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German Pages 331 [332] Year 2017
Melanie Fröhlich Liebe und Judentum im Werk Albert Cohens
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 31
Melanie Fröhlich
Liebe und Judentum im Werk Albert Cohens
Facetten eines Zwiegesprächs
Die vorliegende Publikation wurde 2015 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam verteidigt und von Herrn Professor Dr. Ottmar Ette und Frau Professorin Dr. Yvette Sánchez begutachtet.
ISBN 978-3-11-052358-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052610-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052367-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Dank „Habe Geduld gegen alles Ungelöste in Deinem Herzen und versuche die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben oder ein neues Buch, das in einer fremden Sprache geschrieben ist. Forsche nicht nach Antworten, die Dir nicht gegeben sind, weil Du sie nicht leben kannst. Und darum handelt es sich doch: alles zu leben. Lebe jetzt die Fragen! Vielleicht lebst Du dann eines Tages, ohne es zu merken, in die Antwort hinein.“ Rainer Maria Rilke
Dafür, dass der mit vielen Fragen gepflasterte Weg in ein nun gedrucktes Buch mündete, möchte ich aufrichtig danken: meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Ottmar Ette, der mit seiner motivierenden fachlichen und menschlichen Kompetenz für die Verwirklichung eines stets mit Freude und Zuversicht verfolgten Forschungsvorhabens Sorge trug; Frau Professorin Dr. Yvette Sánchez für die großzügige Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen und für die herzlichen Zusammentreffen im schweizerischen Jura; Frau Isabelle Dörr für die Anteil nehmende Begeisterung, mit der sie die Entstehung des Projekts begleitete sowie für die sorgfältige und kluge Durchsicht des Manuskripts; Herrn Dr. Guillaume Plas für die intensiven und hilfreichen Lektüren; Herrn Dr. Werner Treß für die Aufnahme der Dissertation in die Schriftenreihe „Europäisch-jüdische Studien“ des Moses Mendelssohn Zentrums der Universität Potsdam und für die damit verbundenen Mühen; meiner Mutter für ihren ermunternden Zuspruch und unschätzbaren Beistand; Max für seine immense Geduld und liebevolle Unterstützung; Frau Anne Piotrowsky-Rochefort für ihre wertvolle Buchempfehlung, ohne die mir Albert Cohen womöglich nicht begegnet wäre.
Inhalt Verzeichnis der verwendeten Kürzel Einleitung
IX
1
Vorüberlegungen 11 . Albert Cohen: Stand der Forschung und Desiderata 11 . Theologie und Literatur im Gespräch 28 .. Albert Cohens Bibelrezeption 54 57 . „Jüdische Literatur“ – ein missverständliches Konzept Die . . .. .. ..
Liebe und das Judentum: literarisches Vorspiel 63 63 Die Gunst der Stunde: la renaissance juive Schriftstellerische Präludien des frühen Cohen 72 Israël, le Juif et les romanciers français 72 83 Projections ou Après-Minuit à Genève Mort de Charlot und Cher Orient 86
Von der Theorie zur Praxis, vom Kurztext zum Roman . Solal: der Mann in der Schwebe 90 .. Metaphorisierungen der Schwebe 90 .. Narrative Umschwünge 93 104 .. Die innere Stimme . Luftexistenz und Schriftstellertum 109
90
112 Jüdische Bilder der Liebe im Werk Albert Cohens . Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe 112 .. Androgynie im Prisma des Judentums 112 .. Androgynie bei Albert Cohen 117 . Nächstenliebe 131 .. Das Urdelikt 131 .. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst – ein strittiges Modell .. Albert Cohens Lehre vom Nächsten 139 . Eine Ethik des Mitleids 171 .. Exkurs: Mitleidstheorien 171 ... Vom Urquell der Sittlichkeit: Jean-Jacques Rousseau 174 .. Figurationen des Mitleids im Werk Albert Cohens 192
133
VIII
. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .. .. ..
Inhalt
Die Quelle des Gartens bist Du – Lieben nach dem Paradies 208 Liebe als Metonymie Paradiesreminiszenzen im Werk Albert Cohens 210 Hürden des Zusammenlebens 219 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe 249 249 Exkurs: Romain Garys frühes Versprechen Albert Cohens Le livre de ma mère 256 262 Von Müttern und Geliebten Zwischen Huldigung und Rebellion: Gottesrede bei Albert Cohen 272 272 Kein Heil ist da Der Gott der Paroles juives 274 Absurdität und Theodizee 278 283 Vom Eigennutz des Betens Carnets 1978: Zeugnis einer Glaubenskrise 286
Fazit und Ausblick
295
Bibliografie 300 Primärtexte von Albert Cohen 300 Weitere Primärtexte Sekundärtexte 302 Personenregister
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300
208
Verzeichnis der verwendeten Kürzel Den Belle du Seigneur entnommenen Zitaten liegt folgende Ausgabe zugrunde: Cohen, Albert: Belle du Seigneur. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1986. Für Carnets 1978, Ezéchiel, Le livre de ma mère, Mangeclous, Ô vous, frères humains, Paroles juives, Solal und Les Valeureux wird verwiesen auf: Cohen, Albert: Œuvres. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1993. Israël, le Juif et les romanciers français folgt: Cohen, Albert: Israël, le Juif et les romanciers français. In: La Revue de Genève 33 (März 1923). S. 340 – 351. BdS C E Israël Ldm M Ô vous PJ S V
Belle du Seigneur Carnets Ezéchiel Israël, le Juif et les romanciers français Le livre de ma mère Mangeclous Ô vous, frères humains Paroles juives Solal Les Valeureux
Einleitung Jeder, der sich mit dem Werk des 1895 auf Korfu geborenen und 1981 in Genf verstorbenen jüdischen Schriftstellers Albert Cohen eingehend befasst, wird erkennen, dass der im Schreiben des Autors eine zentrale Rolle einnehmende Begriff der Liebe Ambivalenzen zu verkraften hat. Metaphorisch ließe sich die Cohensche écriture daher als eines jener Vexier- oder Kippbilder umschreiben, die das Auge mit zwei diametral entgegengesetzten Sehweisen zu irritieren suchen. Je nach willentlicher oder unwillentlicher Wahrnehmung ruft der Bildrezipient – um mich hier auf eines der bekanntesten Beispiele zu beschränken – mal das unschöne Konterfei einer Greisin, mal das grazile Profil einer jungen Frau auf. Manch einen Betrachter konfrontiert das doppelperspektivisch angelegte Kippbild mit der Schwierigkeit, zwischen beiden Alternativansichten nach Belieben hin- und herzuschwenken.¹ Was zeitgenössischen Rezensionen über Albert Cohens 1968 bei Gallimard erschienenen und noch im selben Jahr mit dem Grand Prix du roman de l’Académie française prämierten Erfolgsroman Belle du Seigneur zu entnehmen war, mag an ebenjene Besonderheit des Kippbilds erinnern, zweierlei konträre Rezeptionsweisen nebeneinander zuzulassen. Die für das Werk typische Ambiguität in der Rede von der Liebe – „quadrature du cercle qui est aussi la séduction même de la littérature selon Cohen“² – hielt etwa der französische Regisseur und Dokumentarfilmer Claude Lanzmann fest: „Exaltation et dérision à la fois, amour fou mesuré au grand mètre étalon de la mort et d’autant plus vivant. Oui, Belle du Seigneur est la fureur de vivre.“³ Bestätigung findet Lanzmanns lebensbejahende Lesung bei dem französischen Schriftsteller Paul Guth: „Nous nous jetons dans Belle du Seigneur, livre terrible, livre angoissant, chef-d’œuvre revigorant, fortifiant en nous le bonheur d’exister, de respirer, d’aimer tout ce qui vit […].“⁴ Neben diesen die positive Facette des Kippbilds in den Vordergrund rückenden Stimmen aber lenkte das Gros der Beiträge den Blick auf die der Zerstörung und dem Tod exponierte Kehrseite von Belle du Seigneur, wie der folgende Kommentar verdeutlicht: „La beauté est une promesse de ruine, la passion une promesse de satiété et d’oubli et le train du monde une énorme farce coupée de répits illusoires, Die Anregung zur Beschreibung von Literatur als Kippbild verdanke ich: Dieckmann, Detlef: ‚Worte von Weisen sind wie Stacheln‘ (Koh 12,11): eine rezeptionsorientierte Studie zu Koh 1– 2 und zum Lexem ‚dabar‘ im Buch Kohelet. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. S. 11 f. Schaffner, Alain u. Philippe Zard: Avant-propos. In: Lectures de ‚Belle du Seigneur‘. Numéro anniversaire (1968 – 1998). Cahiers Albert Cohen 8 (1998). S. 7– 13, hier S. 9. Lanzmann, Claude. In: Elle (18. November 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1013. Guth, Paul. In: La voix du nord (19. November 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1015. DOI 10.1515/9783110526103-001
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de visions chimériques, d’espoirs infondés. Un immense carnaval dansé sur le vide.“⁵ Nicht minder freimütig verkürzten wieder andere den Liebesplot auf eine „mise en accusation et une mise en dérision de Vénus,“⁶ auf eine „fuite éperdue, un abandon dans la contingence d’où l’homme ne peut sortir victorieux, mais encore plus démuni“⁷ oder, in noch radikalerer Schematisierung, auf einen „pessimisme absolu.“⁸ Cohen-Kennerin Nathalie Fix-Combe trägt all diesen Zweifeln Rechnung, wenn sie schreibt: „Il n’y a pas d’amour heureux dans l’œuvre romanesque d’Albert Cohen; y a-t-il même de l’amour?“⁹ Diese scharfe Zweiteilung in der Werkrezeption schon eingangs zu betonen ist wichtig, da das in nahezu sämtlichen Texten des Romanciers kontinuierlich auf-, aber niemals abgebaute Spannungsverhältnis zwischen Liebeseuphorie auf der einen und Liebesverdruss auf der anderen Seite eine künstlerische Ergiebigkeit hervorbrachte, die Albert Cohens jüdische Provenienz, so die Ausgangsthese des Projekts, vollauf zu intensivieren wusste. Ihr hat das auf grandiose Weise komplexe Werk des Autors eine spürbare Beeinflussung zu verdanken, die,wie einst der Cohen-Biograph Jean Blot formulierte, den im Schaffen des Künstlers Entfaltung findenden Liebesdiskurs in seiner ganzen Widersprüchlichkeit allererst les- und einsehbar mache: „On se condamne à ne rien comprendre à l’érotique de Cohen, ni à l’amour haineux qu’il porte aux passions, si l’on oublie leur fondement religieux.“¹⁰ Wenn es mit Denis de Rougemonts international angesehener Studie über das der höfischen Troubadourlyrik erwachsene Liebesverständnis des Abendlands, erstveröffentlicht im Jahr 1939,¹¹ zum festen Inventar auch literaturwissenschaftlichen Forschens gehört, die Liebe in ihrer kulturhistorischen Bedingtheit zu erfassen, dann ist es nur konsequent, nach den jüdischen Elementen der Liebe im Schaffen eines Autors zu fragen, der nach eigener Angabe seine unversieglichen Schreibimpulse allesamt aus dem Judentum schöpfte: „Je suis un des très rares écrivains juifs qui
Anex, Georges. In: Journal de Genève (5. Oktober 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1008. Mandel, Arnold. In: Information juive (Oktober 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1006. Clerval, Alain. In: Littérature de notre temps. Paris: Casterman 1970. Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1022. Freustié, Jean. In: Le Nouvel Observateur (23. Dezember 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1017. Fix-Combe, Nathalie: Sous le soleil de Solal: regard brûlant sur la féminité. In: Lectures, S. 91– 115, hier S. 115. Blot, Jean: Albert Cohen. Paris: Editions Balland 1986. S. 75. Rougemont, Denis de: L’Amour et l’Occident. Edition définitive. 3. Aufl. Paris: Plon 1972.
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n’aient écrit que sur des sujets juifs. Cela est ainsi […].“¹² Doch sieht es bei genauerer Betrachtung anders aus, als Cohens schriftstellerisches Selbstverständnis es zunächst vermuten lässt. Denn was sich, schenken wir der Eigenwahrnehmung des Autors Glauben, vordergründig als monokulturelle Themen- und Motivwahl ausweist, entpuppt sich in Wahrheit als zutiefst heterogenes Kunstschaffen, durchdrungen von jenen ineinandergreifenden Substraten, die in der Vita des mit osmanischem Pass aufgewachsenen und in französischer Sprache schreibenden Schweizer Schriftstellers jüdischer Herkunft Legion sind. Dies erklärt auch, weshalb sich Albert Cohen in einem im Dezember 1973 ausgestrahlten Fernsehinterview ohne zu zögern zu einer gleich dreifachen Vaterlandsliebe bekennen konnte: „patriote français, patriote suisse et juif, fils d’Israël. […] Bref, je suis un monstre à trois cœurs. Je ne vois pas pourquoi on n’admet pas trois patriotismes.“¹³ Es sind ebenjene Cohens Biografie durchziehenden Trajektorien, die es dem Autor stets erlaubten, an multiplen Kultur- und Persönlichkeitsentwürfen teilzuhaben und diese unentwirrbare Vielfalt sowohl auf der Ebene des Inhalts als auch auf jener der Diktion in sein Werk zu integrieren. Diese Fülle gab die Grundlage für eine charakterlich ebenso vielschichtige Figurenzeichnung, die nicht allein auf das Jüdischsein der Protagonisten reduzierbar ist. Vielmehr war Albert Cohen darum zu tun, so schreibt Susanne Zepp in einer Buchbesprechung, „die lebensweltliche Verortung des Einzelnen in der Moderne angesichts der Herausforderungen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts“¹⁴ zu literarisieren. Was die Texte des Autors dem Leser präsentieren, ist mithin weniger eine monolithische Konzentration jüdischer Denk- und Schreibweisen als vielmehr deren höchst produktives Zusammenspiel mit betagten Traditionen der europäischen Literatur: Et l’on est contraint en définitive de s’avouer que Cohen est radicalement neuf, alors même que le styliste toujours novateur ne se permet aucune atteinte à la noblesse de la langue française, alors même que l’iconoclaste impitoyable reprend les thèmes les plus tradition-
Malka, Victor: Albert Cohen: Je suis un athée qui vénère Dieu. In: Les Nouvelles littéraires: lettres, arts, sciences, spectacles 2730 (23. März–7. April 1980). S. 21. Albert Cohen im Interview mit Franck Jotterand: Albert Cohen: Le livre de ma vie. In: Radio Télévision Suisse (25. Dezember 1973). In einem späteren Interview fügte Cohen, der die Kriegsjahre im Londoner Exil verbracht hatte, England als vierte Heimat hinzu: „J’ajoute que j’ai une quatrième patrie. C’est l’Angleterre.“ Cohen, Albert: Tous mes livres ont été écrits par amour. Propos recueillis par Jean-Jacques Brochier et Gérard Valbert. In: Magazine littéraire 147 (1979). S. 7– 11, hier S. 11. Zepp, Susanne: Jack I. Abecassis – Albert Cohen: Dissonant Voices. In: Romanistisches Jahrbuch 56 (2005). Berlin: De Gruyter 2006. S. 262– 267, hier S. 265.
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nels, alors même que l’humour ‘méditerranéen’ de Cohen nous renvoie bientôt à la veine souveraine de Chaplin.¹⁵
Doch ebenso wenig wie es möglich scheint, dem mehr als ein halbes Jahrhundert umfassenden Œuvre des Autors einen strömungsspezifischen Hut aufzusetzen, scheitert man kläglich an dem Versuch, das Jüdische an Cohens Schreiben definitorisch einwandfrei auszuloten: „Entre la dimension ouvertement apologétique de certains textes (Cohen écrit bien, de Paroles juives à Carnets 1978, les fragments d’un ‚Génie du Judaïsme‘) et la distance extrême que Cohen maintient à l’égard du judaïsme réel, dans sa composante religieuse notamment, comment s’y retrouver?“¹⁶ Wer den Wechselbeziehungen zwischen Liebe und Judentum im Werk des Autors nachgehen will, kommt nicht umhin, diese von den Cohen-Experten Philippe Zard und Alain Schaffner mit gutem Grund zur Diskussion gestellte Frage in seine Vorüberlegungen miteinzubeziehen. Gleichzeitig impliziert die wortspielerische Allusion auf die religiöse Dichtung Chateaubriands jenen hohen Grad der Einflussnahme, der das Judentum schon in den Anfängen von Albert Cohens Schriftstellertum zu einem prägenden Zug seines Schreibens werden ließ.¹⁷ Im Gegensatz zu vielen anderen, insbesondere deutsch-jüdischen Autoren der Moderne hat Cohen sich niemals vom Judentum distanziert oder gar von ihm abgewandt. Behauptete der jüdische Philosoph Alain Finkielkraut einst von sich, er sei „un Juif sans Dieu, mais un Juif avant toute chose“,¹⁸ so könnte man diese ostentative Hinwendung zum Judentum für den Atheisten Cohen wortgetreu übernehmen. Man darf in diesem Kontext nicht vergessen, dass für den bekennenden Juden, anders als für den bekennenden Christen, der Glaube an Gott nicht bindend ist, um sich als Mitglied der Religionsgemeinschaft auszuweisen, wie Roland Gradwohl in seinem Einführungswerk nahelegt: Bemerkenswert ist dabei, dass auch jene Juden, die sich nicht nach allen Glaubensvorschriften richten wollen und sich im Extremfall als atheistisch einstufen, die Bindung an Abraham nicht aufgeben. Zu Recht nicht, denn auch der glaubenslose Jude ist als AbrahamNachfahre hineingenommen in die Geschichte des Volkes Israel. […] Weil der nationale
Goitein-Galpérin, Denise R.: Albert Cohen revisité. La vision cohénienne de l’existence juive. In: Revue des études juives 148 (1989). S. 205 – 219, hier S. 205. Schaffner, Alain u. Philippe Zard (Hrsg.): Albert Cohen dans son siècle. Actes du colloque international de Cerisy-la-Salle. Paris: Le Manuscrit 2005. S. 15. Für den in Algerien geborenen Schriftsteller Albert Bensoussan gilt Cohens Werk gar als das jüdischste der französischen Literatur überhaupt: „[I]l n’est pas d’œuvre plus juive, dans la littérature française, que celle d’Albert Cohen.“ Bensoussan, Albert: L’œuvre d’un séducteur. In: Magazine littéraire 26 (1989). S. 36 – 39, hier S. 39. Finkielkraut, Alain: Le juif imaginaire. Paris: Seuil 1980. S. 48.
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Aspekt im Christentum keine Rolle spielt – es gibt kein „christliches Volk“, wie es ein jüdisches Volk gibt – und nur das religiöse Bekenntnis besteht, ist ein „atheistischer Christ“ oder ein Christ, der Jesus nicht als seinen Messias akzeptiert, kein Christ mehr.¹⁹
Dieses religiöse Selbstbild, so merkt auch Edna Brocke an, besitze den Vorzug, „dass kein Jude einem anderen sein Jude-Sein absprechen kann, wenn beim Theoretisch-Theologischen ein Dissens auftritt.“²⁰ Den Zusammenhang von Schreiben und Judentum legt Cohens Werk in vielerlei Hinsicht offen: in einer frühen Schaffensphase unter dem sozialpolitischen Gesichtspunkt einer Öffnung hin zum Zionismus sowie Jahre später unter dem eines Kampfs gegen Exklusion und Antisemitismus. Darüber hinaus haben zentrale in die jüdische Eigen- und Weltwahrnehmung überführte Themen wie Selbstsuche und -entfremdung, Exil und Heimatlosigkeit ihre ebenso tiefen wie auffälligen Spuren im Schreiben des Autors hinterlassen. Zudem beerbt Albert Cohen aufs Eindrücklichste das alttestamentliche Stoff-, Figuren- und Sprachrepertoire, doch auch abseits dieser auf den ersten Blick leicht der Bibel zuordenbaren Textmuster tritt die jüdische Erfahrungswelt in subtileren mentalitätsgeschichtlichen Bezügen hervor, die in der Forschung eine, so glaube ich, bislang zu wenig beachtete Rolle spielen. Wir finden sie auch und gerade in all jenen Narrativen der Liebe, die, so sah es Jean Blot, nur vollends interpretieren könne, wer ihnen ihre jüdische Profilierung abgewinne. Dem ist sicherlich beizupflichten, wohl aber greift das Gesagte zu kurz, bewegt sich die Cohensche Liebeskonzeption doch oft in jenem Grenzbereich des Übergangs und der Hybridisierung, der jüdische Denktraditionen in existenzielle Grunderfahrungen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens einfließen lässt, die bis in die Gegenwart hinein den Leser aufrütteln und gefangen nehmen. Nicht von ungefähr hatte dieses produktionsästhetische Ansinnen schon jenen herausgeberischen Kerngedanken der von Albert Cohen im Jahr 1925 gegründeten La Revue juive konditioniert, der das neue Organ – aller dezidiert jüdischen Ausrichtung zum Trotz – einem gesamtmenschheitlichen Geltungsanspruch zuführen sollte: „Nous n’oublierons pas dans ces pages notre destinée de voyageurs en Humanité. Nous avons trop souvent changé de lieux pour ne point aimer d’un même amour tous paysages où vous rayonnez, sourires humains.“²¹ Das für Albert Cohens Gesamtschaffen, wie ich denke, sinnleitende Kürzel der „voyageurs en Humanité“ gilt es in der Folge nicht
Gradwohl, Roland: Der jüdische Glaube. Eine Einführung. Stuttgart: Calwer 2000. S. 9. Brocke, Edna: Gedankensplitter zur Beschreibung jüdischer Identität. In: Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus. Hrsg. von Werner Gephart u. Hans Waldenfels. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1999. S. 83 – 86, hier S. 86. Cohen, Albert: Déclaration. In: La Revue juive 1 (15. Januar 1925). S. 5 – 13, hier S. 10.
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aus den Augen zu verlieren, klingt darin doch eine Assoziationssphäre an, die das Sendungsbewusstsein des Autors mit einer positiv semantisierten Begriffsdeutung von Wanderschaft und Bodenlosigkeit verknüpft. Dem Bild ließe sich, soviel sei für den Moment als Hypothese festgehalten, jene Facette jüdischer Selbst- und Weltverortung entlocken, die sich im Zusammenhang mit der metaphorisierenden Rede vom Luftmenschentum „als dritte Alternative jenseits von Assimilation und Zionismus“²² aus einem literarischen Diaspora-Diskurs herausschälen konnte, „der gerade nicht über Wurzellosigkeit in der Moderne klagt, sondern Reisen, Unterwegssein und Mobilität als Normalfall der Gegenwart verstand.“²³ In diesem das Menschsein vom Prinzip der Bewegung her durchdenkenden Sinne liegt das Interesse der Arbeit denn auch nicht auf dem essenzialistisch eingrenzbaren „Was“, sondern auf dem die literarische Reflexion vielperspektivisch dynamisierenden „Wann“ des Judentums,²⁴ angesiedelt wie auch der für die jüdische kulturelle Selbstbeschreibung unverzichtbare Diaspora-Begriff „im Spannungsfeld zwischen kosmopolitischer Losgelöstheit und einem radikalen Nationalismus, der sich nicht länger territorial definiert.“²⁵ Aller Faszinationskraft der Texte des Autors entgegen zeitigte die in Albert Cohens Schreiben kunstfertig aufgefächerte Themenbreite nicht allerorts die wünschenswerten Folgen: Von den Franzosen verehrt, von den Deutschen verschmäht – auf diese stark vereinfachte Formel ließe sich das Rezeptionsschicksal eines begnadeten Schriftstellers bringen, dessen Œuvre eine bisweilen verstörende Fremdheit auszustrahlen scheint, die der Leserschaft diesseits des Rheins ganz offensichtlich Anstrengung abverlangt. Dabei könnte es sich, so die in der Folge stets mitreflektierte Überlegung, doch als rezeptionsförderlich erweisen,
Kilcher, Andreas B.: Interpretationen eines kulturellen Zwischenraums. Die Debatte um die deutsch-jüdische Literatur 1900 – 1933. In: Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte. Berlin, Wien: Philo 2002 (Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, Bd. 13). S. 289 – 321, hier S. 304. Berg, Nicolas: Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. S. 58. Den Differenzierungshinweis verdanke ich Ottmar Ette. In seinem Aufsatz Romanistik als Archipel-Wissenschaft reflektiert Ette diese Trennung mit Blick auf eine transdisziplinär agierende Romanistik, die sich „nicht auf eine einzige Selbstbestimmung verständigt, sondern – von einer übergreifenden Solidarität innerhalb des Faches getragen – deren viele entfaltet und miteinander verbindet.“ Ette, Ottmar: Romanistik als Archipel-Wissenschaft. Fünf Thesen zur künftigen Entwicklung eines faszinierenden Faches. In: Grenzgänge 23 (2005). S. 117– 127, hier S. 126. Mayer, Ruth: Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung. Bielefeld: transcript Verlag 2005. S. 8.
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Albert Cohens Werk in jene „ethisch-ästhetischen Traditionsreihen“²⁶ aufzunehmen, die mit ihrem immensen Erfahrungsschatz über ein möglichst konfliktfreies Miteinander in Differenz, wie Ottmar Ette ihn in seinem Nachdenken über die Ausrichtung der Literaturwissenschaft auf eine am Zukünftigen interessierte Lebenswissenschaft entlang zahlreicher Textbeispiele erschließt, weitreichende Erkenntnismöglichkeiten bieten: „Konvivenz avanciert dann […] zu einem entscheidenden Schlüsselbegriff literaturwissenschaftlicher wie kulturwissenschaftlicher Forschung, wenn es gelingt, die keineswegs nur der Vergangenheit, der Memoria zugewandte, sondern vor allem prospektive Lebenskraft der Literatur für die Suche nach neuen Formen und Normen des Zusammenlebens fruchtbar zu machen.“²⁷ Bei aller Beteuerung der bei Cohen verschwenderisch verarbeiteten jüdischen (Fremd‐)Elemente könnte so auch über Frankreichs Grenzen hinaus ein lebenswissenschaftlich ergiebiges Werk triumphieren, dem das Judentum als Sprungbrett zur Darstellung einer universell gültigen Ethik der Liebe diente. Ausgehend von der anfangs gesetzten Prämisse, dass der jüdische Hintergrund des Autors in die literarische Gestaltung der Liebe einfließt, geht die vorliegende Monografie der dreifachen Frage nach: Inwieweit experimentiert Albert Cohens narrative Ethik der Liebe nicht nur mit der Bibel entlehnten Themen und Motiven, sondern inwieweit beruft sie sich abseits dieser intertextuellen Bilder auch auf zentrale Diskurse der altjüdischen Tradition und damit auf Elemente jüdischer Theologie? Wann wiederum wird der altjüdische Nährboden mit anderen Diskursen amalgamiert oder gar brach gelegt? Auf der Grundlage dieses Fragenkomplexes gilt es eine nahezu sämtliche Texte des Schriftstellers berücksichtigende Ethik der Liebe herauszuarbeiten, die ihrem tiefen Verwurzeltsein in der jüdischen Tradition zum Trotz existenziell-kulturübergreifende Einsichten in die Widersprüchlichkeiten des Menschseins sowie in die nicht minder brisante Frage nach möglichen Formen des gütlichen Zusammenlebens fern von Eden zutage fördert. Dem Thema der Liebe im Kontext des Judentums vorausgeschickt seien im ersten Hauptteil ein vergleichender Überblick über den Stand der deutschen und französischen Forschung zu Albert Cohen sowie ein Kapitel zum komplexen Wechselverhältnis von Theologie und Literatur. Es zielt ab auf die Klärung der Frage, welche hermeneutischen Anknüpfungspunkte an die im Forschungsfeld „Theologie und Literatur“ vertretenen Diskurse für das hier verfolgte Vorhaben methodologisch fruchtbar sind. Der als theoretische Klammer der Studie zu be Lützeler, Paul M. u. Jennifer M. Kapczynski (Hrsg.): Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2011. S. 13. Ette, Ottmar: Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2012. S. 100.
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greifende erste Hauptteil schließt mit einem Kapitel zur „jüdischen Literatur“. Darin wird die Problematik eines unter Forschern ebenso unscharf wie widersprüchlich gehandhabten Konzepts behandelt, um dieses sodann mit Cohens eigenem Begriffsverständnis zu kontrastieren: einer Neudefinition jüdischen Schriftstellertums, wie sie der Autor zu Beginn der 1920er Jahre – und dieses Cohens frühe Schaffensphase maßgeblich prägende soziokulturelle Umfeld bleibe nicht außer Acht – vornahm. Die im Anschluss an die erbrachte zeitgenössische Kontextualisierung folgenden Kapitel des zweiten Hauptteils wenden sich ausführlich den in dieser für das europäische Judentum hochproduktiven Zeit verfassten Kurztexten des Künstlers zu, und dies aus zweierlei Gründen: einerseits, da aus Cohens alternativer, kulturhistorisch aufgeladener Neuausrichtung der „jüdischen Literatur“ die markante Skizze eines prototypischen Helden entsteht, die als wesentliche Vorarbeit zu dem nur wenig später in Angriff genommenen Romanprojekt gelten darf. Im Frühwerk des Romanciers in spe keimt andererseits schon jener ethische Kern des Dialogs zwischen der Liebe und dem Judentum, der sein Schreiben leiten wird. Dieser für die Werkgeschichte wichtigen Scharnierfunktion will die Analyse Rechnung tragen. Aus dem zuvor Erörterten zur Cohenschen Heldentheorie leitet sich die im Fokus des dritten Hauptteils stehende werkimmanente Auseinandersetzung mit dem für Cohens Debütroman Solal titelgebenden Protagonisten ab. Sie untersucht all jene narrativen Mittel, die eine dem Verständnis des Autors nach unverkennbar jüdische Figurenzeichnung in die Gattung des Romans einbringen. In Ergänzung dazu versteht sich das diesen Hauptteil beschließende Teilstück zu Cohens identitärem Selbstverständnis als der Versuch, all jene Fehleinschätzungen zu korrigieren, die in Solal – der Gefahr eines rigiden Biografismus erliegend – das Alter Ego des textexternen Autors zu erkennen glauben. Im vierten und letzten Hauptteil verlagert sich der Schwerpunkt vom jüdischen Einfluss auf Heldenpsyche und Erzähldynamik zu jenem auf die Liebe. Er gibt Aufschluss über Art und Dosierung all jener biblischen, wie auch religionsund mentalitätsgeschichtlichen Komponenten, die eine Deutung der Cohenschen Liebesidee vom Kontext jüdischen Denkens her plausibel machen. Der Vielfalt jüdischer Einflussnahmen steht dabei die Mehrdimensionalität der Liebe selbst zur Seite, die sich im Aufbau dieses quantitativ umfangreichsten Hauptteils niederschlägt. Segmentiert in sechs Unterkapitel entwirft er ein Spektrum an jenen sechs Figuren der Liebe, die das Œuvre zur Entfaltung bringt: Androgynie, Nächstenliebe, Mitleid, Geschlechtsliebe, Mutterliebe und die Gott-Mensch-Beziehung. Ihnen soll eine geistige Verbindung zum Judentum nachgewiesen werden. Jüdisches und Nichtjüdisches können hier harmonisch konvergieren, aber auch in Widerstreit geraten; Gleiches gilt für unterschiedliche Diskurse (Fiktion versus Autobiografie) und Instanzen (Erzähler versus Figur). Wie schon eingangs
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konstatiert operiert Cohens Liebesbegriff unter der Annahme eines grundlegenden Paradoxons, das es mit jener semantischen Elastizität zu kreuzen gilt, die den Begriff der Liebe ausmacht. Denn ihr künstlerisches Potenzial bezieht die zwischen Erotisierung und Entfleischlichung schwankende Cohensche Liebestheorie aus ebenjenem Pluralismus an Konzepten, der sich in ebenso vielfältige Alteritätszusammenhänge werfen kann wie die Liebe selbst: „[W]ir dürfen nicht versuchen, aus der Liebe einen Terminus zu machen. Vielmehr müssen wir anstelle der starren Einheitsbedeutung eine bewegliche Struktur annehmen. Das Wort ‚Liebe‘ ist gerade deswegen ein lebendiges Wort und kein fixierter Terminus, weil es sich in eine geordnete und bewegliche Vielfalt von Bedeutungen hineinwagen darf, ohne sich selbst zu verlieren.“²⁸ Unter der ethischen Vorgabe des Themas schreibt die Monografie dem das Œuvre des Autors leitmotivisch beherrschenden Mitleid eine Schlüsselbedeutung zu, weshalb ein weiteres Anliegen darin besteht, die humanisierende Kraft des bei Cohen auf ästhetisch dichte Weise gestalteten Mitleids darzulegen. Welchen Beitrag, so die dabei gestellte Frage, leistet gerade die Literatur, leisten Texte wie die des jüdischen Romanciers zu jener immer schon kontrovers debattierten Mitleidsdebatte, die im 18. und 19. Jahrhundert eng an die Namen Rousseau und Schopenhauer gebunden ist? Um über die ethische Kompetenz des Mitleids bei Cohen adäquat werten zu können, sollen diese und andere geistige Positionen als Vergleichsgrößen exkursartig in die Analyse miteinbezogen werden. Von der hier intendierten hermeneutischen Stoßrichtung erhofft sich die vorliegende Untersuchung zweierlei: einmal einen methodisch erneuernden Impuls für die Albert-Cohen-Forschung dadurch, dass sie der werkgeschichtlichen Bedeutung des im biblischen Prätext verankerten jüdischen Lebens-, ja Liebeswissens in den Texten des Schriftstellers auf den Grund geht. Andererseits verspricht sie sich einen ebenso aufschlussreichen Beitrag für die deutschsprachige Forschung im Begegnungsfeld von Theologie und Literatur – ein Feld, das sich, so die Tagungsbilanz von 2004, noch stärker als dies bislang geschehen Primärtexten von Autorinnen und Autoren anderer Sprachräume zuwenden müsse, um die noch fehlende Anbindung an internationale Diskurse bewerkstelligen zu können.²⁹
Kuhn, Helmut: Liebe. Geschichte eines Begriffs. München: Kösel 1975. S. 15. Auch der Theologe und Schriftsteller Helmut Gollwitzer äußerte sich zur semantischen Dehnbarkeit der Liebe: „Ist es nicht groß und gut, daß die Sprache nur ein Wort hat für alles,vom Frömmsten bis zum FleischlichBegierigsten, was man darunter verstehen kann? Liebe kann nicht unkörperlich sein in der äußersten Frömmigkeit und nicht unfromm in der äußersten Fleischlichkeit, sie ist immer sie selbst.“ Gollwitzer, Helmut: Das Hohelied der Liebe. München: Kaiser 1978. S. 47. Vgl. Garhammer, Erich u. Georg Langenhorst (Hrsg.): Schreiben ist Totenerweckung. Theologie und Literatur. Würzburg: Echter 2005. S. 178.
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Einleitung
Insofern als die Arbeit noch dazu einen Themenkomplex aufgreift, der dem Theologen Karl-Josef Kuschel zufolge „dringend aufgearbeitet werden müsste“³⁰, strebt sie ein in gleich zweifacher Hinsicht lohnendes Projekt für den interdisziplinären Austausch an. Indem sie – und dieses Ziel sei abschließend noch einmal auf den Punkt gebracht – die Sichtbarmachung einer modellhaft³¹-erzählerisch entwickelten Ethik der Liebe im Schaffen des Schriftstellers bezweckt, will sie die auf diesem Gebiet noch aufklaffenden Forschungslücken schließen. Mit den ins Spiel gebrachten Desiderata soll übergeleitet werden zu den bis dato von der literaturwissenschaftlichen Forschung erschlossenen Pfaden im Werk Albert Cohens sowie zur präzisen Erkundung all jener, die noch weitgehend unerforscht sind und denen mithin unser Augenmerk gebührt.
„Dringend aufgearbeitet werden müsste das ganze Feld der Erfahrung von Eros, Sexualität und Liebe oder von Polarität und Antagonismus der Geschlechter.“ Kuschel, Karl-Josef: Literatur und Theologie als gegenseitige Herausforderung. Bilanz, Ertrag, Entwicklung 1984– 2004. In: Garhammer, Langenhorst (Hrsg.), Schreiben, S. 19 – 42, hier S. 25. Zum Modellbegriff im Zusammenhang von Ethik und Literatur vgl. Kapitel I.2 zu „Theologie und Literatur“.
1 Vorüberlegungen 1.1 Albert Cohen: Stand der Forschung und Desiderata Eine Beobachtung der 1949 in Ost-Berlin geborenen jüdischen Schriftstellerin Barbara Honigmann bringt es auf den Punkt: „[A]lle Werke Cohens [stehen] als Taschenbücher in den französischen Buchhandlungen und auch in den Regalen meiner hiesigen Freunde, das habe ich nachgeprüft. […] Unter meinen zahlreichen deutschsprachigen Freunden und Bekannten dagegen kennen ihn nur wenige, oft haben sie nicht einmal seinen Namen gehört.“¹ Honigmanns differenziertes Urteil stellt – wenn auch begrenzt auf das persönliche Umfeld der Autorin – nicht nur ein getreues Abbild der auf binationaler Ebene zu konstatierenden Schieflage dar. Nein, darüber hinaus spiegelt es mutatis mutandis jene frappanten Diskrepanzen wider, die bei einem deutsch-französischen Forschungsvergleich mit aller Deutlichkeit hervortreten. Denn während im Nachbarland Frankreich die Forschungsliteratur zum Werk des jüdischen Romanciers bis dato ein beachtliches Ausmaß erreicht hat, das sich hier einer erschöpfenden Bestandsaufnahme versperrt, stoßen die Texte des „großen Vergessenen aller Schweizer Schriftsteller“² im deutschsprachigen Forschungsraum auf eine erschreckend verhaltene Resonanz. Richten wir daher den Blick zunächst nach Frankreich,wo das Forschungsinteresse an dem mit der Jahrhundertwende nach Marseille emigrierenden Albert Cohen zwar ungleich intensiver ist, dieser verstärkten literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Trotz aber erst relativ spät – fast zeitgleich mit dem Tod des Schriftstellers – erste umfangreiche wissenschaftliche Früchte trug. Das spezifische Profil der seit den frühen 1980er Jahren das Schaffen des jüdischen Autors einer nuancierten Analyse unterziehenden Cohen-Forschung sowie die wichtigsten Wegmarken dieser Chronologie seien nachstehend skizziert. Dem Werben der Journalisten um einen Einblick in die fast schon mythenumwobene Vita des zeitlebens äußerst zurückgezogen, ja weltabgewandt wirkenden Schriftstellers tat Albert Cohen am 23. Dezember des Jahres 1977 Genüge: An jenem Tag empfing der Autor, mondän-leger gehüllt in den für Albert Cohens Künstlerschaft legendär gewordenen Morgenmantel, in seinem Genfer Domizil Bernard Pivot, den Moderator der im zweiten französischen Fernsehen allwö-
Honigmann, Barbara: Albert Cohen. Eine Hommage. In: Das Gesicht wiederfinden. Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum. München,Wien: Carl Hanser 2006. S. 113 – 131, hier S. 115. So Stefan Zweifel, der ehemalige Moderator des Literaturclubs über Albert Cohen in der am 16. Oktober 2012 im Schweizer Fernsehen ausgestrahlten Diskussionsrunde, zu der Elke Heidenreich, Hildegard Elisabeth Keller und Rüdiger Safranski geladen waren. DOI 10.1515/9783110526103-002
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chentlich zu sehenden Literaturdebatte Apostrophes – ein Format, das in jenen Tagen zur wohl populärsten Kultursendung Frankreichs, und dies nicht nur unter einem literarisch versierten Publikum, avanciert war. Zwei Jahre später, Albert Cohen war jüngst von einer prekären Phase der physischen und psychischen Gebrochenheit genesen, folgten weitere Interviews in Presse, Rundfunk und Fernsehen³ – öffentliche Auftritte, von denen wir vermuten dürfen, dass Cohen sie mit schalkhaftem Interesse zum Anlass nahm, die Grenzen zwischen Autor, Erzähler und Romanfigur derart zu verwischen, „daß dem Leser ein autobiografischer Pakt mit dem gegen Ende seines Lebens die Massenmedien zunehmend für seine Zwecke instrumentalisierenden Autor förmlich aufgezwungen wurde.“⁴ In ihrer 1990 dem verstorbenen Schriftstellergatten gewidmeten Biografie widerspricht Bella Cohen indes jenen ihrer Ansicht nach realitätsverzerrenden Befunden, die in Albert Cohens medienwirksamen Auftritt bei Pivot einen abrupt einsetzenden Gesinnungswandel des Solitärs zu erkennen glaubten.⁵ Nichtsdestotrotz hat mit Christel Peyrefitte, Autorin des kritischen Apparats der PléiadeAusgabe von Belle du Seigneur, als gesichert zu gelten, dass von jenem Zeitpunkt an, da Albert Cohens Präsenz in den französischen Medien sprunghaft anstieg, die öffentliche Wahrnehmung des jüdischen Romanciers ebenso spürbar wie nachhaltig changierte.⁶ Der mit Cohens Tod rasch weiter anwachsende Ruhm des Autors wurde mit dem im Jahr 1986 statthabenden Eingang des Bestsellers Belle du Seigneur in die renommierte Bibliothèque de la Pléiade des Verlagshauses Gallimard besiegelt. Weitere sieben Jahre vergingen und der Großteil von Cohens Le-
Vgl. Peyrefitte, Christel: Chronologie de la vie et de l’œuvre d’Albert Cohen. In: Cohen, Belle du Seigneur, S. XLIII–LXX, hier S. CVf. Ette, Ottmar: Albert Cohen: ‚Jour de mes dix ans‘: Räume und Bewegungen interkultureller Begegnung. In: Dulce et decorum est philologiam colere. Festschrift für Dietrich Briesemeister zu seinem 65. Geburtstag. Bd. 2. Hrsg. von Sybille Große u. Axel Schönberger. Berlin: Domus Editoria Europaea 1999. S. 1295 – 1322, hier S. 1303. Vgl. Cohen, Bella: Autour d’Albert Cohen. Paris: Gallimard 1990. S. 129 – 136. Vergessen wir allerdings auch nicht, dass die von Bella Cohen als unfehlbares Referenzwerk lobend erwähnte Pléiade-Ausgabe aus dem Jahr 1986 (vgl. ebd., S. 12) von der Cohen-Forschung aufgrund ihrer Mängel mehrfach gerügt wurde. Auch der zweite Band, erschienen 1993, hielt den wissenschaftlichen Ansprüchen der Forschung nicht stand. Hinsichtlich der formalen Defizite beider Bücher ist auf den Überblick von Jérôme Cabot zu verweisen: Des couacs sur papier bible. Italiques et guillemets dans l’édition Pléiade des romans d’Albert Cohen. In:1905 – 2005: Retour sur ‚Ô vous, frères humains‘. Cahiers Albert Cohen 15 (2005). S. 175 – 183. Scharfe inhaltliche Kritik übte Philippe Zard: Cohen en Pléiade. In: Albert Cohen: Visions du sacré. Cahiers Albert Cohen 4 (1994). S. 137– 141. Weitere Spuren dieser Beanstandung finden sich bei: Valbert, Gérard: Conversations avec Albert Cohen. Lausanne: L’Age d’Homme 2006. S. 11. Vgl. Peyrefitte, Chronologie, S. CVI.
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benswerk folgte dem 1968 mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française auf angemessene Weise gewürdigten Roman in die namhafte Reihe. Als direkte Replik auf diese rezeptionsgeschichtlich bedeutsamen Ehren nahm die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten des nunmehr für jedermann sichtbar kanonisierten Schriftstellers an Fahrt auf – eine vorwärtsstrebende Entwicklung, deren Grundstein bereits 1982 von Denise Goitein-Galpérin mit ihrer psychoanalytisch ausgerichteten Pioniermonografie zu Albert Cohen gelegt worden war.⁷ Mit einem ersten schon 1975 publizierten Aufsatz hatte sich die Philologin als profunde Kennerin des Cohenschen Œuvre ausgewiesen.⁸ In ihrer Monografie rekurriert die Verfasserin auf die von Freud zu Zwecken der Psychoanalyse wissenschaftlich verwertbar gemachte Kategorie des Traums, um das entzweite Innenleben der Romanfigur Solal auf seine gegenstrebigen Wünsche und Sehnsüchte hin zu befragen. Die auf diese Weise bei Goitein-Galpérin rekonstruierte Traumwelt steht ganz im Zeichen der von Paradoxien durchzogenen Heldenpsyche, gespalten in zueinander scheinbar unversöhnlich in Widerstreit stehende jüdische und nicht-jüdische Fantasmen. Fast scheint es, als reproduziere dieser auf das Traumerleben projizierte innere Grundkonflikt jenen grundsätzlichen Zwiespalt, mit dem sich der psychoanalytische Diskurs selbst um die Jahrhundertwende konfrontiert sah: Eingekeilt zwischen dem hehren Ziel, eine allgemeingültige Wissenschaftssprache entwickelt zu haben, und dem Vorwurf, diese sei nichts als die Sprache der Juden in neuer Verkleidung, hatte sich Freuds Lehre sowohl in den Humanwissenschaften als auch vor ihrem Erfinder selbst auf schwierigem Terrain zu behaupten.⁹ Wertvoll ergänzt wird Goitein-Galpérins Untersuchung durch Auszüge aus der privaten Korrespondenz der Verfasserin mit dem die Werkgenese wohlgesinnt verfolgenden Autor. Mit ihrer psychoanalytisch orientierten Vorreiterstudie brachte Goitein-Galpérin einen methodologischen Ansatz in die Cohen-Forschung ein, der in nachfolgenden Studien wiederholt aufgegriffen und auf andere Teilaspekte des Œuvre appliziert wurde. Beispielhaft genannt sei in diesem Zusammenhang die im Jahr 1999 von Véronique Duprey unter dem Titel Albert Cohen. Les instances parentales dans l’œuvre d’Albert Cohen ¹⁰ vorgelegte Analyse, bei der schon die Namensgebung Rückschlüsse auf den
Goitein-Galpérin, Denise R.:Visage de mon peuple. Essai sur Albert Cohen. Paris: Librairie A.-G. Nizet 1982. Dies.: Albert Cohen: la naissance du juif poète. In: Les Nouveaux Cahiers 42 (1975). S. 62– 71. Vgl. Gilman, Sander L.: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Aus dem Amerikanischen von Isabella König. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 1993. S. 165 f. Duprey, Véronique: Les instances parentales dans l’œuvre d’Albert Cohen. Paris: Editions SEDES-Département des Editions Nathan 1997.
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Freudschen Einfluss zulässt: Unter dem auf die Ebene der Abstraktion verweisenden Schlagwort der „Instanz“ ordnet die Verfasserin die Texte des Schriftstellers nach jenen dem väterlichen Prinzip einerseits und dem mütterlichen Prinzip andererseits gehorchenden Textmerkmalen, die sie in der inhaltlichen und formalen Ausrichtung des Werks auf je eigene Weise realisiert sieht.¹¹ Unter den theoretischen Prämissen der von Charles Mauron (1899 – 1966) entwickelten mythobiographie durchleuchtet Evelyne Lewy-Bertaut das Gesamtschaffen des Autors. In ihrer 2001 erschienenen Studie greift die Autorin Maurons psychoanalytisch grundierte Textarbeit auf, um von repetitiven Grundmustern im Cohenschen Œuvre auf eine den Schreibprozess unbewusst lenkende psychische Verfasstheit des Autors, von Mauron „mythe personnel“ genannt, zu schließen: „Le mythe personnel décrit une configuration psychique saisie dans ses incarnations à travers le corps de l’œuvre, les ‚grand gestes‘, les schèmes inconscients ou préconscients qui la travaillent et l’irriguent.“¹² Obschon die genannten Autorinnen die psychoanalytisch geleitete Werkinterpretation als erkenntnisversprechendes Analyseinstrument heranziehen, sehen alle drei Studien von methodologisch einlinigen Betrachtungen ab. Der schon allein aufgrund Albert Cohens künstlerischem Selbstverständnisses relevanten Frage nach der Stellung des Judentums in den Texten des Autors schenken sie hinreichend Beachtung, wohl aber legt Duprey das exegetische Augenmerk auf die Gefahr einer Verabsolutierung des Judentums zu Ungunsten des ästhetischen Selbstwerts:¹³ „En prêtant à Albert Cohen de façon prioritaire le statut d’auteur juif, témoin de son peuple, la critique n’a t-elle pas quelque peu négligé la valeur de l’homme de lettre?“¹⁴ Stimmen wie jene Dupreys, die vor einer derart verkürzenden Werkrezeption warnten, wurden
Ebd., vgl. S. 35 f. Lewy-Bertaut: Albert Cohen mythobiographe. Grenoble: ELLUG 2001. S. 8 (Fußnote 3). Und auch Catherine Milkovitch-Rioux behandelt in ihrem thematisch weitläufigen Dissertationsprojekt streckenweise die Rekonstruktion des persönlichen Mythos des Autors: Milkovitch-Rioux, Catherine: L’univers mythique d’Albert Cohen. Personnage, décors et mise en scène. Lille: Atelier national de reproduction de thèses 1995. Diesen unterstreicht ausdrücklich die unter dezidiert stilistisch-narratologischen Kriterien erarbeitete Studie von Claire Stolz: La polyphonie dans ‚Belle du Seigneur‘ d’Albert Cohen. Pour une approche sémiostylistique. Paris: Honoré Champion 1998. Wie Stolz legt auch Robert Elbaz den Schwerpunkt auf die formalen Besonderheiten im Werk Albert Cohens: Albert Cohen ou la pléthore du discours narratif. Paris: Editions Publisud 2000. Als Träger ideologischen Sinns untersucht Bertrand Goergen die rhetorischen Figuren bei Cohen, dargeboten vor dem theoretischen Hintergrund der Bachtinschen Dialogizität: Goergen, Bertrand: Dialogues et dialogismes dans l’œuvre d’Albert Cohen. Lille: Presses universitaires du Septentrion 1997. Duprey, Instances parentales, S. 7.
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zwar vermehrt hörbar,¹⁵ doch hat wohl kaum ein Interpret je auf einen Cohens jüdische Herkunft in Gänze ausklammernden Werkzugang verzichten können. Was die Forschungsliteratur zu Albert Cohen im Allgemeinen und den Themenkomplex des Religiösen im Besonderen betrifft, ist die 1999 unter dem Titel Le goût de l’absolu. L’enjeu sacré de la littérature dans l’œuvre d’Albert Cohen ¹⁶ veröffentlichte Monografie des Philologen Alain Schaffner von herausragender Bedeutung, weshalb sie besonderer Erwähnung bedarf. Ihren hohen Erkenntniswert bezieht die der Cohen-Forschung bis in die Gegenwart hinein als Referenzwerk dienende Studie aus einem zweifachen Verdienst: Einerseits unterzieht Schaffner Albert Cohens Texte einer polyvalent angelegten Sichtung, die nicht nur nach psychoanalytischen oder jüdisch-religiösen Deutungsmustern ausgelegt ist, sondern darüber hinaus zahlreichen mythologischen und kulturhistorischen Spuren im Werk des Schriftstellers nachgeht. Erstmals in die thematisch eindrucksvoll breit aufgefächerte Auswertung miteinbezogen werden andererseits sämtliche Texte des Autors – darunter auch jene, die Cohen in den frühen 1920er Jahren oder während des Zweiten Weltkriegs niederschrieb und die bis dato keine oder nur wenig Beachtung fanden. Eine derartige Vielschichtigkeit der Bezüge,wie Schaffner sie ebenso akribisch wie lückenlos in einer multiperspektivischen Zusammenschau aufdeckt, darf sich damit an jener komplexen Fülle messen, durch die das literarische Schaffen des Künstlers selbst brilliert: „Le dernier enjeu“, so lesen wir bei Schaffner, „qu’Albert Cohen assigne à son œuvre est d’être une Somme où la diversité du monde puisse se lire à travers l’unité d’un livre.“¹⁷ Folgt man dem von Schaffner gelegten hermeneutischen Faden, so entlädt sich die Albert Cohens Texte leitmotivisch strukturierende Frage nach dem Religiösen stets in der Dialektik von Glauben und Unglauben, von Profanem und Säkularem, von Judentum und Atheismus. Diese Paradoxien, bezeichnenderweise gebündelt unter der für die Studie titelgebenden Devise Le goût de l’absolu, fänden sich, so
Dementsprechend heißt es bei Hubert Nyssen: „[L]’œuvre de Cohen dépasse très largement le cadre d’un unique engagement ethno-confessionnel auquel de trop zélés ont voulu le ramener. La judéité constitue ici l’une des données du romanesque mais, pour importantes qu’en soient les dimensions, rien ne justifie que la saga de Solal soit réduite au fait d’un roman à thèse.“ Nyssen, Hubert: Lectures d’Albert Cohen. Avignon, Le Paradou: Alain Barthélemy & Actes Sud 1981. S. 37. Dem fügt Jérôme Cabot hinzu: „[E]elle [l’identité juive de l’auteur] survalorise l’analyse symbolique et la structuration duelle qui la sous-tend; elle redouble les déclarations programmatiques de l’auteur au détriment de la composition de l’œuvre, de fait nettement plus complexe.“ Cabot, Jérôme: Utopie versus identité. In: Ecriture et identité dans l’œuvre d’Albert Cohen. Hommages à Norman David Thau. Cahiers Albert Cohen 16 (2006). S. 15 – 30, hier S. 15 f. Schaffner, Alain: Le goût de l’absolu. L’enjeu sacré de la littérature dans l’œuvre d’Albert Cohen. Paris: Champion 1999. Ebd., S. 392.
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Schaffner, im Werk des Autors in komplexer Vielfalt wieder.¹⁸ Ebenfalls in die Thematik der Suchbewegung schreibt sich die 1996 von Carole Auroy unter dem Titel Albert Cohen. Une quête solaire vorgelegte Untersuchung ein.¹⁹ Zu den profilierten Cohen-Spezialisten zählt weiterhin Philippe Zard, der in seiner 1999 publizierten, komparatistisch angelegten Studie das Schreiben von Albert Cohen, Franz Kafka und Thomas Mann auf den prosaisch ausgestalteten Mythos des Okzidents hin durchleuchtet.²⁰ Vergleichend vorgehende Studien wie diese stellen für die Cohen-Forschung generell ein reizvolles Unterfangen dar, ohne dass dadurch Gefahr bestünde, dem originellen Eigenwert des Cohenschen Œuvre Abbruch zu tun. In die geistige Nähe ausgewählter deutsch- und französischsprachiger jüdischer Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückt Norman David Thau das Schaffen des Romanciers, indem er sich mit fiktional entworfenen identitären Selbstentwürfen auseinandersetzt.²¹ Ebenfalls unter der thematischen Schwerpunktsetzung jüdischer Identitätsbildung beschäftigt sich Clara Lévys Studie aus dem Jahr 1998 mit der neu zu erfindenden Literatursprache jüdischfranzösischer Schriftsteller nach der Shoah.²² Einen gänzlich anderen Zugang zu Albert Cohen bahnt sich Marie-Joseph Lhote, indem sie die literarische Figur des Verführers in den Werken von Autoren unterschiedlicher Generationen und Herkünfte in den Blick nimmt.²³ Das Humoreske in Texten von Albert Cohen, Marcel Aymé und Raymond Queneau erforscht wiederum Mathieu Belisle.²⁴ In ihrer Untersuchung L’écrivain juif et les Evangiles fokussiert die Judaistin Bluma Finkelstein die verschiedenen Formen der literarischen Jesus-Rezeptionen in den Werken französisch-jüdischer Autoren.²⁵ Mit drei der benannten komparatistisch ausgerichteten Publikationen ist zwar schon der Sprung ins neue Jahrtausend
Ziel der Analyse sei zu zeigen, „que la dialectique entre croyance et incroyance, ici baptisée ‚goût de l’absolu‘, est le fil conducteur de toute l’œuvre.“ Schaffner, Le goût, S. 10. Auroy, Carole: Albert Cohen. Une quête solaire. Paris: Presses de l’Université de Paris-Sorbonne 1996. Zard, Philippe: La fiction de l’Occident: Thomas Mann, Franz Kafka, Albert Cohen. Paris: Presses Universitaires de France 1999. Thau, Norman David: Romans de l’impossible identité. Etre Juif en Europe occidentale (1918 – 1940). Bern [u.a]: Peter Lang SA 2001. Lévy, Clara: Ecritures de l’identité. Les écrivains juifs après la Shoa. Paris: Presses Universitaires de France 1998. Lhote, Marie-Josephe: Figures du héros et séduction. Le séducteur vu par Hofmannsthal, Paul Valéry, Thomas Mann, Albert Cohen, Max Frisch. Paris [u. a.]: L’Harmattan 2001. Belisle, Mathieu: Le Drôle de roman. L’œuvre du rire chez Marcel Aymé, Albert Cohen et Raymond Queneau. Montréal: Les Presses de l’Université de Montréal 2010. Finkelstein, Bluma: L’écrivain juif et les Evangiles. Paris: Beauchesne 1991.
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vollzogen, doch blenden wir einen Moment zurück in die späten 1980er Jahre, in jene Zeit, als die Cohen-Forschung mit dem Atelier Albert Cohen um einen entscheidenden institutionellen Impuls bereichert wurde. Seit ihrer Gründung im Jahr 1988 trägt die in Paris ansässige Forschungsgruppe maßgeblich dazu bei, den nunmehr auf eine solide wissenschaftliche Basis gestellten Dialog um Leben und Werk des jüdischen Schriftstellers konsequent zu forcieren. In der gewissenhaft aktualisierten Internetpräsenz des Atelier wird die Dynamik eines Forschungszirkels sichtbar, der – anstatt das berühmt-berüchtigte Negativbild vom universitären Elfenbeinturm zu nähren – auch bewusst nicht-akademische Akzente setzt.²⁶ Unter wechselnden Themenmotti veröffentlicht das Atelier seit 1991 seine eigene Schriftenreihe, die Cahiers d’Albert Cohen. Diesen alljährlich erscheinenden Bänden, seit 2006 verlegt von den Editions Le Manuscrit, ist es hauptsächlich zu schulden, dass die ohnehin schon beachtliche Masse an bis dato Albert Cohen gewidmeten Einzelaufsätzen kontinuierlich weiter wächst. In regelmäßigen Intervallen stellen die Cahiers die Grundlage für einen regen wissenschaftlichen Austausch bereit, der mit Blick auf das Gesamtschaffen des Autors kaum einen Untersuchungsgegenstand brach liegen lässt. Obzwar angesichts der darin Ausdruck findenden Themenbreite inhaltliche Überschneidungen mit bereits in Einzelstudien behandelten Fragestellungen nicht immer unvermeidbar sind, ragen doch immer wieder Aufsätze mit erstaunlichen Befunden und dem wissenschaftlichen Meritum hervor, neue Forschungswege freizulegen. Eigene Maßstäbe etwa setzt die dem Geschichtsbild bei Cohen nachspürende Catherine MilkovitchRioux, wenn sie das von Fernand Braudel geprägte Konzept der longue durée, entwickelt Anfang der 1940er Jahre in Abgrenzung zu der in jenen Jahren die Geschichtswissenschaft beherrschenden Ereignisgeschichte,²⁷ in einen klugen Bezug zur Darstellung der Historie in der Cohenschen Prosa setzt.²⁸ Erstmalig priorisiert Isabelle Enderlein die Frage nach den intertextuellen Verbindungslinien zwischen den Werken der beiden Sephardim Albert Cohen und Elias Canetti – zwei Autoren, die aus der Distanz des Exils die Shoah miterleben mussten.²⁹ Umfassend hingewiesen wird dort auf eine erfreuliche Vielzahl an kulturellen Veranstaltungen wie literarische Lesungen, Theatervorführungen oder musikalische Inszenierungen, die dem Werk des Schriftstellers ein kreatives Fort- und Eigenleben ermöglichen. Vgl. Braudel, Fernand: Ecrits sur l’histoire. Paris: Flammarion 1969. Milkovitch-Rioux, Catherine: Visions de l’Histoire. In: Albert Cohen face à l’histoire. Cahiers Albert Cohen 9 (1999). S. 33 – 54. Enderlein, Isabelle: Le deuil de l’origine orientale? L’écriture d’un dilemme identitaire chez A. Cohen et E. Canetti. In: Ecriture et identité. Cahiers Albert Cohen 16 (2006). S. 41– 66. 2012 erschien Enderleins Promotionsschrift zu den genannten Autoren: Visages de l’homme – Territoires de la judéité, Mémoire de l’histoire et recomposition de l’identité juive dans les œuvres d’après guerre d’Albert Cohen et Elias Canetti. Berlin [u. a.]: Lang 2012.
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Bislang nicht in Betracht gezogene Parallelen zieht Alison Boulanger zwischen dem Œuvre Albert Cohens und dem von James Joyce.³⁰ Neu beleuchtet Schaffner die legitime Frage nach der ideologischen Prägung des 18. Jahrhunderts auf das Werk des Schriftstellers – jener Epoche der Menschen- und Bürgerrechte, die der Verfasser als Scharnier der Versöhnung zwischen dem Geist des jüdischen Monotheismus, „le temps sacré“, und der Brutalität der Judenverfolgungen des „temps profane“ typisiert.³¹ Maurice Lugassy konfrontiert den Leser mit der Hypothese, ob und inwieweit der an der ersten Ausgabe von Cohens La Revue juive kooperierende Konvertit Max Jacob dem jüdischen Autor die Bekehrung zum Katholizismus ans Herz gelegt haben könnte.³² Nachdem die Albert-Cohen-Forschung im Anschluss an die noch vergleichsweise gedämpften Anfänge der 1980er Jahre in der folgenden Dekade spürbar an Elan gewinnen konnte, setzt sich dieser Aufwärtstrend mit der Jahrtausendwende weiter fort. Wie fruchtbar eine Analyse der Beziehungen von Cohens Fiktionen zur Hebräischen Bibel sein kann, zeigt Jack Abecassis 2004 in seiner von den biblischen Protagonisten Joseph und Esther her inspirierten Auseinandersetzung mit der Romanfigur Solal.³³ Die erneute Annäherung an den biblischen Subtext sucht Maxime Decouts im Jahr 2011 veröffentlichte CohenMonografie: Seine die Texte des Schriftstellers unter dem Schlagwort der judéographie subsumierende Untersuchung verortet sich über weite Passagen im Kontext des Dekalogs, „socle éthique dans l’univers de Cohen.“³⁴ Einem zweiten monografischen Projekt verschreibt sich Schaffner mit der im Jahr 2013 Veröffentlichung findenden Publikation Albert Cohen. Le grandiose et le dérisoire ³⁵ – eine synthetisierende Gesamtdarstellung, die sich als kompakte Bündelung der über zwanzigjährigen Forschungsarbeit des Verfassers zu Albert Cohen versteht und die das für das Werk des Autors strukturbildende Kriterium der Ambivalenz, „la tension entre la grandeur sacrée du judaïsme et l’aspect dérisoire ou grotesque
Boulanger, Alison: Code, transmission et répétition: Joyce et Cohen. In: Visages d’Albert Cohen. Mélanges offerts à Denise Rachel Goitein-Galpérin. Cahiers Albert Cohen 13 (2003). S. 165 – 184. Schaffner, Alain: Un combat pour les valeurs: Albert Cohen et le XVIIIe siècle. In: Visages, S. 51– 67, hier S. 57. Lugassy, Maurice: Albert Cohen: la tentation du Christ. In: Figures de l’étranger. Cahiers Albert Cohen 21 (2011). S. 67– 78. Abecassis, Jack I.: Albert Cohen. Dissonant Voices. Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press 2004. Abecassis’ in englischer Sprache erschienene Studie sei hier als Beitrag zur französischsprachigen Forschung zitiert, da der US-amerikanische Philologe für die Cahiers d’Albert Cohen in Folge wiederholt auf Französisch publizierte. Decout, Maxime: Albert Cohen: les fictions de la judéité. Paris: Classiques Garnier 2011. S. 17. Schaffner, Alain: Albert Cohen. Le grandiose et le dérisoire. Genève: Editions Zoé 2013.
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qui y est attach铳⁶, schon wirkungsvoll im Titel anzeigt. Ergänzt wird die unter der institutionellen Obhut des Atelier Albert Cohen systematisch koordinierte AlbertCohen-Forschung seit 2011 durch themenspezifische Kolloquien, die zusätzlich als Tagungsband dokumentiert sind.³⁷ An der Seite der zitierten Aufsätze und Detailstudien der vergangenen 30 Jahre darf die von Schaffner erstellte bibliografische Überblicksdarstellung nicht fehlen. Rubriziert nach fünf thematischen Schwerpunkten gibt das Werk eine hilfreiche Orientierung über die zu Albert Cohen, wenn auch nur bis 1995, erschienene Sekundärliteratur.³⁸ Mit den von Cohens Tochter Myriam und seiner dritten Gattin Bella angefertigten Biografien liegen drei weitere für die wissenschaftliche Arbeit unentbehrliche Werke vor.³⁹ Für ihr 1991 erschienenes Buch, Albert Cohen. Mythe et réalité, erhebt die Witwe des Schriftstellers den Anspruch, eine korrigierende Gegendarstellung zu all jenen Publikationen verfasst zu haben, welche die Werk- und Lebensgeschichte des Autors unvorteilhaft verfälscht hätten. Dieser Kritik zum Trotz lohnt das von Autoren wie Gérard Valbert und Jean Blot zusammengetragene biografische Hintergrundmaterial allemal die Lektüre.⁴⁰ Mit der im französischen Kino während des Sommers 2013 nur für kurze Zeit zu sehenden Verfilmung von Belle du Seigneur wurde bedauerlicherweise die einmalige Chance verfehlt, Cohens Erfolgsroman bei einem internationalen Publikum bekannt zu machen.⁴¹ Der Bogen nach Deutschland wurde bereits mit dem einleitenden Honigmann-Zitat gespannt. Anders als in Frankreich stoßen die Texte des jüdischen Romanciers diesseits des Rheins auf ein ungleich schmäleres wissenschaftliches Interesse. Dass Albert Cohen hierzulande von Lesern und Literaturwissenschaftlern gleichermaßen sträflich vernachlässigt wird, verwundert schon allein insofern, als das Gros des Cohenschen Œuvre noch zu Lebzeiten des Autors in
Ebd., S. 43. La géographie imaginaire d’Albert Cohen. Cahiers Albert Cohen 23 (2013); Retour sur Mangeclous. Cahiers Albert Cohen 22 (2012); Figures de l’étranger. Cahiers Albert Cohen 21 (2011). Schaffner, Alain: Albert Cohen. Bibliographie des écrivains français. Paris, Rom: Memini 1995. Champigny Cohen, Myriam: ‚Le livre de mon père‘ suivi de ‚Les lettres de ma mère‘. Arles: Actes sud 1996. Cohen, Bella: Albert Cohen. Mythe et réalité. Paris: Gallimard 1991. Dies.: Autour d’Albert Cohen. Blot, Albert Cohen;Valbert, Conversations; ders.: Albert Cohen ou le pouvoir de vie. Lausanne: L’Âge d’Homme 1981. Franck, Médioni: Albert Cohen. Paris: Gallimard 2007. Regisseur Glenio Bonder, der die Adaptionsrechte nach zähen Verhandlungen schon 1999 erhalten hatte, verstarb noch während der Dreharbeiten im November 2011. In der Presse erntete der Film mit Natalia Vodianova und Jonathan Rhys Meyers in den Hauptrollen ausschließlich negative Kritiken.
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deutscher Übersetzung zur Verfügung stand.⁴² Mehr noch: Als regelrechtes zeitgeschichtliches Kuriosum präsentierte sich die 1932 im Drei Masken Verlag herausgegebene deutsche Übersetzung von Albert Cohens Debütroman Solal,⁴³ auch wenn das Werk nur wenig später der nationalsozialistischen Kulturpolitik zum Opfer fiel und vom Buchmarkt ebenso rasch und unvermutet verschwand wie es dort erschienen war.⁴⁴ Wohl als Reaktion auf die im Jahr 2012 überraschend von Klett-Cotta herausgegebene, grundlegend neu überarbeitete Übersetzung von Die Schöne des Herrn durch Michael von Killisch-Horn wird der Name Albert Cohen nach einer langen Zeit des Schweigens in der deutschen Presse endlich wieder wahrgenommen.⁴⁵ In einer Rezension für Die Welt wagt der Schriftsteller und Proust-Übersetzer Michael Kleeberg eine Erklärung für die bei Honigmann beschriebene Unkenntnis der deutschen Leserschaft über das Werk eines rätselhaft in Vergessenheit geratenen Autors: Es gibt – und vielleicht ist es genau diese Eigenschaft, die den deutschen Lesern und Kritikern den Zugang zu Cohen erschwert – absolut nichts, was dieser Künstler sich scheuen würde auszu-drücken, keine Regung des Menschlichen, der er mit Schweigen oder Auslassungen begegnen würde. Seine Sprachpalette ist unerschöpflich: höchstes Pathos und schwärzeste Komik, mit Salomons Hohelied konkurrierender lyrischer Überschwang und derbste Alltagssprache, Elegie und Kracher, Erhabenheit und Zynismus – all das fließt ineinander,
1971 erscheint Das Buch meiner Mutter bei Kurt Desch, 1984 legt Klett-Cotta den Roman neu auf. Ein ansprechend aufgemachtes Exemplar, komplettiert durch ein Nachwort von Barbara Honigmann, wird 2014 durch den Hanser Verlag nachgereicht. 1983 erfolgt bei Klett-Cotta die Erstveröffentlichung von Die Schöne des Herrn, 1989 erscheint das Buch bei dtv. In neuer Auflage erscheint Die Schöne des Herrn, wieder bei Klett-Cotta, 2012 dank einer gründlichen Überarbeitung von Helmut Kossodos Übersetzung durch Michael von Killisch-Horn. Eisenbeißer wird 1984 bei Klett-Cotta verlegt, nach weiteren fünf Jahren in der Taschenbuchversion. 1986 druckt der Verlag eine Neuauflage von Solal. Im selben Jahr veröffentlicht die Literaturzeitschrift Schreibheft in ihrer 26. Ausgabe die von Jürgen Ritte angefertigte Übersetzung von Albert Cohens Kurztext Projections ou Après-Minuit à Genève unter dem Titel: Lichtbilder. Nach-Mitternacht in Genf. Erst 2006 gibt Weidle Die Tapferen heraus. „L’éloge le plus révélateur est celui que l’on n’attend pas.“ Valbert, Gérard: Albert Cohen, le seigneur. Paris: Grasset 1990. S. 268. Ebd., S. 270. Zu den Pressestimmen auf die 1983 bei Klett-Cotta vorgelegte deutsche Übersetzung von Belle du Seigneur vgl. die gründliche Darstellung bei Hülk, Walburga: Der nie versiegende Quell. Liebe und Judentum bei Cohen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 11 (1987). S. 91– 118, hier S. 92 (Fußnote 3). 1986 druckte Die Zeit einen überaus lesenswerten Beitrag zu Albert Cohen aus der Feder von Walter van Rossum ab: Ein Königsweg der Literatur. Ein Porträt des französischen Romanciers Albert Cohen. Die Romane ‚Solal‘, ‚Eisenbeißer‘ und ‚Die Schöne des Herrn‘. In: Die Zeit 47 (14. November 1986). 2007 schrieb Michael Kleeberg einen ebenso bemerkenswerten Artikel zu Cohen für Die Welt: Cohens tadelloses Heulen, Brausen und Flöten. In: Die Welt (27. Januar 2007).
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übereinander, beißt sich, harmoniert, steigert sich – ich kenne keinen größeren Sprachzauberer als ihn.⁴⁶
Das bei Kleeberg implizit geltend gemachte Kriterium der Unübersetzbarkeit – abgeleitet von einer stilistischen Hybridität, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts beispiellos ist – muss bei der Suche nach möglichen Ursachen für die zögerliche Cohen-Rezeption im deutschen Sprachraum zweifellos in Betracht gezogen werden. Dieser Beobachtung schließt sich Andreas Isenschmid in einer Rezension für Die Zeit in gewisser Weise an, wenn er Killisch-Horn bescheinigt, er habe „Kossodos Übersetzung überzeugend poliert und verbessert.“⁴⁷ Ein weiterer Grund für die fehlende Beachtung Cohens mag darin liegen, dass die einzelnen Übersetzungen – abgesehen von der bereits zitierten, für Erstaunen sorgenden Ausnahme Solal – stets mit großer Verspätung in den deutschen Buchhandlungen eintrafen. Demgegenüber aber steht der relativierende Einwand, dass die ungewöhnliche Werkgeschichte des Schriftstellers von im Ausmaß vergleichbaren chronologischen Sprüngen durchzogen ist – von teils überaus langen Phasen schöpferischen Stillstands, die in Frankreich als ähnlich rezeptionserschwerend erfahren wurden.⁴⁸ Während das geringe Interesse des deutschen Lesers an Cohen noch auf die eine oder andere Weise begründbar sein mag, gibt die zurückhaltende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem jüdischen Autor im deutschsprachigen Raum Rätsel auf.⁴⁹ Verglichen mit den Werken anderer namhafter französischer Autoren der Moderne, die auch hierzulande reich erforscht sind, erstaunt der Befund, wie rigoros die deutschsprachige Romanistik Albert Cohen wie keinen anderen französischsprachigen Pléiade-Autoren meidet, doch ziemlich.⁵⁰ Konkret bedeutet das: Für den Gesamtbereich der deutschsprachigen
Kleeberg, Michael: Ein sephardischer Don Juan. In: Die Welt (11. August 2012). Isenschmid, Andreas: Es lebe Frankreich! Bitte dringend entdecken: Albert Cohens ‚Die Schöne des Herrn‘. In: Die Zeit (25. Mai 2013). Zu diesen in Cohens Werkgeschichte aufgestellten Hürden vgl. etwa Duprey: „La longue gestation de sa composition livresque [de l’œuvre cohénienne] peut permettre en premier lieu d’expliquer sa mise à l’écart de la vie littéraire de l’époque.“ Duprey, Instances parentales, S. 3. Ein ähnliches Stimmungsbild holt Abecassis für die Vereinigten Staaten ein: „Écrire sur Albert Cohen aux Etats-Unis est un pari solitaire: les spécialistes du vingtième siècle français le connaissent de nom, mais l’intègrent rarement dans leur séminaires […].“ Abecassis, Jack I.: Les Clous d’Albert Cohen. In: La violence dans l’œuvre d’Albert Cohen. Cahiers Albert Cohen 12 (2002). S. 9 – 32, hier S. 9. Diese Zurückhaltung mutet umso paradoxer an, als die Autoren eines literaturwissenschaftlichen Einführungswerks Albert Cohens Belle du Seigneur in ihren Lektürekanon für angehende Romanistinnen und Romanisten aufnahmen: Gröne, Maximilian u. Frank Reiser: Französische Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen: Narr 2007. S. 4.
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Forschung liegt bis dato eine einzige Monografie in Form eines Dissertationsprojekts vor: In ihrer dem Motiv der Heimatlosigkeit unterstellten Studie beschäftigt sich Ursula Maria Egyptien mit den literarischen Darstellungsmodi von Exil und Fremde bei Albert Cohen.⁵¹ Im Bewusstsein für das künstlerische Adaptionspotenzial des Picaros präsentiert Heide Pilarczyk im Jahr 2004 ihre vergleichende Analyse zur Figur des Narren bei Albert Cohen und Alfred Jarry.⁵² Beate Wolfsteiner fokussiert in ihren Untersuchungen zum französisch-jüdischen Roman nach dem Zweiten Weltkrieg ⁵³ unter Berücksichtigung der Werke Cohens den Fragenkomplex, nach welchen formalen und inhaltlichen Kriterien der französisch-jüdische Roman, begriffen als Subkategorie seines französischen Äquivalents, gattungstheoretisch zu definieren sei. Diesen drei umfangreichen Studien zur Seite stehen weitere Einzelbeiträge, die das Cohensche Œuvre unter weit voneinander divergierenden Schwerpunktsetzungen begutachten. Angeregt von der Frage, inwieweit die als defizitär erfahrene Identität des Juden in einer von Zerstörung und Vergänglichkeit her konzipierten Liebe abgebildet werde, analysiert Walburga Hülk das Romanschreiben des Schriftstellers.⁵⁴ Zwei Jahre vor Erscheinen dieses ersten ausführlichen deutschsprachigen Aufsatzes zu Albert Cohen legte bereits Jürgen Ritte eine die Lektüre lohnende Einführung in das Gesamtschaffen des Autors vor.⁵⁵ Ottmar Ette wiederum richtet sein Augenmerk auf jene spatialen Grundstrukturen und Bewegungsmuster im Werk des Literaten, die sich einem primär territorial orientierten Identitätsverständnis widersetzen und sich stattdessen zu einer komplexen Hybridität des Ich und der Kulturen bekennen,⁵⁶ wie sie auch von den jüngsten literaturwissenschaftlichen Debatten um das Kunstschaffen frankophoner Autorinnen und Autoren verfochten wird.⁵⁷ Der visuellen Vielgestaltigkeit der Stadtbilder im Schreiben Cohens geht Ette in
Egyptien, Ursula Maria: Die Heimatsuche eines Heimatlosen. Der Konflikt des Juden in der Diaspora untersucht am Beispiel von Leben und Werk Albert Cohens. Genf: Droz 2000. Pilarczyk, Heide: Der literarische Narr. Seine historische Entwicklung und moderne Adaptation in Alfred Jarrys ‚Faustroll‘ und Albert Cohens Solal-Zyklus. Münster: LIT 2004. Wolfsteiner, Beate: Untersuchungen zum französisch-jüdischen Roman nach dem Zweiten Weltkrieg. Tübingen: Max Niemeyer 2003. S. 332– 347. Hülk, Walburga: Der nie versiegende Quell. Liebe und Judentum bei Albert Cohen. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 11 (1987). S. 91– 118. Ritte, Jürgen: Dem Tod eine Pirouette drehen. Zum Werk Albert Cohens. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 435. S. 434– 439. Ette, Albert Cohen. Zum Konzept einer das Zentrum-Peripherie-Gefälle des traditionellen Francophonie-Diskurses aufhebenden littérature-monde vgl. Francis, Cécilia W. (Hrsg.): Trajectoires et dérivés de la littérature-monde. Poétiques de la relation et du divers dans les espaces francophones. Amsterdam, New York: Rodopi 2013.
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seiner 2001 erschienenen Publikation zur Literatur in Bewegung nach.⁵⁸ Anknüpfend an den raummetaphorischen Deutungsfokus des schon 1999 publizierten Aufsatzes wendet sich Ette im Auftaktband seiner auf das in den Literaturen der Welt komprimierte (Über)Lebenswissen hin ausgerichteten Trilogie erneut dem jüdischen Schriftsteller zu – dieses Mal als einem Autor, dessen Texte ein spatial vermitteltes Plädoyer für Toleranz entfalten, das anstelle eines Modus Vivendi des bloßen Duldens einen des aktiv gelebten Respekts einmahnt.⁵⁹ Unter zweierlei zueinander in Relation zu sehenden hermeneutischen Perspektiven – der des Topos Welttheater und jener der Ästhetisierung der Shoah – konzentriert sich Isabelle Enderlein auf Albert Cohens Belle du Seigneur. ⁶⁰ Im Rückgriff auf die einleitend zitierte Hommage Barbara Honigmanns auf Albert Cohen lässt sich schlussendlich der 2013 erschienene Beitrag von Susanne Zepp zum geistigen Verwandtschaftsverhältnis beider jüdischer Autoren zitieren.⁶¹ Halten wir als Zwischenbilanz zum wissenschaftlichen Dialog mit Albert Cohens Œuvre fest: Die sich in Frankreich zu Beginn der 1980er Jahre intensivierende Cohen-Forschung ist dort bis zum heutigen Tag produktiv und insbesondere dank dem das Wirken des Autors unter vielerlei Blickwinkeln studierenden Pariser Forschungszirkel fest etabliert. Größtenteils lassen sich die in den inhaltlich breit gestreuten Beiträgen anvisierten Themenschwerpunkte mithilfe jenes fünfgliedrigen Rasters eingruppieren, das Schaffner in seiner 1995 vorgelegten Bibliografie anlegte: „La Tradition littéraire“, „Judaisme, Sionisme“, „Orient et Occident“, „Amour, Femmes, Psychanalyse“ und „Comique, Etudes de Style.“⁶² Allerdings entziehen sich nicht wenige der voranstehenden Analysen den von Schaffner gezogenen Trennstrichen und damit einer eindeutigen Zuweisung. Gemessen an der Publikationsfülle steht zwar der wissenschaftliche Ertrag der deutschsprachigen Cohen-Forschung zum Nachbarn Frankreich in einem eklatanten Missverhältnis. Ungeachtet dieser im binationalen Vergleich deutlich
Ette, Ottmar: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Asien. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. S. 405 – 438. Vgl. ders.: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004. S. 261– 263. Enderlein, Isabelle: Das komische Theatrum Mundi und die allgegenwärtige Abwesenheit der Shoa in Albert Cohens ‚Belle du Seigneur‘. In: Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoa in der französischen Literatur nach 1945. Hrsg. von Silke Segler-Messner [u. a.]. Frankfurt/Main: Lang 2006. S. 307– 320. Zepp, Susanne: Romanform und Geschichtsdeutung. Barbara Honigmanns poetologischer Dialog mit Albert Cohen. In: Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge. Zum Werk Barbara Honigmanns. Hrsg. von Amir Eshel u. Yfaat Weiss. München, Paderborn: Wilhelm Fink 2013. S. 163 – 184. Vgl. Schaffner, Bibliographie.
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sichtbar werdenden quantitativen Differenzen aber regt das hierzulande Erforschte neue Diskussionen an, die aussichtsreiche Fortschreibungen ermöglichen. Eigenständige Impulse etwa gehen von Pilarczyks Untersuchung aus, die bislang kaum gesichtete Spuren in der Figurenanalyse offenlegt. Die Studie besticht durch ihr psychologisches Feingefühl, überzeugend unter Beweis gestellt bei der Portraitierung von Cohens Romanfigur Solal. Ihren klugen Reflexionen über den Entwicklungsprozess des Helden legt die Autorin eine psychologische Matrix zugrunde, die dem Prinzip des Selbstverschuldens eine elementare Bedeutung für das Scheitern der Liebe beimisst.⁶³ Grenzgängerinnen wie Isabelle Enderlein, die in beiden Sprachen publizieren, tragen schließlich zu einer besseren Vernetzung beider nationaler Binnendiskurse bei. Ettes Untersuchungen dagegen spannen einen von der französischsprachigen Cohen-Forschung bislang nur peripher gewürdigten Bogen, der – gestützt auf die Kopplung von Ethik und Ästhetik – zu einer lebenswissenschaftlichen⁶⁴ Wahrnehmung der Texte des Schriftstellers aufruft.Woran es bis dato allerdings noch fehlt, ist eine Monografie, die das Werk Albert Cohens im Prisma des Judentums einer ethisch orientierten Sichtung überantwortet. Dieser von der vorliegenden Arbeit intendierte Forschungsansatz wird im Folgekapitel zur Wechselbeziehung von Theologie und Literatur näher zu bestimmen sein. Wenngleich unter Forschern im Grundsatz Einigkeit über die Interdependenz von Liebe und Judentum im Werk des Schriftstellers besteht, wurde dieses komplexe Gefüge bislang nicht zu einer aus Albert Cohens Texten erschließbaren Ethik der Liebe und des Zusammenlebens in Relation gesetzt. Im benannten Beitrag von Hülk etwa, der darzulegen sucht, „wie sich Liebe und Judentum bei Cohen gegenseitig vermitteln“⁶⁵, erfolgt diese Inbezugsetzung im Wesentlichen über die Herausarbeitung von Vergleichsmomenten, welche die labile Identität des Juden mit der des wankelmütig Liebenden in eins fallen lassen. Innerhalb des von Hülg gesetzten Betrachtungsrahmens sind die zwischen beiden Personengruppen gezogenen Parallelen vielerorts negativer Natur – eine Konnotation, die schon allein in dem von der Autorin für das Liebesdrama um Ariane und Solal veranschlagten Begriff der „Treibhausliebe“⁶⁶ unüberhörbar mitschwingt. Gewiss: Die Dimension einer in der sozialen Zwangsisolation ums nackte Überleben ringenden Liebe ist Cohens Texten ebenso wenig fremd wie die einer ambivalent besetzten Mutterliebe, wobei in beiden als exklusiv erfahrenen Liebesformen immer auch die dem
Vgl. hierzu Pilarczyk, Narr, insbesondere S. 283 – 288. Diese Formulierung orientiert sich an dem von Ette philologisch erfassten Lebensbegriff. Vgl. hierzu die Anmerkungen im Folgekapitel. Hülk, Quell, S. 92. Ebd., S. 110.
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Juden aufgebürdete Zwangsrolle des gesellschaftlichen Außenseiters anklingt. In nuce – und Hülk deutet darauf hin – quert diese Liebe und Judentum gleichermaßen prägende Grunderfahrung der Entbehrung und des Makels Albert Cohens Texte in den verschiedensten narratologischen und sprachlichen Dispositiven. Nicht von ungefähr hatte der in Tunesien geborene Albert Memmi in seiner im Ich wurzelnden psychologischen Porträtierung des Juden das Attribut eines „homme carencé“ gewählt.⁶⁷ Ganz anders dagegen der Zugang zum Verhältnis von Liebe und Judentum bei Philippe Zard, dessen Aufsatz La bonne femme Europe – ebenfalls unter erzählanalytischer Fokussierung auf die Romanfigur Solal – das Judentum und die Liebe einer Christin als zwei einander ausschließende Heilsversprechen aufeinanderprallen lässt.⁶⁸ Die augenblicklich verzehrbare Frucht der weiblichen Liebe stehe so in direkter Opposition zur dem Menschen größere Mühsal abverlangenden Gottesnähe: In der vom Verfasser gewählten theologischen Deuterichtung münden die für den Helden konträren Wege zur Erreichung des Seelenheils in einem ausweglosen Dilemma, bei Zard stilistisch brillant aufgeboten in einem unentwirrbaren Chiasmus: „[…] [C]ette oscillation jamais résolue entre une loi sans désir et un désir hors-la-loi.“⁶⁹ Liebe und Judentum: Den hohen werkästethischen Stellenwert dieser in Albert Cohens Texten allgegenwärtigen Verzahnung legt auch Schaffner in seiner im Begegnungsfeld von Theologie und Literatur anzusiedelnden Untersuchung frei, und zwar in der Sichtbarmachung all jener biblisch-jüdischer Motive, deren eigensinniger Rezeption er im Werk des Autors auf den Grund geht.⁷⁰ Die bereits zitierte Studie Maxime Decouts wiederum setzt einen klaren inhaltlichen Schwerpunkt, indem sie die Verklammerung Liebe‒Judentum in den Weisungen des Dekalogs verortet. Inwieweit aber aus diesem spirituellen Rüstzeug eine sämtliche Liebesformen umfassende Ethik des Zusammenlebens literarisch hat hervorgehen können, dies aufzuzeigen ist das im Folgekapitel noch methodisch auszuformulierende Ziel der vorliegenden Arbeit. Nun ist es sicherlich nicht so, dass die Albert-Cohen-Forschung den in Aussicht gestellten ethischen Zugriff auf das Cohensche Œuvre bis dato in Gänze ignoriert hätte. Als einen Autor, dessen Texte um die komplexen Lebens-, Liebesund Konfliktgeschichten des Menschen kreisen, honoriert Schaffner Albert Cohen
Memmi, Albert: Portrait d’un Juif. Paris: Gallimard 1962. S. 377. Zard, Philippe: La bonne femme Europe. La femme, l’Europe et le christianisme dans les romans d’Albert Cohen. In: Albert Cohen. Colloque du Centenaire. Université de Picardie Jules Vernes. Amiens, 6 – 7 septembre. Hrsg. von Alain Schaffner. Paris: Roman 20 – 50 1997. S. 111– 128. Ebd., S. 127. Vgl. Schaffner, Le goût, insbesondere S. 18: „Toute interprétation d’ensemble de son œuvre est donc amenée à suivre le fil qui y relie une vision religieuse du monde à une conception de la littérature.“
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schon 1995, damals im Gedenken an das 100. Geburtsjahr des Schriftstellers: „Si le texte d’Albert Cohen nous attire, nous fascine et si nous y revenons sans cesse, c’est qu’il pose avec une violence inaccoutumée le problème […] du rapport qu’entretient la littérature avec la vie, et par conséquent celui de la fonction du texte littéraire.“⁷¹ Ganz auf dieser Linie weiterdenkend propagiert Elaine Marks in ihrer 1996 erschienenen Studie Marrano as Metaphor am Beispiel Albert Cohen das Primat der Literatur- über die Politik- oder Geschichtswissenschaft wenn es darauf ankäme, ein solch komplexes gesellschaftliches Phänomen wie das des modernen Antisemitismus nicht nur erzählerisch nachzubilden, sondern ihm gar entgegenzuwirken: „I maintain that a literary text like Belle du Seigneur has a far greater potential for disturbing and unsettling fixed models and paradigms than didactic essays written by historians or political scientists.“⁷² Dieser Auffassung scheint die soziopolitische Realität des Frankreichs der unmittelbaren Nachkriegszeit Recht zu geben, zeigten in jenen Tagen doch weder Historiker und schon gar nicht die das mythisch bereinigte Bild der Widerstand leistenden Grande Nation virulent verteidigenden Politiker an einer selbstkritischen Aufarbeitung der Judenfrage Interesse.⁷³ Auf unbestimmte Zeit, so die Erklärung des französischen Soziologen Gérard Namer, sei der Gedächtnisraum bereits von jenen besetzt gewesen, die den deutschen Feind heroisch bekämpft hatten: „[L]es idéologies sont déjà en place, […] la bataille pour la mémoire est déjà commencée, la scène politique est déjà encombrée: ils sont de trop.“⁷⁴ Wider das Vergessen aber regte sich schon früh Sartres philosophischer Widerstand: Im geistigen Klima der Zeit sicherten sich seine Überlegungen zur Judenfrage⁷⁵ zweifelsfrei ihre Sonderstellung als ideologische „Ausnahme vom herrschenden Trend“⁷⁶, obschon die von Sartre nur ein Jahr nach Kriegsende
Schaffner (Hrsg.), Colloque, S. 11. Marks, Elaine: Marrano as metaphor. The Jewish Presence in French Writing. New York: Columbia University Press 1996. S. 138. Über das bis weit in die fünfte Republik hinein nachweisbare Unvermögen der französischen Politik, der Konfrontation mit dem unbequemen Vichy-Erbe nicht länger aus dem Weg zu gehen, schreibt Herbert A. Strauss schonungslos: „Offenbar gibt es da tiefsitzende Widersprüche, die dazu führen, dass die question juive beiseitegewischt, unter den Teppich gekehrt, in dem Morast der Gleichgültigkeit erstickt wird.“ Strauss, Herbert A.: Judenbilder in der französischen Literatur. In: Juden und Judentum in der Literatur. Hrsg. von Christhard Hoffmann u. Herbert A. Strauss. München: dtv 1985. S. 307– 337, hier S. 307. Namer, Gérard: Mémoire et société. Paris: Klincksieck 1987. S. 148. Sartre, Jean-Paul: Réflexions sur la question juive. 2. Aufl. Paris: Gallimard 1954. Klein, Judith: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur. Wien: Böhlau 1992. S. 25.
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aufgestellten Thesen unter Juden wie Nicht-Juden geteilte Resonanz fanden.⁷⁷ Die in Marks’ Analysen Cohen zugedachten Zeilen lesen sich jedenfalls als passioniertes Plädoyer für ein Romanwerk, das der jüdischen Sujetgestaltung zum Trotz auf die für jedermann nachfühlbaren Ambivalenzen des Menschseins stets bezogen bleibe und so dem Rezipienten einen hohen Wiedererkennungseffekt garantiere. Über Belle du Seigneur heißt es bei Marks: „The Jewish presence in this extended narrative, this piece of imaginative fiction, opens suggestively and in depth the reader’s comprehension of and empathy for the sorrows and joys of being in general and being Jewish in particular.“⁷⁸ Souverän oszilliere der hybrid gestaltete Roman – und gerade hinsichtlich dieser ästhetischen Mischform gebühre dem Text das für Marks’ Beitrag titelgebende Prädikat „marrano“ – zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Erfahrungswelt, zwischen Fremde und Vertrautem, zwischen Nähe und Distanz. Belle du Seigneur begreift die Autorin mithin als ein Werk, „that describes the suffering of people different from ourselves and fiction that describes our own cruelties. And further I would propose that this is so precisely because the weltanschauung that directs the novel is marrano, that is to say, is both Jewish and not Jewish, both Jewish and Christian or, better still, both Jewish and European.“⁷⁹ Mit Marks und Schaffner seien stellvertretend für die Albert-Cohen-Forschung zwei Wissenschaftler benannt, die das in den Texten des jüdischen Schriftstellers mal leise-subtil, mal schallend-imperativisch tradierte Lebens- und Liebeswissen zuweilen ins Kalkül ziehen. Doch liegt bis zum heutigen Tag keine Darstellung vor, die diesem hermeneutischen Faden unter theologischethischer Perspektive durch das vielgestaltige Gesamtschaffen des Autors hindurch konstant gefolgt wäre.
Zur Strittigkeit der Sartreschen Theorie eines dem Juden von außen aufoktroyierten Jüdischseins vgl. stellvertretend für viele andere: Kritzman, Lawrence D.: Critical Reflections. SelfPortraiture and the representation of Jewish Identity in France. In: Auschwitz and After. Race, Culture and the Jewish Question in France. Hrsg. von Laurence D. Kritzman. Routledge: London 1995. S. 98. Marks, Marrano, S. 138. Ebd., S. 139.
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1 Vorüberlegungen
1.2 Theologie und Literatur im Gespräch „Le ‚Juif errant‘, pour reprendre une image traditionnelle, n’a pas seulement un baluchon sur le dos, il a une Bible sous l’aisselle: c’est l’essentiel de sa culture; c’est aussi l’une des composantes de sa personnalité.“⁸⁰
Hat die vorliegende Arbeit den Aufweis einer für Albert Cohens Schriftstellertum konstitutiv werdenden Ethik der Liebe im Prisma des Judentums zum Ziel, so ist dieses Forschungsvorhaben nicht ohne einen vorab zu eröffnenden Zugang zu den Themenfeldern des weit verzweigten Forschungsbereichs „Theologie und Literatur“ vorstellbar. In seiner die komplexe Funktionsstruktur des kulturellen Gedächtnisses ergründenden Forschung bekräftigte Jan Assmann mit Blick auf die frühe Exilerfahrung des jüdischen Volks die Besonderheit einer neuen Form von Identität, „die sich nur noch auf die Torah stützt und in diesem einen Fundament alles besitzt, was andere Gesellschaften in Form von Territorien und Institutionen, Machtapparaten und Monumenten aufbauen und sichtbar machen müssen: ein „‚portatives Vaterland’, wie Heinrich Heine (der es wissen musste) die Torah genannt hat.“⁸¹ Auf welche Weise lässt sich der mit dem vorliegenden Projekt intendierte Interpretationsansatz zum Werk des Schriftstellers mit Blick auf die von diesem Fachgebiet ausgeleuchtete Wechselwirkung von Theologie und Literatur beschreiben? Wie und wo kann er innerhalb eines interdisziplinären Forschungsfelds, das im deutschsprachigen Raum seit den frühen 1970er Jahren eigenständig etabliert ist,⁸² verortet werden? So der die nachfolgenden Überlegungen leitende Fragekomplex. Die ihnen hinzugefügten Textbeispiele deutschund französischsprachiger jüdischer Autoren haben illustrierenden Charakter und sollen auf je individuelle Art und Weise in die für Cohens Schreiben typische Belebung von religiösen Stoffen, Themen und Motiven einführen. Zuallererst sei auf die Vorauswahl zweier Selektionskriterien hingewiesen: Der nachstehend skizzierte Forschungsabriss konzentriert sich im Wesentlichen auf die innerhalb des deutschsprachigen Forschungsraums beobachtbaren Entwicklungslinien, was gelegentliche Vergleichsblicke in die französisch- und englischsprachige Forschungslandschaft nicht ausschließt. Zweitens wird die hier zu erörternde Interdependenz von Theologie und Literatur das christliche Neue Testament mit
Memmi, Albert: La terre intérieure. Paris: Gallimard 1976. S. 184. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1992. S. 213 f. Zur Entstehungsgeschichte des Forschungsbereichs sei verwiesen auf: Langenhorst, Georg: Theologie und Literatur. Ein Handbuch. Darmstadt:Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2005. S. 9.
1.2 Theologie und Literatur im Gespräch
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Ausnahme der Figur Jesu als Untersuchungsgegenstand ausklammern, galt Albert Cohens künstlerisches Hauptinteresse doch der Hebräischen Bibel. Vergegenwärtigen wir uns zunächst jene bahnbrechende kulturhistorische Entwicklung, die den Auftakt eines lebhaften Interagierens zwischen Bibel und Literatur überhaupt erst initiierte: Dass eine fantasievolle Bezugnahme der Literatur auf die Bibel, wie sie seit langem Usus ist, erst mit dem Zerfall des für die gesamte Vormoderne typischen Quasi-Exklusivanspruchs der Religion auf die Kunst vonstattengehen konnte, an diesen gewichtigen Paradigmenwechsel erinnert Olivier Millet in dem von ihm herausgegebenen Sammelband zum Dialog von Bibel und Literatur: „Interroger la littérature sur les rapports qu’elle entretient avec la Bible, c’est donc beaucoup plus que de se livrer à une étude d’intertextualité ponctuelle, c’est l’interroger sur la crise permanente qui constitue la source de la culture européenne […] crise qu’elle a fini par surmonter en dégageant l’idée même – toute moderne – de littérature.“⁸³ Erst mit dem Anbruch der Aufklärung also konnte die Beziehung von Theologie und Literatur beziehungsweise die von Bibel und Literatur ihr für das Zeitalter der politisch-sozialen Moderne charakteristisches Profil schärfen, weg von einer bloßen Hilfsfunktion der vom christlichen Glauben beherrschten Kunst hin zu jenen von zahlreichen Autorinnen und Autoren nunmehr eigenschöpferisch in Szene gesetzten „Paradoxien, die sich der Reduktion auf systematisch-theologische Kategorien verweigern.“⁸⁴ Zwar setzte sich dieser Ablösungsprozess der Kunst vom Primat des Religiösen auch mit Anbeginn des 20. Jahrhunderts weiter fort, markiert es doch den Ausgangspunkt einer Epoche, „die eine völlig neue Kategorie von Fragen über die Existenz aufwarf, die eine völlig neue Kategorie von Antworten erforderte.“⁸⁵ Andererseits aber war es eben jener die Jahrhundertwende kennzeichnende Gesinnungswandel, ausgelöst nicht zuletzt durch einen enormen Vertrauensschwund in Technik, Wissenschaft und Fortschritt, der in den Werken vieler Schriftsteller Biblisches aufs Neue nutzbar machte – weniger als ein Zeugnis göttlicher Offenbarung als vielmehr in der säkularen Bedeutung eines „menschheitlich-kulturellen Referenztextes“⁸⁶ mit Vorbildcharakter.
Millet, Olivier (Hrsg.): Bible et littérature. Paris: Honoré Champion 2003. S. 9. Wright, Terry: Von der Moderne zur Postmoderne. Internationale Entwicklungslinien von ‚Literatur und Theologie‘. In: Garhammer, Langenhorst (Hrsg.), Schreiben, S. 70 – 98, hier S. 70. Ebd., S. 72. Henneke-Weischer, Andrea u. Christoph Gellner: Bibel und Literatur. In: Garhammer, Langenhorst (Hrsg.), Schreiben, S. 157– 167, hier S. 159.
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1 Vorüberlegungen
Dieser künstlerischen Vielfalt ungeachtet⁸⁷ hielt sich das exegetische Interesse an der Erforschung der Verflechtung von Literatur und Theologie lange Zeit dezent im Hintergrund, zumindest der deutschsprachigen Forschung der frühen 1980er Jahre attestiert der Theologe Karl-Josef Kuschel eine solche Scheu. In jenen Tagen habe es eine „systematische, theologisch wie literaturwissenschaftlich gründliche Aufarbeitung der klassischen Moderne oder gar der zeitgenössischen Literatur im Blick auf religiös relevante Figuren, Themen, Bild- und Motivfelder“⁸⁸ so gut wie nicht gegeben. Erst in den beiden nachfolgenden Dekaden, so Kuschel weiter, sei es gelungen, die wissenschaftliche Neugierde der in diesem Arbeitsfeld nur unzureichend ausentwickelten Forschung ebenso fundamental wie nachhaltig zu verändern – eine rasante Entwicklung, der einerseits die Literaten selbst dank einer Wiederentdeckung des anthropologischen Potenzials der Bibel, andererseits aber auch viele Vertreterinnen und Vertreter aus Theologie und Literatur mit zahlreichen richtungsweisenden Publikationen zugedient hätten.⁸⁹ Wie Georg Langenhorst mit der in seinem Handbuch vorgestellten gründlichen Inventarisierung der wissenschaftlichen Produktion verdeutlicht, sind in dieser publizistischen Fülle unterschiedlichste hermeneutische Ansätze erkennbar:⁹⁰ So stehen den überaus zahlreichen motivgeschichtlich orientierten Studien zu biblischen Sujets und Figuren eine ebensolch große Vielfalt an autorspezifischen Monografien beiseite, die das wirkungsgeschichtliche Fortbestehen dieser Themen und Persönlichkeiten im Werk einzelner Schriftsteller eruieren. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt bilden mit Langenhorst all jene Analysen, die der facettenreichen Wechselrede von Theologie und Literatur im Blick auf die werkgeschichtliche Bedeutung der Religion im Allgemeinen oder spezifischer Themenkomplexe im Besonderen, wie etwa den der Theodizee, auf den Grund gehen.⁹¹ Besonderes Augenmerk gebührt in Langenhorsts Abriss darüber hinaus jener Unzahl an gesellschaftsrelevanten Arbeiten, deren Erkenntnisinteresse an der Erforschung des Dialogs von Theologie und Literatur einer ethischen Perspektivierung gilt.⁹² Auf dieses Beziehungsgeflecht wird an späterer Stelle noch ausführlich einzugehen sein. Einen weiteren Spielraum für die Wissenschaft bietet – gerade vor dem aufschreckenden Hintergrund nicht abreißen wollender Reli-
Einen international ausgerichteten Überblick über das biblische Erbe in der Literatur bietet das enzyklopädisch angelegte Nachschlagewerk von Karin Schöpflin: Die Bibel in der Weltliteratur. Tübingen: Mohr Siebeck 2011. Kuschel, Literatur, S. 23. Ebd., S. 23 – 25. Langenhorst, Theologie, insbesondere S. 77– 95. Vgl. Kuschel, Literatur, S. 24 f. wie auch Langenhorst, Theologie, S. 130 f. Vgl. Langenhorst, Theologie, S. 163 – 175.
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gionskonflikte – das von Langenhorst ebenfalls in den Blick genommene Arbeitsfeld der Religionsdidaktik, welches in jüngster Zeit der Verfasser selbst, darin sekundiert von Christoph Gellner, mit einem interreligiös ausgerichteten Beitrag bedachte.⁹³ Nun hat nicht zuletzt die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann für die Verschiedenheit der zwischen Bibel und Literatur potenziell herstellbaren Verknüpfungsbezüge sensibilisiert.⁹⁴ Je nach Art der Inbezugsetzung beider Begriffe differenziert Assmann zwischen mindestens vier möglichen Relationen: Erstens – und dies entspricht wohl der geläufigsten Ausdeutung, auf der auch Langenhorsts Handbuch basiert – könne die Bibel der Literatur als Subtext dienen. Ganz ohne Rückgriff auf ein extratextuelles Bezugsobjekt könne zweitens der biblische Text selbst als Literatur verstanden und auf seine ästhetischen Qualitäten hin rezipiert werden. So gesehen erweise sich mithin die Lexemverknüpfung Bibel und Literatur als pleonastische, wenn nicht gar sinnwidrige Gegenüberstellung, worauf auch die Autoren der 2012 erschienenen Studie Das Buch in den Büchern mit Fug insistieren: „Von Wechselwirkungen zwischen Bibel und Literatur zu reden ist eigentlich schon irreführend. Denn ist nicht die Bibel selbst ein Teil der Literatur, ist sie nicht selbst ein Text, der alle Zeichen der Literatizität trägt und daher offensichtlich auch als Literatur gelesen werden kann?“⁹⁵ Dem entspricht die Philosophie des israelisch-französischen Literaturwissenschaftlers Stéphane Mosès, sei die poetische Diktion der Bibel doch nirgends ein Produkt formaler Willkür: „Nichts ist hier gleichgültig: […] Wie in einem Gedicht ist hier jede sprachliche Einzelheit bedeutsam, und diese poetische Dimension gewährt dem Text die ganze Fülle seines Sinns.“⁹⁶ Dass der Heiligen Schrift und auch anderen altorientalischen Textkorpora augenscheinlich moderne erzählanalytische Kategorien – die des heterodiegetischen Erzählers oder jene der Nullfokalisierung – alles andere als fremd gewesen sind, demonstriert Jean-Pierre Sonnet in einem die Bibel als Literatur begreifenden Essay.⁹⁷ Denn wo etwa das urgeschichtliche Incipit von der
Gellner, Christoph u. Georg Langenhorst: Blickwinkel öffnen: interreligiöses Lernen mit literarischen Texten. Ostfildern: Patmos 2013. Vgl. hierzu Assmann, Aleida: Jordan und Helikon – Der Kampf der zwei Kulturen in der abendländischen Tradition. In: Bibel und Literatur. Hrsg. von Jürgen Ebach u. Richard Faber. München: Wilhelm Fink 1995. S. 97– 111, hier S. 97. Polaschegg, Andrea u. Daniel Weidner (Hrsg.): Das Buch in den Büchern.Wechselwirkung von Bibel und Literatur. München: Wilhelm Fink 2012. S. 19. Mosès, Stéphane: Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel. Aus dem Französischen von Susanne Sandherr und Birgit Schlachter. München: Wilhelm Fink 2004. S. 7. Sonnet, Jean-Pierre: Y a-t-il un narrateur dans la bible? La Genèse et le modèle narratif de la Bible hébraïque. In: Millet (Hrsg.), Bible et littérature, S. 9 – 27.
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göttlichen Schöpfung der Erde und des Himmels berichte, da setze die Weitergabe dieser ungeheuren Kunde nicht nur die Präsenz eines die gesamte Menschheit, ja den gesamten Kosmos antezedierenden Beobachters voraus, sondern darüber hinaus auch die eines in Gottes Seelenleben Einblick habenden Kommentators, heißt es in der Genesis doch gleich mehrfach: „Gott sah, daß es gut war“ (Gen 1,10).⁹⁸ Den erkenntnistheoretischen Mehrwert einer erzähldramatischen Analyse der biblischen Episoden rücken ferner auch Heinrich Krauss und Max Küchler mit ihrer 2003 gedruckten Publikation Erzählungen der Bibel in den Vordergrund, wobei die Autoren hinführend zu verstehen geben, dass diese Art der Bibelbeschäftigung nicht als eigensinnige Absage an die moderne Bibelwissenschaft, sondern, ganz im Gegenteil, als deren ebenso komplettierende wie theologisch nutzbringende Vervollkommnung aufzufassen sei.⁹⁹ Dieses theologische Interesse an der Kategorie des Erzählens wird in Folge zu vertiefen sein. Kommen wir vorerst zurück zu Aleida Assmanns Kategorisierung, der die Verfasserin als dritte Lesart von „Bibel und Literatur“ das Kompositum „BibelLiteratur“ hinzufügt. Beispielhaft fällt bei Assmann unter diese Rubrik Thomas Manns monumentale, tetralogisch verfasste Nachdichtung der Josefsgeschichte. Viertens und schlussendlich deutet die Autorin mit dem Oppositionspaar „Bibel versus Literatur“ auf jenen die abendländische Kulturgeschichte durchziehenden Wettstreit hin, dessen Widersacher – Christentum gegen klassische Antike – sie im Titel ihres Beitrags Jordan und Helikon toponymisch benennt. Das Ausmaß des Zusammenpralls beider kultureller Paradigmen, der hier nicht weiter erörtert werden kann, hat bekannterweise Erich Auerbach in seiner als literaturhistorischem Referenztext weltweit wissenschaftliche Anerkennung genießenden Mimesis herausgestellt.¹⁰⁰ Im Anschluss an die von Assmann vorgestellte Typologisierung bietet es sich mit Blick auf die noch folgenden Überlegungen an, die Kategorie „Bibel als Subtext“ genauer zu betrachten. Will man biblische auf die Literaturen der Welt einwirkende Erzählmuster in literaturwissenschaftlicher Terminologie erfassen, so erweist sich die von Elisabeth Frenzel unternommene Begriffbestimmung eines literarischen Stoffs, formuliert in Abgrenzung zu Thema und Motiv, als hilfreich:
Vgl. ebd., S. 11 f. Die Bibelzitate beziehen sich auf folgende Ausgabe: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Altes und Neues Testament. Augsburg: Pattloch 1988. Krauss, Heinrich u. Max Küchler: Erzählungen in der Bibel. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive. Bd. 1: Die biblische Urgeschichte (Gen 1– 11). Freiburg (Schweiz), Göttingen: Paulusverlag/Vandenhoeck & Ruprecht 2003. S. 7. Auerbach, Erich: Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: Francke 1946.
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Stoff im wissenschaftlich fruchtbaren Sinne ist eine schon außerhalb der jeweiligen Dichtung vorgeprägte Fabel, ein „Plot“, der als persönliches Erlebnis, ob nun im Zusammenstoß mit der Außenwelt, oder auch nur als Traumbild der eigenen Seele, als Bericht über ein zeitgenössisches Ereignis, als historische Begebenheit, als mythische oder religiöse Erzählung oder als ein bereits durch einen anderen Dichter gestaltetes Kunstwerk an den Dichter gelangt.¹⁰¹
Es überrascht nicht, dass Autorinnen und Autoren die erzählerische Dichte biblisch-religiöser Stoffe, jene mit Frenzel „schon außerhalb der jeweiligen Dichtung vorgeprägte“ und noch dazu dem kulturellen Gedächtnis überaus vertraute Narrative aufgreifen, um sie künstlerisch nachzudichten. Neben den schriftstellerisch ergiebigen Stoffen sind es vor allem die an den jeweiligen Plot gebundenen Figuren – Hiob, Moses oder die Brüder Kain und Abel –, die zu einer ästhetischen Vertiefung anregen. Die Weite literarischer Bibelrezeptionen, und Langenhorsts Überblicksdarstellung zeigt dies deutlich, ist immens, zumal gerade die alttestamentlichen Akteure als archetypisierend entworfene Helden zutiefst menschliche, von Raum und Zeit entkoppelte Empfindungen transportieren – eine Eigenschaft, die Frenzel für die transnationale Popularität all jener künstlerisch angeeigneter Stoffe und Motive, denen „menschliche Grundsituationen, Grundwünsche und Grundängste“¹⁰² innewohnen, explizit verantwortlich macht. Denn erst indem die Literaten die biblischen Protagonisten ihrem alt-jüdischen Erzählumfeld entreißen, um sie in ein ihnen fremdes zeitgeschichtliches Umfeld zu versetzen, können sich deren paradigmatischen Wesenszüge vollends entfalten. Dass der in den Figuren aufscheinende Aktualitätsbezug proportional zum Gewicht der Historie an Intensität gewinnt, verdeutlicht Langenhorst am Beispiel des biblischen Hiobs – einer Figur, die für zahllose jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller unter dem unmittelbaren Eindruck des nationalsozialistischen Massenmords zum engen Verbündeten, „zur letzten kollektiv wie individuell sinnstiftenden Identifikationsfigur angesichts von Verfolgung, Vertreibung und Genozid“¹⁰³ wurde. Zum besseren Verständnis der eigenen Wirklichkeit beanspruchte auch der die Gräuel der Shoah am eigenen Leib erfahrende Elie Wiesel den großen biblischen Zweifler, dessen Wissen um Tod und Verwüstung nicht nur dem Erfahrungshorizont des Ich, sondern dem aller Menschen empfindlich nahekomme: „En fait, Job est de tous les âges. Je suis convaincu que chaque génération dit la même chose que nous: que ce livre a été écrit pour elle.“¹⁰⁴
Frenzel, Elisabeth: Stoff- und Motivgeschichte. 2. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 1974. S. 25 [meine Hervorhebung]. Dies.: Vom Inhalt der Literatur: Stoff, Motiv, Thema. Freiburg i. Br.: Herder 1980. S. 38. Langenhorst, Theologie, S. 88. Eisenberg, Josy u. Elie Wiesel: Job ou Dieu dans la tempête. Paris: Fayard-Verdier 1986. S. 17.
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Bis zum heutigen Tag nichts an tragischer Vertrautheit eingebüßt haben ähnlich wie Hiob auch Kain und Abel, über die in der Literatur angeregt und immer dann sinniert wird, wenn es das genuin Böse im Menschen nicht nur resignierend zu akzeptieren, sondern auch urbildlich zu greifen gilt: „Zweifellos sind es die Kriege, Massaker und Genozide des vorigen Jahrhunderts, die dem Kain-Stoff zu einer einzigartigen Aktualität verholfen haben“¹⁰⁵, so erklärt sich die Schweizer Judaistin Gabrielle Oberhänsli-Widmer die bis dato ungebrochene Wirkmacht des biblisch überlieferten Fratrizids¹⁰⁶ – jener Urtat des Bösen, deren destruktiver Schatten auf die Menschheit, so wird zu zeigen sein, auch den Schriftsteller Cohen umtrieb. Einer anthropologischen Ausdeutung der Bibel, wie sie in den literarischen Adaptionen der Brudermorderzählung stellvertretend ihren Ausdruck findet, ist auch der Theologe Christian Frevel alles andere als abgeneigt. Die eminente Bedeutung des Alten Testaments als wahrhaftigem „kulturelle[n] Wissensspeicher“¹⁰⁷, der zu den existenziellen Fragen des Menschseins Stellung bezieht, anerkennt der Theologe mit den Worten: „Denn das Alte Testament ist kein Lehrbuch, sondern ein Lebensbuch. Es erzählt von konkreten Menschen, ihrer Niedrigkeit und Größe, ihrem Scheitern und Gelingen, ihrer Würde und Verletzbarkeit, ihrer Macht und Ohnmacht und ihren Fähigkeiten und Grenzen.“¹⁰⁸ Innerhalb dieser die Hebräische Bibel archetypisierend ausschmückenden Menschheitssymbolik fiele, so Frevel weiter, der Urgeschichte (Gen 1– 11) ein besonderes Verdienst zu, verdichte sich doch gerade in den das erste Buch Mose formenden prägnant erzählten Episoden das Wesen des Menschen auf eine für die gesamte Bibel einzigartige Weise: „In ihnen werden nahezu alle anthropologischen Grundfragen von der Sozialität und Kulturalität, der Geschlechtlichkeit des Menschen, über Arbeit, Wille und Sprache bis hin zum Widerspruch gegen Gott und der schöpfungsgemäßen Bestimmung des Menschen entfaltet.“¹⁰⁹ Auch Andreas Schüle stimmt in diesen Tenor ein: Denn „die Figuren der Urgeschichte“, so heißt es bei dem Theologen, seien „nicht nur Figuren, die den Vätern und Oberhänsli-Widmer, Gabrielle: Bilder vom Bösen im Judentum. Von der Hebräischen Bibel inspiriert, in jüdischer Literatur weitergedacht. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft 2013. S. 87. Als ein zeitgenössisches lesenswertes Textbeispiel sei verwiesen auf: Hacker, Katharina: Eine Art Liebe. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. In das bis zuletzt unaufgearbeitet bleibende Drama um den Juden Moshe und den atheistischen Mönch Jean blendet Hacker plastisch den Brudermordzwist in Gestalt des in der venezianischen Santa Maria della Salute zu bestaunenden Deckenfreskos Tizians ein. Vgl. S. 223 f. Polaschegg, Weidner (Hrsg.), Buch, S. 10. Frevel, Christian u. Oda Wischmeyer: Menschsein. Würzburg: Echter 2003. S. 9. Ebd., S. 11.
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Müttern Israels und schließlich der Exodusgeneration vorausgehen, sie präfigurieren vielmehr in unterschiedlichen Facetten, was Menschsein bedeutet – in allen Höhen, Tiefen und Mittelmäßigkeiten.“¹¹⁰ Erst im intertextuellen Vergleich mit anderen auf ähnlich gewichtige Fragen des Menschseins gepolten altorientalischen Texten ließe sich, so der französisch-marokkanische Philosoph und Schriftsteller Armand Abécassis, der vom Schöpfungsbericht vollzogene weisheitsrhetorische Wandel in vollem Umfang ermessen: „Le texte est historique et métaphysique à la fois, dans l’histoire et hors de l’histoire, écrit et cependant révélé. Il est donc, à proprement parler, symbolique plutôt que mythique. Il ouvre à sa manière aux questions fondamentales et éternelles de l’humanité.“¹¹¹ Von literaturwissenschaftlicher Warte bescheinigen die beiden Germanisten Manfred Kern und Ludger Lieb dem nichtpriesterschriftlichen Paradiesbericht eine erzähldramatisch gesprochen weit fruchtbarere Negativität als dem priesterschriftlichen Schöpfungsgeschehen – eine Negativität, mit der „ästhetisch wie konzeptuell offenbar viel leichter umzugehen ist als mit der Positivität des ersten Berichts.“¹¹² Bemerkenswert an ihrer aus diesem Grund gesonderte Erwähnung verdienenden Studie ist der vergleichende Blick auf künstlerische Reproduktionen der biblischen Urgeschichte in Literatur und bildender Kunst. Gerade visuelle Transformationen des biblischen Materials, wie sie in den Bilderzyklen vieler mittelalterlicher Kathedralen Realisierung fanden, seien gegenüber den erzählerischen Neudichtungen im Besitz des Privilegs, „simultane Relationen“ zu stiften, die textuell nicht herstellbar wären, genau darin bestehen ihr medialer Vorteil und ihr kommentierendes Vermögen: Sie können unterschiedliche Texte visuell überblenden und sekundär hergestellte typologische Beziehungen als primäre Gegebenheiten ‚erscheinen‘ lassen.“¹¹³ Auch der im Schwarzwald geborene Bildhauer Thomas Rees experimentierte im Holz seines den Freiburger Stadtteil Kappel überragenden Bergahorns mit dieser visuell erzeugbaren Simultaneität – mit einer Serie parallel geschalteter Bilder, die sich dem Betrachter beim Anblick der in den über sechs Meter hohen Baum der Erkenntnis geschnitzten biblischen Episoden, darunter Szenen aus der Urgeschichte, in ebenso frontaler wie vielsagender Weise erschließen. Auf der das Kunstwerk deutenden Hinweistafel ist zu
Schüle, Andreas: Menschsein im Spiegel der biblischen Urgeschichte (Genesis 1– 11). In: Der Mensch im alten Israel. Neue Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie. Hrsg. von Bernd Janowski u. Kathrin Liess. Freiburg i. Br.: Herder 2009. S. 591– 611, hier S. 591. Abécassis, Armand: La pensée juive. Bd. 1: Du désert au désir. Paris: Librairie Générale Française 1987. S. 291. Kern, Manfred u. Ludger Lieb: Genesis – Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst. Heidelberg: Winter 2009. S. 12. Ebd., S. 13.
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lesen: „Menschliche Ur-Erfahrungen von Streit und Versöhnung, Aufbruch und Vertrauen, zügellosem Streben,Versuchung und Erlösung, Leben und Tod werden in dem Baumstamm ‚an-schaulich‘ gemacht. Jeder Betrachter, gleich welchen Alters, welcher Herkunft, welcher Religion kann sich erkennen, kann Teile auch seiner Lebenswirklichkeit wiederfinden.“¹¹⁴ Im Kontext der in Literatur und Kunst sichtbar werdenden anthropologischen Dimension der Urgeschichte lenkt Schüle in seinem Aufsatz das Augenmerk des Bibellesers auf die dem alttestamentlichen Erzählen eigene ästhetisch karge Ausgestaltung, auf die „Sparsamkeit der Urgeschichte im Blick auf Details, die die hier versammelten Texte in Raum und Zeit verorten.“¹¹⁵ Zwar ließen sich die wenigen geografisch präziser bestimmbaren Orientierungspunkte „auf der mythischen Landkarte der antiken Welt mehr oder weniger identifizieren.“ Dessen ungeachtet könne man sich „bei der Lektüre der Texte dem Eindruck einer gewollten Raum- und Zeitlosigkeit nicht erwehren.“¹¹⁶ Doch gerade weil die Urgeschichte dieser in das Erzählte eingeflochtenen Ewigkeitskomponente Rechnung trage, wisse sie „in größtmöglicher Allgemeinheit um den Menschen und das Menschsein, das aller ethnischen, kulturellen und nationalen Vielfalt vorausliegt.“¹¹⁷ In der logischen Fortführung dieser Befunde setzt der Theologe Jürgen Ebach mit dem im Bericht vom Turmbau zu Babel tradierten „Scheitern des Einheitsreiches“¹¹⁸ eine narrative Zäsur, die den ebenso fließenden wie folgenschweren Übergang von einer globalen Menschheitsgeschichte zur individuell-staatspartikularen Geschichte Israels einleite. In diesem bei Ebach aufgezeigten Spannungsfeld von „universaler Schöpfungstheologie und partikularer Geschichtstheologie“¹¹⁹ sei es den alttestamentlichen Erzählungen geglückt, das Faszinosum ihres überzeitlichen Geltungsanspruchs im Kanon der Weltliteratur souverän zu behaupten. Wo Schüle die schnörkellose Schlichtheit der urgeschichtlichen Erzählweise unter Hinweis auf die fehlenden raumzeitlichen Konturen unterstreicht, weitet Oberhänsli-Widmer den hierdurch gewonnenen Eindruck des Nüchternen auf die den alttestamentlichen Duktus kennzeichnende schwach ausgeprägte Psychologisierung der Figuren aus: Allzu oft bliebe die Motivation der Akteure im geheimnisvollen Dunkeln der Erzählung verborgen.¹²⁰ Den künstlerischen An-
Nachlesbar unter: thomas-rees.com/baum-der-erkenntnis-2/ (14.9. 2014). Schüle, Menschsein, S. 591. Ebd. Ebd., S. 592. Ebach, Jürgen: Fremde in Moab – Fremde aus Moab. Das Buch Ruth als politische Literatur. In: Ebach, Faber (Hrsg.), Bibel, S. 277– 304, hier S. 292. Ebd. Vgl. Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 70.
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verwandlungen aber tut dieser Mangel keinen Abbruch, ganz im Gegenteil, ist es doch Aufgabe des Romanciers, die biblischen Leerstellen dichterisch zu füllen. Ein aufschlussreiches Beispiel gibt in dieser Hinsicht Thomas Manns bereits benannte Joseftetralogie – jenes monumentale Werk mit Weltruf, das dem im biblischen Prätext in fast schon asketische Schlichtheit gehüllten Drama um Josef und die Frau des Potifar das gesamte sechste Hauptstück seines Joseph in Ägypten widmet.¹²¹ Über die versuchte Verführung des Sklaven Josef durch die Gemahlin seines ägyptischen Herrn hält sich die jedweder psychologisierenden Ausschmückung entbehrende Genesis bedeckt: „Nach einiger Zeit warf die Frau seines Herrn ihren Blick auf Josef und sagte: Schlaf mit mir!“ (Gen 39,7). Mit psychologischem Feingespür entwirft dahingegen Thomas Mann zwei akribische Seelengemälde, das der maliziösen Frauenfigur sowie jenes des moralisch standhaften Helden, um der „abkürzenden Kargheit“¹²² des Urtexts die Stirn zu bieten. Indem der Schriftsteller die emotionalen Beweggründe beider am Konflikt beteiligten Protagonisten zu ergründen suche, überführe er, so schreibt der belgische Theologe André Wénin, die im Plot der Genesis ebenso wortkarg wie exemplarisch vorgeführte zwischenmenschliche Tragödie in ein geradezu archetypisches Beziehungsmodell der Conditio humana: „Dans les blancs du récit biblique et à partir de ses données, il [Mann] déploie un long récit pour tenter de mettre en lumière, avec la plus grande finesse possible, la face cachée de l’enchaînement réciproque des sentiments et des actes, ainsi que l’infinie complexité des relations humaines aux prises avec le malheur.“¹²³ Rückt Manns Aktualisierung der Josefserzählung diese auch dem Gegenwartsmenschen vertrauten allgemeinmenschlichen Neigungen konsequent in den Vordergrund, so stellt seine moderne Adaption der Genesiserzählung die Strahlkraft der Bibel als „ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium“¹²⁴ eindrücklich unter Beweis. Und noch ein Zweites macht das Beispiel Mann deutlich: Das Mehr an Sprache, mit dem Schriftsteller die biblischen Figuren, Motive und Stoffe bedenken, trägt maßgeblich zu jener ästhetischen Vielgestaltigkeit bei, die sich erst mit dem durch das Denken der Aufklärer ausgelösten Säkularisierungsschub hat radikal vollziehen können. Säkularisation als sprachbildende Kraft,¹²⁵ so lautet
Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Bd. 3: Joseph in Ägypten. In: Werke. Stockholmer Gesamtausgabe. Bd. 2. Stockholm: Fischer 1956. S. 1004– 1146. Ebd., S. 1104. Wénin, André: Joseph et la femme de Putiphar. In: Bible et littérature. L’homme et Dieu mis en intrigue. Hrsg. von Françoise Mies. Bruxelles: Lessius 1999. S. 123 – 167, hier S. 132 f. Polaschegg, Weidner (Hrsg.), Buch, S. 10. Schöne, Albrecht: Säkularisation als sprachbildende Kraft: Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1958.
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daher auch der auf dieses schöpferische Movens hindeutende Titel von Albrecht Schönes bereits 1958 veröffentlichten Publikation, die Langenhorst in seinem Handbuch neben Auerbachs Mimesis und der darin aufgezeigten figuralen Methode jüdisch-christlicher Wirklichkeitsdeutung den Anfängen des Forschungsbereichs „Theologie und Literatur“ als literaturtheoretischen Basistext zugrunde legt.¹²⁶ Ihre elementare Bedeutung als anthropologisches Grundlagenbuch bezieht die Hebräische Bibel aus ihrer vielgesichtigen Perspektivierung des Menschseins, ein „Mensch-Sein in all seinen Dimensionen“.¹²⁷ Mit Frevel darf man es wohl als Spezifikum alttestamentlicher Theologie betrachten, das prioritäre Interesse auf die Darstellung eines Menschen zu legen, der „nicht glatt, eindeutig oder linear“ ist, sondern „ein Wesen, in dem die Spannung unterschiedlicher Momente nicht zum Auseinanderbrechen führt, sondern gerade seine Dynamik bestimmt.“¹²⁸ Wann immer das Alte Testament vom Menschen spreche, so geschehe dies stets unter Berücksichtigung seiner inneren Brüche und Widersprüche, in dem Wissen um seine schillernde Ambivalenz. Um noch einmal mit Frevel zu sprechen: „Das Paradox, dass er zu höchstem fähig ist und doch zugleich verletzlich und angreifbar ist, ist dem Alten Testament nicht fremd. […] Wenn es eine Essenz alttestamentlicher Anthropologie gibt, dann wohl die, dass diese existentielle Spannung das Mensch-Sein ganz und gar ausmacht.“¹²⁹ Zur Fundierung seiner Thesen spannt Frevel seine Argumentation dahingehend weiter aus, als er das alttestamentliche bipolare Menschenbild in den Kontext jener Denkfiguren stellt, die seit jeher die israelitische Kultur geprägt und selbst noch viele Jahrhunderte später – in Abgrenzung zu den die griechische Ratio dominierenden Reflexionsmustern – fortgewirkt haben: Das griechische Denken ist deutlicher von einer Subjekt-Objekt-Spaltung und einer analytischen Trennung unterschiedlicher Aspekte durchzogen. Das hebräische Denken hingegen scheint eher in der Lage, Aspekte bis hin zur Gegensätzlichkeit in eins zusammenzudenken, einen mehrdimensionalen, auf Komplementarität ausgerichteten Zugang zu den Dingen zu finden. […] Versucht man es plastisch darzustellen, könnte man sagen, dass eine Wendung „etwas auf den Punkt bringen“ für das hebräische Denken und seine Sprache unzutreffend bleibt. […] Zutreffender als die Metapher „Punkt“ ist die des Raumes. Mehrdimensionalität zeichnet die Sprache der Bibel aus.¹³⁰
Vgl. Langenhorst, Theologie, S. 15 – 19. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 26. Ebd. Ebd. Ebd., S. 28.
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Diesen theologischen Vorgaben implizit folgend beschreiben die Philologen Polaschegg und Weidner in dem schon mehrfach zitierten Sammelband, inwieweit diese raumübergreifenden Denkbewegungen, um in Frevels Bild zu bleiben, nicht nur die alttestamentliche Vorstellung vom Menschen, sondern auch die Erzähltechnik der Bibel beeinflusst hätten. Den Autoren zufolge macht die Lektüre der Bibel offenkundig, „dass die zahlreichen in der Bibel höchst folgenreich codierten Differenzen – etwa zwischen ‚Heimat‘ und ‚Exil‘, ‚Erinnerung‘ und ‚Vergessen‘ etc. – nicht einfach als solche vorliegen, sondern in höchst komplexe literarische Darstellungen eingebettet sind, denen sie ihre Prägnanz, aber auch ihre Ambivalenz verdanken.“¹³¹ Mit der Akzentuierung der Schlüsselfigur der Ambivalenz legen die Verfasser Nachdruck auf jene strukturell gewichtige Kategorie, die sowohl das hebräische Denken als auch die jüdische Literatur, ergo die schriftliche Fixierung dieses Denkens, leitmotivisch durchsetzt. Für die Judaistin Eveline Goodman-Thau ist es ebenjenes Spannungsmoment, jenes permanente gedankliche Jonglieren, das als solider Indikator für die Vertrauenswürdigkeit und Seriosität des Gesagten in Anspruch genommen werden darf: „Keine ganzheitliche Wahrheit ist hier [in der Bibel] vernehmbar, sondern das Gesagte wird immer wieder relativiert durch eine Vielfalt von Gegensätzen, die dem Text eine wunderbare Glaubwürdigkeit verschafft.“¹³² Der Gedanke liegt nahe, die von Frevel eingeführte Chiffre des Raums als Ausdruck einer dynamisch-pluralistischen Meinungsvielfalt mit der rabbinischen Auslegepraxis der Bibel zu vernetzen, erschließt sich doch nach jüdischer Tradition die Sinntiefe der biblischen Erzählungen erst durch die vielfach polysemischen Auslegungen der Exegeten, durch das ständige Erfinden und Hinzufinden eines neuen Textverständnisses – ein hermeneutisches Vorgehen, dessen imaginative Fülle Elie Wiesel in poetischer Diktion würdigt: „[L]e Midrash est à la Bible ce que l’imagination est à la connaissance.“¹³³ Ob schriftlich in den Midraschim, ob mündlich in Erzählungen oder ob in der Gestalt jener kontrovers geführten Streitgespräche, die für den jüdischen Religionswissenschaftler Jacob Neusner eine unverzichtbare „Form des religiösen Diskurses“¹³⁴ darstellen: Immer, so dürfen wir abschließend festhalten, erschließt sich die komplexe Realität erst durch einen bewusst vielschichtigen Zugriff auf das geschriebene oder gesprochene Wort. Insofern als sowohl die Literaturwissenschaft als auch die
Polaschegg, Weidner (Hrsg.), Buch, S. 20. Goodman-Thau, Eveline: Erbe und Erneuerung. Kulturphilosophie aus den Quellen des Judentums. Wien: Picus Verlag 2004. S. 25. Wiesel, Elie: Célébration biblique. Paris: Seuil 1975. S. 50. Neusner, Jacob: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdisch-christlicher Dialog. Freiburg i. Br.: Herder 2007. S. 27.
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Theologie diesem hermeneutischen Grundsatz gehorchten, bilde er, so sieht es Kuschel, das wohl stärkste interdisziplinäre Band, das beide Wissenschaftszweige dauerhaft aneinanderkette: „In dieser rabbinischen Grundhaltung: Auslegung der Welt in ihrer Vielperspektivität finden sich Theologen und Literaten. Sie sind Bundesgenossen in der Gewinnung einer rabbinischen Auslegungskunst der Wirklichkeit.“¹³⁵ Eng an den Gedanken eines multiperspektivischen Wirklichkeitsverständnisses geknüpft ist ein zweiter die rabbinische Auslegungspraxis charakterisierender Aspekt: So wird die Erschließung der biblischen Texte stets von dem exegetischen Anspruch getragen, die Episoden im Licht der eigenen Erfahrungswirklichkeit zu rezipieren und zu deuten. Der im Gegenwartsbezug neu angelegte Zugang zur Quelle erlaubt einen mentalen Brückenschlag zwischen vergangenen Widerfahrnissen und denen der Jetztzeit. Auch jüdische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wie Elie Wiesel haben sich von einer solchen wirklichkeitsnahen Relektüre künstlerisch inspirieren und herausfordern lassen: Berücksichtigt man die Gegenwartsorientierung der rabbinischen Auslegungsmethodik, so liest sich Wiesels Textsammlung Célébration biblique, im erzählerischen Rahmen derer der Autor einzelnen alttestamentlichen Episoden in multiplen Deutungskonstellationen auf den Grund geht, als durch und durch moderner Midrasch.¹³⁶ Dass eine anthropozentrische Lesung der Bibel nicht ausschließlich an die Shoah und das Vergangene gebunden bleibt, beweist wiederum Christa Wolf, die in ihrem in Tagebuchform verfassten, auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl reagierenden Roman Der Störfall ¹³⁷ die Bibel befragt, um sie als „Diagnosemedium für die Widersprüche und Potentiale der Gegenwart“¹³⁸ zu rezipieren. Mit ihrer den ureigentlichen Auslöser des nuklearen Unglücks an die biblische Botschaft der Kainsgeschichte rückkoppelnden Erzählung enthülle die Autorin ungeschminkt, so Gellner, jenes „fatale Doppelgesicht technisch-wissenschaftlichen Fortschritts,“¹³⁹ das sich auch in ihrer Dichtung als
Kuschel, Literatur, S. 39. Auch auf Wiesels aufwühlenden Roman Le Crépuscule, au loin könne dieses Deutungsraster, so der von Gundula van den Berg verfolgte Ansatz, appliziert werden.Vgl.Van den Berg, Gundula: Ver-kehrung. Zu Elie Wiesels neuem Midrasch in ‚Le Crépuscule, au loinʻ. In: Ebach, Faber (Hrsg.), Bibel, S. 215 – 240. Wolf, Christa: Der Störfall – Nachrichten eines Tages. Darmstadt [u. a.]: Luchterhand 1987. Kuschel, Literatur, S. 23. Gellner, Christoph: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004. S. 10.
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das höhnisch grinsende „Janusgesicht unsrer Epoche“¹⁴⁰ zu erkennen gibt. Die von Gellner modellhaft herausgegriffene Erzählung stelle sich in die lange Reihe all jener Literaturen, die mit ihren Querverweisen auf die Bibel den Quellentext „zur Deutung existenzieller Grunderfahrungen wie politisch-gesellschaftlicher Grundkonflikte“¹⁴¹ neu versteh- und lesbar machten. Christa Wolf – darin, so zu zeigen, ganz Cohen – beruft sich in ihrer luziden Aktualisierung des Kainsstoffs auf jenes Wissen um die Grenzen und Erschwernisse des Zusammenlebens, mit dem die Bibel, isoliert von allem „heilsgeschichtlich Exklusiven“¹⁴², die gegenwärtige Erfahrungswelt konfrontiert. Vom Imperativ der Inbezugsetzung von Vergangenheit und Gegenwart ist es nicht weit zu dem des Erinnerns, den die Hebräische Bibel geradezu leitmotivisch anmahnt: „Erinnern ist für die Juden Gebot. Die Aufforderung ‚sechor!ʻ, ‚gedenke!ʻ, erscheint in der hebräischen Bibel fast zweihundertmal […].“¹⁴³ Ihren Höhepunkt erfährt diese mit Nachdruck vorgebrachte Gedächtnispflicht wohl im Passa-Gedächtnis, das im Buch Exodus (Ex 12,14 u. Ex 13,3 – 8) wiederholt wider das Vergessen des von göttlicher Hand geführten Auszugs aus Ägypten appelliert und demzufolge es nach späterer Formulierung in der Pesach-Haggada heißt: „In jeder Generation ist jeder verpflichtet, sich so zu betrachten, als wäre er selbst aus Ägypten ausgefahren.“¹⁴⁴ Dass dieser wie auch andere kollektive Fluchtpunkte des Erinnerns dem jüdischen Selbstverständnis nach kein passives Eingedenken, kein „bloßes Zurückschauen“¹⁴⁵, sondern stets eine reflektierende Einbeziehung von Gegenwart und Zukunft implizieren, führt uns der nach dieser prospektiven Denkrichtung geeichte Zeitstrahl des Historikers Amos Funkenstein vor Augen: „Die Vergangenheit ist ewige Gegenwart, wie es sich bei der Zukunft um vorweggenommene Vergangenheit handelt. Erinnerung leitet man immer von der Gegenwart und von dem ab,was gegenwärtig die Seele beschäftigt.“¹⁴⁶ Gerade weil die Bibel, im Zuge der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen mehr denn je, für viele Autorinnen und Autoren ihre originäre Bestimmung als ein die abendländische Zivilisation tragender Kulturpfeiler wiedererlangen konnte, er Ausländer, Rose: Das dividierte Gesicht. In: Die Sichel mäht die Zeit zu Heu. Gedichte 1957– 1965. In: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt/Main: Fischer 1985. S. 236. Gellner, Schriftsteller, S. 9. Ebd. Klein, Judith: Der feine Sand des Gedächtnisses. Jüdisch-maghrebinische Literatur der Gegenwart. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1998. S. 7. Zitiert nach: Bieritz, Karl-Heinrich: Liturgik. Berlin, New York: De Gruyter 2004. S. 286. Klein, Sand, S. 7. Funkenstein, Amos: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag 1995. S. 16.
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weist sich im Dialogfeld von Bibel und Literatur der Rekurs auf kulturwissenschaftliche Theorien zur Rolle der Erinnerung – denken wir nur an das von Maurice Halbwachs prominent gemachte kollektive Gedächtnis¹⁴⁷ oder an Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses¹⁴⁸ – als wertvolle Stütze. Im Einklang mit diesen vonseiten der Kulturwissenschaften in den akademischen Diskurs eingebrachten Modellen betrachtet die Hebräische Bibel alles Denken als hochgradig soziales Phänomen, das mit dem Theologen Claus Westermann niemals als absolutes Denken im Sinne einer von Zeit und Raum in Gänze entkoppelten Geistesaktivität zu begreifen sei, sondern dagegen als ein Denken, das stets eines individuellen oder kollektiven Rückbezugs bedürfe: [F]ür den hebräischen Menschen gibt es nur ein auf ein Objekt bezogenes Denken, ein auf etwas gerichtetes Denken wie „gedenken an…“, „bedenken“ und weitere. Die Zusammenfassung all dieser möglichen Denkvorgänge in einem absoluten Verb „denken“ wäre schon ein Abstractum, das im Hebräischen selten ist. Im Hebräischen wäre ein Satz wie „cogito, ergo sum“ unmöglich; ein Denken per se, um des Denkens willen, kennt das Hebräische nicht.¹⁴⁹
Auch ist es nur konsequent, so ein dritter wesentlicher Grundsatz für die Thematik des Erinnerns, wenn der Historiker Christoph Münz das bei Frevel als mehrdimensional qualifizierte Schlüsselmoment der hebräischen Sprache, ja des gesamten altjüdischen Denkens dem Wesen der Erinnerung einverleibt: Es ist eines der markantesten Kennzeichen des jüdischen Gedächtnisses, Bereiche miteinander zu verbinden, die der herkömmlichen Logik als schwer vereinbar gelten: Geschichte und Religion, Transzendenz und Immanenz, Glaube und Wissen, Ethnizität und Religiosität. Verpflichtet auf die Quadratur des Kreises, auf die, wie Buber es einmal formulierte, „Einheit der Gegensätze“, zeichnet sich das jüdische Gedächtnis von je her aus im Mut und in der Kraft zur Kontradiktion, zum Fragmentarischen.¹⁵⁰
Nirgendwo wird die Dialektik von Nutzen und Sinnlosigkeit des Erinnerns, von Macht und Ohnmacht des Gedenkens wohl dezidierter und flehentlicher zur Sprache gebracht als in den Werken jüdischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, geschrieben im Entsetzen über die das Humanitätspostulat der Geschichte zer-
Vgl. Halbwachs, Maurice: La mémoire collective. Paris: Presses Universitaires de France 1968. Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988. S. 9 – 19. Westermann, Claus: Der Mensch im Alten Testament. Münster: LIT 2000. S. 27. Münz, Christoph: Erinnerung im jüdischen Kontext: Der Welt ein Gedächtnis geben. In: Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Hrsg. von Hanno Loewy u. Bernhard Moltmann. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag 1996. S. 137– 164, hier S. 154.
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malmende Katastrophe. Als eine dem Vergessen trotzende Replik auf die in Trümmern liegende Historie stellt Rose Ausländers Lyrik – um nur ein Textbeispiel zu nennen – die Forderung nach Rückbesinnung: Aufrecht in mir die Salzsäule Ich bin’s die sich umwendet wieder und wieder¹⁵¹
Gegenbildlich zur vertrauten biblischen Motivik – in Gen 19,26 erstarrt Lots Frau zur Salzsäule, als sie ein letztes Mal gen die unter gottgewolltem Schwefelregen in Schutt und Asche liegende Heimat Sodom blickt – metamorphosiert die Dichterin das urgeschichtliche Verbot der Rückschau auf den Ort des Frevels und der Sünde in den an das Ich gerichteten Appell, die Erinnerung, möge sie auch noch so qualvoll sein, niemals verkümmern zu lassen. Eine von dieser Deutung signifikant abweichende Anverwandlung der alttestamentlichen Symbolik gestaltet demgegenüber der jüdisch-tunesische Schriftsteller Albert Memmi in seinem stark autobiografisch angereicherten Roman La statue de sel, für den die Genesiserzählung um das Schicksal von Lots Frau gar titelgebend war. In origineller Indienstnahme der biblischen Salzsäulenmetaphorik wendet sich die schmerzlich erlangte Erkenntnis des Protagonisten Alexandre gegen die gefährliche Versuchung, den eigenen Lebensweg retrospektiv zu durchleuchten. So setzt Memmis Neuschreibung des biblischen Motivs den Akzent auf die Gefahr, der hilflos unterliegt, wer die Vergangenheit um den hohen Preis der psychisch zermürbenden Selbsterkenntnis Revue passieren lassen will. Vergebens müht sich Memmis Romanfigur, den mit überdurchschnittlichem Fleiß ergatterten Zugriff auf die französische Sprache und Bildung mit seiner jüdisch-berberischen Provenienz innerhalb ein und desselben Ich-Entwurfs zu versöhnen. In Anlehnung an das Los der Gottes Verbot missachtenden Frauenfigur, deren rückwärtsgewandte Geste Jahwe hart bestrafte, unterwirft sich der all seiner Illusionen beraubte Alexandre einer nicht minder strengen Selbstkasteiung: „[J]e meurs pour m’être retourné sur moi-même. Il est interdit de se voir et j’ai fini de me connaître. Comme la femme de Loth, que Dieu changea en statue, puis-je encore vivre au-delà de mon regard?“¹⁵² Im Modus des Negierens legt wiederum der als Kriegswaise aufgewachsene jüdische Schriftsteller Georges Perec gleich auf der ersten Seite seines Romans W Ausländer, Rose: Salzsäule. In: Noch ist Raum. Gedichte. Duisburg: Gilles & Francke 1976. S. 88. Auf diese Erinnerungspoesie machte Gellner mich aufmerksam. Vgl. Gellner, Schriftsteller, S. 36. Memmi, Albert: La statue de sel. 3. Aufl. Paris: Gallimard 1966. S. 368.
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ou le souvenir d’enfance ein resolutes Bekenntnis wider das Erinnern ab: „‚Je n’ai pas de souvenirs d’enfance‘: je posai cette affirmation avec assurance, avec presque une sorte de défi. L’on n’avait pas à m’interroger sur cette question. Elle n’était pas inscrite à mon programme. J’en étais dispensé: une autre histoire, la Grande, L’Histoire avec sa grande hache, avait déjà répondu à ma place: la guerre, les camps.“¹⁵³ Dieser bleiernen Leerstellen zum Trotz läuft der Roman schlussendlich doch auf das Ziel hinaus, die Erinnerung an die unter den Trümmern des Naziterrors verschüttete Kindheit Stück für Stück – und sei es mittels der Flucht ins Allegorisch-Verhüllende – freizuschaufeln. So die Herausforderung, der sich das Erzähler-Ich zu stellen wagt: „Mais l’enfance n’est ni nostalgie, ni terreur, ni paradis perdu, ni Toison d’Or, mais peut-être horizon, point de départ, coordonnées à partir desquelles les axes de ma vie pourront trouver leur sens.“¹⁵⁴ Faszinierend auch die allgegenwärtige Präsenz des Rückblicks im Roman Dora Bruder des 2014 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Erinnerungskünstlers Patrick Modiano. In dem aus einzelnen, dank minutiöser Recherchen puzzleartig zusammengefügten Porträt eines jüdischen Mädchenschicksals verschmelzen im Kopf des autodiegetischen Erzählers zwei zeitlich deutlich zueinander in Distanz liegende Bilder der Stadt: die Momentaufnahme vom Paris der 1990er und das Hauptstadtszenario jener frühen Kriegsjahre, das der Erzähler auf den vom Vergessen bedrohten Spuren der damals vermisst gemeldeten Dora behutsam rekonstruiert: „J’ai l’impression d’être tout seul à faire le lien entre le Paris de ce temps-là et celui d’aujourd’hui, le seul à me souvenir de tous ces détails. Par moments, le lien s’amenuise et risque de se rompre, d’autres soirs la ville d’hier m’apparaît en reflets furtifs derrière celle d’aujourd’hui. „¹⁵⁵ Mit der vom Erzähler-Ich geleisteten Überblendung des einen Stadtraums durch den anderen ist die Gefahr des Vergessens, der Normalisierung und Banalisierung zu bannen, sind die einstigen, noch immer sichtbaren Orte des Schreckens wie der des Transitlagers Les Tourelles als in Zement gegossene stumme Mahnwachen der Erinnerung in das Hier und Jetzt hinüber zu retten: „Derrière le mur s’étendait un no man’s land, une zone de vide et d’oubli. Les vieux bâtiments des Tourelles n’avaient pas été détruits comme le pensionnat de la rue de Picpus, mais cela revenait au même.“¹⁵⁶ Während die Gemäuer des ehemaligen Lagers noch immer das Stadtbild prägen, wurden andere Straßenzüge und -quartiere längst bis zur Unkenntlichkeit der Historie und damit dem Gedächtnis des urbanen Raums für immer unwiederbringlich entrissen: „On avait tout anéanti pour construire une
Perec, Georges: W ou le souvenir d’enfance. Paris: Denoël 1975. S. 13. Ebd., S. 21. Modiano, Patrick: Dora Bruder. 2. Aufl. Paris: Gallimard 1999. S. 50 f. Ebd., S. 131.
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sorte de village suisse dont on ne pouvait plus mettre en doute la neutralité.“¹⁵⁷ Diese bei Modiano plastisch ins Bild gesetzte Verräumlichung des zu Erinnernden¹⁵⁸ legt eine ganz ähnliche Erzählstrategie offen, wie sie Albert Cohens Texte, so werden wir sehen, wieder und wieder durchspielen, indem sie Vergangenes und Gegenwärtiges kunstvoll ineinander verschachteln. Mit Modiano und Perec melden sich stellvertretend für eine ganze Generation zwei Schriftsteller zu Wort, für die das biblisch eingeforderte Erinnerungsgebot mit der über das 20. Jahrhundert einbrechenden Katastrophe eine neue Sinnbestimmung erfährt. Die von der Shoah barbarisch in die Historie geschlagene Schneise fand ihre Entsprechung in jener literarischen Zäsur, die schon während der Kriegsjahre spürbare Konsequenzen auf die Bibelrezeptionen der Schriftsteller nach sich ziehen sollte. Deutlicher denn je war nun die Hebräische Bibel nicht mehr nur jenes Buch, das man zur Hand nahm, „um hier irgendeine Spur der Vergangenheit zu finden, nicht die Vergangenheit des ohnmächtigen, vergänglichen Individuums, sondern die Vergangenheit der Gemeinschaft,von der man sich zwar gelöst hat, die aber dennoch Fortbestand und Dauer verkörpert.“¹⁵⁹ Nein, unter dem immensen Gebot der Stunde drängte sich die Bibel als großes Buch der Ethik in die Köpfe der Autoren, fanden Schriftsteller, Juden wie Nicht-Juden, zu jenem in Thomas Manns Moses-Novelle wiedererweckten „A und O des Menschenbenehmens“¹⁶⁰ zurück, das einst am Sinai erlassen worden war, um es ebenso tief in des Menschen „Fleisch und Blut“ wie in den „Stein des Berges“¹⁶¹ einzuritzen. Mit seiner gegen die Naziherrschaft gerichteten Erzählung schrieb der im US-amerikanischen Exil Schutz suchende Romancier gegen den von Hermann Rauschning in seinen publik gemachten Hitlergesprächen nacherzählten Vorsatz des Diktators an, den teuflischen „Fluch vom Berge Sinai“¹⁶² zu revidieren. In
Ebd., S. 136. Das Primat des Räumlichen über alles Zeitliche nahm auch schon Bachelard für den Akt des Erinnerns in Anspruch: „C’est par l’espace que nous trouvons les beaux fossiles de durée concrétisés par de longs séjours. L’inconscient séjourne. Les souvenirs sont immobiles, d’autant plus qu’ils sont mieux spatialisés. Localiser un souvenir dans le temps, n’est qu’un souci de biographe et ne correspond guère qu’à une sorte d’histoire externe, une histoire pour l’usage externe, à communiquer aux autres.“ Bachelard, Gaston: La poétique de l’espace. 9. Aufl. Paris: Presses Universitaires de France 1978. S. 28. Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1979. S. 74. Mann, Thomas: Das Gesetz. Hrsg. von Käte Hamburger. Frankfurt/Main, Berlin: Ullstein 1969 (Dichtung und Wirklichkeit, Bd. 17). S. 55. Ebd., S. 56. Rauschning, Hermann: Eine Unterhaltung mit Hitler. Zitiert nach: Mann, Gesetz, S. 201. Die historische Forschung zog später allerdings die Echtheit vieler dieser von Rauschning aufge-
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ihrem aufschlussreichen Werkkommentar zu Manns Relektüre der biblischen Episode merkt die Philologin Käte Hamburger treffend an, dass allein schon die Titelwahl über die vom Autor intendierte Begrenzung des biblischen Stoffs, über die gezielt unternommene Raffung jener Vita Auskunft gebe,¹⁶³ die mit Elias Auerbach, „nur ein größter Dichter […] wirklich erfassen und darstellen könnte.“¹⁶⁴ So habe Mann aus Moses’ Biografie lediglich jene Szene selektiv exzerpiert, in der die Figur als mächtiger Gesetzgeber auftrete, als Begründer des jüdisch-christlichen Urkodexes menschlichen Zusammenlebens. Was bei Mann ausdrücklich biblisch aufgeboten werde – und auch hier wird die Parallele zu Cohen noch zu ziehen sein – unterstreiche gerade in der Nicht-Betonung, ja im völligen Verzicht auf die offenbarungsgeschichtliche Tiefenschicht das von der Historie gewaltsam pervertierte Ethos jüdisch-christlicher Theologie.¹⁶⁵ Der Gedanke eines fruchtbaren Konvergierens von Ethik und Literatur ist fürwahr nicht neu, war ihm doch schon der Aufklärer Lessing mit seiner ethischen Ausdeutung der viel diskutierten aristotelischen Katharsis ein zentraler Wegbereiter.¹⁶⁶ Nichtsdestotrotz wurde das theoretische Fundament einer ethisch orientierten Perspektivierung der Wechselbeziehung von Theologie und Literatur erst relativ spät gelegt. Die Anfänge eines im deutschsprachigen Raum aus dem Forschungsbereich „Theologie und Literatur“ neu hervorgehenden Zweigs „Ethik und Literatur“ datiert Langenhorst mit der 1976 aufgrund ihres beträchtlichen Umfangs in zwei Bänden publizierten Habilitationsschrift des katholischen Theologen und Germanisten Dietmar Mieth.¹⁶⁷ Zentral ist für den an der Kategorie des Erzählens aus ethisch-theologischer Perspektive interessierten Mieth die Einsicht, dass jede Ethik eine Hermeneutik der Wirklichkeit voraussetze. Was die Literatur vorführe, sei folglich die vom Menschen erlebte und immer schon vorgedeutete
zeichneten Worte Hitlers in Zweifel. Vgl. hierzu auch: Kuschel, Karl-Josef: Mein Gott, die Menschen… Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der Mose-Novelle ‚Das Gesetzʻ. In: Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Hrsg. von Dietmar Mieth. Tübingen: Attempto 2000. S. 237– 258, hier S. 250. Vgl. Mann, Gesetz, S. 94. Auerbach, Elias: Moses, S. 7. Zitiert nach: Dithmar, Reinhard: Mose und die Zehn Gebote in Thomas Manns Erzählung ‚Das Gesetzʻ. Ludwigsfeld: Ludwigsfelder Verlagshaus 1999. S. 25. Vgl. Henneke-Weischer, Gellner, Bibel, S. 160. Zu Lessings Tragödienkonzeption vgl. die in Kapitel 3.1.1. folgenden Anmerkungen zum Mitleidsbegriff. Mieth, Dietmar: Dichtung, Glaube und Moral. Studien zur Begründung einer narrativen Ethik mit einer Interpretation zum Tristanroman Gottfrieds von Straßburg. Mainz: Gruenewald 1976 sowie ders.: Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns. Tübingen: Max Niemeyer 1976. Vgl. hierzu Langenhorst, Theologie, S. 62.
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Realität.¹⁶⁸ Im theoretischen Diskurs auf Hegels und Adornos Kritische Theorie sowie auf Heinrich Rombachs Strukturethik wählt Mieth den Begriff des Modells, um zu zeigen, dass es sich bei dieser textuellen Realisierung nicht um eine „statische Ordnungsgestalt des Sittlichen“, sondern vielmehr um eine bewegliche, „prozessuale Erfahrungsgestalt“¹⁶⁹ handle. Erst durch die Negativität der vorgefundenen Wirklichkeit werde die literarisch angeleitete Suche nach neuen Handlungsmöglichkeiten und „spontan-erfinderischen Lösungen“¹⁷⁰ ausgelöst: „Ausgangspunkt des Modells ist nicht ein perfektes Ziel, sondern das vorhandene Defekte, das überwunden werden muss.“¹⁷¹ Dabei versteht Mieth den Beitrag der Dichtung zur Konstituierung ethischer Modelle als notwendige Ergänzung einer auf „sittlichen Sollensregeln“¹⁷² basierenden normativen Ethik: Wenn das geschieht, dann zeichnet sich hier eine fruchtbare Zusammenarbeit ab. Dabei wird man nicht einfach sagen können: Norm erzeugt Entlastung, Modell erzeugt Kreativität. Vielmehr gibt die Norm eine Vielfalt von Modellen im Hinblick auf ein konkretes ethisches Problem, das seitens dieser Modelle gar nicht in den Blick kommt, die Gestalt einer Regel, an die man sich halten kann.¹⁷³
Vom ethisch unanfechtbaren Vorbild sei daher das zur kritischen Auseinandersetzung animierende Modell zu differenzieren: „Vorbilder sagen, was Menschen unter generellen Bedingungen zu tun oder zu lassen haben. Modelle dagegen zeigen, wie man in einer bestimmten Situation handeln kann, wie das Mögliche, Richtige und Angemessene gefunden wird.“¹⁷⁴ Im Jahr 2000 erscheint der ebenfalls von Mieth herausgegebene Sammelband Erzählen und Moral. Den darin vertretenen Beiträgen ist allesamt die grundlegende Erkenntnis eigen, dass „das nicht-naive, ästhetisch erschwerte Erzählen als eine ethisch relevante Erkenntnisquelle“¹⁷⁵ der menschlichen Existenzbewältigung tauglich sei – tauglich im Sinne eines nicht-normativen Quells der Inspiration, aus dem der Leser „unverbindliche, aber bedenkenswerte Einsichten“¹⁷⁶ schöpfen könne. Im geistigen Umfeld von Mieths narrativer Ethik mit dem Ziel der Sensibilisierung für eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit situiert sich auch Kuschel, wenn er die Literatur Vgl. Mieth, Dichtung, S. 14. Ebd., S. 72. Bender, Wolfgang: Ethische Urteilsbildung. Stuttgart: Kohlhammer 1988. S. 165. Mieth, Dichtung, S. 59. Ebd., S. 80. Ebd., S. 82. Mieth, Dietmar: Moral und Erfahrung I. Grundlagen einer theologisch-ethischen Hermeneutik. 4. Aufl. Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag 1999. S. 113. Mieth (Hrsg.), Erzählen, S. 7. Ebd., S. 7.
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das „schärfstmögliche Instrument der Selbstaufklärung des Menschen“ nennt: „vor allem über seine falschen Bilder von sich selbst und von anderen.“¹⁷⁷ In eine nicht minder handlungsorientierte Richtung weist eine kluge Reflexion des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas, deutbar als völkerverbindender Brückenschlag zwischen dem jüdisch-orientalischen Erbe und der christlich-abendländischen Zivilisation, Hüterin dieses Erbes: „Admettre l’action de la littérature sur les hommes, – c’est peut-être l’ultime sagesse de l’Occident où le peuple de la Bible se reconnaîtra.“¹⁷⁸ Auch bei der zum Judentum konvertierten und im Zusammenhang von Ethik und Literatur viel zitierten Philosophin Martha Nussbaum¹⁷⁹ gibt sich die Literatur als eine zur „konkrete[n] praktische[n] Orientierung des menschlichen Lebens“¹⁸⁰ geradezu prädestinierte Wissensform zu erkennen.¹⁸¹ Auf die Frage, weshalb es sich lohne, den ethischen Erfahrungsschatz gerade der Literatur zurate zu ziehen, geben die von Mieth präsentierten Texte einstimmig Auskunft: Die Ethik, so der die einzelnen Aufsätze einende Tenor, sei zwingend angewiesen auf die lebens- und gesellschaftsrelevante Funktion einer Literatur, die sich immer schon als „Experimentierform im Umgang mit Wirklichkeit“¹⁸² bewährt habe. Dieses Experimentierprivilegs der Literatur gewahr legen die Verfasser das ethische Profil der Werke unterschiedlichster deutschsprachiger Schriftsteller frei, von Goethe über Heine bis hin zu Kafka und Brecht: „Das ethisch relevante Interesse der hier vorgestellten Literaten erweist sich als eine geschichtliche Variable und als eine Konstante zugleich, die Wegweisung nur in der Form des Strittigen und Brüchigen ermitteln kann.“¹⁸³ Dass solche Irritationen auch und nicht selten in den transnationalen Literaturen der Gegenwart von elementarer Bedeutung sind, beweisen die in dem von Claudia Öhlschläger betreuten Tagungsband unter der Rubrik „Ethik und Narration im interkulturellen Kontext“ abgedruckten Beiträge. So wird am Beispiel der beiden nicht in ihrer
Kuschel, Literatur, S. 28. Lévinas, Emmanuel: Difficile liberté. 3. Aufl. Paris: Albin Michel 1984. S. 82. Vgl. etwa Nussbaum, Martha C.: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. New York, Oxford: Oxford University Press 1990. Bertram, Georg W.: Selbstbezüglichkeit und Reflexion in und durch Literatur. In: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Hrsg. von Alexander Löck u. Jan Urbich. Berlin, New York: De Gruyter 2010. S. 389 – 408, hier S. 394. „So literature is an extension of life not only horizontally, bringing the reader into contact with events or locations or persons or problems he or she has not otherwise met, but also, so to speak, vertically, giving the reader experience that is deeper, sharper, and more precise than much of what takes place in life.“ Nussbaum, Love’s Knowledge, S. 48. Haker, Hille: Narrative und moralische Identität. In: Mieth (Hrsg.), Erzählen, S. 37– 66, hier S. 63. Mieth (Hrsg.), Erzählen, S. 9.
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Muttersprache schreibenden Autorinnen Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada illustriert, auf welche Weise „Entweder-Oder-Alternativen spielerisch erschüttert und dekonstruiert werden“¹⁸⁴ – all dies innerhalb einer Ethik, „die es ermöglicht, Ambivalenzen auszuhalten.“¹⁸⁵ Systematische Zugänge zu einer Philologie, die sich „der ethischen Verantwortlichkeit literatur- und kulturwissenschaftlichen Tuns bewusst ist“¹⁸⁶, legen die von Ottmar Ette zwischen den Jahren 2004 und 2010 zum Lebenswissen, ÜberLebenswissen und ZusammenLebensWissen¹⁸⁷ der Literaturen konzipierten Bände – eine Trilogie, die der einlinigen Beschlagnahmung des Lebensbegriffs durch die Biowissenschaften ein dezidiert lebenswissenschaftlich orientiertes Literaturverständnis entgegensetzt.¹⁸⁸ Auf Ettes Hinweis, dass dieses nach den experimentell verfahrenden Spielregeln der Literatur sichtbar gemachte Lebenswissen nicht nur auf dem direkten Kommunikationsweg zwischen Text und Leser, sondern auch in Form eines zwischen den Figuren erzählerisch migrierenden Binnenwissens zirkulieren kann,¹⁸⁹ wird im Hauptteil dieser Arbeit noch mehrfach zurückzukommen sein. Für einen Autor wie Albert Cohen, dessen Texte und Figuren in vielfach variierenden Spiegelungsprozessen miteinander in Dialog treten, erscheint mir diese Einsicht von besonderem Belang. Den von Seiten der Literaturwissenschaft immer schon hervorgehobenen Verweischarakter der Literatur, ihre Kraft zur „symbolischen Bearbeitung und Bewältigung durch Sprachfindung und Gestaltung“¹⁹⁰ – um es mit dem Germanisten Wolfgang Braungart auszudrücken – greift Ette zwei Jahre nach Fertigstellung seiner Lebenstrilogie in expliziter Anbindung an den nicht minder symbolträchtigen biblischen Stofffundus ein weiteres Mal auf. Inwiefern die auch mit Anbruch der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends noch immer unbefriedigend gelöste Frage eines friedlichen
Perrone Capano, Lucia: Narrative heterogener Kulturen jenseits der Dichotomien: Emine Sevgi Özdamar und Yoko Tawada. In: Narration und Ethik. Hrsg. von Claudia Öhlschläger. München: Wilhelm Fink 2009. S. 293 – 303, hier S. 293. Ebd., S. 302. Ette, Ottmar: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010. S. 25. Diese Schreibweisen orientieren sich an folgenden Bänden: Ette, ÜberLebenswissen sowie ders.: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2005 und ders., ZusammenLebensWissen. Zu dieser von Ette monierten semantischen Kappung des Lebensbegriffs vgl. insbesondere: Ette, ZusammenLebensWissen, S. 23 – 29. Vgl. ebd., S. 14. Braungart, Wolfgang: Vom Sinn der Literatur und ihrer Wissenschaft. In: Allgemeine Literaturwissenschaft. Grundfragen einer besonderen Disziplin. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Berlin: Erich Schmidt 1999. S. 93 – 105, hier S. 99.
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Zusammenlebens in Differenz vor dem Hintergrund der Paradieserzählung untersucht werden kann, demonstriert er in seinem 2012 unter dem emblematischen Titel Konvivenz. Literatur und Leben nach dem Paradies publik gemachten Band.¹⁹¹ Im alttestamentlichen Bezugsrahmen der Urgeschichte verortet entwerfen die von Ette präsentierten Texte ein transnationales Panorama, das die der Genesis entlehnten paradiesischen Wunsch- und Sehnsuchtsbilder, aber auch die der Zwietracht und Gewaltsamkeit in vielerlei Brechungen plausibel mit der Gegenwart verschränkt: „In der Literatur zirkuliert stets, ‚durch veränderte Schichtenʻ, ein Wissen vom Paradies, folglich ein Wissen von Vertreibung.“¹⁹² Ottmar Ette folgend fächert sich dieses urgeschichtlich verdichtete und in der Literatur weiter transportierte Wissen innerhalb eines mehrgliedrigen Prozesses auf: beginnend mit dem vom Menschen erzwungenen Zugriff auf die Erkenntnis und der von Gott auf die Verbotsüberschreitung hin verfügten Vertreibung aus dem Paradies über den dieser Zwangsexilierung nachfolgenden Brudermord bis hin zur nunmehr unumgehbaren Frage nach den jenseits von Eden zwingend notwendig gewordenen Erfordernissen menschlichen Zusammenlebens.¹⁹³ Unter dieser Vorgabe sei das im kulturellen Gedächtnis unauslöschbar eingravierte Wissen um die den Genesisbericht durchziehende Grundambivalenz der conditio humana, so die bei Ette Anlass zur Hoffnung gebende Perspektive, stets ein Wissen um künftig zu ergreifende Chancen, herangereift in der Dialektik von Exil und Paradies auf das Bestreben hin, die Negativität des Sündenfalls mit den Mitteln der Erkenntnis zu durchbrechen: Auf der Suche nach dem verlorenen Zusammenleben ist im Akt des Erzählens, im Akt künftigen Schreibens ein neues Wissen entstanden, das weit über den Horizont und die Problematik der memoria hinausweist. Denn dieses vieldeutige narrative Lebenswissen bildet die Grundlage einer neuen Konvivenz. Einer Konvivenz, die sich der Tatsache bewusst ist, dass die dem Menschen nach seiner Vertreibung aus dem Paradies anvertraute Aufgabe im Zeichen der Früchte des Baumes der Erkenntnis in grundlegender Weise darin besteht, Mittel, Wege und Techniken zu ersinnen, ein Wissen von den Möglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen menschlichen Zusammenlebens zu entfalten.¹⁹⁴
Ette, Konvivenz. Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 9 – 13. Spuren dieses biblischen Wissens um Gewalt und Rivalität finden sich auch bei Stéphane Mosès: „Hervorgegangen aus der Rivalität zweier Mütter lebt er [Isaak] von Anfang an in Konkurrenz mit seinem Halbbruder Ismael und reiht sich so in eine lange biblische Reihe von verfeindeten Brüdern ein: vor ihm Kain und Abel, nach ihm seine zwei Söhne Esau und Jakob, dann – bis zu ihrer späten Versöhnung – sein Enkel Josef und dessen Brüder. So zeugt die biblische Erzählung, die vor allem eine Erzählung der Fortzeugungen ist, von Beginn an von der Gewalt der historischen Prozesse und ihrer unermesslichen Komplexität.“ Mosès, Eros, S. 29. Ette, Konvivenz, S. 69.
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Dichterisch gebündelt ließen sich Ettes Überlegungen in jener von Rose Ausländer 1993 niedergeschriebenen Paradiespoesie nachweisen, in der sich die Brisanz dieser mit dem Erkenntniserwerb ihren unwiderruflichen Gang nehmenden Grundpolarität menschlichen Daseins¹⁹⁵ in pointierter Diktion dramatisch zuspitzt: Eva die Schlangenfreundin erkannte was ihr bevorstand Feuer der Lust die zersplitterten Söhne im Schoß¹⁹⁶
Auf engstem Textraum konzentriert setzt die Dichterin eine luzide Frauenfigur in Szene, die dank der unlängst verbotenerweise erlangten Erkenntnis um die perfide Ambivalenz des sie ereilenden Schicksals weiß, ist der vom ersten Menschenpaar widerrechtlich erworbene Zugriff auf das Wissen doch ebenso unumkehrbar wie eine Rückkehr in das nunmehr für immer eingebüßte Paradies. Daher verschmilzt vor Evas innerem Auge das Feuer der als lustvoll zu erfahrenen Leidenschaft mit den als ebenso gesichert geltenden Tränen über den blutig endenden Disput der Söhne. Insofern als das Verbum „erkennen“ im Hebräischen doppelt semantisiert ist und sowohl den Akt der geistigen Erfahrung als auch in euphemistischer Umhüllung den des Beischlafs bezeichnen kann,¹⁹⁷ steht die in dem Poem deutlich sichtbar werdende Verklammerung beider Wortbedeutungen der altjüdischen Tradition sehr nah: „Für die Bibel gibt es eine Erkenntnis, die durch den Leib geht. Sie ist keine Verfallsform intellektueller Erkenntnis, sondern erscheint als Modell der Erkenntnisaktivität überhaupt.“¹⁹⁸
Bei Ette heißt es hierzu: „In der Bewegung der Vertreibung wie der Vertriebenen beginnt eine Geschichte an Fahrt aufzunehmen, in der die Gewalt – und hierin liegt eine durchaus schmerzhafte Erkenntnis, die das Erkennen von Gut und Böse zugleich bekräftigt und in Frage stellt – gleichsam immer schon eingeschrieben ist. Geschichte und Gewalt scheinen nicht voneinander trennbar.“ Ette, Konvivenz, S. 12. Ausländer, Rose: Erkenntnis. In: Hügel aus Äther unwiderruflich. Gedichte und Prosa 1966 – 1975. In: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hrsg. von Helmut Braun. Frankfurt/Main: Fischer 1984. S. 174. Auch den wertvollen Hinweis auf Ausländers Eva-Gedicht verdanke ich Gellner, Schriftsteller, S. 42. Vgl. den entsprechenden Eintrag in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament. Bd. 1. München: Kaiser 1971. S. 691. Mosès, Eros, S. 10.
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1 Vorüberlegungen
Wo wie bei Ette vorgeführt das Wissen der Bibel mit dem der heutigen Zeit zusammenfließt, da erschließt sich für das hier erörterte Verhältnis von Bibel und Literatur eine in Gänze unverzichtbare Sinnrichtung: Kraft des Umstands, dass die in den biblischen Texten enthaltene Lebensbotschaft nur dann eine den altorientalischen Entstehungskontext transzendierende Wirkungsgeschichte und Neuvergegenwärtigung erfahren könne, wenn sie weitererzählt und weitergedacht werde, sei die Schöpfungsgeschichte, so Ette, „als Menschheitsgeschichte ohne Literaturgeschichte, ohne Erzählung und Reflexion in der Gemeinschaft der Hörenden und Lesenden, schlicht nicht vorstellbar.“¹⁹⁹ Insinuiert der eingeschliffene Terminus vom biblischen „Subtext“ einen schon begrifflich unüberhörbar asymmetrischen Zugriff der einen auf die andere Quelle, den Zugriff der Literatur auf die Bibel nämlich, so equilibriert Ette, dies ist anzunehmen, jenes Gefälle neu, indem er umgekehrt die für das Weiterleben der Schöpfungsgeschichte geradezu zwingend notwendige Indienstnahme der Literatur durch das in der Bibel Erzählte betont. Spinnt man diesen Gedanken fort, so ist damit gleichzeitig auf einer weiteren Ebene die Grundlage für jenen wechselseitigen wissenschaftlichen Ertrag gesichert, von dem beide Disziplinen – Theologie und Literatur – künftig profitieren sollten, um der jeweils größtmöglichen Erkenntnis die Tür zu öffnen. Der auf das Zusammenwirken von Theologie und Literatur spezialisierte Theologe Christoph Gellner, der mit seiner literaturwissenschaftlich ausgerichteten Publikation Schriftsteller lesen die Bibel mit gutem Beispiel voranging, sieht in diesem begrüßenswerten interdisziplinären Dialog eine doppelte Herausforderung: Einerseits vermag die Fachgermanistik ohne fundierte Bibelkenntnis einen Großteil der Literatur kaum zu erschließen […]. Andererseits werden Theologie und Kirche (wie Synagoge und Judaistik) über Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit einem Fortwirken der Bibel konfrontiert, das als Ausdruck zeitgenössischer Wirklichkeitsdeutung eingespielte Plausibilitäten aufbricht und heilsam in Frage stellt.²⁰⁰
Und in der Tat: Mit ihrem Feinsinn für die den Menschen aufzehrenden Sehnsüchte und Ängste bekräftigen literarische Texte wie die Albert Cohens den vonseiten der Literaturwissenschaft an den Dialogpartner in den Anfangsjahren des damals noch verhaltenen Gesprächs herangetragenen Wunsch, die Theologie möge erkennen, „wie viel an Krisenwahrnehmung, authentischer Subjektivität…, aber auch an neuer Gestaltung, neuer Formgebung, neuer Bewältigung, neuer Hoffnung in Literatur zu finden ist …“²⁰¹
Ette, Konvivenz, S. 14. Gellner, Schriftsteller, S. 16. Kuschel, Literatur, S. 20.
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Kommen wir nochmals auf die mit Ette die Schablone zahlreicher Erzähltexte bildende biblische Paradiesmetaphorik zurück. Wolle man der Literatur den alttestamentlichen Wissens- und Erfahrungsschatz zugrunde legen, so gelte es zu bedenken, dass die in der Genesis ausgemalte Paradieslandschaft ein konsequent utopisches Eden sei, entworfen als jene im wahrsten Sinne des Wortes „absolute Heterotopie“, die keinerlei Hoffnung auf Heimkehr des Verstoßenen in Aussicht stelle: „Abstraktheit und Losgelöstheit dieser Heterotopie sind in der Genesis immer schon mitgedacht“²⁰², die geografische Begrenztheit des Paradieses, so ließe sich hinzufügen, in der Etymologie des Begriffs immer schon angelegt.²⁰³ Auch jüdische Autorinnen und Autoren haben das im Schöpfungsbericht verankerte Sehnsuchtsnarrativ als Inbegriff eines Urverlangens ihren Texten eingeflochten. In eindeutig biblischer Diktion klingt so die in Irène Némirovskys unvollendet gebliebenem Romanzyklus Suite française durchsickernde Paradieslamentation an – eine bittersüße Klage, die als schwermütige, in größtmöglicher Allgemeinheit gehaltene Metalepse den fiktionalen Rahmen unvermittelt sprengt: „Dans le cœur de chaque homme et de chaque femme subsiste une espèce d’Eden où il n’y a ni mort ni guerres, où les fauves et les biches jouent en paix. Il ne s’agit que de retrouver ce Paradis, que de fermer les yeux à ce qui n’est pas lui.“²⁰⁴ Artikuliert im Spannungsfeld von hoffnungsfroher Zuversicht und skeptischer Distanzierung bleibt Némirovskys die messianische Symbolik des jesajanischen Tierfriedens²⁰⁵ in den Textraum einblendende Paradiesrekonstruktion eine rein gedankliche. Indem die Autorin zwei bereits innerbiblisch miteinander verwobene Motivstränge – das Paradies und jene messianische Endzeit, die als „kulturübergreifende Topik“ die „archetypische Idylle abendländischen Denkens par excellence“²⁰⁶ abbildet – zueinander in Relation setzt, multipliziert sich die in-
Ette, Konvivenz, S. 17. „Der dem Altpersischen entlehnte Terminus Paradies bezeichnet ursprünglich eine Gartenanlage mit Bäumen und Bächen oder ein Wildgehege. Im Alten Testament kommt in den späten Texten das Lehnwort pardes noch im Sinne von Garten vor, ehe sich das Wort zu unserer jetzt noch üblichen Bedeutung Paradies wandelte, die dem Alten Testament noch unbekannt ist. Die Paradiesgeschichte der Genesis bezeichnet den Gottesgarten entweder als ‚Edenʻ oder nur als ‚Gartenʻ. Erst in nachalttestamentlicher Zeit bürgerte sich das Wort als Terminus für den Garten Eden in Gen 2 ff ein und verlor seine ursprüngliche Bedeutung völlig.“ Tubach, Jürgen [u. a.] (Hrsg.): Sehnsucht nach dem Paradies. Paradiesvorstellungen in Judentum, Christentum, Manichäismus und Islam. Wiesbaden: Harrasowitz 2010. S. 1. Némirovsky, Irène: Suite française. Paris: Denoël 2004. S. 371. Vgl. Jes 11,6 – 7: „Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind.“ Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 203.
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1 Vorüberlegungen
nerhalb dieses Repetitionsmusters aufflackernde Sehnsuchtssymbolik. Anders verhält es sich bei der in den 1930er Jahren zur Exilierung genötigten DeutschJüdin Else Lasker-Schüler: Zahlreiche der in den Prosatext Das Hebräerland einmontierten Paradiesallusionen situieren sich nicht in einem mythisch-verschwommenen Nirgendwo, sondern geografisch exakt in jenem multikulturellen „Zauberlande“²⁰⁷ Palästina, in dem „die verschiedenartigsten morgenländischen und abendländischen Völker und Religionen“²⁰⁸ aufeinandertreffen. Und doch finden sich bei der Lyrikerin der schwierigen Werkgenese zum Trotz – Das Hebräerland entstand 1937 im Zürcher Exil – versehrte Bruchstücke dieses Edens über den ganzen Erdball verstreut: „Überall hängt noch ein Fetzen Jerusalem. Oft dort, wo man es zu finden nicht erwartet – zwischen faltigen, grämlichen, müde gearbeiteten Händen einer Mutter, oder am Felsrücken eines verwüsteten Landes.“²⁰⁹ Ausgehend von den bislang erörterten Thesen zur menschlichen Existenzdeutung durch die Hebräische Bibel einerseits und ihrem über die Literatur ermöglichten Fortwirken andererseits soll in einem weiteren Schritt Albert Cohens Weiterführung dieser Traditionslinie dargelegt werden.
1.2.1 Albert Cohens Bibelrezeption An der Albert Cohen vonseiten der Forschung immer wieder einhellig bescheinigten Bibelfestigkeit ist wohl ebenso wenig zu rütteln wie an der werkimmanent belegbaren Bibelpräsenz. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich Cohen – „un auteur baigné de culture biblique“²¹⁰ – aufs Engste mit all jenen Schriftstellern der Moderne berührt, deren Œuvre ein lebendiges biblisches Erbe durchzieht. Schon das lyrische Debüt des künftigen Romanciers markiert diese ethnisch-religiöse Standortbestimmung ebenso prononciert wie unumkehrbar.²¹¹ Albert Cohens atheistische Gesinnung aber steht zu dieser künstlerischen Selbstverortung nicht im Widerspruch, hätten selbst, so Oberhänsli-Widmer, „die namhaften israelischen Schriftsteller doch die Bibel zur Hand, auch und gerade wenn sie dem
Lasker-Schüler, Else: Das Hebräerland. München: dtv 1986. S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 183. Schaffner, Le goût, S. 285. Vgl. hierzu ebd., S. 362 (Fußnote 4): „Sans doute peut-on ici parler d’,hypotexte‘ biblique, au sens où l’entend Gérard Genette, dans la mesure où il y a, dans ce premier recueil de poèmes, une véritable volonté d’imitation et de réécriture.“
1.2 Theologie und Literatur im Gespräch
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Gott Israels längst abgeschworen haben […].“²¹² Die Bibel, und dieses Detail ist für das Folgende nicht unwichtig, las Albert Cohen, des Hebräischen nicht mächtig, in französischer Übersetzung: „Par ailleurs, les spécialistes de Cohen, Denise Goitein-Galpérin en tête, sont unanimes pour confirmer que l’écrivain lisait la Bible dans l’édition protestante et genevoise de Louis Second.“²¹³ Gezielt weist Alison Boulanger auf die mit dieser Art der Bibelrezeption gleich dreifach implizierte Brechung hin, bedingt durch Sprache, Herkunft und Konfessionszugehörigkeit der konsultierten Ausgabe. Hieraus folgert die Autorin wiederum zweierlei: „Le choix de cette Bible signale la perte de ce qu’on pourrait appeler ‚l’origineʻ (la langue et le pays), mais aussi la possibilité de choisir une langue, en tant qu’écrivain.“²¹⁴ Und so ließe sich die gewählte Quelle als materialisiertes Sinnbild jener produktiven Dialektik deuten, die Albert Cohens Dichtung im Spannungsfeld von Ursprung und Fremde, von biblischer Diktion und moderner Dichtung, von altjüdischen Diskurstraditionen und abendländischem Geist inhaltlich und formal maßgeblich prägte. Tief der jüdischen Tradition verbunden geht der für die Gebrechen der Gesellschaft hellhörige Autor dem in den alttestamentlichen Erzählungen symbolisch gespiegelten Geschick des Menschen nach. Dabei sind die in seinen Texten mal offener, mal verdeckter verarbeiteten biblischen Akteure, Motive und Stoffe breit gestreut: So erstreckt sich das figurale Spektrum vom Gesetzesgeber Moses über die Propheten, Hiob und den Prediger bin hin zur Leidensfigur Christi. Eine vergleichbare Vielfalt ergibt sich für all jene Passagen, die sich zentrale Bildbereiche des Schöpfungsberichts, der Brudermorderzählung, des Hohen Lieds, des Ester- und des Ruthbuchs aneignen. Zu zeigen ist: Wie bereits am Beispiel anderer Interpreten gesehen, bleibt auch Albert Cohens Zugriff auf die biblische Bilderfülle stets dem exegetischen Vorsatz treu, das altjüdische Ethos in die heutige Erfahrungswelt zu transportieren. Typisch für Cohens kulturgeschichtliche Bibelrezeption ist, so werden wir sehen, die schöpferische Anverwandlung der in der Urgeschichte archetypisierend gezeichneten allgemeinmenschlichen Grunderfahrungen. Diese in den Texten des Autors allgegenwärtige Überführung des Partikular-Romanesken ins Archtetypisierend-Universale hat schon die CohenForscherin Carole Auroy im Rekurs auf den jüdischen Denker Maurice Blanchot in den Vordergrund gerückt, stelle das Œuvre des Romanciers doch die allegorisch
Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 14. Audéoud, Laurence: Paroles de prophète. Répétitions bibliques dans ‚Paroles Juives‘ et ‚Carnets 1978‘ d’Albert Cohen. Bern: Peter Lang SA 2007. S. 14. Boulanger, Code, S. 182.
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gelegten Weichen für eine „lecture de la situation de l’homme dans le monde.“²¹⁵ Entlang der am Beispiel unterschiedlichster literarischer Stimmen gestreiften poetischen Entfaltungsmöglichkeiten religiöser Themen und Motive soll der an die Einleitung anschließende Hauptteil Aufschluss darüber geben, welchen Widerhall die vorgeführten theologischen Erkenntnisse zum alttestamentlichen Welt- und Menschenbild einerseits und zur jüdischen Erinnerungskultur andererseits in Albert Cohens Schreiben fanden. Auf welche Weise werden die aus theologischer Sicht gesetzten Impulse zur irreduziblen Ambivalenz des Menschseins und zum im Schöpfungsbericht ausgespannten Bogen von einer ursprünglich guten zu einer gewaltbereiten Welt im Werk des Autors narrativ verarbeitet? Wie wird dort einem Konfliktpotential begegnet, das in Mieths und Ettes ethischen Literaturentwürfen den defekten Ausgangspunkt einer Reflexion bildet, die sich mit dieser Negativität als „konkreter Förderungsgestalt des Menschlichen“²¹⁶ produktiv auseinandersetzt, um deren positiven Umgestaltungsmöglichkeiten auszureizen? Ziel der folgenden Kapitel wird daher sein, die das Gesamtwerk des Schriftstellers querenden Beziehungsformen der Liebe durch eine akribische Arbeit am Text einerseits herauszufiltern, andererseits aber auch diese erzählerisch transparent gemachten Modelle der Liebe – und der Modellbegriff steht hier in ausdrücklicher Anlehnung an Mieth – unter Freilegung ihrer ethisch-jüdischen Tiefenschicht auf die außerliterarische Wirklichkeit zu projizieren. Dahinter steht die These, dass die Texte des jüdischen Schriftstellers jenem in Ettes Band zur Konvivenz aufgezeigten Erzählschema folgen, das die mit der gebotenen Dringlichkeit ästhetisch abgehandelte Frage nach den Herausforderungen menschlichen Zusammenlebens im Licht zentraler Motive der Urgeschichte aufzeigt. Die nach diesem Grundmuster in den Texten des Autors variationsreich aufgeworfenen Urfragen der Genesis führen geradewegs zurück zu der von Albert Cohen ins Spiel gebrachten hybriden Selbstmetaphorisierung seines Werks als „arbre de Judée dans la forêt française.“²¹⁷ Zunächst aber bietet es sich an, die für die ethischen Implikationen des Cohenschen Schreibens grundlegende Verhältnisbestimmung zwischen Liebe und Judentum ausgehend vom schriftstellerischen Selbstverständnis eines Autors zu beleuchten, dessen Frühwerk schon sich als kreative Übernahme dieser Paarung erweist.
Auroy, quête, S. 8. Die Passage, auf die Auroy bei Blanchot Bezug nimmt, lautet: „Le propre du récit symbolique est de rendre présent ce sens global que la vie de chaque jour, étranglée dans ses événements trop particuliers, nous permet rarement d’atteindre et que la réflexion, qui n’en retient que l’aspect intemporel, ne nous permet pas d’éprouver.“ Blanchot, Maurice: La part du feu. Le langage de la fiction. Paris 1949. S. 84. Zitiert nach: Auroy, quête, S. 8. Mieth, Dichtung, S. 59. Zitiert nach Peyrefitte, Christel: Préface. In: Cohen, Belle du Seigneur. S. IX–XLII, hier S. XLI.
1.3 „Jüdische Literatur“ – ein missverständliches Konzept
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1.3 „Jüdische Literatur“ – ein missverständliches Konzept Verschafft man sich einen Überblick über die bis zum heutigen Tag zu Albert Cohen gedruckte Sekundärliteratur, so drängt sich der Verdacht auf, dass die benannten Beiträge zu der in den Texten des Autors beobachtbaren Verschmelzung von Liebe und Judentum seinem jüdischen Literaturverständnis bis dato zu wenig Beachtung schenkten. Dabei ist es doch ebendieses Verständnis – die Frage also, was es für den Künstler bedeutet, Jude und Schriftsteller zu sein –, die ein unverzichtbares Vorwissen für die Ausdeutung des ästhetischen Dialogs zwischen Liebe und Judentum bereithält. Diese im Hinblick auf Albert Cohens schriftstellerische Präliminarien äußerst naheliegende Betrachtungsweise soll daher nicht länger vertagt werden. Denn in der Tat geht der Autor, soviel sei vorweggenommen, von klar erkennbaren Kriterien aus, durch die ein jüdisches Kunstwerk in den Augen des Betrachters Beifall finde. Dem Verfasser ist mithin nicht daran gelegen, einen unscharfen Begriff, den der jüdischen Literatur, erklärbar zu machen, sondern ihn vielmehr als literarisches Qualitätsprädikat neu zu justieren – zugesprochen allein jenen Werken, denen es uneingeschränkt gebührt. Hinsichtlich des in der vorliegenden Arbeit erörterten Themenkomplexes empfiehlt sich mithin eine Blickbegrenzung auf die Frage, auf welche individuelle Art und Weise der Schriftsteller das Verhältnis zwischen Literatur und Judentum abseits literaturwissenschaftlich explorierter Pfade definiert. Die Originalität der Cohenschen Reflexion über jüdisches Schreiben – eine Kategorie, die bei ihm zweifellos eng mit dem modernen Ambivalenzdiskurs verklammert ist²¹⁸ – wird allerdings erst dann hinlänglich in ihrer Eigenständigkeit zu schätzen sein, wenn man sich die weitreichende Heterogenität der unter Forschern zirkulierenden Ansätze zur begrifflichen Präzisierung der jüdischen Literatur ins Gedächtnis ruft. „Das Undefinierbare definieren“ – unter diesem Paradoxon nähert sich die an der Universität Tel Aviv lehrende Philologin Hana Wirth-Nesher in einem 1994 publizierten Beitrag jüdischem Schreiben an: „[T]here is no consensus nor is it
Dieser bei so vielen Autoren der Moderne zu konstatierende Bedeutungszuwachs der Ambivalenz, der sich nicht zuletzt in den fiktional verarbeiteten Identitätskonflikten ihrer Helden äußert, verleitete den Germanisten Hans Otto Horch zu der berechtigten Frage, „ob überhaupt und in welchen Punkten sich der deutsch-jüdische Beitrag zur Moderne von dem nicht-jüdischer Autoren signifikant unterscheidet.“ Horch, Hans Otto: Heimat und Fremde. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur oder Probleme einer deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. In: Juden als Träger bürgerlicher Kultur in Deutschland. Hrsg.von Julius H. Schoeps. Stuttgart, Bonn: Burg 1989. S. 41– 65, hier S. 59. Zitiert nach: Hammer, Almuth: Erwählung erinnern. Literatur als Medium jüdischen Selbstverständnisses. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. S. 9 f. (Fußnote 5).
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likely that there ever will be one about defining the subject under study.“²¹⁹ Einen autorzentrierten Definitionsversuch, der allein die jüdische Biografie des Schreibers erfasse, lehnt die Verfasserin darin ebenso ab wie die eingleisige Festlegung auf die Ebene des Inhalts oder die der Figuren.²²⁰ Auch das schriftstellerische Selbstverständnis habe sich als untauglicher Beschreibungsparameter bewahrheitet.²²¹ Für einen ebenso insuffizienten Analyseweg hält Wirth-Nesher die alleinige Fokussierung auf die Faktoren Sprache, Religiosität und Geschichtsbewusstsein.²²² Um der hybriden Prägung eines häufig aus mehreren Traditionssträngen erschriebenen Werks genügen zu können, optiert die Autorin schlussendlich für eine Perspektive, die den Blick ausschließlich auf die rezeptionsästhetische Sichtweise zu verrücken droht: „None of this precludes the possiblity that a work can inhabit several literary traditions simultaneously. Its characterization as Jewish will depend upon the reader and all of the circumstances of its reception.“²²³ Eine endgültige Klärung des Begriffsdilemmas aber vermag auch dieser Ansatz nicht zu leisten. Dass dem zumeist relational gebrauchten Begriff der „jüdischen Literatur“ unterschiedliche nationenspezifische Konzeptionen zugrunde liegen,²²⁴ ist gerade im Hinblick auf das Kompositum der „deutsch-jüdischen Literatur“ nicht zu leugnen.²²⁵ Als inadäquat, so Andreas Wirth-Nesher, Hana: Defining the Indefinable: What is Jewish Literature? In: What is Jewish Literature? Hrsg.von Hana Wirth-Nesher. Philadelphia: The Jewish Publication Society 1994. S. 3 – 12, hier S. 3. Wie etwa von André Elbaz vorgeschlagen: „Pour nous, un romancier juif sera un juif qui écrit des romans mettant en action des personnages juifs.“ Elbaz, André: Les romanciers juifs français d’aujourd’hui. In: Liberté 12/4 (1970). S. 92– 105, hier S. 95. Demgegenüber erachtet Elbaz das jüdische Selbstbild des Autors als grundlegend: „Alors qu’un écrivain français, par exemple, n’a pas besoin de s’affirmer français, un écrivain juif n’est écrivain juif que dans la mesure où il insiste sur sa ‚judéité‘.“ Ebd., S. 93. Vgl. Wirth-Nesher, Defining the Indefinable, S. 3 f. Ebd., S. 5. Zu einer rezeptionsästhetischen Ausdeutung des Begriffs vgl. auch Andreas B. Kilcher: Deutsch-jüdische Literatur müsse „immer schon oder immer nur als ein Produkt von Interpretationen verstanden werden.“ Kilcher, Andreas B.:Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘? In: Weimarer Beiträge 4. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften. Wien: Passagen Verlag 1999. S. 485 – 517, hier S. 487. Eine wissenschaftliche Betrachtungsweise, der sich der US-amerikanische Philologe Alvin Rosenfeld mit seiner transnational konzipierten Studie zur sogenannten „Holocaust-Literatur“ widersetzt: Rosenfeld, Alvin H.: Ein Mund voll Schweigen: literarische Reaktionen auf den Holocaust. Aus dem amerikanischen Englisch von Annette und Axel Dunker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. Vgl. etwa Isabelle Enderlein in ihrer komparatistischen Studie zu Albert Cohen und Elias Canetti: „Elle [la question de l’existence d’une littérature juive] s’envisage différemment selon les contextes nationaux. Elle pose ainsi des problèmes sensiblement différents en France et en Allemagne.“ Enderlein: Visages, S. 38.
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Kilcher, erweise sich der Begriff über die historisch vorgegebenen Konnotationen hinaus auch schon allein deshalb, da er latent dazu neige, „Literatur auf die Repräsentation ethnischer, religiöser oder kultureller Werte zu reduzieren.“²²⁶ „Literatur“, so Kilcher weiter, „wird hier zur Funktion einer kulturellen Identität, ihre ästhetischen Qualitäten werden instrumentalisiert – und damit ignoriert.“²²⁷ Komparatistisch angelegte Abhandlungen zur jüdischen Literatur wie die von Clara Lévy, Timo Obergöker oder Norman David Thau²²⁸ begrüßen es daher mehr oder weniger explizit, das Konzept der „littérature juive“ durch den weniger rigiden Begriff der „écriture juive“ abzulösen – ein Schlagwort, unter dem die Autoren den Akzent von der Themen- und Motivwahl auf das ästhetisch signalisierte jüdische Verständnis vom Menschen und der Welt verschieben.²²⁹ Das Konzept ist nicht neu, waren es häufig doch die jüdischen Denker selbst, die eine im Geist des Judentums wurzelnde Welterfahrung die ihre nannten. Deutlich spricht dieses Selbstverständnis aus Sigmund Freuds im Jahr 1926 vor der jüdischen Loge B’nai B’rith publik gemachter confessio judaica. Im festlichen Rahmen der anlässlich seines 70. Geburtstags durch diese Organisation ausgesprochenen Ehrung erklärte sich der 1897 der Loge beigetretene Freud seine Verbundenheit zum Judentum mit einer nur vage in Worten fassbaren „Heimlichkeit der gleichen,
Kilcher, Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?, S. 486. Einen mit Kilchers Argumentation übereinstimmenden Einwand äußert Elaine Marks: „Writing and style, I would maintain, are marked by historical moments and individual temperament, positioning, and variations, not by race, ethnicity, class, or gender.“ Marks, Marrano, S. 69. Kilcher, Was ist ‚deutsch-jüdische Literatur‘?, S. 486. Als geistigen Bezugspartner zur Verdeutlichung des elementaren Zusammenhangs zwischen einer spezifischen Art und Weise der Weltaneignung und deren Abbild in den Künsten wählt Lévy den das Analogieverhältnis von gotischer Architektur und Scholastik aufdeckenden Kunsthistoriker Erwin Panofsky: „La démonstration de Panofsky nous est utile par la possibilité qu’elle instaure d’établir un lien entre une pensée et des réalisations artistiques.“ Lévy, Ecritures, S. 9. Den Dreh- und Angelpunkt von Obergökers Untersuchung bildet die „problématique du lieu“, jene geografisch unauffindbaren Nicht-Orte, die nationale Zuordnungen von Texten zur „deutsch-jüdischen“ oder „französisch-jüdischen“ Literatur hinfällig machten: Obergöker, Timo: Ecritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire: Romain Gary, Patrick Modiano et Georges Perec. Frankfurt/Main: Lang 2004. S. 13. Diese topografische Unschärfe, die sich in ebensolch verschwommenen Identitätsentwürfen widerspiegle, ist auch Gegenstand der von Norman David Thau analysierten „Romans de l’impossible identité“. Dem entspricht die Sichtweise jenes Rezensenten, der Cohens Belle du Seigneur vom Judentum her verstanden und interpretiert wissen will: „Je persiste à penser qu’il existe, pour regarder le monde, un regard juif, et pour le dire une voix juive: quand un talent destructeur, naïf et furieux s’en mêle, on risque de se retrouver comme ici, plein de gratitude et passablement secoué, au cœur d’un beau livre un peu barbare.“ Nourissier, François. In: Les nouvelles littéraires (12. September 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1006.
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seelischen Konstruktion.“²³⁰ Doch auch damit ist die Begriffsmisere nicht ausgeräumt. Denn selbst wenn Albert Memmi auf der Grundlage des durch ihn lexikalisierten Begriffs der judéité die Existenz eines subjektiven Weltempfindens des Juden grundsätzlich bejahte,²³¹ erhob der Soziologe und Schriftsteller doch ernsthafte Zweifel an der Eignung der Literatur als Vermittlerin dieser jüdischen Gestimmtheit: „Je l’ai suggéré ailleurs: peut-être y a-t-il, dans cette affaire, une espèce de vice de forme: il n’y a probablement pas de coïncidence absolue entre une œuvre et un groupe social.“²³² In konträrer geistiger Ausrichtung zu Memmis Bedenken an einer mimetischen Gleichsetzung von Kunst und jüdischer Gesinnung trat Albert Cohen schon früh für ein Literaturverständnis ein, das nur vom Geist des Judentums her entwickelt werden könne. Es schlug sich bereits im publizistischen Selbstbild jener 1925 gegründeten Zeitschrift nieder, die von ihrem Herausgeber mit dem Anspruch konzipiert worden war, als ein jüdisches Sprachrohr auf Politik, Zeitgeschichte und Wissenschaft einzuwirken: „Sans qu’elle le veuille, cette revue sera, par surcroît, par naturelle et inattendue récompense, une revue littéraire. Nous aurons une esthétique, puisque nous sommes une race. Une race est une idée faite chair.“²³³ Den vom Nationalsozialismus ethnisch entwerteten Begriff der „jüdischen Rasse“ gilt es in dieser mit literarischem Pathos aufgeladenen journalistischen Absichtserklärung vor der historischen Kulisse und Rhetorik der frühen 1920er Jahre zu lesen: Hervorgetreten aus dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer dominanter auftretenden biologisch-anthropologischen Wissenschaftsdiskurs hatte sich damals diese Bezeichnung nicht nur gleichermaßen unter Juden wie Nicht-Juden eingebürgert. Mehr noch: Im Sinne einer gewiss ethnisch, nicht aber religiös motivierten Identitätswahrnehmung erachteten ihn viele Juden gar als vorteilhaft, so die Diagnose des auf die Shoah spezialisierten Historikers Michael Marrus: „Seule la terminologie biologique raciale offrait un cadre sémantique à l’intérieur duquel tous les Juifs pouvaient exprimer ce sentiment d’appartenance juive. Seule la race pouvait expliquer la persistance de la
Zitiert nach Gilman, Selbsthass, S. 163. „[O]n constate aisément […] qu’ être juif, communément, c’est: Une expérience vécue; une condition objective; une culture. Cette expérience d’une condition objective et de l’appartenance à une culture constitue ce que j’ai proposé de nommer la judéité. La judéité serait ainsi l’ensemble des caractéristiques subjectives et objectives, du Juif.“ Memmi, Albert: Le juif et l’autre. Etrépilly: Bartillat 1995. S. 130. Ders.: Condition juive et littérature. In: Littérature et judéité. Pardès 21. Paris: Cerf 1995. S. 37– 41, hier S. 39. Cohen, Déclaration, S. 8.
1.3 „Jüdische Literatur“ – ein missverständliches Konzept
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judéité chez des hommes qui avaient renoncé à leur religion.“²³⁴ Ein hohes Maß an Sensibilität für die selbst subtilsten Formen der Präsenz des Judentums in der Literatur besaß Albert Cohen wohl allemal, ein überaus feines Gespür für jene zwischen den Juden als Bindeglied intakt gebliebene, um nochmals mit Freud zu sprechen, „seelische Konstruktion“, die der Schriftsteller selbst in jenen Werken erspürte, die sich dem Leser nicht auf Anhieb als jüdisch aufzwangen. Über diese für die französische Literaturgeschichte typische Konturenverwischung zwischen Jüdischem und Nicht-Jüdischem war im Literaturteil des L’Express zu lesen: „La littérature juive française a cela d’extraordinaire que, malgré une longue tradition d’écrivains juifs, de Montaigne à Proust, et des thématiques souvent communes, elle est longtemps demeurée un champ d’exploration individuel, quasi privé, de références religieuses et culturelles.“²³⁵ Wie aber ließe sich diese von Cohen selbst, wie noch zu zeigen ist, einem sorgsamen Differenzierungsprozess unterworfene jüdische Literatur definieren, ohne stark schematisierenden Essenzialismen zu erliegen? Aus dem Gesagten wurde deutlich, dass die vonseiten der Literaturwissenschaft eingebrachten Definitionsvorschläge, je nach priorisierter Eingrenzung der unter dem poetologischen Kriterium „jüdisch“ rubrizierten Werke, beträchtlich voneinander divergieren können. Denn auch bei vermeintlich nuancierter strukturierten werkanstelle von autorzentrierten Korpusbestimmungen wird man unvermeidbar auf Texte stoßen, die sich der Erfassung des Jüdischen durch ein vorab präzisiertes Deutungsraster verweigern, wichtige Schreibstimuli aber dennoch dem Judentum schulden. Und selbst wenn die für den Begriff der „jüdischen Literatur“ potenziell praktikablen Beschreibungskategorien zuverlässiger sein mögen als die für den nicht minder umstrittenen Begriff der „christlichen Literatur“²³⁶, so läuft der In-
Marrus, Michael R.: Les Juifs de France à l’époque de l’affaire Dreyfus. Aus dem Englischen von Micheline Legras. Paris: Calmann-Lévy 1972. S. 41. Bisson, Julien: Les jeunes auteurs juifs en France. In: L’Express (1. März 2008). Vgl. dagegen die von Cohen unternommene bewusste Judaisierung des Schreibens von Proust und Montaigne in seinem noch ausführlich zu behandelnden Artikel Israël, le Juif et les romanciers français: „A noter, en passant, cette merveilleuse faiblesse, cette impossibilité de choisir qu’on pourrait justement reprocher à l’esprit juif de la troisième période, et qui fait des Essais de Montaigne, ou de A la recherche du temps perdu, un fleuve entraînant dans sa course lente tant d’alluvions, envoyant tant de bras à l’exploration de tant de terres étrangères.“ Cohen, Israël, S. 348 (Fußnote 1). Für eine mögliche Begriffsbestimmung vgl. die von Langenhorst vorgelegte, terminologisch bewusst weit gefasste Definition: „Unter dem Begriff lassen sich Texte (nicht AutorInnen!) fassen, die aus einem zumindest christlich mitgeprägten Kontext stammen; die erkennbar anknüpfende Inhalts-, Motiv- und Sprachimpulse aus dem christlichen Kontext schöpfen; die vom christlichen Kontext her verstanden und interpretiert werden sollten.“ Langenhorst, Georg: Konfession und Gottesrede im Werk Ralf Rothmanns. In: Religion und Gegenwartsliteratur. Spielarten einer Li-
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terpret doch Gefahr, den Definitionsradius zu eng oder zu weit zu fassen. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass eine in diesem Zusammenhang nennenswerte Szene aus Albert Cohens zweitem Roman Mangeclous als parodistischer Fingerzeig auf ein ebensolches Risiko zu deuten ist, zeigt das Beispiel doch, welche Schwierigkeiten sich der angestrengten Suche nach terminologischer Präzision in den Weg stellen können. So reflektiert der Erzähler das Bestreben seiner Figuren nach Formierung eines den in Deutschland bedrohlich schwelenden Antisemitismus bekämpfenden Komitees mit den Worten: „Il [Mangeclous] fut approuvé mais les débats s’avèrent difficiles car il fallut tout d’abord définir les termes.Y avait-il un peuple juif? Et qu’était un comité? Et quel sens fallait-il donner à ‚antisémitismeʻ?“ (M ‐ 448). Dieser begrifflichen Dilemmata ungeachtet ist eines aber gewiss: Die von der literaturwissenschaftlichen Forschung aus unterschiedlich gelagerten Blickrichtungen studierte „jüdische Literatur“ erhebt der Schriftsteller zu einem favorisierten Untersuchungsgegenstand zu ebenjener Zeit, da im Europa der frühen 1920er Jahre die definitorisch nicht annähernd so umstrittene „jüdische Renaissance“ floriert. Es ist bezeichnend, dass Cohen just in diesen für das Judentum kulturell bedeutsamen Jahren eine für sein künftiges literarisches Schaffen wegweisende Beschäftigung mit den Dimensionen jüdischen Schreibens rezensionsartig vorlegt, indem er die zeitgenössische jüdische Literaturproduktion einer in ihrer Argumentationswahl auffallenden Kritik unterzieht – einer Kritik, die als persönliche ästhetische Programmschrift, als ureigene Replik auf die Frage nach dem von der Forschung unbeirrt zu definieren gesuchten Wesen der jüdischen Literatur zu lesen ist.
aison. Hrsg. von Albrecht Grözinger [u. a.]. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. S. 53 – 68, hier S. 66.
2 Die Liebe und das Judentum: literarisches Vorspiel 2.1 Die Gunst der Stunde: la renaissance juive Im März des Jahres 1923 druckt die vom kosmopolitischen Geist des neu gegründeten Völkerbunds ideologisch gefärbte Zeitschrift La Revue de Genève den Artikel eines der damaligen Öffentlichkeit noch gänzlich unbekannten Verfassers ab: Israël, le Juif et les romanciers français,¹ so der Titel jenes Essays des damals achtundzwanzigjährigen Albert Cohen, der jüdisches Schreiben von einer metaliterarischen Warte aus ins Visier nimmt. Werfen wir in diesem Zusammenhang zunächst einen Blick auf den historischen und soziokulturellen Entstehungskontext, aus dem die frühe Schaffensphase des Autors zu verstehen ist. Cohens Artikel lässt sich als einer von zahlreichen Beiträgen zu jener in den frühen 1920er Jahren paneuropäisch aufblühenden gesamtkulturellen Bewegung begreifen, ob deren ungeahntem Ausmaß die Akteure selbst von einer regelrechten jüdischen Kulturrenaissance zu sprechen sich erkühnten.² Die historischen Wegbereiter dieser prosperierenden Entwicklung seien kurz gestreift, jene Blitzlichter jüdischer Geschichte, die dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkeimenden zionistischen Gedanken zudienten: Von Theodor Herzls 1896 publizierten Der Judenstaat – ein Werk, das „bereits im Titel zwei gänzlich entgegengesetzte Elemente auf einen Begriff brachte“³ – über den erstmalig 1897 in Basel stattfindenden Zionistenkongress⁴ bis hin zu jener geschichtsträchtigen Deklaration des britischen Außenministers Arthur James Balfour, die 1917 den Weg zur Schaffung einer „nationalen Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina ebnete, wenngleich es dem semantisch dehnbaren Begriff, der sich „irgendwo
Cohen, Israël. Vgl. Fhima, Catherine: Au cœur de la ‚Renaissance juive‘ des années 1920: Littérature et judéité. In: Archives Juives 39 (2006). S. 29 – 45, hier S. 39. Biller, Gerhard: Dezisionismus – Zionismus – Thedaismus. Zum Potential eines genuin jüdischen Aufbruchs. In: Jüdische Selbstwahrnehmung. La prise de conscience de l’identité juive. Hrsg. von Hans Otto Horch u. Charlotte Wardi. Tübingen: Max Niemeyer 1997. S. 55 – 76, hier S. 60. Zu dem als unmittelbare Reaktion auf diesen ersten Zionistenkongress fingierten antijüdischen Weltkomplott heißt es in Poliakovs der Geschichte des Antisemitismus gewidmeten Überblicksdarstellung: „Ce congrès, réuni à Bâle en été 1897, allait inspirer à son tour le terrifiant mythe des ‚Sages de Sion‘, également forgé à Paris, ce grand laboratoire des modes et des idées de toutes sortes.“ Poliakov, Léon: Histoire de l’Antisémitisme. Bd. 4: L’Europe suicidaire. 1870 – 1933. Paris: Calmann-Lévy 1977. S. 71. DOI 10.1515/9783110526103-003
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zwischen Staatsbildung und Niederlassungsrecht“⁵ verortete, damals noch an völkerrechtlicher Verbindlichkeit fehlte. Cohen selbst griff in einem Zeitschriftenartikel aus dem Jahr 1921 die durch Balfours Erklärung angestoßene Interpretationsproblematik auf.⁶ Mit der zunehmenden Verbreitung der zionistischen Idee ging die progressive jüdische Besiedlung Palästinas einher.⁷ Auf besonders fruchtbaren Boden fiel die zionistische Ideologie bei jenen im russischen Zarenreich Opfer massiver staatlicher Repressionsmaßnahmen werdenden Aschkenasim, die in immer größeren Scharen nach Westeuropa strömten, wo sie das Judentum sichtbar machten.⁸ Bei Alain Finkielkraut zeigt sich deutlich die Tragweite jenes schroffen ethnischen Zusammenpralls, den die aufsehenerregende Präsenz dieser aus dem Osten in den westeuropäischen Kulturraum eindringenden Juden dort erwirkte: „De vrais Juifs faisaient soudain irruption, Juifs patents, Juifs indiscutables, et ce spectacle était devenu inhabituel en Europe occidentale.“⁹ Ihres unbequemen Flüchtlingsschicksals wurde der junge Jurastudent Cohen im Genf der Jahre 1914 bis 1917 gewahr – eine, so wird sich herausstellen, folgenschwere Begegnung, die in der Werkgeschichte des Schriftstellers ihre unübersehbaren Spuren hinterließ: „Pour saisir le cheminement de l’écrivain, il ne faut pas négliger cette rencontre des Russes.“¹⁰ Vorbereitet wurde das in den 1920er Jahren neu erstarkte jüdische Selbstverständnis aber auch und gerade durch jene Spirale des Hasses und der Gewalt, die das Militärkomplott um den des Hochverrats bezichtigten Alfred Dreyfus im Frankreich der zu jener Zeit noch jungen dritten
Mallmann, Klaus-Michael u. Martin Cüppers: Halbmond und Hakenkreuz. Das dritte Reich, die Araber und Palästina. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006,. S. 13. Cohen, Albert: Vue d’ensemble sur la question juive et le sionisme. In: La Revue de Genève 10 (1921). S. 598 – 608, hier S. 602 f. Von 1882 bis 1903 ließen sich dort zwischen 20.000 und 30.000 jüdische Siedler nieder, weitere 35.000 bis 40.000 folgten von 1904 bis 1914. Im Zuge des Ersten Weltkriegs kam die jüdische Zuwanderung zu einem vorübergehenden Stillstand. In einer erneuten Einwanderungswelle strömten zwischen 1924 und 1928 weitere 80.000 Siedler in den Landstrich ein. Vgl. Ortag, Peter: Jüdische Geschichte und Kultur. Ein Überblick. 5. Aufl. Potsdam: Brandenburgerische Landeszentrale für politische Bildung 2004. S. 104. Die verstärkte jüdische Zuwanderung der späten 1920er Jahre verarbeitete Albert Cohen in seinem Debütroman Solal. „L’immigration des Juifs d’Europe de l’Est, très importante dans les années vingt, fournit aux Juifs français le modèle d’un judaïsme ethno-culturel ‚visible‘ dans la sphère publique. En même temps, les enfants des immigrés d’avant la guerre parviennent alors à l’âge adulte, formant une nouvelle génération, à la fois française à part entière et imprégnée de la culture juive d’Europe de l’Est.“ Malinovich, Nadia: Le ‚Réveil juif‘ en France et en Allemagne. Eléments de comparaison en manière d’introduction. In: Archives juives 39 (2006). S. 4– 8, hier S. 4. Finkielkraut, Le juif imaginaire, S. 84. Valbert, Albert Cohen, S. 90. Noch eindrücklicher formuliert der Biograf die Sogkraft dieser Juden auf Cohen wenige Seiten später: „Les Russes vont hanter le jeune homme.“ Ebd., S. 92.
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Republik anzukurbeln fähig war – eine Affäre, die von allen sozialen Schichten des Landes Besitz ergriffen und den im Zuge der Revolution erwachten Glauben unter den in Frankreich lebenden Juden in assimlilationsförderliche staatliche Strukturen ebenso abrupt wie radikal erschüttert hatte.¹¹ Insofern als in diesen außenpolitisch brisanten Jahren das übersteigerte französische Nationalbewusstsein dem vieler Nachbarstaaten in nichts nachgestanden habe, sei die durch die Affäre ausgelöste Welle des Antisemitismus jedweder zäh erworbener Emanzipationserrungenschaften der Juden zum Trotz unbehelligt auf das Land übergeschwappt: „Als Émile Zola den Artikel ‚J’accuse!ʻ veröffentlichte, trennten Europa nur noch 16 Jahre vom ersten Weltkrieg. Bei einer solchen Geisteshaltung zählte jedes Land die Seinen und kam zu dem Schluss, dass die Juden nicht dazugehören.“¹² Die sich mit der vollständigen Rehabilitierung des jüdischen Offiziers, durchgesetzt im Jahre 1906, abzeichnende Wende im Selbstbild zahlreicher jüdischer Intellektueller fand ihren wortgewaltigen Niederschlag in all jenen Zeugnissen, die in der geistigen Nachfolge des britisch-jüdischen Schriftstellers Israel Zangwill die Geburtsstunde des „Juif avec un grand J“¹³ stolz zu zelebrieren wussten. Komplementär zu diesem schwärmerischen Aufbruch zeigten sich die damals die französische Presselandschaft überschwemmenden neu gegründeten jüdischen Zeitschriftenpublikationen nicht minder beredt und engagiert.¹⁴ Parallel zu dieser vitalen Entwicklung erschien am 1. Januar des Jahres 1925 die erste von insgesamt sechs Ausgaben der von Cohen herausgegebenen La Revue juive – nicht von ungefähr zu einem Zeitpunkt, als im Nahen Osten die Gewalt zwischen Juden und Palästinensern eskalierte: „Albert Cohen, qui est en contact avec les milieux sionistes depuis 1914, souhaite sensibiliser le public français à „En effet, dans nul autre pays on n’avait fait montre d’un plus bel optimisme, d’une plus totale confiance dans ce que l’avenir apporterait. […] la majorité avait totalement foi dans le credo officiel, plein d’optimisme, de la troisième République. Il était communément admis que la France montrait à l’Europe et au monde la voie vers un stade plus élevé de civilisation.“ Marrus, Juifs de France, S. 13. Gérald, Messadié:Verfolgt und auserwählt. Die lange Geschichte des Antisemitismus. Aus dem Französischen von Bertold Galli. München: Piper 2001. S. 281 f. So schrieb der 1868 in der Lorraine geborene jüdische Schriftsteller André Spire, für dessen Künstlerschaft die Lektüre von Zangwills Erzählung Chad Gadya – die im Suizid endende Geschichte einer gescheiterten Assimilation – zum literarischen Schlüsselereignis wurde. Zitiert nach: Goitein-Galpérin, Denise R.: Albert Cohen et l’Histoire: son action politique et diplomatique. In: Albert Cohen face à l’histoire. Cahiers Albert Cohen 9 (1999). S. 17– 31, hier S. 18. Zum nicht zu unterschätzenden Einfluss Spires auf Albert Cohens Schriftstellertum vgl. auch Spire, MarieBrunette: Cohen/Spire: Correspondances. In: Magazine littéraire 261 (1989). S. 28 – 32. Eine ausführliche Darstellung dieses Presseaufschwungs findet sich bei: Malinovich, Nadia: Une expression du ‚Réveil juif‘ des années vingt: la revue Menorah (1922– 1933). In: Archives Juives 37 (2004). S. 86 – 96.
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cette question. […] Le sentiment d’intervenir dans le débat politique à un moment crucial est sans doute à l’origine de la création de la revue.“¹⁵ Den im öffentlichen Raum hohen Hauptes propagierten Schritt der kulturellen Selbstbestimmung, souverän ins Werk gesetzt gegen das nur schwach ausgeprägte Wir-Gefühl der assimilationswilligen Vätergeneration, begreift der Herausgeber darin als buchstäbliches Wunder: „Miracle. Moins profondément juifs que nos pères, plus amoureux qu’eux des trésors de l’Occident adorable, nous nous voulons plus juifs qu’eux. Plus osseux que nous, ils s’avouaient moins, ils se reconnaissaient moins. Ils croyaient en cet humanitarisme de principe qui avait brisé les chaînes de ghettos. Qu’on nous excuse donc: Nous avons une foi.“¹⁶ Dem zeitgleich jenseits des Rheins statthabenden identitären Aufbruch der deutsch-jüdischen Expressionisten bescheinigt Hanni Mittelmann einen ähnlich widersinnigen Erneuerungsimpuls: „Es entsteht die eigentliche paradoxe Situation, dass gerade der Ausbruch aus dem alten Traditionsverständnis, das die Grundlage der Identität der Vätergeneration bildete, die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins und der jüdischen Identität der jungen Generation zeitigte.“¹⁷ Den jüdischen Glauben der Vorgängergeneration denkt der Herausgeber in einer pragmatischen Absicht weiter, die das Alte gemäß der neuen Herausforderungen der schnelllebigen Wirklichkeit entschlossen umzumünzen gewillt ist: „Le monde juif est en état de décadence, à la fois, et de résurrection. Nous discernerons ici ce qui est digne de vivre et ce qu’il faut, avec douceur, encourager à mourir.“¹⁸ Dieser Wille zur neuschöpferischen Wiederbelebung früherer Traditionen darf mit Michael Brenner als mustergültig auch und gerade für das Judentum der Weimarer Republik gelten: Charakteristisch für die jüdische Kultur der Weimarer Zeit war weder ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit noch die Rückkehr zu ihr.Vielmehr nutzte sie bestimmte Formen jüdischer Tradition, die sie als authentisch kennzeichnete, und präsentierte sie entsprechend den Anforderungen des zeitgenössischen Geschmacks und der modernen kulturellen Ausdrucksformen. Was den Anschein des Authentischen erwecken mochte, war in Wirklichkeit moderne Innovation.¹⁹
Schaffner, Alain: L’échec de ‚La Revue juive‘ d’Albert Cohen. In: Mémoires du livre/Studies in Book Culture 4/1 (2012). Zitiert nach: id.erudit.org/iderudit/1013324ar (21.6. 2014). Cohen, Déclaration, S. 6. Mittelmann, Hanni: Jüdische Expressionisten: Identität im Aufbruch – Leben im Aufschub. In: Horch, Wardi (Hrsg.), Jüdische Selbstwahrnehmung, S. 181– 194, hier S. 186. Cohen, Déclaration, S. 9. Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Englischen von Holger Fliessbach. München: C.H. Beck 2000. S. 15.
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Ganz der Realisierung eines in dreifacher Hinsicht Akzente setzenden Programms verpflichtet – ethisch, politisch und ästhetisch²⁰ – schart Albert Cohen im Redaktionskomitee des disziplinär breit aufgestellten Organs namhafte Köpfe um sich: von Freud und Einstein über den Nationalökonom Charles Gide bis hin zu dem zwei Jahrzehnte später das Amt des ersten Staatspräsidenten Israels bekleidenden Chaim Weizmann. Der zionistische Geist der Stunde dringt in die Druckerschwärze der Schriftzeichen dergestalt ein, dass selbst die Poesie deutlich ins Visier der von der Zeitschrift beschworenen Vision gerät. Unter die von Hugo Friedrich der modernen Lyrik zugewiesene Maxime der Wirklichkeitsverfremdung²¹ hat diese engagierte Lyrik eines „poète militant“²² fürwahr einen Schlussstrich gesetzt. Im lyrischen Duktus des in die dritte Ausgabe der La Revue juive integrierten Cantique de Sion erklingt die zionistische Losung als säkularer Preisgesang auf all jene resoluten Siedlungspioniere, die das neu zu erschließende Land im Schweiße ihres Angesichts kultivieren: Je vous regarde avec bonté Troupe d’adolescents en saint labeur Je touche vos boucles et vos poitrines Je bénis vos mains qui sèment.²³
Alsbald mündet der an die Siedler gesprochene Dank des lyrischen Ich in einen Hymnus an den das Aufbauwerk des couragierten Volks begrüßenden Allmächtigen, dessen Geheiß folgend sich die Fruchtbarkeit des Bodens auf die der weiblichen Leiber übertragen möge: Allons dit l’Eternel Procréez avec force
„Un projet éthique, politique et esthétique.“ Schaffner, L’échec. „Das Gedicht will nicht mehr an dem gemessen werden, was man gemeinhin Wirklichkeit nennt, auch wenn es sie, als Absprung für seine Freiheit, mit einigen Resten in sich aufgenommen hat. Die Wirklichkeit ist aus der räumlichen, zeitlichen, sachlichen und seelischen Ordnung herausgelöst und den Unterscheidungen entzogen, wie sie einer normalen Weltorientierung notwenig sind.“ Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart. Rowohlt: Hamburg 1956. S. 11. Zard, Philippe: Fiction et diction sionistes. In: Visages, S. 9 – 49, hier S. 29. Man beachte auch, dass Cohen diese der Zeit geschuldete Politisierung der Lyrik schon in seinem Essay Israël, le Juif et les romanciers français angekündigt hatte: „La poésie tend à devenir politique, substituant aux saisons du vieux lyrisme le climat instable de l’inquiétude universelle.“ Cohen, Israël, S. 348 (Fußnote 2). Cohen, Albert: Cantique de Sion. In: La Revue juive 3 (15. Mai 1925). S. 341– 346, hier S. 342.
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Et sous les regards de Mon ciel Que les ventres de Mes filles se gonflent de fils libres.²⁴
Diese und andere dezidiert zionistisch ausgerichteten „Verwurzelungsbekenntnisse“²⁵ verhalten sich auf den ersten Blick kontrovers zu Cohens in der Einleitung zitiertem Mobilitätsideal der „voyageurs en Humanité“. Hierin aber scheint der Herausgeber der La Revue juive jener kulturpolitischen Tendenz zu folgen, wie sie mit Nicolas Berg für viele Akteure der jüdischen Renaissance als tonangebend gelten darf: „Als Renaissance wurde in verschiedenen Programmen deshalb all das bezeichnet, was Luftmenschen in jüdische Erd- und Bodenmenschen zurückverwandeln sollte.“²⁶ Dem ambitionierten Zeitschriftengründer blieb diese grundsätzliche Spannung allerdings nicht verborgen. Das ideologisch unproblematische Zusammenspiel von Erdverbundenheit auf der einen und DiasporaExistenz auf der anderen Seite zu betonen war Cohen daher schon im Vorwort zur ersten Ausgabe eine notwendige Pflicht. Es erhält seine Berechtigung in den vom Verfasser formulierten Respekts- und Solidaritätsbekundungen gegenüber all jenen, die das langwierige Projekt der Reterritorialisierung als adäquates Mittel gegen Exklusion und Antisemitismus einzuleiten bereit waren: „On parlera donc ici avec respect de la patiente épopée, du retour de la force et de l’intelligence juives à la terre juive.“²⁷ Dieser ungeteilten Zustimmung für das zu erbringende Pionierwerk zum Trotz ging in das auf sprechende Weise als „revue internationale“²⁸ präsentierte Organ die klar erkennbare Zielsetzung einer die Grenzen des Jüdisch-Partikularen überschreitenden Universalisierung ein: „Revue internationale, […] parce qu’elle fournira des possibilités d’entretien entre des hommes de race et de religion différentes. Elle cherchera pour les uns et pour les autres des terrains communs d’entente et sera pour tous une maison d’amitié.“²⁹ Der territorial verankerten Verwurzelungsrhetorik hielt Albert Cohen somit ein Verständnis von Beheimatung entgegen, das einen transnationalen Raum für einen gemeinsamen exterritorialen geistigen Grund und Boden forderte. Auch reflektiert der gen Palästina gewandte Blick des Herausgebers das zu errichtende jüdische Staatswesen stets vor dem in Scherben liegenden Hintergrundstableau des vom Krieg seiner Kräfte beraubten Europas – eines Kontinents, dessen geschwächte und doch tapfere Schritte in Albert Cohens metaphorisie-
Ebd., S. 345. Berg, Luftmenschen, S. 139. Ebd., S. 141. Cohen, Déclaration, S. 10. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11.
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render Schreibweise denen eines unsicher vorwärts wankenden, überdimensional gezeichneten Kindes gleichen: „Le monde, né de la guerre, veut vivre. Enfant géant, il va, titubant, avec ces incohérences, des erreurs, vers des routes de vie.“³⁰ Diese Einsicht spricht zusammen mit der Zuversicht, dass der künftige Staat Israel als geografische Fuge zwischen Orient und Okzident dem in seinen zivilisatorischen Grundfesten erschütterten Europa ebenso nachhaltiges wie zugkräftiges Geleit bieten könne: „Israël“, so heißt es mit den Worten des Herausgebers, „est une des plus sûres jointures de l’Europe.“³¹ Mit der Gründung der Hebräischen Universität von Jerusalem, die auf britischem Mandatsgebiet ihre Pforten am 1. April des Jahres 1925 öffnete, sah Albert Cohen diese Mittlerrolle Israels bildungspolitisch erfolgreich lanciert: „Elle [l’Université hébraïque] sera demain le trait d’union entre les civilisations occidentale et orientale, creuset où deux conceptions de la vie, se fécondant, engendreront peut-être une nouvelle humanité.“³² Fast scheint es, als solle diese Institution des Intellekts – „seule forteresse hébraïque en Palestine“³³ – in naher Zukunft einen kulturübergreifenden Ort des Denkens ähnlich jenem verkörpern, wie er auf der arabisierten iberischen Halbinsel einstmals hatte gedeihen können. Diese Botschaft der Humanität und des Friedens aber artikulierte sich entgegen aller realhistorisch erwartbaren Allianzen, war das jüdisch-arabische Verhältnis in Palästina seit Ende des Ersten Weltkriegs doch zyklisch von schweren Unruhen überschattet.³⁴ Während Albert Cohens La Revue juive wie auch andere jüdische Titel der politischen Dynamik im Nahen Osten publizistisch zur Seite standen, profilierte sich parallel zu diesem Trend eine neue Form von Prosa. Dessen ungeachtet müsse man sich, so Fhima, davor hüten, von dieser ideellen, der Literatur zudienenden Hebelwirkung vorschnell auf die Herausbildung einer neuen literarischen Strömung oder gar Schule schließen zu wollen.³⁵ Typisch für das Ansinnen der jüdischen Autoren sei vielmehr der jenseits von literarästhetischen Interessen liegende Wunsch nach Partizipation an einer Gesamtbewegung gewesen, in deren Fokus die von alten Komplexen befreite Darstellung des Juden stehe. Dies mache mithin erklärbar, weshalb die an dieser Entwicklung mitwirkenden Texte sowohl auf der Ebene der Form wie auch auf der des Inhalts jene Homogenität vermissen ließen, die eine veritable literarische Bewegung – wie etwa den sich zeitgleich formierenden Surrealismus – auszeichne. Darüber hinaus
Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Ebd. Vgl. Mallmann, Cüppers, Halbmond, S. 13 – 21. Vgl. Fhima, Renaissance juive, S. 21.
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habe es, so Fhima weiter, den jüdischen Romanciers an der für ein solches Bestreben notwendigen Selbstreflexivität gemangelt: En décidant du seul critère „d’œuvres traitant de sujets juifs“ pour représenter la nouvelle littérature, les écrivains juifs avaient omis de se poser la question de la différence du sens que revêtaient les publications des uns et des autres, parce qu’ils avaient à cœur de dépasser les délimitations ethniques par trop essentialistes et, sans doute aussi, parce que, confusément, l’intérêt des auteurs non juifs pour la condition juive venait consolider leur sentiment du bien-fondé de leur quête d’une nouvelle représentation des Juifs.³⁶
Wie am Beispiel des Cantique de Sion deutlich wurde, steht das von Albert Cohen in La Revue juive gegen einen weltfremden l’art pour l’art verfochtene ästhetische Selbstbild ganz im Zeichen des Dialogs zwischen der Literatur und dem modernen Judentum des 20. Jahrhunderts, zwischen Kunst und Realität: „Nous qui ne croyons pas qu’on puisse s’enfermer dans le palais clos, sans germes, sans fanges de la littérature; nous, décidément incapables de séparer la pensée de l’action, de comprendre même cette séparation, avons-nous besoin de dire que nous nous garderons d’ignorer les aspects quotidiens et éternels de l’événement juif. Et non seulement. Mais encore de l’événement humain.“³⁷ In dieser Phase des ersehnten Umbruchs bedürfe es mehr denn je der Verschriftlichung jüdischen Denkens und Empfindens – einer Versprachlichung also, bei der das Französische für die nicht zwangläufig in ihrer Muttersprache schreibenden Autoren die Funktion eines unverzichtbaren Vektors übernehme: „Servi par l’instrument le plus aigu, par le langage du pays que nous avons de hautes raisons d’aimer, nous essaierons de décrire ce que nos pères nous ont transmis en schèmes, en élans, en sensibilité profonde.“³⁸ Im Rekurs auf die Saussuresche Dichotomie von langue und parole überträgt Fhima den Gedanken der Vektorizität auf das schriftstellerische Selbstverständnis all jener auf Französisch publizierenden jüdischen Autoren, die in der von ihnen gewählten Literatursprache nicht primär ein System von Zeichen und Symbolen erblickten. Vielmehr gelte ihr Interesse der individuellen Aneignung, der kontextgebundenen Aktualisierung dieser allgemeingültigen Zeichen und Symbole: „[L]a volonté n’est pas de se pencher sur la langue en tant que matériau univoque d’une spécificité juive mais de privilégier la parole pour
Ebd., S. 40 f. Cohen, Déclaration, S. 8.Vgl. hierzu weiter ebd.: „Qu’il nous suffise [sic] de dire que, répudiant l’art pour l’art, nous ne croyons pas à la gratuité et que nous osons ne pas admettre que l’on puisse penser et créer avec désintéressement. Nous croyons à la naissance d’une époque disgracieuse, d’un vrai romantisme jaillissant d’œuvres de tempérament juif, épiques et morales.“ Ebd., S. 7 f.
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marquer cette spécificité, la langue devenant vecteur.“³⁹ Es gilt in diesem Kontext festzuhalten, dass der von Cohen mit La Revue juive vollzogene Spagat zwischen Kunstschaffen und Politik, zwischen den literarischen Ambitionen des künftigen Romanciers und der ideologischen Gesinnung des nachmaligen persönlichen Repräsentanten Weizmanns nicht folgenlos blieb. So zieht Schaffner diese nicht unproblematische Doppelgleisigkeit dafür mit zur Rechenschaft, dass die 1925 gegründete Zeitschrift nach nur sechs Ausgaben noch im Jahr der Gründung wieder eingestellt werden musste: Le troisième type de raisons est sans doute qu’un projet collectif (l’entreprise sioniste) et un projet artistique individuel (celui d’Albert Cohen) convergent provisoirement avant de se dissocier. La revue constitue pour Cohen un champ d’expérimentation de la veine sioniste et collective à laquelle il va ensuite devoir renoncer, comme il renoncera avec les textes écrits pendant la Seconde Guerre mondiale à la littérature de propagande dont il loue l’efficacité en temps de guerre […] tout en reconnaissant la médiocre valeur littéraire.⁴⁰
Für nicht minder bedeutsam als die Rolle der Autorinnen und Autoren selbst aber hält Fhima mit Blick auf die Wirkkraft der jüdischen Renaissance das maßgebliche Zutun der Verlagshäuser – jener kultureller Mediatoren, ohne die der jüdische Aufbruch in den uns heute bekannten Dimensionen nicht hätte Wirklichkeit werden können.⁴¹ Eigens hervorzuheben ist in dieser Hinsicht der auf eine lange Erfolgsgeschichte zurückblickende Verlag Gallimard, der sich im Jahr 1911 aus der drei Jahre zuvor gegründeten Nouvelle Revue Française formierte. Für die jüdischen Gallimard-Autoren im Allgemeinen und Albert Cohen im Besonderen wird die prestigeträchtige NRF in den frühen 1920er Jahren zum Sprungbrett. Auf Cohens unter dem damaligen Direktor Jacques Rivière veröffentlichten Kurztexte – Projections ou Après-minuit à Genève und Mort de Charlot – wird noch zurückzukommen sein. Schon jetzt aber sei darauf hingewiesen, dass die frühe Prosa des Schriftstellers weder inhaltlich noch formal an jene romanesk durchgesetzte „nouvelle représentation des Juifs“⁴² anschließt, auf die Fhima ausschnitthaft Bezug nimmt. Dieser Befund legt die in dem genannten Schaffnerzitat zum Ausdruck kommende Vermutung nahe, dass Albert Cohens zeitgeschichtliches Engagement einem langwierigen Romanprojekt nur wenig angemessen zu sein schien. Erst 1930 – zu einer Zeit, als die Gunst der Stunde und mit ihr die literarische Verve der jüdischen Schreiber seit mehreren Jahren verstrichen war –
Fhima, Renaissance juive, S. 42. Schaffner, L’échec. Vgl. Fhima, Renaissance juive, S. 36 f. Ebd., S. 41.
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debütierte Cohen, ebenfalls bei Gallimard, als Romancier. Denn während jenseits des Rheins renommierte Autoren wie Stefan Zweig, Alfred Döblin und Franz Kafka jüdisches Schreiben weiter forciert hätten, seien im Nachbarland Frankreich, so Thaus Beobachtung, die Stimmen verstummt: „Seul émerge Solal; seul roman français, de qualité, écrit par un auteur juif ayant pour noyau, pour enjeu principal la problématique identitaire juive.“⁴³ Fragen wir im Anschluss an den erbrachten Überblick nach der werkgeschichtlichen Bedeutung jener frühen Texte, die – so die hier aufgestellte These – gleich in zweifacher Hinsicht einen fundamentalen Einfluss auf das Schreiben des Romanciers ausübten: einerseits in Bezug auf die mit dem Helden Solal konkrete Gestalt annehmende Figurenkonzeption, andererseits im Hinblick auf die Cohens gesamtes literarisches Schaffen querende Engführung von Liebe und Judentum.
2.2 Schriftstellerische Präludien des frühen Cohen 2.2.1 Israël, le Juif et les romanciers français Mit seinem 1923 in La Revue de Genève publizierten Essay Israël, le Juif et les romanciers français nimmt der junge Schriftsteller en herbe eine kritische Bestandsaufnahme jener Fülle an Romanen vor, die dem Elan der jüdischen Kulturrenaissance geschuldet war. Den Auftakt des Artikels bildet eine rhetorische Frage, die der Verfasser herausfordernd an die Leserinnen und Leser heranträgt: „Ces dernières années, quelques romanciers français ont découvert les Juifs. Trouveraient-ils ailleurs des visages aux traits plus contradictoires, et des destinées plus pathétiques?“ (Israël ‐ 340). Kaum dass eine knappe Einführung in den inhaltlichen Gegenstand des noch Folgenden geschieht, nimmt Cohen auch schon einen Schlüsselbegriff vorweg, der nicht nur im engen Rahmen des Geschriebenen, sondern innerhalb seines gesamten Œuvre leitmotivisch dekliniert wird: „Contradictoire“ – mit diesem Adjektiv bringt der Verfasser frühzeitig einen emblematischen Charakterzug ins Spiel, der die jüdischen Figuren auf der literarischen Bühne restlos beherrschen müsse, um als solche überhaupt identifiziert werden zu können. Bei aller Diskrepanz der Stimmen, in die sich der gattungstheoretische Disput um die jüdische Literatur verstrickt hat, besteht doch gemeinhin Konsens darüber, dass die dieser Strömung zuzurechnenden Akteure jüdischer oder geringstenfalls halbjüdischer Herkunft zu sein hätten. Genau dieses
Thau, Norman David: Hapax ‚Solal‘, ou l’inexistence d’un roman juif français entre les deux guerres. In: Schaffner (Hrsg.), Colloque, S. 87– 98, hier S. 87.
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vermeintlich unstreitbare Kriterium der Provenienz aber dementiert Cohen, indem sein Beitrag gleichermaßen jüdische wie nicht-jüdische Autoren berücksichtigt und dabei ausschließlich die in den jeweiligen Werken freigelegte Protagonistenpsyche fokussiert. Deutliche Kritik übt der Verfasser so an den Brüdern Tharaud, die ihren Roman Un Royaume de Dieu (1925) mit folkloristischen Details gänzlich überfrachtet hätten, „donnant à l’accessoire la place du principal“ (Israël ‐ 341). Ein differenziertes Urteil fällt er hingegen im Falle des künftigen doyen der Académie française Jacques de Lacretelle und seinem Roman Silbermann aus dem Jahr 1922.⁴⁴ Vor dem historischen Hintergrund der Belle Époque entwirft dieser Text im Mikrokosmos eines Pariser lycée ein Schülerdrama um Exklusion und Antisemitismus. Im Mittelpunkt der Prosa steht das tragische Ringen eines fünfzehnjährigen Juden, Klassenprimus obendrein, um Akzeptanz und Anerkennung im Kreise einer Nation, deren Dichter und Denker er hingebungsvoll verehrt und die er als die Seine anzunehmen sich erhofft: Jude und Franzose zu sein – aus diesem Desiderat einer gelungenen Kultursymbiose schöpft sich Silbermanns zähe Resistenz gegenüber den nach und nach zur wilden Meute mutierenden Mitschülern, welche die antisemitischen Ressentiments ihrer Väter ebenso rasch wie unreflektiert übernehmen.⁴⁵ Das unvermeidbare Ende der Erzählung, Silbermanns Schulverweis und die hieran anschließende Emigration nach Amerika⁴⁶ vermag die enge Freundschaft des jüdischen Protagonisten zu einem protestantischen Klassenkamerad, dem Ich-Erzähler der Novelle, allenfalls zu retardieren, nicht aber zu verhindern. Silbermanns Verbannung bedeutet das jähe Zerplatzen jener kulturübergreifenden Bildungsblase, die er sich stets erträumt hat; ihm bleibt nichts als die Flucht in die finanzdominierte Welt eines USamerikanischen Diamantenhändlers und damit die Hinwendung zu jenem Götzen, den der konvertierte Jude Marx vormals als „eifrigen Gott Israels“⁴⁷ bissig ins
Lacretelle, Jacques de: Silbermann. 102. Aufl. Paris: Gallimard [u. a.] 1929. Ein für die Epoche symptomatisches Verhalten, von dem Emile Zola in seiner Lettre à la jeunesse konsterniert Notiz nimmt: „Des jeunes gens antisémites, ça existe donc, cela? Il y a donc des cerveaux neufs, des âmes neuves, que cet imbécile poison a déjà déséquilibrés? Quelle tristesse, quelle inquiétude, pour le vingtième siècle qui va s’ouvrir! Cent ans après la Déclaration des droits de l’homme, cent ans après l’acte suprême de tolérance et d’émancipation, on en revient aux guerres de religion, au plus odieux et au plus sot des fanatismes!“ Zola, Emile: L’affaire Dreyfus: Lettre à la jeunesse. Paris: Fasquelle 1897. S. 10. Es überrascht nicht, dass der in jenen Jahren dem Zionismus zugeneigte Cohen diese Flucht im Sinne einer möglichen Rückbesinnung Silbermanns auf die Heimat der Väter deutet: „Tournera-til ses regards vers la terre de refuge? Il n’a jamais tout à fait oublié Jérusalem. Ne cachait-il pas des journaux sionistes derrière ses chers écrivains du XVIe?“ Cohen, Israël, S. 351. „Das Geld ist der eifrige Gott Israels,vor welchem kein anderer Gott bestehen darf.“ Marx, Karl: Zur Judenfrage. 1843. Zitiert nach: Messadié, Verfolgt und auserwählt, S. 243.
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Visier nahm. Den von Jacques de Lacretelle gesetzten Akzenten nach zu urteilen dürfte Cohen sich am Inhalt der Erzählung nicht wesentlich gestört haben, kommt er doch im weiteren Fortgang des Artikels auf das Schicksal des gescheiterten Helden gleich mehrfach zurück. Auffällig ist auch, dass de Lacretelle, ein NichtJude wohlgemerkt, einen narrativen Rahmen vorgibt, den Cohens Schreiben gleichfalls ausspannen wird: in Gestalt jenes tragischen Ursprungsszenarios, das – und auf dieses rekurrente, typisch jüdische Erzählmuster hat der hierfür viel zitierte Alain Finkielkraut hingewiesen⁴⁸ – den unwiderruflichen Auftakt einer identitären Bewusstwerdung darstellt. Ausdrucksstarke Bilder von blindem Antisemitismus, verstandesfernen Vorurteilen sowie von Bitterkeit und Gram im Herzen der Verstoßenen verleihen den Texten beider Autoren eine nachdenklich stimmende Schwere. Silbermanns Traum einer geglückten Kultursymbiose ist nicht zuletzt auch jener, der für den Herausgeber der La Revue juive zu Beginn der 1920er Jahre Wirklichkeit zu sein geworden scheint – dergestalt, dass die erstrebenswerte Rückbesinnung auf das zu besiedelnde Palästina dem vollbrachten Glanzwerk der Versöhnung zwischen Orient und Okzident keinerlei Schaden zufügen kann.⁴⁹ Und dennoch: Kritik an de Lacretelles Silbermann äußert Cohen dort, wo die Erzählung dazu neige, von einem vielerorts authentisch gemalten Helden in eine überfrachtete Figurenzeichnung abzudriften, in ein essenzialistisch gestricktes Potpourri aus stereotypen Fremdbildern: „Son héros juif, souvent si vivant, semble parfois être l’illustration, l’exemple illustré de théories sur l’esprit juif; certains de ses mouvements semblent avoir été trop déduits, trop prémédités“ (Israël ‐ 342). Uneingeschränktes Lob erntet in Cohens rezensionsartigem Beitrag hingegen Julien Bendas Roman L’Ordination: An ihm entzünde sich jenes Gefüge von Jüdischsein und innerer Zerrissenheit, jenes archetypisierend geformte Abbild eines
Als den symbolischen Ursprungsort jüdischen Selbstverständnisses bestimmt Finkielkraut den vom Juden als Ort der Demütigung wahrgenommenen Schulhof: „Le décor habituel de l’humiliation est une cour d’école communale ou de collège.“ Finkielkraut, Le juif imaginaire, S. 9. „Nous saurons dire ici notre gratitude à l’Occident raisonnable, harmonieux et configurateur. Il a marqué de son empreinte la cire brûlante de notre esprit. Il nous a ménagé des ombres et des repos. Il nous a enseigné ses inventions. Ceux d’entre nous qui restent en ont leur douce fin embellie. Ceux qui partent emportent de la munificence occidentale, de lourds présents et des vases d’or. Nous parlerons ici d’autant plus volontiers de notre reconnaissance que, si l’Europe nous a beaucoup donné ou nous a laissé beaucoup prendre, nous lui avons aussi apporté quelques offrandes. Et notre gratitude proclamée est d’autant plus solennelle que beaucoup d’entre nous viennent la dire le jour où ils n’attendent plus rien de l’Occident et où leurs yeux se tournent vers une terre retrouvée.“ Cohen, Déclaration, S. 7.
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„visage aux traits contradictoires“, das der künftige Romancier der jüdischen Literatur als unverzichtbaren Maßstab anlegt. Verweilen wir daher einen Moment bei jener Erzählung, mit der sich Benda 1912 als aussichtsreicher Anwärter für den prix Goncourt positionierte. Dem Modell des psychologischen Romans verpflichtet, kreist die Liebegeschichte zwischen dem großbürgerlichen Félix und der aus einfachem Hause stammenden, unglücklich verheirateten Madeleine einzig und allein um das aufgewühlte Emotionserleben des Helden: Erfuhr er einst die Liebe zu Madeleine als einen unendlich währenden Zustand der vollendeten Verschmelzung, als einen auf die Ebene des Geistes projizierten Beischlaf,⁵⁰ so weicht jenes entrückte Ideal nach und nach einem bangen Gefühl innerer Beklemmnis – die Liebe wird zum Kerker: „Chez eux, enfermé avec elle, il ne recherchait plus l’obscurité, plus le silence. Il cherchait la clarté du jour, le bruit qui vient de la rue, comme des bouffées de libertés. Il voulait maintenant que leur union fût un acte et non plus un état…“⁵¹ Aus dieser emotionalen Wende den konsequenten Schlussstrich zu ziehen gelingt der schwankenden Heldenpsyche erst nach allerlei Irrungen und Wirrungen. Hin- und hergerissen zwischen dem männlichen Verlangen nach Selbstverwirklichung einerseits und einem sich weiblich gebärdenden, nahezu wahnhaften Mitleid andererseits, droht Félix an seinem Seelentumult förmlich zu ersticken: „C’était un cahotement affreusement douloureux entre le pire égoïsme et la plus folle tendresse.“⁵² Es sind jene kontrovers ausgefochtenen Leidenschaften, die Cohen an Bendas Romanfigur schätzt, bei Jacques de Lacretelles Silbermann dagegen schmerzlich vermisst: „On ne trouve pas en Silbermann les fureurs bégayantes du romantique héros de l’Ordination, et ce cynisme douloureux ou cet orgueil insensé, qu’une phrase jaillissante révèle, et ce manque d’équilibre, ces conflits, ces mélanges de claîrvoyance [sic] et d’aveuglement, cette impossibilité de choisir entre la pensée et le sentiment“ (Israël ‐ 342). Sehr viel ausführlicher noch als der erste Teil schildert die zweite Romanpartie La chute das antagonistische Wirken von Gefühl und Verstand. Zehn Jahre sind vergangen: Der inzwischen verheiratete Félix führt mit Ehefrau Clémence und Tochter Suzanne eine geruhsame Existenz, die dem Familienvater einen mehr als angemessenen geistigen Freiraum für seinen philosophischen Eifer zugesteht. Félix’ unersättliches Bedürfnis nach intellektueller Entfaltung sieht sich indes mit der plötzlichen Erkrankung der Tochter einer quälenden Prüfung unterzogen: Suzannes zunehmend desolater Gesundheitszustand konfrontiert den mitfüh-
„Elle [leur union] ne fut pas un acte. Elle fut un état. Ni conquête, ni proie. Le lent évanouissement d’une différence d’âmes…“ Benda, Julien: L’Ordination. Paris, Wien: Larousse 1929. S. 37. Ebd., S. 37. Ebd., S. 50.
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lenden Helden mit der Unmöglichkeit, den von familiären Pflichten entbundenen Intellekt mit der emotionalen Ergriffenheit des in Leib und Seele mit der Tochter eins werdenden Vaters in Einklang zu bringen: „Alors il comprit: la famille le prenait: l’être qui était son être lui arrachait l’identité de son être: sa chair lui volait son esprit… Alors dans un éclair il entrevit tout l’écroulement de sa vie, son être tout entier confisqué par l’amour, l’action de sa pensée devenue impossible, toutes ces idées qui palpitaient en lui laissées là, pour toujours sa chère œuvre écrasée dans l’œuf…“⁵³ Erschwerend komme, so Cohen weiter, für Félix hinzu, dass er sein individuelles Los – sei es die als strapaziös erfahrene Beziehung zu Madeleine oder den durch die schwere Erkrankung der Tochter ausgelösten Gewissenskonflikt – permanent vor der den Helden in ein noch tieferes Unwohlsein stürzenden Kontrastfolie der anderen durchlebe: jener anderen,von denen sich Félix in seiner Singularität doch zu distanzieren sucht: „Et comme son Félix sait employer ces ‚euxʻ, ces ‚leursʻ, ces les ‚autresʻ qui donnent à sa pensée une sorte de rictus, une grimace méprisante“ (Israël ‐ 342). Halten wir zunächst fest: Kein spezifisch jüdisches Sujet, keine jüdischen Figuren – ohne jedweden vermeintlichen Bezug zur condition juive inszeniert Benda den inneren Zwiespalt eines Helden im Hader mit der Liebe. Und doch ist es just dieser Text, den Cohen als durch und durch jüdisch begriffen wissen will. Über die Auseinandersetzung mit diesen und anderen Werken gelangt der Verfasser in einem zweiten Schritt zur eigentlichen Gretchenfrage seines Artikels, zur Frage nach der den Juden auszeichnenden und ihn von anderen Völkern unterscheidenden Seinskonstitution. In dieser diffizilen Angelegenheit hält Cohen ein klärendes Wort für angebracht: „Il n’y a pas d’esprit juif. Il y a trois ou quatre esprits juifs, sédiments déposés par le temps sur la pensée ou le cœur d’Israël errant“ (Israël ‐ 343).⁵⁴ Dieser im Lauf der Zeit gesteinsartig übereinander gelagerter Seinsschichten nennt der Verfasser drei: Den esprit excessif oder auch instinct de jouissance, den esprit prophétique sowie den esprit d’exil. Da jeder der benannten Wesenszüge Cohens Schreiben in höchst signifikanter Weise prägen wird, heißt es diese zu erläutern. Von semitischen Wüstennomaden einst als Erbe hinterlassen, habe sich der esprit excessif in der Seele des Juden einnisten können, in deren Tiefen er die kompromisslose Gier nach dem Absoluten entfacht habe.
Ebd., S. 109.Vgl. auch S. 112: „[N]on, jamais il ne retrouverait la distinction d’avec ces deux êtres qu’il avait hier encore, jamais il ne retrouverait l’indépendance de la conscience, cette pureté du cœur, cette clarté du cœur nécessaire à l’esprit…“ Eine nahezu wortwörtliche Wiedergabe dieser Passage findet sich in der den Auftakt der ersten La Revue juive bildenden Déclaration: „Notre exploration du souvenir hébraïque nous permettra de découvrir, non point sans doute, l’esprit juif, mais les esprits juifs, sédiments déposés par les âges sur la pensée et le cœur d’Israël errant.“ Cohen, Déclaration, S. 8.
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Dank des von Moses an das jüdische Volk vermachten Sittengesetzes habe dieser historisch bedingte Hang zum Extremismus alsdann eine moralische Läuterung erfahren: „L’instinct de jouissance, caractéristique du premier esprit juif, se racheta, utilisant sa force à observer la loi; et la volonté de domination trouva sa rédemption dans la grande espérance messianique“ (Israël ‐ 343). Weiter aufbauend auf dem nunmehr in ethisch-religiöse Bahnen umgelenkten Prozess habe die im weiteren Verlauf der Geschichte zerschlagene jüdische Nation dieses Zeugnis der Liebe und Humanität in der Figur Jesu Christi an die sich neu formierende Tochterreligion weiterreichen können: „Généreux et prudent, Israël mourrant donna Jésus aux nations. L’esprit prophétique du Christ détourna les masses occidentales de leurs instincts naturels et imprégna le christianisme d’acides violents et merveilleux“ (Israël ‐ 344). Gleichzeitig können wir in dieser Phase der Entwicklung den entscheidenden Ausgangspunkt jener religionsgeschichtlich bedingten Abscheu über die Triebnatur des Menschen erkennen, die in Albert Cohens Schreiben und Denken mithin schon deutlich geformt war, ehe das Wissen um die nationalsozialistischen Gräueltaten diesen heftigen Widerwillen vollends radikalisieren sollte. Cohens Silbermann-Lektüre gibt hierüber deutlichen Aufschluss: „C’est cet esprit très proprement humain qui donne au petit Silbermann le mépris de la force physique; mépris si profond, si essentiel, si physique qu’il empêche de jouer, de courir pendant les récréations“ (Israël ‐ 344). Noch expliziter wird Cohen diesbezüglich, fast schon seltsamerweise, in der Fußnote:⁵⁵ „Les Juifs ne surent pas tempérer leur humanité excessive par des activités de nature moins humaine: danse, jeux gymniques, drames, mystères, – art. Ils bannirent avec inhumanité tout ce qui n’était pas humain, accordèrent une importance exclusive aux instincts sociaux et continuèrent la révolte contre cette nature animale à laquelle les dieux des autres nations obéissaient“ (Israël ‐ 343 f., Fußnote 1). Man beachte, dass Cohen schon hier das den ethischen Sockel seines gesamten Schaffens bildende jüdische Gesetz – „[p]roduit original d’une collectivité originale“ (Israël ‐ 344, Fußnote 1) – als auslösenden Impuls für die eigentliche Menschwerdung der Gattung Mensch zu Felde führt: „[L]’un de ses buts principaux est de garder à la nation une pureté qui ne fut pas originelle“ (Israël ‐ 344, Fußnote 2). Auch kommt im Zusammenhang mit dem esprit prophétique eine wichtige Grundannahme des Verfassers für die uns interessierende Wechselbeziehung zwischen Ethik und Literatur dort zur Geltung, wo der Autor nur
Womöglich orientierte sich Albert Cohen mit dieser die Gründlichkeit des Lesers belohnenden versteckten Platzierung zentraler Ideen in den Fußnoten an Rousseaus prominenter zweiter Preisschrift, dem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Zu diesem stilistischen Kuriosum des Discours vgl. Plattner, Marc F.: Rousseau’s State of Nature. An interpretation of the Discourse on inequality. Illinois: Northern Illinois University Press 1979. S. 23.
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scheinbar en passant wieder einmal in der Fußnote zu verstehen gibt: „C’est par contre le deuxième esprit juif qui semble influencer une littérature plus utile, qui se préoccupe de la peine des hommes, de la vie des martyrs, de civilisations et qui dit sa foi en une clarté qui naîtra“ (Israël ‐ 348, Fußnote 2). Mit dem Kerngedanken der utilité wird folglich der Ästhetik jener ethische Auftrag angetragen, der im Vorhinein als Errungenschaft der Religion entdeckt und historisch kontextualisiert worden war. Der Zusammenhang zwischen dem aller Ethik vorgeschalteten jüdischen Monotheismus und der Literatur als Sprachrohr dieser Sittenlehre ist damit grundlegend hergestellt. All dies erklärt auch, weshalb gegen Schaffners These, wonach die ethische Profilierung des Cohenschen Œuvre erst mit den pamphletartigen, im Londoner Exil abgefassten Kriegstexten Gestalt annehme, Vorbehalte anzumelden sind.⁵⁶ Ausführlich exponiert der Verfasser die mit der Geschichte der Zerstreuung fern der Heimat sich herauskristallisierenden Vorzüge des dritten und letzten esprit juif – jene Attribute nämlich, die der Jude als Mitglied einer verfolgten Minderheitsgruppe habe potenzieren müssen, um das Los der Ortlosigkeit in ein dieses „Inseldasein“⁵⁷ positiv umcodierendes „ÜberLebenswissen“⁵⁸ zu transformieren: „Le plus grand don que l’exil ait apporté aux Juifs est une extraordinaire expérience. Nos yeux ont vu; nos yeux savent. Nous avons trop erré sur les routes, nous connaissons trop les vanités, les hypocrisies, les défaillances, tout le cortège de la misère humaine pour ne pas avoir acquis cet ‚immense et tranquille scepticisme‘ dont Jacques Rivière parlait à propos de Marcel Proust“ (Israël ‐ 345). Von nichts anderem spricht der französische Philosoph und Schriftsteller Maurice Blanchot, wenn er unter dem Begriff der „vérité nomade“ jenen Erfahrungsschatz bündelt, von dem der in der Diaspora lebende Jude habe zehren können.⁵⁹ Selbst in der Physiognomie des Juden habe dieses Bewusstsein für die ihm drohende Gefährdung ihre von Generation zu Generation vererbten Narben hinterlassen – körperliche Stigmata, die auf ebenso tragische wie untrügliche Weise die jüdische Provenienz sichtbar machten und die Cohen in dem ihm aus diesem Grund vertrauten Antlitz des Protagonisten Silbermann zu erspähen glaubt: „Peu à peu, „Le contenu moral de l’œuvre, fixé à partir des textes de guerre, reste pratiquement inchangé jusqu’aux derniers écrits.“ Schaffner, Le goût, S. 392. Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer: Juden in der deutschen Literatur. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1989. S. 15. Wieder richtet sich die Schreibweise nach Ette. „Si le judaïsme est destiné à prendre un sens pour nous, c’est bien en nous montrant qu’il faut, en tout temps, être prêt à se mettre en route, parce que sortir (aller au dehors) est l’exigence à laquelle l’on ne peut se soustraire si l’on veut maintenir la possibilité d’un rapport de justice. Exigence d’arrachement, affirmation de la vérité nomade.“ Blanchot, Maurice: L’entretien infini. Paris: Gallimard 1969. S. 183.
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Silbermann reprend le masque séculaire d’humiliation, de prudence, d’obstination, d’orgeuil, d’impassibilité“ (Israël ‐ 346). Und noch ein Weiteres gilt es auf den esprit d’exil zurückzuführen: In den Enklaven der Ghettos habe der unverkennbare Humor des Juden sein prägnantes Profil als eigentümliche Replik auf die jenseits der Grenzmarkierungen lauernden Repressalien verfeinern können: „Ce sont les persécutions qui ont mis sur ses lèvres ce pauvre rire du ghetto, mécanique et moqueur, unique moyen de se garder quelque estime au milieu du mépris universel […]“ (Israël ‐ 346). Seinen wohl größten Triumph aber verdanke der dem Exil erwachsene erkenntniskritische Geist des Juden jener Luzidität, die zuvor noch unvorstellbare, ja revolutionäre Erkundungen des Individuums und der Welt erwirkt habe: N’est-ce pas un peu grâce à cet esprit juif ‚destructeur‘ que du génie français vient de jaillir une forme nouvelle de roman positif et clairvoyant, être vivant qu’un corset ne construit pas, fécondement dissociateur et relativiste. Partout les Juifs sont en train de démontrer que leur inquiétude est capable de construire. L’esprit juif de Freud n’a-t-il pas apporté un levain précieux à des méthodes trop naïves, trop simples et trop confiantes (Israël ‐ 348).
In seinem bereits zitierten Buch über jüdisches Schreiben in der deutschen Literatur wählte Marcel Reich-Ranicki für diese an der Dekonstruktion bequemer Denkmuster beteiligte Mentalität des Juden den wirkungsvollen Begriff des „Ruhestörers“: Ihnen, den Außenseitern und Neuankömmlingen, gelang es oft, das Bekannte und Gewohnte anders und neu zu sehen. Innerhalb und schließlich doch außerhalb der Welt stehend, mit der sie sich auseinandersetzten, konnten sie Vertraulichkeit und Intimität mit skeptischer Distanz verbinden: Gerade von der Peripherie her ließ sich das Zentrale oft mit besonderer Deutlichkeit erkennen und darstellen.⁶⁰
Und es ist sicherlich kein Zufall, dass auch Albert Memmi auf dieser vom Gestus des Aufdeckens geleiteten Weltwahrnehmung aus der Sicht des Juden insistierte.⁶¹ Die bei Reich-Ranicki geschilderte Spannung von Nähe und Distanz aufrechterhaltend, sieht Albert Cohen genau wie Memmi auch und vor allem in der von Freud
Reich-Ranicki, Ruhestörer, S. 16. „J’ai insisté là-dessus, en effet, à propos de Freud. Ce n’est pas un hasard si l’homme qui a bouleversé notre perception de l’homme est un Juif viennois; celui qui a bouleversé notre perception économique, un Juif allemand, Karl Marx. En moins sérieux (mais qui sait?) je m’amuse à noter que l’homme qui a inventé le blue-jean, probablement l’un des symboles de notre époque, est encore un Juif: Lewis. Le marginal voit les choses de l’extérieur, ce qui lui permet ce regard neuf, qui est la condition même du génie. Naturellement, cela se paie souvent très cher, par l’exil intérieur et extérieur, la méfiance des autres et la persécution…“ Memmi, Terre, S. 61 f.
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entwickelten Psychoanalyse ein hervorragendes Beispiel für die durch den hereditären Argwohn des Juden ermöglichte Neuperspektivierung der Wirklichkeit: Que de méfiances on peut trouver dans l’œuvre freudienne: Méfiance envers le témoignage, envers les mensonges du „discours“. Le mot n’est plus dieu. Juge d’instruction-né, avide d’informations véridiques, le Juif cherche la raison profonde et d’ordre toujours affectif, le complexe. Une ruse héréditaire découvre la signification des méprises, des oublis, des tics, des rêves […]. Cette ruse est le produit séculaire de la nécessité d’observer, de se tenir sur ses gardes. Et quelle passion talmudique de tordre des concepts, d’enfiler à de longues aiguilles noires des fils très rouges et de broder des systèmes parfois épouvantables et raffinés (Israël ‐ 348).
„Das Wort ist nicht mehr Gott“: Dieses für die psychoanalytische Behandlung im Allgemeinen wie auch für Albert Cohens Figurenporträtierung im Besonderen gleichermaßen wegweisende Diktum bedeutet das sichere Ende jenes an der konventionellen Oberfläche kratzenden Scheins, der das in den Tiefen des Unbewussten schlummernde Sein schimärisch zu verhüllen sucht. In der voranstehenden Passage ist über den konstatierten Bezug zur Psychoanalyse hinaus nicht unerheblich, dass der Verfasser das mit der Freudschen Methodik verfolgte Ziel mit dem exegetischen Fleiß jenes Talmudauslegers gleichsetzt, der mit seiner akribischen Arbeit am Wort das Geschriebene im Licht der Gegenwart interpretiere.⁶² Auf diesen für die jüdische Auslegepraxis so eminent wichtigen Jetztbezug wurde bereits eingegangen. An dieser Stelle sei ein kurzer Vorausblick auf den späteren Romancier erlaubt: Denn nicht von ungefähr wird Cohen die in dieser Textpartie offenkundige Metaphorik – das Bild des aus den roten Fäden der Wahrheit ein raffiniertes Muster spinnenden Strickers – in Belle du Seigneur ein zweites Mal bedienen, dort allerdings in einem fiktionalen Kontext, der den ursprünglichen Sinngehalt bewusst verkehrt. Die Rede ist von jenen zehn Strickerinnen, die als Personifikation der römischen Parzen⁶³ mit der ganzen Fülle ihrer Leiber selbstgewiss, da ihrer angestammten Rechte sicher, das ihnen zur Verfügung stehende Hotelfoyer optisch und akustisch in Besitz nehmen:⁶⁴ „A l’autre
Man darf vermuten, dass Cohen hier den Pilpul vor Augen hat, jene besonders im Mittelalter von jüdischen Gelehrten gepflegte Methode der Textexegese, deren Ziel es ist, „Entscheidungen nach den Erfordernissen der Gegenwart zu treffen und sie mit der Tradition in Einklang zu bringen.“ Schatz, Andrea: Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. S. 76. Der Bezug zur antiken Mythologie tritt noch klarer hervor, wenn man dieser Passage eine zweite aus den Carnets 1978 hinzuzieht, in der Cohen die im Vorzimmer des Reichs von Thanatos strickenden griechischen Moiren namentlich apostrophiert (C ‐ 1164). Für eine ausführliche, nach linguistischen Kriterien angelegte Deutung dieser Passage vgl. Stolz, polyphonie, S. 201– 220.
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bout du hall, dix larges dames de bourgeoisie, fortement assises, retranchées en leurs séants et leurs fauteuils, harnachées et souveraines, tricotaient avec voracité tout en conversant activement, deux par deux. Les mains et les bouches de ces vieilles Parques de bienséance remuaient sans répit, implacables, sûres de leur droit“ (BdS ‐ 766). Die von Solal und Ariane nolens volens zur Kenntnis genommenen Gesprächsfetzen durchzieht ein ebenso redundanter wie unüberhörbarer Klagerefrain: „C’est la faute aux Juifs“ – Worte der sozialen Ächtung, mit denen die über das künftige Schicksal des jüdischen Außenseiters waltenden Frauen ein engmaschiges Muster aus Vorurteilen knüpfen, ebenso dicht verwebt wie das des parallel zu ihren lästerlichen Reden entstehenden Strickwerks. Diese erzählerisch brillant gestaltete Szene bildet, so meine ich, den exakten Gegenentwurf zu jenem in Cohens Essay eingeblendeten Bildbereich, in dem aus auf schwarzen Nadeln geführten knallroten Fäden – und die Farbsymbolik ist wohl keinesfalls willkürlich – ein Deutungsmuster der Realität entsteht, das stereotyp geformte Verfälschungen der Wirklichkeit als vernunftwidrigen Irrglauben überführt. Im weiteren Verlauf seines Beitrags führt Cohen dem in der literarischen Diskussion des 20. Jahrhunderts auch von anderer Seite beigepflichteten Argwohn des Juden⁶⁵ in einen breiteren Geltungskontext über – eine Perspektivierung, die zeigen mag, dass dieses dem Juden nachgesagte Misstrauen nicht allein dem Wissenschaftler vorbehalten bleibe: „Méfiance envers les idoles: Œil clairvoyant qui décèle ce qui est bas dans ce qui est haut, regard d’Ecclésiaste sur les pauvres causes ‚vaniteusesʻ des religions, des philosophies, de l’art“ (Israël ‐ 348). Ja, selbst die zwischenmenschlichen Beziehungen – und diesem Derivat der jüdischen Skepsis wird noch ausführlich nachzugehen sein – habe dieser imposante Wesenszug in der Gestalt einer den Schein fast schon wahnhaft hinterfragenden, überheftigen Eifersucht infiziert.⁶⁶ Seine gleichermaßen vergangenheits- wie gegenwartsausgerichtete Gesamtschau auf die Psyche des Juden schließt Albert Cohen mit dem schwierigen Versuch, die Hintergründe eines Phänomens zu beleuchten, das auf eine ebenso lange Historie zurückblickt wie das Judentum selbst – die antijüdische Gesinnung jener, die im Juden den andersartigen Fremden Dieses hereditäre Misstrauen erachtet Reich-Ranicki als symptomatisch für die dem Juden attestierte Rolle des Ruhestörers in der deutschen Literatur: „Sie [die Juden in der deutschen Literatur] übten in hohem Maße einen relativierenden und irritierenden, einen par excellence provozierenden Einfluß aus – und eben das brachte ihnen viele Bewunderer ein und freilich noch mehr Gegner und Feinde.“ Reich-Ranicki, Ruhestörer, S. 18. Und auch Thomas Mann bescheinigt dem Juden einen ähnlich verstörenden Blick auf die Wirklichkeit, bilde er doch mit „seiner Leidenserfahrung, seiner geprüften Geistigkeit und ironischer Vernunft ein heimliches Korrektiv unserer Leidenschaften.“ Mann, Thomas: Reden und Aufsätze. Gesammelte Werke. Bd. 12. Frankfurt/Main: Fischer 1974. S. 485. Vgl. hierzu die Anmerkungen in Kapitel 4.3.2.2 zur Eifersucht.
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schlechthin zu sehen glauben: „Pourquoi cette répulsion envers une race qui peut, qui veut donner aux nations un si utile amour? Parce que le Juif est un étranger, répond-on“ (Israël ‐ 348). Noch ehe die Romane des Schriftstellers dies tun, spitzt sich der Artikel auf jenen Circulus vitiosus zu, der – wieder einmal exemplifiziert an Silbermann – das Bemühen des Protagonisten um soziale Integration als ein per se zum Scheitern verurteiltes Ansinnen brandmarkt: „Qu’un Silbermann dise ‚notreʻ La Fontaine, qu’il dise ‚votreʻ La Fontaine, on le trouvera également choquant“ (Israël ‐ 349). Auch wenn in Jacques de Lacretelles Erzählung diese Aporie bestehen und Silbermanns Sesshaftwerdung in seiner Wunschheimat Frankreich utopisch bleibt: Cohens Deutung des Romans mündet jedenfalls in einen hoffnungsfrohen Ausblick – in die Überzeugung, dass der zur Auswanderung gezwungene Jude im Denken, ja im Herzen seines protestantischen Weggefährten ein Quäntchen nur von jenem Spürsinn hinterlassen habe, den er ihn einstmals instinktiv lehrte: „Le petit chrétien que les lois infaillibles de la race ont séparé de Silbermann n’oubliera pas l’animateur de passage aussi facilement qu’il le croit. Il ne prendra plus de goût sans inquiétude aux choses qui l’entourent. Un vin noble laisse au palais une brûlante, une éternelle saveur“ (Israël ‐ 351). Ein metaphorisch ausgeschmücktes Ende, das de Lacretelle so zwar nicht erzählte, wohl aber eins, das den Tenor von Albert Cohens gesamten Zeitschriftenbeitrag ebenso knapp wie anschaulich resümiert. Was aber bedeutet nun all dies für die jüdische Literatur, für ein fiktionales Schreiben, wie es der Verfasser in seinen mentalitätsgeschichtlichen Fundamenten zu ergründen sucht? Kehren wir an diesem Punkt zurück zu Bendas Romanfigur Félix, zu jenem Protagonisten, den Cohen uns vor dem Hintergrund dieser Frage als prototypischen Helden präsentierte. Denn es ist ebendieser vom Verfasser dem Juden als direkte Folgeerscheinung des Exils auf vielerlei Ebenen attestierte Skeptizismus, den Bendas Romanfigur der eigenen Psyche auferlegt, und dies in derart hoher Dosierung, dass das Ich daran zu zerbrechen droht.⁶⁷ Schließen möchte ich mit einem vorausschauenden Fazit: Des Gesagten bedurfte es um zu zeigen, inwieweit Cohens 1923 geschriebener Artikel eine literarästhetisch aufschlussreiche Schablone für die nachmaligen Romane des Schriftstellers darstellt – eine Schablone, die den künstlerisch maßgebenden Prozess von der Idee hin zu ihrer fiktionalen Umsetzung in mehrfacher Hinsicht demonstriert, diese Phase der Entwicklung aber, an deren Ende die Romanpro-
Inwiefern der polemische Geist des Helden auch in Bendas eigener Biografie zu suchen ist, zeigt das im Zuge der Dreyfus-Affaire konkret werdende gesellschaftskritische Engagement des Schriftstellers: „L’Affaire semble avoir durablement cristallisé ses convictions. Un polémiste était né.“ Guay, Patrick: Julien Benda. In: Nuit blanche. Le magazine du livre 104 (2006). S. 64– 67, hier S. 64. Zitiert nach: id.erudit.org/iderudit/20051ac (13.12. 2015).
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duktion des Autors steht, allein nicht abdeckt. Drei vor diesem Hintergrund nicht minder relevante, im Zeitraum von 1922 bis 1925 entstandene Kurztexte, nehmen die in Israël, le Juif et les romanciers français metaliterarisch vortrassierten Spuren auf, um sie dichterisch zu erproben – allesamt Texte, deren das künftige Romanschaffen des Autors antizipierende Poetik unter Forschern bislang kaum Beachtung fand. Das Ziel der nun folgenden Darstellung liegt daher in dem Versuch, die von Cohen bei Jacques de Lacretelles Silbermann diagnostizierte Rhetorik des Fremdseins in diesen die zeitgenössische Realität ästhetisch umbildenden Texten nachzuweisen. Vergessen wir nicht: Noch und gerade im modernen Gesellschaftsbild des 20. Jahrhunderts konnte sich der negativ besetzte Topos vom umherziehenden Juden hartnäckig behaupten. 1920, im Jahr der Völkerbundsgründung, sind 55 Prozent der Schweizer Juden Ausländer.⁶⁸ Vor allem die sogenannten Ostjuden, denen der damalige Jurastudent Albert Cohen im Genf der Zeit begegnet war, werden zu Opfern der in jenen Jahren kontinuierlich anschwelenden xenophoben Propaganda. Kein Wunder also, dass Cohens Schreiben der frühen 1920er Jahre dieses desolate Stimmungsbild in sich aufsaugt: Jüdisches Schriftstellertum wird zum Spiegel der sozialen Wirklichkeit, zum Gleichnis für Anderssein, Exklusion und Fremdheit – die jeweiligen Adaptionen dieser Kernmotive sollen nun geschildert werden.
2.2.2 Projections ou Après-Minuit à Genève Den eklatanten Kontrast zwischen der Isolation eines einsamen Fremden und der exzessiven Genusssucht des Publikums eines Genfer Nachtklubs beschreibt der im Oktober des Jahres 1922 in der Nouvelle Revue française abgedruckte Kurztext Projections ou Après-Minuit à Genève. ⁶⁹ Schon der als Sinnbild gewählte Titel antizipiert jene stakkatoartigen Schlaglichter, die der Ich-Erzähler in Form von fragmentarischen Beobachtungssätzen auf die nächtlichen Besucher wirft. Unter die schrillen Leuchtkegel des buchstäblich zwie-lichtigen Nachtklubs gerät auch jener marginalisierte Gast, der sich beharrlich am sozialen Wertegerüst einer Gesellschaft festzukrallen sucht, die ihn dabei doch längst abgeschüttelt hat. Sein Bedürfnis nach Integration sieht sich denn auch lediglich in der unwirklichen Schwebe eines illusorischen Wunschdenkens realisiert: „L’Isolé accompagne le
Vgl. Guggenheim, Willy (Hrsg.): Juden in der Schweiz. Glaube – Geschichte – Gegenwart. 2. Aufl. Küsnacht, Zürich: edition kürz 1983. S. 70. Zitiert wird nachfolgend aus: Cohen, Albert: Projections ou Après-minuit à Genève. In: ‚Mort de Charlot‘, suivi de ‚Projections ou Après-Minuit à Genève‘ et ‚Cher Orient‘. Paris: Les Belles Lettres 2003.
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violon à voix aiguë honteuse, pour être de la commune joie. […] Quand il dit nous, ça lui tient chaud; il n’est plus seul.“⁷⁰ Ebenso imaginär im Kopf des anonymen Fremden verhaftet bleibt die Sehnsucht nach einer rabelesken Welt, in der sich die Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten auf mirakulöse Weise umkehre: „Je me crée un petit monde bien à moi, où mes persécuteurs passent de mauvais quarts d’heure! C’est de la philosophie. De la métaphysique, pour être plus exact. Ou plutôt une sorte de religion.“⁷¹ Aus einer doppelten Perspektive – die des Fremden und der des Erzähler-Ich – wird der moderne Raum kritisch gebrochen: Gehör verschafft sich jener schmerzhafte Zynismus, den Cohen nur wenig später an Bendas Romanfigur Félix beobachten wird und den der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk als ein Kind seiner Zeit beschreibt, war doch „die Weimarer Kultur wie kaum eine zuvor zynisch disponiert; sie hat eine Fülle glänzend artikulierter Zynismen hervorgebracht, die sich wie Schulbeispiele lesen lassen. Sie empfindet den Schmerz der Modernisierung heftiger und spricht ihre Desillusionierungen kälter und schärfer aus, als jede Gegenwart dies noch könnte.“⁷² Bei der Textlektüre kann man sich in der Tat des Eindrucks nicht erwehren, als verstehe sich das Gebaren der Gäste als ein ausschweifender Akt der Kompensation: Denn während die Nachtschwärmer vom Neonlicht der Scheinwerfer geblendet ihre lapidaren Freuden sinnestrunken ausleben, reckt jenseits des gleißenden Nachtclubkosmos das personifizierte Europa seine kriegsgeschundenen Glieder: „Comme l’Europe était jeune et naïve et croyante. Cette nuit, l’Europe désabusée pleure, puis secoue ses cheveux coupés. Et, découvrant ses nobles jambes amaigries, danse un funèbre shimmy.“⁷³ Einem verlorenen Waisenkind gleich wankt das Ich in einer artifiziell überbeleuchteten Parallelwelt umher, die mit ihren synästhetisch vergeudeten Sinnesreizen das moribunde Umfeld zu einem fragwürdigen Duell herausfordert: „Je suis orphelin dans un monde inhumain trop éclairé. Les phares lancent 3 000 trains contradictoires gauchissant leurs glaces enflammées vers les grands miroirs des murs les cristaux
Ebd., S. 29. Ebd., S. 40. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Bd. 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. S. 42. Vgl. hierzu auch Bd. 2, S. 703: „Unter den produktiven Geistern der Zeit sind nicht wenige, die es auf sich nehmen, ihre Enttäuschungen, ihren Hohn, ihre neue große Kälte in angreifenden Kunstformen zum Sprechen zu bringen. Sie schaffen eine Ausdruckssprache, in der Negativität und Moderne, Unglück und bewusste Zeitgenossenschaft fast identisch werden.“ Cohen, Projections, S. 32. Vgl. hierzu auch Schaffner, Zard: „Le shimmy, danse du tremblement, est la représentation par excellence d’un monde qui chancelle.“ Schaffner, Alain u. Philippe Zard: Mon petit cinéma. Lecture de ‚Projections ou Après-Minuit à Genève‘. In: Mon petit cinéma. Lecture dialoguée de ‚Projections ou Après-Minuit à Genève‘. Série premiers textes. Cahiers Albert Cohen 1 (1991). S. 11– 31, hier S. 29.
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des loges et du dôme […].“⁷⁴ Noch lange nicht wird der gebeutelte Kontinent jenen Zivilisationsschock überwunden haben, über den es bei Sigmund Freud in einer zeitgenössischen Diagnose unumwunden heißt: „Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er brachte die – Enttäuschung. […] Er zerreißt alle Bande der Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für lange Zeit unmöglich machen wird.“⁷⁵ Das vom Text freigesetzte Übermaß an visuellen Reizen ist ganz offensichtlich ausersehen, die bei Freud im Mittelpunkt seines 1915 in Wien gehaltenen Vortrags stehende und mehrere Jahre später noch immer andauernde Kriegsenttäuschung trügerisch zu überblenden. Doch vergebens: Die von den zahlreichen Wandspiegeln in die Enge des Raums anarchisch rückprojizierten Lichtstrahlen multiplizieren sich ins Unendliche, um ein nur noch konfuseres Lichterchaos zu entfachen – eine fürwahr imposante Metapher für die Desorientierung all jener Menschen, die sich im künstlichen Strudel der Sinne mehr und mehr zersetzen und verlieren: „La difficulté d’être, la superficialité d’un monde social dont l’examen minutieux révèle l’existence d’êtres sans consistance, l’antinomie fondamentale entre l’être et le paraître y sont révélées de manière brutale.“⁷⁶ An einem zwischenmenschlichen Dialog, wie der Völkerbund ihn sich in jenen Jahren auf die Fahnen schrieb, manifestieren die phantomartigen, surrealistisch skizzierten Figuren keinerlei Interesse. Noch ehe sie zusammenfinden, haben sie sich bereits wieder im ebenso anonymen Dunkel der Stadt verloren. So auch der Ich-Erzähler; jedweden sozialen Kontakt meidend flüchtet er vor den Türen des Nachtklubs überstürzt in ein Taxi: „L’auto m’enlève sur ses seins bleus et s’essouffle en pulsations feutrées. Ses pneus flatteurs m’évitent toute peine et me font faire la dodelinante prière.“⁷⁷ Diese sukzessiv in Szene gesetzten Innenräume – Nachtklub, Taxi und Hotel – präfigurierten, so Ette in seiner Besprechung des Textes, jene topografische Grundstruktur, auf die Cohens spätere Romane wiederholt zugreifen werden.⁷⁸
Ebd., S. 37 f. Freud, Sigmund: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Gesammelte Werke 10. Frankfurt/Main: S. Fischer 1946. S. 324– 355, hier S. 328 f. Milkovitch-Rioux, Univers mythique, S. 135. Cohen, Projections, S. 63. Vgl. Ette, Literatur in Bewegung, S. 417– 421.
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2 Die Liebe und das Judentum: literarisches Vorspiel
2.2.3 Mort de Charlot und Cher Orient Der Erfolg dieser ersten Erzählung bewog Cohen 1923 zur Veröffentlichung eines zweiten Textes in der NRF: Mort de Charlot. Kunstvoll untergliedert in aneinandergereihte Erzählfragmente liefert dieser Text den Beweis für das Talent des Künstlers, die kinematografischen Eigenheiten des zeitgenössischen Stummfilms in das Medium der Schrift zu übersetzen: „Tout de suite, il [Cohen] avait compris une vérité fondamentale: il est impossible à l’image de traduire les mots, mais les mots peuvent traduire l’image. De cette vérité, les deux textes publiés dans la N.R.F., Projections et Mort de Charlot, sont une démonstration.“⁷⁹ Wie schon der Vorgängertext moduliert auch Mort de Charlot das Motiv des marginalisierten Fremden, hier allerdings gleichermaßen wachgerufen wie verfremdet in narrativen Slapstick-Episoden. Judentum trifft Chaplin: Kommt dieser interkulturelle Zusammenprall auch nicht ganz unüblich daher,⁸⁰ so signalisiert die hybride Verklammerung doch das spezifische Bestreben des Autors, den althergebrachten Topos des durch die Lande ziehenden Juden in ein moderndes Vagabundenmärchen einzubetten.⁸¹ In Hannah Arendts Essaysammlung Die verborgene Tradition bildet die Kopplung von Slapstick und Pariatum nicht zufällig den Ausgangspunkt eines künstlerischen Arrangements, innerhalb dessen Chaplin die Rolle des ewig Suspekten zufällt: Chaplin bewegt sich in einer grotesk übertriebenen, aber wirklichen Welt, vor deren Feindschaft ihn weder Natur noch Kunst schützen, sondern nur die selbstersonnenen Listen und manchmal die unerwartete Güte und Menschlichkeit eines zufällig Vorübergehenden. Denn in den Augen der Gesellschaft ist Chaplin immer und grundsätzlich suspekt, so suspekt, daß durch die außerordentliche Mannigfaltigkeit seiner Konflikte sich eines hindurchzieht: nämlich daß nach Recht und Unrecht keiner, auch der Betroffe nicht, fragt.⁸²
Verdinglicht am Objekt des Liegestuhls – Symbol der Komfortfreude des modernen Schiffstouristen – klafft die bei Arendt als unüberbrückbar geschilderte Kluft
Valbert, Albert Cohen, S. 174 f. Die beharrlich kursierenden Gerüchte über Chaplins vermeintliche jüdische Herkunft hielten sich auch unter Juden selbst, wie das Beispiel Hannah Arendt zeigt.Vgl. hierzu etwa: Grunenberg, Antonia: Die Figur des Paria zwischen Bohème und Politik. Überlegungen zu einer unterschätzten Denkfigur im Arendtschen Denken. In: Dichterisch denken. Hannah Arendt und die Künste. Hrsg. von Wolfgang Heuer u. Irmela von der Lühe. Wallstein: Göttingen 2007. S. 274– 291, hier S. 288. Für Schaffner entwirft diese originelle Erzählung „une image tragi-comique de la condition du Juif, dont les valeurs ne coïncident pas avec celles du monde moderne.“ Schaffner, Le goût, S. 11. Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp, Jüdischer Verlag 2000. S. 64 f.
2.2 Schriftstellerische Präludien des frühen Cohen
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zwischen der Gesellschaft und dem tragikomischen Anti-Helden auch in Cohens Text bildhaft auf: „Malgré le mal de mer, Charlot s’efforce de pénétrer le secret de la Société. Avec quelle bonne volonté, quelle mortelle douceur il plie tourne reconstitue analyse combine rêveusement cette chaise longue articulée trop compliquée pour les bons Isolés.“⁸³ Das Geheimnis des ausklappbaren Möbelstücks zu lüften bleibt Charlot ebenso verwehrt wie die Integration in eine Gesellschaft, die bereits dem Schriftbild nach den sich vergebens mühenden Anwärter mit ihrer erhabenen Majuskel von sich weist. Doch nicht allein das Wissen um Ausgrenzung stilisiert Cohens Charlot zu einer jüdischen Figur. Nein, sein Jüdischsein gibt sich auch und gerade in jener laut Cohen historisch verbürgten Exzessivität zu erkennen, die den Helden selbst bei so banalen Alltagsgesten wie dem Zuckern der Milch befällt: „Il sucre le lait. Les morceaux de sucre sont de rapides papillons entre ses doigts. Il s’arrête car sa conscience le trouble. Il s’en va puis revient et, tourmenté d’absolu, verse tragiquement impassible tout le sucrier dans sa tasse.“⁸⁴ Einen weitaus exotischeren Darstellungsmodus des Fremden als Mort de Charlot und Projections inszeniert das 1925 in La Revue juive abgedruckte Prosagedicht Cher Orient – eine künstlerische Hommage an jenen Kulturraum, den Cohen als junger Jurist anlässlich eines beruflich motivierten Ägyptenaufenthalts in den frühen 1920er Jahren zugleich neu- und wiederentdeckt. Auf die biografischen Hintergründe dieser zeitweiligen Trennung von Heimat und Familie wirft Cohens Tochter Myriam ein neues Licht – eines, das die gesellschaftlichen Defizite jener Jahre unsanft in den Mittelpunkt der turbulenten Autorenvita rückt: „Est-ce parce qu’il [Cohen] est juif qu’aucune étude d’avocat n’a voulu l’engager? […] Vingt ans après, il me parlait encore, et avec quelle amertume, de cette recherche de travail. Il s’était senti rejeté, humilié par les méchants Gentils du barreau de Genève.“⁸⁵ Wo die Projections das kosmopolitische Treiben im huis clos eines Genfer Nachtklubs verdichten, hallt es in Cher Orient im Trubel der Straßen von Alexandria wider: Laut, sinnlich, bunt und exzentrisch – und doch ist dieser Orient, wie er dem Schriftsteller von Kindestagen her vertraut war, ein dem Untergang geweihter Kulturkreis, dessen rege Tage gezählt sind: „L’Orient mains pendantes sur les genoux fume, ronronne et meurt.“⁸⁶ In das quirlige Gedränge der Gassen mischt sich der Gang eines jüdischen Straßenhändlers. Das Haupt gesenkt, den Blick erhoben, durchquert er das lärmende Menschengewimmel – eine Mimik von historischer Konstanz, deren Tragik der Text über die syntaktische
Cohen, Mort de Charlot, S. 18 f. Ebd., S. 11. Champigny-Cohen, Livre, S. 47 f. Cohen, Cher Orient, S. 73.
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2 Die Liebe und das Judentum: literarisches Vorspiel
Verknüpfung zweier sich ähnelnder menschlicher Tragödien, die des Juden mit der eines um Almosen flehenden Obdachlosen, noch akzentuiert: Le Juif marchand de choses éternelles chemine un sac sous chaque bras et son œil guette dans ton œil le désir de ses marchandises Il va la tête basse mais le regard levé oblique Fouilleur rapide juste computateur vorace À petits pas lents éternellement Le mendiant la main quêteuse immobile répète Dans la rue déserte: Ayez pitié ô miséricordieux.⁸⁷
Ersichtlicherweise ist das den beiden sozialen Randfiguren in den Straßen der ägyptischen Metropole entgegenschlagende gefühlsarme Klima kaum zu differenzieren von jener Kälte, die das soziale Miteinander im Genfer Nachtleben regiert. „Ayez pitié ô miséricordieux“: Es ist frappierend, wie diese dem verarmten Vagabunden in den Mund gelegten Worte den Kerngedanken eines mehr als ein halbes Jahrhundert später vollendeten Œuvre resümieren, das – betrachtet unter dem Aspekt der inhaltlichen Kontinuität und Homogenität – ein immerzu fort fließender Text zu sein scheint. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass schon diese frühe Lyrik des Orients den poetisch gepflanzten Keim jener ethischen Quintessenz birgt, die der Titel von Cohens 1972 unter neuem Namen veröffentlichter Autobiografie – Ô vous, frères humains – appellativ auf den Punkt bringt. Insofern als das Gedicht die jüdisch-christlich inspirierte Motivik des Mitleids und der Nächstenliebe, versinnbildlicht in der Figur des anonym bleibenden Straßenbettlers, in die gesellschaftliche Realität der Nachkriegsjahre einschreibt, legt es den sozialethischen Grundstein für das Gesamtwerk des Schriftstellers. Es hat sich gezeigt, dass die drei zueinander in Bezug gesetzten Kurztexte einen kontrastreichen Bilderbogen des Fremden ausspannen, der schon früh jene thematische Richtschnur vorgibt, die das Romanschaffen des Autors aufgreifen und verlängern wird. Während in Albert Cohens Israël, le Juif et les romanciers français auf diskursiver Ebene die Frage in den Blick gerät, inwieweit jüdische Literatur über einen spezifischen Heldentypus erfassbar sei, lässt sich jüdisches Schreiben im fiktionalen Frühwerk des Schriftstellers von den benannten Situationsmotiven her deuten. Erst die Gattung Roman aber wird dem Autor endgültig die ebenso breit wie facettenreich angelegte Zusammenführung beider Motivtypen⁸⁸ erlauben. Fragen wir uns daher: Wie eignet sich Albert Cohen die Bendas
Ebd., S. 72. Zur Differenzierung zwischen Typus- und Situationsmotiv vgl. Frenzel, Stoff- und Motivgeschichte, S. 23.
2.2 Schriftstellerische Präludien des frühen Cohen
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Romanfigur Félix zugedachten Widersprüche, ihr persönliches Existenzdilemma innerhalb der eigenen Romanproduktion an? Welches sind die inhaltlichen und formalen Techniken dieser Überführung und auf welche Weise sind sie an der erzählerischen Strukturierung des Liebesdramas beteiligt?
3 Von der Theorie zur Praxis, vom Kurztext zum Roman 3.1 Solal: der Mann in der Schwebe 3.1.1 Metaphorisierungen der Schwebe Wie sehr dem Schriftsteller an einer individuellen Fortschreibung des quälenden Seelendramas von Bendas Romanfigur gelegen war, demonstrieren all jene in interner Fokalisierung auf Solal gestalteten selbstreflexiven Passagen, in denen der Protagonist über seine von tiefen Rissen durchzogene Identitätskonstruktion sinniert. Will man die komplexe Persönlichkeit des Helden über den ihm zugedachten Selbstentwurf beschreiben, so sprechen die in das Romangeschehen verquickten Metaphern der Ich-Gespaltenheit eine eindeutige Sprache. Verdichtet im Brennglas einiger weniger Bilder kondensieren sich hier die Peripetien einer Prosa, welche die condition juive über das den Helden zermarternde Zerwürfnis sichtbar macht. Mit Jérôme Cabot dürfen wir mithin festhalten: Nicht die Frage der Identität per se spielt in Cohens jüdischer Saga eine dominante Rolle. Nein, was die Dynamik des Schreibens vorantreibt, ist vielmehr die in immer neue Bahnen geworfene Suche des Juden nach sich selbst, das stets in Bewegung befindliche Weltbild der Romanfigur, Abbild ihrer sprunghaften inneren Verfassung.¹ Auf eines dieser Bilder stoßen wir ein erstes Mal in Cohens Debütroman Solal, als der Protagonist sein Herz gegenüber dem späteren Liebesrivalen Jacques de Nons zu öffnen wagt: „J’ai faim de tout. J’ai trois mille trains contradictoires filant sur six mille rails et de mon cœur ils vont à mon esprit“ (S ‐ 175). Solals enigmatische Rhetorik entfaltet ein in zweifacher Hinsicht aufschlussreiches Bild der Introspektion: Zum einen signalisiert der Held – und hierin erkennen wir eine für Cohens gesamtes Schreiben typische Motivik wieder – jene ungebändigte Gier, die der Schriftsteller schon in Israël, le Juif et les romanciers français als historisch bedingten Charakterzug des Juden definierte. Mit seiner metaphorisch verschleierten Selbstanalyse bekennt sich die Romanfigur andererseits zu einer Herz und Verstand vereinnahmenden Ich-Zerrissenheit und damit zu einem Seelendilemma, in das sie sich im weiteren Erzählverlauf immer tiefer verstricken wird. Bezeichnend dabei ist, dass beide Gestimmtheiten kausal aufeinander bezogen sind,
„La judéité n’est pas tant alors un contenu, une identité, qu’une posture existentielle, éthique et esthétique depuis laquelle c’est bien plutôt l’Occident, et l’homme même, qui sont en question.“ Cabot, Utopie, S. 30. DOI 10.1515/9783110526103-004
3.1 Solal: der Mann in der Schwebe
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fußt das den Helden beherrschende innere Chaos doch auf dem ununterdrückbaren Wunsch nach absoluter Glücksoptimierung. Das von Solal zur Hilfe geholte Tableau der konfus gen entgegengesetzte Zielpunkte dahinbrausenden Lokomotiven ruft freilich jene Züge ins Gedächtnis, deren aufblitzende Strahler das Interieur des Genfer Nachtklubs in ein spektakuläres Lichterinferno verwandelten. Wie selbstverständlich überführt der Erzähler das eigentümliche Bild aus der dröhnenden Hitze des nachmitternächtlichen Mikrokosmos in das nicht minder tumultuöse Innenleben des Protagonisten – ein ebenso musterhafter wie spektakulärer Transfer, der stellvertretend für all jene intratextuellen Spiegelszenen und -figuren steht, die sich im Werk des Schriftstellers vielfach kreuzen. Schon an einem frühen Punkt der Handlungskurve aktiviert also der Text jenes den Helden traktierende Gewissensdilemma, das die im weiteren Verlauf der Erzählung dichotomisch geordnete Entzweiung des Ich urszenisch initiiert. Weniger verhüllend als noch zuvor in der Figurenrede bringt die allwissende Erzählerstimme zu einem weitaus späteren Moment – dann nämlich, als Solal das Judentum längst für die im Okzident gepflückten Lorbeeren geopfert hat – das Zerwürfnis des Helden pointiert zur Sprache. Wieder drückt sich der Konflikt in intratextueller Verdopplung aus, hier über die suggestive Reminiszenz an den grenzenlosen Lebenshunger von Cohens Charlot: „Elle [Mme Sarles] ne pouvait pas deviner la douleur et le désarroi de cet homme qui avait le cœur trop ardent pour pouvoir choisir entre sa femme qu’il aimait et sa race qu’il aimait, qui se sentait coupable vis-à-vis de l’une et de l’autre, qui n’avait plus le courage de rentrer dans la vie, cruelle aux passionnés d’absolu“ (S ‐ 313, [meine Hervorhebung]). An die Metaphorik der in den Wirren der Heldenpsyche aufeinander zusteuernden Züge schließt das ebenfalls in Figurenrede gestaltete, von der CohenForschung viel bemühte Bild des um Gleichgewicht ringenden Seiltänzers an: „Moi, seul toujours, un étranger, et sur une corde raide“ (BdS ‐ 345 f.). Diese für das Selbstverständnis der Romanfigur geradezu paradigmatische Vision suggeriert einen vom Helden tagtäglich zu begehenden, schwindelerregenden Balanceakt, der umso höhere Risiken birgt, als der über dem Abgrund schwebende Akrobat durch keinerlei Sicherheitsvorkehrungen – weder sozialer, noch familiärer oder institutioneller Art – vor dem tiefen Fall gefeit ist: „Une réussite sur corde raide et sans filet. Dépourvu d’alliances, de parentés, d’amitiés héritées, d’amitiés d’enfance et d’adolescence, de toutes les protections naturelles que tisse l’appartenance vraie à un milieu, il n’a jamais pu compter que sur lui. […] Il voudrait bien les y voir à sa place, crétins protégés depuis leur naissance, doucement portés par le social du berceau à la tombe“ (BdS ‐ 846 f.). Es ist bemerkenswert, dass Lévinas innerhalb der in Difficile liberté reflektierten Identitätsproblematik des Juden ebenfalls auf die Seiltanzmetaphorik rekurriert, wobei der Philosoph über die mit der Vorstellung des Schwebens assoziierte Gefahr des Zufallkommens
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3 Von der Theorie zur Praxis, vom Kurztext zum Roman
hinaus dem Bild eine zweite Sinndimension unterlegt: Zwar sei das Risiko des Gleichgewichtsverlusts enorm, doch fühle sich der Skeptiker dem Judentum insofern noch verbunden, als der gedanklich provozierte Bruch immer auch einen noch Gültigkeit besitzenden Zuspruch impliziere: „S’interroger sur l’identité juive, c’est déjà l’avoir perdue. Mais c’est encore s’y tenir, sans quoi on éviterait l’interrogatoire. Entre ce déjà et cet encore, se dessine la limite, tendue comme une corde raide sur laquelle s’aventure et se risque le judaïsme des juifs occidentaux.“² Auch ist mit dem in Solals Selbstcharakterisierung aufgerufenen Bildbereich des Schwankens ein Bezug zu all jenen jüdischen Romanhelden der Zeit vorstellbar, die eine literarische Antwort auf die Metapher des Luftmenschen darstellten. Die bei Nicolas Berg Erwähnung findende Novelle Dangling man des US-amerikanischen Schriftstellers Saul Bellow³, verfasst im Jahre 1934, weise sich schon dem Titel nach als das Werk eines Autors aus, der „mit den immer wiederkehrenden Vokabeln ‚hängenʻ, ‚fliegenʻ, ‚schwebenʻ und ‚fallenʻ eine weitere Übertragung der Luftmenschenfigur auf Elemente der jüdischen Erfahrungswelt vornahm und diesen Begriff auch mehrfach selbst verwendete.“⁴ Zu abermaligen rhetorischen Höhen schwingt sich die Cohens Saga durchziehende Metaphorisierungsserie im Bildnis des janusköpfigen Monsters auf – in jener Fratze des Schreckens, die der in der klaustrophobischen Enge eines Pariser Hotelzimmers gefangene, nunmehr staatenlose Paria fantasiert: „Ici, dans cette chambre, il a le droit de faire ce qu’il veut, de parler hébreu, de se réciter du Ronsard, de crier qu’il est un monstre à deux têtes, un monstre à deux cœurs, qu’il est tout de la nation juive, tout de la nation française. Ici, tout seul, il pourra porter la sublime soie de synagogue sur les épaules et même, si ça lui chante, se coller une cocarde tricolore sur le front“ (BdS ‐ 850). Erinnern wir uns: Silbermanns Tagtraum von der geglückten Kultursymbiose zweier Nationen spinnen hier die Worte eines gefallenen Helden weiter, dem diese Sehnsucht nur in der Isolation des ghettogleichen Raums gegeben ist. Und doch: In der zersplitterten Selbstwahrnehmung der Romanfigur bleibt der fern allen Sozialisierbarens erdachte Idealtypus ein Monster – ein irreelles Fabeltier, halb Jude, halb Nicht-Jude, das in der Welt sein Unwesen treibt. Die einzige Silbermann wie auch Solal verbleibende Alternative ist der Rückzug in die seit jeher für den Juden präformierte Rolle des Geldhändlers: „Banni, exclu. Comme activité dans le dehors, il ne lui reste plus que le commerce, le maniement d’argent, comme ses pères du moyen âge“ (BdS ‐ 849). Selbst der Blick in den Spiegel verwährt dem suchenden Betrachter
Lévinas, Difficile liberté, S. 78. Bellow, Saul: Dangling man. 2. Aufl. New York: Vanguard Press 1944. Berg, Luftmenschen, S. 48 f.
3.1 Solal: der Mann in der Schwebe
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den ersehnten hybriden Ich-Entwurf. Denn bestückt mit einer falschen Nase aus Pappmaschee, unzweideutiges Relikt des mit der Zwergin Rachel zelebrierten Purimsfests,⁵ entdeckt Solal darin einzig und allein sein karnevalesk simuliertes jüdisches Konterfei: „Oui, devant lui, dans la glace, Israël“ (BdS ‐ 865). Der im Auge des Schauenden vollzogenen Scheinidentifizierung mit Israel zum Trotz aber bleibt zwischen Solal und dem Judentum die trennende Wand des Spiegels aufrecht – jene gläserne Barriere, durch die hindurch der ziellos durch Paris vagabundierende Held wenige Romanseiten später seine in einem jüdischen Restaurant Platz nehmenden Glaubensbrüder von der Straße aus verstohlen in Augenschein nimmt und deren Gestik er im Stillen imitiert: „Alors, dans la nuit noire où une pluie fine et froide lentement tombe, debout devant la vitre et ses rideaux, leur roi solitaire balance à son tour son buste, le balance au rythme immémorial, chante en la vieille langue un cantique à l’Eternel, le cantique que Moïse et les enfants d’Israël ont chanté à l’Eternel qui les a délivrés de la main de Pharaon“ (BdS ‐ 871). Wie so oft bei Cohen situiert sich die Passage – und dieses topologische Muster wird wieder aufzunehmen sein – an einer räumlich figurierten Schwelle: Zwar heftet Solal sich intuitiv an die Fersen der sich im Dunkel der Nacht nahezu verlierenden Gestalten, zwar bewegt er sich auf sie zu, „pour mieux les voir et en jouir“ (BdS ‐ 870), doch mündet diese sukzessiv aufgebaute Nähe nicht in einem frontalen face à face. Der Text schließt mit einer Begegnung auf Distanz: Die Schwelle zum Gasthaus wird nicht überschritten; zaudernd harrt der Held in der Finsternis.
3.1.2 Narrative Umschwünge Was die benannten Metaphern in bildhaft verdichteter Form transportieren, erstreckt sich auf der Ebene des Plots über eine an Peripetien reiche Handlungskurve, die das Zerwürfnis des Helden kontrapunktisch abbildet. Der Solals Parcours taktierende Erzählrhythmus ließe sich mithin als jene von Lévinas geschilderte Pendelbewegung deuten, die das Oszillieren zwischen dem „Hier“ und dem „Dort“, die Schwellensituation des „bereits verloren“ und „noch präsent“ ein ums andere Mal vergegenwärtigt: Was auch immer der Held tut, wie auch immer er sich entscheidet: Konsequent schlägt das Pendel in die eine oder andere Richtung aus, konsequent wendet sich Solal dem einen oder anderen Ursprung zu, niemals aber fallen beide miteinander inkompatiblen Selbstbilder in eins. Mit dieser inneren Logik des „Entweder-Oder“ distanziert sich der Protagonist, dessen
Vgl. hierzu die Anmerkungen in Kapitel 4.2.2 zur Mitleidsthematik bei Cohen.
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Gleichsetzung mit dem realen Autor es gerade in dieser Hinsicht tunlichst zu vermeiden gilt, radikal von jenem identitären „Sowohl-als-auch“, für das neben Cohen auch der franko-libanesische Schriftsteller Amin Maalouf mit aller Vehemenz eintritt: für einen Identitätsbegriff nämlich, der seine schillernde Komplexität aus einer Vielzahl sich wechselseitig befruchtender kultureller Zugehörigkeiten schöpft:⁶ Il m’arrive de faire quelquefois ce que j’appellerais ‚mon examen d’identité‘, comme d’autres font leur examen de conscience. Mon but n’étant pas – on l’aura compris – de retrouver en moi-même une quelconque appartenance „essentielle“ dans laquelle je puisse me reconnaître, c’est l’attitude inverse que j’adopte: je fouille ma mémoire pour débusquer le plus grand nombre d’éléments de mon identité, je les assemble, je les aligne, je n’en renie aucun.⁷
Der gemeinhin bemühten Vorstellung des kulturellen Patchworks überdrüssig – suggeriere dieses Bild doch ein von klaren Trennlinien durchsetztes Muster – plädiert der seit 1976 in Frankreich lebende Schriftsteller für eine ineinandergreifende Verschränkung dieser eng aufeinander zu beziehenden multiplen Zugehörigkeiten: „L’identité d’une personne n’est pas une juxtaposition d’appartenances autonomes, ce n’est pas un ‚patchworkʻ, c’est un dessin sur une peau tendue; qu’une seule appartenance soit touchée, et c’est toute la personne qui vibre.“⁸ Schon ein Blick in den Eintrag Identités des von Albert Memmi enzyklopädisch gestalteten Werks A contre-courants genügt und es zeigt sich, dass auch hier, ganz wie der Titel es verheißt, der Identitätsbegriff argwöhnisch gegen den Strich gebürstet wird: „Bref, si l’on peut dire, l’identité n’est pas identique. Le mot est trompeur, et peut-être faudrait-il y renoncer.“⁹ Im überschaubaren Rahmen einer Anekdote, deren gleichnishafte Sprache die chassidische Erzähltradition zu verlebendigen scheint, kommuniziert das Ich der Geschichte auf seinem imaginären Streifzug durch Europa, dass kein Land des Kontinents Anspruch erheben dürfe auf eine gleichförmig gewachsene Identität und damit auf ein nationales Bewusstsein, das auf ein gegen Fremdeinflüsse resistentes Erbe reduzierbar wäre: „Avec le temps, aucune barrière ne tient: comment distinguer aujourd’hui, sur le vieux fonds, les apports successifs?“¹⁰ Mit Amin Maalouf und Albert Memmi seien exemplarisch zwei Autoren der kulturhistorisch betrachtet nicht minder viel-
„J’ai constamment insisté jusqu’ici sur le fait que l’identité est faite de multiples appartenances.“ Maalouf, Amin: Les Identités meurtières. Paris: Grasset 1998. S.11. Ebd., S. 25. Ebd., S. 36 f. Memmi, Albert: A contre-courants. Dictionnaire pour s’éviter des errements, complaisances et complicités. Paris: Nouvel Objet 1993. S. 141. Ebd., S. 138.
3.1 Solal: der Mann in der Schwebe
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schichtig zusammengesetzten Romania zitiert, die ein plurales Identitätsverständnis gleichermaßen unbekehrbar propagieren wie Solal es von sich weist.Von den Konsequenzen dieses Abwehrreflexes auf die Liebe wird noch ausführlich zu sprechen sein. Kommen wir vorerst aber zurück zu jenen die Chronologie der Fiktion auffällig rhythmisierenden Umschwüngen, die aus einander widersprechenden Perspektiven die Identitätskrise des Helden nacherzählen: Denn jeden vollbrachten Bruch mit der jüdischen Tradition wird der Protagonist im Laufe seiner Entwicklung ebenso stark in Zweifel ziehen wie jede erzwungene Abkehr von den Normvorstellungen des Abendlands. Der Faszination durch den einen steht immer der Boykott des anderen Kulturraums gegenüber, synchron zu jeder Bewegung der Öffnung vollführt der Text einen Gestus der Verriegelung. Diese im Romanverlauf sich zusehends schärfer abzeichnende Erzähllinie des kategorischen „EntwederOder“ fiktionalisiert der Text immer wieder neu. Schon Cohens Debütroman setzt in dieser Hinsicht von Beginn an unzweideutige Akzente, bestätigen doch bereits die Eingangsszenen diese leidvolle Dialektik. Als im fernen Frankreich ein jüdischer Militär namens Blum der Willkür der Justiz zum Opfer fällt, hindert dieser antisemitische Urteilsspruch Solals Vater daran, den Sohn an den für das französische Konsulat der ionischen Insel Kefalonia geplanten Einweihungsfestivitäten teilhaben zu lassen. In dem rebellischen Adoleszenten schürt das Inkrafttreten des väterlichen Verbots unmittelbar judenfeindliche Ressentiments: „Ainsi donc, on lui défendait d’aller à la fête à cause de ce Blum du Diable, un traître évidemment, il n’y avait qu’à voir ses lorgnons“ (S ‐ 117). Der mit Gamaliels Entschluss bewirkte Wertverlust der vom Sohn mit List erbeuteten Einladungskarte entpuppt sich für Solal als Inbegriff der ihm verwehrten Wonnen des Okzidents: „Cette carte était les beautés du monde refusé“ (S ‐ 118). In dem Maße, in dem der Sohn vom Vater abrückt, idealisiert er die Konsulsgattin Adrienne zum makellosen Sinnbild eines ganzen Kontinents: „Pourquoi voulait-elle voir le rabbin? Qu’y avait-il de commun entre cette déesse et ce méchant homme qu’ils appelaient le ‚Rabbin de la Méditerranéeʻ ou la ‚Lumière de l’Exilʻ?“ (S ‐ 109). Doch damit nicht genug: Die Kontroverse um das Solal versagte Vergnügen entfesselt ein über viele Jahre andauerndes Kräftemessen zwischen beiden Kontrahenten – eine Spirale der Gewalt, die von Anfang an ungeschminkt vor Augen führt, in welch erheblichem Umfang sich selbst das vermeintliche Inselidyll der für Cohens Schreiben so zentralen Problematik des Zusammenlebens zu stellen hat: ein Aspekt, der bis dato von der Forschung übersehen wurde.¹¹ Schon der ei-
Der im 12. Jahrgang der Cahiers Albert Cohen auf vielerlei Ebenen beobachtbaren Annähe-
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gentlichen Familienfehde war ein gewaltvoller Übergriff vorausgegangen, hatte Solal doch seinen Privatlehrer auf brutalste Weise niedergeschlagen, um dessen Einladungskarte habhaft zu werden (S ‐ 118). Die sich binnen dreier Jahre weiter fortentwickelnde Vertrautheit zwischen Adrienne und dem Judenknaben ist dem Solal jedweden Kontakt untersagenden Patriarchen ein Dorn im Auge. Auf das gesprochene Machtwort reagiert der den Vater rabiat von sich stoßende Sohn wieder einmal mit Gewalt (vgl. S ‐ 129), wofür der unter Gamaliels Peitsche blutig geschlagene Junge bitter zu büßen hat (vgl. S ‐ 132) – eine rüde Bestrafung, angesichts derer das Familienoberhaupt, und der Erzählerkommentar deutet zynisch darauf hin, womöglich nicht einmal Reue zu empfinden scheint: „Solal s’évanouit et tomba sur le marbre où son père l’abandonna pour aller prier (ou peut-être songer à la beauté d’Adrienne)“ (S ‐ 132). Bildet etwa das im Klammerzusatz in Erwägung gezogene Motiv der Missgunst das eigentliche Movens der von Gewalt befleckten Vater-Sohn-Beziehung? Gänzlich auszuschließen ist dies nicht, zumal der Text nur wenige Seiten später, als Gamaliel den eigenen Sohn in zürnender Replik auf Solals fulminante Flucht von der Insel leugnet, ein weiteres Mal subtil den Nexus zwischen der Unbarmherzigkeit des Patriarchen und dem väterlichen Neid auf die Jugend des Knaben herstellt: „Il [Gamaliel] releva la tête et aperçut dans le miroir sa figure vieilli, impropre aux joies du sang et de la terre. Il respira l’odeur des orangers qui entrait par la fenêtre, écarta ses lèvres plus rouges et cracha. ‚Je n’ai plus de filsʻ“ (S ‐ 136). Gesprochen vor der olfaktiven Kulisse des fruchtigen Dufts reifer Orangen – ein eklatanter Kontrast zu dem von Altersfurchen übersäten Antlitz Gamaliels – darf man das Dementi des Greises doch wohl zumindest partiell im Sinne dieser unausgesprochen bleibenden Wahrheit lesen. Allerdings hat es mit der Verhaltensweise des Vaters noch eine weitere Bewandtnis, zeigt der Text doch nunmehr unmissverständlich auf, dass die über weite Teile der ersten sechs Romankapitel in Szene gesetzte Serialität von Gewalt und Gegengewalt keine friedvolle Beilegung findet, sondern, ganz im Gegenteil, im Fiasko endet. Darüber hinaus führt der Familienzwist in den für das Folgegeschehen narrativ maßgeblichen Schuldkomplex ein: Je brüsker Solal den Vater von sich weist, je schroffer er dem Judentum den Rücken kehrt, desto tiefer gerät der Sohn in den Sog jener Schuldgefühle, die – und hierauf hat Thau hingewiesen – ihm die erstrebte Assimilation vereiteln: „Solal inscrit et met en scène une série impressionnante d’interdits puissants et divers qui font de l’assimilation une transgression trop chargée de culpabilité pour être menée à terme.“¹² Mag Solals
rungen an das Thema der Gewalt zum Trotz findet dieser Vater-Sohn-Konflikt darin keinerlei Erwähnung. Vgl. hierzu: Violence. Thau, Hapax ‚Solal‘, S. 92.
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Befreiungsschlag gegen die väterliche Autorität auch noch so unverzeihbar sein, so ist dem entschärfend entgegenzuhalten, dass nicht nur unter den christlichen und nicht-christlichen Inselbewohnern Kefalonias, sondern auch im engen Umkreis der innerjüdischen Bevölkerung die sozialen Beziehungen grundlegend gestört sind¹³ – gesellschaftliche Missstände, die Solals Hass auf den Vater und die Heimat in mancherlei Hinsicht erklärbar, wenn nicht sogar entschuldbar machen. Mit der ins Groteske ausgreifenden Schilderung von Solals Bar Mitzwa-Feier trägt der Erzähler obendrein sein Übriges dazu bei, diesen Eindruck zu erhärten. Unter Verzicht auf jedwedes religiöse Pathos porträtiert der Text in nicht minder schrillen Farben wie vormals in den Projections eine exaltierte Festgesellschaft, die den Anlass der Zusammenkunft mit pietätloser Nichtachtung straft: „Les femmes dandinantes et bijoutées arboraient d’agressives couleurs florales. Les habits des hommes avaient les tons éteints des sorbets aux fruits qu’ils ingurgitaient distraitement. Les courants d’air secouaient les chevelures d’astrakan des transpirantes qui clignaient des yeux aux rayons obliques du soleil“ (S ‐ 109). Analog der Rhetorik des Vorgängertextes enthält sich der Erzähler auch bei diesem Gruppenbild einer individualisierenden Nachzeichnung der Figuren. Stattdessen flanieren die Geladenen als in Gänze anonyme Wesen, ja Münder umher,was der Text in einer den Charme der weiblichen Gäste unterminierenden Pars pro Toto-Relation zu erkennen gibt: „Les femmes roses et vertes burent, se bourrèrent et se réjouirent, les mains molles tenant avec distinction les gâteaux de miel et d’huile. Elles allèrent, avec des exclamations et des rires, importuner Solal et lui remettre des cadeaux. Vingt-trois bouches gloussèrent; les ouvertures humides s’étiraient en sourires esclaves et dominateurs“ (S ‐ 111). Aufgebrochen wird die Anonymität des Festtagstableaus lediglich im Anblick jener drei angeblich dem Wahnsinn verfallenen Cousins, die von der übrigen Gesellschaft um jeden Preis gemieden werden: „Du haut de la galerie où s’ouvraient les chambres du premier étage, Solal regardait ses trois cousins, les fils de Jacob Solal mort à Jérusalem: Reuben qui croquait avec une avidité unificatrice six dragées et la dent qu’il venait de se rompre, Saül illuminé et Nadab riche en mépris. Les assistants évitaient ces trois adolescents qu’on disait voués à la folie comme leur père“ (S ‐ 109). Den Kulminationspunkt des Negativbilds aber bildet die ebenso wortarme wie sibyllinische Ansprache des Rabbiners,¹⁴ die unter dem zahlreich versammelten Auditorium
Ein Zustand, der auf dem Eiland schon auf topografischer Ebene deutlich markiert ist: Während die schäbigen Häuser des jüdischen Viertels gleich garstigen Ekzemen in die Höhe ragen, kokettiert der angrenzende christliche Teil der Insel mit seinen pittoresken Kirchtürmen und verwinkelten Gässchen (vgl. S ‐ 91). Für eine erhellende Detailanalyse dieser Solals Schicksal präfigurierenden Ansprache vgl. Abecassis, Dissonant voices, S. 16 – 21.
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beträchtliche Zweifel an der Geistesverfassung des jüdischen Gemeindeoberhaupts der Insel weckt: „Les assistants étaient gênés. Ils s’attendaient à un beau discours et ces quelques phrases hargneuses les avaient déçus. Les études et les veilles auraient-elles troublé l’esprit du rabbin?“ (S ‐ 111). Sämtliche dieser befremdlich unterlegten Details antizipieren konsequenterweise jene unabwendbare Entwicklung, die den jungen Rebellen in Begleitung seiner wesentlich älteren Geliebten bis nach Europa führt. Dort angekommen aber holt ihn das auf der fernen Insel in Bruchstücken zurückgelassene Beziehungsgefüge rasch ein – jenes gestörte Vater-Sohn-Verhältnis, das auf einer überindividuellen Ebene in spiegelbildliche Beziehung zu dem in Solals Psyche ausgetragenen Kampf der Kulturen und Religionen gesetzt wird. So findet der Groll auf die Vaterfigur seine exakte Entsprechung in jenem Klangbild des Jammers, das den neu zu errichtenden Judenstaat im Konzert der aufstrebenden Weltmächte elend verstummen lässt: „Israël était un pauvre rossignol, un vieil oiseau déplumé qui s’égosillait dans la nuit des siècles tandis que les nations jeunes construisaient leurs empires“ (S ‐ 196). Den wohl dramatischsten im Gesamtverlauf des Romans beobachtbaren Ausschlag des Pendels gen Okzident¹⁵ aber inszeniert der Autor mit jener kruzialen Sequenz, in der Gamaliel sich erdreist, den unlängst zum Arbeitsminister Frankreichs ernannten Sohn auf einem Diplomatenempfang unter die Augen zu treten. Blind vor Wut auf das väterliche Intervenieren in Leben und Karriere des Emporkömmlings wälzt Solal seinen ganzen Hass auf das als Sündenbock¹⁶ missbrauchte Judentum ab, auf jenes minderwertige Vermächtnis, das der jüdische Monotheismus in der Gestalt von „dix pauvres, dix élémentaires règles de conduite bourgeoise“ (S ‐ 278) dem Menschen hinterlassen habe. Als Gegengewicht zu diesen blasphemischen Bezichtigungen hält die unmittelbar dazwischentretende Erzählerinstanz ein die rhetorische Verve des Redners bremsendes Wort für angebracht: „(Il [Solal] éprouva de la joie à manier avec aisance son esprit et arpenta rapidement la chambre. Juvénilement, il se sentait intelligent et il ressentait un plaisir taldmudique à prouver le contraire de la vérité)“ (S ‐ 278). Der diesem Kommentar eingefügte Verweis auf die Solal zur Last gelegte Verkehrung der talmudischen Wahrheitsliebe in ihr Gegenteil führt thematisch zurück zu je-
Dem vorausgegangen war eine erste den gespaltenen Seelenzustand des Helden erkennbar werden lassende Volte: Solals vor den Augen Audes und ihres Vaters lustvoll inszenierte Selbstdarstellung als orthodoxer Jude, gehüllt in den traditionellen Gebetsschal (vgl. S ‐ 239 f.). Zum jüdischen Ursprung der Figur des Sündenbocks vgl. Daniel Sibony: „[L]a Bible juive a inventé le bouc émissaire (un vrai bouc) pour y transférer les fautes, et les envoyer au diable.“ Sibony, Daniel: Les trois monothéismes. Juifs, Chrétiens, Musulmans entre leurs sources et leurs destins. Paris: Seuil 1992. S. 132.
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nem auf das Jahr 1923 datierten Artikel, in dem Cohen voll des Lobes für den von außen aufoktroyierten Intellekt des Juden war, für jene von Exil zu Exil perfektionierte Verstandesschärfe, die Solal nun unverfroren zweckentfremdet. In einer weiteren Umkehrung beschmutzt der Abtrünnige die Entstehungsgeschichte des jüdischen Glaubens mit just jenem Blut, das der Held im weiteren Fortgang der Diegese – und dies mit besonderer Intensität in Belle du Seigneur – der Historie des Okzidents zuschulden kommen lässt: „Et à propos de ces dix malheureux préceptes, tout cet étalage, dans la Bible, de férocité orientale! Les condamnations à mort pleuvent dans votre Deutéronome“ (S ‐ 278). Ihren unglückseligen Endpunkt findet diese Sequenz in der provokanten Geste des sich vor den Augen des Vaters bekreuzigenden Sohns – eine Symbolik mit fatalen Folgen, wird Gamaliel die von Solal im Kreuzeszeichen gebannte Abspaltung vom Judentum doch mit der vorsätzlich verursachten eigenen Erblindung erwidern. Wir haben es hier zweifellos mit einer Scharnierszene des Romans zu tun, die in Anlehnung an den erblindenden Isaak der Hebräischen Bibel (Gen 27,1) als Sinnbild eines irreparablen Bruchs zu deuten ist.¹⁷ In einem weiteren den kontrapunktischen Duktus der Erzählung fortsetzenden Handlungsumschlag überwältigt den treulosen Sünder die Reue: Der Blick aus dem Fenster auf Vater und Onkel, die, des fürstlichen Prunks verwiesen, auf der von Schnee bedeckten Straße einander stützend gramvoll ihrer Wege gehen, wird für den Sohn rückblickend zum Moment der Erkenntnis: „Mais oui, il comprenait tout maintenant. Lorsqu’il s’était penché à la fenêtre hier soir, il avait vu les deux vieux renvoyés qui allaient sur la neige, trébuchaient, s’appuyaient l’un sur l’autre et allaient, les deux vieux désespérés“ (S ‐ 282). Der erhöhte Standpunkt des die beiden Verstoßenen aus der Vogelperspektive wahrnehmenden Protagonisten unterstützt diesen Proustschen Sinneswandel vom „mufle“ zum „prophète“¹⁸ noch topografisch: eine raummetaphorische Choreographie, wie Cohen sie, so werden wir sehen, in seinen Texten mehr als nur einmal gestaltet. Schon zu früher Stunde des Folgetags, als Solal ad hoc beschließt, dem Ministerium fern zu bleiben, werden die Konsequenzen dieser für den Roman katalysierend wirkenden Die mit der Erblindung des Vaters einhergehende Schuldthematik wird in Mangeclous reaktiviert (vgl. M ‐ 570). Das Proustsche Erzählmuster einer vom alternden Swann durchlaufenen moralischen Läuterung vom „mufle“ zum „prophète“ ändert Cohen insofern ab, als der in sich zerrissene Solal beide Charaktere simultan und kontinuierlich immer schon in sich vereint. Die Passage der Recherche, auf die ich mich beziehe, lautet: „Il y a certains Israélites, très fins pourtant et mondains délicats, chez lesquels restent en réserve et dans la coulisse, afin de faire leur entrée à une heure donnée de leur vie, comme dans une pièce, un mufle et un prophète. Swann était arrivé à l’âge du prophète.“ Proust, Marcel: Sodome et Gomorrhe. In: A la recherche du temps perdu. Bd. 2: Le côté de Guermantes. Sodome et Gomorrhe. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1954. S. 690.
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Schlüsselszene in aller Deutlichkeit sichtbar: Gebrochen durch das Prisma der Absurdität treten die Solal umgebenden Räumlichkeiten – das luxuriöse Pariser Appartement samt Mobiliar und der gleich einer zierenden Komparsin am Klavier sitzenden Aude – als jene durch und durch befremdliche Umwelt in Erscheinung, wie sie dem über die Jahrhunderte hinweg heimatlos umherziehenden Juden immer schon vertraut war.¹⁹ Die rhetorischen Waffen der noch am Vortag vorgebrachten Judenschelte – anzusiedeln in den semantischen Feldern des KomischAbsurden²⁰ und des Triebhaft-Animalischen²¹ – finden in diesem Rahmen ein zweites Mal Versprachlichung, gerichtet nun allerdings gegen das allerengste nicht-jüdische Umfeld des reuigen Ministers. Mit dem vor Aude geheim gehaltenen Erwerb der mittelalterlichen Commanderie – und mit dieser Namensgebung ist erneut die Brücke zu Proust zu schlagen²² – führt dann der Roman die von Selbstzweifeln durchzogene Identitätssuche des Protagonisten ebenso konsequent wie allegorisierend fort. Schon mit dem von Solal als notwendig erachteten Zusatz hinsichtlich des Entstehungszeitpunkts der dem Verfall geweihten Gemäuer – „Du XVIe siècle après Jésus Christ“ (S ‐ 283) – sensibilisiert der Text für den Umstand, dass auch die Zeitrechnung einer relationalen Logik folgt.²³ Solals im Kellergeschoss der Burg reterritorialisierte Juden fristen dort ein freudloses Getto-Dasein, das von der Oberfläche des Lebens regelrecht verdrängt wurde. Auf „Rencontrant dans son exode le buste de Calvin, don de M. Sarles, il [Solal] souleva avec sérieux le volumineux étoffe d’or qui couronnait sa tête et salua le réformateur qui lui était assez sympathique. Puis il continua de marcher en compagnie de Roboam, quelques siècles plus tard. Il s’arrêta à Amsterdam, invita Aude à continuer de jouer et regarda le salon avec intérêt, dénombrant les meubles, badaudant devant les tableaux et plissant la peau du front“ (S ‐ 281). Bezüglich des Judentums hieß es: „Quelle pauvre farce. Un animal en comprendrait le comique“ (S ‐ 278). Nun lautet die Anklage: „Curieux. Un appartement. Et cet appartement lui appartenait. Comique. Et celle-ci qui caracolait devant son accordéon. Qui était plus comique, celle-ci, ou lui avec sa modeste étoffe d’or pour le préserver des intempéries et qu’il pourrait emporter sous son bras au jour de la persécution?“ (S ‐ 282). „Et naturellement, il était tenu de la nourrir, d’apporter des viandes et des herbages et de la saillir. Peut-être même que plus tard il devrait construire un nid avec sa bouche, s’asseoir dessus pour chauffer les petits serpents, gazouiller pour faire passer le temps à la femelle et nourrir les petits requins à la becquée“ (S ‐ 282). Prousts Charlus empfindet es als „curieux goût du sacrilège, particulier à cette race“, dass die jüdische Familie Bloch ein Anwesen namens La Commanderie bewohnt. Proust, Sodome et Gomorrhe, S. 1105. Vgl. hierzu auch den intertextuellen Hinweis bei Goitein-Galpérin, Visage, S. 66. „Wir brauchen nur den Anfangspunkt und einige weitere Richtpunkte auf der Zeitskala auszuwechseln und schon sind wir in der Zeit so desorientiert, wie es jemand im Raum wäre, dem die gewohnten Markierungen und Beschilderungen fehlten. Der Zauber der runden Zahl ist jedenfalls dahin, wenn wir statt den 1.1. 2000 das jüdische Datum 23. Tewet 5760 setzen.“ Krochmalnik, Daniel: Schriftauslegung. Das Buch Genesis im Judentum. Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2001. S. 34.
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die Symbolik des Châteaus als ein vom Text ausdrucksstark ins Bild gerückter „Chronotopos“²⁴ für das konfliktive Innenleben des Helden wurde von der CohenForschung vielerorts hingewiesen.²⁵ Zusätzlich zur tiefenpsychologischen Ausdeutung des Kellerraums wäre eine zweite Dechiffrierungsweise des mittelalterlichen Schauplatzes in Betracht zu ziehen: Projiziert auf die außerliterarische Wirklichkeit könnte die räumliche Beherbergung der Juden in den Tiefen der Burg auch auf jene Dialektik von eigenem Staat und Gettoisierung Bezug nehmen, der sich die zionistische Ideologie in jener Zeit zu stellen hatte: „Il y a deux versants au sionisme: le bel idéal d’un Etat juif, et le consentement lucide à un ghetto mondial. Pour Herzl, la patrie désirée doit être le progrès spectaculaire qui dotera une nation millénaire de toutes les prérogatives politiques de la modernité; mais elle est aussi le retour en arrière qui propose à nouveau aux Juifs une existence séparée.“²⁶ Doch lassen wir diese welthistorische Lesart beiseite und konzentrieren uns auf eine psychologisierende Deutung der um die Commanderie herum gesponnenen Geschehnisse. Über den maroden Zustand der Burg heißt es schon frühzeitig im Text: „Quinze immenses pièces incommodes et malsaines“ (S ‐ 284). Es lässt sich angesichts dieses ungeschönten Erzählerkommentars nicht leugnen, dass die von Solal mit der gemeinsamen Übersiedlung in die Commanderie der Gattin auferlegte Prüfung einen nicht minder abstrusen Selbstfindungsversuch darstellt wie die in Belle du Seigneur gewagte Verführung Arianes in der Rolle des greisen Juden. Die von Aude mit aller bemerkenswerter Offenheit aus dem Ruthbuch zitierten Worte, mit denen sie dem sichtlich gerührten Helden ihre Bereitschaft zur Konversion gleichnishaft kundtut,²⁷ verdienen vor diesem Hintergrund umso größere Hochachtung; doch werden die Grenzen der weiblichen Toleranz dort überschritten, wo der Text ein grotesk überzeichnetes Volk in das auktorial manipulierte Blickfeld der bis ins Souterrain vordringenden Protagonistin rückt: „Une race exsudeuse expectorait, crachait, toussait, transpirait, se grattait, procédait à des échanges, assimilait, rejetait, vivait“ (S ‐ 301 f.). Wie so oft bei Cohen geizt die Erzählung auch hier nicht mit negativen Anschauungen über Wesen und Körperlichkeit des Juden. Allein dem die gesamte Szenerie überschauenden Auge des Erzählers aber bleiben jene aus den entlegensten Winkeln
Zur Realisierung des Zeiträumlichen in der Literatur vgl. Bachtin: „Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfassten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos […] bezeichnen.“ Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/Main: Fischer 1989. S. 7. Für Pilarczyk etwa wird die Commanderie zum „Sinnbild der Solalschen Psyche.“ Pilarczyk, Narr, S. 209. Finkielkraut, Le juif imaginaire, S. 180. „Ton peuple sera mon peuple et ton Dieu sera mon Dieu“ (S ‐ 291).
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der unwirtlichen Räumlichkeiten hervortretenden noblen Gestalten vorbehalten, die den Glanz des wahren Judentums verkörpern: „Mais au fond de la salle, soudain apparus, des graves vieillards prophètes, vrais fils du peuple saint, s’entretenaient. […] Et ceux-là étaient les vrais fils de ma race“ (S ‐ 303). In Anbetracht dieser erzählperspektivischen Steuerung darf man Aude wohl nicht verdenken, wenn sie in Reaktion auf das ihr dargebotene Spektakel eilends ihre Koffer packt – ein Schritt, den das dichotomische Weltbild des am Entschluss der Gattin sich förmlich ergötzenden Helden obendrein noch lustvoll mitträgt: „Il [Solal] l’admira de plier si bien ses robes et se sentit incompréhensiblement heureux. C’était un envahissement contre lequel il ne pouvait résister“ (S ‐ 304). Doch entgegen dieser anfänglich zur Schau gestellten Euphorie führt die Szene in die Katastrophe: Unfähig, Audes Widerwillen vor den Seinen als die eigene Seelenpein zu akzeptieren, will der Held auf die für sein Ich-Ideal nicht hinnehmbare Abschiedsgeste mit einem sexuellen Übergriff kontern. Dabei ist doch gewiss: Aus der Zügellosigkeit, mit der Solal sein weibliches Opfer entblößt, spricht nichts als die tiefe Verzweiflung darüber, den imminenten identitären Zerfall durch einen Akt der Gewalt verhindern zu wollen: „Eh, il le savait mieux qu’elle! Mais non, il n’était pas lâche. Il était malheureux et il ne savait pas ce qu’il faisait. Ou peut-être voulait-il se punir et donner à Aude une vraie raison de le mépriser?“ (S ‐ 307). Zwar schreckt der Held vor der geplanten Tat zurück, doch liegt in diesem Verzicht keinerlei Aussicht auf Läuterung, ganz im Gegenteil. Der entgeisterten Aude spricht Solal ins Gesicht: „[N] ous te laisserons dans l’état de simple nature et nous t’emprisonnerons“ (S ‐ 307). Deutlich hörbar klingt in der Wahl des Personalpronomens „nous“ die Solidarisierung des Helden mit den die Kellerräume des Châteaus bevölkernden Juden an. Ganz am Ende des Kapitels unternimmt der Text eine finale Fokussierung auf den mit diesem Strafspruch seiner selbst beraubten Protagonisten. Unter die Lupe des Erzählers gerät so in zoomhafter Vergrößerung jene selbst aufgeladene Schmach,²⁸ die von Solals Organismus wie ein blutsaugender Parasit progressiv Besitz ergreift: „La honte s’était emparée de toutes les régions et régnait, immobile et dévoratrice, pliant tout à sa loi, déformant toutes choses“ (S ‐ 312). Dieser schmerzlichen Konfrontation mit dem eigenen Gewissen – zweifellos einer der markantesten Gefühlskomplexe in Cohens Fiktion²⁹ – hat sich das Welterleben des Helden zu fügen.
„Il [Solal] avait honte“ (S ‐ 307). In vergleichbare Gewissensnöte gerät der Held auch in Mangeclous: „Il eut honte de montrer les Valeureux à son chauffeur, de blanc vêtu, qui attendait dans la noble Rolls, la plus chère du monde, disait-on à Genève. […] Solal avait peur de rencontrer des gens qu’il connaissait. Et il avait honte de sa honte et de sa peur“ (M ‐ 582).
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Mit Jan Assmann bietet sich an dieser Stelle die Frage an: Wann entsteht Schande und wie ist sie von der Schuld phänomenologisch zu differenzieren? „Schuld vergeht nicht, sie häuft sich an und muss, wie man heute sagt, entsorgt werden. Mit der Schande ist es anders. Schande entsteht, indem etwas sichtbar wird. Zur Schande gehören zwei: der Fehltritt des einen und der Blick des anderen. Bleibt der Fehltritt unbemerkt, tritt die Schande nicht ein. Schuld entsteht auch, wo sie nicht bemerkt wird.“³⁰ Tatsächlich bleibt das Solal Widerfahrene niemals im Verborgenen: weniger durch das Urteil des den Fehltritt sichtbar machenden anderen, gesteht sich die reumütige Aude doch gar eine Mitschuld ein,³¹ als vielmehr durch jene Eigenbestrafung, der sich die zu einem außergewöhnlich hohen Maß an Selbstreflexivität disponierte Romanfigur aussetzt. Immer wieder führt die Diegese vor, welch autodestruktives Gefahrenpotenzial Solals Intellektualität – „cette ‚overdoseʻ d’intelligence“³² oder, wie es in der an Kunstworten reichen Sprache des Erzählers heißt, seiner „intellijuiverie“³³ (BdS ‐ 346) – innewohnt: „[C]’est une lucidité sans compromis, parfois torturante, susceptible d’ébranler les certitudes confortables ou les bienséantes idées reçues.“³⁴ Insofern als der Roman Solals seelische Widersprüche mit dem Erwerb des Châteaus für begrenzte Zeit illusorisch ins Reine bringt, kommt das mittelalterliche Anwesen als Ort der Kompensation jenen „emplacements absolument autres“³⁵ sehr nahe, die Foucault in seinem Heterotopie-Konzept benannte. So entpuppt sich die Commanderie als das weithin unverkennbarste, da gegenständlichste Zeugnis jenes für die Saga konstitutiv werdenden Identitätsdilemmas, das auf die um diesen Brennpunkt herum inszenierten Liebesdramen ausstrahlt. Dies ist auch der Grund, weshalb so mancher Cohen-Kenner dafür eintrat, den Liebesplot als eine Solals Seelenleiden auf die Textoberfläche projizierende diskursive Strategie zu deuten. Bei Thau etwa lesen wir: „L’histoire d’amour, la structuration triangulaire, le dilemme qu’elle entraîne ne sont pas tant la cause de sa dualité ou de ses contradictions qu’un moyen de figurer celles-ci narrativement. Les revirements brutaux, ces ruptures brusques, jamais analysées, qui rythment le roman et le Assmann, Jan: Das Herz auf der Waage. Schuld und Sünde im Alten Ägypten. In: Schuld. Hrsg. von Tilo Scharbert u. Detlev Clemens. München: Fink 1999. S. 99 – 147, hier S. 106. Zitiert nach: Kruger, Paul A.: Gefühle und Gefühlsäußerungen im Alten Testament. In: Janowski, Liess (Hrsg.), Mensch, S. 243 – 259, hier S. 249. „Depuis deux mois qu’elle vivait aux Primevères, elle se repentait jour après jour“ (S ‐ 308). Finkelstein, L’écrivain juif, S. 46. Ein Konzept, das sich unstrittig von dem in Israël, le Juif et les romanciers français essayistisch aufbereiteten esprit critique herleiten lässt. Auroy, quête, S. 105. Foucault, Michel: Des espaces autres. In: Dits et écrits IV (1980 – 1988). Paris: Gallimard 1994. S. 752– 762, hier S. 756.
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dramatisent, remplissent la même fonction quant à la figuration de l’impossibilité de changer, de s’assimiler.“³⁶ Einen mit Thaus Lesart vergleichbaren Standpunkt vertritt Abecassis: Von rezeptionsästhetischer Warte aus betrachtet missbrauche Cohens Fiktion die Liebe als narrativen Köder, um das Interesse auch des nichtjüdischen Lesers für die von den Romanen aufgeworfene Identitätsproblematik zu schüren.³⁷ Schon das Incipit von Belle du Seigneur erlaube Rückschlüsse auf diese Motivhierarchie, präfiguriere es doch getarnt als Liebesgeschichte das Los jenes gesellschaftlichen Außenseiters, dem der legale Zugang zur Villa der Familie Deume und damit auch jener zur Genfer Bourgeoisie versperrt bliebe. Mögen Abecassis’ Analysen auch stringent entfaltet sein, so bergen sie doch das Risiko einer auf der Ebene des Textes weit ausgreifenden metonymischen Verschiebung, die Gefahr einer Restriktion des Liebesplots auf ein in erster Linie identitätsbezogenes Handlungsschema. Vielmehr aber, so glaube ich, gehört es zur der von Cohen erzählerisch freigesetzten Komplexität der Liebe, dass ihr das jüdische Denken ein „ZusammenLebenswissen“ – um erneut mit Ette zu sprechen – abzuringen vermag, das ohne diese Perspektivierung brach läge. Liebe und Judentum, so die der Arbeit zugrunde gelegte These, übertragen gleichrangig zu gewichtende Impulse auf das Schreiben des Schriftstellers und sind aus diesem Grund auch nicht hierarchisierbar.
3.1.3 Die innere Stimme Ehe mit dem Hauptteil zu diesen Schreibimpulsen übergeleitet wird, gilt es zunächst, ein letztes jener literarischer Verfahren aufzugreifen, die neben den schon benannten Metaphorisierungstechniken das Selbstbild des Helden diskursivieren. Die Rede ist von dem bekanntlich auf Emile Dujardins Les lauriers sont coupés zurückgehenden autonomen inneren Monolog³⁸ – eine im Werk des jüdischen
Thau, Hapax ‚Solal‘, S. 89. Vgl. Jack Abecassis’ Vortrag anlässlich der Journée d’étude des Atelier Albert Cohen zum Thema Figures de l’étranger dans l’œuvre d’Albert Cohen (21. Mai 2011). Nachzuhören unter: www.atelieralbert-cohen.org/index.php/videos-des-journees-detude/162-videos-de-la-journee-detude-qfigures-de-letrangerq.html (28.11. 2013). In Dujardins erzähltheoretischer Auseinandersetzung mit dem inneren Monolog heißt es: „[L]e monologue intérieur, comme tout monologue, est un discours du personnage mis en scène et a pour objet de nous introduire directement dans la vie intérieure de ce personnage, sans que l’auteur intervienne par des explications ou des commentaires, […] mais il se différencie du monologue traditionnel en ce que: quant à sa matière, il est une expression de la pensée la plus intime, la plus proche de l’inconscient. Quant à son esprit, il est un discours antérieurement à
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Autors spezifisch visualisierte Form der Figurenrede, die, wie jeder Cohen-Leser weiß, schon dem Schriftbild nach eine narrative Sonderform der Innenschau begründet.³⁹ Vor dem Hintergrund der hier erörterten Figurenpsyche ist der nahezu vierzig Seiten füllende innere Monolog des Protagonisten im 94. Kapitel von Belle du Seigneur eine nähere Betrachtung wert. Zweierlei Extreme treten darin zutage: Zum einen demonstriert er das prinzipielle Unvermögen der Figur, ihrer psychischen Zerrissenheit Herr zu werden. Nicht minder offensichtlich bekundet er zum anderen das tragische Scheitern des zwischenmenschlichen Dialogs – ein Versäumnis, das die im Mittelpunkt der Arbeit stehende Frage des Zusammenlebens in besonderer Weise tangiert. Mit Bedacht tritt der Erzähler hinter der monologisierenden Figur zurück, um in wirr artikulierter Selbstaussprache des Helden jene Authentizität ans Licht zu bringen, derer die Paarkommunikation entbehrt. Der physischen Präsenz des Gegenübers zum Trotz – die über ihr Nähwerk gebeugte Ariane sitzt dem stumm Monologisierenden gegenüber – füllt den Raum eine signifikative Stille, die als innere Stimme des kommunikationsscheuen Helden textualisiert wird. Im Hinblick auf die Gesamtkomposition der voluminösen Romantetralogie ist festzuhalten: Traten in Cohens Debütroman noch Konfliktlinien hervor, die aus der Konfrontation des Helden mit seiner jüdischen Vergangenheit – etwa in der Gestalt des in Solals Schicksal intervenierenden Vaters oder in jener der Europa bereisenden Valeureux⁴⁰ – entstanden waren, so wird dieser in Mangeclous weiter fortgesetzte Zusammenprall der Kulturen in Belle du Seigneur endgültig auf die Ebene des Intellekts verschoben.Während im ursprünglichen, schon in den 1930er Jahren verfassten Manuskript Ariane noch kefalonischen Boden betritt, ist diese zwischen den Welten pendelnde Episode in der von der Innenraumperspektive beherrschten Endversion für den Autor nicht mehr vorstellbar.⁴¹ So sind die in Belle du Seigneur allesamt ausgedehnten Heldenmonologe ein sichtbarer Beleg
toute organisation logique, reproduisant cette pensée en son état naissant et d’aspect tout-venant.“ Dujardin, Edouard: Le monologue intérieur. Paris: Messein 1931. S. 58 f. Ein Kritiker bezeichnete die in Belle du Seigneur eingeschobenen Gedankenwiedergaben als „truc contestables, des traînées de prose de dix, vingt pages et plus, où le romancier se met à supprimer ponctuation et majuscules.“ Simon, Pierre-Henri. In: Le Monde (9. November 1968). Zitiert nach: Cohen, Belle du Seigneur, S. 1012. Auf diese in erzähldramaturgischer Hinsicht passive Rolle der Valeureux in Belle du Seigneur geht Judith Morganroth Schneider ein: „In ‚Belle du Seigneur‘, the picaresque Valeureux familiy plays a smaller and less dramatic role than in ‚Solal‘; instead the protagonist’s own ambivalence becomes the focus of the cultural conflict.“ Morganroth Schneider, Judith: A Literary Struggle with Ambivalence: Representations of Misogyny and Jewish Self-Hatred in the Writing of Albert Cohen. In: SHOFAR 3 (2000). S. 27– 48, hier S. 46. Vgl. Valbert, Albert Cohen, S. 294.
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dafür, inwieweit sich der Austragungsort des Konflikts gewandelt, inwieweit Solal einen Zwiespalt längst internalisiert hat, der sich als roter Faden durch die als homogenes Textkorpus zu betrachtenden Romane schlängelt. Von besonderer Aussagekraft ist in der benannten Monologpartie jener Abschnitt, der Solals Gedankenrede in eine fiktive, an Ariane adressierte Binnenerzählung überführt. Protagonisten des frei erfundenen Plots sind die Rosenfelds – eine aschkenasische Großfamilie, die bei ihren nicht-jüdischen Gastgebern für allerlei Furore sorgt. Auffällig ist wiederum, dass Jacques de Lacretelle ein ähnliches Szenario in Silbermann entwarf, das in Cohens bereits untersuchter Rezension nicht unerwähnt blieb: Dans la maison chrétienne, il [Silbermann] scrute tout avec passion. Il entr’ouvre le livre posé sur la table à ouvrage et sourit avec mépris. Il passe d’une politesse excessive, et dont il n’a pas héréditaire habitude, à un furieux étalage de références littéraires. Pressé d’éblouir, il veut donner son plein dès la première entrevue. Il entre par effraction dans la pensée d’autrui; il questionne sans qu’on l’y invite et s’enfonce imperturbablement. […] Ces manières de bohémien ne peuvent pas ne pas éveiller la méfiance d’une nation policée dont le bas peuple utilise avec tant de délicatesse le pudique „on“ (Israël ‐ 349 f.).
Die Vermutung liegt nahe, dass der Schriftsteller dieses auch von Proust in die Recherche einmontierte Narrativ einer auf das Misstrauen und Unbehagen des Nicht-Juden stoßenden „colonie juive“⁴² in seine Prosa aufnehmen wollte – darin aber anverwandelt als jene Groteske, die der monologisierende Protagonist als hochgradig ambivalente Selbstkonfrontation durchlebt. Den heftigen Zwang, die Rosenfelds als rüpelhaftes Völkchen auszuweisen, erklärt sich Solal aus der Aspiration heraus, sich selbst – konträr zum ungeziemenden Benehmen der fiktiven Sippe – als Ausnahmejuden zu begreifen: [M]ais pourquoi pourquoi me suis-je raconté cette histoire fausse absurde sans aucun fondement dans la réalité […] pourquoi les menus travers de quelques rares Rosenfeld de la réalité pourquoi les avoir grossis exagérés à plaisir pourquoi m’être complu à ce festival oui c’est le malheur qui m’a fait dire ces horreurs pas vraies c’est peut-être pour croire faire croire que je ne suis pas un Juif comme les autres que je suis un Juif exceptionnel pour m’affirmer
Proust, Marcel: A l’ombre des jeunes filles en fleurs. In: A la recherche du temps perdu. Bd. 1: Du côté de chez Swann. A l’ombre des jeunes filles en fleurs. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1954. S. 738. „Ce ghetto familialiste, on le rencontre essentiellement dans le lieu de villégiature estival qu’est Balbec. C’est le lieu privilégié où se déploie ce ghetto ambulant, compact et inassimilable, dont la famille Bloch est, si l’on veut, la métonymie.“ Raczymow, Henri: Proust et la judéité: les destins croisés de Swann et de Bloch. In: Horch, Wardi (Hrsg.), Jüdische Selbstwahrnehmung. S. 161– 167, hier S. 166.
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différent des honnis puisque je les moque pour faire croire ô honte sur moi que je suis un Juif pas juif et que tu peux m’aimer (BdS ‐ 895).
Doch schon bald kippt der ersehnte Ich-Entwurf in sein Gegenteil – eine Wandlung, die in einer verklärenden Identifikation mit den eben noch Verpönten kulminiert: „Rosenfeld s’il existe je le revendique mien et frère je m’en pare et m’en glorifie […] pas très bien élevé certes mais quand en aurait-il eu le temps quand le temps de se domestiquer et polir il y faut du bonheur et quelque enracinement et pas d’expulsions pas de continuels départs pas d’attentes du malheur à chaque génération pas de haine environnante“ (BdS ‐ 898 f.). Und noch ein Zweites gibt der Protagonist in seiner Selbstanalyse zu bedenken: In der garstigen Karikierung der Rosenfelds schwingt nicht zuletzt ein Selbsthass mit,⁴³ der eine leidige Begleiterscheinung der über viele Jahrhunderte hinweg praktizierten Judenfeindschaft darstellt: „[C]’est aussi contagion de leur haine oui à force d’entendre leurs viles accusations ils nous ont donné la désespérée tentation d’y croire et c’est leur diabolique péché de nous avoir donné la désespérée tentation de nous détester nous-mêmes injustement“ (BdS ‐ 896). Das Phänomen ist bekannt: Aus eigener gramvoller Erfahrung heraus legte der jüdische Kulturphilosoph Theodor Lessing die psychopathologische Tiefenstruktur dieses für sein 1930 erschienenes Buch titelgebenden Selbsthasses offen, beispielhaft illustriert an sechs symbolischen jüdischen Lebens- und Leidensgeschichten – „(lauter Einzelschicksal und doch ‚Schicksal der Menscheitʻ).“⁴⁴ Den Begriff hatte Lessing von dem jüdisch-österreichischen Journalisten und Pamphletisten Anton Kuh (1890 – 1941) übernommen, ohne diese mehr als ein Jahrzehnt ältere Quelle zu explizieren.⁴⁵ Wie ermattend derlei Selbstnegierung immer schon war, zeigt auch der Blick in das von Hannah Arendt nachempfundene Seelenleid einer deutschen Jüdin aus der Romantik: „Was ist es garstig, sich immer erst legitimieren zu müssen! Darum ist es ja nur so widerwärtig, eine Jüdin zu sein.“⁴⁶ Niemand und schon gar nicht der Jude, so Sander Gilman in seiner der Die fehlende Selbstliebe des Helden machte sich bereits in Solal bemerkbar, hier noch gedämpft durch die agrammatische Verschränkung zweier Hassobjekte: „Je ne m’aime personne“ (S ‐ 181). Lessing,Theodor: Der jüdische Selbsthass. Hrsg.von Boris Groys. Berlin: Matthes & Seitz 2004. S. 69. Über die in Lessings Psyche nachweisbare Allianz von Selbsthass und Antisemitismus heißt es bei dem Literaturhistoriker Hans Meyer: „Daß die Hartnäckigkeit seines Reflektierens einen traumatischen Ursprung besaß, war dem Verfasser […] durchaus bewußt.“ Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975. S. 414. Vgl. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 5. S. 429. Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München, Zürich: Piper 1981. S. 203.
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Phänomenologie des Selbsthasses nachspürenden Analyse, sei vor solch selbstquälerischen Ressentiments gefeit, habe diese spezifische Ausprägung der Missgunst als „Teil der condition humaine“⁴⁷ am Menschen doch immer schon gezehrt. Ferner hat Gilman darauf hingewiesen, dass die verinnerlichte Selbstentwertung nicht selten einen Fluchtweg nach außen suche, um die angestauten Aversionen ventilartig auf eine minoritäre Gruppe abzuleiten: „Selbsthass muss sich als Reaktionsmuster immer einen Gegenstand außerhalb des eigenen Ich schaffen, auf den die Selbstablehnung übertragen werden kann.“⁴⁸ Ein solches Entlastungsmoment birgt ohne jeden Zweifel die aus der Perspektive des Sepharden wiedergegebene Rosenfeld-Anekdote, stellt der Aschkenase darin doch die ideale Projektionsfläche für die über den Juden kolportierten Irrtümer dar. Entlang dieses zwischen Selbsthass und Selbstliebe oszillierenden Gemütszustands profiliert sich Solals Monolog immerfort. Verweigert bleibt dem Helden jene Synthese der ihn malträtierenden Dualismen, wie sie ihm für das Judentum mittels der oxymoralen Begriffsverbindung „le plus magnifique fumier“ realisierbar zu sein scheint (BdS ‐ 899). Doch bleibt dergleichen für das Ich stets ein identitäres Wunschkonstrukt.⁴⁹ Fassen wir zusammen: In syntaktisch nur schwer entwirrbaren Satzfragmenten artikuliert sich eine nicht minder bruchstückhafte Heldenpsyche, die eng verwandt zu sein scheint mit jener, die Cohen aus der aufgewühlten Diktion von Bendas Félix herauszuhören glaubte: „paroles bousculées, contradictoires, désordonnées par le malheur; paroles d’une race trop vieille et trop jeune qui aime tant de choses dont elle sait la vanité; mouvements d’une pensée qui se passionne et cherche sans cesse une souffrance plus forte et narcotique“ (Israël ‐ 342).
Gilman, Selbsthass, S. 42. Zur Universalität der fehlenden Selbstliebe vgl. auch ebd., S. 11: „So ist der jüdische Selbsthass sowohl einzigartig, insofern er aus dem Auf und Ab in der Behandlung der Juden in jüdischen wie nichtjüdischen Gemeinwesen innerhalb der westlichen Welt resultiert, als auch repräsentativ, da seine Tiefenstruktur universal ist.“ Ebd., S. 191. Zum Oxymoron als Stilfigur der Versöhnung vgl. Boris Cyrulnik: „À l’inverse de l’ambivalence décrite comme l’expérience simultanée de deux sentiments opposés, amour et haine par exemple, qui enferme le sujet dans une alternative impossible, l’oxymoron réunit la partie vulnérable du sujet qui ‚se nécrose‘, et celle qui lutte pour survivre. Chaque terme soutient l’autre, comme les croisées d’ogives qui assurent la stabilité de la voûte gothique.“ Cyrulnik, Boris: Un merveilleux malheur. Paris: Odile Jacob 2002. S. 19 f. Zitiert nach: Kauffman, Judith: L’humour (juif), arme des désarmés. In: L’Esprit du temps 15. Imaginaire & Inconscient (2005). S. 93 – 104, hier S. 100.
3.2 Luftexistenz und Schriftstellertum
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3.2 Luftexistenz und Schriftstellertum Zurück führt uns dieser intertextuelle Querstrich zu jenem Protagonisten, dessen emotionaler Widerstreit Cohen als Quelle der Inspiration modellhaft zur Seite gestanden haben mag. Aus ihr schöpfte der Schriftsteller womöglich jenen bei Solal aus dem Spannungsverhältnis zweier identitärer Zugehörigkeiten erwachsenen Grunddissens, dem gegenüber selbst die Liebe machtlos ist. Doch ebendieser Konflikt – und diesen in der Sekundärliteratur sich hartnäckig haltenden Irrtum gilt es abschließend zu korrigieren – bringt andererseits sehr deutlich den Fehler ans Licht, die Erfahrungen des textexternen Autors mit denen seines fiktionalen Alter Ego als deckungsgleich betrachten zu wollen. Zwar vermengt der Schreibende das ein oder andere Biographem in die Fiktion,⁵⁰ doch täte man Unrecht daran, diese den Schriftsteller Albert Cohen betreffenden hie und da durchschimmernden Indikatoren zu generalisieren.⁵¹ So macht Thau die zu überdenkende These geltend, wonach in die binäre Raumstrukturierung der Romanfiktion der identitäre Selbstentwurf des Autors eingeschmolzen sei: „[L]a dichotomisation, qui efface tout milieu judéo-occidental et laisse face à face deux univers inconciliables, doit être comprise comme mise en scène romanesque, traduction par des moyens romanesques, d’une autoperception identitaire de l’auteur.“⁵² Doch gerade im Hinblick auf das den Protagonisten in den Freitod treibende Identitätsdilemma liefert Cohens Tochter Myriam den wohl eindrücklichsten Beweis gegen den in der Sekundärliteratur kursierenden Trugschluss, den realen Juden Cohen mit dem fiktiven Juden Solal zu verwechseln, stehe der Romanfigur doch ein Autor gegenüber, der die durch das Perfektionsstreben des Helden ausgelöste Suchbewegung längst vollzogen, ja gar nicht erst initiiert habe:
Valbert illustriert dies ausführlich anhand der von Albert Cohen und Marianne Goss im südfranzösischen Agay verbrachten Flitterwochen: „La comédie du bonheur triomphant, pages divines de Belle du Seigneur, c’est le reflet du voyage des noces d’Albert et de Marianne. Le romancier s’inspire du souvenir pour restituer le détail, et la situation même n’est pas fondamentalement différente.“ Valbert, Albert Cohen, S. 255. Die von Valbert gebrauchte Namensverknüpfung „Solal-Albert“ insinuiert gar die völlige Gleichsetzung von Figur und Autor. Ebd., S. 265. Unter der Variante „Cohen-Solal“ begegnet man ihr im: Dictionnaire de la Bible dans la littérature française. Figures, thèmes, symboles, auteurs. Paris: Vuibert 2003. S. 139. Auch Nadine Sautel spricht von „Cohen Solal“: Cohen sans masque. In: Le magazine littéraire 278 (1990). S. 88 – 90, hier S. 88. Dieselbe Fehleinschätzung riskiert Evelyne Léwy-Bertaut, wenn sie Solal als „pilier de l’identification de l’écrivain“ bezeichnet. Léwy-Bertaut, Albert Cohen mythobiographe, S. 178. Thau, Norman David: Humour, irréalisme et autodéfinition identitaire. Le rôle des Valeureux dans la quête identitaire cohénienne. In: Jouissances et Réjouissances. Cahiers Albert Cohen 6 (1996). S. 47– 64, hier S. 48.
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Il me semble que pour Albert Cohen cet absolu est „déjà trouvé“, qu’il est déjà en lui, au départ d’un seul élan, il a dépassé tout ce qu’il y a à dépasser. Comme une fusée, il s’est projeté au sommet sans qu’il y ait eu, me semble-t-il, démarche ou quête. Il se meut dans l’extrême; l’absolu est son élément. Il ne cherche pas à atteindre des sommets. Il les habite. […] Solal emmène à des hauteurs vertigineuses tout sentiment, surtout les plus contradictoires. Féroce et tendre, il aime, il hait. Il admire, il méprise. Il désire, il rejette. Il croit, il mécroit. Sa foi le hausse et elle l’abat.⁵³
Über all dies sprach Albert Cohen auch selbst: „Je n’ai jamais eu la vie de Solal.“⁵⁴ Zu Recht: Denn in dem von zweierlei kulturellen Zugehörigkeiten mannigfach gekreuzten und nachhaltig geprägten Lebensweg des Romanciers sind Jüdisches und Nicht-Jüdisches symbiotisch miteinander verwoben⁵⁵ – und dies wohlgemerkt schon von jenem dezisiven Umschlag an, als Cohen zu schreiben begann: Begleitet wurde das der Tochter eines Pastors geschworene Ehegelübde von dem lyrisch kundgegebenen Treueschwur an die Religion der Väter. Machen wir uns also klar: Das im Lebensparcours des Schriftstellers schon von Beginn an wirksam werdende Bündnis zwischen der Liebe zu einem Volk und der zu einer Frau repräsentiert nichts Weniger als die der Romanfigur zum Verhängnis werdende Schicksalsallianz: Die zum Scheitern verurteilte Liebe wird für Solal zum Sinnbild der Entfremdung des Juden. Frappierender könnte der Kontrast wohl nicht sein. Hinsichtlich der von Albert Cohen gewählten Alternative liegt nahe, die schon mehrfach gefallene Denkfigur des Luftmenschentums nicht nur auf das Werk, sondern auch auf die Person des Schriftstellers zu beziehen: zumal der im Zitat der Tochter implizit gegebene Hinweis auf den Höhenblick des Künstlers herab auf Welt und Menschen die erneute Bezugnahme auf jenen im Schreiben einzelner jüdischer Autoren der Moderne vollzogenen Umschlag erlaubt, der, wie Nicolas Berg in seiner metaphernhistorisch aufbereiteten Studie schreibt, „als Gegenprojekt gegen eine nationalistische Verortung des Seins im Modus der Literatur“⁵⁶ verstanden werden kann. Am konkreten Beispiel des auf Jiddisch schreibenden Scholem Alejchem (1859 – 1916) wird so bei Berg der mit wahrnehmungssensiblem
Champigny Cohen, Livre, S. 89 f. Malka, athée, S. 21. An der von Enderlein aufgeworfenen These, Albert Cohen pflege zu seinem jüdischen Ursprung „un rapport profondément ambigu qui oscille entre adhésion et prise de distance“, sind daher Zweifel anzumelden. Enderlein, Visages, S. 46. Uneingeschränkt zuzustimmen ist dagegen dem Standpunkt von Daisy Politis: „Même si Cohen lui-même s’identifie au judaïsme, son héros, Solal, ne s’installe pas dans une conscience identitaire affirmée et semble avoir le culte de la question plutôt que celui des réponses.“ Politis, Daisy: Figure et rôle de l’étranger chez Albert Cohen. In: Mon petit cinéma, S. 45 – 49, hier S. 48. Berg, Luftmenschen, S. 61.
3.2 Luftexistenz und Schriftstellertum
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Freidenkertum assoziierte Begriff Luftmensch „zur Bezeichnung für den Literaten als solchen, für einen literarischen Blick auf die Realität oder – symbolisch gesprochen – für das Leben im Text und somit für die moderne conditio humana schlechthin.“⁵⁷ Diese von der Romantheorie zur Romanpraxis führenden Analysen waren notwendig, um zu zeigen, in welch starkem Maße Albert Cohens Kurztexte an der Konstituierung einer fiktionalen Rede Anteil haben, die in den verschiedenartigsten Schreibweisen und Kombinationen zwischen Liebe und Judentum vermittelt. In Israël, le Juif et les romanciers français, dem ersten der untersuchten Werke, legt der Verfasser die Stationen einer geistesgeschichtlichen Entwicklung sowie deren unverwechselbaren Niederschlag in der jüdischen Literatur essayistisch dar. Bendas psychologisierender Erzähltechnik schenkt Cohen vor diesem Hintergrund besondere Aufmerksamkeit, zeichne sich doch hier auf geradezu mustergültige Weise der direkte Einfluss jüdischer Anthropologie auf eine Liebesästhetik des Zwiespalts ab. In Cohens Prosatexten findet diese aus dem Blickwinkel des Juden vermittelte Liebespoetik dann ihre narrative Fortsetzung, nun allerdings mit dem Fokus auf der Nächstenliebe. Während Cohens selbstsüchtiges Gruppenbild der Projections die Euphorie der années folles als inhumane Gesellschaftsfarce entlarvt, entwirft Mort de Charlot das grotesk-komisch verfremdete Individualporträt eines sozialen Außenseiters: ein Schicksal, das in den beiden poetisch ins Bild gerückten Figuren des Heimatlosseins – der des jüdischorientalischen Straßenhändlers sowie jener des vereinsamten Landstreichers – doppelt reproduziert wird. Diese als thematische Einheit zu begreifenden künstlerischen Ouvertüren läuten schlussendlich die Geburtsstunde einer Romanfigur ein, deren psychologischer Entwicklungsprozess Bendas Liebesdichtung der Ambivalenz unterschwellig grundiert. Schon in Cohens Debütroman Solal zeichnet sich überdeutlich die Untrennbarkeit von mangelnder Selbstakzeptanz und der dem Verfall geweihten Liebe an. Dieser dem Zusammenleben schweren Schaden zufügende Konflikt bildet die Vorstufe eines ethischen Kerndilemmas, das Cohen für Belle du Seigneur übernehmen und steigern wird. In dem Maße, in dem Cohen Liebe und Judentum in lyrischer, narrativer und essayistischer Schreibmanier zusammenführt, reift eine Romanästhetik heran, die dieser auf engstem Textraum durchgespielten Inbezugsetzung erweiterte Handlungsspielräume zur Verfügung stellt. Anhand der im nun folgenden Hauptteil der Untersuchung anvisierten Themenkomplexe Androgynie und Nächstenliebe gilt es diese mit der Romanproduktion neu hinzugewonnenen Freiheiten weiter zu erkunden.
Ebd., S. 46.
4 Jüdische Bilder der Liebe im Werk Albert Cohens 4.1 Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe 4.1.1 Androgynie im Prisma des Judentums [D]ie Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle jene Kunstwerke, die wahrhaft erhaben und nicht nur gute Gauklerstückchen, sondern vom ewigen Geheimnis erfüllt waren, […] alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hatten dieses gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dieses Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit.¹
In Malerei und Literatur blickt der Mythos des Androgyns auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Seine Konstanz und Wandelbarkeit verdankt die von Künstlern unterschiedlichster Epochen vielgestaltig verarbeitete Mischform der Geschlechter fraglos dem einem jeden Mythos inhärenten Grundprinzip, elementare Wünsche und Bedürfnisse des Menschen inkognito zu transportieren: „Il [le mythe] se présente comme l’expression tout anonyme de réalités collectives, ou plus exactement: communes. […] Mais le caractère le plus profond du mythe, c’est le pouvoir qu’il prend sur nous, généralement à notre insu.“² Die Faszination der Androgynie hielt sich, dies zeigt die von Ursula Prinz im Rahmen einer Kunstausstellung präsentierte Zusammenschau,³ epochenübergreifend in den verschiedensten Ausprägungsformen lebendig: ob in Hinwendung auf das Ich, ob mit Fokus auf das nach Vervollkommnung strebende Paar, ob als Emblem wahrer Künstlerschaft oder als „Ausdruck einer intellektuellen Spielerei mit dem Widersprüchlichen, dem Unmöglichen und dem als abstrus oder gar pervers Empfundenen.“⁴ Auf Literaten der Moderne wie Thomas Mann⁵ oder den zitierten
Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. In: Hermann Hesse. Sämtliche Werke. Bd. 4: Der Steppenwolf. Narziß und Goldmund. Die Morgenlandfahrt. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001. S. 410 f. De Rougemont, L’Amour, S. 14. Androgyn. Sehnsucht nach Vollkommenheit. 17. November 1986 bis 4. Januar 1987. Neuer Berliner Kunstverein. Berlin: Dietrich Reimer 1986. Tegtmeier, Ralph: Zur Gestalt des Androgyns in der Literatur des Fin de siècle. In: Androgyn. S. 113 – 119, hier S. 117. DOI 10.1515/9783110526103-005
4.1 Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe
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Hermann Hesse übte die mit dem Androgyn symbolisch übermittelte Sprengung von Geschlechtergrenzen eine fesselnde Wirkung aus. Eingegliedert in die um den Entwurf zweier konträrer Lebensphilosophien kreisende Rahmenhandlung von Hesses Narziß und Goldmund bekundet der expositionsartig angeführte Textauszug ein Verständnis von Kunst, das die Idee der Synthese von männlichen und weiblichen Attributen vertritt. Die ambivalente Struktur des zweiseitig gedachten Kunstwerks, ambivalent apostrophiert als „gefährliche[s], lächelnde[s] Doppelgesicht“, verweist nicht nur bei Hesse auf die Transposition des Mannweiblichen in die Domäne der Kunst. In eigener Weise führt auch Cohen diese Funktionalisierung des Androgyns fort, indem er den Entstehungsprozess von Literatur gleichermaßen stark von männlichen wie weiblichen Eigenschaften gelenkt sieht: „S’il y faut les inspirations que l’on pourrait appeler masculines, joies d’un instant, sèves jaillies, il y faut aussi la longue gestat-ion féminine, la maternelle patience et beaucoup de peine et d’amour pour que l’œuvre ait quelque valeur.“⁶ Spiegelbildlich zu dieser Definition des Schreibakts als androgyner Überblendung von Männlichem und Weiblichem im Medium der Schrift deutete der Autor Jahre später die Grundsituation des Gegensätzlichen als zentralen Wesenszug des Künstlers selbst, sublimierend verkürzt unter dem Stichwort des Genies: Je crois que, parfois, un génie de la littérature est une sorte de fou qui a assez d’intelligence et de ruse pour dissimuler et utiliser sa folie. Ce que je crois aussi, c’est que, dans le génie, il y a un mariage miraculeux des contraires. Le génie, c’est avoir le cœur plein d’amour et l’œil méchant. Le génie, c’est, entre autres, être à la fois une douce femme qui a peur, un enfant plein de foi, qui admire trop et que la société n’a pas détruit, mais aussi un lucide vieillard sans espoir et mécréant […]. Autre mariage des contraires, ce fou de la sensibilité vit avec un sage et insensible, son double et jumeau, qui prend note olympiennement de tous les ouragans du fou, impassiblement voit tout, détaché, l’œil froid et implacable. Ainsi, ce fou du cœur […] ce fou du cœur, redis-je, est en même temps un impassible et perspicace spectateur de ses propres émois et folies. Bref présence à la fois de Dionysos et d’Apollon (C ‐ 1137).
Das hier umschriebene Konzept von Künstlerschaft evoziert zweierlei Ausdrucksformen des Konträren: Es manifestiert sich einerseits als komplexes mentales Beziehungsgefüge aus dreierlei das Emotionserleben des Ich prägenden Figuren, deren triadisches Zusammenwirken an das der von Freud unterschie-
Vgl. Wedekind-Schwertner, Barbara: Dass ich eins und doppelt bin: Studien zur Idee der Androgynie unter besonderer Berücksichtigung Thomas Manns. Frankfurt/Main: Lang 1984 sowie Luft, Klaus Peter: Erscheinungsformen des Androgynen bei Thomas Mann. New York [u. a.]: Lang 1998. Cohen im Interview mit Wladimir Rabi. In: L’Arche (1963). Zitiert nach: Cohen, Bella: Albert Cohen. In: Cohen, Belle du Seigneur, S. XLIX [meine Hervorhebung].
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4 Jüdische Bilder der Liebe im Werk Albert Cohens
denen Instanzen der menschlichen Psyche erinnern mag. Andererseits assoziiert Cohen den Geniebegriff mit einer janusköpfigen Künstler-psyche, die zwei zueinander in Opposition stehende Charaktere berge: So trete dem emotional agierenden Ich stets ein verstandesgelenkter Konterpart als ausgleichendes Regulativ entgegen. Mit diesen schon in die Persönlichkeit des Schreibers eingeschriebenen Widersprüchen operieren die Texte des Schriftstellers unter dem Dach jener paradigmatischen Urpolarität, die der deutsch-israelische Psychologe und Jung-Schüler Erich Neumann wie folgt verstand: „Innerhalb der Menschheitsgeschichte gehört die Differenzierung von Mann und Frau zu den frühesten und dringlichsten Gegensatzprojektionen, und Männlich und Weiblich gelten dem Frühmenschen als Prototyp des Gegensatzes überhaupt. Deswegen nimmt jede Gegensatzposition archetypisch leicht die Symbolik von männlich und weiblich an.“⁷ Ist es bloßer Zufall, dass gerade dem im Jahr 1934 ins palästinensische Exil flüchtenden Deutschjuden Neumann an diesem Urbild der Antagonismen gelegen war? Dem jüdischen Denken steht der Androgyn als Inbegriff alles Gegensätzlichen jedenfalls sehr nahe, ist er den zentralen Quellen des Judentums – Talmud, Midrasch und Kabbala – doch altvertraut.⁸ Diese nahmen sich in die Pflicht, das schon im biblischen Paradiesbericht Entfaltung findende Motiv aufzugreifen und weiterzudenken. Dem wohl bekanntesten Kabbalisten des 16. Jahrhunderts, dem in Portugal geborenen Leone Ebreo, ist es im weiteren Verlauf dieser regen Rezeptionsgeschichte zu verdanken, in seinen 1535 entstandenen Dialoghi d’amore „die mythische Überlieferung des Alten Testaments von der Schöpfung und dem Fall des Urmenschen“⁹ mit der dem kulturellen Gedächtnis ungleich präsenteren platonischen Erzählung in Beziehung gesetzt zu haben. Dahinter steht bei Ebreo die Vermutung, dass der hebräische Stoff dem griechischen Philosophen als Modell gedient habe, um ihn kulturell umzudichten.¹⁰ Ebreos eigene dialogisch entfaltete Liebesethik aber schöpfe, so der Theologe Ernst Benz, ganz aus dem erzählerischen Urquell: „Die Vorstellung von der ursprünglich mann-weiblichen Beschaffenheit des Urmenschen ist bei ihm die Grundlage seiner Auffassung von der Liebe. Das innerste Streben der Liebe ist die Wiederherstellung der ursprünglichen Ganzheit des Menschen, die Erneuerung seiner Integrität und d. h. die Erneuerung des durch die Sünde verlorenen Gottesbildes, nach dem der
Neumann, Erich: Zur Psychologie des Weiblichen. Zürich: Rascher 1953. S. 6. Vgl. Wedekind-Schwertner, Dass ich eins und doppelt bin, S. 71– 90. Benz, Ernst: Adam. Der Mythus vom Urmenschen. München-Planegg: Otto-Wilhelm-Barth 1955. S. 33. Vgl. ebd., S. 33.
4.1 Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe
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Mensch geschaffen wurde.“¹¹ Dieser Quellenpriorisierung ungeachtet, so Benz weiter, insistiere Ebreo auf dem Umstand, dass beide Erzählungen ihrer Aussageintention nach als gleichwertig zu gelten hätten. Denn ob nun wie bei Platon die Zersplitterung der androgynen Einheit auf den Götterfrevel des Kugelmenschen folge oder ob, wie in der Genesis, das Entzweien die Sünde antizipiere, so sei die Moral der Erzählung doch stets dieselbe: Des Menschen Stärke liege in seiner originären Zweigeschlechtlichkeit, was die Bibel insoweit demonstriere, als die Schlange Eva erst dann habe überlisten können, als sie und Adam nicht mehr eins waren.¹² Eine moderne jüdische Stimme, die in Folge Ebreos den biblischen Androgyn an die zeitgenössische Wirklichkeit adaptiert, ist die des bereits mehrfach zitierten Lévinas. In enger Anlehnung an die auch innerhalb des Judentums nicht unumstrittene rabbinische Auslegepraxis, den zweiten, sogenannten jahwistischen Schöpfungsbericht (Gen 2,4b–3,24) im Sinne eines janusköpfigen Urmenschen zu deuten,¹³ skizziert der Denker seine Auffassung vom Menschsein: „Dieu n’a-t-il pas donné nom d’Adam à l’homme et à la femme réunis, comme si deux, ils étaient un, comme si l’unité de la personne ne pouvait triompher des dangers qui la guettent que par une dualité s’inscrivant dans sa propre essence?“¹⁴ Das Hebräische, so Lévinas in der Fortführung dieses Gedankens, trage dem bereits in morphologischer Hinsicht Rechnung, da „Isch“, der Mann, und „Ischa“, die Frau, auf eine gemeinsame Wurzel rückführbar sind.¹⁵ Auch für Stéphane Mosès erweist sich diese sinnbildhafte Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat als elementar: Die Entsprechung von grammatischer Form und Sinn, von sprachlichem Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit, verweist auf eine durch und durch symbolische Sprachauffassung.
Ebd. Vgl. ebd., S. 42 f. Vgl. hierzu etwa Krochmalnik, Schriftauslegung, S. 41 f. Während es für die moderne Bibelexegese als gesichert gilt, dass die beiden mosaischen Schöpfungsberichte (Gen 1,1– 2,4a und Gen 2,4b–3,24) auf zwei unterschiedliche, erst durch einen späteren Herausgeber zusammengefügte Quellen zurückzuführen sind, erklärte sich die rabbinische Exegese diese inhaltlichen Divergenzen nicht auf der Grundlage zweier verschiedener Texte, sondern als vom Verfasser intendiert. Während die Einen den zweiten Schöpfungsbericht im Sinne einer von Gott gewollten Hierarchisierung zwischen den Geschlechtern interpretierten, plädierten die Anderen für eine egalitäre Lesart des ursprünglich androgynen Adam. Diese Deutung behalte im Midrasch, so der Judaist Naftali Ro-thenberg, die Oberhand.Vgl. Rothenberg, Naftali: Wisdom of Love. Man,Woman & God in Jewish canonical literature. Brighton: Academic Studies Press 2009. S. 22 f. Lévinas, Difficile liberté, S. 56. Vgl. ebd., S. 57. Mit dem Kunstwort „Männin“ versucht die Lutherübersetzung diesen Sinngehalt lexikalisch nachzuahmen. Vgl. Böttrich, Christfried [u. a.] (Hrsg.): Adam und Eva in Judentum, Christentum und Islam. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. S. 19.
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Im Gegensatz zu den von Adam willkürlich gewählten Tiernamen bringt der Name der Frau (Ischa) deren eigenes Wesen zum Ausdruck: Die gemeinsame Wurzel beider Namen weist darauf hin, dass sie und er im gleichen Maße der Menschheit angehören.¹⁶
Gegenbildlich zu Platon, der die Aufspaltung des Androgyns in zwei eingeschlechtliche Wesen als die von Zeus gesandte Bestrafung der menschlichen Hybris darstellt, glorifiziert Lévinas den aus der mosaischen Erzählfolge resultierenden Mehrwert der Teilung: „Leur nouvelle existence, l’existence séparée, ne viendra pas punir comme chez Platon les audaces d’une nature trop parfaite. L’existence séparée vaudra chez les juifs plus que l’union initiale.“¹⁷ Seit Anbeginn der Schöpfung sei die Entzweiung auf den Moment des Wiederfindens, auf die wiederzuerlangende zweigeschlechtliche Einheit hin angelegt,¹⁸ überkomme Adam ungeachtet der alles umstrahlenden Gottespräsenz doch eine existenzielle Einsamkeit: La femme ne vient pas simplement tenir compagnie à un être privé de société. Elle répond à une solitude, intérieure à cette privation, et, ce qui est plus étrange, à une solitude qui subsiste malgré la présence de Dieu; à une solitude dans l’universel, à l’inhumain qui resurgit quand l’humain a déjà soumis la nature et s’est élevé à la pensée. Pour que le déracinement inévitable de la pensée qui domine le monde s’accommode d’un repos – d’un retour chez soi – il faut que, dans la géométrie des espaces infinis et froids, se produise l’étrange défaillance de la douceur. Son nom est femme.¹⁹
Zu beachten bleibt, dass Lévinas in seiner Deutung des Schöpfungsberichts das individuelle Beziehungsgefüge Mann-Frau um die sozialethische Dimension erweitert, ganz so, als wolle er den Leser für die urgeschichtlich initiierte Frage des Zusammenlebens sensibilisieren: „Si la femme complète l’homme, elle ne le complète pas comme une partie complète une autre dans un tout, mais si l’on peut dire, comme deux totalités se complètent, ce qui est après tout la merveille des relations sociales.“²⁰ Ein nicht minder substanzielles Aufeinanderbezogensein
Mosès, Eros, S. 19. Lévinas, Difficile liberté, S. 58. Vor diesem Verstehenshorizont liest auch Mosès die das göttliche Schöpfungswerk zu Ende führenden Worte („Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch“ [Gen 2,14]): „So scheint die Vorstellung der ursprünglichen Einheit des Menschen am Ende des Entstehungsprozesses von Mann und Frau wiederzukehren. Daher könnte man meinen, dass dieser Prozess sich kreisförmig schließt.“ Mosès, Eros, S. 20. Lévinas, Difficile liberté, S. 55. Ebd., S. 58. Vgl. auch S. 57: „Le rapport de personne à personne précède tout rapport.“ Auf diesen vom biblischen Text mitkommunizierten ethischen Anspruch hat ebenfalls Mosès hingewiesen: „Die Berufung des Menschen besteht darin, sein Leben nicht dem Gesetz bloßer Seins-
4.1 Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe
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von Mann und Frau bringt Armand Abécassis als Fortsetzung des altjüdischen Denkens in seiner Ausdeutung des Schöpfungsgeschehens zum Ausdruck: [L]e couple humain ouvert à l’amour et à la transcendance est le seul exemple d’une relation d’alliance non naturelle, non animale, et dans laquelle deux êtres égaux ne trouvent cependant leur accomplissement propre que dans leur altérité radicale.“²¹ Dass dieser auch von der modernen Bibelexegese prominent gemachte androgyne Adam²² Cohen wohl kein Unbekannter war, darf angesichts seiner profunden Kenntnis des jüdischen Quellentextes als wahrscheinlich gelten.²³ Darüber hinaus könnte der die Gestalt des Androgyns zur Ikone stilisierende Surrealismus²⁴ den zu Beginn der 1920er Jahre debütierenden Künstler in dieser Hinsicht zusätzlich beeinflusst haben. In welchen Bildern artikuliert sich die Androgynie in Cohens Schreiben und in welchen Funktionen und Ausformungen wird sie im Werk des Autors – „œuvre pétrie de féminit铲⁵ – über die Jahrzehnte hinweg durchreflektiert? Welche Mytheme reaktiviert der Schriftsteller in seinen Texten?
4.1.2 Androgynie bei Albert Cohen Schon in Cohens 1921 verlegtem Gedichtband Paroles juives findet die Figur des Androgyns eine konkrete Reaktualisierung. Von dem Schriftsteller selbst als „œuvre de jeunesse“²⁶ gescholten, gilt diese frühe Poesie in den Augen Schaffners
erhaltung und -steigerung zu unterwerfen, sondern im Gegenteil imstande zu sein, sich selbst zu verleugnen im Namen der Bitte, die der Andere durch seine reine Gegenwart an ihn richtet.“ Mosès, Eros, S. 17. Abécassis, Pensée juive, S. 294. Vgl. etwa Frevel im Rekurs auf Martin Buber: „In beiden Schöpfungsberichten gehört die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau zum Menschsein konstitutiv dazu. Der Mensch ist kein Solitär, sondern ein soziales Wesen, das erst am ‚Du‘ zum ‚Ich‘ findet.“ Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 16. Für die egalisierende Deuterichtung tritt auch Irmtraud Fischer ein: Egalitär entworfen – hierarchisch gelebt. Zur Problematik des Geschlechterverhältnisses und einer genderfairen Anthropologie im Alten Testament. In: Janowski, Liess (Hrsg.), Mensch, S. 265 – 298. Und auch Krochmalnik spricht von Adam als einem Zwittermenschen. Krochmalnik, Schriftauslegung, S. 42. Aus Lewy-Bertauts Analyse der Gestalt des Androgynen im Schreiben des Autors bleibt der jüdische Ursprung der Figur dagegen ausgeschlossen. Vgl. Lewy-Bertaut, Albert Cohen mythobiographe, S. 220 – 235. Zu Androgynie und Surrealismus vgl. Short, Robert: Der Androgyn im Surrealismus. Aus dem Englischen von Ursula Prinz. In: Androgyn, S. 144– 159. Bensoussan, Albert, L’œuvre d’un séducteur, S. 36. Cohen, Bella: Avant-propos à ‚Paroles juives‘. In: Cohen, Œuvres, S. 5 – 6, hier S. 5.
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völlig zu Recht als ästhetisch wegweisende Ouvertüre – ein Prädikat, das sich in seiner Stichhaltigkeit vorrangig auf die dichterisch eröffneten Einblicke in die Autorenpsyche beruft: Certains aspects du psychisme complexe d’Albert Cohen sont sans doute dévoilés ici plus clairement qu’ils ne le seront jamais dans les textes ultérieurs. Dans l’archéologie de l’œuvre, Paroles juives apparaît ainsi comme la couche profonde, non seulement parce que c’est l’œuvre la plus ancienne, mais aussi parce que les œuvres postérieures se livreront parfois à un travail savant de camouflage de ce qui avait été dit très clairement.²⁷
An im Text zentral verorteter Stelle stimmt das lyrische Ich einen schwärmerischen Lobgesang auf die Liebe an – einen Hymnus, dessen orientalisch-blumige Diktion die unverkennbare Handschrift des Hohen Lieds trägt.²⁸ Den Geist der biblischen Vorlage fortschreibend begreift das lyrische Ich die physische Liebe zwischen Mann und Frau als gottgewollte Sinnesfreude, die es angesichts des Wissens um die Begrenztheit der menschlichen Zeit auf Erden in vollen Zügen auszukosten gilt: Bien-aimée Ah bénissons le Dieu vivant […] Par nos coeurs accolés scandant la course unique (PJ ‐ VII, 38).
Wenige Seiten später heißt es: Que nos seules mains se prennent Et se fondent les trésors de nos yeux semblables (PJ ‐ VIII, 46).
„Accolés“, „unique“, „seules“, „se fondent“, „semblables“ – die Akkumulation von Vokabeln der Vervollkommnung markiert deutlich den dringlichen Wunsch nach Verschmelzung mit der Liebenden. Dem Geheiß des Prätextes weiter folgend steht der Allmächtige nicht gleich einer sakrosankten Gottheit außerhalb der Liebenden, sondern waltet mitten unter ihnen: Reins que lève L’Éternel Reins que baisse l’Éternel Coups profonds de l’Éternel (PJ ‐ VIII, 46).
Schaffner, Alain: ‚Paroles juives‘. Cohen avant Cohen. In: Schaffner (Hrsg.), Colloque, S. 69 – 85, hier S. 82. „A l’exilé, coupé des sources de sa foi, reste l’accomplissement glorieux du désir physique, exalté sur le ton du Cantique des Cantiques.“ Schaffner, Le goût, S. 10. Zur Inspiration, die der Schriftsteller aus der biblischen Sammlung von Liebesliedern bezog, vgl. ebd., S. 364 f.
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Die im Sexualakt physisch vollzogene Einheit zwischen Mann und Frau antizipierend lebt die Natur eine ebensolche Symbiose vor: Le ciel a courbé sa face sur la terre en chaleur Ouvrant son giron large (PJ ‐ VIII, 43).
Mit der Fusion von väterlichem Himmel und mütterlicher Erde wird die androgyne Einheit makrokosmisch zelebriert.²⁹ Es scheint, als wolle das männliche Ich das erotische Naturschauspiel imitieren, begrüßt es doch enthusiastisch das Ineinanderfallen von Himmel und Erde: Cette heure de langueur a fondu sur mes yeux Subitement comme un grand aigle noir. Et j’ai vu J’ai vu la vie piaffante Jaillir Haleter en pleur triomphal Épanouissant au ciel sa gerbe laiteuse (PJ ‐ VIII, 43).
In der Kontemplation des überwältigenden Naturspektakels offenbart sich dem lyrischen Ich der kosmische Konstruktionsplan. Dies suggeriert das anaphorische „J’ai vu“, jene der Bibel entlehnte Wendung, die als iterative Leitformel das Predigerbuch durchzieht, wo das Ich, analog dem Betrachter der Paroles juives, Einsichten in das Wesen des Menschen aus seinen Beobachtungen der ihn umgebenden Welt bezieht.³⁰ In diese lyrischen Bildelemente mischt sich unstreitig der schon bei Platon und im Schöpfungsbericht dominierende Ursprungs- und Verheißungscharakter des Androgyns. Mit spürbar veränderter Ausrichtung aber nimmt der altgediente Topos in einer zweiten Rahmenhandlung Gestalt an. Gleich zweifach wird das männliche Geschlecht nunmehr mit dem Attribut bedacht: „[C] es hommes pareils aux femmes“ (PJ ‐ VII, 41 u. XIV, 73). In diesen Zeilen erfährt das androgyne Zusammenwirken einen einschneidenden Wandel, enthalten sie doch ein deutlich negativ konnotiertes Amalgam der Geschlechter. In Entsprechung zu dieser Paraphrase wird die effeminierte Christusfigur vom lyrischen Ich bezichtigt, die Essenz des vormals virilen und kampferprobten Judentums pervertiert zu
Zu einem hiervon abweichenden Ergebnis gelangt Schaffner: Er deutet die Zeilen als bejahendes Bekenntnis der Natur zur Virilität des Liebenden. Vgl. Schaffner, Paroles juives, S. 81. Der Einfluss des Predigerbuchs im Allgemeinen sowie der des Predigerblicks im Besonderen („regard d’Ecclésiaste“, [Israël ‐ 348]) auf das Cohensche Schreiben machte sich bereits in Israël, le Juif et les romanciers français bemerkbar.
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haben, indem sie weibliche Demut und Resignation gepredigt habe.³¹ Am Kreuz bekennt der reuige Sünder in seiner Agonie: J’ai péché contre mon peuple Mon peuple de fiers Mon peuple de princes Car j’ai dit Ne vous élevez pas (PJ ‐ XIV, 70).
Während der in diesen Kontext radikal eingeschriebene Geschlechterdualismus Juden- und Christentum strikt voneinander scheidet, gehen Cohens spätere Werke zu dieser religiösen Polbildung mit aller Deutlichkeit auf Distanz. Mehr noch: Die vormals aufgegrabene Kluft heben sie dahingehend auf, als Mutter- und Tochterreligion mit ihrer beider Verkörperung des Pazifistisch-Weiblichen der von den Nationalsozialisten zur Staatsräson erhobenen Doktrin der Stärke Seite an Seite den Kampf ansagen: „Il est frappant de constater que la ligne de partage entre masculinité et féminité sera amenée à se déplacer dans l’œuvre, le rapprochement ultérieur du judaïsme et du christianisme les rangeant tous deux du côté de la féminité, tandis que la virilité triomphante et honnie devient l’apanage du paganisme (sous sa forme germanique).“³² Ihre werkgeschichtlichen Wurzeln hat dieser der Zeithistorie geschuldete Umschlag in dem am 15. September 1942 in La France libre unter Pseudonym veröffentlichten Antikriegstext Combat de l’homme, der mit aller rhetorischer Radikalität gegen die von Nazideutschland begonnene „croisade de la nature“³³ vorgeht. Überprüft man die Texte des Schriftstellers auf die bei Schaffner angezeigte Kehrtwende hin, so bekräftigen sie gleich mehrfach die vorangetriebene Elitisierung jener einstmals profanierten Weiblichkeit. Selbst der gegen die Fesseln der Religion aufbegehrende Solal unterliegt so am Tag seiner Bar Mitzwa in explizit weiblich markierter Ehrfurcht dem mysteriösen Zauber eines Judentums, das sich im majestätischen Antlitz des Vaters personifiziert.³⁴ Über die Wirkung
Auch auf diese unumwunden ausgesprochene Religionskritik geht Schaffner in seiner ausführlichen Werkanalyse ein. Vgl. Schaffner, Paroles juives, S. 77– 80. Ebd., S. 80. Die einzige Ausnahme bilde in diesem Zusammenhang Cohens pamphletartiger Kriegstext Salut à la Russie, der die feminin anmutenden Allüren Hitlers offen karikiert. Vgl. Schaffner, Le grandiose, S. 70. Cohen, Albert (unter dem Pseudonym Jean Mahan): Combat de l’homme. In: La France libre 23 (15. September 1942). S. 348 – 355, hier S. 355. Schaffner datiert den Beginn dieser Entwicklung wesentlich früher: „La dimension féminine de Charlot ‚avec ses yeux maquillés de Tunisienne et ses cheveux qu’un soleil léger spiritualise‘ amorce également un renversement, par rapport à ‚Paroles juives‘, dans la présentation du per-
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des Vaters auf den Sohn äußert der Erzähler: „Solal aima fémininement cette démarche“ (S ‐ 110).³⁵ Und in Le livre de ma mère übermannt den Autobiographen selbst eine solche androgyne Sehnsucht, wachgerufen durch die Erinnerung an die korfiotischen Rabbiner der Kindheit: „Parfois, comme je voudrais retourner dans ce ghetto, y vivre entouré de rabbins qui sont comme des femmes à barbe“ (Ldm ‐ 739). Diese Linie lässt sich unverändert weiterziehen, fügt man den zitierten Zeilen jene deutlich androgyn gefärbte Szenerie hinzu, die Cohens 1972 vollendeter Text Ô vous, frères humains ausgestaltet. Was das innerwerkliche Meritum dieser parabelartigen Erzählung anbelangt, so darf man bei derlei Reflexionen mit Ette nicht vergessen, dass der bereits 1945 in der Exilzeitschrift La France libre abgedruckte Text „jene Klammer darstellt, die auf beeindruckende Weise ein Werk zusammenhält, das – wie schon anhand der Publikationsdaten der Cohenschen Texte offensichtlich ist – in zwei Teile zerfällt.“³⁶ Dies mache, so Ette weiter, einsichtig, weshalb Jour de mes dix ans der „eigentliche Brennspiegel eines großartigen literarischen Œuvre“ sei, „dessen Energielinien sich in diesem kleinen, am Ausgang einer schrecklichen historischen Erfahrung verfassten friktionalen Text bündeln.“³⁷ Die darin nacherzählte Kindheitsanekdote ist dem CohenLeser bekannt: Im Jahre 1905, just am Tag seines zehnten Geburtstags, wird der Junge von den antisemitischen Hetzparolen eines Straßenhändlers unvermittelt in ein inneres Exil getrieben. Unter dem nun grundlegend gewandelten Selbst- und Gesellschaftsbild nimmt Albert sein Jüdischsein als Reaktion auf die ihm verwehrte Mitmenschlichkeit wahr: „Le judaïsme qui naît alors restera marqué par les circonstances de sa conception. Il est réactif, c’est-à-dire qu’il suit la gifle et l’insulte et ne les précède pas. Il est fils d’humiliation.“³⁸ Als das schlagartig vereinsamte Kind in den Straßen von Marseille umherirrt, verrät die Physiognomie des Knaben ähnlich christologisch-feminine Züge wie die des in frühen Tagen noch für seine Weiblichkeit gerügten Jesu: „efféminé de malheur et de tendresse“ (Ô vous ‐ 1075).³⁹ Gegenbildlich entworfen zur Christusfigur der Paroles juives aber sonnage juif comme porteur de traits de féminité (elle culminera dans les récits autobiographiques).“ Schaffner, Le grandiose, S. 37. In Mangeclous dagegen speist sich die Kritik am feminin-devoten Gebaren des jüdischen Außenseiters Mossinsohn aus dem antijüdischen Karrieredenken der Völkerbundsfunktionäre: „On méprisa le Juif de n’avoir pas virilement réagi au silence méprisant d’Adrien“ (M ‐ 676). Ette, Albert Cohen, S. 1311. Ebd., S. 1311. Literarische Texte, die permanent zwischen Diktion und Fiktion oszillieren, bezeichnet Ette als „friktional“. Vgl. beispielhaft ders., Literatur in Bewegung, S. 43. Blot, Jean: La voix du peuple juif. In: Magazine littéraire 261 (1989). S. 27– 28, hier S. 27. Mit seiner weitreichenden Kenntnis der intratextuellen Werkbezüge hat Schaffner zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass diese androgyne Seinsweise in der Vorgängerversion des Textes
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strahlt der umherziehende Junge eine fast schon mythische Aura des Königlichen aus, beansprucht das feminine Attribut doch einmal mehr Würde und Souveränität für sich – ein Charisma, das dem der fiktionalen Vaterfigur sehr ähnelt: „[J]’allais, royalement timbré, les pieds sublimement glissants sur les trottoirs de l’exil, j’allais, avec une élégance androgyne et un peu folle“ (C ‐ 1103). In der an diesem Wendepunkt der Erzählung als Bewegungsfigur des Stolzes nachempfundenen Wanderschaft des Kindes wird die anfangs erlittene Schmach in ein Gefühl fingierter Auserwähltheit umgelegt.⁴⁰ Deutlich stellt das Judentum in dieser Episode die Weichen für zweierlei Formen der Symbiose: Die von Männlichem und Weiblichem sowie jene von Erwählung und Exil. Wie des Öfteren bei Albert Cohen, borgt sich auch hier der Text die Gestalt Jesu, um die archetypisierend als Ausdruck der Urdialektik von Demut und Ehrgefühl gedeutete christliche Passionsgeschichte mit dem Leidensweg der Figuren zu kreuzen.⁴¹ Eine von den bislang erörterten Beispielen signifikant abweichende Deuterichtung der zwischengeschlechtlichen Verschmelzung beansprucht hingegen Solal in Belle du Seigneur – eine Aufarbeitung, die zeigt, dass es mit der Abscheu des Helden vor der weiblichen Libido eine besondere Bewandtnis hat. So reduziert sich in Solals Interpretation des Entstehungsmythos von Europa alles auf den narrativen Nukleus eines Geschlechtsakts der puren Fleischeslust zwischen dem liebestollen Zeus und seinem nymphomanen Entführungsopfer. Berauscht von der Sogkraft dieser arglistig manipulierten Mythenversion ist es dem Helden fortan darum zu tun, Ariane einen kulturhistorisch verbürgten Faible für eine spirituell entleerte Liebe anzudichten, wie der Anblick des im Zirkus bestaunten Tigers sie auf archaisch-primitive Art und Weise schüre: „Excitée, troublée par le tigre, oui, comme la bonne femme Europe par le taureau! Pas bête, Jupiter, il connaissait les femmes! La vierge Europe aux longues tresses a sûrement dû dire au taureau, les
noch markanter sichtbar wird.Vgl. Schaffner, Le grandiose, S. 85 f. In Jour de mes dix ans heißt es in der Tat: „Je me revois en mes dix ans. J’avais de grands yeux de fille, des joues de pêche irisée, le sang très doux, des cheveux bouclés.“ Cohen, Albert: Jour de mes dix ans (I). In: La France libre 10/ 57 (16. Juli 1945). S. 193 – 200, hier S. 196. Diese und ähnliche Bilder der Umkehrung, häufig oxymoral versprachlicht, sind für Cohens Schaffen konstitutiv. Vgl. beispielhaft die „princes en haillons“ der Paroles juives, ein zwischen Auserwählung und Ausgeschlossensein schwankendes Sinnbild für das jüdische Volk (PJ ‐ I, 12). „Niemand in der Weltliteratur verkörpert wie er [Jesus] die Dialektik von Ohnmacht und Macht, Scheitern und Sieg, Niederlage und Größe. […] Die Gestalten, unter denen er in unserem Jahrhundert wieder auftritt, haben deshalb alle etwas Gemeinsames. Sie zeigen die Macht des Untatsächlichen. Sie zeigen, dass bei allem Scheitern die in Jesus verkörperte Idee des Menschen nicht widerlegt ist.“ Kuschel, Karl-Josef: Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen. Patmos: Düsseldorf 1999. S. 20.
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yeux chastement baissés: vous êtes un fort, vous, mon chou“ (BdS ‐ 779).⁴² Der an die Geburt des Okzidents geknüpften Obszönität diametral gegenüber steht die sittliche Dimension der Gründungsstunde des Judentums⁴³ – jener am Sinai statthabende Bundesschluss, dessen ethische Leistung die Texte des Schriftstellers in den unterschiedlichsten Varianten repetieren.⁴⁴ Die Beziehung Mann-Frau als unumkehrbare Geschichte des Lasters? Der Befund ist differenzierter, bleibt er doch um jenen Anspruch der androgynen Perfektion zu komplettieren, der die Verschmelzung des Ich mit dem gegengeschlechtlichen Du anstrebt. In der Diskrepanz zweier grundverschiedener Gründungsmythen finden sich jene einander ausschließenden Maximen wieder, die als der Bibel entlehnte Paratexte schon der achten Sektion der Paroles juives thematisch vorausgehen: Ses traits sont des traits de feu Une flamme de l’Eternel. Cantique des cantiques. – N’accomplissez pas les désirs de la chair. Saint Paul (PJ ‐ VIII, 43).
Die in lyrischer Neuschreibung des Hohen Lieds in den Gedichtband eingeflochtene „Schule beglückender Menschlichkeit in der Liebe“⁴⁵ zwingt zur Konfrontation mit der diese Liebe rigoros abstrafenden Sexualmoral des paulinischen Diktums – eine Gegenüberstellung, die Solals seelischen Grundkonflikt, auf einer überindividuellen Ebene kondensiert in den miteinander kontrastierten Entstehungsgeschichten des Judentums und des Abendlands, vorwegnimmt. Denn die vom Hohen Lied reinszenierte Botschaft der Schöpfungsgeschichte,⁴⁶ wonach dem Menschen erst „in der polaren Zuordnung der Geschlechter“⁴⁷ wahres
Für eine erhellende Ausdeutung dieses problembelasteten Verhältnisses zum Okzident vgl. Zard, femme. „Entre le mythe fondateur du judaïsme et la légende d’Europe, le contraste est saisissant. L’acte originel du judaïsme est le retranchement du sensible, principe de l’éthique – le mythe de fondation de l’Europe est celui de l’affirmation des sens, une étreinte charnelle – principe érotique.“ Ebd., S. 113. Eigens erwähnt sei an dieser Stelle die Spielzeugserfindung des Onkels Saltiel – eine Arche, in der die Tora-Rolle verwahrt ist (vgl. S ‐ 259). Per Fadenzug gelangt ein Affe in die Arche. Ein weiterer Fadenzug und die Spielfigur verlässt sie metamorphosiert über eine Hintertür. Dank des physischen Kontakts mit der Tora-Rolle hat sich das Tier in einen ehrbaren Mann gewandelt. Wie so oft gebraucht Cohen auch hier den Begriff „rouleaux de la loi“ in einer totum pro parte-Relation: Gemeint ist nicht die gesamte Tora mit ihren insgesamt 613 Ge- und Verboten, sondern ausschließlich der Dekalog. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 45. Von der bereits innerbiblisch angelegten Parallelsetzung beider Textstellen wird in Kapitel 4.4.1 noch zu sprechen sein. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 43.
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Menschsein gegeben sei, scheint als jüdisch codierte Mittlerfigur jenes Bedürfnisses zu fungieren, das Solals Begegnung mit Ariane schon von vornherein als ein Ereignis der besonderen Art markiert – als ein Ereignis, dass die Dopplung des Ich im komplementären Du bewirkt.⁴⁸ All dies realisiert Solal just in jenem Augenblick, als die ihm noch gänzlich unbekannte Ariane, dem sozialen Imponiergehabe der zum diplomatischen Stelldichein Geladenen den Rücken kehrend, im menschenleeren Nebenraum einen Kuss auf die vom Spiegel reflektierten Lippen drückt. In dieser narzisstischen Geste erkennt der den Untergeneralsekretär nur Mimende in einem Mal sich selbst: „[C]ar elle a la manie des glaces comme moi, manie des tristes et solitaires, et alors, seule et ne se sachant pas vue, elle s’est approchée de la glace et elle a baisé ses lèvres sur la glace. Notre premier baiser, mon amour. Ô ma sœur folle, aussitôt aimée, aussitôt mon aimée par ce baiser à elle-même donné“ (BdS ‐ 39).⁴⁹ Von diesem Moment der Selbstfindung an ist es dem Helden untersagt, Ariane in ein diese Intimität nur störendes Gespräch zu verwickeln: „[J]e ne me suis pas approché d’elle, je ne lui ai pas parlé, je n’ai pas voulu la traiter comme les autres“ (BdS ‐ 39). In der augenfälligen Asymmetrie zwischen den durch inhaltsleere Kommunikation sich zur Schau tragenden Gästen und den von dieser Gesellschaftskomödie Abstand suchenden Einzelgängern wird die unausgesprochen bleibende Gleichheit beider Charaktere manifest⁵⁰ – jener identitäre Zusammenfall, den die Romandiegese nach und nach ausbauen wird: „In the novel, the SolalAriane hybrid identity is suggested by Solal from the first scene, which is subsequently reiterated in so many ways (mimicking, mirrors, fantasies).“⁵¹ Ja, gar den gehörnten Ehemann macht der Held zum nichts ahnenden Zeugen dieser androgyn konzipierten Überhöhung der Liebe: „C’est une histoire compliquée de frères jumeaux, moi étant l’un et l’autre, l’un rasé et l’autre faussement moustachu“ (BdS ‐ 344). Gleichzeitig hat die von Solal beschworene adamitische Sehnsucht nach einer zu Komplementarität hindrängenden Zweiheit die Abkehr des Protagonisten von jener in der abendländischen Literaturgeschichte beharrsam aufgerufenen Stendhalschen Liebestheorie zur Folge, die sich die Liebe als
Mosès beschreibt die Eigenart dieses aus dem Schöpfungsbericht sprechenden Zusammenfindens von Adam und Eva als die „Einzigartigkeit jener aus Andersheit und Identität bestehenden Beziehung, die Mann und Frau zugleich vereint und trennt.“ Mosès, Eros, S. 19. Vgl. auch BdS ‐ 38: „[N]ous deux seuls exilés, elle seule comme moi triste et méprisante et ne parlant à personne, seule amie d’elle-même, et au premier battement de ses paupières je l’ai connue.“ „[…] elle, sa folle sœur. […] bienheureuse d’être connue, mieux que d’elle-même connue, moquée et louangée par ce frère de l’âme“ (BdS ‐ 390). Abecassis, Dissonant voices, S. 176.
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sukzessiven,von der Imagination gelenkten Veredelungsprozess des zu Liebenden vorstellt:⁵² „Les autres mettent des semaines et des mois pour arriver à aimer, et à aimer peu, et il leur faut des entretiens et des goûts communs et des cristallisations“ (BdS ‐ 38). Von Solals wider das Stendhalsche Paradigma des Begehrens gerichtetem Liebesverständnis bietet sich der Blick zurück zu jener das programmatische Incipit von Belle du Seigneur bildenden unerhörten Begebenheit an, die narrativ nahtlos an die finale Handlungssequenz des dreißig Jahre zuvor fertiggestellten zweiten Teils der Romantetralogie anknüpft. Leibhaftig wie spirituell mit dem Rüstzeug des Judentums bewaffnet, stellt sich der Held einem individuellen Präzedenzfall von kollektiver Tragweite. So ist die zu verführende Ariane auserwählt, die unter Gewaltanwendung vollbrachte, ja missglückte Entstehung eines Kontinents samt deren kulturgeschichtlicher Negativfolgen aus der abendländischen Historie zu löschen und durch eine Neubesinnung auf das Nicht-Triebhafte zu ersetzen. Nichts Weniger als die Umkehrung der in der Geburt von Europa mythenhaft mitschwingenden Konnotationen des Erotischen erwartet die Romanfigur von Jener, gen die sie, verkleidet als alter Jude, euphorisch die Hände streckt, „les mains tendues vers celle qui rachetait toutes les femmes, la première humaine“ (BdS ‐ 41). Entgegen Solals hehren Ambitionen erwidert Ariane den Vorstoß des maskierten Helden mit ebenjener Brachialgewalt, die es zu bekämpfen galt. Der abscheuerregenden jüdischen Fratze schleudert die Auserkorene ein Glas entgegen: „Avec le verre qui se brise et le sang qui coule de la paupière de l’amoureux rejeté, toute certitude de victoire s’envole tout comme l’illusion d’une conciliation aisée des normes antinomiques.“⁵³ An die Stelle der von Zeus eingesetzten Mittel tritt ein Wurfgeschoss, das auf Solals Gesicht ein niemals vernarbendes Stigma des Misserfolgs hinterlässt. Unvermittelt weicht die lyrische Eloquenz des mit gespaltener Zunge sprechenden Verführers der vormals verabscheuungswürdig erklärten Rhetorik einer auf klaren zwischengeschlechtlichen Hierarchien fußenden Begierde: „Femelle, je te traiterai en femelle, et c’est bassement que je te séduirai, comme tu le mérites et comme tu le veux“ (BdS ‐ 42). In diesem Rachespruch wird Solals zweilinige Strategie auf die Spitze getrieben, postuliert der Bloßgestellte darin doch die Revision des im Schöpfungsbericht den
Stendhals berühmter Kristallisationsmetapher nach gilt: „Ce que j’appelle cristallisation, c’est l’opération de l’esprit, qui tire de tout ce qui se présente la découverte que l’objet aimé a de nouvelles perfections.“ Stendhal. De l’amour. Edition présentée, établie et annotée par Victor Del Litto. Paris: Gallimard 1980. S. 31. Goergen, Bertrand: Normes et anti-normes: ‚Belle du Seigneur‘ ou le pari d’un écheveau normatif. In: Lectures, S. 189 – 220, hier S. 195.
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Sündenfall antezedierenden Geschlechterverhältnisses, die Pervertierung jener egalitären Beziehung, die Eva als ebenbürtige Partnerin Adams designiert sah.⁵⁴ Wieder lohnt der Seitenblick auf Lévinas, der in diesem anfänglich noch frei von Hierarchien gedachten Beziehungsentwurf die „originalité totale du ‚fémininʻ par rapport au principe ‚femelleʻ“⁵⁵ verankert sieht. Unübersehbar rückt mithin noch vor Beginn der Liebesgeschichte die unausweichliche Konsequenz des misslungenen Verführungsakts auf die Frage des Zusammenlebens in den Mittelpunkt, liest sich die darin verwobene Sündenfallmetaphorik doch als symbolischer Vorgriff auf die erwartbare Tragik. In konträrer Auslegung aber zu Lévinas, der diesen Fehltritt als einen des Kollektivs beschreibt,⁵⁶ trägt Cohens Romanfigur das widerfahrene Versäumnis der Frau zur Last. Mit dieser Schuldzuweisung deckt sich dann auch das vom Helden ins Spiel gebrachte Erbsündeverständnis – ein Verständnis, dessen geistige Geschwisterschaft weder im Judentum noch im Christentum zu suchen ist.⁵⁷ Unter dem Begriff der Erbsünde – darin ganz dem realen Autor folgend⁵⁸ – bündelt Solal vielmehr die schamhafte Gewissheit über die ungehemmte Triebnatur der Gattung Mensch: „Ce qu’ils appellent péché originel n’est que la confuse honteuse conscience que nous avons de notre nature babouine et de ses affreux affects“ (BdS ‐ 357). Nur schwer lässt sich diese Einsicht mit Arianes androgyn durchsetzten Tagträumen zusammenführen. Ihr ganzes Tun kommt so unter dem fehlgeleiteten Blick des Helden dieser ununterdrückbaren Triebnatur bedenklich nahe: „Cette femme en train de picorer stupidement le poignet de lourde soie baisait l’élégance, donc la richesse, donc l’importance sociale, donc la force“ (BdS ‐ 761). Wenn mit Abecassis Solal völlig zu Recht als Arianes „first misreader“⁵⁹ zu bezeichnen ist, dann wiegt dieser Vorwurf umso schwerer, als der Protagonist aufgrund jener unbeobachteten Tagebuchlektüre,
Vgl. stellvertretend Fischer: In der Genesis werde keine „ontologische Aussage über die soziale Diversität der Geschlechter getroffen. […] Die Herrschaft von Menschen über andere Menschen entspricht damit explizit nicht der göttlichen Schöpfungsordnung, auch nicht jene des männlichen über den weiblichen Menschen.“ Fischer, Egalitär entworfen, S. 267 f. Lévinas, Difficile liberté, S. 57. Den Sündenfall begreift der Philosoph als „malheur social dont les hommes portent la responsabilité et où l’on ne peut incriminer un destin, une nature ou un Dieu.“ Ebd., S. 58. Zu der vom christlichen Glauben divergierenden jüdischen Lesart des Sündenfalls vgl. Oberhänsli-Widmer: „Entgegen der maßgeblich von Augustin (354– 430) geprägten Erbsündenlehre, welche die christliche Lektüre bis ins 20. Jahrhundert bestimmt, ist die Übertretung der beiden Urmenschen kein zentraler Einzelfall, denn exegetisch sind die Sünde und das Böse in der Genesis vornehmlich in einer Kette von Ereignissen zu sehen.“ Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 23. Vgl. C ‐ 1174: „[…] le péché originel, péché qui est en réalité la tare naturelle et animale.“ Abecassis, Dissonant voices, S. 160.
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die den Leser expositionsartig in das Seelenleben der Heldin einführt,⁶⁰ doch eines Besseren hätte belehrt werden müssen. Dem von Abecassis mit der gewünschten Unvoreingenommenheit auf den Punkt gebrachten Fazit ist daher uneingeschränkt zuzustimmen: „Solal must be partly blind to the obvious, since the whole novel would not be narratable, would implode, did Solal not cling to these misconceptions.“⁶¹ Couragiert mit der in der Sekundärliteratur gängigen Viktimisierung des Juden Solal brechend rückt der Verfasser damit die Romanfigur in ein von der Forschung bis zu diesem Zeitpunkt nur ansatzweise ausgeleuchtetes Zwielicht – zu verbindlich, so ließe sich meinen, schien die philologische Pflicht, den Existenzkampf des jüdischen Helden vor dem Hintergrund der immer tiefer in den Nationalsozialismus abdriftenden widrigen Historie zu verstehen. Dabei führt der Protagonist diesen Kampf doch an zwei Fronten: gegen die antisemitische Propaganda der europäischen Gesellschaft einerseits sowie gegen die eigenen stereotypisierten Ideologien andererseits. In der analysierenden Gesamtschau auf die Figur bleibt folglich zu konstatieren, dass auch Solal jene zu klischeehaften Gewissheiten erstarrten Konstrukte vom anderen pflegt, vor denen Sartre in seiner Abhandlung der Judenfrage unter dem Stichwort der „nostalgie de l’imperméabilité“⁶² eindrücklich warnte. Denn gerade – und an dieser Stelle gilt es das in diesem Kapitel erörterte Leitmotiv wieder aufzunehmen – die androgyn schillernden Persönlichkeitsfacetten der missverstandenen Tagebuchverfasserin zerbröckeln unter Solals entindividualisierender Retuschierung. Diese aber erschließen sich dem Lesenden vollends in all jenen autonomen Figurenmonologen, die ihre unmittelbare Wirkung als vertrauenswürdiges Korrektiv zu den Fehldeutungen des Helden zeitigen. So sehr auch Abecassis Arianes monologisierender Figurenrede eine „unmistakable voice“⁶³ im polyphonen Stimmenkanon des Romans zugutehält, so sehr sieht er doch die Perzeption des Lesenden – und dies völlig unabhängig vom Geschlecht – durch die Innenperspektive von Solal gelenkt: „The reader, after all, identifies with the protagonist and therefore perceives Ariane through Solal regardless of what
Dabei oszilliert das dort Niedergeschriebene zwischen der Ich-Identität eines nach prüden calvinistischen Erziehungsmethoden aufgewachsenen Mädchens und der einer sich von dieser moralischen Bindung lösenden jungen Frau, die sich mit einer Russin liierte. Varvaras früher Tod stürzt die Protagonistin in eine tiefe Seelennot, die Arianes schwere Selbstvorwürfe, die Leidende in ihrer Agonie vernachlässigt zu haben, noch verschärfen. Zum Tagebuch als Diskurstyp zur sprachlichen Modellierung von Subjektivität vgl. Cohn, Dorrit: La transparence intérieure. Modes de représentation de la vie psychique dans le roman. Paris: Seuil 1981. S. 236. Abecassis, Dissonant voices, S. 157 f. Sartre, Réflexions, S. 20. Abecassis, Dissonant voices, S. 160.
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Ariane explicitly says about herself.“⁶⁴ Diese These aber ist mit einem Fragezeichen zu versehen – nicht nur, da sie Zweifel hinsichtlich der Tauglichkeit des Helden als Identifikationsfigur für die weibliche Leserschaft offen lässt, sondern auch, da sie über das gewaltige Stimmenpotenzial der Heldin hinwegblickt. Flagranter noch als in der auktorialen Erzählperspektive enthüllt sich in den inneren Monologen der weiblichen Romanfigur eine breit angelegte Wesensschau auf Arianes androgyne Befindlichkeit. Die folgenden Textbeispiele mögen dies belegen. Den Körper wohlig versunken im warmen Wasser der Badewanne dürstet Ariane nach einem androgyn geformten Gegenüber: „[O]h une belle femme nue qui serait en même temps un homme“ (BdS ‐ 175). Die diesem zweigeschlechtlichen Wunschbild unmittelbar nachfolgende Autozensur („pas bien ça“) lässt auf die Intervention eines die Maßlosigkeit des Ich zügelnden Über-Ich schließen, dessen Normhorizont von Erziehung und Gesellschaft geprägt ist.⁶⁵ Androgyn ersinnt die Protagonistin nicht nur das ideale Du, sondern auch sich selbst: „[J]’aimerais assez être un homme pour une certaine chose mais garder tout le reste féminin les hanches les seins ça serait en somme l’être parfait“ (BdS ‐ 618) – wenngleich auch dieses phantasmatische Selbstverständnis augenblicklich das Bedürfnis nach Korrektur erweckt: „[N]on non c’est très bien comme ça ne rien changer laisser un homme en homme une femme en femme“ (BdS ‐ 618). Und selbst den in erotischen Tagträumereien herbeizitierten Eremiten imaginiert Ariane als „homme mais sans poils“ (BdS ‐ 185). Verstärkt wird der Kontrast zwischen Realität und androgynem Wunschbild durch den beim Koitus mit dem Gejohle eines japsenden Hundes in Verbindung gebrachten Gemahl („le monsieur chien“, BdS ‐ 126) sowie durch jenes grundsätzliche Gefühl des Ekels, das Ariane beim ehelichen Liebesspiel beschleicht: „un étranger à côté de moi, nu et poisseux, un étranger qui me tutoie et que je dois tutoyer“ (BdS ‐ 126). Sexuelle Befriedigung erfuhr sie bislang ausschließlich mit Varvara.⁶⁶ Den androgynen Gipfel der Lust aber, Kulminationspunkt der im Roman klimaxartig aneinandergereihten Fantasiegebilde, erklimmt Ariane mit Solal. Eins mit dem Geliebten wird die Heldin in den schwindelerregenden Höhen des Begehrens, wo das Janusgesicht der Liebe in betont biblischer Schattierung auf Arianes Antlitz erscheint: „Et voici,
Ebd., S. 160. Zur polyphonen Architektur dieser Monologe sei auf die erschöpfenden Analysen von Stolz verwiesen: Stolz, Polyphonie, S. 75 f. Vor dem Hintergrund der von ihr konstatierten inneren Stimmenvielfalt der Heldin erweist sich die nur eine Stimme erfassende Definition Dujardins als nicht hinlänglich differenzierend: „[Q]uant à sa matière, il [le monologue intérieur] est une expression de la pensée la plus intime, la plus proche de l’inconscient.“ Dujardin, Monologue intérieur, S. 58 f. Vgl. hierzu BdS ‐ 184 f., 226 u. 325.
4.1 Das mannweibliche Doppelgesicht der Liebe
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c’était l’aigu visage androgyne, le pur visage extasié, les yeux religieusement au ciel de jouissance“ (BdS ‐ 466). Es ist, als zelebriere der Passus – darin spiegelbildlich zum biblischen Lobgesang auf Sulamith – den Sinnesgenuss in der paradiesischen Dopplung aus Gottesnähe und zwischenmenschlicher Intimität. Um einen letzten Befund bleibt die künstlerische Anverwandlung des Motivs abschließend zu ergänzen. Je nach Figur gestaltet der Erzähler das Spiel mit den Geschlechtern in zweierlei Varianten: zum einen als unwillentliches Zuschaustellen des jeweils gegengeschlechtlichen Konterparts, zum anderen als dessen ostentative Enthüllung. Ersteres bezeugen etwa Solals feminin-narzisstisch anmutende Allüren, aufgedeckt von der monologisierenden Ariane: „[M]onsieur veut plaire […] c’est d’ailleurs votre côté féminin mon cher féminins aussi vos coups d’œil dans la glace vous vous regardez un peu trop“ (BdS ‐ 604).⁶⁷ Zu dieser unreflektiert vollzogenen Appropriation des sexuell anderen steht Arianes eigenes Gebaren in Kontrast, wenn sie ihrem Ehemann einen von der Erzählerstimme als maskulin-aggressiv interpretierten Blick über die Reflexionsfläche des Spiegels zuwirft: „[E]t dans la psyché elle eut de nouveau ce regard direct, masculin“ (BdS ‐ 322). Besonders eklatant tritt diese Volte dann bei dem mit markant-androgynen Zügen bedachten Adrien zum Vorschein, der mal im Beisein des weiblichen Geschlechts den nonchalant-virilen Dandy mimt (M ‐ 677 f.), mal mütterliche Empathie erflehend am Rockschoß der Gemahlin hängt (BdS ‐ 79). Nebenbei erlaubt sich der Erzähler die unüberhörbar ironisierende Kommentierung dieser je nach Lust und Laune variierenden Geschlechtsschwankungen: „(Si l’homme fort, sacrément viril et casse-cou, était l’idéal habituel d’Adrien Deume, il en avait d’autres, tout différents, archétypes contradictoires et interchangeables. Tel jour, par exemple, […] il tâchait d’être le diplomate un peu efféminé, de courtoisie légèrement glacée, très mondain, un chef-d’œuvre de civilisation)“ (BdS ‐ 70). Der Passus lässt sich repräsentativ für all jene Passagen zitieren, in denen affektierte Weiblichkeit als negatives Sinnbild für den falschen Gehorsam des männlichen Bittstellers gilt.⁶⁸ Als der Untergeneralsekretär des Völkerbunds Adrien über seine anstehende Beförderung in Kenntnis setzt, macht der in der Hierarchie gestiegene Diplomat eine von der Ironie des Erzählers beschleunigte Wandlung ins Feminin-Jungfräuliche durch: „Séduit et féminin, frémissant et léger, spiritualisé, vierge bouleversée et timide épousée conduite à l’autel, il allait au bras du supérieur, et son sourire de jouvencelle était délicatement sexuel“ (BdS ‐ 99). Begründbar ist diese Kritik historisch, erlaubt sie doch den Rückbezug Vgl. auch BdS ‐ 605: „[F]éminin aussi qu’il ne veuille jamais que j’aille l’attendre à la gare c’est que monsieur n’est pas assez rasé en descendant du train monsieur tient à être vu dans tout son éclat […].“ Vgl. etwa BdS ‐ 44 u. 68 f.
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auf die blinde Ergebenheit der Masse unter die Tyrannei des Führers. Für den Autor liegt es mithin in der Logik der Geschichte, die Frage nach dem androgynen Sein des Menschen nicht nur von der Warte des Judentums her zu durchdenken. Vom Strudel der Historie erfasst sieht er sich wie so oft in der Pflicht, ein widersprüchliches Seelenporträt zu zeichnen, eins mit Rissen und Brüchen, das der als ambivalent erfahrenen Realität zu entsprechen hat. Dies ist auch der Grund, weshalb Cohens Texte neben der ethisch neutral bis positiv besetzten Androgynität einen zweiten Typus aufrufen, der an den im Schreiben des Autors omnipräsenten Topos der anti-nature anschließt: „J’ai vu sur les visages des hommes, fils de la femme et pareils à la femme, j’ai vu cet amoureux délice, ce délice femelle d’être un vassal“ (C ‐ 1183). Zum Schluss ein kurzes Fazit: Aus der im Gesamtschaffen des Schriftstellers leitmotivisch angelegten Figur des Androgyns sind dreierlei wesentliche Funktionalisierungen abzulesen: So artikuliert sie sich erstens in der unstillbaren Sehnsucht nach identitärer Ganzheit und Vollendung, idealiter verwirklicht im vom Schöpfergott androgyn erschaffenen, in der Begegnung mit Eva sich dann wieder komplettierenden Adam. Dieses Urverlangen wird bei Cohens Protagonisten Solal und Ariane – beides Außenseiterfiguren – zur Chiffre für die Überwindung eines als defizitär erfahrenen Selbsterlebens. Eine dieser traditionellen Sehnsuchtskategorie zuwiderlaufende negative Umwertung des Motivs setzt der Autor in diskreditierender Absicht zweitens dort ins Werk, wo die vom Mann in Anspruch genommene Weiblichkeit mit obrigkeitshörigem Fehlverhalten gleichgesetzt wird. Drittens, und hier tritt die Figur wieder in ihrer ursprünglichen Positivität hervor, scheint die Idee des Mannweiblichen in dem von zweierlei Schreibimpulsen gelenkten Entstehungsprozess des Kunstwerks auf – einem kreativen Hergang, der wiederum den Blick freilegt auf das rollenmultiple Seelenleben des Künstler-Ich. Mit dieser widersprüchlichen Konturierung einer in sich selbst schon gegensätzlichen Figur leistet Cohen wieder einmal intensiv all jenen Kontrasten und Differenzen Vorschub, die für die innerwerkliche Grundspannung seines Œuvre verantwortlich sind: „Albert Cohens Schriften arbeiten mit einer Vielzahl gespeicherter Bilder und Gegenbilder, die sehr gezielt eingesetzt werden. Ja mehr noch, es ließe sich sagen, dass die ganze Ökonomie seines Schreibens auf der Erzeugung diametral einander entgegengesetzter Pole beziehungsweise Bilder beruht.“⁶⁹ Ette, Literatur in Bewegung, S. 424. Ette zufolge liefert die bei Cohen spürbare Persistenz der aufgebauten Polaritäten den entscheidenden Hinweis für die Rubrizierung der Texte des Autors unter eine Ästhetik der Moderne, „die sich noch nicht in Richtung auf postmoderne Schreibstrategien radikalisiert hat.“ Ebd., S. 425.
4.2 Nächstenliebe
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4.2 Nächstenliebe 4.2.1 Das Urdelikt „Abel steh auf es muß neu gespielt werden täglich muß es neu gespielt werden täglich muß die Antwort noch vor uns sein.“⁷⁰
In seinen intratextuell echoartig aufeinander Bezug nehmenden Texten macht Albert Cohen die eng mit der jüdisch-christlichen Religion verschränkte Thematik der Nächstenliebe und den an diese Liebesform geknüpften Umgang mit dem Fremden zum Kernthema – eine inhaltliche Ausrichtung, die Cohens frühe Kurzprosa, wie gezeigt werden konnte, schon in prononcierter Weise angekündigt hatte. Es gilt zu zeigen, dass die in der vielgesichtigen Gestalt des Androgyns allegorisch kondensierte Grundpolarität des Menschen im Schreiben des Autors über die Nächstenliebe eine nicht minder komplexe Fortführung findet. Wenn in dem bisher Gesagten von einer Rückführung des Topos der Zweigeschlechtlichkeit an seine jüdischen Wurzeln ausgegangen wurde, so soll nachstehend, diesem hermeneutischen Faden weiter folgend, auch die für Cohens Schriftstellertum essenzielle Nächstenliebeproblematik vom geistigen Horizont des Judentums her reflektiert werden. Nachzuweisen ist, dass die altjüdische Lehre von der Nächstenliebe zum zentralen Bezugspunkt, ja zur „ersten Philosophie“⁷¹ für das stets ethisch mitbestimmte Schaffen des Autors und die darin ausgelotete Verhältnisbestimmung von Liebe und Selbstliebe wurde. Begeben wir uns einmal mehr zurück zu den Anfangserzählungen der Genesis, zu jenem in rätselhafte Finsternis gehüllten Menschheitsdrama, das in den als assoziativer Denkanstoß dem Kapitel vorangestellten Zeilen der jüdischen Lyrikerin Hilde Domin eine aufrüttelnde Aktualisierung erfährt. In ihrem 1953 verfassten Gedicht Abel steh auf wagt die mehrfach zu einer prekären Exilexistenz gezwungene Dichterin ein überaus kühnes Gedankenexperiment, indem sie die Aufhebung jener Anthropologie einklagt, die mit dem Brudermordbericht ein erstes Menschenleben forderte. Zu lesen ist Domins dem von Kain getöteten Abel geltenden Appell, er möge sich erheben und den von Blut getränkten Acker verlassen, als der ebenso glühende wie utopische Wunsch der Schreiberin nach
Domin, Hilde: Abel steh auf. Gedichte, Prosa, Theorie. Hrsg. von Gerhard Mahr. Stuttgart: Reclam 1979. S. 49. Goodman-Thau, Erbe, S. 49.
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Rückgängigmachung einer im Grunde doch irreversiblen Gewalttat mit fatalen Konsequenzen. „Es muss neu gespielt werden“ – unter der negativen Ägide Kains und Abels begehren neben Domin all jene Autorinnen und Autoren auf, die sich vor der beunruhigenden Kulisse vergangenen und gegenwärtigen Unheils mit dem biblischen Urdelikt literarisch auseinandersetzen.⁷² Wie so viele jüdische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die über den parabelartigen Plot sinnieren, um das Böse in der Welt wenn nicht zu erklären, so doch archetypisch zu benennen, passt auch Albert Cohen die beiden alttestamentlichen Figuren seiner Lehre vom Menschsein ein. Kain und Abel – zwei Brüder, deren ungleiche Geschicke auf paradoxe Weise ineinander verschlungen sind: Unter dem zivilisatorischen Erfolg des einen ruht der Leichnam des anderen. Als durch und durch zeitlos kategorisiert Elie Wiesel das Geschwisterpaar, was eine von Raum und Zeit losgelöste Aktivierung des biblischen Stoffs plausibel mache: „Leur conduite nous est familière; chacune de leurs impulsions annonce notre comportement dans des situations dites extrêmes. A la limite, ils nous confrontent comme un être à deux visages […]. Caïn et Abel: voilà toute l’humanité d’alors. Le choix est limité. Assassin ou victime: rien d’autre.“⁷³ Während im kontrastreichen Verlauf der Rezeptionsgeschichte die Opfer-Täter-Identität nicht immer eindeutig zu klären war,⁷⁴ gibt Albert Cohen dagegen allen Anlass zu glauben, er wolle über denkbare interpersonelle Konfigurationen und die hieran gebundene Frage der Schuld erst gar nicht spekulieren. Stattdessen ist sein Schreiben von der bei Wiesel zu findenden Gewissheit getragen, dass die beiden Brüder jene konträren Triebe personifizierten, die tief in jeder Menschenseele schlummerten: „[E]t chaque homme est un Abel, et un Caïn aussi“ (Ô vous ‐ 1048). Mit Christa Wolf teilt der Schriftsteller wiederum den Vorsatz, die ingeniöse Erfindungsgabe des Brudermörders Kain, Urahn der Kulturgeschichte, in ein subversives Licht zu rücken – grell gerichtet auf einen Planeten, der sich dank ausgeklügelster Nukleartechnik eines Tages selbst zugrunde richten wird:
Zur Rezeption der Kainsgeschichte im 20. Jahrhundert vgl. Oberhänsli-Widmer: „Zweifellos sind es die Kriege, Massaker und Genozide des vorigen Jahrhunderts, die dem Kain-Stoff zu einer einzigartigen Aktualität verholfen haben.“ Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 87. Wiesel, Célébration, S. 44. Für einen rezeptionsgeschichtlichen Abriss ist ebenfalls auf Oberhänsli-Widmer zu verweisen: Während in frühjüdischen und frühchristlichen Zeugnissen der Übeltäter Kain als der „Prototyp des Bösewichts in Ungnade fiel, brachten Spätantike und Mittelalter im Zuge einer zunehmend von Skepsis geleiteten Hinterfragung der Rolle Gottes in diesem Drama dem Mörder grundsätzlich mehr Verständnis entgegen. Diese gottkritische Tendenz verstärkt sich vom Anbeginn der Aufklärung bis hinein in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, während dann, in einer weiteren rezeptionsgeschichtlichen Wende, Kain und Abel sich ihrer uranfänglichen Rollen erneut zugewiesen sehen.“ Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 90.
4.2 Nächstenliebe
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Sans parler de leurs camps d’extermination de naguère, de leurs fours crématoires et de leurs continuelles guerres, je pense à leurs effrayantes usines nucléaires, diaboliques à déchets meurtriers dont ils ne savent pas et ne sauront pas comment se débarrasser. […] Oui, tôt ou tard, il y aura, il ne peut pas ne pas y avoir, des guerres nucléaires ou pires que nucléaires, et enfin une grande dernière. Et cette fois, les hommes disparaîtront à jamais, singes trop savants empoisonnés par les malices de leur science (C ‐ 1179).
Wo Albert Cohen seine Zeitgenossen zur Konfrontation mit dem urgeschichtlichen Fratrizid zwingt, um globale Missstände anzuprangern, ist er stets auch darauf aus, seinen Unmut über die christliche Nächstenliebe kundzutun: „Voyez-les en leurs guerres se tuer les uns les autres depuis des siècles, se tuer abondamment malgré leur loi d’amour du prochain, loi qui est d’ailleurs de ma race, inscrite en premier dans le Lévitique au chapitre dix-neuf, verset dix-huit […]“ (Ô vous ‐ 1048). Cohens Sozialkritik an der im Christentum zum Kerngebot erhobenen Nächstenliebe⁷⁵ ist, so die These, vom Judentum her verstehbar. Was dies konkret bedeutet, sei im Folgenden geschildert.
4.2.2 Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst – ein strittiges Modell Die vom Christentum gelehrte Nächstenliebe nimmt der jüdische Schriftsteller als weltfremde Hyperbel wahr, die den Menschen schlichtweg überfordere: „Comment aimer ces milliers ou millions de cet amour que tu as pour ceux que tu aimes en vérité, ta mère, ta femme, ton enfant, ton ami? […] Comment de cette sublime préférence de l’autre, […] comment d’un tel amour sincèrement aimer des inconnus ou des fugaces par milliers ou millions?“ (C ‐ 1185). Cohens Nein zu einem religiösen Postulat, das an seinem faktischen Nutzen kläglich scheitern müsse,⁷⁶ kommt der jüdischen Tradition sehr nahe. Es verweist, so darf vermutet werden, auf jene dem antiken Judentum entspringende und wirkungsgeschichtlich bis in die Gegenwart hinein weiterreflektierte Lehre, die das Kriterium der praktischen
„Im Neuen Testament kommt das Gebot der Nächstenliebe nicht weniger als neunmal vor, häufig an zentralen Stellen, einige Male mit dem Gebot der Gottesliebe zusammen. Seine Wichtigkeit im Neuen Testament verdankt das Liebesgebot allerdings nicht nur oder in erster Linie der großen Anzahl von Belegen, sondern ebenso sehr der Tatsache, daß es in ihm als Zentralforderung gekennzeichnet wird.“ Mathys, Hans-Peter: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18). Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag [u. a.] 1986. S. 159. Dieser für Albert Cohens Texte charakteristischen Denkfigur begegnen wir auch auf der Ebene der Figurenrede. So echauffiert sich Mangeclous: „Sache en effet que leur amour du prochain est un idéal, ce qui leur suffit!“ (V ‐ 971).
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Erfüllbarkeit⁷⁷ für unverzichtbar hielt, um im Kreis der Religionsgemeinschaft ein friedvolles Zusammenleben sicherzustellen. Wie stark diese religiöse Vorgabe noch im 20. Jahrhundert leitend war, zeigt das Beispiel Sigmund Freud, der in seiner sozialkritischen Schrift Das Unbehagen in der Kultur das Hauptgebot des Christentums als eine der „sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft“⁷⁸ Lügen straft: „Das Gebot ist undurchführbar; eine so großartige Inflation der Liebe kann nur deren Wert herabsetzen.“⁷⁹ Das ausschlaggebende Argument liegt für den Nächstenliebekritiker in der Frage des Verdienstes. Denn geliebt werden könne doch nur, wem ein solches Maß an Zuneigung aus dem einen oder anderen Grund auch in vollem Umfang zustehe: Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muß ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben.⁸⁰
Beeinflusst war das Denken des großen Psychoanalytikers ohne jeden Zweifel von jener im Verlauf des 19. Jahrhunderts sich verschärfenden Polemik, die den interreligiösen Streit über eine nachträglich durch das Christentum zum Hauptgebot erhobene Weisung neu entfachte: Während einerseits die Christen den Juden zum Vorwurf machten, den Wirkkreis der Nächstenliebe auf die eigenen Volksgenossen reduzieren zu wollen, lautete andererseits die unumwundene Kritik der Juden an die Christen, mit einem realitätsfernen Anspruch dem Menschen die Grenzen seines Handelns aufgezeigt zu haben.⁸¹ Von theologischer Seite aus erhärtet sich die von jüdischen Denkern verfochtene Praxisnähe des Gebots in dem Befund, dass dieses ursprünglich Teil eines umfangreichen Rechtskodexes war, der die
„The Old Testament shows above all a very practical, human approach; it sometimes makes ideal, but never superhuman demands.“ Ullendorff, Edward: Thought Categories in the Hebrew Bible. In: Studies in Rationalism, Judaism & Universalism in Memory of Leon Roth. London: Routledge & Kegan Paul 1966. S. 273 – 288, hier S. 278. Zitiert nach: Mathys, Liebe Deinen Nächsten, S. 5. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/Main: Fischer 1994. S. 73. Ebd., S. 106. Ebd., S. 73 f. Zu dieser im 19. Jahrhundert aufschwellenden interreligiösen Debatte vgl. Mathys, Liebe Deinen Nächsten, S. 30 f.
4.2 Nächstenliebe
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Einhaltung der im gesellschaftlichen Miteinander zu respektierenden Regeln juristisch fixierte: „Denn die Toragebote sind erfüllbare Gebote und als ein Toragebot unter anderen kann die Liebe geboten sein nur insoweit, als sie erfüllbar ist.“⁸² Mit der Aufnahme der in Lev 19,18 getroffenen Bestimmung in einen auf wechselseitigen Rechten und Pflichten basierenden gesetzlichen Rahmen sei bewiesen, dass sich der Adressatenkreis des Gebots auf die israelitischen Stammesgenossen und die in Israel lebenden Schutzbürger beschränke, ja notgedrungen beschränken müsse: „Das Gebot der Liebe ist daher nicht nur faktisch auf die Volksgenossen samt den ihnen eingegliederten Gerim beschränkt, sondern muß es mit juristischer Notwendigkeit sein, so daß innerhalb des von der atl. Offenbarung gesetzten Rahmens die Ausweitung dieses Gebotes auf alle Menschen nicht nur keinen Anhalt an diesem oder irgendeinem anderen Text hat, sondern von den Prämissen her unmöglich ist.“⁸³ Ausdrücklich betont Nissen die sozialen Verpflichtungen eines jeden Israeliten gegenüber den in den altjüdischen Rechtsverband eingebundenen Gerim, jenen Fremden also, über deren gesellschaftlichen Status der dem Wortlaut von Lev 19,18 ergänzend heranzuziehende Zusatz in Lev 19,34 Auskunft gebe:⁸⁴ „Der Fremde, der sich bei euch aufhält soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“⁸⁵ Aus dieser das Liebesgebot semantisch komplettierenden Bestimmung gehe der eigentliche Sinngehalt eines juristisch abgesicherten Nächstenliebebegriffs hervor, der den Menschen als ethische Richtschnur diene: Den Nächsten „lieben“ bedeutet demzufolge allgemein offenbar: innerhalb der bestehenden Gemeinschaft, als vorbehaltloses Ergreifen und Realisieren der Zusammengehörigkeit, für das Glied der Gemeinschaft zu sorgen, sich ihm öffnen und zuwenden und darin das für ihn jeweils Richtige und Nötige tun, statt sich ihm zu verschließen, ihm Böses zuzufügen und gegen ihn feindselige Gesinnungen, die ihn bedrohen, zu hegen.⁸⁶
Nissen, Andreas: Gott und der Nächste im Antiken Judentum. Untersuchungen zum Doppelgebot der Liebe. Tübingen: J.C.B. Mohr 1974. S. 303. Ebd., S. 286. Zum eingeschränkten Geltungsbereich des altjüdischen Nächstenliebegebots vgl. auch Mathys, Liebe Deinen Nächsten, S. 29 u. 39. Grundsätzlich stimmt Mathys der von Nissen vertretenen These zu, gibt dabei aber zu bedenken, dass man sich in Lev 19,18 bewusst für eine im Hebräischen semantisch unpräzise Lexikalisierung des „Nächsten“ entschieden habe. Denn nur mithilfe eines definitorisch unscharfen Begriffs habe sich die Bestimmung zu einem „ethischen Spitzensatz des Judentums, der christlichen Gemeinde und darüber hinaus“ wandeln können. Ebd., S. 39. Vgl. Nissen, Gott, S. 283 f. Vgl. auch Dt 10,19: „[A]uch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.“ Nissen, Gott, S. 283.
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4 Jüdische Bilder der Liebe im Werk Albert Cohens
Derart ausgelegt, so Nissen weiter, lege der levitische Wortlaut die entscheidenden Weichen für eine fremdenfreundliche Mentalität, die, anstatt sich in passiver Akzeptanz zu erschöpfen, von „reger Anteilnahme“ und „kräftigem Interesse“⁸⁷ motiviert sei. Nissens Gedankengang macht deutlich erkennbar, dass der biblische Gesetzestext damit implizit die Voraussetzungen für eine Theorie der Toleranz schafft, wie beispielsweise Lévinas sie unter dezidiert jüdischen Vorzeichen philosophisch verarbeitete.⁸⁸ Von dieser Lesart der levitischen Bestimmung ist für Nissen der Weg nicht weit zur Kritik an der im Deutschen gebräuchlichen Wendung „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ – eine Übertragung aus dem Hebräischen, die er als falsch zurückweist, da sie mit dem Quellentext weder auf der Ebene der Grammatik noch auf der des Inhalts kompatibel sei. Stattdessen plädiert der Verfasser für die häufig von jüdischer Seite propagierte Übersetzung „denn er ist wie Du“, teile der Israelit doch insofern und nur insofern das Schicksal mit dem Fremden, als er selbst einstmals Fremder in Ägypten war.⁸⁹ Kein Zweifel: Hier wird das Fremdsein zu einer Frage der vormals gelebten und nunmehr erinnerten Praxis. Gerade eine geografisch instabile, seit Urgedenken konstant von Migrationsbewegungen durchzogene Geschichte wie diejenige Israels dränge zu einem Verständnis für die Situation des im Lande lebenden Fremden, so Ebachs Fazit: „Die Geschichte Israels beginnt in der Selbstreflexion mit der Erfahrung des eigenen Fremdseins.“⁹⁰ Obschon das die Aussageintention der levitischen Liebesweisung erschwerende Übersetzungsproblem bis dato nicht vollständig bereinigt werden konnte,⁹¹ ist wie Nissen auch Schüle darum zu tun, den ethischen Rang eines „an theologischer und kultureller Relevanz kaum zu überbietenden“⁹²
Ebd., S. 283. Über den Zentralbegriff der Toleranz bei Lévinas schreibt Ephraim Meir: „For Levinas, Judaism is the religion where tolerance as the ability to carry the Other and to take care of him/her, is the essential characteristic.“ Meir, Ephraim: Judaism as Tolerance in Levinas’ Thinking. In: Wie ein Einheimischer soll der Fremdling bei euch sein – und bringe ihm Liebe entgegen wie dir selbst…(3. Mose 19,34). Die Dritte Joseph Carlebach-Konferenz. Toleranz im Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Hrsg. von Miriam Gillis-Carlebach u. Barbara Vogel. Hamburg: Dölling und Galitz 1997. S. 160 – 166, hier S. 165. Vgl. Nissen, Gott, S. 283 f. Mathys hält die von Nissen vorgeschlagene Übersetzungskorrektur dagegen für fragwürdig. Als bloßes Desiderat jüdischer Exegese ziele sie ausschließlich darauf ab, „daß das Gebot der Nächstenliebe erfüllbar sein muß.“ Mathys, Liebe Deinen Nächsten, S. 46. Ebach, Fremde, S. 288. „Ob allerdings die griechische und die hebräische Version dasselbe sagen wollen, war in diesem Jahrhundert Gegenstand einer Kontroverse zwischen jüdischen und christlichen Auslegern, die inzwischen eher versandet als befriedigend beigelegt ist.“ Schüle, Andreas: Denn er ist wie Du. Zu Übersetzung und Verständnis des alttestamentlichen Liebesgebots Lev 19,18. In: Zeitschrift für alttestamentliche Wissenschaft 113. Berlin: De Gruyter 2001. S. 515 – 534, hier S. 515. Ebd., S. 515.
4.2 Nächstenliebe
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Gebots herauszustellen. Zwar werde damit der Disput um die zu präferierende Wendung und die an den Wortlaut gekoppelte Frage des Geltungsbereichs nicht gegenstandlos,⁹³ wohl aber relativierten sich diese Unstimmigkeiten zu Gunsten einer jenseits der adäquaten Versprachlichung liegenden höheren Wahrheit: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ oder „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie Du“ –, Liebe antwortet auf die Frage, wie ein Mensch dem anderen zum Nächsten wird. Dabei wird mehr verlangt als nur wechselseitige Duldung im Sinne von „leben und leben lassen“. Durch Liebe wird der Mit-Mensch zum Nächsten, eben weil Liebe bedeutet, den anderen Menschen tatsächlich zu einem wesentlichen Teil der eigenen Welt werden zu lassen.⁹⁴
Nissens Beispiel folgend bejaht auch Schüle die Übersetzungsvariante „denn er ist wie Du“, begründet dies aber anders als sein Vorredner damit, dass die in Lev 19 zusammengestellten Grundsätze eine klar erkennbare Bewusstseinsschärfung des Israeliten für die unter den Mitgliedern eines Rechtsverbands herrschenden sozialen Ungleichheiten bezweckten. Die Toleranzbotschaft des Textes sei denn auch offenkundig, kreise inhaltlich der gesamte Abschnitt doch um die „Thematik von Ungleichheit unter Gleichen, um die teils offensichtlichen, teils subtil verdeckten sozialen Gefällelagen und hierarchischen Arrangements“⁹⁵ unter den israelitischen Stammesgenossen. Eingedenk des in sozialer Hinsicht bemerkenswerten Umstands, dass die levitischen Bestimmungen das Individuum für die „Spannungs- und Gefällelagen innerhalb ein und desselben Sozialverbandes“⁹⁶ sensibilisierten, reiche die Wirkabsicht des Textes tiefer, als es der juristische Kontext auf den ersten Blick vermuten lasse: „Das Liebesgebot enthält also eine Vorstellung von Gleichheit, die gerade nicht durch nationale, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit abgedeckt wird. […] Es geht demnach um eine sozialanthropologische Einsicht grundlegender Art.“⁹⁷ Aus diesem frühen, gesetzlich zementierten Egalitätsdiskurs spreche also eine Form von Gleichheit, die nicht nach faktisch, religiös oder ethnisch verifizierbaren Eigenschaften definiert werden könne. Vielmehr gehöre zum festen Merkmalskatalog dieser Beziehungsform die
„Es scheint, dass in religiösen Ethiken eine gewisse Spannung herrscht zwischen dem größtmöglichen Geltungsbereich (dem der Moral) und einer engeren Auslegung. Man findet diese Spannung in den verschiedenen Interpretationen des berühmten Gebots ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘ (Levitikus 19:18).“ Margalit, Avishai: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt/Main: Fischer 2000. S. 27. Schüle, Menschsein, S. 609. Ders., Denn er ist wie Du, S. 528. Ebd., S. 529. Ebd.
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grundsätzliche Einsicht in die Bedürftigkeit aller Menschen. Schüles Fazit bringt dies auf den Punkt: Liebe, so lässt sich zusammenfassend formulieren, ist die grundlegende Form jedweden sozialen Lebens, weil sie auf der elementaren anthropologischen Bestimmung von Gleichheit als einer Gleich-Bedürftigkeit aufruht. Insofern stützen und interpretieren sich die beiden syntaktischen Einheiten des Liebesgebots – „Liebe deinen Nächsten“, „er ist wie du“ – wechselseitig und von daher rechtfertigt sich in der Übersetzung das kausale Interpretament, das im Titel dieses Beitrags genannt ist: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“⁹⁸
Nur an vorderster juristischer Front sei überhaupt denkbar, die Liebe in Gestalt eines Imperativs, dessen polysemische Lesung „auf die Regulierung sehr unterschiedlicher zwischenmenschlicher Verhältnisse übertragen werden kann“⁹⁹, an das Individuum heranzutragen. Fassen wir die aus theologischer Perspektive angeführten Kernaussagen zur alttestamentlichen Nächstenliebe zusammen: Erstens ist die gebotene Liebe auf ihre tatsächliche Realisierbarkeit hin angelegt. Sie kennzeichnet sich zweitens dadurch, dass sie nicht in ein gleichgültiges Tolerieren des Nächsten einwilligt, sondern den anderen – hierin dem etymologischen Wortsinn folgend – aktiv stützt und wertschätzt. Diese Erkenntnis hat drittens zur Folge, dass der Spender dieser Liebe im Nächsten einen ethisch Gleichrangigen erkennt – einen in gleichem Maße wie das Ich Bedürftigen, der auf dieselbe Fürsorge angewiesen ist wie der Liebende selbst. Die der jüdischen Tradition nach priorisierte Übersetzung „denn er ist wie Du“ trägt dieser zwischenmenschlichen Gleichheit lexikalisch Rechnung. Viertens bezieht der Aufruf zur wechselseitigen Identifikation seine Berechtigung aus dem für Israel existenziellen Eigenerleben des Fremdseins in Ägypten. Da die in Levitikus angemahnte Liebe Gegenstand einer territorialen Rechtssprechung ist, sind fünftens und letztens Liebe und Recht untrennbar aneinander gebunden. Damit sind jene zentralen Parameter des altjüdischen Liebesdiskurses benannt, die in Albert Cohens Schreiben, so die These, spürbar nachwirken und die Texte des Autors in eine ethische Kontinuität mit dem traditionellen Judentum stellen. Für das erste Attribut, die Praktikabilität der Liebe, wurde dies bereits gezeigt.Von den verbleibenden vier soll das Folgende handeln.
Ebd., S. 531. Ebd. Für eine diese semantische Vielfalt respektierende Deutung des levitischen Liebesbegriffs müsse sich der Leser von jener „Einschränkung auf Verhältnisse intimer Zweisamkeit“ lösen, „die wenigstens in westlichen Kulturkreisen das hierfür maßgebliche Paradigma abgeben.“ Ebd., S. 530.
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4.2.3 Albert Cohens Lehre vom Nächsten 4.2.3.1 Erzählte Toleranz Das bei Nissen dem altjüdischen Nächstenliebebegriff zugrunde gelegte Toleranzverständnis führt uns zu einer Frage, mit der sich der in Frankfurt lehrende Philosoph Rainer Forst intensiv beschäftigt hat: Von welcher Toleranz sprechen wir, wenn von Toleranz die Rede ist? Forst differenziert vier voneinander zu unterscheidende Interpretationen ein und desselben Begriffs: die Erlaubnis-Konzeption, die Koexistenz-Konzeption, die Respekt-Konzeption und die Wertschätzungs-Konzeption,¹⁰⁰ wobei die letztgenannte Deuterichtung jene sei, die dem Tolerierenden „die anspruchsvollste Form wechselseitiger Anerkennung“¹⁰¹ abverlange. Rein begrifflich schon legen die von Forst vergleichend einander gegenübergestellten Komposita nahe, welch breites Spektrum an potenziellen Modi des Zusammenlebens über diesen Terminus aufgefächert werden kann. Unter der vierten Konzeption – jener, die der bei Nissen vorgestellten Denkrichtung am nächsten kommt – begreift Forst ein Toleranzmodell, das nicht lediglich darauf abziele, „die Mitglieder anderer, kultureller oder religiöser Gemeinschaften als rechtlich-politisch Gleiche zu respektieren, sondern auch ihre Überzeugungen und Praktiken als ethisch wertvoll zu schätzen.“¹⁰² Unüberhörbar klingt in Forsts Definition das von Nissen mit der levitischen Nächstenliebe assoziierte Stichwort eines „kräftigen Interesses“ an, betont sie doch deutlich den Umschwung von einer verhalten-pragmatisch artikulierten Form des Respekts zu einer am Nächsten regen Anteil nehmenden Wertschätzung. Zu allen Zeiten wurde und wird Toleranz von der Literatur ästhetisch aufbereitet. Mit den Herausgebern der diesen Toleranzentwürfen nachgehenden Sammelpublikation Religiöse Toleranz im Spiegel der Literatur ¹⁰³ setzt auch die vorliegende Arbeit bei der These an, dass die Literatur „bei den großen kulturellen Leitvorstellungen der Menschheit ein gewichtiges Wort mitzureden“¹⁰⁴ hat. Der erzählmoralische Bezug zur Toleranz ist evident, setzt sich doch gerade die Literatur – und Albert Cohens Schaffen soll dies ausschnitthaft belegen – in vielerlei Konfigurationen mit dem unscharfen und daher immer wieder neu auszutarie-
Vgl. Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. S. 42– 48. Ebd., S. 49. Ebd., S. 48. Springer, Bernd F.W. u. Alexander Fidora (Hrsg.): Religiöse Toleranz im Spiegel der Literatur. Eine Idee und ihre ästhetische Gestaltung. Berlin, Zürich: LIT 2009. Ebd., S. 8.
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renden Bedeutungsgehalt eines Konzepts auseinander, das es angesichts des in ihm latent mitschwingenden Spannungsfelds von Identität und Differenz in seiner ganzen Missverständlichkeit zu begreifen gilt. In Cohens Autobiografie Ô vous, frères humains und der darin verschriftlichten Erinnerung an einen Toleranzverstoß wird diese Dialektik auf das Verhältnis des Jungen zur Sprache des Gastlandes übertragen.Vielerorts zu Recht als das im Werk des Schriftstellers symbolisch ausgestaltete Urszenario des Schreibens paraphrasiert,¹⁰⁵ zeigt der Text entlang des ruhelosen Umherirrens des Erzähler-Ich auf, wie der Knabe jenen gegen ihn erhobenen Vorwürfen, die sich auf den mit antisemitischen Graffiti besudelten Hauswänden bedrohlich duplizieren, eine zu diesem Zeitpunkt noch unsichtbare Fantasiesprache – „En pensée, l’index traçant les mots sur de l’air […]“ (Ô vous ‐ 1088) – eigenschöpferisch entgegensetzt: eine Gegenstimme der Liebe und Toleranz, deren Botschaft über die als erdrückend empfundene Realität triumphiert; eine Gegenstimme der Versöhnung,¹⁰⁶ die mit der ihr ureigenen Expressivität gegen jene Tilgung der Differenz zuwiderhandeln will, für die der Straßenhändler mit dem Verkauf eines als vorbehaltlos wirkungsvoll deklarierten Fleckenmittels allegorisch wirbt. Diesen in und mit der Sprache eigenmächtig erschlossenen geistigen Freiraum, dessen Entstehung der Autobiograf retrospektiv auf das an seinem zehnten Geburtstag durchlittene Exklusionserlebnis rückdatiert,¹⁰⁷ konnte sich Albert Cohen mit einem konventionelle Sprachmuster impulsiv gegen den Strich bürstenden Œuvre zweifellos ein Schriftstellerleben lang bewahren. Und die Inbrunst, mit welcher der Künstler den in einer frühen Version schon 1945 erstmalig niedergeschriebenen Text viele Jahrzehnte später ein zweites Mal aufgreift und neu arrangiert,¹⁰⁸ um die darin anekdotisch gebündelte „archéologie de l’antisémitisme européen“¹⁰⁹ mit rückhaltloser Klarheit freizulegen, bezeugt die nachdenklich stimmende Zeitresistenz eines Vorfalls, der bis zum heutigen Tag nichts an Brisanz verloren hat: „[S]i les camelots ont disparu, on sait en revanche que l’injure antisémite est de retour; que
Vgl. stellvertretend für viele: Sadkowski, Piotr: ‚De l’index traçant des mots sur de l’air‘. La thématisation de l’écriture de la langue dans l’autofiction migrante d’Albert Cohen. In: Retour, S. 43 – 55, hier S. 47 f. Eine Aussöhnung, die Zard zu Recht in Übereinstimmung bringt mit jener, die der an der Erstversion des Kindheitstextes unter dem unmittelbaren Eindruck des Naziterrors Schreibende auch mit dem in den Paroles juives noch befehdeten Christus vollzieht: „[D]ans l’après-guerre, la réconciliation de Cohen avec Jésus s’accomplit définitivement.“ Zard, Fiction, S. 40. „D’où le besoin de créer une œuvre linguistiquement hybride, qui simultanément s’approprie, illustre et malmène la langue française.“ Sadkowski, De l’index, S. 48. Einen Überblick über die dem Ursprungsbericht nachträglich zugefügten Modifikationen verschafft Stolz: Place et rôle de la rhétorique dans ‚Ô vous, frères humains‘. In: Retour, S. 85 – 116. Zard, Fiction, S. 39.
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la société multiculturelle n’est pas toujours ce havre de tolérance un moment espéré, mais aussi celle où, pour citer les termes récents du rapport Obin (Inspection générale de l’Éducation nationale, juin 2004), ‚les enfants juifs, et ils sont les seuls dans ce cas, ne peuvent plus être scolarisés dans n’importe quel endroit.‘“¹¹⁰ Obschon das Erscheinungsdatum der Ursprungsversion einen klaren historischen Stempel trägt, ist für den Schriftsteller im Jahr 1972 die Quintessenz dieselbe, ja mehr noch: Tiefer gar als in den Vorgängertext – Thau hat darauf hingewiesen¹¹¹ – dringt hier das Stigma der Intoleranz in die Rekonstruktion einer Geschichte ein, die zyklisch sich zu repetieren droht. Doch erst ebendiese Tücke der Historie macht erklärbar, weshalb der Autor durch die langen Jahrzehnte seines Schaffens hindurch es als seine stete Pflicht sah, gegen die seit jeher tadellos funktionierenden Ausgrenzungsmechanismen kontinuierlich anzuschreiben, und dies in Narrativen, die sich nach den bei Forst differenzierten Graden an Toleranz messen lassen. In Solals Ringen um gesellschaftliche Akzeptanz wird die seit der Emanzipation der französischen Juden als assimilationsförderlich geltende „politique de l’invisible“¹¹² weiter verhandelt – eine Politik, die, um nochmals mit Forst zu sprechen, den Fremdling billigend in Kauf nimmt, „solange das Anderssein der Minderheit sich in Grenzen hält und sozusagen eine ‚Privatsacheʻ bleibt.“¹¹³ Hier verschiebt sich das etymologisch im Begriff der Toleranz noch angelegte, in der weiteren Begriffsgeschichte auf signifikante Weise zurückgedrängte Moment des Agierens hin zu einer ebenso passiven wie vorbehaltlichen Duldung: Das Verbum „tolerare“ hieß ursprünglich „halten“ im Doppelsinn von „aushalten“, „erdulden“, und „unterhalten“, „unterstützen“, „ernähren“. Es wurde also zwischen zwei Grundformen der Toleranz unterschieden: der aktiven des Ernährens und der eher passivischen des Ertragens. Im Deutschen hat der Begriff „Toleranz“ erst spät das ältere Wort „Duldung“ abgelöst. Der Sache nach ist damit nichts Neues gesagt: „Dulden“ geht über die mittelhochdeutsche Form „doln“ auf das lateinische „tollere“ zurück. In der Bedeutungsgeschichte wurde freilich die Last, das Unangenehme des Tragens, besonders hervorgekehrt, während
Ders., Éditorial. In: Retour, S. 9 – 12, hier S. 11 f. „Si l’on compare les deux versions du discours du camelot, on constate en effet, qu’en 1972 Cohen procède à une certaine recontextualisation historique. Par deux fois le camelot fait référence à l’Affaire [Dreyfus]. Le discours du camelot est ainsi plus clairement représentatif de son époque: en même temps qu’il annonce la suite, les horreurs nazies, il dramatise le passé, les attaques de l’époque de l’Affaire.“ Thau, Norman David: Le camelot et la mère. In:Visages, S. 133 – 145, hier S. 139. Finkielkraut, Le juif imaginaire, S. 154. Forst, Toleranz, S. 43.
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die aktivische Bedeutung des „Ernährens“ aus dem Wortfeld der Duldung völlig verschwand, eine entlarvende Bedeutungsverschiebung!¹¹⁴
Diese Gestimmtheit einer allein schon begriffsgeschichtlich festgeschriebenen bloßen Duldung¹¹⁵ nimmt unter Cohens Feder in der Figur des M. de Maussane Gestalt an. Dem im Frankreich mit einer politischen Karriere liebäugelnden jüdischen Außenseiter ruft Audes Vater unverhohlen ins Gedächtnis: „Si c’est là votre désir, il n’y a qu’une attitude possible. Pas d’ambiguïté. Français, uniquement français et tout ce que cela comporte. […] aimez vos parents, mais de loin, au nom du ciel, de loin!“ (S ‐ 275). Ins Sinnbildhafte überträgt Cohen dieses semantisch radikal verkürzte Toleranzverständnis innerhalb einer jener Raumchoreographien, die in den Texten des Autors den Topos der jüdischen Ortlosigkeit im Kleinen nachbilden. Mit dem auf einem Cocktailempfang durch das Gedränge der beflissentlich konversierenden Menge hindurch ruhelos den Saal querenden Jacob Finkelstein – „zéro social“ (BdS ‐ 274) – moduliert Cohen einmal mehr den in seinem Schreiben als Leitfigur hervortretenden Typus des ahasverischen Juden: La tête baissée, comme alourdie par son nez, il traversait en hâte et d’un bout à l’autre l’immense salon, heurtant parfois des invités et sans nul résultat s’excusant. Faisant ainsi de foudroyantes diagonales, il camouflait son isolement en feignant d’avoir à rejoindre d’urgence une connaissance qui l’attendait là-bas, à l’autre extrémité. […] Alors, une fois de plus, le docteur en sciences sociales et rapide Juif errant se mettait en marche, reprenait en terre d’exil un de ses inutiles voyages et se dirigeait avec la même hâte vers le buffet où l’attendait un sandwich consolateur, son seul contact social et son seul droit en ce cocktail (BdS ‐ 274).
Mit gesellschaftlicher Akzeptanz oder gar gesellschaftlicher Achtung habe dieser bei Cohen in die vielsagende Kulturenvielfalt eines mit Menschen unterschiedlichster Herkünfte besetzten Lebensraums im Miniaturformat¹¹⁶ überführte Toleranzbegriff fürwahr nichts gemein, so Ette in seiner aus naheliegendem Grund raum- und bewegungsmetaphorisch gedachten Ausdeutung der Szene: „Es ist das Grünberg, Wolfgang: Toleranz und Parteilichkeit. Religiöse Toleranz in Krisenzeiten. In: Gillis-Carlebach, Vogel (Hrsg.), Wie ein Einheimischer, S. 171– 184, hier S. 171. Ein semantisch verwässertes Begriffsverständnis, wie es schon von Goethe beklagt wurde: „Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen. In: Werke 6. Frankfurt/Main: Insel 1981, S. 507. Zitiert nach: Forst, Toleranz, S. 14. Ein kosmopolitischer Mikrokosmos, der, hier wie anderswo, mit dem der exzentrischen Nachtschwärmer der Projections deckungsgleich zu sein scheint: „Le premier délégué de Suède s’inclinait tristement, haute grue mécanique devant lady Cheyne qui buvait immatériellement une tasse de thé puis dénouait avec une aisance dégringandée ses longs bras élastiques et ocres“ (BdS ‐ 115).
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multikulturelle Raummodell einer von Menschen aller Länder und Kontinente ausgeübten Toleranz ohne Integration und ohne Anerkennung kultureller Differenz. […] Seine [Cohens] nur kurz beleuchtete Romanfigur Jacob Finkelstein, […] irrt auf dem glatten Parkett der Völkergemeinschaft als ein juif errant umher, dem in dieser Weltgesellschaft en miniature kein Ort, sondern nur eine Bewegung eigen ist.“¹¹⁷ Welche alternativen Beschreibungsmodelle wenn nicht die einer „Weltgesellschaft en miniature“ erfüllten ihre Zwecke besser, um Forsts „ErlaubnisKonzeption“ der Toleranz, die Schauplätze auf dem gesamten Globus umfasst, auf ästhetisch konzise Weise in die Mangel zu nehmen? Nun gehört es, wie noch des Öfteren zu betonen sein wird, zu den herausragendsten Merkmalen des Cohenschen Schreibens, das persönliche Schicksal des Juden stets mit einer überindividuellen Sinngebung zu bedenken. Diesen um die außerliterarische Wirklichkeit erweiterten Erzählradius legt der Erzähler auch dem an jenem Nachmittag seine Türen öffnenden „Cocktail Benedetti“ an, indem er die darin scharf kritisierte Soziabilität auf eine diese Kleinstgesellschaft überragende erste Person Plural hin öffnet: „Chacun de nous a ainsi sa petite monture sociale qu’il chevauche dès qu’il peut, sa petite couronne rédemptrice qu’il sort le plus vite possible“ (BdS ‐ 273). Eine von der exilischen Präsenz des Juden abrückende Variante des Außenseitermotivs gestaltet Cohen ein weiteres Mal innerhalb jener Institution, die „in der Forschungsliteratur meistens als kurze Episode misslungener globaler Friedenssicherung interpretiert wird.“¹¹⁸ In anverwandelter Erscheinungsform wird diese Randexistenz auch dem im Foyer des Völkerbunds nach Aufnahme in die hohen Sphären der Diplomatie lechzenden zweitrangigen Funktionär Adrien Deume zugewiesen, wobei in der französischen Lokalitätsbezeichnung „salle des pas perdus“ die Erfolglosigkeit dieses bei Cohen wieder einmal räumlich typisierten Bestrebens schon dem Namen nach verwirklicht ist: „Réfugié à l’autre bout de la salle, debout contre le mur et mains derrière le dos, humble et mélancolique, attendant une occasion de capture, Adrien Deume contemplait les allées et venues politiciennes, […] amoureux et mendiant, infime et dédaigné, humant en sa basse station les relents d’une vie puissante dont il n’était pas“ (BdS ‐ 118). In beiden Textfragmenten schildert der Roman die erlebte Marginalisierung vermittels einer expressiven Körpersprache aus: hier der tief gesenkte Blick des rastlosen Schrittes den Raum durchquerenden Juden, dort der vor Unbeholfenheit an die Wand gepresste Rücken des gemiedenen Funktionärs. Beide Außenseitererfahrungen
Ette, ÜberLebenswissen, S. 262. Herren, Madeleine: Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. S. 55.
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kommen im Schreiben des Schriftstellers unter einem gemeinsamen ethischen Nenner zur Deckung. Mit diesen die aktive Toleranzkomponente der Wertschätzungs-Konzeption konterkarierenden Episoden ist zugleich die Brücke geschlagen zu einem weiteren Kritikpunkt der Cohenschen Gesellschaftsschelte, die das ausbleibende „kräftige Interesse“ des internationalen Beamtenapparats mit dem Moralempfinden der Genfer Bourgeoisie schonungslos in Einklang bringt. Innerhalb dieser gut situierten Gesellschaftsschicht enthüllt sich eine gänzlich neue Perzeption jüdischchristlicher Barmherzigkeit – eine, die dem eigenen Wohlstand keinerlei Schwund abverlangt: „[U]ne charité qui n’a jamais ôté une roue à une automobile de riche“ (C ‐ 1181). Diese Sinnenstellung einer Tugend ist bei Cohen gekoppelt an die Karikierung eines Barmherzigseins, das sich in purer Egozentrik erschöpft – ein Movens, das die Erzählerstimme in der Darstellung der von den betuchten Damen mit sichtlich ichbezogenem Vergnügen organisierten Wohltätigkeitsgalas ironisierend auskostet: „Mrs. Forbes s’enthousiasma, dit qu’elle adorait les bals de charité, enfin tout ce qui était philanthropie, altruisme, se pencher sur la misère. […] Elle se voyait déjà présentée à l’Altesse Royale“ (BdS ‐ 742). In dieser Rebellion gegen falschen Altruismus geht Solal dem Erzähler voraus: „Mais je ne supporte pas le masque d’amour. Il faut se lancer avec folie dans l’amour. Ou bien oser dire: ‚Moi d’abordʻ!“ (S ‐ 183 f.). Gegenbildlich kehrt das Motiv der Barmherzigkeit in der Figur des selbstlosen Missionarsarztes Agrippa d’Aubigné wieder. Über ihren Onkel befindet Ariane: „C’est un vrai chrétien, une sorte de saint, si plein de bonne volonté, si prêt à aimer et à comprendre, à être l’autre, ayant détruit tout amour de soi, préférant autrui à lui-même“ (BdS ‐ 555).
4.2.3.2 Die Macht der Worte Es ist bezeichnend, dass Albert Cohens zwischen Erzähler- und Figurenrede alternierende Sozialkritik an jenem gefährdeten Ausgangspunkt ansetzt, der eklatante Toleranzverstöße allererst hörbar macht: Gemeint ist die Sprache, jenes schon im Schöpfungsbericht hochgradig ambivalent besetzte Organ, das zu den bei Cohen in unterschiedlichen zwischenmenschlichen Konstellationen nacherzählten Konfliktmodi des Zusammenlebens maßgeblich beiträgt. Indem der Schriftsteller das gesprochene Wort auf seine Rolle bei der Entstehung solcher Konflikte hin befragt, rekurriert Cohen implizit auf die in Lévinas’ Alteritätsphilosophie zirkulierende Vorstellung von Sprache als wohl effizientestem Instrument der Gewaltprävention: „Le fait banal de la conversation quitte, par un côté, l’ordre de la violence. Ce fait banal est la merveille des merveilles. Parler, c’est en même temps que connaître autrui se faire connaître à lui. Autrui n’est pas seulement connu, il est salué. Il n’est pas seulement nommé, mais aussi invoqué. Pour
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le dire en termes de grammaire, autrui n’apparaît pas au nominatif, mais au vocatif.“¹¹⁹ Wie stark das bei Lévinas entwickelte Sprachverständnis wiederum auf dem der Hebräischen Bibel fußt, führt die bereits als Urparadigma zwischenmenschlichen Versagens in den Blick genommene Brudermorderzählung vor. Wie keine andere biblische Erzählung stoße, so Wiesel, die von psychologisierenden Feinheiten zur Gänze absehende Schilderung des ersten Fratrizids beim Leser auf blankes Entsetzen. Ja, der Verfasser geht gar soweit, die blutrünstige Erzählung als exegetischen Sonderfall auszuweisen, schreckten doch selbst die auslegefreudigsten Rabbiner vor einem erklärenden Wort zurück.¹²⁰ Wiesel aber bricht das Schweigen und legt in seiner eigenen Deutung der Parabel den Akzent auf das Versäumnis einer Aussprache, die der zwischen den Brüdern schwelenden Zwietracht hätte entgegensteuern können: „Si Caïn avait choisi de témoigner plutôt que de verser le sang, son destin aurait été notre exemple et notre idéal, et non l’image de notre malédiction.“¹²¹ Dieses Verdikt trifft dabei nicht nur den Brudermörder selbst, sondern auch – und hieran wird bei Wiesel das ganze tragische Ausmaß der Kommunikationsproblematik erkennbar – das spätere Opfer Abel: „Et Abel?“, so fragt der Autor mit vorwurfsvoller Stimme. „Rien. Abel ne bronche pas. Il ne fait rien pour consoler son frère, ni rien pour le dérider, l’apaiser. Lui qui est responsable de l’abattement de Caïn, il ne fait rien pour l’aider. Il ne regrette rien, ne dit rien. Il est tout bonnement absent, il est là sans être là.“¹²² Da der buchstäblich in „Ver-antwortung“ gezogene Abel seiner brüderlichen Pflicht, auf Kains Niedergeschlagenheit zu reagieren nicht nachkomme, verlangt Wiesels Interpretation der Erzählung Abel eine große Mitschuld ab. Dieser auch für Schüle fest im Menschenbild der Genesis verankerten „Rhetorik des Fragens und Antwortens“¹²³ seien beide Brüder gleichermaßen ausgewichen. Die radikale Konsequenz aus dem Versagen der Sprache aber zieht in der Urgeschichte nicht erst die Kainsepisode, sondern bereits der die „Spirale von Gewalt und Vertreibung“¹²⁴ in Bewegung setzende Paradiesbericht. Denn schon in der Gestalt der intriganten Schlange, der es mit bloßen Worten glückt, Eva zur Sünde zu verleiten, erweist sich die Zunge als risikoreiches Werkzeug: „Es besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass die Zunge die gefährlichste aller Waffen ist, denn keine Waffe würde ein-
Lévinas, Difficile liberté, S. 19 f. Vgl. Wiesel, Célébration, S. 50. Ebd., S. 62. Ebd., S. 56. „Der Mensch muss antworten, was ihn gegenüber Gott und in der Konsequenz auch gegenüber seinen Mitmenschen neu positioniert.“ Schüle, Menschsein, S. 602. Ette, Konvivenz, S. 12.
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gesetzt, wenn nicht die Zunge zuvor einen Anlass dazu gäbe.“¹²⁵ Unter dem Eindruck dieser negativen Spracherfahrung stellt sich die Paradieserzählung als ein Drama der zwischen allen Gesprächspartnern grundlegend gestörten Kommunikation dar: „Nun ist nichts mehr so, wie es vorher war, denn Schuldzuweisungen und Versuche, sich der Verantwortung zu entziehen, beherrschen nun das Gespräch.“¹²⁶ Mit Jürgen Trabant, der in seiner Historische[n] Anthropologie der Sprache „vier linguistische Episoden der Bibel“¹²⁷ benennt, zieht sich diese für das Zusammenleben nachteilige Entwicklung in der Genesis ungestört fort: „Das Miteinandersprechen ist im Alten Testament deutlich negativ konnotiert: Es führt zweimal zu Katastrophen: einmal zur Austreibung aus dem Paradies und zum anderen zur Verwirrung der Sprache nach dem Turmbau zu Babel.“¹²⁸ Gegen diese fatalen Geschehnisse stemme sich, so Goodman-Thau, der diesem Scheitern an der Sprache dem Sinn nach entgegengesetzte Bundesschluss am Sinai mit seiner uneingeschränkt positiven Sprachbotschaft: „Die Offenbarung Gottes auf dem Berg Sinai als religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung mit Sprache schlechthin, die in der Begegnung Gottes mit dem ganzen Volk Israel in die geschichtliche Zeit eingegangen ist.“¹²⁹ Es ist ohne jeden Zweifel diese am Sinai in humanisierender Absicht vollzogene „Erfahrung mit Sprache schlechthin“, um die Albert Cohens Werk insistierend seine Kreise zieht – eine thematische Obsession, die selbst für einen jüdischen Künstler alles andere als selbstverständlich zu sein scheint: L’importance accordée par Cohen à ce qu’il nomme „Loi“ connaît très peu de prédécesseurs. Le personnage juif fonde la plupart du temps son identité sur d’autres données, comme l’exil, les persécutions, l’espoir, les rites de la communauté. Chez Cohen, ces éléments ont leur part, comme chez les autres écrivains. Mais la Loi occupe délibérément une place qu’aucune autre œuvre ne lui reconnaît. Qui oserait faire l’exégèse du Décalogue chez Gary, Perec ou Irène Némirovsky?¹³⁰
Krochmalnik, Schriftauslegung, S. 65. Über die Ambivalenz der Sprache stehe denn auch schon bei Jesus Sirach geschrieben: „Ehre und Schmach liegen in der Hand des Schwätzers, des Menschen Zunge ist sein Untergang“ (Sir 5,13). Böttrich [u. a.], Adam, S. 23. Trabant, Jürgen: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. S. 157. Ebd., S. 157 f. Goodman-Thau, Erbe, S. 20 f. Decout, Albert Cohen, S. 57. Auf die mit der Bezeichnung „Gesetz“ einhergehende Übersetzungsproblematik hat Frank Crüsemann hingewiesen. Für das althebräische Lexem tôrá böte sich im Deutschen die Vokabel „Weisung“ an, da sie der mit dem hebräischen Ausgangsbegriff nahegelegten „Verbindung von Instruktionen und Verhaltensnormierung“ am nächsten stünde. Crüsemann, Frank: Das portative Vaterland. Struktur und Genese des alttestamentlichen Kanons. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von
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Das innerbiblisch aufgebaute Spannungsfeld von Sprache und Zusammenleben, von Verantwortungspflicht und Sprachverzicht schöpft das Werk des Schriftstellers, so ist zu zeigen, weiträumig aus. In seinem Midrasch des Kainsberichts hat Wiesel die tragische Kausalität von Sprachversagen und Gewalt offengelegt. Mit einer sinnverwandten Engführung operiert Albert Cohen, so scheint mir, in der bereits als Urszene des Schreibens ausgewiesenen camelot-Episode. Denn so eindringlich diese an Symbolkraft reiche Anekdote auch schildern mag, welche essenziellen Schreibimpulse der Knabe aus der Wucht der ihm entgegenschlagenden Gewalt bezog, so unmissverständlich äußert sie doch auch, in welche Menschheitskatastrophe diese Worte der Gewalt einen ganzen Kontinent geführt haben: „Sans le camelot et ses pareils en méchanceté, ses innombrables pareils d’Allemagne et d’ailleurs, il n’y aurait pas eu les chambres à gaz, les chambres allemandes de mort […]“ (Ô vous ‐ 1106). Vor dem Hintergrund der von Trabant gestreiften biblischen Sprachepisoden überrascht weiterhin nicht, dass Zard den von Literatur und Kunst als Sinnbild für die allen zivilisatorischen Fortschritt überwölbende Ambivalenz in Anspruch genommenen Turm zu Babel Albert Cohens Milieustudien des Völkerbunds zur Seite stellt: „Cette Société des Nations aux milliers de portes et de fenêtres semble évoquer le célèbre tableau de Bruegel représentant la Tour de Babel. Comme la Tour, la SDN rassemble toutes les familles humaines, et le récit souligne à loisir, dans des grandes scènes collectives, le cosmopolitisme des lieux.“¹³¹ Und in der Tat: Schon mit seiner gigantische Ausmaße aufweisenden Architektonik¹³² scheint der Völkerbundspalast in den Spuren all jener zu wandeln, deren Hybris die Grenzen des Zusammenlebens fahrlässig überschreitet. Stets der Moral des Turmbaudebakels eingedenk brüskieren die Texte des Schriftstellers all jene, die – wie Adrien Deume – sich in Selbstüberhebung ergehen. Dabei ist dem Erzähler doch bei jedem Anlass daran gelegen, die Sinnlosigkeit eines solchen Dünkels zu betonen: „Se faire valoir, décrocher une ambassade, monter sur l’échelle dont tous
Aleida und Jan Assmann. München: Wilhelm Fink 1987. S. 63 – 79, hier S. 65. Albert Cohen verwendet den Tora-Begriff durchgängig im restriktiven Sinne des für das Buch Deuteronomium üblichen Sprachgebrauchs: „Es handelt sich also um die eine Weisung Gottes […]. Diese Tora ist am Horeb dem Mose gegeben worden – nach dieser Tradition ist nur der Dekalog Gotteswort ohne Vermittlung des Mose […].“ Ebd., S. 66. Zard, Fiction de l’Occident, S. 87. „Tout au long des couloirs et des escaliers, il [Adrien Deume] présenta à sa femme les splendeurs de son cher palais. Important et copropriétaire, épris de son noble fromage, s’attachant à en marquer l’émouvant caractère officiel, il mentionna fièrement les dons des divers pays: les tapis de la Perse, les bois de la Norvège, les tapisseries de la France, les marbres de l’Italie, les peintures de l’Espagne et toutes les autres offrandes, en en expliquant chaque fois l’exceptionnelle qualité“ (BdS ‐ 62).
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dégringolent, précipités dans le trou creusé en terre“ (BdS ‐ 272). Unüberhörbar die Lehre: Hochmut kommt vor dem Fall in das auf den Menschen geduldig wartende Erdloch. Der über viele Jahre hinweg im Dienst des Bureau International du Travail stehende Cohen wusste wovon er sprach, als er gegenüber einem Journalisten das moralisch wertlose Agieren und Posieren der Völkerbundsfunktionäre mit dem Treiben eines für die Honigproduktion nutzlosen Drohnenschwarms verglich: „C’était une ruche de faux bourdons qui ne faisaient pas de miel et qui bougeaient beaucoup.“¹³³ Wenn Adrien Deume in der Rolle des selbstherrlichen Kolonialherrn von den in Dateikästen minutiös sortierten Mandatsländern Besitz ergreift – „Caressante, sa main fit une promenade érotique le long de ses fiches“ (BdS ‐ 87) – dann signalisiert diese vom Erzähler wohlweislich sexuell eingefärbte Gestik einmal mehr den Triumph der Bürokratie über die Humanität. An Adriens phrasenhafter Replik auf Arianes persistierendes Nachfragen, welche friedenssichernden Maßnahmen die Institution in den ihr politisch anvertrauten Nationen ergreife, wird dies nochmals bestätigt: „Eh bien quoi, elle émet des vœux, disant qu’elle fait confiance à la Puissance mandataire, […] et qu’elle accueillerait avec gratitude toutes informations que les autorités compétentes estimeraient opportun de lui fournir sur les récents développements“ (BdS ‐ 87 f.). Kategorisch legen die durch Persiflage überspitzten Impressionen aus dem Völkerbundspalast offen: Nichts scheint das kollektive Wir-Gefühl der Funktionäre effektiver zu stärken als die im Dienst der Diplomatie floskelhaft gepflegte Konversationskultur.¹³⁴ Ihr haftet in ethischer Hinsicht ein äußerst negativer Beigeschmack an, gehen in dieser effekthascherischen Phrasendrescherei Sprachund Gesellschaftskritik doch Hand in Hand. Unstrittig ließ Albert Cohen in die sarkastischen Darstellungen dieser Form von Sprachmissbrauch die aus seinen persönlichen Einblicken gewonnenen Erfahrungen einfließen. Antithetisch ausgerichtet zu der bei Lévinas eingeforderten Rede im honorierenden Modus des Vokativs schrumpfen bei Cohen zahlreiche Kommunikationsszenen zu dem ichsüchtigen Wunsch, aus dem gesellschaftlichen Rang des Gegenübers den größtmöglichen Profit zu schöpfen: „Après avoir proféré d’aimables vérités premières, ils avaient sortis leurs antennes, s’étaient tâtés socialement en s’informant réciproquement, sans qu’il y parût, de leur professions et relations respectives. Rassurés, se reconnaissant de même termitière, ils s’épanouirent et fleurirent,
Albert Cohen im Gespräch mit Franck Jotterand.Vgl. hierzu die annähernd wortgleiche Kritik des Untergeneralsekretärs Solal: „[…] la ruche bourdonnante et sans miel, ruche des faux bourdons […]“ (BdS ‐ 351). Eine Untersuchung dieser völkerbundstypischen Rede aus stilistischer Perspektive findet sich bei: Lunel, David: Ruptures néologiques, fractures dissociatives et contradictions oxymoriques. In: Violence, S. 73 – 90.
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communièrent avec éclat, claironnèrent leur délectations“ (BdS ‐ 730 f.). Thematisch wird dieser zu Lasten des Zusammenlebens ausgetragene Dezimierungsprozess auf den diplomatischen Schriftverkehr ausgedehnt. Inhalte sind irrelevant, stattdessen gründet der falsche Stolz der Schreiber auf stilistischer Pedanterie: „N’était-ce pas lui [Adrien Deume] qui avait créé des formules dont tous ses collègues de la section se servaient maintenant? N’était-ce pas lui qui avait eu l’idée d’employer le mot développement au pluriel, ce qui lui donnait plus de gravité?“ (S ‐ 687). Unter Cohens mokierender Feder wird die von der Eminenz des Völkerbunds mit Vorliebe gebrauchte Floskel „projet spécifique“ zum Ausdruck einer ins Lächerliche gezogenen Akkuratesse: On aimait beaucoup les projets spécifiques au secrétariat. On ne savait trop ce que „spécifique“ ajoutait à „projet“ mais un projet spécifique faisait plus sérieux et plus précis qu’un simple projet. En fait, personne ne savait la différence qu’il y avait entre un projet et un projet spécifique et personne n’avait jamais songé à s’interroger sur le sens et l’utilité de ce précieux adjectif. On disait projet spécifique avec plaisir, sans approfondir. Un projet lorsqu’il était dit spécifique prenait aussitôt un charme mystérieux fort apprécié, un prestige prometteur d’action féconde (BdS ‐ 289).
Mehr noch als die Karikierung einer ihr Ziel verfehlenden Perfektionssucht darf man hinter diesen und anderen Passagen das Polemisieren des Erzählers gegen eine Sprachauffassung sehen, die das kommunikationsförderliche Prinzip einer präzisen Inbezugsetzung von Gesagtem und Gemeintem beharrlich ignoriert. In dieser Kritik resümieren sich ferner die Ambitionen eines Autors, der im Hinblick auf die ihm attestierte Verbundenheit mit dem französischen Vokabular und seiner Semantik¹³⁵ zweifelsfrei neue schriftstellerische Maßstäbe setzte.
4.2.3.3 On est toujours le bourgeois de quelqu’un Analog der von den Turmbauern entwickelten Strategie – die Realisierung eines gemeinschaftlichen Großprojekts als wehrhaftem „Symbol einer umgreifenden kollektiven Identität“¹³⁶ – geht auch der Beamtenapparat des Völkerbunds mit
„C’est sans doute cet amour de la langue française qui explique le plaisir évident avec lequel Albert Cohen se penchait sur un dictionnaire. […] Sa sympathie pour les dictionnaires englobait ceux qui en assurent la compilation et avait donné lieu à ce credo: ceux qui travaillent à la compilation d’un dictionnaire doivent forcément être des gens bien. En somme, dans ce travail de compilation, Albert Cohen voyait une sorte de sacerdoce.“ Cohen, Bella, Albert Cohen, S. LXVIII. Krauss, Küchler (Hrsg.), Erzählungen, S. 181: „Hinter dem Plan zum Turmbau, vorgestellt als technologisches Projekt gigantischen Ausmaßes, stand jene Mischung von Arroganz und Angst, wie sie zu allen Zeiten für die großen Eroberer und Gründer von ‚Weltreichen‘ typisch ist.“
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Kalkül an sein Werk heran. Auszugrenzen aus dem Kollektiv sind demnach all jene, die dem erwünschten Gruppenselbstbild nicht genügen. Der die Fiktion en passant durchkreuzende Jude Mossinsohn, dem ein ebenso prekärer wie miserabel vergüteter Posten zusteht, verkörpert einen solchen Antitypus, dessen Schicksal die unter den Mitgliedern des Völkerbunds praktizierten Inklusionsund Exklusionsmechanismen prototypisch widerspiegelt. Entgegen aller Erwartung aber steht der Erzähler Mossinsohns Außenseiterexistenz auffallend gleichgültig, ja geringschätzig gegenüber: (Ne pas avoir trop pitié de Mossinsohn. Il n’est pas très gentil avec deux autres Juifs qui voudraient entrer au Secrétariat, et il ne fait rien pour les aider. On est toujours le bourgeois de quelqu’un. Et puis, le jour où Mossinsohn sera permanent et naturalisé, il sera peut-être puant. Pour le moment, laissons-le rôder dans les corridors, sourire, flatter, faire intervenir en sa faveur quelque grand savant juif et se promener galamment dans le jardin avec une autre réprouvée, une douce Arménienne qui fait un stage bénévole dans l’espoir de décrocher à son tour un poste temporaire) (M ‐ 677).
„On est toujours le bourgeois de quelqu’un“ – pointierter hätte die Absage an eine asymmetrisch dem nicht-jüdischen Okzident auferlegte Exklusionspraxis wohl kaum ausfallen können. Erkennbar wird in diesem zynischen Erzählerkommentar jenes durch fortdauernd alternierende Blick- und Perspektivwechsel in Bewegung gehaltene Oszillieren zwischen den Kulturen – und auf dieses charakteristische Schreibmuster wird noch zurückzukommen sein –, das im Fokus des gesamten literarischen Schaffens des Schriftstellers, mehr noch, im Fokus seiner Persönlichkeit steht, wie Bella Cohen einmal betonte: „Pas plus que l’œuvre, l’homme n’était sectaire.“¹³⁷ Eine Cohens fiktionalen Textwelten von verschiedener Seite irrtümlich unterstellte dichotomische Zweiteilung in eine Sphäre der Juden und eine der Nicht-Juden¹³⁸ lässt das Beispiel Mossinsohn jedenfalls brüchig werden:
Cohen, Bella, Autour d’Albert Cohen, S. 140. Bei Egyptien wird diese Dichotomie auf die eigene Werkstruktur übertragen. Vgl. hierzu die entsprechende Kapitelbetitelung „Das zweigespaltene romaneske Universum Albert Cohens“: Egyptien, Heimatsuche, S. 10. Als falsch erweist sich demnach meines Erachtens auch die restriktive Analyse Albert Bensoussans, wonach Belle du Seigneur ein „champ clos“ darstelle, „où s’affrontent le peuple d’antinature – les Juifs – et les Gentils, gens de nature, adeptes de la beauté et des misérables séductions.“ Bensoussan, L’œuvre d’un séducteur, S. 39. Von diesem Grundschema aus erörtert ebenfalls Lewy-Bertaut die fiktionale Raumchoreographie: „L’opposition entre les deux mondes, occidental et juif, ne se laisse pas réduire: les parcours se finissent en impasse, comme le révèlent la distribution des lieux et la structuration de l’espace.“ Lewy-Bertaut, Albert Cohen mythobiographe, S. 146. Auch bei Thau ist eine Dichotomisierung des Raums klar ersichtlich: „Tout l’œuvre de Cohen obéit en effet à un principe de structuration bipolaire: d’un
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Die Forderung nach Toleranz erschallt nach beiden Richtungen. Mossinsohns Eintritt in den Dienst des Völkerbunds markiert, um es mit der von Arendt ausdifferenzierten Typologie zu formulieren, die charakterliche Wende des Juden vom uneigennützigen Paria zum skrupellosen Parvenü: Immer repräsentieren darum die Paria in einer Gesellschaft, welche auf Privilegien, Geburtsstolz, Standeshochmut basiert, das eigentlich Humane, spezifisch Menschliche, in Allgemeinheit Auszeichnende. Die Menschenwürde, die Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft.¹³⁹
Im endlosen Auf und Ab des die Passagiere von der einen in die andere Etage befördernden Paternosters findet das seinen humanitären Pflichten beraubte Arbeitsethos der Völkerbundsbeamten seinen bildhaft adäquaten Ausdruck: „Puis, comme la veille, il [Adrien] entra dans une des patenôtres, ascenseurs sans portes, en mouvement perpétuel de descente et de montée, précieuse ressource pour les fonctionnaires qui s’ennuyaient“ (BdS ‐ 49). Während Schaffner den Paternoster als lexikalisch sichtbar gemachtes Indiz für die in das kosmopolitische Welttheater unvermutet eindringende Präsenz des Sakralen deutet,¹⁴⁰ ist aus der hier vorliegenden Untersuchungsperspektive eine zweite Hypothese vorstellbar: Insofern als die den Fahrstuhl auszeichnende Dynamik – „en mouvement perpétuel de descente et de montée“ – ein Bewegungsmuster offenlegt, das raummetaphorisch vom Sozialprestige seiner Insassen zeugt, konkurriert es gegenbildlich mit jenen von Finkelstein nolens volens zurückgelegten Diagonalen, die dem gesellschaftlichen Außenseiter vorbehalten bleiben. Es verdient in diesem Zusammenhang eigens Erwähnung, wie stark Albert Cohens jüdische Figuren von jener Ruhelosigkeit geprägt sind, in der das resignierte Sichfügen in eine unabänderliche Duldung auf Zeit latent mitschwingt: „La fatalité juive apparaît donc comme une fuite éternelle, une errance loin de la Terre promise que Solal, Jérémie ou Finkelstein réincarnent tour à tour dans la figure du juif errant.“¹⁴¹ Eindringlicher noch als Finkelstein inkarniert die von Cohen schon für die Bühne adaptierte Figur des Jérémie – Jude aus dem Nirgendwo¹⁴² – eine odyseeartige Daseinsform im Aufschub, dinglich komprimiert im Theaterrequisit des
côté la Céphalonie juive, de l’autre l’Occident, deux espaces, deux univers aux valeurs antagonistes.“ Thau, Humour, S. 48. Arendt, Rahel Varnhagen, S. 199. „Ainsi, le sacré se manifeste même au cœur des existences qui en apparence en sont le plus éloignées.“ Schaffner, Le gôut, S. 81. Ebd., S. 94. „Jif pas argentaine, pas français, pas sisse, pas anglais, pas siédois, rien. Jif“ (M ‐ 548).
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abgewetzten Koffers, dessen weithin sichtbare Etiketten den physisch geschundenen Inhaber¹⁴³ böswillig verleumden: „Emigrant. A désinfecter. A refouler. Indésirable. Quatrième classe“ (E ‐ 780). Es gehört zu den wohl sinnfälligsten Strukturen der Gesamtanlage des Cohenschen Œuvre, dass ebendieses Utensil der Wanderschaft durch das Werk des Autors hindurch von Text zu Text weitergereicht wird, bevor der darin versteckte Inhalt im Incipit von Belle du Seigneur den neuen Besitzer Solal mit der geplanten Verführung Arianes nachhaltig kompromittiert. Doch selbst die im Objekt des wandernden Koffers vergegenständlichte DiasporaExistenz des Juden gilt es auf ihre augenscheinliche Negativität hin kritisch zu befragen und dies obschon die in Ezéchiel auf Jérémies Koffer prangernden diffamierenden Inschriften eine eindeutige Sprache sprechen. Das für eine positive Umwertung der ahasverischen Existenz des Juden benötigte kulturhistorische Hintergrundwissen liefern Assmann¹⁴⁴ und Messadié: „Das unaufhörliche Umherirren ist offensichtlich ein Wesenszug, den alle Hebräer – und später auch Juden – mit Abraham teilten. […] 3000 Jahre später entwickelte sich der Mythos des umherirrenden Juden zu einem Negativbild.“¹⁴⁵ Es ist anzunehmen, dass dieses auch von Maurice Blanchot dem Erzvater Abraham in einem positiven Sinn zugewiesene Nomadentum¹⁴⁶ den von Cohen fabulierten Valeureux in die Wiege gelegt wurde, wie es ihre zahlreichen Streifzüge durch Europas Metropolen oder auch die im Fiasko endende Besiedlungsmission im Nahen Osten demonstrieren. Diese macht ein eigenes Unterkapitel erforderlich. Darin ist zu zeigen, inwiefern die auf den Zeitgeist der Moderne einwirkende Tendenz, den unter der langen Geschichte des Antijudaismus verschüttgegangenen Eigenwert des Entwurzelt-
Ein körperliches Stigma, aus dem der Erzähler mit dem ihm eigenen Sarkasmus keinen Hehl macht: „Sa maigre face jaune et ravagée était, de toute évidence, peu aryenne“ (M ‐ 490). „Exodus und Sinaioffenbarung als die zentralen Ursprungsbilder Israels beruhen auf dem Prinzip der Extraterritorialität. […] Der Bundesschluss geht der Landnahme voraus. Das ist der entscheidende Punkt. Er ist extraterritorial und daher von keinem Territorium abhängig. In diesem Bund kann man überall verbleiben, wohin auch immer auf der Welt es einen verschlägt.“ Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 201. Méssadié, Verfolgt und auserwählt, S. 24 f. „Chaque fois que l’homme juif nous fait signe dans l’histoire, c’est par l’appel d’un mouvement. Abraham, heureusement installé dans la civilisation sumérienne, à un certain moment rompt avec cette civilisation et renonce au séjour.“ Blanchot, L’entretien, S. 183. Vgl. auch ebd., S. 185 f.: „Ainsi est né le Juif. Le juif est l’homme des origines, qui se rapporte à l’origine, non pas en demeurant, mais en s’éloignant, disant ainsi que la vérité du commencement est dans la séparation.“
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seins in der Kunst wiederzuentdecken, Albert Cohens Schreiben beeinflusst haben könnte.
4.2.3.4 Von Juden und Arabern Der von Cohen wohl nicht grundlos in seinen Debütroman Solal episodenartig eingeflochtene Bericht einer missglückten jüdischen Sesshaftwerdung in Palästina stellt den Leser vor viele Fragen, mit denen sich die Cohen-Forschung ausführlich beschäftigt hat.¹⁴⁷ Tatsächlich mutet es befremdlich, wenn nicht paradox an, dass nur wenige Jahre, nachdem der Schriftsteller mit La Revue juive als enthusiastischer Befürworter des Zionismus ins öffentliche Rampenlicht getreten war, die Romanfiktion den Traum vom eigenen Staat auf grausamste Weise platzen ließ. Zwei Einsichten, die uns Zard in einem Aufsatz nahelegt, mochten ihn in diesem Schritt bestärkt haben: Zum einen die Unvereinbarkeit der politischen Realität mit der Eigengesetzlichkeit der Fantasie – „l’écart entre la pensée et l’imaginaire“¹⁴⁸ –, zum anderen die an die Sesshaftwerdung gebundene imminente Gefahr eines blutreichen Konflikts mit den im Lande lebenden Arabern: „Mais il faut reconnaître que, plus que dans ses déclarations politiques, c’est dans le roman que l’Arabe existe: […].“¹⁴⁹ Mit dieser zweiten These bietet Zard uns, so scheint mir, eine plausible Erklärung an, die es gerade mit Blick auf den hier behandelten Themenkomplex der Toleranz und des Zusammenlebens weiterzuverfolgen gilt. Wo Lugassy im Palästina-Desaster der Valeureux ein Indiz für die per se zum Scheitern verurteilte Koexistenz zweier fundamental verschiedener Völker erblickt,¹⁵⁰ gibt Zard stattdessen schlüssig zu bedenken, dass der Autor schon Anfang der 1920er Jahre für die Forderung eintrat, die angestrebte nationale Souveränität des jüdischen Volks dürfe sich nicht über das Gemeinwohl der arabischen Bevölkerung Palästinas hinwegsetzen¹⁵¹ – ein konzilianter Stand-
Vgl. stellvertretend Schaffner, Le goût, S. 120 – 127 sowie insbesondere Zard, Fiction, und jüngst Lugassy, Maurice: Palestine/Israël: géopolitique entre imaginaire et réalités. In: La géographie imaginaire d’Albert Cohen. Cahiers Albert Cohen 23 (2013). S. 39 – 62. Zard, Fiction, S. 36. Ebd. „Ce qu’affirme Cohen, c’est la dissemblance essentielle des Juifs et des Arabes.“ Lugassy, Palestine/Israël, S. 54. Außerdem vertritt der Verfasser den fragwürdigen Standpunkt, dass Albert Cohen im Schutze der Fiktion die arabische Verweigerungsstrategie, wonach ein binationales Gemeinwesen unter Aufbietung von Gewalt zu verhindern sei, als Scheiterungsgrund geltend mache: „Il [Cohen] reconnaît ce que les sionistes savent déjà mais ne diffusaient pas au public, le refus arabe.“ Ebd., S. 52. „Dès les annés vingt, il [Cohen] s’était prononcé, de manière très pragmatique, pour que la réalisation du projet sioniste ne passe pas par une injustice envers la population arabe (mieux
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punkt, den Albert Cohen im Zuge der mit der israelischen Staatsgründung sich weiter zuspitzenden kriegerischen Nahost-Krisen aufrechterhielt.¹⁵² Wenn in der Romanfiktion die anfangs noch verheißungsvoll klingende Territorialisierung der Valeureux misslingt, dann mag die Ursache für dieses Scheitern einerseits in jenen diasporischen Charakteranlagen zu suchen sein, mit denen der Schriftsteller seine jüdischen Romanfiguren bedachte.¹⁵³ So ist es Mangeclous, der in Folge des den Tod zweier Romanfiguren bewirkenden arabischen Übergriffs erklärt: „Moi il me faut des pays où l’on bouge. Suis-je un Gentil pour venir voir un mur? Et qui me dit que ce Mur des Pleurs est authentique?“ (S ‐ 341). Es mag in Teilen der hier anklingenden emphatischen Bejahung der Ortlosigkeit geschuldet sein, dass Albert Cohen in einem seiner letzten Interviews Mangeclous als „Luftmenschen“ bezeichnet hatte.¹⁵⁴ In dieser dem Jiddischen entlehnten Charakterisierung schwingt eine ambivalent bis dichotomisch gestreute Vielfalt an Semantisierungen mit, über deren facettenreiche Fülle der bereits zitierte metapherngeschichtliche Abriss von Nicolas Berg Aufschluss gibt: Während der sowohl selbst- als auch fremdreflexiv Verwendung findende Begriff mit Blick auf das osteuropäische Judentum seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in einen sozialökonomischen Deutungszusammenhang mit der unter der jüdischen Minorität grassierenden Armut gebracht wurde, setzte er sich für die Juden Westeuropas als Chiffre „für die negativen Seiten der großstädtischen Moderne“¹⁵⁵ durch. In Ergänzung zu diesen nachteiligen Bedeutungszuweisungen wurden um die Jahrhundertwende beide Begriffsvarianten um eine positive Sehweise bereichert, indem sie nun als „semantische Mischung aus Armut, Hoffnung, Gottvertrauen, Einfallsreichtum und Humor“¹⁵⁶ Antwort auf die Frage nach der Lebenswirklichkeit des Juden gaben. Es ist diese dialektische Synthese von Elend, ironisierender Humoreske und gottergebenem Uroptimismus, die Albert Cohens oft missverstandenes Bühnenstück Ezéchiel dramaturgisch visualisierte. Parallel schälte sich eine vierte Begriffsbe-
valait un territoire modeste qui assurât la paix et l’indépendance qu’un territoire énorme et disputé).“ Zard, Fiction, S. 36. In der Tat schrieb der um die zwischenvölkerliche Verständigung bemühte Autor schon 1921 in La Revue de Genève: „Nous reconnaissons le droit de la population arabe à demeurer en Judée.“ Cohen, Vue d’ensemble, S. 606. Noch 1973, im Jahr des Jom-Kippur-Kriegs, brachte Albert Cohen sein Verständnis für die Lage der Palästinenser zum Ausdruck: „Je comprends très bien leur souffrance.“ Cohen im Interview mit Frank Jotterand. Radio Télévision Suisse (23. Dezember 1973). Auf diese „incompatibilité entre l’esprit diasporique, représenté par les Valeureux, et l’esprit israélien, représenté par les sionistes d’origine polonaise ou russe“ hat auch schon GoiteinGalpérin hingewiesen. Vgl. Goitein-Galpérin, Visage, S. 36. Vgl. Malka, athée, S. 21. Berg, Luftmenschen, S. 35. Ebd., S. 37.
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stimmung des Luftmenschen heraus, die zur ursprünglichen Negativität Abstand nahm und die metaphernreiche Rede dazu nutzte, das mit dem Element Luft assoziierte Ideenfeld einer schwerelosen Leichtigkeit von Körper und Intellekt mit einer „positive[n] Begriffsenergie“¹⁵⁷ aufzuladen.Vor diesem begriffsgeschichtlich kontextualisierten Hintergrund erscheint Mangeclous’ Bewegungsdrang als Widerstand gegen eine vermeintlich natürliche Bodenbezogenheit menschlicher Existenz. Einer solchen Lesung verleiht der Text überall dort Nachdruck, wo Cohens der Viehzucht und dem Ackerbau entwöhnten jüdischen Nomaden mit ihren „mains d’intellectuels“ (S ‐ 333) die Fruchtbarmachung des Landstrichs nur langsam vorantreiben: „Tous ces anciens nomades savaient qu’ils étaient maldadroits. Mais que leur importait? Ils travaillaient au soleil et leurs fils trouveraient des champs gras. Suants et paisibles, ils continuaient. Honneur aux nouveaux fils de Sion“ (S ‐ 332). Eine Aneignung des Erdbodens widerstrebt dem sich am Schmutz unter den Fingernägeln störenden Salomon (vgl. S ‐ 333) ebenso sehr wie dem von Blasen an den Händen gepeinigten Mangeclous, der, solange das Feld noch nicht bestellt, im Land wo Milch und Honig fließen sich mit Dosenmilch begnügen muss: „Il avait décidé de ne reprendre son travail qu’après guérison de ses ampoules. ‚Pays de miel et de lait!ʻ ricanait-il en donnant des coups de pied à la boîte qui avait contenu le lait condensé dont il se suralimentait“ (S ‐ 334). Und noch aus einer zweiten, bei Zard schon angedeuteten Perspektive ließe sich die verfehlte Verwurzelung der Valeureux im Land der Väter deuten: Im zeitgenössischen Palästina standen die jüdisch-arabischen Beziehungen unter den Vorzeichen einer Welle der Gewalt, der die von Cohen befürwortete Versöhnungspolitik ablehnend gegenüberstand. Ja, 1929, im Erscheinungsjahr von Solal, war dieser Konflikt mit dem Streit um die von beiden Religionsgruppen in Anspruch genommene Klagemauer in ein neues ideologisches Stadium übergetreten: Trotz aller bisherigen Gewaltausbrüche besaßen die Ereignisse des August 1929 eine neue Qualität. Sie markierten eine Wende in den Beziehungen zwischen Arabern und Juden in Palästina, die auch die gesamten 1930er und 1940er Jahre überschatten sollte. Die Vorstellung eines friedlichen Mit- und Nebeneinander, die bisher die Hoffnung vieler Juden und Araber gebildet hatte, erwies sich nunmehr als Illusion. Zurück blieben die Einsicht in einen Antagonismus, ein sich verhärtender Selbstbehauptungswille und ein sich zunehmend verfestigendes Denken in militärischen Kategorien.¹⁵⁸
Auch in Palästina waren die seit Beginn des 20. Jahrhunderts kursierenden „Protokolle der Weisen von Zion“, die den Juden eine geplante Weltverschwörung
Ebd., S. 18. Mallmann, Cüppers, Halbmond, S. 19.
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unterstellten, zur anstandslos gelesenen Lektüre einiger arabischer Zirkel geworden.¹⁵⁹ Im Bewusstsein für die Brisanz der eskalierenden Lage gibt der Romancier, so scheint es, dem Palästina-Abenteuer seiner Helden eine klug erdachte Wende: Den an das Ziel der nationalen Bodenständigkeit unumgänglich geknüpft zu sein scheinenden Rekurs auf Gewalt wehrt er ab, indem die Romanfigur Maïmon dem Ideal der Zerstreuung – „Le sel doit être répandu et non concentré“ (S ‐ 341)¹⁶⁰ – in biblisch-metaphorischer Diktion den Vorzug einräumt. Nach wie vor also antwortet Cohen auf die für Palästina ungelöst bleibende Frage des Zusammenlebens¹⁶¹ unter Verweis auf jene charakterlichen Stärken, die er in Israël, le Juif et les romanciers français mit dem dort in vielerlei Hinsicht positiv gewerteten Exiltypus assoziiert hatte. Was den sozialen Frieden und die zwischenmenschlichen Beziehungen anbelangt, so wirkt sich Cohens Entscheidung für das räumliche Ungebundensein in gleich zweifacher Hinsicht konfliktlindernd aus: So verhindert sie einerseits das in der außer-literarischen Wirklichkeit schon vielfach leidvoll erprobte Blutvergießen zwischen Juden und Arabern und umgeht andererseits die schlimmstenfalls nicht minder besorgniserregende innerjüdische Konfrontation zwischen Sephardim und Aschkenasim. Wieder ist es Mangeclous, der sich fragt: „Suis-je un Juif de la Russie et des contrées de brumes pour m’échiner ici? Ces Russes, qu’ont-ils de commun avec moi que je suis un Juif du soleil? Mon ami, ces Russes ont de ces nez que tu peux prendre le café sur leur nez, parole d’honneur! et après, faire ta sieste à l’ombre de leur nez!“ (S ‐ 342). Diese im Werk des Autors stets parodierend aufgezeigten innerjüdischen Querelen wurden vonseiten der Cohen-Forschung immer wieder in die kontrovers beleuchtete Frage eingebunden, in welchem Umfang das Sephardentum des Romanciers zur Herausbildung einer spezifischen Narrativik beigetragen habe: „La sépharadité d’Albert Cohen […] semble être source d’ambiguïté et occasionne différentes lectures.“¹⁶² Auch wenn auf die innerhalb dieser Diskussion geltend
Vgl. ebd., S. 20. Diese klare Bejahung der Zerstreuung bekräftigt Saltiel in Les Valeureux: „Dieu est grand mais la terre est petite et les fils d’Israël sont plus nombreux que les sables du désert, mais il est bon qu’ils soient Dispersés car ils sont le sel de la terre! Un peu de sel est délicieux, mais trop de sel emporte la langue!“ (V ‐ 991). Tatsächlich wird die unter dem Druck der Araber kapitulierende britische Mandatsmacht ihren Vorsatz zur Schaffung einer „nationalen Heimstätte für Juden“ mit einer am 17. Mai 1939 veröffentlichten Erklärung offiziell aufkünden. Vgl. Mallmann, Cüppers, Halbmond, S. 39. Maisier,Véronique: Sépharades et Ashkénazes dans l’œuvre romanesque d’Albert Cohen. In: LittéRéalité 16/1 (2004). S. 23 – 30, hier S. 23. Auffällig ist in dieser Debatte die Position Bensoussans, der Cohen zum „maître“ der sephardischen Literatur erklärt. Vgl. Bensoussan, Albert: L’image du Sépharade dans l’œuvre d’Albert Cohen. In: Les Temps modernes 34/394 bis (1979). S. 396 – 409, hier S. 409.
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gemachten Positionen im Einzelnen nicht eingegangen werden kann, so verdient eines doch Erwägung: Wenn für Albert Cohen die notfalls unter Aufbringung von Gewalt zu erkämpfenden Territorialitätsansprüche der Zionisten mit der Erfahrung des Genozids an den europäischen Juden eine endgültige Zerschlagung erfahren werden – paradoxerweise zu einer Zeit, als sich diese legitimer denn je hätten vertreten lassen¹⁶³ – so fällt von dieser historisch beschleunigten ideologischen Kehrtwende her auch ein anderes Licht auf die in der Fiktion behandelte Frage des Zusammenlebens zwischen Aschkenasim und Sephardim, auf jenen schon in der wechselhaften innerjüdischen Geschichte sich problematisierenden Konflikt,¹⁶⁴ der hinsichtlich des eingeforderten Gewaltverzichts derselben Unbedingtheit zu unterliegen hat. So gesehen ist Levys Ansicht, wonach die Wirkkraft der im Schreiben des Schriftstellers aufscheinenden sephardischen Fremdelemente nach und nach schwinde, da das Identitätsempfinden in immer höheren Daseinsbezügen aufgehe, vorbehaltlos zuzustimmen: En effet, ce qui paraît d’abord si spécifique est constamment travaillé par l’auteur dans une perspective plus générale. Et c’est pourquoi, on observe, dans un second temps, que la question identitaire chez Cohen revêt la forme concentrique de multiples identités contenues les unes dans les autres. La séphardité de Cohen n’est ainsi qu’une des facettes de sa judéité – qui ne constitue en réalité elle-même qu’un des aspects de l’humanité (au sens d’identité humaine).¹⁶⁵
Diesen progressiven Rückgang alles Kulturpartikularen habe das Romanschaffen des Autors, so Maisiers subtile Beobachtung in dem bereits zitierten Aufsatz, in metaphorisch eindrucksvoller Weise durchsichtig gemacht: Während Mangeclous zu den russischstämmigen Aschkenasim noch ein von Hochmut geprägtes Verhältnis pflege – „[i]ls sont les concombres et nous sommes le sel“ (S ‐ 341) –, stifte dagegen Solals bereits im Blick auf das Phänomen Selbsthass analysierte Rosenfelderzählung die symbiotische Einswerdung der nunmehr zu aromatischen „concombres salés“ (BdS ‐ 895) verarbeiteten Ingredienzen: „Cette métaphore alimentaire proclame la possibilité d’une hybridité qui, préservant les particula-
„Il devient ainsi impossible de faire coïncider le modèle cohénien (et diasporique) du Juif désarmé – qui tend asymptotiquement à un idéal antinaturel de non-violence intégrale – et l’image du citoyen-soldat, de l’homme nouveau que le sionisme s’est employé à forger.“ Zard, Fiction, S. 45. Vgl. hierzu den Überblick über die Geschichte des sephardischen Judentums von Viktor Malka: Les Juifs sépharades. Paris: Presses Universitaires de France 1986. Insbesondere S. 28 f. Lévy, Clara: L’identité sépharade d’Albert Cohen. In: Les sépharades en littérature. Un parcours millénaire. Hrsg. von Esther Benbassa. Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne 2005. S. 139 – 157, hier S. 157.
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rités de chaque communauté, se trouverait renforcée – épicée – par ce que chacune peut offrir à l’autre.“¹⁶⁶ Das in Cohens Debütroman anekdotisch skizzierte Scheitern einer in Angriff genommenen Sesshaftwerdung, die mit der biblischen Turmbaugeneration ihren Anfang nahm und die uns sattsam bekannten Konsequenzen nach sich zog, bleibt für den Romancier durch sein ganzes Schreiben hindurch zwingend. Mehr noch als ein im Werk des Schriftstellers leitmotivisch variiertes Bewegungsmodell präsentiert sich die örtliche Ungebundenheit des Juden als Sinngestalt einer allgemeinmenschlichen Daseinsweise, die der in diese Kartographie unabtrennbar eingebundenen Weltgesellschaft ein Höchstmaß an Toleranz und Wertschätzung abverlangt. Was wiederum das hybride Kunstschaffen des Schriftstellers angeht, profiliert sie sich als Matrix einer zwischen den Kulturen und Kontinenten pendelnden écriture: „L’errance donne la clef de l’œuvre de Cohen. Parce qu’il a vécu son siècle, connu les misères de son peuple, poussé dans un vertige de lucidité l’analyse de l’identité, accepté les contradictions et les erreurs, parce que, écrivain, Albert Cohen est totalement juif.“¹⁶⁷ Die Konvergenz des Cohenschen Romankosmos mit dem von steten Migrationsbewegungen durchzogenen Weltmodell des libanesischen Essayisten und Schriftstellers Amin Maalouf liegt auf der Hand: Sans doute mes propos sont-ils ceux d’un migrant, et d’un minoritaire. Mais il me semble qu’ils reflètent une sensibilité de plus en plus partagée par nos contemporains. N’est-ce pas le propre de notre époque que d’avoir fait de tous les hommes, en quelque sorte, des migrants et des minoritaires? Nous sommes tous contraints de vivre dans un univers qui ne ressemble guère à notre terroir d’origine; nous devons tous apprendre d’autres langues, d’autres langages, d’autres codes; et nous avons tous l’impression que notre identité, telle que nous l’imaginions depuis l’enfance, est menacée.¹⁶⁸
Und so hat es etwas sehr Folgerichtiges, dass der Erzähler die in den Roman stilistisch betrachtet nach bester Luftmenschentradition als frei schwebendes Narrativ einmontierte Palästina-Episode mit einer das Signal zum Aufbruch gebenden Bewegungssequenz beschließt: „Le soir même, Mangeclous quitta KfarSaltiel et se dirigea vers la côte. Sur la grand-route et sous la lune, son ombre violente s’allongeait. Seul et libre, le grotesque rêvait ou nasillait un air de liberté“ (S ‐ 342).
Maisier, Sépharades, S. 29. Valbert, Albert Cohen, S. 57. Maalouf, Identités, S. 53.
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4.2.3.5 Homo homini frater est Was bislang im Horizont einer jüdischen Konzeption der Beziehung des Menschen zum Nächsten hervortrat, lässt sich auch und gerade mit Blick auf das biblisch fundierte Verständnis vom Fremden weiterentwickeln. So wird das in Schüles Ausdeutung transparent gemachte Stichwort der Ebenbürtigkeit – lexikalisch intensiviert durch den der Wendung „er ist wie Du“ vorangestellten kausalen Konnektor „denn“ – bei Cohen zum Generator eines Schreibens, das diese zwischenmenschliche Nivellierung auf radikale Weise übernimmt. Ist das Desinteresse am Nächsten nachhaltig zu durchbrechen, dann bedarf es über das Anerkennen der eigenen Bedürftigkeit hinaus der Grundeinsicht in die Gleichheit aller Seienden. Daher konfrontiert Albert Cohen den Lesenden mit der sein Schreiben überwölbenden Gestalt des Todes – einer Gestalt, die, violenter noch als die des um Beachtung ringenden gesellschaftlichen Außenseiters, den ethischen Weg freigibt in die Tugend des Mitleids. Kapitulieren müssen sowohl Cohens Romanfiguren als auch der Schreibende selbst vor jenem durch unfassbare Fremdheit sich ausweisenden Tod, der mit der Germanistin Ortrud Gutjahr als die „prototypische Denkfigur des Fremden, die alle Figuren der Fremde als ihren geheimen Doppelgänger begleitet“¹⁶⁹ angesehen werden kann. Nur der Tod ist in Cohens schriftstellerischem Kosmos unmittelbar Ausdruck dafür, dass der Mensch des Menschen Bruder ist. Mit dieser humanitätsweisenden Lehre vom Menschsein tritt Albert Cohen in seinem letzten Werk, den Carnets, abschließend vor den Leser. Es ist – und dies ins Gedächtnis zu rufen ist keinesfalls unwichtig – der einzige Text des Schriftstellers, der auf keine vor oder unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg niedergeschriebene Erstfassung zurückgreifen kann. Darin stellt der Autobiograf das mühselige Streben nach Menschlichkeit in drei fundamentalen Heilswegen dar, von denen sich der dritte und letzte, jener der „connaissance de l’universelle mort“ (C ‐ 1192), als der Verlässlichste erweist. „Avant de mourir“, so schreibt Cohen, „et ma mort est proche, je voudrais convaincre mes frères humains, les bourrer de leur future mort, de l’universelle mort“ (C ‐ 1192). Wie wohl kein anderer Autor der Moderne trassiert Cohen durch sein Schaffen hindurch die unverwüstliche Spur des Todes, der, begriffen als ethische Sinnfigur, das Individuum in einen ranggleichen Dialog von Mensch zu Mensch hineinzwingt. Mit dieser Lebensstrategie, die sich den Mitmenschen als den mir Wesensgleichen anverwandelt, taktieren die Texte des Schriftstellers ein ums andere Mal. In der vom Tod her perspektivierten Sinn-
Gutjahr, Ortrud: Fremde als literarische Inszenierung. In: Fremde. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg: Königshausen und Neumann 2002 (Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 21). S. 47– 68, hier S. 54.
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ausrichtung allen Handelns bildet sie die gedankliche Achse einer säkularen Heilsdoktrin, die Cohen der christlichen Nächstenliebe als tendresse de pitié – „un amour raisonnable du prochain“¹⁷⁰ – gegenüberstellt. In Analogie zu dem bei Schüle der biblischen Fremdengesetzgebung unterlegten Identifikationsmoment gründen menschliche Tugenden auch für Cohen in einem solchen Prozess der Gleichwerdung: „La première voie qui mène à la tendresse de pitié, seul possible amour du prochain, est ce que je nomme l’identification à l’autre. Lorsque je suis devant un frère humain, je le regarde et soudain je le connais, et soudain, étrangement, je lui ressemble, je suis lui, pareil à lui, son semblable. Il est en moi“ (C ‐ 1189). Was hier geschieht, ist eine Transsubstantiation – „[c]’est une transsubstantiation que je connais et que j’éprouve“ (C ‐ 1189) – der besonderen Art, die sich das in der Eucharistie offenbarte Geheimnis zur Beschreibung der sublimsten Form der Nächstenliebe einverleibt. Ins Extreme überspannt wird das Konzept der tendresse de pitié in den stark parodistisch unterlegten Dialogen der fünf Valeureux, so als Saltiel sich seiner vollumfänglichen Empathie selbst für die den Juden drangsalierenden Deutschen gewahr wird¹⁷¹ oder Saltiel Hitlers Tötung ausdrücklich missbilligt.¹⁷² Diese bis an die äußerste Grenze gehende Bereitschaft zu verzeihen kennzeichnet auch das den Kriegsverbrecher Laval seiner Gräueltaten ledig sprechende Ich der Carnets. ¹⁷³ Weniger radikal als in den angeführten Textpartien ist die oben beschriebene säkulare Wandlung schon in Cohens Debütroman Solal deutlich spürbar: Angelangt auf dem Zenit seines Martyriums durchströmt den gefallenen Minister und verstoßenen Vater des in Audes Leib heranwachsenden Kindes eine im Zeichen der gemeinschaftsstiftenden Liebe stehende Gestimmtheit. Unvermittelt geht das Gefühl der Einsamkeit in ein neues Empfinden über, in das unerschütterliche Bewusstsein für die unauflösbare Zugehörigkeit zur Gattung Mensch: „A considérer tous ces hommes, faits comme lui en somme, un flot d’adoration montait en lui. Il se sentait le fils de tous les
Malka, athée, S. 21. „[…] et soudain, avec un fracas de foudre en son âme, il s’aperçut qu’il aimait aussi, aimait de pitié les méchants Allemands qui faisaient tant souffrir ses frères juifs et qui ne savaient pas que c’était mal, pauvres méchants, qui étaient peut-être les bons fils de leurs mères, et qui croyaient que c’était bien de frapper et de torturer, qui ne savaient pas qu’ils étaient méchants, pareils aux petits enfants, gentils petits enfants, qui arrachaient les ailes des mouches et riaient et ne savaient pas que c’était mal. Mais non, pensa-t-il, ne rien en dire aux cousins, ils ne comprendraient pas“ (V ‐ 971 f.). „Quel monstre, ce Hitler! Je lui ai écrit plusieurs fois pour le raisonner, lui expliquer qu’il mourra bientôt! Comme nous tous! Alors pourquoi toute cette méchanceté? N’est-il pas mieux d’être aimable et souriant?“ (V ‐ 994). „Comment ne pas pardonner à ce malheureux soudain si proche, soudain mon semblable?“ (C ‐ 1190).
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hommes. ‚Le fils de l’hommeʻ“ (S ‐ 346).¹⁷⁴ Wennschon dem Gesamtduktus des Szenarios entsprechend der elliptische Zusatz „Menschensohn“ christologisch zu interpretieren sein mag, so spräche sicherlich ebensoviel für die generische Auslegung des Begriffs, verstanden im Sinne eines Menschseins von jener Brüderlichkeit her, zu der Cohens autobiografischer Kindheitstext bereits im Titel appellativ gemahnt. Zwar zog Schaffner von ebendiesem Titel – Ô vous, frères humains – eine intertextuelle Verbindungslinie zum Incipit von François Villons Ballade des pendus,¹⁷⁵ doch ist vor dem Hintergrund der hier eröffneten Perspektive eine zweite Lesart vorstellbar: Womöglich ließ sich der Schriftsteller von der Brudermorderzählung inspirieren. Denn wie kein anderer Text der Hebräischen Bibel stellt der Kainsbericht mit aller Dringlichkeit die Frage nach dem Nächsten, nach der Verantwortung für den Nächsten, paradigmatisch festgemacht am rekurrenten Bild des Bruders, zu dem es bei Elie Wiesel heißt: „Le mot frère revient souvent dans le texte, rappel en apparence superflu; nous savons qu’ils sont frères. Mais le terme est répété pour souligner un principe fondamental: qui tue, tue son frère; et, lorsqu’on a tué, on n’est plus le frère de personne.“¹⁷⁶ Während die Vokabel „Bruder“ in der Erzählung von Kain und Abel auf ein tatsächlich existierendes Verwandtschaftsverhältnis hindeutet, ist sie dem Begriffsverständnis der deuteronomischen Gesetzgebung nach alleinig über ihren figurativen Wortsinn erfassbar: „Wenn bei dir ein Armer lebt, irgendeiner deiner Brüder in irgendeinem deiner Stadtbereiche in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt, dann sollst du nicht hartherzig sein und sollst deinem armen Bruder deine Hand nicht verschließen“ (Dtn 15,7). Mathys erklärt hierzu: „Das Wort ‚Bruderʻ hat in dieser Gesetzesbestimmung also die Funktion einer impliziten Begründung mit starker appellativer Kraft: Wie man sich einem Bruder gegenüber zu verhalten hatte, wusste man ja vom Zusammenleben in der Familie her.“¹⁷⁷ Ein vergleichbares Identifikationsangebot, wie es das Wort „Bruder“ in der deuteronomischen Gesetzessammlung stiftet, unterbreitet Cohen dem Leser mit der in Ô vous, frères humains erzählten Kindheitsanekdote – einem autobiografisch angelegten Text, der diesem künstlerischen Arrangement zum Trotz die erzählte Zeit in eine ahistorische Wirklichkeit überdehnt und das in der Geschichte
Einen zweiflerischen Ton bezüglich dieser von der Romanfigur durchlebten Wandlung und ihrer ethischen Durchschlagskraft schlägt Bluma Finkelstein an: „Il est évident qu’un tel personnage est déroutant pour les chrétiens autant que pour les juifs. […] Reste donc l’œuvre d’art, un chant d’amour, une allégorie qui place l’espoir de fraternité très haut, peut-être trop haut pour que les uns et les autres puissent l’atteindre.“ Finkelstein, L’écrivain juif, S. 52. Vgl. Schaffner, Le goût, S. 211 f. Wiesel, Célébration, S. 58. Mathys, Liebe Deinen Nächsten, S. 35.
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Dokumentierte zu einem allgemeinrelevanten Sinnbild stilisiert, das unseligerweise kein Verfallsdatum kennt: „Le récit de cette douleur d’enfant déborde son cadre historique et géographique: cette souffrance qui se mue en révolte, en lamentation, ou ce qui est pire, en résignation désespérée, concerne tous les racismes passés et présents; elle parle pour les racismes inconscients que les meilleurs d’entre nous portent en eux comme une maladie ignorée.“¹⁷⁸ Für derartige Parallelisierungen, die bezeugen, dass Menschen unabhängig ihres Rangs und ihrer Herkunft in ähnliche Leiden verwickelt sind, zeigte sich das Schreiben des Schriftstellers von Beginn an in erhöhtem Maße sensibel.
4.2.3.6 Entgrenzungen Immer wieder wird der Lesende mit Schicksalen konfrontiert, deren Tragik sich auf staunenswerte Weise doppelt. So weist Adriens ruheloses Durchqueren der nach Arianes Verschwinden von gähnender Leere bevölkerten Villa frappierende Ähnlichkeiten mit jenem odysseeartigen Umherirren auf, das sich für Albert mit den Hohnrufen des Straßenhändlers in Bewegung setzt. Das in beiden Charakteren gleichermaßen heftig ausgelöste Schutzbedürfnis führt sowohl den jüdischen Knaben als auch den gehörnten Ehemann – „cocu errant“ (BdS ‐ 696) – auf die zu einem Ort der Zuflucht stilisierte Toilette, „trône des solitaires“ (BdS ‐ 700). Beherrscht von Angst treten Albert und Adrien die Flucht in sich absurd ausnehmende Ablenkungsmanöver an: „On fait ainsi de petites absurdités pendant un malheur, je l’appris en ce jour de mes dix ans“ (Ô vous ‐ 1058), so der besagte Passus in der Autobiografie, während es in Belle du Seigneur über den desperaten Gemütszustand von Arianes Gatten heißt: „[C]ar il faut essayer de se divertir lamentablement dans le malheur, affreusement se divertir en tirant sur une ficelle, en prononçant des mots idiots, se divertir pour supporter le malheur, pour continuer à vivre“ (BdS ‐ 695). Ein weiteres Konvergieren ergibt sich aus der von beiden Figuren gleicherweise vergebens erprobten List, das erlittene Unrecht durch Kalorienzufuhr zu kompensieren.¹⁷⁹ Von besonderer Aussagekraft ist das hier wie dort aufscheinende Motiv der Kindheit. Bewirkt durch einen Proustschen Erinnerungsreflex erwacht in Adrien aus dem mechanisch ausgeführten Handgriff des Auf- und Zufaltens von Arianes Abschiedsbrief die Reminiszenz an die weit in die Vergangenheit zurückreichende Geste jenes Jungen, der seine Schulbücher sorg-
Peters, M.N.: Bulletin du Centre protestant d’études et de documentation (März 1973). Zitiert nach: Cohen, Œuvres, S. 1395. „Bouffer était une compagnie, une consolation“ (BdS ‐ 699). Die entsprechende Passage in Ô vous, frères humains lautet: „Les isolés aiment manger parce que manger est de l’amour, une pauvre sorte d’amour, et recouvre le malheur“ (Ô vous ‐ 1091 f.).
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sam mit einem Einband versah (BdS ‐ 687). Buchstäblich spiegelbildlich zum vergreisten Erzähler-Ich der Autobiografie (C ‐ 1131) begutachtet die mit Wehmut der Kindheit entglittene Romanfigur das unter dem dichten Bartwuchs hindurchschimmernde Antlitz des Jungen von einst: [I]l alla à petits pas voir dans la glace du lavabo l’enfant qu’il avait été, qu’il reconnut sous le collier de barbe, le Didi de huit ans, docile et gai, bon élève en classe, qui était entré dans la vie avec espoir, qui ne se doutait pas de ce qui l’attendait, qui s’était donné tant de peine pour les compositions. Il le considéra avec pitié, hocha la tête, oui sourit avec douceur, une douceur de femme (BdS ‐ 697 f.).
Massiver noch als in diesen Szenen aber befällt Adrien die Übermacht des Kindseins, als er beim Abdrücken des Revolvers anstelle eines dröhnenden Knalls die sanfte Stimme der Mutter vernimmt: „‚Couche-toi maintenant, il est tardʻ, chuchota une voix à son oreille tandis que lentement il se prosternait. Le front sur le tabouret, entre les pattes de l’ourson, il entra dans la chambre chaude de son enfance“ (BdS ‐ 706).¹⁸⁰ Die Fülle der erbrachten Belege hat es gezeigt: Tiefe Not zu empfinden ist bei Cohen kein affektives Alleinstellungsmerkmal des Juden. Doch autorisiert dieser Befund den Schluss, dass sich das Gefühlserleben des Nicht-Juden Adrien, so die von Cabot gestellte Diagnose, auf das des Juden zubewege, ja in diesem gänzlich aufgehe?¹⁸¹ Müsste denn – um das Ziehen von Trennstrichen durch die unteilbare Gemeinschaft Mensch hindurch zu meiden – die Folgerung nicht vielmehr lauten: Beide Charaktere, so ungleich sie auch sein mögen, geben konstante Grundformen menschlichen Lebens und Leidens vor, um die herum Cohen die in sich vielfach verschlungenen Fäden seiner narrativen Ethik spinnt.Vorbehaltlos beizupflichten ist Cabot dann allerdings in der an dieses Urteil geknüpften Zurückweisung eines essenzialistisch erfassten Identitätsbegriffs, die Cohen, so wurde gezeigt, schon mit Israël, le Juif et les romanciers français zur Grundlage seines Schaffens machte.¹⁸² Auch die letzte Seite von Mangeclous ist als weiteres Exempel für die Engführung zweier vermeintlich gegensätzlicher Figurenschicksale nähere Betrachtung wert. Am Ende eines von geistlosem Müßiggang reglementierten Arbeitstags in den bürokratischen Mühlen des Völkerbunds übermannt Adrien wie
Mit dieser motivischen Ausgestaltung rückt Adriens missglückter Suizidversuch wiederum in die Nähe von Arianes Freitod, der ebenfalls in dämpfende Kindheitsreminiszenzen gehüllt ist (Vgl. BdS ‐ 996). „Adrien se judaïse. Et la définition de la judéité s’en trouve compliquée.“ Cabot, Utopie, S. 20. „Ce glissement de la judéité, de l’identité à la condition, de l’essence à l’existence, revient à la définir non comme ce qu’on est, intrinsèquement, mais comme ce qu’on souffre d’être, un paria, un vaincu, les Juifs faisant figure d’archétype universel.“ Ebd., S. 20 f.
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aus dem Nichts eine übergroße Dimensionen annehmende Angst: „Et soudain Adrien eut une angoisse. Que faisait-il en ce monde? Quel était le sens de sa vie? Quand mourrait-il?“ (M ‐ 697). Von diesem Adriens Selbstvertrauen ins Wanken bringenden Gefühl der Furcht abkehrend unternimmt der Erzähler einen abrupten Fokalisierungswechsel: Geschildert wird, wie Solal die unmittelbare Verführung der von Hypnotika noch einem tiefen Schlaf anbefohlenen Ariane bevorsteht: „Il s’approcha du lit, avança la main. Il avait peur“ (M ‐ 697). Der Andersartigkeit der Angstsymptome zum Trotz, grammatisch verstärkt durch den Gebrauch zweier unterschiedlicher Tempora, empfinden beide auf engstem Textraum zueinander findende Protagonisten eine existenzbedrohliche Seins-Angst – eine Angst, die im ersten Beispiel der explizierenden Hörbarmachung durch den Erzähler bedarf, im zweiten dagegen unter Einbeziehung des Vorwissens des Lesenden situativ erklärbar ist. In welch hohem Maße das Werk des jüdischen Schriftstellers von einer anderenorts als Narrativik des Zweiteilens gewerteten Textur absieht, tritt am deutlichsten in all jenen Passagen hervor, die innerhalb eines zwischen den Polen Judentum-Christentum ausgespannten interreligiösen Felds angesiedelt sind. Saltiels vor den Blicken der jüdischen Verwandtschaft verborgen gehaltene Lektüre des Neuen Testamtens (vgl. S ‐ 133, M ‐ 379) ist in diesem zwischen beiden Extremitäten oszillierenden Lebensraum¹⁸³ ebenso zu situieren wie jenes transreligiöse Glaubenscredo der Hausangestellten Mariette (vgl. BdS ‐ 498), dessen Pragmatismus der Erzähler in Fokalisierung auf Solal in ungleich poetischere Bahnen lenkt: „[L]e même but est atteint qui est l’humanisation de l’homme […] ces deux filles de Jérusalem la juive et la chrétienne […] Hitler les hait également car toutes deux sont reines d’humanité ennemies éternelles des lois de nature […]“ (BdS ‐ 902 f.). Dergleichen stellen auch die andächtigen Respektsbekundungen der Valeureux vor der Reformationsmauer unter Beweis: „Nous nous sommes découverts devant les quatre grand Réformateurs et nous avons observé une minute de silence parce que le protestantisme est une noble religion, et d’ailleurs les protestants sont très honnêtes, très corrects, c’est connu“ (BdS ‐ 132). Mehrfach Auf die im französischen espace der Etymologie nach mitschwingende Bewegungskomponente weisen Jörg Dünne und Stephan Günzel hin: „[…] vom lateinischen spatium (offene Laufoder Kampfbahn, aber auch ein bestimmter Zeitraum) herkommend“ bezeichnet die französische Vokabel einen „Raum für freie Bewegung, wovon sich u. a. das deutsche ‚spazieren‘ herleitet. […] Raum und espace verweisen somit auch auf zwei sehr unterschiedliche raumtheoretische Positionen: auf die Annahme einer absoluten, territorialen Bindung einerseits und auf den Ausgangspunkt einer relationalen Verortung andererseits, die auch für gegenwärtige raumtheoretische Diskussionen eine Rolle spielt.“ Dünne, Jörg u. Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006. S. 10.
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hingewiesen wurde in anderem Kontext bereits auf die mit christologischen Zügen untermalte Figureninszenierung des autobiografischen Albert und des fiktiven Solal – beides Persönlichkeiten mit jüdisch-christlichem Profil, das als ebensolches interreligiöses Verknüpfungselement gelten darf. Ähnlich verhält es sich mit jener parabelartig erteilten Toleranzlektion, die Saltiel dem Neffen beim Bestaunen des nächtlichen Sternenhimmels mit auf den Weg gibt: Sol, regarde le ciel, mon chéri. Qui pourrait être plus arrogant qu’une étoile? Et pourtant, regarde longtemps les étoiles et tu verras comme elles font honnêtement leur devoir. Aucune ne gêne l’autre, toutes s’aiment, chacune a sa place auprès de son père un soleil, et elles ne se jettent pas toutes au même endroit pour profiter, pour réussir. Mais non, tranquilles, dociles à la Loi, à la Loi Morale, à la loi du Cœur, elles ont la gaité de résignation (S ‐ 266).
Zur zentralen Begründungsfigur für Toleranz, Respekt und Nächstenliebe wird in diesem Sternengleichnis, darin Lessings viel zitierter Ringparabel nahestehend, nicht die Heraufbeschwörung einer „religionsfreien Humanität“, sondern die einer Konvivenz, die „die gleiche Gültigkeit, nicht die gleiche Nichtigkeit der Religionen“¹⁸⁴ für sich in Anspruch nimmt. Dem Passus wird eine zusätzliche religionsbezogene Dimension zuteil, bedenkt man, dass die Periphrase „Loi du Cœur“ jener altjüdischen Anthropologie eng verbunden ist, die das menschliche Herz als das Erkenntnisorgan schlechthin begreift.¹⁸⁵ Hinter der oxymoralen Verknüpfung „gaieté de résignation“ mag ihrerseits jene auf das Koheletbuch anspielende Weisheit stehen, wonach der über die Grenzen seiner Entfaltung Kenntnis habende Mensch zu schätzen weiß, was Gott ihm schenkt.¹⁸⁶ Weitere wichtige Hinweise dafür, dass sich in Cohens Romankosmos die Sphäre des abendländischen Christentums und die des jüdischen Orients überlagern,¹⁸⁷ treffen wir in all jenen allgemeinmenschlichen Fehlhaltungen und Schwächen an, von denen das ionische Inselparadies samt seiner jüdischen Bevölkerung nicht ausgenommen ist. Für den Themenkomplex der Gewalt wurde dies bereits thematisiert. Auch wäre es falsch zu glauben, dass die im Werk des Kuschel, Karl-Josef: Die Ringparabeln und der religiöse Wahrheits- und Heilsanspruch. In: Die Ringparabel und das Projekt Weltethos. Hrsg.von Hans Küng [u. a.]. Göttingen: Wallstein 2010. S. 73 – 112, hier S. 103 f. Vgl. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 40. So habe an dem für das traditionelle Judentum charakteristischen ganzheitlich-psychosomatischen Menschenbild erst die über den Hellenismus in den hebräischen Kulturkreis eindringende Leib-Seele-Dichotomie gerüttelt. Vgl. etwa Schöpflin, Bibel, S. 202 f. Eine solche Lesart schlägt auch Zard vor: „L’Orient de Cohen est tout entier pétri de culture, de souvenirs, de références occidentales, tout comme l’Occident, on le verra, est irrigué, à son corps défendant, de sources orientales. Dans chacun de ces cas, le Juif est un médiateur, l’homme des passages.“ Zard, Fiction de l’Occident, S. 17.
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Autors wiederholt aufflackernde Kritik an einer als mimetisches Empfinden modellierten Liebe, geformt nach den illusorischen Vorbildern der Literatur,¹⁸⁸ auf einen Kulturkreis reduzierbar wäre. Denn es fragt sich, ob bei Saltiel, der seinem Neffen nach Florenz in der Absicht folgt, Solals amourösen Eskapaden Einhalt zu gebieten, nicht ein identisches Liebesverständnis zur Diskussion steht: „Le petit oncle pensa que l’enfant avait raison en somme. Il fallait bien qu’il la revît une dernière fois. Dans tous les romans il en était ainsi“ (S ‐ 140). Ja, die Unverfrorenheit, mit der Solal sich letztendlich von Adrienne lossagt, versetzt den mitfühlenden Onkel gar in die Erstaunen hervorrufende Gemütslage, den begangenen Ehebruch zu billigen: „Saltiel frissonnait de réprobation. Cette pauvre femme qui avait quitté son mari et dont la vie était gâchée maintenant“ (S ‐ 140). Auch vom Laster eines von Insignien der Macht geblendeten Geltungsdrangs bleibt der jüdische Onkel beim neidvollen Anblick von Solals Zweispitz-Hut nicht verschont: Après avoir contemplé sous toutes ses faces et subodoré l’objet de magnificence, l’oncle eut une minute de recueillement et versa de douces larmes d’orgueil. Puis, s’assurant qu’il était bien seul, il s’empara du couvre-chef et s’en coiffa. Il se promena en discutant avec de hauts personnages et tout en se regardant subrepticement dans la glace. Il posa, se considéra assis, debout et sur une chaise. Ah, comme il était fait pour porter bicorne! Il s’en sépara à regret (S ‐ 211).
In seinem Aufsatz Humour, irréalisme et autodéfiniton identitaire ging Thau mit offenen Augen der Frage nach, inwiefern die Valeureux an ihrem Schicksal vielmehr Anstoß nähmen anstatt es genügsam zu akzeptieren: „Les Valeureux […] sont aussi insatisfaits de leur existence, de Juifs céphaloniens, que l’était le héros éponyme au début de Solal. Seulement le désir de réussite est ici non point transformé en action et donc mis à l’épreuve du réel, mais traité sur le mode humoristique.“¹⁸⁹ Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung setzt Thaus Untersuchung einen zweiten wichtigen Akzent, indem sie das Naturell der Valeureux in einen frappanten Widerspruch zu der den orientalischen Romanfiguren von
Besonders harsch fällt Solals Kritik an dieser Mittlerrolle der Literatur aus: „Ignobles romanciers, bande de menteurs qui embellissaient la passion, en donnaient l’envie aux idiotes et aux idiots. Ignobles romanciers, fournisseurs et flagorneurs de la classe possédante. Et les idiotes aimaient ces sales mensonges, ces escroqueries, s’en nourrissaient“ (BdS ‐ 962). Zur Liebesliteratur als „médiateur du désir“ vgl. auch Girard, René: Mensonge romantique et vérité romanesque. Paris: Grasset 1961. S. 12. Thau, Humour, S. 61. Insofern ist Varon-Vassards Lesung – „Les Valeureux […] vivent d’une façon totale et paisible leur propre identité“ – äußerst fraglich. Varon-Vassard, Odette: Questions d’identité et formes du délire chez les personnages d’Albert Cohen. In: Schaffner (Hrsg.), Colloque, S. 99 – 110, hier S. 100.
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anderer Seite nachgesagten kulturspezifischen Andersartigkeit stellt: „Mais le ghetto juif qu’il [Cohen] évoque dans Mangeclous est finalement peu… juif: non seulement toute l’organisation complexe et contraignante de la vie quotidienne en est absente, mais la Céphalonie et les Valeureux tirent même une bonne partie de leur charme de leurs attributs non (spécifiquement) juifs.“¹⁹⁰ Es hat sich gezeigt: Albert Cohens von steten Verschiebungsprozessen in Bewegung versetzte Romanwelt paralysiert die trennscharfe Zuordnung von Attributen der jeweils einen oder anderen Hemisphäre.Vielmehr sollten wir die vom Autor selbst gesetzten Signale zum Anlass nehmen, die aus Cohens Differenzen tilgender Raumstrukturierung ableitbaren ethischen Rückschlüsse mit der Denkweise des 1911 in Lübeck geborenen jüdischen Juristen Chaim Herman Cohn in Verbindung zu bringen: „Ethik ist Ethik, Moral ist Moral, Anstand ist Anstand, ganz egal wo die Menschen sind und wo sie her sind. Ethik ist immer dieselbe.“¹⁹¹ Hinzuzufügen wären dem die für Leben und Werk des Schriftstellers nicht minder sinnhaften Worte des Schweizer Theologen Hans Küng: „Die Globalisierung der Probleme […] erfordert eine Globalisierung des Ethos“¹⁹² – eine Diagnose, die einen ebensolch bedingungslosen Vorstoß in ein Kulturen verbindendes Verantwortungsbewusstsein für das künftige Zusammenleben der Menschen verlangt wie Cohen ihn schriftstellerisch zu Wege brachte.
4.2.3.7 Recht und Liebe Die im levitischen Nächstenliebegebot angelegte Verzahnung von Recht und Liebe artikuliert sich bei Albert Cohen auf zweierlei Weise: Zum einen ist sie fester Bestandteil eines literarischen Werks, das seine Daseinsform aus der in Jour de mes dix ans geschilderten Begegnung mit dem im Frankreich der Dreyfus-Affäre hohe Wellen schlagenden Antisemitismus schöpft. In einem klug argumentierenden Aufsatz hat Pierre Bras die als Grundopposition gestaltete Figurenzeichnung des Cohenschen Œuvre angemerkt: Auf die Gestalt des rechtswidrig handelnden Straßenverkäufers des autobiografischen Erzähltextes antworte in der auf dieses
Ebd., S. 54. Goodman-Thau, Eveline: Immer bleibe ein Mensch. Ein Gespräch mit Chaim H. Cohn. In: Jüdischer Almanach des Leo-Baeck-Instituts 5758. Frankfurt/Main 1998. S. 185. Zitiert nach: Goodman-Thau, Eveline u. Fania Oz-Salzberger: Tradition und Säkularisierung im Zeitalter der Kulturkritik. Zur Frage der Mosaischen Entscheidung. In: Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität. Hrsg. von Eveline GoodmanThau u. Fania Oz-Salzberger. Berlin, Wien: Philo 2005. S. 13 – 42, hier S. 24. Küng, Hans: Wider den Zusammenprall der Kulturen. In: Küng [u. a.] (Hrsg.), Ringparabel, S. 115 – 133, hier S. 128.
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Ereignis unmittelbar reagierenden Fiktion der Prototyp eines Menschen ohne feste Heimat, dessen ziellose Wanderschaft, anders als die des von Ort zu Ort ziehenden Händlers, eine von fremder Hand veranlasste Bewegungsdynamik beschreibe: „Ainsi, l’un des premiers personnages de fiction que Cohen crée et met en scène – le pauvre Juif apatride Jérémie de la pièce de théâtre Ézéchiel – sera, comme le camelot de la réalité, un vendeur ambulant, mais quant à lui ambulant par obligation puisqu’il est apatride.“¹⁹³ Dass Jérémie schon in der ersten Version von Cohens Theaterstück als moralischer Gegenpol zum Straßenhändler figuriere – hierfür sprächen weiter die auf dem verschlissenen Koffer des jüdischen Außenseiters prangenden Etiketten. Zwar gäben darauf antijüdische Hetze und Diskriminierung den Ton an, doch zeuge die Aufschrift „conseils juridiques et moraux“ (E ‐ 1305), Seite an Seite angebracht mit den die pekuniäre Raffgier des Juden anklingen lassenden Beschäftigungsfeldern – „Archives de la Banque Internationale et Ambulante; Prêts sur gages“ (E ‐ 1305) – unzweideutig von der Jérémie zugewiesenen Gegenrolle als Überbringer von Recht, Anstand und Moral: „[I]l [Jérémie] est à la fois Juif errant et juriste errant et, en tant que double d’Albert Cohen, il s’oppose, par la morale qu’il propose, à la nature bestiale incarnée par des forts, selon la problématique récurrente chez l’auteur.“¹⁹⁴ Der bei Bras thematisierten Gegensätzlichkeit zweier seitenverkehrt aufeinander zu beziehenden Romanfiguren könnte man einen dritten Punkt hinzusetzen. Denn die den Fremdenhass der Zuhörerschaft aufstachelnde Gewaltrhetorik des Straßenverkäufers erwidert Jérémie, darin ein leitmotivisches Grundmuster des Cohenschen Schreibens vorwegnehmend, mit einem Vergebungsbereitschaft signalisierenden Gegendiskurs: „Non, non, vous êtes injuste, seigneur Ézéchiel… Je vous assure qu’ils sont très gentils, les Gentils! […] Voyez-vous, tout de même, les hommes sont bons. Il faut les aimer, pardonner leurs erreurs… Nous sommes leurs frères dans le malheur. J’ai beaucoup voyagé et, tout ridicule mendiant que je sois, je les connais“ (E ‐ 1317).¹⁹⁵ Mit ebenso großer Deutlichkeit wie in seinem Künstlertum trat das sensible Gespür des Juristen und Romanciers für die Belange des Fremden in Cohens au Bras, Pierre: Camelot contre camelot: Albert Cohen, juriste errant de la littérature française. In: Figures de l’étranger, S. 13 – 28, hier S. 19. Ebd., S. 28. Bezeichnend ist, dass das anvisierte Feindesbild je nach Version variiert. Während es in der zitierten ersten Fassung in noch grober Verallgemeinerung alle Nicht-Juden einschließt, spricht die zweite Fassung von „les hommes des autres religions! Même les Cosaques“ (E ‐ 1356). In der Endversion von 1956 heißt es dagegen ungleich präziser: „Non, seigneur, Ézéchiel, ils ne sont pas méchants, les Allemands, ils sont des fils, ils aiment leur maman, ils chantent des jolies chansons“ (E ‐ 788). Vgl. hierzu auch Zagury-Benhattar, Joëlle: Albert Cohen et la cause des réfugiés. In: Figures de l’étranger, S. 29 – 46, hier S. 38.
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ßerliterarischem Engagement hervor. Als sein schönstes Buch¹⁹⁶ umschrieb der von 1944 bis 1946 für das internationale Flüchtlingskomitee wirkende Rechtsgelehrte jenen auf höchster Ebene durchgesetzten und im Januar 1949 bereits von 18 Staaten ratifizierten Reisepass, der Abermillionen von staatenlosen Flüchtlingen die offizielle Anerkennung als Rechtssubjekte garantierte. Der historische Entstehungsrahmen dieses juristischen Präzedenzdokuments – „bouclier aux malheureux apatrides“¹⁹⁷ – sei kurz skizziert: Entwicklungsgeschichtlich präfiguriert das Dokument die am 28. Juli des Jahres 1951 von den Vereinten Nationen verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention. Somit situiert sich das von Albert Cohen in globalem Maßstab errungene Ausweispapier innerhalb jener den internationalen Schutz der Menschenrechte institutionell sichernden Gesamtbewegung, die mit der Verkündigung der UN-Menschenrechtscharta am 10. Dezember 1948 ihren Höhepunkt erreichte.¹⁹⁸ Früher Wegbereiter dieses humanitären und rechtspolitischen Durchbruchs war der 1922 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Norweger Fridtjof Nansen, ehemaliger Hochkommissar des Völkerbunds, der für die Vertriebenenopfer des Ersten Weltkriegs ein Ausweispapier schuf,¹⁹⁹ dessen rechtlich gesehen noch unvollständige Konzeption Albert Cohen weiter optimieren konnte. Für den in eine fremde Nation einreisenden Flüchtling stelle der von Cohen erwirkte Reisepass, so der Jurist Max Mamou, den entscheidenden Etappenbeginn für die gesellschaftlich legitimierte Teilhabe am Leben der Gemeinschaft dar: „Pour COHEN, ‚y êtreʻ est la première étape qui doit
Albert Cohen im Interview mit Claude Depoisier. In: Radio-TV 21 (24. Mai 1979), S. 49. Zitiert nach: Cohen, Œuvres, S. XCVII. Schon für Cohens Jérémie hatte sich der Besitz eines von offizieller Seite fälschlicherweise als Pass identifizierten Dokuments ausgezahlt: „Ceci est un permis de chasse d’un lord anglais; il me sert de passeport quelquefois. Il est très bon, à cause du cachet. Ceci est un billet de confession d’une baronne. Il m’a servi de passeport. Ceci est un diplôme de pédicure. Il m’a servi de passeport en Perse. Ceci est mon vrai passeport. (Avec mépris) Il ne m’a jamais servi“ (E ‐ 1351, zweite Version von 1933). So Albert Cohen über das von ihm konzipierte Ausweispapier: Brochier, Valbert, Albert Cohen, S. 8. Vgl. Hottelier, Michel: Albert Cohen, juriste au service du droit des réfugiés. In: Albert Cohen. L’écrivain au service de l’Etat de droit. Actes du colloque organisé le 18 février par la Faculté de droit et la Fondation Mémoire Albert Cohen. Hrsg. von Michel Hottelier. Genève [u. a.]: Schulthess 2011. S. 3 – 19, hier S. 6. Vgl. Herren, Organisationen, S. 60. Eine zentrale Nachbesserung gelang Cohen mit einer bindenden Rückführklausel, mit der die Unterzeichnenden den Ausweisbesitzern die Rückreise in jenes Land sicherstellten, in dem der Pass ausgestellt worden war. In Cohens Fiktion weist sich der bereits genannte Jude Mossinsohn als Inhaber des Nansenpasses aus: „Il était sans patrie, n’avait pour tout bien qu’un certificat Nansen et pour tout protecteur qu’un vieux bonhomme de père au fond de la Roumanie“ (M ‐ 676).
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permettre un jour ‚d’en êtreʻ.“²⁰⁰ Als Jurist und Diplomat war es Albert Cohen, so scheint es, ein besonderes Anliegen, die Nächstenliebe von der ausschließlichen Obhut des Individuums loszusprechen und sie mittels einer Rechtsstruktur dem Bereich der Sozialethik anzuvertrauen. In einer im Januar 1949 vor der Internationalen Flüchtlingsorganisation gehaltenen Rede artikulierte Cohen mit aller Bestimmtheit, weshalb es die dringlichste Aufgabe angesichts der vom Krieg freigegebenen Flüchtlingsströme sei, den rechts-, mittel- und staatenlosen Flüchtling unter institutionellen Schutz zu stellen: „De tout cela, il ressort que s’il est un être humain qui a besoin de protection, c’est bien le réfugié.“²⁰¹ Die fortwährende Aktualität dieses unermüdlichen Engagements zeigt sich nicht zuletzt in der im November 2014 vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR lancierten Kampagne gegen Staatenlosigkeit – eine Problematik, die aufgrund weltweit immer zahlreicher werdender Bürgerkriege dramatisch überhandnimmt. Erklärtes Ziel der Kampagne ist, diese nach Einschätzung des UNHCR-Hochkommissars Antonio Guterres „schlimme Anomalie des 21. Jahrhunderts“²⁰² binnen eines Jahrzehnts auszumerzen. Das Werk des jüdischen Schriftstellers greift, so wurde deutlich, in mancherorts identischen und doch immer wieder neuen Bildern jene vier ethischen Grundsätze der Nächstenliebe auf, die sich für das alttestamentliche Begriffsverständnis als zentral erwiesen haben. Vor diesem Hintergrund darf man fast schon bedauern, dass der das excipit der Ursprungsfassung von Solal formende Passus aus der im Jahr 1969 endgültig abgeänderten Version vollständig verschwand. In einem an den Leser adressierten finalen Grußwort des Erzählers war damals zu vernehmen: „Toi qui as lu, je te salue et je te souris.Va dans la bonté. […] Aime et agis. Aime et tu connaîtras la joie. N’oublie pas que tu mourras.“²⁰³ „Aime et agis“ – in der gebotenen Kürze exzerpiert der Schriftsteller aus dem Erzählten eine Moral, um die es sich im Kern in jeder von Albert Cohens Geschichten handelt. Denn lässt sich die Liebe, wie der Kirchenvater Augustinus es in einer Berühmtheit erlangten Sentenz formulierte,²⁰⁴ als Movens allen Handelns bestimmen, so kann
Mamou, Max: Albert Cohen. La force du droit. In: Hottelier (Hrsg.), Albert Cohen, S. 21– 30, hier S. 22. Cohen, Albert: Les objectifs de l’Organisation internationale pour les réfugiés en matière de protection juridique et politique. In: Cohen, Albert: Ecrits d’Angleterre. Paris: Les Belles Lettres 2002. S. 47– 87, hier S. 51. Zitiert nach: Die Welt (4.11. 2014). Cohen, Œuvres, S. 1256. „Dilige et quod vis fac.“ Zu dieser Maxime und ihrer religionsgeschichtlichen Bedeutung sei stellvertretend verwiesen auf: Fischer, Norbert: Amore amoris tui facio istuc. Zur Bedeutung der Liebe im Leben und Denken Augustins. In: Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebes-
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daraus nur Gutes entspringen. Über den Grund, weshalb der Romancier gerade dieses ethisch konzise Schlusswort seinem Werk letzten Endes vorenthielt, kann nur spekuliert werden. Sollte Valbert Recht behalten mit der Annahme, dass der späte Cohen, ganz im Gegensatz zu dem der frühen Schaffensphase, in Folge der 1947 vollzogenen Ehescheidung von Marianne Goss und vor allem nach deren Suizid im Jahr 1973 nicht mehr an die vormalig ästhetisch dargebotene Quintessenz der Liebe glaubte,²⁰⁵ dann lieferte diese in der Lebensgeschichte des Schriftstellers aufzuspürende Desillusionierung hierfür eine mögliche Erklärung.
4.3 Eine Ethik des Mitleids 4.3.1 Exkurs: Mitleidstheorien Wahnsinn, Eifersucht, Liebestod: Während diese in der Literatur häufig produktiv werdenden Motive zu den elementaren Ingredienzen eines jeden Liebesplots gehören, rangiert das Mitleid bei einem Großteil der Romanciers als vernachlässigbare Gefühlskategorie. So versteht sich von selbst, weshalb auch die Literaturwissenschaft das Mitleid in ihren motivanalytischen Studien nur sekundär behandelt. Das Interesse des Künstlers am Mitleid ist bei Albert Cohen dagegen ungleich größer, erringt es im Schaffen des Autors doch einen in der Forschungsliteratur bislang unterbelichteten ethischen Eigenwert, den es zu bestimmen gilt. Konzentriert hat sich das Augenmerk der Philologen bislang nahezu ausschließlich auf die Indienstname des Motivs innerhalb des von Cohen in den Carnets essayistisch ausformulierten Nächstenliebemodells – eine höchst lückenhafte Ausrichtung, die gerade hinsichtlich der für uns relevanten Frage des Zusammenlebens um eine bis dato noch ausstehende leitmotivische Untersuchung des Mitleids komplettiert werden soll. Das mit diesem Analyseweg verbundene Anliegen zielt darauf ab, den im Werk des Schriftstellers in vielfältige Sinnzusammenhänge gebrachten Mitleidsdiskurs auf die ethische Leistungsfädarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Hrsg. von Edith Düsing u. Hans-Dieter Klein. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. S. 169 – 190, hier S. 185 f. „La rupture avec Marianne et, plus tard, ce suicide qui, à la femme toujours aimée, fera connaître le sort de l’Ariane du roman, amèneront le vieil homme à se renier, à proclamer qu’il avait écrit un roman contre l’amour, à vous persuader que l’amour, cette invention des Chrétiens, n’existe pas.“ Valbert, Conversations, S. 50. Cohen selbst war gegen Ende seines Lebens davon überzeugt, mit Belle du Seigneur ein „pamphlet contre la passion“ geschrieben zu haben. Cohen, Albert: J’envie les pieux car je mérite de croire. Entretien avec Marc Berger et Michel Boujut. In: Les Nouvelles littéraires (22./23. Oktober 1981). Zitiert nach: Schaffner: ‚Belle du Seigneur‘, roman à thèse ou roman expérimental? In: Lectures, S. 221– 235, hier S. 221.
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higkeit eines Gefühls hin zu befragen, das seit jeher in die Moraldiskussionen der Philosophie verwoben ist. Vor dem das Cohensche Œuvre überragenden geistesgeschichtlichen Hintergrund ist die in den Texten des Schriftstellers entfaltete Mitleidsethik als eine sich mit anderen Traditionssträngen berührende Rhetorik zu betrachten. Im Rahmen dieser lecture croisée wird die aufgrund der nicht mehr rekonstruierbaren geistigen Etappen der Cohenschen Werkgeschichte²⁰⁶ im Raum der Hypothese verbleibende Frage nach bewussten Rezeptionsvorgängen weitestgehend ausgeklammert. Primär soll es darum gehen, unabhängig vom diesbezüglichen Status der Fremdtexte Cohens Nachdenken über den ethischen Mehrwert des Mitleids ideengeschichtlich zu kontextualisieren – dies vor allem in der Absicht, die literarisch entworfene Mitleidsethik des Autors in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. Fünf Stimmen sehr unterschiedlichen Gepräges treffen in diesem Exkurs aufeinander. Neben den herausragenden Köpfen der neuzeitlichen Mitleidsdebatte – Jean-Jacques Rousseau und Arthur Schopenhauer – soll auch Denkerinnen und Denkern das Wort erteilt werden, die sich dem Leser beim Thema Mitleid nicht unmittelbar aufdrängen: Dies ist zum einen der deutsch-jüdische Philosoph Hermann Cohen, der sich darum verdient machte, das Mitleid vom jüdischen Monotheismus her zu erklären. Der zeitgenössische Philosoph Werner Marx wiederum unterzieht das Mitleid einer phänomenologischen Betrachtung, während die Philologin Käte Hamburger in ihrer von Skepsis geleiteten Hinterfragung der positiven Mitleidstheorien das Wissen der Romanliteratur zu Rate zieht. Die zahlenmäßige Begrenzung der exkursartig vorgestellten Mitleidsmodelle darf als ebenso selbstverständlich gelten wie die gebotene inhaltliche Kürze. Der Hauptgrund für das Hinzuziehen der benannten Quellen liegt darin, dass die Texte der hier berücksichtigten Autoren – von Hamburger einmal abgesehen – das Mitleid als ethisch wertvoll erachten. Mit Rousseau traf die Auswahl einen Autoren, citoyen de Genève obendrein, der mit seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes einen regelrechten „Schlüsseltext für die Mitleidsdiskussion“²⁰⁷ beisteuerte und der Albert Cohen fürwahr kein Unbekannter war.²⁰⁸ Die Einbindung Schopenhauers in das hier untersuchte Korpus erscheint aus zweierlei Hinsicht unumgänglich: erstens, weil der Philosoph in
„L’écrivain désirait en effet que les critiques n’aient pas accès au laboratoire intime de sa création mais à une œuvre achevée, conforme à l’idée qu’il se faisait de la perfection littéraire.“ Schaffner, Le grandiose, S. 22. Riedel, Wolfgang: Um ein Naturprinzip der Sittlichkeit. Motive der Mitleidsdiskussion im 18. Jahrhundert. In: Ethik und Ästhetik des Mitleids. Hrsg. von Nina Gülcher u. Irmela von der Lühe. Freiburg i. Br.: Rombach 2007. S. 15 – 31, hier S. 15. Den Rousseauschen Spuren im Werk des Schriftstellers folgt: Schaffner, combat.
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seiner 1840 publizierten Preisschrift Über die Grundlage der Moral bewusst den Anschluss an das geistige Erbe seines großen aufklärerischen Vorbilds suchte.²⁰⁹ Zweitens aber auch, da eine geistige Geschwisterschaft zwischen Cohens tendresse de pitié und Schopenhauers Mitleidstheorie schon von anderer Seite in Betracht gezogen wurde.²¹⁰ Hermann Cohen koppelt dagegen den Mitleidsbegriff an den altjüdischen Fremdendiskurs der Bibel – eine Inbezugsetzung, die für das uns interessierende Wechselverhältnis zwischen Liebe und Judentum vielversprechend erscheint. Ein wichtiges Selektionskriterium liegt bei Werner Marx in der eng an das Mitleid gebundenen Schlüsselfigur des Todes vor. Käte Hamburgers Analysen lassen aller mitleidskritischen Ausrichtung zum Trotz eine aufschlussreiche Perspektivierung erwarten, da die Verfasserin in Sachen Mitleid der Literatur ein treffsichereres Urteilsvermögen zugesteht als dem theoretischen Rohmaterial. Fest steht: Alle fünf benannten Autoren meditieren über eine Emotion, die in der öffentlichen Diskussion noch immer einen Vorzugsplatz einnimmt. Genannt sei ein Beispiel unter vielen: Als im Herbst 2013 an die amtierende Kanzleranwärterin Angela Merkel, geladen zum TV-Duell mit ihrem Herausforderer Peer Steinbrück, die plakative Frage ging, ob sie angesichts der von politischen Fauxpas durchsetzten Wahlkampfkampagne des Gegenkandidats nicht Mitleid mit Herrn Steinbrück empfinde, wies sie dies indigniert von sich. Eins machte Merkels Replik mehr als deutlich: Hier wurde ein Begriffsverständnis als gegeben angenommen, wonach das Mitleid als eine negativ konnotierte Gefühlslage der Souveränität zu deuten sei, gerichtet gegen einen Kontrahenten, dem die Kunst der Wahlkampfführung nicht habe glücken wollen. Eine diachrone Schau auf die Verwendungsweisen eines Begriffs, der gerade in der heutigen Zeit mit ihrer Flut an medial vermittelten Mitleidsbildern inflationär gebraucht wird, regt indes zu einer differenzierteren Beurteilung des Mitleids an.
Vgl. Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über das Fundament der Moral. Mit einer Einleitung von Hans Ebeling. Hamburg: Meiner 1979. S. 143. Vgl. die Darstellung bei Auroy, quête, S. 116 f. sowie dies.: Albert Cohen et la mort de Dieu. In: Albert Cohen:Visions du sacré. Cahiers Albert Cohen 4 (1994). S. 23 – 54, hier S. 44. Ein nicht näher explizierter Hinweis findet sich darüber hinaus bei Médioni, Albert Cohen, S. 270.
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4.3.1.1 Vom Urquell der Sittlichkeit: Jean-Jacques Rousseau „[D]er beste Mensch ist, der die größte Fertigkeit im Mitleiden hat“²¹¹ – fällt in den Geisteswissenschaften das Stichwort Mitleid, so kommt fast immer dieses zu Berühmtheit gelangte Lessingsche Diktum zum Tragen. Wiewohl vom Drama hergeleitet, sprenge der nach Lessing durch den Anblick des leidenden Helden auf der Bühne im Theaterbesucher ausgelöste Mitleidsreflex die alleinige Sphäre der Kunst, um an der sittlichen Neuorientierung des Zuschauers teilzuhaben: „Und dieser in Dramatik und Dramentheorie altvertraute, ja triviale wirkungspsychologische Effekt ist per se – eben darin besteht Lessings Pointe – auch schon der moralische: die Einheit von Ästhetik und Ethik!“²¹² In konsequenter Deckung mit seinem radikalen Kulturpessimismus sieht Rousseau dagegen in einem offenen Brief an seinen Aufklärungsgegner d’Alembert die dramaturgische Verwertung des Mitleids weitaus kritischer, da der von den Akteuren rein artifiziell erzeugte Affekt keinerlei ethisches Nachspiel für die Gesellschaft folgen lasse: „[M]ais quelle est cette pitié? Une émotion passagère et vaine, qui ne dure pas plus que l’illusion qui l’a produite […]; une pitié stérile, qui se repait de quelques larmes, et n’a jamais produit le moindre acte d’humanité.“²¹³ So nimmt es nicht Wunder, dass die Mitleidsfrage in Rousseaus ebenso renommierter wie polemischer Preisschrift in gänzlich anderer Umgebung als bei Lessing ausgetragen wird. Dem das Schreiben und Denken des Philosophen prägenden Naturzustand des Menschen zugehörig artikuliert sich hier das Mitleid in engem Bezug zu jener Selbstliebe, die den im Zuge der Vergesellschaftung sich herauskristallisierenden amour-propre entwicklungsgeschichtlich antizipiert.²¹⁴ In diesem Kontext versäumt Rousseau es denn auch nicht, das Mitleid als jenen Urquell aller Tugenden hervorzuheben –
Brief von Gotthold Ephraim Lessing an Moses Mendelssohn vom 18. Dezember 1756. In: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe. Hrsg. von Helmuth Kiesel. Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker Verlag 1987. S. 144– 154, hier S. 149. Riedel, Naturprinzip, S. 23. Rousseau, Jean-Jacques: Lettre à d’Alembert. In: Œuvres complètes. Bd. 5: Ecrits sur la musique, la langue et le théâtre. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1995. S. 23. „L’Amour de soi-même est un sentiment naturel qui porte tout animal à veiller à sa propre conservation et qui, dirigé dans l’homme par la raison et modifié par la pitié, produit l’humanité et la vertu. L’Amour propre n’est qu’un sentiment rélatif, factice, et né dans la société, qui porte chaque individu à faire plus de cas de soi que de tout autre, qui inspire aux hommes tous les maux qu’ils se font mutuellement, et qui est la véritable source de l’honneur.“ Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. In: Œuvres complètes. Bd. 3: Du contrat social. Ecrits politiques. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1964. S. 219 (Fußnote XV).
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„premier sentiment de l’Humanit铲¹⁵ –, dem allererst jedwedes sittliche Tun entspringe: „En effet, qu’est-ce que la générosité, la clémence, l’humanité, sinon la pitié appliquée aux faibles, aux coupables, ou à l’espèce humaine en général? La bienveillance et l’amitié même sont, à le bien prendre, des productions d’une pitié constante, fixée sur un objet particulier: car désirer que quelqu’un ne souffre point, qu’est-ce autre chose que désirer qu’il soit heureux?“²¹⁶ Die wichtigste Mitgift dieses dem Menschen intuitiv gegebenen, präreflexiven Mitleids ließe sich in der Fähigkeit erkennen, die emotionale Solidarität in Identifikation zu verwandeln: „Quand il serait vrai que la commisération ne serait qu’un sentiment qui nous met à la place de celui qui souffre, sentiment obscur et vif dans l’homme sauvage, développé, mais faible dans l’homme civil, qu’importerait cette idée à la vérité de ce que je dis, sinon de lui donner plus de force?“²¹⁷ Erst unter dem Joch der Vernunft werde dieser natürliche ethische Antrieb progressiv zu Fall gebracht: Or il est évident que cette identification a dû être infiniment plus étroite dans l’état de nature que dans l’état de raisonnement. C’est la raison qui engendre l’amour-propre, et c’est la réflexion qui le fortifie; c’est elle qui replie l’homme sur lui-même; c’est elle qui le sépare de tout ce qui le gêne et l’afflige: c’est la philosophie qui l’isole; c’est par elle qu’il dit en secret, à l’aspect d’un homme souffrant: péris si tu veux, je suis en sûreté.²¹⁸
Somit setzt das Rousseausche Mitleidsverständnis einen deutlichen Kontrapunkt zur vernunftdominierten Philosophie der Stoiker, wonach das für des Menschen Wohl als schädlich disqualifizierte Gefühl vom Verstand zur Gänze beherrscht werden müsse, da es das Streben nach Contenance und affektfreier Selbstbestimmung bereits im Keim unterminiere.²¹⁹ Ganz anders bei Rousseau: Hier findet das Mitleid als die ebenso sublimste wie natürlichste Erziehung zur Sittlichkeit Honorierung, identifiziert als eine den Maßregeln der Vernunft vorgeschaltete Instanz, die eine jede Gesetzesnorm in ihrer Eignung zur Sicherstellung des sozialen Friedens überbiete: „[C]’est elle [la pitié] qui, dans l’état de Nature, tient lieu de Loix, de mœurs, et de vertu, avec cet avantage que nul n’est tenté de désobéir à sa douce voix […].“²²⁰ Dem Mitleid steht in Rousseaus dualistisch angelegtem Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 155 f. Vgl. Kronauer, Ulrich (Hrsg.): Vom Nutzen und Nachteil des Mitleids. Eine Anthologie. Frankfurt/Main: Keip 1990. S. 12. Rousseau, Discours, S. 156. Dass Rousseau die vom Mitleid ausgehende ethische Prägung selbst über die der christlichen Weisungen stellt, wird an anderer Stelle in einem verdeckten Hinweis auf die Bergpredigt deutlich: „[C]’est elle [la pitié] qui, au lieu de cette maxime sublime de justice raisonnée: Fais à autrui comme tu veux qu’on te fasse, inspire à tous les hommes cette autre
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Triebmodell der menschliche Drang nach Selbsterhaltung als natürliches Regulativ zur Seite: „[D]eux principes antérieurs à la raison, dont l’un nous intéresse ardemment à nôtre bien-être et à la conservation de nous-mêmes, et l’autre nous inspire une répugnance naturelle à voir perir ou souffrir tout être sensible et principalement nos semblables.“²²¹ Denn in dem Maße, in dem das Mitleid den amour de soi zu neutralisieren wisse, partizipiere auch die Selbstliebe an der Drosselung eines übersteigerten Mitleidsreflexes. Das Resultat: ein auf Kompensation ausgerichteter Funktionsmechanismus, der für eine auf natürliche Weise gesteuerte Balance sorge: „C’est du concours et de la combinaison que nôtre esprit est en état de faire de ces deux Principes, sans qu’il soit nécessaire d’y faire entrer celui de la sociabilité, que me paroissent découler toutes les règles du droit naturel; règles que la raison est ensuite forcée de rétablir sur d’autres fondemens, quand par ses développemens successifs elle est venue à bout d’étouffer la Nature.“²²² Fundamental gestört werde dieses zwischen beiden Naturprinzipien bestehende Gleichgewicht durch das Einwirken der im Zuge der Sozialisation erstarkten Vernunft. In Anbetracht dieser unaufhaltbaren Entwicklung sei der Mensch in der Pflicht, die den Naturzustand auszeichnende ethische Basis unter den neu gelagerten Rahmenbedingungen intakt zu halten. Der Rousseau-Experte Jean Starobinski erklärt: L’homme civilisé ne peut pas vivre conformément au droit naturel; il doit s’efforcer de lui être fidèle selon un rapport de convergence ou d’analogie. Les motivations raisonnables, les impératifs du sentiment moral visent au même but (conservation de soi, respect de la vie d’autrui) que le mouvement spontané de la nature. Le droit n’aura pas changé dans sa fin, mais dans sa source.²²³
Ihre wohl sublimste ästhetische Fortschreibung erfährt die von Rousseau im Discours theoretisch angestrebte Aussöhnung von Natur und Kultur, von Instinkt und Verstand bekanntlich im Elysée, dem von Julie in der Nouvelle Héloïse angelegten botanischen Kleinod. Wiewohl von Menschenhand bepflanzt und kultiviert, erschließt sich dem von der urwüchsigen Schönheit des Gartens überwältigten Saint-Preux die mit Sorgfalt durchdachte Architektur des paradiesischen Locus amoenus nicht unmittelbar: „[J]e crus voir le lieu le plus sauvage, le plus
maxime de bonté naturelle bien moins parfaite, mais plus utile peut-être que la précédente: Fais ton bien avec le moindre mal d’autrui qu’il est possible. C’est en un mot dans ce sentiment Naturel, plutôt que dans des argumens subtils, qu’il faut chercher la cause de la répugnance que tout homme éprouveroit à mal faire, même indépendamment des maximes de l’éducation.“ Ebd. Ebd., S. 125 f. Ebd., S. 126. Starobinski, Jean. In: Rousseau, Œuvres. Bd. 3, S. 1299.
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solitaire de la nature, et il me sembloit d’être le premier mortel qui jamais eut pénétré dans ce désert.“²²⁴ Und doch: Der mit Rousseaus Romanschaffen einsetzende Wandel von der Theorie hin zur Fiktionalisierung der aufgestellten Thesen kommt nicht gänzlich ohne Brüche aus – Brüche, die selbst die im zweiten Discours noch voller Innbrunst verfochtene ethische Triebkraft des Mitleids, so zeigt Henning Ritter, in starke Zweifel stellen. Schon im Emile rücke der Autor von der verlockenden Vorstellung ab, das Mitleid könne selbst in großen, ja transnational gedachten Gesellschaften neue humanisierende Impulse freisetzen. Stattdessen richte Rousseau in seiner auf räumlicher wie auch auf zwischenmenschlicher Ebene überschaubar konzipierten Pädagogikschrift den Fokus auf eine „Erziehung zum Naheliegenden,“²²⁵ die den anfangs noch kosmopolitisch ersehnten Kreis der Nutznießer des Mitleids um ein Erhebliches reduziere. „Die Moral“, so Ritters Fazit des auch bei Rousseau unlösbaren Dilemmas von Nähe und Distanz, „litt in jedem Fall an einem nicht zu behebenden Mangel: Was sie dem Nächsten zukommen ließ, nahm sie den Menschen im allgemeinen, und was sie diesen zu geben suchte, enthielt sie denen vor, die an sich die stärksten Ansprüche gelten machen konnten.“²²⁶ Dieser in Rousseaus Werkgeschichte sichtbar werdenden Entwicklungsstufen des Mitleids zum Trotz dürfen wir abschließend festhalten: Indem der Philosoph und Schriftsteller das Gefühl von seinem passiven Reflexcharakter freispricht und ihm als gewichtigen „Teil des Bestimmungsgrundes moralischen Handelns“²²⁷ Tribut zollt, trieb Rousseau in der Mitleidsdebatte eine ebenso nachhaltige wie wegweisende Mentalitätswende voran, die nicht zuletzt dank Schopenhauer den Jahrhundertwechsel ungeschadet überdauern sollte.
Rousseau, Jean-Jacques: Julie ou la Nouvelle Héloïse. Œuvres complètes. Bd. 2: ThéâtrePoésies. Essais littéraires. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1964. S. 471. Auf die Idee der Vermittlung zwischen Affekt und Verstand drängt nicht nur die Gestaltung von Julies Garten hin, sondern auch die den Roman durchziehende Topografie: So befindet sich das Grundstück auf halber Höhe zwischen jenem wildromantischen Wäldchen, in dem Julie und Saint-Preux sich erstmals küssten, und dem vernunftregierten Anwesen Clarens. Vgl. Reisewitz, Perry: L’illusion salutaire. Jean-Jacques Rousseaus ‚Nouvelle Héloïse‘ als ästhetische Fortschreibung der philosophischen Anthropologie der ‚Discours‘. Bonn: Romanistischer Verlag 2000. S. 123 f. Ritter, Henning: Nahes und fernes Unglück. Versuch über das Mitleid. München: C.H. Beck 2004. S. 51. Ebd., S. 54. Gramer, Norbert: Mitleid in der Ethik. Zu Geschichte und Problem eines vernachlässigten Prinzips. Bonn: Universitätsdruck 2000. S. 33 f.
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4.3.1.2 In der Gefolgschaft Rousseaus: Arthur Schopenhauer In gedanklicher Fortführung des von Rousseau eingeläuteten Paradigmenwechsels verfasst Schopenhauer seine im Jahre 1840 gleichfalls als Preisschrift vorgelegte Abhandlung Über die Grundlagen der Moral. Am geistigen Klima der Zeit stößt sich das ungekrönt gebliebene Œuvre ebenso wie am Urteil der Königlichen Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften, „die 1840 keinen unzeitgemäßen Preisträger wollte und es lieber mit dem philosophischen Establishment hielt.“²²⁸ Dem Vorwurf der Jury, der Verfasser habe die gestellte Preisfrage nach der Quelle und Grundlage der Moral ohne die gemäß dem Wortlaut der Ausschreibung vorgegebene metaphysische Stoßrichtung zu lösen gesucht, steht der Unmut der Akademie über jene Dreistigkeit zur Seite, mit der Schopenhauer gegen das rationalistisch geprägte Philosophieren seiner Vor- und Mitdenker zu Felde gezogen sei.²²⁹ In der Tat lasse sich die von Schopenhauers primär deskriptivem Ansatz²³⁰ intendierte „Absage an jede Form einer präskriptiven Ethik“, so Hans Ebeling in seinem erhellenden Werkkommentar, nur als pure „Provokation für jede Variante des Rationalismus“²³¹ begreifen. Dass Schopenhauers leidenschaftlicher Zorn über ein rationalistisch grundiertes Moralempfinden nicht nur das kantianische Denken, sondern auch das Judentum traf, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden: Man sieht, daß alle Zeiten und alle Länder sehr wohl die Quelle der Moralität erkannt haben; nur Europa nicht, woran allein der foetor Judaicus Schuld ist, der hier Alles und Alles durchzieht: da muß es dann schlechterdings ein Pflichtgebot, ein Sittengesetz, ein Imperativ, kurzum, eine Ordre und Kommando seyn, dem parirt wird: davon gehen sie nicht ab, und wollen nicht einsehn, daß Dergleichen immer nur den Egoismus zur Grundlage hat. Bei Einzelnen freilich und Überlegenen hat die gefühlte Wahrheit sich kund gegeben: so bei Rousseau, wie oben angeführt; und auch Lessing […].²³²
Im respektvollen Rückgriff auf die immense Erbschaft jenes großen Aufklärers, „der seine Weisheit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben schöpfte, und seine Lehre nicht für das Katheder, sondern für die Menschheit bestimmte“²³³, Ebeling, S. IX. „Auch kann nicht verschwiegen werden, dass mehrere hervorragende Philosophen der Neuzeit so unziemlich erwähnt werden, dass es gerechten und schweren Anstoß erregt.“ Auszug aus dem Urteil der Königlichen Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften. Zitiert nach: Ebeling, S. 175. Die metaphysische Interpretation des Mitleids leistet der Verfasser erst in einem die Preisschrift beschließenden Paragraphen. Vgl. Schopenhauer, Preisschrift, S. 159 – 173. Ebeling, S. VIII. Schopenhauer, Preisschrift, S. 147. Ebd., S. 143.
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stellt sich Schopenhauer der Preisfrage unter Berufung auf eine Moral, die das Mitleid als alleinige Triebfeder für moralisches Tun hochschätzt.²³⁴ Den Auftakt der philosophischen Beweisführung bildet die Frage nach jenem maßgeblichen Kriterium, das eine Handlung zu erfüllen habe, um von echtem moralischen Wert zu sein – eine Frage, in der sich die Religion mit ihren schimärischen Jenseitsversprechungen, mit ihrer „Maschinerie aus einer andern Welt“²³⁵ als der größte Widersacher der nach Wahrheit strebenden Philosophie exponiere: „Die Philosophie hingegen sucht hier, wie überall, die wahren, letzten, auf die Natur des Menschen gegründeten, von allen mythischen Auslegungen, religiösen Dogmen und transscendenten Hypostasen unabhängigen Aufschlüsse über das vorliegende Problem, und verlangt sie in der äußern oder innern Erfahrung nachgewiesen zu sehn.“²³⁶ Ohne die Grenzen der Empirie zu missachten – „weil in der Erfahrung allemal nur die That gegeben ist, die Antriebe aber nicht zu Tage liegen“²³⁷ – legt der Philosoph seiner Suche nach dem Fundament der Moral den hohen Erkenntniswert einer Erfahrung zugrunde, „die täglich und stündlich ihr stilles Zeugniß für dasselbe“²³⁸ ausstelle. Im Anschluss an die gesetzten methodischen Präliminarien formuliert Schopenhauer eine erste Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage. Das entscheidende Kriterium für eine Handlung von moralischem Wert statuiert er mit der „Abwesenheit aller egoistischen Motivation“²³⁹ und damit mit einem Antrieb, der nicht dem „Wohl und Wehe des Handelnden selbst“²⁴⁰, sondern dem des Gegenübers entspringe. Was aber geschieht, wenn das selbstlose Interesse am Wohlergehen des anderen das ichbezogene Tun und Denken des Subjekts unterdrückt? Das Zünglein an der Waage spiele in dieser Angelegenheit die kruziale Einsicht, „dass ich ganz unmittelbar sein Wohl will und sein Wehe nicht will, so unmittelbar, wie sonst nur das meinige.“²⁴¹ Wer sich der Bedürfnisse des anderen derart innewerde, der vollziehe, so Schopenhauer weiter,
Schon im vierten Buch von Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung nahm das Mitleid eine Sonderrolle ein: „Schopenhauer betont (gegen Kant), dass das ethische Mitleid keineswegs einem schwachen oder geschwächten Willen entstammt […]. Mitleid ist keine ‚letzte Versuchung‘ eines starken Willens und kein dekadenter Schwächeanfall, wie Nietzsche unterstellen wird!“ Wolf, Jean-Claude: Bejahung und Verneinung des Willens. In: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Hrsg. von Oliver Hallich u. Matthias Koßler. Berlin: Akademie Verlag 2014. S. 153 – 169, hier S. 164. Schopenhauer, Preisschrift, S. 99. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 93. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105.
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eine zumindest partielle Identifikation mit dem Mitmenschen: „Dies erfordert aber, dass ich auf irgend eine Weise mit ihm identificirt sei, d. h., dass jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei.“²⁴² Überwunden werden könne die zwischenmenschliche Differenz einzig durch den „Grenzbegriff“²⁴³ des Mitleids, der „die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe“²⁴⁴ garantiere. In letzter Konsequenz bedeutet dies für die ursprünglich zu klärende Frage nach dem Fundament der Moral: „Nur sofern eine Handlung aus ihm [dem Mitleid] entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen.“²⁴⁵ Das Entscheidende an Schopenhauers Lehre ist, dass er dem Mitleid selbst und nicht erst den aus ihm ableitbaren Tugenden – Gerechtigkeit und Nächstenliebe – eine moralische Hebelwirkung zuerkennt, hat es doch unmittelbaren Anteil an der „Verhinderung oder Aufhebung“²⁴⁶ des Leidens anderer. Wie schon Rousseau erklärt auch Schopenhauer das Mitleid zum Urphänomen der Ethik schlechthin. Unverknüpft bleibt es bei ihm allerdings mit der Rousseaus Preisschrift unabkömmlich zugehörenden Selbstliebe. Anders als sein Vorbild plädiert Schopenhauer für das alleinige Zutun des Mitleids bei der ethischen Formung des Menschen.
4.3.1.3 Der Fremde und das Mitleid: Hermann Cohen In seiner 1919 erstveröffentlichten Abhandlung Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums tritt der deutsch-jüdische Philosoph Hermann Cohen für eine vernunftbegründete Ethik ein, die Ursprung und ethischen Sinn des Mitleids in konträrer Ausrichtung zu den religionskritischen Theorien Rousseaus und Schopenhauers vom jüdischen Monotheismus her erschließt. Erinnern wir uns: Es sind die kulturell bewegten Jahre der in Deutschland aufblühenden jüdischen Renaissance, an deren Aufschwung in der noch jungen Republik neben der Literatur auch die Religionsphilosophie mit namhaften Denkern wie Martin Buber und Franz Rosenzweig nicht minder schaffenskräftig partizipiert.²⁴⁷ In Hermann
Ebd., S. 106. Hühn, Lore: Das Mit-Leid. Zur Grundlegung der Moralphilosophie bei J.J. Rousseau und Arthur Schopenhauer. In: Gülcher, von der Lühe (Hrsg.), Ethik, S. 113 – 133, hier S. 126. Schopenhauer, Preisschrift, S.106. Ebd. Ebd. Anders dagegen das Gesamtbild in Frankreich, wo aufgrund der starken laizistischen Prägung ein religiöser Beitrag ausbleibt. Vgl. Malinovich, Réveil juif, S. 5.
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Cohens Mitleidsplädoyer kommt eine wesentliche Einsicht in den mehrrelationalen Liebesbegriff der Bibel zum Ausdruck, die der Philosoph seinen Reflexionen voranstellt: Die Liebe ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muß erst erklärt und ergründet werden an jedem Punkte der Religion, sowohl als Liebe Gottes, wie als Liebe zu Gott, wie endlich auch als Liebe von Mensch zu Mensch. […] Man sollte denken, daß der Monotheismus, der alles insgesamt von dem einzigen Gotte ausgehen läßt, erst recht auch die Liebe in Gott entspringen lassen sollte, von dem sie alsdann auf die Menschen übertragen, von ihnen nachgeahmt würde. Es scheint dagegen, daß das Umgekehrte das richtige Sachverhältnis ausmacht.²⁴⁸
Ausgehend von dieser zuallererst im Menschen angelegten Liebe leitet Hermann Cohen über zu jener Urform des Zwischenmenschlichen, die er in der altjüdischen Fremdengesetzgebung lokalisiert: „Vom Fremdling her ist es uns jetzt bereits bekannt, dass der Monotheismus mit der Menschenliebe begonnen hat. Die Fremdengesetzgebung hat uns den Weg gewiesen zur Auffindung der geschichtlichen Quellen der Nächstenliebe. Im Fremdling wurde zu allererst der Mitmensch entdeckt. Und das Mitleid erwachte zuallererst vor dem Fremdling. Dieses Mitleid ist daher die Urform der Menschenliebe.“²⁴⁹ Mit dieser auf Basis des Mitleids den ethisch prägnanten Übergang vom Nebenmenschen zum Mitmenschen²⁵⁰ vollziehenden Liebe dem Fremden gegenüber aber hat es bei Cohen eine besondere historische Bewandtnis, die jene selbstreflexive Bewusstseinshaltung hervorkehrt, die auch bei Nissen zum Thema wird: Insofern als die ökonomisch und politisch prekäre Situation des im Lande lebenden Fremden die Erinnerung an die vom israelischen Volk in Ägypten erlittene Knechtschaft wecke, könne „aus dem geschichtlichen Bewusstsein heraus das geforderte neue Gefühl lebendig gemacht“²⁵¹ werden. Die Armut hat innerhalb dieses ethischen Prozesses Schlüsselcharakter, da der durch sie gewährte Einblick in die Erfahrung des Mangels den
Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums. 2. Aufl. Darmstadt: Joseph Melzer 1966. S. 168. Ebd. Für Cohen ist diese begriffliche Differenzierung keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer vernunftgeleiteten Religion: „Der Nebenmensch ist keineswegs schon der Mitmensch. Die Erfahrung selbst bestreitet und widerlegt diese Identität. Es ist also notwendig, daß eine begriffliche Erkenntnis eintrete, welche diese Ergänzung zum Nebenmenschen liefern muss. Nur die begriffliche Erkenntnis kann diese Leistung vollbringen, nur die Ethik auf Grund der Logik; und vermöge ihres Anteils an der Vernunft muß auch der Religion diese Aufgabe zufallen. Denn welcher Wert könnte dem Vernunftanteil der Religion zustehen, wenn diese Differenz zwischen Nebenmensch und Mitmensch nicht auch von ihr zum Problem gemacht würde?“ Ebd., S. 132. Ebd., S. 168 f.
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zur Solidarität bereiten Mitleidenden dazu bewege, seine „privatisierende und isolierende Betrachtung des menschlichen Daseins zu verlassen“²⁵² und dem Leiden des als Mitglied der zu vitalisierenden Gemeinschaft betrachteten anderen entgegenzuwirken. Armut umfasst daher bei Cohen immer und gerade eine sozialpolitische Dimension: Gemeinschaft realisieren könne nur, wer erkenne, „dass ich selbst nichts bin, wenn ich mich ihr nicht eingliedere. So entsteht ganz von selbst in diesen Beziehungen, die zwischen mir und der Menschheit unumgänglich werden, eine Verhältnisbestimmung, die mehr bedeutet als eine bloße Nebenordnung oder selbst eine Unterordnung: die eine Gemeinschaft hervorbringt. Und diese Gemeinschaft erzeugt den Mitmenschen.“²⁵³ Das überragende Verdienst der Religion hinsichtlich des ethisch neu zu denkenden Mitleids bestehe darin, dass allein sie es vermocht habe, diese Urform der Menschenliebe von der Geschlechtsliebe und damit von der schöpfungsgeschichtlichen Leitidee des einen Fleisches emanzipiert zu haben: Was der Ethik nicht gelang, gelingt der Religion. Die Liebe zum Menschen wird hervorgebracht. Wie ein Wunder, wie ein Rätsel entsteigt sie dem Haupte, vielmehr dem Herzen des Menschen.Wie kann der selbstsüchtige Mensch einen andern lieben, derselbe Mensch, der ja angeblich nur das Weib lieben kann, das Fleisch von seinem Fleische? Ist sie nicht eine Illusion, diese Übertragung, diese Metapher der Geschlechtsliebe? Nein, als Mitleid hört die Liebe auf, den Verdacht einer Metapher an sich zu tragen.²⁵⁴
Die Negativität des Affekts in der stoischen Philosophie vor Augen fordert Hermann Cohen für das Mitleid eine semantische Neubestimmung dessen, was dort aufs Schärfste verworfen wird: „Es ist ganz konsequent, dass in der Stoa das Mitleid ein Affekt wird, und zwar in der ganzen Unbestimmtheit, welche hier dem Gedanken und Begriff des Affektes umgibt.“²⁵⁵ Vor dem Hintergrund dieser Labilität erachtet der Verfasser es als dringlich, die bemängelte Entwertung des Affekts über das Öffnen eines „geheimen Schubfachs“²⁵⁶ einer radikalen Revision zu unterziehen: Und dies ist es, worauf es ankommt: das Mitleid muss der Passivität der Reaktion entkleidet, es muss als volle ganze Aktivität zur Anerkennung gebracht werden. Der sittliche, der reine Wille ist bedingt durch den Faktor des Affektes. Der Affekt muss daher Reinheit haben, von
Wiedebach, Hartwig: Hermann Cohens Theorie des Mitleids. In: Hermann Cohen’s Philosophy of Religion. International Conference in Jerusalem 1996. Hrsg. von Stéphane Mosès u. Hartwig Wiedebach. Hildesheim: Olms 1997. S. 231– 244, hier S. 236. Cohen, Religion, S. 158. Ebd., S. 169 f. Ebd., S. 161. Ebd., S. 164.
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der Dualität und Zweideutigkeit des Leiblichen befreit werden. Reine Aktivität ist niemals Reaktion, wenn diese nur einen Endprozess darstellt. Reaktion aber, als Wechselwirkung, steuert auf ein Ziel hin. Dieses Ziel ist die Gemeinschaft, in der der Mitmensch entsteht. Eine solche Gegenwirkung, die Wechselwirkung ist, leistet das Mitleid. Und das Mitleid erweist sich so als ein Faktor des reinen Willens, als ein Hebel des sittlichen Bewusstseins, als eine Grundkraft des sittlichen Universums, welches der Mitmensch aufschließt. Und diesen Schlüssel des Mitmenschen bildet das Mitleid.²⁵⁷
Das hier zur Bedingung gemachte Umdenken erzwingt eine veränderte Sichtweise auf den von den Stoikern als vernunftfeindlich diskreditierten Affekt. Aus der kritisierten Begriffsdefinition schert Hermann Cohen mit einem „als Entdeckungsbegriff des Menschen“²⁵⁸ konzipierten Mitleid aus, dem es gelingt, auf Basis der vernunftbegründeten Einsicht in die Gleichheit aller das Leiden des einen zum Ausgangspunkt der sittlichen Selbstbestimmung des anderen zu machen: „Das Scharnier, an dem sich diese Umwendung oder Umkehr vollzieht, ist das Mitleid.“²⁵⁹ Da dieses Leiden für den Philosophen unmittelbarer Teil des Menschseins ist – „Willst Du wissen, was der Mensch ist, so erkenne sein Leiden“²⁶⁰ –, überrascht nicht, dass er in einem nächsten Schritt den Mitleidsaffekt „in einer ausdrücklich als Paradoxie gekennzeichneten Pointe“²⁶¹ der Theodizeeproblematik zuführt: Wenn es von jeher eine Frage der Theodizee bildete, dem physischen Leiden, dem physischen Übel einen Sinn in der Menschenwelt zu geben, so könnte man diesen Sinn vielleicht in der Paradoxie ausdrücken: das Leiden ist wegen des Mitleids vorhanden. So sehr bedarf der Mensch dieses Affektes des Mitleids, daß das Leiden selbst aus diesem Grunde erklärbar wird. Und alle Ethik scheidet sich klar und schneidig von aller Metaphysik mit ihren Abarten an diesem Kreuzwege.²⁶²
Dass eine Ausdeutung dieser Passage verstanden als Sinngebung menschlichen Leidens aus gutem Grund nicht haltbar sei, dieser irrenden Lesung beugt Ursula Renz in einem das Gesagte ins rechte Licht rückenden Erklärung vor:
Ebd. Ebd., S. 165. Wiedebach, Theorie des Mitleids, S. 231. Cohen, Religion, S. 170. Palmer, Gesine: Hermann Cohens Theodizee des Mitleids. In: Gülcher, von der Lühe (Hrsg.), Ethik, S. 77– 93, hier S. 84. Cohen, Religion, S. 19.
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Diese verblüffende Aussage macht nur vor dem Hintergrund des richtig verstandenen Mitleids Sinn, ansonsten wirkt sie zynisch. Sie kann selbstverständlich nicht so verstanden werden, dass das Mitleid als realer Zweck des Leidens geltend gemacht würde. Ein solcher Zynismus läge Cohen fern. Das Leiden ist und bleibt für ihn sinn- und zwecklos. Die grundsätzliche Anstößigkeit des Leidens bleibt im Mitleid erhalten, schließlich hat es in ihr seinen affektiven Antrieb. Nur wer den Anstoß des Leidens des Andern überhaupt wahrnimmt, kann wirklich mitleiden.²⁶³
Aus ebendiesem Grund gewinnt Hermann Cohens Interesse am Leid und Mitleid schon in der Hinführung der Abhandlung seine „das Du im Menschen“²⁶⁴ zutage fördernde ethische Tiefenschärfe: „Es ist kein träger Affekt, dem ich mich hingebe, wenn ich das Leid des Anderen beobachte, und zwar nicht als ein natürliches und empiristisches Faktum, sondern wenn ich es zum Fragezeichen mache für meine gesamte Orientierung in der sittlichen Welt.“²⁶⁵
4.3.1.4 Nur Mitleid: Käte Hamburger Dank neuer diskussionsbereichernder Impulse ebbt die Mitleidsdebatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ab. Geschuldet ist dies namentlich zwei Autoren, Käte Hamburger und Werner Marx, die beide in der Kontroverse um ein ethisch umstrittenes Gefühl neue Wege gehen. 1985 erscheint Hamburgers Das Mitleid, nur ein Jahr später folgt Marx’ Ethos und Lebenswelt. Mitleidenkönnen als Maß: Das Thema ist einerlei, doch könnten die Befunde unterschiedlicher nicht sein. So sehr Hamburger darauf pocht, dass das Mitleid als „eine der gängigsten Münzen im mitmenschlichen Leben“²⁶⁶ gelten dürfe, so sehr beklagt sie doch auch jenen semantischen Verschleiß, dem dieser „abgegriffene“ Begriff, der „im Sprachgebrauch seinen Wortsinn ‚mit (einem anderen) leidenʻ keineswegs bewahrt hat,“²⁶⁷ unterliege. Über die bedauernswerte semantische Verschiebung hinaus aber sieht Hamburger die eigentliche Crux darin begründet, dass die Debatte um das Mitleid immer schon zutiefst antagonistische Sichtweisen generiert habe: „Ja, es dürfte wohl kaum ein anderes Problem der Ethik geben, das auf so
Renz, Ursula: Affektivität und Geschichtlichkeit. Hermann Cohens Rehabilitierung des Affekts. In: Affekte und Ethik. Spinozas Lehre im Kontext. Hrsg. von Achim Engstler u. Robert Schnepf. Hildesheim [u. a.]: Olms 2002. S. 297– 319, hier S. 312. Cohen, Religion, S. 22. Ebd., S. 21. Hamburger, Käte: Das Mitleid. Stuttgart: Klett-Cotta 1985. S. 7. Ebd.
4.3 Eine Ethik des Mitleids
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vielfältige wie widerspruchsvolle Weise erörtert und definiert worden ist.“²⁶⁸ Angesichts dieser unüberschaubaren Meinungsfülle ist es der Verfasserin ein besonderes Anliegen, die Auswahl der zu konsultierenden Quellentexte möglichst breit zu streuen. So sind es einmal die großen Theorien der abendländischen Kulturgeschichte, die Hamburger, sortiert nach Mitleidsapologeten und Mitleidsverächtern, kritisch unter die Lupe nimmt. Was darüber hinaus zur Untersuchung steht, ist jener außertheoretische Erfahrungsschatz, den die Literatur als die „fruchtbarste Fundstelle“²⁶⁹ zum Thema Mitleid parat hält. Angesiedelt an der Schnittstelle von Fiktion und philosophischem Spezialdiskurs steht Hamburgers Studie somit all jenen transdisziplinären Ansätzen nahe, welche die Literatur als ergiebigen Wissensfundus in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Phänomene ernst nehmen.²⁷⁰ Den Theoretikern hält die Autorin denn auch das Versäumnis vor, die eigentümliche Struktur des Mitleids in ihren Analysen verkannt zu haben. Erst eine solche Strukturbestimmung aber ließe Rückschlüsse auf die bis dato ungelöst gebliebene Problematik zu, weshalb eine Empfindung auf der „ethischen Gefühlsskala“²⁷¹ derart unterschiedlich zu werten sei. Geleitet von dieser Zielsetzung geht Hamburger der doppelten Frage nach, „was es mit den von äußerster Positivität bis zu äußerster Negativität sich erstreckenden Urteilen auf sich hat, denen das Mitleid wie keine andere ethische Kategorie ausgesetzt gewesen ist – und was sich daraus für seine strukturelle Beschaffenheit ergibt.“²⁷² Dabei ist sich die Autorin darüber im Klaren, dass es sich bei dem von ihr zu Rate gezogenen literarischen Textmaterial lediglich um „Zufallsfunde“²⁷³ mit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit handle. Nach Sichtung ihrer Quellen sieht Hamburger ihre Ausgangsthese von der weitreichenden Bedeutungsverschiebung des Mitleidsbegriffs verifiziert – ein Wandel, der sich gerade bei Autorinnen und Autoren der Moderne rigoros festgesetzt habe. Mitleid empfinde demnach nicht mehr primär jener, der – die Etymologie beim Worte nehmend – am Leid des anderen Anteil nehme. Stattdessen
Ebd., S. 8. Ebd., S. 80. „Denn das poetische Wissen der Literatur lässt sich wohl am besten als eine Wissensform verstehen, die ein Begreifen propagiert, ohne auf den Begriff zu bringen, die darauf spezialisiert ist, nicht auf bestimmte Wissensformen spezialisiert zu sein. Es unterläuft damit Wissensnormen des Wissenschaftlichen, ohne doch dessen Wissensformen auszuschließen.“ Ette, Ottmar (Hrsg.): Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens. Literatur – Kultur – Geschichte – Medien. Berlin, Boston: De Gruyter 2012. S. VI. Hamburger, Mitleid, S. 23. Ebd., S. 95. Ebd., S. 79. Hamburgers Korpus beruft sich auf so unterschiedliche Autoren wie Balzac, Zola, Thomas Mann, Dostojewski und Camus.
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zirkuliere in der Literatur ein Mitleid, das diesen ethisch begrüßenswerten Sinngehalt in sein Gegenteil verkehre. Diesen Umschlag in die Negativität belege die in Albert Camus’ L’homme révolté zu findende, „extrem widersprüchliche Begriffssynthese“²⁷⁴ eines „kalten Mitleids“ („une pitié froide“) auf geradezu paradigmatische Weise: „Wir notieren die Begriffsverbindung ‚kaltes Mitleidʻ um ihrer selbst willen, als eine contradictio in adjecto, in der das Attribut in Widerspruch zu seinem Hauptwort steht und damit dessen Bedeutungsgehalt aufhebt oder zunichte macht.“²⁷⁵ Auf der Basis ihres Textmaterials stellt die Verfasserin in einem zweiten Schritt die Diagnose, dass Mitleid und Geschlechtsliebe als zwei grundverschiedene Gefühlskategorien strikt voneinander zu trennen seien. Argumentatorische Munition liefern ihr in dieser Angelegenheit Dostojewskis Der Idiot, erschienen 1868, und Stefan Zweigs 1939 publizierte Prosa Ungeduld des Herzens – zwei Erzählungen, auf deren Inhalt hier nicht eigens eingegangen werden kann. Summa summarum, so Hamburgers Fazit, stellten beide Romane „die Diskrepanz von Mitleid und Geschlechtsliebe als die Gefühlssituationen, die nicht zusammen bestehen können“²⁷⁶ eindrucksvoll unter Beweis. Erheblichen Klärungsbedarf sieht die Autorin, so gesagt, in der definitorisch zu lösenden Frage nach der eigentümlichen Struktur des Mitleids – einer Struktur, in der es die Natur des Verhältnisses zwischen dem „Mitleid fühlenden oder bekundenden Ichs zum bemitleideten anderen“²⁷⁷ trennscharf zu erfassen gelte. Für Hamburger bestimmt sich diese Beziehung in erster Linie über die Kategorie des Unpersönlichen, da das Mitleid in sehr vertrauten Bindungen – unter Familienmitgliedern, engen Freunden oder Liebespartnern – keinerlei emotionale Rolle spiele beziehungsweise spielen dürfe: „Denn wir haben es dann mit weit elementareren Gefühlen wie Kummer, Sorge, man kann hinzufügen Angst, Traurigkeit, Trauer zu tun. Die Zurückweisung des Mitleids aus dem Bereich des sehr Persönlichen kennzeichnet es also als einen Affekt, der durch die Qualität des Unpersönlichen charakterisiert ist.“²⁷⁸Im unbefugten Einfall des Mitleids in die Liebe erkennt Hamburger deren endgültige Zerrüttung: Ein Hauch von Mitleid nur, und das heißt das geringste Eindringen eines unpersönlichen Gefühlsmoments genügt, um sie zu zerstören. Das „nur Mitleid“ ist vielleicht der äußerste wie auch schlichteste Ausdruck für die Unpersönlichkeit, die als Natur des Mitleids bezeichnet
Ebd., S. 85. Ebd. Ebd., S. 94. Ebd., S. 99. Ebd., S. 104 f.
4.3 Eine Ethik des Mitleids
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werden kann. Er trifft in seiner Schlichtheit den wie auch immer verborgenen Nerv dieses Affekts und umreißt zugleich scharf die Kategorie des Anderen, die ihn strukturiert.²⁷⁹
Für die dem Mitleid nachgewiesene unpersönliche Neigung prägt Hamburger den Begriff der „Distanzstruktur“ – eine Bezeichnung, mit der die Verfasserin eine radikale Abkehr von all jenen Diskursen vollzieht, die im Mitleid ein bis hin zur Identifikation mit dem Leidenden erweitertes Moment der Nähe ausfindig machten. In folgerichtiger Konsequenz legt Riedel der Autorin eine unzulängliche Kenntnis des Mitleids dort zur Last, wo sie die „kognitive Reduktion“²⁸⁰ eines seines emotionalen Kerns beraubten Gefühls bedenkenlos akzeptiere: „Damit ist aber der Affekt- und Empfindungscharakter des Mitleids (dass in ihm nicht etwas erkannt, sondern gefühlt wird), von dem man eigentlich immer ausgegangen war, gänzlich getilgt oder aus dem Auge verloren.“²⁸¹ Konträr zur Betrachtung des Mitleids als ambivalent konnotiertem Gefühl der Distanz beurteilt Hamburger die ethische Lesbarkeit der Barmherzigkeit als unzweideutig, sei in ihr doch von vornherein der Sinngehalt einer unmissverständlichen tätigen Hilfe angelegt: „Es gibt denn auch keine Barmherzigkeitsethik, sondern nur eine Mitleidsethik, eben deshalb, weil Barmherzigkeit ein problemloses, jeglicher Diskussion entzogenes praktisches Tun ist, das Mitleid, wie unsere Darlegungen zeigen konnten, dagegen nur eine höchst problematische seelische Verhaltensweise.“²⁸² Zwar könne das Mitleid eine gute Tat bewirken, doch sei dieser Weg nicht zwingend, was Hamburger wiederum zu dem Schluss veranlasst, dass das Mitleid keinerlei Schnittmenge mit der Barmherzigkeit aufweise: „Das besagt umgekehrt, daß die Phänomenologie des Mitleids von der Seite der Barmherzigkeit her keine Erklärung erfährt, die Struktur des Mitleids als Distanzstruktur von irgendeiner Verbindung mit Barmherzigkeit unbeeinflußt bleibt.“²⁸³ Schlussendlich führt Hamburgers Strukturbestimmung in die Einsicht, dass das Mitleid auf der „ethischen Gefühlsskala“ weder im positiven noch im negativen Sinne, sondern allenfalls neutral zu werten sei. Dies bedeute wiederum, dass das Mitleid als okkasionelle und kontextbedingte Regung etwaige tugendhafte Dienste leiste, nicht aber – und hierin widerspricht die Autorin Rousseau und Schopenhauer – als eine dem Menschsein konstitutive Gefühlslage: „Mitleid“, so das ebenso nüchterne wie unverfängliche Votum der Autorin, „ist so geartet, daß ein und derselbe Mensch
Ebd., S. 105. Riedel, Naturprinzip, S. 29. Ebd. Hamburger, Mitleid, S. 122 f. Ebd., S. 125.
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(ein guter wie auch ein weniger guter) es in diesen oder jenen Fällen empfinden, in anderen Fällen nicht empfinden kann.“²⁸⁴
4.3.1.5 Der Tod und das Mitleid: Werner Marx Schon im Auftakt seiner programmatisch betitelten Mitleidsstudie nimmt Werner Marx auf Hamburgers mitleidskritische Thesen in einem philosophischen Widerruf kontrastiv Bezug.²⁸⁵ Mit phänomenologischem Blick untersucht darin der Husserl-Experte einen Affekt, der in methodischer Distanzierung zu religiös oder metaphysisch fundierten Mitleidsanalysen rein über das unmittelbar Gegebene zu erforschen sei: „Denn die Phänomenologie, wie wir sie verstehen, vermag das Sich-selbst-Bekunden auszulegen, nach-erfahrend und nach-denkend das zu beschreiben, was sich aus der Verborgenheit als selbstgegeben zeigt, das so Erscheinende, das Phänomen.“²⁸⁶ Den aufgezeigten Forschungspfad will der 1938 ins US-amerikanische Exil geflüchtete Jude Marx nicht als gedankliche Alternative zum jüdisch-christlichen Wertekanon verstanden wissen, ganz im Gegenteil: „[N] ichts wäre erwünschter, als wenn sich die jüdisch-christliche Ethik gerade heute angesichts des weltweiten Verfalls vieler Maßstäbe und der Bedrohungen durch Technik und atomaren Krieg durchsetzen würde.“²⁸⁷ Konzipiert als theoretische Anleitung zur ethisch zielführenden Nutzbarmachung einer Emotion fußt Marx’ Studie auf der in Abkehr zu Hamburger formulierten Prämisse, im Mitleid keinen sich rasch wieder verflüchtigenden Gemütszustand, sondern ein menschliches Seinsmerkmal von Dauer zu erkennen: „Wir müssen hier bereits darauf achten, daß das Mit-Leiden-Können als zum Sein des Menschen gehöriges Phänomen das Können besagt, an dem Leid des anderen teilzunehmen. Es darf nicht mit dem bloßen Mitleidhaben im Sinne wechselnder psychischer und von der Psychologie beschreibbarer Zustände gleichgesetzt werden.“²⁸⁸ Wie aber, und dies ist bei Marx die Gretchenfrage, könne der Mensch lernen, das Mitleid als „bleibenden Charakter“²⁸⁹ zu erfahren? „Gibt es für den“, so fragt sich Marx, „der nicht gläubig und nicht mehr metaphysisch orientiert ist, überhaupt etwas ‚absolut Gewissesʻ?“²⁹⁰ Die Replik folgt umgehend: „Die Antwort ist emphatisch ‚jaʻ. Gewiß ist doch für ihn
Ebd., S. 126. Vgl. Marx,Werner: Ethos und Lebenswelt. Mitleidenkönnen als Maß. Hamburg: Meiner 1986. S. 10. Ebd., S. 4. Ebd., S. 15. Ebd., S. 10. Ebd., S. 26. Ebd., S. 16.
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oder sollte es sein, daß er als ein Sterblicher geboren wurde.“²⁹¹ Angespornt von dieser ebenso simplen wie irreversiblen Wahrheit könne der Mensch die das Gesellschaftsbild prägende „sehr arme Gleichgültigkeit“²⁹² bezwingen. Noch ein Weiteres gelte es zu bedenken: Vollziehen könne diesen Mentalitätswandel nur, wer den Tod, anstatt als einen in weiter Ferne liegenden Endpunkt, als eine schleichend vom Leben Besitz ergreifende Gewalt zur Kenntnis nehme: „Das Verb ‚sterbenʻ bezeichnet wie das Substantiv ‚Sterblicheʻ dann freilich nicht nur das Geschehen am Ende des Lebens, dessen letzte Stunde vor dem Übertritt in den Tod, sondern die Tatsache, daß in uns, daß in unserem Dasein der Tod ständig, ja stündlich am Werke ist.“²⁹³ Wer die eigene Vergänglichkeit Teil seines Selbst- und Weltbilds werden lasse, dem erschließe sich alles Dasein – das fremde wie das eigene – in fundamental neuen Proportionen: Es ist dieser Sinngehalt, der mich, wenn er mich überfällt, zu einer Anschauung des Todes als der Macht zwingen kann, die mein Dasein ständig, stündlich vergehen läßt. Dieser Sinngehalt ist es, der mich in der wahren Bedeutung des Wortes „ent-setzt“, mich heraussetzt aus allen vertrauten Beziehungen und Gewohnheiten im Verhältnis zu mir selbst, zu den Dingen meiner Umwelt und vor allem heraus-setzt aus den alltäglichen Weisen meines Mitseins mit den Mitmenschen. […] Es ist dieses Ent-setzen, das in mir alles Fixe, alle festen Meinungen und Vorstellungen flüssig macht und vor allem jenen Charakterzug zur Auflösung bringt, der für die neuzeitliche Philosophie die Subjektivität des Subjekts kennzeichnet: das willentlich planende Sichselbstbestimmenkönnen.²⁹⁴
Ergriffen von einem die Selbst- und Weltwahrnehmung derart umwälzenden Todesschauder entwickle der für das Mitleid mit dem anderen neu sensibilisierte Mensch eine Grundbefindlichkeit, die weitreichende Konsequenzen für das Zusammenleben nach sich ziehe: Während ethische Entwürfe, die von Maximen, Imperativen, Regeln ausgehen, umständlich erklären müssen, wie ein Individuum dazu kommt, diese Regeln anzuerkennen, die möglicherweise mit den eigenen Neigungen im Widerspruch stehen, handelt derjenige, der als emotional Verwandelter den anderen als seinen anderen auch vernünftig sah und seinen Ruf vernommen hat, ohne weiteres gemäß dieser Einsicht und dieses Rufes, und das besagt, er übernimmt die Verantwortung, die damit verbunden ist.²⁹⁵
Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19 f. Ebd., S. 24.
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Das bei Rousseau, Schopenhauer und Hermann Cohen als die Vorbedingung für ein tätiges Mitleid determinierte identifikatorische Moment verwirklicht sich bei Marx in der Gestalt einer mehrere Etappen durchlaufenden affektiven Annäherung an das Du: Die anteilnehmende Zuwendung zu einem Mitmenschen als dem „anderen meiner selbst“ durchläuft viele Grade. Der erste ist, daß ich ihn als „meinesgleichen“ anerkenne. Wirkliche Anerkennung aus persönlicher Gerechtigkeit gibt es nur dann, wenn ich selbst ganz und gar in meinem ganzen Sein von dem Gefühl durchdrungen bin, daß der Mitmensch in seinem Wesen letztlich so ist wie ich. Der Unterschied zwischen meiner Person und dem anderen wird in dem Maße für mich weniger bedeutsam als in mir die Gestimmtheit stärker wird, die sich bereits in der ersten Form eines Anteilnehmens erfahren läßt.²⁹⁶
Entgegen Hamburgers Absicht, die ethische Insuffizienz eines sich träge zeigenden Mitleids aufzudecken, rückt Marx das Gefühl offensiv in die unmittelbare Nähe der guten Tat – eine Platzierung, mit der er das geistige Erbe der genannten Vorredner antritt: „ Mit einem Wort, die wirkende Kraft des Mit-Leiden-Könnens ist das Maß, das die einzelnen Gestalten wie Anerkennung, Mitleid und Nächstenliebe durch und durch bestimmt.“²⁹⁷
4.3.1.6 Literarische Mitleidsexzesse: Julien Benda Wenn Hamburger den literarischen Inszenierungen des Mitleids in ihrer Analyse einen prominenten Platz einräumt, der den der Theorien überbiete, so ist es nur konsequent, im Anschluss an die befragten Mitleidsethiken eine fiktionalisierte sechste Stimme einzuholen. Mit Julien Bendas Erzählung L’Ordination soll ein Werk Berücksichtigung finden, in dem das Mitleid in maßgeblicher Weise auf den Erzählverlauf einwirkt und mit ebensolch erstaunlicher Intensität die Figurenzeichnung des Autors prägt. Damit gilt es, die motivische Spannweite der bereits begonnenen Parallelisierung zwischen Bendas Félix und Cohens Solal um das Mitleid zu erweitern. Zu zeigen ist,wie sehr Bendas Fiktion ein Mitleid bemüht, das für jene inneren Risse und Brüche zu haften hat, die im Sinne Cohens jüdisches Schreiben zuallererst ausmachen. Während Félix vergebens darum ringt, zu seiner ehemaligen Geliebten Madeleine auf Distanz zu gehen, durchströmt ihn schubweise ein sich ins Obsessionelle steigerndes Mitleid, das der unwiderruflichen Entzweiung hinderlich im Wege steht: „Alors commença pour lui la pire des tortures. Son cœur, mer-
Ebd., S. 25. Ebd.
4.3 Eine Ethik des Mitleids
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veilleusement préparé par deux années de tendresse à toutes les effusions, à toutes les confusions, devint la proie de la pitié la plus aiguë, la plus entière, la plus passionnée.“²⁹⁸ Dieses als emotionale Marter empfundene Mitleid durchlebt Félix als völlige Verschmelzung mit Madeleine, ja, die Solidarisierung der Romanfigur mit diesem ihrem Kummer hat gar den Verlust der eigenen Persönlichkeit zur Folge. Bemerkenswert daran ist, dass der Held die stoisch erduldete Auslöschung des Ich anfangs noch als ein zum Mitleid unabkömmlich dazugehörendes Übel begreift: Allein dem, dessen Denken und Fühlen auf derart totalitäre Weise vereinnahmt würden, gebe sich die wahre Natur des Mitleids preis: Et il [Félix] allait haletant, dément de compassion, ne pensant qu’à cette femme, ne sentant que par elle, se substituant à elle, dans un vrai état d’altruisme, d’altération du moi, d’altérité du moi. D’aliénation sentimentale… Et il songeait à ceux qui ont raillé ces choses: „On a toujours assez de force pour supporter les maux d’autrui.“ L’imbécile! comme si la compassion n’était pas justement que les maux d’autrui deviennent les vôtres.²⁹⁹
Innerhalb kürzester Zeit überkommen den Helden indes erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Notwendigkeit eines derart heftigen Befalls: Ein abrupter Sinneswandel löst in ihm die Erkenntnis aus, dass ein Körper und Verstand in Gänze aufzehrendes Mitleid für die eigene Psyche höchst gefährlich, wenn nicht tödlich sei. Wer wehrlos einer solch emotional übersteigerten Abhängigkeit verfalle, erliege der Gefahr des völligen Selbstverlusts: „Et il soupirait: ‚Est-ce que je n’échapperai pas à cette pitié? Est-ce que je ne retrouverai pas la con-science de moi, de moi seul, de moi tout seul? Est-ce que toujours elle s’empoisonnera de la conscience d’une autre?‘ Et il songeait à ceux qui ont prêché la pitié… Les maudits! Les maudits! Ils ne l’ont pas sentie!“³⁰⁰ Entgegen aller Ankündigung aber bleibt der angedeutete Umschlag aus, droht Félix doch in den nunmehr immer höher schlagenden Wogen eines Mitleids zu ertrinken, das ungesättigt immer weiter um sich greift und das gesamte weibliche Geschlecht verschlingt: „Et son mal s’étendait. Il s’abîmait dans la pitié de la femme. Il fondait de pitié sur les misères du sexe, sur le passage de l’enfant à la vierge, de la vierge à la femme. Sur leur état d’esclave […].“³⁰¹ Fortan setzt die von der Vehemenz des Mitleids überwältigte Romanfigur alles daran, der Sogwirkung des Affekts zu entgleiten – ein langwieriger, durch Inkonsequenzen erschwerter Prozess, in dem widersprüchliche Begriffskonzeptionen miteinander konkurrieren. Während Félix das Mitleid einerseits als selbstzerstörerisches Gift enttarnt, geht er andererseits nicht davon ab,
Benda, L’Ordination, S. 40. Ebd., S. 44 f. Ebd., S. 45. Ebd., S. 46.
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eine gegenläufige Entwicklung zu prognostizieren: den heilsamen Weg in ein verwandeltes Mitleid nämlich, das dem Altruismus Grenzen setze und eine den Mitmenschen zuträgliche Eigenliebe zur Entfaltung bringe – kurz: ein Mitleid ohne Selbstaufgabe: „Et il songeait alors à une autre pitié, sincère aussi sans doute, mais qui n’empêche pas ceux qui l’exercent d’aller, de venir, de voir les pièces du jour, de soigner leurs affaires et d’élever leurs enfants…“³⁰² So verheißend diese Vorstellung auch klingen mag, so wenig will es Félix gelingen, das in ihm wabernde Mitleid zu besänftigen und auf das rechte Maß hin auszuloten. Aus dieser Zwickmühle heraus sieht sich der betrübte Held gezwungen, jedes kleinste Aufflackern von Mitleid schon im Keim zu ersticken. Doch schlägt auch diese Taktik fehl, der Selbstbetrug missglückt: „Mais qui dira les larmes de ceux-là qui étouffèrent leur pitié pour devenir durs…“³⁰³ Zentriert um eine mal mitleidswillige, mal mitleidsunwillige Romanfigur trägt Bendas Erzählung einen jener inneren Konflikte aus, wie sie nicht nur für Autorinnen und Autoren der Moderne mustergültig sind, sondern wie sie auch Cohen für das in Prosa zu übersetzende Jüdischsein als exemplarisch ansah. In stringenter Fortführung der affektiv dem Mitleid unterstellten ersten Romanpartie gestaltet Benda den weiteren Erzählverlauf, indem er die über das Mitleid motivisch transportierten Ambivalenzerfahrungen in den, so sahen wir, intimen Wirkkreis einer Vater-Tochter-Beziehung einfließen lässt. Es fällt nicht schwer zu glauben, dass Benda, dem Cohen in einem frühen Essay höchste Anerkennung zollte, den Verfasser von Belle du Seigneur zu einer Epik stimuliert haben mag, die das Mitleid als eines ihrer Hauptmotive ausstellt. Denn gerade was das Mitleid anbelangt, ist Cohen, so glaube ich, Benda erstaunlich nahe – so nahe, dass umso verblüffender ist, weshalb diese literarische Verbundenheit bis zum heutigen Tag unbemerkt blieb.
4.3.2 Figurationen des Mitleids im Werk Albert Cohens 4.3.2.1 Jüdische Ursprünge Eine leitmotivische Analyse der durch Albert Cohens Schreiben hindurch an Kontur gewinnenden Mitleidsthematik sollte sinnvoller Weise an jenem Ursprung ansetzen, der das Mitleid zuallererst hervorbrachte. Es überrascht nicht, dass dieser affektive Schlüsselmoment just inmitten jenes Urschauplatzes verortet ist,
Ebd., S. 83. Ebd., S. 84.
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an dem das zum Gespött gemachte Immigrantenkind als neu geborener Jude zum zweiten Mal das Licht der Welt erblickt: Wie so oft bei Cohen ist es auch in diesem symbolbeladenen Dekor der Spiegel,³⁰⁴ der – hier in der Gestalt einer die angsterfüllte Mine des Kindes reflektierenden Schaufensterscheibe – zu einem heterotopischen Ort der Erkenntnis mutiert: „A un tournant de rue, je m’arrêtai devant la glace d’un magasin et je fus effrayé par cet enfant effrayé qui me regardait, tête basse et yeux levés, antipathique de malheur, repoussant de malheur, et je le détestai, l’aimant de pitié, et je le regardai avec une rage de rancune“ (Ô vous ‐ 1084, [meine Hervorhebung]). Die vom Glasfenster unsanft rückprojizierte kindliche Visage provoziert im Betrachter ein paradox anmutendes Gefühlsgelage aus Selbsthass und mitfühlender Liebe. Somit nähren sich die durch das eigene Spiegelbild ausgelösten Emotionen nur zum Teil aus jenen nach innen gerichteten Aggressionen, die Theodor Lessing einst umschrieb, bleibt in dem Jungen doch die von Mitleid gespeiste Kunst zu lieben unversehrt. In die tiefsinnige Geschichte eines von außen aufoktroyierten Geburtsmakels spinnt der Erzähler die Geschichte von der Entstehung des Mitleids mit dem gesellschaftlichen Außenseiter – ein Motiv, das uns mit Hermann Cohens religionsphilosophischer Abhandlung über den Ursprung des Mitleids bereits vorliegt. Im Denken beider jüdischen Autoren wird dem Mitleid mithin eine eminent soziale Rolle eingeräumt: die der gemeinschaftsstiftenden Solidarität mit dem Fremden wie auch generell mit all jenen, die unserer Hilfe und Fürsorge bedürfen: „Ayez pitié, oh miséricordieux“ – mit diesem Hilfeschrei wandte sich, so gesehen, schon Cohens orientalische Bettlerfigur an die das Straßenlabyrinth von Alexandria durchwandernde Menschenmenge. Doch während bei Herman Cohen die Konfrontation mit dem Not leidenden Fremdling Vorbedingung für das Mitleid ist – und dies, wie Renz betont, in rechtlicher und emotionaler Hinsicht³⁰⁵ – bekommt es im Werk des Schriftstellers mit der Familie einen zweiten Ursprungsort außerhalb der Gesellschaft zugewiesen. Mit der in Cohens autobiografischen Texten zutage tretenden Vater-SohnProblematik hat sich die Cohen-Forschung ausführlich auseinandergesetzt.³⁰⁶ In dieser von kindlichen Rachegelüsten am herrischen Familienoberhaupt überschatteten Dreiecksbeziehung ist es die Mutter, der es als schlichtende Dritte im Bund gelingt, die zwischen beiden ungleichen Widersachern brodelnden Kon-
Zur leitmotivischen Wiederkehr des Spiegels als „élément intrinsèque du décor cohénien“ vgl. Maisier,Véronique: Albert Cohen et la sempiternelle glace. In: Romance Quarterly 49/4 (2002). S. 260 – 269, hier S. 260. Vgl. Renz, Affektivität, S. 311. Vgl. stellvertretend die psychoanalytisch fundierten Beobachtungen bei Duprey, Instances parentales, S. 42– 49.
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flikte auf ein für das familiäre Zusammenleben erträgliches Maß zu reduzieren. Anstatt die unzulängliche väterliche Erziehungsarbeit beheben, verharmlosen oder gar leugnen zu wollen, zielt das ebenso behutsame wie beharrliche Intervenieren der Mutter darauf ab, dieses Versäumnis in ein neues Licht zu rücken: Mit ihrem die erzieherische Inkompetenz des Ehemanns relativierenden Klarblick, wonach die autoritär-patriarchalischen Maßregelungen des Vaters Ausdruck eines nur schwach ausgeprägten väterlichen Selbstbewusstseins seien, erhofft sich die Mutter von Albert in psychologischer Hinsicht zweierlei: einmal, er möge die ursächlichen Auslöser der väterlichen Aggressionen erkennen und verinnerlichen. In dieser Bewusstmachung böte sich dem Sohn zweitens die bislang unversucht gelassene Chance, dem Vater ein Mitleid auszusprechen, das ihn seines Grolls entledigen könne: Il faut avoir pitié de ton père, avoir pitié déjà, et non quand il sera mort, me disait-elle. C’est un enfant, me disait-elle. Il est faible et quelquefois humilié dehors. Alors, il se rattrape dedans, et de me commander le console, lui fait croire qu’il est fort. Il n’est pas très capable, le pauvre, il n’est pas très intelligent, mais de penser qu’il est le chef à la maison lui fait du bien. Laisselui sa victoire, mon chéri. Près de sa femme, il est supérieur, il est heureux, et il le mérite, le pauvre, si travailleur, si incapable (C ‐ 1132).
Selbst wenn die Mutter den Unmut des Sohns nicht in Gänze lindern kann, so setzt sich das Mitleid doch als eine Handlungsmöglichkeit durch, den Vater-SohnKonflikt hinter sich zu lassen und in eine neue Form des Zusammenlebens überzutreten – ein Umschlag ins Positive, wie er sich in der vom Sohn ins Werk gesetzten Neubestimmung der Beziehung zu seinem Vater abzeichnet: „Malgré tous les reproches en moi, lorsque je le regarde, j’ai pitié de lui parce que je sais que ses commandements à Maman, il ne se rend pas compte qu’ils sont injustes. Et puis je sais qu’il n’est pas méchant. C’est un enfant, me dis-je parfois, lorsqu’il fait le grand commandant. […] Oui, c’est un enfant. […] Il n’est pas méchant, il est ignorant. Il faudrait qu’un jour j’ose lui dire que Maman travaille trop“ (C ‐ 1127). An den zitierten Passagen zeigt sich, bis zu welchem Grad das von Albert nach mütterlichem Vorbild erprobte Mitleid als ausbalancierendes Korrektiv der prekären Dreieckskonstellation ungeahnte Lösungswege öffnet, ohne die das brüchige familiäre Gefüge an seinen inneren Krisen wenn nicht zu zerbrechen, so doch erheblichen Schaden zu nehmen drohte. Im Sinne Mieths wird hier ein ethisches Modell konstruiert, dessen Hauptleistung nicht in der finalen „Korrektheit“, sondern in der sukzessiv Entfaltung findenden „Korrekturfähigkeit“³⁰⁷ zu suchen ist. Beide als Urszenen des Mitleids zu begreifenden Partien basieren
Mieth, Dichtung, S. 56.
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auf einem durch Mitleid in Gang gesetzten Bewältigungsversuch des Konflikts und setzen so einen Mechanismus der Versöhnung frei: Negatives Selbst- und Vaterbild schaffen die defiziente Ausgangssituation eines veränderten Alteritätsempfindens, das die Texte des Schriftstellers in den verschiedensten zwischenmenschlichen Konstellationen als eine angemessene Strategie des Zusammenlebens vorführen.Wenden wir uns daher über das bei Cohen im autobiografischen Duktus gestaltete Mitleid hinaus in einem zweiten Schritt all jenen Passagen zu, die einen solchen ethischen Hebeleffekt in der Fiktion mobilisieren, wobei wir für das erste Beispiel, herangezogen aus Belle du Seigneur, noch in einem dezidiert jüdischen Kontext verbleiben.
4.3.2.2 Fortsetzungen Gleich vierfach fällt der Mitleidsbegriff in jener nicht zufällig an zentraler Stelle im Roman platzierten Schlüsselszene, in der Solal im von der braunen Pest verseuchten Berlin der jüdischen Zwergin Rachel gegenübertritt. Wir erinnern uns: Mit ostentativ zur Schau getragenen Insignien provozierte der Protagonist einen antisemitischen Übergriff in den nächtlichen Straßen der für Juden gefährlich gewordenen Metropole. Unterschlupf findet der im Zuge dieses Wagnisses am Kopf verletzte Held bei Rachel, deren Familie von den nationalsozialistischen Machthabern zu einem Leben in der Finsternis der Berliner Unterwelt verdammt wurde. Mit der jüdischen Zwergin konzipiert der Erzähler eine geschichtsluzide Figur, die vor dem historischen Hintergrund des Romangeschehens die den europäischen Juden bevorstehende Vernichtungsmaschinerie einerseits lebensklug antizipiert, andererseits aber auch diese der erzählten Zeit noch bevorstehende Katastrophe als barbarisches Rezidiv einer langen transhistorischen Entwicklung darstellt: „Ils nous ont brûlés au treizième siècle! Ils nous brûleront au vingtième siècle!“ (BdS ‐ 509 f.). Der Spiegel, den die Solals Torheit tadelnde Rachel dem Verwundeten vor das von Blut befleckte Gesicht hält, offenbart weit mehr als das gezeichnete Antlitz eines von den Nazis nieder geprügelten Juden, reflektiert er doch bildhaft die conditio humana eines inmitten der Tageshelle zu einer Schattenexistenz genötigten Volks: „Voilà ce que c’est de vivre dehors, écervelé! Dans la cave, Juif!“ (BdS ‐ 511). Den Kulminationspunkt von Solals Begegnung mit der exzentrischen Lebenskünstlerin wider Willen³⁰⁸ aber bildet jener Moment der Erkenntnis, als das affektive Oszillieren des Protagonisten zwischen Ekel und Faszination, zwischen Abscheu und Ehrfurcht vor dem gedrungenen Frauenkör-
Mit Würde, Humor und einem trotz schweren Schicksals bewahrten Frohsinn („gaité de malheur“, BdS ‐ 512) trägt Rachel ihr unbequemes Los.
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per jäh einer dritten Empfindung weicht: „Lui, il la considérait et il avait pitié, pitié de cette petite difforme aux grands yeux, beaux yeux de son peuple, pitié de cette petite insensée, héritière de peurs séculaires, et de ces peurs le fruit contrefait, pitié de cette bosse, et en son âme, il révérait cette bosse, bosse des peurs et des sueurs de peur […]“ (BdS ‐ 513, [meine Hervorhebung]). In enger emotionaler Beziehung zu den gewählten autobiografischen Textausschnitten operiert das Mitleid auch hier wieder einmal im Kontext eines zu bewältigenden Gewissenskonflikts, am Ausgangspunkt einer zu durchlaufenden Gesundung, die neue Orientierungsmöglichkeiten aufzeigt. Rachels difformer Körper verkehrt sich dank des Mitleids in sein perfektes Gegenstück; ihr Buckel wird zur elitären Sinnfigur der Auserwähltheit eines Volks, ja, ihr ganzer Leib wandelt sich zum Inbild des Erhabenen und Schönen: „‚Je suis laide, n’est-ce pasʻ, demanda-t-elle […]. Tu es belle, dit-il, et il lui prit la main, la lui baisa“ (BdS ‐ 513). Wenn bei Rousseau und Schopenhauer das Mitleid mit der Fähigkeit zur Identifikation zusammenfällt, so geschieht in Cohens für den weiteren Handlungsverlauf so kruzialen Kellerszene nichts anderes: Solals vom Erzähler wohl nicht willkürlich in die Tiefen des Kellergewölbes verlegte Ich-Findung kommt denn auch zu ihrem fulminanten Abschluss in der vom Mitleid durchgesetzten Einswerdung mit Rachel: „Muet, le crâne en douleur, il souriait d’orgueil, devenait comme elle, le savait“ (BdS ‐ 510).³⁰⁹ Das lang erstrebte positive Selbstbild wird in diesem Augenblick Realität, wenn auch der Leser davon auszugehen hat, dass die Glättung der Identitätskrise nur vorübergehend Wirkung zeitigt. Der Passus ist als Analogon zu einer weiteren aus jüdischer Perspektive aufbereiteten Mitleidsszene zu lesen. Im Traum erscheint dem Erzähler-Ich des Le Livre de ma mère die verstorbene Mutter vor der surreal-geisterhaft wirkenden Kulisse eines dem Frankreich unter deutscher Besatzung nachempfundenen Filmdekors: „Dans un autre rêve, je la rencontre dans une fausse rue, une rue de film, en France occupée. Mais elle ne me voit pas et je la contemple avec un mal au cœur de pitié, petite vieille courbée et presque mendiante, ramassant des trognons de choux après la clôture du marché et les mettant dans une valise où il y a une étoile jaune“ (Ldm ‐ 747, [meine Hervorhebung]). Der notdürftige Kofferinhalt – von den Marktbesuchern verschmähte Kohlreste und ein gelber Stern – steht sinnbildhaft für die Paria-Existenz jener ins soziale Abseits abgeschobenen Jüdin, die erst dann die Isolation zu durchbrechen riskiert, wenn der Außenraum längst menschenleer im Dunkeln liegt. Beide über das affektive Bindeglied des Mitleids ineinander verwobene Passagen schließen mit einem demonstrativen Umschlag
Einen in die christologische Selbstmetaphorisierung als König der Juden mündenden identitären Wandel durchlebte schon, so sahen wir, der kleine Albert.
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der vorgefundenen Wirklichkeit: In unverkennbaren Anklängen an die alljährlich im Purimfest karnevalesk in Erinnerung gerufene Errettung der persischen Juden durch die Königin Esther triumphiert das frisch gekrönte Monarchenpaar – hier Rachel und Solal (BdS ‐ 513 ff.), dort Albert und die Mutter (Ldm ‐ 748) – über den aufgebrachten Pöbel.³¹⁰ Gegen den wütenden Naziterror begehren die jüdischen Gesetzesrollen auf, den deutschen Propagandagesang übertönt der Klang des aus den Tiefen des Kellers emporsteigenden „chant à l’Eternel, grave chant d’amour“ (BdS ‐ 514).³¹¹
4.3.2.3 Schwellenort Fenster Steht die in den skizzierten Passagen beobachtbare Engführung von Liebe und Mitleid noch unter jüdischen Vorzeichen, so hat eine Verlagerung der Betrachtungsweise um all jene Mitleidsfigurationen im Werk des Autors zu erfolgen, in denen die ethische Kompetenz des Affekts aus einem das Kulturpartikulare transzendierenden Blickwinkel zu sehen ist. Zweierlei Sequenzen gebührt in dieser Hinsicht besonderes Augenmerk – Szenen, in denen das Fenster als hochgradig semantisierter Transitort in Erscheinung tritt, als Schwelle, die sich am exakten Übergang von der Geschlossenheit des Innen- zur Weitläufigkeit des Außenraums situiert. Der erste im Genf der späten 1920er Jahre angesiedelte Textausschnitt schildert eine Erinnerung des Erzähler-Ich an die Besuche der Mutter aus Marseille. Jedes Mal, wenn der Sohn das Haus verließ, folgte sie vom Fenster aus der immer blasser werdenden Silhouette solange mit Blicken, bis diese ihrem Sichtfeld vollends entglitten war: Quand je sortais, elle était aussi à la fenêtre, pour rester une minute de plus avec moi et contempler cette forme disparaissante qui était son fils, son lot sur cette terre, son cher fils qu’elle regardait s’éloigner, qu’elle regardait peut-être avec cette étrange et pénétrante pitié que nous avons pour ceux que nous aimons et dont nous connaissons le secret dénuement, cette même aiguë pitié que j’éprouve pour mes aimés lorsque, de ma fenêtre, je les vois dans la rue, seuls et si perdus et désarmés, marchantes catastrophes, et ne se doutant pas que je les regarde (Ldm ‐ 742, [meine Hervorhebung]).
Eine ausführliche Analyse zum in diesen Krönungsszenen wiederkehrenden Motiv der Kutsche findet sich bei Schaffner, Le goût, S. 221 f. Zur Bedeutung des Auditiven in dieser Szene vgl. Ette: „Im Gesang gipfelt die Dissonanz dieser beiden Welten, wobei – wie oft bei der Darstellung religiöser Überzeugungen bei Cohen – der Klang an die Stelle des Bildes, das Ohr an die Stelle des Auges gerückt ist. An die Stelle der Bilder sind Klangbilder getreten, die das undarstellbar Gewordene noch ein letztes Mal im fremdsprachig artikulierten Bild des spritzenden Blutes dem Leser vor Augen führen.“ Ette, Literatur in Bewegung, S. 433.
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Fließend vollführt der Text die Wendung von den erinnerten Bildern der Vergangenheit hin zu denen der Erzählgegenwart: Vollzogen wird dieses Ineinandergreifen der Zeitebenen über eine tiefe Beklemmnis, über ein als ungemein schmerzhaft erfahrenes, sich in die Seele des Beobachters hineinbohrendes Mitleid. Zwar hat der Platz am Fenster seinen Besitzer gewechselt, doch verschmilzt der vormals von der Mutter mit zunehmender Distanz nur noch schemenhaft erahnte Umriss des Sohns – „cette forme disparaissante“ – mit jenen konturlosen Figuren der Jetztzeit, die vom erhöhten Standpunkt des Betrachters aus den Anschein von wehrlosen Kleinstkreaturen inmitten der sich bedrohlich darbietenden Stadtlandschaft erwecken: „si perdus et désarmés, marchantes catastrophes“. Auf der Ebene des Stils wird die in dieser emotional aufgeladenen Atmosphäre dem Menschen zugewiesene Fragilität durch die beiden Verbaladjektive „disparaissante“ und „marchantes“ verstärkt, welche die Semantik der künstlerischagrammatisch transformierten Ursprungsverben auf das menschliche Wesen umlenken: Der Mensch als ein auf Erden unbeholfen dahin wandelndes und eines ihm unbekannten Tages wieder von dannen ziehendes Wesen – es ist ebendieser Sinngehalt, dem die sprachlichen Neuschöpfungen eigens Ausdruck verleihen. Im Mittelpunkt steht nun ein Mitleid, das, anstatt auf eine situativ und zeitlich begrenzte Not des Leidenden zu reagieren, unwandelbar präsent ist. Vermittelt wird der ein Gefühl der Bedrückung hinterlassende Eindruck, als verselbständige sich das Mitleid angesichts der Ohnmacht vor den Imponderabilien des Lebens und dem unausweichlichen Tod zu einer Empfindung von Dauer – die Parallelen zu der von Werner Marx vorgelegten Mitleidstheorie sind unverkennbar. Insofern darf man den augenfälligsten Unterschied zwischen dem bei Cohen am emblematischen Ort des Fensters hervorschnellenden Gefühl und Hamburgers Strukturbestimmung wohl daran festmachen, dass das Mitleid in den Augen der Philologin an Instabilität und Flüchtigkeit gekoppelt ist, im Werk des Schriftstellers dagegen als beständiger Charakter seine volle Effizienz beweist. Die Wahl des Schauplatzes überließ Cohen dabei nicht dem Zufall und so überrascht nicht, dass der Autor eine zweite Mitleidssequenz szenisch deckungsgleich umrahmt. Wieder einmal findet sich der Erzähler am Fenster seines Domizils mit Weitsicht über Genf ein – ein Fernblick, den die das achtzehnte Kapitel der Valeureux schließende Metalepse bereithält. Bis zu welchem Grad Cohens ethische Positionen gerade innerhalb dieser im Schaffen des Autors alles andere als selten anzutreffenden außer-fiktionalen Einschübe des Erzählers an Intensität gewinnen, hat Decout zu Recht angemerkt.³¹² Besteht nach Genette das
„Mais ce que recherche le récit par la pratique généralisée de la métalepse relève plus de l’incarnation du narrateur dans le monde de la fiction afin de lui donner une voix, c’est-à-dire un
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Charakteristikum der Metalepse in der Erzwingung eines narrativen Bruchs zu Ungunsten des Eindrucks der vraisemblance,³¹³ so scheinen Cohens Texte den gegenteiligen Effekt zu forcieren, indem sie Fiktion und Realität permanent aufeinander beziehen. In der besagten Metalepse unterbricht der Erzähler, der hier mit gutem Grund dem Schriftsteller gleichgesetzt werden darf, den Roman, um seine Blicke vom Fenster der siebten Etage aus auf seine Frau zu richten, die mit betont bedächtigen Schritten die von Eis und Schnee gefährlich glatte Straße entlanggeht. Aufgrund der schlechten Witterung wurde sie von ihrem Mann zur Vorsicht gemahnt. Wie sie nun, dieser Bitte folgend, langsamer als üblich einen Fuß vor den anderen setzt, beschleicht den am Fenster Harrenden eine Vision: An die Stelle der noch nicht im hohen Lebensalter des Erzählenden selbst stehenden Ehefrau tritt eine um drei Jahrzehnte gealterte Greisin, der jeder Schritt zur Beschwernis wird. Dieses vom Betrachter intensiv wahrgenommene Gefühlserleben soll in unverkürztem Wortlaut wiedergegeben werden: Par la fenêtre, de mon septième étage, je l’ai vue s’appliquant consciencieusement à m’obéir, attendrissante d’aller très lentement pour ne pas glisser, posant lourdement un pied après l’autre, précautionneusement allant comme une vieille, elle si jeune encore, marchant comme elle marchera dans trente ans. Ainsi sera-t-elle dans trente ans, une vieille, ai-je pensé à ma fenêtre, la regardant et lui faisant signe lorsqu’elle se retournait, une vieille, ai-je pensé, et je l’ai chérie, douloureusement chérie de marcher aujourd’hui comme elle marchera dans trente ans. La gorge serrée, j’ai chéri cette soudaine vieille qui allait avec la pesanteur de l’âge, chéri cette vieille de trente ans plus tard que je ne verrai pas, car je ne serai plus là, car elle est jeune et je ne suis pas jeune. Ce flot d’amour qui est monté avec les larmes, c’est parce que j’ai vu, lentement allant sur la route de neige, vu celle que je ne verrai pas, vu celle qui m’est interdite, vu ma vieille bien-aimée de plus tard, maladroitement allant, sur quelle route inconnue, en quelle ville? Ce flot d’amour avec les larmes, c’est parce que j’ai su que je ne serai pas là pour aider celle qui sera vieille alors, pas là pour l’aider à marcher et lui prendre le bras afin qu’elle ne tombe pas, pas là pour être son soutien, dernier bonheur qui m’est interdit (V ‐ 986).
Stilistisch auffällig ist im zitierten Textfragment die repetitive Wortwahl, die den gefühlsbetonten Duktus noch unterstreicht, während auf der Ebene des Inhalts wieder einmal der Tod den engsten Weggefährten eines Mitleids personifiziert, das hier zwar nicht expressis verbis auftaucht, wohl aber in dem empfindsamen Beobachtungsszenarium latent mitschwingt. In Analogie der in den Roman einge-
ethos.“ Decout, Maxime: Albert Cohen et les séductions de la parole narrative. In: Etudes littéraires 41/3 (2010). S. 133 – 145, hier S. 140 f. „Tous ces jeux manifestent par l’intensité de leurs effets l’importance de la limite qu’ils s’ingénient à franchir au mépris de la vraisemblance.“ Genette, Gérard: Figures III. Paris: Seuil 1972. S. 245.
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arbeiteten Metalepse betonte der Schriftsteller in einem 1969 –und damit im Erscheinungsjahr von Les Valeureux – gegebenen Interview die Äquivalenz von Liebe und Mitleid: „Lorsque je vois les premières traces de vieillesse chez ma femme, sur ce beau visage qui commence à être moins jeune, eh bien, je ressens là, à ce moment là, quelque chose qui, je crois, est sacré. Un attendrissement, une pitié, qui est peut-être la forme la plus belle de l’amour.“³¹⁴ Diese Gleichung weiterführend visiert die im Schreiben des Schriftstellers entwickelte Liebesthematik oftmals einen besonderen Sinngehalt an, der über die metaleptischen und autobiografischen Bezüge hinaus in einer Fiktion zum Tragen kommt, in der sich das Liebes- und Mitleidsverständnis des Protagonisten Solal konform zu dem des Autors und Erzählers verhält: „[E]t pourtant je la [Ariane] chéris comme jamais je n’ai chéri, cet élan d’amour vers elle lorsque sur son visage j’aperçois une trace de moindre jeunesse, annonce de sa vieillesse plus tard, sa vieillesse certaine, et je ne serai plus là pour veiller sur elle, sur toi, mon amour, mon cher amour“ (BdS ‐ 721). Eindeutig widersprechen diese Befunde der von Hamburger diagnostizierten Inkompatibilität von Mitleid und Geschlechtsliebe. Und wenn in den übrigen der besprochenen Theorien das Mitleid rein auf die Nächstenliebe limitiert bleibt, so behebt das Schreiben des Schriftstellers diese Asymmetrie, indem es das Motiv über den mehrfach überprüften Konnex hinaus anderweitig funktionalisiert und einen ethischen Nutzen daraus zieht. Lässt sich im Blick auf Hamburger ein den Wert der Liebe schmälerndes, ja eliminierendes Mitleid festhalten, so ist dem Werk des jüdischen Autors um ein gänzlich anderes Gesamtbild zu tun. In Anbetracht all jener Erzählsequenzen, in denen das Mitleid die vom Gros der Interpreten in den Mittelpunkt gerückte Tragik der Liebesgeschichte provoziert und dem Leser ein neues Textverständnis abverlangt, ist doch Verwunderung darüber angebracht, wie wenig die Albert-Cohen-Forschung dieser die Krise dekonstruierenden Gegenrede bislang Rechung trug. Ihr gelten daher die nun folgenden Überlegungen.
4.3.2.4 Mitleid und Geschlechtsliebe Kruziale Einblicke in die aus den Fugen geratene Ich-Welt des Helden liefert, so sahen wir, der bereits in anderer Hinsicht analysierte innere Monolog, entfaltet im 94. Kapitel von Belle du Seigneur. Veranlasst durch Solals gescheiterte Mission bei all jenen Machtinstanzen, die sein soziales Außenseiterdasein hätten revidieren können, verstrickt sich der Held zusehends in den Fängen einer Ideologie, die eine multiple Identität des „Sowohl-als-auch“ weit von sich weist. Die Liebe zu Ariane
Radiointerview mit Albert Cohen. Radio Télévision Suisse (21. Mai 1969).
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mit der zum Judentum zu synchronisieren kommt Solal nicht in den Sinn, scheinen die ihm verbleibenden Alternativen doch rigoros einander auszuschließen: „Que faire maintenant? Jérusalem? Ou la cave Silberstein et Rachel? Oui, mais elle, la laisser seule?“ (BdS ‐ 865). Ungeachtet der rezeptionserschwerenden syntaktischen Verschachtelung hebt Solals innerer Monolog die in die Heldenpsyche eingravierten Dissonanzen mit aller wünschenswerten Klarheit aus der Verborgenheit empor. Dem Zauber des Judentums kann der stumme Redner ebenso wenig entfliehen wie dem Faszinosum der Liebe: „[J]’ai fondu d’amour de cette pitié qui est amour […] cette pitié qui me vient pour mon enfant“ (BdS ‐ 872 f.). Den Leser tangiert dieser unausgesprochen bleibende Liebesschwur umso mehr, als er die ganze Paradoxie einer Liebe offenlegt, der jedwede Hörbarmachung widerstrebt.³¹⁵ Dabei zeigt sich doch: Bei aller Maskerade, mit der das Paar die Zweierisolation vor der sich zusammenbrauenden Apokalypse retten will, bei aller strategisch dosierten Eifersucht, von der sich Solal das Wiederaufflammen der zu erlöschen drohenden Leidenschaft verspricht, bei aller sexuellen Enthemmtheit, mit der die Liebenden als allerletztem Palliativ die Katastrophe abzuwenden suchen, bleibt in ihnen doch ein Mitleid unversehrt, das den Leser in positiver Hinsicht desorientiert. Über den sanft entschlummerten Helden wacht stets die von einem allumfassenden, ihr selbst unergründlichen Mitleid ergriffene Ariane: „Il s’endormait parfois contre elle, confiant. Attendrie, elle aimait le regarder dormir, aimait veiller sur son sommeil, sommeil d’un inconnu considéré avec une étrange pitié, un inconnu qui était maintenant toute sa vie“ (BdS ‐ 432). Intensiver noch als in diesen Momenten der Stille fördert der Romancier das Mitleid überall dort, wo er ihm vor der pechschwarzen Kontrastfolie des Todes Ausdruck verschafft. Diesem den Istzustand heilsam brechenden Mitleid ist es etwa zu schulden, wenn der in Solal wallende Zorn, gerichtet gegen eine exzessiv hingebungsvolle Ariane, die gleich einer aufopfernden Mutter für die Ernährung des Geliebten Sorge trägt, abrupt versiegt: „[I]l fut ému de tendresse. Elle était sa croyante qui avait tout quitté pour lui, indifférente aux jugements du monde, qui ne vivait que pour lui, qui n’attendait que de lui. Il la vit soudain en son cercueil de plus tard, blanche et dure, et il eut mal de pitié. Alors, il baisa ces mains qui le servaient, ces mains encore vivantes (BdS ‐ 713).“³¹⁶ Selbst am Zenit der Eifersucht, wo das minderwertige Selbstbild der Romanfigur den völligen Kontrollverlust über das Ich und die Beziehung beschleunigt, argwöhnt der Held das Werk der Zersetzung am schutzlosen Körper der innig Geliebten – finstere Visionen, die
Vgl. hierzu auch BdS ‐ 906: „oui mon amour je t’aime toujours plus et en moi-même je te le crie.“ Eine nahezu wortwörtliche Wiederaufnahme dieses Zitats findet sich im Roman auf S. 781.
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abermals eine kathartische Wirkung zeitigen und die Kette der an Aggressivität gewinnenden Tobsuchtsanfälle unversehens sprengen. Schon ein unbedenklicher Niesreiz genügt, um in der todessensiblen Wahrnehmung des Protagonisten als Vorausschau auf den Tod zu dienen: „Sur quoi, elle éternua deux fois, et il eut pitié, aiguë pitié, pitié de cette créature fragile, promise à la maladie et à la mort“ (BdS ‐ 967). Jedwede Zweifel räumt der Text aus: Ariane ist Solals „innocente“ (BdS ‐ 741 u. 744), jene wehrlose Kreatur, deren inoffensiver Körper vor den Gefahren des Lebens, ja vor dem Leben schlechthin zu behüten ist und der gerade in seiner exponierten Nacktheit die ihn auszeichnende Vulnerabilität sonderbar expressiv zur Schau stellt: „Toujours, lorsqu’il la voyait de dos, nue et circulant, une pitié le pénétrait. […] Envoûté, coupable, il la considéra qui se baissait pour ramasser sa robe de chambre, et il eut pitié, une immense pitié d’amour comme devant une infirmité, pitié de cette peau trop douce, de cette taille trop fine, de ces deux rondeurs inoffensives“ (BdS ‐ 723). Um den inhaltlichen Kern einer vom Tod her reflektierten Liebe kreist jene unvermittelt dem Roman ins Wort fallende Metalepse des Erzählers, die sich über das gesamte 52. Kapitel von Belle du Seigneur erstreckt: „Jeunes gens, vous aux crinières échevelées et aux dents parfaites, divertissez-vous sur la rive où toujours l’on s’aime à jamais, où jamais l’on ne s’aime toujours, rive où les amants rient et sont immortels, élus sur un enthousiaste quadrige, enivrez-vous pendant qu’il est temps et soyez heureux comme furent Ariane et son Solal […]“ (BdS ‐ 482). Als einzige im Roman statthabende Gegenkommentierung der vom Protagonisten verfochtenen körperfeindlichen Liebestheorie führt Schaffner diese Wortmeldung des Erzählers an: „[A]u lieu de condamner l’amour passionnel comme on pourrait s’y attendre, il l’encourage d’une manière empruntée à l’Ecclésiaste […] et au Cantique des Cantiques […].“³¹⁷ Dies ist grundsätzlich richtig, doch lässt Schaffners Zwischenbemerkung „comme on pourrait s’y attendre“ wieder einmal auf die in der Sekundärliteratur bedauerlicherweise weitverbreitete Gleichsetzung zwischen Figurensicht, Erzählerstimme und Autorintention schließen. Das Bewusstsein für den Tod hält Cohen in all seinen Texten wach, aufs Eindringlichste wieder einmal in metaleptischer Inszenierung just an jenem Punkt der Einkehr, als Solal im gleichnamigen Roman am Grab des großherzigen Pastors Sarles verweilt. An Unmittelbarkeit gewinnt dieser Augenblick der kontemplativen Versenkung durch die den Lesenden sanft beschwörende Stimme des Erzählers, dem Text hinzugefügt in einem Klammerzusatz – fast so, als wolle sie nur auf Zehenspitzen in die Stille vordringen: „(Puisque bientôt tu seras enfoui aussi, toi qui lis, tue l’orgueil et revêts-toi dès à présent de bonté“, S ‐ 343). Dem Grundthema
Schaffner, Belle du Seigneur, S. 228.
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einer auf Mitleid fußenden Liebe leistet schon Cohens Debütroman auf besondere Weise Genüge. Betrachten wir hierin zunächst jene symbolbeladene Osterszene, der Solals Konvertierung zum Katholizismus vorausging – eine Zäsur, die der Protagonist inmitten der von den Sarles gedachten Auferstehung Christi als zutiefst ambivalent erfährt. Dem Text zufolge fallen Ostersonntag und Hauptfesttag der Passah-Feier in eins – ein kalendarischer Zufall, dem die Romanfigur einen tieferen Sinnbezug beimisst: „Je n’en suis pas. Pourtant c’est Un des miens qui ressuscite aujourd’hui. Et je L’aime autant qu’eux“ (S ‐ 314). Mit der Schwermut überkommt den Abtrünnigen die Reue, und während Solal dem jüdischen Ritus nach mit ungesäuertem Brot das Gedenken an den Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft zelebriert, rufen ihm die bunt bemalten Eier auf dem feierlich geschmückten Ostertisch seine desolate Lage hell leuchtend in Erinnerung. Als dann aus dem Zimmer des die geladenen Besucher meidenden Fremdlings ein ebenso betörender wie wehmutsvoller Gesang erklingt, stellt sich unter der im Salon animiert konversierenden Gruppe jäh ein peinsam berührtes Schweigen ein: „Sortie du fond des âges humains, une voix chaude et merveilleusement mélancolique s’était élevée. Dans le salon figé, les convives écoutaient avec gêne l’appel tragique d’une langue de nostalgie. Là-haut, dans sa chambre et loin de ses frères, mais accoudé sur les coussins prescrits par le rite, le renégat solitaire fêtait comme il pouvait le jour de la Pâque et la sortie d’Egypte“ (S ‐ 315 f.). Zutiefst ergriffen von der authentischen Sprache dieses in Melodie übersetzten Kummers nimmt die mit Solal mitleidende Aude den Zwischenfall zum Anlass, um mit dem in der sozialen Hierarchie unsanft Gefallenen fern der Familie ein neues Leben zu beginnen, ganz gleich, welch hohe materiellen Verluste dieser Schritt auch bergen mag: „Lorsque, trois jours auparavant, elle avait entendu chanter le solitaire, sa poitrine s’était déchirée de pitié. Elle avait su parler à Solal, lui montrer la nécessité d’un départ immédiat“ (S ‐ 317). Diese durch Audes Mitleid ebenso subtil wie beherzt initiierte Wende bildet den Auftakt des nächsten zentralen Abschnitts innerhalb der von häufigen Peripetien gequerten Diegese. Abermals operiert die Erzählung mit dem Mitleidsmotiv selbst noch in jener unglücklichen Phase des Zusammenlebens, als die ebenso finanzielle wie emotionale Krise die endgültige Zerstörung der Paarbeziehung androht: Denn als Aude darüber Kenntnis erlangt, dass der vormalige Minister sich nicht zu fein war, sein täglich Brot als einfacher Fabrikarbeiter zu verdienen, nimmt der Text die Kraft des Mitleids ein weiteres Mal in Anspruch: „Un sanglot se pressait contre sa gorge, un sanglot de pitié maternelle et de reconnaissance. Elle baisa la main de son mari“ (S ‐ 320). Für eine letzte Betrachtung der Wechselbeziehung zwischen Liebe und Mitleid empfiehlt sich erneut ein Blick in Les Valeureux. Vertieft in die Niederschrift des zweiten Romankapitels tritt der auch hier mit dem Autor zu identifizierende Erzähler an seine Ehefrau mit der Bitte heran, sie möge das im Entstehen begriffene
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Kunstwerk und somit den über das Manuskript gebeugten Künstler in seiner ausschweifenden Figurenzeichnung gutheißen: „Ne pourrais-je pas en ajouter encore un peu?“ lui ai-je demandé. Comme elle est raisonnable, elle m’a répondu: „Vous en avez déjà tellement dit sur Mangeclous, il faut savoir arrêter.“ Mais elle a deviné ma déception, m’a regardé avec une étrange pitié de tendresse. Elle sait que toutes ces longueurs feront du tort à ce livre et que ce n’est pas malin d’en dire trop. Mais elle sait aussi que j’écris surtout pour notre plaisir, à elle et à moi, et en somme assez peu pour le succès, ce succès si cher à tous ces futurs cadavres. Alors, parce qu’elle est aussi douce que belle, et bonne plus encore que sage, elle m’a dit maternellement: „En somme, oui, vous pourriez en mettre encore un peu.“ Comme elle me connaît, elle a tout de même ajouté: „Mais n’exagérez pas.“ Très à mon affaire, puisque je suis approuvée par elle, j’allume ma cigarette et je vais me remettre à en dire sur Mangeclous (V ‐ 821, [meine Hervorhebung]).
Entgegen ihrer Bedenken befürwortet Bella Cohen im Interesse des Gatten und Autors die Vervollständigung des ohnedies schon detailreich ausgeschmückten Figurenporträts. Die Reaktion der Ehefrau besteht bisweilen aus Mitleid („une étrange tendresse de pitié“), bisweilen aus mütterlicher Zuneigung („maternellement“) sowie weiblichem Sanftmut, Umsicht und Wohlwollen („aussi douce que belle, et bonne plus encore que sage“). Jeder einzelne dieser Gefühlskomplexe deutet auf einen das Kunstwerk positiv beeinflussenden affektiven Beitrag hin – in ihrer Gesamtheit optimieren sie als untrennbare musische Einheit die Kreativität des Schreibers. Das in diesem Passus zum Vorschein tretende Liebesverständnis erlaubt ganz offensichtlich den Einbezug anderer, gemeinhin nicht unweigerlich mit der Geschlechtsliebe assoziierbarer Konzepte wie das der Mutterschaft und jenes des Mitleids. „Aurai-je eu envie d’écrire mes livres sans les merveilleuses de ma vie?“ (C ‐ 1125), so die um des rhetorischen Effekts willen gestellte Frage des Autobiografen der Carnets. Ob Elisabeth Brocher, Yvonne Imer, Bella Cohen, Tochter Myriam oder Mutter Louise: Unstrittig ist der immense Anteil all jener Frauen am Schaffensprozess des Künstlers, die Cohens schriftstellerischen Aktivitäten, in einigen Fällen unter Aufnahme erheblicher Strapazen,³¹⁸ begleitet und gefördert haben. Wie die oben angeführte Metalepse zeigt, erweist sich der dort anekdotisch exemplifizierte Liebesbegriff für die Ästhetisierung der Liebe als paradigmatisch, insofern als er die verschiedenen einander gegenübergestellten Facetten der Liebe, von denen das Mitleid eine ist, in der Person Bellas idealiter vereint. Als ein zusätzlicher Beleg unterstreicht die Passage den bereits gelieferten Befund, dass das Mitleid nicht nur innerhalb des Cohenschen Nächstenliebe-
Vgl. hierzu insbesondere: Boissonnas-Tillier, Anne-Marie: A propos de la première version de ‚Belle du Seigneur‘. In: Albert Cohen et la tradition littéraire: filiations et ruptures I. Cahiers Albert Cohen 2 (1992). S. 15 – 24.
4.3 Eine Ethik des Mitleids
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modells der tendresse de pitié, sondern auch bezogen auf die Liebe zwischen Mann und Frau eine wesentliche Mitwirkung für sich in Anspruch nehmen kann. Doch umfasst es im Werk des Schriftstellers noch eine zweite Sinndimension, die es in Ergänzung des bislang Gesagten anzumerken gilt.
4.3.2.5 Missliebiges Mitleid Als Gegengewicht zu den bislang untersuchten Gefühlsmustern treten bei Cohen all jene Darstellungsweisen des Mitleids hervor, die einem negativ besetzten Affekt das Wort reden, so das Beispiel Solal – Isolde. Ebenso wenig wie es der Gräfin gelingt, gegen die tief schürfenden Kräfte des Alterns einen dauerhaften Triumph zu erstreiten, vermag der Held Isolde ein Mitleid zu zollen, das die Beziehung auf eine stabile Basis des Zusammenlebens stellen könnte. Aus Isoldes vergeblich, ja erbärmlich wirkenden Kampf um die Reaktivierung einer längst verglühten Leidenschaft schälen sich Solals Widerstandswille gegen diese Liebe und ein negatives Mitleid heraus, wie Käte Hamburger es ausdrücklich missbilligte: „Ein Mitleid also, das den äußersten Gegensatz zu jenem bildet, dessen traditionellste Begründung die Liebe ist, ein Mitleid, das in Überheblichkeit über den Mitleidenden gegründet und nahezu identisch mit dessen moralischer Verurteilung ist.“³¹⁹ Dieser Affektvariante kommt Solal in der Tat sehr nahe, da das in ihm aufwallende Mitleid mit einer selbstlos einsatzbereiten Isolde den Helden in lästige Gewissensnöte stürzt: Et lui, sa culpabilité tout le temps, sa pitié tout le temps. Pitié lorsqu’elle lui chantait ses mélodies hongroises, toujours les mêmes, et qu’il connaissait par cœur. Pitié, à cinq heures de l’après-midi, lorsqu’elle lui proposait de commander le thé à la domestique, le lui proposait avec un curieux espoir naïf, incurablement optimiste, comme si le thé allait magiquement mettre de la vie dans cette mort qu’elle ne voulait pas voir (BdS ‐ 460).
Ein solches durch peinigende Schuldgefühle verfälschtes Mitleid übt auch auf das Eheleben von Ariane und Adrien einen kontinuierlichen Druck aus: so etwa, wenn sich die Protagonistin nach dem nur lustlos erduldeten Liebesspiel wieder einmal verpflichtet fühlt, an der Seite des Gatten zu nächtigen, „comme tant de fois à cause de cette atroce pitié haineuse“ (BdS ‐ 227). Auffällig eng schließt sich dieses feindselige Gefühle verströmende Mitleid jener emotionalen Kälte an, der Hamburger in L’homme révolté auf der Spur war. Eine mit Camus’ „pitié froide“ verwandte Gestimmtheit impliziert das Adrien geltende Attribut „pauvre petit“ (BdS ‐ 589), wobei für ein erschöpfendes Begriffsverständnis der Erzählkontext
Hamburger, Mitleid, S. 84.
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entscheidend ist: Denn während der gehörnte Adrien sein Eheglück schon längst verspielt hat, wiegt sich der von Solal zu einer diplomatischen Mission in den Nahen Osten abgeschobene Funktionär ebenso vertrauensselig in bequemen Federbetten wie in Sicherheit vor potenziellen Nebenbuhlern. In das Raster der negativen Mitleidsinszenierungen fällt ebenso das selbstsüchtige Verhalten von Solals erster Mätresse Adrienne, die weniger um den sich vor Sehnsucht verzehrenden Zögling als vielmehr um ihre Reputation als Konsulsgattin bangt: „Elle avait pitié, mais surtout elle craignait un scandale“ (S ‐ 128), so kommentiert der Erzähler nüchtern. Der gebotene Überblick über die intensive Bearbeitung des Mitleidsmotivs im Schreiben des Schriftstellers macht erkennbar: Gekennzeichnet ist der Affekt bei Cohen durch einen doppelten Charakter, wobei in der erbrachten Gesamtschau ein positiv gewertetes Mitleid bei Weitem überwiegt. Ersichtlich wurde außerdem, dass die in den Texten des Autors beobachtbare Hauptausprägung des Motivs – das Mitleid als ein dem Zusammenleben, verstanden vom engsten bis zum weitesten Sinne des Wortes, förderliches Gefühl – in vielfältigen Verknüpfungen und auf den unterschiedlichsten Ebenen der Rede zutage tritt: Die ethische Indienstnahme des Motivs ist mithin deutlich spürbar. Die zitierten Textstellen dokumentieren außerdem, dass es falsch wäre, die außerliterarische Sinnentfaltung des Motivs auf das in Cohens Carnets essayistisch entwickelte Modell der tendresse de pitié zu beschränken. Vielmehr bündelt und kanalisiert das autobiografische Spätwerk des Autors ein Wissen, das zahlreiche seiner früheren Texte im Dreieck von Mitleid, Liebe und Tod durchspielen, wobei gerade der Tod als anthropologische Konstante an der narrativen Ausgestaltung des Motivs maßgeblich partizipiert. Derart gelenkt vom engen Interdependenzverhältnis dieser drei Motive werden Augen und Ohren des gewillten Lesers geschult, von Roman zu Roman tiefer in eine Lebensphilosophie vorzudringen, die den Autor als wahrhaftigen Mitleidsethiker ausweist. In der zyklischen Wiederkehr des Mitleids ist das Cohensche Schreiben nicht zuletzt von jenem sinn- und strukturfördernden Grundprinzip des literarischen Motivs getragen, das Daemmrich und Daemmrich ihrem Handbuch zugrunde legten: „Das Motiv spiegelt keine Zusammenhänge, es stellt sie her. […] Es verknüpft Erzählschichten und wirkt strukturbildend. […] Sie [die Motive] sind elementare, geistige Formeln, die der Struktur und dem Sinngehalt der Texte ihre innere Stimmigkeit verleihen.“³²⁰ Auch darf im Motivnetz von Liebe, Tod und Mitleid einer jener transkulturellen Schreibimpulse gesehen werden, mit denen das Œuvre des jüdischen Schriftstellers den thematisch breit
Daemmrich, Horst S.u. Ingrid G. (Hrsg.): Themen und Motive in der Literatur. Tübingen: Francke 1987. S. 231.
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aufgestellten Dialog mit allen Menschen, ganz gleich welcher Herkunft und Religion, aufnimmt. Ein finales Wort verdienen die in Zusammenhang mit Cohen exkursartig behandelten Mitleidstheorien: Was Wahrnehmung und Darstellung des Mitleids betrifft, so hat sich das argumentatorische Repertoire der in den Blick genommenen Autoren für eine kontrastive Analyse der Cohenschen Mitleidsethik in vielerlei Hinsicht als aufschlussreich erwiesen. Angesiedelt an der Schnittstelle von religiösem und säkularem Diskurs greifen die Texte des Schriftstellers einerseits traditionelle Mitleidsmuster auf, schreiben sie andererseits aber in eigener Manier fort. Mit Hermann Cohen nähert sich der Autor erstens dem Affekt über die der Hebräischen Bibel altvertraute Figur des Fremden – eine Schlüsselfigur, die, so sahen wir, Cohens Schreiben schon früh in ethische Bahnen lenkte. Analog den untersuchten theoretischen Schriften – Hamburgers Abhandlung einmal ausgenommen – führt das Mitleid zweitens bei Cohen zurück zu einem Ursprung: Als menschliche Urempfindung antizipiert es in zeitlicher und kausaler Hinsicht Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Seine ethische Stoßrichtung bezieht das Mitleid drittens aus jenem in den benannten Theorien eine tragende Rolle spielenden Prozess der Identifikation, der bei Albert Cohen und Werner Marx durch das allen Menschen gemeine Bindeglied des Todes eine signifikante Wendung erfährt. In Übereinstimmung mit den benannten Theoretikern löst Cohen viertens den temporären Grundzug des Affekts zu Gunsten einer dauerhaften Gestimmtheit auf – eine ontologische Festlegung, die jenen Dualismus zwischen Mitleid und Vernunft brüchig werden lässt, der das abendländische Denken „seit den für uns erkennbaren Anfängen der praktischen Philosophie und bis in unsere Tage bestimmt“³²¹ und den auch Bendas Held Félix verinnerlicht zu haben scheint. In Kontrast zu den aufgezeigten Mitleidsapologien aber erweitert Cohen fünftens und letztens den ethischen Radius des Mitleids um den Geltungsbereich der Geschlechtsliebe. Mit dieser merklichen Neuerung betritt der Schriftsteller ein Terrain, das bislang in Gänze unbeschritten oder, Hamburgers Beispiele zeigten dies, durchweg negativ belegt war. Derart gelingt es Albert Cohen – und Bendas L’Ordination mag dem Autor für diese motivische Anverwandlung Pate gestanden haben – das Mitleid konsequent in die Darstellungsästhetik der Liebe einzubinden, wodurch es im Schreiben des Autors – von der frühen Kurzprosa über die darauffolgenden Romane bis hin zu den späten Autobiografien – die bislang nicht bedachte gewichtige Funktion eines strukturgebenden Leitmotivs übernimmt.
Kronauer, Nutzen, S. 12.
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4 Jüdische Bilder der Liebe im Werk Albert Cohens
4.4 Die Quelle des Gartens bist Du – Lieben nach dem Paradies 4.4.1 Liebe als Metonymie In einer im März 1999 an der Universität Zürich vor den Teilnehmern des Internationalen Psychotherapie-Kongresses gehaltenen Rede erklärte der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter von Matt die literarisch modellierte Liebe zur symbolischen Handlung par excellence: „Nur deshalb geht es ja in der Literatur immer und überall um die Liebe, weil sich in ihr wie in einer Spiegelscherbe alle Probleme der Welt spiegeln können. Die Liebe in der Literatur ist immer schon und überall metonymisch, sie hat unweigerlich die rhetorische Struktur des Pars pro toto. Jederzeit steht sie für mehr.“³²² Mit von Matt besitze die allermeist sich krisenhaft zuspitzende Liebesintrige die den Leser zum Nachdenken animierende Eigenheit, dreierlei Kalamitäten gleichnishaft vorzuführen: „erstens eine Krise der Selbstwerdung, zweitens eine Krise im Konflikt mit der sozialen Macht und drittens eine Krise von metaphysischer Dimension, indem nämlich das Weltvertrauen generell, der Weltsinn, die Zuversicht gegenüber dem Ganzen in Gefahr steht.“³²³ Je nach Krisentypus nehme sich das erhoffte Ende des Konflikts, der „denkbare Moment des Jubels“³²⁴, als Verwandlung, Versöhnung oder als Erlösung an.³²⁵ Derartige in der Literatur statthabende Verschiebungstaktiken forderten wiederum dem Interpreten die Bereitschaft ab, die an das Scheitern der Liebe geknüpfte verfehlte Konfliktbewältigung im Licht der drei benannten Krisen auszudeuten, denn im Grunde, so heißt es bei von Matt, „ist jede Liebeskatastrophe in der Literatur eine leibhaftige Analyse der Gründe, warum der Moment des Jubels ausgeblieben ist.“³²⁶ Mehr noch: In Ettes lebenswissenschaftlich fokussierter Literaturbetrachtung hängen die Scheiterungsgründe – welcher Natur sie auch immer sein mögen – unmittelbar mit dem Gewinn einer aus diesem Versagen ableitbaren Erkenntnis zusammen: „Noch das Scheitern des Zusammenlebens mit dem religiös, ideologisch, ethnisch oder geschlechterspezifisch Differenten setzt in der Literatur ein Wissen frei, das die Literatur für ihr Lesepublikum als komplexes,
Matt, Peter von: Dramaturgie einer Himmelsmacht. Die Liebe in der Literatur und das Ärgernis des Happy-Ends. In: Öffentliche Verehrung der Luftgeister. Reden zur Literatur. München, Wien: Hanser 2003. S. 148 – 159, hier S. 153 f. Ebd., S. 153. Ebd., S. 155. Vgl. ebd., S. 153. Ebd., S. 155.
4.4 Die Quelle des Gartens bist Du – Lieben nach dem Paradies
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nicht auf simple Handlungsanweisungen reduzierbares ÜberLebenswissen bereithält.“³²⁷ Jede Cohen-Lektüre – denn auch den Texten des jüdischen Schriftstellers lässt sich von Matts Krisenschema anlegen – wiese eklatante Lücken auf, enthielte man ihr das Interesse an jenen Bildsymbolen vor, die das verunmöglichte Zusammenleben im biblischen Kontext der Paradieserzählung und damit vor der schuldbeladenen Kulisse einer sündhaften Menschwerdung durchspielen. Die Wunschvorstellung einer Rückkehr in den durch menschliches Fehlverhalten für immer eingebüßten Garten Eden ist Cohens Romandiegese unübersehbar eingeschrieben – dergestalt, als verwiesen die Reflexionen des Autors über die Liebe, einschließlich all ihrer Wonnen und Risiken, immer auch auf das vom Menschen gegen seinen Willen aufgegebene Eldorado, auf „jene idyllisch getönte Beschwörung des Traums von einer einigen Menschheit, in der die Zweiheit des Männlichen und des Weiblichen (noch) nicht von den aus der geschlechtlichen Differenzierung entstandenen Konflikten getrübt ist.“³²⁸ Kein geringerer Text als die Bibel – und der Theologe Frevel wies deutlich überprüfbar darauf hin – mache uns diese in die jüdisch-christlichen Anfänge der Menschheitsgeschichte zurückführende Symbolik der Liebe bewusst. Ungeachtet des aus theologischer Sicht dem Hohen Lied gebührenden innerbiblischen Sonderstatus³²⁹ sei es, so Frevel, hermeneutisch falsch, diese einzigartige Liedersammlung als gesonderte Komposition zu begreifen. Vielmehr spräche viel für eine intratextuelle Anbindung des Textes an den Paradiesbericht der Genesis: Denn während am Ende der Urgeschichte mit dem über Eva verhängten göttlichen Strafspruch eine irreversible Hierarchisierung der Geschlechter stehe – negatives Sinnbild für die nunmehr auf fundamentale Weise gestörte Beziehung zwischen Mann und Frau –, trete das Hohelied im Gegenzug dafür ein, diese im Südenfall unumkehrbar angelegte Erschwernis für das zwischengeschlechtliche Zusammenleben zu revidieren: „Das Hohelied versteht die partnerschaftliche Liebe als Rückkehr ins Paradies, als Aufhebung der Minderungen und Begrenzungen des Mensch-Seins. Ein intertextuelles Spiel zwischen Gen 3,16 und Hld 7,11 macht das deutlich.“³³⁰ Die sowohl den Paradiesbericht als auch das Hohelied bestimmende szenische Rahmung – ein üppig bepflanzter Garten – dürfe man als weiteres,
Ette, ÜberLebenswissen, S. 21. Mosès, Eros, S. 15. So verzichtet das Hohelied auf eine ausdrückliche Erwähnung des Gottesnamens. Vgl. Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. S. 468. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 45 f. Komplementär zu Frevels Darstellung liest auch Fischer das Hohelied als „Gegenutopie“ zu Gen 3. Fischer, Egalitär entworfen, S. 273.
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topografisch sichtbar gemachtes Indiz für die exegetische Engführung beider Episoden werten.³³¹ Folgt man dem von der Bibel bereitgestellten Interpretationsmuster, dann erscheint es nur konsequent, die in Cohens Paroles juives in dezidierter Anlehnung, so sahen wir, an das Hohelied gedichtete Liebeslyrik als eine nicht minder hoffnungsfroh reinszenierte Heimkehr in den paradiesischen Locus amoenus der Liebe zu dechiffrieren – eine Lesart, die all jene der Romanfiktion zugesetzten Paradiesfragmente stützen, die den amourösen Verstrickungen des Helden vor dem Hintergrund des biblisch vorgeführten Deutungsrasters Form geben.
4.4.2 Paradiesreminiszenzen im Werk Albert Cohens 4.4.2.1 Schuld war die Orange Den ersten intertextuellen Berührungspunkt zwischen der Genesis und dem Romanzyklus setzt der Erzähler im vierten Kapitel von Solal: Drei Jahre sind seit der ersten Begegnung zwischen dem Protagonisten und der Konsulsgattin Adrienne de Valdonne vergangen. Anklänge an das Paradies werden in dieser Szene nicht nur durch die das Geschehen umrahmende orientalische Waldlandschaft wachgerufen, sondern allen voran durch die der biblischen Vorlage unverkennbar nachempfundene Handlungssequenz:³³² „Ils [Adrienne et Solal] restèrent enlacés une minute qui dure encore maintenant. Une orange tomba. Solal la ramassa, la mordit, la jeta et regarda cette femme qui était appuyée contre un arbre, les yeux clos“ (S ‐ 128). Mediterranes Inseldekor verpflichtet, und so ist es bei Cohen nicht der unverrückbar ins kollektive Bewusstsein vorgedrungene Apfel, sondern die dem Lokalkolorit weitaus angemessenere Orange, die das Motiv der Sünde einführt – eingefangen in jener der Ewigkeit überantworteten Geste der Zweisamkeit, die bis zum heutigen Tag noch immer währt, wie es die Überdehnung der erzählten Zeit bis in das Präsenz der Erzählzeit hinein suggeriert. Spinnt man den Vergleich mit dem biblischen Prätext weiter, so liegt die Vermutung nahe, dass der Erzähler in dieser geografisch neu situierten Paradiesszenerie nicht von ungefähr den Tatendrang des Mannes anstelle den der teilnahmslos bleibenden Frau oder gar jenen einer dem ausschnitthaften Tableau fernbleibenden Schlange in den Vordergrund rückt. Denn während die mit geschlossenen Augen apathisch gegen den
Vgl. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 46. Zur adamitischen Lesung der Szene vgl. auch Lewy-Bertaut: „L’orange fait à Céphalonie office de pomme d’un autre Jardin, métaphore d’une chute innocente […].“ Lewy-Bertaut, Albert Cohen mythobiographe, S. 68. Auch Pilarczyk plädiert für eine paradiesische Ausdeutung der Passage. Vgl. Pilarczyk, Narr, S. 191.
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Baumstamm gelehnte Adrienne nicht für den Biss in die Zitrusfrucht zur Rechenschaft zu ziehen ist, lädt allein Solal die sinnbildhaft verhüllte Schuld auf sich: Schließlich ist er es, der nach der Frucht greift, sie kostet, um sie dann doch nur wieder von sich zu werfen – fast so, als wisse er ohnehin um die unfehlbaren Folgen dieser im Text in rascher asyndetischer Abfolge aneinandergereihter Handlungssequenzen.³³³ Gewiss ist allemal: Dem Paradies der Kindheit und der Unschuld wird der Held auf unbegrenzte Zeit den Rücken kehren müssen, und diese unabwendbare Entwicklung rührt allein schon daher, dass der renitente Sohn sich über jene vom Vater erlassenen Verbote skrupellos hinwegzusetzen wagte, in denen die urgeschichtliche Motivkette – Frau, Schlange, Baum – bereits verhängnisvoll mitschwang.³³⁴ Jedenfalls führt der Text den mit Adriennes Verführung weiter an Fahrt aufnehmenden Gedanken der Sünde fort, fallen die alsbald mit der Geliebten erfahrenen Wonnen der Lust doch in eins mit dem beklemmenden Bewusstsein für die den Liebesakt infiltrierenden Gegenkräfte – bildhaft gleichermaßen gebannt in der Figur des dem Koitus beiwohnenden Todes wie im Antlitz der sich störend zwischen die stöhnenden Leiber drängenden Mutter: „Solal se sentait seul, chassait l’image interposée de sa mère et la mort frissonnait en ses os et la vie s’échappait en tumulte joyeux“ (S ‐ 130). Ihre metaphorische Fortsetzung erfährt die in ein sündhaft-ambivalentes Licht gerückte Szene in den am darauffolgenden Morgen das Liebesspiel imitierenden Naturgewalten: „Le ciel courbait sa face sur la terre en chaleur qui ouvrait son giron. Souffle des jasmins et chant de la mer. Immortelle odeur de l’immobile immensité mouvante. Et cætera“ (S ‐ 130). In unüberhörbar persiflierender Diktion knüpft der Erzähler an jene auf eine makrokosmische Ebene überführte Zelebrierung der Liebe an, wie sie vom lyrischen Ich der Paroles juives noch ebenso exaltiert wie aufrichtig verkündet worden war. Wie aber steht es in dieser kreativen Neuschreibung der Paradieserzählung um das für die Genesis essenzielle Moment der Erkenntnis? Anders als in der Frage nach dem schuldig zu sprechenden Urheber – wer verleitet wen zur Sünde? – orientiert sich der Schriftsteller, so scheint mir, in diesem Punkt dicht an der biblischen Vorlage. Angelegt im Motiv der Frucht ist, so wird nachzuweisen sein, ein romanintern deutlich kenntlich gemachtes Wissen um die ein konfliktfreies Zu-
Diese Szene spielt in Decouts knapp gehaltener, allein Belle du Seigneur fokussierenden Analyse der schöpfungsgeschichtlichen Prägung auf Cohens Schreiben keine Rolle. Die Schuldfrage beantwortet er daher meines Erachtens nicht differenziert genug: „Mais il est indiscutable que, pour Cohen, le péché provient de la femme qui est la seule à receler la possibilité du Bien.“ Decout, Albert Cohen, S. 254. „Méprise la femme et ce qu’ils appellent la beauté. Ce sont deux crochets du serpent. Anathème à qui s’arrête pour regarder un bel arbre“ (S ‐ 111).
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sammenleben behindernden Hürden – ein Wissen um Gut und Böse, das jener Urerkenntnis entspricht, die im ersten Menschenpaar das Schamempfinden für die Nacktheit der Körper allererst entstehen ließ. Subtil greift der Erzähler auf das Motiv der Orange ein zweites Mal zurück, um jenen unabwendbaren Fortgang symbolhaft zu demonstrieren, der die im Garten genossene Frucht abseits von Eden zu einem Objekt des Hasses und der Gewalt verkommen lässt. Diesen Prozess baut der Text weiter aus, als der Held, nunmehr nahe Genf zu Gast bei den begüterten Sarles, den Eigennutz der christlichen Nächstenliebe ans Licht bringt. Mit seiner an Dora de Gantet aus dem Freundeskreis der Sarles beispielhaft festgemachten Sozialkritik wirft der erzürnte Redner zugleich ein prophetisches Schlaglicht auf das eigene Los, auf die dem Juden Solal im kriegsnahen Europa imminent drohende Gefahr: „[E]t lorsqu’elle [Mme de Gantet] s’est apitoyée sur un isolé dont la barbe est souillée par l’orange pourrie qu’ils Me lanceront, elle se serre la main et elle se dit […]: ‚Dora de Gantet vous êtes admirable!ʻ“ (S ‐ 185). Wiewohl an jenem Punkt der Fiktion noch in sybillinisches Dunkel gehüllt finden die hellseherischen Worte des Protagonisten – und die Majuskel des Objektpronomens suggeriert bereits die christologische Dimension der von Solal zu erduldenden Qualen – viele Romanseiten später eine konkrete Fortführung. Erfüllen wird sich die düstere Prophetie schließlich auf jenem von Solal mit Würde zurückgelegten Kreuzesweg durch die Straßen von Paris,³³⁵ der den von Cohen vielfach nutzbar gemachten Topos des durch die Lande ziehenden Juden in den urbanen Raum einblendet. Eine von böswilliger Kindeshand dem stigmatisierten Antlitz des Helden entgegengeschleuderte Orange hinterlässt klar erkennbare Spuren der Schmach in Bart und Haar: „Un des enfants lança avec violence une orange qui souilla les cheveux et la barbe de Solal“ (S ‐ 352). Bezogen auf die Handlungskette spricht die Symbolik des eingesetzten Wurfgeschosses für sich: Fern von Eden verderben die zwischenmenschlichen Beziehungen, vergärt die Süße der einstigen Frucht der Begierde, pervertiert die Orange zu einem Sinnbild von Hass und Feindschaft. Phase für Phase verwebt der Text das missglückte Zusammenleben der Protagonisten Aude und Solal mit der existenziellen Krisensituation des seit jeher verfolgten Juden – eine Entwicklung, deren Vorhersehbarkeit von dem auf die biblische Urszene anspielenden Fruchtmotiv bildhaft begleitet wird. Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle ein zweites Mal von Matts Krisenschema: Von der erhöhten Warte des allwissenden Erzählers aus betrachtet – und noch ist die Vernichtung der europäischen Juden fern der Diegese – unter-
Zu den zahlreichen in Solals errance sichtbar werdenden Christusanalogien vgl. Schaffner, Le goût, S. 153 – 158.
4.4 Die Quelle des Gartens bist Du – Lieben nach dem Paradies
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gräbt der Roman von Beginn an jedwede Hoffnung auf eine mögliche „Versöhnung“ im Sinne von Matts, auf eine Bereinigung des Konflikts nämlich zwischen „regierender Macht“³³⁶ und Individuum. Indem der Text sowohl das Scheitern der Liebe als auch die sich immer schärfer abzeichnende gesellschaftliche Sackgasse vor der Urkulisse des Paradieses verortet, haftet dem einen wie auch der anderen eine vorausberechenbare negative Eigengesetzlichkeit an. Die ungehindert fortschreitende Gewalt hält der Text jedenfalls nicht auf, schürt die erlittene Schmach in dem nach Rache dürstenden Helden doch unmittelbar den Wunsch nach Vergeltung: „Ah, il n’accepterait plus de balafres, maintenant! Et bientôt il rétablirait la justice. L’heure du châtiment était venue“ (S ‐ 353). Ja, je tiefer der Held in den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt, der mit diesen kühn kalkulierten Repressalien weiter zu eskalieren droht, hineingerät, desto lebendiger bleibt das Andenken an die im Rückblick als paradiesisch erfahrene Kindheit: „Ah, être un enfant comme autrefois et courir au soleil, deux perles dans la main. Ces jours heureux étaient finis“ (S ‐ 354). Inmitten der Dramatik des Liebesplots scheint somit der Text einen zweiten metonymischen Verschiebungsmechanismus zu betätigen, der die oben konstatierte Krise des Wir auf jene des Ich verlagert, die von Matt als Krise der Selbstwerdung typisierte: In den Liebesgeschichten von Aschenputtel bis zum Roman „Stiller“, von „Figaros Hochzeit“ bis zum „Kuss des Vergessens“, von Boccaccio bis zu Woody Allen wird diese Menschwerdung, die wir alle immer schon vorauswussten und immer noch in uns tragen, durchgespielt und jedesmal neu erprobt auf ihre Chancen und Gefahren hin. Deshalb redet jede Liebesgeschichte metonymisch, pars pro toto, stellvertretend von der Menschwerdung überhaupt, von deren Sinn und ihrer Sinnlosigkeit und von allen Dimensionen der Zivilisation, die davon berührt werden: Politik, Gesellschaft, Natur, Technik und Wissenschaft.³³⁷
Wenden wir uns einmal mehr den von Ette in den Blick genommenen künstlerischen Rekonstruktionen der Paradieserfahrung zu und fragen wir uns mit dem Verfasser: Welcher praktische Nutzen lässt sich aus einer Erkenntnis ziehen, die das Böse zwar klug vorherzusehen, nicht aber zu verhindern weiß? Auf den denkbaren Vorwurf eines wertlosen, da dem Teufelskreis der Gewalt nichts entgegenzusetzen vermögenden Wissens reagiert Ette mit einem die Tragik der Urgeschichte relativierenden Nein: „Auch die Erkenntnis, jene Frucht von einem Baume, der für uns östlich von Eden zu Lebzeiten doch so weit entfernt ist, führt uns nicht ins Paradies zurück. Und doch bringt uns die Erkenntnis auf immer neuen Wegen des Wissens – und hierauf dürfen sich unsere Hoffnung und unser
Von Matt, Dramaturgie, S. 154. Ebd.
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Stolz gründen – dem irdischen Paradies zumindest ein Stückchen näher.“³³⁸ Und tatsächlich öffnet sich Cohens Porträtierung eines rachedürstenden gesellschaftlichen Außenseiters sichtbar auf den bei Ette beschriebenen Hoffnungsschimmer hin: Insofern der mit der illegalen Beschaffung eines Dolchs scheinbar vortrassierte Weg nicht auf ein blutiges Inferno, dem Aude zum Opfer fallen sollte, zuführt, durchbricht die Erzählung den Zyklus der Gewalt. Die Niederlegung einer Blüte am Fuß des Bettes der tief schlafenden Aude, behutsam entwendet vom Zweig eines Baums mithilfe ebenjener Waffe, die zum Dienst an der Gewalt bestellt war, markiert den das Böse bezwingenden Umschlag des vorsätzlich geplanten Mords in einen mitleidsbedingten Gestus des Verzichts: „Cette femme saine dormait nue. […] Il regarda cette vie. Des larmes de pitié montèrent à ses yeux. Comme un être vivant était beau et infiniment adorable!“ (S ‐ 356 f.). Das einzige Mittel, die Bluttat abzuwenden, scheint in einer die Schöpfung Mensch leidenschaftlich glorifizierenden Sinnesänderung zu bestehen, die auf jenem Urgefühl der Konvivenz fußt, dem das Schaffen des Schriftstellers, so konnte gezeigt werden, in einer von Text zu Text gattungsunabhängig weitergereichten Mitleidsethik Tribut zollt.
4.4.2.2 Solal, nouveau Adam Blenden wir zurück in die Romanmitte: Umspielt von Variationen flankiert die Paradiesmotivik nicht nur den Ausbruch der Leidenschaft zwischen Adrienne und Solal, sondern auch die beginnende Liebe des Helden zu Aude. Schon der zufälligen Begegnung ihrer nackten Körper beim frühmorgendlichen Bad misst der Erzähler auf der Ebene der Diktion den Effekt eines schöpferischen Urknalls bei, eines jäh einsetzenden Paukenschlags, den die elliptische Ouvertüre, der rasch alternierende Perspektivenwechsel sowie der abrupt vollzogene Übergang ins historische Präsens stilistisch wirkungsvoll unterstreichen: Effroi. Des boucles noires ruissellent et un dieu s’élève hors de l’eau. Elle voit les perles d’eau sur l’or bruni de Solal gonflé de force précise. Elle voit le jeu des muscles de Solal, serpents enlaçant leurs rondeurs inégales. Il voit les longues jambes d’Aude et les ombres et les coupes. Il cherche le regard d’Aude, sourit, se retourne et plonge. L’eau reçoit le fils agile qui reparaît plus loin. Le bras levé, il rit et chante un long chant de vie, un appel de jeunesse (S ‐ 178).
Angesichts dieses lebensvollen Auftakts verwundert nicht, dass die den intertextuellen Dialog aufrechterhaltende Narration Solals Hymne an die Schöpfung
Ette, Konvivenz, S. 57.
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alsbald in den emblematischen Ort des Gartens umlenkt. Mit Anbruch der Morgenröte wird sich der in Liebe entbrannte Protagonist dort der Sinnhaftigkeit des göttlichen Weltenplans gewahr, während um ihn herum ein scheinbar menschenleerer Kosmos in friedlicher Stille liegt: „Ses larmes étincelaient. Voici, il aimait. Dans le jardin, il marcha sans arrêt et ce fut l’aurore. Il se sentait très beau et très noble et elle l’aimait et le monde était à genoux devant lui qui riait comme le plus fou des fils de l’homme. Il arracha une rose, la mordit et dansa tandis que les sociétés dormaient“ (S ‐ 192). Von der bei Solal und Adrienne noch als Kostprobe der Orange umgedichteten Paradiessequenz scheint sich die Erzählung mit dem dargestellten Biss in die Rose noch ein Quäntchen weiter zu entfernen. Akustisch betrachtet bildet das emsige Treiben der den angrenzenden Wald bevölkernden Kleinstlebewesen die einzige Geräuschkulisse. Ihres vermeintlich inoffensiven Tatendrangs zum Trotz sind es just jene in personifizierenden Zügen gezeichneten winzigen Geschöpfe, die ein besonders sensibles Gespür für den in das Paradies einzubrechen drohenden Unfrieden zu entwickeln scheinen: „Dans le bois de chênes, les petits morceaux de création se réveillaient pour vivre et s’affairaient avec irresponsabilité. Un geai plaidait non coupable, un charançon à la trompe préhistorique avait des inquiétudes […]“ (S ‐ 192 f.). Einmal mehr schleicht sich die Vorstellung von Schuld und Sünde in jenes adamitisch gefärbte Landschaftsbild ein, das im Incipit von Belle du Seigneur auf tragische Weise zyklisch Einkehr hält. Einmal mehr setzt das dort Erzählte, ganz wie Jahrzehnte zuvor im Debütroman, deutlich schöpfungsgeschichtlich vorgeprägte Akzente der Hoffnung auf ein mit einer neuen Liebe neuerschaffenes Universum. Als Gegenfigur zum biblischen Adam aber, der über die Dynamik der aufeinanderfolgenden Schöpfungstage triumphiert, indem er in Eva die ersehnte ebenbürtige Gefährtin erkennt, schreibt sich Cohens Protagonist in eine ringförmige Suchbewegung ein, die die unverändert bleibende Initiale der von Solal sukzessiv geliebten Frauen – Adrienne, Aude, Ariane – lexikalisch noch bekräftigt. Doch damit der Symbolik nicht genug, durchzieht die vom Helden – „beau et non moins noble que son ancêtre Aaron, frère de Moïse“³³⁹ (BdS ‐ 7) – siegesgewissenen Schrittes durchquerte Urlandschaft doch eine Spur des blanken Entsetzens, „immobile forêt d’antique effroi“ (BdS ‐ 7): ein Schauder, der das in dispersen Strahlen einfallende Sonnenlicht zu verfinstern
Auf das mit dieser Figurencharakterisierung antizipierte innere Zerwürfnis des Helden verweist Goergen: „[…] ces quelques mots, innocents en apparence, sont en réalité lourds de signification, car ils manifestent sous une forme synthétique le déchirement fondamental qui caractérisa Solal, tiraillé en permanence entre le culte de la beauté et une noblesse synonyme de puissance d’un côté, et de l’autre, une noblesse morale, respectueuse des valeurs religieuses transmises par une sagesse ancestrale (celle des prophètes, celle de Moïse).“ Goergen, Normes, S. 192.
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droht.³⁴⁰ In teils wortgetreuer Wiederaufnahme des Vorgängertextes präfiguriert somit die in Belle du Seigneur das Romangeschehen einleitende Waldfauna die Vernichtungskraft eines in perfide Verantwortungslosigkeit abdriftenden inhumanen Planeten, der – und dieses Bedeutungshorizonts wird der Leser erst sehr viel später gewahr – jedweden ethischen Fortschritt mit dem das 20. Jahrhundert verdunkelnden Rückfall in die Barbarei auf brachialste Weise leugnet.³⁴¹ In dem vom Erzähler mythenhaft unterlegten Dekor mit seinen rigiden, geometrischen Strukturen – „mouches dorées traçant des figures géometriques“ (BdS ‐ 7) – klingt vielleicht auch die von Elias Canetti in seinem philosophischen Hauptwerk Masse und Macht beschriebene Waldsymbolik nach, wonach die in die Höhe eifernden Bäume die kriegerischen Ambitionen eines Staats symbolisierten, der die „Unverrückbarkeit“³⁴² des Waldes mit seinen fest im Boden verwurzelten Stämmen staatspolitisch vereinnahmen wolle. Für die uns schon mehrfach begegnete Geschichte der vom NS-Regime ideologisch missbrauchten Luftmenschenmetapher gilt ebendies, brachte der nationalsozialistische Blut-und-Boden-Kult doch die völlige Entwertung alles nicht territorial Verfestigten mit sich: „Die in den Sog des Nationalsozialismus geratene Geschichte des Ausdrucks ‚Luftmenschen‘ bildet auch eine solche Erkenntnis-Katastrophe ab, weil hier unverstandene Potentiale des Begriffs bekämpft wurden und sich dieser Kampf gegen die Juden richtete. So war die am radikalsten kollektivistische Auslegung der Metapher ein Deutungskampf um die Semiotik des Raums geworden.“³⁴³ Zwar repräsentieren die in Solal und Belle du Seigneur eingeblendeten Waldimpressionen hier wie dort ein auf den ersten Blick positiv zu wertendes Ursprungsereignis, den Anbruch einer neuen
Für Schaffner kennzeichnet die Atmosphäre des Waldes einen „caractère fondamentalement hostile.“ Schaffner, Le goût, S. 77. Im Gegensatz dazu sieht Auroy diese rudimentäre Szenerie als vollkommen wertneutral: „Plus qu’un monde cruel, on contemple ici un monde à l’état brut, qui revêt les traits d’une inquiétante étrangeté, mais ne reçoit pas véritablement de valorisation, positive ou négative. C’est un monde qui, simplement, demande à être ordonné, tiré du chaos.“ Auroy, quête, S. 54. Zu dieser innerwerklich angelegten Sinndimension vgl. Solals langen inneren Monolog: „[…] lorsqu’ils [les hommes de Hitler] exaltent la force ou les exercices du corps […] qu’exaltent-ils et que vantent-ils sinon le retour à la grande singerie de la forêt préhistorique“ (BdS ‐ 902). Eine nahezu wortgetreue Wiederholung des zitierten Gedankens findet sich in den Carnets (Vgl. C ‐ 1173 f.). In seinem 1960 erschienenen Buch bezeichnete Canetti den von einer festgefügten Ordnung geprägten Wald als das „Massensymbol“ der Deutschen schlechthin. Canetti, Elias: Masse und Macht. 5. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer 1983. S. 93. Zu Canettis Definition eines „Massensymbols“ vgl. ebd., S. 81: „Kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden, bezeichne ich als Massensymbole.“ Berg, Luftmenschen, S. 210.
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Liebe nämlich, doch treibt jene weltgeschichtliche Zäsur zwischen beide Werke einen Keil, durch die der geheimnisvolle Wald des erst 1968 vollendeten Romans als das im weiteren Erzählverlauf vollends enthüllte topografische Sinnbild eines präreflexiven Zustands der Bestialität zum Zuge gelangt. In beiden künstlerisch umgedichteten Paradiesentwürfen ist mithin das sichere Ende immer schon sichtbar, gehört es doch „zum Wesen eines Paradiesmythos, dass dieser ‚seligeʻ Zustand ein Ende nehmen und der Mensch durch schmerzliche und leidvolle Erfahrungen zum Ichbewusstsein gelangen muss.“³⁴⁴ Solals Aufbruch in das dem Helden fern von Eden Aufenthalt gewährende Exil datiert Cohens Debütroman präzise – einen Aufbruch, dem ganz im Sinne der Genesis ein Moment der Erkenntnis vorangeht, variiert im Fall Solals als die Geburtsstunde eines typisch jüdischen Weltbezugs: „A dix ans il était encore si pur, si émerveillé, si bon; mais l’amertume et l’inquiétude étaient venues le jour du massacre des Juifs. Jupes soulevées des femmes assassinées; cerveaux d’enfants dans les ruisseaux; ventres troués. Il sourit avec fatigue et une science dans le regard. Et sa mère qui avait toujours peur depuis ce temps-là; sa prudence odieuse; cette habitude ignoble du malheur. Plus tard, serait-il un traqué lui aussi?“ (S ‐ 123). Dieser Ursprungsbericht des Juden, inspiriert vom realhistorischen Drama mehrerer auf Korfu wütenden antijüdischen Pogrome,³⁴⁵ ließe sich auf die abstrahierende Wendung bringen: Aus einem menschenverachtenden Akt der Gewalt entspringt ein Lebenswissen, dem ein zeitlebens loderndes Gefahrenbewusstsein präsent ist. Was in der zitierten Passage noch im Modus einer aufrüttelnden Frage Formulierung findet – „Plus tard, serait-il un traqué lui aussi?“ – wird im Anschluss an das Erlebte in jenem leitmotivisch wiederkehrenden Hoffnungsmuster festgebannt, auf das sich die Romanfigur stets von Neuem einlässt. Denn Solals Suche nach der verlorenen Zeit – einer Zeit seliger Unkenntnis der Welt – lebt von der Erwartung jener Liebe, welche die Splitter seines in Scherben darniederliegenden Selbstbilds zusammenfügen möge. Ein drittes und letztes Mal annonciert die Fiktion dieses Sehnsuchtsnarrativ im Romaneinstieg von Belle du Seigneur, das die Urdialektik von Vertreibung und Heimweh nach dem Paradies in bizarr gebrochener Weise fortsetzt:
Haag, Herbert u. Katharina Elliger: Zur Liebe befreit. Sexualität in der Bibel und heute. Zürich, Düsseldorf: Benziger 1998. S. 100. Legitimiert wurden diese gegen die korfiotischen Juden zwischen 1891 und 1893 verübten Ausschreitungen mit der Begründung, die jüdische Gemeinde habe einen Christen zu rituellen Zwecken entführt und ermordet. Schon im Mittelalter waren Juden immer wieder Opfer solcher die Jahrhunderte befleckenden Ritualmordanschuldigungen geworden. Vgl. hierzu Benbassa, Esther u. Aron Rodrigue: Die Geschichte der sephardischen Juden. Von Toledo bis Saloniki. Aus dem Französischen von Lilli Herschhorn. Bochum: Dr. Dieter Winkler 2005. S. 227.
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Descendu de cheval, il allait le long des noisetiers et des églantiers, suivi des deux chevaux que le valet d’écurie tenait par les rênes, allait dans les craquements du silence, torse nu sous le soleil de midi, allait et souriait, étrange et princier, sûr d’une victoire. A deux reprises, hier et avant-hier, il avait été lâche et il n’avait pas osé. Aujourd’hui, en ce premier jour de mai, il oserait et elle l’aimerait (BdS ‐ 7, [meine Hervorhebung]).
Zwar setzt die eindrucksvolle Introduktion mit der Anspielung auf den Wonnemonat Mai ein unzweideutiges Signal, doch wird der durch die Vorankündigung des Wagnisses erweckte Anschein der Aktivität gezielt unterlaufen durch die, so glaube ich, bedachtsam gewählten Tempora: Erfasst wird das Voranschreiten des Helden in der gleich dreifachen Reprise des von mir kursiv markierten imparfait des Verbs „aller“, gebraucht noch dazu ohne Ortsprädikat. Die zeitliche Markierung scheint jenen Eindruck des Statischen inhaltlich vorzubereiten, der durch die ebenfalls in Imperfektformen nachfolgenden Hintergrundsschilderungen des vom Helden durchdrungenen Waldes gefestigt wird. Schon rein dem verwendeten Tempus nach ließe sich demnach Solals Suche nach einer das Ich von seinen Selbstzweifeln erlösenden Liebe als iterative Dynamik begreifen, als illusionsbehaftete Scheinbewegung, die ihre Schatten auf das für den Handlungsverlauf dezisive dritte Romankapitel vorauswirft: Getragen von der Hoffnung, dem unabwendbaren Gang der Dinge doch noch ein Antidot entgegensetzen zu können, hascht hier die Verführungsrhetorik des falschen Greises unüberhörbar nach dem ersehnten Urparadies: „Un battement de ses paupières, et elle me regarda sans me voir, et ce fut la gloire et le printemps et le soleil et la mer tiède et sa transparence près du rivage et ma jeunesse revenue, et le monde était né […]“ (BdS ‐ 38).³⁴⁶ Die anderenorts dem Motiv des Wimpernschlags zugewiesene Zeitrafferfunktion³⁴⁷ verliert in Solals poetischer Diktion den Eindruck des Flüchtigen durch die Vorstellung eines mit dieser sekundenschnellen Bewegung der Augenlider ausgelösten Neubeginns. In der vom Misslingen des ersten Verführungsversuchs, riskiert unter der Maske des cent pour cent juif, bis hin zum gemeinsam verübten Suizid sukzessiv gesteigerten Dramatisierung der Liebesintrige multiplizieren sich Stück für Stück jene Urfragen des Zusammenlebens, die einerseits Ausdruck allgemeinmenschlicher Schicksale sind, andererseits aber auch das labile Selbstbild Auroy sieht in der Evozierung des Meerwassers ein Indiz für die in der Passage latent angelegte Taufmetaphorik: „La symbolique de l’eau, lorsque la régénération se dit par l’image de la transparence marine, donne quelques discrètes résonances baptismales à ce processus qui restaure une innocence première.“ Auroy, Carole: ‚Belle du Seigneur‘ – La blessure de l’altérité. In: Lectures, S. 117– 167, hier S. 125 f. Unumstritten ist jedenfalls, dass der bei Cohen mit hoher Frequenz und in unterschiedlichsten Erscheinungsformen verarbeiteten Wassermetaphorik (z. B. Toilettenspülung, Badewanne, See und Meer) nicht selten ein purifizierender Heileffekt eigen ist. „Les paupières de l’Éternel ont battu trois fois et trois ans ont passé“ (S ‐ 125).
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des jüdischen Protagonisten in spezifischer Art und Weise auf die Probe stellen. Ingeniös durchdacht strapaziert Albert Cohens Roman den der Havarie entgegensteuernden Liebesdampfer – „lent naufrage de la caravelle“ (BdS ‐ 727) – mit der fehlschlagenden Selbstfindung des jüdischen Steuermanns, „capitaine de la caravelle“ (BdS ‐ 726). Einen lohnenden Eindruck von erzähldramatisch analog aufbereiteten Handlungsmustern hält Albert Memmis 1955 erstmals publizierter Roman Agar bereit. Wohlgemerkt trug Memmi selbst – „grand lecteur et admirateur d’Albert Cohen“³⁴⁸ – dazu bei, eine solche literarische Nachbarschaft, wenn auch mit selbstironisch-humorvollem Unterton, in Betracht zu ziehen: „[J]e ne comprends pas qu’il ait écrit ce que j’aurais dû écrire.“³⁴⁹ So exemplifiziert der Autor an sich und seiner Generation den in einen größeren Beobachtungsradius eingespannten Zwiespalt des Cohenschen Protagonisten zwischen den hohen Anforderungen der Liebe und denen des Kollektivs: [C]ar Solal c’est encore nous, jeunes hommes de Tunis, Alger, Casablanca, du Caire ou de Céphalonie, tant retenus dans nos appartenances multiples que nous devons filer jusqu’au grand Nord, je veux dire Paris, New York ou Montréal, pour nous démontrer que nous savons vivre sans soleil et sans nos communautés […]. Quant à Belle du Seigneur, c’est l’impossibilité de vivre un amour en solitaire, même si l’on est amoureux à la folie; les Cousins sont là pour le rappeler […] pour opposer dépendance à dépendance: celle du groupe à celle de la passion, laquelle se décompose, s’effrite devant la solidité indéfectible des liens communautaires…³⁵⁰
Die in kondensierter Form geschriebene Kurzprosa Agar soll daher als erste hilfreiche Orientierung für die in Belle du Seigneur weiterzuverfolgende Problematik des Zusammenlebens dienen.
4.4.3 Hürden des Zusammenlebens 4.4.3.1 Exkurs: Albert Memmis Agar Erzählt wird die Geschichte einer im Fiasko endenden interkulturellen Liebe, die den engen Bezugsrahmen eines individuellen Schicksals sprengt. Denn das labile Gleichgewicht zwischen der französischen Katholikin Marie und dem Ich-Erzähler jüdisch-tunesischer Herkunft inszeniert jenen symbolisch gefassten Paarkonflikt, der den innerhalb der Beziehung durchlebten Selbstfindungsprozess auf einer Memmi, Albert: Mangeclous je l’ai bien connu… In: Magazine littéraire 147 (1979). S. 16 – 17, hier S. 16. Ebd. Ebd.
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gesamtgesellschaftlichen Ebene als die problembeladene Interaktion mit dem ethnisch Differenten darstellt. In dem der dritten Werkausgabe von 1984 vorangestellten Vorwort des Verfassers heißt es: „Les aventures de Marie et du héros, essayant de se connaître et de s’aimer malgré leurs différences, constituent un symbole, un exemple privilégié de ce drame plus ample, de ce terrible problème de la communication, si aigu aujourd’hui, parce que nous sommes tous projetés hors de nos histoires locales, confrontés avec l’histoire de tous les hommes.“³⁵¹ Dass die konfliktanfällige Intimsphäre der Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene ein mikroskopisches Testgelände sein könne, dies betonte Memmi bereits in seiner 1957 publizierten soziologischen Abhandlung Portrait du colonisé: „Mais je venais de découvrir également que le couple n’est pas une cellule isolée, une oasis de fraîcheur et d’oubli au milieu du monde; le monde entier au contraire était dans le couple.“³⁵² Für den in Memmis Prosa entlang der einprägsamen Beziehungskonstellation einer interkulturellen Liebe austarierten Schlüsselbegriff der Konvivenz liefert bereits der auf die Genesis zurückführende Romantitel ein erstes verwertbares Indiz: Schon vor Beginn der Lektüre lenkt der Text die Aufmerksamkeit des Lesers auf Hagar, jene ägyptische Magd, die dem Erzelternpaar Sarah und Abraham noch im hohen Alter zu einem Kind verhelfen sollte. Der alttestamentliche Subtext bindet den Roman, so glaube ich, in vielerlei potenzielle Sinnzusammenhänge ein, wirft die Fiktion die im Vornamen der Sklavin etymologisch fixierte Thematik des Fremdseins doch in gleich mehrfacher Brechung auf: Als Fremde in Tunis empfindet sich nicht nur die in die Heimat des Gatten übersiedelnde Französin Marie, sondern auch das Erzähler-Ich selbst, dem die Stadt seiner Herkunft nach vielen in Frankreich verbrachten Jahren nur noch wenig Vertrautes bieten kann. Darüber hinaus gibt der Namensverweis auf die biblische Vorlage zu bedenken, dass die in den Erzählverlauf intervenierende Ägypterin nicht nur ihrer Herkunft nach als Fremde, sondern auch in der ihr zugewiesenen Mutterrolle als jene Außenseiterfigur zu deuten ist, die das Zusammenleben zwischen Sarah und Abraham nachhaltig beeinträchtigt, indem sie negative Gefühle wie Neid, Hochmut und Missgunst unter den Dreien entstehen lässt. Den Erzählkern des Romans bildet das allmähliche Schwinden der Liebe zwischen den erst frisch vermählten Eheleuten – ein langsamer Verfall, der sich schon auf der den symbolreichen Auftakt des Romans bildenden Schiffsüberfahrt nach Tunis ankündigt. Zwar will Marie die Unvereinbarkeit ihres hellhäutigen Teints mit dem gleißenden Sonnenlicht des Maghreb zunächst nicht wahrhaben,
Memmi, Albert: Agar. Préface. 3. Aufl. Paris: Gallimard 1984. S. 15. Memmi, Albert: Portrait du colonisé. Précédé du portrait du colonisateur. Paris: Payot 1973. S. 9.
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doch erkennt der Ich-Erzähler in der angetretenen Reise bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein gewagtes Unterfangen voller Unverträglichkeiten, welche die sonnenempfindliche Blässe der rothaarigen Marie bildhaft zu prophezeien scheint. Zweierlei ungerechtfertigte Kritikpunkte hatte Memmi mit dieser in die definitive Trennung des Paars einmündenden Liebesgeschichte zu konfrontieren: Während die einen dem Autor den Vorwurf machten, er habe die Mischehe als ein per se zum Scheitern verurteiltes Experiment präsentiert, unterstellten ihm andere die Historisierung des individuellen Konfliktstoffs, dargestellt als Allegorie für die langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Kolonialmacht und Kolonisierten.³⁵³ Dass die Romanpraxis einem solchen schwarzweißmalerischen Transfer der politischen Krise auf die Liebe zweier Menschen nicht standhält, unterstreicht sowohl der Verfasser in dem der Erzählung vorgestellten Prolog³⁵⁴ als auch der Text selbst. Deutlich lassen sich textimmanent – und hieran werden die angekündigten Parallelen zu Cohens Narrativik ersichtlich – unanzweifelbare Hinweise auf das Seelendilemma eines Helden nachweisen, der sich von der bedingungslosen Liebe einer Frau die Verwandlung des an den Ansprüchen zweier Kulturkreise zu zerbrechen drohenden Ich verspricht. Bei Memmi manifestiert sich diese schon von vornherein utopische Sehnsucht in einer bedeutungsvollen Szene: Die von fremden Eindrücken übermannte Marie führt das Erzähler-Ich vorsätzlich durch die allerschäbigsten Viertel von Tunis, angestachelt von dem egozentrischen Wunsch, sie möge selbst diese Facette der Stadt vorbehaltlos akzeptieren. Doch geht dieser parasitäre Plan nicht auf, bedeutet der an Marie gestellte Anspruch doch nichts als die dem anderen abverlangte Pflicht zu jener vollumfänglichen Bejahung, die der Held sich selbst nicht abringen kann. Was auch immer er tut, wie auch immer Marie reagiert: Stets wird diese unredliche Entbindung von der Verantwortung nicht dazu taugen, das Ich von seinen erdrückenden Schuldgefühlen zu befreien: C’est que cette adoption sans arrière-pensée était aussi mon propre drame inavoué. Revenant au pays après de si longues années, l’ayant quitté adolescent pour y revenir homme fait, je ne le retrouvais pas sans étonnement ni malaise. Il n’est pas sûr que j’aurais pu y vivre longtemps si j’y étais retourné sans Marie. Mais j’en voulu à ma femme de me révéler et d’incarner
Vgl. Memmi, Agar, S. 13 f. „Mais j’ai essayé de montrer aussi que les difficultés ne sont pas imputables seulement à la jeune femme, représentante d’une civilisation et d’un pays triomphant. La soumission progressive du héros à des rites, à des gestes, que lui-même juge périmés, ne peut qu’empêcher davantage la réussite de son union avec Marie. Mes héros échouent parce qu’ils ont manqué tous les deux, de force et de liberté.“ Ebd., S. 16.
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mes impossibilités. Me découvrant coupable de trahison, quel meilleur symbole pouvais-je en trouver?³⁵⁵
Fassen wir zusammen: Memmi beleuchtet den im Roman nacherzählten Paarkonflikt aus der Innensicht einer Figur, deren Identitätsempfinden gravierende Widersprüche verkraften muss. Die Folgen sind das Eheleben massiv in Mitleidenschaft ziehende innere Krisen, für die nicht der Betroffene selbst, sondern der andere aufzukommen hat. Auf das Fehlgehen dieses Kalküls hat der Autor in seinem späteren Vorwort unmissverständlich hingewiesen: „Pour atténuer leur tumulte intérieur, pour tenter d’apprivoiser leur double, ces hommes, et ces femmes, croient pouvoir trouver, dans la fusion amoureuse, la réconciliation avec eux-mêmes. Hélas, on est toujours deux, comme on est toujours double.“³⁵⁶ Eine in ihren Grundzügen mit Memmis künstlerischem Arrangement verwandte Inszenierungsweise setzt Albert Cohen auf erzählerisch ungleich komplexere Art um. Die herausragende Rolle bei der Gestaltung eines zu Lasten des Zusammenlebens ausgefochtenen Identitätskonflikts spielt darin die Eifersucht – ein Schlüsselmotiv, dem der Text, wie zu zeigen ist, die tragende Funktion eines Solals innere Brüche externalisierenden Gefühlskomplexes zuweist.
4.4.3.2 Todesfalle Eifersucht Eifersucht und Konvivenz Nur wenige Motive scheinen in Cohens Solal und Belle du Seigneur die Fäden der Handlungsentwicklung derart dominant an sich zu reißen wie die in der abendländischen Liebesliteratur tonangebende Eifersucht. Dieser ausgeprägten Formgebung zum Trotz wurde der Affekt von der Cohen-Forschung bislang nicht systematisch registriert. Da die Paarbeziehung den schädlichen Einfluss der Gefahrenquelle Eifersucht nicht immer meiden kann, seien die den gewählten Untersuchungsblickwinkel mitberücksichtigenden Ausgangsreflexionen zunächst auf die Wechselwirkung zwischen Eifersucht und Konvivenz hin ausgerichtet. Zu diesem Zweck bietet es sich an, jenes fünfte und abschließende Kapitel der von Ette unter die Lupe genommenen postparadiesischen Formen des Zusammenlebens näher zu betrachten, das den Stolz als eine „Kippfigur der Konvivenz“³⁵⁷ anführt. Dieser sozialen Kategorisierung stellt Ette die Prämisse vor, dass der Stolz „immer eine Frage der Dosierung und Nuancierung impliziert und
Ebd., S. 64. Ebd., S. 20. Ette, Konvivenz, S. 193.
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damit gradueller Natur ist.“³⁵⁸ Nicht der Stolz per se stelle, so Ette weiter, eine Bedrohung für das Kollektiv dar; zu einer gemeinschaftsmindernden Gefahr mutiere er erst dann, wenn der von den Individuen als akzeptabel oder gar moralisch wertvoll erachtete Stolz eine Kippbewegung vollziehe, welche die Grenzen des Tolerierbaren und damit die soziale Norm verletze. Den Begriff der Kippfigur leitet Ette aus der dem Stolz inhärenten Eigenart ab, eine derartige Wende rasch und unvermittelt vollführen zu können. Im Rekurs auf die von Ette herausgearbeitete Begrifflichkeit ließe sich auch die Eifersucht als eine solche „Kippfigur der Konvivenz“ beschreiben, kennzeichnet sie doch eine dem Stolz wesensverwandte Seinsstruktur des Umschlags. „Als natürliche Eifersucht“, so lesen wir bei dem Psychiater Hubertus Tellenbach, „ist die Eifersucht nie ‚abnormʻ; das wird sie erst als sittliche Fehlhaltung, mit anderen Worten: wenn ihr Verhältnis zum Vertrauen eine einseitige Verschiebung erfährt.“³⁵⁹ Und noch einen essenziellen Zug der Eifersucht gilt es mitzubedenken. In seinen Reflexionen über die besondere Affinität der Eifersucht zum modernen Roman weist der Literaturwissenschaftler Roland Galle den Affekt als „anthropologische Konstante“³⁶⁰ aus. Annehmen dürfen wir demnach mit dem Verfasser, dass „alle Menschen zu allen Zeiten […] eifersuchtsfähig und eifersuchtsanfällig“³⁶¹ waren. Zur Überprüfung dieser These ließe sich ein weiteres Mal die Bibel befragen. Mit der bereits in mehrfacher Hinsicht konsultierten Kainserzählung präsentiert uns Oberhänsli-Widmer einen Text, der die Beständigkeit und Risiken der Eifersucht in paradigmatischer Weise illustriere: „In der Urzeit verortet, demonstriert das Drama um Kain jedoch nicht nur die archetypische Konstellation, der die Eifersucht als eine zutiefst menschliche Empfindung entspringt, sondern thematisiert ebenso, inwiefern der Mensch seiner Eifersucht beizukommen ver-
Ebd. Tellenbach, Hubertus: Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung. Hürtgenwald: Pressler 1992. S. 159. Zwischen normaler und wahnhafter Eifersucht hatte schon Freud differenziert. Über die als normal zu bezeichnende Eifersucht schreibt er: „Es ist leicht zu sehen, dass sie sich wesentlich zusammensetzt aus der Trauer, dem Schmerz um das verlorengeglaubte Liebesobjekt, und der narzisstischen Kränkung, soweit sich diese vom anderen sondern lässt, ferner aus feindseligen Gefühlen gegen den bevorzugten Rivalen und aus einem mehr oder minder großen Beitrag von Selbstkritik, die das eigene Ich für den Liebesverlust verantwortlich machen will.“ Freud, Sigmund: Zwang, Paranoia und Perversion. Studienausgabe. Bd. 7. Hrsg.von Alexander Mitscherlich [u. a.]. Frankfurt/Main: Fischer 1973. S. 219. Galle, Roland: Eifersucht und moderner Roman. In: Behrens, Rudolf u. Richard Schwaderer (Hrsg.): Italo Svevo. Ein Paradigma der europäischen Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990. S. 21– 36, hier S. 22. Ebd.
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möchte.“³⁶² Im Beziehungsdreieck von Gott, Kain und Abel sensibilisiere uns die Bibel – und neben Oberhänsli-Widmer stimmt auch Elie Wiesel, so sahen wir, in diesen Tenor ein – für ein geradezu mustergültiges, auf die Eifersucht zurückführbares Kommunikationsversagen. Dabei ist es doch der Begriff selbst, der seinem wortgeschichtlichen Ursprung nach zu einer gänzlich anders gepolten Betrachtungsweise dieser auch ins Positive zu wendenden Kippfigur anregt.³⁶³ Etymologisch belegt ist der im Französischen auf das griechische zêlos zurückreichende Wortsinn eines mit Eifer, Hingabe und Ausdauer verfolgten Ziels – eine Bedeutung, der noch heute das Substantiv zèle Rechnung trägt. Erst im Zuge der weiteren Sprachentwicklung kam es mit dem Verlust der früheren positiven Konnotationen zu einer folgenreichen Umkodierung der jalousie, fortan primär dem semantischen Feld der Liebe³⁶⁴ und damit jenen Rivalitäten zugeordnet, die im Cohenschen Liebesdiskurs in großer Zahl vertreten sind. Zu zeigen ist, in welch starkem Maße das im Schreiben des Schriftstellers mit hoher Bewusstheit platzierte Motiv an der Sichtbarmachung jener inneren Diskrepanzen beteiligt ist, auf die Cohens Figurenkonzeption von Anfang an angelegt war.Vorzuführen gilt es die Eifersucht demnach als privilegierten Startplatz zur Erkundung des Seelendilemmas des jüdischen Protagonisten. In einem zweiten Schritt geht es gemäß der meine Studie leitenden Schwerpunktsetzung darum zu erörtern, inwiefern der wahnhaft eifersüchtige Held die Verantwortung für ein konfliktfreies Zusammenleben leichtsinnig aus der Hand gibt. Der Eifersucht wird, darin Tellenbach folgend, als einer durch das Korrektiv des Vertrauens nicht länger zu neutralisierenden ethischen Fehlhaltung nachzugehen sein, als einem – so Ursula LinkHeer mit Blick auf Proust – „jede Sozialisierbarkeit ausschließenden Affekt.“³⁶⁵ Wenn im Rahmen des hier Untersuchten anknüpfend an Ette die Eifersucht im mobilen Sinne einer „Kippfigur der Konvivenz“ verstanden werden soll, dann erscheint unverzichtbar, nach der strukturellen Beschaffenheit eines Gefühls zu
Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 76 f. Zur Begriffsgeschichte von franz. jalousie vgl. Peter, Alexandra-Bettina:Vom Selbstverlust zur Selbstfindung. Erzählte Eifersucht im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Tübingen: Max Niemeyer 2002. S. 23 – 25. Vgl. den entsprechenden Eintrag des grand Robert: „Sentiment douloureux que font naître, chez la personne qui l’éprouve, les exigences d’un amour inquiet, le désir de possession exclusive de la personne aimée, la crainte, le soupçon ou la certitude de son infidélité.“ Le grand Robert de la langue française. Bd. 4. Paris: Dictionnaires le Robert-VUEF 2001. S. 432. Link-Heer, Ursula: Chi sprezza, ama. Prousts ‚ars erotica‘ der Verstellung und Nonchalance. In: Balke, Friedrich u. Volker Roloff (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. München: Wilhelm Fink 2003. S. 211– 227, hier S. 224.
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fragen, die mit der in dieser Begrifflichkeit angelegten Bewegungskomponente kompatibel ist. Gerade was die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Eifersuchtskomplex anbelangt, ist Gertrud Lehnert an einer Dynamisierung des Konzepts gelegen: „Eifersucht ist mithin nicht als Zustand begreifbar, sondern als ereignis- und prozesshaft, d. h. als spezifische Form der Inszenierung zu konzeptualisieren. Sie realisiert sich im Tun, sei es ein sprachliches, imaginatives oder reales Tun.“³⁶⁶ Unter dieser Vorgabe überrascht nicht, dass Lehnerts Beitrag das für diesen Umsetzungsprozess tragende Zutun der Einbildungskraft anvisiert: „Abhängig von bestimmten interpersonellen Konstellationen, bedarf die Eifersucht der Leerstellen, die imaginativ ausgefüllt werden.“³⁶⁷ Auf diese immer wieder neu zu besetzenden Leerstellen wird am Beispiel von Belle du Seigneur noch zurückzukommen sein. Und noch ein letzter Grundzug der Eifersucht gerät bei Lehnert in den Fokus: „Eifersucht verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit eines Menschen; sie kann als ständiges Lebendighalten der persönlichen Geschichte in fortgesetzten dramatischen Inszenierungen mit immer neuen Protagonisten interpretiert werden.“³⁶⁸ Auch dieses temporale Attribut gilt es für Cohens Romanschreiben mitzureflektieren.
Eifersucht und Judentum Es ist bezeichnend, dass die Eifersucht schon mit dem bereits untersuchten Zeitschriftenbeitrag Israël, le Juif et les romanciers français aus dem Jahr 1923 innerhalb Cohens Schaffen eine eminente Rolle spielt. Im knappen Rahmen dieses das künftige Romanschreiben des Autors vorausahnen lassenden Essays thematisiert Cohen die Eifersucht – und dies wider das vorherrschende universale Begriffsverständnis – als eine völkertypische, unter dem Etikett des Jüdischen all jenen Eigenschaften an die Seite gestellte Empfindung, die der Artikel in einen mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungsprozess einspannt. Analog dem hereditären Misstrauen des Juden behandelt darin der Verfasser die Eifersucht als einen kulturhistorisch gewachsenen Wesenszug. Konkret bedeutet dies die Annahme einer affektiven Verwandtschaft zwischen der Eifersucht und jenem Skeptizismus, die der zu einer exilischen Existenz gedrängte Jude sukzessiv entwickelt und die noch auf Freuds Psychoanalyse einen prägenden Einfluss ausgeübt habe: „Cette ruse est le produit séculaire de la nécessité d’observer, de se tenir sur ses gardes.
Lehnert, Gertrud: Dämon Eifersucht. A propos de Proust. In: Große Gefühle – ein Kaleidoskop. Hrsg. von Ottmar Ette u. Gertrud Lehnert. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2007. S. 115 – 137, hier S. 116. Ebd., S. 115. Ebd., S. 115 f.
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[…] Méfiance du Sémite voluptueux. Les prophètes étaient aussi de grands jaloux, amoureux de toutes les femmes d’Israël. […] goût prophétique de déceler le mal et qui parfois crée le mal; sombre complaisance à des visions noires sur les enfants, les épouses fidèles et les vierges dormantes“ (Israël ‐ 348). Es zeigt sich, dass die in dieser Arbeit nachzuweisenden Schreibstrategien der Engführung von Liebe und Judentum bei Cohen den Gefühlsbereich der Eifersucht nicht ausklammern, so dass hier mit Fug von einer Diskursivierung der Eifersucht im geistigen Horizont des Judentums gesprochen werden kann. Wird Cohens metaliterarische Abhandlung vor dem Hintergrund der in den späteren Romanen Entfaltung findenden Motivik rezipiert, so ist faszinierend zu beobachten, welche verschlungenen Wege die Eifersucht – ausgehend von dem ihr in den frühen 1920er Jahren attestierten Sitz im Leben – einschlagen wird. Indem man ihnen folgt, zeichnet sich der Eindruck ab, Cohen habe es schon von vornherein opportun geschienen, die zukünftigen Exzesse des Helden wenn nicht zu entschuldigen, so doch kulturgeschichtlich zu konsolidieren.
Modell Proust Nun kann sich ein jedes literaturwissenschaftliches Interesse an der Eifersucht – und schon gar nicht die vertiefende Beschäftigung mit einem Autor, der von Prousts A l’ombre des jeunes filles en fleurs augenblicklich fasziniert war³⁶⁹, – wohl kaum der aussichtsreichen Pflicht entziehen, die tumultuösen Eifersuchtsfigurationen der Recherche als Vergleichsgröße heranzuziehen. Prousts Phänomenologie der Liebe und der Eifersucht dürfte Cohens Literarisierung dieser „Kippfigur der Konvivenz“ zweifellos auf die eine oder andere Weise inspiriert haben, wiewohl der Autor selbst jedweden Einfluss vonseiten des berühmten Vorgängers vehement abstritt.³⁷⁰ „Man wird“, so heißt es bei Tellenbach über die in Prousts Romanzyklus sukzessiv ausgearbeitete Psychologie der Eifersucht, „nicht aus der Faszination in dieser subtilen und facettenreichen Histologie der Eifersucht entlassen; erst nach und nach wachsen aus diesen feingewebten Analysen übergreifende Konturen hervor, welche der mitgehenden Anschauung ihre phänomenalen Merkmale darbieten.“³⁷¹ In Kombination mit einer an aphoristischen Lebensweisheiten
„La rencontre de Proust […] à Alexandrie, dans une librairie, est moment capital dans la vie d’Albert Cohen.“ Valbert, Conversations, S. 232. „Influence? Aucune. Admiration, par contre, très grande.“ Buenzod, Jacques: Albert Cohen: Je suis un archer qui tire dans le noir. In: Journal de Genève (20./21. Dezember 1969). S. 15. Tellenbach, Schwermut, S. 155.
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reichen Sprache³⁷² demonstriere Proust schonungslos, so heißt es bei Philippe Chardin, auf welch abusive Weise die Liebe von der Eifersucht vereinnahmt werde.³⁷³ Gleichzeitig werde das noch die Texte der Vormoderne beherrschende Beziehungsdreieck zugunsten eines Duos aufgebrochen, aus dem der beargwöhnte Kontrahent und damit der „Vorrang des Rivalitätsaspekts“³⁷⁴ verschwunden sei³⁷⁵ – ein eifersuchtstypisches Strukturprinzip, das, so soll gezeigt werden, Cohen bis ins Paradoxe steigert. Schon die der Recherche zugrundeliegende Makrostruktur gibt preis, mit welch unerbittlicher Wucht der Dämon Eifersucht in den bei Proust spiegelbildlich fortgesetzten Liebesbeziehungen wütet. Reproduziert wird das als heterodiegetische Binnenerzählung in den ersten Teil der Recherche verflochtene Eifersuchtsdrama zwischen Charles Swann und Odette de Crécy in jenen den dritten Band eröffnenden Beschwernissen des Zusammenlebens, die das labile Seelenleben des nunmehr mit Albertine unter einem Dach lebenden Ich-Erzählers auszustehen hat. Diese und andere Präfigurationsmuster wurden im Hinblick auf das Duo Swann-Marcel bereits eingehend untersucht.³⁷⁶ Auffällig ist, dass diese innerwerklich angelegte Doppelstruktur gar vom Erzähler-Ich selbst reflektiert wird.³⁷⁷ Das an Swann und Odette sowie an Marcel und Albertine ablesbare affektive Raster des Proustschen Eifersuchtsmodells gilt
„‚Un amour de Swann‘ est un traité sur la jalousie mais dramatisé dans une action romanesque.“ Bessière, Jean: La jalousie. Tolstoï, Svevo, Proust. Paris: Honoré Champion 1996. S. 137. „On remarquera tout d’abord que Proust est l’incontestable inventeur de ce qu’on pourrait appeler ‚l’amour-jalousie‘. Les deux mots sont d’ailleurs employés dans son œuvre de manière à peu près indifférenciée.“ Chardin, Philippe: L’amour dans la haine ou la jalousie dans la littérature moderne. Dostoïevski, James, Svevo, Proust, Musil. Genève: Droz 1990. S. 138. Galle, Eifersucht, S. 25. Vgl. Chardin, L’amour, S. 12. Vgl. Muller, Marcel: Préfiguration et structure romanesque dans ‚A la recherche du temps perdu‘. Lexington: French Forum 1979. Bei Ingrid Veltkamp heißt es hierzu: „Indem die Geschichte ‚Eine Liebe von Swann‘ als eine Präfiguration der Erlebnisse Marcels gedeutet wird, die sein eigenes Schicksal als quasi archetypische Erfahrungen vorwegnimmt, erhält sie innerhalb des Romans den Status einer exempelhaften Erzählung, die den Leser zu vergleichendem Lesen anhält.“ Veltkamp, Ingrid: Marcel Proust. Eifersucht und Schreiben. München: Wilhelm Fink 1987. S. 43. So geht Marcel etwa zu der für Swanns Liebesempfinden zentralen Inbezugsetzung von Kunst und Realität kategorisch auf Distanz: „ Albertine n’était nullement pour moi une œuvre d’art. Je savais ce que c’était qu’admirer une femme d’une façon artistique, j’avais connu Swann.“ Proust, Marcel: La prisonnière. In: A la recherche du temps perdu. Bd. 3: La prisonnière. La fugitive. Le temps retrouvé. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1954. S. 384.
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es vorab festzulegen, um es im Anschluss daran auf Cohens Belle du Seigneur kontrastiv zu applizieren.³⁷⁸ Vor die schwierige Frage, auf welche Weise das Phänomen Eifersucht definitorisch fassbar sei, stellt Proust seine homonyme Erzählerfigur gleich mehrfach. Denn so sehr auch die Eifersucht ganz im Zeichen des schon einmal Durchlebten steht, so unterschiedlich sind doch jene stets variierenden Erscheinungsformen, in denen sie sich unerkannt Ausdruck verschafft: „La jalousie“, so erklärt es sich Marcel, „est aussi un démon qui ne peut être exorcisé, et reparaît toujours, incarné sous une nouvelle forme.“³⁷⁹ Als Auslöser und Katalysator der Eifersucht entpuppt sich in beiden Intrigen der beklemmende Verdacht, die Geliebte mit einem Nebenbuhler teilen zu müssen. Im Falle Swanns konzentriert sich diese Verlustangst auf den von Odette in den Kreis der Verdurin eingeführten Grafen von Forcheville, im Falle des Erzähler-Ich auf Albertines weibliche Bekanntschaften. Ebendiese Furcht aber mutet umso befremdlicher an, als die bei Proust im Fokus des Geschehens Platz findenden Frauenfiguren nicht um ihrer selbst willen, sondern aus dem narzisstischen Bedürfnis nach einer vitalisierenden Liebe heraus geliebt werden.³⁸⁰ Diese dem Leser unverblümt anvertraute „insignifiance de la personne aimée par rapport à notre amour-même“ figuriert an erster Stelle der insgesamt fünf von Grimaldi genannten „théorèmes de la psychologie proustienne.“³⁸¹ Und tatsächlich: Odette und Albertine wurden weder mit besonderer Schönheit noch mit Intelligenz bedacht – ein gleich zweifaches Defizit, das beide männlichen Protagonisten vielfach beklagen.³⁸² Ja, Marcels sensibles Wohlbefinden leidet regelrecht unter der als gesundheitlich aufreibend erlebten Zweisamkeit mit der sprunghaften Albertine: „Une fois Albertine sortie, je sentis quelle fatigue était pour moi cette présence perpétuelle, insatiable de mouvement et de vie, qui troublait mon sommeil, me faisait vivre dans un refroidissement perpétuel par les portes qu’elle laissait ouvertes […].“³⁸³ Mit welch verstärkendem Effekt dieser
Eine zusammenhängende Darstellung der von Proust entwickelten Phänomenologie der Liebe und der Eifersucht findet sich bei Grimaldi, Nicolas: La jalousie. Etude sur l’imaginaire proustien. Arles: Actes Sud 1993. Proust, prisonnière, S. 103. Die Korrelation zwischen Liebe und Langeweile ist in La prisonnière mehrfach belegt, so etwa auf S. 394: „Je sentais que ma vie avec Albertine n’était, pour une part, quand je n’étais pas jaloux qu’ennui, pour l’autre part, quand j’étais jaloux, que souffrance.“ Vgl. auch S. 28: „Par la souffrance seule subsistait mon ennuyeux attachement.“ Die „vie amoureuse“ umschreibt Marcel als „la plus contrastée de toutes.“ Ebd., S. 80. Grimaldi, jalousie, S. 14. Vgl. Proust: Du côté de chez Swann. In: Proust, Recherche. Bd. 1, S. 197, 240 u. 308 oder auch: Proust, prisonnière, S. 29. Proust, prisonnière, S. 131.
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beschwerlichen Realität zum Trotz die Angst auf das Eifersuchtsempfinden der Proustschen Helden einwirkt, bringt Grimaldi deutlich zum Ausdruck: „[C]’est lui [l’angoisse] en effet qui nourrit notre jalousie en nous la [la personne aimée] faisant éprouver insaisissable, et nous haïssons ce mystère.“³⁸⁴ Schon als Marcel zum ersten Mal von der am Strand entlang radelnden Albertine Notiz nimmt, verrät ihre dahinschwindende Silhouette jenes sich entziehende Wesen, das über weite Teile der Recherche dem Betrachter wieder und wieder entgleiten wird: „Je savais que je ne posséderais pas cette jeune cycliste, si je ne possédais aussi ce qu’il y avait dans ses yeux.“³⁸⁵ Gerade über die dem Ich uncodierbar bleibenden Blicksignale der Geliebten entfalte Proust, so Warning, eine „ganze Dramaturgie scheiternder Blickkontakte.“³⁸⁶ Präsentiert wird dem Leser eine immer schon flüchtige, Zeit und Raum transzendierende Albertine,³⁸⁷ die der auf sichere Kenntnis über den anderen angewiesene Marcel permanent verfehlt und vergebens zu domestizieren sucht: „Et je comprenais l’impossibilité où se heurte l’amour. Nous nous imaginons qu’il a pour objet un être qui peut être couché devant nous, enfermé dans un corps. Hélas! Il est l’extension de cet être à tous les points de l’espace et du temps que cet être a occupé et occupera.“³⁸⁸ Mehr noch als der bittere Beigeschmack einer missratenen Besitznahme aber haftet Marcels ergebnislos bleibenden Aneignungsbemühungen das schmerzhafte Bewusstsein für einen aus freien Stücken gewählten Freiheitsverzicht an. Und so ist es nicht die im gemeinsamen Pariser Domizil unter Kontrolle zu halten versuchte Albertine, die den Part der Gefangenen innehält, sondern der die Rolle des Besitzenden gegen die des Eigentums eintauschende Liebende selbst. Dem eines Nachts nach Hause kehrenden Marcel bieten sich die von Albertines beleuchteten Zimmer durch die Spalten der geschlossenen Fensterläden nach draußen dringenden horizontalen Lichtstrahlen als die hell leuchtenden Gitterstäbe seines sich selbst geschaffenen Kerkers dar: „De sorte qu’en levant une dernière fois mes yeux du dehors vers la fenêtre de la chambre dans laquelle je serais tout à l’heure, il me sembla voir le lumineux grillage qui allait se refermer sur moi et dont j’avais forgé moi-même, pour une servitude éternelle, les inflexibles barreaux d’or.“³⁸⁹ Die Grimaldi, jalousie, S. 37. Proust, A l’ombre, S. 794. Warning, Rainer: Das Imaginäre der Proustschen Recherche. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1999. S. 44. „A ces êtres-là, à ces êtres de fuite, leur nature, notre inquiétude attachent des ailes.“ Proust, prisonnière, S. 93. Ebd., S. 100. Vgl. auch ebd., S. 104: „[C]ar elle [Albertine] était entrée pour moi dans cette période lamentable où un être, disséminé dans l’espace et dans le temps, n’est plus pour nous une femme, mais une suite d’événements sur lesquels nous ne pouvons faire la lumière.“ Ebd., S. 331.
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Gefahr einer mit extremer Eifersucht einhergehenden Freiheitseinbuße diagnostiziert auch Tellenbach: „Die Eifersucht kann aber auch in ein Verhalten übergehen, in welchem der Eifersüchtige sich seinem Misstrauen überlässt, d. h. ethisch gesehen: der Unfreiheit.“³⁹⁰ Besonderen Anlass zur Sorge aber bereitet dem Erzähler-Ich Albertines in mysteriöses Dunkel getauchte Vergangenheit, deren weit ausufernde Schatten die von Marcel künstlich erzeugte Isolation sprengen und das „Mobile seiner Phantasie“³⁹¹ lebhaften Schwingungen aussetzen: „Jetzt, wo er durch die Ausschaltung der realen Außenwelt seiner Gefangenen die Gelegenheit zur Begegnung mit möglichen Rivalen von vornherein vereitelt, dringt die erinnerte Außenwelt unaufhaltsam ein. Ihre Vergangenheit eröffnet ihm ein unendliches Feld von Kontakten, die seine Imagination beschäftigen.“³⁹² Kummervoll blickt auch Swann auf eine vergangene Zeit zurück, in der Odette ein ihm unbekanntes Vorleben führte, ja, retrospektiv stilisiert sich der von ungestümer Eifersucht auf das einst gewesene Ich – „l’autre lui-même qu’elle avait aim铳⁹³ – gepackte Held gar zum Opfer seiner selbst.³⁹⁴ Unwissenheit löst im Ich Bedrohungsgefühle aus, und so ist es Marcels dringlichster Wunsch, ein Handlung und Figuren gottgleich überragender Erzähler möge ihm die Hand reichen und ihn in Albertines Seelenleben einführen: „Combien nous voudrions, quand nos aimons, c’est-à-dire quand l’existence d’une autre personne nous semble mystérieuse, trouver un tel narrateur informé!“³⁹⁵ Folgen wir Grimaldi, so komme erschwerend hinzu, dass der Eifersüchtige im Labyrinth der Hypothesen und Fantasien – „vertigineux kaléidoscope où nous ne distinguons plus rien“³⁹⁶ – hoffnungslos in die Irre zu gehen drohe: „Mais s’il y a tant de raisons pour que nous reste inaccessible l’intériorité de la femme aimée, il y a une condition supplémentaire à la jalousie: c’est que la liberté humaine est si vaste qu’il n’y a rien de si invraisemblable qui ne soit en fait possible, même à la personne que nous croyons le mieux connaître.“³⁹⁷ Anders gewendet mit dem Erzähler-Ich selbst: „[P]ar nature, le monde des possibles m’a
Tellenbach, Schwermut, S. 159. Ebd., S. 155. Veltkamp, Eifersucht, S. 73. Proust, Swann, S. 347. „Diese Variante des literarischen Motivs des Doppelgängers erscheint hier als Vorbote des endgültigen Todes seines liebenden Ich und reflektiert gleichzeitig in unterschwelliger Anspielung auf den Narzißmythos die tödliche Wahrnehmung des ewig geteilten und doch einen Ich.“ Veltkamp, Eifersucht, S. 49. Proust, La fugitive. In: Proust, Recherche. Bd. 3, S. 551. Ebd., S. 519. Grimaldi, jalousie, S. 43 f.
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toujours été plus ouvert que celui de la contingence réelle.“³⁹⁸ Und auch vor Swann türmt sich das Monstrum Einbildungskraft in gigantischer Weise auf: „Swann avait envisagé toutes les possibilités. La réalité est donc quelque chose qui n’a aucun rapport avec les possibilités, pas plus qu’un coup de couteau que nous recevons avec les légers mouvements des nuages au-dessus de notre tête […].“³⁹⁹ Noch in Roland Barthes’ aus gutem Grund grafisch zerstückeltem Liebesdiskurs, der die Krise des Dialogs schon im Schriftbild vorwegnimmt,⁴⁰⁰ wird der Leser lange nach Proust des prinzipiellen Scheiterns einer schlussendlich der Ambivalenz überantwortet bleibenden Wahrheitssuche gewahr: „A celui qui veut la vérité, il n’est jamais répondu que par des images fortes et vives, mais qui deviennent ambiguës, flottantes, dès qu’il essaye de les transformer en signes: comme dans tout mantique, le consultant amoureux doit faire lui-même sa vérité.“⁴⁰¹ Aus diesem auch bei Barthes der Vollendung versagten Wahrheitsstreben heraus bestimmt Grimaldi die grundsätzliche Offenheit eines Gefühls,⁴⁰² das in Prousts Albertine-Romanen wie wir wissen selbst den Tod der Beeiferten überlebt, was die von Marcel posthum in Auftrag gegebenen Investigationen über Albertines homosexuelle Neigungen mit Nachdruck beweisen: „[P]uisque pour la jalousie il n’est ni passé ni avenir et que ce qu’elle imagine est toujours le Présent.“⁴⁰³
Belle du Seigneur: Endstation Eifersucht Kehren wir im Anschluss an den umrisshaft skizzierten Einblick in die Proustsche Eifersuchtspsychologie zu Cohens Romanschaffen zurück. Ähnlich wie in der Recherche bezieht auch hier das Eifersuchtsmotiv seine strukturbildende Resistenz aus einer ganzen Serie an klimaxartig aufeinander aufbauenden Sequenzen, die eine gefährliche Eigendynamik entwickeln, ehe sie geradewegs in das finale Drama um den beeiferten deutschen Orchesterdirigenten Dietsch einmünden. Über diesbezügliche erste Hinweise stolpert der Leser schon in Cohens Debütroman Solal – Signale, die für den in den letzten Kapiteln von Belle du Seigneur Proust, prisonnière, S. 24. Ders., Swann, S. 363. „Das Aussprechen dieses Diskurses spricht vom Eingeschlossensein in einer einsamen und autarken Rede, und es ist dadurch strukturell vom Scheitern geprägt; aber dadurch, dass er sich an den Leser richtet, überwindet der geschriebene, der literarische Diskurs das Scheitern des Dialogs der Liebe – er tut das, indem er eine Art des indirekten Gesprächs wieder aufnimmt.“ Coste, Claude: Roland Barthes und das Zusammenleben. In: Ette (Hrsg.), Wissensformen, S. 63 – 75, hier S. 73. Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux. Paris: Seuil 1977. S. 254. „[I]l n’y a pas de passé de la jalousie.“ Grimaldi, jalousie, S. 67. Proust, fugitive, S. 490.
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eskalierenden Eifersuchtskonflikt ein Vorgespür entwickeln lassen. So etwa als der junge Solal über Adriennes in Geleit des Konsuls geplante Kurzreise nach Florenz Kenntnis erlangt und mit überschäumender Eifersucht auf das Vorhaben der Eheleute reagiert: „Elle était sa mère, disait-elle. Mais le Valdonne n’était pas son père à lui. Donc elle était adultère. Adultère! Elle avait trahi! […] Tout le monde le trompait!“ (S ‐ 127). Bereits in diesem frühen Stadium der Diegese scheint Solals Eifersucht die augenfällige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu verkennen. Verlagert auf die imaginäre Ebene einer Mutter-Sohn-Beziehung gewinnt das unverhältnismäßig übersteigerte Gefühl noch an Intensität. Ein ähnlich irrationales Empfinden übermannt den Protagonisten Jahre später, als er vom Fenster aus die beim Verlobten Jacques sich einhakende Aude erspäht: „La voici qui s’appuyait au bras de son fiancé. Agitant de tristes pensées, il chargea deux pistolets épirotes mais l’adultère avait disparu“ (S ‐ 189). In radikalisierter Form spinnen sich diese dunklen Gedanken fort, als der nunmehr mit der Angebeteten verheiratete Held sich keinen Geringeren als Jesus Christus zum Rivalen nimmt. Die monologisierende Aude erinnert sich: „Je t’ai dit l’autre jour que je n’aimais pas le Christ quand j’étais enfant j’avais peur de lui il m’a semblé que tu allais me frapper Hier je t’ai dit que je l’admirais et tu as eu des yeux jaloux. Ce que tu aimes aujourd’hui tu l’écrases demain […]“ (S ‐ 269). Wie noch des Öfteren im weiteren Handlungsverlauf gewinnt auch hier die luzide Aude Klarheit über das entzweite Innenleben einer Figur, die ihre unbewältigt bleibenden Ängste mit einer zur Schau getragenen affektiven Kühle zu unterdrücken sucht: „Peut-être malheureux perdu angoissé sans savoir où il va Au fond il est jaloux il fait l’indifférent quand des hommes me parlent mais en réalité inquiet masque […]“ (S ‐ 269). Die Eifersucht, so erkennt bereits die mit dem innerlich gebrochenen Protagonisten mitleidende Aude, fördert Solals konfliktären Ich-Bezug offen zutage. Diese im Unterschied zu Belle du Seigneur hier noch behutsam aufgeworfene Logik der Eifersucht wird in der Folge jene nicht länger kanalisierbaren Aggressionen provozieren, welche die Paarbeziehung einer langen Agonie aussetzen. Obschon die Cohen-Forschung stets mit besonderem Nachdruck den hohen künstlerischen und ideologischen Stellenwert der zweiten Verführungsrede – eine „der wohl seltsamsten, auch schönsten, jedenfalls ausführlichsten Liebeserklärungen der Weltliteratur“⁴⁰⁴ – gewürdigt hat, hielt sie sich, so meine ich, bei der Ausdeutung der die heldische Verve und Streitbarkeit anstachelnden Eifersucht auffallend zurück. Dabei ist es doch der Redner selbst, der eine Kausalbeziehung zwischen der Eifersucht des Ich und dem vor Ariane angriffslustig deklamierten Hass auf den Faible der Frau für das Gorillagehabe des Mannes in Betracht zieht:
Rossum, Königsweg.
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„Il sifflota, se demanda si les anathèmes contres les femmes adoratrices de la gorillerie ne provenaient pas d’une rage de savoir que ces effrontées pouvaient être attirées par d’autres que lui. Oui, en somme, il était jaloux de toutes les femmes“ (BdS ‐ 350). So gründlich die Solals langen Verführungsmonolog grundierende weltanschauliche Basis untersucht worden ist⁴⁰⁵ – sein wie ein Eingeständnis der eigenen Schwäche oder gar Schuld wirkender eifersuchtsbedingte Unterbau, der das im weiteren Romanverlauf exemplifizierte Theoriegebäude dubios erscheinen lässt, geriet dabei in den Hintergrund. Die selbstkritische Introspektion des Helden aber hält keinerlei Antwort auf die Frage nach dem verantwortungsvollen Umgang mit einer übersteigerten Emotion bereit, deren Gefahrenpotenzial für die Liebe im 88. Romankapitel ex abrupto steigen wird. Es vollzieht sich jene in ethischer Hinsicht kruziale Wende, an der „die Vorerwartung eines möglichen Liebesverlustes nicht mehr im Vertrauen in das Geliebte zur Ruhe kommen“⁴⁰⁶ kann. Von nun an setzt Solals rasende Eifersucht ihren gefährlichen Kippmechanismus und damit jenen Teufelskreis von Gewalt, Buße durch Selbstbestrafung⁴⁰⁷ und neuer Gewalt in Gang, der das Zusammenleben kollabieren lässt. In Solals unverdrossen wiederaufgenommenen Kreuzverhören, deren Abstrusität am eindrucksvollsten nur der Text selbst bezeugen kann,⁴⁰⁸ ließe sich der vom Roman ad absurdum geführte Wissensdurst der Proustschen Protagonisten erkennen. Doch bleibt im intertextuellen Spiel zu beachten: Solals Inquisitionen unterlegt Cohen, hierin sich radikal von Proust entfernend, mit einer jüdischen Tiefenschicht, die den Vertrauensverlust des Helden in die Liebe mit einer historisch vorgeprägten Grundangst bestückt. Ihre Wurzel hat diese Angst in jenen stereotypen Bildern, die Solals schematisierende Lesart der abendländischen Kulturgeschichte als eine Geschichte der Verstrickung von Gewalt und Erotik produziert. Jedenfalls lässt sich diese Vision der Wirklichkeit wesentlich einfacher
Schaffner zufolge formt Solals Verführungsdiskurs gemeinsam mit dem inneren Endmonolog des Helden eine ideologische Klammer, die das Werk zusammenhalte: „Belle du Seigneur’ construit une progression rigoureuse qui relie deux grands foyers doctrinaux: le discours de séduction de Solal (théorie de l’amour), placé au début de l’aventure amoureuse, et le grand monologue final du héros (à caractère théologique).“ Schaffner, Belle du Seigneur, S. 221. Tellenbach, Schwermut, S. 158. „[I]l s’assit, croisa ses jambes et, avec le poignard damasquiné sorti de sa gaine, se taillada lentement la plante du pied“ (BdS ‐ 963). Vgl. auch S. 965: „[I]l se donna deux gifles, puis un uppercut sous le menton, si violent qu’il dut s’asseoir sur une marche. […] Indigné, il s’assena un formidable direct sur l’œil droit qui se pocha.“ Beispielsweise stellt Solal der Geliebten die dem gesunden Menschenverstand entbehrende Frage, ob sie gesetzt den Fall eines sexuellen Übergriffs lieber einem schönen oder hässlichen Vergewaltiger den Vortritt lasse (vgl. BdS ‐ 789). Dass Solals Wissbegierde von dem subjektiven Interesse an der Bestätigung seiner abendländischen Triebtheorien geleitet ist, steht außer Frage.
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in das dichotomische Weltbild des Helden integrieren als die Vorstellung einer den Juden Solal aufrichtig liebenden Arierin. Die schon auf Prousts Erzähler-Ich lastende Strapaze eines durch die Eifersucht bewirkten Autonomieverlusts münzt Cohen in das von negativen Fremdbildern bevölkerte Welterleben des Juden um. Unter den Vorzeichen eines solchen Freiheitsentzugs braut sich im Roman das der Liebe den endgültigen Todesstoß versetzende Eifersuchtsdrama um Dietsch zusammen. In welch eklatantem Kontrast Solals eifersüchtige Fantasien vom anderen zu der von Ariane mit Dietsch tatsächlich erlebten Liebeswirklichkeit stehen, dies untermauern wieder einmal jene monologisch entfalteten Textpartien, die Arianes außereheliche Affäre auf dezente Weise schon früh in die Fiktion einblenden. Viel erfährt der Leser aus dem selektiv Erinnerten der Romanfigur zwar nicht, wohl aber bekommt er – und ebendieses Detail erweist sich für die Eifersuchtsintrige als entscheidend – ein Gespür für jene körperliche Unlust, mit der Ariane sich dem Liebhaber fügte: „Serge mais enfin pas le grand enthousiasme“ (BdS ‐ 184), so gesteht die enthemmte innere Stimme der Protagonistin. Andere Erinnerungsfetzen, in denen der Vorname des Orchesterchefs zu einer anonymen Initiale verpufft, legen noch expliziter den Akzent auf das im Unterschied zu Dietsch mit Solal verspürte Feuer der Leidenschaft: „[A]vec S ce n’était rien, c’était la tristesse d’avec le iram, mais personne avant vous, personne après vous […]“ (BdS ‐ 439).⁴⁰⁹ Der emotionalen Ernüchterung des mit Dietsch Erlebten zum Trotz ist Ariane daran gelegen, diesen aus Ehefrust begangenen Vertrauensbruch Solal gegenüber zu verschweigen: „[S] auf que évidemment il y a un secret que je ne lui dirai jamais […]“ (BdS ‐ 440 f.). Aus welcher Motivation heraus Ariane diesen Vorsatz dann doch bricht, bleibt unklar. Leitet sie der Wunsch nach Erlösung von einem das Gewissen erdrückenden Fehltritt oder aber fußt ihr Entschluss, Solal in das bislang sicher gehütete Geheimnis einzuweihen, auf der narzisstischen Hoffnung, durch ein Quäntchen Eifersucht die dahinwelkende Liebe vor den „pâles fleurs d’ennui“ (BdS ‐ 381) zu schützen? So wie bereits für Prousts Marcel die Liebe einzig im Schmerz ihren Daseinsgrund besaß, argwöhnt auch Solal hinter Arianes Geständnis einen opportunistischen Schulterschluss mit der Eifersucht: Et le plus lamentable, c’était la raison véritable de l’aveu du micmac Dietsch, de ce grand accès de loyauté. Il savait si bien pourquoi elle avait voulu, en toute mauvaise bonne foi, se libérer de ce fameux secret trop lourd à porter. […] Alors, dans ce petit inconscient, la volonté de se revaloriser, de provoquer une jalousie, oh pas trop forte, une petite jalousie de dépit, convenable, policée. Juste ce qu’il fallait pour redevenir intéressante (BdS ‐ 962).
Vgl. auch BdS ‐ 446: „[D]is donc nos baisers c’est autre chose qu’avec S, je ne sentais rien avec ce pauvre homme […].“
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„En toute mauvaise bonne foi“: Dem von Sartre prominent gemachten Selbstbetrug mischt das Qualitativ „bonne“ jene höhnische Nuance bei, die für den Sexualzyniker Solal als typisch gelten darf. Auf die Unterstellung des Helden aber wirft der Text schon allein deshalb ein widersprüchliches Licht, trägt Solal selbst doch sein Übriges dazu bei, die Liebe mit masochistischen Eifersuchtsszenen aufs Neue zu stimulieren, worauf die Erzählerstimme unverblümt hinweist: „Sincères, ces jalousies, mais voulues aussi, car il se complaisait aux visions torturantes, les appelait, les développait, s’en fouettait pour souffrir et la faire souffrir, pour sortir du marécage et fabriquer une vie de passion sans plus de langueurs“ (BdS ‐ 983).⁴¹⁰ Zu begrüßen scheint der Protagonist, darin Prousts Helden gleichend, jenen Liebespessimismus der französischen Moralistik,⁴¹¹ wonach eine fortwährende Periode beschaulichen Glücks die Attraktivität der Liebe nur schmälern könne: „Il leur fallait [aux femmes] des délices, les montagnes russes et les toboggans de la passion, des passages de la douleur à la joie, des angoisses, des bonheurs soudains, des attentes, des espoirs et des désespoirs, la sacrée passion avec son ignoble ribambelle d’émois et ses théâtraux buts de vie“ (BdS ‐ 727 f.). Bedenken wir auch: Mitnichten korrespondiert diese eingleisige Schuldzuweisung mit Solals Lebenspraxis, sucht er selbst doch gleich zweifach das erotische Abenteuer.⁴¹² Prousts Marcel war immerhin so ehrlich einzuräumen, dass der vom Menschen verspürte Eifersuchtsschmerz nur dem Wissen um die eigene Fehlbarkeit entspringen könne: „Comme il n’est de connaissance, on peut presque dire qu’il n’est de jalousie que de soi-même. L’observation compte peu. Ce n’est que du plaisir ressenti par soi-même qu’on peut tirer savoir et douleur.“⁴¹³ Wenn in Cohens Schreiben, anders als bei Proust, von einer jüdischen Anverwandlung des Eifersuchtsmotivs auszugehen ist, so wird diese kulturelle Umcodierung des Affekts in Solals Reaktion auf die der erzählten Zeit vorhergehende Liaison zwischen Ariane und Dietsch besonders deutlich. Ungeachtet des Umstands, dass der bekennende Sozialdemokrat Dietsch das nationalsozialistische Regime nicht mittragen wollte und daher mit dem beruflichen Wechsel von der Opernmetropole Dresden in die Diplomatenstadt Genf einen tiefen Karriere-
Vgl. auch BdS ‐ 962: „Si pas de jalousie, ennui. Si jalousie, enfer bestial.“ In La Rochefoucaulds Maximen avanciert der die Liebe zersetzende Ennui zum Leitbegriff: „La grâce de la nouveauté est à l’amour ce que la fleur est sur les fruits; elle y donne un lustre qui s’efface aisément, et qui ne revient jamais.“ La Rochefoucauld: Maximes. Hrsg. von Jacques Truchet. Paris: Garnier 1967. Hier Maxime Nr. 274, S. 70. Und auch das Stendhalsche „homme qui tremble ne s’ennuie pas“ scheint in Solals Liebeskonzeption nachzuklingen. Stendhal: De L’Amour. Hrsg. von Victor Del Litto. Paris: Gallimard 1980. S. 244. Zu Solals Seitensprüngen vgl. BdS ‐ 837 u. 844. Proust, prisonnière, S. 386.
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einschnitt hinnahm, pflegt Solal genussvoll das Schreckgespenst des antisemitischen Ariers: „Un de la race des tueurs des Juifs“ (BdS ‐ 976). Machtlos ausgeliefert ist der von Solal zur Gänze entindividualisierte Orchesterchef, darin Arianes Schicksal teilend, der erschlagenden Masse des Kollektivs, dem überwältigenden Feindbild des bellizistischen Deutschen. Unter dem Pseudonym des Stiers („le taureau“, BdS ‐ 955) soll Dietsch noch dazu in die Traditionslinie des lüsternen Gottes der Griechen integriert werden.War es bloßer Zufall, dass Cohen für die vom Standpunkt des Juden aus neu perspektivierte Modellierung der Eifersucht auf die Figur des Dirigenten rekurrierte? Orientieren wir uns einmal mehr an Canettis Masse und Macht, so erscheint dort die Figur des Orchesterchefs als Chiffre für Macht und Autorität: „Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht als die Tätigkeit des Dirigenten.“⁴¹⁴ Schon die exponierte Position der Figur – das erhöhte, aufrechte Stehen vor einem den Willen des Dirigenten respektvoll exekutierenden Orchester – legitimiere diesen Machtanspruch: „Diese oder jene Stimme weckt er plötzlich zum Leben durch eine ganz kleine Bewegung, und was immer er will, verstummt. So hat er Macht über Leben und Tod der Stimmen.“⁴¹⁵ Vor dem stereotypen Hintergrund des vom Protagonisten aufgerufenen Stiers erstaunt nicht, dass Solals Eifersuchtsschikanen den Bereich des Sexuellen nicht aussparen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, kulminiert in der obszönen Allusion des Helden auf eine vermeintlich typisch deutsche Eigenart zu kopulieren⁴¹⁶ doch Solals Negativporträt eines in groben völkerpsychologischen Strichen gezeichneten Kontrahenten. In Dietsch kondensiert sich, so scheint es, jener zügellose Prototyp, der als Gegenfigur zu den keuschen Insulanern der asexuell idealisierten orientalischen Heimat des Helden hervortritt: Orateur et prophète, ridicule et moral, il [Solal] parlait, parlait, avait mal à la tête, mal de voir sans cesse les organes des deux adultères en même temps que leurs langues frénétiques, […] évoquait ses décentes grand-mères aux cheveux chastement couverts d’une résille de jais, car les cheveux sont une nudité, disait le Talmud, louangeait la vertueuse incompétence sexuelle des Juives de Céphalonie pour qui le bel homme était toujours un obèse imposant (BdS ‐ 943).
Eine stilistische Sonderrolle nehmen in der zitierten Passage jene metonymischen Verschiebungen ein, die den Orchesterdirigenten ausschnitthaft auf seine Sexualorgane oder andere dem Liebesspiel förderliche Körperpartien – Mund, Hände, Zunge, Schnurrbart, Schneidezähne – reduzieren: „Oh, la moustache noire sur le
Canetti, Masse, S. 442. Ebd. „Est-ce qu’il avait des manières allemandes spéciales pour copuler?“ (BdS ‐ 956).
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sein doré! […] Oh, la pointe emprisonnée par les incisives et la langue qui tournait autour de la langue“ (BdS ‐ 955).⁴¹⁷ Manifest wird die rhetorische Untermalung der Eifersucht darüber hinaus in den für Cohens Sprache so charakteristischen Neologismen: „La dietschée n’avait qu’à rester avec son dietscheur“ (BdS ‐ 954). Wie stark der Ekel und die Furcht vor dem als Bedrohung erfahrenen Körper des anderen Solals Lustempfinden drosselt, zeigt sich an seinem hysterischen Misstrauen gegen die von den zärtlichen Berührungen des Vorgängers vermeintlich irreversibel kontaminierte Haut der Geliebten: „En somme, si les mains du chef d’orchestre avaient eu le pouvoir de tatouer indélébilement, elle serait en ce moment bleue des pieds à la tête, bleue partout, sauf sous les pieds peut-être. Alors quoi, condamné à se contenter de la plante des pieds?“ (BdS ‐ 972). Ja, die von Solal manisch überproportionierte Leiblichkeit sowohl des Dirigenten als auch seines Geschlechtsorgans⁴¹⁸ befällt gar dergestalt die Gegenwart, dass der Held vor jedweder physischen Nähe mit Ariane, in die er Dietsch dazwischenschaltet, angewidert zurückschreckt: „[E]et elle lui prit la main, mais il se dégagea aussitôt du contact des organes de Dietsch“ (BdS ‐ 972). Diese ostentative Betonung alles Körperlichen – eine Motivik, die im Duo Albertine-Marcel nur zwischen den Zeilen, etwa in den vom Erzähler-Ich peinvoll rekonstruierten gleichgeschlechtlichen Duschszenarien aufscheint⁴¹⁹ – ermöglicht die thematische Rückkopplung der Eifersucht an jene dem Okzident nachgesagte entmenschlichende Triebhaftigkeit der Liebe, die Solals großen Verführungsmonolog leitmotivisch strukturiert. Über den mit Schaffner schon im Namen des Orchesterdirigenten latent angelegten kollektiven Sinngehalt der Romanfigur⁴²⁰ wird im Drama um Dietsch die Eifersucht zur eindrucksvollen Allegorie für jene Identitätskrise des jüdischen Helden, vor der die Liebe zu resignieren hat. Nirgends rückt Cohen so deutlich von der Proustschen Affektgestaltung ab wie in dieser Öffnung der Eifersuchtsproblematik hin auf einen Liebe und Zusammenleben verunmöglichenden ideologischen Überbau – ein Aspekt, der das für Cohens Liebesintrige unverwertbare Sinnelement der Recherche einer durch die Eifersucht vorerst brach liegenden Selbstfindung des Individuums ersetzt. So ist schon durch die dichotomische Weltsicht des Eiferers vorgeschrieben, dass die
Vgl. auch BdS ‐ 953: „([…] et la langue de Dietsch pointant déjà de convoitise!)“ u. BdS ‐ 954: „Oui, mais c’était cela qui était terrible, une femme qui l’aimait si absolument et qui avait pu laisser la main poilue de Dietsch déboutonner sa blouse.“ „Il vit une énorme virilité, recula devant la bestiale vision“ (BdS ‐ 921). Vgl. Proust, fugitive, S. 518. „Dietsch, c’est Nietzsche auquel on a accolé l’initiale de la divinité, le D. qui est aussi la première lettre du nom parodique d’Adrien Deume. Solal associe Nietzsche et les Allemands dans son grand monologue.“ Schaffner, Le goût, S. 250 (Fußnote 10).
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Romanfigur Arianes Ohrfeige, eine defensive Replik der Notwehr auf Solals an Dreistigkeit gewinnenden Provokationen, nutznießerisch im Lichte jenes historischen Determinismus deutet, der sich auf die verkürzte Kausalformel „ArianeArierin-Gewalt“ bringen ließe: „Une aryenne, bien sûr, murmura-t-il, satisfait“ (BdS ‐ 974). In Bezug auf die jüdische Färbung des Cohenschen Eifersuchtsmodells verdient der bereits erwähnte Narzissmus des Eifersüchtigen nähere Betrachtung. Es leuchtet ein, dass die den Proustschen Romanfiguren nachweisbare narzisstische Triebfeder der Eifersucht, stimuliert durch die Angst vor einer Kränkung des Ich, in zwei unterschiedliche Geisteshorizonte einzuspannen ist. Sie führt einerseits zurück auf die ausführlich von Rainer Warning untersuchten Interdependenzen zwischen Prousts Recherche und moralistischem Schriftstellertum.⁴²¹ Für La Rochefoucauld, um nur einen Vertreter zu zitieren, hängen Liebe und Selbstliebe bekanntlich eng zusammen – eine Interaktion, die sich über unzählige seiner Maximen hinweg in der Grundidee artikuliert, wonach der Mensch die Liebe stets aus einer unabstreifbaren Selbstbezogenheit heraus erfahre.⁴²² Dem berühmten Moralisten wurde gar nachgesagt, er habe dem Zentralbegriff des amour-propre das fortwährende „Faszinosum eines Mythos“⁴²³ verliehen. Schreibt Warning über das Verhältnis Proust-La Rochefoucauld, solch „moralistische Maximen wirken wie formelhafte Verdichtungen der Eifersuchtsdramen bei Proust“⁴²⁴, dann könnte dies uneingeschränkt auch für Cohen stehen. Andererseits – und diese Kontextualisierung nimmt Galle vor – ließe sich die narzisstische Prägung der Eifersucht im Roman der Moderne nicht ohne den immensen Einfluss der Freudschen Psychoanalyse auf das Schreiben der Autoren begreifen.⁴²⁵ Beide Strömungen und Traditionen scheinen in den Werken der hier gegenübergestellten Autoren zu paktieren, wie auch Warning mit Blick auf Proust betont.⁴²⁶
Warning, Rainer: Proust und die Moralistik. In: Link-Heer, Ursula u. Volker Roloff (Hrsg.): Marcel Proust und die Philosophie. Frankfurt/Main, Leipzig: Insel-Verlag 1997. S. 100 – 120. Vgl. beispielhaft: „Nous ne ressentons nos biens et maux qu’à proportion de notre amourpropre.“ La Rochefoucauld, Maximes, Maxime Nr. 339, S. 82. Fuchs, Hans-Jürgen: Entfremdung und Narzissmus. Semantische Untersuchungen zur Geschichte der Selbstbezogenheit als Vorgeschichte von französisch ‚amour-propre‘. Stuttgart: Metzler 1977. S. 225. Warning, Proust, S. 103. „Der stimulierende Steuerungsmechanismus liegt […] im narzisstischen Syndrom der SelbstVerletzbarkeit, der Selbst-Gefährdung, in der Ambivalenz von totalisierendem Besitzanspruch und der Angst vor Selbstzerstörung.“ Galle, Eifersucht, S. 25. Vgl. Warning, Proust, S. 101. Zur Beeinflussung Prousts durch die zeitgenössische psychoanalytische Lehre vgl. auch: Tadié, Jean-Yves: Le lac inconnu: entre Proust et Freud. Paris: Gallimard 2012.
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Was Cohen aber von Prousts narzisstisch besetzter Eifersucht abhebt, ist wieder einmal die Sinndeutung dieser Motivallianz aus der sozialen Gefahrensituation des jüdischen Protagonisten heraus. Wo in Übereinstimmung mit dem Autor der Recherche die im Liebenden geweckten Zweifel und Ängste die Attraktivität der Liebe allererst erhöhen, verliert diese bei Cohen gerade in den Anfangskapiteln des Liebesplots gezielt angekurbelte Dynamik⁴²⁷ spätestens dann an Reiz, wenn für den der Gesellschaft verwiesenen Juden das blanke Überleben auf dem Spiel steht: „Elle est tout ce que j’ai maintenant, je veux qu’elle continue à m’aimer“ (BdS ‐ 744), so Solal über Ariane. Längst wurde diese narzisstisch eingeforderte Liebe von der Furcht des Juden vor einer staats- und namenlosen Exilexistenz absorbiert. Einer analogen Umpolung ist die von beiden Autoren poetisch nutzbar gemachte Thematik der Gefangenschaft unterworfen. Denn während diese bei Prousts Marcel dem egoistischen Interesse zuarbeitet, das Fluchtwesen Albertine zu bezähmen, baut Cohen sie zur Errichtung eines Intimraums aus – „vie d’amour en vase clos“ (BdS ‐ 726) –, der auf einer existenziellen Krise ruht. Gefangen in der Unmöglichkeit einer in und mit der Gesellschaft zu realisierenden Liebe verhängt der Protagonist über sich und die Geliebte eine Quarantäne, die Solal mehr und mehr als zermürbenden Frondienst erfährt – eine Wahrnehmung, die der Text rhetorisch verschwenderisch ausschmückt.⁴²⁸ Prousts Romanfiguren dagegen agierten, so Chardin, weniger aus der Sorge um gesellschaftliche Akzeptanz heraus als vielmehr aus der Furcht vor einem unabwendbaren Wissensverlust über Person und Leben der Geliebten: „On peut même dire que l’horreur suprême, pour les personnages de Proust, n’est pas tant de ne pas ‚en êtreʻ que de ne pas connaître.“⁴²⁹ Die bei Cohen vorangetriebene Judaisierung des Motivs aber steht einer Versöhnung mit der sozialen Macht, wie von Matt sie als einen von drei Wegen aus
Schon in seiner Verführungsrede setzt Solal zur Optimierung der Liebe auf maßvoll dosierte Boshaftigkeiten: „Lorsqu’elle est entrée en plein passion, donc cruautés ouvertes. Mais dose-les. Sois cruel avec maîtrise. Le sel est excellent, mais pas trop n’en faut (BdS ‐ 379).“ So durchlebt der Gefangene Solal, „captif d’elle“ (BdS ‐ 714), die Zweisamkeit als „servage sexuel“ (BdS ‐ 711). Die Liebenden, „enterrés vivants dans leur amour“ (BdS ‐ 763), verbarrikadieren sich zusehends im „cachot d’un grand amour“ (BdS ‐ 838). In Solals zynischen Kommentierungen des gemeinsamen Sexuallebens wird die Parallelsetzung von Liebe und Gefangenschaft besonders deutlich: „C’était l’appel“ (BdS ‐ 718), „Allons, au travail“ (BdS ‐ 719), „Il fallait faire son devoir“ (BdS ‐ 746), „Il avait été engagé pour de la passion“ (BdS ‐ 751), „condamnés aux travaux d’amour à perpétuité (BdS ‐ 758), „un jour de travail sur corde raide“ (BdS ‐ 820). Ohne soziale Ausweichmöglichkeiten,von Kinobesuchen im Dunkeln einmal abgesehen (vgl. BdS ‐ 761), degeneriert das Liebesspiel zu einem unbefriedigenden Behelf: „Le plus pratique c’était de la prendre“ (BdS ‐ 754). Chardin, L’amour, S. 150.
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der Krise beschrieb, kategorisch entgegen. Solal selbst setzt den ihm verwehrten Emporstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie ausdrücklich zu den Entfaltungsmöglichkeiten eines Proust in Kontrast: „Si le Proust avait voulu, son père le faisait entrer tout gentiment, sans peine aucune, au Quai d’Orsay, le crétin Norpois, ami du papa Proust, étant tout prêt à introduire le fiston chez les autres crétins“ (BdS ‐ 847). Und wenn Prousts Marcel mit dem als geistigem Befreiungsschlag erlebten Erlöschen der Eifersucht endlich zu sich selbst und damit zu seiner Berufung als Romancier zurückfindet, ist im Europa der Vorkriegszeit die Unheilgeschichte des Juden bereits geschrieben. Mit Solals gescheitertem Gesuch, die deutschen Juden der Obhut des Völkerbunds anzuvertrauen,⁴³⁰ präfiguriert die historische Weitsicht der Erzählerstimme das unabwendbare Schicksal eines Volks. Was bleibt, ist die Liebe einer Frau: „Désormais, un homme seul, et comme patrie, une femme“ (BdS ‐ 847). Ausweiten lässt sich diese vergleichende Betrachtung der sozialen Hintergründe auf die Un amour de Swann durchziehende Liebesintrige: Swanns Bändigung der Eifersucht durch die vom Text elliptisch in Szene gesetzte Heirat mit Odette unterscheidet sich von den Cohens Protagonisten verbleibenden Alternativen klar darin, dass dem gesellschaftlichen Außenseiter Solal selbst diese Tür verschlossen ist: „[L]es enfants supposaient mariage et le mariage supposait vie dans le social. Or, il était un banni, un hors-caste“ (BdS ‐ 751). Wie aber steht es im Falle Solals um die nach von Matt als Voraussetzung für ein gütliches Ende der Liebesgeschichte zu überwindende Krise der Selbstwerdung? Hier greift, so scheint mir, die eigentliche Tragik der Liebesgeschichte, ist Solal es doch selbst, der sich in der ethisch betrachtet fatalen Rolle des obsessiv Eifersüchtigen in eine diesen Prozess unterminierende emotionale Sackgasse hineinmanövriert – ein mit Tellenbach schwerwiegender Fehler: „Das Selbst entwertet hier zunehmend, worin es doch vor allem seinen Wert erfährt: die ihm zugeeignete Liebe.“⁴³¹ Längst hat die Eifersucht des Helden jenes von der Norm abweichende Stadium erreicht, in dem ethische Korrektive wie das in Tellenbachs Studie Erwähnung findende Vertrauen oder das bei Cohen der Zwietracht gegensteuernde Mitleid ihren Heileffekt verloren haben. So sehr Solal das Mitleid
Von diesem ausschlaggebenden Grund für Solals Ausschluss aus dem Völkerbund erfährt der Leser erst spät: Auf S. 846 fällt der noch nicht konkret deutbare Euphemismus: „Une gaffe généreuse l’a fait tomber“, ehe knapp dreißg Seiten weiter der monologisierende Held das Geheimnis lüftet: „[É]choué à Londres échoué à Washington échoué devant le Conseil de leur Essdéenne quand j’ai demandé aux importants bouffons d’accueillir mes Juifs allemands de se les répartir, […] c’est par horreur de l’antisémitisme qu’ils les ont abandonnés à leurs bourreaux […]“ (BdS ‐ 873). Tellenbach, Schwermut, S. 158.
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auch erfleht, um die Katastrophe doch noch abzuwenden, seine kurative Wirkung kann es in dieser schwierigen Phase des Zusammenlebens beileibe nicht mehr zeitigen: „Avoir pitié de cette malheureuse, blanche de mort, dont les genoux tremblaient, qui attendait le verdict, la tête baissée, n’osant pas le regarder. Penser qu’elle mourrait un jour“ (BdS ‐ 953). Hinzu kommt: Der herbe Verlust, den Solal billigend geschehen lässt, ist schmerzlich real, verkörpert Ariane im Gegensatz zu den Proustschen Heldinnen doch primär eine um ihrer selbst willen geliebte Frau – eine, die nicht wie die an Botticellis Sephora gekoppelte Odette als imaginäres Geschöpf aus einem ästhetisch erwirkten Kristallisationsprozess hervorgeht und auch nicht wie Albertine dem spannungsreichen Reiz ihrer zu befürchtenden Unerreichbarkeit zuliebe begehrt wird. Nein, die jedwede Distanziertheit augenblicklich von sich werfende Ariane annonciert als Seelenverwandte des Helden das Versprechen einer Prousts Marcel für immer versagten „interpénétration des âmes.“⁴³² Eine Schnittmenge zwischen Prousts und Cohens Eifersuchtstexten ergibt sich dagegen, so glaube ich, aus jener Beobachtung, die bei Link-Heer in einer klug gewählten Zwischenüberschrift zum Ausdruck kommt: „Eifersucht als Verstellungskunst.“⁴³³ Mit dieser Formulierung spielt die Autorin auf das komödiantische Talent des eifersüchtigen Marcel an, mit vorgespielter Empathie die Geständnisbereitschaft der Geliebten erpressen zu wollen – eine Begabung, der Solal mit seiner Verständnis signalisierenden Fürsorglichkeit gegenüber einer in Erzähllaune zu versetzenden Ariane in nichts nachsteht: „Animé, il l’embrassa, amical, tout au plaisir de l’histoire à écouter. Un enfant au cirque attendant l’entrée des clowns. Empressé, il apporta un second manteau plus chaud, […] le lui posa sur les genoux, lui offrit de refaire du thé. Plein d’égards, il la traitait comme une femme enceinte ou un génie prêt à créer et qu’il ne fallait pas brusquer“ (BdS ‐ 930). Kein Zweifel: Link-Heers dem gerissenen Marcel geltende Feststellung – „[d]ie Ars erotica der Verstellung und Nonchalance transformiert sich in eine Strategietortur“⁴³⁴ – ließe sich wortgetreu auf einen Helden übertragen, der schon bald die Maske des einfühlsamen Zuhörers fallen lässt: „Dietsch sera toujours entre toi et moi. Et même sur toi. Il est là en ce moment. Il te fait des choses tout le temps. Je ne peux plus vivre avec toi. Va-t’en! Quitte cette maison!“ (BdS ‐ 935). Spätestens mit jenem durch diese Worte ausgelösten narrativen Wendepunkt, an dem der Protagonist Arianes Fluchtwillen ohnmächtig zur Kenntnis nehmen muss, offenbaren sich einmal mehr all jene Aporien und Paradoxa der Sprache und des miteinander
Proust, prisonnière, S. 387. Link-Heer, Chi sprezza, S. 223. Ebd., S. 224.
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Sprechens, die sich im Schaffen des Schriftstellers, so sahen wir, eine prominente Stellung sichern konnten. Der offenkundigen Brisanz des zu Erwartenden zum Trotz hält Solal an der von Marcel einst vorgelebten „comédie de rupture“⁴³⁵ unbeirrt fest: „Pour lui dissimuler son besoin d’elle et lui prouver son indifférence, il ironisa. ‚Alors, départ éternel?ʻ […] Pour la faire souffrir et lui montrer qu’il s’attendait bien à la voir partir, il fit le serviable, lui passa une robe prise dans l’armoire“ (BdS ‐ 936). Doch ist auch Ariane darum bedacht, ihr Verhalten in Wort und Tat mit den Verstellungsmanieren des Helden in Einklang zu bringen: „Elle était heureuse de le faire souffrir. Voilà, il verrait bien qu’elle partait pour de bon“ (BdS ‐ 936). Geschmälert durch die selbstsüchtige Erwartung des einen, der andere möge das von der Qual erlösende Wort der Versöhnung sprechen, zieht sich der Aktionsradius beider Protagonisten auf den unfreier Marionetten zusammen: „L’un et l’autre se tenaient à peine debout, machines détraqués, aveulis de fatigue et d’incohérence“ (BdS ‐ 945).⁴³⁶ Der klaustrophobischen Enge des gemeinsam hinter sich gelassenen Domizils⁴³⁷ den Rücken kehrend strandet das Paar in räumlich nur noch bedrückenderen Hotelinterieurs, die Dietsch als unsichtbarer Dritte mitbewohnt. Sprach- und tatenlos blickt es dem unaufhaltsamen Ende entgegen. Mag Ariane den affektiven Wert ihrer Liebschaft mit Dietsch rückblickend auch noch so minimieren („Mon Dieu, si tu savais comme c’était peu de chose avec ce Dietsch“ [BdS ‐ 973]): Angesichts der selbstdestruktiven Verfassung des Helden bewirken Eingeständnisse wie dieses nichts als einen abermaligen Affront: „Pourquoi cette animosité soudaine contre un homme que tu allais voir avec ta valise, dans un certain but?“ (BdS ‐ 973). In den mehrfachen Ortswechseln der Liebenden setzt sich eine Scheindynamik in Bewegung, die kreisförmig auf jenen Ausgangspunkt hin zusteuert, an dem die Liebe ihren Anfang nahm. So kulminiert die vom Roman Station für Station ausgebaute Verengungsmetaphorik im Genfer Ritz, wo die zugezogenen Vorhänge dem Tageslicht den Weg in das artifiziell beleuchtete Hotelzimmer versperren:
Proust, prisonnière, S. 353. Eine thematische Reprise dieses Kommunikationsdramas einer versäumten Aussprache verarbeitet Cohen in seinem auf den zwölften März datierten Eintrag der Carnets: „Envie subite d’écrire une scène conjugale“ (C ‐ 1143) – mit diesen Worten führt der Tagebuchschreiber in einen fiktiven Disput ein, in dem abermals vonseiten beider Beteiligter auf die menschliche Handlungsfreiheit verzichtet wird: „Pourquoi, mais pourquoi ne lui disait-elle pas un mot, simple mot de tendre qui mettrait fin à l’horreur? Lasse d’attendre de son mari le mot de tendresse et le baiser de réconciliation qu’elle espérait, elle haussa les épaules, abandonna les allumettes, se leva et retourna dans la chambre à coucher“ (C ‐ 1146). Die von Solal erworbene „Belle de mai“ war ihrem Zweck nach auf jenen Mythos vom ewigen Frühling der Liebe ausgerichtet, den der Held mit Arianes Verführung am ersten Mai des Jahres 1936 zu perpetuieren gewillt war.
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„Lugubre, le lustre était resté allumé dans la chambre où le soleil de midi filtrait à travers les rideaux tirés“ (BdS ‐ 981). Potenziert wird das kontinuierlich fortwirkende Kommunikationsdebakel durch Solals in diesem düsteren Ambiente weiterhin unerfüllt bleibende Hoffnung, Ariane möge den verhassten Rivalen entehren: „Mais les seuls mots, même menteurs, qui l’auraient calmé, elle ne les disait pas, ne les dirait jamais, trop noble pour renier ou salir ou ridiculiser son ancien amant. Il l’en respectait, il l’en haïssait“ (BdS ‐ 955).⁴³⁸ Solals Reaktion auf Arianes eiserne Loyalität gegenüber Dietsch trägt deutlich das Signum jener Ambivalenz, die den Helden innerlich immer schon entzweite: „Solal d’Agay cocu du Solal de Genève“ (BdS ‐ 761)⁴³⁹ – mit dieser gespaltenen Selbstwahrnehmung, die wohlgemerkt jener Swanns sehr nahe kommt, verweist der Text metonymisch auf jenen allumfassenden Identitätskonflikt, den die Eifersucht zwar nach außen hin sichtbar macht, nicht aber verursacht. Denn die mit ihr textuell zutage tretende Krise des Ich – so die Ausgangsüberlegung, zu der es abschließend zurückzukehren gilt – ist mehr als die Problemsituation einer narzisstischen Kränkung, zumal der Text dem Albtraum Dietsch ein definitives Ende setzt: „De temps à autre, il lui avait confectionné de petites jalousies Dietsch par pure bonté, pour lui faire plaisir, puis il s’était lassé, et il n’avait plus été question du Dietsch, et paix aux organes du Dietsch“ (BdS ‐ 984). Anders aber verhält es sich mit jener stagnierenden Krise von metaphysischer Tiefe, in der nach von Matts triadischer Krisentypologie die Sinnhaftigkeit des Ganzen unmittelbar gefährdet ist. Indem die Geliebte Solals anfängliches Heilsgesuch – „les mains tendues vers celle qui rachetait toutes les femmes, la première humaine […]“ (BdS ‐ 41) – von Beginn an nicht zu erfüllen vermochte, unterbleibt, so war vorherzusehen, die erhoffte Erlösung. Sie zerschlägt sich an einer Welt, die das Rad der Geschichte nicht zurückdreht und in der den Liebenden – „pauvres damnés du paradis“(BdS ‐ 994) – die Heimkehr in das von Solal wiederzubeleben erwünschte Eden versagt ist. Bei Proust dagegen erweist sich das Individuum als stark genug, um den drohenden Sinn- und Vertrauensverlust abzuwenden. Marcels Glaube an die Lebenskraft des Menschen als einzig zielführender Motor aller Sinnsuche – nicht minder allgemein formuliert als Cohens finale Paradiessentenz – obsiegt: „[C] ar nos plus grandes craintes, comme nos plus grandes espérances, ne sont pas au-dessus de nos forces, et nous pouvons finir par dominer les unes et
Vgl. auch BdS ‐ 970: „Idiote qui ne devinait pas, qui ne devinerait pas ce qu’il attendait d’elle, c’était l’entendre dire que Dietsch la dégôutait, qu’il étaid laid, qu’il était bête, qu’en réalité elle n’avait jamais eu de plaisir avec lui. Hélas, elle était trop bien.“ Vgl. BdS ‐ 783: „Eh oui, elle l’avait d’avance trompé avec le Solal du premier soir, le sans éternuement du Ritz, le poétique.“
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réaliser les autres.“⁴⁴⁰ Und wo die Furcht vor dem das unwiederbringliche Schaffensende des Künstlers herbeiführenden Tod das Ende der Recherche überragt,⁴⁴¹ tut sich just dieser Tod für Solal und Ariane als letztmögliche Instanz der Sinnstiftung auf.
4.4.3.3 Der Tod der Liebenden „Usant à l’envi leur chaleurs dernières, Nos deux cœurs seront deux vastes flambeaux, Qui réfléchiront leurs doubles lumières Dans nos deux esprits, ces miroirs jumeaux“⁴⁴²
Ist eine Annäherung an die in Belle du Seigneur erzählte Liebe über das von André Breton geformte surrealistische Konzept der Amour fou,⁴⁴³ wie Claude Lanzmann sie suchte,⁴⁴⁴ begrifflich legitim? In seiner transmedial angelegten Untersuchung hat Oliver Jahraus Wesentliches über das Verhältnis dieser dem Wahnsinn verfallenen Liebe zur sozialen Ordnung gesagt, weshalb ausführlich zitiert werden soll: Und somit lässt sich über das fou, aus der Sicht sozialer Zuschreibungen, die Amour als das Negativ der Gesellschaft definieren. Und das bedeutet zunächst einmal zweierlei: Zum einen ist die Amour fou das sozial schlechterdings nicht mehr Sozialisierbare. Mit der Amour fou verliert die Gesellschaft ihre Kraft zur Sozialisation und zur Domestikation. Sie verliert ihre Macht über jene Individuen, die in der Amour fou verstrickt sind. Damit verliert aber die Gesellschaft sich. Und gleichzeitig werden dadurch die Individuen erst zu Individuen, weil sie sich aus der gesellschaftlichen Ordnungsmacht befreien. Der Mensch ist Individuum, wo er wahnsinnig ist. Und der Mensch ist Individuum, wo er liebt. Und nirgendwo sonst ist der
Proust, Le temps retrouvé. In: Proust, Recherche. Bd. 3, S. 1037. „Moi je dis que la loi cruelle de l’art est que les êtres meurent et que nous-mêmes mourions en épuisant toutes les souffrances, pour que pousse l’herbe non de l’oubli mais de la vie éternelle, l’herbe drue des œuvres fécondes, sur laquelle des générations viendront faire gaîment, sans souci de ceux qui dorment en dessous, leur ‚déjeuner sur l’herbe‘.“ Ebd., S. 1038. Baudelaire, Charles: La mort des amants. In: Les Fleurs du Mal. Œuvres complètes. Bd. 2. Bibliothèque de la Pléiade. Paris: Gallimard 1975. S. 126. Breton, André: L’amour fou. Paris: Gallimard 1937. „Exaltation et dérision à la fois, amour fou mesuré au grand mètre étalon de la mort et d’autant plus vivant.“ Lanzmann, S. 1013.
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Mensch so sehr und so intensiv Individuum, wie dort, wo er wahnsinnig liebt oder wahnsinnig geliebt wird.⁴⁴⁵
Entsozialisierung und Individualisierung: Mit diesen Stichworten ließe sich die vorgelegte Begriffsbestimmung stark verkürzt wiedergeben. Nichts präge die Amour fou mehr als die Loslösung der wahnsinnig Liebenden von der normsetzenden Gesellschaft, als die Befreiung des Individuums vom Wertekorsett einer in ihrer Entscheidungsgewalt über das Ich beschnittenen Gemeinschaft. Aber ist ein solcher von der Liebe angetriebener Ablösungsprozess auf den in Belle du Seigneur erzählten Liebesplot übertragbar? Die Antwort ist ein klares Nein, sind es bei Cohen doch nicht die Liebenden, die dem Kollektiv die Gefolgschaft verweigern, sondern umgekehrt: Als Kontrastfiguren zu den Protagonisten einer Amour fou haben sich Solal und mit ihm Ariane dem sozial auferlegten Bann zu beugen. Ohnmacht befällt hier nicht die Gesellschaft, sondern das der nationalen Gemeinschaft ausgegliederte Subjekt. Die mit Jahraus die Amour fou kennzeichnende Entzweiung von Individuum und Gesellschaft rückt Cohens Roman in eine enge Beziehung zur europäischen Historie. Auch gilt es zu sehen: Die dank der Amour fou zu Wege gebrachte Individualisierung blockiert in Belle du Seigneur die Weltwahrnehmung eines Helden, für den, so schreibt Pilarczyk klug, „eine individuelle Erlebnisebene fast unmöglich“ sei: „All seine Beziehungen zu anderen Menschen reflektiert er immer auch auf einer überindividuellen Ebene der Weltanschauungen.“⁴⁴⁶ Die von Cohen erzählte Liebesgeschichte bedarf folglich einer anderen Begrifflichkeit als der einer Amour fou, deren Hauptspielregeln sie ganz offensichtlich in grundsätzlicher Weise widerlegt. Einzig das schon den Tristanmythos beherrschende Paradoxon einer nur im Tod zu realisierenden Liebe scheint der Inbezugsetzung standzuhalten: „Man stirbt, um in der Liebe zu leben.“⁴⁴⁷ Doch ob sich dieses antithetische Diktum in Cohens Fiktion tatsächlich bewahrheitet, an dieser Frage scheiden sich in der Forschung die Geister, weshalb die finale Sterbeszene aus Belle du Seigneur eine gesonderte Betrachtung wert ist: Chancelant soudain, et un froid lui venant, il [Solal] la [Ariane] remit sur le lit, et il s’étendait auprès d’elle, baisa le visage virginal, à peine souriant, beau comme au premier soir, baisa la main encore tiède mais lourde, la garda dans sa main, la garda avec lui jusque dans la cave où une naine pleurait, ne se cachait pas de pleurer son beau roi en agonie contre la porte aux verrues, son roi condamné qui pleurait aussi d’abandonner ses enfants de la terre, ses enfants
Jahraus, Oliver: Amour fou. Die Erzählung der ‚Amour fou‘ in Literatur, Oper, Film. Zum Verhältnis von Liebe, Diskurs und Gesellschaft im Zeichen ihrer sexuellen Infragestellung. Tübingen, Basel: Francke 2004. S. 12. Pilarczyk, Narr, S. 195. Jahraus, Amour fou, S. 13.
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qu’il n’avait pas sauvés, et que feraient-ils sans lui, et soudain la naine lui demanda d’une voix vibrante, lui ordonna de dire le dernier appel, ainsi qu’il était prescrit, car c’était l’heure (BdS ‐ 999).
Das mit dem Kellerdekor und der ein letztes Mal wiederkehrenden Figur der Zwergin Rachel unzweideutig jüdisch konnotierte Totenreich tritt sinnbildhaft, so glaube ich, für jenen zeitlebens utopischen Ort der Symbiose ein, der Liebe und Judentum in eins fallen lässt. Deutlich legt das anaphorische „la garda dans sa main, la garda avec lui“ den Akzent auf jene ebenso unwirkliche wie allumfassende Form des Zusammenlebens, der das dichotomische Welt- und Selbstbild der Romanfigur im Diesseits keinerlei Existenzrecht zugestand. Nun aber kommunizieren die ineinander verschlungenen Hände jene androgyne Ganzheit, der die Liebe des Paars immer schon zustrebte und die im zitierten Baudelaire-Sonett, ausgewählt als spiegelbildlicher Paratext,⁴⁴⁸ sinnlich über den Tod jubiliert. In der Diskussion über das vom Autor gewählte Ende prallen in der Sekundärliteratur teils stark voneinander divergierende Lesarten aufeinander. Eine gänzlich andere Deutungsrichtung als die hier vertretene schlägt etwa Schaffners Interpretation der Szene ein, wonach die Liebenden im Angesicht des Todes ihrer endgültigen Trennung entgegenblickten: „[S]on union avec la morte – il lui prend la main avant de dormir – n’apparaît que comme le prélude à une séparation définitive.“⁴⁴⁹ Sekundiert wird Schaffner von Pilarczyk, die den im Tod vollzogenen Bruch mit Ariane als notwendige Voraussetzung für die Heimkehr des Helden in das jüdische Kellerverlies ansetzt: „So löscht er in gewisser Weise den Niedergang seiner Beziehung zu Ariane aus, geht zeitlich vor den teuflischen Verführungsakt mit seinen destruktiven Konsequenzen zurück und gibt sich eine neue Antwort auf sein seelisches Dilemma: Er schreibt sich ein in die Geschichte der gemarterten Juden.“⁴⁵⁰ Als unzweifelhaftes Signal für ein endgültiges Auseinanderdriften der noch im Moment des Strebens in narzisstischer Selbstglorifizierung verharrenden Protagonisten deutet auch Fix-Combe die Sterbeszene: „[C]’est eux-mêmes qu’ils retrouvent à jamais idéalisés dans le reflet d’un miroir ou le regard de l’autre […]. Et si l’amante espère enfin découvrir ‚l’amour vrai là-basʻ, Solal, la tenant par la main se tourne néanmoins vers un autre appel.“⁴⁵¹ Angesichts der bis in die Literarisierung des Todes hinein bewahrten Ästhetik der Ambivalenz plädiert Goergen für
Baudelaires Dichtung zählte Cohen zu seinen bevorzugten Lektüren. Vgl. Buenzod, archer, S. 15. Schaffner, Le goût, S. 112. Pilarczyk, Narr, S. 289. Fix-Combe, soleil, S. 115.
4.4 Die Quelle des Gartens bist Du – Lieben nach dem Paradies
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ein offenes Ende.⁴⁵² Abecassis wiederum argumentiert auf der Grundlage einer den erzählten Liebesplot vollends eliminierenden gescheiterten Selbstfindung: „The scheme of the erotic suicide is simply an intertextual Trojan Horse, which transports a specifically Jewish nightmare into the French cité des belles lettres. The relevant historical intertext of Cohen’s morbidity is more likely to be found in the biographies of Theodor Lessing, Rudolph Loewenstein, and Sander Gilman’s self-executing Jews than in Madame Bovary and Anna Karenina.“⁴⁵³ Entgegen dieser die Dichotomie Ariane-Judentum ins Jenseits überführenden Thesen plädiert Goitein-Galpérin für ein Ende der Hoffnung im Zeichen des interreligiösen Dialogs, körpersprachlich signalisiert im Gestus der ineinander liegenden Hände: „Mais il n’entre pas seul dans la cave de Rachel; il y pénètre la main d’Ariane morte dans la sienne. Sans doute faut-il voir dans ce geste le signe de la réconciliation entre le monde des Gentils et le peuple d’Israël – ce dernier figuré par le couple juif, uni dans la fidélité à la Loi.“⁴⁵⁴ Auroy schließlich dechiffriert die Sterbeszene nach dem für diese Arbeit aufschlussreichen Deutungsraster einer „fixation nostalgique de l’instant originel, dont la restauration s’opère par un mouvement de pure et simple régression.“⁴⁵⁵ Unter Berücksichtigung des von Auroy gewährten Ausblicks einer Rückkehr in den Stand der Unschuld sowie der in diesem Kapitel zusammengetragenen edenischen Narrative darf man Cohens Schreiben wohl an die Seite all jener literarischen Paradiesmetamorphosen stellen, die Ettes Konvivenzband füllen – unter ihnen der die Sehnsüchte eines unmittelbar der Rente entgegensehenden Migranten nacherzählende Roman Au pays des franko-marokkanischen Schriftstellers Tahar Ben Jelloun: Dieser, so schreibt Ette, „spielt am Ausgang seines Romans zweifellos mit der von allen großen Erzählungen kolportierten Vorstellung, dass der Mensch am Ende seines Lebens seiner Erfüllung, seines Eingangs in ein wie auch immer geartetes Paradies, teilhaftig werden möchte.“⁴⁵⁶ Mit Belle du Seigneur gerät zweifellos eine weitere jener großen Erzählungen in den Blick, die auf diesen nostalgischen Fluchtpunkt hin zulaufen.⁴⁵⁷
Vgl. Goergen, Normes, S. 218 f. Abecassis, Dissonant voices, S. 11. Goitein-Galpérin, Visage, S. 117. Auroy, quête, S. 96 f. Ette, Konvivenz, S. 56. Auch Arianes Verhalten trägt eindeutige Hinweise auf diesen Erzählverlauf, erfährt sie ihre letzten Handgriffe – die Zubereitung des Todestranks sowie den anschließenden Verzehr – doch als Hinabtauchen in das Paradies der frühen Kindheit: „Devant le lavabo, elle ouvrit le premier cachet en déchirant la mince enveloppe. Quand elle était petite, elle réclamait les feuilles blanches qu’il y avait sous le nougat, c’était un petit miracle, elles fondaient toutes seules dans la bouche. […] Elle rapprochait aussi les verres pour voir si on lui avait donné autant de sirop de poire qu’à Eliane. Souvent, elles le buvaient pur, c’était bon (BdS ‐ 995 f).“
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Sicher ist aber auch: Albert Cohens in ein paradiesisches Licht getauchtes Finale lässt eine uneingeschränkte Glückseligkeit missen. Auffällig steht Arianes jungfräuliches Antlitz zu den von Solal und Rachel vergossenen Tränen in Opposition, so dass beide kontrastiven Bildfelder – das der Trauer und jenes der Unschuld – zu einer doppelwertigen Endkomposition verschmelzen. Angesichts jener den europäischen Juden imminent bevorstehenden Katastrophe, die sich lautlos und doch hörbar durch Cohens Roman schlängelt,⁴⁵⁸ beweinen Solal und Rachel gemeinsam all jene Glaubensbrüder und -schwestern, die der vielerorts zur Erlöserfigur stilisierte Protagonist vor den Gaskammern nicht wird erretten können. Mit der die Erzählung beschließenden Aufforderung zum Gebet wird der Text einer höheren Sinndimension zugeführt, wo die dem Helden zeitlebens auf der Seele liegenden Ambivalenzen zwar vorerst ins Lot gebracht, nicht aber dauerhaft bereinigt sind.Vielleicht schwebte dem unbeirrbaren Religions- und Gotteskritiker Cohen bei der Niederschrift des fiktiven Suizids bereits der eigene Tod vor – jenes Lebensende, das der Schriftsteller in den Carnets als ebenso widersprüchlichen Einlass in die Sphäre des Religiösen beschreibt, wo Glaube und Unglaube dicht nebeneinander unvermindert weiter pulsieren: „Incrédule, oui, mais pourquoi, pourquoi alors d’entendre l’antique appel de mon peuple me fait frissonner d’amour et d’enthousiasme sacré? Écoute, Israël, l’Éternel est notre Dieu, l’Éternel est Un. C’est en hébreu que je redis cette auguste proclamation, en hébreu, moi, l’incroyant, et c’est en hébreu que je la redirai à mon heure dernière“ (C ‐ 1158). Verwandlung, Versöhnung, Erlösung: Es hat sich gezeigt, dass keine der drei bei von Matt vorgeführten Strategien der Krisenbewältigung im Schaffen des Schriftstellers produktiv wird. Literatur im Allgemeinen sowie Cohens Fiktion im Besonderen erweisen sich einerseits als der Ort, an dem ethische Problemstellungen im beweglichen, nicht arretierbaren Modus des Fragens, Zweifelns und Verwerfens generiert und bearbeitet, nicht aber zwingend gelöst werden: „Im Unterschied zu moralischen oder auch didaktischen Instrumentalisierungen des ästhetischen Textes, die ihn auf die Vermittlung einer eindeutigen Botschaft fixieren, gerät unter ethischer Perspektive der Text in die Optik des Fraglichen, des Unsicheren, des Essayistischen, des Utopischen.“⁴⁵⁹ Und sie sind andererseits der
Vgl. die bezeichnend gewählte Betitelung von Judith Kauffmanns Beitrag zur Shoah-Darstellung bei Cohen: Albert Cohen et la parole silencieuse ou comment (ne pas) écrire un roman sur la Shoa. In: Albert Cohen et la guerre. Hrsg. von Catherine Milkovitch-Rioux. Clermont-Ferrand: Presses de l’Université Blaise Pascal 1998. S. 207– 218. Zudem ist Kauffmann die Autorin eines Lexikonbeitrags zu Albert Cohen in: Holocaust Literature. An encyclopedia of writers and their work. Bd. 1. New York, London: Routledge 2003. S. 231– 234. Mayer, Mathias: Der Epilog als Signatur – eine ethische Perspektive auf Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. In: Öhlschläger (Hrsg.), Ethik, S. 145 – 157, hier S. 145 f.
4.5 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe
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Ort, an dem der Leser, um vor dieser regen Textur zu bestehen, ethische Reflexion und Entscheidungskompetenz trainieren muss. Denn: Die gescheiterte Liebe zwischen Solal und Ariane gibt den Anstoß zur vielperspektivischen Wahrnehmung sowie Interpretation eines Geschehens, das sich nicht grundlos vor einer dem Leser altvertrauten Kulisse situiert, östlich von jenem urgeschichtlichen Paradiesgarten nämlich, dessen Drama um Mensch- und Paarwerdung wenn auch immer schon gespielt, so doch brandaktuell ist. Um abschließend mit von Matt zu sprechen: „Nur wenn wir die Literatur von ihren fundamentalen Spielregeln aus lesen und beobachten, setzt sie frei, was in ihr steckt. Aber dann merken wir auch, dass das Entscheidende, was in ihr steckt, sich immer schon in uns selbst befunden hat und wir uns also beim Lesen zu Zuschauern dessen machen, was wir selber spielen.“⁴⁶⁰
4.5 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe 4.5.1 Exkurs: Romain Garys frühes Versprechen Quand nous avons dépassé un certain âge, l’âme des morts dont nous sommes sortis viennent nous jeter à poignée leurs richesses et leurs mauvais sorts, demandant à coopérer aux nouveaux sentiments que nous éprouvons et dans lesquels, effaçant leur ancienne effigie, nous les refondons en une création originale. Tel, tout mon passé, depuis mes années les plus anciennes, et, par cela celles-ci, le passé de mes parents mêlaient à mon impur amour pour Albertine la douceur d’une tendresse à la fois filiale et maternelle. Nous devons recevoir, dès une certaine heure, tous nos parents arrivés de si loin et assemblés autour de nous.⁴⁶¹
Der Grund für die Entscheidung, im Anschluss an den erbrachten Proust-Vergleich auch das Kapitel Mutterliebe mit einem Zitat aus der Recherche zu überschreiben, liegt in jenem heterogenen Gefühlskomplex, mit dem Marcel darin seine Liebe zu einer Frau beschreibt – eine Liebe, die es ihm erlaubt, die als verdorben erachtete Begierde nach Albertine mit einem gegenteiligen Empfinden, der in Kindesjahren teilhaftig gewordenen Mutterliebe, moralisch aufzuwerten. Es ist ebendieses beziehungsreich verschachtelte Bild der Liebe, das Cohens Schreiben zyklisch aufruft, indem es allem Lieben in der Gestalt der Mutter einen Ursprung zuerkennt. Die Auswahl an literarischen Werken, die post mortem eine nicht selten als problematisch erlebte Eltern-Kind-Beziehung reflektieren, ist groß, und selbst in den frühen 1960er Jahren – der für seine Subjektskepsis berühmt-berüchtigte
Von Matt, Dramaturgie, S. 159. Proust, prisonnière, S. 79.
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Nouveau Roman hat in Frankreich Hochkonjunktur – entstehen mit Simone de Beauvoirs Une mort très douce ⁴⁶² und Romain Garys La promesse de l’aube ⁴⁶³ zwei emotional ergreifende Mütterporträts.Wie stark jede Vorerwartung der Liebe, jede Vorfreude des Zusammenlebens auf jenes Urgefühl bezogen bleibt, das die vollkommene Form der Liebe als ein in Folge unerreichbares Ideal immer schon vorwegnimmt, davon berichtet der 1914 in Vilnius als Sohn einer russischen Jüdin geborene Gary in seiner 1960 publizierten Erzählung. Sie hebt auf jenes „frühe Versprechen“⁴⁶⁴ ab, das Cohen nicht nur in seiner 1954 als Buch veröffentlichten Hommage an die verstorbene Mutter verschriftlicht,⁴⁶⁵ sondern in nahezu all seinen Texten reproduziert. Da sich Gary mit einer Beziehungsform befasst, die ihrem Einfluss nach auf die Darstellung der Liebe bei Cohen als zentral zu werten ist, empfiehlt sich eine kurze Zusammenschau. Plausibel erscheint dies schon allein deshalb, da auch die Sekundärliteratur beide Autorennamen parenthetisch nebeneinanderstellt,⁴⁶⁶ was zu einer ins Detail gehenden Betrachtung anregt. Bereits die das Incipit von Garys Autofiktion⁴⁶⁷ durchziehende Metaphorik lässt sich im Vorwissen um die beginnende Geschichte einer verschwenderischen Mutterliebe als Grenzsituation des Erzähler-Ich interpretieren. Präsentiert wird dem Leser ein buchstäblich Gestrandeter, der gleich eines notgelandeten Piloten die Orientierung, ja das Gleichgewicht verloren hat: „C’est fini. La plage de Big Sur est vide, et je demeure couché sur le sable, à l’endroit même où je suis tombé.“⁴⁶⁸ Ganz am Ende der Erzählung fokussiert der in Ringform gestaltete Text den Ort des Geschehens ein zweites und letztes Mal: „Il y a bien des années, maintenant, que
Beauvoir, Simone de: Une mort très douce. Paris: Gallimard 1964. Gary, Romain: La promesse de l’aube. Edition définitive. Paris: Gallimard 1980. In Anlehnung an den Titel der deutschen Neuübersetzung: Gary, Romain: Frühes Versprechen. Aus dem Französischen von Gio Waeckerlin Induni. München: SchirmerGraf 2008. Die Buchfassung geht auf eine Vorgängerversion zurück, die der Schriftsteller unter dem Pseudonym Jean Mahan als vierteiligen Chant de mort, abgedruckt in La France libre zwischen Juni 1943 und Mai 1944, verfasste. Vgl. Grötzinger, Elvira: Le Juif imaginaire. In: Zwischen Adaption und Exil. Jüdische Autoren und Themen in den romanischen Ländern. Hrsg. von Brigitte Sändig. Wiesbaden: Harrassowitz 2001. S. 103 – 122, hier S. 115 (Fußnote 38). Eine unwesentlich breiter angelegte Inbezugsetzung findet sich bei Fix, Nathalie: La sacralisation de la maternité chez Albert Cohen. In: Albert Cohen: Visions du sacré. Cahiers Albert Cohen 4 (1994). S. 55 – 78, hier S. 77 f. Ausführlicher dagegen die Canettis Autobiografie Die gerettete Zunge mitberücksichtigende vergleichende Betrachtung bei: Egyptien, Heimatsuche, S. 105 – 116. Die von Serge Doubrovsky theoretisch konzipierte und in Le livre brisé erzählerisch erprobte Gattungsbezeichnung erweist sich für Garys hybriden Text, in dem das Erinnerte einer ausgedehnten diegetischen Formgebung unterzogen wird, als begrifflich adäquat. Vgl. Doubrovsky, Serge: Le livre brisé. Paris: Grasset 1989. Gary, promesse, S. 13.
4.5 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe
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ma chute s’est accomplie, et il me semble que c’est ici, sur les rochers de la plage de Big Sur que je suis tombé […].“⁴⁶⁹ Während der Leser anfangs geneigt ist, die zu Beginn suggerierte Strandung mit einem gescheiterten Luftmanöver des ambitionierten Kampffliegers der France Libre in Verbindung zu bringen, verleiht das Ende des Lebensberichts dem erlittenen Absturz eine gänzlich andere Wendung: Erst mit dem auf den letzten Buchseiten thematisierten Tod der Mutter zeigt sich dem Leser das Bild vom gefallenen Helden in seinem das Ganze konstituierenden Sinn: Aus dem vermeintlichen Helikopterunglück kristallisiert sich jener unsanfte Sturz heraus, den dieses Ereignis schockartig auslöste. Rückblickend muss der von Charles de Gaulle mit der Croix de la Libération honorierte Kriegsheld erkennen, dass er den widrigen Bedingungen nur im Vertrauen auf jenen unermüdlichen Zuspruch der Mutter hatte trotzen können, der ihm in Form von unzähligen, alle Kampfschauplätze des Planeten erreichenden Briefen zuteil wurde. Erst als der Krieg gewonnen ist, muss der dem Wiedersehen mit der Mutter entgegenfiebernde Sohn der schmerzhaften Wahrheit ins Auge blicken: Es waren die vordatierten Briefe einer Toten, die, dank einer ins Vertrauen gezogenen Dritten, über Jahre hinweg Kampfgeist und Lebenswillen des Soldaten gestählt hatten: „Le cordon ombilical avait continué à fonctionner.“⁴⁷⁰ Was als tragische Enthüllung endet, beginnt mit der oft selbstironisch unterlegten Schilderung des Station für Station nachgezeichneten Lebenswegs. Den Auftakt bildet ein geradezu prototypisches Mutter-Sohn-Dilemma im Spannungsfeld von Scham und Liebe. Beschrieben wird eine Abschiedsszene unter den spöttelnden Blicken der Militärkameraden. Der von Garys Mutter theatralisch eingeforderte Liebesbeweis stürzt das um seine penibel erworbene Reputation als hartgesottener Soldat fürchten müssende Ich in einen Gewissenskonflikt, der dem Mutter-Sohn-Verhältnis stets aufs Neue zusetzt: „[E]t j’entendis une fois de plus la formule intolérable, devenue depuis longtemps classique dans nos rapports: – Alors, tu as honte de ta vieille mère?“⁴⁷¹ Es folgt eine lange Analepse, in der eine solche Prüfung kein Einzelfall bleibt.Während die Alleinerziehende auf den schon in jungen Jahren zum Wunderkind erkorenen Sohn die eigenen verfehlten Ideale projiziert, reift in dem von nicht minderem Ehrgeiz erfüllten Sohn der Wunsch heran, die von der Mutter mit Würde und Erfindergeist bewältigten Strapazen wirtschaftlicher, familiärer und sozialer Art eines Tages adäquat zu kompensieren. Mit seinem 1945 erstmalig in Großbritannien gedruckten Debütroman Education européenne glaubt Gary das sich selbst abgenommene Versprechen endlich ein-
Ebd., S. 387. Ebd. Ebd., S. 16.
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lösen zu können: „Je n’étais pas devenu un héros, ni ambassadeur de France, pas même secrétaire d’ambassade, mais j’avais tout de même commencé à tenir ma promesse, à donner un sens à ses luttes et à son sacrifice, et mon bouquin, pour léger et mince qu’il fût, jeté sur le plateau de la balance, me paraissait faire le poids.“⁴⁷² Wiewohl Garys Erzählung das Jüdischsein nicht zum Thema macht, rekurriert auch sie auf jenen explosiven Moment der Ich-Bewusstwerdung, den Finkielkraut, so sahen wir, als Kernnarrativ jüdischen Schreibens verstand. In La promesse de l’aube trägt sich dieser dezisive Augenblick im Treppenhaus eines polnischen Mietblocks zu, in dem die von der Nachbarschaft argwöhnisch beäugte russische Immigrantin des illegalen Besitzes gestohlener Waren bezichtigt wird. Der Salve an Beschimpfungen hält die Verdächtigte all jene Meriten lautstark entgegen, mit denen Romain sich in naher Zukunft schmücken werde. Hierfür ernten die beiden nichts als Spott, und das über Mutter und Sohn sich ergießende Hohngelächter der Nachbarn gräbt sich unausrottbar in die kindliche Psyche ein: „Je crois qu’aucun événement n’a joué un rôle plus important dans ma vie que cet éclat de rire qui vint se jeter sur moi, dans l’escalier d’un vieil immeuble de Wilno, au n° 16 de la Grande-Pohulanka. Je lui dois ce que je suis: pour le meilleur comme pour le pire, ce rire est devenu moi.“⁴⁷³ Die erfahrene Scham aber wird zum Generator eines mit dem Alter anwachsenden Lebenswissens: „Il y a longtemps que je ne crains plus le ridicule; je sais aujourd’hui que l’homme est quelque chose qui ne peut pas être ridiculisé.“⁴⁷⁴ Derlei Denkanstöße, die Garys individuelles Schicksal auf einen die Gattung Mensch beschreibenden Sinn hin öffnen, gehören wesentlich zum Schreiben des Autors dazu. Ausgehend von dem ihm Widerfahrenen teilt der Schriftsteller mit dem Leser einen großen persönlichen Erfahrungsschatz, gewonnen, so darf man spekulieren, aus jenem singulären Blick auf die Liebe und das Leben, für den Cohen den Juden privilegiert sah. Der vielleicht schönste Aphorismus, den Gary für sein Lesepublikum bereithält, erklärt denn auch jenen Humor, den schon Cohens Essay Israël, le Juif et les romanciers français würdigend hervorhob, zur siegreichsten Waffe des Menschen: „L’humour est une déclaration de dignité, une affirmation de la supériorité de l’homme sur ce qui lui arrive.“⁴⁷⁵ Das darin pointiert zum Ausdruck gebrachte Gefühl der Erhabenheit kosten Mutter und Sohn in den skurrilsten Momenten der Erzählung aus. So verwandelt sich das tragikomische Szenario einer Pfändung, der das gesamte mütterliche Hab und Gut
Ebd., S. 374 f. Ebd., S. 53. Ebd. Ebd., S. 160.
4.5 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe
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anheimfällt,⁴⁷⁶ in ein anmutiges Schauspiel der Souveränität. Zum Entzücken der Mutter legt das vor der Schmach des Augenblicks gefeite Kind einen fesselnden Tango auf das staubbedeckte Parkett, der die Brisanz der Lage unmittelbar deeskalieren lässt: Je glissais sur le parquet, serrant étroitement la taille de ma partenaire invisible, […] et ma mère, une cigarette à la main, penchait la tête d’un côté puis de l’autre, et battait la mesure, et lorsqu’elle dut quitter le fauteuil pour le céder aux déménageurs, elle le fit presque gaiement et sans me quitter des yeux, cependant que je continuais mes évolutions savantes sur le parquet poussiéreux, pour bien marquer que j’étais toujours là et que son plus grand bien avait, en somme, échappé à la saisie.⁴⁷⁷
Romains Aufforderung zum Tanz kommt der Enthüllung eines Lebenswissens gleich, wonach die den Menschen erdrückende „LebensLast“ just in jenem Moment entschärft werden müsse, da sie ihn befalle. Dass gerade der Humor als eine solche „LebensList“⁴⁷⁸ tauge, zeigt Gary an anderer Stelle: „Instinctivement, sans influence littéraire apparente, je découvris l’humour, cette façon habile et entièrement satisfaisante de désamorcer le réel au moment même où il va vous tomber dessus.“⁴⁷⁹ Es ist frappierend, dass auch Albert Cohens Romanfiguren ihren lebenskünstlerischen Sieg über die Realität im Tanz erobern,⁴⁸⁰ wie es dem auf diese Weise der herrschsüchtigen Gattin die Stirn bietenden M. Deume gelingt: „M. Deume, resté seul, dansa une petite gigue au salon. C’était sa façon de se venger. En avant, petit père, tu as raison […]. Danser pour se venger, c’est le commencement de l’œuvre d’art. Et l’épine de rancœur et d’amertume se fleurit de rires tendres“ (M ‐ 672).⁴⁸¹ Mehr noch: Von der Romanrealität sich lösend erfüllt der Tanz in diesem Zitat gar die Funktion eines in kreativer Schaffenskraft gipfelnden Akts der Inspiration. Garys lebensbejahender Optimismus, ja Idealismus, kulminiert in der Ansicht, dass die Welt und alles Seiende den ausgewogenen Proportionen eines ästhetisch anspruchsvollen Kunstwerks zu entsprechen habe: „Je
Diese Schlüsselpassage einer Enteignung transportiert in nuce die Exilexistenz des Juden: „Il n’y avait plus qu’à faire nos valises, ce qui était une façon de parler, car les valises avaient été saisies, elles aussi, et, l’argenterie bien à l’abri, nous dûmes envelopper ce qui nous restait dans un baluchon, suivant la meilleure tradition.“ Ebd., S. 127. Ebd., S. 126. Beide Schreibweisen folgen: Ette, Konvivenz, S. 147– 191. Gary, promesse, S. 160. In Jürgen Rittes Cohen-Beitrag Dem Tod eine Pirouette drehen scheint sicherlich nicht grundlos die vitalisierende Wirkkraft des Tanzes schon im Titel auf. Später heißt es dann: „Die Kunst rächt sich für den Skandal des Todes.“ Ritte, Tod, S. 438. Auch der Hausangestellten Mariette dient der Tanz als wahrhaftiges Lebenselixir: „Sur quoi, soulevant ses jupons […] la petite vieille improvisa un cancan effréné“ (BdS ‐ 529 f.).
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croyais fermement qu’on pouvait, en littérature comme dans la vie, plier le monde à son inspiration et le restituer à sa vocation véritable, qui est celle d’un ouvrage bien fait et bien pensé.“⁴⁸² Mit dem Tod der Mutter aber bricht dieser den Sohn beflügelnde Ansporn jäh ab. Die dem Ende zuzuführende Geschichte droht eine unvollendete zu bleiben, kostet es den Schreiber doch immense Kraft, den Tod als integralen Bestandteil des makellos erdachten Werks in Schrift zu fassen: „Je devrais interrompre ici ce récit. Je n’écris pas pour jeter une ombre plus grande sur la terre. Il m’en coûte de continuer et je vais le faire le plus rapidement possible, en ajoutant vite ces quelques mots, pour que tout soit fini et pour que je puisse laisser retomber ma tête sur le sable, au bord de l’Océan, dans la solitude de Big Sur où j’ai essayé en vain de fuir la promesse de finir ce récit.“⁴⁸³ Durchzogen sind die letzten Seiten des Berichts von einem Klima der Lebensmüdigkeit, wozu der über dem reglos am Strand harrenden Ich seine Kreise ziehende Geier ein Übriges tut: „C’est fini. La plage de Big Sur est vide sur cent kilomètres, […] et lorsque je reste ainsi une heure ou deux immobile sur le sable, un vautour se met à tourner lentement au-dessus de moi.“⁴⁸⁴ Angestrengt lauscht Gary dem Ozean, getragen von der Hoffnung, das Rauschen der sanft auf- und abgleitenden Wellen möge ihm ein rückwirkend Sinnstiftung ermöglichendes Geheimnis anvertrauen: „Je l’écoute [l’Océan] très attentivement et j’ai toujours l’impression que je suis sur le point de comprendre ce qu’il cherche à me confier, que je vais enfin briser le code et que le murmure insistant, incessant du ressac, essaye, presque avec véhémence, de me dire quelque chose, de me donner une explication.“⁴⁸⁵ Momente des Glücks begreift der verwaiste Romancier als das Quasi-Privileg einer Zeit, in der die Mutter noch am Leben war: „Il m’arrive même encore d’être heureux, comme ici, ce soir, étendu sur la plage de Big Sur […].“⁴⁸⁶ Nur notdürftig vermag das ergraute Haupt des nunmehr Vierundvierzigjährigen jenes erzählte Ich zu kaschieren, das Gary ein Leben lang geblieben ist: „J’ai les cheveux grisonnants, à présent, mais ils me cachent mal, et je n’ai pas vraiment vieilli, bien que je doive approcher maintenant de mes huit ans.“⁴⁸⁷ Der Drang nach Verarbeitung des Geschehenen mündet schlussendlich in die Versuchung, alles Lieben selbst infrage zu stellen: „Sans doute n’est-il pas permis d’aimer un seul être, fût-il votre mère, à ce point.“⁴⁸⁸ Gravierender noch als die
Gary, promesse, S. 352. Ebd., S. 386. Ebd., S. 387. Ebd., S. 388. Ebd. Ebd., S. 387. Ebd., S. 388.
4.5 Mutterliebe: Sehnsucht nach der ersten Liebe
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selbst aufgeladene Schuld aber wiegt der Vorwurf an das Leben, es habe den Sohn an seinen hohen Erwartungen zerbrechen lassen – insofern, als es sein frühes Versprechen, für die Liebe der Mutter irgendeinmal adäquaten Ersatz zu finden, nie hat einlösen können. In einer nicht grundlos viel zitierten Schlüsselpassage des Werks verleiht das Erzähler-Ich dieser Enttäuschung mit schonungsloser Offenheit Ausdruck: Avec l’amour maternel, la vie vous fait à l’aube une promesse qu’elle ne tient jamais. On est obligé ensuite de manger froid jusqu’à la fin de ses jours. Après cela, chaque fois qu’une femme vous prend dans ses bras et vous serre sur son cœur, ce ne sont plus que des condoléances. On revient toujours gueuler sur la tombe de sa mère comme un chien abandonné. Jamais plus, jamais plus. Des bras adorables se referment autour de votre cou et des lèvres très douces vous parlent d’amour, mais vous êtes au courant.Vous êtes passé à la source très tôt et vous avez tout bu. Lorsque la soif vous reprend, vous avez beau vous jeter de tous côtés, il n’y a plus de puits, il n’y a que des mirages.Vous avez fait, dès la première lueur de l’aube, une étude très serrée de l’amour et vous avez sur vous de la documentation. Partout où vous allez, vous portez en vous le poison des comparaisons et vous passez votre temps à attendre ce que vous avez déjà reçu.⁴⁸⁹
Und so schlummert in dem um die Wiederkehr einer solchen Liebe betrogenen Ich nach wie vor ein Urverlangen nach Zärtlichkeit, das die zutraulichen Meerschwalben aufs Neue entfachen: „Les hirondelles de mer atterrissent parfois si près, que je retiens mon souffle et que mon vieux besoin s’éveille et remue en moi: encore un peu, et elles vont se poser sur mon visage, se blottir dans mon cou et dans mes bras, me recouvrir tout entier… A quarante-quatre ans, j’en suis encore à rêver de quelque tendresse essentielle.“⁴⁹⁰ Viele der in La promesse de l’aube ausgesprochenen Grunderfahrungen einer den Tod überdauernden Mutter-Sohn-Beziehung haben auch in Cohens Le livre de ma mère ihren festen Platz. Doch im Unterschied zu Gary erfährt der dort autorzentriert entwickelte Liebesbegriff ein eigenständiges Fortwirken innerhalb einer Prosa, die, so möchte ich zeigen, der bereits autobiografisch gelegten ethischen Richtschnur dieser Liebesform innerhalb neuer, fiktional erschlossener Reflexionsfelder weiter folgt.
Ebd., S. 38 f. Ebd., S. 13.
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4.5.2 Albert Cohens Le livre de ma mère So wie Gary das durch persönliche Anschauung gewonnene Liebeswissen einem breiteren Geltungskontext zuführt, dichtet auch Cohen die intime Selbstaussprache in ein überindividuelles Zeugnis um. Ein zeitgenössischer Kritiker resümierte: „Rares sont les livres qui réussissent à conférer à leur héros une vie singulière que tous les lecteurs peuvent saisir, prolonger et construire.“⁴⁹¹ Endgültig vollzogen wird dieser Übergang im 28. Erzählabschnitt des Le livre de ma mère, der den im zwölften Kapitel obsessiv wiederholten Klagerefrain – „Amour de ma mère, à nul autre pareil“ (Ldm ‐ 737) – zu einem das Ich transzendierenden Hymnus auf die Mutterliebe neu arrangiert: „Louange à vous, mères de tous les pays, louange à vous en votre sœur ma mère, en la majesté de ma mère morte“ (Ldm ‐ 771). Doch lässt der Autobiograf es damit nicht bewenden. Was folgt, stellt sich als der den Leser apostrophierenden Mahnruf dar, das Bewusstsein für die Sterblichkeit der Mutter wachzuhalten, damit ebendieses Todeswissen einen ethischen Maßstab setzen könne: Fils des mères encore vivantes, n’oubliez plus que vos mères sont mortelles. Je n’aurai pas écrit en vain, si l’un de vous, après avoir lu mon chant de mort, est plus doux avec sa mère, un soir, à cause de moi et de ma mère. Soyez doux chaque jour avec votre mère. Que chaque jour vous lui apportiez une joie, c’est ce que je vous dis du droit de mon regret, gravement du haut de mon deuil (Ldm ‐ 771).
Voraus geht dem emphatischen Appell die uns schon von Gary bekannte Grundsituation einer tief greifenden Trostlosigkeit, die das Incipit für das gesamte Buch verbindlich festlegt: „Chaque homme est seul et tous se fichent de tous et nos douleurs sont une île déserte“ (Ldm ‐ 701). Sämtliche der im Schreiben des Schriftstellers verarbeiteten Menschheitsthemen ordneten sich, so sieht gar Schaffner es nicht ohne Pessimismus, dieser „loi générale“⁴⁹² unter. Gefühlsverwandt zu der La promesse de l’aube ausklingen lassenden emotionalen Leere mündet auch Cohens Le livre de ma mère in die Trauer über einen unwiederbringlichen Verlust, der das Lebensrecht des Hinterbliebenen in Gefahr bringt: „Des années se sont écoulées depuis que j’ai écrit ce chant de mort. J’ai continué à vivre, à aimer. J’ai vécu, j’ai aimé, j’ai eu des heures de bonheur tandis qu’elle gisait, abandonnée, en son terrible lieu. J’ai commis le péché de vie, moi aussi, comme les autres. J’ai ri et je rirai encore. Dieu merci, les pécheurs vivants deviennent vite des morts offensés“ (Ldm ‐ 773). Radikaler noch als bei Gary bildet
Juin, Hubert. In: Critique (Dezember 1954). Zitiert nach: Cohen, Œuvres, S. 1301. Schaffner, Le goût, S. 84.
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der mit dem Tod der Mutter einhergehende Liebesentzug – „Le milliardaire de l’amour est devenu clochard“ (Ldm ‐ 740) – den Ausgangspunkt einer existenziellen Krise, die über den erfahrenen Sinnverlust hinaus das Leben und den Akt des Schreibens selbst mit dem in den Carnets wiederaufgenommenen Begriff der Sünde⁴⁹³ infiziert: „Et ces feuilles, demain je les relirai, et j’ajouterai d’autres mots, et j’en aurai une sorte de plaisir. Péché de vie. Je corrigerai les épreuves, et ce sera un autre péché de vie“ (Ldm ‐ 758). Sichtlich steht La promesse de l’aube Cohens Buch in jenem Kraftaufwand nahe, den die Verschriftlichung eines den Worten entgleitenden Todes dem Verfasser abverlangt: „[P]puisque tu veux oser le faire, parle de ta mère morte avec un faux cœur de bronze, parle calmement, feins d’être calme […]“ (Ldm ‐ 703). Ebenbildlich zu dem bei Gary unter dem ergrauten Schopf des Erzähler-Ich hervorlugenden Kind setzt das Abschiednehmen von der Mutter im Autobiografen des Le livre de ma mère vergleichbare Regressionsfantasien frei: „Je veux être le petit garçon de Maman, un petit garçon très gentil qui, lorsqu’il est malade, aime tenir le bas de la jupe de Maman assise auprès du lit. Lorsque je tiens le bas de sa jupe, personne ne peut rien contre moi. Je suis ridicule de parler ainsi, à mon âge? Que je le sois“ (Ldm ‐ 750). Gegen das unverrückbare Werden der Zeit rebelliert der Schriftsteller mit infantilem Trotz: „Je ne veux pas qu’elle soit morte“ (Ldm ‐ 761). Aus dem erzwungenen Ablösungsprozess wächst in dem Autor die Sehnsucht nach einer Kindheit empor, die mit dem mütterlichen Tod ein für alle Mal begraben wurde – eine Sehnsucht, die in Cohens aphoristischem Schreiben als allgemeinmenschliches Wunschdenken Formulierung findet: „Pleurer sa mère, c’est pleurer son enfance. L’homme veut son enfance, veut la ravoir, et s’il aime davantage sa mère à mesure qu’il avance en âge, c’est parce que sa mère, c’est son enfance“ (Ldm ‐ 712). Selbst dem Greisen der Carnets wird dieser Bemächtigungswunsch erhalten bleiben: „Dans la glace je me regarde et, si âgé que je sois, je considère l’enfant de ma mère, l’enfant que je suis en secret, l’enfant que je serai toujours“ (C ‐ 1131). Somit stößt die in Cohens Schreiben allgegenwärtige Motivik des Maskenspiels bis in den Themenkomplex des Alterns und des Todes vor: „Reste que la vieillesse, chez Cohen, paraît un masque. Si le vieillard change pour les autres, il est toujours et avant tout le jeune homme d’autrefois, l’Enfant de maman.“⁴⁹⁴ Während bei dem vaterlos groß gewordenen Romain die Anonymität des Erzeugers den Nährboden für ein fingiertes Idealporträt hergibt, dominiert in
„Péché de vie, partout et toujours“ (C ‐ 1147). Barbéris, Dominique:Y a-t-il un art de vieillir? In: Gérontologie et société 106 (2003). S. 13 – 22, hier S. 15.
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Alberts Gefühlserleben der Hass auf einen Vater, der von dem Jungen für die prekäre Gesundheit der im elterlichen Öl- und Eiergroßhandel harte Arbeit verrichtenden Mutter zur Rechenschaft gezogen wird.⁴⁹⁵ Aus der engen Mutter-SohnBindung bleibt der autoritäre Patriarch jedenfalls ein Leben lang ausgeschlossen. Diesen unterschiedlichen familiären Ausgangssituationen zum Trotz ähneln sich die resolut gefassten Vorsätze der Kinder in frappierender Weise: „Quand je serai grand“, so beteuert Albert, „je serai colonel médecin, avec une bande de velours grenat sur mon képi à cinq galons, je lui prescrirai le repos et son mari devra m’obéir“ (C ‐ 1121) – ein Versprechen, hinter dem, analog jenem Romains, der Wille zur Wiedergutmachung eines als Unrecht empfundenen Schicksals steht. Doch im Gegensatz zu den in Garys Autofiktion aufgedeckten Mechanismen sozialer Exklusion wird die im Le livre de ma mère skrupellos nacherzählte Paria-Existenz der Flüchtlingsfamilie in ein jüdisches Raster eingefasst, das über deren Geschicke entscheidet: „C’est notre spécialité maison, le malheur“ (Ldm ‐ 753). Vor dieser Kulisse mutet selbst der Tod befangen an, und dies in paradoxer Hinsicht. Denn während er die den Juden beherrschende Existenzangst zwar für immer tilgen kann, wird ebendiese Angst der nur kurze Zeit nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Marseille versterbenden Mutter zum Verhängnis: „Une pensée douce, c’est que maintenant et morte, elle n’est plus juive et qu’ils ne peuvent plus rien contre elle, plus lui faire peur. Dans son cimetière, elle n’est plus une Juive aux yeux sur la défensive, charnellement dénégateurs de culpabilité, une Juive à la bouche entrouverte par une obscure stupéfaction héritée de peur et d’attente. Les yeux des Juifs ont toujours peur“ (Ldm ‐ 753). Das am Ende des Buchs wachgerufene Szenario jenes „train de funérailles“ (Ldm ‐ 773), der die Mutter dem der Lokomotive vergebens nachlaufenden Sohn für immer entreißt, liest sich seinerseits wie das historisch verwahrte Katastrophenbild der auf den Tod zurollenden Deportationszüge des Hitlerregimes: „ce train de funérailles, ma morte décoiffée à la portière, et moi je vais derrière le train qui va, et je m’essouffle, tout pâle et transpirant et obséquieux, derrière le train qui va, emportant ma mère morte et bénissante“ (Ldm ‐ 773). In dieser Metaphorisierung – der Nachbildung im Kleinen der Perecschen „Histoire avec sa grande hache“ – kann man jenes Narrativ erkennen, das der Schriftsteller schon mit dem in Jour de mes dix ans als Konzentrationslager in Miniaturform nachgebildeten Bahnhofsabort perfektionierte.⁴⁹⁶
Noch in den Carnets erinnert sich das Ich: „[E]t je ne pardonnais pas à mon père, que je préférais appeler son mari, que je préfère encore, parfois en mon vieil âge, appeler son mari, je ne lui pardonnais pas de l’avoir obligée à une besogne qui n’était pas digne d’elle […]“ (C ‐ 1115). Im Unterschied zu der erst 1972 veröffentlichten Autobiografie Ô vous, frères humains versah Cohen den Vorgängertext mit einer Reihe von Zwischenüberschriften, darunter „un camp de
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Dem Diktat der Geschichte des Antisemitismus hat sich auch und gerade die im Le livre de ma mère geschilderte Kindheit zu beugen. Jedwedem Amüsement sozialer Natur ist darin die unauslöschliche Schmach eines beschämenden Selbstbetrugs eingemeißelt, wie Cohen es anhand der allwöchentlichen Theaterbesuche von Sohn und Mutter zeigt: „On était des rien du tout sociaux, des isolés sans nul contact avec l’extérieur. Alors, en hiver, nous allions tous les dimanches au théâtre, ma mère et moi, deux amis, deux doux et timides, cherchant obscurément dans ces trois heures de théâtre un succédané de cette vie sociale qui nous était refusée“ (Ldm ‐ 717). Über weite Partien des Buchs hinweg setzt sich das wenig schmeichelhafte Porträt einer chronisch einsamen Fremden durch, deren ganzer Stolz sich auf Mann und Sohn – „ses deux buts de vie“ (Ldm ‐ 704) – sowie auf die kärglich möblierte Mietswohnung – „juif royaume et sa pauvre patrie“ (Ldm ‐ 704) – konzentrierte: „Ne fréquentant personne, elle fréquentait son appartement. L’après-midi, après avoir terminé ses tâches ménagères, elle se rendait visite à elle-même. […] Elle a été une isolée toute sa vie, une timide enfant dont la tête trop grosse était collée avidement à la vitre de la pâtisserie du social“ (Ldm ‐ 723). Mit dem Stigma der Zwangsklaustration belegt Cohen ferner all jene sonntäglichen Picknicke am Meer, über denen das Damoklesschwert einer aufoktroyierten Zweisamkeit hing: „Et on se mettait à manger poliment, à regarder artificiellement la mer, si dépendants l’un de l’autre. […] on parlait, heureux […] mais avec quelque tristesse secrète, qui venait peut-être du sentiment confus que chacun était l’unique société de l’autre“ (Ldm ‐ 718). Und gar die Mutter-SohnKommunikation hielt streng auf derlei Täuschungsversuche: „Nous parlions beaucoup pour nous dissimuler que nous nous ennuyions un peu et que nous n’étions pas tout à fait suffisants l’un à l’autre“ (Ldm ‐ 719). Zu diesen im Beisein der Mutter erlebten Momenten der Einsamkeit kehrt das auf Wiederannäherung an die Tote hoffende Ich zurück: „Que ce malheur partagé, et jusqu’à présent inavoué, peut m’unir à ma mère“ (Ldm ‐ 717). Zu einer Zerreißprobe für das Mutter-Sohn-Verhältnis wurde nicht nur der mit gespielter Selbstgenügsamkeit ertragene soziale Ausschluss, sondern auch jene genealogisch weitergereichte mütterliche Andersartigkeit – „sa gaucherie héréditaire“ (Ldm ‐ 726) –, die Louise Coen erfolglos zu unterdrücken suchte: „Devant mes amis, elle essayait de réprimer ses gestes orientaux et de camoufler son accent, à demi marseillais et à demi balkanique, sous un murmure confus qui se voulait parisien. Pauvre chérie“ (Ldm ‐ 724). Passagen wie diese charaktericoncentrat-ion en miniature.“ Vgl. hierzu auch Schaffner, Le grandiose, S. 82 f. Der symbolkräftige Vergleich blieb auch der Endversion erhalten: „Ce petit […] le camelot l’avait à jamais maudit d’étrangeté, l’avait à jamais envoyé dans un invisible camp de concentration, un camp miniature, je sais, un camp de l’âme seulement“ (Ô vous ‐ 1064).
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sieren das im Le livre de ma mère einer ambivalenten Rückschau unterzogene Zusammenleben als vom Schamgefühl des Sohns befleckt. Diese schon bei Gary expositionsartig dargelegte Dialektik von Zuneigung und Scham wird für Cohens Romanfigur Solal zum Dreh- und Angelpunkt eines gespaltenen Seelenlebens. Über das Verhältnis Solal-Isolde heißt es hierzu in Belle du Seigneur: „Pauvre bonne chérie. Oui, il la chérissait comme une mère, et elle lui répugnait comme une mère“ (BdS ‐ 458). In das der Mutter gesetzte literarische Denkmal fließen die mit dem Tod zutage geförderten Schuldkomplexe auf die Cohen eigene direkte Weise ein. Es kommt zur offenen Rebellion gegen das narzisstische Ich, die dem Vorwurf, die Mutter zu Lebzeiten unentschuldbar vernachlässigt zu haben, selbstdestruktive Züge verleiht: „Ô cruauté de jeunesse. Bien fait que je souffre maintenant. Ma souffrance est ma vengeance contre moi-même“ (Ldm ‐ 746). Nach eigenem Bekunden des Autors sei dieses Schuldempfinden für die Genese des Buchs mitverantwortlich gewesen.⁴⁹⁷ Doch stehen die in den zitierten Textpartien sichtbar werdenden Dissonanzen als nur eine Facette des Zusammenlebens all jenen Erinnerungen diametral gegenüber, die den amour maternel als Liebe ohnegleichen evozieren – als eine Liebe, die auf jedwede Form von Selbstinszenierung unbeschadet verzichten könne: „Avec les plus aimés, amis, fille et femmes aimantes, il me faut un peu paraître, dissimuler un peu. Avec ma mère, je n’avais qu’à être ce que j’étais, avec mes angoisses, mes pauvres faiblesses, mes misères du corps et de l’âme. Elle ne m’aimait pas moins“ (Ldm ‐ 744). Dieses Bekenntnis der Blöße ergänzte der Schriftsteller Jahre später mit den Worten: „J’étais moralement nu devant elle.“⁴⁹⁸ Je mehr Schwäche das Ich zeige, desto höher, so die paradoxe Gleichung, sein Eigenwert: „Et plus nous sommes faibles et plus elles [nos mères] nous aiment“ (Ldm ‐ 737). Dem mit de Rougemont seit Tristan altgedienten Bündnis zwischen Liebe und Narzissmus⁴⁹⁹ bliebe die Mutterliebe von Grund auf fern: „Toutes les autres femmes ont leur cher petit moi autonome, leur vie, leur soif de bonheur personnel, leur sommeil qu’elles protègent et gare à qui y touche. Ma mère n’avait pas de moi, mais un fils“ (Ldm ‐ 742). Assoziierte Cohen den Geniebegriff anderenorts mit sensibler Künstlerschaft, so verknüpft er ihn hier mit der Mutterliebe: „Mais ce que je sais encore, c’est que ma mère était un génie de l’amour. Comme la tienne, toi qui me lis“ (Ldm ‐ 743). Ihre größte Faszinationskraft aber schulde diese Liebesform der in den Augen der Mutter, Gebärerin allen Menschenlebens, aufleuchtenden Gottespräsenz: Vgl. Cohen im Interview mit Franck Jotterand. Radio Télévision Suisse (2. Januar 1974). Radio Télévision Suisse (1. Januar 1970). „C’est un narcissisme mystique, mais qui s’ignore, naturellement, et qui croit être un vrai amour pour l’autre.“ De Rougemont, L’Amour, S. 11.
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„Dans ses yeux, il y a une folie de tendresse, une divine folie. C’est la maternité. C’est la majesté de l’amour, la loi sublime, un regard de Dieu. Soudain, elle m’apparaît comme la preuve de Dieu“ (Ldm ‐ 769). Mit dieser Sublimierung der Mutterschaft tritt Cohen, so scheint mir, wieder einmal in den Dialog mit der biblischen Tradition, deutet die schwangere Eva doch schon ihrem Namen nach auf die ihr etymologisch eingeschriebene Generationenfolge hin:⁵⁰⁰ „Der Mensch nannte seine Frau Eva, denn sie sollte die Mutter aller Menschen werden“ (Gen 3,20). Für die mit Blick auf Cohen in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiche Philosophie Lévinas’ wurde diese urgeschichtlich ableitbare Überhöhung der Maternität prägend.⁵⁰¹ In Difficile liberté unterstreicht der jüdische Denker die religiöse und sozialethische Relevanz einer Mutterschaft – „Sinnbild für das Tragen, das Aushalten, das Erleiden“⁵⁰² –, die sich nicht auf den Mikrokosmos Familie beschränke, sondern darüber hinaus als Zeichen der Liebe Gottes unter allen Menschen Schöpferisches leiste: „La maternité se subordonne dans l’interprétation rabbinique de l’amour à une destinée humaine qui déborde les ‚joies de la familleʻ: il faut accomplir Israël, ‚multiplier l’image de Dieuʻ inscrite sur le visage des humains.“⁵⁰³ Bemerkenswert ist, dass auch Cohen auf diese theologische Sinndimension der Mutterschaft eingeht: „Elle [ma mère] est un peu ridicule d’avancer ainsi péniblement, le bras en balancier, mais je l’admire, cette maladroite aux yeux fastueux, Jérusalem vivante“ (Ldm ‐ 732). Cohens synekdochische Gestaltung der Mutterfigur – „fille de la Loi de Moïse, de la Loi morale“ (Ldm ‐ 705) – ist mit all jenen Werkpassagen zusammen zu denken, die das mosaische Gesetz mit Weiblichkeit in Verbindung bringen, wie es in Belle du Seigneur aus Solals Blickwinkel geschieht: „[J]’aime que mes frères les Juifs pieux des ghettos j’aime qu’ils donnent des noms étincelants à leur Loi et qu’ils l’appellent la Fiancée la Couronne“ (BdS ‐ 903 f.). In dem zitierten Monolog tritt das jüdische Gesetz sodann in gleich zweifacher Feminisierung hervor, in einem Atemzug apostrophiert als Mutter und Verlobte: „la Mère et Fiancée parée d’or“ (BdS ‐ 905). Neben dem Gesetz erhält auch die Mutter bei Cohen das erstrebenswerte Attribut der „éternelle fiancée“ (Ldm ‐ 736). Mit diesem ersten Hinweis soll übergeleitet werden zur hybriden Poetik der Liebe im Werk des Schriftstellers.
Zur Namenssymbolik vgl. auch Böttrich [u. a.], Adam, S. 27. Vgl. Gürtler, Sabine: Der Begriff der Mutterschaft in ‚Jenseits des Seins‘. Zur phänomenologischen Begründung der Sozialität des Subjekts bei Emmanuel Lévinas. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42/4 (1994). S. 653 – 670. Staudigl, Barbara: Emmanuel Lévinas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. S. 90. Lévinas, Difficile liberté, S. 59.
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4.5.3 Von Müttern und Geliebten Von der in Cohens Schreiben auf mehreren Ebenen beobachtbaren Ästhetik der Verklammerung – Verklammerung der Gattungen, der Geschlechter, der Kulturen und Religionen – sind die verschiedenen Spielarten der Liebe nicht ausgenommen. Rufen wir uns die eingangs zitierte Passage aus Prousts Recherche ins Gedächtnis: Kennzeichnend war dort das komplexe Ineinanderverschlungensein von sich kreuzenden Liebeskonzepten, von wechselseitig aufeinander verweisenden Charakteren. Cohen selbst hob den ethischen Mehrwert eines derart komplex geschichteten Liebesmodells hervor: Je ne veux pas être un mystique d’un amour éthéré qui, dès le début, commence ainsi. Nous sommes des pauvres êtres de nature, en fin de compte. L’attrait sexuel est une chose qui existe. C’est, en quelque sorte – ce doit être en quelque sorte – le commencement de quelque chose qui doit changer ensuite. Et […] c’est l’hameçon pour attirer la femme et pour que l’homme soit attiré […]. La beauté et la grandeur, c’est que cet attrait sexuel fasse assez rapidement place à quelque chose de beaucoup plus important, au véritable amour – pas à la passion, que je déteste. […] Seulement, ô merveille! ô miracle! une fois que deux êtres ont été attirés par la chair, s’ils sont dignes de cela – et il y en a beaucoup – vient alors le véritable amour. Et cet amour-là, voyez-vous, est très proche de l’amour maternel et de l’amour filial, parce qu’à ce moment-là, le miracle qui peut se produire, c’est que celle qui a été au début attirée par la passion et par les charmes et les gloires de la sexualité, cette épouse, devienne à la fois la mère et la fille, et que lui devient à la fois le père et le fils. Et, plus que cela, qu’elle devienne aussi la sœur et le frère et l’ami […].⁵⁰⁴
Erst das Zusammenspiel von erotischer Anziehungskraft und der aus diesem Bann stufenweise sich entwickelnden tieferen Zuneigung bilde das unentbehrliche Fundament einer auf Dauer gestellten Bindung. Es fällt auf: Eine Aussparung alles Sinnlichen, wie Solal sie mit dem ersten Verführungsversuch unter der Maske des Alten zu erzwingen gedachte, sieht dieses mehrgleisige Modell nicht vor. Spuren der beschriebenen Verzahnung finden sich schon früh in der Autorenvita, genauer gesagt in den von Yvonne Imer an den Verlobten adressierten Briefen, deren mütterlichen Unterton Bella Cohen in ihrer Biografie ausdrücklich erwähnt: „Le ton maternel […] on le retrouve souvent dans les lettres d’Yvonne Imer.“⁵⁰⁵ Dieses Schema der Kopplung übernimmt ein fiktionaler Liebesdiskurs, der Mutter- und Geschlechtsliebe entgegen ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit, so die These, zur Versöhnung führen möchte. Am Beispiel der vom Helden sukzessiv geliebten Frauen wird erkennbar, dass die zwischen Mann und Frau anwachsende Liebe
Cohen, Bella, Albert Cohen, S. 22 f. Ebd., S. 63.
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ohne die Mutterliebe als deren privilegiertem emotionalen Referenzpunkt weder denk- noch lebbar ist. Zu zeigen sein wird außerdem, mit welcher ihm wesenseigenen Ambivalenz Cohens Protagonist diese gegenseitige Bezogenheit erfährt. Der Sphäre des Mütterlichen lässt sich Solals erste Geliebte, so sahen wir, leicht zuordnen: „Elle était sa mère, disait-elle“ (S ‐ 127) – ein Empfinden, das in dieser Beziehung noch als direkte Folge der beträchtlichen Altersdifferenz zwischen Adrienne und dem Helden geltend gemacht werden kann. Doch auch im Gefühlserleben der jungen Aude schiebt sich das Bild des bedingungslos geliebten Sohns vor das des zu liebenden Ehemanns: „Mon enfant confie-toi à moi je saurai t’aimer toujours“ (S ‐ 269). Diese noch vergleichsweise spärlich gesetzten Indikatoren des Mütterlichen nehmen all jene Gefühlslagen vorweg, die im Verhältnis Ariane-Solal eine dominante Rolle spielen werden. So ist schon Solals zweite Verführungstaktik, bewiesen in der Rolle des kühl kalkulierenden Libertins, eine herausragende Demonstration jenes platonischen Idealbilds der Liebe, das alle donjuanesken Züge noch im Vollzug der Verführung reprimiert: „Or, j’avais besoin de sa tendresse, cette tendresse qu’elles ne donnent que si elles sont en passion, cette maternité divine des femmes en amour“ (BdS ‐ 364). Es bleibt die berechtigte Frage, woher der Held sein positives Mutterbild bezieht, besteht doch eine augenfällige Asymmetrie zwischen dem vor Ariane preisgegebenen Zärtlichkeitsverlangen und der im Text ungeschönt ins Bild gesetzten Wirklichkeit.⁵⁰⁶ Die vom Erzähler in den denkbar nachteiligsten Zügen porträtierte Mutter flößt dem Sohn jedenfalls nichts als Abscheu ein: „Rachel Solal, une épaisse créature larvaire qui se mouvait avec difficulté et dont les yeux faux luisaient de peur ou de désir […]“ (S ‐ 97). Den Fortgang der Passage bestimmt – konform zur Freudschen Lehre – die mit Ekel verdrängte Vision der tabuisierten elterlichen Lust: „Parfois […] son regard allait du père à la mère, tâchant de deviner leurs pensées et repoussant les images odieuses du père et de la mère dans la couche nocturne“ (S ‐ 97). Nur wenige Seiten später gerät die für ihren Klarblick in Verruf gebrachte Mutter erneut in einen negativen Fokus: „Pourquoi avait-il de la répulsion pour cette femme qui le considérait avec une odieuse clairvoyance?“ (S ‐ 109). Unstimmigkeiten wie diese baut der Text nicht ab, und dennoch kennzeichnet die Romane eine ausgeprägte Relation der Unschärfe zwischen Mutter- und Geschlechtsliebe. Die im Le livre de ma mère aus Gründen der Schuld noch antithetisch voneinander abgegrenzten Kategorien Sinnenlust und Mütterlichkeit verknüpft die Fiktion zu einem Antagonismen überwindenden Ganzen, so dass viele der im autobiografischen Nur ein einziges Mal, als der Held im Angesicht des Todes seine Kindheit in guter Erinnerung behält, rücken die Romane Rachel Solal in ein positives Licht: „[C]e soir exquis lorsque j’étais un écolier de dix ans et que j’avais commencé avec tant d’enthousiasme et d’inutile foi un cahier neuf auprès de ma mère paisible qui regardait son petit garçon amoureusement“ (BdS ‐ 903).
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Duktus nachgezeichneten Beziehungsmuster darin wiederkehren. Diesen textund figurenübergreifenden Merkmalen gilt es im Einzelnen zu folgen. Was Louise Coen bemerkenswert macht, ist ihre geduldvolle Art und Weise, der Heimkehr von Sohn und Vater entgegenzusehen. Von entsprechend großer Bedeutung sind im Le livre de ma mère Narrative des langen Wartens, wie der Text sie am Beispiel des im Kreis der Familie begangenen Sabbatfests inszeniert: „Ayant fini d’orner pour le sabbat son humble appartement qui était son juif royaume et sa pauvre patrie, elle était assise, ma mère, toute seule, devant la table cérémonieuse du sabbat, et, cérémonieuse, elle attendait son fils et son mari. Assise et se forçant à une sage immobilité pour ne point déranger sa belle parure, […] ma vieillissante mère attendait ses deux buts de vie, son fils et son mari“ (Ldm ‐ 704). Das augenscheinliche Defizit des Augenblicks – die Absenz zweier Familienmitglieder – behebt der Text durch eine von unermesslicher Vorfreude geprägte Zeiterfahrung, so dass an dem für Sohn und Vater feierlich gedeckten Tisch der Modus des Wartens die eigentliche Handlung generiert. In Belle du Seigneur wird dieses Narrativ entlang einer ganzen Serie an Situationen reproduziert – Augenblicke des vermeintlichen Stillstands, die Ariane als beglückend wahrnimmt: „Attentes, ô délices attentes dès le matin et tout le long de la journée, attentes des heures du soir, délices de tout le temps savoir qu’il arriverait ce soir à neuf heures, et c’était déjà du bonheur“ (BdS ‐ 415). All jene Momente des Müßiggangs, in denen die Solals Ankunft entgegenfiebernde Ariane reglos auf dem Sofa sitzt, um ihre makellose Schönheit unversehrt zu lassen,⁵⁰⁷ lesen sich wie die Ausdehnung des mütterlichen Harrens in die Fiktion. Während Ariane die Wartezeit mit zahllosen Ritualen der Körperhygiene zu füllen weiß,⁵⁰⁸ untergräbt Cohens Mutter die Negativität des Wartens mit den Vorbereitungen für das religiöse Festmahl, wobei die Erzählerstimme beiderlei als ineffizient erachteten Maßnahmen – sei es das regelmäßige Beklopfen der in der Pfanne vor sich hin brutzelnden Fleischklöße oder das endlose Bürsten der Haarpracht⁵⁰⁹ – mit zärtlichem Spott belächelt: „De temps à autre, elle allait à la cuisine faire, de ses petites mains où brillait une auguste alliance, d’inutiles et gracieux tapotements artistes avec la cuiller de bois sur les boulettes de viande qui mijotaient dans le coulis grenat des tomates. […] Naïfs tapotements de ma mère en sa cuisine, tapotements de la cuiller sur les boulettes, ô rites, sages tapotements tendres et mignons, absurdes et inefficaces […]“ (Ldm ‐ 705).
Vgl. BdS ‐ 424 u. 636 f. Vgl. BdS ‐ 587 u. 416 – 418. Vgl. BdS ‐ 636 u. 638.
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An die Thematik des Wartens schließt sich in beiden Fällen eine Motiverweiterung ins Religiöse an. In ihrer stark ausgeprägten Neigung, den anderen Gott gleich zu verehren, steht Ariane, „religieuse d’amour“ (BdS ‐ 412), auffällig jener Mutter nahe, über die Cohen mit deutlich vernehmbarer Kritik in der Stimme schreibt: „Elle perdait tout jugement quand il s’agissait de son fils. Elle acceptait tout de moi, possédée du génie divin qui divinise l’aimé, le pauvre aimé si peu divin“ (Ldm ‐ 737). Für das Romanschaffen des Autors wurde diese Sakralisierung der Liebe und des Liebesobjekts, die von Matt nicht grundlos einen „rauschenden Pantheismus“⁵¹⁰ nennt, bekanntlich titelgebend: „[J]e suis donc la belle du seigneur“ (BdS ‐ 606). Und weiter heißt es bei von Matt: „Wer in so fundamentalem Sinn von ‚der Liebeʻ spricht, der setzt jedesmal einen Akt der Gottesbeseitigung.“⁵¹¹ Niederschläge einer solchen Eliminierung Gottes finden sich in Belle du Seigneur zuhauf; streckenweise liest sich der Roman wie eine blasphemische Entmachtung des Allmächtigen: „Ou bien, si c’était un sermon du dimanche à la radio, et si le pasteur disait qu’il fallait se consacrer à Son service, elle [Ariane] approuvait de toute âme. ‚Oui, oui, à votre service, mon chéri!ʻ, s’écria-t-elle […]“ (BdS ‐ 420). Bis in die denkbar belanglosesten Gegenstände des Alltags hinein bahnen sich diese pietätlosen Liebesschwüre ihren Weg: „Elle esquissa une génuflexion devant le sofa, autel de leur amour“ (BdS ‐ 439). Ausgerechnet den von Solal im Aschenbecher zurückgelassenen Zigarettenstummel hüllt der Erzähler ironisierend in die Aura des Sakralen: „mégot sacré“ (BdS ‐ 438).⁵¹² Wunder nimmt es da nicht, dass der Held derlei Ehrerbietungen die von ihm erwartbaren ambivalenten Gefühle zollt, im steten Pendeln zwischen Hochachtung und Zynismus. Erneut sind es die Ansprüche des kritisch reflektierenden Beobachters, die nicht mit denen des unhinterfragt Liebenden synchronisierbar sind: „‚Mon sacréʻ, lui avait-elle dit un jour en le déshabillant doucement. – ‚Massacréeʻ, lui avait-il répondu intérieurement. Pauvre vengeance“ (BdS ‐ 818). Vornehmlich am Beispiel des vom Helden mit zunehmendem Sarkasmus kommentierten Ge-
Matt, Peter von: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1996. S. 212. Ebd., S. 213. Vor dem Hintergrund der folgenden Anekdote gewinnt diese ungewöhnliche Begriffsverknüpfung noch an Drastik. Den besonderen Stellenwert der mit dem Massenmord des Holocaust assoziierten Asche hochschätzend besaß Albert Cohen zwei Aschenbecher: einen für die wertvolle Asche, den anderen für die als niederes Abfallprodukt geltenden Stummel. Vgl. Lanzmann, Claude: ‚Belle du Seigneur‘ d’Albert Cohen. In: On n’a pas fini d’en lire. France-Inter (11. August 2012).
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schlechtsverkehrs muss der Leser zur Kenntnis nehmen, wie absurd, ja schauderhaft⁵¹³ sich diese Liebe für Solal ausnimmt: Dans la pénombre, les yeux mi-clos, elle le considérait, lui souriait, et soudain il eut peur de ce sourire, […] peur de cette femme qui attendait, […] peur de ce sourire d’un seul vouloir. Étendue, douce et magicienne, elle avait son sourire d’attente dans la diffuse rougeur sombre, silencieusement l’appelait, aimante, effrayante. […] dangereusement voulait tout de lui, voulait sa force et s’en nourrir, l’aspirait, aimant vampire, voulait le garder dans le monde obscur (BdS ‐ 713 f.).
In der Beschreibung einer am Leib des Mannes sich mit Gier erlabenden Vampirin scheint Cohen in ein intertextuelles Spiel mit einem seiner bevorzugten Autoren zu geraten. Die Rede ist von Baudelaires Métamorphoses du vampire. ⁵¹⁴ Diese Verschiebung der Geliebten ins Grauenvoll-Groteske steht in drastischer Opposition zu all jenen Porträtierungen, die Ariane als mütterlich liebende Bezugsperson erfassen. Dem schlafenden Solal hinterlässt sie die Zeilen: „Je suis attendrie et fière comme une mère lorsque tu te laisses enchanter, comme tout à l’heure quand j’ai fait les petites passes libellules dans le dos. Aimé, je me retenais de te couvrir de baisers. Je crois quelquefois que tu ne sais pas combien je t’aime“ (BdS ‐ 454). Anderenorts obliegt die Stilisierung zur Mutterfigur dem Erzähler: „Ce même soir, il [Solal] se fit une très légère coupure au doigt. Si contente alors de le soigner, de mettre de la teinture d’iode, de lui faire un pansement sur lequel elle déposa ensuite un baiser, en bonne mère“ (BdS ‐ 428). Entlang der vertikalen Vater-Tocher-Achse artikuliert auch Solal seine Gefühle gegenüber Ariane: „mon enfant Ariane“ (BdS ‐ 872).⁵¹⁵ Geschieht dies auf der Handlungsebene inmitten des Geschlechtsakts, so klafft der Zwiespalt des Helden erst in seiner ganzen Tiefe auf: „Ma petite fille, mon enfant, lui disait-il en son âme tandis que tristement il la maniait comme une femme“ (BdS ‐ 748). Einen heterogenen Gefühlskomplex, gespeist aus zärtlicher Zuneigung und Erotik, vermag der Liebende weder sich selbst noch Ariane zuzugestehen. Eine zweite Szene, die diese Problematik ad absurdum führt, erweist sich in diesem Kontext als vielsagend: Als Solal beim gemeinsamen Mittagsdessert dazu ansetzt, aus Orangenschalen, Streichhölzern und einem Meer aus Schlagsahne
„[C]hérie ton organe me fait peur m’a fait peur quand nue tu t’es penchée pour ramasser […]“ (BdS ‐ 873). Die Zeilen, auf die ich anspiele, lauten: „Quand elle eut de mes os sucé toute la moelle, / Et que languissamment je me tournai vers elle / Pour lui rendre un baiser d’amour, je ne vis plus / Qu’une outre aux flancs gluants, toute pleine de pus!“ Baudelaire, Charles: Les métamorphoses du vampire. Pièces condamnées tirées des ‚Fleurs du Mal‘. In: Œuvres. Bd. 2, S. 159. Vgl. auch BdS ‐ 461: „Ariane, son ravissement enfantin lorsqu’il louait sa beauté […]“ u. BdS ‐ 976: „son adorable petite fille.“
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Miniatur-Eisfrachter nachzubauen, wird zweierlei schnell ersichtlich: Nicht nur misstraut der Held Arianes kindlichem Entzücken: „[I]l lui lança un regard soupçonneux. Mais non, elle était sincère, elle admirait vraiment“ (BdS ‐ 749). Nein, wiewohl sämtlicher erotischer Nuancierung beraubt verlockt selbst dieser Augenblick Solal dazu, Arianes Liebe alleinig von der Macht des Sexuellen her zu denken – ein Zusammenhang, der gerade in der Eifersucht, so sahen wir, das wahre Ich der Heldin schlichtweg übergeht: „Ô imbattable amour d’une femme, étrange pouvoir du sexuel“ (BdS ‐ 749). Dass Arianes Liebe sich eben nicht in purer Leiblichkeit erschöpft, beweist wiederum ihr eindringliches Ehrenwort, Solal unabhängig jedweder körperlichen Beeinträchtigungen zu lieben⁵¹⁶ – ein Versprechen, das die vom Helden gewissenhaft gehorteten Fehleinschätzungen grundlegend demontiert und ihn, wenn auch nur für die Dauer eines Augenblicks, merklich aus der Fassung bringt: „Il s’assit, décontenancé. La flèche avait porté. Zut, voilà qui était de l’amour tout de même. Il se gratta la tempe, fit des grimaces de va-et-vient ave sa bouche fermée, s’assura de l’existence de son nez, l’interrogea“ (BdS ‐ 782).Wir haben es hier, so glaube ich, mit einer Schlüsselpassage des Romans zu tun, deren Bedeutung am familiären Sprachregister keinen Schaden nimmt. Erkennbar wird: Ebenso rasch wie der Held die Contenance verlor,ward sie wieder retabliert. Da Solal die unverrückbare Position eines sozial geächteten und zu ächtenden Juden besetzt – was prompt mittels Befühlen der eigenen Nase physiognomisch erhärtet wird – haben die Gefühle einer Calvinistin, adlig noch dazu, weit von jenem Idealtyp abzuweichen, den der Verführer gegenüber Ariane verteidigte: „[L]es femmes, merveilles de la création, toujours vierges et toujours mères […] annonce et prophétie de la sainte humanité de demain, humanité enfin humaine […]“ (BdS ‐ 370). Doch gibt schon Solals Verführungsmonolog eine Vorahnung davon, welch widersprüchlichen Impulsen das Frauenbild der Romanfigur, „écartelée entre innocence maternelle et souillure sexuelle“⁵¹⁷, zu unterliegen hat. Skepsis und Faszination gegenüber der mütterlichen Liebe gehören wesentlich zu Solals ambivalentem Gefühlserleben dazu. Tritt diese Liebe einerseits als Glücksversprechen auf „douceur“ und „sensibilité“ (BdS ‐ 349 f.) hervor, so erfährt sie andererseits eine starke Wertminderung, indem der Held seinem
„– Pourquoi ton aimé si sans jambes ni doigts de pied? Pourquoi tellement ton aimé? – Parce que je t’ai donné ma foi, parce que tu es toi, parce que tu es capable de poser des questions aussi folles, parce que tu es mon inquiet, mon souffrant“ (BdS ‐ 782). Im Kontext dieser und anderer Passagen ist Simone de Beauvoirs Lesart, wonach Arianes Liebe einzig und allein um ein ritualisiertes Schauspiel kreise, ausdrücklich entgegenzutreten: „Ariane l’entoure de tant de rites et de cérémonies qu’elle ne laisse pas de place à la vraie tendresse.“ Beauvoir, Simone de: Tout compte fait. Paris: Gallimard 1972. S. 180. Fix-Combe, soleil, S. 114.
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fiktiven Dialogpartner nahelegt, sie zu Verführungszwecken zu missbrauchen: „Oui, bien sûr, Nathan, sois viril et cruel, mais si tu veux être aimé à la perfection, tu dois en outre faire surgir en elle la maternité. Il faut que sous ta force elle découvre une once de faiblesse. […]. Bref, neuf dixièmes de gorille et un dixième d’orphelin leur font tourner la tête“ (BdS ‐ 382). Gravierender noch: Während Ariane die in ihr schlummernden Neigungen im weiteren Handlungsverlauf fortschreitend aktiviert, geht der Held zu dieser paradoxerweise als unangenehm befundenen Affektion spürbar auf Distanz: „[T]andis qu’elle continuait son maternel manège des doigts promenés traçant maintenant sur l’épaule des slaloms d’engendreurs d’épouvantables chairs de poule“ (BdS ‐ 721). Doch entgegen aller ihm signalisierten Zuneigung fühlt sich Solal – „éternellement fils de la femme“ (BdS ‐ 349) – um mit der Mutterliebe verwandte Gefühle geprellt. Die Ernüchterung darüber, Arianes Sexualtrieb machtlos ans Messer geliefert zu sein, führt ihn zur Vortäuschung einer Hepatitis – wohl aber in dem Wissen, dass die kurzzeitige geschlechtslose Phase der Regeneration alsbald wieder einer der Lust weichen wird: „La vie d’amour allait recommencer, la prêtresse aux muscles maxillaires remplaçant la gentille mère“ (BdS ‐ 821). Das Widersprüchliche daran ist: In diesem simulierten Zustand des erotischen Aufschubs erwecken beide Liebenden den Eindruck, durch und durch glücklich zu sein: „Lui, il était heureux de la sentir heureuse“ (BdS ‐ 821). Die Welt als Bühne, das Leben als Bühne, die Liebe als Bühne: Abermals bedient sich Cohen eines in der Literaturgeschichte viel variierten Topos, dem das Schaffen des Autors eine nicht minder facettenreiche Ausdrucksfülle abringt.⁵¹⁸ Spätestens von diesem Zeitpunkt an wird immer deutlicher, dass Cohens Protagonisten der Zugriff auf einen authentischen Dialog, der hier wie anderenorts versagt, entzogen bleibt. Das einzige Textmuster, das diesem kommunikativen Manko adäquat entsprechen kann, ist der innere Monolog, sind die Romanfiguren doch nur im stillen Selbstgespräch zu jener beneidenswerten Transparenz befähigt, die dem Dialog abhandenkam. Und so unterdrückt Solal sein Verlangen nach Zärtlichkeit – „oui fils fils à jamais ô merveille“ (BdS ‐ 916) – in einem stummen Hilfeschrei: „ô chérie chérie pouvoir enfin être tendre sans danger sans crainte que tu ne trouves monotone ma tendresse sans crainte que tu n’y voies un signe de faiblesse de cette faiblesse qu’elles méprisent […]“ (BdS ‐ 915 f.). Dass diese Spirale des Schweigens schon beizeiten zu durchbrechen gewesen wäre, dem sei textimmanent, so hat Schaffner gezeigt, leicht nachzugehen. Den Verführungskünsten des Helden schenke die über weite Strecken unberührt bleibende Ariane je-
Vgl. Caraïon, Marta: Simulations et dissimulations. In: Albert Cohen et la tradition littéraire, S. 91– 105.
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denfalls erst dann Beachtung, als der geflissentlich seinen Charme kultivierende Solal⁵¹⁹ das Verstellungsspiel kurzzeitig aussetze und in infantilen Intermezzi Authentizität riskiere: „La séduction ne semble donc véritablement s’être opérée ni par l’expression de la virilité, ni par sa dénonciation virulente, mais par la découverte de cette part d’enfance que chacun des deux amants porte en lui.“⁵²⁰ Auch gilt es zu sehen: In ihrer „courageuse farce de la passion immuable“ (BdS ‐ 827) bleiben die Liebenden unwiderruflich auf sich selbst gestellt. Die von Cohen schon in den Paroles juives lyrisch besungenen Freuden der Elternschaft⁵²¹ sind ihnen nicht vergönnt, bedarf die Instanz Familie doch jener externen Bande, die, so sahen wir, Solal und Ariane nicht knüpfen können: „Lui faire des enfants pour lui donner un but en dehors de lui, et un passe-temps aussi?“ (BdS ‐ 751). Diesem den gesellschaftlichen Außenseitern versagten Kinderwunsch⁵²² parallel geschaltet ist der Verzicht auf jene eheliche Liebe, die Solals Verführungsdiskurs voller Pathos überhöhte: „Et pourtant il n’y a rien de plus grand que le saint mariage, alliance de deux humains unis non par la passion, qui est rut et manège de bêtes et toujours éphémère, mais par la tendresse, reflet de Dieu“ (BdS ‐ 360). Mit der hier vollzogenen Verabsolutierung der ehelichen Liebe fügt die Romanfigur ihrer Ars Amandi ein Sinnelement bei, das sich weder in das Konzept der im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufkommenden romantischen Erotisierung der Ehe,⁵²³ noch in die weit verzweigte Genealogie der in der abendländischen Literaturgeschichte so zahlreich vertretenen Ehebrecherinnen und Ehebrecher inte-
„Il alla à travers la pièce, svelte et les cheveux désordonnés, l’air faussement distrait, soignant son charme […]“ (BdS ‐ 372). Schaffner, Le goût, S. 263. „Heure sainte / Heure de beauté / Où j’ai regardé tes yeux / Et j’ai souri / Et j’ai posé ma main puissante / Ma main tranquille / Ma main largement sur ton ventre gonflé / Ton beau ventre que bat le pied impatient de mon fils“ (PJ ‐ X, S. 56). Zum Entstehungszeitpunkt der Paroles juives sehen Albert Cohen und Elisabeth Brocher der Geburt von Tochter Myriam entgegen. In ihrem Beitrag zu einer Cohen-Lektüre durch das Prisma des von Henri Bergson geprägten Lebensbegriff des élan vital schreibt Julie Sandler: „[E]t comme ultime manière de refus de la vision bergsonienne de la vie et de l’histoire […] les amants s’excluent de la chaîne des générations, en ne procréant pas.“ Sandler, Julie: Dialogues avec le bergsonisme d’Agay à Céphalonie. In: Albert Cohen et la modernité littéraire. Cahiers Albert Cohen 17 (2007). S. 95 – 111, hier S. 102. Zur Aufhebung der Dialektik von Liebe und Ehe vgl. Luhmann: „Die Liebe wird zum Grund der Ehe, die Ehe zum immer wieder neu Verdienen der Liebe.“ Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 4. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998. S. 178. Rang spricht in diesem Zusammenhang von der Liebesehe als eine der „kulturellen Großtaten des 19. Jahrhunderts.“ Rang, Martin: Rousseaus Lehre vom Menschen. 2. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1965. S. 325.
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grieren lässt.⁵²⁴ Interessanter noch aber ist der Umstand, dass sich die auf Fürsorge und Zuneigung ausgerichtete Persönlichkeit der Geliebten auf diese Form der Liebe bestens zu verstehen scheint: „Charmée de nourrir son homme, émue par l’image de cette épouse et servante sagement dispensant le potage, une louche à la main. Plaisir de le voir manger“ (BdS ‐ 428). Doch auch der anfänglich hochstilisierte amour conjugal bleibt im Wertesystem des Helden an eine hochgradig ambivalente Reflexion gebunden. Denn als der Protagonist nüchtern auf den Stein des Anstoßes seiner Heirat mit Aude zurückblickt, optiert er für eine Interpretation des Ehebunds, in der sich weit stärker die Spuren der Kontingenz als die der in Cohens Schaffen allgegenwärtigen tendresse abzeichnen: „Il l’avait enlevée par joie et parce que le mariage avec Jacques devait avoir lieu dans un quart d’heure et parce que le cheval galopait bien. Et cette autre sérieuse l’avait assassiné de son extase à devenir sa femme au clair de lune. Pourquoi avaient-elles toutes cet eczéma de mariage?“ (S ‐ 281). Einen stimmigen Gegenpol zu Solals zwischen Schmähung und Verzauberung oszillierendem Eheverständnis bildet dagegen das im Le livre de ma mère vorgebrachte Ehekonzept. Durchweg positiv besetzt präsentiert sich hier eine von Mutter und Sohn unisono vertretene Liebe, in der sich die Idee einer klimaxartigen Entwicklung zwischen den sich immer fester aneinander bindenden Eheleuten durchsetzt: „On l’avait mariée et elle avait docilement accepté. Et l’amour biblique était né, si différent de mes occidentales passions. Le saint amour de ma mère était né dans le mariage, avait crû avec la naissance du bébé que je fus, s’était épanoui avec son cher mari contre la vie méchante. Il y a des passions tournoyantes et ensoleillées. Il n’y a pas de plus grand amour“ (Ldm ‐ 706).⁵²⁵ Der in diesem Zitat auf Begriffsebene geschaffene Bezug zur Bibel mag begründbar sein mit der schon dem antiken Judentum vertrauten Vorstellung einer unter Ehepartnern graduell zunehmenden Liebe, wenngleich die israelitische Ehe grundsätzlich polygam war und die Einehe erst zur Zeit Jesu an Bedeutung gewann:⁵²⁶ „Anders als wir es seit der Romantik erleben, nahm der Mann eine Frau, und die Liebe ergab sich dann erst durch das Zusammenleben.“⁵²⁷ In eine Tradition mit der Bibel stellt sich in „Pour qui nous jugerait sur nos littératures, l’adultère paraîtrait l’une des occupations les plus remarquables auxquelles se livrent les Occidentaux. […] Sans l’adultère, que seraient toutes nos littératures?“ De Rougemont, L’Amour, S. 12. Dem fügt die Stimme der Mutter hinzu: „Ces mariages qui commencent par de l’amour, c’est mauvais signe […]. Le vrai amour, veux-tu que je te dise, c’est l’habitude, c’est vieillir ensemble“ (Ldm ‐ 709 f.). Vgl. Haag, Elliger, Liebe, S. 231. Ebd., S. 95. Als repräsentatives Ehepaar benennt der Verfasser Isaak und Rebekka, über deren Liebe die Genesis schreibt: „Er nahm sie zu sich, und sie wurde seine Frau. Isaak gewann sie lieb und tröstete sich so über den Verlust seiner Mutter.“ (Gen 24,67).
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dieser Frage auch Saltiel, wenn er im Rückgriff auf die Genesis die Ehe – wohlgemerkt mit einer Jüdin – dem Neffen eindringlich ans Herz legt: „‚Il n’est pas bon que l’homme soit seulʻ, a dit l’Eternel dans le chapitre deuxième de la Genèse, et c’est pourquoi Il a créé la femme pour donner à l’homme une aide semblable à l’homme! Alors en voyant arriver Eve toute timide et agréable Adam s’est écrié ‚Voici cette fois celle qui est os de mes os et chair de ma chair!ʻ Enfin, que Dieu t’inspire“ (V ‐ 995). Cohen selbst heiratete in dritter Ehe eine Jüdin – „charmante aux grands yeux, fleur d’Israël, ô son visage venu d’un ancien Chanaan“ (V ‐ 971) – und das mit Bella in sechsundzwanzig Ehejahren erprobte Zusammenleben stellt für das in den Texten des Romanciers Entfaltung findende Liebeswissen, so sahen wir, eine wichtige Bezugsfolie dar, die in metaleptischen Parenthesen immer wieder in die Diegese vordringt. Paradoxerweise aber bedarf es in der Romanfiktion erst Arianes Tod – so die von Goergen vorgeschlagene Lesung der Sterbeszene –, um eine zeitlebens unversuchte Perspektive zu eröffnen, in der leibliche und spirituelle Liebe nicht mehr voneinander zu trennen sind: „En fait la perspective de la rupture imminente de cette spirale qui tirait les deux personnages vers le bas donne au dernier face-à-face une magie où se mêlent enfin attrait des corps (amour-passion) et élan de tendresse (amour-tendresse).“⁵²⁸ Führen wir das Gesagte zusammen: Was im Le livre de ma mère entlang der Differenzierung Mutterliebe/Geschlechtsliebe aus Gründen der Schuld und im Bemühen um Wiedergutmachung auf aporetische Weise getrennt war, soll in der Romanfiktion idealiter koexistieren, um die Dauer und Intensität der Liebe sicherzustellen. Dem gegenüber aber steht das Unvermögen des Protagonisten, in den emotionalen Spagat zwischen passion und tendresse zu gehen. Demonstrativ manövriert die Romanfigur beide Liebesformen gegeneinander aus, doch ist offensichtlich, dass die damit verworfene Logik des „Sowohl-als-auch“ auf jenen Grundkonflikt in der zerrissenen Heldenpsyche verweist, der Solal daran hindert, multiple Identitätsentwürfe für das Ich in Anspruch zu nehmen. Damit ist der verfahrenen Liebesgeschichte jene prekäre Beziehung des Protagonisten zum Judentum nebengeordnet, die fortwährend zwischen Verrat und Loyalität schwankt: „Les Juifs étaient ses maîtresses et ses adultères“ (M ‐ 569) – so nimmt sich das vom Helden selbst vermittelte Similaritätsverhältnis zwischen Liebe und Judentum aus. Bringt man diese Setzung zur bereits zitierten weiblichen Titulierung des mosaischen Gesetzes als „la Mère et Fiancée parée d’or“ (BdS ‐ 905, [meine Hervorhebung]) in Beziehung, fällt auf: Der von mir kursiv markierte Verbindungspartikel steht für die Synonymität zweier Liebesinstanzen, die es
Goergen, Normes, S. 218.
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Cohens Romanfigur bestenfalls als Wunschkonstrukt zu fusionieren gelingt. Adrienne, Aude und ganz besonders Ariane aber gehören allesamt einem Typ Frau an, der seinen mütterlichen Anlagen nach jene literaturgeschichtliche Erbschaft einer unberührbaren „femme-dont-on-est-séparé“⁵²⁹ ablehnt, die der abendländischen Liebesliteratur vom Tristanmythos vermacht wurde. Was Cohens Diskursivierung der Liebe auf Basis der Mutterliebe anbelangt, so scheint mir mit Blick auf das Gesamtschaffen des Autors von elementarer Bedeutung zu sein, dass sich diese Liebesform über die im Le livre de ma mère autobiografisch angezeigte Mutter-Sohn-Beziehung hinaus zu einem autonomen Gefühlskomplex verselbständigt, der die fiktional gestellte Frage des Zusammenlebens in einschneidende Verwicklungen zwingt. Das Beispiel Mutterliebe zeigt, inwiefern der Romancier diese Urform der Liebe aus ihrer subjektbezogenen Kopplung an die Mutter löst, um ihr jenes Ethos abzugewinnen, das die vom Verfall bedrohte Intimbeziehung um ihren ephemeren Charakter bringt.
4.6 Zwischen Huldigung und Rebellion: Gottesrede bei Albert Cohen 4.6.1 Kein Heil ist da „Da sprach der Mann: Nicht mehr Jakob wird man dich nennen, sondern Israel; denn mit Gott und Menschen hast Du gestritten und hast gewonnen“ (Gen 32,29). Wie keine andere biblische Erzählung habe diese Episode der Genesis, die berichtet, wie der Erzvater Jakob von Anbeginn der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung mit Gott rang und aus diesem Kampf als Sieger hervortrat, Albert Cohen in sprachloses Staunen versetzt. Dem Pastor André Barnaud habe der vom zähen Stehvermögen des Gottesbezwingers sich beeindruckt zeigende Schriftsteller die zwischen Skepsis und Hochachtung changierende Frage gestellt: „L’homme vainqueur de Dieu, comment est-ce possible?“⁵³⁰ Die Antwort des Pastors, Gottes Liebe zum Menschen sei derart unermesslich, dass er sich bereitwillig von ihm besiegen lasse, habe dem Autor zeitlebens Rätsel aufgegeben. In der Kurzform der Anekdote bündelt dieses verblüffende Gespräch jene immensen Zweifel, die sämtliche Texte des konsequenten Atheisten Cohen mehr oder minder untergründig durchziehen: die Zweifel an einer einvernehmlichen Konvivenz De Rougemont, L’Amour, S. 213: „Car Iseut, c’est toujours l’étrangère, l’étrangeté même de la femme, et tout ce qu’il y a d’éternellement fuyant, évanouissant et presque hostile dans un être […].“ Cohen, Bella, Autour d’Albert Cohen, S. 152.
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zwischen Mensch und Gott. Unter dem Einfluss dieser schon in den Paroles juives erprobten Poetik der Skepsis nahm das Schreiben des Autors, den monotheistischen Gott der Juden gleichermaßen verherrlichend wie boykottierend, Gestalt an. Cohens frühe Lyrik gab den auslösenden Impuls zu dieser zunächst dichterisch umgesetzten, dann gattungsübergreifend fortgeführten inhaltlichen Stoßrichtung. Ihrer komplexen Verknüpfung von Gottesjubel und Gotteskritik zum Trotz darf man das Frühwerk wohl als persönliche Standortbestimmung des debütierenden Künstlers lesen – als notwendige Positionierung, die sich leicht vom persönlichen Lebensumfeld des damals Vierundzwanzigjährigen her erklärt. Im unmittelbaren Anschluss an die im November 1919 mit der Pastorentochter Elisabeth Brocher gefeierte Vermählung, und nur kurze Zeit nachdem der ambitionierte Juraabsolvent auf nachdrückliches Geheiß der protestantischen Familie der Braut hin den Schweizer Pass erworben hat – „sans rien renier du sentiment que je suis fils d’Israël et que je le reste intégralement“⁵³¹ – bemächtigt sich Cohen seiner jüdischen Herkunft im Medium der Poesie. Seine expressive Dichtung bewegt die streng gläubige Elisabeth aufs Tiefste (neben der Entstehung der Paroles juives durfte die schon im März 1923 nach kurzer schwerer Krankheit verstorbene Ehefrau noch die der beiden Kurztexte Projections ou Après-minuit à Genève und Mort de Charlot miterleben). Inspiriert von der Gedichtlektüre greift sie zu den alttestamentlichen Propheten, deren sozialkritischen Geist sie im Schreiben des Gatten zu erspüren glaubt. In einem mit Datum vom 13. März des Jahres 1920 versehenen Brief an den zu jener Zeit in Alexandria weilenden Albert schreibt die von ihrem Krebsleiden bereits schwer gezeichnete Elisabeth voller Ehrfurcht und Enthusiasmus: „Mon ami respecté, lorsque je lis les paroles de ces hommes qui t’ont précédé et qui te sont si proches, je retrouve ta pensée en eux et je te sens si semblable à eux, si parent. Toi non plus, tu ne veux panser à la légère. Ta mission est grande.“⁵³² „Panser à la légère“ – diese in Elisabeths Korrespondenz wortgetreu dem Jeremia-Buch entlehnte Wendung bot der passionierten Leserin den Anlass, den Dichter in die Tradition der gegen Lüge, Heuchelei und Raffgier zürnenden Propheten zu stellen. Bei Jeremia heißt es: „[V]om Propheten bis zum Priester betrügen sie alle. Den Schaden meines Volkes möchten sie leichthin heilen, indem sie rufen: Heil, Heil! Aber kein Heil ist da“ (Jer 6,13 – 14). Fürwahr: Einen kampflos zu erringenden Sieg über die gesellschaftlichen Missstände versprach sich Cohen von den Menschen zweifellos ebenso wenig wie Jeremia es von den sündigen Stadtbewohnern zur Zeit der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier vor ihm tat. In der Fortführung ihres Gedankens formuliert die Brief-
Cohen im Interview mit Franck Jotterand. Champigny Cohen, Livre, S. 118.
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schreiberin: „Ils pansent à la légère, n’est-ce pas l’esprit chrétien? Vouloir la paix principalement avant la mort du péché?“⁵³³ Elisabeths biblisch angeregte Schelte an der laxen Christenmoral weist deutlich auf jenes rhetorische Temperament voraus, mit dem der Romancier gegen falsches Mitleid, doppelzüngige Phrasen und nur scheinbar selbstlose Barmherzigkeit zu Felde ziehen wird. Welchen Text des Schriftstellers man auch immer zur Hand nimmt: Ausnahmslos ist Cohens Religionsverdrossenheit Ausdruck eines Humanismus, der sich gegen die im sozialen Leben gängige Praxis gewordene Verkehrung jüdisch-christlicher Werte stemmt. Tadel vernimmt der Leser stets auch dort, wo im menschlichen Tun und Denken eine grundlegend instrumentalisierte Religiosität, die mehr im Namen des Ich als in dem des Du agiert, überhandgenommen habe.
4.6.2 Der Gott der Paroles juives Einen mehr als deutlichen Eindruck von Cohens Gottesskrupeln vermitteln die von der Kritiklust des Juden durchdrungenen Paroles juives, wo sich jeder Anflug von Frömmigkeit dem Diktat des Intellekts zu beugen hat: „L’esprit critique devient proprement démoniaque lorsqu’il s’en prend au fondement même de la foi, la rendant impossible.“⁵³⁴ Dass es in den freirhythmischen Versen dieser Lyrik zu einer mit Jakobs Gotteskampf vergleichbaren Auseinandersetzung gar nicht erst kommen wird, davon zeugt das schon hier merklich angeschlagene Gottesbild. Und doch steht dieses biblisch tradierte Kräftemessen gleich eines mottoartigen Frontispizes der vierten Sektion des Gedichtbands voran.⁵³⁵ Denn gegenläufig zu der durch die biblische Interferenz aktivierten Erwartungshaltung des Lesers entzieht das lyrische Ich ohne jedwede Gegenwehr dem Glauben der Väter die Treue: Ah je ne suis pas comme mes pères. Mon âme se tord de peurs et de remords Mon âme est inquiète Mes paroles sont tristes Sont amères. Car mon cœur est désert (PJ ‐ IV, 29).
Ebd., S. 117 f. Schaffner, Le goût, S. 79. „Tu seras appelé Israël car tu as lutté avec Dieu es tu as été vainqueur“ (PJ ‐ IV, 29). In diesem Gotteskampf, den das Volk „Isra-el“ schon dem Namen nach in sich trägt, liege, so Abecassis, die „quintessential Jewish experience.“ Abecassis, Dissonant voices, S. 36.
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Was den in diesen Zeilen latent mitschwingenden Religionspessimismus anbelangt, so sticht das Gesamtwerk des Schriftstellers durch eine augenfällige, keinerlei Entwicklungsstufen erkennen lassende Linearität hervor. Im Gedichtband entspringt die zitierte affektive Öde jenem desolaten Nichts, dem der von Gott in die Irre geführte Mensch naiv die nackte Hand entgegenstreckt: Ils se consolent Et tendent leurs mains vers l’œil énorme Qui regarde Et ricane morne (PJ ‐ VII, S. 39).
Die Vernichtungskraft dieser Poetik des Absurden zeigt es unzweideutig an: Noch ehe Albert Camus mit dem für sein Schreiben prägend werdenden Credo des Sinnverlusts aufbegehrt,verdichtet Albert Cohen derlei Nichtigkeitsvisionen in der Gott ersetzenden Gestalt jenes zyklopischen, stumpfsinnig drein starrenden Auges, das den Menschen mit diabolischer Trägheit fixiert – ein ausdrucksstarkes Sinnbild, das in Cohens Texten mehrfach Erwähnung findet.⁵³⁶ Camus’ in La peste romanhaft entwickelter Philosophie bleibt Cohen in dem Streben verwandt, aus der Erkenntnis des Absurden heraus die alleinige Pflicht des Menschen zur Heilung der pestkranken Welt anzumahnen. Nichtsdestotrotz hätte er dem Absurditätsverständnis des in Algerien geborenen Literaturnobelpreisträgers nicht vorbehaltlos zugestimmt, dynamisiert die Texte des jüdischen Autors doch eine dialektische Unruhe, die denen Camus’ unbekannt ist: Sois sans Dieu Israël peuple de Dieu (PJ ‐ IV, 31),
so der an das jüdische Volk ergehende widersinnige Appell. Man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass das lyrische Ich die individuell durchlebte Glaubenskrise einer kollektiven Lösung zuführen wolle, um mithilfe dieser Verschiebungstaktik einen Fluchtweg aus der persönlichen Glaubensmisere zu finden: J’ai perdu mon Dieu Je ne sais plus mon Dieu Mais je sais que mon Dieu est plus fort que vos dieux (PJ ‐ IV, 31).
So philosophiert Solal pessimistisch: „Car il n’y a rien, car l’univers n’est pas gouverné et ne recèle nul sens que son existence stupide sous l’œil morne du néant“ (BdS ‐ 904). Wortgetreu findet sich diese Passage in den Carnets wieder (vgl. C ‐ 1170). Und auch Cohens Le livre de ma mère spricht vom „œil morne du néant“ (Ldm ‐ 764).
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Markant wie in keinem anderen Werk Albert Cohens blitzt der in die Seele des Dichters eingravierte Widerspruch eines gottlosen Gottesvolks in den verschiedensten Bildfeldern durch. Die wohl auffälligste Metaphorisierung ist im Vergleich des gotteshungrigen Ich mit jenem von der Geliebten brüsk verstoßenen Jüngling gegeben, der – die verbotenen Worte der Liebe noch leise murmelnd auf den Lippen – den endgültigen Bruch zu revidieren erhofft: Comme ce jeune amant encore blessé revient sous les fenêtres de l’ancienne aimée Ainsi Sur mes lèvres errent encore les mots défendus (PJ ‐ IV, 31).
Die zur moralischen Pflicht stilisierte Distanzierung von Gott nimmt das Ich als eine dem Menschen auferlegte Prüfung wahr. Trotz aller Blasphemie und Skepsis aber schließt die Gott stets umkreisende vierte Sektion des Gedichtbands mit dem Wunsch nach Widerruf des lyrisch erhärteten Protests – und doch löst dieser Wunsch, da der Verlogenheit bezichtigt, die zuvor aufgebaute Dialektik nicht auf: Que mes lèvres hypocrites disent Louange et gloire Gloire au Dieu d’Israël. D’éternité en éternité Amen (PJ ‐ IV, 31).
Purer Sarkasmus oder doch ein Quäntchen Ernst? Zurückgedrängt wird diese Frage durch die in Cohens Poesie konsequent zu Ende gedachte Idee eines ins Kreuzfeuer der Religionen geratenen Gottes – eine inhaltliche Profilierung, die im an das Volk adressierten Vorwurf gipfelt, Jahwe widerstandslos an das Christentum abgetreten zu haben: Maintenant ton Dieu est leur Dieu Ton Dieu est un dieu mort (PJ ‐ IV, 31).
Eine den Konsens suchende Zusammenführung beider Schwesterreligionen, wie sie die späteren Texte des Autors mit Inbrunst verfechten, sucht der Leser in den Paroles juives vergebens, bezieht Cohens frühe Dichtung doch ihre innere Unrast, so sahen wir, aus der Opposition zweier sich gegenseitig ausschließenden Religionsgruppen: der des virilen, renitenten Judentums auf der einen sowie jener des feminin konnotierten, den Menschen die Bereitschaft zu verzeihen abverlangenden Christentums auf der anderen Seite. Eine Lyrik der Spaltung also, die bewusst polarisiert und polemisiert. Gezeigt wurde: Was die strikte Differenzierung der Konfessionen betrifft, nimmt die Lyrik des jungen Cohen im Gesamtschaffen des
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Autors ohne jeden Zweifel eine Sonderrolle ein. Mit Schaffner darf man diese scharfen Trennstriche wohl als biografischen Reflex auf jene Jahre im Genf der Nachkriegszeit werten, in denen der Drang des Dichters nach Abgrenzung vom protestantischen Milieu der Familie Brocher an Einfluss gewinnt: „Dans le recueil, c’est pourtant l’opposition entre les religions qui prédomine largement, le but d’Albert Cohen étant à cette époque de faire comprendre la spécificité du judaïsme au milieu protestant genevois dans lequel il vit.“⁵³⁷ Die Frage, in welchem Ton Cohens lyrisches Debüt gelesen werden möchte, ist mit Gewissheit zu beantworten. In Kreisform verfasst weisen sich die Paroles juives als unzweideutiges Zeugnis aus: als eines, das zwar nicht dem ersten „rein metaphysischen Gott der Religionsgeschichte“⁵³⁸ die Treue schwört, wohl aber all jenen, die das Ich zum Auftakt mit den Anfangsworten des jüdischen Glaubensbekenntnisses apostrophiert, Ecoute Mon peuple (PJ ‐ I, 7),
und in deren Hände er abschließend voller Zuversicht das Schicksal künftiger Generationen legt: Tous chanteront. Et tous pleureront à ton grand baiser Israël (PJ ‐ XVI, 83).⁵³⁹
Auf die das zionistische Gebot der Stunde einfangenden Endverse, die den mit biblischen Ingredienzen ausgeschmückten Zukunftstraum einer Rückkehr der Juden – „Fous du lait et du miel“ (PJ ‐ XVI, 83) – in das Gelobte Land wachrufen,⁵⁴⁰ folgt die als elliptischer Nachsatz angefügte Standortsituierung des Schreibers: „en terre étrangère, juin-août 1920“ (PJ ‐ XVI, 83). In dieser minimalistisch gehaltenen geografischen Kontextualisierung konzentriert sich die zur Genese des Zyklus Anstoß gebende Frage nach der ureigenen Identität – eine Frage, zu der die unbewältigt bleibende Krise mit Gott das schreibend im jüdischen Kollektiv auf-
Schaffner, Paroles juives, S. 76 f. Messadié, Verfolgt und auserwählt, S. 29. Zur Kussmetaphorik als Zeichen eines territorial markierten Neubeginns vgl. auch: „Voici / Le jour du baiser sera“ (PJ ‐ XVI, 76). In Ex 3,8 spricht Gott zu Moses: „Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen […].“
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gehende Ich in besonderer Weise hindrängt: „Religionsverlust“, so heißt es dazu bei dem Soziologen Werner Gephart, „bedeutet eben nicht nur das Risiko, Heilsgewissheiten zu verlieren, sondern – viel dramatischer – den existentiellen Identitätsverlust, solange keine kompensatorischen Identitätsangebote in Kraft treten.“⁵⁴¹ Derlei Risiken hält Schaffner für den zum Entstehungszeitpunkt der Paroles juives von drei Glaubensangeboten umzingelten Albert Cohen für realistisch: „Or, dès le début de sa carrière littéraire, les problèmes auxquels le jeune écrivain se trouve confronté sont avant tout des problèmes d’identité religieuse. On peut les résumer en cette trinité originelle: judaïsme, athéisme, christianisme.“⁵⁴² Bedenken wir aber: Gemessen am Schaffen des Autors in seiner Gesamtheit nimmt sich das für Gepharts Beitrag leitgebende Thema der Korrelation von Religionsund Identitätsverlust als ein, wie schon anderenorts beobachtet, der Fiktion vorbehaltenes Drama aus – als das Drama eines Helden, dessen blasphemische Streitlust nichtsdestominder von Roman zu Roman doch spürbar schwindet.⁵⁴³
4.6.3 Absurdität und Theodizee Dieser beobachtbaren Entschärfung zum Trotz bleibt das Verhältnis zwischen Gott und Solal fundamental gestört. In seinem langen Klagemonolog wird der Held, so gesehen, zum Perspektivträger jenes von Willkür geleiteten Weltenplans, den schon das Ich der Paroles juives im Bild des gigantischen Auges erfasste. Für Solal erweist sich die vom Menschen fingierte Gottespräsenz gemäß der Marxschen Religionskritik als ein die Schwere des Daseins abfederndes Pharmakon: „[C]ette spiritualité qui est une supplémentaire bouillotte et un additionnel chauffage central et aussi une morphine et aussi un alibi, leur spiritualité qui justifie l’injustice et leur permet de garder bonne conscience et leurs rentes“ (BdS ‐ 889). In der Stilfigur des Zeugmas – „garder bonne conscience et leurs rentes“ – ballt sich die Cohens Schreiben leitmotivisch querende Geißelung der unter dem Deckmantel des Glaubens praktizierten Hypokrisie. Verleidet ist dem Helden eine Religion, welche die vertrauensselige Kreatur Mensch mit absurden Jenseitsvertröstungen zu blenden sucht: „[E]t il paraît que dans cet au-delà mes milliards de pensées et d’images et de sentiments oui j’en suis milliardaire vivront en l’air sans
Gephart, Werner: Zur Bedeutung der Religionen für die Identitätsbildung. In: Waldenfels, Gephart (Hrsg.), Religion, S. 233 – 266, hier S. 265. Schaffner, Paroles juives, S. 75. Zu dieser von Solal romanübergreifend durchlaufenen Entwicklung vgl. ebenfalls Schaffner: „La perspective est toute différente dans Belle du Seigneur, Solal n’y renie jamais en paroles son peuple auquel il se déclare au contraire indéfectiblement attaché.“ Schaffner, Le goût, S. 74.
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le support de mes yeux […] oh que tout cela est sauvage et sorcier et infantile […]“ (BdS ‐ 888). Folgt man Solals Räsonnement, so sei der Jude mit seiner hereditären Disposition zum kritischen Denken⁵⁴⁴ für derlei Heilspessimismen geradezu prädestiniert: „[E]sprit destructeur disent-ils mais qu’y puis-je si tout est sans raison dans cet univers“ (BdS ‐ 886). Doch innmitten dieser den Helden von Gedanken zu Gedanken tiefer in die Sinn- und Glaubenskrise stürzenden Lamentationen kündigt sich ein abrupter Sinneswandel an, der Solal dem geschichtsträchtigen Gott der Patriarchen zuführt: „Tu nous a sortis de la Maison de Servitude Dieu Tu as châtié Pharaon de Ta main puissante Tu as fait briller de grands prodiges Tu as écarté la mer comme une femme impure afin que sorte Ton bienaimé Israël“ (BdS ‐ 887). In analoger Ausrichtung zum Glaubenszwiespalt des Autors verklammern sich in der Heldenpsyche Hochachtung und Insolenz zu einer höchst ambivalenten Gottesrede: „[M]on Dieu que je nie tout le temps que j’aime tout le temps j’en suis fier affreusement […]“ (BdS ‐ 887). Die Frage des schwierigen Zusammenlebens mit Gott reflektieren Cohens Texte auf variationsreiche Weise. In den hie und da ins Streitgespräch abgleitenden Dialogen der fünf Valeureux etwa wird sie ins Pikareske umgepolt, ohne dadurch an Brisanz zu verlieren. Mit diesen aus dem abendländischen Wertekanon herausfallenden Orientalen setzt Cohen auf die altbewährte Figur des Narren, um von der distanzierten Warte dieser den europäischen Kontinent bereisenden Fremdkörper aus den kulturell voreingenommenen Okzidentalen den Spiegel vorzuhalten. Indem der Erzähler seine abseits der Gesellschaft Stehenden die Verhältnisse ironisch verzerren lässt, warnt er mit humoristischem Fingerzeig vor einer allzu tendenziösen Reduktion der Wirklichkeit. Für dieses karnevaleske Spiel mit der Realität halten die Religionen eine ausgesprochen disponierte Angriffsfläche bereit. Mangeclous’ Vorausschau auf eine zu Lasten des Christentums erwirkte Aufwertung des Judentums hin zur führenden Weltreligion mit dem Petersdom als weltgrößter Synagoge (V ‐ 985) macht sich einen solchen Verfremdungseffekt vortrefflich zunutze. Auch Salomons Zukunftsvision eines dem Nicht-Juden die Einreise verweigernden jüdischen Nationalstaats (V ‐ 960) setzt eine identische Verkehrung der Welt ins Bild. Dass der Schriftsteller die parodische Nachahmung selbst der eigenen Religion nicht scheute, hatte er schon mit dem in Genf 1931 uraufgeführten, 1933 – wohlgemerkt im Jahr der Machtergreifung Hitlers
Dass die Christen den Juden dieses Übermaß an Intelligenz mit ambivalenten Gefühlen nachsagten, unterstreicht Bluma Finkelstein: „Les chrétiens ont vécu dans ce paradoxe presque grotesque pendant des siècles: Le peuple élu-déchu, aimé-rejeté, qui erre humilié à travers les pays chrétiens, la race ignoble mais rusée, intelligente par excellence mais qui n’a pas été capable malgré cette ruse et malgré cette ‚overdose‘ d’intelligence d’échapper à la souffrance, de déjouer ses oppresseurs, de tourner contre ceux-ci la roue du destin.“ Finkelstein, L’écrivain juif, S. 46.
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– dann ein letztes Mal vor Pariser Publikum gespielten Theaterstück Ezéchiel ⁵⁴⁵ bewiesen, für das Cohen von jüdischen wie nicht-jüdischen Zuschauern gleichermaßen gescholten wurde.⁵⁴⁶ Zum Verhängnis wurde dem Künstler das eigensinnige Experiment, die vor allem in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts hartnäckig prosperierenden Judenklischees⁵⁴⁷ auf der Bühne mit Leben zu erfüllen – freilich nicht in der Absicht, bestehende Stereotype in den Köpfen der Menschen zu verfestigen, sondern, ganz im Gegenteil, das Publikum für das große Gefährdungspotenzial solcher „aus Unkenntnis, Faszination, Wunschdenken und grober Vereinfachung“⁵⁴⁸ geformten Bilder zu sensibilisieren. Dass dem jüdischen Autor dieser Wunsch mit Ezéchiel versagt blieb, mag größtenteils dem für ein solches Wagnis unglücklich gewählten Inszenierungszeitpunkt geschuldet sein,⁵⁴⁹ der den parabelartigen Erzählkern des Stücks – „die Sisyphosarbeit jüdischer Hoffnung“⁵⁵⁰ – unter der Ungunst der Stunde begrub.⁵⁵¹ Bereits die von Cohen mit Bedacht ausgesuchten Bühnenrequisiten dienten dem dramaturgischen Vorsatz, in ein parodisierendes Spiel mit den klischeehaft überzeichneten Charakterzügen des Juden zu treten. Gleich zu Beginn des Stücks wird auf die in das Blickfeld des Zuschauers gerückte Menora, deren symbolträchtige Siebenzahl beim Geizhals Ezéchiel Anstoß erregt, ein diesen Fremdbildern Genüge leistendes Licht geworfen: „Un chandelier à trois branches eût tout aussi bien fait l’affaire.
Von Cohens einzigem Theaterstück existieren drei Versionen: Die erste wurde 1930 in der Palestine-Nouvelle revue juive abgedruckt.Vor der Inszenierung des Stücks an der Pariser Comédie française fügte Cohen dieser ersten Fassung zahlreiche Änderungen hinzu. 1956 erschien bei Gallimard eine dritte Version, die für die Pléiade-Ausgabe übernommen wurde. Vgl. Peyrefitte: Ezéchiel. Notice. In: Cohen, Œuvres, S. 1303 – 1304. Wenn auch das Genfer Publikum Ezéchiel wohlwollend aufnahm, zeigte Cohen sich von der im Frühjahr 1933 an der Comédie française folgenden Inszenierung bitter enttäuscht: Von beiden religiösen Lagern gleichermaßen ausgebuht erfuhr das Stück eine äußerst zwiespältige Rezeption, die Cohen die Bühne künftig meiden ließ. „In der Literatur also gibt es nichts als Stereotypen: Wucherer und Bankiers – und Kurtisanen. Es ist, als existierten die Juden und Jüdinnen nur, um gewisse vorbestimmte Rollen in diesem ermüdenden Szenario zu spielen; so intelligent und begabt die einzelnen Schriftsteller auch sein mochten, sie hätten sich ebenso gut über Kamtschadalen und Hottentotten auslassen können.“ Strauss, Judenbilder, S. 312. Ebd., S. 316. Zu Cohens mit Ezéchiel verlorenem „Kampf der Bilder“ vgl. auch Ette, Literatur in Bewegung, S. 427. Ritte, Tod, S. 437. Erst viele Jahrzehnte später brachten die von 1985 – 1987 am Theater von Montpellier aufgeführten Reinszenierungen die universelle Tragweite des Stücks als „méditation sur la condition humaine“ auf der Bühne zur Geltung. Klotz, Roger: Ezéchiel d’Albert Cohen. In: Pour une préhistoire des revues de théâtre. Revue d’histoire du théâtre 259 (2013). S. 321– 330, hier S. 325.
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Ces chandeliers à sept branches sont dispendieux et sont en conséquence la ruine du peuple élu“ (E ‐ 783).⁵⁵² Satirisch unterlegte Bilder wie dieses mögen zur kontroversen Aufnahme des Bühnenwerks durch Teile des jüdischen Publikums maßgeblich beigetragen haben. Ein dem Plot des Schauspiels zugeneigter Rezensent hielt den zahlreichen kritischen Stimmen entgegen, dass jede Religion erst dann zu wahrer Größe fähig sei, wenn sie Spott und Ironie als Affekte der Verbundenheit zu deuten wisse: J’ai lu quelque part, dans l’œuvre de ce grand méconnu qu’est Paul de Saint-Victor, une page admirable, où il explique que le signe auquel on reconnaît qu’une religion est inébranlable c’est quand elle admet l’ironie. […] C’est qu’il y a, dans le fait d’aimer sincèrement, largement, totalement, un vaste espace où peut se déployer toutes les possibilités du sentiment, et surtout cette raillerie sans méchanceté, ce sourire secrètement pénétré de tendresse qui est justement l’essence émouvante de l’humour.⁵⁵³
Diesem Grundsatz blieb Albert Cohen, wenn auch nicht mehr auf der Bühne, so doch mit nicht minderer Virulenz über die vielen Jahrzehnte seines Schreibens hinweg in all seinen Texten treu:⁵⁵⁴ „Unabhängig von der jeweils gewählten Gattung ging er in den dreißiger Jahren wie auch später dem bei einer mitteleuropäischen Leserschaft durch das Wort ‚Judeʻ hypotypotisch erzeugten Klischees nach und versuchte, ausgehend von der Projektion dieses in der antisemitischen Atmosphäre Europas mechanisch leicht evozierbaren Nachbildes Veränderungen in der Bilderwelt seiner Leser oder Zuschauer zu erreichen.“⁵⁵⁵ Und noch eine zweite Seite lässt sich der bei Cohen oft ins Satirisch-Groteske verschobenen Darstellungsweise der Wirklichkeit abgewinnen: die zwillingshafte Paarung mit einer Tragik, wie sie sich in der dem Theater traditionell zugewiesenen doppelten Maskensymbolik Ausdruck verschafft. So gesehen wird man die weit ins Komische ausholenden Episoden in Cohens Solal-Zyklus nur dann vollends erfassen können, wenn man den Texten des Autors die sie grundierende Tragik als unverzichtbaren hermeneutischen Werkzugang anlegt: „Das Burleske
Diese Auftaktszene behält Cohen in allen drei Versionen von Ezéchiel bei, wobei es sich in der zweiten Fassung von 1933 um einen achtarmigen Chanukka-Leuchter handelt.Vgl. Cohen, Œuvres, S. 1348. Miomandre, Francis. In: L’Européen (16. Juni 1933). Zitiert nach: Cohen, Œuvres, S. 1332. Dem 1939 entstandenen Originalmanuskript von Mangeclous hatte der Autor in der Tat den aus der Endversion von 1969 gestrichenen Hinweis beigegeben, seine zum Spott neigende Figurenzeichnung sei ein Kind der Liebe: „L’humour est une des faces de l’amour. Ma raillerie est tendre. Et je suis trop Juif pour craindre de rire un peu de mes chers congénères de Céphalonie.“ Cohen, Œuvres, S. 1280. Ette, Literatur in Bewegung, S. 427.
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bei Cohen“, so formuliert es der Schweizer Literaturkritiker Stefan Zweifel, „ist immer von einem tragischen Urgrund untermalt.“⁵⁵⁶ Namentlich die von Cohen mit dem Frohsinn der Valeureux auf ambivalente Weise verschliffene Theodizeeproblematik bringt diesen Sachverhalt eindringlich zum Vorschein. Die negative Gotteserfahrung des Autors saugt Mangeclous mit ebensolch großer Gier in sich auf wie die Unmengen der Tag für Tag von ihm verschlungenen Genussmittel. Trotz manch gegenteiliger Gefühle verspürt die Figur keinerlei Notwendigkeit zu glauben: „Quoique frissonnant à la synagogue, je suis souvent athée, surtout quand je me porte bien!“ (V ‐ 1022). Die Sinnhaftigkeit des Betens ist ihm ebenso unbegreiflich wie dem Autor selbst: „Alors il faut que nous Le tenions au courant? Ne sait-ll pas tout? Ou bien est-Il comme un vieux domestique qu’il faut appeler en tirant la sonnette de la prière? Il ne me plaît pas. Je ne Lui pardonnerai jamais de ne pas exister“ (M ‐ 459). Aus der Aporie der Theodizee zieht der Atheist die paradoxe Lehre: „[O]u Dieu existe et Il n’est pas bon car il y a trop d’injustice; ou Il est bon mais en ce cas Il n’existe pas“ (M ‐ 459). Der Rousseauschen Anthropologie einer erst im Zuge der Sozialisierung korrumpierten Menschheit hält der Frevler ein noch pessimistischeres Gesellschaftsbild entgegen: „Les hommes naissent mauvais, dit Mangeclous. Et la société les rend pires“ (M ‐ 458). In diesen Tenor der Gottesferne stimmen weitere Romanfiguren ein, und so ist nach Meinung des Erzählers nicht einmal das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde Kefalonias vor einer Glaubenskrise gefeit: „Gamaliel marmonnait peut-être des paroles athées“ (S ‐ 303). Selbst der bedingungslos gottgefällige Saltiel wird von starken Zweifeln an einem Weiterleben im Jenseits geplagt: „[I]l avait ses doutes sur la vie future“ (BdS ‐ 131). Die Frage nach der Rechtfertigung menschlichen Leids im göttlichen Schöpfungsplan wird neben den ins Burleske gewendeten Reflexionen der Valeureux noch auf ungleich brutalere Weise in die Fiktion hineingeholt: Jäh blendet der Erzähler die skurrilen Abenteuer seiner Helden aus, um das eben noch Imaginierte, ja alles Schreiben per se mit der nach Auschwitz viel diskutierten Legitimationsproblematik der Literatur⁵⁵⁷ frontal zu konfrontieren: Soudain me hantent les horreurs allemandes, les millions d’immolés par la nation méchante, ceux de ma famille à Auschwitz, et leurs peurs, mon oncle et son fils arrêtés à Nice, gazés à Auschwitz, jamais je ne pourrai parler à un de la nation enragée, jamais je ne pourrai re-
Zweifel, Stefan: Die Lust der Genferin. In: Das Magazin (Januar 2013). S. 37– 39, hier S. 38. Vgl. stellvertretend für viele den bereits mehrfach erwähnten Elie Wiesel: „Avec le recul d’une génération, on peut encore le dire, on peut l’affirmer déjà: Auschwitz nie toute littérature comme il nie tous les systèmes, toutes les doctrines.“ Wiesel, Elie: Un juif, aujourd’hui. Paris: Seuil 1977. S. 190.
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tourner au pays de la nation enragée et entendre leur langue, la même qu’à Auschwitz, […], et à quoi bon écrire, et comment continuer à raconter les Valeureux, comment sourire? (V ‐ 957).
Allerdings bricht das in der zitierten Metalepse unverhohlen ausgesprochene Zerwürfnis zwischen Künstler und Schöpfung den Erzählfluss nicht ab, konstituiert sich doch mit der Überführung dieses Katastrophenbewusstseins in das hoffnungsschwangere Szenario des auf der Weltkarte nach Jahrtausenden der Absenz wieder erstrahlenden Israels ein neuer Sinn: „ [U]ne joie soudaine, joie de mes frères libres à Jérusalem, libres désormais, joie de mon peuple fier, libre à jamais en Israël. Alléluia“ (V ‐ 958). Derart transformiert kann das den Textraum unvorhergesehen überschwemmende Vernichtungsereignis übergangslos hinleiten zu der den Auftakt des Folgekapitels bildenden Schiffsreise der Valeureux gen Europa und damit zum Fortgang einer Fiktion, die als rhetorisches Gegengewicht zu der zuvor evozierten Totalzerstörung lapidar verkünden kann: „La vie était belle“ (V ‐ 958). Für diese inhaltliche Volte erscheint mir jene Definition einer „Philologie der Kata/strophe“ treffend, wie Judith Kasper sie, ausgehend von der Etymologie der Strophe im Sinne einer vom antiken Chor auf der Bühne vollzogenen Drehung, jüngst erprobte. Im Zentrum dieser zu einer gegenperspektivischen Betrachtung gemahnenden Philologie stünde demnach nicht das Kontinuum Katastrophe, sondern die Frage nach den dem Ruin erwachsenen Chancen des Wandels: „Eine Philologie der Kata/strophe wäre mithin zu bestimmen als eine Wissenschaft, die, insofern sie sich den versehrten und übriggebliebenen Kulturresten einer katastrophalen Geschichte zuwendet, selbst der Katastrophe entsprungen ist und an sie gebunden bleibt. Als solche schreibt sie sich notwendig dem Strophischen als einem beschädigten und zugleich beharrlichen Imperativ des Wendens zu.“⁵⁵⁸
4.6.4 Vom Eigennutz des Betens Kaum eine andere Romangestalt aus Albert Cohens Figurenrepertoire personifiziert ein egoman verzerrtes Religionsverständnis glaubhafter als Arianes bigotte Schwiegermutter Antoinette Deume („la fausse chrétienne avec ses grimaces pieuses“, BdS ‐ 22), deren gelebtes Christentum in scheinheiligen Plattitüden erlahmt. Nicht das Herz erstrahlt bei dieser im Text als Dromedardame figurierenden
Kasper, Judith: Für eine Philologie der Kata/strophe. In: Ette, Ottmar u. Judith Kasper (Hrsg.): Unfälle der Sprache. Literarische und philologische Erkundigungen der Katastrophe.Wien, Berlin: Turia + Kant 2014. S. 7– 20, hier S. 18.
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Romanfigur (vgl. BdS ‐ 230) vor Nächstenliebe, sondern allein die den Schein wahrenden Brillengläser.⁵⁵⁹ Unter den Fittichen der vom oberen Gesellschaftsdrittel ausgeschöpften Privilegien wird Antoinette den zur Schau getragenen Glauben allenfalls im fernen Jenseits in die Tat umsetzen: „Nous sommes tous égaux au ciel mais pas sur terre“ (M ‐ 661), so die von Madame dem zurechtgewiesenen Dienstmädchen mit auf den Weg gegebene Lektion. Selbst ihre deutlich transparent gemachte antijüdische Gesinnung bezieht die Protagonistin unverfroren aus den Weisheitssprüchen der Hebräischen Bibel: „‚Comme passe le tourbillon, ainsi disparaît le méchant.ʻ Proverbes, chapitre X, verset 25. Bref, tu vois que les Juifs il faut toujours s’en méfier“ (BdS ‐ 230). Madame Deumes Ressentiments – und in dieser Hinsicht steht Adoptivsohn Adrien ihr in nichts nach – reaktivieren jene Ausprägung eines ebenso denkträgen wie vorurteilsgeleiteten Antisemitismus, wie Sartre sie aus soziologischer Perspektive dem Bürgertum zur Last trug: „Ils [les gens] ne veulent point d’opinions acquises, ils les souhaitent innées; comme ils ont peur du raisonnement, ils veulent adopter un mode de vie où le raisonnement et la recherche n’aient qu’un rôle subordonné, où l’on ne cherche jamais que ce qu’on a déjà trouvé, où l’on ne devient jamais que ce que déjà, on était.“⁵⁶⁰ Eklatante Formen des religiösen Missbrauchs kehrt das bei Cohen in erster Linie zur Befriedigung eigener Wünsche gemurmelte Gebet⁵⁶¹ in besonderem Maße hervor. Dass die bedeutungsentleerte, zur repetitiven Floskel gekappte Zwierede mit Gott den längst übersättigten Religionshunger der Genfer Bourgeoisie nur noch ungenügend stillen kann, demonstriert die aus der Metaphorik der Kulinarik schöpfende Erzählerstimme am Beispiel von Antoinette Deumes Seelenverwandter Madame Ventradour: Son palais religieux était blasé et il lui fallait sans cesse des condiments. C’est ainsi, par exemple, qu’elle changeait de Bible tous les cinq ans afin d’avoir le plaisir de souligner à neuf les passages réconfortants, tout en hochant une tête persuadée. Au fond, il faut bien le reconnaître, cette religion quotidienne ne laissait point d’embêter quelque peu Mme Ventradour, sans qu’elle s’en doutât, bien sûr. Aussi recherchait-elle, dans le premier sermon d’un pasteur débutant ou dans l’allocution d’un évangéliste noir ou dans la conférence d’un
„[…] sourit Mme Deume dont les verres de lunettes fulgurèrent d’amour“ (BdS ‐ 236). Sartre, Réflexions, S. 21. Zum Phänomen des bürgerlichen Antisemitismus bei Sartre vgl. auch Charlotte Wardi: „Selon Sartre, la personne qui a choisi de haïr le Juif prouve en réalité son incapacité d’assumer un engagement responsable.Vivant sur le mode passionnel et in-stinctif, elle s’oppose au cartésien en refusant le dialogue par incapacité de le soutenir.“ Wardi, Charlotte: Le Juif dans le roman français. 1933 – 1948. Paris: Nizet 1972. S. 36 f. „La bouche rincée, elle [Ariane] continua sa prière intéressée, comme toutes les prières, d’ailleurs“ (BdS ‐ 590). Noch im Modus der Parodie bleibt die Quintessenz dieselbe, schreibt Mangeclous doch in einem Brief an die englische Königin: „Réfléchissez un peu philosophiquement, et reconnaissez que les prières ont un but intéressé!“ (V ‐ 1029).
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prince hindou converti, le piment qui la persuadait que la religion était intéressante (BdS ‐ 313).
Die literarisch geübte Kritik an der pietätlosen Profanierung des Gebets sowie an der egozentrischen Instrumentalisierung Gottes drängt sich dem Leser dergestalt auf, dass selbst die Institution Kirche den Erfolgsroman bemühte, um die religionswidrige Zweckentfremdung an den Pranger zu stellen – ein lebensnahes Exempel für den einleitend vorgebrachten Wunsch nach einem konstruktiven Dialog von Literatur und Theologie.⁵⁶² Diese und ähnliche Werkpassagen aber werden von all jenen Zeilen neutralisiert, die eine authentische Gottesfurcht lehren, wie es im Proust imitierenden Incipit von Solal ⁵⁶³ an prominent platzierter Stelle der Fall ist: „L’oncle Saltiel s’était réveillé de bonne heure. A la fenêtre du pigeonnier qui, de nombreuses années, lui servait de demeure et qui était posé de travers sur le toit de la fabrique désaffectée, le petit vieillard brossait avec minutie sa redingote noisette et chantait à tue-tête que l’Eternel était sa force et sa tour et sa force et sa tour“ (S ‐ 89). Die Glaubensbedenken des Erzählers übertönt das weithin hörbare Loblied einer Romanfigur, die sich trotz materieller Not an Gottes Güte und Schöpfung erbaut. Saltiels karges Mahl – eine vertrocknete Kruste Brot, garniert mit einer Olive, Zwiebel und ein wenig Käse – bildet, so scheint es, die nutritive Kontrastfolie zum opulenten Festschmaus jener betuchten Genferinnen, die sich beim hastig gesprochenen Tischgebet als Dank für ihr täglich Brot an Kaviar, Brathuhn und Gänseleber erlaben (vgl. BdS ‐ 313). Zu diesem vielerorts verklärend nachtuschierten Gottesbild des Onkels aber blieb Cohen selbst zeitlebens auf Distanz.
In ebendieser Absicht rekurrierte die protestantische Gemeinde Saint-Etienne im elsässischen Mulhouse auf Autor und Roman in einem ihrer Kirchenblätter: „Nous marmonnons tous des prières plus ou moins élaborées, et je ne sais que penser de mes propres marmonnements. […] Ne sont-ils pas parfois une petite rengaine repliée sur elle-même, un marchandage, […]. Albert Cohen, dans son roman Belle du Seigneur, résume parfaitement l’instrumentalisation dont la prière peut faire l’objet: ‚Au fond ses prières c’est des ordres malgré le ton elle commande à Dieu (…) et surtout elle lui ordonne de lui donner l’ordre à elle de faire les choses qu’elle veut faire.‘“ Zitiert nach: Poser la prière dans son milieu naturel. In: Paroles protestantes 4B. In parodisierender Herausforderung spielt der Erzählauftakt auf das Incipit der Recherche an, setzt Du côté de chez Swann doch bekanntlich mit den Worten ein: „Longtemps, je me suis couché de bonne heure.“ Proust, Swann, S. 3.
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4.6.5 Carnets 1978: Zeugnis einer Glaubenskrise In Cohens autobiografischem Spätwerk gewinnt die den Dämpfeffekt der Fiktionalisierung hinter sich lassende Religionsschelte des Autors noch einmal an Profil. Unüberbrückbare Widersprüche erschweren auch hier die Kommunikation mit einem Gott, dem der Tagebuchschreiber, den Tod im Nacken, einen unanfechtbaren Daseinsbeweis abverlangen möchte. In den teils explizit als Zwierede ausgewiesenen Carnets tritt Gott als ein vom Sprecher-Ich apostrophierter Dialogpartner auf, was die mit Majuskeln bedachten Objekt- und Personalpronomina grafisch unterstreichen. Die schon im Le livre de ma mère mit beißendem Spott erhobenen Vorbehalte⁵⁶⁴ türmen sich in den Carnets zu einer emotional erhitzten Abrechnung mit dem Schöpfer auf: „C’est une scène d’amour que je Te fais“ (C ‐ 1160). In dieser intim aufgeladenen Atmosphäre wird der nach dem Negativbild eines fleghaften Sprosses abgestrafte Gottvater für seine Misserfolge zur Rede gestellt: „Tu ne mérites pas Ta chance, Dieu, d’être Dieu. Et je ne peux Te donner qu’un zéro de conduite“ (C ‐ 1153). Cohens Zürnen gegen das als puren Akt der Einbildung entlarvte Gebet intensiviert die Forderung nach einem aus sich selbst heraus existierenden Allmächtigen: „On me conseille aussi de prier, c’est-àdire de me suggérer à moi-même que Tu es. Je veux que Tu sois par Toi et non par moi. Je veux une foudre de vérité lancée sur moi par Ton amour“ (C ‐ 1161). Kein Geringerer als Gott hat hier auf der Anklagebank Platz genommen, jener perfide Täuschergott, der schon im Le Livre de ma mère des Vertrauensbruchs bezichtigt wurde: „Je crie à l’abus de confiance, à la sinistre plaisanterie. Ô Dieu, du droit de mon agonie qui est proche, je Te dis qu’elle n’est pas drôle, Ta plaisanterie de nous donner cet effrayant et bel amour de la vie pour nous allonger ensuite […]“ (Ldm ‐ 763). Dass Gott es höchstpersönlich war, der den Tod geschaffen hat, macht ihn unentschuldbar. Mit diesem durch keinerlei Wiedergutmachung zu relativierenden Vorwurf geht Cohen konform zu Canetti, der in seiner posthum edierten Aphorismensammlung, geschrieben gegen den Tod, Gott als Mörder kompromittierte.⁵⁶⁵ Schon der alttestamentliche Prophet Jesaja war für derlei Visionen eines für das Böse in der Welt einstehenden Schöpfers empfänglich.⁵⁶⁶
„Dieu m’aime si peu que j’en ai honte pour Lui“ (Ldm ‐ 751). „Et si on essayait de Dieu? Dieu, ça me rappelle quelque chose. J’ai eu quelques déconvenues de ce côté-là. Enfin quand Il sera libre, Il n’aura qu’à me faire signe“ (Ldm ‐ 757). „Du sollst nicht sterben (das Erste Gebot).“ Canetti, Elias: Das Buch gegen den Tod. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Carl Hanser 2014. S. 19. „Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt“ (Jes 45,7). Zur skrupellosen Gottesrede Jesajas vgl.
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In seinem letzten Text fügt Cohen der Anklageschrift noch zusätzlich belastendes Beweismaterial bei. Kein Ereignis lege vom Versagen des Beschuldigten eklatanter Zeugnis ab als die von Gott geduldete Auslöschung der in Europa lebenden Juden: „Et surtout, Tu as accepté tant de malheurs sur le peuple de Ton choix. Auschwitz, Dachau, Treblinka“ (C ‐ 1160). Im Entsetzen über die Shoah zwingt Cohen Gott zur Auseinandersetzung mit dem bestialischen Todesgestank einer Historie, die das Humanitätsideal des Abendlands unter sich verschüttete: „[L]es fumées de mon peuple sacrifié, noirs panaches vers le ciel s’élevant, avec leur puanteur que Dieu n’a pas sentie, funèbre encens d’un grand peuple“ (C ‐ 1107). Bereits im 1938 publizierten Roman Mangeclous ließ Solal ein in verstörender Weise vergleichbar ambivalentes Gottesbild entstehen: „Et si on parlait de Dieu? Dieu si gentil et qui aimait tout le monde et même les méchants, leur gaz asphyxiants et les bébés asphyxiés“ (M ‐ 550). Vor dem Hintergrund der ohne einzugreifen akzeptierten Katastrophe führt das Ich der Carnets das unwiderlegbare Scheitern der Theodizee zu Protokoll, bittet aber dennoch Gott ein allerletztes Mal um Rechenschaft: „Ô Dieu, Toi qu’ils disent riche en bonté et miséricorde, pourquoi Tes véritables noms sont-ils silence et indifférence? Je ne comprends pas. Si Tu es tel qu’ils disent, j’aurais dû recevoir l’appel, l’appel vrai, Ton appel, et non celui qu’ils fabriquent, se fabriquent en le proclamant venu de Toi“ (C ‐ 1162). In diesem Verlangen nach Gott ist Cohen ganz der biblische Hiob,⁵⁶⁷ in dessen Klagemonolog es heißt: „Gäbe es doch einen, der mich hört. Das ist mein Begehr, dass der Allmächtige mir Antwort gibt“ (Ijob 31,35). Dieser interfigurale Vergleich lässt sich um einen weiteren Zug ergänzen. Folgt man dem Wortlaut der biblischen Rede, so stellt Hiob den göttlichen Weltenplan mit schonungsloser Radikalität infrage: Das dem Alten Testament hinlänglich bekannte Bild eines handwerklichen Deus faber ⁵⁶⁸ verkehrt der Redner in sein blankes Gegenteil. Resultat ist ein Gott der Zerstörung, der das kostbare Kunstwerk Mensch, anstatt es unter seinen Schutz zu stellen, mutwillig zertrümmert: „Deine Hände haben mich gebildet, mich gemacht; dann hast du dich umgedreht und mich vernichtet“ (Ijob 10,8). Hiobs Absage an ein kohärentes Gotteswerk bleibt in den Lamentationen des jüdischen Autors lebendig: „Ô Dieu, j’ai vu Ton œuvre et je n’ai pas craint de Te lancer un irrespectueux regard. Et si Tu attends que je Te félicite ou Te remercie, Tu peux toujours attendre“ (C ‐ 1153). Indem Cohen die den Schöpfungsbericht
Oberhänsli-Widmer: „Es ist dies vielleicht die radikalste Aussage über die Verantwortlichkeit Gottes dem Bösen gegenüber.“ Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 10. Über diese dem Text in Gehalt und Rhetorik entnehmbare geistige Verwandtschaft heißt es bei Schaffner: „Mais c’est le personnage de Job, abandonné sans raison et livré à l’injustice, qui s’impose ici avec le plus de force.“ Schaffner, Le goût, S. 80. Vgl. Frevel, Wischmeyer, Menschsein, S. 15.
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rhythmisierende Billigungsformel – „Gott sah, dass es gut war“ – in pervertierender Absicht aufgreift, unterzieht er das von Gott Erschaffene einer verheerenden Fundamentalkritik. Ein nicht minder zerstörungswütiges Schlaglicht wirft der Hiob nacheifernde Cohen auf die vom Herrn verfügte Gottesebenbildlichkeit des ersten Menschenpaars und damit auf das „herausragende Moment der Menschenschöpfung“⁵⁶⁹: „Allons, nous, les survivants, que Dieu, paraît-il, a fait à Son image […]“ (C ‐ 1147). In stimmiger Verlängerung der schon in früheren Texten verarbeiteten Absurditätsrhetorik ist der in den Carnets gezeichnete Mensch Repräsentant einer Gattung, deren evolutionsgeschichtliche Entwicklung in einer der Willkür ausgesetzten Welt dem Primat des Zufalls unterstellt ist: „Las d’écrire, j’ai pris le petit miroir et je me suis regardé, un humain bizarrement arrivé en cette planète, un descendant héritier des premières espèces du monde vivant, fortuitement apparues […]“ (C ‐ 1176). Dass unter derart kontingenten Vorzeichen auch die Kreativität des Schreibers der Sinnfrage erliegt, ist da nicht weiter verwunderlich, und so dekretiert der Autor in einem die eigene Fabulierfreude bremsenden Zusatz: „Inutile de développer. Je vais bientôt mourir et il reste peu de temps“ (V ‐ 982). Im Verzicht auf eine Sinngebung durch Gott schafft sich der Künstler sein eigenes Paradies – ein Paradies der Trauer, bewässert von den Tränen jener, die den Toten überleben wird: „Non, il n’y a pas de paradis. Le deuil de ma bien-aimée sera mon seul paradis, le seul paradis auquel je puisse croire, paradis qui sera douleur, douleur de mon absence, douleur de mon lit vide, douleur de mes manuscrits inachevés“ (C ‐ 1175). Einem keinerlei Beistand leistenden Gott ist Cohens Göttin aus Fleisch und Blut deutlich überlegen: „Et bien, il me reste l’aimée, celle aux yeux d’étoile qui va revenir tout à l’heure, qui me remplacera l’Attendu, et je la regarderai, la regarderai jusqu’au jour de ma mort si proche“ (C ‐ 1162). Bei aller Wucht der geballten Anklage aber nimmt Cohen das Recht auf ein final bindendes Verdikt nicht in Anspruch. Denn verzweifelter noch als in jedem anderen Werk des Autors verstrickt sich das Ich der Carnets in eine unablässige Suchbewegung, in eine nicht enden wollende Kreisbahn um einen gleichermaßen verfluchten wie zurückgewünschten Gott: „Ô Dieu, mon amour, mon seul amour, combien étrange est ma situation. Je ne peux croire en Toi et je ne peux vivre sans Toi“ (C ‐ 1159). Abfall vom Glauben oder Rückkehr zum Glauben, Verzicht auf Gott oder Heimkehr zu Gott – es sind diese dem Text seine unverkennbare Struktur verleihenden Möglichkeitsräume, die der Autor ohne Aussicht auf Behebung dieser Widersprüche vollumfänglich ausschöpft: „Dès que je crois, je trébuche, et je ne crois plus. Dès que je ne crois plus, je me relève et je veux
Ebd., S. 14.
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croire, de toute âme et de tout amour croire“ (C ‐ 1166). Im Rekurs auf die biblische Sprachtradition des parallelismus membrorum ⁵⁷⁰ – hier dreigliedrig angeordnet nach dem Prinzip der Antithese – alterniert Cohen innbrünstigste Gottesehrfurcht mit tiefster Gottesskepsis: eine Skepsis, die in dem mit Datum vom zwölften Mai des Jahres 1978 überschriebenen Eintrag ein Schwall von Religiosität, ja Gott selbst jäh zu Fall bringt: „Et soudain Dieu a été, et j’ai balbutié dans ma joie, balbutié des remerciements éperdus, et j’ai demandé pardon, et Il m’a pardonné“ (C ‐ 1165). Stets aber beschleichen den reuigen Sünder neue Gotteszweifel, stets befällt den Schreibenden eine zyklisch wiederkehrende Gottesleere, was der alliterationsreiche Widerruf vom 26. Juni ebenso ernüchternd wie rhetorisch effektvoll belegt: „Mais ce n’était que folie de faible fils frémissant de frêle ferveur“ (C ‐ 1175). In der Aufzeichnung vom 14. April wiederum wird die von widersprüchlichsten Empfindungen gespeiste Glaubenskrise auf einer anderen Ebene ausgetragen, versucht der Schreiber hier doch ein erneuertes Begriffsverständnis, wonach Frömmigkeit sogar in Skrupeln ihre wahre Seinsbestimmung finden könne: „Et le plus beau de l’affaire, c’est que le religieux c’est peut-être moi, malgré mes mécréances, et non ces aimables dont les nobles croyances sont une supplémentaire bouillotte et un additionnel chauffage central et aussi une morphine“ (C ‐ 1157). Doch dieser quer zu allem Religionspessimismus liegende Bewältigungsversuch der Glaubensmisere erweist sich schon von vornherein als denkbar fragwürdige Alternative. Cohen selbst gab an, er habe sich bei der Niederschrift seiner Texte vom Skeptizismus des Predigerbuchs leiten lassen⁵⁷¹ – eine selbstreflexive Beobachtung, die indes nur partiell zuzutreffen scheint. Für eine Beeinflussung spricht, dass der Autor mit dem biblischen Sprecher-Ich ähnliche Grundansichten über den dem Individuum unergründlich bleibenden Daseinszweck und den Willen Gottes teilt. Was die Philosophie des Predigers aber von Cohens Denken unterscheidbar macht, ist die finale Einsicht in die sinnstiftende Allmacht und Gerechtigkeit des Schöpfers. Die Parallelen enden mithin dort, wo die Frage nach einem von Gotteshand durchgesetzten sinnkonstituierenden Weltenplan zur Diskussion steht.⁵⁷² Auffällige Übereinstimmungen ergeben sich dafür in ganz anderer Hinsicht. Denn Kohelets zweigleisig zu denkender Skeptizismus hebt immer auch auf eine Philosophie des carpe diem ab, die in Anbetracht der dem alttestamentlichen Menschen wesenseigenen Idee vom Tod als „absolute
Zum parallelismus membrorum als poetischer Sprachform des Buchs der Sprüche und der Psalme vgl. Schöpflin, Bibel, S. 197. Vgl. Malka, athée, S. 21. Zur Theologie des Koheletbuchs vgl. Gertz, Grundinformation, S. 80.
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[r] Grenze“⁵⁷³ auf umso fruchtbarerem Grund gedeiht. Von Cohens Wahrnehmung des Liebe-Tod-Verhältnisses war schon im Vorfeld die Rede. Im hier erörterten Zusammenhang lohnt sie nochmalige Beachtung, sind Kohelet und er sich doch einig im Hinblick auf die Pflicht des Menschen, im wahrsten Sinne des Wortes zeitgemäß zu lieben – im Einklang mit jener knapp bemessenen „Zeit zum Lieben“ (Koh 3,8) nämlich, die Gott dem Menschen gnädig zur Verfügung stellt: „Mit einer Frau, die du liebst“, so schreibt der Prediger, „genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst“ (Koh 9,9). Wie bewandert Cohen darin war, mit der Vertrautheit biblischer Themen und Motive zu jonglieren, zeigt die im Denken des Autors höchste Priorität genießende Umkehrung des Erwählungsdogmas. Demnach trage nicht Gott als Urheber die Verantwortung für den Bundesschluss, sondern Israel, das Jahwe zu seinem Gott erklärt habe: „Il est la création de mon peuple. Il est l’âme de mes prophètes projetée vers le ciel. Israël n’est pas l’élu de Dieu, mais Dieu est l’élu d’Israël“ (C ‐ 1166). Alles, was bislang vom alttestamentlichen Menschen gesagt wurde – „das Paradox, dass er zu höchsten Höhen fähig ist und doch zugleich verletzlich und angreifbar ist“⁵⁷⁴ –, hat damit auch grundsätzliche Bedeutung für die zwischen Sanftmut und Jähzorn schwankende Gottesnatur, „qui est le tempérament du prophète juif, colérique et bon et si naïvement sérieux […]“ (C ‐ 1174). Mit Blick auf die hier behandelte Kernfrage der Gott-Mensch-Beziehung entpuppt sich das durcheinandergeratene Prinzip der Ebenbildlichkeit als Friedensstifter, verleiht es Gottes Präsenz in der Welt doch erst ihren ethischen Sinn. Angestoßen durch den im Triebverzicht wurzelnden Willen zum Menschsein habe der Gotteserfinder Moses den Durchbruch zu einer auf Geboten und Verboten gründenden neuen Ära der Humanität erzielt:⁵⁷⁵ Grandiose folie. Un beau jour, un très beau jour et qui est la gloire de l’univers, un de mes ancêtres, être de la nature et membre de l’espèce animale, a décidé follement le schisme, a décidé ridiculement, sur ses deux jambes velues et encore torses, qu’il ne voulait plus être de la nature et obéir à ses lois. Il a décidé qu’il obéirait aux Commandements nouveaux qu’il
Frevel,Wischmeyer, Menschsein, S. 20.Weiter heißt es: „Eine Vertröstung auf eine Endzeit, in der sich die Gerechtigkeit durchsetzt und der Mensch für ein ‚ewiges Leben‘ im ‚Himmel‘ oder ‚Paradies‘ wiederhergestellt wird, ist dem alttestamentlichen Menschen über weite Strecken fremd.“ Ebd., S. 26. Diese positive Funktion von Religion, basierend auf Verhaltensmaximen einer die animalischen Instinkte des Menschen ausmerzenden Geistigkeit, war eine wichtige Säule auch des Freudschen Religionsverständnisses. Vgl. hierzu Fußnote 578.
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inventait au nom de Dieu qu’il inventait aussi, Commandements sublimes qui allaient, de par sa volonté, le transformer en homme. Vers quelle impossible et merveilleuse aventure désespérée cet anthropoïde s’est lancé! (C ‐ 1170).
Im perspektivenverkehrten Blick auf das biblische Sinai-Ereignis entwirft Cohen das Porträt eines fintenreichen Gesetzesgebers, der sich zur Durchführung seines revolutionären Plans – der Bekämpfung der menschlichen Triebenergie – auf die höchstmögliche Instanz und ein von Gott signiertes Gesetz berief. An dieser Stelle können wir die im Eingangskapitel gelegten Spuren zu Thomas Mann wieder aufnehmen. Denn so wie Albert Cohen in zunehmend verschärfter Form für eine humanitäre Deutung der am Sinai ihren Anfang nehmenden Gründungsgeschichte Israels eintrat, verlangte auch der Lübecker Romancier nach jener Erfolg verheißenden Synthese, die Ethik und Religiosität in der Moses-Novelle paradigmenhaft eingingen.⁵⁷⁶ Anders aber als Mann, dessen „leitmotivischer Genitiv von der Gotteserfindung“ ein ums andere Mal unentschieden lasse, „ob es sich um einen genitivus subiectivus oder um einen genitivus obiectivus handle,“⁵⁷⁷ stellt das Ich der Carnets in dieser Frage unzweideutige Bezüge her. Je mehr Albert Cohen mit einer individuell annehmbaren Glaubenslösung hadert, umso leichter kommt ihm das Bekenntnis zu einem auf dem Boden der Humanität gewachsenen jüdischen Monotheismus über die Lippen, wie ihn auch Sigmund Freud verstand.⁵⁷⁸ Monstranzartig tragen die Texte des gottlosen Juden Cohen ein derart gespaltenes Religionsverständnis vor sich her: „[C]e Dieu en qui je ne crois pas, mais qui me fait trembler d’amour parce qu’Il est né du cœur de mes patriarches et juges et prophètes bien-aimés, parce qu’Il est sublime et saint, parce qu’Il est notre Dieu“ (C ‐ 1166). Von ihrer frappantesten Seite aber zeigt sich die in den Carnets verteidigte Umkehrung vertrauter biblischer Sachverhalte im Umgang des Schriftstellers mit dem Thema Freiheit. Entgegengesetzt zur christlichen Lesung des Schöpfungsberichts als Rechtfertigung für die dem Menschsein zugehörige Sündhaftigkeit erblickt das Judentum in der Genesis die „Geschichte der freien Entscheidung
Zur Moses-Novelle als „literarischem Paradigma“ vgl. Kuschel, Karl-Josef: ‚Mein Gott, die Menschen‘… Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der MosesNovelle ‚Das Gesetz‘. In: Mieth (Hrsg.), Erzählen, S. 237– 258, hier S. 244. Detering, Heinrich: Thomas Manns amerikanische Religion. Theologie, Politik und Literatur im kalifornischen Exil. Frankfurt/Main: Fischer 2012. S. 64. Den „Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit“ führt Freud in seinem letzten Werk auf das Bilderverbot des jüdischen Monotheismus zurück – ein Verbot, mit dem Freuds ägyptischer Moses „die Strenge der Aton-Religion überboten hat.“ Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964. S. 146.
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zwischen Gut und Böse“⁵⁷⁹, ja Oberhänsli-Widmer spricht gar vom „Drama menschlicher Mündigkeit.“⁵⁸⁰ In seiner gegenwartsbezogenen Auslegung des Kainsberichts nimmt Lévinas auf den kruzialen Willensakt der Wahl in lebendiger Weise Bezug. Stimmen, die hinter Kains an Gott gerichtete Frage „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9) einen provokativen Affront des Mörders vermuten,⁵⁸¹ erteilt der Philosoph ein klares Nein. Zu verstehen sei diese Replik ganz im Gegenteil als das Sichvergewissern eines Zweiflers, der sich über die ihm auferlegte Verantwortungspflicht nicht im Klaren sei.⁵⁸² Diese unerlässliche Bewusstseinsschärfung bildet mit dem Judaisten Ephraim Meir das spezifisch jüdische Kernstück der Lévinasschen Philosophie.⁵⁸³ Nun stehen aber die Carnets, wie schon von Schaffner festgestellt,⁵⁸⁴ ganz unter der Vorgabe eines radikalen Verzichts auf jene vom Menschen stets neu zu erstreitende Wahlfreiheit, die Goodman-Thau völlig zu Recht als „zweischneidiges Schwert“⁵⁸⁵ bezeichnete. Nirgendwo sonst, und in diesem Punkt ist Schaffner vorbehaltlos beizupflichten, trete die Verwerfung des biblischen Erbes so unübersehbar zutage wie in der von Cohen dem Leser abverlangten „connaissance et acceptation de l’universelle irresponsabilité“ (C ‐ 1192). In extremer Abkehr vom biblischen Freiheitsprimat stagniert das Spätwerk des Autors in einem nach den Gesetzen der Vererbungslehre funktionierenden Determinismus, „tous commandés et déterminés que nous sommes, par nos chromosomes et leurs gènes, entre autres“ (C ‐ 1191 f.), die resignierend ausgestandene Skrupellosigkeit einer kompetitiven Weltgesellschaft vollends hinnehmend: „[E]n ce notre terrible monde dont la loi est de vaincre pour n’être pas vaincu“ (C ‐ 1192). Eine solche Zuspitzung der in Belle du Seigneur noch aus der Innensicht des marginalisierten Juden geäußerten Infragestellung der menschlichen Freiheit⁵⁸⁶ war zweifelsohne nicht vorhersehbar.
Goodman-Thau, Erbe, S. 20. Oberhänsli-Widmer, Bilder, S. 34. Dies gilt etwa für Peter Sloterdijk: „Kains wirkliche Antwort hat in ihrer Kürze noch genügend zynischen Biss: […] Ein allwissender und allgerechter Gott, lässt Kains Retourkutsche durchblicken, sollte sich solche Gewissenssticheleien sparen können.“ Sloterdijk, Kritik. Bd. 2, S. 514. Vgl. Lévinas, Difficile liberté, S. 37. „Levinas defines the subject as ‚elected‘ to bear the Other, as called to ethical maternity.“ Meir, Judaism, S. 161. „Cette dernière conception, tardive et radicale, est sans doute une de celles par lesquelles la pensée de Cohen s’éloigne le plus du judaïsme traditionnel, qui érige en principe intangible le libre arbitre humain face à la liberté de Dieu.“ Schaffner, Le goût, S. 96. Goodman-Thau, Erbe, S. 21. „Ce philosophe Sartre qui écrit que l’homme est totalement libre, moralement responsable, idée bourgeoise, idée de protégé, de préservé“ (BdS ‐ 855).
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Wie aber, so die entscheidenden Fragen, sind diese dem biblischen Freiheitsverständnis zuwiderlaufenden Thesen der Carnets unter Berücksichtigung der von schwerer Krankheit geprägten Werkgenese⁵⁸⁷ zu werten und in welchem Maß diminuieren sie die Glaubwürdigkeit der, so sahen wir, doch deutlich jüdisch eingefärbten tendresse de pitié? Bei Schaffner gerät Cohens antichristlich konzipierte Nächstenliebetheorie jedenfalls eindeutig in den Verdacht eines fraglichen Substituts: „La sacralité purement humaine […] n’apparaît que comme un pis-aller face à une double et désespérante absence: celle de la mère et celle de Dieu.“⁵⁸⁸ In Anbetracht der die ethische Botschaft des Textes mindernden unleidlichen Lebenswirklichkeit des Autors sowie angesichts der gesamten Werkentwicklung sind Aussagen wie diese mit der gebotenen Besonnenheit zu prüfen. Denn sichtet man, wie hier geschehen, Cohens Gesamtschaffen unter dem Stichwort einer in den Texten des Autors Entfaltung findenden Ethik der Liebe und Konvivenz, so zeigt sich, dass die dem Mitleid nahestehende tendresse de pitié zu einem „ÜberlebensGnosem“ im Sinne Ettes ausreift, „in dem ein stets bedrohtes Leben reflektiert und in Kraft verwandelt wird.“⁵⁸⁹ Trotz mancher Skepsis zollt auch Schaffner dieser Cohens Schaffen durchziehenden Schreibstrategie den gebührenden Respekt: „Peu de modernes ont osé se réclamer avec une telle constance d’une vision morale de l’homme et du monde, peu d’œuvres ont à ce point tenté d’articuler une poétique et une éthique.“⁵⁹⁰ Blenden wir abschließend zu der von Cohen selbst gestellten Ausgangsfrage zurück: „L’homme vainqueur de Dieu, comment est-ce possible?“ Eine Antwort bleiben die Carnets uns schuldig, scheint sich das Werk in der strikten Verweigerung eines erlösenden Fluchtpunkts doch in Endlosschleifen zu verlieren. Dem Verfasser tut sich daher keine andere Alternative auf, als das nahezu täglich neu in Angriff genommene Schreibprojekt den inkohärenten Gesetzmäßigkeiten dieser permanenten Suche anzupassen: „Ô pages percluses, croyantes et incroyantes, confidentes empestées de mélancolie, tristes pages disparates, écrites au gré d’humeurs discordantes, lentement écrites sous une étrange dictée, rêveusement écrites à l’aveuglette et au lugubre hasard“ (C ‐ 1197 f.). So überrascht nicht, dass sich die den Text beschließenden Worte – Worte, die Cohens über Jahrzehnte hinweg praktiziertes Schreiben gleichfalls dem unwiderruflichen Ende zuführen – nur in interrogativer Satzform zu erheben wagen: „Est-ce une faute de n’attendre que de Toi?“ (C ‐ 1199). Mit dieser allerletzten an Gott adressierten Frage bricht der
In den letzten ihm verbleibenden Lebensjahren litt Cohen unter schweren, durch Anorexie verschlimmerten Depressionen. Vgl. Peyrefitte, Chronologie, S. CV. Schaffner, Le goût, S. 112. Ette, ZusammenLebensWissen, S. 319. Schaffner, Zard (Hrsg.), Albert Cohen, S. 16.
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Text jäh ab und verstummt. Als ein den Tod des Schriftstellers überdauerndes Zeugnis steht sie zugleich sinnbildhaft für die Unmöglichkeit der einträchtigen Gottesrede bei Albert Cohen, für die Unmöglichkeit des vertrauensvollen Zwiegesprächs zwischen Gott und Autor. In einer Schlussbetrachtung von Laure Michon-Bertout schafft sich daher zu Recht die These Raum, wonach das Ich – anders als bei der das Schreiben katalysierenden Konfliktbewältigungsstrategie gegenüber dem camelot – an dieser letzten Prüfung scheitere: „L’enfance comme la vieillesse de Cohen sont marquées par une expérience traumatisante, mais si le traumatisme identitaire des dix ans a pu être surmonté, le traumatisme métaphysique résonne lui beaucoup plus tragiquement car il s’inscrit dans l’imminence de la mort et le sentiment d’une ‚mortelle lassitude‘.“⁵⁹¹
Michon-Bertout, Laure: Cohen et l’antisémite: Lecture d’une relation. In: Albert Cohen face à l’histoire, S. 55 – 74, hier S. 74.
Fazit und Ausblick Das im Werk Albert Cohens vor der geistigen Bezugsfolie des Judentums entworfene Kaleidoskop zwischenmenschlicher Beziehungsformen ist seinem hohen ethischen Anspruch nach auf jene „voyageurs en Humanité“ zurückführbar, die in geistiger Nähe zur jüdischen Luftmenschenmetapher das Welt- und Menschenbild des Direktors der La Revue juive begründeten. Ausgehend von dieser jenseits räumlicher Zuordnungen operierenden Denkfigur der Liebe dürfen wir Cohens Mitte der 1920er Jahre gleichermaßen gattungs- und disziplinübergreifend gesetzten Impulse für eine Stärkung des europäischen Judentums als ebenso entschlossenen Aufbruch in eine nicht grundlos großgeschriebene neue Humanität verstehen. Dieser stand denn auch am Anfang einer Entwicklung, deren Ziel es war, Ethik und Schriftstellertum in eine Verbindung zu bringen, die ihre Folgerichtigkeit aus dem jüdischen Monotheismus bezog. Gezeigt werden konnte, inwiefern schon Albert Cohens früher Zeitschriftenbeitrag Israël, le Juif et les romanciers français, zu lesen als wichtige literarästhetische Vorstudie, an der Verhältnisbestimmung zwischen Religion, Ethik und Literatur teilhatte. Dieser in seinem Einfluss auf das Gesamtwerk des Autors von der Forschung bislang unterbewertete Essay maß der Literatur ihre zentrale Funktion als Trägerinstanz einer religionsbegründeten Morallehre bei. Mit den ebenfalls im Hinblick auf diese ethische Zielsetzung analysierten Kurztexten des Autors war die Schwelle von der Theorie zur Fiktion dann endgültig überschritten. Schon hier wurden wichtige produktionsästhetische Zusammenhänge zwischen Cohens früher und späterer Schaffensphase sichtbar, bargen die Texte im Kern doch all jene anthropologischen Schlüsselthemen, die der Schriftsteller in Romanform konsolidierte. Mit Solal erschuf der Autor nach den Vorgaben der eigenen Theorie eine prototypische Romanfigur, die an der von ihm selbst vorgelebten und schon der La Revue juive eingeschriebenen Universalisierbarkeit des Judentums scheiterte und ihr ungleich angeschlageneres Verhältnis zum Ich und zur Umwelt durch die Romane hindurch mit sich trug. An Cohens Solal ließen sich all jene Negativzüge des Luftmenschentums ermessen, die den Assoziationsbereich des Bodenlosen in seinem ganzen lähmenden Ausmaß mit dem Vokabular der Unentschlossenheit, der Angst und der Gefahr auffüllten. Überblickt man Albert Cohens Werkgeschichte, so gestaltet sich eine Sortierung der Texte nach zeitlichen oder inhaltlichen Kriterien problematisch, da sich die sonderbare Werkgenese einer linearen Chronologisierung verschließt und sich die immergleichen Themen und Motive, ihrer unterschiedlichen künstlerischen Aufbereitung zum Trotz, gattungsübergreifend unablässig repetieren. Es erschien daher sinnvoll, den im Schaffen des Schriftstellers erzählerisch zur Entfaltung DOI 10.1515/9783110526103-006
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gebrachten Fragenkomplex der Konvivenz im Hauptteil der Arbeit nicht text-, sondern themenzentriert zu behandeln. Dabei setzte die Zusammenschau von jüdischen Denktraditionen und literarisch verdichteten Formen der Liebe verschiedenartigste Muster der Inbezugsetzung frei: Die aus dem Blickwinkel des Judentums analysierte Gestalt des Androgyns verwies auf eine Werk wie auch Person des Autors auszeichnende polyvalente Grundstruktur, die Cohens Romanfiguren nicht weniger heteroklite Identitäts- und Alteritätserfahrungen aufzwang. Der im Schreiben des Autors Schlüsselbedeutung zukommenden Nächstenliebe konnte eine besondere Affinität zu den Prinzipien der alttestamentlichen Nächstenliebelehre nachgewiesen werden. Albert Cohens ästhetisch ausformulierte Theorie des Mitleids warf zuallererst die Frage nach dem Mitleid mit dem des Kollektivs verstoßenen Fremdling auf, um in Folge, den Boden des Judentums verlassend, den gemeinschaftsstiftenden Motor dieses ethisch wertvollen Gefühls in den Vordergrund zu rücken. Einen weiteren wichtigen Zugang zu der bei Cohen breit aufgefalteten Wechselbeziehung zwischen Liebe und Judentum eröffnete die Paradiesgeschichte der Genesis. Was in dieser Urerzählung von der Liebe das Interesse des Autors erregte, war in erster Linie die darin symbolreich zur Verdichtung gebrachte Dialektik von Fall und Hoffnung, von Verlust und Sehnsucht nach Wiederherstellung einer Ordnung, die die Erfahrung des Mangels – sei es in Form einer schmerzhaften Selbstentzweiung, sei es in Form einer verunmöglichten Bindung des Ich an das Du – rückgängig macht. In dem Maße, in dem das Mitleid als ethische Instanz bei Cohen der Wiederannäherung an den verlorenen Urzustand dienlich war, wirkte die Eifersucht diesem Prozess der Harmonisierung entgegen. Ungeachtet aller Zeitlosigkeit erhielt auch sie im Werk des Autors ein geschichtliches Moment zugewiesen, das von der spezifischen Lebenssituation des in der Zerstreuung lebenden Juden her zu deuten war. Entlang der ebenso ambivalent wie idealisierend bearbeiteten Ursprungsthematik unternahmen die Texte des Schriftstellers die Auslotung der Beziehung zwischen Judentum und Mutterliebe. Dabei wurde die auf das affektive Umfeld der Geschlechtsliebe umsemantisierte Mutterliebe weitergedacht als regulativer Gegenpol der unter Brüchigkeit zu leiden habenden Paarbeziehung. Mit dem omnipräsenten Gedenken der monotheistischen Gottesidee gravitierte das Cohensche Œuvre um eine ebenso irritierende wie faszinierende Bezugsgestalt, die entgegen ihrer Fehl- und Angreifbarkeit zum Fluchtpunkt aller Ethik wurde. Aus alldem ging hervor: Im steten Rückbezug auf die von Albert Cohen zur moralischen Pflichtlektüre erklärte Bibel verfertigte der Schriftsteller eine Ethik der Liebe, die ein Kontinuum umfasst von den Lebensweisungen der Thora bis in die heutige Zeit hinein. Stets war sein Zugriff auf den biblischen Urtext vom Interesse an einer Erziehung des Menschen zur Sittlichkeit geleitet, deren Prekarität er in seinen Romanen über das von Antisemitismus und Homogenisierungswahn
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in den Würgegriff genommene Europa der Zwischenkriegszeit zur Anschauung brachte. Der dieses Gesellschaftsgemälde auf einer übernationalen Ebene abbildende Völkerbund stand in Cohens Fiktion schon dem trügerischen Namen nach als Kürzel für die misslingende Mission, die jüdische Minderheit in das soziale Gefüge des Kontinents zu integrieren. Doch statt einen auf die spezifische Randwahrnehmung des Helden eingrenzbaren Wissens- und Erlebenshorizont zu konstruieren, produziert das Werk eine hybride Fülle an Befunden, die den Erfordernissen menschlichen Zusammenlebens in gleichem Maße gerecht werden wie dem Identifikationsbedürfnis von Lesern unterschiedlichster Herkünfte und Kulturen. Da Albert Cohen sein Jüdischsein immer schon mit einem an vielerlei Kontaktpunkte anknüpfenden universalethischen Auftrag verbunden sah, zeigte sein Schaffen von vornherein keinerlei Komplexitätsscheu. Die in den Texten des Schriftstellers so aufwändig ausgehandelte Frage des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, ob in individuellen Kleinstgebilden oder in gesamtgesellschaftlichen Formationen, war dabei in Relation mit jenem den Begriff der Luftexistenz positivierenden Literaturverständnis der jüdischen Moderne zu sehen, das „auf unbegrenzte imaginäre Beweglichkeit“¹ hin ausgerichtet war.Vor diesem bereits La Revue juive ideologisch einfärbenden mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund werfen Cohens Romane eine inhaltliche Vielfalt auf, in der Jüdisches und Nichtjüdisches in einem alles zur Verschmelzung bringenden Gesamttableau ineinanderfließen, das sich seiner verbindungsfreudigen Gestaltung nach mit Marc Chagalls „gemaltem Text“² vergleichen ließe: Zudem ist in den Bildsynthesen Chagalls nicht weniger von den modernen Metropolen Paris und Berlin die Rede, also jenen Orten, in denen die Bilder entstanden, als von der jüdischen Kleinstadt, über die sie erzählen. […] Hier trafen sich Tradition und Aufbruch, Religion und Säkularisierung, Phantasie und Experiment zu einem künstlerischen Zeitkommentar, in dem eine partikulare Erfahrung ihre universellen Bezüge zu erkennen gab.³
Das nachweisliche Desinteresse der Cohen-Forschung an einer im Sinne Ettes lebenswissenschaftlich vorgehenden Werklektüre und -interpretation könnte mit dem Favorisieren eines Untersuchungsblickwinkels zu tun haben, der die Literarisierung jüdischer Identitätsbildung einerseits und das für die Schreibweise des Autors typische Spannungsverhältnis zwischen widerstreitenden Wahrheitsansprüchen andererseits in den Vordergrund rückt. Beide Fokussierungen haben zweifelsfrei ihre Berechtigung, doch gerät dabei die aus Albert Cohens Ästhetik
Berg, Luftmenschen, S. 42. Ebd., S. 54. Ebd., S. 58.
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Fazit und Ausblick
ableitbare Ethik der Liebe nicht ins Abseits oder, vielleicht schlimmer noch, in den Verdacht eines von Ambivalenzen erschütterten, unauflösbaren Paradoxons? Anders gefragt: Steht die zweifelsfrei unverzichtbare und vom Künstler selbst gewollte Etikettierung als jüdisch nicht einer unbefangenen lebensdienlichen Lesart des Werks im Wege? Auch galt es für jene im Schreiben des Autors konfigurierte Philosophie der Ortlosigkeit zu sensibilisieren, wie sie schon in Israël, le Juif et les romanciers français von der Warte des religions- und geschichtsbewussten Beobachters aus vorgezeichnet war. Damals wie heute scheinen die von Cohens Romanfiguren zurückgelegten transitorischen Bewegungsmuster im Raum symbolisch für ein Selbst- und Weltbewusstsein einzustehen, das die Frage nach ethnisch-kulturellen Zugehörigkeiten jenseits territorialer Grenzmarkierungen stellt und damit über den Bezug zur Rede vom Luftmenschentum hinaus jener Begriffsdefinition der Diaspora sehr nahekommt, wie sie in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussionen als „Schlüsselmetapher gegenwärtiger Identitätspolitiken“⁴ längst Usus geworden ist.Von einer solchen in spezifischer Weise postmodernen Lesung her, die den historischen Diaspora-Begriff mit dem der Jetztzeit verklammert, versteht auch Odette Varon-Vassard ein literarisches Œuvre, das gerade in der nach diesen transnationalen Maßstäben neu zu kartografierenden Welt des 21. Jahrhunderts nichts an Gegenwartsnähe eingebüßt, ja sogar daran hinzugewonnen habe: „Cette identité culturelle de la diaspora juive, multiple, ouverte à diverses définitions et redéfinitions, pourrait être aujourd’hui un repère intéressant et précieux, au moment où les replis identitaires et les divers fondamentalismes prennent le dessus.“⁵ Hieran anknüpfen ließe sich mit dem schon von Maurice Blanchot formulierten Desiderat nach einer Gesinnung, die ihrer monolithischen Denkstarre entfliehen und erkennen möge, dass das in der Gestalt des Präfixes „ex“ sprachlich realisierte Moment des Heraustretens aus den Lexemen Exil und Exodus nicht minder wegzudenken sei wie aus dem der Existenz schlechthin: „L’exode, l’exil indiquent un rapport positif avec l’extériorité dont l’exigence nous invite à ne pas nous contenter de ce qui nous est propre (c’est-à-dire de notre pouvoir de tout assimiler, de tout identifier, de tout rapporter à notre Je). L’exode et l’exil ne font qu’exprimer la même référence au Dehors que porte le mot existence.“⁶ Blanchots Worte können, so glaube ich, eine unschätzbare Verstehensgrundlage für jede Cohen-Lektüre sein. Es bleibt zu hoffen, dass in der mit ähn Mayer, Diaspora, S. 12. Varon-Vassard, Odette: Littérature juive de la diaspora: l’identité culturelle juive dans l’œuvre d’Albert Cohen. In: Albert Cohen et la modernité littéraire, S. 115 – 130, hier S. 130. Blanchot, L’entretien, S. 186.
Fazit und Ausblick
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licher Aufgeschlossenheit als bewegliche „Vernetzungswissenschaft“⁷ zu praktizierenden deutschen Romanistik das Werk Albert Cohens eines Tages jenen prominenten Platz im Kanon der französischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts einnimmt, der ihm seit jeher zusteht.
Ette, Romanistik, S. 117.
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Personenregister Abécassis, Armand 35, 117 Abecassis, Jack I. 3, 18, 21, 97, 104, 124, 126 f., 247, 274 Adorno, Theodor W. 47 Alejchem, Scholem 110 d’Alembert 174 Arendt, Hannah 86, 107, 151 Assmann, Aleida 31 f., 147 Assmann, Jan 28, 42, 103, 147, 152 Auerbach, Elias 46 Auerbach, Erich 32, 38 Auroy, Carole 16, 55 f., 103, 173, 216, 218, 247 Ausländer, Rose 41, 43, 51 Bachelard, Gaston 45 Bachtin, Michail M. 101 Balfour, Arthur James 63 f. Balzac, Honoré de 185 Barthes, Roland 231 Baudelaire, Charles 67, 244, 246, 266 Beauvoir, Simone de 250, 267 Belisle, Mathieu 16 Bellow, Saul 92 Ben Jelloun, Tahar 247 Benda, Julien 74 – 76, 82, 84, 88, 90, 108, 111, 190 – 192, 207 Benz, Ernst 114 f. Berg, Gundula van den 40 Berg, Nicolas 6, 68, 92, 110, 154, 216, 297 Bergson, Henri 269 Blanchot, Maurice 55 f., 78, 152, 298 Blot, Jean 2, 5, 19, 121 Bonder, Glenio 19 Boulanger, Alison 18, 55 Bras, Pierre 167 f. Braudel, Fernand 17 Braungart, Wolfgang 49 Brecht, Berthold 48 Brenner, Michael 66 Breton, André 244 Brocher, Elisabeth 204, 269, 273, 277 Brocke, Edna 5 Buber, Martin 42, 117, 180
Cabot, Jérôme 12, 15, 90, 163 Camus, Albert 185 f., 205, 275 Canetti, Elias 17, 58, 216, 236, 250, 286 Chagall, Marc 297 Champigny Cohen, Myriam 19, 87, 109 f., 204, 269, 273 Chaplin, Charlie 4, 86 Chardin, Philippe 227, 239 Chateaubriand, François René de 4 Coen, Louise 204, 259, 264 Cohen, Bella 12, 19, 113, 117, 149, 150, 204, 262, 271 f. Cohen, Hermann 172 f., 180 – 184, 190, 193, 207 Cohn, Chaim Herman 167 Cohn, Dorrit 27 Crüsemann, Frank 146 Cyrulnik, Boris 108 Daemmrich, Horst S. u. Ingrid G. 206 Decout, Maxime 18, 25, 146, 198 f., 211 Döblin, Alfred 72 Domin, Hilde 131 f. Dostojewski, Fjodor M. 185 f. Doubrovsky, Serge 250 Dreyfus, Alfred 61, 64, 73, 82, 141, 167 Dujardin, Edouard 104 f., 128 Duprey, Véronique 13 f., 21, 193 Ebach, Jürgen 31, 36, 40, 136 Ebeling, Hans 173, 178 Ebreo, Leone 114 f. Egyptien, Ursula 22, 150, 250 Einstein, Albert 67 Enderlein, Isabelle 17, 23 f., 58, 110 Ette, Ottmar 6 f., 12, 22 – 24, 49 – 53, 56, 78, 85, 104, 121, 130, 142 f., 145, 185, 197, 208 f., 213 f., 222 – 225, 231, 247, 253, 280 f., 283, 293, 297, 299 Faber, Richard 31, 36, 40 Fhima, Catherine 63, 69 – 71 Finkelstein, Bluma 16, 103, 161, 279 Finkielkraut, Alain 4, 64, 74, 101, 141, 252
320
Personenregister
Fix-Combe, Nathalie 2, 246, 267 Forst, Rainer 139, 141 – 143 Foucault, Michel 103 Frenzel, Elisabeth 32 f., 88 Freud, Sigmund 13, 59, 61, 67, 79, 84 f., 113, 134, 223, 225, 238, 269, 291 Frevel, Christian 34, 38 f., 42, 117, 123, 165, 209 f., 287, 290 Friedländer, Saul 45 Friedrich, Hugo 67 Funkenstein, Amos 41 Galle, Roland 223, 227, 238 Gary, Romain 59, 146, 249 – 258, 260 Gaulle, Charles de 251 Gellner, Christoph 29, 31, 40 f., 43, 46, 51 f. Genette, Gérard 54, 198 f. Gephart, Werner 5, 278 Gide, Charles 67 Gilman, Sander L. 13, 60, 107 f., 247 Goergen, Bertrand 14, 125, 215, 246 f., 271 Goethe, Johann W. von 48, 142 Goitein-Galpérin, Denise R. 4, 13, 18, 55, 65, 100, 154, 247 Goodman-Thau, Eveline 39, 131, 146, 167, 292 Gradwohl, Roland 4 f. Grimaldi, Nicolas 228 – 231 Guterres, Antonio 170 Hacker, Katharina 34 Halbwachs, Maurice 42 Hamburger, Käte 45 f., 172 f., 184 – 188, 190, 198, 200, 205, 207 Hegel, Georg W. F. 47 Heine, Heinrich 28, 48 Herzl, Theodor 63, 101 Hesse, Hermann 112 f. Hitler, Adolf 45 f., 120, 160, 164, 216, 279 Honigmann, Barbara 11, 19 f., 23 Hülk, Walburga 20, 22, 24 f. Imer, Yvonne 204, 262 Isenschmid, Andreas 21
Jacob, Max 18 Jahraus, Oliver 244 f. Joyce, James 18 Kafka, Franz 16, 48, 72 Kasper, Judith 283 Kern, Manfred 35 Kilcher, Andreas B. 6, 58 f. Killisch-Horn, Michael von 20 f. Kleeberg, Michael 20 f. Krauss, Heinrich 32, 149 Küchler, Max 32, 149 Küng, Hans 165, 167 Kuschel, Karl-Josef 10, 30, 40, 46 – 48, 52, 122, 165, 291 La Rochefoucauld 235, 238 Lacretelle, Jacques de 73 – 75, 82 f., 106 Langenhorst, Georg 9 f., 28 – 31, 33, 38, 46, 61 Lanzmann, Claude 1, 244, 265 Lasker-Schüler, Else 54 Laval, Pierre E. 160 Lehnert, Gertrud 225 Lessing, Gotthold Ephraim 46, 174, 178 Lessing, Theodor 107, 193, 247 Lévinas, Emmanuel 48, 91 – 93, 115 f., 126, 136, 144 f., 148, 261, 292 Lévy, Clara 16, 59, 157 Lewy-Bertaut, Evelyne 14, 117, 150, 210 Lhote, Marie-Josephe 16 Lieb, Ludger 35 Link-Heer, Ursula 224, 238, 241 Lugassy, Maurice 18, 153 Luhmann, Niklas 269 Maalouf, Amin 94, 158 Maisier, Véronique 156 – 158, 193 Malinovich, Nadia 64 f., 180 Malka, Victor 3, 110, 154, 157, 160, 289 Mann, Thomas 16, 45 f., 81, 185, 291 Marks, Elaine 26 f., 59 Marrus, Michael 60 f., 65 Marx, Karl 73, 79 Marx, Werner 172 f., 184, 188 – 190, 198, 207 Mathys, Hans-Peter 133 – 136, 161
Personenregister
Matt, Peter von 208 f., 212 f., 239 f., 243, 248 f., 265, 286 Mauron, Charles 14 Mayer, Ruth 6, 107, 248, 298 Memmi, Albert 25, 28, 43, 60, 79, 94, 219 – 222 Merkel, Angela 173 Messadié, Gérald 65, 73, 152, 277 Meyers, Rhys 19 Michon-Bertout, Laure 294 Mieth, Dietmar 46 – 48, 56, 194, 291 Milkovitch-Rioux, Catherine 14, 17, 85, 248 Millet, Olivier 29, 31 Modiano, Patrick 44 f., 59 Mosès, Stéphane 31, 50 f., 115 – 117, 124, 182, 209 Münz, Christoph 42, 184 Namer, Gérard 26 Nansen, Fridtjof 169 Némirovsky, Irène 53, 146 Nietzsche, Friedrich 179, 237 Nissen, Andreas 135 – 137, 139, 181 Nussbaum, Martha C. 48 Nyssen, Hubert 15 Obergöker, Timo 59 Oberhänsli-Widmer, Gabrielle 34, 36, 53 – 55, 126, 132, 223 f., 287, 292 Öhlschläger, Claudia 48 f., 248 Özdamar, Emine Sevgi 49 Panofsky, Erwin 59 Perec, Georges 43 – 45, 59, 146 Peyrefitte, Christel 12, 56, 280, 293 Pilarczyk, Heide 22, 24, 101, 210, 245 f. Platon 115 f., 119 Prinz, Ursula 112, 117 Proust, Marcel 20, 61, 78, 99 f., 106, 224 – 231, 233 – 235, 237 – 244, 249, 262, 285 Rauschning, Hermann 45 Rees, Thomas 35 Reich-Ranicki, Marcel 78 f., 81 Renz, Ursula 183 f., 193 Riedel, Wolfgang 172, 174, 187 Rivière, Jacques 71, 78
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Rombach, Heinrich 47 Rosenzweig, Franz 180 Rougemont, Denis de 2, 112, 260, 270, 272 Rousseau, Jean-Jacques 9, 77, 172, 174 – 178, 180, 187, 190, 196, 269 Sadkowski, Piotr 140 Sartre, Jean-Paul 26, 127, 235, 284, 292 Saussure, Ferdinand de 70 Schaffner, Alain 1, 4, 15 f., 18 f., 23, 25 – 27, 54, 66 f., 71 f., 78, 84, 86, 117 – 122, 151, 153, 161, 166, 171 f., 197, 202, 212, 216, 233, 237, 246, 256, 259, 268 f., 274, 277 f., 287, 292 f. Schöne, Albrecht 37 f. Schopenhauer, Arthur 9, 172 f., 177 – 180, 187, 190, 196 Schüle, Andreas 34 – 36, 114, 136 – 138, 145, 159 f. Sloterdijk, Peter 84, 292 Spire, André 65 Starobinski, Jean 176 Steinbrück, Peer 173 Stendhal 125, 235 Stolz, Claire 14, 80, 128, 140, Tawada, Yoko 49 Tellenbach, Hubertus 223 f., 226, 230, 233, 240 Tharaud, Jérôme u. Jean 73 Thau, Norman D. 15 f., 59, 72, 96, 103 f., 109, 141, 150 f., 166 Trabant, Jürgen 146 f. Ullendorff, Edward
134
Valbert, Gérard 3, 12, 19 f., 64, 86, 105, 109, 158, 169, 171, 226 Varon-Vassard, Odette 166, 298 Veltkamp, Ingrid 227, 230 Vodianova, Natalia 19 Waldenfels, Hans 5, 278 Warning, Rainer 229, 238 Weizmann, Chaim 67, 71 Wiesel, Elie 33, 39 f., 132, 145, 147, 161, 224, 282
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Personenregister
Wirth-Nesher, Hana 57 f. Wolf, Christa 40 f., 53, 132 Wolf, Jean-Claude 179 Wolfsteiner, Beate 22
Zangwill, Israel 65 Zard, Philippe 1, 4, 12, 16, 25, 67, 84, 123, 140, 147, 153 – 155, 157, 165, 293 Zepp, Susanne 3, 23 Zola, Emile 65, 73, 185 Zweifel, Stefan 11, 282 Zweig, Stefan 72, 186