertreter82. Nach der Satzung gehörte auch der Verbandsdirektor als weiteres Mitglied dem Vorstand an, doch dieser schied am 30. September aus dem Verband aus 83 , und die Versammlung verzichtete fürs erste auf die Wahl eines neuen. In seinem ersten Rundbrief als Verbandsvorsitzender besann sich v. Lüttichau auf die in den Hintergrund getretenen religiösen Grundlagen der Mutterhausdiakonie. Er beschwor den „Dienst der Liebe, die aus dem Glauben fließt, und die den Sinn dieses Lebens nirgends sonst entdecken kann als in der demütigen Nachfolge des Menschensohns, der unter den Armen und Geringen der Ärmste und der Sünder Diener und Heiland war". In diesen Worten lag eine unausgesprochene Kritik an zu großer Geschäftigkeit und das Bedürfnis, sich aus allzustarken Verstrickungen in weltliche Dinge zurückzuziehen, um in „demütiger Nachfolge" Dienst zu tun; v. Lüttichau trat sein Amt „nicht leichten Herzens und nicht ohne Bangigkeit" an 84 .
Zusammenfassung
Innerhalb eines Zeitraumes von 15 Jahren war aus dem Kaiserswerther Verband ein Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege geworden. Der 8 1 Protokoll der IX. Tagung des Kaiserswerther Verbandes, 2 9 . 8 . - 1 . 9 . 1 9 3 2 , S.10 (AKV, KV, Prot. Vorstand). 8 2 D e m Vorstand gehörten an: Pastor Graf v. Lüttichau, Pastor Constantin Frick, Bremen; Rektor Hans Lauerer, Neuendettelsau; Pastor Erich Meyer, Bethel; Pastor Hermann Wagner, Berlin; Oberin Else Krieg, Speyer; Oberin Cäcilie Kühn, Grünberg (EBD.). 83
84
EBD.
v. Lüttichau an die Vorstände der Diakonissen-Mutterhäuser der Kaiserswerther General-
k o n f e r e n z , 30.9.1932 (EBD.).
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1 8 3 3 - 1 9 3 2
37
Kaiserswerther Verband hatte sich den Bedingungen des entstehenden Wohlfahrtsstaates angepaßt, der als Empfänger seiner Subventionen nur Verbandszentralen in Betracht zog. Im Ausbau der Geschäftsstelle, in der zunehmenden Erweiterung und Bedeutung ihrer Aufgaben und in der Vermögensbildung drückte sich die Tendenz zur Bürokratisierung, Zentralisierung und Kapitalisierung der freien Wohlfahrtspflege aus. In der Zeit der Inflations- und Wirtschaftskrise retteten die Reichsmittel und Kredite viele Anstalten vor dem sicheren Untergang oder halfen ihnen, ihren Betrieb aufrechtzuerhalten 85 . Später ermöglichten die Kredite vielen Häusern die Modernisierung ihrer Apparate und die Erweiterung ihrer Arbeitsfelder, z.B. durch den Bau neuer Krankenhäuser. Der Preis dafür war ein Ubergewicht finanzieller und organisatorischer Fragen unter einem Verbandsdirektor, der sich vor allem als ein vom Verbandsvorstand unabhängiger Geschäftsführer verstand. Der Verbandsvorstand stellte in der Weimarer Zeit nicht die Frage, wie sich die aus den staatlichen Zuwendungen entstandene Vermögensbildung und die verstärkte Tendenz zur Bestandserweiterung mit dem „Dienst ohne Lohn" 8 6 der Diakonissen vertrug. Die notwendigen Modernisierungen hatten zwar u.a. zur Anstellung von Auguste Mohrmann geführt, doch ihre Stellung innerhalb des Verbandes blieb eine Ausnahme, die den Verbandsvorstand nicht dazu veranlaßte, die patriarchalische Leitungsstruktur der Mutterhäuser zu überdenken. Das Arbeitsleben der Diakonissen 87 wurde weiterhin durch das „Sendungsprinzip" und durch die Regelungen über die Arbeits- und Freizeit, die der Hausvorstand meist in Einklang mit dem Verband festsetzte, bestimmt. Die neuen, gewerkschaftlich erkämpften, arbeitsrechtlichen Bestimmungen, wie ζ. B. die Tarifordnung - in Preußen war sie für den Wohlfahrtsbereich in der preußischen Besoldungsordnung vom 7. Mai 1920 niedergelegt - wurden nicht von den Mutterhäusern übernommen. Die materielle Situation der Diakonissen war zwar - verglichen mit der Situation kommunaler Fürsorgerinnen - oft besser, da die konfessionellen Schwestern ja freie Kost und Logis, Wohnung, Kranken- und Sozialversicherung erhielten; dies änderte jedoch nichts an ihrem Status innerhalb des Mutterhauses. Hier waren sie immer noch unmündige Töchter, die ganz der patriarchalischen Leitung unterstellt waren. Deshalb waren sie auch nicht im Kaiserswerther Verbandsvorstand und im Beirat vertreten 88 . 85
So z u m Beispiel durch Kohlenkredite; vgl. BERICHT über die X V I I I .
Kaiserswerther
Generalkonferenz, S 6 2 . 86
Vgl. o b e n Kap. I . I . , S. 2 3 , A n m . 14.
87
Vgl. C . FRICK, Rechtsstellung.
88
N u r der Vorsteher des D a r m s t ä d t e r Elisabethenstiftes T h e o d o r Hickel setzte sich für eine
Vertretung der Schwestern in den H a u s v o r s t ä n d e n ein. D i e O b e r i n als Vertreterin der Schwestern wollte er nicht anerkennen, da „die Dinge sich v o m Standpunkt der Schwestern ganz anders (ansähen) als v o n d e m der Vorsteherinnen" ( P r o t o k o l l über die gemeinsame Sitzung des
38
Voraussetzungen
4. Politische Einstellungen der Verbandsvorsitzenden am Vorabend des Dritten Reiches War das pragmatisch-positive Verhältnis zum Staat, das sich in der Weimarer Republik angesichts der gedeihlichen Zusammenarbeit 89 zwischen Diakonie und Staat im Kaiserswerther Verband entwickelt hatte, auch in Krisenzeiten, vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise, tragfähig? Wie wirkte es sich politisch, d. h. im Wahlverhalten der Vorsteher und Diakonissen aus ? Anläßlich der im November 1932 anstehenden Wahlen zum Reichstag gab v. Lüttichau in seiner Eigenschaft als Vorsteher des Kaiserswerther Mutterhauses Richtlinien für das Verhalten seiner Diakonissen heraus 90 . In den „Grüßen des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern", dem Kaiserswerther Informationsblatt, waren sie schon einmal 1929 anläßlich des Volksentscheides um den Youngplan und 1931, als es um den Volksentscheid zur Auflösung des preußischen Landtages ging, gleichlautend abgedruckt worden 91 . Die politische Einstellung der Diakonissen, hieß es darin, sei grundsätzlich deren persönliche Uberzeugungs- und Gewissenssache. Bei ihrer Umsetzung in politisches Handeln setze der Diakonissendienst aber bestimmte Grenzen, da er sich auf alle Menschen unbeschadet ihrer Parteizugehörigkeit bezöge, v. Lüttichau hatte jedoch darauf hingewiesen, daß „die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten (Wahlen) zur Gewissenspflicht werden kann, wenn es sich darum handelt, christlichen Persönlichkeiten die verantwortliche Mitarbeit in öffentlichen Körperschaften (Reichstag, Landtag, Provinzialverwaltung, Stadtverwaltung) zu ermöglichen". Doch verbiete sich „jegliche Beteiligung an politischen Kämpfen und jegliche Agitation", denn „unsere Aufgaben sind sehr viel größer und sehr viel verpflichtender als die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte. In diesem Stück sind wir die Bürger zweier Welten .. ." 92 . Der Vorstand und Beirat des Kaiserswerther Verbandes hatte sich 1929 allerdings gegen eine Empfehlung dieser Richtlinien für alle Mutterhäuser ausgesprochen, da man der Ansicht war, der Vorstand betriebe gerade damit Parteipolitik und hindere die Schwestern an der AusVerbandsvorstandes und der Kommission zur Aufstellung einer Normal-Mutterhaussatzung, 22./23.5.1930 (AKV, KV Prot. Vorstand). 89 Mitte der zwanziger Jahre betonte der Verband die Ubereinstimmung zwischen Diakonie und öffentlicher Wohlfahrtspflege: „Wir wollen es vor allem dankbar erkennen, daß auch Reich und Staaten, Kommunen und Kreise, die sich früher oft mehr wie zurückhaltend verhielten, in die Reihe des Kampfes eingetreten sind. Öffentliche und private Fürsorge arbeiten Hand in Hand." (C. FRICK, Schwestern, S. 19). 90 Vgl. Wahlen. In: GRÜSSE des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern, 1932, S. 78 f. 91 Vgl. DERS., Volksbegehren: In EBD., 1931, S.31. DERS., Volksbegehren. In: EBD., 1929, S. 64. 92 DERS., Volksbegehren. In: EBD., 1931, S. 33.
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
39
Übung ihrer politischen Rechte 93 . Im Beirat wurde geltend gemacht, daß die Stellung der Schwestern in der Frage des Volksbegehrens und des Volksentscheides so verschieden sei und die Richtlinien deshalb einen Konflikt im ganzen Verband provozieren könnten. Keines der Vorstandsmitglieder nahm diese Diskussion zum Anlaß, grundsätzlich über die politische Bildung der Schwestern - etwa als Unterrichtsfach in der Schwesternausbildung nachzudenken, lediglich Pastor Thiel schlug vor, „einmal die schwierige Frage Diakonie und Politik" zu erörtern 94 . Die Aussprache auf der Vorstands- und Beiratssitzung im Dezember 1929 hinderte den Kaiserswerther Vorsteher jedoch nicht daran, „seine" Diakonissen weiterhin politisch zu beraten. Vor den Reichstagswahlen am 6. November 1932 wurde er besonders deutlich und fügte den Richtlinien folgenden Zusatz hinzu: „Wir geben solchen Kandidaten unsere Stimme, von denen wir zu wissen glauben, daß sie nicht nur den Staat und das Volkstum schützen und den nationalen Gedanken pflegen, sondern auch das Evangelium verteidigen und die Heilige Schrift unverkürzt und unvermengt mit menschlicher Weisheit als Richtschnur und Regel unseres persönlichen und unserers Gemeinschaftslebens anerkennen und durchsetzen wollen." 95 Im Januar 1933 schließlich richtete v. Lüttichau die dringende Bitte an die Kaiserswerther Diakonissen: „Die Schwestern sollen sich aus dem politischen Leben peinlich heraushalten und keine politischen Versammlungen besuchen." 96 Gehörte das Erlassen politischer Richtlinien zu den Aufgaben eines Mutterhausvorstehers ? Dieses Recht, ja die Pflicht leitete sich aus dem traditionellen Verständnis der Aufgaben eines Mutterhausvorstehers aus dem 19. Jahrhundert ab. Nach den bereits erwähnten Grundordnungen und den entsprechenden Hausordnungen war der Vorsteher als Vorgesetzter, „Vater" und Seelsorger der Schwestern für das Wohlergehen der Diakonissen veranwortlich. Bis 1918 erstreckte sich diese „väterliche" Verantwortung nicht auf den politischen Bereich, da die Schwestern im politischen Sinne nicht mündig waren. Als nach 1918 die Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten, stand die allumfassende väterlich-vorsteherliche Gewalt der politischen Mündigkeit der Frauen gegenüber. Viele Diakonissen wurden als Gemeindeschwestern mit den sozialen und politischen Problemen in ihren Gemeinden direkt konfrontiert und interessierten sich deshalb auch für die oft vehementen Auseinandersetzungen der politischen Parteien. Doch da sich nur die wenigsten, bedingt durch einen langen Arbeitstag, der keine Zeit zum Zeitunglesen ließ, einen Uberblick über die 9 3 Vgl. Bericht über die Vorstands- und Beiratssitzung, 10.-11.12.1929, S.21 (AKV, KV, Prot. Vorstand). 94
EBD., S. 22.
95
S. v. LÜTTICHAU, W a h l e n , S. 3 3 .
96
DERS., Kampf, S. 9.
40
Voraussetzungen
Zusammenhänge und Hintergründe der politischen Tagesgeschehen verschaffen konnten, blieben die meisten Diakonissen in politischen Fragen orientierungslos. Es bestand die Gefahr, daß sie sich an Wahltagen, bei Volksentscheiden und Volksbegehren, die sich vor allem in der Endphase der Weimarer Republik häuften, von der demagogischen Agitation der extremen Rechten beeinflussen ließen. Aber statt diese Orientierungslosigkeit durch politische Aufklärung und politischen Unterricht aufzufangen, bestätigte v. Lüttichau vordergründig das Wahlrecht der Frauen, um dann umso dringlicher den Rückzug aus dem schmutzigen Geschäft der Politik zu empfehlen. Unter den Oberinnen gab es nur wenige, die über das traditionelle Verständnis der Vorsteherin hinaus dachten und den Bereich politischer Verantwortung mit zu ihren Aufgaben zählten. Eine dieser wenigen war Ina v. Mathiesen, die Vorsteherin des Lehmgrubener Mutterhauses in Schlesien. Sie bemühte sich um die Beziehung der Mutterhausdiakonie zur Frauenbewegung und setzte sich für die Mitarbeit der Schwestern in den Hausvorständen ein 97 . Elly Schwedtke, die Oberin des Frankfurter Diakonissenmutterhauses, bemühte sich nach ihrem Amtsantritt 1933 darum, die schwesternschaftlichen Strukturen gegen die patriarchalischen Strukturen im Mutterhaus zu stärken. Im Schwesternunterricht schuf sie - trotz der erschwerten politischen Bedingungen - Raum für die Diskussion aktueller politischer Fragen, die das Leben der Diakonissen betrafen. Die meisten Oberinnen waren jedoch an politischen Fragen weniger interessiert als die Diakonissen 98 , da diese in viel stärkerem Maße als die Schwestern in den Gemeinden und Stationen auf das Mutterhaus bezogen waren. Am Wahltag waren deshalb Oberinnen und Diakonissen auf den Rat ihres Vorstehers angewiesen, denn auch für die Oberinnen waren keine Fortbildungsveranstaltungen in politischer Bildung vorgesehen. Welche Parteien hatte der Kaiserswerther Vorsteher nun mit seinem Rat im Blick? v. Lüttichau äußerte sich in diesen Fragen nicht deutlich; doch Hans Lauerer, der zweite Vorsitzende des Kaiserswerther Verbandes, gab in einem Vortrag vom 8. Februar 1933 eindeutige Antworten. Mit seinem
Vgl. I. v. MATHIESEN, Frauenbewegung. Typisch für die politische Haltung vieler Oberinnen scheint mir die Stellungnahme der Oberin Anna v. Ehrenstein in der Frage des Austrittes des Kaiserswerther Verbandes aus der Vereinigung der evangelischen Frauenverbände. Sie wollte ihr Amt als Vertreterin des Kaiserswerther Verbandes in der Vereinigung niederlegen mit der Begründung: „Die Probleme auf politischem, rechtlichem, medizinischem und sozialem Gebiet, die dort verhandelt werden, liegen abseits vom Dienst der Mutterhäuser und der Schwestern" (Protokoll des Vorstandes und Beirates, 30.11.1931, S.9f., AKV, KV, Prot.Vorstand). Die unpolitisch-quietistische Haltung mancher Oberinnen wird bei H. v. BRAUCHITSCH, der Oberin des Mutterhauses Frankenstein (Schlesien), deutlich: „Wir dürfen der Welt keine Zugeständnisse machen, dürfen nicht Gott dienen und dem Mammon. Wir müssen in der Welt leben, aber innerlich völlig getrennt von ihr, bereit zu sein für jede ihrer Nöte, aber unberührt durch ihre Art." (Einseitigkeit, S 20). 97 98
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
41
Thema: „Die weltanschaulichen Grundlagen der deutschen Parteien" 99 wollte Lauerer den Angehörigen der Neuendettelsauer Diakonissenanstalt eine Orientierungshilfe für die Beurteilung der politischen Parteien geben. Sein Anliegen war es, von „Christus her das rechte Urteil in unserer politischen Lage" zu bilden 100 ; damit entsprach er ganz den Richtlinien v. Lüttichaus. Lauerer wollte aber im Gegensatz zu v. Lüttichau die Diakonissen dazu bewegen, das Wahlrecht in Anspruch zu nehmen, denn auch wenn sie nicht wählten, ergriffen sie Partei, „nämlich die Partei der grundsätzlichen Nichtwähler". Deshalb ließ Lauerer die wichtigsten Parteien Revue passieren; er gab zu bedenken, daß „eine ganze Reihe von deutschen Parteien für uns zur praktischen Stellungnahme doch nicht oder kaum in Betracht" komme. Außerdem sei „das große und brennende Problem, das jetzt auch uns evangelische Christen in Deutschland gesetzt ist, ja doch eigentlich nur die Stellung zum Nationalsozialismus" (S. 11). Lauerer begann mit einer Kritik der „liberalen Parteien"; er zitierte zustimmend die antidemokratische, nationalistische, antisemitische Schrift des Publizisten Moeller van den Bruck, Das dritte Reich aus dem Jahr 1923. Er sah in dessen Verdikt: „Im Liberalismus gehen die Völker zugrunde", „eigentlich auch das Kriterium, das von Christus her über den Liberalismus ergeht". Der Liberalismus nehme den Menschen wie er sein sollte, nicht wie er tatsächlich ist und darum widerspreche die liberale Weltanschauung der Wirklichkeit und dem Evangelium (S. 13). Der Konservatismus, d. h. die DNVP dagegen richte sich auf das Konkrete, verschmähe Ideen, hinter denen keine Macht stehe, und trete für die Monarchie ein. In ihr sah auch Lauerer „die richtige Staatsform". Doch die Konservativen verstünden sich als „nationale Opposition"; ihre Haltung sei nicht aktiv und schließe sie von den Aufgaben des Tages aus. Sie richte sich zudem nicht konsequent genug „gegen alles, was mit der Revolution zusammenhängt". Dies werde schon daran sichtbar, daß die Leute um Hugenberg sogar in ein republikanisches Kabinett als Minister einträten (S. 14). Vom Evangelium aus gesehen sei der Konservatismus abzulehnen, da er „immer in Gefahr sei, das Evangelium gleichzusetzen mit der konservativen Weltanschauung. Er ist in Gefahr, die sogenannten Werte - Volk, Familie, Vaterland - zu verabsolutieren." 101 Auch der Christlich-soziale Volksdienst, eine protestantische Abspaltung
99
H. LAUERER, Grundlagen.
EBD., (Vorwort). H. LAUERER berief sich für seine theologische Ablehnung des Konservativismus auf die „dialektische Theologie". Die DNVP gründe ihr Festhalten an der christlichen Grundlage „nicht darauf, daß das Christentum geoffenbart ist, sondern auf die Bedeutung des Christentums für das deutsche Volk, also nicht aus der Ewigkeit heraus, sondern von der Geschichte her" (Grundlagen, S. 15). 100
101
42
Voraussetzungen
der D N V P (1929), der Lauerer selbst angehört hatte 1 0 2 , hielt seiner Kritik nicht mehr stand. Das evangelische Christentum eigne sich nicht wie der Katholizismus als Grundlage einer politischen Partei, da es dem einzelnen Christen Freiheit in seiner politischen Haltung lasse. Der Christlich-soziale Volksdienst lehne es deshalb auch ab, eine bürgerliche Partei zu sein; zwar habe er Verständnis für die wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung, doch sei es fraglich, ob er sie auch in den harten Lohnkämpfen werde unterstützen können. D e m katholischen Zentrum, der Partei, die sich am engagiertesten für die Belange der freien und konfessionellen Wohlfahrtspflege eingesetzt hatte, warf Lauerer Kompromißbereitschaft vor: „Das Zentrum steht nicht auf einem Entweder - Oder, sondern auf einem Sowohl - als - auch." Lauerer fuhr fort: „Wir Protestanten sollen uns hüten, diese Neigung zum Kompromiß und zur Koalition bald nach rechts und bald nach links vorschnell zu verdächtigen: wir sind eben doch nicht genug in der Lage, in die katholische Mentalität uns zu versetzen" (S. 17). In den marxistischen Parteien, zu denen er, trotz ihrer Verbürgerlichung und der Übernahme der Regierungsverantwortung auch die Sozialdemokratie zählte, sah Lauerer eine „ungeheuere Gefahr". Angesichts der Wirtschaftskrise hätten viele Menschen nichts mehr zu verlieren und nur noch zu gewinnen. Die größte Schwäche des Kommunismus sei es, daß er die Revolution in Permanenz erkläre, gleichzeitig ins Parlament gehe und sich mit den bestehenden Zuständen einlassen müsse: „Er kann sich nur darin seinen Elan bewahren, daß er immerzu Unruhe stiftet" (S. 17). Nach der Kritik an den Weimarer Parteien blieb zum Schluß nur noch eine: „Und nun zum Nationalsozialismus!" (S. 19). Auch der Nationalsozialismus sollte vom Evangelium aus, von Christus her beurteilt werden (S. 19). Dies sei möglich, da „der Nationalsozialismus durchaus Weltanschauung ist, wie man gesagt hat, die Durchpolitisierung des ganzen Menschen"; bis hin zur Religion werde alles in die Politik einbezogen. Der Nationalsozialimus sei seiner Entstehung nach eine Protestbewegung, die jedoch „voll kräftigster Bejahung" sei (S. 20). Das Nein zu den bestehenden Zuständen, so Lauerer, sei wichtig, denn „der jetzige Zustand ist ganz schlecht, er ist unerträglich. Nicht bloß die wirtschaftliche Lage, ja diese nicht einmal in erster Linie, der gesamte Zustand ist unerträglich" (S. 20). Der Nationalsozialismus protestiere nicht nur gegen die wirtschaftlichen Fesseln des Versailler Vertrages, sondern auch gegen die Deutschland angetane Schmach und den Knechtssinn, der diese Schmach dulde. Der Protest richte sich auch gegen den Marxismus, der wirtschaftliche Fragen als Schicksal ansehe und deshalb auch
102 Vgl Dossier Hans Lauerer der NSDAP-Gauleitung Franken, Personalamt, 15.9.1939 ( B D C ) ; zur Entwicklung der Partei vgl. G . OPITZ, Volksdienst.
Weichenstellungen: Kaiserswerther Mutterhausdiakonie 1833-1932
43
die Innenpolitik über die Außenpolitik stelle. Aber der Protest sei alles andere als Reaktion, die Bewegung habe etwas ausgesprochen Jugendliches an sich und wolle grundsätzlich wenigstens jeden Kompromiß und jede Koalition ausschließen. Lauerers Hauptkritikpunkte an den anderen Parteien: Kompromiß und Koalitionsbereitschaft, Passivität, Bejahung der Revolution, d. h. Weimarer Demokratie der Republik und des Versailler Vertrages, Schwäche bei der Vertretung wirtschaftlicher Interessen, trafen auf den Nationalsozialismus nicht zu. Lauerers Sorge war nur, „daß die Bewegung durch Kompromisse ihre Kraft lähmen und um ihre Schwungkraft kommen könnte. Der Protest darf nicht auf dem Papier bleiben" (S. 21). Der Neuendettelsauer Rektor versuchte, dem „ganze(n) Auftreten in Formen der Propaganda, die an Rücksichtslosigkeit, aber auch an psychologischer Massenwirkung wohl nicht mehr zu überbieten ist", etwas Positives abzugewinnen. Man müsse dies nicht nur beklagen, so Lauerer, „es ist zugleich eine ganz außerordentliche Fähigkeit, den an und für sich blasierten Menschen von heute eindrucksvoll zu werden. In dem „bisweilen nicht mehr zu unterbietenden Niveau der Demagogie" sah Lauerer auch einen „Ausdruck für die Wahrheit, daß unsere so zivilisierte Zeit, wenn man den Schleier von der Wirklichkeit wegzieht, doch eine sehr rauhe und rücksichtslose Zeit ist"