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German Pages [460] Year 2023
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Olivier Agard / Barbara Beßlich / Cristina Fossaluzza (Hg.)
Liberalismus (be-)denken Europa-Ideen in Wissenschaft, Literatur und Kulturkritik (1900–1950)
Unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher
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Mit freundlicher Unterstützung des Dipartimento di Studi Linguistici e Culturali Comparati der Universität Ca’ Foscari Venedig, der Faculté des Lettres an der Sorbonne Université Paris, des Germanistischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA).
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Abb. links oben: Paul Valéry, fotografiert von Henri Manuel, ca. 1925, https://en.wikipedia.org/ wiki/Paul_Val%C3 %A9ry#/media/File:Paul_Val%C3 %A9ry_-_photo_Henri_Manuel.jpg Abb. rechts oben: Thomas Mann und Ida Roland-Coudenhove-Kalergi auf der PaneuropaKundgebung in der Berliner Singakademie, 1930; Bundesarchiv, Bild 183-P0214–511 / Fotograf: ohne Angabe Abb. unten: Briefmarke Giuseppe Antonio Borgese, Il Ministero delle Imprese e del Made in Italy, https://www.mimit.gov.it/it/comunicati-emissioni-francobolli/francobollo-commemorativo-digiuseppe-antonio-borgese-nel-140-anniversario-della-nascita Abb. Rückseite: Titelblatt Europäische Revue, Jg. 1, H. 1 (1925), Scan: Tillmann Heise Korrektorat: Ute Wielandt, Markersdorf Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21710-7
Inhalt
Olivier Agard, Barbara Beßlich, Cristina Fossaluzza Liberalismus (be-)denken. Europa-Ideen in Wissenschaft, Literatur und Kulturkritik (1900–1950) .................................................................
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I. Europa-Entwürfe in kulturphilosophischen und kulturkritischen Diskursen Gérard Raulet Zur kritischen Identität Europas. Philosophische Diskursfiguren der Zwischenkriegszeit ........................................................................... 33 Cristina Fossaluzza Kulturkritik und Utopie. Giuseppe Antonio Borgeses Europa – vom Liberalnationalismus zum Liberalhumanismus................................... 51 Maurizio Pirro Theodor Lessings Europa-Bild im Kontext seiner kulturkritischen Schriften .. 67 Olivier Agard Max Schelers Europa. Vergeistigung des Liberalismus und Ausgleich ........... 81 Bérénice Palaric Zur Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Max Scheler und Ernst Troeltsch ............................................................. 99 Gabriele Guerra Eine kulturpolitische Pathosformel für das europäische Bildungsbürgertum. Deutscher Geist in Gefahr von Ernst Robert Curtius (1932) .................................................................... 117 Frédéric Attal L’idée d’Europe de Chabod...................................................................... 131
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Inhalt
II. Politische Ordnungsentwürfe zwischen Nation und Europa Gabriele D’Ottavio Das junge und das alte Europa. Guglielmo Ferrero und die Konstruktion eines populärwissenschaftlichen Topos (1897–1918) .............. 143 Massimiliano De Villa Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära. Orientierungen und Krisenbewusstsein .................................................... 161 Christian E. Roques Deutschland als Problem und Lösung. Friedrich W. Foersters Traum einer europäischen Föderation in der Zwischenkriegszeit ................. 181 Olimpia Malatesta Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘. Die politische Entpolitisierung von der Innenpolitik zur europäischen Ordnung ........................................................................... 197 Mathieu Dubois Weder Nationalismus noch Supranationalismus. Das Europa der Ordoliberalen........................................................................................ 217 Tristan Coignard Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas? Théodore Ruyssen (1868–1967) und der Zustand der Anarchie im Zeitalter des Ersten Weltkriegs ................................................................ 235 Marcus Llanque Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa ........................... 249 Reinhard Mehring Staat, Reich und „Vogel Ziz“. Carl Schmitts Zerfallsanalyse seiner „Großraumordnung“ .............................................................................. 267 Thomas Keller Europa als dritter Weg. Von den Nonkonformismen der Zwischenkriegszeit zur europäischen Integration ....................................... 285
Inhalt
III. Dichter und Weltanschauungsliteraten im Europa-Diskurs Tomislav Zelić Über Freiheit und Lust an der Unterwerfung zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer am Vorabend des Ersten Weltkrieges .............. 309 Paola Cattani Nouvelle Revue française 1919, ou le libéralisme en question (A. Gide, P. Valéry, J. Rivière)................................................................... 323 Reto Rössler ‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit. Verflechtung und Interdiskursivität von Essayistik, interkulturellen Schreibweisen und Romanpoetiken am Beispiel von Yvan Goll, Carl Sternheim, Thomas Mann und Robert Musil ...................................... 335 Claudia Cippitelli, Giulia Frare Jenseits des Politischen. Alfred Döblins Reflexionen über Deutschland und Europa ........................................................................ 355 Tillmann Heise Dorische Welt – Dorisches Europa? Ästhetischer Aristokratismus zwischen Poetologie und Weltanschauung in Gottfried Benns Essays 1933/34 ...................................................................................... 371 Friedhelm Marx Thomas Manns Europakonzepte im amerikanischen Exil............................ 387 Barbara Beßlich Zeitbloms „Festung Europa“. Nationalsozialistische Europapläne – (un)zuverlässig erzählt in Thomas Manns Doktor Faustus ........................... 401 Johannes Dafinger Agent und Instrument. Hans Friedrich Blunck, die Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und das nationalsozialistische „neue Europa“ .. 415 Bernhard Walcher Mythos, Macht und Markt. Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg........................................... 429
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Inhalt
Autor*innenverzeichnis .......................................................................... 445 Personenregister .................................................................................... 451
Olivier Agard, Barbara Beßlich, Cristina Fossaluzza
Liberalismus (be-)denken Europa-Ideen in Wissenschaft, Literatur und Kulturkritik (1900–1950) In Europa lässt sich derzeit in einigen Ländern eine Entwicklung hin zur illiberalen Demokratie beobachten, wie sie Fareed Zakaria oder Pierre Rosanvallon (für den sich der Begriff ursprünglich auf die bonapartistische Kultur in Frankreich bezog) definiert haben.1 Häufig beruft sich diese Vorstellung einer illiberalen Demokratie auf die nationale Souveränität gegen die rechtlichen Regelungen der Europäischen Union. Sie versteht sich einerseits als plebiszitäre Alternative zur repräsentativen Demokratie in ihrer heutigen Form, indem sie das souveräne, einheitliche Volk in den Mittelpunkt rückt, und ist andererseits als Alternative zum föderalen Europa, im Namen eines Europas der Nationen, gegen Globalisierung und Kosmopolitismus gerichtet. Die liberalen Grundlagen der Europäischen Union, die nach 1989 als gesichert erscheinen konnten, werden nun also wieder in Frage gestellt. Diese Kritik nimmt verschiedene Formen an und ist nicht unbedingt immer autoritär oder antidemokratisch. Beispielsweise teilt in Frankreich eine Philosophin wie Céline Spector die Kritik am derzeitigen Europa als bürgerfern, ist aber der Ansicht, dass die Lösung in der Entwicklung einer geteilten Souveränität und einer europäischen Solidarität liegt.2 Obwohl sich Geschichte nie wiederholt, erinnert die heutige Debatte in mancherlei Hinsicht an Diskussionen der 1920er und 1930er Jahre über den Liberalismus, die verschiedene Formen des Neoliberalismus hervorgebracht haben.3 In diesem Kontext lohnt es sich, auf die Europa-Ideen zurückzublicken, die in der Zeit vor 1950 diskutiert wurden, in einer Zeit also, als Europa noch ein offenes Projekt war. Dieses Anliegen war der Impuls für das vom CIERA unterstützte Projekt „(Re)penser le libéralisme: les idées d’Europe 1900‒1950“, das auf einer Zusammenarbeit zwischen der Sorbonne Université, der Universität Heidelberg und der Università Ca’ Foscari Venezia beruhte. Am Ende ihrer Studie über Europakonzepte in Deutschland plädiert Vanessa Conze für eine stärkere Berücksichtigung 1 Vgl. Zakaria, Fareed: The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, New York/London 2003; Rosanvallon, Pierre: Fondements et problèmes de l’‚illibéralisme‘ français, https://academiesciencesmoralesetpolitiques.fr/2001/01/15/fondements-et-problemes-delilliberalisme-francais/ (letzter Zugriff 13.03.2023). 2 Vgl. Spector, Céline: No demos? Souveraineté et démocratie à l’épreuve de l’Europe, Paris 2021. 3 Dazu Audier, Serge: Néolibéralisme. Une archéologie intellectuelle, Paris 2012.
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der „Europa-Ideen“ in der Geschichtsschreibung, und unser Projekt schließt sich dieser Perspektive kultur-, ideen- und literarhistorisch an.4 Natürlich sind die intellektuellen Europa-Debatten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und insbesondere der 1920er Jahre) nicht unbedingt ein unerforschtes Gebiet. Aber sie wurden bisher meistens als liberale Vorgeschichte der demokratischen europäischen Einigungsbemühungen der 1950er Jahre betrachtet, die zur politischen Identifikation einladen.5 Die ideengeschichtliche Dimension, die in unserem Projekt im Vordergrund steht, ist in diesen Forschungen nicht etwa abwesend, aber sie steht mit einigen Ausnahmen nicht im Mittelpunkt.6 Meistens fokussierte sich bisher der Blick auf Diskurse innerhalb der liberalen europäischen Bewegung (oder der verschiedenen europäischen Bewegungen). Seit einiger Zeit sind jedoch auch die antiliberalen Europa-Projekte des frühen 20. Jahrhunderts in den Blick der geschichtswissenschaftlichen Forschung geraten, wobei dann die Frage nach der Kontinuität und der Diskontinuität zwischen diesen Strömungen und der Gründung der Europäischen Gemeinschaft aufgeworfen wurde.7 Historiker kamen in letzter Zeit nicht selten zu dem Schluss, dass es trotz der ideologischen Gegensätze auch paradoxe Kontinuitäten gibt.8 Der Akzent lag bei unserem Projekt auf den philosophischen Wurzeln, den intellektuellen Konstellationen und literarischen Kontexten der verschiedenen
4 Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920‒1970), München 2005, S. 403. 5 Vgl. etwa Mariacher, Barbara/Enklaar, Jattie/Tax, Evelyne (Hg.): Eurovisionen. Europa zwischen Globalisierung und Polarisation. Innen- und Außenansichten von Europa in Literatur, Geschichte und Philosophie, Würzburg 2019; Johann, Wolfgang/Patrut, Iulia-Karin/Rössler, Reto (Hg.): Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne, Bielefeld 2019; Vietta, Silvio: Europas Werte. Geschichte ‒ Konflikte ‒ Perspektiven, Freiburg/München 2019; Zelić, Tomislav (Hg.): Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, Würzburg 2015. 6 Beispielsweise Greiner, Florian/Pichler, Peter/Vermeiren, Jan (Hg.): Reconsidering Europeanization. Ideas and Practices of (Dis-)Integrating Europe since the Nineteenth Century, Berlin/Boston 2022; Ferry, Jean-Marc: L’idée d’Europe. Prendre philosophiquement au sérieux le projet politique européen, Paris 2013; Lacroix, Justine: La pensée française à l’épreuve de l’Europe, Paris 2008; Guieu, JeanMichel/Le Dréau, Christophe/Raflik, Jenny/Warlouzet, Laurent (Hg.): Penser et construire l’Europe au XXe siècle, Paris 2007. 7 Vgl. Gosewinkel, Dieter (Hg.): Anti-liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, Oxford/ New York 2015. 8 Für eine differenzierte Behandlung dieser Frage vgl. Soutou, Georges-Henri: Europa! Les projets européens de l’Allemagne nazie et de l’Italie fasciste, Paris 2022, S. 352‒368; Fioravanzo, Monica: L’Europa fascista. Dal „primato“ italiano all’asservimento al Reich (1932‒1943), Mailand 2022; Bauerkämper, Arnd/Kaelble, Hartmut (Hg.): Europa. Visionen und Praxis im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2022; Dafinger, Johannes/Pohl, Dieter (Hg.): A New Nationalist Europe under Hitler. Concepts of Europe and Transnational Networks in the National Socialist Sphere of Influence 1933‒1945, London 2019.
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Europa-Ideen, die in der ersten Jahrhunderthälfte entwickelt wurden. Unser Ziel bestand darin, die Vielfalt und die Komplexität dieser Debatten wiederzugeben, unabhängig von ihrer unmittelbaren konkreten Nachwirkung. Daher haben wir uns nicht auf Autoren beschränkt, die für ihre Vorstellungen zu Europa bereits bekannt sind, sondern auch Autoren einbezogen, die bisher nicht unbedingt aus dieser Perspektive behandelt worden sind. Bei Autoren, die schon als Europäer kanonisiert sind, war es uns wichtig, den ideengeschichtlichen Hintergrund stärker zu beleuchten als bisher üblich. Da es hier um Ideen geht, war das Projekt von vornherein interdisziplinär angelegt. Denn man findet diese Europa-Ideen sowohl bei Schriftstellern und Essayisten als auch bei Philosophen, Soziologen, Historikern oder bei politischen Akteuren. Unser Korpus ist also vielfältig: essayistische und weltanschauungsliterarische Texte, aber auch fiktionale Literatur, historische und philosophische Abhandlungen. Unsere Ausgangshypothese war, dass man im Hintergrund dieser EuropaVisionen oft einen kulturkritischen Diskurs über die Moderne finden kann, der die Moderne als Krise deutet und Europa als mögliche Lösung dieser Krise betrachtet. Es war uns also wichtig, die Europa-Ideen in diesen geistigen Gesamtkontext der modernen Krisendiskurse einzubeziehen, die bereits Gegenstand früherer gemeinsamer Projekte gewesen waren.9 Ohne diesen Hintergrund der umfassenden Kulturdiagnosen lässt sich die Logik der verschiedenen Positionen zu Europa in dieser historischen Phase oft kaum verstehen. Diese Wahrnehmung der Moderne als Krise ist aber nicht nur eine deutsche Angelegenheit, auch wenn diese Kulturkritik in Deutschland und Österreich besonders virulent gewesen ist. Bereits in unseren früheren gemeinsamen Forschungsprojekten zur Kulturkritik und zu intellektuellen Legitimierungsversuchen des Ersten Weltkriegs wurde großer Wert auf die deutsch-französische Perspektive gelegt, teilweise um eine vergleichende Dimension einzuführen, teilweise auch um Transfers zwischen den Ländern zu beschreiben. Es schien uns im Falle der Europa-Diskurse relevant, auch Italien einzubeziehen, nicht zuletzt wegen der Rolle, die Italien, das ja mit Frankreich und Deutschland zu den Gründungsmitgliedern der Europäischen Gemeinschaft gehört, in diesen Debatten gespielt hat. Hinzu kommt, dass der Faschismus in der Zwischenkriegszeit als negatives Gegenbild oder aber auch bei einigen Europa-Denkern als ein positiv wahrgenommenes Modell einen großen Einfluss auf die Reflexion über die Demokratie gehabt hat, sowohl in
9 Agard, Olivier/Beßlich, Barbara (Hg.): Kulturkritik zwischen Deutschland und Frankreich 1890‒1933, Frankfurt a. M. 2016; Agard, Olivier/Beßlich, Barbara (Hg.): Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation? Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918), Frankfurt a. M. 2018; Beßlich, Barbara/Fossaluzza, Cristina unter Mitarbeit von Tillmann Heise und Bernhard Walcher (Hg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890‒1938), Heidelberg 2019.
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Frankreich als auch in Deutschland und Österreich (für Deutschland wurde dies von Jens Hacke ausführlich nachgewiesen).10 Selbst ein überzeugter Europäer wie Coudenhove-Kalergi betrachtete Mussolini positiv als einen Nietzscheaner mit aristokratischen Werten, und die europäischen Völker brauchten seiner Meinung nach eine Synthese aus staatlicher Autorität und Kontrolle durch das Volk (während das Parlament für ihn die Wiege von Ideologien war, die von ihm als schädlich angesehen werden, nämlich Sozialismus und Nationalismus).11 In den untersuchten Ländern ist die erste Jahrhunderthälfte eine Zeit der kritischen Hinterfragung des liberalen Fortschrittsdenkens gewesen, und uns schien, dass der Europa-Diskurs nur aus diesem Kontext heraus zu verstehen ist. Trotz der politischen Unterschiede waren in der Tat die verschiedenen Länder mit ähnlichen modernen Entwicklungen konfrontiert wie der Säkularisierung, der Wende zur Massendemokratie, der Entwicklung der technischen Rationalität. Da wir den Zusammenhang zwischen Europa-Diskursen und der Reflexion über die Moderne nachweisen wollten, haben wir uns für einen zeitlichen Rahmen entschieden, der bereits um 1900 einsetzt, obwohl sich in der Tat die Diskussion über Europa vor allem nach 1919 intensivierte, als Reaktion auf die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Auf der Grundlage unserer früheren Arbeiten schien es relevanter, schon davor zu beginnen, denn viele deutsche und österreichische Autoren haben schon während des Ersten Weltkriegs eine Vision von Europa entworfen, oft in Verbindung mit einer kulturellen Diagnose, die ihre Wurzeln in der Kulturphilosophie der 1900er Jahre hat. Der Erste Weltkrieg trug nicht nur zu einer Politisierung und Nationalisierung der kulturkritischen Diskurse bei. Er rückte das Thema Europa in den Mittelpunkt der Diskussion. Insbesondere in Deutschland und Österreich wurde der Krieg oft im Namen von Europa-Ideen legitimiert, wobei sich mehrere Entwürfe gegenüberstanden. Vor dem Hintergrund des Kriegs erlebte der Mitteleuropa-Diskurs (insbesondere von Friedrich Naumann) seine Blütezeit (er blieb auch in der Weimarer Republik und der Ersten Republik in Österreich sehr lebendig, insbesondere in antirepublikanischen Kreisen).12 Von dieser Hinwendung zur europäischen Frage 10 Vgl. Hacke, Jens: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018. Allgemein zum Themenkomplex Faschismus in Europa vgl. auch Breuer, Stefan: Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005. 11 Vgl. hierzu Conze, Vanessa: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Zürich 2004; Gusejnova, Dina: European Elites and the Ideas of Empire (1917‒1957), Cambridge 2018. 12 Dazu Le Rider, Jacques: Mitteleuropa, Paris 1994; Elvert, Jürgen: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918‒1945), Stuttgart 1999; Fossaluzza, Cristina: Phönix Europa? Krieg und Kultur in Rudolf Pannwitz’ und Hugo von Hofmannsthals europäischer Idee, in: Bru, Sascha et al. (Hg.): Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent, Berlin 2009, S. 113‒125; Magerski, Christine: Imperiale Welten. Literatur und politische Theorie am
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zeugen auch Autoren wie Georg Simmel, Max Scheler oder Ernst Troeltsch. Die intensive Europa-Diskussion der 1920er und 1930er Jahre, der viele Beiträge dieses Bandes gewidmet sind, beginnt also nicht bei Null. Man könnte meinen, dass der Zweite Weltkrieg eine Unterbrechung dieser Überlegungen zur Einigung Europas, insbesondere im nationalsozialistischen Deutschland, markiert. Dies trifft zweifellos zu, wenn es um die oberste Führung des Regimes geht, aber wie etwa Thomas Sandkühler nachgewiesen hat, besteht auf den mittleren und unteren Ebenen auch eine gewisse Kontinuität, was die konkreten Europa-Pläne betrifft.13 Darüber hinaus wurden in den Kreisen der Exilanten und des deutschen Widerstands (der von der ‚Konservativen Revolution‘ geprägt war) auch Pläne für Europa entwickelt.14 Auch in der Vichy-Zeit bleibt in Frankreich das europäische Projekt ein Thema. In der unmittelbaren Nachkriegszeit standen sich dann mehrere Konzeptionen der europäischen Demokratie gegenüber, die weitgehend aus den Überlegungen der 1930er Jahre hervorgegangen waren. Als
Beispiel Habsburg, Weilerswist 2018; Csáky, Moritz: Das Gedächtnis Zentraleuropas. Kulturelle und literarische Projektionen auf eine Region, Wien/Köln/Weimar 2019; Heise, Tillmann: „Schöpferische Restauration“ und Habsburg „reloaded“. Hugo von Hofmannsthals Europa-Ideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die Europäische Revue, in: Beßlich/Fossaluzza (Hg.): Kulturkritik der Wiener Moderne, Anm. 9, S. 87‒104; Walcher, Bernhard: Europa-Utopien und Habsburg-Mythos. Weltkriegsende und Zukunftsperspektiven in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (1918–1938), in: Haberland, Detlef/Mihály, Csilla/Orosz, Magdolna (Hg.): Literarische Bilder vom Ersten Weltkrieg. Exemplarische Analysen, Wien 2019, S. 172–190; Beßlich, Barbara: Europa als Ersatz. (Mittel-)Europa-Konzepte als Lösung für Vielvölkerstaatsprobleme (Hermann Bahr) und Kompensation für Altösterreichverluste (Hugo von Hofmannsthal)?, in: Dies.: Das Junge Wien im Alter. Spätwerke (neben) der Moderne (1905‒1938), Wien 2021, S. 137‒158; Lajarrige, Jacques/ Schmitz, Walter/Zanasi, Giusi (Hg.): Habsburgs Untergang ‒ Mitteleuropas Aufstieg. Literatur eines zerrissenen Kontinents, Dresden/München 2021; Wolf, Norbert Christian: Europa-Konzeptionen in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit: Hofmannsthal – Zweig – Musil, in: Innerhofer, Roland/Ritz, Szilvia (Hg.): „Sehnsucht nach dem Leben“. Tradition und Innovation im Werk Hugo von Hofmannsthals, Wien 2021, S. 9‒24. 13 Vgl. Sandkühler, Thomas (Hg.): Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920‒1960, Göttingen 2002; Kletzin, Birgit: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung, Münster 2000; Mazower, Mark: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009; Grunert, Robert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940‒1945, Paderborn 2012; Gosewinkel, Dieter: Antiliberales Europa ‒ eine andere Integrationsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 351‒364; Dafinger/Pohl (Hg.): A New Nationalist Europe under Hitler, Anm. 8; Joas, Hans: Großraumordnung mit Interventionsverbot: Carl Schmitt und die Europapläne des Nationalsozialismus, in: Ders.: Friedensprojekt Europa? München 2020, S. 41‒59; Herbert, Ulrich: Deutsches Europa und großgermanisches Reich, in: Ders.: Wer waren die Nationalsozialisten? München 2021, S. 157‒183. 14 Siehe hierzu Gillmann, Sabine: Die Europapläne Carl Goerdelers. Neuordnungsvorstellungen im nationalkonservativen Widerstand zwischen territorialer Revision und europäischer Integration, in: Sandkühler (Hg.): Europäische Integration, Anm. 13, S. 77‒98.
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Europa dann in den 1950er Jahren eine politische Realität wurde, verlor die intellektuelle Debatte an Intensität, und darum haben wir das Jahr 1950 als Grenze des Projekts gesetzt. Europa wurde zunehmend zu einem verwaltungstechnischen und politischen Problem. Der Kalte Krieg und der damit verbundene cold war liberalism trugen auch zu einer gewissen Verarmung der Debatte bei, denn Europa war nicht mehr ein Denkexperiment, sondern bürokratische Realität. In den Krisendiskursen, die den Hintergrund vieler Europa-Ideen der Jahre 1900‒1950 bilden, spielt der Begriff „Liberalismus“ eine wichtige Rolle. Es gibt bekanntlich keinen wirklichen Konsens über diesen Begriff, der in den verschiedenen Ländern unterschiedlich aufgefasst wird. Es gibt natürlich klassische Autoren des Liberalismus (wie Adam Smith), aber selbst die Deutung dieser Autoren ist umstritten. Gegen eine Tradition, die die Wirtschaftstheorie in den Vordergrund rückt, deutet zum Beispiel Catherine Audard den Liberalismus vorwiegend als eine Anthropologie, eine Auffassung vom Menschen.15 Hinzu kommt, dass sich der Liberalismus in verschiedene Richtungen weiterentwickelt hat, was zu Unsicherheiten führt, wenn es darum geht, Diskurse einzuordnen, die den klassischen Laissez-faire-Liberalismus korrigieren wollen. So wird bei James T. Kloppenberg oder bei Catherine Audard die kritische Revidierung des Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts als eine Form der immanenten Kritik am Liberalismus betrachtet,16 während Serge Audier diese Kritik teilweise dem „liberalen Sozialismus“ zurechnet, der sowohl in Frankreich (Camille Sabatier) als auch in Deutschland (Franz Oppenheimer) und Italien (Carlo Rosselli) vertreten ist, ein liberaler Sozialismus, der versucht, republikanische oder sozialistische Elemente in den politischen Liberalismus zu integrieren und somit mehr als eine Variante des Liberalismus darstellt, insofern er die Rolle des Marktes in Frage stellt.17 Auf der Grundlage einer Analyse der programmatischen Heterogenität der Parteien, die sich im 19. Jahrhundert in Europa als liberal bezeichnen, plädierte der Historiker Jörn Leonhard zu Beginn des 21. Jahrhunderts dafür, diese Kategorie aufzugeben.18 Trotz dieser Definitionsschwierigkeiten sind wir der Ansicht, dass dieser Begriff über nationale Unterschiede hinweg als positiver oder negativer Kristallisationspunkt weiterhin von Interesse ist. Wie Dieter Gosewinkel in seinem Band über das antiliberale Europa benutzen wir dabei den Begriff „Liberalismus“ als „heuris-
15 Vgl. Audard, Catherine: Qu’est-ce que le libéralisme? Éthique, politique, société, Paris 2009. 16 Vgl. Kloppenberg, James T.: Uncertain Victory. Social Democracy and Progressivism in European and American Thought 1870‒1920, New York 1986. 17 Vgl. Audier, Serge: Le socialisme libéral, Paris 2013. 18 Siehe Leonhard, Jörn: Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001.
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tisches Werkzeug“.19 Man wird also in dem vorliegenden Band keine normative Definition des Liberalismus finden. Für die deutschen Kulturkritiker ist bekanntlich der Liberalismus Teil eines Kultursystems, der über die bloß politischen und wirtschaftlichen Aspekte hinausgeht. Aber selbst wenn man Liberalismus in einem engeren Sinne auffasst, als Verbindung von repräsentativer Demokratie und Vertrauen in den Markt, wie es zum Beispiel Jens Hacke macht, lässt sich nicht leugnen, dass der Liberalismus eine Krise durchmachte, denn dieses System wurde spätestens nach dem Ersten Weltkrieg mit der Massifizierung der Demokratie und mit wirtschaftlichen Aufgaben konfrontiert, die ein aktives Eingreifen des Staates notwendig machten. Das Modell des Nachtwächterstaates war nun nicht mehr glaubwürdig. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts war der Versuch in Europa gemacht worden, die Grenzen eines liberalen Modells im Bereich der Sozialpolitik zu korrigieren und ein Gleichgewicht zwischen Demokratie und Liberalismus zu schaffen. In diesem Kontext machten sich aber auch antidemokratische, demokratieskeptische Ideen breit. Aus diesem Grund war es uns wichtig, auch das antiliberale Europa in den Fokus zu nehmen. Gerade in der Zwischenkriegszeit zirkulieren nicht nur friedvolle und demokratische Europa-Ideen, sondern auch solche, die auf den Untergang der Großreiche 1918 mit kontinentalen Größenphantasien reagieren, die keinesfalls als demokratische Vorläufer der Europäischen Union gelten können, sondern antiliberale und autoritäre Europa-Konzepte entwickeln, die von der Literatur nicht nur aufmerksam beobachtet und kommentiert, sondern teils auch in ihr entworfen werden. Die verschiedenen Beiträge des vorliegenden Bandes bestätigen unsere Ausgangsthese, wonach die Europa-Idee als Mittel zur Erneuerung oder Kritik der liberalen Demokratie mobilisiert wurde, wobei es eindeutig demokratische und eindeutig autoritäre Projekte gibt, aber auch viele Entwürfe, die sich in einer Grauzone bewegen. In manchen Europa-Ideen, die in diesem Band behandelt werden, lässt sich diese politische Ambivalenz beobachten. Die Grenzen, die heute zwischen Liberalismus und „Illiberalismus“ gezogen werden, waren damals nicht immer so eindeutig.20 Selbst im Diskurs der militanten Befürworter eines vereinten Europas, die oft das Ziel haben, dieses liberale Modell zu retten,
19 „We deliberately employ the term liberal to denote a construct of conceptual elements, regarded by historical actors as essential – on whose semantic value consensus can be said to exist for a certain point of time in history – until the end of the period under study. However, this simplifying and typifying construction sets no normative standard for what is liberal, but introduces a concept of liberal as a heuristic tool serving as a point of reference and yardstick for deviating political concepts that are historically antecedent or run counter to this definition of political concepts and approaches with a liberal thrust“, Gosewinkel (Hg.): Anti-liberal Europe, Anm. 7, S. 5. 20 Vgl. hierzu Beßlich, Barbara/Heise, Tillmann: Verfreundete Europäer im Kampf mit der Moderne, in: Ruperto Carola 17 (2021), S. 122–131.
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finden sich Ambivalenzen: So hat Richard Coudenhove-Kalergi, wie schon erwähnt, ein komplexes und kritisches Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie. Ein anderes Beispiel für diese Ambivalenz ist Max Scheler, dem es darum geht, durch die föderale Idee eine solidarische Alternative zur westlichen individualistischen Demokratie zu finden. Es wäre jedoch falsch, diese Idee als reine Ablehnung der Errungenschaften des politischen Liberalismus zu interpretieren. Scheler gehört in die Reihe der Autoren, die Europa mit der Idee eines dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Sozialismus verbinden. Andere Autoren, die Schelers Vorbehalte gegen die Massendemokratie teilen, gehen in Richtung eines elitären und konservativen Liberalismus. Auch wenn dieser elitäre Liberalismus nicht immer autoritär ist, erscheint er oft als ein Versuch, den Liberalismus zu „vergeistigen“. Aus heutiger Perspektive mag diese Fokussierung auf das geistige Ethos problematisch erscheinen, denn sie führt dazu, dass einige grundlegende Dimensionen der Demokratie letztendlich in den Hintergrund treten (wie die Vorstellung vom Rechtsstaat oder der Gleichheit, die von der Demokratie immer mitimpliziert wird). Wenn sich Schriftsteller also kurz nach 1918 für ‚Europa‘ engagierten, so verstanden sie unter ‚Europa‘ oft etwas anderes als das, was ihnen liberale EuropaEnthusiasten der 1990er Jahre dann anachronistisch gern an demokratischen und ‚westlichen‘ Absichten unterlegten. Deutschsprachige Europa-Ideen nach dem Versailler Vertrag waren aber keineswegs immer westlich konzipiert, sondern recht heterogen orientiert. Wie Vanessa Conze bereits 2005 in ihrer zum Standardwerk gewordenen Studie Das Europa der Deutschen ausgeführt hat, repräsentierten diese Ideen (in den verschiedenen Schlagworten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kursierten wie ‚Abendland‘, ‚Mitteleuropa‘, ‚Vereinigte Staaten von Europa‘, ‚Paneuropa‘, ‚Junges Europa‘, ‚Reich‘, ‚Großraum‘, ‚Festung Europa‘, ‚Neues Europa‘) oft „Weltbilder und Ordnungsvorstellungen, die Europa und seine Gesellschaft(en) nach konfessionellen, ständisch-elitären, imperialen oder auch hegemonialen Vorgaben zu ordnen gedachten“.21 Neben der Feststellung dieser grundsätzlichen politischen Ambivalenz in vielen Europa-Diskursen ist ein weiterer Schluss, den man aus den in diesem Band versammelten Beiträge ziehen kann, dass die Stellungnahme zum Liberalismus nicht von einer Vision der europäischen Identität getrennt werden kann, wobei diese Identität immer eine teilweise willkürliche Konstruktion ist. Vor Kurzem wurde von Benjamin Gittel der Begriff des „Geocodes“ vorgeschlagen und man könnte ihn vielleicht auf diesen Prozess der Identitätskonstruktion anwenden.22 In der Historiographie hat sich mittlerweile etabliert, dass Europa keine sprachliche oder
21 Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 4, S. 1. 22 Vgl. Gittel, Benjamin: Geocodes. Zu Struktur und Funktionsweise geokultureller Deutungsmuster in der Zwischenkriegszeit, in: Kulturpoetik 23/2 (2023) (im Druck).
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geographische Entität sei, sondern „ein Konstrukt, und somit einen imaginierten Kontinent darstellt“.23 Europa ist wie die im 19. Jahrhundert entstandenen Nationen eine „imagined community“, die auf die Benennung von inneren und äußeren Feinden angewiesen ist.24 Der äußere Feind ist zumindest in der Zwischenkriegszeit häufig Russland, Asien oder die angelsächsische Welt (oder gar alle drei). Der Diskurs über Europa setzt in der Regel immer eine Rekonstruktion der europäischen Geschichte voraus, die im vielfältigen europäischen Erbe bestimmte Elemente auf Kosten anderer aufwertet. Es gibt in dieser Hinsicht eine Parallele zwischen der Konstruktion einer europäischen Identität und der Konstruktion einer nationalen Identität im 19. Jahrhundert, wie sie von Anne-Marie Thiesse oder Michael Jeismann beschrieben wurde.25 Es geht immer darum, Vorfahren zu finden, nach Anfängen und Ursprüngen zu fahnden und eine Tradition zu erfinden.26 Wie man in vorliegendem Band sehen kann, nimmt diese Bestimmung der europäischen Identität je nach den ideologischen Optionen der Autoren unterschiedliche Formen an und misst bestimmten Schlüsselmomenten der europäischen Geschichte mehr oder weniger große Bedeutung bei (Antike, ‚Völkerwanderung‘, Mittelalter, Renaissance, Aufklärung, Romantik). Häufig führt diese Definition einer europäischen Identität auch zu einer kritischen Neuinterpretation der nationalen Geschichte und zur Benennung innerer Feinde, also negativer Tendenzen innerhalb der eigenen Geschichte (beispielsweise die preußische Tradition bei Scheler). Doch während im 19. Jahrhundert die Konstruktion einer nationalen Identität darauf abzielte, der nationalen Gemeinschaft Homogenität zu verleihen, müssen sich die europäischen Diskurse immer wieder mit der konstitutiven Pluralität und Heterogenität Europas auseinandersetzen. Die europäische Identität erscheint daher oft als eine Synthese widersprüchlicher oder heterogener Elemente. Aus heutiger Sicht kann die Fokussierung auf eine Identität als Prinzip der Politik als problematisch erscheinen. Ein anderes Problem ist, dass man in diesen vorwiegend kulturellen Diskursen die politisch konkreten und entscheidenden Fragen oft nicht anspricht (die Frage der Möglichkeit einer aktiven Teilnahme der europäischen
23 Greiner, Florian: Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien. 1914−1945, Göttingen 2014, S. 7. 24 Anderson, Benedict: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1991. 25 Vgl. Thiesse, Anne-Marie: La création des identités nationales. Europe XVIIIe‒XXe siècle, Paris 1999; Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792‒1918, Stuttgart 1992. 26 Zu solchen früheren Europakonzepten vgl. Detering, Nicolas: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2017. Detering, Nicolas/ Marciso, Clementia/Walser-Bürgler, Isabelle (Hg.): Contesting Europe. Comparative Perspectives on Early Modern Discourses on Europe 1400‒1800, Leiden 2020; Kläger, Florian/Bayer, Gerd (Hg.): Early Modern Constructing Europe. Literature, Culture, History. New York 2016.
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Bürger am politischen Leben Europas und die der Teilung der Souveränität auf europäischer Ebene). Die Beiträge in diesem Band machen aber deutlich, dass man nicht sagen kann, dass diese europäischen Identitätskonstruktionen notwendigerweise in sich geschlossen und monolithisch sind. Viele Autoren haben im Gegenteil eine dynamische und offene Vorstellung von dieser Identität. Die Bestimmungen einer europäischen Identität sind oft politisch ambivalent, aber sie zeugen von dem Bestreben, eine europäische Gemeinschaft aufzubauen, die etwas anderes ist als ein bloßer Raum der wirtschaftlichen und technischen Zusammenarbeit. Ausgehend von diesen Prämissen nimmt sich der vorliegende Band daher vor, unterschiedliche Weltbilder und Ordnungsvorstellungen, die sich vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft im deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Raum entwickeln, nachzugehen und historisch zu rekonstruieren. Die Studie gründet auf drei thematischen Eckpfeilern und ist dementsprechend in drei Sektionen aufgebaut: Im ersten Teil werden Europa-Entwürfe in kulturphilosophischen und kulturkritischen Diskursen beleuchtet. Hier werden repräsentative Autoren wie Giuseppe Antonio Borgese, Theodor Lessing, Max Scheler, Ernst Troeltsch, Ernst Robert Curtius und Federico Chabod mit ihren unterschiedlichen Positionen in den Blick genommen, wobei auch zentrale intellektuelle Debatten der Zeit im Gegenlicht sichtbar werden. Im zweiten Teil wird der Themenkomplex „Nation und Europa“ bei Autoren wie Guglielmo Ferrero, Théodore Ruyssen, Hermann Heller, Carl Schmitt sowie bei den französischen Nonkonformisten der 1930er Jahre untersucht. Auch diese beiden Begriffe – „Europa“ und „Nation“ – waren vor 1950 nicht so scharf getrennt, wie man vor dem Hintergrund späterer Entwicklungen denken könnte:27 Dies wird etwa im Ordoliberalismus, im föderalistischen Entwurf der Vereinigten Staaten von Europa oder auch in der Idee von Europa als „dritter Weg“ klar, die in diesem Teil des Bandes thematisiert werden. Behandelt werden hier auch Topoi des Europa-Diskurses, die nicht zuletzt auf populärwissenschaftlicher Ebene verbreitet waren und zur Konstruktion des facettenreichen Europa-Bildes der Zeit beitrugen. Auch die Schriftsteller imaginieren Europa und laborieren an Ordnungen und Gegenordnungen.28 So werden in einer dritten und abschließenden Sektion literarische und weltanschauliche Visionen von Europa
27 Auf diese Verschränkung spielt bereits der Titel von Conze, Das Europa der Deutschen, Anm. 4, an. 28 Vgl. hierzu grundlegend Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992; Ders.: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld 2007; Kraume, Anne: Das Europa der Literatur. Schriftsteller blicken auf den Kontinent (1815‒1945), Berlin 2010; Rössler, Reto: Formationen ‚Europas‘ im Essay. Wissenspoetik und Interkulturalität bei Hugo von Hofmannsthal und Klaus Mann, in: Heimböckel, Dieter/Capano, Lucia Perrone/ Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Interkulturalität und Gattung (Akten des 14. IVG-Kongresses Wege der Germanistik in transkulturellen Perspektiven 2021 in Palermo), Frankfurt a. M. et al. 2023, S. 461−473 (im Druck).
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vorgestellt, die den Diskurs der Zeit prägen und dessen Semantiken mitbestimmen – in einem breiten Spektrum, das von Thomas Mann über Hermann Bahr, Gerhart Hauptmann, André Gide, Paul Valéry, Jacques Rivière, Robert Musil, Yvan Goll, Carl Sternheim, Alfred Döblin, Gottfried Benn bis hin zu Hans Friedrich Blunck und Reinhold Schneider reicht. Versuchen wir nun, die Leitlinien der drei Sektionen anhand der einzelnen Beiträge näher zu beleuchten. In seinem Aufsatz, der die erste, „Europa-Entwürfe in kulturphilosophischen und kulturkritischen Diskursen“ betitelte Sektion des Bandes eröffnet, rekonstruiert Gérard Raulet die kulturphilosophischen Diskurse der Zwischenkriegszeit, in denen Europa einerseits als modernes, funktionalistisches Modell verstanden wird, andererseits als eine von der Romantik inspirierte Schicksalsgemeinschaft. In dieser Diskrepanz erkennt Raulet auch die heutige Problematik der europäischen Identität, die in den Gedankengängen der Zwischenkriegszeit präfiguriert sei. Keine der beiden Ansätze werde der Vermittlung zwischen dem Politischen und dem Kulturellen gerecht, denn diese kann nur durch die Zurückeroberung eines politisch öffentlichen Raums geschaffen werden, einer citoyenneté, oder einer „republikanischen Gesinnung“ (Habermas), die sich als dynamisches und genuin kritisches Moment versteht. Dass viele Europa-Ideen bereits vor der Zwischenkriegszeit aus dem Geiste der Kritik und der Krise entstehen, zeigt auch der Aufsatz von Cristina Fossaluzza, der sich mit Giuseppe Antonio Borgese, dem späteren Schwiegersohn Thomas Manns befasst. Der Kulturkritik von Borgeses frühen, noch liberalnationalistisch geprägten und am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Berlin verfassten publizistischen Schriften folgt Anfang der 1920er Jahre zunächst eine in Borgeses Erstlingsroman Rubè ausgedrückte nüchterne Zeitdiagnose über den Interventionismus und den angehenden Faschismus in Italien. Borgeses kritischer Blick auf Europa verschärft sich dann in späteren Jahren im amerikanischen Exil und mündet in die antifaschistische, liberalhumanistische Utopie einer World Foundation, die er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen verbannten Intellektuellen entwirft. Ebenfalls unter dem Vorzeichen der Kulturkritik untersucht Maurizio Pirro Theodor Lessings zwischen 1918 und 1930 in fünf Auflagen erschienenes Buch Europa und Asien, das zunächst den Klageruf über die moralischen Verwüstungen des Ersten Weltkriegs in Deutschland zum Ausdruck bringt, um dann in der fünften Version eine Warnung vor der Amerikanisierung Europas auszusprechen. Anders als andere Intellektuelle unterscheidet Lessing nicht zwischen einer kranken „Zivilisation“ und einer gesunden „Kultur“, denn beide gehen für ihn auf den Individualismus, das zweckorientierte Denken und die lebensferne Abstraktion zurück, die die westliche Denkart kennzeichne. Auch asiatische Gelassenheit als Gegenmodell könne nach Lessing in keiner Weise die europäische Machtgier und Beherrschungslust, die sich nach dem Ersten Weltkrieg durchgesetzt und im Laufe
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der Zeit bis 1930 noch intensiviert haben, unter Kontrolle bringen. Somit hält Lessing in seinen Ausführungen zu Europa am kulturkritischen Moment fest, ohne eine richtige Vision zu entwickeln. Die Kritik an sich erweist sich so als der eigentliche produktive Motor in Lessings Europa-Reflexion. Olivier Agards Beitrag versucht, den Zusammenhang zwischen Max Schelers Europadiskurs und seiner Kritik am politischen und wirtschaftlichen Liberalismus aufzuzeigen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg formuliert Scheler eine Kritik des Liberalismus als individualistischer Ideologie der „Gesellschaft“, die die Dimension der Werte und der Solidarität zugunsten eines abstrakten Egalitarismus ignoriert. Der Liberalismus wird aber nicht im Namen eines völkischen Nationalismus kritisiert, sondern im Namen der Notwendigkeit einer solidarischen Ordnung, die manchmal als ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus vorgestellt wird und die Hierarchie der Werte wiederherstellt. Es geht vor allem um eine geistige Reform, um die Bildung eines solidarischen Ethos. Im Laufe des Kriegs identifiziert Scheler dieses Ethos mit dem europäischen Ethos, denn die Einigung Europas erscheint ihm gegen Asien (bzw. Russland) als eine Notwendigkeit. Die Einheit Europas ist aber eine geistige Einheit, und nur auf dieser ethischen Grundlage erhält die wirtschaftliche und politische Kooperation ihren Sinn. Schelers Europa ist solidarisch und bildet eine geistige Gemeinschaft, aber es ist politisch gesehen dezentralisiert und nach dem Subsidiaritätsprinzip aufgebaut. Nach dem Krieg bleibt diese europäische Perspektive im Kontext der Globalisierung für Scheler entscheidend: Asien und Europa bleiben antagonistische Pole, aber es kann zu einem friedlichen Ausgleich kommen. Man kann Schelers Ansatz als einen Versuch kennzeichnen, den Liberalismus zu vergeistigen, was für ihn nur auf europäischer Ebene möglich ist. Im Anschluss daran befasst sich Bérénice Palaric mit Ernst Troeltschs und Max Schelers „Europäismus“ und zeigt, dass auch diese beiden Autoren von einer tiefgreifenden Krise ausgehen, die Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts durchgezogen, ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg erreicht und sich in einer „Hyperaktivität“ und einem „Titanentum“ Europas bemerkbar gemacht habe. Auch Troeltsch und Scheler gehen somit von einer Krise aus, die eng mit dem Krieg verbunden sei, und suchen Lösungen zu ihrer Bewältigung, die sich in der Formulierung unterscheiden, aber grundsätzlich in ihrer Aufwertung des Kontemplativen eine starke Ähnlichkeit aufweisen: Troeltsch glaubt in der Synthese zwischen Antike und Christentum und in der Askese ein Gleichgewicht wiederfinden zu können, während Scheler für einen Ausgleich zwischen Europa und Asien plädiert, d. h. zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Selbst- und der Naturbeherrschung. Weitere Krisenmomente im Europa-Diskurs nimmt Gabriele Guerras Aufsatz auf, der sich dem Werk Deutscher Geist in Gefahr von Ernst Robert Curtius (1932) widmet. Ausgehend von einer Auffassung des Liberalismus als „Schauplatz einer Systemkrise“ interpretiert Guerra Curtius’ Haltung in dieser Schrift als „rhetorische
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Abwehrstrategie“, als „Habitus eines stilisierten freien Denkers“, gewissermaßen als ein Ethos gegen die eigene Zeit. Curtius’ Liberalismus solle daher in einem spezifischen deutschen Sinn verstanden werden, der nicht nur individuumszentriert, sondern auch staatsorientiert und kulturkonservativ sei. Der Liberalismus werde somit bei Curtius zu einer mythischen Darstellungsform des Geistes, einem „emphatischen Humanismus“, der sich nicht demokratisch, sondern als deutschnational und zugleich esoterisch versteht. In dieser besonderen Verflechtung zwischen Geist, Nation, Humanismus und Religion erkennt Guerra auch das Vorzeichen einer Aporie des deutschen Liberalismus, die gegen Ende der Weimarer Republik anschaulich wird. Frédéric Attal stellt das Buch vor, das der italienische Historiker Frédérico Chabod 1947 der Idee von Europa gewidmet hat. Das Buch befasst sich mit dem Begriff von Europa, der von der Antike bis zum 19. Jahrhundert von Schriftstellern, Philosophen und Historikern entwickelt wurde. Als Reaktion auf den Faschismus bekennt sich Chabod entschieden zum liberalen Erbe Europas und betont insbesondere den französischen Einfluss bei der Entstehung des zeitgenössischen Europas. Um Europa zu konturieren, muss Chabod auch das „Nicht-Europa“ definieren, das seiner Meinung nach Asien ist. Asien ist politisch mit dem Begriff des Imperiums verbunden, und diese Vorstellung eines Imperiums ist für Chabod Europa fremd. Ein zweites Prinzip, das der Idee von Europa entgegengesetzt ist, ist das religiöse Prinzip. Die Aufklärung ist daher ein zentrales Moment in der Entstehung der europäischen Idee: Voltaires literarische Republik ist eine Prämisse für das ideale Europa als geistige Gemeinschaft. Europa definiert sich in der Moderne auch durch die Konfrontation mit dem Anderen, insbesondere mit der Neuen Welt. Eine konstitutive Besonderheit Europas ist, dass es aus einer Vielzahl von Staaten besteht: Die freien Staaten sind somit ein konstitutives Element der europäischen Identität. Der Zerfall der europäischen Imperien infolge der Französischen Revolution und des Erwachens der Nationen in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts steht nach Chabod nicht im Widerspruch zur Entstehung der europäischen Idee, sondern bildet vielmehr deren Grundlage. Europa ist nicht die dialektische Negation der Nationen, auch nicht ihre Entwicklung und ihr unausweichlicher Tod, sondern ganz im Gegenteil, die Nationen in ihrer Vielfalt sind konstitutiv für die europäische Idee. Die zweite Sektion des Bandes, die „Politische Ordnungsentwürfe zwischen Nation und Europa“ beleuchtet, beginnt mit einem Beitrag von Gabriele D’Ottavio, welcher sich im Anschluss an neue Forschungen dem populärwissenschaftlichen Diskurs um Europa widmet und sich auf die Figur des italienischen Historikers und Soziologen Guglielmo Ferrero fokussiert. Ferreros Schriften über Europa (angefangen mit L’Europa giovane von 1897 bis hin zum Jahr 1918) werden insofern als zeittypisch betrachtet, als sie mit verbreiteten Kategorien wie der Gegenüberstellung von „Norden“ und „Süden“, „germanischer“ und „lateinischer“ Welt argumentie-
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ren. Ferrero entwickelt seine Betrachtungen über Europa, die damals einen großen Publikumserfolg vor allem außerhalb Italiens ernteten, indem er auf soziologische Theorien seiner Zeit zurückgreift, um sodann Thesen über das Thema des Aufstiegs und Niedergangs der Zivilisationen zu erarbeiten. In seinem Beitrag legt Massimiliano De Villa dar, wie das liberale Paradigma des deutschen Judentums, das sich im 19. Jahrhundert etabliert und zu einer deutschjüdischen Symbiose geführt hatte, ab 1900 allmählich einer neuen Begriffsbestimmung gewichen sei. Die Abkehr von den Eckpfeilern des jüdischen liberalen Denkens, die bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein immer entscheidender werde, impliziere eine stärkere Akzentuierung der irrationalen Komponente des Kultes als Schutz vor der Krise der Moderne sowie der eigenen kulturellen Identität. Es handele sich um eine Transformation, die zwar den jüdischen Nationalismus leugne, aber weitgehend das vom Zionismus formulierte Erneuerungsprogramm aufgreife und im Wesentlichen dessen Werteskala teile. Somit werde ein neues jüdisches Selbstbewusstsein konturiert – ein Selbstbewusstsein, das allerdings nichts daran ändern kann, dass auch das jüdisch-liberale Erbe kurz danach vom nationalsozialistischen Regime zugrunde gerichtet wird. Christian Roques beschäftigt sich mit dem Pädagogen und Publizisten Friedrich W. Foerster sowie mit dessen Analyse der „deutschen Frage“ in der Zwischenkriegszeit. Die „deutsche Frage“ werde bei Foerster nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen einer „post-nationalen“ Europa-Idee neu gedacht. Der Beitrag fokussiert sich besonders auf Foersters Kritik am „Machiavellismus“ (als „Nationalegoismus“ verstanden) und interpretiert Foersters Europadiskurs als Antwort auf eine Krise, die (auf die Reichstradition rückblickend) gerade in einem Machiavellismus der Nationalstaaten Ausdruck gefunden habe. Diesen Ansatz nehme Foerster in seinen Schriften immer wieder auf, um ihm dann in seinem Buch Europa und die deutsche Frage. Eine Deutung und ein Ausblick (1937) vor dem Hintergrund eines sich immer klarer abzeichnenden Zweiten Weltkriegs eine zentrale Rolle zuzuweisen. Im darauffolgenden Beitrag nimmt Olimpia Malatesta den von Hermann Heller 1933 zum ersten Mal verwendeten Ausdruck eines „autoritären Liberalismus“ in den Blick und rekonstruiert dessen ideengeschichtlichen Kontext. Ausgehend davon, dass der gemeinsame Nenner verschiedener Stränge des „autoritären Liberalismus“ in der Weimarer Zeit in einem politischen Akt des staatlichen Willens bestehe, legt Malatesta dar, dass dieser Kampfbegriff (und hier richte sich die Kritik in erster Linie gegen Carl Schmitt) für Heller nichts weniger als die Verneinung von seinem eigenen demokratischen Konstitutionalismus repräsentiere. In diesem Sinne bezeichne Heller jene Abwandlungen des neoliberalen Diskurses als „autoritär“, welche die politische Entscheidungskraft und die gesellschaftliche Macht als verhängnisvolle Hindernisse zur Etablierung einer supranationalen, liberalen Wirtschaftsordnung ansehen.
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Mathieu Dubois analysiert in seinem Beitrag zwei Grundsäulen der Integrationstheorie des frühen Ordoliberalismus: die Idee eines liberalen Internationalismus gegen den wirtschaftlichen Nationalismus der 1930er Jahre und die Souveränität der Nationen gegen einen gemeinschaftlichen Supranationalismus in der Nachkriegszeit. Ende der 1930 Jahre zirkulieren Ideen über eine europäische Föderation als Etappe zu einer Weltföderation, die eine liberale Alternative zu den nationalsozialistischen Europa-Projekten darstellen, wobei kulturelle und soziale Zusammenhänge als eine Grundvoraussetzung für die wirtschaftliche und politische Konvergenz der Nationen betrachtet werden. Anfang der 1950er Jahre gehe dann auch die Kritik der Ordoliberalen gegen die ersten Europa-Projekte von einem Primat des Sozialen über die Wirtschaft aus. So gesehen stellt Europa einen dritten Weg zwischen Internationalismus und Nation dar, in dem sich Wirtschaft, Ethik und Politik nicht bekämpfen, sondern zusammenbinden sollen. Auch im darauffolgenden Beitrag geht es um eine Vorstellung von Europa als dritter Weg. Hier nimmt Tristan Coignard Théodore Ruyssens Auffassung Europas und dessen philosophie de la paix in den Blick, die beide auf dem Begriff der Verständigung (conciliation) basieren. Ruyssens Verständigungsidee wird als Gegenmittel zu einem Zustand der „Anarchie“ angesehen. Bereits 1904, noch vor dem Ersten Weltkrieg, plädiert Ruyssen in seiner Schrift La philosophie de la paix für einen Übergang von der Anarchie zur „juristisch geprägten Gesellschaft“. Bis in die 1920er Jahre hinein entwickelt er diese Argumente weiter und bekennt sich zu den neuen Institutionen des Völkerbunds. Gegen die Gefahr eines „Überstaats“, aber auch der Zersplitterung und des Chaos erblickt er die Lösung für Europa im dritten Weg des Föderalismus, nach dem Modell der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Föderalistisch geprägt ist nun auch Hermann Hellers Europa-Idee, die sich in seinem Werk in verstreuten Einlassungen findet. Wie Marcus Llanque in seinem Aufsatz darlegt, hebe sich Hellers Auffassung somit von einer intellektuellen Umgebung ab, die in der Weimarer Republik nicht unbedingt europafreundlich war und zu der Heller selbst gehörte. Dabei seien besonders die beiden Diskurse der deutschen Staatslehre und der Sozialdemokratie relevant, zwischen denen Heller zu vermitteln sucht. Anders als die meisten Staatslehrer der Zeit halte Heller zwar auf der einen Seite am Nationalstaat fest, erachte aber auch die Möglichkeit einer europäischen politischen Ordnung für nötig. Und anders als die meisten Sozialisten sei er kein bedingungsloser Internationalist, weil er im Grunde an die vom Kapitalismus bedrohten „kulturschöpferischen Kräfte der europäischen Nationen“ glaubt. Als Mittelweg zwischen „Internationalismus“ und „Nation“ plädiere Heller daher für die „Vereinigten Staaten von Europa“, verstanden als „europäischen Bundesstaat“. Reinhard Mehring diskutiert andere politische Zusammenhänge, indem er Carl Schmitts Haltung zum Zweiten Weltkrieg auch in Bezug auf Europa-Konzeptionen
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analysiert. Schmitt habe den Verlauf des Zweiten Weltkriegs nicht detailliert ereignisgeschichtlich kommentiert und deshalb auch die Grenzen seiner „Großraumkonzeption“ unbestimmt gelassen. Bis 1941 habe Schmitt eine Überlegenheit des nationalsozialistischen Reiches gegenüber den besetzten Gebieten postuliert. Doch seit Beginn des Russlandfeldzugs habe er weitgehend zum Kriegsverlauf geschwiegen und die kommende Niederlage Deutschlands nur angedeutet. Nach Mehring gehe dies darauf zurück, dass Schmitt die alliierte Luftüberlegenheit (in der Metapher des Vogels Ziz) negativ gewertet habe, was als Hinweis auf die Annahme einer jüdischen Weltverschwörung vonseiten Schmitts gelesen werden müsse. Trotz seines Schweigens in den letzten Kriegsjahren habe also Schmitt an seiner antisemitischen Verschwörungsthese auch nach 1945 festgehalten. Im abschließenden Beitrag dieser zweiten Sektion befasst sich Thomas Keller mit den Europa-Konzepten der Nonkonformisten in den 1930er Jahren und erkundet somit weitere Theorien von Europa als dritter Weg. Die Europa-Auffassung der Nonkonformisten, die in Frankreich oft als „illiberal“ kritisiert wurden, bilde sich genau genommen aus Distanzierungen von der amerikanischen Konsumwelt und zugleich von freiheitsfeindlichen Gemeinschaftsideologien und kollektiven Weltentwürfen (Klasse, Rasse). In dieser Positionierung Europas zwischen einem „selbstzerstörerischen Produktivismus“ und einer „totalitären Barbarei“ erkennt Keller eine Kontinuität zwischen den dritten Wegen der 1930er Jahre und der europäischen Integration und auch eine Aktualität der von den Nonkonformisten kritisch gestellten Fragen an ihre Gegenwart. In der dritten Sektion werden schließlich „Dichter und Weltanschauungsliteraten im Europa-Diskurs“ behandelt. Die Sektion beginnt mit einem Aufsatz von Tomislav Zelić, in dem auf drei unterschiedliche literarische Imaginationen des Mediterranen eingegangen wird, die sich im frühen 20. Jahrhundert in der Nachfolge Nietzsches entwickeln. Diskutiert werden Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling (1908), Hermann Bahrs Dalmatinische Reise (1909) und Thomas Manns Tod in Venedig (1912). Ausgehend davon, dass das Mittelmeer, neben Balkan und Orient, zu dieser Zeit einen dritten diskursiven Topos für das Andere Mitteleuropas rekonfiguriere, das im Unterschied zu den anderen beiden auch eine positive Konnotation erhalte, erkennt Zelić besonders in Manns Novelle den Text, der die Widersprüchlichkeiten in den kulturellen Imaginationen des Mediterranen zwischen Ästhetik und Politik am deutlichsten erkennen lässt: In der Inanspruchnahme ästhetischer Freiheit entpuppe sich hier am Vorabend des Ersten Weltkriegs nichts weniger als der Verlust der individuellen und politischen Freiheit. Mit den ästhetischen Potentialen, die aus der Krise des politischen Liberalismus hervorgehen, beschäftigt sich auch Paola Cattani in ihrem Aufsatz, der einigen bedeutenden Beiträgen über das Versagen und die Probleme des demokratischen und liberalen Europas gewidmet ist, die die Nouvelle Revue française 1919 veröffentlichte. Besondere Aufmerksamkeit wird Paul Valérys Crise de l’esprit geschenkt.
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Anders als Gide und Rivière beschränke sich Valéry nicht darauf, die Krise des Liberalismus festzustellen. Angesichts der Schwächen des wirtschaftlichen Liberalismus fordere er einen Neubeginn des liberalen Denkens selbst: Er beschwöre eine neue, spirituelle Art von Freiheit, die die authentischen und ursprünglichen Impulse einer humanistischen Tradition bewahren und sogar erneuern kann. Auf diese Fassung von Freiheit rekurrierend ist Europa für Valéry (ähnlich wie schon Gabriele Guerra in der ersten Sektion dieses Bandes in Bezug auf Curtius’ spätere Schrift festgestellt hat) in Cattanis Interpretation vor allem ein Ethos. Reto Rössler nimmt vor dem Hintergrund des „Laboratoriums Moderne“ Narrative des Europäischen in den Blick und fokussiert sich auf deren Form. Zunächst wird auf den Europa-Essay (besonders bei Robert Musil und Thomas Mann) eingegangen, den Rössler als diskursiven Kreuzungspunkt interpretiert, von dem aus Wechselwirkungen von kulturtheoretischen und literarischen Innovationsbestrebungen zu beobachten seien. In einem zweiten Schritt wird dann die Gattung Roman am Beispiel von Mann und Musil, aber auch von Yvan Golls Die Eurokokke (1927) und Carl Sternheims Europa-Roman (1919–1920) herangezogen, in der sich die Beobachtung und Reflexion von kulturellen Krisenerscheinungen und gesellschaftlichen Transformationen untrennbar mit poetologischen Fragen der Krise und Erneuerung der Romanform verflechten. Somit wird auch in diesem Beitrag die Verschränkung zwischen Politischem und Ästhetischem im Europa-Diskurs der Zwischenkriegszeit deutlich – eine Verschränkung, die (wie Rössler zeigt) auch ein ausgesprochen selbstreflexives Moment in sich birgt. Claudia Cippitelli und Giulia Frare beleuchten Alfred Döblins ambivalente Einstellung zu Europa und verfolgen deren Entwicklung von einer nationalistischpolemischen Position zu einer europäischen Utopie. Während des Ersten Weltkriegs habe Döblins Kritik an den westlichen Demokratien im Grunde darauf abgezielt, Deutschland zu rehabilitieren. In den Schriften der Weimarer Zeit habe er dagegen eine Kritik an dem Parteiensystem der Republik geäußert, das die Bevölkerung aus der politischen Praxis ausschließe. In den frühen 1930er Jahren führe diese Enttäuschung gegenüber der Republik zu einer europäischen Utopie, die naturphilosophische Grundlagen habe und sich bei Döblin ebenfalls in einer essayistischen, von Nietzsches Polyperspektivismus inspirierten Schreibweise ausdrücke. Ausgehend von einer Kritik an der Politik, deren polemische Ziele sich im Laufe der Zeit ändern, wird Europa daher auch von Döblin als ein Raum der Möglichkeiten zwischen Ästhetik und Politik aufgefasst. Tillmann Heises Beitrag fokussiert sich auch auf die spezifischen Schreibweisen, mit denen Europa in Gottfried Benns Essays der Jahre 1933–1934 (besonders in dem Band Kunst und Macht) verhandelt wird. In erster Linie gewinnen der essayistische Perspektivismus und das Form-Prinzip (das Dorische) bei Benn dabei eine herausragende Bedeutung. Diskutiert wird auch, wie Benn den in der Zeitschrift Europäische Revue geführten anti-liberalen Europa-Diskurs mitverfolgt und be-
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sonders das zentrale Theorem des Aristokratismus rezipiert. Auch wenn Benn in seinen Essays keine inhaltlich kohärente Europa-Programmatik elaboriere, werde die Reflexion über Europa in den Bereich literarischer Fiktion und performativer Erfahrung verschoben, in dem das aristokratische Form-Prinzip eines „dorischen“ Europas zu einer greifbaren ästhetischen Wirklichkeit werde. Somit erweist sich Europa in den Debatten dieser Zeit einmal mehr als eine ästhetische und zugleich politische Existenzform. Friedhelm Marx behandelt Thomas Manns Europakonzepte im amerikanischen Exil und zeigt auch deren Vorgeschichte anhand Thomas Manns Engagement für Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Bewegung in den 1920er Jahren. Marx betont dann, dass die bittere Erfahrung, wie schnell europäische Demokratien sich in Diktaturen verwandeln konnten, Thomas Mann in den 1930er Jahren zusehends von der Vorstellung eines europäischen Führungsanspruchs abrücken ließ. Thomas Manns Schwiegersohn Giuseppe Antonio Borgese bewegt Thomas Mann, sich für das von Borgese initiierte Committee on Europe einzusetzen. Im kalifornischen Exil schreibt Thomas Mann gegen George T. Renners amerikanische Adaptionen von Karl Haushofers geopolitischen Vorstellungen in Maps of a New World engagiert an und distanziert sich von Coudenhove-Kalergi, weil er ihn mit der Annäherung an Otto Habsburg in monarchistisch restauratives Fahrwasser einlenken sieht. Barbara Beßlich liest Thomas Manns Doktor Faustus (1947) nicht als Deutschland- oder Künstlerroman, sondern als Europa-Roman, in dem die Europadebatten der 1940er Jahre thematisiert werden. Während Doktor Faustus von Beginn an ein antinationalsozialistischer Roman sei, entwickele sich sein Erzähler Serenus Zeitblom erst allmählich zu einem überzeugten Kritiker des Nationalsozialismus. Zeitblom zeige eine ambivalente Position gegenüber Europa, wenn er die antiliberalen, nationalistischen und nationalsozialistischen Europapläne freundlich bis affirmativ kommentiert, um sich dann erst angesichts des Untergangs des nationalsozialistischen Regimes auch von dessen Konzepten einer „Festung Europa“, eines „neuen Europa“ und dessen „neuer Ordnung“ zu distanzieren. Dadurch, dass Zeitblom ein ständig unzuverlässiger Chronist sei, wird seine europäische Zweideutigkeit, in die Thomas Mann auch die eigene Entwicklung vor dem Exil einspeise, an den Tag gebracht. Somit wird in diesem Roman, wie Beßlich darlegt, gerade durch das narrative Mittel des unzuverlässigen Erzählens die Ambivalenz und Komplexität der Europa-Debatten der Zeit plastisch greifbar. Dass sich Thomas Mann in keiner Weise in die Entnazifizierungsbemühungen des nationalsozialistischen Bestsellerautors Hans Friedrich Blunck einspannen ließ, überrascht nicht, beeindruckt aber in der dezidierten Position Thomas Manns, mit der Johannes Dafinger seinen Beitrag zu Blunck, der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und dem nationalsozialistischen „neuen Europa“ einleitet. Blunck verteidigte sich nach 1945 in seinem Entnazifizierungsverfahren damit, dass er
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seine Positionen in den Netzwerken der nationalsozialistischen zwischenstaatlichen Freundschaftsgesellschaften lediglich eingenommen habe, um „im Sinne einer europäischen Kulturpolitik“ wirken zu können. Diese Argumentation zeigte Wirkung, Blunck wurde entnazifiziert. Dass aber Bluncks Europa-Vorstellungen Teil eines explizit nationalsozialistischen Europadiskurses waren, zeigt Dafinger dann im Folgenden auf. Bluncks Essay über Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas (1943) entwirft Europa rassistisch unter deutscher Vorherrschaft als eine völkisch zu denkende Ordnung und beschwört Europa als eine von äußeren Feinden bedrohte Schicksalsgemeinschaft. Es bleibt festzuhalten, dass der nationalsozialistische Slogan vom „neuen Europa“ nicht einfach als „täuschende Schminke“ (Klaus Hildebrand) abgetan werden kann, sondern, so Dafinger, jenen Vorstellungen von Europa entsprach, die den „Europa-Diskurs NS-affiner Deutungseliten prägten“. Im abschließenden Beitrag dieser Sektion nimmt Bernhard Walcher die 1950er Jahre in den Blick, die wie die Zwischenkriegszeit auch von einer regelrechten Europa-Euphorie geprägt sind. Mit Blick auf konservativ-restaurative Denkmodelle konzentriert sich der Beitrag auf die Abendland-Bewegung bzw. die Bewegung Neues Abendland nach 1945 und besonders auf den katholischen Autor Reinhold Schneider. Schneiders Europa-Konzepte (etwa im Aufsatz Europa als Lebensform aus dem Jahr 1957), die in enger Wechselwirkung mit seinem pazifistischen Engagement stehen, seien gegen ein bereits bestehendes politisches Europa gerichtet – gegen ein Europa der Institutionen. Statt für einen geographischen, wirtschafts- und machtpolitischen Europabegriff, setzte sich Schneider somit für ein inneres, geistiges und kulturelles Europa ein – ein Europa, das auf eine europäische Universalität (basierend auf der Kontinuität von Antike und Christentum) zurückgehe. Vorliegender Band fasst die Ergebnisse eines internationalen trilateralen Forschungsprojekts zusammen, das vom Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) von 2019 bis 2022 großzügig gefördert wurde. In den pandemischen Zeiten von Corona mussten einzelne Projekttreffen immer wieder verschoben werden, aber wir freuen uns, hier Beiträge versammeln zu dürfen von schließlich doch drei präsenten Projekttreffen in Heidelberg (Oktober 2021), Venedig (März 2022) und Paris (September 2022). Unser Dank gilt der finanziellen Förderung des CIERA und unserer Heimatuniversitäten: der RuprechtKarls-Universität Heidelberg, der Université Paris-Sorbonne und der Università Ca’ Foscari Venezia. Dass begleitend zu unserem Forschungsprojekt auch in unserem binationalen ideengeschichtlichen Germanistik-Masterstudiengang (von Heidelberg und Paris) einige Abschlussarbeiten zu Europa-Ideen im 20. Jahrhundert erfolgreich entstanden,29 freut uns ebenso wie die Integration der Doktoranden und
29 Heise, Tillmann: Der Kulturbund, die Europäische Revue und die Schriftsteller. Antiliberale Ideen von Europa zwischen den Weltkriegen (Masterarbeit, Heidelberg 2019); Lauster, Sophie: „Euro-
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Olivier Agard, Barbara Beßlich, Cristina Fossaluzza
Postdocs aus Frankreich, Italien und Deutschland in dieses Projekt. In Deutschland bot die Heidelberger Akademie der Wissenschaften einen angemessenen Rahmen für unser Projekttreffen und wir danken dem Vorstand und der Geschäftsstelle der Akademie für jedwede Unterstützung. In Venedig in der Sala B der Ca’ Bernardo direkt am Canal Grande tagen zu dürfen, war trotz FFP2-Masken ein wunderbares Erlebnis. Dem Dipartimento di Studi Linguistici e Culturali Comparati, der das Projekt in vieler Hinsicht gefördert hat, sei auch hierfür gedankt. In Paris gab uns Christiane Deussen in der Maison Heinrich Heine in der Cité universitaire dankenswerterweise einen passenden Ort zur Diskussion. Für Tagungsberichte zu den einzelnen Projekttreffen danken wir Claudia Cippitelli, Giulia Frare, Bérénice Palaric, Hannah Schultes und Larissa Wilwert.30 Dem großzügigen Interesse an unserem Projekt und der kalkulatorisch flexiblen Umsicht von Waltraud Moritz vom Böhlau Verlag sind wir außerordentlich verbunden. Aus 25 Beiträgen aus fünf europäischen Ländern einen einheitlichen Band zu erstellen, war mit einigem redaktionellen Aufwand verbunden: Formale Widrigkeiten und organisatorische Herausforderungen meisterten in Heidelberg Ute Gradmann vom Lehrstuhlsekretariat und Pauline Solvi und Larissa Wilwert als wissenschaftliche Hilfskräfte mit bewunderungswürdigem Engagement, präziser Sorgfalt, enormer Gründlichkeit und stoischer Gelassenheit. Ohne den souveränen Einsatz und die speditive Professionalität von Tillmann Heise und Bernhard Walcher hätte das
pa den Europäern!“ – Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa (1923) und seine Rezeption bei Heinrich Mann (Bachelorarbeit, Heidelberg 2019); Birken, Marie: Identitätskonstruktion und Identitätsdestruktion in Falk Richters Ich bin Europa. (Masterarbeit, Paris/Heidelberg 2021); Declercq, Aurélie: Das Ideal eines geistigen Europas im Spannungsfeld zwischen Tradition und Fortschritt. Eine Untersuchung zu den Europavorstellungen Werner Bergengruens, Rudolf Pannwitz’ und Reinhold Schneiders nach dem Zweiten Weltkrieg (Masterarbeit, Paris/Heidelberg 2021); Klarić, Tamara: Gottfried Benns Kunst und Drittes Reich. Zwischen Programmatik des Merkur und Ausdruckswelt (Bachelorarbeit, Heidelberg 2021); Mounier, Esther: Das Thema Europa bei Carl Schmitt (Masterarbeit, Paris/Heidelberg 2022). 30 Schultes, Hannah: Bericht zur Tagung: Liberalismus (be-)denken. Konzepte europäischer Identität im frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 144 (2022), S. 307–311; Wilwert, Larissa: Tagungsbericht zur Journée d’étude „Liberalismus (be-)denken. Konzepte europäischer Identität im frühen 20. Jahrhundert“, Heidelberg, 30. September bis 1. Oktober 2021, in: links. Zeitschrift für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft 22 (2022), S. 87–89; Cippitelli, Claudia/ Frare, Giulia: Tagungsbericht zur internationalen Tagung „Conceptions de l’identité européenne / Konzepte europäischer Identität / Concezioni dell’identità europea II“, Venedig, 28. bis 29. März 2022, in: links. Zeitschrift für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaft 22 (2022), S. 90–94; Bérénice Palarics Berichte können im Netz aufgerufen werden: https://ciera.hypotheses.org/1533 und https://ciera.hypotheses.org/1522.
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Typoskript nach mehrfachen Korrekturgängen am Computer sicherlich nicht rechtzeitig beim Verlag eintreffen können. Ihnen sei ganz besonders gedankt. Heidelberg, Paris und Venedig im März 2023
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I. Europa-Entwürfe in kulturphilosophischen und kulturkritischen Diskursen
Gérard Raulet
Zur kritischen Identität Europas Philosophische Diskursfiguren der Zwischenkriegszeit Vor dreißig Jahren haben die ‚deutsche Wende‘ und der Zusammenbruch der ‚realexistierenden Sozialismen‘ gleichsam über Nacht das politische Europa dermaßen erweitert, dass es, zumindest potentiell, die Ausdehnung zurückgewonnen hat, die es einst zur Zeit des großeuropäischen Kulturraums des Mittelalters besessen hatte. Dass die Schwierigkeiten der europäischen Konstruktion dadurch vervielfacht wurden, ist bald evident geworden. Gleichzeitig begünstigten aber diese neuen Bedingungen eine heilsame Radikalisierung der Herausforderungen. Europa sah sich der Frage nach seiner Identität konfrontiert und sieht auch seitdem ein, dass die Schaffung eines breiten Freihandelsraums nicht ausreicht, um diese Frage zu beantworten. Zwei Ansätze stehen einander gegenüber. Einerseits das eurokratische und funktionalistische Modell, das durch europäische Programme (Technologie, Lehre, Forschung) eine „alternative Kartographie entwerfen will, die nichts mehr zu tun haben soll mit der politischen Geographie der Staatsnationen“1 und die Entstehung einer trans- bzw. übernationalen Identität fördert. Dieses Modell versucht durch voluntaristische Maßnahmen auf die politische Kultur einzuwirken, damit diese zur Legitimationsbasis eines politischen Projekts werde. Der andere Ansatz beruft sich auf eine mehr oder weniger althergebrachte geistige Gemeinschaft bzw. eine ‚Schicksalsgemeinschaft‘, die es in eine Projektgemeinschaft umzusetzen gelte. Dabei ist die Versuchung groß, an die mittelalterliche kulturelle Identität Europas wieder anzuknüpfen. In früheren Umbruchzeiten hatte diese schon dem Romanisten Ernst Robert Curtius vorgeschwebt, der 1946 mit seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter die Hoffnungen beschwor,2 die er wie so viele Intellektuelle der 1920er und 1930er Jahre in die deutsch-französische Versöhnung als exemplarische Konversion der Schicksalsgemeinschaft in eine Projektgemeinschaft gesetzt hatte.3 Gewissermaßen versetzt uns die heutige Problematik der europäischen Identität in diese Gedankengänge der Zwischenkriegszeit, die es deshalb zu überdenken gilt.
1 Vgl. Ferry, Jean-Marc: Qu’est-ce qu’une identité post-nationale?, in: Esprit 9 (1990), S. 80–90, hier S. 85. 2 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1946. 3 Zur Kritik am Begriff einer ‚Schicksalsgemeinschaft‘ siehe meinen Aufsatz: La notion de ‚communauté de destin’ dans les discours européens, in: Revue d’histoire diplomatique 2 (2009), S. 113–125.
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Festzuhalten ist allerdings, dass keines der beiden Modelle der Vermittlung des Politischen und des Kulturellen gerecht wird. Entweder wird diese als eine gleichsam vorgegebene Einheit vorausgesetzt, die von den jeweils führenden Nationen aktualisiert werden soll, oder sie wird durch ein rein technokratisches Vorhaben ersetzt. In beiden Fällen wird der Knoten der modernen politischen Kultur, die politische Öffentlichkeit, ignoriert. Gerade in dieser Hinsicht fällt aber die Diskrepanz zwischen dem fatalistischen Konsens über die Unvermeidlichkeit der europäischen Einheit, die, wie langsam auch immer, zustande kommen soll oder muss, „man wolle es oder nicht“, und der Eigendynamik der europäischen politischen Öffentlichkeit auf. Deren ungleichzeitiger Rhythmus, der in den Auseinandersetzungen um das intendierte politische Europa – soziales Europa oder uneingeschränkte Macht der Marktrationalität – seinen Niederschlag findet, ist durch das Verschwinden der Blöcke und die Einbeziehung jahrelang gleichgeschalteter politischer Öffentlichkeiten noch verstärkt worden. Weniger denn je reicht das technokratisch-liberale Modell aus, um die Forderungen einer demokratischen Kultur zu erfüllen. Die Defizite dieses Modells, dem sich auch die westliche Sozialdemokratie verschrieben hat, und das Verschwinden des realexistierenden sozialistischen Blocks haben Europa vor die Aufgabe gestellt, einen dritten Weg zu erfinden, der bis heute noch nicht Gestalt angenommen hat. Weder ungezügelter neoliberaler Kapitalismus noch (Real-)Sozialismus: Dieses Weder-Noch schreibt die europäische Problematik in eine Tradition gescheiterter Modernisierung wieder ein, die in den 1920er und 1930er Jahren ihr Schicksal besiegelt hat und im heutigen Kontext allgemeiner politischer Desorientierung nach dem sogenannten ‚Zerfall der großen Erzählungen‘ bedenklich genug ist. Wie kann man in Ermangelung einer einigermaßen reifen europäischen politischen Kultur mit der Forderung eines solchen ‚dritten Weges‘ theoretisch und praktisch umgehen? Mit Recht wies der politische Journalist Alexandre Adler Anfang der 1990er Jahre, im Kontext des Umschwungs, darauf hin, „dass der Rücklauf der kommunistischen Anschwemmung gleichzeitig einen unermesslichen demokratischen Raum und den alten faschistischen Raum der dreißiger Jahre wieder freigibt“.4 Das kulturelle und politische Europa sieht sich wieder mit seinem ‚Sonderweg‘ konfrontiert und die internationale Konjunktur der letzten Jahrzehnte zeigt deutlich genug, dass es sich an diesen Herausforderungen zu bewähren hat. Ist Europa mehr als eine politisch dissonante Zusammensetzung ökonomischer Interessen? Verfügt es über eine Identität, die es ihm erlauben würde, dem grundle-
4 Adler, Alexandre: Avancée des droits de l’homme ou défaite de la Raison, in: Lecourt, Dominique (Hg.): La République, l’Europe et l’universel. Colloque 21 et 22 septembre 1991, Belfort 1993, S. 51.
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genden Umbruch der geopolitischen Ordnung ein verbindliches, politisches Modell entgegenzusetzen? Inwiefern Deutschland dazu beitragen kann, ist auch eine Frage, die sich nicht erst mit dem gerade stattgefundenen Kanzlerwechsel, aber mit ihm sicher wieder dringlicher stellt, zumal Europa gegenüber dem imperialen Machtwahn der russischen Diktatur endlich eine gemeinsame Front bilden muss.5
1.
Der Sonderweg und die Problematik der philosophischen Identität Europas
Der Gedanke eines deutschen ‚Sonderwegs‘ lässt sich bis zur Wende des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen. In der Zwischenkriegszeit erfuhr er eine Wiederbelebung und drückte dann nicht mehr nur das Bewusstsein aus, geographisch, politisch und, nach Thomas Mann, sogar gesellschaftlich und kulturell, das „Land der Mitte“ zu sein,6 das Land, das, zwischen Orient und Okzident, Ost und West (salopp aktualisiert: zwischen dem russischen Gas und der NATO) liegend, sowohl dem ‚Asianismus‘ als auch dem ‚Amerikanismus‘ zu widerstehen hat.7 Er wurde von einem europäischen Sonderweg untrennbar. Die Europa-Idee wurde Deutschlands Antwort einerseits auf die Furcht, von der abendländischen Moderne überholt und zurückgelassen zu werden,8 und andererseits auf das Gefühl, durch die „Konvergenz von Amerika und Russland“ in die Enge getrieben zu werden.9 Die „geistige Lebensgemeinschaft“, die Ernst Robert Curtius 1921 heraufbeschwor,10 bindet die deutsche Zukunft an die europäische und beantwortet so die Frage, die er 1920 in einem Artikel für die Kölnische Volkszeitung stellte: „Wird Europa seine kulturelle Hegemonie behalten?“11 In ähnlichem Sinn trat Heinrich Mann 1923 für die „Vereinigten Staaten von Europa“ als „ein Reich über den Reichen“ ein, um Europa vor dem „Willen der angelsächsischen Reiche und des russischen“ zu retten: „Bevor
5 Bis auf das letzte Satzglied wurden diese Zeilen nach dem Regierungswechsel in Deutschland, aber vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geschrieben. 6 Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 12), Frankfurt a. M. 1960, S. 9–589, hier S. 111. 7 Keyserling, Hermann Graf: Das Spektrum Europas, Berlin/Leipzig 1928; vgl. auch Paquet, Alfons: Rom oder Moskau, in: Die Neue Rundschau (März 1921). 8 Vgl. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, Anm. 6, S. 47 f. 9 Keyserling: Das Spektrum Europas, Anm. 7, S. 483. 10 Curtius, Ernst Robert: Deutsch-französische Kulturprobleme, in: Der Neue Merkur 5 (1921/22), S. 145–155, hier S. 153. 11 Curtius, Ernst Robert: Die heutigen Probleme der französischen Intelligenz, in: Kölnische Volkszeitung vom 17. März 1920.
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Europa Wirtschaftskolonie Amerikas oder Militärkolonie Asiens wird, einige es sich.“12 Schon 1916 hieß es in seinem Aufsatz Der Europäer: Wir können überflutet werden. Die Drohung nimmt ihre eigentliche Kraft daher, daß wir alles dennoch in uns selbst tragen, auch wir: Widervernunft und Selbstaufgabe, slawische Grausamkeit, unrechtwollende Hysterie, jeden Abgrund des Geistes, Asien und das Chaos… Wir stärken einander gegen das Chaos.13
Wir: Das heißt Deutschland und Frankreich. Die deutsch-französische Komplementarität, die aus verständlichen Gründen im Mittelpunkt der europäischen Diskurse der Zwischenkriegszeit gestanden hat, bleibt nach wie vor eine Hauptachse bei der Suche nach der politischen und kulturellen Identität Europas. Beruhte damals der europäische Sonderweg auf der Abgrenzung gegen den ‚Asianismus‘ und den ‚Amerikanismus‘ und auf der versuchten Vermittlung der Romanität und der Germanität, so ist er noch heute auf diese Vermittlung angewiesen, aber die Abgrenzung hat sich unter dem Druck der politischen Entwicklungen in ein breiteres Integrationsbedürfnis verwandelt. Das kleine Sonderweg-Europa soll seine Identität durch seine Fähigkeit bewähren, ein politisches, kulturelles und soziales Integrationsmodell zur Geltung zu bringen, das stark genug ist, um in die verheerenden Konflikte des nun nicht mehr ‚drüben‘ liegenden Osteuropas einzugreifen. In der ganzen deutsch-französischen Literatur der Zwischenkriegszeit ging es freilich vor allem um den Gegensatz zwischen einer französischen und einer deutschen Auflassung der Politik bzw. des Politischen und um die sich daraus ergebende Frage, welche Konzeption die treibende Kraft des europäischen dritten Wegs sein könne. Sieht man von der Rechts-Links-Polarität ab, die in Bezug auf jene Zeit am wenigsten relevant ist, dann gründete sich die vorherrschende deutsche Auffassung auf die Überzeugung, dass der Universalismus der französischen Lumières sich überlebt hat und nur noch als „Maske“ der französischen Politik fungiert,14 also dass die Zeit einer europäischen Gemeinschaft gekommen sei, die sich von der Utopie einer weltbürgerlichen Gesellschaft und von ihrem „naiven nationalistischen Doktrinarismus“ (so Curtius 1921)15 emanzipieren solle. Im Namen der deutschfranzösischen Schicksalsgemeinschaft verwirft Curtius sowohl den Nationalismus von Barrès als auch den Internationalismus von Barbusse und der Clarté-Gruppe,
12 Mann, Heinrich: V. S. E. (Vereinigte Staaten von Europa), in: Voßische Zeitung vom 3. Dezember 1924. 13 Mann, Heinrich: Der Europäer (1916), in: Ders.: Essays (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 4), Hamburg 1960, S. 554–560, hier S. 555. 14 Grautoff, Otto: Die Maske und das Gesicht Frankreichs, Stuttgart/Gotha 1923. 15 Curtius: Deutsch-französische Kulturprobleme, Anm. 10, S. 151 f.
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die in seinen Augen gleichermaßen Ausdrucksformen des „flachen Rationalismus“ der Aufklärung sind. Curtius spricht sich für jenes Europa der Nationen aus, das Hermann Graf Keyserling seinerseits eine „Internationale der Individualitäten“ nennt – eine Vereinigung von Kultur-Monaden, deren je unvergleichliches und unverlierbares Eigenwesen bewahrt wird und die, wie Ranke gesagt hätte, alle vor Gott gleich sind. Fast gleich: Denn aus den Lebensrhythmen dieser lebensphilosophischen Geschichte der Kulturen folgt, dass die einen aufsteigende, die anderen untergehende oder gar ‚fertige‘ Kulturen sind – im doppelten Sinn dieses Wortes bei Keyserling, der Frankreich als ein Muster kultureller Vollendung preist, dessen Beitrag zur europäischen Synthese nur noch darin bestehen kann, der deutschen Dynamik Maß einzuflößen. Für Keyserling wie für Curtius wird der europäische Sonderweg deutsch sein. Die Zeit der französischen Revolutionsideale ist vorbei, die Dynamik der Geschichte gehört jetzt den ‚jungen Völkern‘, Deutschland und Russland, und wenn Deutschland Frankreich überhaupt noch braucht, dann vor allem, um Russlands ungezügelter Dynamik zu widerstehen. In der europäischen Kultursynthese sind die Rollen, wie der Romanist Viktor Klemperer ironisch bemerkt, „so ungleich verteilt, dass […] dem deutschen ‚Geist‘ gewissermaßen die ganze und eigentliche Schöpfung des Kosmos zufällt, während ‚Esprit‘ nur für die Kosmetik zu sorgen hat“.16 Romantik und Klassik (oder Klassizismus), Dynamik und Statik – es geht hier nicht darum, die alte und wahrscheinlich unlösbare Frage nach der ‚Wahrheit‘ dieser Klischees wieder aufzuwerfen, sondern lediglich ihre imagologische Wirklichkeit und ihre außerordentliche ideologisch-politische Wirksamkeit festzustellen. Wenn die Stereotype diese Polarität mit dem Paar Deutschland-Frankreich identifiziert haben, so handelte es sich aber in einem tieferen Sinn um Reaktionen auf eine Moderne, die als Krise erlebt wurde.17 Die innere Gegensätzlichkeit der philosophischen Identität Europas drückte ihr Konfliktverhältnis zur Moderne aus. Der Gedanke eines „organischen Europas“ knüpft an die Romantik wieder an, um der „Desorganisation“ durch den Rationalismus, durch den „philosophischen Geist, der sich immer mehr von Gott abgewandt und die Ideen des Seins, der Ordnung und des Guten aufgelöst hat“,18 entgegenzuarbeiten. Der Rationalismus der französischen Aufklärung, der die ‚Zivilisation‘, d. h. die Politisierung des Geistes, gezeitigt
16 Klemperer, Viktor: Das neue deutsche Frankreichbild 1914–1933, in: Beiträge zur romanischen Philologie 1/2 (1961), S. 70–115, hier S. 70. 17 Vgl. Raulet, Gérard: L’interprétation des Lumières françaises et sa fonction idéologique dans la romanistique allemande des années vingt et trente, in: Bock, Hans Manfred/Meyer-Kalkus, Reinhart/ Trebitsch, Michael (Hg.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris 1993, S. 317–342, hier S. 317 ff. 18 Platz, Hermann: Préliminaires de collaboration intellectuelle, in: Les Cahiers de la nouvelle journée, France et Allemagne, Paris 1928, S. 85–124, hier S. 91.
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haben soll, wurde zum Sündenbock eines Krisenbewusstseins, das nicht von ungefähr auf philosophisch-politische Krisenmotive der nachkantischen Generation zurückgriff. Die Fronten, die sich so bildeten, haben lange Schatten vorausgeworfen. Deutscherseits verschloss man sich von vornherein dem Gedanken, dass die republikanische Souveränität eine Gemeinschaft zweiter Ordnung schafft – eine zweite Gemeinschaft, in demselben Sinn, wie man von der zweiten Natur spricht. In der Folge der deutschen Wiedervereinigung hat nun Habermas nicht nur den Verfassungspatriotismus in den Vordergrund gestellt, sondern auch den Zusammenhang betont, der zwischen der Entstehung des modernen Staates, den zugleich nationalen und demokratischen Bestrebungen und der Aussicht auf eine über- oder transnationale Solidarität besteht: Es ist nämlich der demokratische Aufbruch des 19. Jahrhunderts (1848), der zugleich den Nationalstaat und – auch in Deutschland – die Solidarität der Bürger begründet und gefördert hat. Habermas die These von der Verabschiedung des Rechtsstaates in den Mund zu legen, ist deshalb eine unzulässige Vereinfachung. Er konstatiert lediglich dessen Schwächung in einem Kontext, der zugleich zur Übertreibung nationaler Motive tendiert.19 Auf keinen Fall spricht er sich für einen Verzicht auf den Integrationsrahmen aus, den der Nationalstaat weiterhin darstellt. Auf die europäische Problematik bezogen bedeutet dies, dass es darauf ankommt, politische Vertretungsinstanzen zu imaginieren, die dieses Erbe antreten können, damit „die Bürger des einen betroffenen Staates in Kooperation mit den Bürgern der übrigen beteiligten Staaten an der supranationalen Rechtsetzung nach einem demokratischen Verfahren beteiligt werden“.20 Dass es bislang nicht der Fall ist, muss nicht erst dargestellt werden. Die Spielregel ist aber diejenige, auf welche Habermas selber pocht: Indem sie an der Bildung einer supranationalen politischen Öffentlichkeit teilnehmen, stellen die europäischen Völker (so Habermas im Text) „mit ihrer Beteiligung am verfassunggebenden Prozess […] sicher, dass der jeweils eigene Staat innerhalb des föderalen Gemeinwesens in seiner freiheitssichernden Funktion eines demokratischen Rechtsstaates erhalten bleibt“.21 Es ist eine klare Stellungnahme gegen die Praxis der ‚Intergouvernementalität‘, die im Endeffekt immer einen Verlust an demokratischer Souveränität bedeutet und dazu führt, dass wichtige Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden.22 Dagegen macht Habermas die Hoffnung geltend, dass mit der EU als supranationaler Organisation ein neues Modell des Konstitutionalismus Gestalt 19 Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas, Berlin 2011, S. 49. Im Folgenden abgekürzt: ZVE und Seitenzahl. 20 ZVE 54. 21 ZVE 70 – Hervorhebungen im Original. 22 Vgl. ZVE 54.
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annimmt, das „sich aus den Grenzen der Staatsverfassung fortzubewegen“ beginnt und eine politische Gewalt etabliert, die ihre Kompetenzen rechtlich nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern aus ihrer eigenen Verfassung herleitet.23 Mit der Wiedervereinigung wurde die Frage nach der politischen Integration – also auch nach dem, was in Frankreich unter citoyenneté verstanden wird – wieder brennend. Habermas war und ist offensichtlich bemüht, vor Gefahren zu warnen: Daraus folgt einerseits der – zwar defensive, aber sehr hilfreiche – Begriff des „Verfassungspatriotismus“, andererseits die berühmte Losung vom Ende des Nationalstaats, die ebenfalls defensiv als Warnung vor einem nationalistischen Missverständnis der Wiedervereinigung und vor einer völkischen Überhebung gemeint ist. Gleichzeitig bemüht er sich, zwischen dem Gründungsmoment des Bürgerstaats, das weiterhin die Entstehung der Staatsbürgerschaft im modernen demokratischen Sinn, also Souveränität und Solidarität bedeutet, und den späteren völkischen oder populistischen Entartungen zu unterscheiden. Neben dem schon genannten Text, der nach der „Normalität einer künftigen Berliner Republik“ fragt, ist der in Faktizität und Geltung wiederaufgenommene Text „Staatsbürgerschaft und nationale Identität“ aus 1991 zu nennen. Republikanische Gesinnung oder Nationalbewusstsein: Um diese Alternative, genauer also um die Natur des Nationalbewusstseins kreist die ganze Habermas’sche Reflexion seit den Wendejahren. Habermas ist seitdem überzeugt, dass es die historische Form der Staatsnation ist, die – wenn sie auch Zeichen der Erschöpfung aufweist infolge der zunehmenden Differenzierung der zeitgenössischen Gesellschaften – die politische und soziale Integration ermöglicht hat. „Der Verfassungsstaat macht die Gesellschaftsbürger zu demokratischen Staatsbürgern“, heißt es 2011 in dem Aufsatz „Zur Verfassung Europas“.24 Darauf ist ja nicht zuletzt die starke These zurückzuführen, dass Europa eine (wirkliche) Verfassung braucht – keine bloße Kompilation (Anhäufung) von Verträgen. Dies umso mehr, als die Wirtschaft immer weniger fähig ist, den sozialen und politischen Konsens zu begründen. Früh genug (spätestens in den Jahren der finanziellen Krise von 2008) – und dies ist ein weiterer Aspekt, den ich besonders hervorheben möchte – hat Habermas die ‚Desolidarisierung‘ eingesehen, die aus der Globalisierung resultiert. Im Vorwort zur französischen Sammlung seiner Aufsätze Sur l’Europe, zögert er nicht, den Grundsatz zu formulieren, dass nur eine Harmonisierung der Wirtschafts-, Sozialund Steuerpolitiken auf europäischer Ebene den Bürgern dazu verhelfen würde, gegenüber den funktionalen Marktzwängen „eine gewisse politische Handlungs-
23 Vgl. Schönberger, Christoph: Die Europäische Union als Bund. Zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas, in: Archiv des öffentlichen Rechts 129/1 (2004), S. 81–120. 24 ZVE 45.
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freiheit“ wieder zu erlangen.25 Ob man auf einen solchen Kurswechsel seitens der nordeuropäischen Länder – den Niederlanden, Schweden, ja Deutschland selbst – hoffen kann, muss mit einem großen Fragezeichen versehen werden. Fest steht jedenfalls, dass Habermas immer mehr auf den Zusammenhang von Souveränität und Solidarität gepocht hat und dass diese Auffassung die frühere Auffassung der liberalen bürgerlichen politischen Willensbildung abgelöst oder vielmehr ergänzt hat. Das wirkt sich dann notwendig auch auf einen Komplex aus, der bei Habermas implizit, bei seinen Schülern und Fortsetzern selbstverständlich eine große Rolle spielt: Die Utopie einer großen globalen Gesellschaft hat versagt – nur sozietale Verhaltensweisen haben sich weltweit durchgesetzt und diesen Anschein bewirkt, aber in Wirklichkeit herrscht mehr denn je, und sogar jeden Tag in beängstigenderen Formen, ein Krieg aller gegen alle. Natürlich kann eine gemeinsame politische Kultur Personen verschiedener Herkunft vereinigen, selbst wenn sie im Rahmen des republikanischen Verfassungspatriotismus bestimmte kulturelle Praktiken beibehalten wollten. Aber das Moment der gemeinsamen politischen Willensbildung ist unverzichtbar. Es bedeutet zugleich die Beteiligung an und das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Verfassung und einer gemeinsamen Ausübung der Souveränität.
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Identität als Legitimationskrise
Nie ist von Identität mehr die Rede als im Kontext von Identitätskrisen.26 Zuflucht suchen in prämodernen Vorstellungen, wie es die antirationalistischen Europäer der Zwischenkriegszeit getan haben, ist aber keine haltbare Alternative, weil sie das verkennt, was sich hinter dem ominösen Begriff der Identität versteckt. Hinter ihm verbirgt sich, wie Habermas es akut herausgestellt hat, die ökonomisch-politische Frage der Legitimation. Habermas’ 1973 erschienener Essay Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus27 hat in keinerlei Hinsicht an Brisanz verloren, weil er schon damals die Krise der beginnenden Siebziger keineswegs nur als eine vorübergehende Störung vor der nächsten Wiederankurbelung des Wachstums, sondern eben als eine Legitimations- und Identitätsfrage thematisierte.28 Indem er haupt-
25 Habermas, Jürgen: Sur l’Europe, Paris 2006, S. 9. 26 Vgl. Raulet, Gérard/Le Rider, Jacques (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne?, Tübingen 1987, sowie Klinger, Cornelia/Stäblein, Ruthard (Hg.): Identitätskrise und Surrogatidentitäten, Frankfurt a. M. 1989. 27 Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973; im Folgenden abgekürzt: LPS und Seitenzahl. 28 Vgl. dazu Raulet, Gérard: Legitimacy and Globalization, in: Philosophy and Social Science 37/3 (2010), S. 313–323.
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sächlich auf der Ebene der Rationalität politischer Herrschaft argumentierte, hat Habermas richtig erfasst, dass das, was sich abspielte, nichts Geringeres war als eine tiefgreifende Veränderung der Produktionsweise. Habermas formulierte seine These zu einem Zeitpunkt, da der spätkapitalistische Sozialstaat schon gefährdet war. Wenn es „dem legitimatorischen System nicht [gelingt], in Erfüllung der übernommenen Steuerungsimperative des Wirtschaftssystems das erforderliche Niveau von Massenloyalität aufrechtzuerhalten“,29 schlägt das Rationalitätsdefizit in ein Legitimitätsdefizit um.30 Deshalb nimmt das „administrative System“ des Staats, wie Habermas es in der Sprache der Systemtheorie selber nennt, eine Schlüsselfunktion ein: Es fungiert als Vermittler und Puffer zwischen dem „ökonomischen System“ (wenn es eines ist), das eigentlich nur den Mechanismen des Markts gehorcht, oder gehorchen sollte, und dem „legitimatorischen System“, dem der liberale Kapitalismus nicht mehr von selbst und allein Genüge leisten konnte.31 In den europäischen Diskursen der Zwischenkriegszeit spielte der Antikapitalismus auch deshalb eine maßgebliche Rolle, weil der liberale Kapitalismus offensichtlich nicht mehr in der Lage war, die soziale und nationale Kohäsion aufrechtzuerhalten. Mit dieser Situation konfrontiert schreckte Max Scheler nicht vor der Provokation zurück, dass der Erste Weltkrieg die Gelegenheit dargestellt habe, eine auf Kooperation gegründete Rationalität wieder zu behaupten. Er griff Vorstellungen auf, die im deutschen Historismus gang und gäbe waren, und berief sich vor allem auf die katholische und romantische Variante des Historismus: „Es gäbe kein schöneres Geschenk des katholischen Deutschland an das ganze Deutschland, als dieses eben aus der katholischen Denkart quellende und in ihr verwurzelte Geschenk der Einigung des deutschen Volkes in diesem Sinne.“32 An diese Auffassung knüpfen die katholischen ‚dritten Wege‘ der Zwischenkriegszeit an und aus ihr werden noch nach 1945 katholische Kreise wie die Zeitschrift Neues Abendland schöpfen. In „Christlicher Sozialismus als Antikapitalismus“ schreibt Scheler: Der Bolschewismus beruht nicht nur innenpolitisch auf der antidemokratischen Kultur des Proletariats mit gleichzeitiger Militärherrschaft und antikapitalistischem Militarismus; auch seine äußere Politik geht in die Richtung, nicht durch Versöhnung in einem
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LPS 68. LPS 70. Vgl. LPS 54 f. Scheler, Max: Deutschlands Sendung und der katholische Gedanke, in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften (Gesammelte Werke, Bd. 4). Hg. von Manfred Frings, Bern/München 1982, S. 515–540, hier S. 540.
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sozialistischen Völkerbunde, sondern durch die Mittel von Macht und Gewalt einen Weltimperialismus des Proletariats aufzurichten. Ihm begegnet die englisch-amerikanische Tendenz, unterstützt von den Hauptführern des französischen Finanzkapitalismus, mit dem entgegengesetzten Versuche, den kapitalistischen Menschentypus im Westen in der Herrschaft zu erhalten. Es erscheint mir nun aber wichtig zu sagen, daß der christliche Sozialismus keiner dieser beiden Tendenzen folgen darf, sondern als eine dritte selbständige Welttendenz, sich beidem entgegenzusetzen und zwischen beiden eine sinnvolle Vermittlung zu übernehmen habe.33
Nun neigen die christlichen, genauer: katholischen Vorstellungen dazu, durch solche Mittel- und Sonderwege der europäischen Identitätskrise auszuweichen, indem sie einen prämodernen Solidaritätsbegriff mobilisieren und ihn mit der Solidarität der Gemeinschaft zweiter Ordnung – der republikanischen – substituieren. Ich will mich deshalb nicht länger bei ihnen aufhalten.34 Anders verhält es sich bei Edmund Husserl. In seinem Wiener Vortrag Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie (1935) und in seinem letzten Werk, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, das er zwischen 1934 und 1937 schrieb, bringt er zunächst die Identitätskrise mit der Erschöpfung der ‚Entelechie‘ in Zusammenhang, die die Selbstbehauptung der europäischen Rationalität bislang getragen hat. Husserl setzt logos und ratio einander entgegen und macht den wissenschaftlichen Rationalismus für die Krise der Werte verantwortlich. Der Positivismus – so heißt es in der Krisis – „enthauptet sozusagen die Philosophie“.35 Der Positivismus ist, wie Habermas 1968 in Erkenntnis und Interesse später sagte, die „Verleugnung der Kritik“. Husserl zeigt, dass die Wissenschaft nicht nur unfähig ist, dem Bedarf an Werten abzuhelfen, sondern dass sie zur Zersplitterung des Sinns beiträgt, da ja jede Wissenschaft regional ist, während die Philosophie die allgemeine Begründung der Wissenschaften sein soll.36 Insofern als sie aus der Degeneration der ‚Vernunft‘ zur kalkulierenden, quantifizierenden, technischen ratio resultiert, signalisiert die Krise der Werte eine Krise der Vernunft selbst. Wie Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, mit welcher diese Kritik der Vernunft, wenn man ihr an die Nieren geht, eng verwandt ist, geht Husserl so weit, dass er an der Stichhaltigkeit
33 Scheler, Max: Christlicher Sozialismus als Antikapitalismus, in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften, Anm. 32, S. 615–675, hier S. 650 f. 34 Auf diese Schelerschen Gedankengänge gehe ich im 9. Kapitel meines Buchs Das kritische Potential der philosophischen Anthropologie, Nordhausen 2020, S. 245–263, ein. 35 Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana, Bd. 4). Hg. von Walter Biemel, Den Haag 1954, S. 7. 36 Husserl, Edmund: Die Philosophie als strenge Wissenschaft (Philosophische Bibliothek, Bd. 603). Hg. von Eduard Marbach, Hamburg 2009.
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des Gegensatzes von Vernunft und Unvernunft schließlich zweifelt.37 Die Logik seiner Argumentation entspricht so den typischen Denkschemata aller modernen Kulturkrisen: Die Kritik des ‚abstrakten‘ Rationalismus, den man als denjenigen der Aufklärung (und insbesondere der französischen) anprangert, die Zweifel der Vernunft an sich selbst und ihr selbstkritischer Gestus sind Gemeingut aller ‚kulturkritisch‘ gesinnten Umbruchszeiten der Moderne – von Herder bis hin zur Kulturkritik der Jahrhundertwende, der Weimarer Republik und darüber hinaus auch der Dialektik der Aufklärung –, wobei es freilich darauf ankommt, ob man überhaupt gewillt ist, die ‚Vernunft‘ zu retten. Dass dies Husserls Absicht war, darüber dürfte kein Zweifel bestehen. Während Horkheimer und vor allem Adorno das Risiko auf sich nehmen, das Spiel der Negativität, d. h. der Selbstzerstörung der Vernunft, bis zum bitteren Ende der „negativen Dialektik“ als letzter Form der Selbstbehauptung der Vernunft zu spielen, appelliert Husserl noch an das Modell von „vergangenen Zeiten“, in denen die Philosophie „apodiktisch strenge Wissenschaft“ war, in denen „eine Verbindung von Wissenschaft und Religion möglich [war], die wie die mittelalterliche Philosophie den Anspruch erhob, religiösen Glauben und wissenschaftliche Vernunft zu voller Harmonie bringen zu können“.38 Und, wie es sich in solchen Krisendiskursen geziemt, gibt es dafür nur zwei miteinander konkurrierende Vorbilder: Griechenland oder wieder das christliche Mittelalter. Bei Husserl ist es Griechenland,39 das für ihn nicht bloß ein kulturelles Vorbild bedeutet, sondern zunächst den festen Rückhalt „einer auf letzte erdenkliche Vorurteilslosigkeit abgestellten Philosophie, einer in wirklicher Autonomie aus letzten selbst erzeugten Evidenzen sich gestaltenden und sich von daher absolut selbstverantwortenden Philosophie“,40 darüber hinaus aber wohlgemerkt auch das Modell einer neuen kosmischen Einstellung, eines neuen Umgangs mit der Umwelt: Das geistige Europa hat eine Geburtsstätte. Ich meine damit nicht geographisch in einem Land, obschon auch das zutrifft, sondern eine geistige Geburtsstätte in einer Nation bzw. in einzelnen Menschen und menschlichen Gruppen dieser Nation. Es ist die altgriechische Nation im 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. In ihr erwächst eine neuartige Einstellung einzelner zur Umwelt. Und in ihrer Konsequenz vollzieht sich der Durchbruch einer völlig neuen Art geistiger Gebilde, rasch anwachsend zu einer systematisch geschlossenen
37 Vgl. Depraz, Nathalie: Husserl. La crise de l’humanité européenne et la philosophie, Paris 1992, S. 48. 38 Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften, Anm. 35, S. 508. 39 Ebd., S. 321. 40 Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen, in: Ders.: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana, Bd. 1). Hg. von Stephan Strasser, Den Haag 1950, S. 41–183, hier S. 47.
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Kulturgestalt; die Griechen nannten sie Philosophie. Richtig übersetzt, in dem ursprünglichen Sinn, besagt das nichts anderes als universale Wissenschaft, Wissenschaft vom Weltall, von der Alleinheit alles Seienden.41
An der Ehrlichkeit und Konsequenz der Husserlschen Krisis ist deshalb nicht zu zweifeln. Auch sie ist nichtsdestoweniger ein reaktives ideologisches Produkt der 1920er–1930er Jahre. Ihre ‚epoche‘ will der Krise ein absolutes, nicht hinterfragbares Ende setzen. Sie will die Kritik von der Krise freisprechen und erweist sich deswegen als eine Absage an die Moderne. Selbst wenn er nicht mehr ‚naturalistisch‘, sondern ‚transzendental‘ verstanden wird, drückt der Bezug auf eine ‚Lebenswelt‘ die Sehnsucht nach einer Welt ursprünglicher Evidenzen aus, die der Kritik entzogen sind, und in politischer Hinsicht die Sehnsucht nach einer ‚Gemeinschaft‘, deren Tradition ursprünglicher wäre als ihre politischen und kulturellen Erscheinungsformen. Indem er diese Tradition dem ‚europäischen Gedanken‘ zuschreibt, redet Husserl den ‚Europäern‘ der Zwischenkriegszeit das Wort. Sein ‚europäisches Menschentum‘ ist wie das ihre eine Gemeinschaft von Nationen und beileibe keine ‚Gesellschaft‘, sein ‚transzendentales Europa‘ scheint vor allem um die Stabilisierung der Moderne bemüht zu sein. Für ihn ist die gegenwärtige Krise Europas, die in der Rationalisierung und Säkularisierung des 17. und des 18. Jahrhunderts ihren Ursprung nimmt, schließlich nur ein negatives und keineswegs produktives Ereignis – wie sehr auch die selbstkritische Kraft der modernen europäischen Vernunft zu den Prämissen seines Begriffs der Krisis gehört. Was Husserl nicht zu denken vermag, obwohl er in dieser Hinsicht viel besser ist als die meisten seiner Zeitgenossen, ist die Krise als Dynamik der Moderne; er opfert sie entweder dem Rückzug auf letzte Evidenzen oder der zwar historischen, aber entelechischen Teleologie Europas. Unser Problem mit Europa, wenn Europa überhaupt ein philosophisches Anliegen ist und eine philosophische Identität braucht, liegt nun gerade dazwischen.
3.
Regression und Extension: die kritische Wirklichkeit Europas
Die Selbstkritik der Vernunft ist Gemeingut aller Krisenperioden der herrschenden Rationalität und nimmt jeweils die Form einer Infragestellung des rationalen Universalitätsanspruchs an, also auch jener supranationalen geistigen Identität Europas, die Husserl retten und neu begründen wollte. Dabei erzeugt sie in aller Regel – von Novalis’ Christenheit oder Europa bis hin zu den Kulturkritikern des 20. Jahrhunderts – reaktive Diskurse. Die Beharrlichkeit dieses Deutungsmusters legt die Vermutung nahe, dass wir es mit einem ‚archäologischen‘ Kern zu tun haben und
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Zur kritischen Identität Europas
dass erst die Beschäftigung mit solchen wiederkehrenden Fragestellungen uns zu einem wirklichen Verständnis der ‚Moderne‘ verhelfen kann.42 Diese Vermutung bezieht sich demnach auf den Umstand, dass in den modernen Rationalitätskrisen die Frage nach der Identität Europas immer an exponierter Stelle auftaucht und dass es deshalb so aussieht, als wäre die geistige Identität Europas von der selbstkritischen Dynamik der Moderne untrennbar. Diesen quasi strukturellen Befund möchte ich hier sowohl den prämodernen Nostalgien als auch den Bemühungen um eine rationale Rekonstruktion der Identität (wie zum Beispiel bei Husserl) entgegensetzen. Muss man sich doch fragen, was politisch und ökonomisch hinter dem ominösen Begriff der europäischen Identität steht. Die kritische Wirklichkeit Europas heute besteht in einer Spannung zwischen Ausdehnung und Regression, in deren Zusammenhang das mittelalterliche Europa mit der modernen geistigen Identität Europas wieder wetteifert. Die Herausforderung, die die Erweiterung Europas nach Osten dargestellt hat und immer noch darstellt, bringt aber mehr als die Gefahr des Rückfalls in dessen prämodernes Verständnis mit sich: Die Balkanisierung Mitteleuropas macht den rationalen Universalismus und dessen treibende Kraft, die Säkularisierung, rückgängig. Lag dem europäischen Sonderweg der Zwischenkriegszeit als kritischer und zugleich dynamischer Konflikt die deutsch-französische Dualität zugrunde, so besteht der heutige europäische Sonderweg aus einer Unzahl von Konfliktpotentialen, deren Unvernunft, wie sie sich in den religiös überdeterminierten Nationalismen manifestiert, hinter den christlichen Universalismus selbst zurückfällt, aus dem qua Säkularisierung derjenige der Vernunft hervorgegangen ist. Was heute geschieht, ist – indem z. B. die Polen sich vorbehaltlos zum Liberalismus bekennen und zugleich mit dem Wertekodex Europas brechen43 – auf exemplarische Weise der Zusammenbruch, genauer die Selbstzerstörung eines Universalismus, dessen Rationalität ins Irrationale umschlägt. Es ist der Zusammenbruch jener Rationalität des universalen Tauschs, die, wie der französische Phänomenologe und politische Denker Gérard Granel in seinem Vorwort zur französischen Ausgabe der Krisis schreibt,44 den Weltmarkt auf ähnliche Weise zur Entelechie aller Tauschmöglichkeiten macht, wie bei Husserl die europäische Vernunft die Entelechie aller bisherigen Philosophie darstellt. Wie könnte das europäische ‚Projekt‘ unter diesen Umständen die Zerfallserscheinungen des erweiterten ‚entelechischen‘ Raums, der ihm mit dem Zusammenbruch
42 Siehe Raulet, Gérard: Vorwort, in: Ders./Le Rider (Hg.): Verabschiedung der (Post-)Moderne?, Anm. 26, S. 7–20. 43 Indem – um ein weiteres Beispiel zu geben – das Europäische Parlament sich eine Präsidentin auswählt, die zu diesem Wertekodex quersteht. 44 Granel, Gérard: Vorwort, in: Husserl, Edmund: La crise des sciences européennes et la phénoménologie transcendantale, Paris 1976, S. III–IX.
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der ‚Realsozialismen‘ zugefallen ist, überhaupt bewältigen? Wie könnte sein Universalismus denjenigen der zusammengebrochenen großen sozialistischen Erzählung anders als durch die forcierte Durchsetzung der Logik des Marktes ablösen, die den entelechischen Raum zu einem bloßen erweiterten Raum der Kapitalreproduktion gemacht hat? Nicht zuletzt deshalb machen sich gegen die universalistischen Werte partikularistische Bestimmungen – Boden, Sprache, Religion und sogar Rasse – wieder geltend, die freilich für jahrzehntelang unterdrückte Völker einen unmittelbaren emanzipatorischen Reiz besitzen.45 Mit ihnen steht das Andere der ‚Vernunft‘ wieder im Mittelpunkt der europäischen Identität und mahnt sie an ihre konstitutive Krisenhaftigkeit. An diesem Anderen hat sie den ursprünglich kritischen Charakter ihres Selbstbewusstseins zu erproben. An der Gefahr der totalen Zersetzung, die nicht von ungefähr mit dem Traum der Vollendung historisch zusammenfällt, soll sich zeigen, was die Kritik noch taugt: Ob die philosophische Identität Europas zu ihrer kritischen Herkunft getreu stehen kann. An den Fakten gemessen zwingt die heutige Lage zu der Einsicht, dass eine solche gemeinsame Kultur zunächst einmal nicht existiert, dass sie durch die langjährige Teilung Europas in zwei Blöcke verhindert wurde und dass sie sich im Westen auf die wirtschaftliche Logik des Tauschs reduziert, also dass Kants geschichtsphilosophische Vorsicht mehr denn je aktuell ist: Der universalistische Traum muss sich mit der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der bestehenden politischen Kulturen abfinden, die einem solchen universalistischen Anspruch nicht gewachsen sind. Selbst in den Staatsnationen, deren Identität auf der Basis eines sozial konsolidierten kapitalistischen Systems gesichert zu sein scheint, stellt die Multikulturalität das abendländische politische Modell in Frage. Was wir heute erleben, ist sicher nicht das Ende der Aufklärung, wohl aber ihre Radikalisierung: Die Konfrontation mit anderen politischen Kulturen und das Problem ihrer Integration sind nicht zu bewältigen durch den Rückzug der europäischen Identität auf einen nicht hinterfragbaren, der Kritik entzogenen Kern oder durch deren Auflösung in eine europäische Kultursynthese, deren Universalismus sich in der vergangenen Geschichte als die Hegemonie eines besonderen Vernunftmodells entpuppt hat, sei es der Universalitätsanspruch der Lumières und der Französischen Revolution, die ihm entgegengesetzte Auffassung einer deutschen Vernunft und eines deutschen Europas oder schlussendlich das alles niederwälzende Modell des kapitalistischen Liberalismus. Wird die Frage so gestellt, dann erweist sich die Problematik der Öffentlichkeit als unumgänglich. Sie ist nämlich zugleich die Anwendungssphäre der Kritik, die
45 Vgl. Raulet, Gérard: Citoyenneté, nationalité, internationalité, in: L’événement européen 11 (1990), S. 165–179, hier S. 178, sowie Ders.: Chronique de l’espace public, Paris 1994, S. 216 ff.
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Sphäre, in der die Vernunft ihren Universalitätsanspruch geltend macht, und das Bindeglied zwischen philosophischer Selbstbestimmung und politischer Effizienz. Sie vermittelt zwischen dem empirischen Subjekt, das der bestehenden Rechtsordnung unterworfen ist, und dem philosophischen Subjekt – dem transzendentalen „Ich denke“, d. h. dem Subjekt der Kritik und der Moral. Dadurch bildet sie die ethisch-politische Grundlage einer zweiten ‚Gemeinschaft‘, die – so wie man von einer ‚zweiten Natur‘ spricht – nicht mehr naturwüchsig und präkritisch ist, sondern aus der Kritik selbst entspringt, sie macht also prinzipiell aus der Kritik selbst die konstitutive Dynamik der politischen Ordnung und setzt sich dadurch über die Alternative der Nation als kultureller Identität und des Staates als bloßer politischer Bindung, der Nation als Substanz und des Staates als rechtlicher Form hinweg, indem sie eine wirkliche politische Kultur begründet. Diese Auffassung hat Kant in seinem Traktat Zum ewigen Frieden auf die Idee einer Weltrepublik angewendet. Wir können an sie wieder anknüpfen, um das Problem einer trans- oder übernationalen europäischen Identität zu überdenken. Letztere kann nämlich erst dann einigermaßen Realität erlangen, wenn sie aus einer europäischen politischen Öffentlichkeit erwächst, die selbstverständlich selber die Entfaltung einer solchen politischen Öffentlichkeit in jedem Staat voraussetzt. Die Forderung einer geeinten europäischen Öffentlichkeit ist das Schlüsselproblem einer modernen, d. i. kritischen geistigen Identität Europas, die imstande wäre, dem zunehmenden Illiberalismus Einhalt zu gebieten. Dabei ist festzustellen, dass ihre Notwendigkeit in der jetzigen Konjunktur ebenso vielen ungünstigen wie günstigen Bedingungen begegnet. Zu den eher günstigen zählt der Umstand, dass der Zusammenbruch der autoritären politischen Modelle nicht nur die gleichgeschalteten politischen Öffentlichkeiten des Ostblocks betrifft, sondern bis zu 20 Prozent der Wählerschaft derjenigen westlichen Staaten, die eine starke kommunistische Partei besaßen, wie Italien oder Frankreich. Zu den ungünstigen Bedingungen soll man freilich den Umstand zählen, dass die Gleichschaltung der politischen Öffentlichkeit keineswegs nur den autoritären Regimen eigen ist, sondern auch die „Legitimation durch Verfahren“ (Luhmann) kennzeichnet, die die politische Praxis der spätkapitalistischen und immer weniger sozialen Sozialstaaten immer mehr bestimmt. An Jürgen Habermas’ Analysen der „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“ und der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ braucht hier gar nicht erst erinnert zu werden. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass der Anschluss Mittelund Osteuropas an die liberaldemokratische politische Kultur des Westens den langjährigen Mangel an demokratischer politischer Kultur nicht über Nacht abwischen wird. Schließlich stellt die nicht anders als durch autoritäre Scheinlösungen einzudämmende wachsende Emigration aus dem Süden und Mittelosten nach dem Norden, die auch zu einer neuen Ausdehnung Europas gehört, eine Herausforderung für die westlichen politischen Kulturen dar. Man darf zwar hoffen, dass eine Erweiterung der Wirtschaftsgemeinschaft nach Osten und nach Süden auf mittlere
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oder längere Frist zu einer wirklichen politischen Modernisierung beitragen wird. Deren Erfolg hängt aber von der Bildung einer entsprechenden politischen Kultur ab. Wenn man nun angesichts dieser Bedingungen in den religiösen Radikalismen (wie z. B. in Polen) mit vollem Recht reaktionäre Identitätsmodelle sehen muss, so soll man dennoch mit den wiedererwachenden Nationalismen vorsichtiger, und das heißt dialektisch umgehen. Man darf nicht vergessen, dass die Entstehung der politischen Öffentlichkeiten im Westen von der Selbstbehauptung der Nationalitäten untrennbar gewesen ist. Während die Staatsnationen des Ancien Régimes bei genauerem Hinsehen feudalen Multinationalen verpflichtet waren, die die Heilige Allianz und – auf neuer, moderner Basis – Napoleon wiederherzustellen versuchten, sind die Nationalitäten sowohl 1789 als auch 1848 die treibenden Kräfte eines freiheitlichen Selbstbewusstseins der politischen Öffentlichkeit gewesen. Daraus schöpft die bewundernswerte Widerstandskraft der Ukrainer. Gerade mit diesem Problem sehen wir uns heute konfrontiert: Es sieht sogar so aus, als wäre das Wiedererwachen des Nationalitätsgefühls für die Entstehung echter Citoyenneté geradezu erforderlich. Ich bin mir völlig bewusst, dass die damit einhergehende partielle Rehabilitierung der Nationalismen stören oder gar schockieren kann, weil wir ja mit dem Aufbegehren aggressiver nationalistischer Manifestationen bis zum Überdruss zu tun haben und nicht mehr recht wissen, wie man ihnen Einhalt gebieten kann. In dieser Hinsicht hat Jürgen Habermas zwar richtig, aber doch zu allgemein Realität und Ziel der posttraditionalen Gesellschaft und des postnationalen Staates gleichgesetzt. Dadurch hat er den Traum des deutschen Sonderwegs ausdrücklich verabschiedet,46 aber den europäischen Sonderweg außer Acht gelassen. Dieser könnte nun durchaus jene Art von Heiliger Allianz gebären, die der Maastrichter Vertrag angebahnt hat und die, reduziert sie sich auf eine ökonomisch-politische Multinationale, unfähig sein wird, auf den politisch-geistigen Identitätsbedarf zu antworten, das heißt die regressiven Nationalismen einzudämmen und in echte Citoyenneté, in ‚Verfassungspatriotismus‘ zu verwandeln. Realistischer sind die Ansichten, die er in seinem Aufsatz über „Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität“ entwickelt. Er geht von der Feststellung aus, dass „der Nationalismus, wie er sich in Europa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entfaltet hat, eine spezifisch moderne Erscheinungsform der kollektiven Identität ist“. Nach der Auflösung der traditionellen Ordnung des Ancien Régime sei es „der Nationalismus, der das Bedürfnis nach neuen Identifikationen befriedigt hat“.47 Erst als Bekenntnis zu einer republikanischen Staatsnation kann deswe46 Vgl. Habermas, Jürgen: Geschichtsbewusstsein und posttraditionale Identität. Die Westorientierung der Bundesrepublik, in: Ders.: Eine Art Schadensabwicklung (Kleine politische Schriften, Bd. 6), Frankfurt a. M. 1987, S. 159–179, hier S. 161 f. 47 Ebd., S. 165.
Zur kritischen Identität Europas
gen der Verfassungspatriotismus historische Plausibilität und moralisch-politische Legitimität erlangen: Darin kommt Habermas mit Kant überein. Sobald die ‚postnationale‘ Identität (die man vielleicht eher eine ‚postnationalistische‘ nennen sollte) ihre Legitimität nicht mehr von der nationalen Geschichte oder von einer vermeintlich vorgegebenen nationalen Identität, sondern von der Gesellschaft bezieht, fällt die ‚Nation‘ mit der société im Sinne von Siéyès zusammen. Diese neigt freilich immer dazu, den Staat als bloßen Verwalter und Verteiler des nationalen Reichtums aufzufassen; deshalb muss die Identifikation der Nation mit der société Werte hervorbringen, und zwar nicht nur materielle Werte. Darin besteht die Funktion der politischen Öffentlichkeit oder, wie Habermas sie nennt, der „republikanischen Gesinnung“. Nur sie vermag die Identifikation der Nation mit der Verfassung zu leisten und dem ‚Verfassungspatriotismus‘ eine ‚sittliche Substanz‘ zu geben, die sich nicht auf jene traditionalen Werte – Ehrlichkeit, Treue, Verantwortungsgefühl –, die z. B. Bundeskanzler Helmut Kohl immer wieder als deutsche Werte hinstellte, oder auf die ‚Geschichte‘, wie es etwa Michael Stürmer in seinem Beitrag zum Historikerstreit tat, berufen würde. Eine solche ‚Sittlichkeit‘ zu erzeugen, wie sie Hegel genannt hätte, ist die Aufgabe, die die ‚europäische Identität‘ zu bewältigen hat. Diese Sittlichkeit hebt nicht alle Differenzen auf, sie entsteht viel eher aus der Entzweiung selbst, aus der Dynamik der Krise und der Kritik: aus jener kritischen Beschaffenheit Europas, die sich wie gesehen nicht zuletzt in nationalen Gegensätzen niederschlägt, aber vor allem aus dem Widerstreit das Wesen der modernen europäischen Rationalität macht. Aus ihr ist die Dynamik einer europäischen Identität zu gewinnen, die sich nicht der falschen Allgemeinheit partikularer Hegemonismen verschreiben würde und erst recht imstande wäre, dem Zerfallsprozess der Partikularismen Widerstand zu leisten.48 Juziers, am vierten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine
48 Ein Geständnis sei mir noch zum Schluss erlaubt: Um diesen Beitrag zu schreiben, habe ich auf Reflexionen zurückgegriffen, die auf das Jahr 1997 zurückgehen. Beim Redigieren habe ich nur unwesentliche Akzentverschiebungen vorgenommen: vielleicht ein Zeichen, dass die Diagnose sich leider bewährt hat.
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Kulturkritik und Utopie Giuseppe Antonio Borgeses Europa – vom Liberalnationalismus zum Liberalhumanismus
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Von Italien nach Europa. Wege zwischen Literatur und Politik
Giuseppe Antonio Borgese, der spätere Schwiegersohn von Thomas Mann,1 der 1882 in Polizzi Generosa auf Sizilien geboren wurde, ist ein Schriftsteller, der ab den 1930er Jahren vom amerikanischen Exil aus unzweideutig gegen den Faschismus Stellung bezog. Bekannt ist diesbezüglich sein Buch Goliath, the March of Fascism aus dem Jahr 1937. In seiner Position als Universitätsprofessor für Germanistik und Ästhetik hatte sich Borgese bereits 1933 geweigert, für den Faschismus einzutreten und seinen Eid auf ihn abzulegen, was er selbst in seinen jüngst neu aufgelegten Briefen an Mussolini aus den Jahren 1933 und 1934 von Amerika aus ausführlich begründet.2 Wenn man die Genese von Borgeses Positionen in seiner Biographie vor dem Exil zurückverfolgt, so entsteht ein komplexes und höchst spannendes Bild, in dessen Gegenlicht verschiedene literarische und politische Tendenzen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sichtbar werden und das es verdient, näher vertieft zu werden. Bereits um 1900 war Borgese einer der gebildetsten und engagiertesten Köpfe Italiens, der sich zwischen Journalismus, Verlagswesen, Universität und Schriftstellerexistenz bewegte, mit vielen geistigen Netzwerken Kontakt hatte und sich am regen kulturellen Betrieb dieser Zeit maßgeblich beteiligte. Publizistisch war er in Italien schon früh tätig, besonders im Rahmen einer lebendigen kulturel-
1 Vgl. dazu etwa Di Stefano, Giovanni: „Italienische Optik, furios behauptet“. Giuseppe Antonio Borgese – der schwierige Schwiegersohn, in: Thomas Mann Jahrbuch 8 (1995), S. 139–165. 2 Librizzi, Gandolfo: No, io non giuro. Il rifiuto di G. A. Borgese: una storia antifascista, Marsala 2013. Seine Auseinandersetzung mit dem Faschismus fasst Borgese besonders prägnant auch in seinen Tagebüchern zusammen. Vgl. dazu Olivieri, Mariarosa (Hg.): Per una cultura europea. Le lettere di Giuseppe Antonio Borgese a Otto von Taube (1907–1952), Napoli 2002, S. 120. Zu Borgeses Positionen zum Faschismus vgl. außerdem Götz, Helmut: Giuseppe Antonio Borgese und der Faschismus, in: QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 60 (1980), S. 523–534, und La Monaca, Donatella: „Perché l’intelletto abbia respiro e la giustizia abbia il suo corso“. La testimonianza civile di Giuseppe Antonio Borgese, in: Grillo, Rosa Maria (Hg.): Percorsi della memoria. Storia e storie nella letteratura testimoniale (Sonderausgabe von Sinestesie. Rivista di Studi sulle letterature e le arti europee XXII [2021]), S. 185–196.
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Cristina Fossaluzza
len Szene, die sich vor allem in Florenz entwickelte, wohin Borgese zum Studium gezogen war. Unter anderem arbeitete er mit neu gegründeten Verlagen wie Laterza (1901, Bari) oder Carabba (1878, Lanciano) zusammen, für die er mit anderen Intellektuellen (etwa Benedetto Croce oder auch Giovanni Papini) neue editorische Reihen gründete.3 Auch außerhalb Italiens war Borgese eine geistige Persönlichkeit, die im frühen 20. Jahrhundert Profil zeigte. Als Germanist war er ein profunder Kenner der deutschen Sprache und Kultur, wie in der Auseinandersetzung mit seinen Studien zur deutschen Literatur sowie seinen Übersetzungen deutlich wird: Angefangen mit seiner 1905 auch dank der Unterstützung von Croce unter dem Titel Storia della critica romantica in Italia („Geschichte der romantischen Kritik in Italien“) erschienenen Doktorarbeit bis hin zu seiner 1925 verfassten SchlemihlÜbertragung sowie zu seiner Werther-Übersetzung aus dem Jahr 1930. Bereits 1910 wurde Borgese als Professor für Deutsche Literatur an die Universität Rom berufen; später bekam er den Lehrstuhl für Deutsche Literatur und Ästhetik in Mailand, was ihm die Gelegenheit gab, eine kleine ,Schule‘ zu gründen und somit die spätere italienische Germanistik mitzubestimmen.4 Ab 1912 arbeitete er außerdem als Literaturkritiker für die größte Zeitung Italiens, den interventionistischen Corriere della Sera, und kooperierte regelmäßig mit etablierten Verlagen wie Treves oder Bocca, für die er auch die Leitung von renommierten literarischen Zeitschriften übernahm.5 Seine enge Vertrautheit mit der deutschen Kultur zeigt sich allerdings nicht nur in diesen wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeiten, sondern bereits in den journalistischen Beiträgen, die er 1907–1908 als Auslandskorrespondent aus Berlin verfasste: Zuerst für die strengkonservative neapolitanische Zeitung Il Mattino, bei der viele junge Intellektuelle in jenen Jahren ihre Karriere im engagier-
3 Etwa „Antichi e Moderni“ für den Verlag Carabba (1912), in der die Übersetzungen mehrerer deutscher Titel Platz finden und in der einige Autoren der Aufklärung und der Moderne, aber besonders viele Romantiker auftauchen: Vertreten sind u. a. Lessing, Novalis, Tieck und Wackenroder bis hin zu dem damals noch lebenden Dehmel. Vgl. dazu ausführlicher: Sisto, Michele: Gli editori e il rinnovamento del repertorio, in: Baldin, Anna u. a. (Hg.): La letteratura tedesca in Italia. Un’introduzione 1900–1920, Macerata 2018, S. 57–89, insb. S. 80–85. 4 Zu Borgese als Schlüsselfigur für die spätere italienische Germanistik vgl. Sisto, Michele: Cesare De Lollis, Giuseppe Antonio Borgese e gli inizi della germanistica in Italia (1906–1913), in: Studi Medievali e Moderni XXI/2 (2017), S. 123–140, und Biagi, Daria: Giuseppe Antonio Borgese, in: Tradurre – Pratiche, teorie, strumenti 14 (2018), https://rivistatradurre.it/giuseppe-antonio-borgesepolizzi-generosa-1882-fiesole-1952/ (letzter Zugriff 02.12.2022). Zu Borgeses Schülern zählen wichtige Germanisten und Übersetzer wie u. a. Alberto Spaini, Bonaventura Tecchi und Rosina Pisaneschi. Zu Pisaneschi und Spaini vgl. ausführlicher die entsprechenden Beiträge von Daria Biagi in: Baldin u. a.: Letteratura, Anm. 3, insb. S. 195–200 und S. 211–218. 5 Wie La Cultura von Ruggero Bonghi, von Borgese in La Nuova cultura und dann in Il Conciliatore umbenannt.
Kulturkritik und Utopie
ten Journalismus begannen und zu deren Chefredakteur Borgese ernannt wurde, und schließlich für das turinische Tagesblatt La Stampa. Im Sinne der grauen Zonen, die in diesem Band in Auseinandersetzung mit Europa und dem Liberalismus beleuchtet werden, sind gerade Borgeses frühe, aus seinen journalistischen Beiträgen hervortretende Positionen gegenüber dem Europa unmittelbar vor und im Ersten Weltkrieg besonders relevant. Bereits in dieser Zeit näherte er sich einem Liberalnationalismus, der sich an den Idealen des Risorgimento orientiert, wobei auch dessen Europa-Idee als Bund von Staaten eine Rolle spielt.6 Von diesen Ideen geleitet, setzte sich Borgese ausdrücklich für den Krieg an der Seite der Entente-Mächte ein und distanzierte sich von den kriegsneutralen und eher germanophilen Stellungnahmen der meisten italienischen Intellektuellen und Akademiker während dieser Jahre.7 Die bisherige Forschung hat sich in Bezug auf diese Zeit vor allem auf Borgeses Einsatz für eine Teilnahme Italiens am Krieg neben der Entente innerhalb der politischen Debatte um Interventionismus oder Neutralität beschäftigt, einer Debatte, die sich im ersten europäischen Kriegsjahr 1914 in Italien entfaltete.8 Außerdem wurden seine Aufgaben im Ersten Weltkrieg untersucht – anfänglich im Comando Supremo, wo er dank seiner Kenntnisse des Deutschen bis 1916 in der Presseabteilung eingesetzt wurde, dann im Propaganda-Büro des Ministeriums der Marine und letztlich im Jahr 1917 als Auslandsbeauftragter des neu gegründeten Propagandabüros des italienischen Außenministeriums, zuerst in Frankreich und dann im Balkan und in der Schweiz.9 Erst seit Kurzem ist die europäische Dimension von Borgeses Schaffen von der Forschung erkannt worden – durch neue Studien über den europäischen
6 Durch den Liberalnationalismus wollte Borgese einerseits vom Konservatismus und Klerikalismus der Nationalisten, andererseits vom ‚Laissez-vivre‘ der Liberalen kritisch Abstand nehmen, wie er in seiner Kriegsschrift Guerra di redenzione besonders prägnant erläutert, vgl. Borgese, Giuseppe Antonio: Guerra di redenzione, Milano 1915, S. 4. Siehe dazu außerdem Librizzi: Rifiuto, Anm. 2, S. 42 f. 7 „Ma un po’ tutti gli storici italiani, prima della guerra, pensavano in tedesco: curioso modo di essere imparziali“, so resümiert Borgese diese Germanophilie der Vorkriegszeit in seinem Vorwort zu La guerra delle idee, Milano 1916, S. XV. 8 Ein Thema, das Borgese selbst vor allem im dritten Kapitel seines Buches Italia e Germania, Milano 1915 (von nun an abgekürzt mit der Sigle IG), S. 212–327, ausführlich behandelt. Zu Borgeses Position zu der in diesem Kontext zentralen Irredentismus-Debatte vgl. auch: Magni, Stefano: Triestini, Fiumani, Dalmati: gli irredenti e la Grande Guerra, in: Baldacci, Alessandro (Hg.): Dal nemico alla coralità: immagini ed esperienze dell’altro nelle rappresentazioni della guerra degli ultimi cento anni, Firenze 2017, S. 39–46, https://hal-amu.archives-ouvertes.fr/hal-01801948/document (letzter Zugriff 02.12.2022). 9 Vgl. Tosi, Luciano: Giuseppe Antonio Borgese e la prima guerra mondiale (1914–1918), in: Storia contemporanea IV/2 (1973), S. 263–296, hier S. 272, und Fiori, Antonio: Giuseppe Antonio Borgese e la propaganda italiana all’estero 1914–1918, in: Nuova Antologia, 618/2282 (2017), S. 17–40, hier S. 24 f.
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Mythos und die amerikanische Utopie in seinem Werk10 sowie durch die Veröffentlichung seines Briefwechsels mit dem Intellektuellen Otto von Taube in den Jahren 1907–1952, der 2002 unter dem bezeichnenden Titel Per una cultura europea („Für eine europäische Kultur“) herausgegeben wurde.11 In diesen Abhandlungen wird unter anderem auf Borgeses Freundschaft mit Hermann Graf Keyserling und nicht zuletzt auf sein Interesse für dessen Europa-Buch Das Spektrum Europas (1928) hingewiesen.12 Die erwähnten publizistischen Schriften, die Borgese in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von Berlin aus verfasste und in denen er sich mit dem damaligen Europa auseinandersetzt, werden in der Forschung immer wieder erwähnt. Diese sind allerdings, soweit bis dato abzusehen, noch nicht auf ihre kulturkritische Dimension hinterfragt worden. Im ersten Teil dieses Beitrags werden daher diese zunächst im Jahr 1909 und dann in einer Neuauflage 1917 unter dem Titel La nuova Germania als Sammelband erschienenen Berliner Artikel von diesem Gesichtspunkt aus näher unter die Lupe genommen. Der Leitlinie der Kulturkritik weiter folgend, beschäftigt sich der Aufsatz in einem zweiten Teil mit weiteren Beiträgen, in denen Borgese seine früheren Berliner Thesen im Kontext des Ersten Weltkrieges in italienischen Zeitungen und Zeitschriften wie Il Corriere della Sera und Azione teils revidierte, teils weiterführte und zuspitzte, und die 1915 unter dem Titel Italia e Germania als Buch veröffentlicht wurden.13 Beide Bände, La nuova Germania und Italia e Germania, werden in Bezug auf Borgeses ambivalentes europäisches Denken in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und vor dem Hintergrund seiner kulturkritischen Positionen analysiert. Dargelegt wird abschließend, wie Borgeses frühe Europa-Ideen allmählich und erst recht in der amerikanischen Zeit in die liberalhumanistische Vision einer Universalrepublik münden. Zunächst schlägt sich Borgeses Kritik am Vorabend des Marsches auf Rom in seinem 1921 verfassten und 1928 ins Deutsche übersetzten Erstlingsroman Rubè literarisch nieder. Auch aus dieser Kritik entsteht, wie darzulegen sein wird, im amerikanischen Exil die Utopie einer World Foundation, die Borgese unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen verbannten Intellektuellen entwirft.
10 Vgl. Bertolotti, Silvia: La rosa dell’esilio. Giuseppe Antonio Borgese dal mito europeo all’utopia americana 1931–1949 (Grenzen/Confini 18), Trento 2013. 11 Olivieri: Cultura, Anm. 2. 12 Vgl. Bertolotti: Rosa, Anm. 10, S. 31–37. 13 Vgl. dazu auch Magni, Stefano: Il nazionalismo dell’opinionista politico Giuseppe Antonio Borgese da Il Regno (1904–1905) a Azione: rassegna nazionale (1914–1915), in: Ders. (Hg.): Gli italiani e la Grande Guerra. Dalla guerra delle idee alla guerra degli uomini, Canterano/Roma 2018, S. 31–43, https://hal-amu.archives-ouvertes.fr/hal-02067982 (letzter Zugriff 02.12.2022).
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2.
„Und ungefähr ganz Deutschland ähnelt Chicago“. Borgeses Kulturkritik in seinen Reportagen über „das neue Deutschland“ (1909 und 1917)
La nuova Germania – „Das neue Deutschland“: So heißt das erste Buch, das 1909 beim Mailänder Bocca-Verlag erschien und Borgeses Berliner Zeitungsartikel zusammenfasst. In der Idee eines ‚neuen Deutschlands‘ konkretisiert sich Borgeses Kulturkritik in diesen Jahren: Eine Idee, anhand derer sich bereits seine späteren Positionen während des Ersten Weltkriegs ankündigen. Wichtig für unsere Fragestellung ist, dass Borgeses Interesse an Deutschland ein Interesse an Europa widerspiegelt, denn – wie er 1909 gleich in der Einleitung zu der ersten Auflage seines Bandes schreibt – Deutschland sei nichts weniger als das politische Zentrum Europas: Positiv oder negativ gesehen, ist Deutschland seit dreißig Jahren das politische Zentrum Europas; zuerst als Anziehungszentrum, dem sich alle anderen Stimmen anzupassen versuchten, heute als Abstoßungszentrum, dem alle zu widersprechen versuchen. […] [W]er sich mit Deutschland auseinandersetzen mag, in der Industrie oder im Krieg, in der Geschichte oder in der Wissenschaft, der will sich mit dem stärksten Volk der Welt auseinandersetzen. Deutschland wird hoffentlich unser Verbündeter bleiben oder es wird, quod Deus avertat, unser Feind. In dem einem Fall wie in dem anderen ist es notwendig, es weder anzubeten noch zu verachten, sondern es kennenzulernen.14
Wenn sich diese anscheinend nüchterne Analyse dann in den Zeitungsartikeln dieser Zeit in eine eindeutige Kritik an dem politischen Deutschland der vorherigen dreißig Jahre, also an dem wilhelminischen Deutschland sowie an einem deutschlandzentrierten Europa entpuppt, so fängt Borgeses Schrift La nuova Germania umgekehrt gerade mit einer Liebeserklärung für ein anderes Deutschland an, für jenes Deutschland der Poesie und der Philosophie, das er 1907 als begeisterter 25-jähriger Germanist in Berlin anzutreffen glaubte:
14 „Positivamente o negativamente, la Germania è da trent’anni il centro politico dell’Europa; prima centro d’attrazione, a cui tutte le altre voci cercavano d’intonarsi, oggi centro di repulsione a cui tutti cercano di contraddire. […] chi vuol fare i conti con la Germania, nell’industria o nella guerra, nella storia o nella scienza, vuol fare i conti col popolo più forte del mondo. La Germania resterà, speriamo, nostra alleata, o diverrà, quod Deus avertat, nostra nemica. Nell’un caso e nell’altro, è necessario non adorarla né disprezzarla, ma conoscerla“ (Borgese, Giuseppe Antonio: La nuova Germania, Torino/Milano/Roma 1909, S. 5 f. und S. 7). Wenn nicht anders angemerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Italienischen von der Verfasserin.
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Deutschland war für mich das Land der Poesie und der Philosophie, das Land, das ich zu erforschen und zu lieben anfing. Ich ging dahin mit einer etwas konventionellen und vorgefassten Bewunderung, die nicht ohne romantische Färbung war, und es war mir so, als ob ich in die Fußstapfen von Madame de Staël träte.15
Die beiden Jahre, die Borgese in Berlin verbrachte, führten nicht nur zu einer großen Enttäuschung darüber, dass dieses Deutschland nicht mehr existierte bzw. in der Wirklichkeit vielleicht nie existiert hatte – eine Enttäuschung, die in seinen politischen, aber vor allem kultur- und sozialkritischen Artikeln dieser Jahre Ausdruck findet. Beim Schreiben seiner Beiträge kam Borgese allmählich auch zu der Auffassung, dass Deutschland und Europa in den vergangenen dreißig Jahren mehr und mehr der Dekadenz und Krise anheimgefallen seien, worin sich seiner Meinung nach die Gewalt des Krieges bereits angekündigt hat. La Germania verso la guerra („Deutschland schreitet in den Krieg“) – so hätte La nuova Germania heißen sollen, wie Borgese 1917 in der Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches schreibt.16 Diese These präsentiert er hier nicht systematisch in Form einer Abhandlung; die einzelnen Beiträge dienen vielmehr als Lichtblicke in der Krise der Moderne.17 Im ersten Artikel der zweiten Auflage beschreibt er zum Beispiel die Luxuswagen, die nachts rasend den Berliner Ku’damm herunterfuhren und in denen sich in seinen Augen die Arroganz und die Dekadenz der Moderne widerspiegeln.18 In
15 „[…] la Germania era per me la terra della poesia e della filosofia che cominciavo a studiare e ad amare. Vi andai pieno di ammirazione preconcetta e un po’ convenzionale, non senza colorito romantico; e mi pareva di seguire le orme di Madame de Staël“ (Borgese, Giuseppe Antonio: La nuova Germania [La Germania prima della guerra], Milano 2 1917, S. VIII–IX). Alle Zitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dieser zweiten, von Borgese 1917 überarbeiteten Ausgabe, die von nun an mit der Sigle NG abgekürzt wird. 16 NG, VIII. 17 Das Fragmentarische und Chaotische an Borgeses Ausführungen wurde ihm in der im Mai 1909 erschienenen Rezension von Giuseppe Prezzolini in der Zeitschrift La Voce vorgeworfen, vgl. Prezzolini, Giuseppe: La nuova Germania, in: La Voce (06.05.1909), S. 84, https://www.vieusseux.it/ coppermine/displayimage.php?album=14&pid=316#top_display_media (letzter Zugriff 02.12.2022). In der zweiten Auflage folgte Borgese Prezzolinis Rat und veröffentlichte lediglich eine Auswahl der Beiträge: Der Band wurde um ca. hundert Seiten gekürzt, ausgeschlossen wurden u. a. literarische Beiträge und politische Kapitel, die Borgese für nicht mehr aktuell hielt (vgl. seine Vorrede zur 2. Auflage, NG, X). Relevant ist für unsere Problematik außerdem, dass Prezzolini in der zitierten Rezension gerade die kulturkritischen Aspekte von Borgeses Artikeln betonte: „Il Borgese ha notato ed espresso agli italiani la decadenza della Germania classica fatta di poesia romantica e di filosofia idealista; ha veduto la forza e la debolezza del nuovo popolo americanizzato dalla vita comoda; dalla più comoda e fastosa vita del continente, non esclusi, oramai, gli Inglesi“. 18 Vetture di lusso. Il Kurfürstendamm di notte (NG, 1). Diese Beschreibung der Wagen in der Großstadt lassen bereits an bekannte Bilder aus der späteren Literatur der in Italien schon faschistisch regierten 1920er Jahre denken, etwa an Alberto Moravias Roman Gli Indifferenti aus dem Jahr 1929.
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den folgenden Abhandlungen geht er dann auf weitere Kapitel der Korruption der Moderne ein, wenn er etwa auf die Prostituierten im Tiergarten zu sprechen kommt, einem Ort, den man nachts meiden sollte, wie übrigens (so Borgese) auch der Baedeker Reiseführer empfahl. Seine Kritik richtet sich allgemein auf eine neue Freiheit der Sitten in einem nunmehr babylonischen Berlin: In diesem Sinne nennt er das Freibad Wannsee19 polemisch auf das dekadente Paris anspielend „Berlin-les-Bains“ und beschreibt es als eine entsetzliche Landschaft, überfüllt von schmutzigen Kleidern und bizarren Menschen. Sparta sei Gomorrha gewichen, so lautet Borgeses Fazit im letzten, La fine di Sparta („Das Ende von Sparta“) betitelten Beitrag seines Buches: „Sparta ist für immer dahin und auf dessen armen Ruinen leuchten die beiden violetten Leuchttürme des modernen Lebens: die Wollust der Genüsse und die Lüsternheit des Luxus“ (NG, 360).20 Diese Diagnose lasse sich auch in einer Moral des „Sich-Ausleben[s]“ zusammenfassen (vgl. NG, 359 und IG, 51), einer Moral, die dem streng erzogenen Sizilianer fremd war und in der er sozialkritisch auch die Quintessenz der Krise der Moderne wiederzuerkennen glaubte: Der Provinzler, der zu einem im geschlossenen Kreise geschützten Leben erzogen wurde, der Sizilianer, der ähnlich wie in einem spanischen Drama in einer Atmosphäre der Verklemmtheit und des moralischen Fanatismus großgezogen wurde, […] wehrte sich gegen jene rabiate und wirklich fast wilde Sucht, zu leben, ja sich auszuleben, die im Norden grassierte. (NG, IX)21
Doch Borgeses Abneigung – gemäß seinem eigenen Worte der Erziehung geschuldet – hat nicht nur in der moralischen Entrüstung ihren Grund, sie ist auch auf eine eminent kulturkritische Haltung zurückzuführen. Dies wird klar, als Borgese direkt im Anschluss an dieses Zitat das neue „stürmische und rechthaberische“ Deutschland der Moderne als ein „Volk von erbarmungslosen Eroberern und von übermäßigen Genießern“ anprangert, ja mehr noch: dort, wo er, auf Dantes Göttliche Komödie anspielend, Deutschland als einen „Höllengraben von Gewalttätigen“ (NG, IX) bezeichnet.22 Als Symptome einer solchen Gewalt nennt er neben den
19 „Berlin-les-bains“ (NG, 26–32). 20 „Sparta è perita per sempre, e sulle sue povere macerie splendono i due grandi fari violacei della vita moderna: la cupidigia dei piaceri e la libidine del lusso“. 21 „Il provinciale educato a una vita chiusa e raccolta, il siciliano venuto su in un’atmosfera di scrupolo e di fanatismo morale tanto simile a quello del dramma spagnuolo […] si rivoltava contro quella furibonda e davvero quasi selvaggia smania di vivere e di stravivere che imperversava nel Nord.“ 22 „Ed ecco questa impetuosa e prepotente Germania moderna, questa Germania che un po’ ingenuamente egli chiamava la nuova Germania contrapponendola a una sua cara fantasticheria; questo popolo di conquistatori spietati e smodati goditori; questa bolgia di violenti.“
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sozialen Merkmalen, auf die hingewiesen wurde, auch kulturelle Aspekte, allen voran den neuen Kulturmarkt. Dieser Markt habe nicht nur die deutsche Hauptstadt zu einer Operettenmetropole werden lassen, sondern ganz Deutschland in ein neues Chicago verwandelt, in dem sich die Kultur trivialisiert habe und in dem die Poesie als Zeichen einer dekadenten Zeit der „wissenschaftlichen Broschüre“ habe weichen müssen (NG, 362).23 „Wer könnte sich einen literarischen Kreis in Chicago vorstellen?“ – so fragt er, um sich dann gleich wie folgt zu äußern: „Und ungefähr ganz Deutschland ähnelt Chicago“ (NG, 355). Abstand nehmend von den Idealen seiner Jugend, die im geistigen Deutschland das Zentrum der europäischen Kultur erkannt hatten, unterzieht Borgese nun das politische Deutschland seiner Gegenwart, das er ebenfalls als das Zentrum eines bereits 1909 auf den Krieg eingestellten Europas betrachtet, einer strengen Kritik. Dies wird auch in den vielen politischen Beiträgen der Sammlung La nuova Germania deutlich, die auf ein tägliches, drei- bis vierstündiges Studium der deutschen Politik vonseiten des Autors zurückgehen.24 In Borgeses Artikeln wird das Spektrum der politischen Parteien in Deutschland analysiert, und dabei werden auch widersprüchliche politische Figuren beschrieben, wie der diplomatische Viveur und Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow und der schwache, mystisch fixierte und von pangermanistischen Kreisen umgebene Kaiser Wilhelm II. Kritisch verfolgt werden außerdem verschiedene Skandale, die in dieser Zeit ausbrachen, insbesondere die Harden-Eulenburg-Affäre, der sich Borgese in mehreren Artikeln widmet und die er als den dramatischen Ausdruck der Krise versteht. Nicht zuletzt Chamberlains Rassentheorie wird von Borgese als Zeichen einer „ungeheure[n] geistige[n] Verflachung“ (NG, XI) verurteilt, die Deutschland und Europa kennzeichne (NG, 354–358). Borgeses negatives Urteil über das Europa seiner Zeit äußert sich in einer Parallele zwischen dem Deutschland von Wilhelm II. und dem Spanien von Philipp II., wobei der Autor als gemeinsamen Nenner ein konservatives, autoritäres und absolutistisches Prinzip erkennt, das Philipps zum Scheitern bestimmte Spanische Armada inspiriert habe und immer noch unwiderruflich gegenwärtig sei – ja im Europa von 1909 einen Krieg bereits präfiguriere. So verdichtet sich Borgeses Europa-Denken in dieser Schrift in einem Moment der Kritik an einer modernen, gewalttätigen Zeit, die sich einer ideellen Vergangenheit unter dem Vorzeichen von Poesie und Kultur entgegensetzt. Sowohl unter dem einen Aspekt (dem kritischen Aspekt) als auch unter dem anderen (dem nostalgischen Aspekt) finden seine Europa-Ideen in Deutschland ein repräsentatives Symbol. Festzuhalten ist zunächst, dass dabei das Moment einer europäischen
23 „In ciaschedun paese la licenza dei costumi ha la sua letteratura. In Francia questa letteratura è il romanzo, in Germania è l’opuscolo scientifico.“ 24 Wie Borgese in einem Brief vom 25. Januar 1907 schreibt, zitiert nach Librizzi: Rifiuto, Anm. 2, S. 35.
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Utopie ausbleibt. Wie wir sehen werden, wird sich dieses utopische Moment bei Borgese erst in späteren Jahren konkretisieren.
3.
Europäertum, Krieg, Nationalismus: Borgeses Kriegsschrift Italia e Germania (1915)
Auch in seiner in der Kriegszeit verfassten Schrift Italia e Germania blieb Borgese in der beschriebenen Ambivalenz gegenüber Deutschland verfangen; doch die Zeiten, die sich mit dem Krieg änderten, ließen seine kulturkritischen und auch nationalistischen Positionen allmählich radikaler werden. Unter dem Vorzeichen seines Liberalnationalismus setzte sich Borgese für den Krieg gegen Deutschland ein, wobei er gleich am Anfang seiner Schrift Italia e Germania betont, dass ihn kein Hass gegen Deutschland bewogen habe. Tatsächlich habe er kein Land außer Italien lieber als Deutschland,25 wie er schreibt, was ihn allerdings nicht davon abhält, auch in diesem Werk seine Thesen über die Dekadenz Deutschlands deutlich zu äußern. Früher sei der Germanismus der Drehpunkt der Geschichte, ja er sei ideell und politisch schon lange an der Spitze Europas gewesen (IG, IV). Dieses vom deutschen Geiste beseelte Europa (das in Borgeses Augen kulturell alle romanischen Elemente ausgeschlossen habe, die es nun wiederherzustellen gelte)26 habe für ihn mit Friedrich II. angefangen und sei dann 1914 mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende gegangen. Die aktuelle Dekadenz Deutschlands habe aber nicht erst mit dem Weltkrieg, sondern bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt und sich dann mit Bismarck und dem wilhelminischen Reich radikalisiert. Insbesondere Bismarcks politische Haltung, die Borgese als ,Materialismus‘ bezeichnet, habe sich in einer allgemeinen deutschen Überheblichkeit niedergeschlagen. Diese habe die frühere Größe Deutschlands ersetzt, was zu jener manischen und nervösen sozialen Haltung geführt habe, die Borgese eben schon in seinem Band La nuova Germania ausführlich beschrieben hatte. Die Dekadenz Deutschlands, in der sich auch eine Krise Europas widerspiegele, resümiert Borgese in Italia und Germania wie folgt: „Einen raschen Weg ist Deutschland gegangen. Von der Romantik zum rohen Naturalismus, vom Idealismus zum Materialismus, vom Humanitätsbegriff bis hin zum Rassenbegriff “ (IG, VI).27 Mit diesem Weg in die Krise, der mit der Verbreitung der Rassentheorien einhergeht und 1914 in den Krieg mündet, geht in Borgeses Augen auch das alte Europa unter. Dieses Europa findet, und hier bezieht sich Borgese wieder auf seine Schrift La nuova Germania, in der Figur von Kaiser Wilhelm II. seinen vielleicht 25 „nessuna terra dopo l’Italia mi fu cara quanto la Germania“ (IG, III). 26 Gemeint sind hier die Renaissance sowie die römische Zeit und der Katholizismus (IG, VIII). 27 „Ha fatto un veloce cammino la Germania, dal romanticismo al grezzo naturalismo, dall’idealismo al materialismo, dal concetto di umanità al concetto di razza.“
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prägnantesten Ausdruck. Noch genauer wird der Untergang Europas in Wilhelms „pathetischem und widersprüchlichem Wesen“ deutlich sowie in dessen bei allem „moralischen Glauben“ doch „mangelnder intellektueller Klarheit“ (IG, XIII), die sich in einem mystischen Fanatismus äußere. „Es ist schockierend, an der Führung dieses stolzen Volkes von Materialisten einen solchen blassen Kreuzritter Barbarossa zu betrachten“ (IG, XVI f.),28 so liest man in Italia e Germania. Mit diesen Worten und mit diesem Bild von Wilhelm II. als einem führenden Kreuzritter fasst Borgese die fatale Mischung von Gewalt, Schwärmerei und Fanatismus zusammen, die er für ein zentrales Kennzeichen des wilhelminischen Deutschlands hält. Der Germanismus brauche daher eine Revision. Im ersten Kriegsjahr kommt Borgese wieder auf den vermeintlichen Widerspruch in seinem Verhältnis zu Deutschland zu sprechen, von dem er in seiner Schrift Italia e Germania ausgegangen war, um ihn wie folgt zu lösen: „Es ist kein Widerspruch darin, einerseits Hoffnung auf dieses erste Deutschland gesetzt zu haben, auf ein moderates und politisches Deutschland – viele Deutsche lebten in der gleichen Hoffnung – und dann andererseits gegen den Dreibund eindeutig Position bezogen zu haben, als das zweite Deutschland, das hegemonische Deutschland, überhand genommen hatte“ (IG, XXI).29 Im Jahr 1914 sei dieses zweite Deutschland der Kopf Europas, gerade weil es „unruhig“ und „kriegerisch“ sei: „Stellen Sie sich ein Europa ohne dieses Nest von lyrischen, fiebrigen Menschen und von entflammten Gewalttätern, das Deutschland bildet, vor.“30 Der deutsche Krieg sei schwärmerisch, die deutsche Politik mystisch – so lauten Borgeses Vorwürfe, die in der Feststellung eines Ungleichgewichts zwischen dem Machttraum Deutschlands und dessen mangelnder politischer Reife münden. In Italia e Germania stellt Borgese mit diesen Thesen eine scharfe Kulturdiagnose, durch die er die irrationalistischen, zugleich aber auch brutalen Tendenzen des Europas von 1914 betont. Gerade aus diesen kulturkritischen Ansichten heraus erklären sich auch Borgeses liberalnationalistische Positionen in dieser Zeit, nach denen sich Nationalismus und Europäertum gar nicht ausschließen, sondern als die beiden Seiten einer Medaille gedacht sind.31 Denn tatsächlich sei es unumgänglich, dass Europa für das Wohl der Menschheit eine „Amphiktyonie von Nationen“ (IG,
28 „è impressionante vedere questo fiero popolo di materialisti capitanato da un pallido Barbarossa crociato.“ 29 „Non v’è contraddizione nell’aver sperato in quella prima Germania, in una Germania moderata e politica – erano tanti i tedeschi che vivevano nella nostra stessa speranza – e nell’essere diventato nettamente antitriplicista, quando la seconda Germania, quella dell’egemonia, ebbe preso il sopravvento.“ 30 IG, 39. 31 So erklärt sich ebenfalls seine (wohlwollende) Distanz zu Romain Rollands Positionen, die sich dem Nationalismus widersetzen, vgl. etwa seinen Beitrag: „Al di sopra della mischia“, in: Borgese: Idee, Anm. 7, S. 13–25.
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51) bleibe, ein nach dem Modell der Antike loser, von religiösen und kulturellen Prinzipien beseelter politischer Bund von selbstbestimmten und unabhängigen Nachbarstaaten. Die Unterschiede zwischen den Nationalstaaten sollten demzufolge nicht behoben, sondern in ihrer kreativen Rivalität beibehalten werden. Und aus diesem Grund sollten auch die hegemonischen, einebnenden Absichten des Pangermanismus abgelehnt werden. Erst vor dem Hintergrund eines so verstandenen Liberalnationalismus erklären sich auch Borgeses Engagement für den Krieg sowie sein Interventionismus gegen den Dreibund. Und nicht zuletzt im Sinne eines Nationalismus, der sich vom Liberalismus nährt, wird sich Borgese vom späteren Faschismus distanzieren, der seinerseits im Klerikalismus und in dem Glauben an einen autoritären Staat Rückhalt fand.32
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„Eine Aufgabe für morgen“. Stationen eines Liberalhumanismus: 1915 – 1921 – 1948
In seiner Schrift Italia e Germania definiert Borgese auch eine „Aufgabe für morgen“ (IG, 92). Die Quintessenz dieser Vision findet für ihn, einmal mehr rückblickend auf das Risorgimento, in der Figur von Giuseppe Garibaldi ihren Ausdruck. Genauer bezeichnet Borgese den italienischen Unabhängigkeitskämpfer durch folgende Eigenschaften: „die bewaffnete Barmherzigkeit, die kämpfende Gerechtigkeit, das Recht, das Kraft ist“ (IG, 92). Man solle, so Borgese 1915, Garibaldis Botschaft, das Recht vor die Kraft zu setzen, von der faulen Rhetorik der Neutralisten bereinigen und wieder zur Geltung bringen. In diesem Sinne solle Garibaldis Risorgimento gerade das Gegenstück zu Bismarcks ‚Machiavellismus‘ bilden (vgl. IG, 88), der die Kraft vor das Recht gesetzt habe und den Borgese schon einige Jahre zuvor allgemein in seinen Beiträgen zum neuen Deutschland als eine zerstörerische Tendenz in Europa bezeichnet hatte. Vor dem Hintergrund des Weltkrieges plädiert daher Borgese dafür, die Verherrlichung einer rechtlosen Kraft durch eine „kämpfende Gerechtigkeit“ zu ersetzen: „Ich spüre meine Erstarrung, wenn ich die Leute danach fragen höre, ob in diesem Krieg das Recht oder die Kraft siegen wird. Und wie kann ein Recht ohne Kraft siegen? […] Dies ist genauso ärmlich wie die deutsche Kraft ohne Recht“ (IG, 90).33 Wieder richtet sich Borgeses Kritik gegen einen neuen Germanismus, der Europa zunächst regiert und dann zerstört habe. Anders als in der Schrift La nuova Germania ist in Italia e Germania allerdings auch ein Gegenmodell zu erkennen. Es handelt sich um ein vom liberalen Humanismus beseeltes 32 Vgl. dazu Librizzi: Rifiuto, Anm. 2, S. 42 f. 33 „Perciò io mi sento raggelare quando sento gente domandare se in questa guerra vincerà il diritto o la forza. E come può vincere un diritto senza forza? […Esso] è una povera cosa come la tedesca forza senza diritto.“
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Europa,34 das nicht auf Deutschland oder Frankreich blickt, sondern zurück auf das Italien der Zeit zwischen dem Wiener Kongress und den Unabhängigkeitsbewegungen von 1848, und in Figuren wie Mazzini, Garibaldi und Cavour, aber auch in Dichtern wie Alfieri, Parini, Foscolo, Manzoni und Leopardi seine Gewährsmänner finden soll.35 In einem solchen Europa erkennt Borgese 1915 eine ideelle Aufgabe für die Zukunft, die dann, wie wir sehen werden, in der zweiten Nachkriegszeit in die Vision einer Universalrepublik münden wird. Mögliche Wege aus der Krise und denkbare Zukunftsaussichten hinterfragt Borgese zwischen den Weltkriegen allerdings nicht nur publizistisch, sondern auch literarisch und erzählerisch. Und wer dabei vorerst ‚ohne Morgen‘ bleibt, ist Filippo Rubè, der Protagonist von Borgeses gleichnamigem, 1921 erschienenem Erstlingsroman, der, wie die Forschung betont hat, eine der nüchternsten „Radiographien“ des Interventionismus in Italien bietet.36 Wie der deutsche Übersetzer, der Heidelberger Romanist Curt Gutkind, 1928 in seiner Einleitung formuliert, wird in diesem Roman „ein Held der Sinnlosigkeit“ dargestellt.37 Tatsächlich wird in Rubè die Psychopathographie eines Ästheten präsentiert, der als Interventionist in den Krieg zieht und sich dabei völlig verliert. „Wir sind ja ohne Morgen“, schreibt er von der Front aus seiner Verlobten Eugenia, wobei er die Perspektivlosigkeit seiner Generation unterstreicht.38 Diese Perspektivlosigkeit wird dann am Ende des Romans – kurz vor dem absurden Tod Rubès mitten in einer politischen Massendemonstration in der unmittelbaren ersten Nachkriegszeit, in die er zufällig hineingeraten ist – noch prägnanter beschrieben: „Früher glaubte ich, es müsse einen Grund zum Leben und zum Sterben geben; jetzt sehe ich, wenn überhaupt, die Notwendigkeit zu sterben, aber keinen Grund mehr, weder zum Leben, noch
34 Auch in Borgeses Golia wird später diesbezüglich in einem Kapitel zum Risorgimento (Borgese, Giuseppe Antonio: Golia. Marcia del fascismo, trad. di Doletta Caprin Oxilia, Milano 1946, S. 69–84) vom Humanismus des 18. Jahrhunderts als dem höchsten bisher von der Menschheit erreichten Ziel, von einem „classicismo senza idolatria“ (einer „Klassik ohne Idolatrie“) und einem „Cristianesimo senza mitologia“ (einem „Christentum ohne Mythologie“) die Rede sein, ebd., S. 69. Zu Borgeses liberalem Humanismus vgl. auch Cottone, Margherita: Il progetto utopico di una „Weltdemokratie“: l’esilio americano di Giuseppe Antonio Borgese, Thomas Mann e Hermann Broch, in: Schininà, Alessandra/Bonifazio, Massimo (Hg.): Un luogo per spiriti più liberi. Italia, italiani ed esiliati tedeschi, Roma 2014, S. 119–135, und Saletta, Ester: Utopien im Spiegel. Der sozialdemokratische Humanismus von Thomas Mann und Giuseppe Antonio Borgese, in: Kinder, Anna/Lörke, Tim/ Zilles, Sebastian (Hg.): Thomas Mann und die politische Neuordnung Deutschlands nach 1945, Berlin 2022, S. 139–154. 35 Borgese: Golia, Anm. 34, S. 70. 36 So Mario Isnenghi in seinem Standardwerk: Il mito della grande guerra, Bologna 1989, S. 212. 37 Borgese, Giuseppe Antonio: Rubè, Heidelberg 1928, S. 26. 38 Ebd., S. 138.
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zum Sterben. Nein.“39 In dieser Figur wird eine „manische Aufmerksamkeit […], sich selber zu beobachten“ sichtbar,40 die ihn zugrunde richtet und die typisch für die Figuren der Jahrhundertwende ist. Kulturkritisch zeigt Borgeses Protagonist aber auch die Symptome einer Dekadenz und einer Krise, die nicht nur einzelne Individuen, sondern die ganze Gesellschaft betrifft und die der Autor in nuce schon angefangen mit seinen Beiträgen über La nuova Germania thematisiert hatte. So lässt sich sagen, dass Borgeses Kulturkritik der Kriegs- und Vorkriegszeit in diesen Roman mündet. Eindeutige Worte dazu erfährt man im Roman vielleicht nicht zufällig aus dem Mund eines Priesters, Pater Mariani, bei dem der verzweifelte Filippo, der sich eines Mordes schuldig glaubt, Hilfe sucht: Sie glauben, Sie hätten keine Religion, Sie seien ein Atheist, ein Freigeist, aber nein, nein, auch sie haben eine Religion, wie wir alle. Nur ist es eine tollwütige Religion. […] Das ist keine Religion: das ist Götzendienst der Materie und des Glücks. Die ganze moderne Gesellschaft, beileibe nicht die Deutschen allein, ist davon infiziert.41
In den Worten des katholischen Priesters hallen Argumente wider, die an Borgeses frühere Publizistik zurückdenken lassen. Allerdings ist hier, am Vorabend des Marsches auf Rom und der Machtübernahme der Faschisten in Italien im Jahr 1922, keine Spur mehr von der „Aufgabe für morgen“, welche die damaligen Schriften heraufbeschworen hatten. Um Hoffnung für ein neues Europa zu schöpfen, muss man bei Borgese auf die zweite Nachkriegszeit nach dem Faschismus sowie auf eine im Exil entstandene liberalhumanistische Utopie warten. In den vierziger Jahren arbeitete Borgese tatsächlich von seinem amerikanischen Exil aus, auch als Mitglied der amerikanischen „Mazzini Society“, an dem Projekt einer World Foundation. Diesbezüglich spielt der Einfluss der europäischen Ansichten des italienischen Risorgimento, denen der Autor im Grunde lebenslänglich treu blieb, eine große Rolle. Verbunden mit diesem Projekt gründete er 1945 mit anderen antifaschistischen Intellektuellen ein Committee to Frame a World Constitution.42 Beim Projekt einer Weltverfassung, an dem diese Gruppe in den Vereinigten Staaten zusammenarbeitete, verwandelte sich Borgeses noch liberalnationalistisch
39 Ebd., S. 359. 40 Ebd., S. 283. 41 Ebd., S. 343. „Voi v’immaginate di non aver religione, di essere un ateo, uno spirito forte. E invece no, anche voi avete una religione, come tutti ce l’hanno. Soltanto è una religione feroce. […] Non è una religione; è un’idolatria della Materia e della Fortuna. Tutta la società moderna, non i Tedeschi soli, ne è infetta“, vgl. Borgese, Giuseppe Antonio: Rubè, Milano 14 2018, S. 287 f. 42 Vgl. dazu: Federalism in the History of Thought, in: The Federalist. A political Review XXX/1 (1988), S. 65, http://www.thefederalist.eu/site/index.php/en/federalism-in-the-history-of-thought/2275giuseppe-antonio-borghese (letzter Zugriff 02.12.2022).
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geprägte föderalistische Europa-Idee in eine liberale, föderalistische Welt-Idee. Abgesehen vom Nationalismus, von dem sich Borgese in den vierziger Jahren endgültig verabschiedete,43 bleibt seine spätere Welt-Idee in ihren Grundprinzipien letztlich in einer Kontinuitätslinie mit seinem früheren liberalen Europa-Entwurf. Das betont auch Thomas Mann in seiner Einleitung zu Borgeses Preliminary Draft of a World Constitution (1948), in dem er nicht zuletzt auf Mazzini Bezug nimmt: Es sei kein Zufall, so Mann, dass die Seele des realistischen und zugleich utopischen Unternehmens einer World Foundation gerade ein Landsmann von Mazzini sei, da diese Ideen und diese Ansprüche schließlich eine weitere Stufe in der Entwicklung und Verwirklichung einer liberalhumanistischen Universalrepublik bilden.44 Die Verbindung zwischen diesem in Amerika entstandenen Entwurf und der föderalistischen Idee der Vereinigten Staaten Europas, die sich einige Jahre zuvor im Widerstand gegen den Faschismus auf der anderen Seite des Ozeans entwickelt hatte, leuchtet ein, wenn man sich die Beiträger der 1947 gegründeten und mit Common Cause – a Journal of One World betitelten monatlichen Zeitschrift der Chicagoer Gruppe um Borgese anschaut. Neben renommierten deutschen Exilanten wie Thomas und Golo Mann sowie Albert Einstein waren da auch angesehene italienische Antifaschisten wie Piero Calamandrei und Altiero Spinelli vertreten. Sowohl Borgese als auch Calamandrei standen in geistiger Verbindung mit der 1943 von Spinelli selbst gegründeten pazifistischen „Europäischen Föderalistischen Bewegung“ (Movimento Federalista Europeo), welche von Ideen ausging, die Spinelli selbst zusammen mit Ernesto Rossi 1941 in der politischen Verbannung im Manifest von Ventotene dargelegt hatte.45 Auch in diesem Zusammenhang werden die Verbindungen zwischen Europa-Ideen und kulturkritischen Ansätzen deutlich, die sich bei Borgese wie ein roter Faden hindurchziehen: Nicht zufällig fängt auch Spinellis Manifest von Ventotene, betitelt Für ein freies und vereinigtes Europa, mit
43 So liest man gleich im Vorwort zum Preliminary Draft of a World Constitution (1948) zur Überwindung des Nationalismus, die bei Borgese in diesen Jahren sowie bei den anderen Autoren dieses Entwurfs mit einer genuin pazifistischen Idee in Verbindung steht: „Preamble: The people of the earth having agreed / that the advancement of man / in spiritual excellence and physical welfare is the common goal of mankind; / that universal peace is the prerequisite for the pursuit of that goal; / that justice in turn is the prerequisite of peace, and peace and justice stand or fall together; / that iniquity and war inseparably spring from the competitive anarchy of the national states; / that therefore the age of nations must end, and the era of humanity begin“. (Preliminary Draft of a World Constitution. Contributors: Robert M. Hutchins, G. A. Borgese, Albert Guérard, Harold A. Innis, Erich Kahler, Wilber G. Katz, Charles H. McIlwain, Robert Redfield, Rexford G. Tugwell, Stringfellow Barr, Mortimer J. Adler, Committee to Frame a World Constitution, Chicago 1948, S. 3). 44 Borgese, Giuseppe Antonio: Una costituzione per il mondo, premessa di Thomas Mann, presentazione di Piero Calamandrei, postfazione di Silvia Bertolotti, Roma 2013, S. 6. 45 Vgl. das Nachwort von Silvia Bertolotti, in: ebd., S. 87–113, hier S. 97 und 101 f.
Kulturkritik und Utopie
einem ersten kulturkritischen Kapitel über Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart an.46 Das Spannungsverhältnis zwischen ,Kulturkritik‘ und ,Utopie‘ wäre sicher ein Aspekt, der es verdienen würde, auch im Hinblick auf dieses grundlegende Dokument des Europas der zweiten Nachkriegszeit weiter vertieft zu werden. Vorerst bleibt allerdings festzuhalten, dass das heuristische Potential dieser beiden Kategorien sowohl in Auseinandersetzung mit Borgeses Positionen als auch mit anderen gewichtigen Europa-Ideen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht ausgeschöpft ist.
46 Vgl. die deutsche Fassung des Manifests auf der Webseite des CVCE der Universität Luxemburg: http://www.cvce.eu/obj/das_manifest_von_ventotene_1941-de-316aa96c-e7ff-4b9e-b43a958e96afbecc.htm (letzter Zugriff 02.12.2022).
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Theodor Lessings Europa-Bild im Kontext seiner kulturkritischen Schriften
In einer Geschichte der deutschen Kulturkritik der Jahrhundertwende sollte man Theodor Lessing einen besonderen Platz zuweisen.1 Offensichtlich ist sein gesamtes Werk mit einer Tendenz zur Opposition durchspickt, die unschwer mit der Idealisierung einer konservativen Haltung in Verbindung zu bringen ist, die Modernisierungsschüben und den daraus resultierenden sozialen Spannungen eine defensive Projektionsfläche entgegenstellen soll. Insofern weicht der pessimistische Ton, der für seine geschichtsphilosophischen Betrachtungen sowie seine charakterologischen Abhandlungen typisch ist, von der allgemeinen antizivilisatorischen Ausrichtung seiner Zeit nicht sonderlich ab. Die Zuspitzung eines solchen Ressentiments bei epochalen Einschnitten wie dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, den Lessing aus pazifistischen Positionen erlebt, zeugt wegen der apokalyptischen Vehemenz seiner Urteile von der gleichen Ambivalenz, die den kriegswilligen Bekundungen von anders gesinnten Intellektuellen innewohnt. Auch Lessing überlädt seine Epoche mit symbolischen Zuweisungen, lässt ihr eschatologische Relevanz zukommen und attestiert ihr unabhängig von dem moralischen Niedergang, dem er sie restlos ausgesetzt sieht, einen entscheidenden Wendecharakter.2 Unverständnis und Feindschaft gegenüber seiner geschichtlichen Umwelt wird er ohnedies in den Mittelpunkt seiner Lebensgeschichte rücken, wenn er seine 1935 postum erschienene Autobiographie Einmal und nie wieder mit einer schonungslosen Bilanz seines Außenseitertums einleiten wird: Wenig […] bekümmerte mich die sogenannte Weltgeschichte, dieser Totentanz der Machtwechselzufälle, dieser Ozean von Blut, Galle, Schweiß und Tränen und am wenigsten die unergründliche Dummheit der deutschen Zeitereignisse, von welchen ich so viele lehrreiche Proben miterlebt und vor Augen gehabt habe: Einen Bildersaal voll von
1 Allgemein zu Lessings Leben und Wirken: Schoeps, Julius H.: Der ungeliebte Außenseiter. Zum Leben und Werk des Philosophen und Schriftstellers Theodor Lessing, in: Ders./Grab, Walter (Hg.): Juden in der Weimarer Republik (Studien zur Geistesgeschichte 6), Stuttgart 1986, S. 200–217; Marwedel, Rainer: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt 1987. 2 Auf die oft unversöhnlichen Widersprüche, die für Lessings Spekulation charakteristisch sind, verweist Baule, Bernward: Kulturerkenntnis und Kulturbewertung bei Theodor Lessing, Hildesheim 1992, S. 144–202.
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Betrügern und Betrogenen, geltenden Strohpuppen, brüllenden Bullen, hohlen Nichtswissern. Überspannte unmenschliche Gesichter, die an mir, wie einst an den meinem Wege voranschreitenden Meistern, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, keine Vaterlandsschwärmer erzogen haben; haben wir uns doch zu oft schämen müssen, Deutsche zu sein.3
Die Brisanz von Lessings Perspektive hängt eigentlich nicht mit den spezifischen Inhalten seiner Kulturkritik zusammen, die kaum über eine zeitkonforme Absage an erprobte Schreckbilder wie Säkularisierung, Industrialisierung, Spezialisierung, Technisierung, Politisierung hinausgeht. Die Eigenständigkeit dieses unermüdlichen Diagnostikers und unglücklichen Polemikers, der sich mindestens zweimal in seiner Karriere in einen vernichtenden Streit hineinziehen lässt,4 basiert vielmehr auf der Bemühung, diese Generalverdammung der Gegenwart durch eine philosophische Begründung und eine systematische Methodologie zu unterstützen, die er im Sinne der Sachlichkeit und der begrifflichen Schärfe als in wissenschaftlicher Hinsicht gründlich und völlig legitim versteht. Historische Erscheinungsformen führt Lessing auf anthropologische Konstanten zurück. Diese bettet er wiederum in ein dichtes Netz von universalen Gedankenstrukturen ein, für die er zwar eine absolute Gültigkeit in Anspruch nimmt, die er jedoch in der Wandelbarkeit ihrer 3 Lessing, Theodor: Einmal und nie wieder, Gütersloh 1969, S. 11; vgl. Kałażny, Jerzy: Die autobiographische Erfahrung der Heimatlosigkeit bei Theodor Lessing, in: Sellmer, Izabela (Hg.): Die biographische Illusion im 20. Jahrhundert. (Auto-)Biographien unter Legitimierungszwang (Posener Beiträge zur Germanistik 1), Frankfurt a. M. et al. 2003, S. 59–71. 4 1910 bespricht Lessing Samuel Lublinskis Ausgang der Moderne unter Rekurs auf antisemitische Stereotype, was u. a. die Reaktion von Thomas Mann hervorruft, der sich an die Stelle von Lublinski stellt. Lessing sieht sich einer destruktiven Polemik ausgesetzt, die seine Wahrnehmung in der literarischen Öffentlichkeit für immer beeinflussen wird (vgl. Sprengel, Peter: Urszene im Café Luitpold. Theodor Lessings Satire auf Samuel Lublinski und die jüdische Kontroverse um Assimilation oder Zionismus. Mit unbekannten Zeugnissen, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 42 [1992], S. 341–349; Darmaun, Jacques: Thomas Manns Polemik mit Theodor Lessing, in: Kotowski, Elke-Vera [Hg.]: „Sinngebung des Sinnlosen“. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing [1872–1933] [Haskala 31], Hildesheim/Zürich/New York 2006, S. 165–178). Am 25. April 1925, kurz vor der Reichspräsidentenwahl, veröffentlicht Lessing im Prager Tagblatt ein satirisches Porträt von Paul von Hindenburg und wirft ihm Geistlosigkeit und Regierungsunfähigkeit vor (Lessing, Theodor: Hindenburg, in: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons [1923–1933]. Hg. von Rainer Marwedel, Darmstadt/Neuwied 1986, S. 65–69). In den völkischen Kreisen, die Hindenburgs Wahl unterstützen, bricht eine Hetzkampagne gegen Lessing aus, die zu diffamierenden Zeitungsartikeln, Störungsaktionen gegen seine akademische Tätigkeit an der Technischen Hochschule Hannover und offenen Bedrohungen führt. 1926 muss Lessing seine Vorlesungen einstellen und sich auf einen ungünstigen Schlichtungsvorschlag des Kultusministeriums einlassen, der das Ende seiner akademischen Karriere markiert. Vgl. resümierend Kotowski, Elke-Vera: „Nun ist auch dieser unselige Spuk weggewischt“. Theodor Lessing im Geiste seiner Zeitgenossen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50 (1998), S. 195–218.
Theodor Lessings Europa-Bild
zeitlichen Ausdrucksweisen zu differenzieren trachtet. Pauschale Prognosen wie etwa „Die Welt steht am Wendepunkte. Das Menschengeschlecht nähert sich der Gefahr der Selbstvernichtung“,5 die einem in Lessings Schriften oft genug begegnen (hier 1930 im Prager Tagblatt), erfolgen nicht nur aus tageskritischer Entrüstung, sondern er leitet sie von einer lebensphilosophischen Theorie ab, die historisches Geschehen als Ergebnis psychischer Prozesse und historische Narrativgeflechte als mythenbildendes Konstrukt und Rechtfertigungsversuch des Geschehenen aus einer späteren Perspektive präsentiert – Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, wie der Titel seines wohl bedeutendsten Werkes lautet, dessen erste Ausgabe 1916 mitten im Krieg auf den Markt kommt. Von einem zusammenhängenden und linearen System kann bei Lessing freilich kaum die Rede sein. Weit entfernt davon halten ihn sowohl die Unregelmäßigkeit seiner Ausbildung als auch das brennende Interesse für die politischen Ereignisse seiner Zeit, das ihn zu ständigen Unterbrechungen in seiner philosophischen Arbeit nötigt, seine Energien in einer Unmenge Zeitungsartikel und in allerlei kurzatmigen publizistischen Unternehmungen aufbraucht und ihn ab Mitte der 1920er Jahre verstärkt ins Visier von nationalistisch und revanchistisch orientierten Gruppen geraten lässt, bis er am 31. August 1933 in Marienbad der Gewalt nationalsozialistischer Auftragsmörder zum Opfer fällt. Lessings Kulturkritik kreist vielmehr um einzelne Standpunkte, die er als Grundparadigmen des Verstehens in unterschiedlichen Bereichen des Denkens und Handelns einsetzt. Im Grunde entflammt Lessings geschichtsphilosophische Vorstellung an wenigen Leitkategorien, denen er eine allgemeine Bezugsfunktion bescheinigt und die in seinen Schriften immer wieder als unentbehrliche weltanschauliche Voraussetzungen auftauchen und verschiedene Argumentationsstränge in einen festen begrifflichen Rahmen einbinden.6 Aus der Trias Wahrheit – Wirklichkeit – Leben, die für Lessing die Gesamtkonstellation des Seienden restlos in all den möglichen Verflechtungen und Kombinationen spekulativ erschöpft, entwickelt er zum Beispiel eine lange Reihe von ebenfalls dreigliedrigen Begriffsketten, die sich für eine wirtschaftspolitische Polemik genauso gut anbieten wie für eine Skizze über Tierleben oder eine religionsphilosophische Meditation. Zu dieser von Lessing selbst als „Drei-Sphären-Theorie“ bezeichneten Auffassung gehören unter vielen anderen die Konnexe „Schicksal, Ge-
5 Lessing, Theodor: Irrende Helden, in: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost, Anm. 4, S. 82–87, hier S. 86. 6 Selbstbezogenheit und Zirkularität von Lessings argumentativer Verfahrensweise, zusammen mit den damit verbundenen gedanklichen Kurzschlüssen, werden von Josef Schmid unterstrichen: Schopenhauer – Nietzsche – Wagner. Theodor Lessings Inbegriff moderner deutscher Philosophie, in: Georg, Jutta/Reschke, Renate (Hg.): Nietzsche und Wagner. Perspektiven ihrer Auseinandersetzung. Berlin/Boston 2016, S. 193–202.
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schichte, Idee“, „Natur, Erfahrung, Ideal“, „Wasser, Brot, Wein“, „Musik, Erfahrung, Mathematik“,7 usw. Die wiederholte Anwendung rekurrierender Grundsätze verleiht Lessings Schriften einen additiven Charakter, der in einem nicht immer günstigen Verhältnis zu der theoretischen Fundierung seiner Arbeiten steht. Im Kern geht Lessing stets von omnipräsenten Grundbedingungen aus und wendet sie auf verschiedenartige Diskursfelder mit mehr oder weniger breiter Ausdehnung an. Durch dieses potentiell ins Unendliche mündende Variationsverfahren und im Zuge seiner eruptiven Rhetorik schafft es Lessing, einmal publizierte Werke in späteren Auflagen nach Belieben zu erweitern, ohne an ihren Hauptvorstellungen zu rütteln. Ein Buch wie Europa und Asien, das zunächst 1918 Lessings Klageruf über die moralischen Verwüstungen des Ersten Weltkrieges in Deutschland zum Ausdruck bringt, beendet 1930 seine Laufbahn in einer fünften, gegenüber der ersten deutlich umfangreicheren Version, die als eine Warnung vor der Amerikanisierung Europas zu lesen ist. Konzeptionell ändert sich das Werk in den zwölf Jahren seiner Publikationsgeschichte nicht wesentlich; seinen Gegenstand unterzieht Lessing vielmehr einem organisch anmutenden Wachstumsprozess, bei dem gleichbleibende Thesen ideologisch eine Akzentverschiebung erfahren, die ihnen neue argumentative Funktionen eröffnen.8 Die Anpassung homogener Gedankenteile an heterogene Kontexte, als ob es sich dabei um beliebig einsetzbare Versatzstücke handeln würde, die man ohne zwingende inhaltliche Kohärenz handhaben könnte, steht übrigens mit einem für die essayistische Kultur der Jahrhundertwende typischen Habitus in Zusammenhang.9
7 Lessing, Theodor: Europa und Asien (Untergang der Erde am Geist). Fünfte, völlig neu gearb. Aufl., Leipzig 1930, S. 4. 8 Lessing, Theodor: Europa und Asien, Berlin/Wilmersdorf 1918; Ders.: Europa und Asien oder Der Mensch und das Wandellose. Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit, Hannover 1923; Ders.: Untergang der Erde am Geist (Europa und Asien), Hannover 1924; Ders.: Europa und Asien (Untergang der Erde am Geist), Hannover 1924; Ders.: Europa und Asien (1930), Anm. 7. 9 Die germanistische Forschung zum essayistischen Schreiben um die Jahrhundertwende ist reichlich ausgestattet und vielseitig orientiert. Wolfgang Müller-Funk hat die philosophischen Grundlagen essayistischer Diskurse über gattungsbezogene Definitionen hinaus erforscht (Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995). Nach dem „interdiskursiven Status“ des Essays (Rolf Parr) und den medialen Voraussetzungen, die seine Entwicklung bestimmen, richten sich die Beiträge in: Braungart, Wolfgang/Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900 (Beihefte zum Euphorion 50), Heidelberg 2006. Eher deskriptiv nach den Haupteigenschaften der jeweiligen Schriftsteller verfahren die Aufsätze in: Brambilla, Marina Marzia/Pirro, Maurizio (Hg.): Wege des essayistischen Schreibens um die Jahrhundertwende (1900–1920) (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 74), Amsterdam/New York 2010. Ein starkes erkenntnistheoretisches Interesse mit deutlich profilierten Thesen zu den methodologischen Konstanten und den gedanklichen Ausrichtungen in der essayistischen Produktion der Klassischen Moderne in: Zima, Peter V.:
Theodor Lessings Europa-Bild
Die erhöhte Medialisierung der intellektuellen Arbeit und die verstärkte Kommunikation zwischen verschiedenen Wissensbereichen erweitern die öffentliche Präsenz sowie die Diskursfähigkeit von Autoren, deren Prestige und Durchsetzungsfähigkeit gerade durch die Flexibilität der Interessen, das Absehen von bindenden theoretischen Systemen und die Vielschichtigkeit der multidisziplinären Kompetenzen bedingt sind. Das stilistische Profil des essayistischen Schreibens zwischen 1900 und 1920 ist insofern durch Kürze und Prägnanz geprägt, als die Gattung Essay weniger ein strukturiertes Wissen als vielmehr eine subjektive Weltvorstellung vermitteln soll, die durch die Unbekümmertheit des proklamierenden Gestus und die Unwiderlegbarkeit der affirmativen Wertsetzung, also durch eine Semantik der Souveränität bestätigt zu werden braucht. Theodor Lessing, der die Chancen gekonnt wahrzunehmen weiß, die sich einem Intellektuellen durch den Aufschwung des deutschsprachigen Zeitungsmarktes bieten, und Kurzbeiträge über eine Philosophie des Schlangestehens, eine Psychologie des Rauchens, eine im Übrigen sehr interessante Theorie des Witzes und Aufsätze über seine Lieblingsblumen und Lieblingstiere veröffentlicht,10 sollte man als Zeitkritiker insofern auf diese Tendenz beziehen, als das Kombinatorische und Montageartige in seiner Produktion nicht zuletzt mit einer Strategie der rapiden Positionierung gegenüber der Aktualität an der Schwelle zwischen Wissensgebieten unterschiedlicher Art in Verbindung stehen. Eine solche Vielfalt der Perspektiven macht Lessings kulturkritischen Diskurs allerdings selbst dort reich an methodologischer Brisanz und hermeneutischer Schärfe, wo sich die Ersetzbarkeit der Leitbegriffe auf die Differenzierung der geschichtlichen Konstellationen nicht gerade förderlich auswirkt. Das EuropaAmerika-Bild, das Lessings Zivilisationskonzept zugrunde liegt, zeichnet sich zwar durch das Disproportionsverhältnis zwischen seiner philosophischen Begründung und dem deutlich mangelhaften Charakter der historischen Darstellungsmodi aus, auf die Lessing zurückgreift, um zu zeigen, wie sich aus dem westlichen Geschichtsparadigma nichts als Enthumanisierung und Zerstörung ergeben kann. Dem Diffusen und Stereotypen an den Ausartungsformen, die in Lessings Diagnose den abendländischen Menschen zu einem tödlichen moralischen Kollaps führen sollen, stehen jedoch luzide Beobachtungen über die Art gegenüber, wie jede Kultur auf dem Zusammenspiel von disparaten Ausdrucksweisen beruht, die äußerlich nichts gemeinsam zu haben scheinen, die aber gleichermaßen in ihrer inneren Beschaffenheit am Wesen ihrer Epoche teilnehmen und aufeinander einwirken.
Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays. Von Montaigne bis zur Postmoderne, Würzburg 2012. 10 Lessing, Theodor: Philosophie des Schlangestehens [1923 im Prager Tagblatt erschienen], in: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost, Anm. 4, S. 127–132; Ders.: Psychologie des Rauchens [1926 im Prager Tagblatt], ebd., S. 141–145; Ders.: Der Witz [1926 im Stachelschwein], ebd., S. 189–197; Blumen und Tieren sind etwa ab 1926 etliche Aufsätze gewidmet (vgl. ebd., S. 223 ff.)
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1928 publiziert Lessing einen Aufsatz über die Popularität von Josephine Baker, der Performerin, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre das Pariser Theaterleben durch eine von der Vermischung von Elementen aus der französischen VarietéTradition und der afroamerikanischen Tanzkultur ausgelöste Exotismus-Welle stürmisch bewegte. Der Essay ist insofern sehr interessant, als es Lessing darin gelingt, sein geschichtstheoretisches Begriffsrepertoire auf ein relativ begrenztes Phänomen anzuwenden und eine beliebte Schauspielform ohne besondere intellektuelle Anforderungen im Hinblick auf die soziokulturelle Signifikanz ihres Erfolgs auf die Haupttendenzen einer historischen Zeit und auf die Grundzüge eines gesamten Kulturmodells zu beziehen. Der von der amerikanischen Tänzerin verkörperte Primitivismus11 stellt nach Lessing dem raffinierten, hyperzivilisierten Publikum der Metropole ein Gegengift zur Verfügung, um den krankhaften Zustand zu therapieren, in den Geist und Kultur den westlichen Menschen haben geraten lassen. Die morbide Art der Josephine Baker verhelfe dem Zuschauer dazu, Müdigkeit und Ekel einer unnatürlichen Lebensart zu kompensieren, in der das Elementare durch Bildung und die Zugehörigkeit zu einer überpersönlichen und übergeordneten Konstellation durch einen trügerischen Subjektivitätskult ersetzt wurden. Lapidar stellt Lessing die pathologischen Ursachen fest, die das Leben der Moderne bedingen: „Die weißhäutige Zivilisationsmenschheit in Europa-Amerika ist krank. Ihre Krankheit aber heißt: Kultur. Diese sogenannte Bildung lastet schwer auf der ursprünglichen natürlichen Affenheit dieses Geschlechts“.12 Fortschritt und Verbesserung der Lebenszustände können über den Verlust an Wesensfülle und seelischer Befriedigung nicht hinwegtäuschen.13 Dabei stellen zivilisatorische Errungenschaften nur eine „Bildungsfassade“ dar, „ein das Leben schmückendes Ornament“,14 das angesichts seiner Lügenhaftigkeit stets in Primitivität und Bestialität umzuschlagen droht. Die Zivilisation setzt den Europäer einem permanenten Druck aus, dessen Folgen Vereinzelung, Entnaturalisierung und blinder Pragmatismus sind. In einem solchen kritischen Zustand wird durch die stilisierte Inszenierung einer unkultivierten, elementaren Lebensweise, wie dies bei den Theaterabenden von Josephine
11 „Betrachtest du unbefangen diese Josephine Baker, so tauchen vor dir auf: fremde Tier- und Pflanzenwelten, eher australische, malaiische als afrikanische. Du erblickst Gazellen mit leichten Gliedern, Zebras in wirrer Buntheit, das große traurige Auge der Antilope und die grotesken Sprünge der Känguruhs. Du träumst von dem fernen Tangata, träumst von Mädchen, welche Gauguin malte, und von den Taupo, jenen Dorfschönen, die bei den Festen des Rausches die Speisen vorkauen und im Urwald tanzen nach polynesischem Brauch“ (Lessing, Theodor: Josephine, in: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost, Anm. 4, S. 219–223, hier S. 220). 12 Ebd., S. 221. 13 „Lessing claims that culture by definition exhausts life, that is, the development of culture is realized at the expense of life“ (Simissen, Herman: Theodor Lessing’s Philosophy of History in Its Time, Leiden-Boston 2021, S. 87). 14 Lessing: Josephine, Anm. 11, S. 222.
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Baker der Fall ist, eine regenerierende Entlastung angeboten, die das Schmerzhafte an einer hoch kulturalisierten Existenzform für eine Weile suspendiert: Nun tritt unter ein durch die Halbheit vermeintlichen Geisteslebens belastetes Geschlecht (welches, wie allbekannt, zu leiden hat unter „Verdrängungen“, „Verdeckungen“, „Komplexen“, „Kompensationen“ und „Überkompensationen“) – nun tritt unter die längst domestizierten, gebildeten Kulturtiere gesund, einfältig und mit reinem Gewissen ein unverdorben natürliches nacktes Affenkind, wackelt mit reizendem Bauch, spuckt auf alle Bildung und gibt sich nackt. Und der in hochpolitischen Konferenzen, Transaktionen und Fusionen ergraute Geschäfts- oder Staatsmann wackelt vor dem Tode auch noch einmal wie in Urwaldzeiten, und seine brillantbehängten Damen verspüren fernes Wehen aus unser aller Urheimat, wo wir, wechselseitig liebend, noch freie Affen waren. „Zufrieden jauchzet groß und klein: Hier bin ich Aff, hier darf ichs sein“.15
Die parodistische Wiederaufnahme der Osterspaziergang-Episode in Goethes Faust führt eine generelle Umwertung von Natur und Kultur ein, die im Mittelpunkt von Lessings Kulturkritik steht und ihm als eine Art Grundmodell zur Gesamtinterpretation der Gegenwart erscheint. Lessing hat seine Weltauffassung wiederholt als eine „Philosophie der Not“ bezeichnet.16 Geist und Denken entstünden philogenetisch als eine „Notwendigkeit“, d. h. sie ergäben sich aus dem Bedürfnis, „eine Not zu wenden“, einen Zustand des Mangelns und Leidens wieder gut zu machen.17 Nun besteht die Paradoxie von Lessings Philosophie darin, dass der Geist zwar eine Pathologie beheben soll, diese Pathologie aber ausgerechnet durch die Entstehung des Geistes bedingt ist und sich nur über die Wirkung des Geistes selbst
15 Ebd. 16 Vgl. Marwedel, Rainer: „Nur wer die Waffen hat, kann Frieden schaffen!“ Theodor Lessings Philosophie der Not, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50 (1988), S. 265–277. 17 Eine rekapitulierende Darlegung von Lessings „Philosophie der Not“ liest man z. B. in der Vorrede zu seiner Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen: „Die raumzeitliche Bewußtseinswirklichkeit des Menschen ist ein Bruch innerhalb des Kosmischen Seins. Und ist doch zugleich: die versöhnende Aufhebung dieses Bruches: Derart, daß die Logik steigt aus dem Widerspruch, dessen Auflösung das Mit-sich-Wesensgleiche ist. Derart, daß das Bewußtsein wurzelt in der Stauung, auf deren Entwirken das Bewußtwerden hinauszielt. Derart, daß das Wollen bricht aus der Spannung, deren Entspannen doch das Ziel alles Wollens ist. Derart, daß das Kunstschöne blüht aus der Sehnsucht, als deren Stillung Schönheit obsiegt. Derart, daß die Welt ist wie eine Wunde, welche doch sich selber heilt. Derart, daß unser Menschendasein ist wie eine Krankheit, die, gleich aller Krankheit, Notausgang ist zur Genesung – so daß zuletzt das oberste Gebot menschlicher Sitte fordert: ‚Beseitige die Not‘, was aber nichts anderes heißen dürfte als: ‚Hebe auf: die Bedingungen des Daseins selbst‘… Es war mein Wunsch, dieses Leitmotiv ‚Not-Wende‘ als allbeherrschend aufzuzeigen“ (Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder Die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Hamburg 1962, S. 9); vgl. auch ebd., S. 228–231.
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bemerkbar macht. In dem einleitenden Teil der fünften Ausgabe von Europa und Asien fokussiert Lessing folgendermaßen die Ambivalenz des Geistes, die dasjenige Leiden zu therapieren trachtet, das durch ihn selbst verursacht wurde: „Die Welt des Geistes und seine Norm ist die unentbehrliche Ausheil- und Aushilfsmacht des abgedrängten, an Bewußtsein erkrankten Lebens“.18 Die Not, von der Lessing ausgeht, ist der Ausgang des Menschen aus der ursprünglichen Einheit von Individuum und Welt, Ich und All, Subjekt und Objekt. Geist und Kultur gelten ihm erstens als die Ursachen eines solchen verstörenden Bruchs, denn sie unterbrechen den fließenden Lebensstrom, in dem sich der Mensch nicht als gesondertes Objekt wahrzunehmen braucht, reißen die Seele aus ihrem unreflektierten, unbewussten, organischen Dasein und statten das Individuum mit Bewusstseinskategorien aus, die die ungestörte Harmonie der primitiven Totalität durch Wertsetzungen, Unterscheidungen und Vergegenständlichung von Erkenntnisgegenständen unwiederbringlich zerstören.19 Geist und Kultur verfolgen jedoch zweitens auch das Ziel, eine solche Wunde heilbar zu machen.20 Der zivilisierte Mensch versucht nämlich gerade mit Hilfe immer differenzierterer Bildungskonstruktionen, jenen verlorenen Zustand intensiver Vitalität durch Ersatzformen wiederzuerlangen, die in seiner Phantasie und Weltvorstellung, also in der abstrakten Dimension seines inneren Lebens verwurzelt sind. Was nicht mehr als realer Besitz erlebt werden darf, wird mit kompensatorischer Funktion verinnerlicht und der Zivilisation als eine ideale Zielsetzung vorgehalten, die allerdings im Endeffekt die Zivilisation selbst komplett aufheben soll. Lessings Philosophie schwankt ununterbrochen zwischen diesen beiden, sich gegenseitig ausschließenden Geistesbestimmungen: Die lebensfeindliche Energie von Geist 18 Lessing: Europa und Asien (1930), Anm. 7, S. 10. 19 „Zählen“ und „erzählen“ betrachtet Lessing in seiner durchaus charakteristischen Freude an Paronomasien, Wortspielen und kühnen Prägungen als zwei vernunftgeleitete Handlungen, die den fließenden ursprünglichen Lebensrhythmus beeinträchtigen: „Alles Denken ist […] gleichsam eine Kunst, auf strömendem Wasser zu schreiten. Schritte sind zählbar, das Gewoge aber entzieht sich der Zahl. Die Schritte und Schnitte des Denkens müssen das wogende, unausmeßliche Element zählbar und erzählbar machen. Zählbar und erzählbar aber ist niemals das Strömen der Lebensflut selber, sondern einzig nur das Rinnsal, welches der vorübergleitende Strom zurückließ. Am nächsten kommen wir (so scheint es) dem letztlich Wesenhaften, wenn wir das Wissen, Wollen und Wachen wieder abstreifen und uns erinnern (falls solche unmittelbare Erfahrung überhaupt möglich ist) an Zustände, in denen uns alle Bewußtseinswirklichkeit entschwand, etwa an Schlaf und Traum, an Hellgesichte aus unserer Kindheit, an ästhetische oder religiöse Versunkenheiten und hellseherisches Sichselberverlieren“ (ebd., S. 6). 20 Yascha Mounk moniert zu Recht, dass „it would be a mistake to conclude, as the earlier phase of Lessing scholarship did, that he rejected reason outright. On the contrary, though Lessing thought that Geist is destructive of life, he also believed that it was necessary to accept its existence in various ways“ (The Strange Afterlife of Theodor Lessing, in: German Studies Review 40 [2017], S. 509–526, hier S. 512).
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und Bildung kann gerade durch den Geist bewältigt werden, insofern als dieser den Menschen wieder zu einer innigen Beziehung zum Elementaren und Vitalen gelangen lassen kann, denn „der Geist […], dieses eigentlich Göttliche und Zeugende wird zum Tode, wird zum Teufel, wird zum Untergang der Erde, sobald er aus dem Leben frevelnd heraustritt oder sobald […] das Leben sich von ihm abkehrt und ihn einsam läßt“.21 Auf jeden Fall betrachtet Lessing die Dominanz des Geistes als eine Abschwächung gesunder Lebensbezogenheit, als einen Mangel an Kraft und Selbstverständlichkeit menschlicher Existenz. Es ist „kein Zufall“, so führt Lessing aus, „daß grade die schwächste aller Geburten, der hilflose Mensch, der Träger des Leben-übermächtigenden Geistes ward“.22 Die Zersplitterung der elementaren Vitalität, die Lessing gerne als „den Untergang der Erde am Geist“ nennt, offenbart sich in ihren Auswirkungen vor allem darin, dass der moderne Mensch die Welt nicht als ungeteilte Totalität erlebt, sondern seine Neigungen und Eigenschaften in mehreren Existenzbereichen verwirklichen soll, die unterschiedliche Attitüden und Verhaltensweisen erfordern. Das Hauptargument sämtlicher kulturkritischer Diskurse in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert – dem Menschen sei seine ganzheitliche Identität nunmehr abhandengekommen – verwertet Lessing im Lichte einer selbstständigen Philosophie des Lebens wieder. Atomisierung und Auflösung des Primären als zivilisatorische Missstände seien dabei insofern Voraussetzung von geistigem Schaffen, als Kulturprodukten der Versuch zugrunde liege, einen Ausweg aus der Dürftigkeit eines solchen fragmentierten Daseins durch sinnbildende Konstrukte zu bahnen. Geschichte sei aus dieser Sicht das Ergebnis einer absichtlichen Systematisierung zufälliger Ereignisse und obskurer Begebenheiten, die mit dem Geschehenen in keinerlei wahrem Zusammenhang stehe. Wissenschaft bringe gleichfalls keine seelische Steigerung mit sich, sondern sie sei vielmehr „Willenschaft“,23 sei nämlich durch den Willen bedingt, im chaotischen Strudel menschlicher Wahrnehmungsakte Ordnungsprinzipien zu statuieren. Wissenschaft sei insbesondere „das gedankliche Gegenstück des wachsenden Mordes der Erde“, denn sie sei mit der Aufgabe verbunden, Bindungen aufzulösen, das Elementare zu zersetzen, einem „naiven Realismus“ den Boden zu bereiten, „der von den Larven des Lebens für das Natürliche gehalten wird, in Wahrheit aber, – hie Ichwelt – hie Gegenstandwelt, – das Endergebnis ist des Absterbens“.24 Alle Kultur erscheint Lessing als bloße Semantisierung des Unverständlichen, die gerade durch die Hoheit ihrer Errungenschaften umso mehr auf die Aussichtslosig-
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Lessing: Europa und Asien (1930), Anm. 7, S. 18. Ebd., S. 37. Ebd., S. 36. Ebd., S. 38.
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keit ihrer Ausgangssituation verweist.25 In Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen bezeichnet Lessing diesen Drang nach Substantialisierung von Interpretationskriterien, die mit einem Wirklichkeitscharakter versehen sind, den sie eigentlich nicht haben, als den „europäischsten aller Europäismen“, nämlich als den „ontischen Trick“.26 Dabei wirft er jeglicher Form von historiographischer Hermeneutik Verfälschung und Wahrheitsvertuschung vor: Betrachten wir genauer, von welcher Art der Willensakt ist, der Geschehen zu Geschichte macht, dann finden wir, daß das Geschehen durch ihn auferhöht, aufgeahmt, wichtiger, bedeutender, sinnvoller gemacht wird, daß der Alltag verklärt, geheiligt, bedeutsam, lebenswert, vorbildlich und exemplarisch wird dadurch, daß er in Geschichte eingeht. Diese Willensbeteiligung, welche wir zuwenden den geschichtlichen Begebenheiten oder Lebensläufen, Personen oder Tatsachen ist von ganz anderer Natur als unser bloßes Interesse an der Wirklichkeit oder an der Erfahrung. Sie ist (so überraschend das klingen mag) wirklichkeitsferner als jenes Wollen, welches hinter unserm praktischen Wissen brennt. Ja, ich scheue nicht zu behaupten, dass die Geschichte so weit davon entfernt ist, Wirklichkeit oder Wissen um Wirklichkeit zu sein, daß man sie vielmehr als: die Erlösung von der Wirklichkeit und vom Wissen ums Wirkliche charakterisieren kann.27
Mit dieser forcierten Anstrengung um Sinnhaftigkeit benennt Lessing das, was ihm der grundsätzliche Krisenfaktor euro-amerikanischer Zivilisation zu sein scheint. Dem setzt er eine spezifisch asiatische Lebensform entgegen, die unter dem Vorzeichen von elementarer Kreatürlichkeit, zeitlicher Zirkularität, gegenseitiger Empathie unter allen Lebenden steht und die er mit einem Ausdruck konnotiert, der dem Nibelungen-Epos entnommen ist: „Ahmung“.28 Im Zuge des „Ahmens“ ergibt sich jener befriedigte Zustand wiederhergestellter Totalität nicht aus einem komplexen Kulturprozess, wie dies bei den für die westliche Philosophie typischen Phantasien geistiger Genesung der Fall ist, sondern er gibt sich von selbst als angeborener Besitz glücklicher, wunschloser Menschen, deren Ruhe auf der Vorstellung der Welt als ungeteilter Einheit ohne hierarchisch gegliederte Ordnungskategorien beruht. In seiner Autobiographie bezieht Lessing die Entstehung des Begriffs „Ahmung“ auf seine Beschäftigung mit den charakterologischen Überlegungen von Ludwig
25 „[…] Geschichte ist […] keine Wirklichkeit! Sie ist Befreiung von Wirklichkeit. Sie ist Traum, Mythos, meinethalb: tröstende Lüge. Alles: nur nicht Wirklichkeit!“ (Lessing: Geschichte als Sinngebung, Anm. 17, S. 187). 26 Ebd., S. 19. 27 Ebd., S. 86 f. 28 Vgl. ebd., S. 254–257. Eine systematische Erschließung dieses Begriffs nimmt Ekkehard Hieronimus vor: Theodor Lessing – Otto Meyerhof – Leonard Nelson. Bedeutende Juden in Niedersachsen, Göttingen 1964, S. 46–50.
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Klages, zu dem er eine langjährige Freundschaftsbeziehung unterhielt, deren Ende nicht zuletzt von Klages’ Antisemitismus überschattet wurde. Mit der Kategorie „Ahmung“, so Lessing, beabsichtige er, „die Wahrheit festzuhalten […], daß wir immer das, was wir wissen, auch selber sind oder richtiger gesagt, daß alles jederzeit doppelt gegeben ist, einmal als Gegebenheit eines Objektes für ein Subjekt, zugleich aber auch, alles bewußte Wissen unterströmend, in einer vorbewußten, unmittelbaren Wesensschau“.29 Die Einsicht in die Doppelbödigkeit menschlicher Erfahrung, die im Westen durch einen engstirnigen Determinismus des Willens restlos verdrängt wurde, unterscheidet Europas und Asiens Weltbild voneinander, so wie Lessing die beiden Kontinente in den Mittelpunkt seiner topographisch orientierten Darstellung der Kulturgeschichte rückt. Lessings Hauptthese in seiner Untersuchung zu Denk- und Handlungsformen in Europa und Asien ist es, dass in der Zivilisation die Wesensverwandtschaft alles Seienden durch Hominismus und Evolutionismus entkräftet, zerklüftet, unkenntlich gemacht wurde. Ein anthropophiles Denken, dessen geistige Quellen im Christentum liegen, erhebe den Menschen und dessen Schaffen zum Dreh- und Angelpunkt des Universums, lösche vom Leben jede erdenkliche Naturbeziehung aus und setze in allen Bereichen eine auf Ausbeutung und Gewaltausübung hinauslaufende Logik der kapitalistischen Akkumulation durch. Aus dieser Geist-Skepsis erfolgt allerdings kein naiver Vitalismus im Sinne einer unkritischen Glorifizierung des Elementaren.30 Lessing stellt erstens die Entstehung des Geistes als das eigentlich Schicksalhafte in der Ontogenese des Menschen vor, als ein unabwendbares Ereignis, das nicht rückgängig gemacht werden kann. Insofern kommt der euroamerikanischen Welt eine symbolische Bedeutung zu, indem ihr aufgetragen wird, das Exildasein gleichsam zu antizipieren, das der gesamten Menschheit zuteilwerden wird. Bereits 1918 in der ersten Ausgabe seines kulturkritischen Werks gibt Lessing zu, dass der Kampf zwischen Europa und Asien nunmehr entschieden ist und dass dem Sieger eigentlich die Aufgabe obliegt, das Schicksal, das aller Zivilisation bevorsteht, den anderen Kontinenten vorzuhalten.31 Eine Aufgabe üb-
29 Lessing: Einmal und nie wieder, Anm. 3, S. 299. 30 Zum kulturgeschichtlichen Hintergrund von Lessings Vitalismus-Begriff vgl. Beßlich, Barbara: Theodor Lessing und die Münchner Moderne. Poetologische Randbemerkungen eines Außenseiters, in: Kotowski (Hg.): „Sinngebung des Sinnlosen“, Anm. 4, S. 75–93. 31 „[…] blicken wir doch genau in das Antlitz Asiens und in das Antlitz Europas. Wo ist der Mensch zufriedener, in sich vollkommener, harmonischer, schöner, reiner? […] Der europäische Fortschrittsglaube […], der optimistische Entwicklungswahn hat die ganze Erde unglücklich gemacht. Mit unserer Lebens-Lehre und Lebendigkeitsphilosophie haben wir in Wahrheit das Leben hingemordet, mit unserer Philosophie der Aktivität, mit Aktivismus und Tatfähigkeit die freie Selbstentfaltung aller, außer unserer selbst unterbunden; mit unserer Predigt der Freude die naiven Kinder der Erde heimatlos gemacht. […] Diese Art Mensch ist der Träger unserer Kultur. Für sie blüht eine Kunst, die die Leistung an Stelle des Herzens setzt und aufregende Sensationen erschafft, welche dennoch
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rigens, die Lessing in seiner Publizistik auch mit dem Judentum im Hinblick auf die Assimilation und auf die Auslöschung der ostjüdischen Welt in Zusammenhang bringen wird.32 Lessing sieht somit den Geist nicht nur als die negative Instanz, die gemeinschaftliche Bindungen unter den Menschen zerstört und die Tyrannei eines trügerischen Fortschrittsideals etabliert hat, sondern er lässt ihm auch eine humanistische Funktion zukommen, indem er dem „den Schrecken der Mechanisierung, Technik, Wirtschaft“ ausgesetzten Menschen immerhin Trost und Linderung spenden kann.33 Die Einsicht in die „vollendete Sündenhaftigkeit“ Europas, um auf die berühmte Formel Fichtes zurückzugreifen, die gerade um den Ersten Weltkrieg durch Georg Lukács in seiner Theorie des Romans wieder aktualisiert wird, ermöglicht es dem Menschen, seinen Notstand wenigstens zu entschärfen, dem Unglück der Zivilisation die Festigkeit einer luziden Anschauung entgegenzustellen. Lessing schließt im Grunde kollektive Lösungen und soziale Alternativen zum desolaten Zustand der euro-amerikanischen Kultur aus und lässt höchstens subjektive Formen seelischer Therapierung gelten. Die vitalistische Evozierung einer durch eine Art regenerierten „Kultur“-Begriff möglichen Überwindung der Zivilisation, die in der Selbstreflexion der Moderne eine beträchtliche Rolle spielt und z. B. die Kriegsschriften Thomas Manns prägt, ist dem Zeitkritiker Theodor Lessing völlig fremd. Aus seiner Perspektive ist die Zivilisation nichts als eine Sondererscheinung
nie hinabtauchen in das Element des Lebens, nein! […] Erinnern wir noch einmal daran, daß nur Europa das trügerische Irrlicht Fortschritt und die verlogene Lehre von Auslese, Deszendenz und Entwicklung geschaffen hat. Vom kriechenden Plattwurm zum Reptil, vom Reptil zum Schimpansen, vom Schimpansen zum modernen Zivilisationsliteraten und von diesen tintenbeschmutzten, von Druckerschwärze schwarzen Menschen der ‚Zivilisation‘ demnächst zu Heroen und Olympiern“ (Lessing: Europa und Asien [1918], Anm. 8, S. 116 f.). 32 „Wenn die Medizin ein Heilmittel gewinnen will gegen drohende Volkskrankheiten und Massenseuchen, was tut sie? Sie wählt ein altes, im Lebenskampfe bewährtes Tier als Sündenbock und impft ihm alle diejenigen Gifte und Krankheitsstoffe ins Blut, die für die glücklicheren Tiere auch einmal gefährlich werden könnten. So gewinnt sie Heilserum. Erlöserblut, Heilblut, entsühnendes Blut. Nunmehr kann mit dem Serum des notbewährtesten Geschöpfes die Not von allen Bedrohten ferne gehalten werden. Diese Heilandrolle sei dem Judentume zugedacht. Sie muß und möge sein Schicksal sein; vielleicht hat es darum an den Messias geglaubt und geboren, um selber Messias werden zu können. Die Völker also mögen erlernen: Was sie heute an den Juden tun, wird morgen ihr eigenstes Schicksal sein. […] morgen, übermorgen, in polynationalen Staaten der Zukunft, werden alle das erlernen müssen, was heute nur der Jude seiner Natur abgerungen hat. […] Jude sein ist Symbol. Es handelt sich um die Tragödie des Menschen. Jedes Menschen. Der Jude ist nichts als der älteste Mensch“ (Lessing, Theodor: Die Unlösbarkeit der Judenfrage [unter dem Titel Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling, in: Der Jud ist schuld …? Diskussionsbuch über die Judenfrage. Mit Beiträgen von Hermann Bahr u. a., Basel et al. 1932, S. 402–412], in: Ders.: Ich warf eine Flaschenpost, Anm. 4, S. 415–425, hier S. 423 f.). 33 Lessing: Europa und Asien (1930), Anm. 7, S. 206.
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jenes die gesamte europäische Identität korrumpierenden Kulturprozesses, der mit dem Untergang der Antike zugunsten des Christentums einsetzte. Insofern besteht für Lessing kein Widerspruch zwischen einer pervertierten Zivilisation, die die Verfechter der ‚Ideen von 1914‘ Frankreich und England unterstellten, und einer wegen ihrer ursprungsnahen Naturgebundenheit rein gebliebenen, deutschnational konnotierten Kulturvorstellung: Beiden sind der Individualismus, der gezwungene Optimismus, das zweckorientierte Denken, die lebensferne Abstraktion, der intellektualistische Dünkel und die „leistungsbetonte Haltung“34 gemeinsam, die die westliche Denkart kennzeichnen. Die Unterscheidung zwischen einer kranken „Zivilisation“ und einer gesunden „Kultur“ erscheint Lessing als ein typisch ideologisches Argument zur Verfälschung der Wahrheit und zur manipulativen Selbstdarstellung eines degenerierenden Zeitalters: Uns fehlt der Mut klar einzugestehn, uns fehlt die Sachlichkeit klar zu erkennen, daß Das, was wir Zivilisation und Ökonomie nennen, ein Stück eben Dessen, nein! das ganze Wesen eben Dessen ist, was wir Zivilisation und Ökonomie nennen. Das will sagen: Ordnung, Sinn, Zweckgebung des Lebens und zuletzt seine Vergeistigung ist unvermeidlich wesenszugehörig just der Weltauffassung der christlichen Jahrtausende, unter deren Gesichtswinkel die Welt Geschichte bekommt, das heißt unter deren Gesichtswinkel alle je gewesenen, uns zugänglichen Gebilde und Gestalten so betrachtet und im Betrachten so verändert werden, als ob die Vorstufen und Vorläufer gewesen wären für Uns, für unsre im Kommen begriffene Weltmittelpunktschaft.35
Amerikas Kult um Reichtum und Besitz spitzt die moralische Krise Europas noch weiter zu. Die quantitative Weltanschauung, die Lessing als der Hauptzug in einer technisierten Gesellschaft zu sein scheint, nimmt in der Neuen Welt jenseits des Ozeans Höllenkonturen an, die unter Rekurs auf Dante-Bilder geschildert werden. Amerika sei „ein schlafloses Land ohne Nachtigallen, bewohnt von lauten Menschen ohne Musik“.36 Die Sinnesorgane sind dort durch eine dauernde Überstimulation hoffnungslos belastet, die Menschen verbringen ihr Leben unter dem Druck eines ständigen Konkurrenzkampfes, der auf soziale Anerkennung und Gelderwerb ausgerichtet ist. Amerika erlebt im Voraus und in überdimensioniertem Ausmaß das
34 Beßlich, Barbara: „Die verfluchte Kultur“. Theodor Lessing (1872–1933) zwischen Zivilisationskritik, jüdischem Selbsthaß und politischem Reformwillen, in: Huml, Ariane/Rappenecker, Monika (Hg.): Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien, Würzburg 2003, S. 77–98, hier S. 90. 35 Lessing: Europa und Asien (1930), Anm. 7, S. 207. 36 Ebd., S. 204.
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Wertvakuum und die geistige Misere der zivilisierten Welt.37 1918 ist sich Lessing darüber im Klaren, dass der Erste Weltkrieg ein Kulturmodell bekräftigt hat, bei dem Brutalität und Gewaltausübung das menschliche Handeln prägen,38 und dass asiatische Gelassenheit in keiner Weise Machtgier und Beherrschungslust unter Kontrolle bringen kann. 1930 glaubt er schließlich, in der amerikanischen Lebensorganisation einen besonders krassen Beweis sehen zu können, dass jene Prognose richtig gewesen war, sind doch diese auf Leistung und Selbstverwirklichung geradezu besessenen Zeitgenossen „gesund und tüchtig, […] aber unheilbar mittelmäßig und gleicherweis seelenkahl“.39
37 „Diese Kultur- und Fortschritts-Lüge vorausgesetzt –, und der amerikanische Mensch wird das höhere Wesen! Er zeigt uns nicht nur unsre eigene Jugend; er zeigt uns jene Zukunft, auf die wir unbewußt alle hinauswollen. Jene Zukunft, in welcher kein Bruch mehr besteht zwischen Bürgertum und Volkstum, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, zwischen Zivilisation und Kultur, vielmehr ein von Willkür und Ich durchaus unabhängiges Reich automatischer Vernunft auf Erden verwirklicht ist: das Reich Gottes, das Reich des heiligen Geistes. Das heißt: des idealen menschheitlichen Selbst“ (ebd., S. 207). 38 So zog Lessing 1918 am Ende von Europa und Asien Bilanz: „August 1914 riß ein Schleier. Hinter der Kulturmaske zeigt sich die Bestie. Die kluge, alles könnende, alles wissende, alles leistende, die Erde übermächtigende Bestie Europa. Europa, sein Christentum, seine Heldenmoral, seine Entwicklungsethik, sein Fortschritt und sein Glück steht jetzt nackend vor aller Augen. Alle Menschen Europas, die jungen blühwilligen, hoffnungsfrohen, sind in eine riesige blinddraufloswütende, wohlorganisierte Maschine geworfen oder stürzen begeistert sich selbst hinein, im Heldentum des Unsinns, im todgeweihten Lebensrausch, vor dessen Schönheit man beten möchte: ‚Glückauf zum Untergang!‘ Einige wird die ungeheure Vernichtungsmaschinerie wieder ausspeien, verstümmelt oder krank. Hunderttausende wird sie zermalmen. Keiner von uns weiß, ob er übrigbleibt“ (Lessing: Europa und Asien [1918], Anm. 8, S. 126). 39 Lessing: Europa und Asien (1930), Anm. 7, S. 204.
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Max Schelers Europa Vergeistigung des Liberalismus und Ausgleich Max Scheler ist für eine der Thesen, die im Mittelpunkt des Projekts ‚Liberalismus (be-)denken‘ stehen, dessen Ergebnis der vorliegende Band ist, emblematisch: In den Jahren 1900 bis 1950 sind die Versuche, Europa als kulturelles, politisches Projekt zu definieren, untrennbar mit dem Versuch verbunden, den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus zu bedenken, sei es um ihn neu zu gründen, sei es um ihn aufzugeben. Die Idee von Europa wird als ein Mittel zur Korrektur interner negativer Tendenzen gesehen, in einem Kontext der Globalisierung, der Deutschland (und die anderen europäischen Länder) dazu nötigt, eine Identität zu behaupten. Es geht in diesen Visionen von Europa sowohl darum, diese als schädlich empfundenen Entwicklungen in Europa und in den einzelnen Ländern zu bekämpfen, als auch darum, sich gegen andere kulturelle Modelle zu positionieren, die in einer nun globalisierten Welt als feindlich oder antagonistisch wahrgenommen werden. Für Scheler ist dieser äußere Feind, wie wir sehen werden, Asien, und die innere schädliche Entwicklung, die es zu bekämpfen gilt, ist (hauptsächlich, aber nicht nur) diejenige, die zum Kapitalismus und Liberalismus geführt hat. Es gibt in der Tat in Max Schelers Sozialphilosophie eine enge Verbindung zwischen einem positiven Diskurs über Europa und der Kritik am Liberalismus, sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher Hinsicht. In Schelers Stellungnahmen zu der europäischen Frage lassen sich zwei Phasen unterscheiden. Die erste Periode reicht von Anfang der 1910er Jahre bis etwa 1920. Scheler entwickelt 1912 in seinem Werk Das Ressentiment im Aufbau der Moralen1 und dann 1914 in seinen Aufsätzen zum Geist des kapitalistischen Geistes2 eine Kritik des bürgerlichen Ethos auf der Grundlage seiner Phänomenologie der Werte, an der er damals arbeitete und die in Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik (1913–1916) dargelegt
1 Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen [1912], in: Ders.: Vom Umsturz der Werte: Abhandlungen und Aufsätze (Gesammelte Werke 3). Hg. von Maria Scheler, vierte, durchges. Aufl. Bern/München 1955, S. 33‒147. 2 Scheler, Max: Der Bourgeois – Der Bourgeois und die religiösen Mächte – Die Zukunft des Kapitalismus: drei Aufsätze zum Geist des kapitalistischen Geistes [1914], in: Ders.: Vom Umsturz der Werte, Anm. 1, S. 341‒395.
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wird.3 In seinen Kriegstexten gibt er dieser ursprünglich eher kulturellen Kritik eine politische Form, insbesondere ab 1915. Das ist auch die Zeit, in der er sich in der Öffentlichkeit als katholischer Denker profiliert. Die zweite Phase (ab Mitte der 1920er Jahre) ist die Zeit seines Bruches mit der katholischen Kirche und seiner Hinwendung zur Wissenssoziologie und Philosophischen Anthropologie. Es ist auch die Zeit, in der er seinen berühmten Vortrag über den Pazifismus hält.4 Ich werde mich aber in diesem Beitrag auf die erste Phase konzentrieren, indem ich zunächst Schelers Kritik am Liberalismus in den 1910er Jahren vorstelle und dann zeige, wie seine Auffassung von Europa eng mit diesen Überlegungen zusammenhängt. Die Kriegsschriften spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle: Max Schelers Denken wird im Krieg politischer und auch europäischer, denn der Krieg ist aus seiner Sicht ein (paradoxer) Moment der Globalisierung. Diese Texte sind natürlich hochpolemisch und von einer Form von Kulturnationalismus geprägt, aber sie sind nicht nur opportunistische Gelegenheitsschriften, obwohl sie der Legitimierung des Krieges dienen.5 Wie wir sehen werden, veranschaulicht Schelers Position im Krieg und nach dem Krieg eine weitere These, die dem Projekt ‚Liberalismus (be-)denken‘ zugrunde liegt. Obgleich es auch vor 1950 eindeutig antiliberale europäische Projekte gibt, ist die Trennlinie zwischen Liberalismus und Illiberalismus in der Zwischenkriegszeit öfter nicht so klar, wie es heute scheinen mag.
1.
Schelers grundsätzliche Liberalismuskritik
In der Kriegsschrift Genius des Krieges wird der Liberalismus als eine angelsächsische Weltanschauung dargestellt, und Scheler betont diesen Ursprung, ohne vor Karikaturen zurückzuschrecken. Diese Weltanschauung zieht sich durch alle Bereiche der Kultur: Politik, Gesellschaft, Wissenschaft. Um den politischen Liberalismus zu kennzeichnen, stellt Scheler zwei Ideen in den Vordergrund: Die
3 Scheler, Max: Der Formalismus und die Ethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus [1913–1916]. Hg. von Christian Bermes, unter Mitarb. von Annika Hand, Hamburg 2014. 4 Scheler, Max: Zur Idee des Ewigen Friedens und des Pazifismus [1926–1928], in: Ders.: Philosophie und Geschichte (Schriften aus dem Nachlass 4). Hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1990, S. 77‒121. 5 Zur Legitimierung des Krieges durch Philosophen und Intellektuelle vgl. Agard, Olivier/Beßlich, Barbara (Hg.): Krieg für die Kultur? Une guerre pour la civilisation? Intellektuelle Legitimationsversuche des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Frankreich (1914–1918), Frankfurt a. M. 2018.
Max Schelers Europa
individualistische Vertragstheorie und das Prinzip einer spontanen Harmonie der Interessen.6 Als soziologische Theorie nimmt der Liberalismus das Individuum als Ausgangspunkt und ist die Ideologie dessen, was Scheler mit Tönnies als ‚Gesellschaft‘ bezeichnet, im Gegensatz zur ‚Gemeinschaft‘. Während die Gesellschaft ein Zusammenschluss von Individuen ist, die ihren eigenen Interessen folgen und alle gleichrangig sind, was eine Regulierung in Form von Verträgen notwendig macht, ist die Gemeinschaft eine solidarische und hierarchische Ordnung, die mit den sogenannten Lebenswerten in Verbindung steht (während in der Gesellschaft die Nützlichkeitswerte, die in der Wertehierarchie ganz unten stehen, dominieren). Die Gesellschaft ist eine Summe von Individuen, die als gleichwertig betrachtet werden und nicht solidarisch sind: „Das Summenprinzip steht also im Widerspruche zum Solidaritätsprinzip“.7 In der liberalen Gesellschaft sind die Individuen misstrauisch und feindselig, und in diesem Kampf der Egoismen sind die Regeln des Zusammenlebens formal. Diese Kritik am Liberalismus erinnert in mancher Hinsicht an die Kritik, die Marcuse und Horkheimer in den frühen 1930er Jahren formulieren werden, doch Schelers Kritik ist nicht von einer marxistischen Sozialphilosophie inspiriert, sondern von einer Phänomenologie der Werte. Scheler zufolge gibt es in der liberalen Gesellschaft keine Erfahrung gemeinsamer Werte, keine geteilte Intentionalität. Die abstrakte Gleichheit der Individuen, die sie alle auf die gleiche Ebene stellt – wie es beispielsweise Bentham, der von Scheler zitierte „Klassiker der Demokratie“8 tut –, impliziert, dass von allen Werten abstrahiert wird, denn aus der Perspektive der Werte gibt es notwendig überlegene und unterlegene Individuen. Wohlbemerkt: Wenn Scheler aber von Hierarchie spricht, geht es nicht primär um Machtausübung, sondern eher um ethische Vorbildlichkeit. Da der Liberalismus diese Dimension verkennt, ist das Ziel der liberalen Politik der allgemeine Wohlstand. Diese Orientierung wird von Scheler als „Demokratismus“ bezeichnet: Unter Demokratismus verstehe ich das Prinzip, dass das Ziel aller positiven wertvollen Betätigung die Erhaltung einer möglichst großen Zahl von Menschen sei. Es ist also hier vor allem ausgeschlossen, dass eine ursprüngliche Solidarität zwischen den Teilen der Menschheit bestehe, so dass Schicksale dieser Teile das Ganze mitbetreffen, und dass verschiedene Individuen, Völker, Rassen usw. in verschiedenem Grade und Maße mit dem Ganzen solidarisch seien. Eine Solidarität solcher Art wäre ja daran gebunden, dass
6 Scheler, Max: Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg [1915], in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften (Gesammelte Werke 4). Hg. von Manfred S. Frings, Bern/München 1982, S. 7–250, hier S. 27. 7 Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Anm. 1, S. 139. 8 Ebd., S. 141.
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die Lebenseinheit ein Einfaches sei, die den Teilen vorherginge und den Teilen einwohnte, wenn auch mit verschiedener Intensität.9
Der Liberalismus verkennt für Scheler die realen Kräfte, die in der Politik im Spiel sind. Wie bereits erwähnt, ignoriert er die konstitutive Rolle der Solidarität und die Tatsache, dass Individuen immer auch Mitglieder von Gemeinschaften sind. Er verkennt auch die Rolle des Staates, da der Liberalismus auch eine Ideologie des Misstrauens gegenüber dem Staat ist, wobei dieses Misstrauen nur ein Aspekt des allgemeinen Misstrauens ist, das für die ‚Gesellschaft‘ als solche kennzeichnend ist.10 Der Liberalismus tendiert in der Tat dazu, den Staat in der Gesellschaft aufzulösen,11 und begeht dabei einen Fehler, der symmetrisch zu dem des Staatssozialismus ist. Der Staat ist für Scheler Träger eines kollektiven Willens, der seine Quelle im Volk als Lebensgemeinschaft hat. Der juristischen Auffassung der Politik, die den Liberalismus kennzeichnet, stellt Scheler die Realität der dem Leben inhärenten Machtkonflikte entgegen und betont die Rolle, die große Persönlichkeiten als Trägerinnen eines kollektiven Willens spielen. Aber auch wenn Scheler unbestreitbar das, was er „Demokratismus“ nennt, mit einer Rhetorik ablehnt, die aus heutiger Sicht einem elitären Konservatismus zu entstammen scheint, bedeutet dies nicht, dass er ein Feind der Demokratie ist. Trotz seiner antiliberalen Tendenzen hat Scheler die Republik akzeptiert, aber wie bei vielen Vernunftrepublikanern war das Engagement für die Republik von ernsten Vorbehalten gegen die Massendemokratie begleitet. Bei Scheler findet man also nicht die klare Stellungnahme für die Institutionen der Republik und für den Parlamentarismus, die man zum Beispiel bei Ernst Troeltsch feststellen kann. Am Anfang sah Scheler die Weimarer Republik wohl als eine Übergangsform, die nur so lange dauern sollte, bis neue, aus der Jugend hervorgegangene Eliten entstehen würden. Am Ende seines Lebens (er starb 1928) ist sein Engagement für die Republik deutlicher und entschiedener.
2.
Kritik am Machtstaat und am Nationalismus
Trotz der fundamentalen Liberalismuskritik geht es Scheler nicht darum, den Staat als Machtstaat zu idealisieren. Die Tatsache, dass der Staat an vitale Werte gebunden ist, stellt auch seine Grenze dar, da vitale Werte eben nicht die höchsten Werte sind (es sind die geistigen und religiösen Werte). Als Nationalstaat hat der Staat jedoch
9 Ebd., S. 139. 10 Vgl. Scheler: Der Genius des Krieges, Anm. 6, S. 238. 11 Vgl. Scheler, Max: Recht, Staat und Gesellschaft [1917], in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften, Anm. 6, S. 571–583, hier S. 583.
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auch eine Verbindung zu geistigen Werten, da die Nation ein Ethos ist, also eine einzigartige Anordnung von Werten unter der Herrschaft eines geistigen Prinzips. Der Staat ist, wie bereits erwähnt, Ausdruck eines Willens, und ein grundlegender Punkt in Schelers Philosophie ist, dass der Wille keinen Einfluss auf die höchsten Werte hat. Die Nation als Ethos ist daher nicht unmittelbar ein politischer Akteur. Scheler ist in dieser Hinsicht (und trotz seines kulturellen Nationalismus in Genius des Krieges) im Prinzip auch ein Kritiker des politischen Nationalismus und des Imperialismus. Er ist zum Beispiel der Ansicht, dass die deutsche Demokratie weniger von der „Utopie des reinen Nationalstaates“ schwärmte als die französische, russische oder italienische Demokratie.12 Es geht also nicht darum, eine nationale Machtpolitik zu betreiben, zumal der staatliche Wille von vornherein durch eine konstitutive Solidarität zwischen den Nationen begrenzt ist, denn die verschiedenen Ethosformen bieten alle eine legitime Perspektive auf den Kosmos der Werte und stehen in einem ursprünglichen Solidaritätsverhältnis. Diese Solidarität der Nationen geht mit einer Solidarität innerhalb jeder Nation einher. Als Solidarität des Volkes hat sie zwar eine vitale Dimension, aber diese vitale Gemeinschaft ist nur eine erste Erfahrung von Solidarität, die der geistigen Solidarität der ganzen Menschheit vom Standpunkt der Werte unterlegen ist. Außerdem wird das Volk von Scheler nicht als eine einheitliche Substanz gesehen, sondern als eine Verbindung von verschiedenen Gemeinschaften. Die individuelle Person, die am Kreuzpunkt dieser Gemeinschaften steht, löst sich im Volk nicht auf. In dieser Hinsicht geht Scheler als Phänomenologe in eine andere Richtung als ein Autor wie Othmar Spann, auch wenn er sich wie dieser auf das mittelalterliche Zunftmodell und die ihm zugrunde liegende Vision der Gesellschaft beruft. Für Scheler ist die Idee der Korporation vor allem ein Orientierungspunkt, ein Instrument, um eine solidarische Alternative zum Liberalismus und seiner rein vertraglichen Sicht der gesellschaftlichen Beziehungen zu denken, aber sie kann nicht als solche übernommen werden. Diese Idee der Korporation, die im 20. Jahrhundert wiederbelebt wurde und an die Scheler teilweise anknüpft, befindet sich in einer Art ideologischer Grauzone. Sie hat sicher zu einer autoritären Interpretation geführt, wie es im Faschismus und im Vichy-Regime der Fall war, aber es gibt auch eine andere Lesart dieses Konzepts, die in Richtung einer Aufwertung des Pluralismus und der sozialen Dynamik gegen den zentralisierten Staat geht und in der Tradition von Proudhon steht. Eine solche Lesart findet sich bei dem französischen Soziologen Georges Gurvitch, der Scheler in Berlin kennengelernt hatte und der in der Zwischenkriegszeit eine pluralistische Rechtstheorie entwickelte, indem er
12 Scheler, Max: Der Geist und die ideellen Grundlagen der Demokratien der großen Nationen [1916], in: Ders.: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre (Gesammelte Werke 6). Hg. von Manfred S. Frings, dritte, durchges. Aufl. Bonn 1986, S. 158–186, hier S. 185.
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für die Bildung eines sozialen Rechts neben dem staatlichen Recht plädierte.13 Für Gurvitch war Schelers Denken noch allzu hierarchisch und statisch, obwohl es eine wichtige Quelle für seinen sozialen Pluralismus war. Diese Aufwertung der sozialen Dynamik findet sich auch bei personalistischen Autoren in Frankreich wie Emmanuel Mounier, der Schelers Werk durch die Vermittlung von Paul Ludwig Landsberg kennengelernt hatte. Diese Vorstellung eines sozialen Pluralismus, der den Einfluss des Staates begrenzt, verbindet Scheler mit der liberalen Tradition. Es ist aber klar, dass dieser antistaatliche Pluralismus bei ihm einen christlichen Hintergrund hat und sich mit der Idee eines einheitlichen geistigen Horizonts der Gesellschaft verbindet. Diese geistige Einheit ist jedoch etwas anderes als die völkisch homogene Gemeinschaft der konservativen Denker. Durch die Aufwertung solidarischer Bindungen zwischen Personen geht es Scheler vielmehr darum, die Antithese zwischen ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘ zu überwinden. Die höchste soziale Form ist die ‚Gesamtperson‘, für die die Kirche das Modell ist und die Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander kombiniert.
3.
Vergeistigung des Liberalismus
Um zu verdeutlichen, dass seine Auffassung der Gesellschaft eine Alternative zum angelsächsischen Liberalismus darstellte, beanspruchte Scheler am Ende des Ersten Weltkriegs den Begriff ‚Sozialismus‘ für sich, der in den späten 1910er Jahren in Mode war, selbst innerhalb der Zentrumspartei.14 Dieser Sozialismus wird aber eindeutig als eine Alternative zum Staatssozialismus dargestellt. Die Sozialpolitik ist nicht das Ziel an sich: Sie wird dadurch begründet, dass es keine Entfaltung der Person ohne die Entwicklung eines materiellen Wohlstands geben kann, denn dieser Wohlstand setzt Zeit und Verfügbarkeit, um sich geistigen Werten zu widmen. Eine Funktion des Staates ist es also, auf diesen materiellen Wohlstand hinzuarbeiten, der an sich kein Wert ist, sondern die Voraussetzung für höhere Werte. Allerdings reicht die Sozialpolitik, auch wenn sie notwendig ist, nicht aus, wenn es keine geistige Reform gibt. Staatliches Handeln ist kein Ziel und ist höheren Werten untergeordnet. Diese Werte verkörpern sich in der individuellen Person, die höher steht als der Staat. In dieser Hinsicht ist Schelers Denken auch eine Theorie der Grenzen der Wirksamkeit des Staates und ein Plädoyer für die Grenzen der Gemeinschaft.
13 Vgl. Gurvitch, Georges: L’expérience juridique et la philosophie pluraliste du droit, Paris 1935. 14 Dazu: Morsey, Rudolf: Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923, Düsseldorf 1966, S. 131.
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Insgesamt kann also Schelers Kritik am Liberalismus als ein Versuch gedeutet werden, den Liberalismus zu vergeistigen und durch eine solidarische Dimension zu ergänzen: Das liberale Individuum wird so zur ‚Person‘, die einen Wert an sich hat, und die Konkurrenz wird durch das Prinzip der Solidarität ersetzt. Die Idee einer Solidarität der Personen ist nicht als Leugnung ihrer Singularität zu verstehen, und es bleibt für Scheler eine Leistung der modernen Gesellschaft, einen Rahmen geschaffen zu haben, in dem sich diese Singularität ausdrücken kann. Auf jeden Fall steht fest, dass diese Kritik am Liberalismus eine ganz andere ist als diejenige, die man im autoritären völkischen Denken findet.
4.
Feindbild Asien: Die Europa-Idee als Antwort auf die Globalisierung
In all diesen sozialen und politischen Betrachtungen spielt die europäische Dimension eine wichtige Rolle im Hintergrund, denn diese Alternative zum Liberalismus, die Scheler am Ende des Krieges entwirft, ist aus seiner Sicht notwendigerweise ein europäisches Projekt. Schon im Aufsatz über Die Zukunft des Kapitalismus aus dem Jahr 1914 ist von „einem neuen edleren Europa“ die Rede.15 Paradoxerweise ist diese Hinwendung zu Europa zum Teil eine Konsequenz des Krieges, der die Perspektive einer globalen Welt eröffnet, weil er ein „Gesamterlebnis“ der Menschheit ist.16 Ein ganzes Kapitel von Genius des Krieges mit dem Titel „Die geistige Einheit Europas und ihre politische Forderung“ ist dieser Europafrage gewidmet. Im Jahr 1915 veröffentlichte Scheler in der Zeitschrift Die weißen Blätter einen Text mit dem Titel „Europa und der Krieg“.17 1917 kehrte er zu diesem Thema zurück, als er in Wien einen Vortrag hielt, der 1918 unter dem Titel „Vom kulturellen Wiederaufbau Europas“ erschien.18 Natürlich ist die Rede von Europa auch ein Aspekt der intellektuellen Legitimation des deutschen Krieges. In den ‚Ideen von 1914‘ wird immer wieder gern auf beiden Seiten behauptet, dass man für Europa kämpft, aber auf der deutschen Seite ist es oft ein Europa (oder ein Mitteleuropa) unter deutscher Herrschaft. In Schelers Feder finden sich einige Motive dieses Diskurses, wie z. B. die Vorstellung, dass Deutschland ein Land der Mitte zwischen West und
15 Scheler, Max: Die Zukunft des Kapitalismus [1914], in: Ders.: Vom Umsturz der Werte, Anm. 1, S. 382–395, hier S. 394. 16 Dazu: Scheler, Max: Der Krieg als Gesamterlebnis, in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften, Anm. 6, S. 267‒282. 17 Scheler, Max: Europa und der Krieg [1915], in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften, Anm. 6, S. 251‒266. 18 Scheler, Max: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas [1917], in: Ders.: Vom Ewigen im Menschen (Gesammelte Werke 5). Hg. von Manfred S. Frings, sechste, durchges. und überarb. Aufl. Bonn 2000, S. 443‒447.
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Ost sei. Allerdings wird Scheler wie etwa Georg Simmel sehr schnell bewusst, dass der Krieg einen Rückschlag für die europäische Zivilisation darstellt: Was so der Krieg ganz allgemein gezeigt hat, das ist zunächst ein ganz unabsehbarer Rückschritt des gesamteuropäischen Ethos. Jetzt erst erwies es sich vor aller Welt, was es bedeutet, daß Europa keine allanerkannte übernationale moralisch religiöse Autorität mehr besitzt, die ohne Gewalt allein durch das Gewicht ihrer inneren Würde Gehör besäße.19
Bereits 1915 war Scheler der Ansicht, dass man es mit einem europäischen Bürgerkrieg zu tun hatte, der „dem guten Europäer“ den „schmerzlichsten Anblick“ biete.20 Was für ihn 1915 auf dem Spiel stand, war tatsächlich die notwendige Bewusstwerdung der Existenz einer europäischen Identität, und zu dieser Bewusstwerdung ruft Scheler auf: „Der ‚gute Europäer‘ muß in diesem Kriege als ein neuer Geistestypus des Menschen, den er längst faktisch darstellt, auch zum Bewusstsein seiner Einheit kommen“.21 Der Prozess der Globalisierung, den der Krieg radikalisiert hat, macht diese Bewusstwerdung absolut notwendig. Denn der Krieg von 1914 ist für Scheler das erste wirklich globale Ereignis, da er die verschiedenen Kulturen der Welt miteinander in Kontakt bringt. Und innerhalb dieser neuen Weltkonstellation entsteht nun ein grundlegender Antagonismus zwischen Europa und Asien (d. h. Japan, China und der muslimischen Welt). Russland, das nur oberflächlich europäisiert wurde, gehört für Scheler damals eindeutig zu Asien. Wie in vielen Europa-Diskursen ist bei Scheler die Bestimmung eines globalen Gegenspielers eine Voraussetzung für die Definition der europäischen Identität. Zu dieser Zeit neigt Scheler noch zu der Ansicht, dass der Antagonismus mit Asien ein Konflikt zwischen zwei unversöhnlichen Formen der Rationalität oder zwei Formen der Aktualisierung des Geistes ist. In Genius des Krieges hält er zwar an der Idee einer geistigen Einheit der Menschheit fest, betont aber die Unmöglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses der europäischen und der asiatischen Geistesform gegen eine universalistische Tradition, die der Einheit der menschlichen Vernunft vertraut. So sind die „Mongolen“ laut Scheler nicht in der Lage, zu einem tieferen Verständnis des Christentums zu gelangen.22
19 20 21 22
Scheler: Europa und der Krieg, Anm. 17, S. 263. Scheler: Der Genius des Krieges, Anm. 6, S. 195. Ebd., S. 254. Vgl. ebd., S. 164.
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5.
Europa als Ethos: geistige Einheit als Alternative zur Mechanisierung und Klassensolidarität
Gegen den Universalismus mobilisiert Scheler das von William James geprägte Konzept des „Multiversums“. Er erklärt, dass diese Konfrontation mit einer radikalen Andersartigkeit eben die Europäer dazu bringen muss, sich dessen bewusst zu werden, was sie zusammenhält:23 Je mehr wir aber diese ferne Kälte anderer „Welten“ geahnt haben, desto wärmer, desto heimlicher und näher, desto vertrauter umspielt uns aber auch das Fluidum Europas im Sinne der europäischen Welt als ein einziger gemeinsamer Daseins-, Lebens- und Wirkraum.24
Aber was die Europäer zusammenhält, ist nicht ein gemeinsames, klar umgrenztes Territorium oder eine Rasse, sondern ein Ethos, eine bestimmte Anordnung von Werten: Meine Antwort auf die Frage, welcher Art Einheit denn dann das ‚Europa‘ ist, oder der ‚Europäer‘, von dem ich rede, ist daher diese: der Kern dieser Einheit ist eine bestimmte Geistesstruktur, z. B. eine bestimmte Form des Ethos, eine bestimmte Art des Weltanschauens und der tätigen Weltformung.25
Ein Ethos ist für Scheler also immer geistiger Natur. Es gibt ein europäisches Ethos, und es bildet die Grundlage einer europäischen Solidarität. Diese Solidarität, die auf gemeinsamen Werten beruht, darf nicht mit der Entwicklung der Kommunikation und der Technik verwechselt werden, die den Anschein erweckt, die Völker miteinander zu verbinden, denn dieses äußerliche Zusammenwachsen ist eine bloß „formale Rationalisierung“ und „Mechanisierung“.26 Die Gefahr der Verwirrung ist umso größer, als diese rein wirtschaftliche und technische Globalisierung gern als ‚Europäisierung‘ bezeichnet wird. Diese Form der Rationalität wird in Wirklichkeit universell geteilt, und alle Völker erweisen sich als fähig, sie sich anzueignen. Scheler bemerkt dazu: „Aber Europäität ist nicht ‚kapitalistischer Geist‘, Kapitalisierung, Technizierung, wie sie seit langem die Welt durcheilten und auch weiter durcheilen sollen, sind nicht Europäisierung“.27 Im Gegenteil, Europa kann nur in der Kritik
23 24 25 26 27
Vgl. ebd., S. 173. Ebd. Ebd., S. 182. Scheler: Europa und der Krieg, Anm. 17, S. 255. Ebd.
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gegenüber dieser technischen und kapitalistischen Dynamik aufgebaut werden. Es geht also nicht darum, das Vorkriegseuropa, das in gewisser Weise bereits globalisiert und vernetzt war, wieder aufzubauen, als ob die europäische Einigung ein Prozess wäre, der durch den Krieg einfach unterbrochen wurde. Europa ist zwar auch ein politisches und wirtschaftliches Projekt, das zu einer engen Zusammenarbeit der europäischen Länder führen soll, aber diese Zusammenarbeit erhält ihren Sinn nur in Bezug auf ein kulturelles und ethisches Ziel. Als politische Konstruktion kann Europa nicht nur auf einer materiellen Interessengemeinschaft basieren, denn Europa ist eine Lebens- und sogar eine Liebesgemeinschaft.28 Dies hatte Scheler zufolge bereits Nietzsche am Ende des 19. Jahrhunderts verstanden. Es geht hier nicht darum, die Notwendigkeit von Verträgen und Kooperationen wirtschaftlicher Art zu leugnen, aber Verträge sind nur dann sinnvoll, wenn sie auf einer solidarischen Bindung beruhen: Ein Vertrag, der mehr ist als Termingeschäft, bedarf einer Gemeinschaft zu seiner Basis, bedarf der Imponderabilien der Sympathie, der Loyalität, der Treue, eines geistigen Zusammenhangsgefühls zu seinem Medium. Egoität, Vertrag und rationelle Organisation genügen nirgends, Gemeinschaft zu begründen. Das ist die große Lehre dieses Krieges.29
Die kulturelle und die rechtliche Dimension sind also für Scheler miteinander verwoben, und als solche haben Recht und Wirtschaft ihren Platz (genau wie die Sozialpolitik auch notwendig für die Entwicklung von höheren Werten ist). Die Wirtschaft kann aber nicht die Grundlage der europäischen Solidarität sein. Auch wenn Scheler gelegentlich den Begriff des Sozialismus für sich beansprucht, ist diese Solidarität auch nicht die des von der Sozialdemokratie propagierten Internationalismus, der auf Klassensolidarität beruht. Das europäische Ethos, wie Scheler es zur Zeit des Ersten Weltkriegs versteht, ist in Wirklichkeit das personalistische Ethos als Grundlage einer solidarischen Gesellschaft.
6.
Reue und Rückbesinnung als Impulse zur Bewusstwerdung Europas
Die Einheit Europas ist also geistig-kultureller Natur. Wie kann Europa zu einem Bewusstsein dieser Einheit kommen? Zunächst durch Selbstkritik. 1917 war Scheler der Ansicht, dass diese Selbstkritik auch durch die Anerkennung einer kollektiven
28 Vgl. Scheler: Der Genius des Krieges, Anm. 6, S. 160. 29 Scheler: Europa und der Krieg, Anm. 17, S. 265.
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Verantwortung für den Krieg und durch eine kollektive Reue und einen kollektiven Willen zum Wiederaufbau erfolgen müsse.30 Doch über die Reue hinaus müssen sich die Europäer fragen, was aus Europa vor 1914 geworden ist. Dies erfordert eine Rückbesinnung der Europäer auf ihre eigene Geschichte, indem sie zu den kulturellen und sogar religiösen Quellen Europas zurückkehren, die von der Entwicklung, die seit dem Ende des Mittelalters zum Kapitalismus geführt hat, überlagert wurden. Um sich gegen Asien zu behaupten, müsse man den Prozess, der von der Religion zur ‚Kultur‘ und dann von der Kultur zur ‚Zivilisation‘ geführt hat, umkehren.31 1917 rückte Scheler drei Komponenten des europäischen Kulturerbes in den Vordergrund: die Antike, das Christentum in seiner augustinischen Fassung und schließlich die Entwicklung von Kunst, Literatur, Wissenschaft und Technik in den verschiedenen Nationen und Völkern, die Europa bilden und sich seit der Renaissance differenziert haben.32 Die Wiederbelebung dieses Erbes erscheint als ein notwendiges Korrektiv zum Positivismus und Nationalismus, jenen beiden Kräften, die der geistigen Einigung Europas im Wege stehen. Trotz dieser Aufwertung der Vergangenheit lehnt Scheler in seinen Texten zu Europa den Kulturnationalismus ab. Er kritisiert sowohl den Pangermanismus als auch die Idee einer lateinischen Renaissance, die in Frankreich kursierte. Aber auch moderate Formen des kulturellen Nationalismus scheinen ihm diesem europäischen Bewusstsein schädlich zu sein. Er wendet sich auch gegen Versuche, die Humboldt’sche Idee der Bildung zu aktualisieren, und setzt sich vom Neuidealismus von Eduard Spranger ab. Diese Idee der Bildung vernachlässigt nämlich den Beitrag des Christentums und stellt einen ästhetischen Individualismus dar, der wenig offen für Solidarität ist. Sie ist darüber hinaus typisch für eine deutsche Auffassung von Innerlichkeit, die zum Quietismus führt. Er stimmt jedoch mit Ernst Troeltsch darin überein, dem Mittelalter, einer Epoche, die im deutschen kulturellen Nationalismus eine große Rolle spielt, einen zentralen Stellenwert einzuräumen. Doch dieses Mittelalter ist für ihn ebenso französisch wie deutsch und sollte als gemeinsamer Nährboden für Europa betrachtet werden. Scheler kritisiert hier die affirmative Sonderwegstheorie, durch die der Krieg immer wieder legitimiert wurde. Der Erste Weltkrieg war in der Tat eine Zeit, in der die Frage einer Sonderstellung von Deutschland in Europa heftig debattiert wurde. Es ist dabei nicht so leicht, zwischen affirmativer und kritischer Sonderwegstheorie zu unterscheiden, denn bei Scheler wie bei anderen Autoren ging es darum, ein ‚schlechtes‘ Deutschland zu kritisieren, um ein ‚gutes‘ Deutschland aufzuwerten. Für Scheler ist das schlechte Deutschland damals eindeutig das preußische Deutschland. Seiner Meinung nach muss mit
30 Vgl. Scheler: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas, Anm. 18, S. 416. 31 Vgl. Scheler: Europa und der Krieg, Anm. 17, S. 266. 32 Siehe hierzu Scheler: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas, Anm. 18, S. 422.
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der Teleologie einer apologetischen Geschichtsschreibung gebrochen werden, die das Reich Bismarcks zum Höhepunkt der deutschen Geschichte gemacht hat. Zu diesem nationalistischen Narrativ gehört auch der Bezug auf die Reformation, die Scheler kritisch bewertet, was ihre politische Wirkung betrifft. Die Reformation habe die Entwicklung zur Demokratie hin verhindert, weil Luther die Freiheit nur als innere Freiheit definiert habe und eine radikale Trennung zwischen Moral und Staat begründet habe: Die Verbindung einer überspitzten mystischen Nur-innerlichkeit mit fast machiavellistischen Machtlehren betreffend Staat, Gesetz, die schließlich die Kirche dem Staate auslieferte, die von Luther ausgegangen und noch in Bismarcks Gestalt nachlebt, dieser gefährliche deutsche Dualismus zwischen Gesinnung und Tat, Glaube und Werk, nur „innerer“ Freiheit und politischem Knechts- und Gewaltsinn, ist eben das, was wir energisch abzuschütteln haben – und nicht minder energisch den finsteren Fanatismus und die Verengung der katholischen Kirche durch die Gegenreformation.33
Für Scheler (und in diesem Punkt stimmt er mit Friedrich Meinecke und mit anderen Vernunftrepublikanern überein) ist die Entwicklung zur Demokratie eine soziologische Tatsache, eine „universale geschichtliche Tendenz“.34 Scheler kritisiert auch eine andere schädliche Tendenz, die seiner Meinung nach mit dem SonderwegDiskurs zusammenhängt, nämlich die Nationalisierung der Philosophie und die Ernennung Kants zum deutschen Nationalphilosophen. Für Scheler steht eine Philosophie der offenen Hand, die dem Kantianismus entgegengesetzt ist, auf der Tagesordnung: Wir bedürfen einer Philosophie, die nicht wie die kantische einer geschlossenen Faust, sondern einer offenen Hand gleicht […]. Nur im Geiste Leibnizens, nicht im Geiste Kants ist es möglich, daß die europäische Philosophie wieder eine fruchtbare Symphonie wird.35
Diese neue Philosophie wird auch aus Frankreich kommen: Bezeichnenderweise verwendet Scheler an anderer Stelle diesen Ausdruck der „offenen Hand“ in Bezug auf Bergson.36 Aber es gibt natürlich auch in Deutschland positive Denktraditionen. Das Bewusstsein eines europäischen Ethos ist aus Schelers Sicht in einer bestimmten
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Ebd., S. 433. Ebd., S. 436. Ebd., S. 434 f. Vgl. Scheler, Max: Versuche einer Philosophie des Lebens, in: Ders.: Vom Umsturz der Werte, Anm. 1, S. 311–339, hier S. 325.
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kosmopolitischen Tradition zu finden, die die Nation nicht als Machtzentrum, sondern als Kultur betrachtet. In dieser Tradition verbindet sich eine Form der kosmopolitischen Perspektive mit der Achtung vor den einzelnen Nationen: Kosmopolitismus und kultureller Nationalgedanke in Hinsicht auf die höhere Geisteskultur sind also nicht Gegensätze, ja nicht einmal zwei verschiedene Wahrheiten, sondern sind nur Seiten einer einzigen Wahrheit. Und diese eine Wahrheit steht im Doppelgegensatz zum Internationalismus und zum kulturellen „Nationalismus“.37
7.
Europa als solidarische Kooperation der Nationen
Ab 1917 stellt man bei Scheler in dieser Hinsicht eine Entwicklung fest, auch wenn die Gesamtrichtung noch diejenige von Genius des Krieges ist. 1915 räumte Scheler Deutschland noch eine zentrale Rolle ein: Das Europa, das er sich vorstellte, war im Grunde ein Europa unter deutscher Herrschaft. Ab 1917 entwickelt Scheler eine Vision von Europa als einer solidarischen und kooperativen Ordnung der Nationen. Genauso wie Scheler auf der Ebene der Nation die Idee vertritt, dass das Volk eine Pluralität ist und sich aus mehreren Gemeinschaften zusammensetzt, so sieht er die künftige europäische Ordnung als eine föderale, dezentralisierte Ordnung, die vom Subsidiaritätsprinzip bestimmt wird: Es muß endlich – ganz allgemein gesagt – eine Zerlegung der Aufgaben und Zwecke, die bisher den ungeheuren in diesem Kriege gegeneinander stehenden staatlichen Machtriesen zufielen, auf eine Mehrheit von Körperschaften nichtstaatlicher (teils unterstaatlicher, teils überstaatlicher und zwischenstaatlicher) Art erfolgen; und es muß überall (England, Rußland, Frankreich, Italien, Mittelmächte) gleichzeitig eine gewisse Lösung jener anormal zentralisierten Macht-, Kultur- und Wirtschaftsriesenzentren, eine gewisse Auflockerung, Dezentralisation in ihre mannigfach gegliederten Untereinheiten (Nationen, Völker, Stämme, Gliedstaaten, Kolonien) eintreten, die so geartet sein muß, daß sie den zentralen Spitzen im Wesentlichen nur technisch-geschäftliche, also höchst nüchterne organisatorische Aufgaben überläßt, ihre Machtromantik beseitigt und ihnen den kulturgestaltenden Anspruch dauernd abnimmt. Es sei mir erlaubt, das Gemeinte als Tendenz zu gesteigertem „Föderalismus“ und „national-kultureller Selbstverwaltung“ zu bezeichnen.38
37 Scheler: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas, Anm. 18, S. 420. 38 Ebd., S. 409 f.
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Die supra-nationale Instanz kann also nicht mehr als eine technisch-organisatorische Rolle spielen, und Scheler warnt erneut vor einer Überschätzung des Staates. Es gibt in der Gesellschaft, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, immer eine Vielzahl von Gemeinschaften. Und als Kommentar zu Eduard Sprangers Schriften über die Notwendigkeit einer neuen Bildung betont er, dass Bildung eben eine Bildung zur Pluralität sein muss: Das Ziel dieser neuen Bildung sollte nicht die Integration in den Staat sein, sondern in eine Vielzahl von Gemeinschaften, die nebeneinander existieren, jeweils ihr eigenes Recht und ihre eigenen Ziele haben: Vor allem aber muß – wie ich schon andeutete – der Staatssinn nur als besondere Ausgestaltung eines gesteigerten Gemeinsinns überhaupt erstrebt werden. Nur wenn dem Zögling ein Netz der soziologischen Grundbegriffe unabhängig von der besonderen historischen Abart der menschlichen Gruppen zuvor überliefert wird – ein Netz, das alle Wesensformen menschlicher Gemeinschaft umfaßt und den Staat nur als eine dieser Formen zur Darstellung bringt, also auch z. B. Familie, Gens, Stamm, Volk, Nation, Nationalität, Kirche, Sekte, Schule, Gesellschaft, Partei, Klasse, Stand usw., vermag der Zögling das je in der Geschichte vorhandene besondere Miteinander und Zusammenwirken der bestehenden Gemeinschaften klar zu sehen und zu begreifen. Nicht nur Einordnungswillen in den Staat, sondern ein differenzierter Einordnungswille in eine Mehrheit gleichzeitig bestehender Gemeinschaften je eigenen Rechtes und eigener Aufgaben und Ziele – und damit auch die stets vorhandene Notwendigkeit des Verzichtes und Opfers jeder dieser Gemeinschaften zugunsten des Bestandes und der rechten Entfaltung der übrigen – muß ein Ziel der neuen Erziehung sein.39
Diese Pluralität von Europa ist aber nicht statisch: Die verschiedenen Nationen müssen miteinander in Kontakt treten und sich ergänzen. Diese Durchdringung kann aber nicht nur auf der Grundlage von gemeinsamen Interessen erfolgen.
8.
Europa als Ausgleich
Aus alledem wird klar, dass die Europa-Idee bei Scheler also in der Konfrontation mit als negativ betrachteten Tendenzen der europäischen Geschichte und mit einem anti-europäischen Gegenspieler (Russland) entsteht. Diese Konfrontation soll aber nicht unbedingt die Form eines Krieges oder einer radikalen Abgrenzung annehmen. Im Genius des Krieges ist die Perspektive eines Kriegs der Zivilisationen noch vorherrschend. In einer für seine Kriegstexte typischen dramatisierenden Rhetorik erklärt Scheler, dass der Krieg über das Schicksal Europas, über sein
39 Ebd., S. 426.
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Überleben oder seinen Verfall entscheiden werde. Es sei zwingend notwendig, dass Europa sich unter der Führung Deutschlands als Mittelmacht vom Kapitalismus befreie, um besser auf die asiatische Herausforderung reagieren zu können: Hier das erste Gesicht das furchtbare Gesicht, das von den drei Reichen: Mongolenreich, Russenreich, Amerika! Es rückt mir näher und näher, wenn ich denke, die Stimmen der Englandfreunde siegen. Aber es entfernt sich wieder – es flieht wie die Schatten eines schweren Traumes, – es nähert sich das zweite Gesicht, das Gesichte eines solidarischen Kontinentaleuropas unter Deutschlands militärischer Führung gegen den Osten […].40
Bemerkenswert ist aber, dass Scheler selbst in dieser Phase nur von militärischer Führung Deutschlands spricht und gleich nach diesem Satz für „die sinnvolle und so notwendige Ergänzung des germanischen und romanischen Wesens und Geistes“ plädiert.41 1917 meint er aber, dass Europa auch von Asien lernen kann. Das europäische Ethos habe sich in den letzten Jahrhunderten von Ost nach West entwickelt, Europa müsse jetzt aber denselben Weg rückwärts gehen und sich dabei von Asien inspirieren lassen: Aber die gemeinsame Aufgabe des europäischen Kulturaufbaues verlangt in der besonderen Weltsituation, in der wir uns befinden, noch ein anderes gemeinsames Ziel – ein Ziel, dem unsere neuen Erkenntnisse entgegenkommen: Ich meine eine gewisse Umkehr unseres gesamten europäischen Bildungswesens von der vorzüglichen Richtung, die es bisher hatte, der ostwestlichen, zur westöstlichen. Darauf drängt meines Erachtens alles hin. Einmal: Es bedarf überhaupt das hyperaktivistische, hyperbetriebsame Europa – ich möchte sagen einer gewissen Liegekur in den Tiefen, in dem Ewigkeitssinn, in der Ruhe und Würde des asiatischen Geistes.42
Aber 1917 ist Scheler der Ansicht, dass der Antagonismus mit Asien zu einem Ausgleich führen kann und muss. Aus dieser Konfrontation kann ein neues dynamisches Gleichgewicht entstehen, bei dem die Unterschiede erhalten bleiben, aber eine Korrektur erfahren. Dieser Begriff des Ausgleichs wird dann bei Scheler zu einer zentralen Kategorie: Er bezieht sich zunächst auf das Verhältnis zwischen Asien und Europa und wird dann auf andere Bereiche erweitert. Dieser Ausgleich ist z. B. auch ein Ausgleich zwischen sozialisierenden und liberalen Tendenzen in den europäischen Nationen:
40 Scheler: Der Genius des Krieges, Anm. 6, S. 216. 41 Ebd. 42 Scheler: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas, Anm. 18, S. 429.
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Der Weltkrieg führt im kleinen wie im großen zu neuen Ausgleichen, zu Ausgleichen der allzu großen Kulturniveaudifferenzen – und dies vor allem qualitativ. Wie Deutschland demokratischer in ihm wird, die englisch redenden Länder zentralistischer und staatssozialistischer, so muß auch in weit gewaltigerer Größenordnung ein gewisser Ausgleich des spezifisch Europäischen und Asiatischen seine Folge sein.43
Scheler spricht nicht mehr von einer deutschen Vormachtstellung in Europa, aber er meint, dass Deutschland dazu berufen ist, dieses für Europa notwendige Gleichgewicht herzustellen. Deutschland ist von Natur aus offen gegenüber dem Ausland und strebt nach Ergänzung, so dass der Pangermanismus der deutschen Kultur zutiefst fremd sei, auch wenn dieses Element der Offenheit durch den nationalistischen Diskurs des wilhelminischen Deutschlands verdeckt wurde: Was wäre Luther ohne Augustin und Paulus? Die deutsche Sprache hat einen organischen Bedarf nach Ergänzung durch Fremdwörter, d. h. einen Bedarf, der nicht in den zufälligen historischen Schicksalen des deutschen Volkes, sondern in ihr selbst und ihren Fortbildungsgesetzen wurzelt.44
Da das wahre Deutschland nach Europa hin offen ist, steht Deutschland beim Ausgleich in der ersten Reihe, auch wenn es keine Machtposition beansprucht. Insofern der Ausgleich eine spannungsvolle, aber friedliche Konfrontation mit Asien impliziert, stellt Scheler Europa auch in einen kosmopolitischen Horizont, wobei er den juristischen Kosmopolitismus, den er Kant zuschreibt, kritisiert. Der Kosmopolitismus, um den es ihm geht, kann nicht mehr der liberal-juristische Kosmopolitismus sein. Politisch gesehen soll dieser Ausgleich die Form eines dritten Weges zwischen sozialistischen und liberalen Tendenzen annehmen. Bereits 1917 sieht Scheler das Europa und Deutschland der Zukunft als eine Kombination aus Rom und Stockholm, d. h. aus Katholizismus und einer Form des Sozialismus, da es sich hierbei um zwei geistige Kräfte handelt, die sich gegen die Fortsetzung des Krieges (der einem Selbstmord Europas gleichkomme) aussprechen und eine europäische Vision haben.45 Aus vielen Gründen könnte man meinen, dass diese beiden Kräfte unvereinbar sind, aber sie teilen laut Scheler das Verdienst, sich dem entgegenzustellen, was er „das anarchische Wesen des bürgerlichen Liberalismus“ nennt.46 Die Sozialdemokratie nach schwedischem Vorbild sorgt sich um den Wohlstand der
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Ebd., S. 429 f. Vgl. ebd., S. 431 f. Ebd., S. 438. Ebd., S. 441.
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Arbeiter (insbesondere durch die Begrenzung der Arbeitszeit) und verschafft ihnen Zeit und Verfügbarkeit für eine „geistige Existenz“.47 Scheler erhofft sich von dieser Synthese, dass die Sozialdemokratie auf ihre Idealisierung des Staates verzichten wird, und die Kirche ihr Bündnis mit den reaktionären feudalen Kräften aufgeben wird. Damit legt Scheler hier die Grundlagen für den Personalismus der Zwischenkriegszeit, der in Frankreich vom Kreis um Emmanuel Mounier getragen wurde.48 Der Grundgedanke, den Europa verkörpert, ist letztlich dieser vergeistigte Liberalismus, der aus Schelers Liberalismuskritik hervorgeht: Das Wirtschaftssubjekt darf nicht das Alpha und Omega der Politik sein. Es muss selbst dem politischen Subjekt untergeordnet sein, das wiederum der geistigen Person untergeordnet ist. Viele der hier vorgestellten Elemente bleiben auch für Schelers Spätwerk gültig, wie zum Beispiel die Idee des Ausgleichs und der Selbstkritik Europas, die Idee eines europäischen Föderalismus. Allerdings wird Schelers Denken in der zweiten Hälfte wesentlich dynamischer. Wie wir gesehen haben, ist seine Kritik am Liberalismus Anfang der 1920er Jahre noch in der Vorstellung einer Wertehierarchie verankert. Der Geist ist dem Leben überlegen, und es geht um eine Vergeistigung des Lebens. In seinen späten Schriften betont Scheler die Notwendigkeit einer Durchdringung von Geist und Leben: Der Ausgleich erscheint dann als ein gefährlicher, spannungsvoller und unvermeidlicher Prozess, den es zu begleiten gilt.49 In diesem Zusammenhang wird das europäische Bewusstsein zu einer Identität, die aktiv gebildet werden muss, wie Wolfhart Henckmann feststellt: „Für Scheler ist also das europäische Bewusstsein keine erlebte, intuitive-phänomenologische, geschaute Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Bildungsaufgabe, zu deren Lösung neuartige wissenschaftliche Institutionen und Arbeitsleistungen erforderlich sind“50 (wie zum Beispiel eine europäische Universität).51 Darüber hinaus entwickelt Scheler ab 1922 ein Interesse an (das vorrevolutionäre) Russland als Ort des Widerstands gegen die technische Kultur und ihren Überaktivismus.52 Die hierarchische und statische Dimension seines Denkens, die Georges Gurvitch beklagt hatte,53 tritt etwas zurück. 47 Ebd. 48 Dazu: Keller, Thomas: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse: personalistische Intellektuellendebatten in der Zwischenkriegszeit, München 2001. 49 Vgl. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Ders.: Späte Schriften (Gesammelte Werke 9). Hg. von Manfred S. Frings, Bonn 1995, S. 145‒170. 50 Henckmann, Wolfhart: Schelers Idee von Europa im „Weltalter des Ausgleichs“, in: Zeitschrift für Politik 44/2 (1997), S. 129–148, hier S. 145. 51 Siehe hierzu Scheler, Max: Probleme einer Soziologie des Wissens [1926], in: Die Wissensformen und die Gesellschaft (Gesammelte Werke 8). Hg. von Manfred S. Frings, dritte, durchges. Aufl. Bern/München 1980, S. 15–190, hier S. 190. 52 Dazu: Henckmann: Schelers Idee von Europa, Anm. 50, S. 144. 53 Vgl. Gurvitch, Georges: Les Tendances actuelles de la Philosophie allemande, Paris 1930, S. 139.
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Auffallend ist, dass Scheler zwar den Liberalismus kritisiert, aber nichts mit dem gemein hat, was heute in Europa als Illiberalismus bezeichnet wird: Er ist kein Denker der Souveränität und macht den Begriff des Volkes nicht zu einer zentralen Kategorie seines politischen Denkens. Zwar sucht er nach einer europäischen Identität und verortet diese in einem christlichen Horizont, doch sieht er diese Identität letztendlich eher als ein dynamisches Gleichgewicht, das offen für die außereuropäische Welt ist. Scheler erscheint als einer der Gründer einer personalistischen und solidaristischen Denkrichtung, die eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Entwicklung der europäischen Idee im 20. Jahrhundert gespielt hat, da ihre Vorstellungen bis zu einem gewissen Grad von den christlich-demokratischen Parteien (insbesondere in Frankreich), die für die europäische Konstruktion entscheidend waren, übernommen wurden. Man muss jedoch feststellen, dass dieses solidaristische Projekt für Europa ein Programm geblieben ist und dass sich diese Parteien nach 1950 relativ schnell davon entfernten, nicht zuletzt wegen des Kalten Krieges und der damit verbundenen Verbreitung eines „Cold War Liberalism“. Wenn man die Betrachtungsperspektive erweitert, erscheint die Schelersche Vision von Europa als die katholische oder katholisierende Version eines geistigen oder vergeistigten Liberalismus, der seinen Höhepunkt in den 1920er Jahren erlebte und dessen Echo man bei anderen europäischen Intellektuellen finden kann, wie denjenigen, die sich in den 20er-Jahren in Pontigny trafen, anlässlich der „Décades de Pontigny“, an denen Scheler 1924 teilnahm (1925 setzte Paul Desjardin, der Gründer der Décades, dann das Thema „Wir anderen Europäer“ auf das Programm).54 Aus heutiger Sicht ruft dieser geistige Liberalismus gemischte Gefühle hervor. Man kann sich insbesondere im Falle Schelers fragen, ob diese Fokussierung auf das geistige Ethos nicht dazu führt, dass einige grundlegende Dimensionen der Demokratie letztendlich in den Hintergrund treten (wie die Vorstellung vom Rechtsstaat oder der Gleichheitshorizont, der von der Demokratie immer mitimpliziert wird). Trotz dieser Vorbehalte könnte man – in einer Zeit, in der die Frage der europäischen Kultur in den europäischen Institutionen faktisch eine eher untergeordnete Rolle spielt – zu der Ansicht neigen, dass Europa diese Art von Debatten heute gut gebrauchen könnte.
54 Zu diesem Intellektuellenkreis vgl. Chaubet, François: Paul Desjardin et les décades de Pontigny, Lille 2000.
Bérénice Palaric
Zur Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Max Scheler und Ernst Troeltsch
Auslöser der Überlegungen Ernst Troeltschs und Max Schelers zum „Europäismus“ war die tiefgreifende Krise, die Europa seit Ende des 19. Jahrhunderts durchzog und ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg erreichte. Nachdem er die Pendelbewegung des europäischen Geisteslebens beschrieben hatte, fragte sich der Theologe und Philosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) 1913 angesichts der „mechanistischkapitalistischen Lebensverfassung“1 und der entschieden diesseitigen Orientierung der modernen Welt nach dem weiteren Schicksal Europas und schloss seinen Aufsatz Renaissance und Reformation mit Jacob Burckhardts Frage aus dessen Weltgeschichtlichen Betrachtungen (1905) ab: „Wird der als Erwerbsinn und Machtsinn ausgeprägte Optimismus weiter dauern und wie lange? Oder wird […] eine allgemeine Veränderung der Denkweise wie etwa im dritten und vierten Jahrhundert eintreten?“ Diese von Burckhardt genannten Jahrhunderte sind die Jahrhunderte der Askese.2
Zwei Jahre später hob der Philosoph und Soziologe Max Scheler (1874–1928) in seinem Aufsatz Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg die durch den Weltkonflikt offenbarte Einheit der europäischen Menschheit hervor.3 Und ab 1917 arbeiteten beide Denker an einer Erneuerung der geistigen Grundlagen Europas und versuchten, durch eine Kultursynthese die Krise zu überwinden und die europäischen Nationen zu versöhnen. Ihre Diagnose war nun eindeutig. Nach Scheler „bedarf überhaupt das hyperaktivistische, hyperbetriebsame Europa […] einer gewissen Liegekur“.4 Nach Troeltsch „gilt [es] vor allem, das europäische 1 Troeltsch, Ernst: Renaissance und Reformation (1913), in: Ders.: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hg. von Trutz Rendtorff (Kritische Gesamtausgabe 8), Berlin/New York 2001, S. 323–373, hier S. 369. 2 Ebd., S. 370. Troeltsch zitierte Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1905, S. 209. 3 Vgl. Scheler, Max: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Ders.: Politisch-pädagogische Schriften, hg. mit einem Anhang von Manfred S. Frings (Gesammelte Werke 4), Bern/München 1982, S. 7–250, hier S. 154. 4 Scheler, Max: Vom kulturellen Wiederaufbau Europas, in: Ders.: Vom Ewigen im Menschen, hg. von Maria Scheler (Gesammelte Werke 5), Bonn 4 2000, S. 403–447, hier S. 429.
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Titanentum zu mäßigen zu Ehrfurcht und Demut“,5 und er forderte Selbstkritik und Selbstbesinnung.6 Zu dieser Zeit gehörten Troeltsch und Scheler zur selben intellektuellen Konstellation. Sie lasen und kommentierten sich gegenseitig, teilten viele Anliegen und veröffentlichten ihre Texte in denselben Zeitschriften. Troeltsch setzte sich mit dem Werk des Phänomenologen in einem Unterkapitel des Historismus und seine Probleme (1922)7 auseinander, und Scheler widmete seinem Zeitgenossen nach dessen plötzlichem Tod 1923 den Aufsatz Troeltsch als Soziologe8 und bezog sich zudem immer wieder auf dessen Werk. Ausgehend von dieser gegenseitigen Aufmerksamkeit und unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Entwicklung zwischen dem Kriegsbeginn und den Jahren der Weimarer Republik sollen in diesem Artikel die Konzeptionen des Europäismus untersucht werden, die Scheler, sowohl in seinem Projekt zum „kulturellen Wiederaufbau Europas“9 (1917–1920) als auch in seinem „Kosmopolitismus der Kulturkreise“10 (1924/1927), und Troeltsch, in seinem Projekt des „Aufbau[s] einer europäischen Kulturgeschichte“11 und der Kultursynthese des Europäismus, entworfen haben. Nachdem die Hauptzüge ihrer Krisendiagnose und ihrer Geschichtsphilosophie dargestellt wurden, sollen die Grundrichtungen, die beide dem geistigen Wiederaufbau Europas zur Überwindung der Krise geben wollten, eingehend analysiert werden.12 Da die Frage nach dem Wesen Europas die Frage nach seinen Rändern mit enthält, und angesichts des heutigen Krieges in der
5 Troeltsch, Ernst: Der moderne Atheismus, in: Die Hilfe 1 (1921), S. 136–139, hier S. 138. 6 Troeltsch, Ernst: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (1922), in: Ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hg. von Gangolf Hübinger (Kritische Gesamtausgabe 15), Berlin/New York 2002, S. 477–512, hier S. 507. 7 Troeltsch, Ernst: Der Historismus und seine Probleme, hg. von Friedrich Wilhelm Graf (Kritische Gesamtausgabe 16), Berlin/New York 2008, S. 899–915. 8 Scheler, Max: Ernst Troeltsch als Soziologe, in: Ders.: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, hg. von Maria Scheler (Gesammelte Werke 6), Bonn 2 1986, S. 377–390. 9 Scheler: Wiederaufbau Europas, Anm. 4, S. 402. 10 Scheler, Max: Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Ders.: Die Wissensformen und die Gesellschaft, hg. von Maria Scheler (Gesammelte Werke 8), Bern 1960, S. 15–190, hier S. 136. 11 Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1008. 12 Zu Scheler und Troeltsch vgl. Schloßberger, Matthias: Ernst Troeltsch und Max Scheler. „Kultursynthese des Europäismus“ oder „Weltalter des Ausgleichs“, in: Bermes, Christian (Hg.): Solidarität. Person und soziale Welt, Würzburg 2006, S. 123–134; Harrington, Austin: German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar, Cambridge 2016, S. 183–190 u. 211–227. Zu Europa bei Scheler vgl. Henckmann, Wolfhart: Schelers Idee von Europa im „Weltalter des Ausgleichs“, in: Zeitschrift für Politik. Neue Folge 44/2 (1997), S. 129–148. Zu Europa bei Troeltsch vgl. Harrington, Austin: Ernst Troeltsch’s Concept of Europe, in: European Journal of Social Theory 7/4 (2004), S. 479–498; Paulsen, Adam: Reconstruction or Decline? The Concept of Europe and Its Political Implications in the Works of Ernst Troeltsch and Oswald Spengler, in:
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Ukraine, wird besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie die beiden Autoren die geschichtliche und zukünftige Beziehung zwischen Europa und Russland damals verstanden, zu einer Zeit, als die Spannungen auf dem Balkan und der panslawistische Messianismus die Linien zwischen Orient und Okzident auch zu verschieben schienen.13
1.
Analogien und Divergenzen: Europa in der Weltgeschichte
Die europäischen Projekte Troeltschs und Schelers sind Teil einer umfassenderen Reflexion über die Moderne und weisen starke Analogien auf. Scheler kritisierte zwar den Liberalismus und den Kapitalismus14 viel systematischer als Troeltsch, welcher grundsätzlich liberal blieb und den Kapitalismus als unwiderrufbare Grundlage der Gegenwart ansah, der nur zu einer produktiven Kraft organisiert und nach Möglichkeit ethisch vertieft werden sollte.15 Troeltsch setzte sich seinerseits intensiver mit der „Anarchie der Werte“16 und dem durch einen unkontrollierten Historismus ausgelösten Relativismus auseinander. Aber beide waren sich einig in der Kritik des allmächtig gewordenen Positivismus, des Vergessens der Metaphysik, des maßlosen Individualismus und der Gefahr des Technizismus, welcher jede individuelle Freiheit zu ersticken drohe, des Atheismus und der Politisierung der Kirchen, und schließlich der radikalen Abkoppelung zwischen den politischen, ethischen, wissenschaftlichen und philosophischen Sphären, die im 19. Jahrhundert stattgefunden hatte. Wie viele ihrer Zeitgenossen diagnostizierten also auch sie eine Krise des Abendlandes. Sie teilten hingegen nicht den ebenso weitverbreiteten Pessimismus noch den tragischen Determinismus eines Oswald Spengler, sondern betrachteten ganz im Gegenteil ihre Überlegungen zum Europäismus als dessen Lösung. Der Lösung wollten sie in Anbetracht des von ihnen anerkannten modernen Differenzierungsprozesses und der geschichtlichen Komplexität die
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Brunn, Lars. K (Hg.): European Self-Reflection between Politics and Religion, Hampshire/New York 2013, S. 58–79. Vgl. Bautzmann, Alexis: Editorial, in: Les grands dossiers de la diplomatie (Géopolitique de la Russie) 57, juillet–août 2020, S. 3; Harnack, Adolf von: Der Geist der morgenländischen Kirche im Unterschied von der abendländischen, in: Sitzungsberichte der königlichen preußischen Akademie der Wissenschaften, erster Halbband, Januar–Juni 1913, S. 157–183, hier S. 182 f. Vgl. Agard, Olivier: Wissenssoziologie und Liberalismuskritik bei Scheler, in: Dzwiza-Ohlsen, Erik N./Speer, Andreas (Hg.): Philosophische Anthropologie als interdisziplinäre Praxis, Paderborn u. a. 2021, S. 24–43. Vgl. Troeltsch, Ernst: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1918–1922), hg. von Gangolf Hübinger (Kritische Gesamtausgabe 14), Berlin/New York 2015, S. 573. Troeltsch, Ernst: Die Krisis des Historismus, in: Troeltsch: Schriften zur Politik, Anm. 6, S. 433–455, hier S. 448.
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Form einer Synthese geben, einer Einheit, eines Ausgleichs oder Gleichgewichts zwischen heterogenen Idealen, Wissen und Techniken, und lehnten damit jede Form von Monismus ab.17 In diesem Rahmen konzipierten sie den Europäismus als eine einzigartige Kultursphäre, deren Geistesstrukturen, Ethos und historische Entwicklung nicht auf allgemeine soziologische Gesetze reduziert werden könnten. Er zeichne sich insbesondere durch den Begriff der Person oder Persönlichkeit als eigentliche „magna charta Europas“18 aus, durch den unendlichen Wert, der dem Individuum als geistigem oder denkendem Subjekt beigemessen wird, und durch dessen praktische Orientierung, die auf produktive und kreative Umgestaltung der Welt ausgerichtet ist – woraus sich auch die europäische Tendenz zur Hyperaktivität ergebe.19 Diesem Ansatz entsprechend verwarfen Troeltsch und Scheler den Eurozentrismus der Theoretiker des 18. und 19. Jahrhunderts, welche die Menschheit im Allgemeinen mit der europäischen Menschheit genauso so wie die Universalgeschichte mit der Geschichte Europas verwechselt haben.20 Im Gegensatz dazu, gegen jedes Gesetz der Geschichte und gegen jede Theorie der Entwicklungsstufen, nahmen beide die Besonderheit der europäischen Welt zur Kenntnis, zumal beide die Überzeugung teilten, dass Kontinentaleuropa mit dem Ersten Weltkrieg endgültig seine bisherige zentrale Stellung verloren hatte: Europa hatte sich provinzialisiert, der Kampf um die Welthegemonie würde nun zwischen den Seemächten ausgetragen werden, was Europa und die europäischen Landmächte dazu bringen sollte, sich zu vereinigen und ihre spezifischen Interessen zusammen zu verteidigen.21 An dieser Stelle weichen die Perspektiven beider Denker allerdings voneinander ab. Während Troeltsch sich auf die europäische Humanität konzentrierte, wollte Scheler auf die Universalgeschichte nicht verzichten. Er versuchte vielmehr, sie neu zu begründen, indem er die Eigenartigkeit der verschiedenen Kulturkreise miteinbezog und die historische Dynamik als einen Prozess der gegenseitigen Ergänzung und der allmählichen Vereinigung aller Kultursphären in eine einzige menschliche Kultur auffasste.22 Die Geschichtsphilosophie und Kultursynthese, die beide Denker jeweils erarbeiteten, nahmen dementsprechend unterschiedliche Formen an. Scheler verstand
17 Vgl. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: Ders.: Späte Schriften, hg. von Manfred S. Frings (Gesammelte Werke 9), Bonn 1995, S. 145–170, hier S. 152; Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1020–1048. 18 Scheler, Max: Die christliche Liebesidee und die gegenwärtige Welt, in: Scheler: Vom Ewigen im Menschen, Anm. 4, S. 382. Hervorhebung im Original. 19 Vgl. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1038–1040; Troeltsch: Deutsche Bildung, in: Troeltsch: Schriften zur Politik, Anm. 6, S. 191. 20 Vgl. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1006 u. 1025; Scheler: Genius des Krieges, Anm. 3, S. 173. 21 Vgl. Troeltsch: Spectator-Briefe, Anm. 15, S. 508 f. 22 Vgl. Scheler: Weltalter des Ausgleichs, Anm. 17.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
den Ersten Weltkrieg als die erste gemeinsame Erfahrung aller menschlichen Gesellschaften und daher als den Beginn der Menschheitsgeschichte. Während sich die Kulturen bis dahin getrennt und auf jeweils eigene Weise entwickelt hätten, sei die Welt nun in das „Weltalter des Ausgleichs“ eingetreten, was auch heiße, dass die Kulturen ihre spezifischen Beiträge zur menschlichen Kultur langsam vereinen würden.23 Diese Auffassung stützt sich auf eine Anthropologie, die die Gesamtheit der möglichen menschlichen Anlagen und deren Verwirklichung in den verschiedenen Formen des Wissens analysiert, die von den verschiedenen geschichtlichen Kulturen hervorgebracht wurden, sowie auf eine Soziologie des Wissens, die den kulturellen Weltausgleich lenken sollte. So war Scheler davon überzeugt, dass sich dieser vereinigende Ausgleich noch in der Geschichte vollziehen würde. Seine Überlegungen zu Europa nahmen daher sowohl eine diachrone Richtung an – in Form eines Neuaufbaus der den europäischen Kulturen gemeinsamen historischen Werte – als auch eine synchrone – in Form einer Aneignung der Beiträge Asiens zur menschlichen Kultur, d. h. allgemein betrachtet in Form eines „Kosmopolitismus der Kulturkreise“, den Scheler von jedem Internationalismus unterschied, welcher auf Nützlichkeit und praktischen Interessen (Standardisierung von Maßeinheiten, Verbreitung wissenschaftlicher Ergebnisse etc.) beruht. Troeltsch hingegen sah den Krieg keineswegs als ein Ereignis an, das die Menschheitsgeschichte eingeleitet hätte. Auch wenn er ebenfalls von einem gemeinsamen Ursprung und Ziel der Humanität ausging, betrachtete er sie eher als regulative bzw. sich nicht in der Geschichte verwirklichende Ideale: Die Gesamtmenschheit bilde keine historisch erlebte Realität und werde auch auf absehbare Zeit keine bilden. Die Kulturen, welche um die großen Religionen herum organisiert sind, stellen in seiner Auffassung Individualitäten dar, die sich gegenseitig zwar am Rande verstehen und verändern können, aber sonst relativ geschlossen bleiben – und bleiben werden. Abgesehen vom aufsteigenden Internationalismus, den auch er zur Kenntnis nahm, sah Troeltsch daher die Begegnung der Kulturen nicht im Modus eines Ausgleichs zwischen einander, sondern vielmehr im Modus ihrer eigenen Vertiefung und Selbstläuterung, die jeweils zur gleichen göttlichen Quelle führt.24 Jeder Kulturkreis sollte seinen gegenwärtigen Zustand als Ergebnis eines historischen Sinnzusammenhangs und Werdeprozesses auffassen, und seine Zukunft als Fortbildung der in ihnen drängenden idealsten Möglichkeiten bzw. des sich in seinem Standort konkret-individuell ausdrückenden Universalen gestalten:
23 Vgl. ebd.; Scheler: Soziologie des Wissens, Anm. 10, S. 135–158. 24 Vgl. Troeltsch, Ernst: Die Stellung des Christentums unter den Weltreligionen, in: Ders.: Fünf Vorträge zur Religion und Geschichtsphilosophie für England und Schottland, hg. von Gangolf Hübinger (Kritische Gesamtausgabe 17), Berlin/New York 2006, S. 105–118, hier S. 114–118.
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In dieser sehr eingeschränkten, als bloße Richtungsbestimmtheit verstandenen Bedeutung kommt dann aber doch auch die Menschheits- oder Humanitätsidee wieder zur Geltung. Sie ist […] eine Verlängerung der konkret-individuellen Bestimmtheit aus sich heraus in annähernde Allgemeingültigkeit oder reine Menschlichkeit, so daß etwa aus ganz anderen Kulturkreisen heraus erfolgende ähnliche Selbstgestaltungen und Selbstkritiken in eine gemeinsame Endrichtung weisen zu können scheinen.25
Diese Aufgabe kommt den jeweiligen Kulturkreisen zu. Eben deswegen konzentrierte sich Troeltsch auf die Universalgeschichte des Europäismus, welche Universalgeschichte insofern bleibt, als sie hauptsächlich das sich im Europäismus historisch entfaltete Universale berücksichtigt.26
2.
Die zu erneuernden Geisteskräfte Europas
Wie bereits erwähnt, entwickelten Troeltsch und Scheler ihre Konzeptionen des Europäismus zur Lösung der Krise und Wiederannäherung der europäischen Nationen. Dabei suchten sie nach den geistigen Kräften, die den Europäismus historisch als Sinneinheit und Werdezusammenhang gebildet haben und seine weitere Entwicklung ethisch weiter orientieren könnten. In diesem Rahmen bezogen beide Denker Stellung im Streit der Weltanschauungen, die um die Gestaltung der modernen Welt gegeneinander kämpften – die Nationalismen, der Atheismus und das Neuheidentum, der religiöse Konservatismus und die antimodernistischen Reaktionen etc. – genauso wie in den Debatten über die Krise der Metaphysik, des Humanismus und der Kirchen. So brachten sie drei Grundgewalten Europas zur Geltung, die zusammen für die Herausforderungen der Gegenwart wiederbelebt und erneuert werden sollten: die Antike, das Christentum und das Mittelalter. Ihre jeweiligen Auffassungen der Bedeutung dieser drei Erbschaften für das künftige Europa weisen Analogien, aber auch Unterschiede auf, die die verschiedenen Richtungen durchscheinen lassen, welche beide der europäischen Erneuerung geben wollten. Gehen wir zunächst auf die Analogien ein. Troeltschs und Schelers Überlegungen zur Antike wurden sowohl vom Kulturkrieg als auch von der Krise des griechischen Humanismus geprägt, die in erster Linie in den Debatten über das humanistische Gymnasium zum Ausdruck kam. Zwar setzten sich beide für dessen Erhalt ein und verwiesen auf die grundlegende Bedeutung der Antike für alle europäischen
25 Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 252. 26 Vgl. ebd., S. 1008–1099.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Völker, doch wollten sie die antiken Werte für die Gegenwart umdenken. Sie zeigten sich insbesondere sehr kritisch gegenüber dem Neuhumanismus, den sie als dogmatisch-ahistorische Konstruktion und ästhetisch-kontemplatives Bildungsideal verwarfen; sie wiesen seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für alle Menschen zurück und wollten damit die Ideale des klassischen Griechenlands historisieren und seine ethisch-metaphysische Gültigkeit einschränken. Außerdem stellten sich beide gegen Eduard Sprangers Vorhaben, die griechische Staatsethik aufzuwerten.27 Aufwerten wollten sie hingegen die Bedeutung der lateinischen Antike und der Spätantike. Scheler tat dies bereits 1917 und versuchte auf diese Weise, die Annäherung der drei europäischen Kreise – des französisch-italienischen, des deutschen und des russischen – zu fördern, in deren Kulturgeschichte die drei Altertümer unterschiedliche Rollen gespielt hatten.28 Troeltsch seinerseits hob das lateinische Erbe vor allem nach dem Krieg hervor. Er knüpfte an seine Arbeiten aus der Vorkriegszeit an und betonte, dass es unmöglich sei, die westeuropäischen Kulturen und die deutsche Kultur ohne die lateinische zu verstehen. So machte er Letztere sowohl zu einer gemeinsamen Grundlage aller europäischen Nationen als auch zu einem unverzichtbaren Element für das Verständnis des deutschen Geistes.29 In Bezug auf das Christentum, dem beide Gläubige eine zentrale Rolle in der Erneuerung zuschrieben, ließen sich die folgenden Analogien feststellen, trotz ihrer konfessionellen Unterschiede; Troeltsch war freiprotestantisch, Scheler bekannte sich zu dieser Zeit zur katholischen Kirche. Die beiden zeigten sich zunächst äußerst kritisch gegenüber der Kollusion zwischen den Kirchen, insbesondere den protestantischen Kirchen in Deutschland, und den herrschenden Klassen. Sie forderten daher eine Abkoppelung des staatlichen und religiösen Lebens und eine spirituelle Erneuerung und Vertiefung.30 Darüber hinaus teilten sie eine augustinische Auffassung der Christlichkeit, welche die doppelte Bewegung der Liebe – zu Gott und zur Welt – betonte. Dementsprechend begriffen sie den abendländischen Christen als eine aktive – und nicht kontemplative – Persönlichkeit, die darauf abzielt, die göttliche Energie in die Welt zurückzubringen und Letztere in diesem
27 Vgl. Troeltsch, Ernst: Humanismus und Nationalismus in unserem Bildungswesen, in: Troeltsch, Ernst: Deutscher Geist und Westeuropa, Aalen [1 1925] 1966, S. 211–243, hier S. 220; Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 424–427. 28 Vgl. Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 428 f. 29 Vgl. Troeltsch, Ernst: [Über die Notwendigkeit humanistischer Gymnasien], in: Troeltsch: Schriften zur Politik, Anm. 6, S. 153–160, hier S. 158 f. 30 Vgl. Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 435–438; Troeltsch, Ernst: Der Religionsunterricht und die Trennung von Staat und Kirchen, in: Troeltsch: Schriften zur Politik, Anm. 6, S. 111–146, hier S. 131 f.
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Sinne umzugestalten.31 In seinem Aufsatz Über östliches und westliches Christentum fasste Scheler diese Dialektik mit folgenden Worten zusammen: In der Kontinuität eines und desselben Actus vielmehr, in welchem sich die Seele in der Gottesliebe zu Gott erhebt, neigt sie sich auch zum Menschen […]. Damit aber ist jene vorher gekennzeichnete eigentümliche Doppelbewegung westlicher Religiosität: des gleichzeitigen Hinauf- und Herabsehens, der Erhebung zu Gott und der Erwirkung des Göttlichen im Umkreis der Welt, in der Gottesidee und im Grundverhältnis des Menschen zu Gott selbst verwurzelt.32
Vor allem Troeltsch maß schließlich dem Mittelalter eine grundlegende Bedeutung für den Europäismus bei. Während er 1917 und 1919 das germanische Element eindeutig in den Vordergrund rückte, ohne jedoch das antike Erbe zu ignorieren und jeden germanistischen Radikalismus à la Richard Benz gutzuheißen,33 wertete Troeltsch das antike Erbe in den folgenden Jahren auf, und betonte nunmehr die im Mittelalter erfolgte Synthese zwischen germanischem, christlichem und antikem Erbe als die eigentliche Wiege Europas. So schrieb er 1922: Es [das abendländische Mittelalter] ist erst von der Kirche, von Byzanz, von den Arabern zur Kultur erzogen worden. Aber es ist doch der eigentliche Mutterschoß unseres ganzen Wesens […]. Auch unser eigentlichster Geist hat ebenso wie unsere politischen und sozialen Institutionen hier seine Wurzel. […] Hier ist jene Innerlichkeit und jener Unendlichkeitsdrang in der Stille vorbereitet worden, der den reifen Europäismus von aller Antike und allen anderen fremden Hochkulturen unterscheidet.34
Scheler schrieb dem Mittelalter eine untergeordnete Rolle zu und kämpfte stärker gegen den radikalen Germanismus. Auch er erkannte jedoch im GermanischFranzösischen Gotischen „ein hohes Maß europäischer Universalität“35 an und hob die Synthese zwischen den drei Erbteilen hervor, die durch die Erziehung des germanischen Geistes „durch die Kirche und durch die antiken Vorbilder“36 erfolgte.
31 Vgl. Troeltsch, Ernst: Deutsche Bildung, in: Troeltsch: Schriften zur Politik, Anm. 6, S. 161–205, hier S. 190–192. 32 Scheler, Max: Über östliches und westliches Christentum, in: Scheler: Schriften zur Soziologie, Anm. 8, S. 99–114, hier S. 110. 33 Vgl. Troeltsch: Humanismus, Anm. 27, S. 241. 34 Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1092 f. 35 Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 427. 36 Ebd., S. 428.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Beide Autoren waren sich also einig darüber, dass der Neuaufbau Europas auf diesen drei umzugestaltenden Geisteskräften beruhen sollte. Ihr Verständnis jeder einzelnen zeigt dennoch Divergenzen auf, die nicht nur auf ihr unterschiedliches religiöses Empfinden zurückzuführen sind, sondern auch auf die östliche bzw. westliche Ausrichtung, die beide dem künftigen Europäismus geben wollten. Für Scheler sollte die Erneuerung aus dem Osten kommen. Der europäische Kulturaufbau verlangte somit „eine gewisse Umkehr unseres gesamten europäischen Bildungswesens von der vorzüglichen Richtung, die es bisher hatte, der ostwestlichen, zur westöstlichen“,37 und der Philosoph deutete die drei europäischen Erbschaften dahin gehend um. So forderte er dazu auf, die Antike in ihrer asiatischen Vorgeschichte neu einzuordnen. Er hob die Analogien zwischen der mittelalterlichen Gotik und den hinduistischen Formen heraus und dachte eine mögliche Erneuerung der katholischen Kirche durch ihre Annäherung an die russische Orthodoxie voraus, welche sich seit dem Fall des Zarismus und des Staatschristentums in einem tiefgreifenden Prozess der Erneuerung befand. Im Gegensatz dazu erwartete Troeltsch die Erneuerung vom Westen. Er ließ dementsprechend seinen Europäismus – als Lebenseinheit betrachtet – mit Griechenland beginnen38 und grenzte den Okzident und den Orient stark voneinander ab. So lehnte er im Rahmen seiner europäischen Kulturgeschichte die Berücksichtigung der asiatischen Vorgeschichte des Altertums und der islamischen Welt ab, wie sie Eduard Meyer39 und Carl Heinrich Becker40 jeweils forderten. Zur Begründung seiner Ansicht betonte er interessanterweise das unterschiedliche Verhältnis von Religion und Politik in beiden Welten und wies dementsprechend für Europa eine Auffassung der Religion als militärisch-politisches Prinzip zurück.41 Die einzige vom Orient kommende Kraft, die Troeltsch in seinen Europäismus miteinbezog, ist der hebräische Prophetismus. Als Beleg dafür hob er diesmal die Verwandtschaft der hellenischen und hebräischen Persönlichkeitsidee und die daraus entstandene Verschmelzung zwischen der griechischen Philosophie und dem Judentum bzw. dem Christentum hervor – man denke an die von Philo von Alexandria eingeleitete und von den Kirchenvätern übernommene Synthese zwischen Bibel, Platonismus und Stoizismus. Dass die Erneuerung vom Westen kommen sollte, belegten aber auch seine Überlegungen zur Erneuerung des Christentums. 1922 wies Troeltsch tatsächlich auf eine Wiederbelebung vonseiten der Sekten und des Neucalvinismus aus hin: „Vorbild und Einfluß Amerikas wird immer stärker. Der Calvinismus und seine Seitensprößlinge werden mit den Angelsachsen dominierend, aber auch er 37 38 39 40 41
Ebd., S. 429. Vgl. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1044 f. Vgl. Meyer, Eduard: Geschichte des Altertums, Stuttgart 1884–1902. Vgl. Becker, Carl Heinrich: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, Leipzig 1922. Vgl. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1045.
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[ist] ein Neu-Calvinismus“.42 Es ist schließlich festzustellen, dass das Ende des Dreißigjährigen Krieges zu den seltenen historischen Vergleichen zählte, die Troeltsch mit der Situation Deutschlands nach 1918 zuließ. So schrieb er im Oktober 1919 in seinem Spectator-Brief „Der Untergang des Abendlandes“: Das überwundene Deutschland hat damals [nach dem Dreißigjährigen Krieg] auch dem geistigen Verfall sich nicht widersetzen können. Aber es hat sich allmählich aus einer kritischen Aneignung und schöpferischen Umgestaltung der Kultur der [westlichen] Sieger erneuert.43
Die unterschiedliche Ausrichtung beider Denker bestimmte wiederum ihr jeweiliges Verständnis von Demokratie. Scheler war eindeutig antibürgerlich und antikapitalistisch und förderte eine soziale Demokratie, die er der marxistisch inspirierten Sozialdemokratie gegenüberstellte und auf der Zusammenarbeit des sozial bzw. revolutionär orientierten Christentums und der Arbeitermassen aufbauen wollte. Eine Annäherung der deutschen und der russischen Demokratien schien ihm dementsprechend auch hier vielversprechend. So lautete sein Programm: Die vereinigten oder sich vereinigenden Mächte christlicher Autorität und christlicher Lebensgesetze und des echten Sozialismus des vierten Standes, der sozialen Demokratie gegen oligarchische Plutokratie und ihren Liberalismus und Rationalismus, in allen Dingen des geistigen Lebens. Und hier dürfen wir Rußland, insbesondere das uns durch die politischen Wirren ganz verborgene seelisch weiträumige und großherzige Rußland auf unsere Seite stellen.44
Troeltsch hingegen blieb grundsätzlich liberal und versuchte eher, den Liberalismus zu vertiefen und einzudämmen, als ihm ein Ende zu setzen. Dahin gehend förderte er eine Synthese zwischen einer liberalen und einer sozialen Demokratie45 und forderte die deutschen Eliten zu einer Annäherung an die westlichen Demokratien auf. Dieses Programm tritt besonders deutlich in seinem berühmten Vortrag
42 Troeltsch, Ernst: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg. von Volker Drehsen (Kritische Gesamtausgabe 7), Berlin/New York 2004, S. 535 f. 43 Troeltsch: Spectator-Briefe, Anm. 15, S. 178. 44 Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 438. 45 Der Vergleich zwischen den Modellen der sozialen Demokratie, die Scheler und Troeltsch förderten, stellt einen eigenen Untersuchungsgegenstand dar. Seine Durchführung setzt insbesondere voraus, dass ihre jeweilige Auffassung der Sozialethik des Christentums sowie ihre unterschiedliche Position gegenüber dem christlichen Sozialismus geklärt werden. Darüber hinaus erfordert sie eine Klärung, wie beide Autoren die gemeinschaftsstiftende Dynamik des Christentums verstanden und sie zur Überwindung des Individualismus einsetzen wollten.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik hervor, den er an der Deutschen Hochschule für Politik im Herbst 1922 hielt. Nachdem er die Fehlentwicklungen des deutschen Denkens im Laufe des 19. Jahrhunderts scharf kritisiert hatte, rief er zu einer Synthese zwischen den historisch-ethisch-politischen Systemen auf, die während des Kulturkriegs gegeneinandergestellt worden waren. Von diesem Prinzip aus forderte er Deutschland auf, dass es sich den Gedanken des Naturrechts und der Humanität wieder aneignete – eben „uralte europäisch-antik-christliche Ideen, die den Grundstock der europäischen Geschichtsphilosophie und Moral bildeten“,46 und von denen das deutsche Mittelalter „ebenso erfüllt war wie das übrige Abendland“.47 In diesem Sinne wertete er die Menschenrechte, die „nicht vom Staat verliehen werden, sondern ihm und aller Gesellschaft selbst als ideale Voraussetzung dienen“,48 und den universalen Horizont auf. Am Ende dieses Teils bleibt die Frage: Was erwartete Scheler von Asien, das Troeltsch nicht davon erwartete? Eingangs wurde die Krise des Abendlands als Hyperbetriebsamkeit bzw. als Titanismus beschrieben. Im Folgenden soll genauer untersucht werden, wie beide Denker jene mäßigen wollten. Dadurch wird geklärt, welche Funktion Scheler Asien zuschrieb, und welches Verhältnis zwischen Europa und Russland Troeltsch zuließ, der Russland im Gegensatz zu Scheler nicht von Anfang an in seinen Europäismus einbezog.
3.
Asien und die Mäßigung des europäischen Titanentums
Hauptziel der Überlegungen Schelers und Troeltschs zum Europäismus war es, die Hyperaktivität bzw. das Titanentum zu bewältigen, welche die Moderne vor allem in den letzten Phasen ihrer Entwicklung kennzeichneten. Die Frage nach dem Verhältnis Europas zu den anderen Kulturkreisen bekommt gerade hier ihre volle Bedeutung. Während Scheler 1915 die Kulturkreise grundsätzlich noch als undurchdringlich ansah,49 die Russifizierung Europas befürchtete und das abendländische und morgenländische Christentum radikal gegeneinanderstellte,50 änderte sich seine Auffassung im Laufe des Krieges an diesen Stellen rasch. Wie oben erwähnt, sah er bereits in seinem Vortrag Vom kulturellen Wiederaufbau Europas von 1917 im Ausgleich zwischen Europa und Asien, und hier in erster Linie Russland, eine Lösung,
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Troeltsch: Naturrecht, Anm. 6, S. 595. Ebd., S. 501. Ebd., S. 510. Vgl. Scheler: Genius des Krieges, Anm. 3, S. 164. Vgl. Scheler: Östliches Christentum, Anm. 32.
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um die europäische Hyperbetriebsamkeit51 zu besänftigen. Er dachte somit voraus, dass die gegenseitige Befruchtung von germanischem Individualismus und slawischem Gemeinsinn, von Vernunft und Mystik, vom westlichen Christentum des Handelns und der Weltveränderung und vom östlichen Christentum der beschaulichen Anbetung zu einem vielversprechenden Gleichgewicht führen würde.52 Doch vor allem in seinen späteren Werken vertiefte Scheler seine Auffassung vom „Kosmopolitismus der Kulturkreise“ und von einer Synthese zwischen Europa und Asien – wobei diesmal die indischen, chinesischen und japanischen Kulturkreise im Vordergrund standen. In den Jahren 1924 und 1927 wurde nun Europa hauptsächlich durch die Einseitigkeit seiner modernen Entwicklung bestimmt:53 die Allmacht des Positivismus und Technizismus, die Politisierung der Kirchen, die Beherrschung der Natur, welche nicht mit einer entsprechenden Selbstbeherrschung einherging, und das Vergessen der Metaphysik. Zur Überwindung dieser Einseitigkeit rief Scheler im Rahmen seiner anthropologischen Reflexion und seiner Wissenssoziologie zu einem Ausgleich zwischen den positiven wissenschaftlichen Erkenntnissen des Westens und der asiatischen Metaphysik und deren Techniken des Lebens, der Seelenführung und des Leidens auf, sei es im psychologischen oder im epistemologischen Bereich. Unter Beibehaltung ihrer notwendigen Differenzierung wollte er auf diese Weise die ebenso grundlegende Verbindung zwischen Wissenschaft und Philosophie einerseits und zwischen Metaphysik und Religion andererseits wiederherstellen. Gegen den Positivismus, aber auch gegen die Wiederbelebung des antirationalistischen Mystizismus in der unmittelbaren Nachkriegszeit wollte er somit Wissenschaft und Metaphysik neu miteinander verknüpfen und sah in den asiatischen Techniken, die den Geist für die Erkenntnis disponieren und die Platon, Aristoteles und Augustinus ihrerseits schon kannten, eine Ressource, die der Westen wieder gewinnen musste.54 Ebenso wollte er der klerikalen Tendenz der westlichen Religiosität durch die Wiedereinführung spontaner religiöser Spekulationen entgegenwirken. Um schließlich die westliche Tendenz zur Beseitigung des Bösen und des Leidens durch die einseitige Beseitigung ihrer äußeren Ursache auszugleichen, welche wiederum zur einseitigen Entwicklung der Beherrschung der Natur beigetragen hatte, förderte Scheler die östliche Tendenz, das Leiden innerlich zu beherrschen und ihm geistig zu widerstehen. In Fortführung seiner These des neuen anthropologischen Weltalters des Ausgleichs zwischen Kulturkreisen sah Scheler also in der Aneignung asiatischer Wissensformen und Techniken das Heilmittel für den ansonsten unvermeidbaren Untergang des Abendlands.55 51 52 53 54 55
Vgl. Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 419. Vgl. ebd., S. 430 f. Vgl. Scheler: Weltalter des Ausgleichs, Anm. 17; Scheler: Soziologie des Wissens, Anm. 10. Vgl. Scheler: Soziologie des Wissens, Anm. 10, S. 136–158. Vgl. ebd., S. 136.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Wie im ersten Teil dargelegt, war Troeltsch viel skeptischer über die Möglichkeit einer Synthese zwischen den Kulturkreisen. Seine Kultursynthese konzentrierte sich daher auf den Europäismus und das Christentum als die einzige mögliche Religion Europas. Troeltsch zufolge war tatsächlich Europa aufgrund seiner Geschichte so eng mit dem Christentum verbunden worden, dass es kein anderes mögliches Schicksal haben könnte, als christlich zu bleiben oder aufzuhören, europäisch lebendig zu sein bzw. europäische Ideale weiter hervorzubringen, falls das Christentum verschwinden sollte. In dieser Hinsicht legte er großen Wert auf die Unterscheidung zwischen dem westlichen und dem russischen Christentum, das er disqualifizierte: Insofern, als Letzteres nicht von der lateinischen Kultur, dem römischen Recht und dem römischen Stoizismus profitiert habe – was die Panslawisten begrüßten –, habe das russische Christentum im Gegensatz zum abendländischen keine Kultur- bzw. Sozialethik entwickelt. Dies hätte ihm doch mittels des relativen Naturrechts ermöglicht, eine realistischere, daher auch fruchtbarere Beziehung zur Gesellschaft und zu den sozialen und politischen Organisationen zu entwickeln als die russische Alternative zwischen radikaler Opposition oder radikaler Assimilierung und Unterordnung unter die politische Macht, d. h. zwischen apolitischer Demokratie oder Theokratie.56 So wies Troeltsch alle Lösungen zurück, die in Asien, den östlichen Religionen, aber auch im russischen Christentum das wahre Heilmittel für Europa sahen. Er zeigte sich deshalb äußerst kritisch gegenüber der neuen Faszination der deutschen Intellektuellen für den Orient und wertete sie als Flucht vor den realen Problemen und als rhetorisches Spiel literarischer Ästheten ab. Ein besonders anschauliches Beispiel für seine Abrechnung mit diesen Intellektuellen bietet z. B. sein Artikel Die russische Literatur,57 den er im Herbst 1921 anlässlich des hundertsten Geburtstags Dostojewskis verfasste und in dem er eindeutig die slawophilen Kreise angriff. Während Scheler 1917 „die große russische Literatur (Dostojewski, Tolstoi, Solowjew usw.)“ als „fast die einzige europäische gültige schönwissenschaftliche Literatur wahrhaft christlichen Geistes“58 lobte, äußerte Troeltsch starke Zweifel an der angeblichen Religiosität russischer Schriftsteller: Dostojewski sei ein Ästhet wie Iwan Karamasow, Tolstoi enthalte skeptische und positivistische Aspekte und Solowjew sei eine Ausnahme. Er bezog zudem das, was deutsche Leser für Spiritua-
56 Vgl. Troeltsch, Ernst: Augustin, die christliche Antike und das Mittelalter, Aalen [1 1915] 1963, S. IX; siehe auch seine Rezension von Otto Schillings Buch Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche (1914), in: Troeltsch, Ernst: Rezensionen und Kritiken, hg. von Friedrich Wilhelm Graf (1915–1923) (Kritische Gesamtausgabe 13), Berlin/New York 2010, S. 60–72. 57 Troeltsch, Ernst: Zum Gedenktage an Dostojewski. 1. Die russische Literatur, in: Kunstwart und Kulturwart 31/1, Novemberheft 1921, S. 76–78. 58 Scheler: Wiederaufbau, Anm. 4, S. 436.
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lität hielten, auf die Sitten des wenig gebildeten und inkonsequenten Provinzadels, dem die russischen Autoren oft angehörten. Um Troeltschs Ansatz jenseits dieses polemischen Kontexts zu verstehen, ist es jedoch notwendig, auf seine Auffassung sowohl des Verhältnisses zwischen Europa und Russland als auch der christlichen Antike genauer einzugehen. Dies sollte uns wiederum Aufschluss darüber geben, wie er den europäischen Titanen bewältigen wollte. Zu diesem Zweck muss zunächst daran erinnert werden, dass Troeltsch trotz seiner Ablehnung allen Ausgleichs zwischen Europa und Asien auch ein Denker der Synthese war und Europa als das Endergebnis einer doppelten Synthese zwischen verschiedenen Kulturen begriff. So definierte er 1922 Europa als die Synthese der Antike und der modernen Welt und sah in der Kirche ihr historisches Bindeglied: Unsere europäische Welt beruht […] auf einer durchgängigen und zugleich bewußten Verwachsung mit ihr [der Antike]. Die europäische Welt besteht aus Antike und Moderne […]. D[eren] Vermittlung ist die christliche Kirche. […] Das ist die ungeheure, welthistorische Bedeutung der christlichen Kirche für unseren Kulturkreis, die also nicht bloß das für alle Kulturen so wesentliche religiöse Element bedeutet, sondern noch darüber hinaus die Verbundenheit und Kontinuität zweier völlig verschiedenartiger Volkstümer und ihrer Entwicklungen.59
Gerade aufgrund dieser Rolle der Kirche betrachtete Troeltsch Europa als unlöslich mit dem Christentum verbunden. Aber die Kirche war in seiner Ansicht ebenfalls das Produkt einer Synthese. 1917 in seinem Aufsatz Die alte Kirche stellte er sie als Endergebnis der in der Spätantike erfolgten Synthese zwischen der hebräischprophetisch-christlichen Welt und der antik-hellenistisch-orientalischen Welt dar.60 Die Idee einer Synthese zwischen mehreren Kulturen, zwischen West und Ost, war also Troeltsch und seiner Konzeption von Europa alles andere als fremd. Und sein Ziel war ebenfalls synthetisch: Er wollte eine neue Synthese zwischen den verschiedenen Kulturwelten Europas erstellen. Vor diesem Hintergrund tritt die Frage nach der Miteinbeziehung Russlands in den Europäismus auf. Es ist zwar unbestreitbar, dass Troeltsch jede Synthese mit den nicht-abrahamitischen asiatischen Kulturen ablehnte. Er erklärte zudem immer ausdrücklicher das europäische Christentum für ein entorientalisiertes, in dem der Einfluss der östlichen Gnosis verschwunden sei. Aber er hat nie versucht, es zu enthellenisieren, im Gegenteil.61 In seinem Augustinus-Aufsatz von 1915, als Sche-
59 Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1035–1037. 60 Vgl. Troeltsch, Ernst: Die alte Kirche, in: Ders.: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, hg. von Hans Baron (Gesammelte Schriften IV), Tübingen 1925, S. 65–121, hier S. 93 f. 61 Vgl. Troeltsch: Stellung des Christentums, Anm. 24, S. 114.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
ler und Adolf von Harnack der Ansicht waren, dass der Gegensatz zwischen dem westlichen und dem östlichen Christentum in dem Gegensatz zwischen Augustinus einerseits und Clemens von Alexandria und Origenes andererseits vorbildhaft zum Ausdruck komme,62 vertrat Troeltsch dagegen die These, Augustinus gehöre der Spätantike vollkommen an, außerhalb derer sein Werk nicht zu verstehen sei, und stehe in der Kontinuität der Theologen von Alexandria und der neuplatonischen Lösung des ethischen Problems des höchsten Gutes. Seiner Ansicht nach sei es deshalb falsch, Augustinus nur für das Abendland beanspruchen zu wollen.63 Ebenso betonte Troeltsch in seinem Essay über „die alte Kirche“ die Analogien zwischen dem Mönchtum des Heiligen Basilius und der abendländischen zönobitischen Tradition, anstatt beide Mönchtum-Traditionen nur systematisch gegeneinander auszuspielen.64 Neben dieser Behandlung der christlichen Antike sah er 1922 Russland als eine zukünftige Kraft Europas an und ließ deshalb die Frage nach deren Synthese offen: Obwohl er beide als zwei historisch unterschiedliche Kulturen betrachtete und die panslawistischen Projekte zurückwies, arbeitete er auch Ähnlichkeiten und Annäherungspunkte – das Christentum, die aktuelle politische und wirtschaftliche Dynamik – heraus und beachtete außerdem Solowjews Arbeiten, welche gewisse Verwandtschaften mit seiner eigenen Geschichtsphilosophie aufwiesen: Er [Solowjow] kämpft gegen eine Art russischen Spengler, Danilewskys „Rußland und Europa“, und dringt gegen naturalistische Organologie auf ethisch-religiös begründete Universalgeschichte. Deren Entwicklungstrieb scheint ihm vor allem die Vereinigung des griechisch-orthodoxen und des lateinisch-katholischen Bekenntnisses zu verlangen. Erst dann gebe es einen Europäismus.65
Troeltsch hätte höchstwahrscheinlich den Entwicklungstrieb Europas nicht so aufgefasst und sich Solowjews Projekt nicht angeschlossen. Bemerkenswert bleibt jedoch, dass er versuchte, die Elemente hervorzuheben, die in der Spätantike die Gründerväter der beiden Kirchen – Augustinus auf der einen Seite und Basilius, Clemens und Origenes auf der anderen Seite – miteinander verbanden. 1922 erinnerte er außerdem daran, dass das abendländische Mittelalter neben der Kirche auch von Byzanz erzogen wurde. Und war schließlich der Ansicht, dass sich das russische Christentum vom westlichen Christentum durch das Fehlen der lateini-
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Vgl. Scheler: Östliches Christentum, Anm. 32, S. 109. Vgl. Troeltsch: Augustin, Anm. 56, S. IX. Vgl. Troeltsch: Die alte Kirche, Anm. 60, S. 114 f. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 1047.
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schen Kultur unterscheide und sich von der ursprünglichen hellenischen Kultur weit entfernt hatte.66 Dachte Troeltsch über eine mögliche Annäherung beider Kulturkreise nach, bei der u. a. die beiden Christentümer zur Spätantike und zu ihren hellenischen Wurzeln zurückkehren und das russische Christentum sich zudem eine Kulturund Sozialethik geben sollte, ähnlich wie jene, die sich das westliche Christentum in Anlehnung an die römische Kultur gegeben hatte? Die Frage bleibt offen. Sicher ist aber, dass er sich im Kontext der Krise der Moderne immer wieder mit der christlichen Antike auseinandersetzte. Was uns zu der Frage zurückbringt: Wie wollte er das europäische Titanentum mäßigen? In dieser Hinsicht sind Troeltschs Absichten denen Schelers sehr ähnlich: Auch er wollte die Metaphysik erneuern, einerseits, um die Metaphysik und die positiven Wissenschaften gegen den Determinismus wieder miteinander in Verbindung zu bringen, und andererseits, um die Metaphysik bzw. die Religion der Gebildeten und die Religion der Massen gegen die Erstarrung und Politisierung der Kirchen und gegen den Atheismus wieder eng miteinander zu verknüpfen. Zur Überwindung der Anarchie der Werte wollte er zudem den Menschen bzw. der Gesellschaft wieder ein Zentrum oder eine normative Orientierung geben. Das waren die Hauptziele der Kultursynthese des Europäismus. Nun schien er gerade in der christlichen Antike formale Ressourcen und Anregungen zur Lösung des Problems gefunden zu haben. In seinem Artikel Der moderne Atheismus von 1921 sah er zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen der gegenwärtigen Krise Europas und der Krise der Spätantike und vertrat die These, die alte Kirche sei nicht nur das Produkt dieser Dekadenz gewesen, sondern auch und vor allem deren Heilmittel.67 Ging es ihm darum, die formalen Lösungen am Ursprung der sich als Heilmittel erwiesenen Alten Kirche zu übernehmen und sie auf dem aus dem abendländischen Mittelalter hervorgegangenen Boden umzusetzen? Die beiden Aufsätze, die Troeltsch Augustinus und der Alten Kirche widmete, sind in dieser Hinsicht äußerst aufschlussreich, insbesondere, wenn man sie zusammen mit Schelers eigenen Überlegungen betrachtet. Troeltsch ging vor allem auf drei große Heilmittel ein, die ab dem 1. Jahrhundert n. Chr. zur Überwindung der antiken Krise eingesetzt wurden und die in den Formen gipfelten, die ihnen die Kirche verliehen hatte. Gegen den Hyperrationalismus und die anschließende Spaltung zwischen der Religion der Gebildeten und der Religion der Massen hob Troeltsch die religiöse Wende der Philosophie hervor, welche zunächst im Neuplatonismus stattfand und sich dann durch dessen Christianisierung, u. a. durch Augustinus, auch in der Kirche durchsetzte. Letztere ermöglichte die Logisierung des Christusmythos und damit die Versöhnung von Volk und
66 Vgl. ebd. 67 Vgl. Troeltsch: Atheismus, Anm. 5, S. 137.
Bewältigung von Europas Hyperaktivität und Titanentum bei Scheler und Troeltsch
Gebildeten durch die Verknüpfung einer symbolisch-mythischen Erzählung mit einer metaphysischen Interpretation – was wiederum die Religion wiederbelebte. Bei Augustinus ermöglichte dies außerdem, die Autorität der Offenbarung – die sichtbare Kirche – und die religiöse Spekulation – die unsichtbare Kirche und das Erlebnis der unmittelbaren Geistesanwesenheit – durch seine pneumatische Mystik miteinander zu verknüpfen.68 So finden sich hier wieder Schelers Überlegungen zur notwendigen Neuartikulation von Metaphysik und Religion, und Troeltsch erklärte Letztere bzw. die enge Beziehung zwischen beiden nicht zu identifizierenden Bereichen, der Philosophie und der Theologie, für ein konstitutives Element Europas.69 Außerdem, wenn er weder 1915 noch 1917 eine ähnliche Neuartikulation zwischen Wissenschaft und Metaphysik von der Spätantike aus erwähnte, verglich er jedoch 1922 die Bedeutung der Philosophie Bergsons für die Gegenwart mit der des Neuplatonismus für seine Zeit.70 Troeltsch ging ebenfalls auf die verschiedenen asketischen Strömungen ein, die in der Spätantike zutage traten. Auch hier verstand er sie nicht nur als Symptome der Degeneration – und noch weniger als Sklavenmoral im Sinne des nietzscheanischen antichristlichen Paradigmas – sondern auch und vor allem als Heilmittel gegen den Verfall, als letzte Anstrengung der antiken Kultur, sich wieder ein Zentrum zu geben und das Absolute und die Hingebungsfähigkeit wiederzugewinnen.71 Was er aber unter Askese verstand, entspricht nicht dem, was Scheler 1927 abwertend als solche bezeichnete,72 sondern den Techniken der Seele, die Letzterer eben in Asien suchte. In dieser Hinsicht ähnelt die doppelte Dynamik, die Troeltsch der Askese zuschrieb und auf welche ihre positive Wirkung auf die Gesamtgesellschaft zurückzuführen sei, in gewisser Weise der Synthese, die Scheler zwischen der inneren Wendung Asiens und der äußeren des Westens förderte, der Selbst- und der Naturbeherrschung, der Umwandlung der eigenen psychischen Dispositionen und der äußeren Welt. So sei die stoische Askese, welche eine Erziehung des Willens, eine Beherrschung der Leidenschaften und eine Lehre der Gleichgültigkeit gegenüber dem äußeren Unglück sei, auch eine Technik der Konzentration, die sich positiv auf die Gesellschaft auswirke und ihr neue reformatorische Energien verleihe. Ebenso beinhalte die Doppelbewegung der christlichen Liebe einen kontemplativen Moment des Rückzugs und der religiösen Konzentration und einen aktiven Moment der Rückkehr zur Welt und zum Nächsten, in welcher die religiöse Energie Letzteren zurückgegeben wird bzw. auf sie zurückstrahlt.73 Und auch die so
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Vgl. Troeltsch: Augustinus, Anm. 56, S. 32. Vgl. Troeltsch: Die alte Kirche, Anm. 60, S. 822. Vgl. Troeltsch: Historismus, Anm. 7, S. 951. Vgl. Troeltsch: Die alte Kirche, Anm. 60, S. 107. Vgl. Scheler: Weltalter des Ausgleichs, Anm. 17, S. 156 f. Vgl. Troeltsch: Die alte Kirche, Anm. 60, S. 110–113.
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verstandene Askese bildete für Troeltsch, vor allem in ihrer christlichen Form, in der alle asketischen Bewegungen der Spätantike zusammenflossen, ein grundlegendes Element Europas und einen konstitutiven Impuls zur Selbsterneuerung. So fand Troeltsch in der Synthese zwischen Antike und Christentum, die durch die Kirche ans Abendland weitergegeben wurde, ein Gleichgewicht, das starke Analogien zu dem aufweist, was Scheler in seinem Ausgleich zwischen Europa und Asien suchte. Ihr grundlegender Unterschied lag also nicht so sehr in ihrer Krisendiagnose noch in der Art der Lösungen, die sie zu ihrer Bewältigung suchten. Er lag vielmehr in ihrer Auffassung, wie das Universale in der Geschichte zum Ausdruck kommt bzw. angestrebt werden sollte, in der Weltausrichtung, die sie jeweils erwarteten bzw. förderten, und in ihrer Einschätzung der größten Gefahr: des Zusammenbruchs Europas oder des gewaltigen Zusammenstoßes der Kulturkreise.
Gabriele Guerra
Eine kulturpolitische Pathosformel für das europäische Bildungsbürgertum Deutscher Geist in Gefahr von Ernst Robert Curtius (1932) 1932 war bekanntlich ein verhängnisvolles Jahr für die Weimarer Republik: Anfang des Jahres wurde für die Nationalsozialisten klar, dass „das Schachspiel um die Macht“ begonnen hatte, wie Goebbels in seinem Tagebuch schrieb.1 Der Bürgerkrieg – oder noch besser, die ständige Beschwörung dieser Gefahr – dominierte die politische Öffentlichkeit. Die bürgerliche Mitte – in einem breiten Spektrum von der Sozialdemokratie bis hin zu den kulturkonservativen Parteien – war in ihrer Konsistenz einer ständigen, gefährlichen Konsenserosion ausgesetzt. Das spiegelte sich exemplarisch in der Reichspräsidentenwahl zwischen März und April wider, als klar wurde, dass diese Wahl nicht nur ein Bollwerk gegen den aufsteigenden Faschismus bedeutete, sondern vor allem aus Sicht der SPD etwas mehr: Die Wahl sollte zur Wiederwahl des alten Hindenburg führen und damit den Gipfel des Staates im Sinne einer präsidialen Interventionskraft stärken. Damit sollte die Wahl die Gefahren der oppositionellen Flügel bremsen, also der Nationalsozialisten und Kommunisten, vertreten durch die zwei anderen Wahlkandidaten Adolf Hitler und Ernst Thälmann. Von allen Seiten wurde das parlamentarische System also gründlich attackiert: von links aus ideologischen, von rechts aus rassistischen und moralpolitischen Gründen. Kriegerische Parolen, starke Frontsetzungen, harte Konfrontationskurse wurden in der ersten Hälfte des Jahres typisch für die politische Öffentlichkeit. Zweifelsohne lassen sich die letzten Jahre der Weimarer Republik als programmatische Jahre der Krise beschreiben, die wiederum jener „totalitären Versuchung“ ausgesetzt waren, von der Detlev Peukert in seinem historiographischen Standardwerk über die Weimarer Republik spricht. Es geht dabei um einen Drang zum Totalitären. Und dieser entstand Peukert zufolge aus einer Erwartungshaltung, „die sich in der Sehnsucht nach echter personaler Führerschaft […] und in der medialen Verbreitung einer formierten Öffentlichkeit ausdrückte“.2 Die Krise der bürgerlichen Demokratie war also zugleich eine Krise des liberalen Systems, vor allem insofern, als diese
1 Zit. in Blasius, Dirk: Weimars Ende. Bürgerkrieg und Politik 1930–1933, Frankfurt a. M. 2008, S. 33. 2 Peukert, Detlef: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 236 f.
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Krise stets an autoritäre Instanzen gekoppelt war – an konkret existierende wie erträumte. Der Liberalismus wurde von seinen Antagonisten aus dem rechtskonservativen oder aus dem konservativ-revolutionären Feld als Idee von 1789 gebrandmarkt, in einem Atemzug genannt mit Aufklärung, Zivilisation, Parlamentarismus, sowie mit zwecklosem, entscheidungsfremdem Geschwätz in der Politik. Eine solche Lage lud zu sehr kritischen Analysen ein, wie z. B. in Carl Schmitts 1923 veröffentlichtem Essay Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Dort betrachtet der Autor den Liberalismus als festen Bestandteil des Parlamentarismus, noch mehr: Er sieht im Liberalismus einen Glauben an den Parlamentarismus als homogene Abstraktion und damit eine politische Fiktion. Der Liberalismus ist nach Schmitt eine an sich widersprüchliche Metaphysik: Obwohl der Liberalismus auf dem Glauben an die öffentliche Meinung als Grundlage der Politik basiert (also auf dem Glauben an eine unsichere Grundlage), verlangt er für sich eine Totalität, die aber aus diesen Prämissen unmöglich wird. Der rhetorische Gestus Schmitts in dieser Schrift ist jedoch ambivalenter, als es scheint. Denn er möchte mit der Abwertung des Liberalismus einen positiven, nicht-liberalen Begriff der Demokratie durch den Rekurs auf das Esoterische „retten“.3 Für Schmitt soll das Unsichtbare der Politik (die arcana imperii) das echte Fundament der Politik sein. In der Tat scheint der deutsche Liberalismus zwischen den Weltkriegen der Situation zu entsprechen, die von Schmitt denunziatorisch dargestellt wurde: Der Liberalismus war eine politische Camouflage, weil er die harten Bedingungen der Politik verheimlichen musste, nämlich deren polemogenischen Charakter. Also war der deutsche Liberalismus dieser Zeit an sich konservativ, indem er die Ambivalenz des Politischen unbewusst zeigte. Wenn wir dies noch weiter denken, verkörpert der deutsche Liberalismus dieser Zeit die Pathogenese der bürgerlichen Welt, welche Reinhart Koselleck in seiner bahnbrechenden Studie über Kritik und Krise für das 18. Jahrhundert aufgezeigt hatte. „Die politische Anonymität der Aufklärung erfüllt sich in der Herrschaft der Utopie“, sagt Koselleck in seinen Schlussfolgerungen.4 Und was bedeutet dies für den Liberalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Er kultiviert die Utopie, dass die Gesellschaft aus freien Individuen bestehen würde, mit freien Meinungen und freier Handlungsfähigkeit, da sie ja nun ihre inneren Werte und ihre politische Aufrichtigkeit frei ausdrücken könnte. Die Utopie dieses Liberalismus ist eine regulative Utopie, die zur offenen, transparenten Gesellschaft streben soll. Kein Platz ist dort für die arcana der Macht, für Geheimhaltungen, für den politischen
3 Vgl. Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1985. 4 Koselleck, Reinhart: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. 157.
Eine kulturpolitische Pathosformel für das europäische Bildungsbürgertum
Stil des Verschweigens: Alles soll im offenen Licht stattfinden, im Licht der Vernunft und des freien Austauschraumes der Bürger. Der politische Gehalt der Liberalen ist schließlich ein utopisch-intellektueller, wie Ralf Dahrendorf es in seiner exemplarischen, 2006 erschienenen Schrift Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung gezeigt hat. Dort vertritt er die eher gewagte These, dass die Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, sozusagen kirchenlos, eigentlich „Erasmier“ sind (weil Erasmus „vor allem ein früher Repräsentant des modernen liberalen Geistes“ sei). Denker wie Raymond Aron, Karl Popper, Isaiah Berlin, Norberto Bobbio sind nach Dahrendorf „öffentliche Intellektuelle, die in ihrer Zeit den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden“.5 Die Stilisierung Dahrendorfs ist verführerisch, weil simpel und elegant in der Hochschätzung der Intellektuellen, die die bürgerlichen Werte in einer dunklen Zeit aufrechterhalten. Der Autor missachtet aber, dass die Erasmier schließlich als „Einzelkämpfer“, als unpolitische Denker in einer Epoche der systematischen Parteinahme agierten. In diesem Sinn verzichtete der Liberalismus auf seine politischen Prämissen in Namen einer transparenten Gesellschaft, die letztlich in eine unzeitgemäße Gelehrtenrepublik mündete. Tatsächlich war der klassische Liberalismus durch zwei mitkonkurrierende Widersprüche gekennzeichnet: Einerseits beanspruchte er für sich eine kohärente politische Mission zur Verbesserung des Menschen, die er aber nicht in der Lage war zu vervollständigen; andererseits bezog er sich dabei auf eine idealisierte Vergangenheit (den klassischen Humanismus, die Aufklärung) und vergaß dabei deren konkrete Konturen und historische Bedingungen. Es mag daher kein Zweifel bestehen, dass die Geschichte des deutschen Liberalismus eine Untergangsgeschichte ist, nicht nur rückwirkend betrachtet: Die Eigenartigkeit des Weimarer Liberalismus besteht in seinem nationalistischen Charakter, der ihn mit der Auflösung bestrafte. Denn der ‚echte‘ Rechtsnationalismus war eine antizivilisatorische, revanchistische, oppositionelle politische Kraft, die eine größere Wirksamkeit auf das politische Leben hatte.6 Im Grunde genommen war der deutsche Liberalismus der Weimarer Zeit stets mit einem Paradox konfrontiert, das Ernst-Wolfgang Böckenförde (übrigens noch ein Schüler Schmitts) nach dem Zweiten Weltkrieg als Phänomen des zeitgenössischen (Staats-)Liberalismus bezeichnet hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat
5 Dahrendorf, Ralf: Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006, S. 86 f. 6 Ein Paradebeispiel für eine solche Konjunktur ist der Essay, den der ehemalige Schüler Carl Schmitts, Waldemar Gurian, – unter dem Pseudonym Walter Gerhart – 1932 über das gesamte ideologische Gedankenarsenal der Rechtskonservativen verfasste: Gerhart, Walter: Um des Reiches Zukunft. Nationale Wiedergeburt oder politische Reaktion?, Freiburg i. Br. 1932.
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lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Und „das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“, fügt er hinzu.7 Damit ist der Liberalismus also der Schauplatz eines verlorenen Ringens um die Etablierung einerseits eines freiheitsbasierten Wertesystems, anderseits einer menschenzentrierten, humanismusbedingten Denkstruktur in der Politik; zugleich aber – und konsequenterweise – der Schauplatz einer Systemkrise. Dies belegen viele Texte aus der Zeit schon durch ihre Titel:8 Krise bedeutet in dieser Zeit Krise der parlamentarischen Legitimation, Krise der Institutionen, Krise der Parteien; aber auch Krise der Gesellschaft, Krise der Sinnstiftung, Krise des Menschen. Krisenerklärung bedeutet selbstverständlich auch, Ratschläge zur Überwindung der Krise zu erteilen, alternative Modelle auszuarbeiten und eine neue Zukunft zu imaginieren. Rüdiger Graf spricht dabei von einer „ubiquitäre[n] Krisenrhetorik“.9 Diese Rhetorik findet dann besonders markante Züge in den Formeln der „Krise des Geistes“, oder in der „Krise der Kultur“, bei denen es um nichts anderes als um das Schicksal Deutschlands geht. Exemplarisch für diese kulturpolitische Stimmung ist die Kampfschrift des Romanisten Ernst Robert Curtius, der 1932 ein kurzes Buch vorlegte. Der Titel war Deutscher Geist in Gefahr und wirkte denunziatorisch und polemisch. Zielscheiben der Kampfschrift gab es viele: Unter dem bekannten Hölderlinschen Motto „wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ hatte das Motto hier das Ziel, die Gefahren, denen der Geist ausgesetzt sei, zusammen mit den Rettungsversuchen zu schildern. Das Motto wurde damals gern und von politisch entgegengesetzten Seiten benutzt, wie Dirk Hoeges erinnert hat. Er hat 1994 eine Studie über die Beziehung zwischen Curtius und Mannheim und zum Problem der Intelligenz verfasst, die ein sehr gutes, detailliertes und facettenreiches Feld für diese Überlegungen anbietet.10 Das Buch von Curtius hat eine Vorgeschichte, denn seine Kapitel waren schon vorab publiziert worden, was von dem starken kulturpolitischen Engagement des Romanisten während der Dekadenz der Weimarer Republik zeugt, also zwischen
7 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 92–114, hier S. 112. 8 Vgl. Weber, Alfred: Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 134–142; Weber, Alfred: Das Ende der Demokratie. Ein Vortrag, Berlin 1931; Hellpach, Willy: Parlamentsdämmerung, in: Die Neue Rundschau 38 (1927), S. 337–349; Meinecke, Friedrich: Einige Gedanken über Liberalismus (1927), in: Ders.: Politische Schriften und Reden (Werke, Bd. II), hg. von Georg Kotowski, Darmstadt 4 1979, S. 414–417. 9 Graf, Rüdiger: Die „Krise“ im intellektuellen Zukunftsdiskurs der Weimarer Republik, in: Follmer, Moritz/Graf, Rüdiger (Hg.): Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005, S. 77–106, hier S. 78. 10 Vgl. Hoeges, Dirk: Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim. Intellektuelle und „freischwebende Intelligenz“ in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 1994.
Eine kulturpolitische Pathosformel für das europäische Bildungsbürgertum
1929 und 1932. Die Gegner von Curtius sind vor allem die den Ungeist betreibenden Mächte und Instanzen, links und rechts. Sie seien es, die „in dem Jahr der großen Entscheidungen“, so Curtius in dem Vorwort,11 die größte Not bereiten, für Volk, Vaterland, Wirtschaft und Kultur – und auch für den Geist, der nun keine zentrale Rolle mehr einnimmt, wie es im klassischen Bildungsbürgertum der Fall war. In den fünf Kapiteln von Curtius’ Buch – „Bildungsabbau und Kulturhaß“, „Nation oder Revolution?“, „Krisis der Universität?“, „Soziologie oder Revolution?“, „Humanismus als Initiative“ – bleibt der Autor aber politisch unentschieden: Zweifellos ist der Duktus kulturkonservativ, denn Curtius schildert eine klare Verfallsgeschichte der bürgerlichen Werte, ohne dabei aber kulturpessimistisch zu sein: eher affirmativ als rein denunziatorisch. Der Text ist vor allem eine Kampfschrift, deutlich im Ton, in der Form und im Stil. Damit reduziert sich der Text aber nicht auf einen Appell oder auf eine zeitkritische Anklage. Vielmehr reklamiert er einen kulturpolitischen Ort für sich und läuft dabei doch ins Leere. Anders gesagt: Deutscher Geist in Gefahr wirkt pathetisch, weil Curtius angesichts der Gefahren dieser Zeit auf die bedingungslose Lebendigkeit und Beweglichkeit des Bildungs-Geistes abzielt mit einem dezidiert aktiven Ton und Stil. In diesem Sinn lässt sich der Text als eine Pathosformel deuten, um mit Aby Warburg zu sprechen: Für den deutsch-jüdischen Ikonologen verkörpert eine Pathosformel nämlich den „Idealstil gesteigerter Beweglichkeit“ in der Kunstgeschichte zwischen Antike und Renaissance, als Ausdrucksform künstlerischer Gebärdensprache.12 Curtius sollte auch 1950 zu der Rolle des Pathetischen in der Literatur ausgehend von Warburg Stellung nehmen, indem er die Pathosformeln registrierte, welche sich in der klassischen lateinischen Literaturgeschichte via Dante bis zu den epischen Klischees im Rolandslied nachweisen lassen. Bedeutungsvoll und exemplarisch erscheint dabei z. B. die Tatsache, dass die Pathosformel in Lucans Werken eigentlich einen politischen Hintergrund aufweist angesichts des Bürgerkriegsgräuels, während das Pathos bei Vergil eher „klassisch gedämpft“ klinge.13 Die Pathosformel lässt sich damit auch politisch einsetzen als rhetorisches Echo ausgeübter Grausamkeit, aber auch – und konsequent – als Verstärkungsmittel der humanen Lebendigkeit. Als Pathosformel werden also Bildung und Geist bei Curtius 1932 zu einem politisch regulativen Werkzeug der Geschichtsphilosophie. Die Lebendigkeit – noch besser, die Belebung – des Geistes als politische Formel bedeutet aber für Curtius vordergründig nicht, dass der Geist nur frei sein soll. Der Geist soll also nicht prinzipiell liberal
11 Curtius, Ernst Robert: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin 1932, S. 9. 12 Warburg, Aby: Der Eintritt des antikisierenden Idealstils in die Malerei der Frührenaissance (1914), in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I, hg. v. der Bibliothek Warburg, Berlin 1932, S. 173–176, hier S. 175. 13 Curtius, Ernst Robert: Antike Pathosformeln in der Literatur des Mittelalters (1950), in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München 1960, S. 23–27, hier S. 25.
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konzipiert sein, nicht zumindest in dessen ursprünglichen Sinn (angenommen, es gebe tatsächlich einen ursprünglichen Sinn der deutschen Liberalismusidee im 20. Jahrhundert). Der Geist soll eher fixiert, unbeweglich sein, sozusagen staatlich anerkannt und daher als Institution etabliert. Dieser Widerspruch in der Schrift Curtius’ ist derselbe wie der des deutschen Liberalismus in der Weimarer Zeit, der ein staatszentrierter, ja sogar ein obrigkeitsstaatlich konzipierter Liberalismus war. Das ist allerdings im Grunde genommen die spezifische Form des Liberalismus unter dem Zeichen eines autoritären Staates, der sich in den letzten Jahren der Weimarer präsidialen Demokratie entwickelt: eine Art Ordoliberalismus, in dem sich ein fataler Bruch zwischen Kultur und Nation zeigt: Während Kultur nun als Kulturpessimismus artikuliert wird, wird Nation unter einer „säbelrasselnde[n] staatliche[n] Sicherheit“ subsumiert.14 Liberalismus ist also bei Curtius als rhetorische Abwehrstrategie konzipiert: als Habitus eines stilisierten freien Denkers, der sich gleichwohl gern einpanzert und schützt gegen die Stöße der Zeit. Ein solcher, im Wesentlichen konservativ aufrichtiger Intellektuelle kann identisch und zugleich verschieden von jener „freischwebenden Intelligenz“ gedeutet werden, von der Karl Mannheim in seiner Schrift Ideologie und Utopie von 1929 spricht. In diesem Text möchte der deutschjüdische Soziologe ungarischer Herkunft und Schüler von Max Weber die Lage von unabhängigen, entwurzelten Denkern schildern, die in ihrem Standort immer auf sich selbst verwiesen sind. Mannheim stellt auf eine wissenschaftliche, aber auch existentielle Weise die Position der Intellektuellen seiner Zeit dar, die – meistens durch ihren jüdischen Ursprung – keine „Heimat“ mehr haben, und doch nach einer Heimat streben. Das ist die Position Curtius’, auch wenn er kein Jude ist, und obwohl er mit Mannheim stark polemisiert. (Über die wahren Gründe dieser radikalen Polemik, die die offenkundigen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden verdunkelt, kann man nur spekulieren – ohne Zweifel spielen aber die jüdische Herkunft Mannheims und eine gewisse akademische Konkurrenz eine wichtige Rolle. Hoeges hat auf überzeugende Weise gezeigt, wie stark die Gemeinsamkeiten Curtius’ und Mannheims sind, indem „beide […] sich einer Elite zugehörig [sehen], deren exponierte Position leicht in soziale Überflüssigkeit umschlagen kann“.15 Curtius ist also mit seiner Schrift sowohl freischwebend als auch stark verortet in dem Geist, in einer intellektuellen Mission humanistischer Couleur, die sehr
14 Giesen, Bernhard: Die Intellektuelle und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 231. Eine Seite später fügt der Autor resümierend hinzu: „Nach der Reichsgründung lösten die Intellektuellen die Verbindung zwischen identitätssichernder Kultur und Nation. Im Kulturpessimismus rekonstruierten sie die kritische Spannung zwischen Kultur und dem Bestehenden und Weltlichen“ (ebd., S. 232). 15 Hoeges: Kontroverse, Anm. 10, S. 43.
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gelehrsam wirkt. Diese Gelehrsamkeit ist das beste Indiz für den Mangel an sozialpolitischer Positionierung dieser im Grunde genommen isolierten Intellektuellen. Deutscher Geist in Gefahr ist Ausdruck einer solchen paradoxen Positionierung Curtius’: trotz der breiten Palette an Autoren, die in dem Buch erwähnt und zur Rede herangezogen werden, bleibt diese Kampfschrift der isolierte Schritt eines parteilosen Gelehrten. Die Schrift wirkt wie ein Appell zur Wiederbelebung des bildungsbürgerlichen Geistes in Deutschland kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Aus guten Gründen blieb dieser Appell unerhört, denn er hatte nirgendwo eine (tages-)politische Anbindung. Dem Romanisten ging es darum, den Begriff des Humanismus zu reaktivieren (Hoeges spricht dabei von dessen „emphatische[m] Humanismus“16 ), den drei Aspekte auszeichneten: 1. eine Intellektuellentypologie im geschichtsphilosophischen Sinn. Der Humanist des 20. Jahrhunderts nimmt direkten, normativen Bezug auf die humanistischen Figuren der Renaissance, etwa wie Dahrendorf es mit seiner Stilisierung der Erasmier später tun wird; 2. diese Typologie verkörpert ihrerseits eine philosophische Denkfigur in Form einer Pathosformel; 3. diese Pathosformel wird wiederum zur politischen Initiative, die der Bildungsbürger nach dem Ende des politischen Liberalismus unternehmen muss, wenn er überleben und weiter seine intellektuelle Führungsposition bewahren will. In diesem Sinn lässt sich Deutscher Geist in Gefahr nicht einordnen als eine bloße Reaktualisierung des Unpolitischen à la Thomas Mann, von der einige Forscher sprechen:17 Unpolitisch war 1932 Curtius nämlich nicht, weil er sehr genau bemerkte, dass die Zeiten sich geändert hatten in Vergleich zu denen der Betrachtungen: Es waren nun Zeiten, die eine andere Beziehung zur res publica aufzwangen, als es zur Zeit Thomas Manns der Fall war (der hatte allerdings immerhin nach den Betrachtungen die Rede Von deutscher Republik gehalten). Curtius war auch politisch, weil er Carl Schmitt und dessen Begriff des Politischen aus dem gleichen Jahr seiner Kampfschrift sehr deutlich erwähnt.
16 Ebd., S. 166. 17 In diesem Sinn wirkt die Grundthese Hans Manfred Bocks strittig, nach der Curtius sich in die Denkfigur des unpolitischen Gelehrten einreihen lässt, in der Tradition Thomas Manns. Vgl. Bock, Hans Manfred: Ernst Robert Curtius und die Aporien des ‚unpolitischen‘ Intellektuellen, in: Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hg.): lntellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt a. M. 1994, S. 233–244. Dass diese Idee tief in der deutschen Literatur- und Politikwissenschaft verankert ist, zeigt auch der vorherige Aufsatz von Sontheimer, Kurt: Ernst Robert Curtius’ unpolitische Verteidigung des deutschen Geistes, in: Lange, WolfDieter (Hg.): „In Ihnen begegnet sich das Abendland“. Bonner Vorträge zur Erinnerung an Erst Robert Curtius, Bonn 1990, S. 53–61.
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Dieser Text Schmitts beginnt in der Tat bekanntlich fulminant: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“.18 Man könnte das Zitat Schmitts so umschreiben, dass es der Begriff des politischen ‚Liberalismus‘ ist, der den Begriff des Staates voraussetzt (und somit kein purer Liberalismus mehr ist). Die Deutung der These Schmitts ist dabei radikal: Der deutsche klassische Liberalismus hat seine Funktion ausgeschöpft, weil er unfähig war, eine erkennbare politische Form zu bewahren. In diesem Sinn lässt sich der deutsche Liberalismus als politisch und unpolitisch zugleich deuten. Das Politische bei Curtius ist in dieser Hinsicht komplizierter: Er versuchte einerseits, den romantischen Ökonomen und Staatstheoretiker Adam Müller mit Carl Schmitt zusammenzudenken (also das romantische Gedankenarsenal jenseits des romantischen Pathetischen zu artikulieren), damit aber andererseits die Bildung als zentrale Rettungskategorie des Geistes anzusehen. Die Bildung gilt also als politisches Mittel für die Rehabilitierung des Deutschen, noch besser: als Stück einer ‚positiven‘ politischen Romantik (gegen die Schmitt 1919 seine gleichnamige Studie veröffentlichte und die von Curtius begeistert rezipiert wurde). Die politische Positionierung Curtius’ ist nämlich die der politischen Romantiker, wie sie Mannheim in einem Aufsatz über den konservativen Charakter geschildert hat: „Gerade durch jene labile äußere Lage und durch einen, den eigenen engen Lebenskreis weit übersteigenden, geistigen Horizont vereinigen diese romantischen Literaten eine ungeheure Sensibilität mit einer moralischen Unsicherheit“.19 Um diese moralische Unsicherheit zu überwinden, muss man sich politisch und philosophisch panzern: Die Bildungsidee nach Curtius ist also eine ontologische, eine Möglichkeit zur Wiederbelebung des Humanen in einem totalen Sinn: „Bildung ist Teilhabe der menschlichen Personen an allem, was wesenhaft ist in Natur und Geschichte – sie ist Selbstkonzentration der Welt im Menschen oder Emporbildung des Menschen zur Welt“.20 Gegen den gefährlichen Abbau der Bildung muss man handeln, sagt Curtius emphatisch, sofort handeln. Aus dieser totalen Emporbildung des Menschen zur Welt und aus der sich daraus entwickelnden Handlungsbereitschaft des Menschen entsteht die politische Funktion der Bildung, die für Curtius auf einer nationalen Ebene zu verwirklichen ist. Die Positionierung Curtius’ erscheint hier liberal nur in einem sehr spezifischen deutschen Sinn: Der deutsche Liberalismus ist genauso individuumszentriert wie staatsorientiert und
18 Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1991, S. 20. 19 Mannheim, Karl: Das konservative Denken. Soziologische Beiträge zum Werden des politischhistorischen Denkens in Deutschland (1927), in: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied 1964, S. 455. 20 Curtius: Deutscher Geist, Anm. 11, S. 14.
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deutschnational im kulturkonservativen Sinn; schließlich exklusiv und monomanisch erscheint der deutsche Liberalismus, wie Lepenies es in seinem bekannten Buch über Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft sehr überzeugend beschreibt (wo er selbstverständlich auch von Curtius und Mannheim spricht).21 Und doch lässt sich diese politische Positionierung nicht auf eine reine nationale Ebene beschränken, wie Curtius es sagt: „Nur aus eigner Substanz kann der deutsche Geist nicht leben“.22 Politisch ist also seine Bildungsidee, weil sie auf einem erweiterten Europagedanken aufbaut und ihren Platz findet auf einer deutsch-französischen Achse (auch in einem problematischen Sinn innerhalb der gesamten Denkentwicklung Curtius’). Der politische Vorschlag von Curtius ist also philosophisch binational: Nur aus der humanistischen Verbundenheit zwischen Deutschland und Frankreich kann die Bildungsidee neu begründet und damit politisch nützlich werden. „Politisch“ bedeutet in dieser spezifischen Argumentation sowohl staats-, als auch hochschulpolitisch, denn der Akademiker Curtius sieht in der Universität seiner Zeit eine Chance und ein Verhängnis zugleich: eine Chance, wenn sie ihre pädagogische Funktion bewusst vervollständigt; ein Verhängnis aber, weil sie jetzt in eine Legitimationskrise geraten ist, die der Gefahr ausgesetzt ist, ihre pädagogische Funktion zu verpassen. In diesem Sinn ist die notwendige Modernisierung der deutschen Universitäten für Curtius stark an den Elitegedanken gebunden: Für keine Staatsform sind Eliten unentbehrlicher als für die Demokratie. Das Bewußtsein von diesem Sachverhalt scheint der deutschen Demokratie noch weitgehend zu fehlen. […] Wir vertrauen, daß auf der Universität selbst, in der Lebensgemeinschaft ihrer Lehrer und Schüler, dieser Geist in der gegenwärtigen Stunde deutschen Schicksals seiner Sendung bewußt bleibe.23
Das kulturpessimistische Lamento fährt in dem vierten Kapitel fort. Dieses ist eigentlich eine konfuse Tirade gegen Mannheims Soziologie, die für sich eine zu starke politische Konzeption reklamiert, im Namen des Kollektivs. Und somit unterwirft er die Soziologie einer Stringenz, die zugleich Beweis für ihren Krisenzustand ist: „Gerade in solchen Zeiten der Nervosität müßte die Wissenschaft momentane Stimmungen am Bilde des geschichtlichen Beharrens berechtigen“.24 Im Zentrum der Analyse soll eher die Person als Geistwesen sein, ist die Folgerung Curtius’.25 21 Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München/Wien 1985, S. 377–401. 22 Curtius: Deutscher Geist, Anm. 11, S. 50. 23 Ebd., S. 77 f. 24 Ebd., S. 91. 25 Vgl. ebd., S. 96.
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Viel interessanter ist das Schlusskapitel, „Humanismus als Initiative“. Dort entwickelt Curtius eine Argumentation, die nicht nur einen Humanismusbegriff als Hilfsmittel gegen die Krise des Geistes vorschlägt, sondern diesen Begriff in einer ziemlich überraschenden Form umdeutet. Da jeder echte Humanismus nichts anderes sein müsse als „Enthusiasmus der Liebe“,26 ist das Ziel Curtius’ hier, den versteckten, pathosgeladenen Spuren des historischen Humanismus zu folgen und diese damit zu aktualisieren. „Enthusiasmus der Liebe“ heißt hier nämlich, auf die mystisch-neuplatonischen Tendenzen jenes Humanismus von Ficino und dessen Florentiner Kreis hinzuweisen, die eine direkte Affinität zur Mysterienrede des Dionysismus zeigt. Enthusiasmus ist hier als terminus technicus für „göttliche Besessenheit“ und damit als neue Form des Zusammenseins im Zeichen des Dionysismus zu deuten. Die Initiative ist also auch Initiation: Beide Termini haben denselben etymologischen Grund, erinnert er: „Initiation und Initiative – das Wort der Mysterienkulte und das des Staatsrechts gehen auf dieselbe lateinische Wurzel zurück, die Anfang und Eingang bedeutet“.27 Die Rhetorik dieses Wortspiels zwischen Initiative und Initiation lässt auf Curtius’ Intention schließen: Einerseits wünscht er sich kulturpolitischen Aktionismus, andererseits ein Eingangsritual in eine Kultgemeinschaft des Geistes. Dieses Spiel ist ernst zu nehmen, weil es in sich eine verborgene Dialektik birgt, die wie die kulturpolitische Signatur der Schrift wirkt: zwischen geistespolitischer Intervention und der Einladung zur Gemeinschaftsstiftung unter Intellektuellen. Und das bedeutet: Der Humanismus muss eine Initiation sein, also sozusagen ein ritueller Eingang in eine neue intellektuelle Lebensform, die durch das Mystische erfolgt. Deswegen ist der Humanismus im Sinne Curtius’ eine „Mysterienrede“ des Dionysismus. Mysterienrede ist ein Begriff, der an das Buch von Dirk von Petersdorff Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller aus dem Jahr 1996 angelehnt ist. Die Studie konstatiert eine zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert wiederbelebte, also praktizierte Diskursivierung des klassischen Dionysismus: Mysterienrede ist im Diskurs der späten Aufklärung eine Form, in der sich das Bewusstsein einer gesellschaftlichen Partikularisierung formulieren läßt. […] Mysterienrede erlaubt nämlich die Stilisierung einer Teilgruppe und ihrer Position: Die Erkenntnis gesellschaftlicher Minorität wird im esoterischen Bewusstsein kompensiert, indem man sich eine avantgardistische Funktion zuschreibt und damit eine in der Gegenwart noch verborgene Meinungsführerschaft behauptet.28
26 Ebd., S. 107. 27 Ebd., S. 123. 28 Petersdorff, Dirk von: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller, Tübingen 1996, S. 116.
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Die Erkenntnis, eine gesellschaftliche intellektuelle Minderheit zu sein, wird also im esoterischen Bewusstsein kompensiert: Das ist exakt die soziokulturelle Positionierung Curtius’ in seiner Streitschrift, wenn er vorschlägt, dass der Humanismus nicht nur eine kulturpolitische Initiative zur Wiederbelebung des Geistes werden muss, sondern auch, dass dieser Geist als versteckt religiöse Instanz, als Initiation wirken muss. Auf diese Weise legitimiert Curtius einen Humanismusbegriff, der die Faszination des Esoterischen beinhaltet – und auch als Modell für eine verborgene Vergemeinschaftlichung dient.29 Dieser esoterische Humanismus dient Curtius dazu, einerseits ein ideengeschichtliches Modell zu entwickeln, das nach Warburgs Muster des Nachlebens der Bilder funktioniert (und dabei zitiert er ihn direkt);30 andererseits nutzt Curtius den esoterischen Humanismus auch für eine intellektuelle Stilisierung, die wie eine medianische „Geisterbeschwörung“ des Humanismusgenies funktioniert jenseits der literarischen und kulturellen Epochen. Und in der Tat: Humanismus ist für Curtius ein transhistorisches Phänomen, von der Spätantike hin bis zum italienischen Quattrocento, von den griechischrömischen Zeiten bis zum Christentum, von der Gotik bis zum deutschen Gelehrtentum der Wilhelminischen Ära. Curtius setzt damit einen Begriff des historischen Geschehens voraus, der auf dem Begriff der Analogie basiert: „Keine Zeit wiederholt sich; keine kann durch Nachahmung einer früheren die eigne Wegfindung ersetzen. Wohl aber kann sie sich an einer früheren orientieren. Kann ihre Gegenwartskonstellation erhellen im Lichte der Analogie“.31 Die Analogie gilt hier als geschichtsphilosophische Figur, zwischen Antike und Romantik, die die Musterfiguren typologisch verdoppelt, laut des christlichen Typus der Präfiguration, des
29 Es ist bemerkenswert, dass sich diese Idee Curtius’ parallel zu der des „geheimen Deutschlands“ aus dem George-Kreis entwickelt: Beide teilen nämlich dieselbe Haltung zum Esoterischen und zum Verborgenen, die sich antithetisch den dominanten sozialen Säulen der öffentlichen Gesellschaft gegenüberstellt. Noch interessanter erscheint hier, dass eine solche Faszination ein erstaunliches Nachleben in den Nachkriegsjahren hatte, als „öffentliche“ Neupositionierung an den Fronten des Kalten Krieges. Dazu lassen sich interessante Seiten lesen, einerseits bei Raulff, Ulrich: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009 (v. a. über die Rolle Kantorowiczs, der 1933 Georges Begriff des „geheimen Deutschlands“ benutzte und sozusagen nach Amerika mitnehmen sollte), andererseits bei Picht, Barbara: Die ‚Interpreten Europas‘ und der Kalte Krieg. Zeitdeutungen in den französischen, deutschen und polnischen Geschichts- und Literaturwissenschaften, Göttingen 2022, bes. S. 239; dort ist die Rede davon, wie Curtius die kulturpolitische Initiative der Streitschrift in der Nachkriegszeit z. T. nur unter dem Deckel der Vereinigten Staaten fortsetzen wollte. 30 Humanismus ist in dieser Hinsicht für Curtius „Selbstbegegnung des modernen Geistes mit einem Leben, das in dunkler Tiefe des Blutes schlief und sich nun seines Ursprunges versichert. […] So konnte Griechentum in gotischer Kathedralplastik, so konnten antike Pathosformel, seelische Engramme (wie Aby Warburg zu sagen pflegte) in italienischer Malerei wiedererstehen“ (Curtius: Deutscher Geist, Anm. 11, S. 107). 31 Ebd., S. 126.
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alten Christus, der als exemplarisches Modell für die Heilsgeschichte gilt. Die Bedeutung des religiösen Diskurses wird in dieser Argumentation Curtius’ verdoppelt, auch durch den Hinweis auf das Dionysische. Die Befindlichkeit Curtius’ ist dabei sehr facettenreich: ideengeschichtlich typologisch, politisch kulturkonservativ und kulturell topologisch, intellektuell freischwebend und romantisch. Und dazu wirkt sein Text wie eine Pathosformel, die auf mythogenetische Weise den Geist wieder beweglich macht. Mythogenetisch, weil der Liberalismus in diesem Modell nicht mehr als Ideologie funktioniert, sondern als mythische Darstellungsform des intellektuellen Lebens: Wenn der Humanismus als Politikum agiert, passiert dies nur, weil er ein esoterisches Zeichen für eine neue menschliche Gemeinschaft ist, die sich in initiatisch-esoterischer Weise strukturiert wie eine Geheimgesellschaft.32 Der Humanismus bei Curtius wird somit zum vitalistischen-esoterischen Begriff. So betont es Curtius emphatisch: „Nicht aus akademischen Diskussionen, nicht aus pädagogischen Programmen wird der Humanismus sich erneuern. Diese Erneuerung kann nur aus stärkster Verdichtung und schöpferischer Intensität des Lebens kommen“.33 Nur so kann der Humanismus belebend wirken, als Zusammenhalten von Leben und Geist – nur so kann er Initiative werden, weil er als Initiation fungiert, Initiation zum echten, geistvollen Leben. Nur so kann die Vergangenheit Züge der Zukunft innehaben: „Bewahrte Erinnerung, die zugleich neuen Anfang aus sich entläßt – dies scheint mir der einzige mögliche Rechtsgrund einer zugleich konservativen und liberalen Kulturgesinnung zu sein“.34 Die Pathosformel Curtius’ mündet somit in die des totalen Humanismus – im räumlichen und im zeitlichen Sinn, über die Grenzen und über die Epochen hinaus, im sinnlichen und im geistigen Sinn (der bildet somit jene „imaginäre Polis der Intelligenz“, von der Hoeges spricht).35 Durch diese vielfältige, durchkreuzte Symbolik artikuliert Curtius eine Art politische Religion der humanen Bildung, die vom Glauben an Deutschland und an den Geist getra-
32 1931 hatte Curtius in der Literarischen Welt sehr explizit geschrieben: „Sollte es sich wirklich so verhalten, daß die Kulturfeindschaft, die Geistfeindschaft, die rote Klassenfeindschaft und die braune Rassenfeindschaft den tiefsten Aspirationen des deutschen Wesens entsprechen, so wird man eben danach trachten müssen, eine Art von innerer Mission in diesem Lande zu organisieren. Es wird sich eine geheime Gesellschaft von Menschen bilden müssen, die sich geloben, in dieser fragwürdigen Welt und gegen sie die Güter der Überlieferung zu schützen, sie fortzupflanzen, sie hindurchzuretten, wie die Mönche des Mittelalters“ (Curtius, Ernst Robert: Frankreich, Deutschland und die Tradition, in: Literarische Welt 7, 28. August 1931, S. 3). Eine solche Meinung entspricht auch dem, was Curtius zum Schluss seiner Kampfschrift betont, der Humanismus „muß sich verdichten, anstatt sich zu verbreitern“ (Curtius: Deutscher Geist, Anm. 11, S. 129). 33 Ebd., S. 115. 34 Ebd., S. 123 f. 35 Hoeges: Kontroverse, Anm. 10, S. 225.
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gen ist. Dies sagt er explizit und apodiktisch im Nachwort.36 Hier gibt es keinen Platz für liberale Gesinnungen, der „emphatische Humanismus“ Curtius’ ist nicht demokratisch zu denken:37 In diesem Sinn gehört diese Schrift Curtius’ sicherlich und emblematisch zu den Aporien des deutschen Liberalismus um 1932.
36 „Indem ich diese Schrift abschließe, bin ich mir bewußt, daß der doppelte Glaube an Deutschland und an den Geist, von dem das Vorwort redet, in unseren Betrachtungen nur angedeutet, nicht entfaltet werden konnte“ (Curtius: Deutscher Geist, Anm. 11, S. 131). Im Vorwort schrieb er mahnend, „wer diesen doppelten Glauben nicht teilt, möge diese Schrift aus der Hand legen“ (ebd., S. 10). 37 Das sagt Hoeges explizit zum Schluss seiner Studie, vgl. Hoeges: Kontroverse, Anm. 10, S. 190.
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L’idée d’Europe de Chabod
„Je retrouve aujourd’hui un sujet que j’ai déjà traité par le passé: une première fois dans un cours donné à la Faculté des Lettres de Milan entre l’automne 1943 et le printemps 1944, qui concernait aussi bien l’idée d’Europe que l’idée de nation“. C’est ainsi que débute la Storia dell’idea d’Europa écrite par l’historien valdôtain Federico Chabod et parue une première fois en 1947.1 Le lecteur d’aujourd’hui peut être frappé par deux éléments dans cet incipit. Le premier est bien sûr le moment où l’universitaire, alors professeur à Milan, a parlé (librement) de l’idée d’Europe: dans une région sous le contrôle de la nouvelle République dite de Salò dominée par les nazis-fascistes. L’autre point important est le binôme idée de nation et idée d’Europe qui semble alors naturel à l’historien. Répondre aux questions que soulèvent ces points et analyser de façon plus générale l’essai proposé par Chabod supposent de rappeler le contexte à la fois historique, historiographique et biographique qui sous-tend le projet de l’historien. Commençons par présenter le premier historien de l’idée d’Europe. Federico Chabod est né en 1901. Il obtient sa laurea (diplôme universitaire le plus élevé alors) avec un mémoire écrit sur Machiavel. Bien qu’un temps proche des jeunes antifascistes qui s’étaient réunis autour du journaliste Piero Gobetti (1901–1926), réfugié à Paris où il meurt entre autres des coups que lui avaient infligés les miliciens fascistes et ayant aidé l’universitaire socialiste Salvemini à fuir l’Italie, l’historien moderniste reste à l’écart de toute action politique et accepte de collaborer à l’Institut italien pour l’histoire moderne et contemporaine (ISPI) dirigé par le médiéviste Gioacchino Volpe, fasciste convaincu. C’est au sein de cet Institut que lui vient le goût pour l’histoire des relations internationales. Professeur à l’Université de Pérouse puis à Milan pendant la guerre, il s’engage dans la Résistance au Val d’Aoste dont il devient le premier président de la région libérée. Autonomiste contraire au rattachement à la France, il obtient que sa région natale bénéficie du statut d’autonomie. Lorsque paraît son essai sur l’idée d’Europe, il est professeur à l’Université de Rome et vient d’accepter la direction de l’Institut italien pour les études historiques fondé la même
1 Chabod, Federico: Storia dell’idea d’Europa, Bari 1947. Les citations qui suivent sont tirées de l’édition suivante: Chabod, Federico: Storia dell’idea d’Europa, hg. von Ernesto Sestan und Armando Saitta, Rom/Bari 1961, et elles sont traduites par l’auteur.
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année 1947 par le philosophe et historien Benedetto Croce, référence majeure de l’intellectualité italienne.2 C’est précisément par Croce et son Histoire de l’Europe au XIXe siècle que débutera le rappel du contexte historiographique dont il a été question plus haut. Avant cela, précisons les raisons qui poussent Chabod à aborder l’idée d’Europe, devant des étudiants, en pleine guerre mondiale. On peut dater de l’immédiat après-guerre les prémisses d’une réflexion paneuropéenne en Italie. L’économiste Luigi Einaudi, professeur à l’Université de Turin (et futur président de la République italienne) considérait en 1919 que la Société des Nations aurait dû être bâtie sur le modèle des treize colonies américaines. Le président de la FIAT Giovanni Agnelli évoque dans son ouvrage co-écrit avec Attilio Cabiati une „Fédération européenne“.3 C’est toutefois davantage le détournement de l’idée européenne par le régime fasciste de Mussolini qui a stimulé en retour la réflexion menée au sein de l’antifascisme qui est à l’origine de celle de Chabod. Il faut bien évidemment citer le célèbre manifeste de Ventotene rédigé en 1941 par trois antifascistes relégués sur l’île par la dictature.4 Véritable programme politique où l’unité européenne et le dépassement du cadre de l’État-Nation doivent être au cœur de la reconstruction des démocraties pour éviter toute nouvelle guerre, le manifeste témoigne de la prégnance de l’idée d’Europe en Italie, comme les nombreuses publications de l’après-guerre – dès 1944, avant la libération totale du territoire – qui reprennent le thème du fédéralisme à l’échelle continentale.5 Sensible à ces idées et à ce programme, Chabod ne poursuit toutefois pas dans son essai une optique politique: il cherche à comprendre la genèse de l’idée qui fonde le projet défendu par les fédéralistes et dont il pense, à juste titre, qu’il enthousiasme la jeune génération d’étudiants auxquels il s’adresse. Composée d’une introduction (Premessa), de six chapitres et d’un Appendice, qui correspondent aux leçons prononcées par l’historien valdôtain, la Storia dell’Idea d’Europa aborde la conception intellectuelle de la notion d’Europe à travers essentiellement des écrivains, philosophes et historiens depuis l’Antiquité (Aristote)
2 Sur Chabod, lire Soave, Sergio: Federico Chabod politico, Bologna 1989 et Vigezzi, Brunello: Federico Chabod e la nuova storiografia italiana dal primo al secondo dopoguerra, 1919–1950, Mailand 1984. 3 Agnelli, Giovanni/Attilio, Cabiati: Federazione Europea o Lega delle Nazioni?, Turin 1918. Lire également les pages consacrées à l’Italie dans Guillaume, Sylvie (Hg.): Penser et construire l’Europe de 1919 à 1992 (Capes, Agrégation), Paris 2007. 4 Sur le manifeste de Ventotene, rédigé par Eugenio Colorni, Ernesto Rossi et Altiero Spinelli, voir entre autres Cofrancesco, Dino: Il contributo della Resistenza italiana al dibattito teorico sull’unificazione europea, in: Pistone, Sergio (Hg.): L’idea dell’unificazione europea dalla prima alla seconda guerra mondiale, Turin, 25.–26. September 1974, Turin 1975, S. 123–170 et Vayssière, Bertrand: Le Manifeste de Ventotene (1941): acte de naissance du fédéralisme européen, in: Guerres et conflits contemporains 217 (2005), S. 69–76. 5 Vgl. Attal, Frédéric: Histoire des intellectuels italiens au XXe siècle. Prophètes, philosophes, experts, Paris 2013, S. 251–253.
L’idée d’Europe de Chabod
jusqu’au XIXe siècle (Guizot). Pour Chabod, l’Europe relève avant tout de la volonté humaine. Citons les suites de l’introduction dont nous avons déjà lu le début: Ce qui nous intéresse c’est l’idée d’Europe du point de vue culture et moral; de l’Europe qui forme un quid en soi, distincte des autres parties du globe, surtout en raison de certaines de ses caractéristiques précises de sa façon de penser et de comprendre, de ses systèmes philosophiques et politiques; de l’Europe comme ‚individualité‘ historique, avec sa tradition qui peut se réclamer de toute une série de noms, faits, pensées qui lui ont donné, avec le temps une empreinte indélébile. […] Ici aussi, somme toute, ce qui importe, c’est le facteur ‚esprit‘, ‚volonté‘; c’est l’élément moral qui prédomine de très loin sur l’élément physique. Loin de nous l’idée de nier que le fait d’avoir, pendant des millénaires, habité ces terres, façonnées morphologiquement d’une certaine façon, aient pu influer sur la forma mentis des populations. Ce que l’on doit clairement affirmer, c’est, si l’on veut, que ce qui importe est la forma mentis même, qui peut être, certes le résultat d’une acclimatation au paysage géographique, mais qui est surtout l’œuvre de l’histoire, celle de la volonté des hommes, laquelle a, au cours des siècles, imprimé son sceau durable sur les générations qui se sont succédées et se succèdent sur le continent appelé Europe.6
L’Europe est donc avant tout le produit d’une vision du monde et d’une pensée politique que Chabod entend retracer à travers les âges.
1.
Sources mentionnées et contexte historiographique
Conformément à l’optique qu’il s’était fixée, Chabod s’est exclusivement appuyé sur des sources littéraires pour aborder son histoire, avec un tropisme pour les penseurs politiques de Machiavel aux philosophes français des Lumières, singulièrement Montesquieu et Voltaire qui fixent son attention puis Guizot pour la première moitié du XIXe siècle. Le choix de ces auteurs, conforme, répétons-le, à la ligne directrice de l’ouvrage, n’est pas non plus anodin dans le contexte particulier de l’occupation nazie et la dictature de la République fasciste de Salò. Citer à l’envi des penseurs français du XIXe siècle, c’est revendiquer fièrement l’héritage libéral et l’influence française dans la genèse de l’Europe contemporaine, contre la gallophobie fasciste qui réécrivait l’histoire de l’unité italienne (et de l’Europe au XIXe siècle) comme le fruit d’un combat contre le modèle hérité de la Révolution française et des idées qui la portent. Le contexte historiographique s’y prête. L’histoire contemporaine est précisément le champ d’action de l’antifascisme intellectuel depuis la parution des ouvrages de
6 Chabod: Storia dell’idea d’Europa, Anm. 1, S. 12 f.
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Benedetto Croce à la fin des années vingt et dans les années trente. En 1932, le philosophe et historien qui a fait de sa demeure napolitaine un foyer de résistance idéologique au fascisme publie une histoire de l’Europe au XIXe siècle qui, avec la précédente Histoire de l’Italie consacrée à la période post-unitaire, agit comme un manifeste et une référence abondamment lus et commentés (clandestinement) par la jeune génération étudiante et au-delà à la recherche d’armes intellectuelles pour lutter contre la propagande totalitaire. Trois ans plus tard, Henry Fisher publie A history of Europe (Londres) qui contraste grandement avec l’ouvrage précédemment cité. Fisher fait avant tout un récit solide des événements, or tout récit factuel, outre qu’il est quasi impossible à réaliser, ne parvient pas à saisir même la notion d’Europe et l’auteur avoue ainsi qu’il n’a pas trouvé un développement cohérent, une certaine philosophie de l’Europe. Rien de tel chez Croce qui part d’une intention politique: affirmer que l’histoire de l’Europe se confond avec celle de l’idée de liberté, s’opposant ainsi catégoriquement à l’Europe fasciste et totalitaire qui menace. L’Europe au XIXe , c’est l’histoire de la religion de liberté qui sous-tend ainsi le récit. Chez Croce, les courants philosophiques et culturels ont la primauté, même s’il ne néglige pas les transformations économiques et sociales. Il voit ainsi dans l’histoire de l’Europe au XIXe l’histoire d’un combat entre le courant romantique et libéral, chargé de passion, d’ardeur créatrice, et son adversaire qui lui ressemble parfois en négatif, associé à l’idée de décadence (romantisme irrationnel et nationaliste, moins expansif, plus replié sur soi, maladif même, puis les courants fin de siècle qui en héritent, violents, influencés par les théories raciales, irrationalistes et ultranationalistes). À l’européanisation du fascisme qu’il théorisait dans son Histoire de l’Italie, Croce opposait comme contre-point l’européanisation de l’idée de liberté, véritable manifeste rassembleur pour reconstruire les démocraties et au cœur de toute idée d’Europe.7 On peut, sans risque de se tromper, affirmer que Chabod a trouvé dans l’ouvrage de Croce une source majeure d’inspiration, à la différence près, loin d’être négligeable, que l’universitaire ne cache son admiration pour le siècle des Lumières quand Croce le voue aux gémonies.
2.
L’idée d’Europe miroir inversé de la ‚non-Europe‘
Définir l’Europe c’est définir la non-Europe, autrement dit l’Asie depuis le monde grec, affirme Chabod, prenant appui sur Hérodote, l’un des pères de la géographie. Hérodote, selon l’auteur, sait que géographiquement, l’Europe va jusqu’à l’embouchure du Pô, les îles Hébrides, la Sibérie, mais il est surtout intéressé par le territoire
7 Croce, Benedetto: Storia d’Europa nel secolo decimonono, Bari 1932.
L’idée d’Europe de Chabod
entre Égée et Adriatique. Ainsi, les Scythes, peuple nomade sans murailles, sans villes, vivant non d’agriculture mais seulement d’élevage, ne font pas partie de l’Asie, géographiquement, mais ils ne sont pas pour autant européens d’un point de vue ‚moral‘. Selon également Hippocrate, les Scythes sont physiquement en Europe, pas culturellement. L’Empire est la première matérialisation de cette non-Europe. Lorsque naît et s’accroît le désir de conquête de l’Asie, motivée par la jalousie vis-à-vis de sa supériorité économique supposée, Philippe de Macédoine se voit encouragé par différents auteurs à mener une politique d’expansion, soit de destruction (politique asiate, dit Isocrate) soit de construction d’un Empire (politique européenne, dit Théopompe). C’est ce dernier que retient Alexandre qui, en créant un Empire hellénistique par expansion vers l’Asie, efface du même coup la notion d’Europe, de même que celle-ci disparaît de la pensée romaine avec une opposition entre Empire romain et Barbarie. En niant le caractère européen de tout Empire, Chabod vise à déligitimer devant son auditoire toute prétention de l’État totalitaire nazi occupant le continent à se réclamer de l’idée d’Europe. Le second principe contraire à l’idée d’Europe, c’est la religion. La chrétienté, nous dit Chabod, reprend le concept romain d’Empire en affirmant l’opposition entre monde chrétien et monde païen. L’exemple frappant est l’ambiguïté que revêt la titulature de Charlemagne, „roi, père de l’Europe“. Or, l’Empire carolingien naissant désigne une entité géographique. L’Europe c’est la chrétienté d’Occident, l’Église romaine d’Occident. Mais si le non-chrétien est un „barbare“, le „barbare“ (hors des frontières géographiques européennes) peut aussi être chrétien. Le poète Dante évoque l’Europe plusieurs fois, mais c’est une Europe restreinte aux grandes nations nord-occidentales et aux régions italiques, une Europe d’où se serait détachée la partie orientale de civilisation grecque. Le schisme du XIe siècle entraîne en effet une vision séparatiste: d’un côté l’Europe restée fidèle à la romanité, i. e. au dogme de l’Église romaine; de l’autre les schismatiques. Au moment où l’Europe s’agrégeait les nations septentrionales (Grande-Bretagne, Germanie), elle perdait le lien avec le berceau de sa civilisation (la Grèce). Déjà dessinée par Liutprand, roi des Lombards de la première moitié du VIIIe siècle, se fait jour l’opposition entre un Occident viril, guerrier, honnête, loyal etc. et un Orient efféminé, traître, déloyal, inapte à la guerre etc. Orient et Occident prennent alors le pas sur l’antithèse Europe-non-Europe, mais les Grecs ont été remplacés par les Germains. Il faut donc, sans surprise, attendre la Renaissance et l’avènement de l’Humanisme en Europe pour que réapparaisse l’idée d’Europe. La Renaissance, nous dit Chabod, accroît le sentiment de distance de l’Orient d’autant que les savants grecs s’exilent en Italie. Machiavel fait de la Hongrie et de la Germanie – „bonifiés“ par le monde romain – les remparts contre les Scythes (Russes), les Ottomans, donc contre les nouveaux barbares. L’Occident devient aussi cette République de l’intelligence et de la culture dont parle plus tard Voltaire. Coïncident très bientôt mœurs, culture,
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humanisme et frontières physiques. Toutefois, à la Renaissance, l’Europe est une extension de l’Humanisme hors des frontières italiennes mais reste chrétienne. Il faut donc attendre le XVIIIe siècle pour que la république littéraire de Voltaire se construise malgré les guerres et „malgré les religions différentes“, une république littéraire prémisse de l’Europe idéale. La religion apparaît donc a contrario comme un obstacle à la formation de la communauté spirituelle, fondement de l’idée d’Europe. L’autre fondement idéel de l’Europe, c’est la Loi. Aristote distinguait la Grèce de l’Europe. La première était la seule à concilier liberté, bon gouvernement et création artistique. Vivre selon des lois, participer à la vie publique, telle est la caractéristique de la Grèce et donc de l’Europe au sens de civilisation hellénique s’étendant tout au plus aux colonies grecques en Italie ou en Gaule. Le Droit ou la Loi s’opposent en effet au despotisme. De nouveau, l’opposition entre Droit (donc Europe) et Despotisme (donc non-Europe) est allusion directe à la situation présente (1943–1944) et rappelle, avec des différences toutefois, la distinction Liberté-Dictature présente dans l’Histoire de l’Europe de Croce et dans l’esprit de l’auditoire de la Faculté des lettres milanaise.
3.
L’Europe face à l’Autre
Le moment-clé dans l’évolution de la civilisation européenne, qui en crée les fondements, c’est, paradoxalement en apparence, la conscience de n’être que la partie d’un tout. Jusqu’à alors, la Renaissance, l’Humanisme, avaient certes renversé les perspectives d’un monde médiéval dominé par la religion pour revenir à l’homme dans le monde, centre de l’univers. Mais la Renaissance avait simplement transféré dans le monde antique la même idée d’une perfection achevée qu’on ne pouvait modestement qu’imiter. Cette perfection était le monde antique. Alors que pour le monde médiéval, l’Incarnation, la Passion, la Résurrection étaient l’alpha et l’oméga d’un monde en attente du retour du Christ sur terre, l’alpha et l’oméga de l’homme de la Renaissance serait le monde ancien. Or la découverte de civilisations outre-Atlantique, au-delà de la Méditerranée bouleverse ces certitudes. Il ne faut pas négliger bien sûr l’aspect commercial, économique, nous dit Chabod, mais on n’a que faiblement mesuré son impact sur les esprits. C’est le sentiment de finitude qui est désormais battu en brèche avec l’extension de l’horizon géographique, la finitude d’une civilisation parfaite et achevée. Désormais, l’idée de progrès, de cheminement envahit les esprits en même temps que se multiplient les récits de voyage. La vie moderne est désormais bien plus riche, plus prometteuse que le passé qui la nourrit. Les vrais sages, dit Giordano Bruno, c’est nous. La découverte des Autres oblige à mieux se définir. La chrétienté ne peut suffire, puisqu’elle s’étend au-delà des mers. La conséquence peut-être inattendue, mais qui
L’idée d’Europe de Chabod
remonte au XVIe siècle déjà, c’est la projection, désormais, des vertus européennes sur l’Autre paré de ces mêmes vertus: le mythe du bon sauvage, de la sagesse chinoise qui se développe depuis Montaigne jusqu’à Rousseau. Il y a là un attrait pour une civilisation nouvelle ‚pure‘, non dégénérée, non corrompue par les mœurs, pacifiste contre une Europe en guerre perpétuelle. Il y a là une vision de la végétation luxuriante face à une Europe qui s’urbanise. Or, dit Chabod, la polémique antieuropéenne n’est pas haine de l’Europe mais amour de celle-ci, volonté d’un retour à une pureté originelle. C’est par amour pour les valeurs et la civilisation européennes que de Montaigne à Voltaire, on blâme les divisions, les guerres. Même sous les apparences les plus cosmopolites, les écrivains et penseurs dont il est question continuèrent toujours à penser le monde avec une mentalité d’Européens, à mesurer le monde et l’histoire humaine à l’aune de valeurs typiquement européennes. L’Autre est donc la révélation de l’Europe à elle-même, l’intermédiaire indispensable pour que l’Europe se découvre. En creux, l’Europe est également définie par ce dont le nouveau monde est dépourvu: agriculture, industrie, commerce, les lettres, les poids et les mesures, le blé, la vigne, les vêtements; l’exploitation des richesses naturelles; les valeurs chrétiennes, toujours; courtoisie, humanité, honnêteté, vertu, juste et injuste; la vie en société (surtout à la Cour française). L’analyse du Nouveau Monde en regard de l’Europe associe chez Chabod Montaigne à Giovanni Botero, les penseurs du XVIe et les Lumières du XVIIIe . Reste le cas de la Chine, autre civilisation raffinée dont on ne sait pas encore au XVIe siècle comment elle peut se distinguer de l’Europe, sinon par son pacifisme contre l’Europe guerrière. Il n’est pas étonnant qu’à étayer le raisonnement précédent, Chabod consacre plusieurs pages à l’analyse des Lettres persanes puisque l’œuvre célèbre de Montesquieu dévoile le ‚nous‘ européen au miroir d’eux, un regard décentré. On retrouve le thème de la division entre États plus conforme à l’esprit européen que l’Empire (ottoman), les vertus de la République, la clémence des peines, tout cela à l’avantage de l’Europe. Celle-ci toutefois continue de se distinguer, mais de façon négative, par la brutalité des relations inter-étatiques, les guerres, la raison d’État, les conquêtes territoriales. Est-il besoin d’ajouter qu’à nouveau, le contexte des années quarante est omniprésent?
4.
Les paradoxes apparents
L’Europe des libertés serait celle de l’omniprésence de la guerre? Paradoxe que de définir l’Europe par ses conflits permanents, alors même que le manifeste de Ventotene insistait en 1941 sur l’Europe comme idéal pacifiste devant précisément empêcher les conflits. La guerre est inhérente à la formation de l’idée d’Europe, parce que la guerre est la conséquence de la division entre États puis entre nations
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indépendantes devenues État-nations au XIXe siècle. Et Chabod soulève alors le deuxième paradoxe apparent, celui d’associer étroitement idée nationale et idée d’Europe, justifiant ainsi d’avoir abordé successivement l’une puis l’autre. Machiavel, le premier à avoir laïcisé l’idée d’Europe, insistait avant tout, remarque Chabod, sur l’organisation politique – qu’elle soit féodale ou monarchique. L’Europe est divisée en entités de taille relativement modeste qui contrastent avec l’Empire ottoman que Machiavel considère comme le nouvel avatar de l’Empire perse, une opposition qui annonce celle de Montesquieu. L’organisation politique interne est celle de la lutte de factions, du régime des lois, de l’importance acquise par l’individu par ses vertus. Machiavel donne sa vision du monde quand précisément, sur les ruines de deux grands Empires médiévaux (la Papauté et l’Empire germanique), les États européens déploient leur individualité plus forte et libre, plus détachée que jamais de liens avec les idées universelles. Le contre-point de ces individualités est donc l’affrontement permanent entre les États. L’idée de la multiplicité des États s’insère alors dans les écrits publiés en Europe, à travers la problématique de l’équilibre européen. L’abbé Mably voit dans l’Europe du XVIIIe siècle l’Italie du Quattrocento qui inspire Le Prince: un équilibre instable mais nécessaire des individualités fortes, donc nécessairement concurrentes. Chez l’Abbé de SaintPierre, remarque Chabod, s’esquisse l’image d’une Europe comme un corps politique, unitaire par certains principes communs, divisé en différents organismes étatiques, un corps aux multiples âmes – une idée reprise par Voltaire: une espèce de grande république partagée en plusieurs Etats, les uns monarchiques, les autres mixtes; ceux-ci aristocratiques, ceux-là populaires; mais tous correspondant les uns avec les autres; tous ayant un même fond de religion, quoique divisés en plusieurs sectes; tous ayant les mêmes principes de droit public et de politique, inconnus dans les autres parties du monde.8
Chabod prête à Voltaire l’idée que les guerres, l’injustice, les crimes et la folie des hommes sont les conditions de son génie artistique et littéraire. Son interprétation s’appuie sur la nouvelle „non-Europe“ que constituerait à ses yeux la Chine vue par l’auteur du Siècle de Louis XIV. La Chine confucéenne possède, selon Voltaire, de multiples et enviables qualités: une religion qui n’est pas dominée par les prêtres, sans fanatiques, un esprit publique, un refus de l’absolutisme. L’opposition tourne en faveur de l’Europe sur deux points: la Chine a tout inventé, mais pas développé, sans doute par respect pour l’héritage de leurs ancêtres, par révérence vis-à-vis
8 Voltaire: Siècle de Louis XIV, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 13A: Chapitres 1–12, hg. von Diego Venturino, Oxford 2015, Kapitel 2, S. 11. Vgl. dazu Chabod: Storia dell’idea d’Europa, Anm. 1, S. 59.
L’idée d’Europe de Chabod
d’une langue qui les empêche d’évoluer.9 À cette vision fixiste, Voltaire oppose les bouleversements européens, porteurs de ce qui pour lui constituent l’identité de l’Europe, le raffinement de ses arts. L’introduction de son ouvrage Le Siècle de Louis XIV affirme clairement que l’histoire de l’humanité présente de nombreux traits communs à toutes les régions du monde, mais qu’il n’existe que quatre seuls siècles où les arts ont été portés à leur plus haut degré de raffinement. Ces arts dont Voltaire dit qu’ils sont la seule base possible d’un relèvement de civilisations ruinées par les désordres civils, les guerres etc. Ces quatre siècles sont celui de Périclès, du premier siècle de l’Empire romain, la Renaissance et le siècle de Louis XIV. Toute l’admiration pour les Chinois, les Arabes, toute la déprécation contre la religion et la politique en Europe semblent s’effacer devant ce constat d’une unité culturelle et morale de l’Europe: On a vu une république littéraire établie insensiblement dans l’Europe malgré les guerres, et malgré les religions différentes. Toutes les sciences, tous les arts ont reçu ainsi des secours mutuels; les académies ont formé cette république. L’Italie et la Russie ont été unies par les lettres. L’Anglais, l’Allemand, le Français, allaient étudier à Leyde. […] [L]es véritables savants dans chaque genre ont resserré les liens de cette grande société des esprits, répandue partout et partout indépendante. Cette correspondance dure encore; elle est une des consolations des maux que l’ambition et la politique répandent sur la terre.10
Pour Chabod, qui entend établir un fil directeur entre les différents penseurs qu’il étudie et qui tentent de cerner l’identité de l’Europe, Voltaire confirme la thèse que les divisions et les conflits sont comme nécessaires pour accoucher de l’Europe, une Europe qui se définit alors par la place qu’y occupent les arts, mais aussi, à nouveau, comme chez Montesquieu, les mœurs, l’urbanité, la courtoisie, voire la place qu’y occupent les femmes. Dans la même logique, la dislocation des Empires européens à la suite de la Révolution française puis de l’éveil des Nations durant les deux premiers tiers du XIXe siècle n’est en aucun cas contradictoire avec la naissance de l’idée d’Europe, elle en est bien au contraire le fondement. D’une part parce que, comme nous l’avons vu, les Empires sont l’anti-Europe et les États libres sont un élément constitutif de l’identité européenne. D’autre part, parce qu’à travers le processus d’unités et d’indépendances nationales s’affirment des principes communs qui définissent les valeurs européennes dont l’idée de nation et celle de liberté. Le sentiment national,
9 Vgl. Chabod: Storia dell’idea d’Europa, Anm. 1, S. 126–129. 10 Voltaire: Siècle de Louis XIV, in: Les Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 13D: Chapitres 31–39, hg. von Diego Venturino, Oxford 2016, Kapitel 34, S. 43 f. Vgl. dazu Chabod: Storia dell’idea d’Europa, Anm. 1, S. 135 f.
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loin d’être contradictoire avec l’idée d’Europe en est le fondement. Chabod reprend alors un thème cher à Giuseppe Mazzini (fondateur à la fois de Jeune Italie et de Jeune Europe) mais il rejoint aussi Benedetto Croce dans son affirmation que chaque grande nation a pu incarner, à un moment donné, l’idéal de civilisation européenne – au moment où s’affirment les fondements d’une culture nationale et ceux d’une libéralisation politique et sociale, moments généralement associés à l’époque romantique. À travers son Histoire de l’idée d’Europe, Chabod ne cherche pas seulement à retracer la genèse de ce qui pourrait constituer l’identité européenne. Il répond d’abord au défi mortel qu’ont lancé les États totalitaires en soulignant que leur prétention à incarner l’Europe nouvelle s’opposait radicalement à l’idée même d’Europe, nécessairement anti-impériale et anti-despotique. Il affirme également que l’Europe n’est pas la négation dialectique des Nations, ni même d’ailleurs leur évolution et leur inéluctable mort, mais, bien au contraire, les Nations dans leurs divisions sont constitutives de l’idée d’Europe. Enfin, d’un point de vue historiographique, bien qu’admirateur de l’école historiographique braudélienne naissante – ami de Braudel, il l’a invité à plusieurs reprises à l’Université de Rome ou à l’Institut italien pour les études historiques – Chabod reste convaincu de l’importance de la volonté et de l’esprit, donc des idées, comme moteurs de l’Histoire.
II. Politische Ordnungsentwürfe zwischen Nation und Europa
Gabriele D’Ottavio
Das junge und das alte Europa Guglielmo Ferrero und die Konstruktion eines populärwissenschaftlichen Topos (1897–1918) Seit dem Ausbruch des Krieges im Irak im Jahr 2003 und der ein Jahr danach erfolgten großen Osterweiterung der EU ist der Gegensatz zwischen einem vermeintlichen „Alten Europa“ und einem ebenso fraglichen „Neuen Europa“ zum Dauerthema geworden.1 Wie eng bei dieser Gegenüberstellung die gesellschaftspolitische Debatte und der wissenschaftlich-akademische Diskurs miteinander verknüpft sind, zeigen auch die jüngsten Europadebatten. Vor dem Hintergrund von Kriegen, Wirtschafts-, Währungs- und Flüchtlingskrisen, Brexit, Pandemie und autoritären Erscheinungen in einigen osteuropäischen Ländern konnte man in den letzten Jahren im öffentlichen sowie im politik- und sozialwissenschaftlichen Europadiskurs eine Neubelebung von Begriffen und Kategorien wie z. B. „ein Europa der zwei Geschwindigkeiten“ oder „une Europe à géométrie variable“ beobachten.2 Dabei handelt es sich eigentlich um Erzählmuster (oder Topoi), die in der Geschichte Europas tief verwurzelt sind. Bereits seit der Renaissance wurden die Selbstverständigungsdebatten zu Europa von diskursiven bzw. ikonographischen machtpolitischen und kulturellen Darstellungen genährt, die auf eine Gegenüberstellung zwischen einem „lateinischen Europa“ und einem „germanischen Europa“ hinwiesen und einige Jahrhunderte später auch zwischen einem „abendländischen Westeuropa“ und einem „slawisch geprägten Mittel- und Osteuropa“. Selbst bei der Entstehung der ersten Europäischen Gemeinschaften in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der Europadiskurs stark von den nach wie vor be-
1 Vgl. Schuster, Jürgen: Das „alte“ und das „neue“ Europa: Die Reaktionen der europäischen Länder auf die amerikanische Irak-Politik. Ein Vergleich dreier Erklärungsansätze (Regensburger Schriften zur Auswärtigen Politik 4), Berlin 2004. 2 Siehe dazu Beck, Ulrich: Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise, Berlin 2012; Habermas, Jürgen: „Für ein starkes Europa“ – aber was heißt das?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2014), S. 85–94, hier S. 93; Faure, Samuel B.H./Lebrou, Vincent: L’Europe à géométrie variable. Renouveler l’analyse des logiques de différenciation de l’intégration européenne, in: Politique européenne 1/2 (2020), S. 8–25.
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stehenden physischen und mentalen Grenzen, die nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch innerhalb der Europäischen Union verlaufen, geprägt.3 In diesem Beitrag geht es aber weniger um die Aufarbeitung der langzeitigen Wurzeln eines historisch-politischen, auf dem Gegensatz zwischen einem „Alten“ und einem „Neuen“ Europa beruhenden Topos, sondern um die Analyse einer ganz spezifischen Fallstudie, die aber auch einen exemplarischen Charakter aufweist. Wie ich darzulegen versuchen werde, erscheint die Fallstudie des italienischen Journalisten, Soziologen, Historikers, Schriftstellers und Publizisten Guglielmo Ferrero exemplarisch in Bezug auf einen an der Schnittfläche zwischen populärwissenschaftlicher und politischer Argumentation hervorgehenden Europadiskurs. Für unsere Fragestellung nach den Begleitumständen, den Stoßrichtungen und nach dem Form- und Strukturwandel des Europadiskurses im transnationalen Vergleich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet das Werk Ferreros aus mehreren Gründen, die eng miteinander verknüpft sind, interessante Einblicke, die ich hier in vier Punkten zusammenfasse. Der erste Punkt betrifft den Bezugszeitraum des literarischen Schaffens Ferreros über Europa. Seine bedeutendsten Werke über Europa wurden zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ende des Ersten Weltkrieges geschrieben, genauer gesagt zwischen 1897 und 1918; sie decken also einen ziemlich langen Zeitraum ab. Seine Schriften vermitteln uns mehr als nur Momentbilder der italienischen und internationalen Debatte über die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklungen im Europa der ersten zwanzig Jahre des 20. Jahrhunderts: Sie spiegeln Denkrichtungen sowie Lebens- und Geistesverläufe von transnationaler Bedeutung wider, die in mancher Hinsicht als typisch für diese Zeit betrachtet werden können. Der zweite Aspekt betrifft die Besonderheiten der Betrachtungen Ferreros über die Vorstellung von Europa und den damit einhergehenden Publikumserfolg, den er hatte – ein Aspekt, auf den auch im Titel verwiesen wird. Ferrero entwickelte seine Betrachtungen über Europa und ganz allgemein sein Geschichtswerk, indem er auf soziologische Konzepte und Theorien seiner Zeit zurückgriff, um die politischen Ordnungen, Bräuche, Sitten und Lebensstile der europäischen Völker zu vergleichen und sodann Thesen über das Thema des Aufstiegs und Niedergangs der Zivilisationen zu erarbeiten. Aufgrund dieser besonderen Einstellung erwies
3 Zur diskursiven Konstituierung Europas siehe Schmale, Wolfgang: Geschichte Europas, Wien/Köln/ Weimar 2001; Wintle, Michael: The Image of Europe. Visualizing Europe in Cartography and Iconography throughout the Ages, Cambridge 2009; Stråth, Bo (Hg.): Europe and the Other and Europe as the Other, Brüssel 2010; Greiner, Florian/Pichler, Peter/Vermeiren, Jan (Hg.): Reconsidering Europeanization. Ideas and Practices of (Dis-)Integrating Europe since the Nineteenth Century, Berlin/Boston 2022.
Das junge und das alte Europa
sich sein Werk als fähig, ein relativ breites Publikum zu erreichen und zudem den nationalsprachigen Bezugsraum zu verlassen. Der dritte Aspekt betrifft die abweichende Rezeption des Werkes Ferreros im Ausland und in Italien. Die Studien über Europa und über die römische Geschichte brachten Ferrero großes internationales Ansehen ein (vor allem auch in Frankreich und in den Vereinigten Staaten). In Italien wurden sie dagegen von den akademischen Historikern, die Ferrero den Eintritt in die Hochschulwelt verwehrten, als journalistisch und dilettantisch heftig kritisiert. Der vierte Punkt schließlich knüpft an die vorhergehenden an: Obwohl der geistige Werdegang Ferreros außergewöhnlich ist, hat er etwas Emblematisches in Bezug auf die Zäsur, die der Erste Weltkrieg darstellt, und auf den Prozess der allmählichen Politisierung des Diskurses über Europa, den dieses Ereignis beschleunigt hat. Die Betrachtungen Ferreros, die auf der Vorstellung einer unüberwindbaren Dichotomie zwischen Nord- und Südeuropa beruhten, zwischen der germanischen ‚Rasse‘ und der lateinischen ‚Rasse‘ zuerst und dann zwischen der alten ‚qualitativen‘ europäischen Zivilisation und der neuen, modernen ‚quantitativen‘ Zivilisation, veranschaulichen gut und antizipieren in gewisser Hinsicht den moralischen, kulturellen und identitären Bruch, der von vielen europäischen Intellektuellen nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wahrgenommen wurde, und zwar sowohl gegenüber der germanischen als auch der amerikanischen Welt. In diesem Beitrag werde ich versuchen, diese vier Punkte genauer darzulegen, ausgehend von einer Analyse seiner ersten Studie über Europa, L’Europa giovane (Das junge Europa). Damit trug Ferrero gegen Ende des Jahrhunderts zur Popularisierung des Topos bei, der auf der Gegenüberstellung von Nordeuropa – das, wie Ferrero selbst schrieb, „die stärkste Fortschrittskraft” verkörperte, was er auf das neue Phänomen des Aufschwungs der Großindustrie zurückführte ‒ und einem lateinischen Europa, das im Wesentlichen noch an eine agrarische Wirtschaftsgrundlage gebunden war, beruhte.
1.
Einige Anmerkungen zur Biographie Guglielmo Ferreros
Guglielmo Ferrero wurde 1871 in Portici bei Neapel geboren, wo damals sein aus dem Piemont stammender Vater als Eisenbahningenieur tätig war. Zu Beginn der 1890er Jahre zog er nach Turin, wo er den berühmten italienischen Anthropologen und Kriminologen Cesare Lombroso kennenlernte, dessen Schüler und Schwiegersohn er später wurde, nachdem er 1901 die Tochter Gina Lombroso
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geheiratet hatte.4 Der regelmäßige Umgang mit Lombroso, dem Begründer der italienischen positivistischen Kriminologie, hatte einen entscheidenden Einfluss auf das Werk Ferreros und auf seinen persönlichen Aufstieg im italienischen intellektuellen Milieu.5 Mit der Veröffentlichung des Bandes L’Europa giovane im Jahr 18976 erregte Ferrero Aufmerksamkeit in der italienischen Kulturlandschaft und erzielte einen außergewöhnlichen Publikumserfolg. Der Band wurde vom Mailänder Verlag Fratelli Treves veröffentlicht, einem wichtigen Verlag, der sich an das breite Publikum wandte und mit dem Ferrero mehr als zwanzig Jahre lang zusammenarbeitete.7 Der internationale Ruhm folgte bald darauf dank der Publikation Grandezza e decadenza di Roma zwischen 1902 und 1906.8 Dieses monumentale Werk machte Ferrero auch im Ausland sehr bekannt, wie die Tausenden verkauften Exemplare und seine Verbreitung in verschiedenen europäischen Ländern, darunter in Deutschland, Frankreich, im Vereinigten Königreich, in Spanien, Ungarn, Russland, und in den Vereinigten Staaten bestätigen.9 Nach der Veröffentlichung von Grandezza e decadenza di Roma wurde Ferrero nach Paris eingeladen, um am Collège de France sechs bis acht Vorlesungen zu halten, und danach zu einer Vortragsreihe nach Lateinamerika, zuerst in Argentinien und dann in Uruguay; außerdem unternahm er zwischen 1908 und 1909 eine sechsmonatige Reise mit der Familie in die Vereinigten Staaten, als Gast des Präsidenten Theodor Roosevelt. In Frankreich verlieh ihm die Académie Française den Prix Langlois, in New York
4 Vgl. Treves, Piero: Ferrero, Guglielmo, in: Caravale, Mario/Romanelli, Raffaele (Hg.): Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. 47: Fabron–Farina, Rom 1997, S. 17–27. 5 Vgl. Bulferetti, Luigi: Il positivismo di G. Ferrero, in: Baldi, Rita (Hg.): Guglielmo Ferrero tra società e politica: atti del Convegno, Genova, 4–5 ottobre 1982, Genua 1986, S. 115–135. 6 Ferrero, Guglielmo: L’Europa giovane, Mailand 1897. Eine zweite Ausgabe wurde bereits im Jahr 1904 veröffentlicht, während die dritte 1946 bei Garzanti erschien, mit einem Vorwort von Mario Borsa. Im Jahr 1918 erschien auch eine kroatische Ausgabe (Zagreb 1918). 7 Das Hauptaugenmerk des Verlags Fratelli Treves lag anfangs auf der Veröffentlichung von Werken für ein gebildetes Publikum, schon bald aber folgten große Verkaufsschlager, zum Beispiel 1886 die Publikation Cuore von Edmondo De Amicis, ein richtiger Bestseller. Unter den italienischen Schriftstellern, die in der Zeit, als Ferrero aktiv war, im Verlag Fratelli Treves publizierten, sind Gabriele D’Annunzio, Giovanni Verga und Luigi Pirandello zu erwähnen. Der Verlag war international gut aufgestellt und mit besonderer Sorgfalt auf dem europäischen Markt tätig: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert brachte er Übersetzungen von Werken von Lev Tolstoi, Gustave Flaubert, Charles Dickens und Charlotte Brontë heraus. 8 Es handelt sich um eine Geschichte Roms beim Übergang von der Republik zum Kaiserreich. Dieses Werk in fünf Bänden wurde im Jahr 2016 auf Italienisch neu aufgelegt, zum ersten Mal mit den Anhängen, die Ferrero in der französischen Ausgabe veröffentlicht hatte: Ferrero, Guglielmo: Grandezza e decadenza di Roma. Hg. von Laura Ciglioni/Laura Mecella, Rom 2016. 9 Stuttgart 1907; Paris 1908; London 1908; New York 1909; Madrid 1909; Budapest 1924; Moskau 1924. Vgl. dazu Cedroni, Lorella: I tempi e le opere di Guglielmo Ferrero. Saggio di bibliografia internazionale, Neapel 1993, S. 68.
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erhielt er die Ehrendoktorwürde der Columbia University. In Italien dagegen wurde die internationale Reputation Ferreros von den akademischen Historikern heftig bestritten; sie verwehrten ihm, wie bereits gesagt, den Eintritt in die Hochschulwelt, indem sie ihm den Lehrstuhl für Geschichtsphilosophie hartnäckig verweigerten.10 Mit dem Aufkommen des Faschismus ging Ferrero, dessen demokratische Ansichten bestens bekannt waren, sofort in Opposition. Bereits 1923 stellte er seine 20-jährige Mitarbeit an der faschistisierten Tageszeitung Il Secolo ein.11 Ferrero war aktiv an der Gründung der antifaschistischen Bewegung Unione nazionale beteiligt, 1925 unterzeichnete er das von Benedetto Croce verfasste Manifest der antifaschistischen Intellektuellen.12 In jenen Jahren veröffentlichte Ferrero auch mehrere Schriften über den Niedergang des liberalen Staates und über den Aufstieg des Faschismus, darunter Da Fiume a Roma (1923),13 Le dittature in Italia (1924)14 und La democrazia in Italia (1925),15 die von der Polizei sofort mit Beschlag belegt wurden; außerdem arbeitete er an der kleinen Festschrift zu Ehren des sozialistischen Politikers Giacomo Matteotti ein Jahr nach dessen Ermordung mit (Giacomo Matteotti nel I anniversario del suo martirio). Nach seiner Wahrnehmung und Interpretation des Faschismus sei jede Diktatur als unrechtmäßige Regierung anzusehen, da in ihr die Grundvoraussetzungen der demokratischen Legitimität, das Recht der Opposition, der Pluralismus und der verfassungsmäßige Schutz der Minderheiten, nicht gegeben seien.16 Wenngleich die Geschichtsschreibung Ferrero längst als einen der wichtigsten Vertreter des sogenannten „kulturellen Antifaschismus“ anerkannt hat,17 fehlt in den zahlreichen Studien über seine Rolle noch eine umfassende und dokumentierte Untersuchung über seine antifaschistische Tätigkeit in Italien und dann im Exil. Bekannt ist im Besonderen, dass Guglielmo Ferrero und seine Familie ab Mitte der 20er-Jahre streng kontrolliert und überwacht wurden.18 Nachdem ihm jegliche politische Tätigkeit unmöglich gemacht wurde, suchte Ferrero Zuflucht im Roman und
10 Vgl. Treves: Ferrero, Anm. 4, S. 22 f. 11 Vgl. dazu Cedroni, Lorella (Hg.): Guglielmo Ferrero. La vecchia e la nuova Italia, Neapel 1997, S. IX–XIV und S. 228–231. 12 Vgl. dazu Goetz, Helmut: Intellektuelle im faschistischen Italien. Denk- und Verhaltensweisen (1922–1931), Hamburg 1997, S. 243. 13 Ferrero, Guglielmo: Da Fiume a Roma: storia di quattro anni (1919–1923), Mailand 1923. 14 Ders.: Le dittature in Italia. Depretis, Crispi, Giolitti, Mussolini, Mailand 1924. 15 Ders.: La democrazia in Italia. Studi e precisioni, Mailand 1925. 16 Vgl. Ceci, Giovanni Mario: Guglielmo Ferrero di fronte alla crisi dello Stato liberale e alla nascita del fascismo, in: Cedroni, Lorella (Hg.): Aspetti del realismo politico italiano. Gaetano Mosca e Guglielmo Ferrero, Rom 2013, S. 343–372. 17 Gentile, Emilio: Fascismo e antifascismo. I partiti italiani fra le due guerre, Florenz 2000, S. 247. 18 Vgl. dazu das Tagebuch des Sohns: Ferrero, Leo: Diario di un privilegiato sotto il fascismo, Turin 1946.
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verfasste von 1926 bis 1930 vier Romane19 – drei davon wurden zensiert, während der letzte während seines Genfer Exils herauskam. Aufgrund seines internationalen Rufes war Ferrero 1926 für die Nominierung für den Nobelpreis für Literatur im Gespräch, doch daraus wurde auch wegen der vom Regime gegen ihn betriebenen Verleumdungskampagne nichts.20 1930 erhielt Ferrero, dank unzähliger Fürsprachen, darunter jene des ersten Direktors der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf (Albert Thomas) und des belgischen Königs, den Reisepass und zog nach Genf, wo ihm an der dortigen Universität eine Doppelprofessur für zeitgenössische Geschichte an der Fakultät für Geisteswissenschaften und am Institut des Hautes Études Internationales verliehen wurde. In Genf lehrte er zehn Jahre lang. Seine Kurse, die er in der geräumigeren Aula Magna der Universität hielt, wurden zu einem gesellschaftlichen Ereignis und erweckten die Aufmerksamkeit der Intellektuellen, aber auch der Mitglieder des Völkerbundes. Auch sein Haus in der Rue de l’Hôtel de Ville wurde bald zu einem Treffpunkt der Genfer Gesellschaft und auch des italienischen Antifaschismus.21 Unter den internationalen Gästen, die Ferrero während seines Exils empfing, waren laut seinem Schwiegersohn Bogdan Raditsa eine Reihe bekannter Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur, die sich damals „an endlosen geistreichen Konversationen über die Zukunft Europas“ beteiligten.22 Dazu zählten: Hans Kelsen, Maurice Bourquin, Salvador de Madariaga, Paul Valéry, André Siegfried, Albert Thibaudet, Denis de Rougemont, Léon Blum, Eduard Herriot, Edvard Benes, Richard von Coudenhove-Kalergi und Paul Mantoux.23 Außerdem geht aus den archivierten Unterlagen über die Tätigkeit der politischen Polizei des faschistischen Regimes klar hervor, dass Ferrero auch während der gesamten Zeit seines Genfer Exils weiterhin streng überwacht wurde, bis zu seinem Tod am 3. August 1942 in Mont-Pèlerin.24 Im selben Jahr erschien in New York der letzte Band seiner französischen Trilogie Aventure, Reconstruction und Pouvoir.25 Nach seinem Tod geriet die Persönlichkeit Ferreros in Vergessenheit. Sein Werk wurde erst in den Achtzigerjahren bzw. zu Beginn der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wiederentdeckt, und zwar im Zuge einiger Untersuchungen, die an 19 Le due verità (Mailand 1926); La rivolta del figlio (Mailand 1926); Sudore e sangue (Mailand 1930) und Liberazione (Lugano 1936). 20 Vgl. Cedroni, Lorella: Guglielmo Ferrero, in: Treccani (2013), https://www.treccani.it/enciclopedia/ guglielmo-ferrero_%28altro%29/ (letzter Zugriff 21.01.2023). 21 Vgl. Treves: Ferrero, Anm. 4, S. 26. 22 Raditsa, Bogdan: Ferrero uomo, in: Baldi (Hg.): Guglielmo Ferrero tra società e politica, Anm. 5, S. 19–30, hier S. 25. 23 Vgl. ebd. 24 Siehe hierzu das Archivio Centrale dello Stato in Rom, Ministero dell’Interno, Divisione polizia politica, Fascicoli personali (1926–1944), Akte 497 (Prof. Guglielmo Ferrero). 25 Ferrero, Guglielmo: Aventure. Bonaparte en Italie. 1706–1797, Paris 1936; Ders.: Reconstruction. Talleyrand a Vienne, 1814–1815, Paris 1940; Ders.: Pouvoir. Les Génies invisibles, New York 1942.
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den Nationalbibliotheken Genf und Straßburg und an der Bibliothek der Columbia University durchgeführt wurden; in Letzterer wird ein von der Tochter Nina Ferrero Raditsa geschenkter Fundus aufbewahrt, der lange unerforscht geblieben ist. Ein Teil dieser Untersuchungen ist in einige dem Werk Ferreros gewidmete Bände und in die Veröffentlichung seiner ersten intellektuellen Biographie eingeflossen.26
2.
L’Europa giovane und die Gegenüberstellung von germanischer ‚Rasse‘ und lateinischer ‚Rasse‘
Der Kopie des Vertrages mit dem Verlag Fratelli Treves, aufbewahrt im persönlichen Archiv der Frau Guglielmo Ferreros, Gina Lombroso, entnimmt man, dass der erste für den in Vorbereitung befindlichen Band vorgeschlagene Titel nicht L’Europa giovane war, sondern Verrà dal Nord la Luce?.27 Das vorgelegte Werk bestand nämlich aus einer Sammlung von Schriften, die während einiger Reisen entstanden waren, die Ferrero zwischen 1893 und 1896 in die Länder Nordeuropas unternommen hatte: Deutschland, England, Russland und in die skandinavischen Länder. Teile des angesammelten Materials waren bereits im Corriere della Sera veröffentlicht worden, mit dem Ferrero damals zusammenarbeitete; das spiegelte sich später im Stil eines Werkes wider, das als eines der ersten Beispiele einer journalistischen Reportage gilt. Andererseits diente der populärwissenschaftliche Ton dazu, einer breiten Öffentlichkeit Begriffe und Theorien mit wissenschaftlichem Anspruch verständlich zu machen. Der positivistische Ursprung des Werkes wird bereits in der Widmung auf der Titelseite für den Kriminologen Cesare Lombroso, seinen Lehrer und zukünftigen Schwiegervater, ersichtlich: „Für Cesare Lombroso, Frucht eines von ihm gepflanzten Baumes“. Der Einfluss des evolutionistischen Positivismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist klar erkennbar in der psychologischen Herangehensweise (wo die Psychologie zur Physiologie wird), die Ferrero vorschlägt, um die Besonderheiten der Völker, die sich fortentwickeln, und derer, die niedergehen, zu ermitteln. In diesem Sinne bewegte sich Ferrero im Fahrwasser der Betrachtungen des bekannten Vertreters des soziologischen Positivismus Hippolyte Taine, der von der ‚historischen Psychologie‘ geprägte Werke über einige europäische Länder
26 Vgl. Baldi (Hg.): Guglielmo Ferrero tra società e politica, Anm. 5; Cedroni: I tempi e le opere, Anm. 9; Dies. (Hg.): Aspetti del realismo politico italiano, Anm. 16; Dies. (Hg.): Guglielmo Ferrero: itinerari del pensiero, Neapel 1994; Dies. (Hg.): Nuovi studi su Guglielmo Ferrero, Rom 1998; Dies.: Guglielmo Ferrero. Una biografia intellettuale, Rom 2006; Biancotto, Bernard: La pensée politique de Guglielmo Ferrero, Aix en Provence 1994; Lottieri, Carlo: Guglielmo Ferrero in Svizzera. Legittimità, libertà e potere, Rom 2015. 27 Siehe hierzu das Archivio Contemporaneo Gabinetto Vieusseux in Florenz, Fondo Gina Lombroso, subfondo Guglielmo Ferrero, Serie I, Corrispondenza generale, Karton 2, Akte 104.
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verfasst hat. Darin hatte er theoretische Überlegungen über das Vorhandensein einer tiefgehenden psychologischen Verschiedenheit der sogenannten lateinischen ‚Rassen‘ und der germanischen ‚Rassen‘ angestellt, wobei er unter der ersten dieser etwas vagen Bezeichnungen die Bevölkerungen verstand, die in Italien, Frankreich und Spanien leben, unter der zweiten den Großteil der Völker, die in England, Deutschland und Skandinavien, einschließlich Finnland, leben.28 Anders als Taine, für den die klimatischen Merkmale maßgeblich waren, sah Guglielmo Ferrero in seinem Werk L’Europa giovane den Hauptunterschied zwischen den lateinischen Bevölkerungen und jenen Nordeuropas in den vermeintlich unterschiedlichen Fortpflanzungsfunktionen: „Der Engländer und der Norweger sind sexuell nicht so frühreif und kühler als der Franzose oder der Spanier und […] dieser organische Unterschied ist die Wurzel aller – oder der fast aller – psychischen Unterschiede der beiden Rassen“.29 Ausgehend von dieser vermeintlich geringeren Intensität der körperlichen Begierde der nordischen Bevölkerungen im Vergleich zu den lateinischen Bevölkerungen rekonstruierte Ferrero unterschiedliche Geisteshaltungen und kulturelle Einstellungen gegenüber der produktiven Arbeit in der Zeit des Industriekapitalismus unter den germanischen und lateinischen Bevölkerungen: „Aber die Fähigkeit zur methodischen Arbeit, die Geduld und die Sorgfältigkeit, die deren Schwestereigenschaften sind, hängen von der geringeren Erotik ab“.30 Laut Ferrero verfügten die Bevölkerungen Nordeuropas dank dieser physiologischen Eigenschaft über eine beständige Arbeitsamkeit, die zur Spezialisierung führte, die als einzig wirklich unentbehrliches Erfordernis in der modernen Produktionswelt galt. Im Rahmen seiner Argumentation über die Völker, die sich fortentwickelten, und jene, die niedergingen, glaubte Ferrero also, in den Merkmalen der „germanischen Rasse“ die Zeichen eines aufsteigenden Volkes erkannt zu haben: „Der Industriekapitalismus ist tatsächlich eine germanische Gesellschaftsform, die nicht nur in den germanischen Ländern entstanden ist, sondern sich nur in den germanischen Ländern oder dort, wo die germanische Rasse vorherrscht, vollständig und kräftig entwickelt.“31 Das Maß für den Fortschritt und der Prüfstein der Völker und ihrer Vorzüge war also die Großindustrie. Zu den anderen Unterschieden, die Ferrero am meisten
28 Vgl. Taine, Hyppolite: Les écrivains anglais contemporains. Nouveaux essais de critique et d’histoire. Philosophie de l’art, Paris 1865; Ders.: Philosophie de l’art en Italie. Voyage en Italie, Paris 1866; Ders.: Philosophie de l’art dans les Pays-Bas, Paris 1868; Ders.: Philosophie de l’art en Grèce, Paris 1869; Ders.: Notes sur Paris. L’idéal dans l’art, Paris 1876. 29 Den ins Deutsche vorgenommenen Zitatübersetzungen aus dem Werk L’Europa giovane, hier und weiter unten, liegt die Ausgabe von 1946 zugrunde: Ferrero: L’Europa giovane, Anm. 6, S. 124 f. 30 Ebd., S. 194. 31 Ebd., S. 202.
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beeindruckt hatten, zählte auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Diese beschränkte sich im Norden nicht immer auf die Rolle der Gattin und Mutter, denn sie versuchte sowohl in den Produktionstätigkeiten als auch in der Politik eine tragende Rolle zu spielen.32 Außerdem fällt auf, dass Ferrero in Europa giovane die Ansicht vertreten hatte, dass die militaristische und nach Eroberung strebende Ausrichtung Deutschlands der Bismarckzeit nur vorübergehender Natur wäre und schließlich der Bereitschaft zur Integration mit den anderen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften Platz machen würde.33 Später, gegen Ende des Ersten Weltkrieges, erklärte Ferrero in einer seiner autobiographischen Schriften, sich bei der Interpretation der Trendlinien der deutschen Gesellschaft geirrt zu haben, als die von den neuen Aussichten auf Wachstum und Reichtum herrührenden Bestrebungen in einen Willen zur beherrschenden und selbstzerstörerischen Macht gemündet waren.34 Zurück zur zentralen These des Bandes von 1897: Laut Ferrero waren mit dem Aufkommen der modernen Industriegesellschaft Bedingungen entstanden, die für die Eigenschaften der „germanischen Rasse“ günstig, für die lateinischen Völker hingegen ungünstig waren; Letztere wurden als sexuell überpotent und zivilisiert beschrieben.35 Dem Industriekapitalismus der Bevölkerungen Nordeuropas und somit der Ausbreitung einer neuen Gesellschaft, in der alle Menschen gleichermaßen am Aufbau des Gemeinschaftswerkes beteiligt wurden (von daher das große Interesse des Autors für den deutschen Sozialismus), stellte Ferrero den „Cäsarismus“ der Lateiner gegenüber, eine im Verfall begriffene politisch-institutionelle Form, bei der sich die Führungsschichten nicht an der produktiven Arbeit beteiligten, sondern nur Korruption und Betrug hervorbrachten.36 In dieser seiner ersten Schrift über Europa und in seinen Thesen spiegelten sich auch einige seiner politischen Ansichten wider, die anfangs dem frühen Sozialismus nahestanden und sehr kritisch gegenüber der Regierung Francesco Crispis waren, dem Ferrero die Verantwortung für einen autoritären und imperialistischen Irrweg zuschrieb, symbolisiert durch die Niederlage von Adua im Jahr 1896. In der Wahrnehmung Ferreros verkörperte das Italien Crispis genau jenes „zäsaristische“ Regime ‒ korrupt, militaristisch und der Organisation des Proletariats ebenso ablehnend gegenüberstehend wie der Industrialisierung und der anschließenden Herausbildung eines modernen Bürgertums, dem er das Modell der nordeuropäischen Systeme entgegensetzte.37
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Vgl. ebd., S. 315–324. Vgl. ebd., S. 37–39. Siehe hierzu Ferrero, Guglielmo: La vecchia e la giovane Europa, Mailand 1918, S. 1–36. Vgl. Ferrero: Europa giovane, Anm. 6, S. 180. Vgl. ebd., S. 201–205. Ein Teil des Buches wurde zwischen 1895 und 1896 geschrieben, während eines Zwangsaufenthaltes in Oulx im Oberen Susatal, zu dem er verurteilt worden war, weil er für die Gegner der Regierung
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3.
Das Phänomen Ferrero
L’Europa giovane hatte in Italien auf Anhieb großen Erfolg bei Publikum und Kritik. In den Chroniken jener Zeit, in den Rezensionen und in der Memoirenliteratur finden sich zahlreiche Spuren des unerwarteten Erfolges, den der damals 25-jährige Gugliemo Ferrero mit dem Band L’Europa giovane erzielte.38 In einer langen, wohlwollenden Rezension prägte Gaetano Mosca – der Begründer der modernen italienischen Politikwissenschaft sowie einer der Gäste des Salons von Cesare Lombroso – den Ausdruck „Das Phänomen Ferrero“: Viele Monate lang konnten wir in Italien ein Novum beobachten: Ein großer Kreis jenes Teiles des Landes, der noch imstande ist, zum alleinigen Zweck der Bildung und des Vergnügens zu lesen, an etwas anderes zu denken als an den eigenen Beruf oder an die Befriedigung einer persönlichen Eitelkeit oder Ambition, hat sich ernstlich für die Schriften und Vorträge eines jungen Mannes interessiert.39
Auf der Suche nach den Gründen für das außergewöhnliche Interesse am Buch rühmte Mosca „den faszinierenden Stil“, seine Fähigkeit, „gut zu schreiben […], auch wenn er sich voreilig Theorien ausdenkt oder voreilig gängige Theorien anwendet“.40 Ein halbes Jahrhundert später, 1946, erinnerte der persönliche Freund Ferreros und damalige Direktor des Corriere della Sera, Mario Borsa, im Vorwort zum Neudruck des Bandes außerdem daran, dass am Ende des 19. Jahrhunderts die Szene überaus empfänglich für ein Buch dieser Art war. Nordeuropa war nämlich groß in Mode in Theater, Musik und ganz allgemein im Alltagsgespräch, und dieser Umstand war von enormem Nutzen für den Erfolg und die Verbreitung des Werkes: Ebenso wie alle jungen Menschen seiner Generation war Ferrero der Faszination des Nordens erlegen, der damals in Mode war, mit Nansens Polarreisen, mit Ibsens Dramen, den Romanen Biörnsons, den Schriften von Strindberg und Brandès. […] Das Jahrhundert
Crispi Partei ergriffen hatte. Diese hatten 1894 Proteste abgehalten, die von der Polizei brutal niedergeschlagen worden waren. Zum kritischen Urteil Guglielmo Ferreros über die Regierung Crispi siehe im Besonderen Ferrero, Guglielmo: Crispi e Rudinì, in: Il Secolo (6. Januar 1897). 38 Vgl. dazu auch Raditsa, Bogdan: Colloqui con Guglielmo Ferrero seguiti dalle grandi pagine, Lugano 1939, S. 29. 39 Mosca, Gaetano: Il fenomeno Ferrero, in: La riforma sociale 4/7 (1897), S. 1017–1031 und 1135–1164, hier S. 1017. An der Debatte über L’Europa giovane nahmen neben Mosca mehrere Vertreter des Zirkels von Lombroso teil, darunter Alfredo Niceforo, Giuseppe Sergi und Scipio Sighele. 40 Ebd., S. 1163 f.
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ging zu Ende in einer vagen Erwartung politischer und gesellschaftlicher Neuigkeiten und Guglielmo Ferrero war der neue Mann.41
Allerdings wurden die von Ferrero entwickelten Thesen in Italien auch heftig kritisiert, vor allem von der offiziellen Geschichtsschreibung. Zu den strengsten Kritikern zählte der bekannte italienische Philosoph Benedetto Croce. Dieser schrieb, dass „mit Theorien wie dieser über Rassen, über die Jugend und das Alter der Völker kein einziges Kapitel der Geschichte erklärt werden kann“.42 Ferrero distanzierte sich später von seinem Erstlingswerk, er definierte es als Jugendwerk und gab zu, dass es darin „viele Abschweifungen und Fantastereien“ gab.43 Ganz allgemein kehrte sich Ferrero in seinen folgenden Arbeiten vom evolutionistischen Positivismus Lombrosos ab, weil er irgendwann überzeugt war, dass es sehr schwierig war, sichere und unumstößliche Beweise zu liefern, um die wissenschaftliche Gültigkeit dieser Herangehensweise zur Erklärung der Trendlinien der großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen seiner Zeit zu untermauern.44 Das Thema des Fortschritts und des Alterns der Zivilisationen bildete jedenfalls weiterhin den Mittelpunkt auch seiner folgenden wissenschaftlichen Arbeiten. Ferrero betonte, dass sein monumentales Werk über die Geschichte Roms beim Übergang von der Republik zum Kaiserreich – Grandezza e decadenza di Roma – hauptsächlich vom Bedürfnis inspiriert war, mit dem Problem fertig zu werden, das er bereits in L’Europa giovane zu lösen versucht hatte, allerdings viel zu eilig: „an welchen Zeichen man erkennen kann, ob ein Volk aufsteigt oder niedergeht“.45 Obwohl das Werk Grandezza e decadenza di Roma bei den akademischen Historikern sehr umstritten ist, kann man es nicht nur als literarisches Fresko betrachten, sondern als richtigen Klassiker der Geschichtsschreibung, vor allem, was die Interpretation der Figur des Julius Cäsar betrifft. Als Ferrero das Werk in Angriff nahm, beruhte ein Großteil der Literatur zu diesem Thema auf der mythologisierenden Vorstellung von Cäsar, wie sie sowohl in der großartigen Geschichte Roms von Theodor Mommsen, die zwischen 1854 und 1856 veröffentlicht wurde, als auch in der Histoire de Jules César von Napoleon III., die im Zweijahreszeitraum 1865–1866 erschien, enthalten ist. Ferrero kippte diesen Ansatz und präsentierte Cäsar nicht etwa als den größten Staatsmann aller Zeiten, sondern vielmehr als geschickten Demagogen, genialen Karrieremacher, der nicht von einem politischen Projekt angetrieben war, sondern von Ehrgeiz und Machtstreben.46 41 42 43 44 45 46
Borsa, Mario: Vorwort, in: Ferrero: Europa giovane, Anm. 6, S. VII–XX, hier S. X–XII. Croce, Benedetto: Il dissidio spirituale della Germania, Rom/Bari 1944, S. 10. Vgl. Ferrero: La vecchia e la giovane Europa, Anm. 34, S. 10–14. Vgl. ebd., S. 12. Ebd., S. 15. Vgl. dazu Treves: Ferrero, Anm. 4, S. 21 f.
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In Grandezza e decadenza di Roma findet sich also die historisch-literarische Rekonstruktion eines der oben erwähnten Leitgedanken von Europa giovane: die Agonie des Cäsarentums, das heißt die pathologische Entartung einer politischinstitutionellen Form, bei der die Gesellschaft von Klassen regiert wurde, die nicht die produktive Arbeit repräsentierten. Das Werk wurde zu einem großen Publikumserfolg, vor allem im Ausland, während es in Italien von der offiziellen Geschichtsschreibung heftig angegriffen wurde, insbesondere von der von Benedetto Croce geleiteten idealistischen Schule; diese bestritt offen den wissenschaftlichen Wert von Ferreros Werk.47 Die an Ferrero gerichtete Kritik lautete, er würde eine erfundene Geschichte schreiben, wobei er den Quellen a priori konstruierte Thesen überstülpe, oder, noch schlimmer, indem er eine historische Rekonstruktion vornehme, ohne über Dokumente für deren Grundlegung zu verfügen. Im Wesentlichen wurde das gesamte Geschichtswerk als Erzeugnis abgetan, das in die Kategorie einer „soziologisch“ orientierten Forschung fällt und als solches als „Nicht-Geschichte“ zu betrachten sei, als Form einer Untersuchung, die übermäßige Zugeständnisse an den historischen Materialismus macht.48 Im Nachhinein erschien das strenge Urteil Croces und vieler anderer italienischer Universitätsprofessoren einigen zu hart und vielleicht auch ungerecht, zumal sich die Bewertung des Werkes seitens der Historiker im Lauf der Jahre grundlegend änderte.49 Immerhin ist jenes Urteil im Rahmen der gegensätzlichen Positionen von Positivismus und einer Geschichtsauffassung, die der damals dominierenden idealistischen philosophischen Kultur eigen war, verständlich; diese lehnte in voreingenommener Weise die Verwendung soziologischer Kategorien ab, die als zu abstrakt und politisch konnotiert betrachtet wurden und die man für wenig geeignet hielt, die Komplexität der Geschichte darzustellen.50
47 Vgl. Barbagallo, Corrado: L’opera storica di Guglielmo Ferrero e i suoi critici, Mailand 1911, sowie die heftige Debatte zwischen Guglielmo Ferrero und einem seiner Gegner, Ettore Pais, die im Jahr 1912 von der Zeitschrift Rivista d’Italia veröffentlicht wurde: G. Ferrero – E. Pais. Per una cattedra di storia romana, in: Rivista d’Italia XV/2 (1912), S. 341–348. 48 Zum kritischen Urteil Benedetto Croces über das Geschichtswerk Guglielmo Ferreros siehe im Besonderen Croce, Benedetto: Storia della storiografia italiana del secolo XIX, Bari 1921, S. 245–250. Zu den Beziehungen zwischen Croce und Ferrero siehe auch Tessitore, Fulvio: Croce e Ferrero, in: Rivista di studi crociani 1 (1964), S. 147–150. 49 Zu den italienischen Historikern, die das Werk Ferreros aufwerteten, zählt zum Beispiel der große Romanist Santo Mazzarino. Siehe dazu auch De Rosa, Daniela: Il divenire storico nell’opera di Guglielmo Ferrero, Rom 1978. 50 Vgl. dazu Ferrero, Guglielmo: Storia e storici nella critica di Benedetto Croce, in: La Ronda III/10, (1921), S. 1–11.
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4.
Der neue Europadiskurs nach dem „historischen Kataklysmus“
Nach dem Erfolg von Grandezza e decadenza di Roma befasste sich Ferrero wieder mit den Problemen seiner Zeit, ohne den Grundgedanken der großen Dimension aufzugeben, der Untersuchung, die sich sowohl auf Zeiträume als auch auf Kontinente erstreckte. Zwischen 1913 und 1918 veröffentlichte Ferrero einige Studien, die wichtigsten davon sind Fra i due mondi (erschienen 1913),51 La guerra europea (erschienen 1915),52 Le génie latin et le monde moderne (erschienen auf Französisch 1917)53 und schließlich La vecchia Europa e la nuova aus dem Jahr 1918, eine Sammlung von Abhandlungen und Reden, die zum Großteil bereits zuvor veröffentlicht worden waren.54 Aus diesen Studien geht ein anderes Bild von Europa hervor als aus Ferreros Schrift von 1897. Das Thema des Aufstiegs und Niedergangs der Zivilisation stand weiterhin im Mittelpunkt, wurde aber mit ganz anderen Argumenten in Angriff genommen als früher. In Europa giovane wurde die „germanische Rasse“ als Avantgarde des modernen Europa präsentiert, in den folgenden Schriften wird sie hingegen als drohende Barbarei dargestellt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Ferrero, der in der Vergangenheit ein kühner Verfechter einiger Formen des Fortschritts, die von der deutschen Gesellschaft hervorgebracht worden waren (darunter die Emanzipation der Frau, der Sozialstaat, die Beteiligung der Führungsschicht am Produktionssystem), sowie ein überzeugter Antimilitarist war,55 zu einem kühnen und bissigen antigermanischen Interventionisten. Die Vorstellung einer unüberwindbaren Dichotomie zwischen Germanen und Lateinern aus dem späten 19. Jahrhundert wird unter dem Gesichtspunkt eines Kampfes der Kulturen zwischen einem barbarischen Volk, das verantwortlich ist für einen von Ferrero so bezeichneten „historischen Kataklysmus“,56 und einer jedenfalls im Niedergang begriffenen Bevölkerung, die ihre Nationalität verloren hatte, ihre Fähigkeit, das alte und richtige Gleichgewicht zwischen Macht und Reichtum, das heißt zwischen Führung und Produktionssystem wiederherzustellen, überarbeitet.
51 Ferrero, Guglielmo: Fra i due mondi, Mailand 1913. Dieses Werk erschien auch auf Französisch, Deutsch und Englisch (mit dem Titel Between the Old World and the New). Es handelt sich um eine Art philosophischen Dialog, geschrieben nach der Rückkehr von einer Amerikareise, in dem der Autor die Theorie der zwei Zivilisationen und die Philosophie der Grenze ausarbeitet, wobei er die moderne quantitative Zivilisation und die antike qualitative Zivilisation vergleicht. 52 Ferrero, Guglielmo: La guerra europea: studi e discorsi, Mailand 1915. In diesem Werk sind verschiedene Studien gesammelt, die von 1913 bis 1915 mehrmals in internationalen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht worden waren. 53 Ferrero, Guglielmo: Le génie latin et le monde moderne, Paris 1919. 54 Ferrero: La vecchia e la giovane Europa, Anm. 34. 55 Laut Ferrero war der Hauptgrund für den Krieg im Expansions- und Eroberungsgeist der Industrie und des Handels zu suchen. 56 Ferrero: La vecchia e la giovane Europa, Anm. 34, S. 202.
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Der „europäische Krieg“ – so bezeichnete Ferrero den Ersten Weltkrieg – wurde als „neues“ Phänomen dargestellt, das auf dem politischen „Ungleichgewicht“ zwischen europäischen Nationen, vor allem zwischen Frankreich, England und Deutschland, beruhte. Ferrero verwendete den Ausdruck „moderner europäischer Krieg“, um den Verlust des Gefühls für die Ausmaße des Konflikts anzudeuten, und stigmatisierte ihn sogar als „hyperbolischen Krieg“;57 für Ferrero handelte es sich nämlich um einen „totalen“ Krieg zwischen Völkern, die von der „mystischen“ Überzeugung angetrieben waren, für die gerechte Sache gegen die abscheulichste aller Aggressionen zu kämpfen. Der europäische Krieg war das Zeichen der Krise einer zugrunde gehenden Zivilisation, wie er im Vorwort zu La guerra europea schrieb: [D]ieser Krieg ist kein Krieg wie viele andere Kriege, die es auf der Welt gegeben hat; er ist aber, wie die Französische Revolution, die Krise einer Zivilisation, aus der nichts heil hervorgeht und die im Moment die Form und das Aussehen eines Krieges annimmt. Man soll sich keine Illusionen machen. Das Europa, in dem wir geboren sind, ist nur mehr ein altes, verfallenes Gebäude.58
Um die Moderne wahrzunehmen, so betonte Ferrero bereits in seiner Schrift von 1913, Fra i due mondi, und später in Le génie latin et le monde moderne, musste man den Blick woandershin richten, mit wehmütiger Resignation, nach Übersee, in die Vereinigten Staaten. Dort zeigten die außergewöhnlichen Fortschritte auf dem Gebiet der Entwicklung von Methoden zur industriellen Serienproduktion (der sogenannte „Taylorismus“) und die frühe Verbreitung eines modernen Modells der Konsumgesellschaft – ethisch sehr fragwürdig –, dass die Überlegenheit der amerikanischen Zivilisation eine quantitative war. In seinen zwischen 1913 und 1918 veröffentlichten Schriften ersetzte Ferrero das alte Paar NordeuropaLateineuropa durch das neue Paar Amerika-Europa. Ferrero erkannte der untergehenden europäischen Zivilisation und dem kriselnden Liberalismus eine kulturelle und politisch-soziale Überlegenheit zu, die sich im Respekt vor den natürlichen und menschlichen Grenzen äußerte; dieser Respekt war ein Erbe der klassischen Kultur. In den nordischen und angelsächsischen Systemen wurden diese Grenzen dagegen ständig überschritten. Dort hatten sich jene Erscheinungen durchgesetzt, die laut Ferrero der moralischen und politischen Krise des beginnenden Jahrhunderts und der Katastrophe des Ersten Weltkriegs Vorschub geleistet hatten – Militarismus, Massenarmut, Technisierung und eine gewisse Tendenz zum Autoritarismus.59
57 Ferrero: La guerra europea, Anm. 52, S. 142. 58 Ebd., S. X. 59 Vgl. Raditsa: Colloqui con Guglielmo Ferrero, Anm. 38, S. 48.
Das junge und das alte Europa
Dabei nahm er zumindest einen Teil jener Literatur über die Krise Europas vorweg, die, von Oswald Spengler bis Paul Valéry, von Benedetto Croce bis Francesco Saverio Nitti (um nur einige der italienischen Vertreter zu nennen, die sich in der Zwischenkriegszeit an der internationalen Debatte über das sogenannte finis Europae beteiligten),60 behauptete, dass sich die europäische Zivilisation vielleicht im letzten Stadium ihres Lebenszyklus befand oder nahe daran war. Ferrero war auch ein aufmerksamer Beobachter der Nachkriegsereignisse: Er veröffentlichte bis Juli 1923 mehrere Artikel in der Tageszeitung Il Secolo und einige kurze Aufsätze, darunter Memorie e confessioni di un sovrano deposto (1920), La ruine de la civilisation antique (1921, it. Übers. 1926), La tragedia della pace: da Versailles alla Ruhr (1923) und die bereits erwähnten Da Fiume a Roma (1923), Le dittature in Italia (1924) und La democrazia in Italia (1925). In diesen Schriften wies Ferrero auf den faschistischen Vormarsch zur Macht hin und befasste sich auch mit der Bedeutung und den Folgen des Zusammenbruchs des europäischen dynastischen Systems. Was Ferrero mit besonderer Sorge erfüllte, war „die Katastrophe des Endes; der Untergang der russischen Dynastie, der österreichischen Dynastie und aller deutschen Dynastien, der großen wie der kleinen“, und die unmittelbare Gefahr einer „langen Periode unüberschaubarer Konvulsionen“.61 Trotzdem hörte Ferrero nicht auf, sich über die Zukunftsaussichten und über die Wiederaufrichtung des untergehenden Europa Gedanken zu machen. Sein Programm des politischen Wiederaufbaus sah eine Rückkehr in die Vergangenheit der „politischen Kindheit“ vor: „[M]an musste von der Basis ausgehen, das heißt von den einzelnen Staaten, und möglichst schnell in der germanischen Welt und in Russland demokratische und parlamentarische Republiken schaffen, die funktionieren konnten, und dabei jene Mischformen zwischen Republik und Monarchie nach Möglichkeit vermeiden.“62 Etwas paradoxerweise war in diesem Ansatz, wie übrigens in der gesamten damaligen italienischen Kulturdebatte, der große Einfluss des Denkens von Benedetto Croce spürbar. Lange bevor er seine Storia d’Europa nel secolo decimonono (1932) in Druck gab, sprach Croce vom „europäischen Geist“, jenem Streben nach Freiheit zugunsten von Individuen, Gruppen und Nationen, das dazu führte, dass sich die liberalen Institutionen durchsetzten.63 Ebenfalls zum Thema der Folgen des Krieges veröffentlichte Ferrero in Frankreich drei kleine Bände mit Artikeln,
60 Francesco Saverio Nitti, Wirtschaftswissenschaftler, Politiker (Ministerpräsident und mehrmals Minister im liberalen Italien), Essayist und Antifaschist, gab zwischen 1921 und 1923 drei Bände, die sich mit dem Thema des Niedergangs Europas befassten, in Druck. 61 Raditsa: Colloqui con Guglielmo Ferrero, Anm. 38, S. 61. 62 Ebd., S. 62. 63 Zu den wichtigsten Schriften Benedetto Croces jener Zeit zählen in erster Linie Teoria e storia della storiografia (1917), Contributo alla critica di me stesso (1918) und L’Italia dal 1914 al 1918. Pagine sulla guerra (1918).
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die in L’illustration erschienen waren: Discours aux sourds (1924), Entre le passé et l’avenir (1926) und L’unité du monde (1927). Darin übte er scharfe Kritik am Vertrag von Versailles, weil er nicht imstande war, „ein Gleichgewicht und eine geordnete Entwicklung“ wiederherzustellen, und bekräftigte seine These, dass es notwendig sei, „der Politik in Friedenszeiten und im Krieg geplante, das heißt begrenzte und humane Ziele“ wiederzugeben.64
5.
Fazit
Obwohl der geistige Werdegang Ferreros und insbesondere seine Betrachtungen über Europa zweifelsohne außergewöhnlich sind, haben sie etwas Emblematisches. Am Ende des 19. Jahrhunderts passte sein Beitrag folgerichtig in eine Zeit, in der, unter dem Einfluss der positivistischen, sozialdarwinistischen Theorien, Europa immer weniger als einheitliche Zivilisation angesehen wurde, das heißt als eine anthropologisch, psychologisch und kulturell identifizierbare Entität, sondern immer mehr als ein intrinsisch und strukturell geteiltes Gebilde, das nur durch die Analyse seiner vielen Widersprüche und Gegensätze identifizierbar, erkennbar und – dem Zeitgeist entsprechend – sogar messbar wurde. In den Betrachtungen vieler europäischer Intellektueller, von Taine bis Ferrero, traten die Völker an die Stelle eines zivilisatorischen Selbstbildes, das ein geeintes Europa als Modell für Modernität und globalen Fortschritt wahrnahm. Guglielmo Ferrero war nicht der erste und beileibe nicht der einzige europäische Intellektuelle, der dem Mythos einer vermeintlich unüberwindbaren Dichotomie zwischen „germanischer Welt“ und „lateinischer Welt“ und damit der Vorstellung eines Europas anhing, das unweigerlich von einer zunehmenden Konfrontation zwischen individuellen und kollektiven Lebensformen, die in Widerspruch zueinander stehen, gekennzeichnet war. Andererseits war er einer der wenigen führenden italienischen Intellektuellen, die den Aufstieg und Niedergang der europäischen Völker mit Hilfe der Ausarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie zu erklären versuchten, die auf dem historischen Wissen und auf der Anwendung einiger (angeblicher) Errungenschaften der modernen Sozialwissenschaften jener Zeit in Sachen ‚Rasse‘, Sozialpsychologie und historischer Materialismus beruhte. Die Verwendung einer wissenschaftlichen (oder pseudowissenschaftlichen) Argumentation, um die Entwicklung sozialpolitischer Erscheinungen von großer Aktualität und Bedeutung zu erklären, war eines der wichtigsten Merkmale, die seinen Studien über Europa und danach über das alte Rom einen unerwarteten Erfolg bescherten.
64 Raditsa: Colloqui con Guglielmo Ferrero, Anm. 38, S. 58–60.
Das junge und das alte Europa
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges spiegelte das Schaffen Ferreros über Europa dagegen eine ganz allgemeine Änderung des Blickwinkels wider, die man auch bei vielen anderen italienischen Intellektuellen und Wissenschaftlern beobachten konnte. Diese sahen sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Politisierung und Nationalisierung ihrer Betrachtungen über die anderen europäischen Völker veranlasst, ihre vorigen positiven Urteile über die deutsche Kultur und Zivilisation zu revidieren.65 Und so wie andere europäische Intellektuelle begann Ferrero die These einer drohenden, potentiell tödlichen Krise zu vertreten – eher eine Krise der Kultur und der Werte als eine wirtschaftliche oder politische –, und den Ersten Weltkrieg nur als ein Anzeichen davon zu deuten. Schließlich war Ferrero mit seinen reiferen Überlegungen über Aufstieg und Niedergang der Zivilisationen auch einer der ersten italienischen Intellektuellen, die eine nicht ausschließlich eurozentrische Interpretation unterbreiteten und vorzeitig das Phänomen des Rückstandes und der generellen Verlangsamung, sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht, des alten Europas gegenüber den Vereinigten Staaten feststellten. Gegenüber der Welt, die von der Vorherrschaft der Quantität (das unaufhaltsame Streben nach Anhäufung von Reichtum und Macht) über die Qualität (die Fähigkeit, die sozialen Ungleichgewichte klug auszugleichen) gekennzeichnet war, erhob sich Ferrero zum Wortführer einer ethisch-zivilen Rückkehr zum Gestern, zur alten europäischen Zivilisation. Dem stimmten in der Zwischenkriegszeit andere italienische und europäische Intellektuelle, von Benedetto Croce in Italien bis zum realistischen Philosophen Julien Benda in Frankreich oder dem Mediävisten Christopher Dawson im Vereinigten Königreich, in der einen oder anderen Weise in ihren Betrachtungen über das Ende Europas und dessen notwendige Wiedergeburt zu, wenn auch in sehr unterschiedlichen Formen und Inhalten. Letztlich erscheint Ferreros Beitrag zum Europadiskurs im 20. Jahrhundert von besonderer Bedeutung, wenn es darum geht, die Darstellungsweisen zu erforschen, die in bestimmten historischen Momenten für seine Verbreitung bei einer breiten Öffentlichkeit verwendet wurden – ein Vorhaben, das Ferrero mit seinem Band L’Europa giovane hervorragend gelang.
65 Vgl. dazu Heitmann, Klaus: Das kurze zwanzigste Jahrhundert (1914–1989). Italien gegen Deutschland: der Erste Weltkrieg (Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte III/1), Heidelberg 2012.
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Massimiliano De Villa
Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära Orientierungen und Krisenbewusstsein
1.
Jüdischer Liberalismus im 19. Jahrhundert in Deutschland und Österreich
Die Zeit, in der das liberale Denken im deutschsprachigen Judentum blühte und gedieh, waren die 1860er und 1870er Jahre. Das enge Bündnis zwischen Juden und Liberalismus begann sich im deutschsprachigen Raum aber bereits zuvor zu entwickeln, nämlich in den hundertfünfzig Jahren vor 1900. Es ist hervorzuheben, dass die jüdische Emanzipation zumindest in groben Zügen bereits in der zweiten Hälfte des 18. und während eines Großteils des 19. Jahrhunderts im liberalen Denken Unterstützung und Beachtung gefunden hatte und von einer politischen Doktrin profitierte, die die Gewährung wirtschaftlicher und sozialer Freiheiten und gesellschaftspolitischer Rechte unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zur Voraussetzung ihres politischen Programms machte. Diese Annäherung der Juden an die deutsche Gesellschaft wurde durch eine Gesetzgebung gefördert, die vom 1781 erhobenen Anspruch Christian Wilhelm Dohms auf Bürgerrechte und Berufsfreiheit bis zu den Emanzipationsgesetzen von 1869–1871 über das 1782 erlassene Toleranzpatent Josephs des Zweiten und das preußische Judenedikt von 1812 Zwänge und Verbote für die Juden aufhob, die nun nicht mehr als Fremdkörper, sondern als Rechtsträger und als Bürger angesehen wurden. Der jüdische Anpassungsprozess definiert eine kulturelle Aneignung, aber eine, die einen Verzicht mit sich brachte und die jüdische Identität bis hin zur Assimilation und Entfernung von der eigenen Tradition auflöste. Die Begegnung zwischen der deutschen Aufklärung und der Haśkalah von Mendelssohn und seinen Schülern im Rahmen des liberalen Denkens bis hin zu den jüdischen Salons von Rahel Levin Varnhagen und Henriette Herz, die Beschränkung der jüdischen Religion auf die private Glaubensausübung, der Bedeutungsverlust der jüdischen Gemeindeeinrichtungen, die Verteilung der Juden außerhalb der ihnen traditionell vorbehaltenen Straßen und Stadtteile, die Kultusreformen, die ethisch-ästhetische Bildung und die Forschungen der Wissenschaft des Judentums waren nur einige der Schritte auf einem Weg, auf dem sich die Juden der deutschen Kultur und Gesellschaft näherten. Zu Universalisten und Rationalisten geworden, suchten die Juden von da an Bildung, Anstand, Sittlichkeit und Geselligkeit nicht weniger als den materi-
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ellen Besitz, der die praktische Seite der Aufklärung zeigte, d. h. die Konkretheit einer allmählichen, unaufhaltsamen Verbürgerlichung. Die so genannten assimilierten Juden, die sich von Synagogenmännern in moderne, säkularisierte Bürger „israelitischen“ oder „mosaischen“ Glaubens verwandelt hatten, waren „Apostel der Vernunft“, Kosmopoliten, die zwischen zwei Welten standen, sich von der Kultur ihrer Väter lösten und das Judentum als Naturreligion oder Religion der Vernunft vertraten. In den sogenannten liberalen Jahrzehnten (d. h. in den 1860er, 1870er und teilweise in den 1880er Jahren) waren Juden in beiden Reichen, der kaiserlich-königlichen Doppelmonarchie und dem Preußischen Königreich-Wilhelminischen Kaiserreich, in der Politik so zahlreich und wichtig wie nie zuvor. Alle diese Politiker jüdischer Zugehörigkeit oder Herkunft – ob Abgeordnete oder, in geringerer Zahl, auch Minister – waren der Modernisierung verpflichtete Verwaltungsreformer. Was Deutschland betrifft, so waren diese jüdischen Politiker fast alle Nationalliberale und bringen dieselben Orientierungen zum Ausdruck, die im deutschen politischen Liberalismus vorherrschten: Obwohl sie dem deutschen Liberalismus und der so genannten Verfassungspartei nahe standen, unterstützten sie Bismarck, vor allem weil der Norddeutsche Bund und das Deutsche Reich in dieser Zeit noch durch relativ freie gesellschaftspolitische Strukturen und Institutionen gekennzeichnet waren: Freizügigkeit, Liberalisierung von Handel und Berufen, allgemeines Wahlrecht für Männer und natürlich Judenemanzipation. Wie sich bald zeigen sollte, hatte die jüdisch-nationalliberale Achse nicht lange Bestand, denn sie hing wiederum von der Achse zwischen den deutschen Nationalliberalen und Bismarck ab. Solange Bismarck bereit war, den liberalen Nationalstaat mit seinen individuellen Freiheiten und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten auszubauen oder zumindest dessen Einflussbereich nicht einzuschränken, unterstützte ihn die Mehrheit der Juden und identifizierte sich bereitwillig mit seiner Politik, weil sie die Möglichkeit der Integration und Emanzipation nicht in Gefahr sah. Doch Ende der 1860er Jahre lehnte Bismarck den reformistischen Druck der Nationalliberalen ab und wandte sich zunehmend den konservativen Parteien und dem katholischen Zentrum zu, um eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Er gab die Freihandelspolitik auf, für die er mindestens ein Jahrzehnt lang eingetreten war. Diese Maßnahmen spalteten die nationalliberale Koalition, deren Mehrheit noch bereit war, Bismarck zu unterstützen, während der linke Flügel, zu dem auch die meisten jüdischen Parteimitglieder gehörten, sich abspaltete und eine Koalition mit der Fortschrittspartei einging, aus der eine neue linksliberale politische Kraft hervorging: die Deutsch-Freisinnige Partei. Diese Art von politischem Erdbeben von 1878–1879, das auch als zweite Reichsgründung bezeichnet wird, leitete das Ende des Liberalismus als dominierende Kraft in der nationalen Politik ein und hatte auch langfristige Auswirkungen auf die politische Loyalität der jüdischen Bevölkerung. Zweifelsohne erwies sich der
Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära
deutsche Liberalismus in den 1880er Jahren als weniger liberal, und seine emanzipatorische und fortschrittliche Botschaft wurde auch für Juden fragwürdiger. Die freie Marktwirtschaft wich zunehmend organisierten Interessen und sehr bald machten sich die liberalen Eliten des Reichs viele Werte und Ideen ihrer konservativen Gegner zu eigen, was so weit ging, dass sie die rechtliche Gleichstellung der Juden in Frage stellten oder sogar ablehnten. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die jüdischen Politiker und Publizisten dieser Zeit fast ausnahmslos dem liberalen politischen Spektrum zuzurechnen sind. Trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtungen waren sich alle liberalen jüdischen Politiker in drei Punkten einig: Unterstützung eines säkularen Bildungssystems und Ablehnung des während des Kulturkampfes erlassenen Gesetzes zum Verbot des Jesuitenordens sowie der Todesstrafe. Darüber hinaus waren alle jüdischen Liberalen, entgegen der weit verbreiteten Meinung vieler im liberalen Lager, Antimilitaristen. Was Österreich betrifft, so verliefen die Entwicklungen und ideologischen Veränderungen im Liberalismus parallel zu jenen in Deutschland. In den Kronländern der Habsburgermonarchie, die bereits von politischen Konflikten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen über Sprach- und Nationalitätenfragen geprägt waren, wird die Verbindung zwischen Liberalismus, Emanzipation und politischer Einheit noch selbstverständlicher als in Deutschland gesehen. Die in den österreichischen Kronländern lebenden Juden waren zentralistisch, pro-habsburgisch und überwiegend liberal eingestellt. Sie hatten auch ein starkes Interesse daran, eine zentralisierte Verwaltung des Reiches zu unterstützen, die die Gleichheit aller vor dem Gesetz förderte und den einzelnen Kronländern wenig Spielraum ließ. Aus demselben Grund fürchteten die Juden Wiens und der Kronländer, insbesondere in Böhmen, die Ansprüche des slawischen Nationalismus und der christlich-sozialen, konservativen Partei, die den Nationalismus unterstützte. Sie fürchteten nämlich föderalistische Bestrebungen, die eine Verlagerung der Macht aus dem Zentrum des Reiches, wo sie seit dem Ausgleich von 1867 fest verankert war, in die einzelnen Kronländer bedeuten würden. In seiner Studie über den Liberalismus in der Habsburgermonarchie kommt Georg Franz zum Schluss, dass keine gesellschaftliche Gruppe die liberale Regierung so vehement unterstützte und die Kräfte der Reaktion so heftig angriff wie die Juden.1 Prominente jüdische Geschäftsleute sagten gerne, was ihre Vorfahren nicht sagen konnten, nämlich dass sie freie Bürger in einem freien Staat waren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich das überwiegend städtische jüdische Bürgertum in einer deutschen kulturellen Identität und politisch in einem liberal geführten Zentralismus wiedererkannte.
1 Vgl. Franz, Georg: Liberalismus. Die deutschliberale Bewegung in der habsburgischen Monarchie, München 1955, S. 186.
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Solange die deutschen und österreichischen liberalen Parteien die Gleichberechtigung aller Bürger garantierten und die Assimilation der Juden befürworteten und solange sie die wichtigste politische Kraft im Staat darstellten, war das 1848 geschaffene jüdisch-liberale Bündnis sicher. Doch sowohl in Deutschland als auch in Österreich begann sich der liberale politische Block nach der kurzen Zeit seiner Vorherrschaft, insbesondere nach 1879 und zunehmend in den folgenden Jahren, in viele Strömungen aufzuspalten, von denen einige eher nationalistisch und antikapitalistisch eingestellt waren und eine antisemitische Komponente aufwiesen.2
2.
Jüdischer Liberalismus in der Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg: Antisemitismus, Ostjudenfrage und das Verhältnis zum Zionismus
Um die Jahrhundertwende vollzog sich in weiten Teilen des deutschsprachigen Judentums eine deutliche Neuorientierung. Zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts ging es den deutschen Juden vor allem um die Frage der Integration in die deutsche Gesellschaft, und die politisch-ideologischen und religiösen Positionen im jüdischen Bereich waren zwischen Orthodoxie und Liberalismus gespalten, während die Anerkennung als vollwertige und vollberechtigte Bürger und die Aneignung der deutschen Kultur Ziele waren, die die Mehrheit der deutschen Juden anstrebte. Mit Ausnahme der Traditionalisten waren sich alle Juden einig, dass das Judentum in erster Linie eine Religion und keine Nationalität sei, und sie bezeichneten sich fast ausnahmslos als Deutsche jüdischen Glaubens. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts fanden jedoch einige wichtige Entwicklungen statt, wie das Aufkommen eines politischen und kulturellen Antisemitismus, der die Zugehörigkeit der Juden zur deutschen Nation leugnete. Eine weitere Entwicklung betrifft eine Alternative, die die deutschen Juden stark konfrontierte und ihre nationale Identität in Frage stellte: den wachsenden Einfluss der Ostjuden, ein Begriff, der nach dem Ersten Weltkrieg üblich wurde. Die osteuropäischen 2 Zum Verhältnis zwischen Judentum und Liberalismus siehe Brenner, Michael/Jersch-Wenzel, Stefi/ Meyer, Michael A.: Emanzipation und Akkulturation. 1780–1871 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit 2), München 1996; Lowenstein, Steven M./Mendes-Flohr, Paul/Pulzer, Peter/Richarz, Monika: Umstrittene Integration. 1871–1918 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit 3), München 1997. Hierzu vgl. auch Bronsen, David (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979; Botstein, Leon: Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938, Wien/Köln 1991; Mattenklott, Gert: Über Juden in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992; Meyer, Michael A.: Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identität in Deutschland 1749–1824, München 1994; Hermand, Jost: Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose, Köln/Weimar/Wien 1996; Mendes-Flohr, Paul: German Jews. A Dual Identity, New Haven/London 1999.
Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära
Juden stellten eine Herausforderung für die deutschen Juden dar, weil sie in ihren Herkunftsländern eine kulturelle und nationale Abgrenzung aufrechterhielten und sich nicht wie ihre deutschsprachigen Glaubensgenossen in die Kultur ihrer nichtjüdischen Umgebung integrierten.3 Infolge dieser neuen Entwicklungen reichte das Spektrum der Positionen zur viel diskutierten Frage des deutsch-jüdischen Verhältnisses von jüdischer Selbstverleugnung über die Möglichkeit der Versöhnung beider – der westjüdischen und der ostjüdischen – Identifikationsformen bis hin zur Proklamation einer anderen Nationalidentität durch die zionistische Bewegung.4 Die Mehrheit der Juden, die noch an eine Versöhnung zwischen deutscher Nationalität und jüdischer Identität glaubten, waren nun von der Notwendigkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus überzeugt. Die politische Frage nach dem Recht der Juden, Deutsche zu sein, begann, sowohl das jüdische Gemeinschaftsleben als auch das Selbstverständnis vieler deutscher Juden tiefgreifend zu beeinflussen. Die Mehrheit der deutschen Juden befürwortete eine Synthese ihres Deutschtums mit ihrem Judentum, war nun aber davon überzeugt, dass es notwendig sei, sich klar gegen den Antisemitismus auf jüdischer Seite zu positionieren und ihn aktiv zu bekämpfen. Auf dieser Grundlage wurde 1893 der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), ein Verband des liberalen Judentums, als Abwehrorganisation gegen die Ausbreitung des Antisemitismus gegründet.5 Die Ziele des CV, wie auch die anderer Abwehrvereine, und sein Erscheinungsbild unterschieden sich zunächst nur wenig von denen der liberalen Vereine in der vorangegangenen Generation: Das tiefste Bestreben ihrer Mitglieder war es, als Deutsche oder Österreicher anerkannt und nicht vom Land ihrer Geburt und ihrer Kultur getrennt zu werden. Indem sie für die Anerkennung ihrer Identität als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens kämpften, waren sie davon überzeugt, dass Judentum und Deutschtum nicht im Gegensatz zueinander stehen. Was die Ostjudenfrage betrifft, war die Haltung der liberalen Mehrheit gegenüber den ostjüdischen Einwanderern, die in großen Migrationswellen ab 1880 und verstärkt während des Ersten Weltkriegs aus Russland, Rumänien und Galizien in den Westen kamen, ähnlich jener zur Verteidigung der jüdischen Religionszugehörigkeit. Sie erfuhr seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Entwicklung und Akzentverlagerung. Im Zeitalter der Assimilation rief das Bild
3 Siehe hierzu Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison 1982. 4 Vgl. Jaeger, Achim/Terlau, Wilhelm/Wunsch, Beate (Hg.): Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den Ersten Zionistenkogress, die Ostjudenfrage und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse, Tübingen 2003. 5 Vgl. Barkai, Avraham: „Wehr dich!“. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002.
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des Kaftanjuden in Westeuropa zunächst heftigen Abscheu hervor. Das ostjüdische Ghetto wurde als Gespenst betrachtet, das es zu vertreiben galt. Die Enge, das Elend und die Trostlosigkeit der polnischen und russischen jüdischen Viertel warfen den westlichen Krawattenjuden um einige Generationen zurück, zu einer obskuren und weniger respektablen Herkunft, die die Errungenschaften der Emanzipation untergrub. Ostjuden wurden anfangs pauschal als ein Haufen exaltierter und abergläubischer Fanatiker dargestellt, wirtschaftlich wurden sie als Parasiten, Schnorrer, Betteljuden und Schacherjuden angesehen. Die Tradition, die in der ostjüdischen Welt intakt geblieben war, war für die deutschen und österreichischen Bildungsjuden ein Bild des Obskurantismus; die jiddische Sprache klang in ihren Ohren wie ein ungrammatischer Jargon. Aus diesen Abgrenzungsbemühungen geht eindeutig die Befürchtung hervor, dass das so unverhüllte und erkennbare Bild des Ostjuden die von der Aufklärung gewährte Möglichkeit gefährden könnte, Menschen wie andere außerhalb des Hauses zu sein, Juden zu Hause.6 Zu dieser Befürchtung gesellte sich der Gedanke, dass ein solches Bild, das durch die immer massiveren Wellen der ostjüdischen Einwanderung ins Reich und in die westlichen Gebiete der Donaumonarchie immer wieder neu aufgezeigt wurde, die antisemitische Propaganda verstärken könnte, die sich seit jeher aus diesen somatisch-physiognomischen Stereotypen speiste. Die Verbreitung der zionistischen Idee in den deutschsprachigen Ländern sollte eine andere Lesart der ostjüdischen Realität einführen. Die nationale Perspektive, die Darstellung des Judentums als Nation jenseits aller kulturellen Unterschiede, legte den Grundstein für eine neue Begegnung zwischen Westjuden und Ostjuden. Über die osteuropäischen Glaubensgenossen projizierte der deutsche Zionismus das Bild eines selbstbewussten Judentums, eines Judentums, das als Gegengewicht zur Ablehnung der eigenen kulturellen und nationalen Wurzeln durch den typischen assimilierten Juden dienen sollte.7 Trotz der weit verbreiteten Vorurteile, nach denen Ostjuden die deutsch-jüdische Integration untergraben würden – Vorurteile, die insbesondere von liberalen Juden gehegt wurden – verteidigten liberale jüdische Abwehrvereine, auch unter dem Einfluss der zionistischen Bewegung, die Rechte jüdischer Einwanderer, protestierten gegen Versuche, sie auszugrenzen und auszuweisen, und organisierten verschiedene philanthropische Aktivitäten für sie. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges veränderte die Sicht auf das Ostjudentum. In den Schützengräben des besetzten Polen – wo Deutsche, West- und Ostjuden unter derselben Flagge kämpften – wurde das Bild der Ostjuden, das vor dem Konflikt in Europa kursierte, auf die Probe gestellt. Die preußischen und österreichischen
6 Siehe hierzu Volkov, Shulamit: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 137. 7 Vgl. Aschheim: Brothers and Strangers, Anm. 3.
Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära
Soldaten wurden mit der Armut der Ghettos, mit bedrängten Judenmassen in oft verzweifelten, durch den Ausbruch des Krieges noch verschlimmerten Verhältnissen, direkt konfrontiert. Für deutsche Juden, sowohl liberale als auch zionistische, war die Begegnung überwältigend. Manchmal rief sie Ablehnung hervor, aber in den meisten Fällen konfrontierte sie sie mit einer unbestreitbaren, nicht mehr zu leugnenden Bindung und zwang ihnen eine faktische Realität auf, vor der man nicht mehr wegschauen konnte, die ein Gefühl der Verantwortung und der Beteiligung erweckte. Aus diesem Grund traten in vielen Fällen deutsche Juden als politische, sprachliche und kulturelle Vermittler zwischen Deutschen und Ghettojuden auf. Aus der Begegnung mit dem Ostjudentum entstanden verschiedene Initiativen; verschiedene Vereine wurden ins Leben gerufen, sei es aus reiner Solidarität, aus nationalem Zugehörigkeitsgefühl oder aus einem Geist der Brüderlichkeit, der letztlich auf die Festigung des eigenen Status abzielte: Ein Deutsches Komitee zur Befreiung der russischen Juden, später Komitee für den Osten (KfdO) genannt, wurde gegründet, dessen Führung aus Zionisten und Liberalen bestand. Als Gegenvorschlag dazu entstand dann das Interkonfessionelle Komitee zur Linderung der Not in den besetzten Ostgebieten, das von den Liberalen geleitet wurde. Wiederum auf einer liberalen Plattform und in Opposition zum KfdO wurde auch die Deutsche Vereinigung für die Interessen der osteuropäischen Juden gegründet.
3.
Liberalismus und Zionismus in den Weimarer Jahren: Wandlungen im Centralverein
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden die liberal gesinnten deutschen Juden und ihre Verbände zunehmend mit der zionistischen Bewegung und dem jüdischen Nationalismus konfrontiert. Die größten Veränderungen innerhalb des liberalen Judentums in Deutschland vollzogen sich in den Weimarer Jahren. Die Weimarer Republik öffnete den Juden weitere, bisher verschlossene gesellschaftliche Bereiche, machte aber auch auf die Gefahren eines immer stärker werdenden und bedrohlichen Antisemitismus aufmerksam. Zum ersten Mal gelangten Juden in die höchsten Staatsämter, wurden aber gleichzeitig von bestimmten antisemitisch orientierten Gesellschaftsschichten heftig angegriffen. Die Weimarer Zeit bot den deutschen Juden also neue Chancen, setzte sie aber auch neuen Bedrohungen aus. Einerseits entfernten sich einige Gruppen und Kreise immer weiter von jüdischen Traditionen, andererseits waren viele Juden, die ohne jüdische Erziehung aufgewachsen waren, auf der Suche nach einer modernen jüdischen Identität und
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einem stärker verwurzelten und ethnisch geprägten Gemeinschaftsleben.8 Selbst das liberale Judentum, das in Deutschland seit der Emanzipation bis 1933 stets in der Mehrheit war, konnte sich der Identitätsfrage nicht entziehen. Das Konzept des Liberalismus selbst wurde auf den Prüfstand gestellt. Ideen wie die Interpretation des Judentums als rein religiös-konfessionelles Faktum, die Vorherrschaft der Rationalität und der kulturelle Optimismus, die das liberale Paradigma im 19. Jahrhundert so stark geprägt hatten, dass sie zu seinem unbestreitbaren Erbe wurden, wichen einer neuen Begriffsbestimmung. Mit dem Aufkommen einer Generation junger Rabbiner und als Spiegelbild der allgemeinen Tendenz wandte man sich nun den irrationalen Elementen der Religion zu, wobei die Aufmerksamkeit auf einen Antimodernismus, der eindeutig romantischen Ursprungs ist, und auf den Aufbau einer Gemeinschaft gerichtet wurde, die nicht mehr oder nicht nur durch das gemeinsame Glaubensbekenntnis, sondern durch die Ethnizität, durch eine besondere sprachliche, kulturelle und traditionelle Eigenart definiert wurde. Es war vor allem die Vertretung des liberalen Judentums, der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), der die neue Entwicklungstendenz aufgriff. Nach ihrer ursprünglichen Absicht sollte der CV als Abwehrorganisation wie schon gesagt keine politische oder religiöse Färbung aufweisen. Seine Gründer hatten aber von allem Anfang an die Wirksamkeit des Kampfes gegen Antisemitismus an ein offenes und entschiedenes Bekenntnis zur deutschen Kultur, zu den deutschen Werten als Vorstufe zur endgültigen Gleichheit in der Gesellschaft gebunden. Dieses Programm hatte den CV sofort zum Resonanzboden des liberalen Denkens gemacht: Diejenigen, die ihm prinzipiell anhingen, forderten eine Synthese zwischen jüdischer Zugehörigkeit und Loyalität zum deutschen Vaterland, eine Synthese, in der jedoch die zweite Komponente deutlich sichtbar war und die Ablehnung der Idee einer jüdischen Nation im Vordergrund stand: Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Wir haben mit den Juden anderer Länder keine andere Gemeinschaft, als die Katholiken und Protestanten Deutschlands mit den Katholiken und Protestanten anderer Länder. Wir haben keine andere Moral als unsere andersgläubigen Mitbürger.9
8 Vgl. Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Engl. übers. von Holger Fliessbach, München 2000. 9 Mendelssohn, Martin: Die Pflicht der Selbstvertheidigung. Jahresbericht des Vorsitzenden in der ersten Ordentlichen Generalversammlung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1894, S. 7. Vgl. hierzu auch Lowenstein, Steven M.: Ideologie und Identität, in: Ders./ Mendes-Flohr/Pulzer/Richarz: Umstrittene Integration, Anm. 2, S. 281 f.
Das deutschsprachige Judentum in und nach der liberalen Ära
In den 1920er Jahren wurden jedoch auch innerhalb des CV jene Stimmen lauter, die schon vor dem Krieg einen Ausgleich für das Vorherrschen des deutschen Elements und ein stärkeres jüdisches Selbstbewusstsein als Antwort auf die Verbreitung der zionistischen Idee forderten. Die bloße Aktivität des Widerstands gegen den Antisemitismus, losgelöst von jeglicher Reflexion über die deutsch-jüdische Identität, schien nun nicht mehr ausreichend zu sein. Tatsächlich hatte Eugen Fuchs, Theoretiker und späterer Präsident des CV, schon 1913 den Perspektivenwechsel eingeleitet, indem er in einer Rede die Unzulänglichkeit des ursprünglichen Programms gegenüber den veränderten Umständen, feststellte: Wir haben als formeller Abwehrverein begonnen, und je mehr wir Abwehr geübt haben, um so mehr sind wir dessen inne geworden, dass formelle Abwehr allein sich nicht üben lässt ohne Wissen, ohne Stolz, ohne Treue. […] Wir sind innerlicher, positiver, jüdischer geworden.10
Neben dieser jüdischen Bejahung führte Fuchs ein neues Element in die liberale Definition der jüdischen Identität ein, ein Element, das nur wenige Jahre zuvor als fremd und unvereinbar gegolten hätte. Das verbindende Merkmal im jüdischen Liberalismus sei, so Fuchs, nicht nur und nicht so sehr in der gemeinsamen jüdischen Religion zu suchen, sondern im gemeinsamen ethnischen Bewusstsein, im „Stammesbewusstsein“.11 Er fügte hinzu, dass die Juden in Deutschland nicht nur als Deutsche jüdischen oder israelitischen Glaubens, sondern als „deutscher Stamm“ betrachtet werden sollten, auf derselben Ebene wie Sachsen und Bayern. Schon der Name des Vereins war seines Erachtens falsch: „Ich möchte die Formel, wenn ich sie heute prägen könnte, so fassen: ‚Wir sind ein Centralverein jüdischer Deutscher‘“.12 Trotz der Ablehnung des jüdischen Nationalgedankens ist die neue Gewichtsverteilung im jüdisch-liberalen Identitätsdiskurs deutlich, d. h. der Versuch, über die konfessionelle Sphäre hinauszublicken, um die Definition des Judentums mit einer essentialistischen Terminologie zu verknüpfen, die vom Zionismus inspiriert war. Sich auf den Stamm zu beziehen, bedeutet, den Diskurs auf die Begriffe „Ursprung“ und „Abstammung“ zu lenken, sich um einen stabilen, dauerhaften Kern – um eine Substanz, um keinen flüchtigen Begriff wie den der Religion – herum zu bewegen. 10 Fuchs, Eugen: Referat über die Stellung des Centralvereins zum Zionismus in der DelegiertenVersammlung vom 30. März 1913, in: Ders.: Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze (1894–1919). Hg. von Leo Hirschfeld, Frankfurt a. M. 1919, S. 230–246, hier S. 236 f. Siehe ebenfalls Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 50. 11 Ebd., S. 238. 12 Ebd., S. 242.
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Die Verwendung der Begriffe in den zwei Bereichen ist natürlich unterschiedlich, und während der Begriff „Stamm“ im zionistischen Denken dem Begriff „Volk“ gleichgesetzt wurde, um die Existenz der Juden als Volk zu rechtfertigen, so diente derselbe Begriff für die Liberalen dazu, das Judentum historisch mit den germanischen Stämmen und in der Gegenwart mit einem der vielen Bestandteile der deutschen Nation gleichzusetzen: Auch in diesem Sinne weist er aber einen starken ethnischen Unterton auf. Auf diese Weise suchte das liberale Judentum, zumindest in Deutschland, nach glaubwürdigen und zeitgemäßen Alternativen zum zionistischen Konzept der „Gemeinschaft“, in dessen Mittelpunkt die Idee einer „jüdischen Nation“ stand. Als die gemeinsame Religion und der Widerstand gegen den Antisemitismus, die bis dahin stabilen Fundamente des CV, unter den Schlägen der zionistischen Idee und der Säkularisierung ins Wanken gerieten, begannen innerhalb der Vereinigung neue Begriffe wie „Schicksalsgemeinschaft“ und „Stammesgemeinschaft“ als Formeln zu kursieren. Aus den Begriffen „Schicksal“ und „Stamm“ tritt eine romantische Komponente hervor, und mit ihr erscheint ein weiteres Element, das vom liberalen Denken verdeckt und abgeschwächt wird, das dennoch zum Vorschein kommt, und zwar die oft mit dem neoromantischen Revival dieser Jahre einhergehende Begrifflichkeit des völkischen Ethnonationalismus. Von da an betonten die jungen CV-Führer, darunter Ludwig Tietz und Julius Brodnitz, sowie viele Vertreter der CV-nahen Jugendbewegung zunehmend ein bewusstes Judentum, das mit einem „selbstverständlichen Deutschtum“ gleichzusetzen sei.13 Immer deutlicher wurde in den liberalen Kreisen die Suche nach einer neuen „Gemeinschaft“ auch im Gefolge von Ferdinand Tönnies’ 1887 veröffentlichter soziologischer Studie Gemeinschaft und Gesellschaft,14 die heftige Debatten in allen Bereichen ausgelöst hatte. Fuchs’ Äußerungen müssen in diesem Zusammenhang gelesen werden, und wenn er im Judentum bereits die Spuren einer organischen Gemeinschaft und keiner mechanischen Gesellschaft gesehen hatte, so war es die zweite Generation der CV-Führer in den 1920er Jahren, die diese Prämissen vertiefte und zu einem kohärenten Ergebnis brachte. Demgemäß lehnte der CV-Vorsitzende Ludwig Holländer 1928 die Definition des deutschen Judentums als Konfession ab und ließ die CV-Versammlung die Umwandlung des Centralvereins in einen „Gesinnungsverein“ beschließen. Die Wahl des Begriffs „Gesinnung“, der von dem für das liberale Denken typischen Rationalismus wegführte, war nur eine Bestätigung der neuen
13 Barkai, Avraham: Die Organisation der jüdischen Gemeinschaft, in: Ders./Mendes-Flohr, Paul: Aufbruch und Zerstörung. 1918–1945 (Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit 4), München 1997, S. 74–101, hier S. 88. 14 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887.
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geistigen Orientierung. Holländer selbst lehnte die „blutleere Assimilation“15 ab und verlangt eine „Vertiefung jüdischen Wissens und Förderung aller Bestrebungen […], die – bei Ablehnung alles Phrasenhaften – unsere jüdischen Lebenswerte zu erhalten und zu erheben vermögen“.16 Holländers Worte lassen keinen Zweifel daran, welche Vorstellungen dem Judentum in Deutschland nun zugrunde gelegt werden: „[Es ist] die gemeinsame Abstammung, die die deutschen Juden eint“.17 In Übereinstimmung mit diesen Voraussetzungen mehrten sich im Deutschland der Weimarer Republik die Stimmen, die für eine starke jüdische Identität plädierten, die nicht mehr auf flüchtigen Vorstellungen, auf einem atomisierten und zerstreuten Restjudentum, auf den Spuren einer im Kontakt mit anderen Völkern fast aufgelösten Eigenart, sondern auf einem Wesensbegriff, auf einem soliden und substanziellen, von wechselnden historischen Ereignissen unberührten Grund basierte. 1930 formulierte der jüdische Philosoph und Historiker Erich von Kahler in der Europäischen Rundschau den Begriff der Abstammungsgemeinschaft in einer dezidiert wesensphilosophischen Richtung. Inspiriert von neoromantischen Ideen, insbesondere unter dem Einfluss des George-Kreises, identifizierte Kahler eine jüdische Wesensart, die er mit dem deutschen Charakter verglich, um deren grundlegende Verschiedenheit festzustellen, und diese Entdeckung führte ihn zur Ablehnung des Rationalismus, insbesondere desjenigen von Hermann Cohen. Für Kahler war es die Aufgabe der deutschen Juden, ihre Zugehörigkeit zu einer Abstammungslinie anzuerkennen, die sich konstitutiv von den verschiedenen deutschen „Stämmen“ unterschied. Die Bestätigung der jüdischen Andersartigkeit – hier wird die Verbindung zum liberalen Denken verstärkt – dürfe aber nicht zum Ausschluss der Juden aus der deutschen Gesellschaft führen, sondern müsse vielmehr der Anerkennung ihres entscheidenden Beitrags vorausgehen, der umso entscheidender sei, je deutlicher ihr Anderssein anerkannt werde. Innerhalb des CV fanden diese Theorien so viel Unterstützung, dass der Vorsitzende des bayerischen Landesverbandes, Werner Cahnmann, Kahler wissen ließ, dass „die vom Centralverein vertretenen Anschauungen sich mit den Ihren durchaus in Einklang bringen
15 So Reichmann, Hans: Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Rabbiner Dr. Leo Baeck. Hg. vom Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany, London 1953, S. 63–75, hier S. 72. Vgl. auch Barkai: Die Organisation, Anm. 13, S. 88. 16 Ebd. 17 Holländer, Ludwig: Deutsch-jüdische Probleme der Gegenwart. Eine Auseinandersetzung über die Grundfragen des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 1929, S. 14. Vgl. außerdem Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 52.
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lassen“;18 in einem zweiten Brief, im klaren Gegensatz zur liberalen Vulgata, fügte Cahnmann hinzu: Über die Erwägungen hinaus bin ich aber der Ansicht, dass unsere Freunde im Lager des Liberalismus und der Aufklärung – wozu auch die meisten Sozialisten marxistischer Prägung gehören – gefährliche Freunde für uns sind. Da der Rationalismus alle Sonderart im Begriffe eines allgemeinen Menschentums auflöst, löst er auch jüdische Sonderart auf, wofür die jüdische Geschichte seit Mendelssohn ein Beispiel ist. Ihre Behauptung ist nur möglich im Bunde mit den romantischen Kräften der deutschen Bildung.19
Später sprach Cahnmann selbst von einer „kleinen inneren Revolution“,20 die Ende der 1920er Jahre im CV stattfand, und beschrieb die neue Ideologie, die im Gegensatz zur emanzipatorischen Doktrin des 19. Jahrhunderts stand und von einer zunehmenden Zahl von Führungspersönlichkeiten des Vereins unterstützt wurde.
4.
Neue Begriffsbestimmung im jüdisch-liberalen Diskurs
Vor allem waren der Optimismus, der blinde Glaube an die Vernunft, an die Perfektibilität, an den Fortschritt zu immer höheren Zivilisationsstufen schwere Ballaste, die bei der Transformation des liberalen Judentums Zug um Zug fielen. Auch auf protestantischer Seite hatten der Fortschrittsglaube, die Übereinstimmung der Wirklichkeit mit einer rationalen Ordnung, das Kriterium der Objektivität, die historisch-kritische Perspektive21 den Gedankengang über weite Strecken des 19. Jahrhunderts geprägt. Um die Jahrhundertwende stellte das jüdisch-liberale Denken das Historische und das Rationale in den Hintergrund und gab dem Irrationalen, dem Unfassbaren,
18 Brief Werner Cahnmanns an Erich von Kahler vom 27. November 1930, in: Erich Kahler Collection (Center for Jewish History), LBI-AR, 3890. Vgl. Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 52 f. 19 Brief Werner Cahnmanns an Erich von Kahler vom 31. Dezember 1930, in: ebd. 20 Vgl. Cahnmann, Werner: Judentum und Volksgemeinschaft, in: Der Morgen 2 (1926), S. 291–298 sowie Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 53. 21 Ausdruck dieses theoretischen Ansatzes sind die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts bis hin zu Adolf von Harnack und die Bibelkritik (auch als Textkritik oder als critica textus bekannt), die u. a. von Franz und Friedrich Delitzsch, Carl Friedrich Keil und Hermann Gunkel entwickelt wurde. Die historisch-kritische Methode, die Quellenforschung, die philologische Rekonstruktion und die korrekte Interpretation des Bibeltextes sowie die Abwesenheit konfessioneller Voraussetzungen (obwohl diese exegetische Schule im 19. Jahrhundert niemals frei von ideologischen Einflüssen war) sind die Merkmale dieser wissenschaftlichen Ausrichtung, die die Geburt und die Entwicklung der modernen Bibelwissenschaft kennzeichnen.
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dem Unaussprechlichen und einer über die Grenzen der Vernunft hinausgehenden Erfahrung des Göttlichen den Vorrang. In dieser Idee des Heiligen wurde der Historismus, wie Rudolf Otto sagt, durch das mysterium tremendum et fascinans ersetzt. Otto selbst war es später, der durch die Entwicklung eines phänomenologischen Diskurses die Kategorie des Numinosen in die protestantische religiöse Reflexion einführte, eine Kategorie, die nicht auf die Vernunft reduzierbar ist und auf individuellem Erlebnis beruht.22 Diesem Wandel liegt auch im jüdisch-liberalen Bereich die Wahrnehmung derselben geistigen Realität zugrunde, als Reaktion auf ein vom Materialismus beherrschtes Gesellschaftsvorbild und das daraus resultierende Bedürfnis, ethnische und religiöse Bindungen zu stärken, im Gegensatz zur Entpersönlichung und zur Anonymität, die der Moderne, insbesondere in ihrem großstädtischen Erscheinungsbild, innewohnen. Darüber hinaus gilt die Akzentverschiebung innerhalb des liberalen Diskurses als Reaktion auf den Aufstieg des Zionismus und, auf religiöser Seite, auf die Wiederbelebung der ostjüdischen Geistigkeit sowie auf die vom Katholizismus und Protestantismus geförderten Veränderungen. Was die religiösen Fragen betrifft, so erfuhr das liberale Judentum in diesen Jahren auch über die Grenzen des CV hinaus zahlreiche Neuformulierungen: Man kann in der Tat nicht sagen, dass der Vorrang des Irrationalen keinen Einfluss auf das liberale jüdische Rabbinat hatte. Einer der Protagonisten des Wandels war in diesem Sinne der Frankfurter Rabbiner Cäsar Seligmann,23 der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den neuen religiösen Kurs begleitete und insbesondere zur Wiederbelebung der Reformbewegung beitrug, eine der wichtigsten Früchte der liberalen Lehre. Seligmann und nach ihm eine ganze Generation von Rabbinern versuchten, die Distanz zwischen der Reformbewegung und dem Zionismus zu verringern und in die vom liberalen Denken gepflegte Definition des Judentums Elemente aufzunehmen, die der zionistischen Gegenseite eigen waren, d. h. eine ausgeprägtere Tendenz zur Behauptung der jüdischen Identität. Das Bestreben, das Judentum zu homologisieren, es an die anderen Nationen anzupassen, seine Besonderheit
22 Das Konzept wurde in Bezug auf das Alte Testament in der 1917 von Rudolf Otto veröffentlichten religionswissenschaftlichen Studie Das Heilige vorgestellt, einem der meistgelesenen theologischen Werke der Weimarer Jahre. Es handelt sich um eine konzeptionelle Linie, die, ausgehend von den Prämissen Schleiermachers, Kierkegaards und Husserls, die existenzialistische Theologie, die dialektische Theologie, die Theologie der „Kreatur“, das Denken Paul Tillichs, die Psychologie Carl Gustav Jungs und, außerhalb des deutschsprachigen Gebiets, die Studien Mircea Eliades berührt. Ort der Entstehung und Entwicklung des „postliberalen“ protestantischen Denkens war von 1923 bis 1933 die Zeitschrift Zwischen den Zeiten, das Organ der neuen „Theologie der Krise“, zu der unter anderem Karl Barth, Rudolph Bultmann und Friederich Gogarten beitrugen. 23 Cäsar Seligmann war einer der Gründer der Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland und langjähriger Präsident der Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands.
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durch das konfessionelle Datum auszulöschen, wich einer stärkeren Berücksichtigung des kulturellen Erbes, der Traditionen, der Gemeinschaftsbande.24 Innerhalb des Allgemeinen Rabbinerverbandes Deutschlands gab es viele liberale Rabbiner, die von der neuen Atmosphäre betroffen waren und dem irrationalen Element mehr Gewicht gaben. Der Leipziger Rabbiner Felix Goldmann zum Beispiel wich in seiner Bewertung des Chassidismus von dem von Heinrich Graetz in seiner Geschichte der Juden gefällten negativen Urteil, einer der theoretischen Stützen der liberal-emanzipatorischen Ideologie, ab und rehabilitierte das chassidische Bild, indem er in der Bewegung sogar ein Produkt des liberalen Geists sah.25 Die Neuformulierung des liberalen Paradigmas reicht bis zur Quelle: Mendelssohn selbst, Vorkämpfer der Emanzipation und eigentlicher geistiger Vater des jüdischen Liberalismus, bedeutete nach Goldmann „für die religiöse Entwicklung [des Judentums] wenig“;26 die Generation der maśkilim, die nach ihm kam, habe – so Goldmann – das Judentum von sich selbst entfremdet und einen „jüdisch frisierte[n] Protestantismus“ geschaffen.27 1921 hielt Max Dienemann, Reformrabbiner von Offenbach und späterer Herausgeber des angesehenen liberalen Organs Der Morgen, auf der ersten Jahrestagung des deutschen liberalen Rabbinats nach dem Krieg eine Rede mit dem vielsagenden Titel Über die Bedeutung des Irrationalen für das liberale Judentum. Darin beklagte er den rationalistischen Kurs des Judentums im 19. Jahrhundert, der insbesondere mit der Ersetzung des Hebräischen durch das Deutsche im Gottesdienst die Wurzeln abgeschnitten hätte: „Man hatte rein rational gedacht, hatte sich vernunftmäßig vorgestellt, man würde umso eher beten, je besser man den Text versteht. Was man aber wenig in Rechnung stellte, war das Irrationale des Gefühls, das am Hebräischen hängt“.28 So erklärt Dienemann das Zeitalter des Rationalismus für beendet; künftige Entwicklungen müssten im Zeichen des Irrationalen stehen, und die aus dem liberalen Denken verbannte Mystik müsse in die Reflexion einbezogen werden:
24 Diese Entwicklung gipfelt in der Columbus-Konferenz von 1937, wo sich die Reformer auf Positionen einigten, die dem Zionismus nicht feindlich gegenüberstanden. 25 Vgl. Goldmann, Felix: Das liberale Judentum, in: Das deutsche Judentum. Seine Parteien und Organisationen. Eine Sammelschrift. Hg. vom Verlag der neuen jüdischen Monatshefte, Berlin/ München 1919, S. 13–23 sowie Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 53 und 56. Die Verbindung des Chassidismus mit dem Liberalismus, die an sich apodiktisch scheint, bezieht sich wahrscheinlich auf das innovative Potential der chassidischen Lehre, auf ihre Opposition zu Gesetz und rabbinischer Tradition. 26 Goldmann: Das liberale Judentum, Anm. 25, S. 19. 27 Ebd., S. 20. 28 Dienemann, Max: Über die Bedeutung des Irrationalen für das Liberale Judentum, in: Liberales Judentum 12/4–6 (1921), S. 27–32, hier S. 29. Vgl. außerdem Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 56.
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Es ist ein Charakteristikum unserer Zeit, dass dieses Irrationale bestimmend ist, dass man nicht wie in der Epoche vorher zu den letzten Fragen Stellung nimmt auf Grund von Überlegung, Nachdenken, Berechnung, Erklärung, wissenschaftlicher Durcharbeitung, überhaupt nicht aus dem Willen nach Klarheit, sondern aus dem Dunklen, Triebhaften, Unerklärbaren, Mystischen heraus.29
Die Abkehr von Individualismus und Rationalismus, den Eckpfeilern des jüdischen liberalen Denkens, nahm mit der Zeit nicht ab. Im Gegenteil wurde sie in den 1920er Jahren immer entscheidender und eine Generation junger Rabbiner machte sich daran, die liberale Lehre neu zu begründen, sie auf eine völlig neue theoretische Grundlage zu stellen. An der Spitze des deutschen liberalen Rabbinats standen Persönlichkeiten wie der bereits erwähnte Dienemann, Leo Baeck und der jüngere Max Wiener, Rabbiner in Stettin, in Düsseldorf und später Geimenderabbiner in Berlin, Max Grünewald, Rabbiner in Mannheim, der ebenfalls in Stettin amtierende Max Elk, Isidor Caro, zuständig in Köln: Sie forderten eine stärkere Akzentuierung der irrationalen Komponente des Kultes, eine Berücksichtigung jener Elemente, die im Entwurf einer „Vernunftreligion“ lange unterdrückt worden waren und die nun dem Judentum eine größere Widerstandsfähigkeit und einen Schutz vor der Krise der Moderne garantieren könnten. Im Gegensatz zum Individualismus und in Annäherung an die zionistischen Positionen betonten die neuen Liberalen die gemeinschaftliche Dimension, die ethnische Komponente, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk auch in Bezug auf die alte Kategorie des „auserwählten Volkes“, dessen Besonderheit jenseits aller möglichen Identitätsverwirrungen hervorgehoben wurde. Damit entfernten sie sich unwiderruflich von der Quelle des aufklärerischen Denkens, das im Assimilationsprozess und in der Formulierung des liberalen Diskurses eine so wichtige Rolle gespielt hatte, sowie von deren deistischem Gepräge, vom Versuch, die Monotheismen auf eine einzige, durch vernunftorientierte Regeln ethischer Art gekennzeichnete Naturreligion zu reduzieren. Im neuen „post-liberalen“ Rahmen erfuhr der Begriff der Assimilation eine Transformation, er verschwand nicht, sondern kehrte seine Bezüge um: Es ging nicht mehr um die Aufgabe der eigenen und die Übernahme der dominanten Kultur, nicht mehr um die Auflösung des eigenen, eigentümlichen Charakters in eine Mehrheitsidentität, nicht mehr um den Verlust der Differenz. Assimilation hieß diesmal zwar die Wiederaufnahme eines externen Vorbilds, desjenigen des romantischen Nationalismus, das aber mit gegenteiliger Absicht übernommen wurde: keine Homologation, keine Anpassung, sondern die Rückgewinnung der eigenen ursprünglichen Kultur und die Stärkung der Identität.
29 Ebd.
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Unter den erwähnten Rabbinern sticht ein Name besonders hervor, nämlich der von Leo Baeck, einer führenden Persönlichkeit des liberalen Judentums und des Reformjudentums, dessen Denken die Entwicklung im theologischen und philosophischen Bereich deutlich widerspiegelt. Sein Hauptwerk, Das Wesen des Judentums, das 1905 als polemische Antwort auf Das Wesen des Christentums des protestantischen Theologen Adolf von Harnack erschien, verrät schon im Titel einen essentialistischen Ansatz und reiht sich damit in die im jüdischen Bereich, aber auch darüber hinaus vorhandene damalige Tendenz ein, die Substanz zu erforschen, eine absolute Wirklichkeit zu identifizieren und zu definieren, eine Wesenslehre aufzustellen. Die Übereinstimmung mit der geistigen Orientierung der Zeit geht aber noch weiter und ist im Übergang von der ersten zur zweiten Aufgabe vom Wesen des Judentums besser definiert. Hatte Baeck in der ersten Ausgabe die Reflexion im Rahmen des Rationalismus, des ethischen Monotheismus Cohenscher Prägung mit zur Apologetik neigenden Tönen geführt, so verzichtet die zweite Ausgabe auf das apologetische Register und zeigt eine andere Verteilung der Gewichte, wonach die Beschreibung des innersten Wesens des Judentums, der irrationalen Komponente, der Mystik und des Geheimnisses überwiegt. Gleichzeitig verringerte Baeck durch Einbeziehung von Argumenten aus dem jüdischen Nationalismus die Distanz zum Zionismus, dem er im Übrigen trotz der Ablehnung seiner politischen Implikation und der palästinensischen Zielrichtung nie feindlich gegenüberstand, indem er seine Organisation seit 1897 befürwortete.
5.
Liberale Organisationen in den Weimarer Jahren
Der Perspektivenwechsel in diesen Jahren wird auch in denjenigen Organisationen sichtbar, die sich auf die liberale Lehre beriefen. Der B’nai B’rith Orden Deutschlands (in aschkenasischer Aussprache Bne Briss-Orden), mit seinen über ganz Deutschland verstreuten Logen, wurde 1882 als Ausläufer des liberalen Denkens gegründet und war zumindest anfangs gegen die zionistische Idee gerichtet.30 Bezugspunkte seiner zugunsten der Juden durchgeführten humanitären Initiativen waren Wohltätigkeit, Philanthropie, Erziehung, Unterstützung der Armen, der Bedürftigen, der Kranken, der Verfolgten, der Witwen und der Waisen: ein ethischer
30 Der Orden wurde 1843 in Amerika als Geheimloge von deutsch-jüdischen Emigranten zu karitativen und sozialen Zwecken gegründet und der Hauptsitz der Organisation blieb in den USA. Der wachsende Antisemitismus in den deutschen Territorien und der Ausschluss der Juden von der Freimaurerei führten 1882 zur Gründung der ersten B’nai B’rith-Zelle in Berlin und zu einer allmählichen Ausbreitung des Instituts in allen Gebieten des Reichs, so dass der Orden in Deutschland nach Größe und Mitgliederzahl nur noch vom amerikanischen Mutterhaus übertroffen wurde. In der Folge wurden in ganz Europa und in Palästina B’nai B’rith-Logen gegründet.
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Inhalt aufklärerisch-freimaurerischer Inspiration. Im Laufe der Zeit schwächte die Organisation ihre Abneigung gegen den Zionismus ab und schaffte es, neutral zu bleiben, sich gleichermaßen von den verschiedenen Ideologien zu distanzieren und Mitglieder aus allen Bereichen zu haben, indem sie ihre Arbeit weiterhin auf der Grundlage von Prinzipien liberaler Herkunft definierte. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde jedoch auch der Orden selbst vom veränderten Klima beeinflusst und begann, sich zeitgemäß von einem karitativen Verein zu einem Erlebnisbund zu wandeln.31 Auch unter den Logenmitgliedern wurde die Kritik an der modernen Welt zu einem der meistdiskutierten Themen. In der Festschrift, die 1921 anlässlich der Jahrestagung des Ordens veröffentlicht wurde, machten sich die Mitglieder die von Oswald Spengler und Thomas Mann verbreiteten zivilisationskritischen und kulturpessimistischen Ideen zu eigen und sahen im Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur aus der jüdischen Innenperspektive den Zusammenstoß zwischen einer großstädtischen, technisierten Welt und der intimen, gemütlichen Welt der jüdischen Tradition, die unmittelbar als Synonym für Kultur galt. Fritz Kahn, einer der Beiträger des Sammelbandes, schrieb dazu: Zivilisation umrauscht uns, wenn wir mit der elektrischen Bahn durch das Gewühl der Straßen fahren, auf erhelltem Platz den Ruf der Abendtelegramme, die der Funkspruch über Meere trug, vernehmen, Flammenschriften wie Menetekel über den Dächern erscheinen, 60pferdige Mercedes elegant an uns vorübersurren und wir hinter dieser Welt voll Leben das wundervolle Phänomen Europa wie eine dämonische Suggestion auf uns wirken fühlen. Aber wenn wir in das Haus getreten, die Klinke fassen und drinnen über gedecktem Tisch die Sabbathkerzen uns entgegenstrahlen, wir mit dem Alltagsmantel draußen vor der Türe auch Welt und Arbeit von den Schultern streifen und nun eintreten in einen Raum, aus dem der Tag gesperrt ist, und in dem nur Friede, Freude, Heiligkeit und Himmel wohnen, und der durch Jahrtausende geheiligte Schir Hamalaus tönt […] in dieser Stunde umstrahlt uns, nicht nur von außen, auch von innen wie odisch Feuer lohend – Kultur.32
Nicht nur der Orden B’nai B’rith wird von dieser Schwerpunktverlagerung betroffen. Die liberale Jugendbewegung selbst wandte sich anderen Kategorien zu und suchte
31 Vgl. hierzu Wieluner, Fritz: Der Weg der Loge von der Gesinnungsgemeinschaft zum Erlebnisbunde, in: Der Orden Bne Briss. Mitteilungen der Großloge für Deutschland VIII. U.O.B.B. 6/7 (Juni–Juli 1928), S. 77–80 sowie Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 60 f. 32 Kahn, Fritz: Neue Wege jüdischer Kultur, in: Der Orden Bne Briss. Mitteilungen der Großloge für Deutschland VIII. U.O.B.B. 11 (Oktober 1921) [= Festnummer zum Ordenstag], S. 93–95. Siehe auch Brenner: Jüdische Kultur, Anm. 8, S. 61. Bei „Schir Hamalaus“ handelt es sich um das Šir ha-ma’alot, das Lied der Aufstiege, der Titel des Psalms 126.
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nach einer neuen Definition der jüdischen Identität unter dem Einfluss der zionistischen Lehre, wobei sie sich an den Positionen des Blau-Weiß-Wanderbundes,33 der Bünde und der deutschen Jugendbewegung romantischen Ursprungs „Wandervogel“ orientierte. Es handelt sich um eine Transformation, die zwar den jüdischen Nationalismus leugnete, aber weitgehend das vom Zionismus formulierte Erneuerungsprogramm aufgriff und im Wesentlichen dessen Werteskala teilte.34 In den 1920er und frühen 1930er Jahren wurden in der liberalen Jugendbewegung, insbesondere im Verband der jüdischen Jugendvereine, die Liebe zur Natur, zum Boden, zur bäuerlichen Welt, die Ausflüge in den Wald oder aufs Land, die Volkslieder am Lagerfeuer zu festen Bestandteilen eines Lebensstils, der sich wie bei den zionistischen Jugendgruppen in der Ablehnung der bürgerlichen Familie, des Liberalismus, des Rationalismus definierte und im Gegensatz zum vorherrschenden Materialismus nach neuen Wegen zur Innerlichkeit suchte. Ein neues Judentum wurde konturiert, das in der Tiefe erlebt und empfunden wurde und das nicht mehr, wie bei der Elterngeneration, auf die Oberfläche, auf ein voreiliges Glaubensbekenntnis
33 Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß (vor allem in seiner tschechoslowakischen Verzweigung auch unter der hebräischen Bezeichnung „Tekelet-Lavan“ bekannt), der 1912 als Auswirkung zionistischen Gedankenguts gegründet wurde, vereint zwei Komponenten: das Bedürfnis nach einer Rückkehr zu einem elementaren, primitiven Leben in Kontakt mit der Natur – ein typisches Element der deutschen Jugendbewegung – und eine starke nationalistische Orientierung, die aus dem Zionismus stammt. 34 Nach dem Ersten Weltkrieg und während der Weimarer Zeit radikalisierten sich die deutschen und jüdischen Jugendorganisationen im militärisch-kameradschaftlichen Sinne, indem sie sich um die Idee des Bundes neugestalteten. Der Begriff des Bundes (oder des Lebensbundes), der zusammen mit dem verwandten Begriff des Ordens eine klare rechtsgerichtete ideologische Verortung impliziert, enthält in sich eine Synthese verschiedener Prinzipien: die Notwendigkeit, dem entfremdeten Menschen einen organischen, totalen Menschen entgegenzusetzen, der auf einer substanziellen Einheit von Körper und Geist beruht, die Gruppe, die solidarische Gemeinschaft, das von den Mitgliedern geteilte Naturerlebnis und das Bedürfnis, das Volk vor den Einzelnen zu stellen. Daraus ergibt sich das Prinzip der Konföderation. Daher auch die Betonung der martialischen Komponente, der Stärke, des Körpers, des Führerprinzips. Nach dem Krieg überwog daher sowohl im deutschen als auch im jüdischen Lager gegenüber der romantischen und „Wandervogel“-Komponente der autoritärkorporative Aspekt, der für die „Bündische Jugend“ und die „Jungenschaft“ typisch ist. Während der Weimarer Republik war die jüdische Jugend quer durch alle Richtungen, vom Zionismus bis zum extremen Assimilationismus, der Idee des Bunds besonders zugeneigt und brachte um dieselbe völkische Achse herum verschiedene Organisationen hervor, in einem ideologischen Terrain, das oft an die deutsche extreme Rechte angrenzt. Der Raum reicht vom zionistischen „Blau-Weiß“ über den „Deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden“ aus dem liberalen Bereich, mit seiner doppelten Verzweigung, einerseits in den „Werkleuten“, Verfechtern eines sozialistischen Zionismus, und andererseits im „Schwarzen Fähnlein“, Ausdruck eines heftigen deutschen Nationalismus, der bis an das Ende der Weimarer Jahre mit der Gründung des „Deutschen Vortrupps. Gefolgschaft deutscher Juden“ durch Hans-Joachim Schoeps reicht, die dem Nationalsozialismus nicht feindlich gesinnt war und in gewisser Hinsicht der Hitlerjugend nahestand.
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beschränkt sein sollte. Es war vor allem die Figur des Führers, der mit der Kraft seines Charismas eine unbestreitbare Vormachtstellung und einen übergroßen Einfluss auf die Gruppe ausübte und der die jüdische Jugend in einen an das Irrationale grenzenden Personenkult hineinzog. Diesen Umformulierungen zum Trotz bedeutete die nationalsozialistische Herrschaft das Ende des jüdisch-liberalen Erbes und ab 1938 auch der deutsch-jüdischen Geschichte, wobei die jüdische Minderheit schrittweise und stufenweise diskriminiert, entrechtet und schließlich systematisch ermordet wurde. Was vom liberalen Denken im jüdischen Bereich nach Hitlers Machtübernahme übrig blieb, findet sich in den Vertretungsorganen des deutschen Judentums während des NS-Regimes, zum Beispiel im Wirken von Leo Baeck, der 1933 die Reichsvertretung der deutschen Juden (später Reichsvertretung der Juden in Deutschland) gründete und dann, in noch dunkleren Zeiten, 1939 die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland leitete,35 wobei er versuchte, der deutsch-jüdischen Bevölkerung noch ein Leben auf dem schmalen Grat zu garantieren in einer Situation extremer Entbehrung, in der die mit dem jüdischen Liberalismus so eng verbundene deutsch-jüdische Symbiose nur noch eine blasse Erinnerung war.
35 Vgl. Hildesheimer, Esriel: Jüdische Selbstverwaltung unter dem NS-Regime, Tübingen 1994.
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Deutschland als Problem und Lösung Friedrich W. Foersters Traum einer europäischen Föderation in der Zwischenkriegszeit In seinem Buch Vom Störenfried zum Bürgen, das die „deutsche Frage im europäischen Kontext“ neu aufrollen will, beschreibt Helmut Wagner, Emeritus des Otto-Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin, 2012 das Aha-Erlebnis, das die Entdeckung von George F. Keenans „Deutung der ‚deutschen Frage‘“ bei ihm ausgelöst habe. In einem Artikel von 1959 für die Zeitschrift Foreign Affairs schrieb Keenan, der Theoretiker des containment, dass die Idee der deutschen Teilung „nicht ohne Kraft und Logik“ sei: Ein geeintes und souveränes Deutschland habe seit 1871 ein „Problem“ in Europa dargestellt und daher sei es 1945 klar gewesen, dass eine „wirklich konstruktive Europapolitik“ nicht darin bestehen konnte, wieder ein Deutschland herzustellen, das in kürzester Zeit die anderen souveränen Länder erneut in den Schatten gestellt hätte. Für Deutschland habe es „offensichtlich nur einen von zwei Wegen“ gegeben: entweder rückwärts, über den Weg der Teilung, bis zu dem Punkt, an dem seine Souveränität erträglich erscheinen würde, da es nicht vereinigt wäre; oder vorwärts, in Richtung einer Eingliederung in einem breiteren und höheren System politischer Loyalitäten – in irgendeine Form von europäischer Föderation, in deren Rahmen die Einheit toleriert werden könnte, weil sie nicht wirklich souverän wäre.1
Diesen Passus zitierend, schreibt Wagner, es sei ihm „auf Anhieb klar“ gewesen, „so klar, wie der US-Amerikaner Keenan es gesehen und hier formuliert hat, […] hatte das Dilemma, in das die Deutschen nach ihrer staatlichen Vereinigung im Jahr 1871 geraten waren, noch niemand auf den Punkt gebracht“.2 Vor dem Hintergrund der politischen und intellektuellen Debatten der Zwischenkriegszeit erscheint diese Behauptung jedoch problematisch und zeugt gleichzeitig vom Schleier des Vergessens, der sich über bestimmte Diskursstränge dieser Zeit gelegt hat.
1 Keenan, George F.: Disengagement Revisited, in: Foreign Affairs 37/2 (1959), S. 187–210, hier S. 196. Übersetzung CR. 2 Wagner, Helmut: Vom Störenfried zum Bürgen. Die „deutsche Frage“ im europäischen Kontext. Ein politikwissenschaftliches Essay, Asendorf 2012, S. 43.
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Es soll daher im Folgenden versucht werden, diese Behauptung zu problematisieren oder sogar zu widerlegen, indem auf den Autor zurückgekommen wird, der bereits in der Zwischenkriegszeit die „deutsche Frage“ in einem europäischen Horizont analysierte: der Pädagoge und Publizist Friedrich Wilhelm Foerster. Was Foerster interessant macht, ist die Tatsache, dass er es nicht einfach unternahm, das „deutsche Problem“ aus kontinentaler Perspektive zu problematisieren – was auch aus der klassischen Perspektive des jus publicum europaeum möglich gewesen wäre –, sondern dass sein Ansatz tiefer angelegt war: in der Behauptung, dass nach dem Ersten Weltkrieg endgültig eine neue Ära angebrochen sei, insofern, als dass der Krieg die unwiderlegbare Antiquiertheit der Nationalstaaten bewiesen habe. Die „deutsche Frage“ wurde somit im Rahmen einer „post-nationalen“ Europaidee neu gedacht. Wir wollen uns in drei Schritten an Foersters Europadiskurs heranarbeiten: Nach einigen kurzen Angaben zu Foersters Biographie werden wir uns seiner Analyse des Nationalegoismus und dem damit verbundenen Triumph des Machiavellismus zuwenden, bevor, in einem dritten Moment, der Europadiskurs als Antwort auf die Krise des Machiavellismus nachgezeichnet wird.
1.
Friedrich Wilhelm Foerster: streitbarer Pädagoge
Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966) ist eine etwas tragische Figur der deutschen Ideengeschichte. Sein früher und entschiedener Einsatz gegen Nationalismus und Militarismus und für die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld hat ihm, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, viel Hass und entschiedenen Gegenwind eingebracht. So wurde er von Stresemann vor der Presse 1926 als „Lump“ und „Landesverräter“ beschimpft, weil er auf die deutsche Aufrüstung hinwies.3 Und 1933 wurde ihm mit der ersten Ausbürgerungsliste der Regierung Hitlers die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt,4 während seine Bücher bei der öffentlichkeitswirksamen Bücherverbrennungszeremonie vom 10. Mai 1933 auf dem Scheiterhaufen landeten: „Zu den ganz Wenigen, die beim ‚Feuerspruch‘ als Erzfeinde des Nationalsozialismus genannt wurden, gehörte Foerster unmittelbar hinter Marx, Kautsky,
3 Kühner, Hans: Friedrich Wilhelm Foerster. Ein Lebensweg gegen den preußischen Militarismus, in: Gasser, Adolf/Esterbauer, Fried (Hg.): Von der freien Gemeinde zum föderalistischen Europa: Festschrift für Adolf Gasser zum 80. Geburtstag, Berlin 1983, S. 169–186, hier S. 177. 4 Vgl. Iven, Mathias (Hg.): 3 x Foerster. Beiträge zu Leben und Werk von Wilhelm Foerster, Friedrich Wilhelm Foerster und Karl Foerster, Milow 1995, S. 125.
Deutschland als Problem und Lösung
Heinrich und Thomas Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner“.5 Aber trotz seines frühen und militanten Engagements gegen den deutschen Militarismus und den Nationalsozialismus hat er seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland nie wieder wirklich Anerkennung erfahren und ist bis heute fast völlig in Vergessenheit geraten. Es ist sogar erstaunlich, wie hartnäckig Foerster bis in die jüngste Vergangenheit ignoriert wurde. So beging „Bundespräsident Karl Carstens [1982], anlässlich eines Staatsbesuchs in der Schweiz, den Friedhof von Kilchberg, um Conrad Ferdinand Meyer und Thomas Mann zu ehren. Den Weg zur letzten Ruhestätte Foersters, der wenige Schritte von Thomas Mann begraben liegt, hat Carstens indes nicht gefunden“.6 Und der Verleger Helmut Donat erinnert daran, dass selbst noch im März 1995, im Rahmen einer „Tagung zu Leben und Werk von Wilhelm Foerster, Friedrich Wilhelm Foerster und Karl Foerster“, das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg zwar die Vorträge über Wilhelm Foerster bezuschusste, aber eine Förderung der Referate über dessen Sohn, Friedrich Wilhelm, ablehnte.7 Dabei war Friedrich Wilhelm Foerster in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich der „größte deutsche Pädagoge mit einem beispiellosen internationalen Ansehen“,8 dessen Bücher „vielfach Millionenauflagen erreicht“ haben.9 Er war auch ein Vielschreiber: Maria Hoschek – die die längste biographische Studie über Foerster verfasst hat – schreibt von 32 Büchern und mehr als 5000 Artikeln.10 Aber bis heute gibt es weder eine wissenschaftliche Biographie noch eine Werkausgabe. Friedrich Wilhelm wurde 1869 als Sohn des Astronomen Wilhelm Foerster, des Direktors der Berliner Sternwarte und 1888 Mitbegründers der Bildungs- und Kulturgesellschaft Urania, geboren: Förster wuchs in einem großbürgerlichen humanistisch-agnostischen Hause auf. Er hat sich stets als Erben der Geistigkeit und Ethik seines Vaters, eines entschiedenen Gegners
5 Pöggeler, Franz: Zwischen Staatsraison und Weltfrieden. Der Kampf Friedrich Wilhelm Foersters gegen Nationalismus und Nationalsozialismus, in: Iven (Hg.): 3 x Foerster, Anm. 4, S. 143–172, hier S. 158. 6 Donat, Helmut: Hitlers Staatsfeind Nr. 1. Zum 150. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966) am 2. Juni 2019, in: The European. Das Debatten-Magazin 2019, https://www.theeuropean.de/helmut-donat/15909-hitlers-staatsfeind-nr-1 (letzter Zugriff 17.02.2023). 7 Ebd. Ein Teil der Beiträge der Tagung wurden veröffentlicht in: Iven (Hg.): 3x Foerster, Anm. 4. 8 Kühner: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 3, S. 169. 9 Ebd., S. 172. 10 Hoschek, Maria: Friedrich Wilhelm Foerster (1869–1966). Mit besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zu Österreich, Frankfurt a. M. 2 2003, S. 9.
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von Bismarck, verstanden, auch als er zum überzeugten, wenn auch kirchenlosen Christen geworden war. Beide Komponenten bestimmten ihn zum politischen Ethiker, als den er sich selbst sah und dessen Pflichten er alles andere unterordnete.11
Foerster war sehr früh in seinem Leben ein entschiedener Kritiker des preußischen Chauvinismus,12 was ihm bereits 1895 eine Verurteilung zu drei Monaten Festungshaft einbrachte, die er in Danzig absaß. Damit war er gezwungen, seine Habilitation 1899 im schweizerischen Ausland zu suchen, womit er 1901 auch tatsächlich eine Anstellung als Professor für Philosophie, Soziologie, Ethik und Moral-Pädagogik an der ETH und an der Universität Zürich fand.13 Erst 1914 erreichte ihn der Ruf als ordentlicher Professor für Pädagogik an die Universität München – nach einer ersten Berufung 1913 nach Wien (wo er unter seinen Hörern auch einen gewissen Richard Coudenhove-Kalergi hatte).14 Foerster sieht Pädagogik nicht als rein technische Disziplin, sondern „von Anfang an interpretierte [er] die in der Schule praktizierten Methoden […] als Ausformungen einer bestimmten Politik und eines bestimmten Sozialverhaltens“.15 Durch Studienaufenthalte in Großbritannien und den USA lernte er die Philosophie von John Dewey kennen und so „faszinierte Foerster […] der Deweysche Gedanke, man müsse Schule als ‚embryonic community life‘, als ‚Staat im Kleinen‘ auffassen“.16 Im nationalistisch aufgeladenen Kontext der ersten Kriegsjahre werden seine Publikationen und sein Unterricht jedoch schnell zum „Politicum“.17 1916 kommt es zum Eklat: Bei einem Vortrag vor Oberlehrern aus München über die deutsche Schuld am Krieg verlassen die Hörer unter lautem Protest den Saal.18 Darauf distanziert sich die Fakultät von ihrem Dozenten, und Foerster wird sogar für ein Jahr von der Münchener Universität suspendiert, was ihn von Neuem zum Exil in Österreich und der Schweiz bewegt. Auch nach dem Krieg entspannt sich die Situation kaum: „Als Foerster 1918 zurückkehrte und seine Vorlesungen im Auditorium Maximum der Universität wieder aufnahm, inszenierten nationalistische Studenten gegen
11 Kühner: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 3, S. 170 f. 12 Christian Tilizki spricht in seiner monumentalen Dissertation sogar (etwas abwertend) vom „antipreussischen Ressentiment“ in Foersters Werk. Siehe: Tilitzki, Christian: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Bd. 1, Berlin 2002, S. 456. 13 Vgl. Kühner: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 3, S. 172. 14 Vgl. Hoschek: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 10, S. 82 f. 15 Pöggeler: Zwischen Staatsraison und Weltfrieden, Anm. 5, S. 146. 16 Ebd. 17 Boehm, Laetitia: Einleitung. Der Weg der Ludwig-Maximilians-Universität durch die letzten zwei Jahrhunderte, in: Vom Bruch, Rüdiger/Müller, Rainer A. (Hg.): Erlebte und gelebte Universität. Die Universität München im 19. u. 20. Jahrhundert, Pfaffenhofen 1986, S. 8–20, hier S. 17. 18 Vgl. Kühner: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 3, S. 172.
Deutschland als Problem und Lösung
[ihn] einen systematischen Lärmboykott“.19 Und 1922 legte ihm ein freundlich zugeneigter Offizier zu seinem eigenen Schutz nahe, Deutschland zu verlassen.20 Von diesem Moment an entfaltet Foerster seine Aktivität hauptsächlich aus dem Ausland: zuerst in der Schweiz, ab 1926 in Paris, wo er sich niederlässt, um seine „Aufklärungsarbeit inmitten der durch die deutsche Aufrüstung bedrohten Nachbarn zu beginnen“.21 1937 siedelt er aber, angesichts des drohenden Krieges, in die Alpen über, nahe der schweizerischen Grenze. Hier, im Savoyischen Mornex, verfasst er sein Europa-Buch. 1940 muss er wieder fliehen, zuerst in die Schweiz (die ihm aber das Asylrecht verweigert und erklärt, er sei „unerwünscht“)22 und dann über Portugal nach New York, wo er bis 1963 bleiben wird. Erst in diesem Jahr ermöglicht die Schweizerische Foerster-Gesellschaft die Rückkehr des mittlerweile erblindeten Greises nach Europa, wo er 1966 in Zürich stirbt.
2.
Kritik am Machiavellismus und Nationalegoismus
Das traurige Ende von Foersters Biographie sollte nicht verdecken, dass er Zeit seines Lebens ein militanter und sogar streitbarer Kämpfer für seine Ideen war, der vor Auseinandersetzungen nicht zurückschreckte. So war Foersters 1914 erschienenes Buch Staatsbürgerliche Erziehung eine frontale Abrechnung mit der preußischen Weltanschauung und Staatstradition.23 Für unsere Fragestellung bemerkenswert ist die konsequente Erweiterung, die das Buch zwischen der ersten Ausgabe und seiner Neuauflage 1918 unter dem Titel Politische Ethik und politische Pädagogik erfährt. Zwischen diese beiden Auflagen, nämlich genauer ins Jahr 1914, fällt für Foerster die Entdeckung der Schriften von Constantin Frantz, die von nun an einen grundlegenden Einfluss auf seine religiösen, philosophischen und historischen Ansichten ausüben und die Europa-Idee ins Zentrum seiner Analysen rücken wird.24 In Politische Ethik und politische Pädagogik schlägt sich dieses Schlüsselerlebnis vor allem in einer massiven Erweiterung des Kapitels über „Staat und Sittengesetz“ nieder, das von drei auf 187 Seiten auswächst. Und im Zentrum dieser Erweiterung steht eine doppelte Erkenntnis: erstens, dass die moderne Welt des nationalstaatlichen Egoismus auf dem Prinzip der Trennung von Politik und Moral beruhe, und zweitens, dass dieses Modell im neuen Zeitalter, das nun anbricht, völlig überholt
19 20 21 22 23
Pöggeler: Zwischen Staatsraison und Weltfrieden, Anm. 5, S. 149. Vgl. ebd., S. 150. Foerster, Friedrich Wilhelm: Erlebte Weltgeschichte, 1869–1953. Memoiren, Nürnberg 1953, S. 290. Hoschek: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 10, S. 158 f. Foerster, Friedrich Wilhelm: Staatsbürgerliche Erziehung. Prinzipienfragen politischer Ethik und politischer Pädagogik, Leipzig 1914. 24 Vgl. Kühner: Friedrich Wilhelm Foerster, Anm. 3, S. 173.
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sei (was spätestens mit dem Weltkrieg für alle sichtbar sein sollte) und somit eine neue, europäische Perspektive unumgänglich mache. Die Trennung zwischen Politik und Moral, anders formuliert die Unterwerfung der politischen Notwendigkeiten unter das Sittengesetz, ist für Foerster jedoch keine Erfindung der Moderne per se: Sie entspricht eigentlich den Gegebenheiten „in den primitiven Zuständen“,25 sei aber durch den Übergang von der „heidnischen zur christlichen Auffassung“ grundlegend verändert worden: In der christlichen Anschauung ist dann die Oberhoheit des Sittengesetzes über den Cäsar zum vollen Durchbruch gelangt. Dem Cäsar wird gegeben, was des Cäsars ist, d. h. das Christentum kümmert sich nicht um die bloße politische Technik als solche, wohl aber darf der Cäsar nichts tun oder verlangen, was dem göttlichen Gesetze widerspricht.26
Doch mit der Renaissance sei diese grundlegende Aufteilung erneut in Frage gestellt und die Staatszwecke wieder über alle moralischen Bedenken und Einwände zum Endzweck erhoben worden. Die Menschen seien also auf den heidnischen Stand zurückgefallen. Der erste und konsequenteste Theoretiker dieser „Emanzipation der Politik vom Sittengesetz“ war in Foersters Augen „der Florentiner Nicolo Machiavelli“, der auf die Rolle als Autor des Principe reduziert wird. Dieser sonst „glühende Patriot“ habe in seinem Buch „eben das kodifiziert, was zu allen Zeiten die stillschweigende Theorie aller auf dem Boden des bloßen Nationalegoismus und des heidnischen Staatsbegriffes stehenden Politiker gewesen ist“.27 Somit wird Machiavelli bei Foerster weniger in seinem Eigenwert als in seiner historischen Bedeutung und seiner Wirkung gelesen. Er sei daher vor allem das Symptom eines tiefer liegenden Prozesses gewesen: In der Tat wird bei Machiavelli zuerst jener große Prozess der Säkularisation sichtbar, der heute noch keineswegs sein Ende erreicht hat – wobei ich unter Säkularisation im weitesten Sinne die Abspaltung der einzelnen Lebensgebiete von der überlieferten Totalansicht des Menschenlebens verstehe.28
Die Säkularisation ist in Foersters Augen somit die spezifische Dynamik der Moderne und daher die eigentliche Wurzel allen Übels. In der „Einleitung zum Buch“ hatte Foerster dem seine grundlegend religiöse Auffassung entgegengehalten:
25 26 27 28
Foerster, Friedrich Wilhelm: Politische Ethik und politische Pädagogik, München 1918, S. 171. Ebd., S. 172. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175.
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Das echte staatsbürgerliche Gewissen hat seine Kraft bisher aus den Tiefen des persönlichen Gewissens erhalten, die bürgerliche Unbestechlichkeit kam aus der Unbestechlichkeit des von der Religion geweihten Charakters.29
Foerster kann der Figur Machiavellis sogar eine positive Dimension abgewinnen, insofern als er die „Menschheit“ mit den heidnischen Konsequenzen dieses „Abfalls vom Christentum“ konfrontiert habe und sie dadurch zur Rückbesinnung auf den Wert des „christlichen Ethos“ gezwungen habe: Machiavelli nötigt uns zur Vertiefung unserer christlichen Interpretation, er zwingt uns, den realpolitischen Gehalt des Christentums aus dem scheinbar nur Überweltlichen herauszuholen und deutlich ans Licht zu ziehen.30
Diese Idee, dass die „wahre Realpolitik“ nicht die von Machiavelli inspirierte Philosophie eines Treitschke sei, sondern nur in der Besinnung auf den Höchstwert des Sittengesetzes bestehen könne, ist die Hauptrichtung von Foersters Argumentation gegen Machiavellis Ideen. Dessen „Soziologie eines Landsknechts“31 hält Foerster die „höhere politische Kultur“32 der christlichen Lehre entgegen: Wer in einer Zeit egoistischer Zersetzung wirklich die soziale Wiedergeburt vorbereiten will, der muss den Staat zuerst einmal in den Tiefen der Seele fundamentieren, muss dort durch tiefdringende religiös-sittliche Einwirkung das Streben nach Recht und nach Gemeinschaft anstelle des Strebens nach Vergewaltigung setzen.33
Für Foerster verkennt Machiavelli die zersetzende Wirkung der von ihm gebilligten Mittel wie die Lüge, die Unsittlichkeit und die Gewalt. Er sieht in der damit einsetzenden Spirale von Chaos und Gewalt die eigentliche „Tragikomödie der sogenannten Realpolitik“:34 Die von ihm mobilisierten Mittel zur Überwindung des Chaos bewirkten nur eine Beschleunigung der politischen Zersetzung. Foerster weigert sich somit, Machiavelli als den Gründer einer wahrhaften Wissenschaft des Politischen anzuerkennen. Aber der „Machiavellismus“, den Foerster bekämpft, ist im Endeffekt weniger das Denken Machiavellis an sich als dessen Wirkung in der Geschichte: Denn bis
29 30 31 32 33 34
Ebd., S. 1. Ebd., S. 176. Hervorhebung im Text. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 177. Hervorhebungen im Text. Ebd., S. 179.
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auf einige Ausnahmen – die Foerster explizit aufzählt – Burke, Comte, Constantin Frantz, John Morley – hätten „alle Theoretiker und Exekutoren großer politischer Entwicklungen […] bewußt oder unbewusst Machiavellis Lehre im Wesentlichen gebilligt und dieselbe dann befolgt“.35 Diesen „Machiavellismus“ unterteilt Foerster anschließend in drei geschichtliche Phasen: Die erste Phase des Machiavellismus in diesem Sinne ist der Kampf des Nationalstaates um seine Konsolidierung. Die zweite Phase entsteht durch den Kampf der innerlich konsolidierten Nationalstaaten untereinander, zum Zwecke der Verteidigung oder Erweiterung ihres Territoriums. Die dritte Phase entsteht dadurch, dass die Verteilung der Erdkugel, der Kampf um die Absatzmärkte auf die Tagesordnung tritt und jede der konkurrierenden Nationen zur äußersten Bereitschaft drängt, um sich ihren „Platz an der Sonne“ zu sichern.36
Die letzte, zeitgenössische Phase des Machiavellismus ist somit der Imperialismus. Und der Krieg, d. h. der Erste Weltkrieg, habe diesen nationalstaatlich genährten Imperialismus als Sackgasse offenbart. Die „Irrtümer des Machiavellismsus“ liegen für Foerster somit sowohl auf „psychologischer“ wie auch auf „soziologischer Ebene“. Von der „staatsbürgerlichen Psychologie“ her verfehle die machiavellistische Fokussierung auf die „Macht“ zuerst einmal den eigentlichen Sinn des Staates als Gemeinwesen, der „das Gegenteil von Macht, nämlich Recht, Ordnung, sittliche Gemeinschaft zwischen entgegengesetzten Interessen“ sei.37 Diese Formulierung ist eine Wiederholung der prinzipiellen Überlegungen aus der „Einleitung“, in der Foerster den Sinn der Politik über die Idee der Vermittlung definiert hatte: [E]s gehört geradezu zur tiefern politischen Bildung, sich in diese ganz persönliche Bedeutung der staatlichen Gemeinschaft gründlich hineinzudenken. Soziale Gemeinschaft mit Andersdenkenden und Anderswollenden ist ein Erziehungsmittel zu wahrer Kultur, zur Disziplinierung unserer Leidenschaft, zur Preisgabe des egozentrischen Standpunktes, zur Selbstprüfung und Selbstbeschränkung, zur Befreiung vom Sektengeiste mit all seiner Versuchung zur Narrheit – kurz zur Gewöhnung an einen universellen Standpunkt […]. [S]taatliche Gemeinschaft, im Gegensatz zur Organisation von Parteien, Interessengruppen, nationalen Einheiten und konfessionellen Verbänden, ist eben gerade die Organisation des Entgegengesetzten.38
35 36 37 38
Ebd. Ebd., S. 185. Ebd., S. 194. Ebd., S. 14 f.
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Aber noch fundamentaler ist in Foersters Augen, dass die „Machiavellisten“ wie ihr Meister die zersetzende Wirkung der Amoralität unterschätzen und ignorieren. Genau in diese Richtung weist das Görres-Zitat, das Foerster am Anfang seines vierten Teils als Motto seiner Überlegungen anführt: Sie sehen nicht, dass die sittliche Anarchie im politischen Denken, das Alles-Erlaubtsein in den Völkerbeziehungen, zersetzend in den übrigen sittlichen Kodex eindringen muss. Man weckt nicht ungestraft die Machtinstinkte […].39
Diese Idee wird bei Foerster unter dem Schlagwort der „Tragikomödie der sogenannten Realpolitik“40 in allen möglichen Formulierungen durchdekliniert.41 Interessant ist aber somit, dass die Argumentation nicht rein moralisch ist, sondern der Machiavellismus (in der von Foerster beanspruchten „realpolitischen“ Perspektive) sowohl als ineffizient wie auch nicht zeitkonform dargestellt wird. Von der Praxis aus gesehen, sieht Foerster den Machiavellismus als ein taktisches Vorgehen, das strategisch verfehlt ist – eine Fokussierung auf die „nächstliegenden Folgen“, dem der ethische Fluchtpunkt entgeht: Es ist aber gerade das Wesen des Sittengesetzes, daß es auf Grund höchster Offenbarung und reifster Erfahrung unserer Handlungen nicht nach ihrem augenblicklichen Erfolge, sondern nach ihrer dauernden Gesamtwirkung auf die Fundamente des sozialen und persönlichen Lebens abschätzt und beurteilt.42
Auf „soziologischer Ebene“ ist der Machiavellismus nicht zeitgerecht, da er den „Tatsachen der weltwirtschaftlichen Völkergemeinschaft“ nicht entspreche: Jeder Staat ist heutzutage in seinem Export und Import durchaus auf das wirtschaftliche, politische und sittliche Emporkommen der anderen Staaten angewiesen. Es gibt daher kaum ein ungeeigneteres Wort, um Wesen und Aufgabe des modernen Staates zu bezeichnen, als das Wort „Macht“. Die besonnene und weitblickende Einordnung des Staates in die menschliche Kulturgemeinschaft, ja die bewusste Mitwirkung an der Hervorbringung und Ausgestaltung solcher völkerverbindenden Entwicklung ist auch das größte Lebensinteresse des einzelnen staatlichen Organismus.43
39 40 41 42 43
Ebd., S. 194. Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 202–204. Ebd., S. 204. Ebd., S. 206.
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Die Argumentation verwebt hier auf subtile Weise ethische und wirtschaftliche Motive. Die Stoßrichtung des Ganzen ist aber eindeutig: die Idee, dass der „machiavellistische“, nationalstaatliche Egoismus eine historische Verirrung darstelle und nun durch eine europäische und föderalistische Erneuerung ersetzt werden müsse. Wie wir sehen, bildet diese Idee, unter dem Eindruck von Constantin Frantz’ Schriften, bereits 1918 den Horizont von Foersters Argumentation. Diesen Ansatz wird Foerster in den 1920er und 1930er Jahren wiederholt bearbeiten und ihm in seinem Buch von 1937, Europa und die deutsche Frage. Eine Deutung und ein Ausblick,44 vor dem Hintergrund eines sich immer klarer abzeichnenden Weltkrieges eine zentrale Rolle zuweisen.
3.
Europa als Horizont
Foersters Europa-Buch, das zeitgleich in deutscher Ausgabe und in französischer Übersetzung45 und dann 1940 noch auf Englisch erscheint,46 ist eindeutig vom Willen getragen, die moralischen Kräfte der europäischen Bürger vor der großen Katastrophe aufzurütteln. Es muss aber sofort festgehalten werden, dass die zwei Teile des Untertitels im Buch nicht gleichmäßig verteilt sind – auf 400 Seiten „Deutung“ kommen zehn Seiten „Ausblick“. Der Deutung kommt also viel mehr Gewicht zu, was uns insofern interessiert, als sie eben darin besteht, einen Wesenszusammenhang zwischen Europa und deutscher Frage herzustellen, oder genauer gesagt, die These aufzustellen, dass die „deutsche Frage“, wenn es sie gibt, nur als Europa-Frage zu verstehen und zu „lösen“ sei. Daher präsentiert Foerster sein Buch im ersten Satz als eine „Philosophie der europäischen Krise“.47 Das Buch gliedert sich dann in zwei Teile: Das Herzstück ist die eigentliche Untersuchung über „europäische und deutsche Verantwortlichkeit“, die in chronologischen Kapiteln die deutsch-europäische Geschichte seit dem Ende des Römischen Reiches nachzeichnet. Diesem zentralen Teil wird aber eine „apokalyptische Betrachtung“ vorausgeschickt, in der das Problem der „Säkularisierung“, d. h. des Abfalls von dem christlichen Sittengesetz, wieder aufgegriffen und als Hauptgrund für alle Katastrophen dargestellt wird. In diesem Teil finden wir somit das grundlegend religiös-ethische Muster wieder, das Foersters Argumentation nährt. Gleichzeitig
44 Foerster, Friedrich Wilhelm: Europa und die deutsche Frage. Eine Deutung und ein Ausblick, Luzern 1937. 45 Foerster, Friedrich Wilhelm: L’Europe et la question allemande. Übers. v. Henri Bloch/Paul Roques, Paris 1937. 46 Foerster, Friedrich Wilhelm: Europe and the German Question, New York 1940. 47 Foerster: Europa und die deutsche Frage, Anm. 44, S. 11.
Deutschland als Problem und Lösung
mündet die Betrachtung, unter dem Schlagwort vom „Verrat der Geistigen“, aber auch in eine Intellektuellenschelte. Da uns vor allem die europäische Frage interessiert, wollen wir uns im Folgenden auf den zweiten Teil des Buches konzentrieren. Als Ausgangspunkt von Foersters historischem Gedankengang finden wir sein antimachiavellistisches Grundschema wieder, also die Idee einer „europäischen Auflösung, die etwa seit der italienischen Renaissance und mit dem Machiavellismus, der keine deutsche Erfindung war, begann“.48 Zu dieser allgemeinen Entwicklung kommt dann ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein spezifisch deutsches Problem und somit ein neuer Bruch in der Entwicklung hinzu: „Die preußisch-deutsche Verantwortlichkeit für den gegenwärtigen Zustand Europas begann etwa im Jahr 1866“.49 In diesem Schicksalsjahr sei Deutschland unter die zumindest geistige Fuchtel des „ostmärkischen“ (also nicht wirklich deutschen) Preußentums gekommen und unter dessen Einfluss habe es das „Prinzip des isolierten nationalen Machtstaates […] bis zum offenbaren Wahnsinn ausgelebt und ausgearbeitet“.50 Und in dieser Entwicklung spielt natürlich Bismarck als „Bonaparte der deutschen Revolution“51 eine Schlüsselrolle: Als „preußischer Junker“ sei ihm das eigentlich deutsche Erbe fremd geblieben. Daher habe seine Arbeit für die deutsche Einheit, d. h. die Lösung der „deutschen Frage“, nur in einer „Ausdehnung des preußischen Staatsgedankens auf ganz Deutschland“ bestehen können,52 also im Sieg eines bestimmten Partikularismus über alle anderen. Dies sei aber nur in Form eines Bruchs mit der deutschen Tradition möglich gewesen: „Das autokratische Einheitsprinzip trat an die Stelle des Föderalismus“.53 Daraus folgt, dass in Foersters Perspektive die Geschichte des identitären Nationalgedankens in Deutschland jene eines „Abfall[es] Deutschlands von sich selbst“ ist: „der uralte, jetzt verirrte Drang der deutschen Seele zur Totalität hat sich in den Kult des totalen Staates und des totalen Krieges geworfen“.54 Und somit nimmt Foerster bereits Elemente einer negativen Sonderwegstheorie vorweg, wie wir sie in der amerikanischen Geschichtsschreibung während des Zweiten Weltkriegs wiederfinden werden:55
48 49 50 51 52 53 54 55
Ebd., S. 40. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 63. Ebd. Ebd. Ebd., S. 57. Vgl. McGovern, William Montgomery: From Luther to Hitler. The history of fascist-nazi political philosophy, Boston 1941; D’Olier Butler, Rohan: The roots of national socialism. 1783–1933, London 1941; Viereck, Peter: Metapolitics. From the romantics to Hitler, New York 1941.
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Von Fichte zu Hitler geht eine gerade Linie, alles ist logische Konsequenz, auch das alldeutsche Programm. Deutschland hat das Nationalitätenprinzip als alleinstehenden Regulator Europas ad absurdum geführt.56
Die Verengung zum Hegelschen Machtstaat hat Deutschland zwangsläufig in den Krieg geführt.57 Foerster stellt den Ersten Weltkrieg als „das legitime Kind des preußischen Militarismus“58 dar und weist Deutschland daher ganz entschieden die Hauptschuld am Konflikt zu. In vier längeren Kapiteln oder Unterkapiteln über „die Schuldfrage des Weltkrieges“, „die deutsche Kriegsführung“, „die deutsche Armee in Belgien“ und „der deutsche militärische Zusammenbruch und seine Ursachen“ unternimmt es Foerster (zum Teil sehr quellenimmanent), die deutsche Schuld sowie die Unhaltbarkeit der Dolchstoßlegende nachzuweisen. Denn zur „Entgiftung der deutschen Seele“ sei „eine Aufklärung über die deutschen Kriegsverbrechen ganz unentbehrlich“.59 Nur aufgrund einer solchen Ehrlichkeit könne dann der Versailler Vertrag verstanden werden, denn „die ganze Nachkriegspolitik der Sieger ist zu einem nicht geringen Teil von den Eindrücken beeinflusst, die von den Untaten der deutschen Heeresleitung herkamen“.60 Und doch führte die Erstellung der Nachkriegsordnung nicht zu einer grundlegenden Kritik des Nationalitätenprinzips, sondern zu dessen Triumph: Der Vertrag von Versailles ist die logische Konsequenz der Gründung des deutschen Reiches in Versailles. Die beiden historischen Ereignisse, also dasjenige von 1871 und dasjenige von 1919, sind gleichsam ineinander enthalten, stellen nur zwei Etappen der Auswirkung des gleichen Prinzips dar. Und beide wiederum entsprangen dem Grundprinzip, das einst Ludwig XIV. in Versailles besiegelt hatte: dem Prinzip der geeinigten und ihrer Einheit stolz und freudig bewussten Nation.61
Der Krieg hat also am Strukturprinzip der Zeit nichts verändert. Daher konnten auch Ansätze zu einer internationalen Koordination, allem voran in Form des Völkerbundes, nur auf Holzwege führen: Alle Schwierigkeiten und Schwächen des gegenwärtigen Völkerbundes erklären sich daraus, dass bis jetzt jeder Übergang zwischen dem geschlossenen Nationalstaat mit
56 57 58 59 60 61
Foerster: Europa und die deutsche Frage, Anm. 44, S. 42. Vgl. ebd., S. 77. Ebd., S. 338. Ebd., S. 341. Ebd. Ebd., S. 395.
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seinem starren Souveränitätsbegriff und der die Welt umspannenden Föderation gefehlt hat.62
Dem Völkerbund fehle es somit an einem „Dolmetscher“,63 der zwischen den individualistisch orientierten Nationalstaaten und einer Weltföderation vermitteln könnte. Genau da könne das wahre Deutschland, das nicht mehr selbstentfremdete Deutschland, eine Rolle spielen. Denn für Foerster liegt die deutsche Berufung nicht im Nationalen, sondern darüber hinaus in seiner europäischen Mission, die in der alten Reichstradition Form angenommen hatte, im „übernationalen Kaisertum des Mittelalters, das als wirklicher Hüter des Rechtes und des Friedens in Europa das deutsche Volk zum Weltvolk machte“.64 Das alte Reich war am Schnittpunkt zwischen der christlich-römischen Tradition und der „föderativen Begabung“ Deutschlands entstanden. Letztere habe darin bestanden, dass stark behauptete Stammeseigenart einerseits und Drang nach bündischer Zusammenfassung anderseits eine Synthese hervorbrachten, die außerordentlich geeignet zur Organisation des Verschiedenartigen und Entgegengesetzten war. Deutschland war ein Europa en miniature.65
In seinem innersten Wesen sei Deutschland also auf Föderalismus angelegt, der hier sowohl als politische, demokratische Organisationsform als auch als multikulturelle Gemeinschaft beschrieben wird. Diese Idee einer europäischen Schlüsselrolle, die Deutschland wegen seiner Stellung und Begabung zufällt, denkt Foerster bereits bei Constantin Frantz zu finden: Deutschland war eben durch seine zentrale Lage, durch seine ganz besondere Geschichte und Funktion innerhalb der mittelalterlichen Organisation Europas und durch die universalistische Entwicklung seiner Seele […] etwas ganz Eigenartiges und Unvergleichliches geworden, es war kein Staat, sondern ein Reich, ein Übergang vom Staatsrecht zum Völkerrecht, ein Zentrum der europäischen Föderation, eine Brücke zwischen Osten und Westen, Süden und Norden, ein Mittler zwischen Gegensätzen, ein übernationales Wesen.66
62 63 64 65 66
Ebd., S. 78. Ebd., S. 79. Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., S. 46.
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Nur in dieser Vermittlerrolle, in dieser Brückenfunktion könne Deutschland zu sich selbst (zurück-)finden und Europa zu einer sinnhaften Einheit werden: „Das deutsche Reich des Mittelalters“ wird von Foerster somit als ein „Gegengewicht gegen die Zersetzung Europas“ beschrieben.67 Die Rückkehr zu seinem europäischen Wesen bedeutet für Deutschland gleichzeitig den Bruch mit der dramatischen, todbringenden preußisch-machiavellistischen Verirrung. In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass diese Rückkehr zum „Universalismus“ des mittelalterlichen Reiches von Foerster eindeutig nicht als Option für eine großdeutsche Lösung zu verstehen ist. So nimmt er in einer sonst eher wohlwollenden Fußnote über Heinrich Kanners Flugschrift Der mitteleuropäische Staatenbund 68 von einem „mitteleuropäischen“ Deutschlandverständnis Abstand: „Wir fügen nur hinzu, dass die mitteleuropäische Lösung allerdings nicht genügt, sie wird eine neue Gefahr werden, wenn sie nicht in eine neue europäische Lösung eingebettet würde“.69 Diese Rückkehr zur Reichstradition ist somit in einem breiteren, tatsächlich europäischen Rahmen zu verstehen. Ein Rahmen, den Foerster auch wiederum bei Constantin Frantz zu finden glaubt, der bereits im 19. Jahrhundert die europäische Berufung der Deutschen durch eine bestimmte Funktion, eingebettet in eine spezifische Organisation, definiert hatte: die „internationale Funktion des in eine Welt stärkster Gegensätze eingebetteten [deutschen] Volkes“,70 das sich in der spezifischen Form des Föderalismus organisiert: „jene eigenartige Organisationsform, die ebenso sehr dem Schutze des Partikularen, wie dem Bedürfnis nach weitgreifender Zusammenfassung gerecht wird und die eben darum die einzig mögliche Basis übernationaler Verknüpfung ist“.71 Auf solch einem Fundament könnte Deutschland an das „alte Deutschland“ – d. h. an das „Deutschland“ vor 1866 – anknüpfen, um dann darüber hinaus zu gehen und zum Herzen eines wahrhaftig europäischen Bundes zu werden: Hätte Deutschland seinerzeit den deutschen Bund föderativ weiterentwickelt, statt sich in Hegels Sinn zum geschlossenen Machtstaat zu verengen, so hätte sich daraus sehr wahrscheinlich, nach Frantz’ Überzeugung, langsam ein mitteleuropäischer Völkerbund entwickelt, dem dann Holland und Skandinavien und vielleicht auch Polen beitreten hätten können und der gemäß seiner ganzen Zusammensetzung nicht ein germanischer Block, sondern die Basis europäischer Föderation geworden wäre.72
67 68 69 70 71 72
Ebd., S. 47. Kanner, Heinrich: Der mitteleuropäische Staatenbund. Ein Vorschlag zum Frieden, Wien 1925. Foerster: Europa und die deutsche Frage, Anm. 44, S. 52. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 77.
Deutschland als Problem und Lösung
Diesem europäischen und letztlich kosmopolitischen Ideal steht aber 1937 die „deutsche Wirklichkeit“ im Weg, auf die Foerster im kurzen „Ausblick“ am Ende seines Buches noch einmal zurückkommt: auf die „Besonderheit Deutschlands, seine entschlossene Ablösung von Europa und der alten Mittelmeerkultur, seine rasende Rückkehr zum Primitiven“.73 Da die von Foerster beschworene „Entgiftung“ des deutschen Geistes nicht stattgefunden hat, geht von Deutschland weiterhin die Gefahr der kriegerischen Gewalt aus: „Hitler begründet den neuen dreißigjährigen Krieg, will dessen Schutthaufen zum europäischen Schutthaufen erweitern“.74 Und in diesem Zusammenhang rechnet Foerster mit einem „billigen Pazifismus“ ab, der (gewollt oder aus Unkenntnis) die „gegenwärtige deutsche Dämonie“ verkenne.75 Gegenüber einem kriegswilligen Feind münde ein solcher Pazifismus zwangsläufig in eine Katastrophe: Einen pazifistischen Vertrauensfrieden kann man mit jemand schliessen, der den Frieden will; schliesst man aber einen solchen Frieden mit jemand, der aus innerster Seele den Krieg will und den Pazifismus nur benutzt, um die Revanche vorzubereiten, so steht solche Praxis unleugbar im Dienste des Krieges.76
Die Haltung eines richtig verstandenen und somit auch wehrhaften Pazifismus bestehe daher in einer dreifachen Antwort auf die Gefahr: eine militärische Abwehr, die in einer Aufrüstung den besten Schutz für Deutschland sieht,77 eine geistige Defensive, die sich gegen die Propaganda des Dritten Reichs zu Wehr setzt; und die Rückkehr zur „tiefsten christlichen Tradition“78 als Strukturprinzip der europäischen Kultur – womit wir wieder beim religiösen Grundmuster in Foersters Denken wären.
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Ebd., S. 497. Ebd., S. 499. Ebd. Ebd., S. 498. Da er die Gefahr, die von Hitler und den Nationalsozialisten ausgeht, sehr ernst nimmt, kommt Foerster zu Einsichten, die im Nachhinein hellsichtig erscheinen: So antwortet er einem französischen Pfarrer, der dafür plädiert, dass man die Deutschen „kampflos hereinkommen“ lasse, „damit sie uns organisieren und disziplinieren“, er irre sich, was die Konsequenzen betreffe: „Organisieren, disziplinieren?? – nein, sterilisieren und evakuieren werden sie Euch!“ (ebd., S. 501). 78 Ebd., S. 507.
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Christian E. Roques
4.
Fazit
Die von Foerster 1937 in den Raum geworfene Warnung verhallt zum Großteil unerhört. Er selbst muss mit dem Kriegsausbruch die Flucht antreten, und wie er selbst in seinem späteren „Vorwort für alle meine sämtlichen Bücher“ feststellen wird, haben die Nationalsozialisten durch die Verbrennung seiner Bücher und die Verbannung seiner Person in großem Umfange dazu beigetragen, dass sein Werk, seine Bücher und sein Name nach dem Zweiten Weltkrieg schnell in Vergessenheit gerieten.79 Betrachtet man aber seinen Reichsdiskurs im historischen Kontext der Zwischenkriegszeit, kann man feststellen, dass er mit anderen demokratischen und föderativen Reichs- und Europadiskursen in Dialog tritt. Einerseits können Foersters Bücher in Zusammenhang mit dem Wiederaufleben der Debatten um die großdeutsch-mitteleuropäische oder kleindeutsch-preußische Lösung der deutschen Einheit innerhalb der deutsch(sprachig)en Geschichtswissenschaft gesetzt werden. Dies führt zu Auseinandersetzungen von Foerster mit eher borussischen Historikern wie Erich Marcks.80 Andererseits können in diesem Kontext auch Kongruenzen mit anderen Reichsdiskursen festgestellt werden, die in der Zwischenkriegszeit ebenfalls die föderalistische und zum Teil europäische Dimension des „alten Reiches“ gegen das machtstaatliche Deutschland auszuspielen versuchten. Dies ist der Fall in Sigmund Rubinsteins Romantischer Sozialismus81 von 1920 sowie in den von ihm beeinflussten Bakunin- und Freiherr von Stein-Biographien Ricarda Huchs.82 Aber auch an die Art und Weise, wie der „Reichsbannermann“ Hubertus Prinz zu Löwenstein den Reichsbegriff im österreichischen Exil mobilisieren wird, darf in diesem Zusammenhang erinnert werden.83 Eine ganze Reihe von politischen Entwürfen, die bis heute zum Großteil im Windschatten der Forschung geblieben sind.
79 Vgl. Foerster, Friedrich Wilhelm: Vorwort für meine sämtlichen Bücher. Zur Orientierung über Sinn und Ziel meines Schrifttums, in: Iven (Hg.): 3 x Foerster, Anm. 4, S. 133–138, hier S. 134. 80 Siehe hierzu Foerster: Europa und die deutsche Frage, Anm. 44, S. 74, 90, 144. Zum Hintergrund vgl. auch Kraus, Hans-Christof: Kleindeutsch – Großdeutsch – Gesamtdeutsch? Eine Historikerkontroverse der Zwischenkriegszeit, in: Gallus, Alexander/Schubert, Thomas/Thieme, Tom (Hg.): Deutsche Kontroversen, Baden-Baden 2013, S. 71–87. 81 Rubinstein, Sigmund: Romantischer Sozialismus. Ein Versuch über die Idee der deutschen Revolution, München 1921. 82 Huch, Ricarda: Michael Bakunin und die Anarchie, Leipzig 1923; Dies.: Stein (Menschen, Völker, Zeiten 2), Wien 1925. 83 Vgl. Elsbach, Sebastian: Ein Paladin der Freiheit. Der Reichsbannermann Hubertus Prinz zu Löwenstein (1906–1984), in: Böhles, Marcel/Braune, Andreas/Elsbach, Sebastian (Hg.): Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik, Stuttgart 2020, S. 85–98.
Olimpia Malatesta
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘ Die politische Entpolitisierung von der Innenpolitik zur europäischen Ordnung
1.
Einführung
Mindestens seit der vorletzten Wirtschaftskrise 2008–2009 wird weitläufig der vom Juristen Hermann Heller im Jahre 1933 zum ersten Mal verwendete Ausdruck ,autoritärer Liberalismus‘ benutzt, um die angeblich demokratiefeindliche Wendung der Europäischen Union insbesondere angesichts wirtschaftlicher Angelegenheiten zu beschreiben.1 Wenngleich eine solche Einstellung sicherlich einige hilfreiche Hinweise zum besseren Verständnis der heutigen Wirtschaftsunion bietet, könnte sie jedoch zu drei miteinander verbundenen Missverständnissen führen: erstens, dass es tatsächlich eine eigentliche, intern kompakte Theorie des autoritären Liberalismus gäbe; zweitens, dass jene Theorie eine kohärente Parabel erfahren hätte, welche in der Weimarer Republik ihren Aufgang und in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) eine umstrittene politisch-praktische Anwendung erfahren habe; drittens, dass jener angeblich existente autoritäre Liberalismus darüber hinaus sogar eine kohärente Gesamtheit von Theorien einschließe, welche eine einheitliche Vision Europas und ihres möglichen zukünftigen Integrationsprozesses liefern.2
1 Es gibt zahlreiche Beiträge über den ‚autoritären Liberalismus‘. Hier werden nur die wahrscheinlich relevantesten aufgelistet: Oberndorfer, Lukas: Die Renaissance des autoritären Liberalismus? Carl Schmitt und der deutsche Neoliberalismus vor dem Hintergrund des Eintritts der „Massen“ in die europäische Politik, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 3 (2012), S. 413–431; Streeck, Wolfgang: Heller, Schmitt and the Euro, in: European Law Journal 21 (2015), S. 361–370; Bonefeld, Werner: Authoritarian Liberalism: From Schmitt via Ordoliberalism to the Euro, in: Critical Sociology 43 (2016), S. 747–761; Popov, Maxim: Un’analisi concettuale del liberalismo autoritario in Europa, in: Filosofia Politica 2 (2021), S. 325–334; Atzeni, Claudia: Il liberalismo autoritario e il processo di consolidazione delle libertà economiche europee, in: ORDINES. Per un sapere interdisciplinare sulle istituzioni europee 2 (2021), S. 32–59; Wilkinson, Michael A.: Authoritarian liberalism in Europe: A common critique of neoliberalism and ordoliberalism, in: Critical Sociology 45 (2019), S. 1023–1034; Ders.: Authoritarian Liberalism and the Transformation of Modern Europe, Oxford 2021; Atzeni, Claudia: Liberalismo autoritario. La crisi dell’Unione europea a partire dalle riflessioni di Hermann Heller, Modena 2023. 2 Eine in gewissem Sinne ähnliche Ausführung habe ich schon in einem anderen Beitrag angeboten: Malatesta, Olimpia: Liberalismo autoritario contro pluralismo sociale. Alcune note su Heller, Schmitt
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Olimpia Malatesta
Die hinter folgendem Beitrag stehende Absicht ist es, genau diese drei Fehldeutungen zu bestreiten, jedoch nicht mit der Intention, das abklärende Potential des oben genannten Ausdruckes zu verneinen, sondern um zu einem artikulierteren Verständnis dessen zu gelangen. Dabei wird es nötig sein, ideengeschichtliche Verhältnisse und politisch-historische Zusammenhänge zu erhellen, in denen sich all jene verschiedenen Theorien, welche gewöhnlich unter der Etikette des ,autoritären Liberalismus‘ subsumiert werden, entwickelt haben. Ein solches Unterfangen dient nicht nur der ideengeschichtlichen Klärung der Formel, sondern zielt vor allem darauf ab, auf die Kontinuität hinzuweisen, welche es zwischen den ,autoritären‘ Reflexionen über die innenpolitische Artikulation von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft und ihrer ,supranationalen‘ Projektion auf der europäischen Ebene gibt. Doch weit davon entfernt, die aktuelle Struktur der EWG als politisches Laboratorium des autoritären Neoliberalismus zu hinterfragen, handelt es sich hier um eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der intellektuellen und historischen Ursprünge der neoliberalen Vorstellungen eines vereinten Europas. Demzufolge lautet die Frage der vorliegenden Untersuchung nicht: Taugt der Begriff des ‚autoritären Liberalismus‘ zur Erklärung der angeblich demokratiefeindlichen Wendung der EWG und ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen?; sondern vielmehr: Liefert jener Begriff nützliche heuristische Elemente, um die neoliberalen Überlegungen zur europäischen Integration besser zu begreifen? Dementsprechend bewegt sich die vorliegende Recherche weder auf dem Terrain der Politikwissenschaft noch auf dem der internationalen Beziehungen, sondern verankert sich fest in der ideengeschichtlichen Dimension. Letztendlich wird der autoritäre Neoliberalismus als eminent theoretisches Objekt, also nicht als tatsächlich existierendes wirtschaftspolitisches Phänomen, begriffen. Ferner wird zu zeigen sein, dass der rote Faden, welcher jene Überlegungen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft sowohl auf der intra- als auch auf der internationalen Dimension verbindet, zweifelsohne um das Konzept einer dezidiert politischen Entscheidung kreist, deren offenbares Ziel es jedoch ist, die Wirtschaft zu entpolitisieren, und zwar ihr politisches Potential zu neutralisieren. Denn all jene Theorien, die unter dem gemeinsamen Nenner des autoritären Neoliberalismus einzureihen sind, weichen komplett vom klassisch-liberalen Dogma ab, wonach der Bereich der Wirtschaft keinerlei politischer Entscheidungen bedürfe. Ein im wirtschaftlichen Rahmen intervenierender liberaler Staat also, und nicht ein Nachtwächterstaat, steht im Zentrum autoritär-liberaler Reflexionen.
e gli ordoliberali nel contesto europeo, in: Pólemos. Materiali di filosofia e critica sociale 1 (2021), S. 69–88.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
Entsprechend dieser theoretischen Einstellung wird sich der vorliegende Beitrag folgendermaßen gliedern: Zuerst einmal geht es darum zu klären, was Hermann Heller mit dem hier zu behandelnden Begriff überhaupt meint. Da seine wesentliche polemische Zielscheibe Carl Schmitt war, soll in einem dritten Schritt Schmitts Kritik am Liberalismus und am Pluralismus erläutert werden. Denn nicht nur war Schmitt der Autor, der eine ‚starke Wirtschaft‘ in einem ‚starken Staat‘ befürwortete, sondern er war auch der primäre intellektuelle Bezugspunkt jener Denker, welche dem theoretischen Universum der Konservativen Revolution3 zuzuschreiben waren und die Notwendigkeit anerkannten, einen stark autoritären Staat einzusetzen, um der Entartung der liberalen Wirtschaft Halt zu gebieten. Davor aber wird es darum gehen, die ordoliberale Einstellung zum Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft zu erläutern. Denn nicht nur sprach Hermann Heller explizit von einem ‚neoliberalen Staat‘ – und als ‚Neoliberale‘ konnten in Deutschland zu jener Zeit nur die Ordoliberalen in Betracht gezogen werden4 –, sondern die Ordoliberalen selbst beriefen sich sehr oft auf Schmitt, um ihre Position gegenüber der pluralistischen Gesellschaft, welche sich anmaßte, auf politischem Wege konstant auf wirtschaftspolitische Tatbestände Einfluss zu nehmen, zu klären. Hier wird gezeigt, wie in den ordo- und neoliberalen Beiträgen der 20er bis 50er Jahren einige hilfreiche Hinweise zu finden sind, die von Nutzen sind, um eine gewisse Grundtendenz oder eine geteilte Sensibilität in Bezug auf die internationale europäische Wirtschaftsordnung zu ermitteln. In diesem Sinne bietet die neoliberale Interpretation der deutschen innenpolitischen Probleme der 20er und 30er Jahre einen unabdinglichen Wegweiser, um die Positionen zur gewünschten neoliberalen Wirtschaftsintegration zu erhellen. In einem letzten Schritt wird schließlich ausgelegt, dass das problematische innenpolitische Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, welches die Ordoliberalen insbesondere in der Weimarer Republik sahen, die neoliberale Vision der internationalen Dimension stark geprägt hat. In diesem Sinne ist es möglich, eine gewisse theoretische Kontinuität zwischen dem, was der Jurist Hermann Heller als ‚autoritären Liberalismus‘ bezeichnet hat, und den neoliberalen Positionen zur internationalen Wirtschaftsordnung zu beobachten. 3 Zur Konservativen Revolution siehe: Breuer, Stefan: Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1995; Gerstenberger, Heide: Der revolutionäre Konservativismus. Ein Beitrag zur Analyse des Liberalismus, Berlin 1969; Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962. 4 Das sogenannte ‚neoliberale‘ Phänomen war in den 20er Jahren in Österreich sicherlich schon viel verwurzelter und solider als in Deutschland, wo der Ordoliberalismus als eigentliche theoretische Schule erst im Jahre 1948 gegründet wurde, obwohl ihre intellektuellen Ursprünge am Ende der Weimarer Republik zu finden sind. Zur ‚österreichischen Schule‘, die hauptsächlich um Ludwig von Mises und Friedrich A. von Hayek kreiste, vgl. insbesondere Slobodian, Quinn: Globalists. The End of Empire and The Birth of Neoliberalism, Cambridge 2018; Wasserman, Janek: The Marginal Revolutionaries: How Austrian Economists Fought the War of Ideas, New Haven/London 2019.
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Olimpia Malatesta
2.
Hermann Heller und der autoritäre Neoliberalismus
Der scheinbar widersprüchliche Ausdruck des ‚autoritären Liberalismus‘ wurde von dem der SPD angehörigen, sozialdemokratischen Juristen Hermann Heller in einem 1933 in Die Neue Rundschau erschienenen Beitrag5 geprägt, der eben diesen Titel trug. Hinter diesem Aufsatz steht offensichtlich sowohl ein theoretisches als auch ein praktisch-politisches Interesse.6 Heller äußert sich nämlich über die politische Konjunktur, in welcher sich die Weimarer Republik in ihrer Endphase befand, und zwar als Franz von Papen 1932 mit seinem ,Präsidialkabinett der nationalen Konzentration‘ der Republik einen deutlichen Schub in Richtung demokratischen Verfall und Sozialabbau gab. Denn letztlich zielte Papens Kabinett genau auf „die Immunisierung von Industrie und Produktion gegenüber sozialdemokratischer Intervention“.7 Ferner – wie allgemein bekannt ist – ebnete die Minderheitsregierung von Papens langsam den Weg zur nationalsozialistischen Machtübernahme, als nach – der von Papen vorgeschlagenen – Auflösung des Reichstags Reichspräsident von Hindenburg dank des Notverordnungsrechts die Situation ausnutzte, um durch den ,Preußenschlag‘ auch die letzte verbliebene, sozialdemokratische Regierung abzulösen. Damit wurden auch die restlichen Überbleibsel der Weimarer Sozialdemokratie aus dem Weg geräumt.8 Im oben genannten Beitrag kritisierte Heller also demnach den politischen Vorschlag des konservativen Spektrums der Weimarer Republik, einen starken Staat als Barriere gegen das zu errichten, was als Übermaß an Demokratie empfunden wurde: Dem wirtschaftlichen und sozialen Pluralismus der Weimarer Republik, welcher für das hypertrophe Wachstum des Wohlfahrtsstaates verantwortlich gemacht wurde, stellte die konservative Rechte einen autoritären Staat entgegen, der in der Lage sein musste, die unveräußerlichen Prinzipien des Privateigentums und des freien Marktes zu schützen. Demzufolge konnte die Weimarer Krise nur durch eine antidemokratische Wendung des deutschen pluralistischen Staates erreicht werden: „Autoritären [sic] Staat sagt man also, autokratische kontra demokratische Staatsautorität meint man.“9 5 Heller, Hermann: Autoritärer Liberalismus, in: Heller, Hermann: Gesammelte Schriften. Recht, Staat und Macht, hg. von Christoph Müller, Bd. II, 2., durchgesehene und erw. Auflage, Tübingen 1992, S. 643–653. 6 Vgl. Malkopoulou, Anthoula: Hermann Heller on Democratic Self-defence: Militant Democracy Revisited, in: Frick, Verena/Lembcke, Oliver W. (Hg.): Hermann Hellers Demokratischer Konstitutionalismus, Wiesbaden 2022, S. 185–202. 7 Frick, Verena/Lembcke, Oliver W.: Autoritärer Liberalismus oder demokratischer Konstitutionalismus? Hermann Heller und die Europäische Dauerkrise, in: Ders. (Hg.): Hermann Hellers Demokratischer Konstitutionalismus, Wiesbaden 2022, S. 203–223, hier S. 204. 8 Vgl. z. B. Schulze, Hagen: Weimar. Deutschland 1917–1933, Berlin 1982, Kap. XXIII–XXIV. 9 Heller: Autoritärer Liberalismus, Anm. 5, S. 645.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
Während Hellers polemische Zielscheiben einerseits Carl Schmitt10 und Franz von Papen, vorletzter Reichskanzler der Präsidialkabinette, waren, muss aber hervorgehoben werden, dass der von Heller verwendete Ausdruck des „neoliberalen Staats“11 als Synonym für den „autoritären Staat“ verstanden werden soll. Dieser Ausdruck enthält höchstwahrscheinlich einen impliziten Verweis auf die ordoliberale Theorie: Es war nämlich einer der prominentesten Vertreter des Ordoliberalismus, Alexander Rüstow, der 1929 in einem Beitrag mit dem Titel Interessenpolitik oder Staatspolitik? vermutlich erstmals in der Geschichte den Ausdruck „neuer Liberalismus“12 verwendete, um die von ihm gewünschte wirtschaftliche und politische Neuausrichtung des Weimarer Staates zu kennzeichnen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass sich Heller auf die Definition von Rüstow bezog. Darüber hinaus hatten die beiden bereits einige Monate vor der Errichtung der Präsidialkabinette anlässlich einer langen Rede,13 die Rüstow am 5. Juli 1929 an der Deutschen Hochschule für Politik hielt, Kontakt miteinander gehabt. Es handelte sich hierbei um einen Vortrag im Rahmen einer Reihe von Tagungen über die Probleme politischer Koalitionen, an denen einige Tage zuvor (am 28. Juni 1929) auch Carl Schmitt mit einem Vortrag mit dem Titel Der Mangel des pouvoir neutre im neuen Deutschland und Hermann Heller mit einem Vortrag mit dem Titel Demokratische und autokratische Formen der Staatswillensbildung am 2. Juli jenes Jahres teilgenommen hatten. Heller versäumte es jedenfalls nicht, Rüstows politischen Vorschlag zu kritisieren, den Reichskanzler vorerst im Rahmen einer Diktatur zu stärken, und wies darauf hin, dass dieser Plan nur durch einen Putsch nach dem Vorbild Mussolinis in Italien verwirklicht werden könne. Außerdem führe dies nur zu einer weiteren Entartung des ohnehin strapazierten Parlaments.14 Trotz der zwar differierenden politischen Einstellungen jener Denker, die dem deutschen konservativen Universum jener Epoche zuzuschreiben sind, bezeichnet der Ausdruck des ,autoritären Liberalismus‘ für Heller all jene Arten von Wirtschaftspolitik und -theorien, deren gemeinsames Ziel es war, die wirtschaftliche Sphäre von der politischen zu trennen, d. h. den Staat zu entsozialisieren und ihn von der Wirtschaft abzuschotten. Ein solches politisches Unternehmen implizierte also in erster Linie den „Rückzug des […] Staates aus der Sozialpolitik“ und die
10 Im Herbst 1932 standen sich Heller und Schmitt im Prozess ,Preußen contra Reich‘ gegenüber: Während Schmitt Preußen verteidigte, stand Heller auf der Seite des Reichs. 11 Heller: Autoritärer Liberalismus, Anm. 5, S. 653. 12 Rüstow, Alexander: Interessenpolitik oder Staatspolitik, in: Der deutsche Volkswirt 7 (1932), S. 169–172, hier S. 172. 13 Vgl. Rüstow, Alexander: Diktatur innerhalb der Grenzen der Demokratie (1929), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1959), S. 87–102. 14 Vgl. Hellers Antwort auf die Rede Rüstows in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1959), S. 102–104.
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„Entstaatlichung der Wirtschaft“, d. h. zwei Maßnahmen, die notwendig waren, um die „übertriebenen Verbindungen zwischen Staat und Wirtschaft“15 zu lockern. Die Deflations- und Sparpolitik Brünings, die Gewerkschaftsfeindlichkeit von Papens, die sogenannte „Selbstbeschränkung“16 des Staates – sein Rückzug aus der sozialen Sphäre –, die der Ordoliberalismus befürwortete, hatten als gemeinsamen Nenner die Stärkung des Staates und seine antipluralistische Wendung. Und gerade im Kampf gegen den wirtschaftspolitischen Pluralismus, in der Ablehnung jeglicher Umverteilungspolitik sowie in der Forderung nach der Entpolitisierung der Wirtschaft lässt sich das Bindeglied all jener Theoretiker erkennen, die nach Heller dem sogenannten ,autoritären Liberalismus‘ angehören: Schmitt, einige Vertreter der Konservativen Revolution wie Max Hildebert Boehm und Edgar Julius Jung17 sowie die Ordoliberalen Walter Eucken, Alexander Rüstow, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke und Franz Böhm begreifen die Weimarer Krise in erster Linie als Ergebnis des pluralistischen, sozialdemokratischen Staats, d. h. jenes Staates, der angesichts der weit verbreiteten Politisierung der ökonomischen Sphäre nicht in der Lage ist, sein Primat zu behaupten. Denker aus diesen drei Lagern des Weimarer Konservativismus teilen letztlich die gleiche Kritik an der angeblichen Hypertrophie des Wohlfahrtsstaates und die Vorstellung, dass die politisch-ökonomische Stabilität, d. h. die angebliche Neutralität des ökonomischen Bereiches, nur durch die Trennung von Staat und Wirtschaft sowie von Politik und Gesellschaft zurückgewonnen werden könne. Der Kampfbegriff des ,autoritären Liberalismus‘ repräsentiert also die eigentliche Verneinung des demokratischen Konstitutionalismus von Hermann Heller. Denn die Verfassung als „offene politische Form“18 wird von ihm als Werkzeug konzipiert, welches Wirtschaft und Gesellschaft in erster Linie mit einer dezidiert
15 Heller: Autoritärer Liberalismus, Anm. 5, S. 653. 16 Rüstow: Interessenpolitik, Anm. 12, S. 172. 17 Kondylis ist einer der wenigen Autoren, die auf die Konvergenz zwischen einem ordoliberalen Denker wie Alfred Müller-Armack und einigen konservativen Revolutionären hinweisen, indem er dieses Phänomen als „konservative[n] Neoliberalismus“ bezeichnet (vgl. Kondylis, Panajotis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 492). Der griechische Intellektuelle weist darauf hin, dass die Kritik am politischen und sozialen Liberalismus des sogenannten konservativen Tatkreises keineswegs mit einer Ablehnung des wirtschaftlichen Liberalismus einherging. So spricht Max Hildebert-Boehm, einer der Gründer des Juniklubs, trotz vehementer Kritik an der durch den politischen Liberalismus induzierten, sozialen Atomisierung von einem „gesunden Liberalismus“ und stellt sich ein wirtschaftsliberales und korporativistisches Gemeinwesen vor (vgl. Boehm, Max Hildebert: Der Bürger am Kreuzfeuer, Göttingen 1922, S. 12). 18 Heller, Hermann: Freiheit und Form in der Reichsverfassung (1929/30), in: Heller, Hermann: Gesammelte Schriften. Recht, Staat, Macht, hg. von Christoph Müller, Bd. II, Leiden 1971, S. 371–377, hier S. 377.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
sozialdemokratischen Gesinnung zu gestalten vermag. Ein demokratischer Konstitutionalismus, der nicht in der Lage ist, die unaufhebbaren sozialen Gegensätze durch eine Politik des sozialen Ausgleichs und durch sozialstaatliche Intervention zu mildern, musste zwangsläufig in eine politische Entscheidung münden, die weit davon entfernt, die Gesellschaft durch eine Umverteilungspolitik zu versöhnen, ihre Antagonismen durch eine autoritäre Wirtschaftspolitik zu unterdrücken versuchte. Somit stellt der autoritäre Liberalismus für Heller die antidemokratische und antisoziale Rückseite seines demokratischen Konstitutionalismus dar.
3.
Staat, Wirtschaft und Verfassung bei den Ordoliberalen
Der starke Staat des autoritären Liberalismus sowie des Neoliberalismus – der als Deklination des autoritären Liberalismus verstanden werden soll – stellt also das Heilmittel für den pluralistischen Sozialstaat Weimars dar. Ein derartiger Staat wird von den Ordoliberalen – in Anlehnung an Carl Schmitt – als „Wirtschaftsstaat“19 bezeichnet, also als ein Staat, der seine Prominenz gegenüber der Gesellschaft verloren hat, als ein Staat, dessen Grenze zur Gesellschaft verschwommen ist, in welchem also die Gesellschaft (in Form der Parteien) über die Wirtschaftspolitik entscheiden kann (durch Setzung gewisser Lohnstandards, Preismanipulationen, Umverteilung, Subventionen, usw.). Nach ordoliberaler Auffassung waren nämlich einige wirtschaftliche Phänomene, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und nach dem Ersten Weltkrieg erheblich beschleunigt hatten (wie die Bürokratisierung der Unternehmen, der wirtschaftliche Interventionismus, die Monopole, Kartelle und Trusts) nichts anderes als ökonomische Auswirkungen einer radikalen Staatstransformation, welche das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft grundlegend verändert hatte und den liberalen Staat in einen pluralistischen verwandelt hatte. In diesem Sinne wird die Krise der späten 1920er Jahre nicht auf wirtschaftliche Ursachen zurückgeführt, sondern fast ausschließlich auf die Weimarer Staats- und Verfassungsordnung.20 In seinem 1932 erschienenen Beitrag Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus rekonstruierte der Gründer des Ordoliberalismus, Walter
19 Eucken, Walter: Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36 (1932), S. 297–321, hier S. 307. 20 Vgl. z. B. ebd.; sowie Röpke, Wilhelm: Staatsinterventionismus, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Ergänzungsband, 4., gänzlich umgearb. Auflage, Jena 1929, S. 861–882; Röpke, Wilhelm: Die Intellektuellen und der Kapitalismus (1931), in: Ders.: Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens unserer Zeit, Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1959, S. 87–107; Rüstow: Interessenpolitik, Anm. 12; Müller-Armack, Alfred: Entwicklungsgesetze des Kapitalismus. Ökonomische, geschichtstheoretische und soziologische Studien zur modernen Wirtschaftsverfassung, Berlin 1932.
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Eucken, anhand der Beschreibung des inneren Wandels des deutschen Staates mit Hilfe der schmittianischen Kategorien all jene Phasen, die vom merkantilistischen Staat über den liberalen Staat und den Staat Bismarcks bis zum Wirtschaftsstaat, also dem pluralistischen Staat, geführt hatten. Eucken folgte damit genau jener Entwicklung, die Carl Schmitt in Hüter der Verfassung skizziert hatte. Während bis Ende des 19. Jahrhunderts Staat und Gesellschaft voneinander getrennt waren, wurde seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts langsam der Weg für den Wirtschaftsstaat geebnet, der schließlich zur vollständigen Politisierung der Wirtschaft und damit zur Vermischung von Staat und Gesellschaft führte. Der pluralistische, machtlose Weimarer Staat wurde so von den Interessenten, Monopolisten, Unternehmern, aber insbesondere von der Arbeiter- und Angestelltenklasse besetzt. Jene zu starke „Demokratisierung der Staatenwelt“21 bedeutete also, dass die Massen, die parteipolitisch organisiert waren, „einen stark gesteigerten Einfluss auf die Leitung des Staates und damit auf die Wirtschaftspolitik“22 ausüben konnten. Eucken behauptete, dass jener Wirtschaftsstaat daher strukturell erpressbar gemacht wurde, da er von der Wirtschaft komplett abhängig war: Wenn einerseits jede schwere Depression eine „Erschütterung des Staates“23 provozierte, musste er andererseits ständig auf die Wünsche der in den Parteien vertretenen Massen reagieren. Somit verlor der Staat jede wirtschaftspolitische Entscheidungskraft, da er nicht mehr in der Lage war, sein vermeintlich unabhängiges Interesse geltend zu machen. Um sich von den „chaotischen Kräften der Masse“24 befreien zu können, war gemäß der Ordoliberalen folglich ein Akt der wirtschaftlichen Entpolitisierung notwendig, ein Akt also, dessen spezifische politische Aufgabe darin lag, die Wirtschaftspolitik zu ,entpluralisieren‘, sie demnach von gesellschaftlichen Einflussnahmen zu befreien. Dies konnte nur durch die juridische Institutionalisierung einer Wirtschaftsverfassung erfolgen, welche in der Lage war, die marktwirtschaftliche Ordnung ohne gesellschaftliche Einflussnahme zu reproduzieren und zu schützen. Der in diesem Sinne wichtigste Beitrag ist zweifelsohne das vom ordoliberalen Juristen Franz Böhm entwickelte Konzept der ordoliberalen Wirtschaftsverfassung,25 welches in direkter Polemik gegen die Weimarer Reichsverfassung ausgearbeitet
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Eucken: Staatliche Strukturwandlungen, Anm. 19, S. 302. Ebd., S. 306. Ebd., S. 307. Ebd., S. 312. Zu diesem Thema siehe: Nörr, Knut Wolfgang: „Economic Constitution“. On the Roots of a Legal Concept, in: Journal of Law and Religion 1 (1994/1995), S. 343–354; sowie Malatesta, Olimpia: Sul concetto di „Wirtschaftsverfassung“, in: Franz Böhm. La costituzione economica ordoliberale da Weimar all’Unione europea, in: Cozzolino, Adriano/Malatesta, Olimpia/Sica, Luigi (Hg.): Questione Europa. Crisi dell’Unione e trasformazioni dello Stato, Neapel 2021, S. 55–86.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
wurde. In zwei Werken der 30er Jahre (Wettbewerb und Monopolkampf 26 sowie Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung 27 ) kritisierte Böhm den sogenannten ,Mischcharakter‘,28 oder besser ,Kompromisscharakter‘, und zwar die doppelseitige und daher auch widersprüchliche Natur der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Es handelte sich nämlich um eine Verfassung, welche keine „klare und eindeutige bewußte politische Willensentscheidung“29 enthielt. Demnach kann man von der Existenz einer eigentlichen Wirtschaftsverfassung nur reden, wenn innerhalb einer Wirtschaftsgemeinschaft „eine bestimmte Methode und Form des Wirtschaftens kraft politischer Willensentscheidung zum Gebot erhoben wird“. Als „Inbegriff von Normen“30 muss die Wirtschaftsverfassung notwendigerweise eine klare und unmissverständliche Entscheidung zugunsten eines bestimmten Wirtschaftssystems enthalten. Ausgehend von Carl Schmitts Verfassungslehre31 aus dem Jahre 1928 argumentiert Böhm, dass jene Verfassung – insbesondere ihr fünfter Teil mit dem Titel Das Wirtschaftsleben (Artikel 151–165)32 – die Grundlagen des Liberalismus untergräbt und eine sehr gefährliche Marktwirtschaftsform einführt, die eine immer größere Macht der Arbeitnehmer hinsichtlich politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen mit sich bringt.33 Böhms Problem lag vor allem darin, dass die WRV zwar 26 Böhm, Franz: Wettbewerb und Monopolkampf. Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung (Wirtschaftsrecht und Wirtschaftspolitik 246), hg. von Ernst-Joachim Mestmäcker, Baden-Baden 2010. 27 Böhm, Franz: Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, Stuttgart/Berlin 1937. 28 Es handelt sich um einen Begriff, den Böhm von Schmitt entlehnt: vgl. Schmitt, Carl: Verfassungslehre, Berlin 11 2017, S. 30. 29 Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft, Anm. 27, S. 57. Im Gegenteil hierzu schaffen „solche Entscheidungen, die einer inhaltlich bestimmten Stellungnahme ausweichen und den Wirtschaftsprozeß ohne klares Ziel und ohne technische Ordnung lassen, keine Wirtschaftsverfassung“ (ebd.). 30 Ebd., S. 54. 31 Vgl. Schmitt: Verfassungslehre, Anm. 28, S. 28 f.: „In den Einzelheiten der verfassungsgesetzlichen Regelung sowie in besonderen Erklärungen und Programmen, die in den Text der Verfassung aufgenommen worden sind, finden sich aber manche Kompromisse und Unklarheiten, die keine Entscheidung enthalten, in denen vielmehr die Koalitionsparteien gerade eine Entscheidung zu umgehen suchten“. Böhm nimmt Schmitts Kritik als Ausgangspunkt seiner Kritik am Kompromisscharakter der WRV, insbesondere was ihren wirtschaftlichen Charakter anbelangt. 32 Vgl. Ambrosius, Gerold: Staat und Wirtschaftsordnung. Eine Einführung in Theorie und Geschichte, Stuttgart 2001. 33 Dies sieht Böhm vor allem in der Arbeitsmarktordnung, deren Ziel es war, die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer in der Determinierung der Löhne zu stärken, wodurch eine „annähernde […] Machtgleichheit“ zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber erreicht werden konnte. Auf diese Weise „wird die Monopolmacht der Parteien mit vollem Bewußtsein mobilisiert, die Macht durch die Macht aufzuheben, um den Einfluß der Marktmacht auf die Lohngestaltung so weit als möglich auszuschalten“ (Böhm: Wettbewerb und Monopolkampf, Anm. 26, S. 318).
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die Grundsätze der liberalen Wirtschaftslehre bejahte, diese aber dem Gesetzesvorbehalt unterwarf. Der fünfte Teil der Verfassung sah nämlich vor, dass der Staat in bestimmten Situationen Privatpersonen enteignen und damit Privateigentum beseitigen konnte. Ebenso erlaubte Artikel 151 die freie wirtschaftliche Initiative, legte aber fest, dass diese nur unter Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins ausgeübt werden durfte. Letzteres bedeutete unter anderem auch, dass zum ersten Mal in der deutschen Verfassungsgeschichte ein bestimmtes Lohnniveau garantiert werden musste. Die prinzipielle Kritik, die Böhm gegen die WRV ausübt, ist also, dass Letztere wirtschaftliche Maßnahmen zuließ, welche die freie Preisbildung außer Kraft setzten, damit die Grundsätze der Marktwirtschaft missachteten und letztendlich zu einer gefährlichen Stärkung der politischen Macht der Gesellschaft führte. Das ordoliberale Konzept der Wirtschaftsverfassung (WV) kann somit auch als Reaktion auf die vom sozialdemokratischen Juristen Hugo Sinzheimer entwickelte Wirtschaftsverfassung verstanden werden. Letzterer, einer der wichtigsten Architekten der Wirtschaftsabteilung der WRV, sah nämlich in der WV einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen von Unternehmern und Arbeitnehmern und plädierte für die Notwendigkeit, deren Interessenkonflikt durch die Schaffung von Arbeiterräten und Wirtschaftsräten zu institutionalisieren.34 Ziel der WRV war es laut Sinzheimer, die Verhandlungsmacht der Arbeiterklasse zu stärken und ihr Mitspracherecht bei Entscheidungen über die Wirtschaft anzuerkennen. Böhm protestiert gegen die sinzheimerische WV, indem er ihren Sinn völlig umkehrt: Eine echte WV, welche das Primat des Liberalismus zu bekräftigen vermag, sollte den Klassenkonflikt neutralisieren und die freie wirtschaftliche Organisation aus jeder Art demokratischer Entscheidungseinmischung entfesseln. Mit anderen Worten: Eine echte WV kann keine ständigen Neuverhandlungen der Wirtschaftspolitik dulden. Im Gegenteil, sie sollte dazu dienen, die liberalen Grundsätze des Wirtschaftslebens ein für alle Mal zu bekräftigen, damit die Exekutive und die Legislative sich perfekt an die WV anpassen können, ohne die Möglichkeit zuzulassen, ihren Inhalt zu ändern.35 Auf diese Weise kann die politische Praxis niemals von
34 Vgl. Sinzheimer, Hugo: Das Rätesystem (1919), in: Ders.: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie. Gesammelte Aufsätze und Reden, Bd. 1, hg. von Otto Kahn-Freund und Thilo Ramm, Frankfurt/Köln 1976, S. 325–350; Sinzheimer, Hugo: Wesen und Bedeutung des Koalitionsrechts (1919), in: Ders.: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie, Anm. 34, S. 173–175. 35 „Die Veränderungen, denen sich die Wirtschaft jeweils anzupassen hat, sollen nämlich von außen, nicht von innen, d. h. von der Wirtschaft her kommen. Es ist nicht die Aufgabe der Gewerbetreibenden, etwa den Bedarf zu beeinflussen, sondern sie sollen vielmehr lediglich einen Bedarf befriedigen […]. Ebensowenig ist es die Aufgabe der Gewerbetreibenden, auf die politischen Entschließungen der Völker und Regierungen Einfluß zu nehmen, um zu erreichen, daß sie ihre gewohnten Leistungen absetzen können, sondern sie haben sich umgekehrt jeder politischen Ent-
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
den in der WV festgeschriebenen Prinzipien abweichen. Das letzte Ziel der ordoliberalen WV war also die endgültige, nicht mehr verhandelbare Entpolitisierung der Wirtschaft, deren Neutralität nur durch Schaffung unangreifbarer marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen gewährleistet werden konnte, damit das Eingreifen der Politik und der Gesellschaft in wirtschaftliche Prozesse gänzlich verhindert werden konnte. Die Unabhängigkeit der Bundesbank, die feste Kontrolle der Staatsausgaben, die Preisstabilität, eine strenge Geldordnung, der zur Staatsmoral erhobene Wettbewerb, die weitestgehende Einschränkung von Kartellen und Monopolen und die volle Liberalisierung des Handels sind also die Eckpfeiler der ordoliberalen Wirtschaftsverfassung.
4.
Carl Schmitt und die Entpolitisierung der Wirtschaft
Hellers Kritik an Schmitt stützt sich im Wesentlichen auf dessen Rede, die er auf der 60. Versammlung des Lagnamvereins36 im November 1932 in Düsseldorf hielt, wo der deutsche Jurist vor fünfhundert Industriellen über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft sprach. In seiner Rede mit dem Titel Gesunde Wirtschaft im starken Staat 37 behandelte Schmitt das Problem der Wirtschaft als rein politische Frage. Im Gegensatz zu Hellers Behauptung, wonach die Vorschläge Schmitts und von Papens inhaltlich übereinstimmten, befürwortet Schmitt hier das Programm von Kurt von Schleicher, dem letzten Kanzler der drei Präsidialkabinette, welcher ein transversales Bündnis zwischen Staat, Reichswehr und Gewerkschaften anstrebte, um gesellschaftliche Antagonismen zu versöhnen. Diese politische Logik implizierte natürlich, dass die unmittelbar an den Verteilungskonflikten Beteiligten nicht über die Wirtschafts- und Sozialpolitik entscheiden konnten. Im starken Kontrast zu Sinzheimers Wirtschaftsdemokratie sollte der starke Staat von Schmitt und Schleicher zum letzten wirtschaftlichen Entscheidungsträger werden. Das Ziel bestand darin, den wirtschaftlichen und sozialen Konflikt zu neutralisieren, indem man ihn gänzlich aus dem Staat ausschloss. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass der „Rückzug [des Staates] aus der ökonomischen Produktion und Distribution“38
schließung mit ihrer Tätigkeit entsprechend anzupassen“ (Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft, Anm. 27, S. 33). 36 Lagnamverein stand für Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen. 37 Die Rede wurde ein Jahr später mit dem folgenden Titel veröffentlicht: Schmitt, Carl: Starker Staat und gesunde Wirtschaft, in: Ders.: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg., mit einem Vorw. und mit Anm. versehen von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 71–91. 38 Heller: Autoritärer Liberalismus, Anm. 5, S. 653.
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nicht – wie Heller zu Recht feststellt – die Subventionierung der Unternehmen und des Privatsektors, sondern nur den Abbau der Sozialpolitik betraf. Der hier von Schmitt erwünschte starke Staat drückt „Intensität und […] politische Energie“39 aus, er lässt keine feindliche Kraft zu, die ihn behindern oder zersetzen könnte, und stellt sich somit dem totalen Staat gegenüber: Diese Totalität im Sinne des Volumens ist das Gegenteil von Kraft und Stärke. Der heutige deutsche Staat ist total aus Schwäche und Widerstandslosigkeit, aus der Unfähigkeit heraus, dem Ansturm der Parteien und der organisierten Interessen stand zu halten. Er muß jedem nachgeben, jeden zufriedenstellen und den widersprechendsten Interessen gleichzeitig zu Gefallen sein. Seine Expansion ist die Folge, wie gesagt, nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche[.]40
Die Aufforderung, den Staat in einem autoritären Sinne zu stärken, entspricht also der Notwendigkeit, den „Mehrparteienstaat“41 zu neutralisieren, denn anstatt sich ständiger Unordnung und nicht bewältigten Konflikten zu beugen, sollte ein starker Staat eigentlich für Ordnung und Einheit des Staates sorgen. Um den hyperpolitischen Charakter des Weimarer Staates als Agglomeration politischer und sozialer Formationen (Gewerkschaften, Parteien, Verbände etc.) zu neutralisieren, bedarf es eines Aktes der „Entpolitisierung“, der, wie Schmitt betont, „ein spezifisch politischer Akt“42 ist. Der Staat muss die Kraft finden, sich von der Allgegenwärtigkeit des Ökonomischen zu befreien, die sein Handeln lähmt und seine Autonomie bedroht. Dies würde es ermöglichen, einerseits sein politisches Monopol wiederzuerlangen und andererseits die politische Energie all jener gesellschaftlichen Formationen, die im Staat ihr „Ausbeutungsobjekt“43 sehen, bis zum Verschwinden zu depotenzieren. Die Wiederherstellung der im 19. Jahrhundert bestehenden Trennung zwischen Staat und Gesellschaft impliziert jedoch nicht die Rückkehr zum Laissez-faireLiberalismus, eben weil es keinen Ein-Klassen-Staat mehr gibt. Das Schmittsche Programm zielt vielmehr darauf ab, die soziale Macht innerhalb des Staates zu beseitigen sowie ihn von der politischen Kraft der sozialen Formationen zu befreien, welche über die Parteien Einfluss auf die Wirtschaft nehmen. Demnach sollte die Wirtschaft dem staatlichen Kommando untergeordnet und die Wirtschaftspolitik der Kontrolle der Massen komplett entzogen werden.44
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Schmitt: Starker Staat und gesunde Wirtschaft, Anm. 37, S. 74. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 77. Ebd., S. 76. So auch Galli: „[C]iò che emerge dalla proposta di Schmitt è di sostituire la dialettica sociale e le lotte sindacali con un intervento statale dall’alto, che combatte la disoccupazione in chiave militare,
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass es zwischen Schmitt und den Ordoliberalen keine theoretischen Differenzen gibt? Oder dass alle Ordoliberalen45 sowie Schmitt in der Kritik der Weimarer Gesellschaft eine Legitimierung der nationalsozialistischen Machtübernahme suchten? Selbstverständlich nicht, denn innerhalb des Paradigmas des autoritären Liberalismus gibt es durchaus erhebliche Unterschiede. Obwohl sowohl Eucken als auch Rüstow und Röpke in den Texten der 1930er Jahre die ausschlaggebende Rolle eines starken Staats betonen, der in der Lage sein muss, die Wirtschaft zu entpolitisieren und sie von den Zwängen zu befreien, die ihr von der Arbeiterklasse auferlegt werden, entwickeln sie weder eine fundierte politische Theorie des Staates, noch nehmen sie den Schmittschen Begriff des Politischen46 wieder auf. Schmitts begriffliches Instrumentarium, insbesondere seine Kritik am sozialen Pluralismus,47 wird für unmittelbar politische Zwecke eingesetzt: Die Kritik am Pluralismus und an der WRV diente nur dazu, eine neue Rechtskonfiguration zu finden, die in der Lage sein sollte, die Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus vor seinem angeblichen Untergang zu retten.48 Die Wiederherstellung der Führungsrolle des Staates war daher notwendig, um einen wirtschaftsrechtlichen Rahmen zu implementieren, der in der Lage sein konnte, den Kapitalismus vor Umverteilung, Planung und Interventionismus zu schützen und die Dynamik der freien Preisbildung als eigentlichen Motor des Wirtschaftsliberalismus zu reaktivieren. In diesem Sinne kommt dem Begriff des Politischen im Schmittschen Sinne keine philosophische Bedeutung zu, da er nicht als theoretische Grundlage der ordoliberalen Diagnose dient. Die Mehrdimensionalität, die Schmitt dem Politischen zuschreibt, wird von den Ordoliberalen lediglich auf die staatliche Dimension projiziert; eine konzeptuelle Operation, die dazu dient, den Staat dem reibungslosen Funktionieren des Marktes unterzuordnen. Mit anderen Worten: Für die Ordoliberalen ist der Staat – als Ordnungsinstrument – nur in Bezug auf die Wirtschaftssphäre von Bedeutung, als deren Kontrollinstrument, als deren funktionale Extension. In diesem
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con finalità di ordine pubblico e di sicurezza nazionale.“ (Galli, Carlo: Carl Schmitt. Politica ed economia nella crisi di Weimar, in: Filosofia Politica 33, 1 [2019], S. 45–54, hier S. 51 f.). Der einzige Ordoliberale, der sich zum Nationalsozialismus bekannte, war Alfred Müller-Armack, welcher in seiner Schrift Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich (Berlin 1933) das korporativistische Ideal des italienischen Faschismus sowie die NSDAP pries. Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 9., korrigierte Auflage, Berlin 2015. Vgl. Schmitt, Carl: Staatsethik und pluralistischer Staat (1930), in: Ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, 4., korrigierte Auflage, Berlin 2014, S. 151–165; Schmitt, Carl: Der Hüter der Verfassung, Berlin 5 2016. Vgl. Sombart, Werner: Die Wandlungen des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 28 (1928), S. 243–256.
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Sinne nimmt das Politische nur die konkrete staatliche Gestalt an, indem Letztere als oberste schützende Instanz des Marktes fungiert. Schmitt und die Ordoliberalen teilen sicherlich die gleiche konkrete, politische Dringlichkeit: die Errichtung eines starken Staates, der in der Lage ist, die politische Energie der Gesellschaft zu neutralisieren, um den Ausbruch eines Bürgerkriegs zu vermeiden. Doch während Schmitt die Vormachtstellung des Staates – als höchste politische Einheit, die über jeder anderen potentiellen politischen Einheit steht – retten will, wird diese Operation von den Ordoliberalen zwar als dringend angesehen, aber nur in einem abgeleiteten Sinne: Ihr Hauptinteresse liegt in der Wiederbelebung des Wirtschaftsliberalismus. Worin besteht also der gemeinsame Nenner des autoritären Liberalismus? In der Tatsache, dass all jene Denker einen politischen Akt des staatlichen Willens anvisieren, dessen Funktion es jedoch ist, Wirtschaft und Gesellschaft vollständig zu entpolitisieren. Während Schmitt dies im starken autoritären Staat versucht und dann sogar den Nationalsozialismus enthusiastisch begrüßt, identifizieren die Ordoliberalen in der Wirtschaftsverfassung jenes Instrument, welches die Marktwirtschaft endgültig von sozialen Antagonismen emanzipieren kann. Es handelt sich also um ein wissenschaftliches und politisches Unternehmen, welches sicherlich auch in einem politischen System realisiert werden kann, in welchem alle Freiheitsrechte vorhanden bleiben.49 Was also im autoritären Neoliberalismus – nämlich in seiner ordoliberalen Version – eklatant heraussticht, ist die Hyperpolitisierung der Rolle des Staates angesichts ökonomischer Tatbestände. Während, wie Schmitt meinte, der Liberalismus seit jeher eine echte politische Entscheidung zu meiden suchte,50 eben weil er als eigentliche Negation des Politischen51 zu konzipieren war, wird ganz deutlich, dass der 49 Als paradigmatisches Beispiel gilt natürlich die Soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit. Da hier auf diesen Punkt nicht näher eingegangen werden kann, verweise ich auf Ptak, Ralf: Vom Ordoliberalismus zur sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004. 50 Vgl. Schmitt: Der Begriff, Anm. 46, S. 64–67. Insbesondere schreibt Schmitt: „Die Frage ist aber, ob aus einem reinen und konsequenten Begriff des individualistischen Liberalismus eine spezifisch politische Idee gewonnen werden kann. Das ist zu verneinen. Denn die Negation des Politischen, die in jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Mißtrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik“ (ebd., S. 64). 51 Wie Yousef Sandoval schreibt: „El liberalismo evita la decisión y esto afecta a la manera de entender la soberanía pues, en su defensa exacerbada de la individualidad, es incosciente de la necesidad del estado como mediación necesaria para evitar el conflicto civil […]. El liberalismo carece de sentido de lo político y se refugia en lo privado porque lucha contra el poder del estado en defensa de la libertad individual“ (Yousef Sandoval, Layla: Cuius regio, eius oeconomia: la crítica de Carl Schmitt a la economía liberal desde su perspectiva interna y internacional, in: Revista europea de historia de las ideas políticas y de las instituciones públicas 11 [2017], S. 369–387).
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
deutsche Neoliberalismus diese theoretische Einstellung völlig umkehrt und den Staat als oberste ordnende Instanz des Ökonomischen anerkennt. Wie Wilhelm Röpke schon im Jahre 1923 behaupten konnte, war es Zeit, den frühen Liberalismus, der „den Staat auf seine ‚Nachtwächterfunktionen‘ beschränk[te]“52 und ihm somit nur eine passive Funktion zugestand, in einen aktiven Träger des liberalen Kapitalismus zu verwandeln. Die „geschichtliche Mission“ des deutschen Liberalismus sei es letztendlich, „sich zum Hüter und Förderer eines von antiliberalen Verirrungen gereinigten Staatsgedankens aufzuwerfen“. Weit davon entfernt, Rolle und Funktionen des Staates zu verringern, so wie es die angelsächsische liberale Tradition seit jeher hegte, solle der neue deutsche Liberalismus – genauer gesagt Neoliberalismus – zum „Hüter des von allen Seiten unterhöhlten Staatsgedanke[ns]“53 werden.
5.
Die europäische Ordnung und die politische Entpolitisierung
Eben diese Einstellung, die in den ordoliberalen Beiträgen der Weimarer Zeit zu finden ist, inspiriert auch deren Reflexion über die damals sich konstituierende europäische Einigung. Dies wird insbesondere in Wilhelm Röpkes Überlegungen zu diesen Entwicklungen deutlich.54 Anfang der 50er Jahre fürchtete Röpke noch, dass Europa, angesichts der Ausbreitung des Wohlfahrtsstaates in den meisten europäischen Ländern und in den USA, in einen riesigen bürokratischen Moloch hätte verwandelt werden können – und zwar in einen bürokratischen Apparat – einen öffentlichen, staatlichen „Leviathan“55 –, der ein System der Wirtschaftsplanung in großem Maßstab durchgesetzt hätte. Die Verwirklichung dieser Gefahren sah Röpke sowohl in den Pariser Verträgen von 1951, mit denen die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde, als auch in den Römischen Verträgen und interpretierte sie als erste Symptome eines internationalen Wohlfahrtsstaates.56 Die Dezentralisierung der politischen und wirtschaftlichen Macht erschien ihm daher als wesentliche Voraussetzung für den Aufbau eines an-
52 Röpke, Wilhelm: Wirtschaftlicher Liberalismus und Staatsgedanke (1923), in: Ders.: Gegen die Brandung. Zeugnisse eines Gelehrtenlebens unserer Zeit, hg. von Albert Hunold, Erlenbach-Zürich/ Stuttgart 1959, S. 42–46, hier S. 44. 53 Ebd., S. 46. 54 Für eine tiefgehendere Analyse vgl. Malatesta, Olimpia: Wilhelm Röpke und das Problem der Souveränität in Europa. Eine Kritik der Massen und der Planung, in: Frick, Verena/D’Aniello, Fernando (Hg.), Wie viele Gesichter hat die Souveränität? Eine deutsch-italienische Diskussion (im Druck). 55 Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung – heute, [1. Auflage 1945], Bern/Stuttgart 3 1979, S. 42. 56 Vgl. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, Zürich/Stuttgart 1958, S. 250.
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titotalitären und antikollektivistischen Europas.57 Insbesondere betrachtete er die Zersplitterung der politischen Macht als eine der dringendsten Notwendigkeiten seiner Zeit und fügte hinzu, dass die übermäßige Souveränität eher abgeschafft als auf eine höhere politische und geographische Einheit übertragen werden sollte.58 Souveränität wurde also automatisch mit Wohlfahrtsstaat und Planwirtschaft in Verbindung gebracht. Um die Möglichkeit eines solchen internationalen, europäischen Wohlfahrtsstaates zu zerstören, war es also nach Röpke notwendig, das Entstehen einer politischen Union entschlossen zu verhindern. Vielmehr sollte ein föderales Europa unabhängiger Nationalstaaten gegründet werden, in dem jedoch die Grundsätze des Wirtschaftsliberalismus respektiert werden können. Es handelt sich also um einen „liberalism ‚from below‘“:59 Die auf Geldwertstabilität, Preisflexibilität und Mobilität von Krediten, Kapital, Gütern und Arbeit basierende innerstaatliche Wirtschaftsordnung war die notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer internationalen Wirtschaftsordnung. Um das Entstehen einer supranationalen Makroinstitution zu verhindern, die eine nicht marktkonforme Wirtschaftspolitik betreiben könnte, waren derartige nationalen Voraussetzungen erforderlich, auf deren Grundlage die internationale Ordnung gegründet werden konnte. Schon vor der Schaffung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft musste jeder Staat seinen Arbeitsmarkt liberalisieren, das Defizit reduzieren, die Inflation beseitigen und die Sozialleistungen drastisch kürzen. In diesem Sinne erschien Röpke die von Erhard eingeführte soziale Marktwirtschaft als wirtschaftspolitisches Vorbild, welches in jedes andere europäische Land exportiert werden sollte. Wäre die wirtschaftliche Souveränität im vollen Besitz der einzelnen Staaten gewesen, so wäre es nicht mehr möglich gewesen, eine liberale, vor gesellschaftspolitischen Einmischungen geschützte Wirtschaftsordnung zu schaffen. Die wirtschaftliche Souveränität musste daher sowohl auf staatlicher als auch auf EWG-Ebene eliminiert werden, um stattdessen eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, die für die Anforderungen einer nachfrageorientierten Umverteilungspolitik völlig unempfänglich sein könne. Die wirtschaftliche Föderation, die Röpke anvisiert, ist also das genaue Gegenteil einer politisch fundierten Union: Es handelt sich um ein zwischenstaatliches System, in welchem die Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten durch supranationale Rahmenbedingungen (d. h. durch eine auf europäischer Ebene übernommene Wirtschaftsverfassung) entpolitisiert sowie deterritorialisiert wird.
57 Vgl. Feld, Lars P.: Europa in der Welt von heute. Wilhelm Röpke und die Zukunft der Europäischen Währungsunion (Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik 12/2), Freiburg i. Br. 2012. 58 Vgl. Röpke, Wilhelm: Economic Order and International Law. Extract of the „Recueil des Cours“, Leyden 1955, S. 250. 59 Razeen, Sally: Classical Liberalism and International Economic Order. Studies in Theory and Intellectual History, London 1998, S. 134.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
Somit wird jeder Staat für den anderen verantwortlich und es bildet sich ein System von Marktregeln, Verpflichtungen und Verbindlichkeiten, welches keine Autonomie oder Arbitrarität in Wirtschaftsfragen zulässt. Das föderale zwischenstaatliche System bietet also für den Röpke der 50er Jahre ein hilfreiches Instrument, um die grenzenlose Demokratie und ihren kollektivistischen Staat in eine freie, angeblich interessenlose Marktwirtschaft zu verwandeln. Es gibt einen roten Faden, der Röpkes Überlegungen zur entstehenden EWG mit denen von Müller-Armack verbindet. Müller-Armack war ein ordoliberaler Kultursoziologe und Nationalökonom, der den Begriff sowie die sozialphilosophischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft konzipierte. Ab 1952 arbeitete er zunächst am Wirtschaftsministerium in engem Kontakt mit Ludwig Erhard stehend, während er ab 1958 bis 1963 als Staatssekretär für europäische Angelegenheiten fungierte. Auch er lehnte die Schaffung einer politischen Union ab: Nicht eine umfassende wirtschaftspolitische Demokratisierung der Mitgliedstaaten, sondern die Garantie der Einhaltung der Marktgesetze war das, worauf Europa nach MüllerArmack zielen solle. Mit anderen Worten war die europäische Integration nur auf der Grundlage des freien Marktes möglich.60 Dies bedeutet, dass die einzig mögliche Form der internationalen Kooperation eine Wirtschaftsgemeinschaft war, die auf dem Recht über die einzelnen politischen Einheiten beruhte.61 Müller-Armacks Auffassung nach musste die nationale Wirtschaftspolitik in eine supranationale Wirtschaftsordnung eingebunden werden, welche als Stabilitätsgemeinschaft fungieren konnte, d. h. in eine Wirtschaftsordnung, welche unabhängig von den jeweiligen parlamentarischen Mehrheiten und Exekutiven absolute Konstanz in der Umsetzung der Wirtschaftspolitik garantieren konnte. Eine ähnliche Position teilte auch der Wiener Neoliberale Friedrich August von Hayek, der wie Eucken und Röpke ein Gründer der Mont Pélerin Society war, einer wichtigen ,neoliberalen Internationale‘. In einem sehr berühmten Artikel des Jahres 1939 mit dem Titel The Economic Conditions of Interstate Federalism entwickelt Hayek seine Überlegungen über ein mögliches föderales System, welches den wirtschaftlichen Interventionismus, den Protektionismus und die soziale Macht der Parteien strukturell unmöglich machen und gleichzeitig den Wettbewerb und den freien Handel wieder einsetzen musste. Es handelte sich nämlich um eine
60 Vgl. Müller-Armack, Alfred: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1981, S. 103. 61 Vgl. Müller-Armack, Alfred: Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke, Tübingen 1971, S. 162.
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interstate federation that would do away with the impediments as to the movement of men, goods and capital between the states and would render possible the creation of common rules of law, a uniform monetary system, and common control of communications[.]62
Ziel jenes föderalen Systems war es letztlich, den nationalen Rückgriff auf interventionistische, wirtschaftspolitische Maßnahmen durch internationale, verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen so stark wie möglich zu beschränken. Auf diese Weise konnte die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der einzelnen Staaten deutlich begrenzt werden, so dass „certain economic powers, which are now generally wielded by the national states, could be exercised neither by the federation nor by the individual states“.63 Was auf wirtschaftspolitischer Ebene also absolut notwendig schien, war einfach weniger Staat. Folglich konnte Hayek behaupten: „the abrogation of national sovereignties and the creation of an effective international order of law is a necessary complement and the logical consummation of the liberal program“.64 Ein solch föderalistischer Zwang auf supranationaler verfassungsrechtlicher Ebene stellte für Hayek demnach ein fundamentales Instrument dar, um sozialstaatliche Leistungen, Vollbeschäftigungspolitik und gesellschaftliche Macht möglichst weit einzuschränken. Mit anderen Worten bot dieser zwischenstaatliche Föderalismus die Möglichkeit, jene Grundprinzipien des Liberalismus zu reaktivieren, welche nach Hayek in der Nachkriegszeit von der gierigen Massendemokratie untergraben wurden. Eine unabhängige föderale Bank sollte zudem wirtschaftspolitisches policy making von gesellschaftlichen Einflüssen isolieren. Die Geldpolitik solle also auf strikten Regeln fußen und außerhalb der Reichweite der parlamentarischen Mehrheiten sein. Es ist nun klar, dass die Neoliberalen in ihren föderalistischen Überlegungen zur europäischen Wirtschaftsintegration das Modell der ordoliberalen Wirtschaftsverfassung auf die supranationale Ebene transferiert haben. Mehr noch: Alle hier behandelten Autoren betrachteten die föderalistische Wirtschaftsverfassung als ein weitaus wirksameres politisches Instrument zur Entpolitisierung der Wirtschaft, denn damit konnte die Handlungsfähigkeit der nationalen Regierungen fast endgültig beschränkt und für die Wirtschaftspolitik nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Ein weiterer gemeinsamer Charakter all jener Überlegungen ist die feste Überzeugung, wonach eine politische Union weit davon entfernt sei, ein wünschenswertes Projekt zu sein, sondern vielmehr die Verwirklichung all jener Gefahren mit sich bringen würde, welche die Massendemokratie in sich birgt: Preismanipulationen, Subventionen, Sozialleistungen, Setzung gewisser Lohnstandards
62 Hayek, Friedrich August von: Individualism and Economic Order, Chicago 1948, S. 255. 63 Ebd., S. 266. 64 Ebd., S. 269.
Einige Reflexionen über den Begriff ,autoritärer Neoliberalismus‘
und Vollbeschäftigung stellen für die Neoliberalen unannehmbare Forderungen vonseiten einer gierigen Gesellschaft dar, die es sich anmaßt, die Harmonie der liberalen, angeblich neutralen Wettbewerbsordnung zu zerstören. Hermann Hellers Überlegungen folgend kann also jene internationale Deklination des neoliberalen Diskurses mit Recht als ‚autoritär‘ bezeichnet werden, insofern als die politische Entscheidungskraft und die gesellschaftliche Macht nicht als wertvolle Voraussetzungen einer pluralistischen politischen Union, sondern als verhängnisvolle Hindernisse auf dem Weg zur Etablierung einer supranationalen, liberalen, aber dennoch antipluralistischen Wirtschaftsordnung angesehen werden.
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Weder Nationalismus noch Supranationalismus Das Europa der Ordoliberalen Kaum eine wirtschaftliche Denkströmung hatte einen so prägenden und dauerhaften Einfluss auf das europäische Projekt wie der Ordoliberalismus. Jedoch ist dieses Verhältnis ständig höchst paradox verblieben und verweist auf eine komplexe Übertragung mancher theoretischen Aspekte auf die europäische Politik. Einerseits bekennen sich heutzutage immer mehr europäische Entscheidungsträger zum „deutschen Ordoliberalismus der Nachkriegszeit“, wie zum Beispiel der damalige Präsident des Europäischen Rates Donald Tusk 2015.1 Auch die langfristigen Netzwerke des Ordoliberalismus in Brüssel werden von der aktuellen Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen verkörpert. Ihr Vater, Ernst Albrecht, promovierte bei dem Schüler von Walter Eucken und Wirtschaftswissenschaftler der Freiburger Schule Fritz Meyer, bevor er für die EG-Kommission arbeitete. Ebenfalls ließen sich Gründungsväter Europas, unter anderem Spaak und Adenauer, von prominenten Ordoliberalen wie Wilhelm Röpke beraten.2 Der erste Vize-Präsident der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Franz Etzel, der erste Präsident der EG-Kommission Walter Hallstein und der erste EG-Kommissar für Wettbewerb Hans von der Groeben beriefen sich alle auf einen ordoliberalen Einfluss.3 Andererseits war der Ordoliberalismus auch die wichtigste und stetigste theoretische Oppositionskraft gegen die bis heute umgesetzten europäischen Integrationsprojekte. Verschiedene Generationen von Ordoliberalen haben sich im Laufe der Jahrzehnte der Gründung der EGKS, des Gemeinsamen Marktes, des Europäischen Währungssystems und des Euros grundlegend entgegengesetzt.4 Diese paradoxen Verhältnisse erfordern eine weitere Erforschung der
1 Le Monde, 16. Juli 2015, zitiert in: Dardot, Pierre/Laval, Christian: La nouvelle raison du monde. Essai sur la société néolibérale, Paris 2009, S. 343. 2 Vgl. Röpke, Wilhelm: Die monetäre Integration Europas, in: Wirtschaftsberichte der CreditanstaltBankverein (1949), S. 1–5; Röpke, Wilhelm: Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?, Stuttgart 1950. 3 Vgl. Von der Groeben, Hans: Deutschland und Europa in einem unruhigen Jahrhundert. Erlebnisse und Betrachtungen von Hans von der Groeben, Baden-Baden 1995, S. 266–274 und 344–347. 4 Vgl. Ptak, Ralf: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft: Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen 2004; Plickert, Philip: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zur Entwicklung der „Mont Pèlerin Society“ (Marktwirtschaftliche Reformpolitik. N.F. 8), Stuttgart 2008.
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Europäischen Vorstellungen der Ordoliberalen. Eine solche Analyse der ordoliberalen Europa-Konzeption ist bis jetzt in der Geschichtswissenschaft nur selten unternommen worden.5 „Europa“ war ursprünglich kein zentraler Bestandteil des deutschen Zweiges des Neoliberalismus und wurde vor den 1950er Jahren von ihren Gründern kaum in Betracht gezogen. Weder die Freiburger Schule um Walter Eucken, Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth noch die ins Exil geflüchteten Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow hatten vor der Entwicklung der deutschen Frage und vor den ersten gemeinschaftlichen Verhandlungen der Nachkriegszeit eine klare Konzeption eines geeinten Europas. Dies hinderte sie aber nicht daran, ein frühzeitiges und langfristiges Interesse für ein Paneuropa als Bestandteil einer Weltintegration zu entwickeln.6 Das Konzept der Integration scheint eine gemeinsame Kernfrage des europäischen Projekts und des frühen Ordoliberalismus in den 1930er und 1940er Jahren zu sein. Die Notwendigkeit integrierter Beziehungen zwischen den Nationen wurde in Betracht auf den Weltfrieden ähnlich anerkannt. Wenn die europäische Integration aber schon in ihren ersten Jahrzehnten tief von einer supranationalen Konzeption à la Monnet geprägt wurde, stützte sich im Gegensatz das ordoliberale Konzept einer wirtschaftlichen Integration politisch auf die Souveränität der Nationen. Für die frühen Ordoliberalen, die noch vor der Gründung der Zeitschrift ORDO 1948 und vor der Entwicklung der Bezeichnung „ORDO-Liberalismus“ die grundsätzlichen Leitlinien der Strömung setzten, war die Integration eine Antwort auf das von Eucken theoretisierte „ordnungspolitische Problem“ und auf die Frage der Interdependenzen in komplexen Gesellschaften.7 Auf der einen Seite ermunterte die allgemeine Wirtschaftslehre nach Ricardos Muster eine Maximierung des Freihandels durch die Integration und eine Entwicklung der Interdependenzen, die in einen wirtschaftlichen Internationalismus münden sollten. Auf der anderen Seite ruhte die ordoliberale Theorie auf der Idee einer Interdependenz und einer Kohärenz der wirtschaftlichen, sozialen, politischen sowie kulturellen Ordnungen
5 Vgl. Stohler, Jacques: Neoliberalismus und Europäische Integration, in: Europa-Archiv 17 (1962), S. 99–118; Schittek, Carsten: Ordnungsstrukturen im Europäischen Integrationsprozeß. Ihre Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft 61), Stuttgart 1999; Wegmann, Milène: Früher Neoliberalismus und europäische Integration. Interdependenz der nationalen, supranationalen und internationalen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (1932–1965), Baden-Baden 2002; Warneke, Sara: Die europäische Wirtschaftsintegration aus der Perspektive Wilhelm Röpkes (Marktwirtschaftliche Reformpolitik. N.F. 13), Stuttgart 2013. 6 Vgl. Röpke, Wilhelm: Paneuropa? Vortrag in der Staatswissenschaftlichen Fachschaft, Jena, 2. Juli 1926. Vgl. Hennecke, Hans Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005, S. 58. 7 Eucken, Walter: Das ordnungspolitische Problem, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 1 (1948), S. 56–90.
Weder Nationalismus noch Supranationalismus
der Gesellschaft als „wesentlicher Tatbestand des Lebens und gerade des modernen Lebens“.8 Infolgedessen sollte weder die Politik über die Wirtschaft noch die Wirtschaft über die Politik gestellt werden, sondern die verschiedenen Ordnungen gleichwertig wahrgenommen werden. In anderen Worten sollte die Wirtschaftsordnung dem souveränen Willen der Nation entsprechen.9 Gegenüber der von der Historischen Schule theoretisierten Unabhängigkeit der Wirtschaftspolitik vom Politischen und vom Sozialen verteidigten die Ordoliberalen die fundamentale Bedeutung des Ethischen und des Sozialen, die unter anderem von Rudolf Eucken, dem Vater von Walter Eucken, vertreten worden war. Im vorliegenden Beitrag werden diese zwei grundsätzlichen Säulen der Integrationstheorie des frühen Ordoliberalismus erläutert: erstens die Idee eines liberalen Internationalismus gegen den wirtschaftlichen Nationalismus der 1930er Jahre; zweitens die Souveränität der Nationen gegen einen gemeinschaftlichen Supranationalismus in der Nachkriegszeit.
1.
Gegen den Nationalismus: ein liberaler Internationalismus
Die Entstehung der ordoliberalen Strömung erfolgte im Kontext der Zwischenkriegszeit durch eine gemeinsame Diagnose der Krise der Moderne. Die Weltwirtschaftskrise war für die Ordoliberalen keine vorübergehende zyklische Krise des Kapitalismus, sondern eine grundsätzliche Krise des wirtschaftlichen und vor allem politischen Liberalismus. Die ursprünglich selbst ernannten „deutschen Ricardianer“ (Eucken, Röpke, Rüstow)10 erkannten im weltweiten Rückgang des Handels, in der Wiederherstellung der Grenzen und Zollschranken, in den Währungsmanipulationen und im Abklingen des internationalen Rechts die Gefahr einer allmählichen Desintegration der Weltwirtschaft, die gegen Ricardos Vorstellung eines freien Welthandels sprach.11 Gegen die deutsche Tradition des nationalen Protektionismus befürworteten sie die Theorien der Freihändler des späten 19. Jahrhunderts. Europa stand im Mittelpunkt der weltweiten wirtschaftlichen Desintegration, die in Hitlers Traum eines regional geschrumpften Großraumes mündete. Diese Entwicklung
8 Ebd., S. 72. 9 Vgl. Eucken, Walter: Grundlagen der Nationalökonomie, Jena 1940, S. 229. 10 Vgl. Köster, Roman: Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 225–228; Commun, Patricia: Les ordolibéraux. Histoire d’un libéralisme à l’allemande, Paris 2016, S. 24. 11 Vgl. Rüstow, Alexander: Schutzzoll oder Freihandel?: das Für und das Wider der Schutzzollpolitik, Frankfurt a. M. 1925; Röpke, Wilhelm: Die säkulare Bedeutung der Weltkrisis, in: Weltwirtschaftliches Archiv 37 (1933), S. 1–27, hier S. 18 f. Vgl. auch Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 242–246.
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erforderte eine liberale Antwort in der Form einer grundsätzlichen Neugründung eines wirtschaftlichen und politischen (Neo-)Liberalismus. Solche Überlegungen riefen im Kontext des nationalsozialistischen Machtantritts in Deutschland ein besonderes Echo hervor. In dem „Ordo Manifesto“, der später als Gründungstext des Ordoliberalismus gelten sollte, betonten Eucken und die Freiburger Schule die Interdependenz der wirtschaftlichen und politischen Ordnungen sowie die Notwendigkeit einer Wirtschaftsordnung, in der der Staat für die Einhaltung fester Regeln zu sorgen hätte.12 Diese Kritik des Laissez-faireKapitalismus sowie eines unbegrenzten Staatsinterventionismus fokussierte im Rahmen der Gleichschaltung der deutschen Universitäten allerdings hauptsächlich auf wirtschaftlichen Aspekten und vernachlässigte die Frage der politischen Freiheit. Es waren aber ins Exil gegangene Wissenschaftler wie Röpke und Rüstow, die die weltweite Desintegration im Laufe der 1930er Jahre und während des Krieges theoretisieren sollten.13 Das Konzept der „Desintegration“ stammte unter anderem aus dem Werk des Weimarer Ökonomen Moritz Julius Bonn14 und fand in den internationalen Netzwerken des frühen Neoliberalismus eine breite Resonanz.15 Der Diagnose der Desintegration zufolge betrachteten Röpke und Rüstow die Liberalisierung und die Eröffnung des Welthandels als entscheidendes Merkmal für das Wiederaufleben der Wirtschaftsintegration sowie den Weltfrieden. Laut ihres Programms sollte die internationale liberale Ordnung auf der Kooperation freier Nationen wiederaufgebaut werden und durch die wirtschaftliche „Interdependenz als neues Sicherheits- und Friedenssystem“ belebt und geschützt werden.16 Solche Interdependenzen könnten sich erst entwickeln, wenn ein auf juristischen Verträgen gestützter Rahmen geschaffen wäre: Eine funktionierende Weltwirtschaft und die Goldwährung bedürfen eines bestimmten, festgefügten Rahmens allgemein anerkannter, zwischenstaatlicher Beziehungen unzweideutig regelnder Normen, eines Systems von dauerhaften Verträgen und eines allseitigen Willens, die Vertragsbedingungen einzuhalten, eines bestimmten Niveaus an Fairness, an ethischem Verhalten und eines Minimums an internationaler Rechtssicherheit.17
12 Vgl. Böhm, Franz/Eucken, Walter/Großmann-Doerth, Hans: The Ordo Manifesto of 1936, in: Peacock, Alan/Willgerodt, Hans (Hg.): Germany’s social market economy: Origins and evolution, London 1989, S. 15–26. 13 Vgl. Röpke, Wilhelm: Economic International Disintegration, London 1942. 14 Vgl. Bonn, Moritz Julius: The Crumbling of Empire: The Disintegration of World Economy, London 1938. 15 Vgl. Robbins, Lionel: The Economic Causes of War, London 1939. 16 Röpke: Die säkulare Bedeutung, Anm. 11, S. 17. 17 Röpke, Wilhelm/Rüstow, Alexander: Eine Neuorientierung sozialwissenschaftlicher Studien. Ein Exposé, Paris 1938, S. 6. Zitiert in Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 251.
Weder Nationalismus noch Supranationalismus
Konfrontiert mit der Notwendigkeit eines internationalen kooperativen Rahmens und mit der Ohnmacht des Völkerbundes in den 1930er Jahren erarbeiteten viele Neoliberale die Idee eines weltweiten Föderalismus, die sich während des Zweiten Weltkrieges verbreitete. Verschiedene Föderationsprojekte für die Nachkriegswelt wurden damals von William Rappard, Michael Heilperin, Luigi Einaudi, Friedrich Hayek und Lionel Robbins konzipiert.18 Röpke plante 1939 eine Arbeit über eine Weltföderation zu verfassen.19 Auch im Freiburger Kreis wurden föderative Pläne vom Bonhoeffer-Kreis und von der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath entwickelt.20 In diesen Projekten stellte die internationale Föderation zwar einen Gegensatz zum Nationalismus der 1930er Jahre dar, aber auch zum Kosmopolitismus und Universalismus, die sich auf die Idee eines Weltbürgertums stützten.21 Dieser liberale Internationalismus war gleichzeitig von der pazifistischen Tradition des Europa-freundlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts sowie von dem universalen Nationalismus und dem Gedanken eines Europas der Völker geprägt. Röpke fasste diese komplexe Vorstellung wie folgt zusammen: Lorsque nous disons que l’ordre international et l’ordre national sont étroitement entremêlés et que l’on ne peut réaliser le premier sans supposer le second, nous ne nous inspirons naturellement pas d’une forme quelconque de nationalisme qui n’entend par ordre national qu’un programme égoïste et brutal: nous aspirons exactement au contraire: non pas à un ordre national qui se suffit à lui-même et qui en cas de conflit sacrifie l’aspect international, mais à un ordre national qui n’est que l’étape indispensable vers l’internationalisme. Nous n’incriminons pas un excès, mais une insuffisance d’esprit international. Nous demandons qu’il naisse d’abord au sein de chaque nation.22
Diese Form eines universalen Nationalismus lehnte den protektionistischen Nationalismus nationalsozialistischer Art entscheidend ab, aber betonte gleichzeitig die
18 Vgl. Wegman, Milène: Neoliberale Europa-Föderationskonzepte 1918–1945, in: Journal of European Integration History 8 (2002), S. 11–35. 19 Vgl. Röpke, Wilhelm: The Economics of International Federation, 31. Oktober 1939, in: Institut universitaire des hautes études internationales (Hg.): Quarantième anniversaire 1927–1967, Genf 1967, S. 95 f., hier S. 95 f. 20 Vgl. Hauf, Reinhard: Denkschriften des „Freiburger Kreises“, in: Schwabe, Klaus/Reichard, Rolf (Hg.): Gerhard Ritter: Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 723–728; BlumenbergLampe, Christine (Bearb.): Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943–1947, Stuttgart 1986, S. 401–409, hier S. 409. 21 Vgl. Röpke, Wilhelm: Die wirtschaftlichen Elemente des Friedensproblems. I. Frieden und Wirtschaftssystem, in: Die Friedens-Warte 37 (1937), S. 18–24, hier S. 18 f. 22 Röpke, Wilhelm: Internationalisme faut et véritable, in: Gazette de Lausanne, 4. August 1944, zitiert in: Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 246 f.
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grundsätzlich politische Bedeutung der Nation „als wichtiges Bindeglied zwischen Heimat und Welt“.23 Solche Gedanken über die Integration freier Nationen waren auch von den deutschen nationalen Theorien des 19. Jahrhunderts geprägt. Friedrich List und seine Konzeption einer deutschen Zollunion beeinflussten Röpkes Werk durch die Idee, dass eine Kooperation der Nationen wirtschaftliche Interdependenzen und folglich unlösbare politische Bindungen entwickeln würde.24 Es bestand für Röpke „kein unüberbrückbarer Gegensatz“ zwischen einer nationalen oder kontinentalen Zollunion und dem Endziel eines wirtschaftlichen Internationalismus.25 Die deutsche und später die europäische Einigung wurden als Etappen eines allmählichen Weltintegrationsprozesses verstanden, insofern sie nicht zur Einschränkung des Freihandels und zum Protektionismus führten, sondern zur Entwicklung von Interdependenzen. Für Röpke sowie für die meisten Neoliberalen im Laufe der 1930er Jahre bedeutete die „Integration“ eine „Kooperation“ der Nationen unter anderem in Europa. Eine solche Kooperation ließ sich nur innerhalb von „regionalen und kontinentalen Untergruppen“ organisieren.26 Ab 1939/40 bildeten die Gedanken über die mögliche Zukunft Europas in der Nachkriegswelt und über eine europäische Föderation als Bauteil und Etappe der Weltföderation eine liberale Alternative zu den nationalsozialistischen EuropaProjekten. Sie begünstigten auch personelle Kontakte mit dem pro-europäischen Milieu wie das Treffen zwischen Röpke und Richard Coudenhove-Kalergi im Oktober 1939.27 Auch wenn sich aus solchen Verbindungen nichts Konkretes ergab, waren sie ein Zeichen des wachsenden Interesses der Neoliberalen für die europäische Frage während des Zweiten Weltkrieges. Walter Lippmann und Daniel Villey legten 1944–1945 Vorstellungen über die Zukunft Europas vor.28 Auch Rüstow verfasste am Ende des Krieges eine Schrift mit dem Titel Paneuropa, in der er die Anlehnung an die Vereinigten Staaten und Großbritannien als die einzig denkbare Zukunft für Europa darstellte.29 Dieses Interesse wurde auch durch den Verlauf des Krieges beeinflusst. Die wachsende Furcht vor einer kommunistischen Herrschaft
23 Warneke: Die europäische Wirtschaftsintegration, Anm. 5, S. 17. 24 Vgl. List, Friedrich: Das nationale System der Politischen Ökonomie, Stuttgart/Tübingen 1841; Röpke, Wilhelm: Die säkulare Bedeutung, Anm. 11, S. 17. 25 Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 267 f. 26 Röpke, Wilhelm: Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942, S. 378. Vgl. auch Rappard, William: Uniting Europe, New Haven 1930. 27 Vgl. Solchany, Jean: Wilhelm Röpke, l’autre Hayek. Aux origines du néolibéralisme, Paris 2015, S. 337 f. 28 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 299–303. 29 Vgl. Rüstow, Alexander: Paneuropa?, Istanbul 1944/45.
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über den Kontinent machte eine liberale Europa-Konzeption für sie dringend erforderlich. Der Krieg und die Zerstörung der europäischen Gesellschaftsordnung boten allerdings auch Chancen für eine Neugründung. Die gemeinsamen Erfahrungen der Kriegsjahre und der totalitären Herrschaft konnte unter den Europäern ein geteiltes Zugehörigkeitsgefühl verbreiten.30 Eine Annäherung und eine Integration der europäischen Völker benötigten neben der Entwicklung wirtschaftlicher Interdependenzen die Anerkennung einer gemeinsamen kulturellen und sozialen Grundbasis. Die meisten Neoliberalen betrachteten diese kulturellen und sozialen Zusammenhänge als eine Grundvoraussetzung für die wirtschaftliche und politische Konvergenz der Nationen. Es handelte sich darum, die europäischen Nationalismen durch einen gemeinsamen „europäischen Patriotismus“31 zu ersetzen. Dieser sollte sich auf ein historisches Erbe und kulturelle sowie politische Werte stützen. In diesem Zusammenhang waren unter anderem die Universitäten, das Papsttum, der Humanismus, die Französische Revolution, die Romantik, der Liberalismus und eine spezifische Lebensart von großer Bedeutung. Diese Gedanken beruhten auf den schweizerischen und amerikanischen Mustern der Nationsgründung sowie auf der Arbeit vom sozialdemokratischen Wirtschaftshistoriker Bruno Kuske über die historische Wirtschaftseinheit Europas seit dem Mittelalter.32 Die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls sollte laut Röpke durch die Entstehung einer „Schicksalsgemeinschaft“ erfolgen. Dieses Konzept übernahm er aus dem Werk des Austromarxisten Otto Bauer über die Nationalitäten.33 Dieser Topos der deutschen Romantik bedeutete für Röpke, dass die nationale oder regionale Einheit nicht nur durch wirtschaftliche und politische Interdependenzen und Interessen kurzfristig gegründet werden konnte, sondern dass der Zusammenschluss verschiedener Völker ein langfristiges Ziel sei, das dauerhaft durch gemeinsame soziale und kulturelle Wurzeln verankert sein sollte. Diese entscheidende Bedeutung sozialer und kultureller Aspekte war auch das Merkmal der ordoliberalen Theorie innerhalb der deutschen Wirtschaftswissenschaft und des internationalen Neoliberalismus.34 Neben wirtschaftlichen Problemen auch
30 Vgl. Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung, Erlenbach-Zürich 1945, S. 59. 31 Röpke: The Economics of International Federation, Anm. 19, S. 95; Röpke, Wilhelm: Europa als geistige, politische und wirtschaftliche Aufgabe, in: Wirtschaft und Erziehung 3 (1951), S. 478–484, hier S. 480. Vgl. auch Warneke: Die europäische Wirtschaftsintegration, Anm. 5, S. 61 f. 32 Vgl. Kuske, Bruno: Die Bedeutung Europas für die Entwicklung der Weltwirtschaft, Köln 1924; Kuske, Bruno: Die historischen Grundlagen der Weltwirtschaft, Jena 1926. 33 Röpke: Internationale Ordnung, Anm. 30, S. 58 f.; Bauer, Otto: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 2 1924, S. 24; vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 288. 34 Vgl. Rabault, Hugues (Hg.): L’ordolibéralisme, aux origines de l’école de Fribourg-en-Brisgau, Paris 2016; Fèvre, Raphaël: A Political Economy of Power. Ordoliberalism in Context, 1932–1950, Oxford 2021.
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soziologische sowie historische Fragen in Kauf zu nehmen, entsprach wesentlich der Logik der Interdependenzen der Ordnungen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges gewann im Rahmen der zukünftigen neuen liberalen Weltordnung die europäische Frage bei den Ordoliberalen immer mehr an Bedeutung. Obwohl sie das Konzept einer europäischen Föderation befürworteten, verblieb ihre Vorstellung eines konkreten Einigungswegs der europäischen Völker eher vage. Dies sollte sich in den ersten Nachkriegsjahren unter anderem mit der Entstehung der deutschen Frage ändern. Nichtsdestotrotz waren die Gedanken der Freiburger Schule sowie der emigrierten Ordoliberalen tief von den Grundprinzipien eines liberalen Nationalismus geprägt, der sich bald den ersten supranationalen Europa-Projekten widersetzen sollte.
2.
Gegen den Supranationalismus: die nationale Souveränität wahren
Der entstehende Kalte Krieg stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der neoliberalen Theorien dar, indem er die Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen den Kollektivismus konzentrierte. Es war aber nicht nur die Furcht vor einer weltweiten Verbreitung von Stalins Herrschaft, die die Ordoliberalen besorgte, sondern viel mehr die grundsätzliche und dauerhafte Beeinflussung des liberalen Westens durch einen zum Totalitarismus führenden Staatsinterventionismus.35 In anderen Worten lag für sie die Gefahr nicht nur in der Ausbeutung der sowjetischen Zone in Deutschland, sondern auch in der Verbreitung des Keynesianismus durch die Politik der alliierten Besatzungsbehörden sowie durch die neuen Europa-Projekte. Im Kontext des Kalten Kriegs fokussierte sich das Interesse der Ordoliberalen auf die Verstärkung des Atlantismus. Im Gegensatz zu den weltweiten Projekten der Nachkriegszeit verringerte sich nunmehr das geographische Spektrum ihrer Gedanken auf die westliche Welt und priorisierte die Bewahrung der atlantischen Verhältnisse zwischen den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Staaten. In diesem Rahmen bekam die Zusammenstellung und Stärkung Westeuropas eine entscheidende Bedeutung für die Zukunft der Welt sowie für die deutsche Frage.36 Dies wurde 1945 in Röpkes Schrift Die deutsche Frage erläutert.37 In dieser Perspektive verlor aber die europäische Vorstellung der Ordoliberalen den politischen Sinn eines eigenständigen regionalen Bündnisses zugunsten einer Eingliederung in einer breiteren „Atlantic Community“. Diese beruhte auf den liberalen Grundprinzipien der Atlantik-Charta, die bei den Ordoliberalen große Unterstützung 35 Vgl. Rüstow, Alexander: Ist ein freiheitlicher Sozialismus möglich?, in: Revue de la Faculté des Sciences Économiques de l’Université d’Istanbul 9 (1948), S. 187–194. 36 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 285. 37 Vgl. Röpke, Wilhelm: Die deutsche Frage, Erlenbach-Zürich 1945, S. 250.
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erhielt. Im Allgemeinen begrüßten sie den wirtschaftlichen Internationalismus der Vereinigten Staaten und deren Neugründung der Weltordnung. Das Ziel einer maximalen Entwicklung des Freihandels, die Wiederentstehung einer weltweiten Rechtsordnung sowie darauf stützender wirtschaftlicher Regeln und die Verbreitung eines internationalen Wettbewerbs entsprachen weitgehend den ordoliberalen Forderungen.38 Auch die neu gegründeten internationalen Organisationen (IMF, OEEC) und das erste GATT-Abkommen boten einen mehr oder weniger geeigneten Rahmen mit klaren liberalen Regeln für die neue Weltordnung.39 Sie führten zu einem radikalen Bruch mit der anarchistischen Lage der 1930er Jahre, ohne ein komplett „ausgebautes“ Welthandelssystem voller Hindernisse und Kontrollen zu gründen. Infolgedessen erschien eine europäische Integration nicht nur langsam überflüssig, sondern auch konkurrierend zu den neuen atlantischen Organisationen des Westens. Außerdem garantierte die Atlantische Ordnung die Verankerung Westdeutschlands in der „freien Welt“, als die deutsche Frage eskalierte. In diesem Kontext stellte für Röpke und Rüstow eine Neutralisierung Deutschlands und Europas zwischen den zwei Blocks die größte Gefahr dar, ebenso wie der Triumph von Dritter-Weg-Lösungen.40 Sie befürworteten hingegen die klare Verankerung Westdeutschlands in der westlichen Welt, wo es die Rolle eines Paradebeispiels und Werbungsvorbildes für die Liberalisierung ganz Deutschlands und Europas übernehmen sollte. Auch wenn diese Vorstellungen von der neu gegründeten Mont Pèlerin Society unterstützt wurden, wurden sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur von einer Minderheit vertreten. Das Modell eines Europas der dritten Kraft wurde in Deutschland nicht nur von Sozialisten und Sozialdemokraten unterstützt, sondern auch von Christdemokraten.41 Schließlich betrachteten die Ordoliberalen
38 Vgl. Heilperin, Michael: Notes on the Havana Trade Charter, in: Ders. (Hg.): Studies in Economic Nationalism, Genf/Paris 1960, S. 190–200 [Erste Ausgabe: Toronto 1948]. 39 Vgl. Erhard, Ludwig: Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt, Düsseldorf 1953, S. 9; Erhard, Ludwig: Das GATT als Clearing-Haus der Handelspolitik. Rede zur Einleitung der Verhandlungen über die Revision des GATT, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 12. November 1954, Nr. 214, S. 1941–1944, hier S. 1941. 40 Vgl. Röpke, Wilhelm: Die deutsche Frage, Anm. 37, S. 248–250. Vgl. auch Loth, Wielfried: From the „Third Force“ to the Common Market: Discussions about Europe and the Future of the Nation-State in West Germany, 1945–57, in: Geppert, Dominik (Hg.): The Postwar Challenge: Cultural, Social, and Political Change in Western Europe, 1945–1958, Oxford 2003, S. 191–209. 41 Vgl. Loth, Wilfried: Rettungsanker Europa? Deutsche Europa-Konzeptionen vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik, in: Volkmann, Hans-Erich (Hg.): Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 201–221, hier S. 208; Loth, Wilfried: Deutsche Europakonzeptionen in der Gründungsphase der EWG, in: Hrbek, Rudolf/ Schwarz, Volker (Hg.): 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag, Baden-Baden 1998, S. 24–35.
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eine autonome Einheit Westeuropas nicht mehr als einen notwendigen Trumpf, sondern als einen potentiellen Desintegrationsfaktor für die westliche Welt. Die verschiedenen sowjetischen Coups 1946–1948 und die Entstehung des Ostblocks spielten eine entscheidende Rolle in dieser Wandlung von proeuropäischen Vorstellungen zu einem skeptischen Standpunkt der Ordoliberalen gegenüber der europäischen Integration. Diese Sorgen wurden weitgehend von den interventionistischen Grundsätzen des European Recovery Program bestätigt.42 Im Kontext der deutschen Währungsreform, die ihren Wünschen weitgehend entsprach, hatten die Ordoliberalen vorerst einen liberalen Begleitungsplan erwartet, der die Rückkehr Westeuropas zum Marktwirtschaftssystem hauptsächlich durch die Abschaffung der NS-Kontrollwirtschaft und Stabilisierungsmaßnahmen hätte ermöglichen sollen.43 Im Gegenteil erwies sich der 1948 eingeführte amerikanische Plan als tief vom Keynesianismus beeinflusst. Im Rahmen der neu gegründeten OEEC würde sich die Planwirtschaft der Kriegsjahre weiterentwickeln. Eucken, Röpke, aber auch Ludwig Erhard, der neu zum Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Trizone ernannt worden war, kritisierten sofort die dirigistische Tendenz des Marshall-Plans und warnten vor der Gefahr, eine Planwirtschaft in Europa einzuführen.44 Für Eucken war diese Wirtschaftslenkung umso gefährlicher, da sie langfristig nicht mit der Neugründung des politischen Liberalismus vereinbar war. Vielmehr sollten die wirtschaftlichen und politischen Ordnungen miteinander übereinstimmen.45 Seiner eigenen Theorie der Interdependenzen der Ordnungen zufolge, prangerte er damit das Fehlen an einer klaren Wahl zwischen den Ordnungen an. Diese interventionistische Wirtschaftslenkung der westlichen Rekonstruktionspläne fand damals bei den Anhängern der europäischen Integration eine breite Unterstützung und wurde anlässlich der Tagung der europäischen Bewegung in Den Haag im Mai 1948 weitgehend befürwortet.46 Dies verbreiterte die Kluft zwischen den Ordoliberalen und den proeuropäischen Netzwerken, die sich immer deutlicher auf planwirtschaftliche Lösungen beriefen, und schürte ein wachsendes Misstrauen
42 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 307–312. 43 Vgl. Röpke, Wilhelm: Les problèmes fondamentaux de l’union économique européenne, in: Industrie. La revue de l’industrie belge 2 (1948), S. 744–747. Vgl. auch Solchany: Wilhelm Röpke, Anm. 27, S. 339. 44 Vgl. Erhard, Ludwig: Der Weg in die Zukunft. Rede vor der 14. Vollversammlung des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, gehalten in Frankfurt am Main am 21. April 1948, in: Hohmann, Karl (Hg.): Ludwig Erhard: Gedanken aus fünf Jahrhunderten. Reden und Schriften, Düsseldorf 1988, S. 95–119, hier S. 114. 45 Vgl. Eucken, Walter: Deutschland vor und nach der Währungsreform, in: Hunoldt, Albert (Hg.): Vollbeschäftigung, Inflation und Planwirtschaft, Erlenbach-Zürich 1951, S. 134–180, hier S. 173–177. 46 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 326 f.
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gegenüber den Europa-Projekten. Im Gegenteil zu anderen Figuren des Liberalismus wie William Rappard, Denis de Rougemont und Salvador de Madariaga weigerten sich aus diesem Grund die Ordoliberalen, an dem Denkprozess über die ersten Europa-Projekte teilzunehmen.47 Alles in allem befürchteten sie die Entstehung eines supranationalen „Super-Staats“, der ganz Westeuropa in eine gemeinsame interventionistische Staatsordnung keynesianischer Art zwingen würde.48 Diesen Analysen zufolge warnten die Ordoliberalen Anfang der 1950er Jahre vor einer Amerikanisierung Europas. Diese war nicht nur als materialistische Konsumkultur verstanden, sondern auch als eine Wirtschaftskultur, die den Einfluss des amerikanischen Materialismus verbreiten würde. Auch wenn Heilperin, Röpke, Rüstow und Müller-Armack die politische Liberalisierung unter amerikanischer Ägide befürworteten, betonten sie gleichzeitig die Notwendigkeit, die europäische Identität, unter anderem die humanistische Kultur und die spezifische Sozialstruktur, zu wahren.49 Am stärksten kritisierte Röpke die Ideologie des Wachstums, die Konsumgesellschaft, den Keynesianismus und die „Kulturlosigkeit“, die sich seit dem New Deal in den Vereinigten Staaten entwickelt hatten.50 Unter diesen Aspekten lag eine allgemeine Kritik in der von der anderen Seite des Atlantik importierten „Modernisierung“, die das europäische Ideal einer liberalen und humanen Gesellschaft verletzen würde51 und grundsätzlich in der deutschen Tradition der Kulturkritik seit Heinrich Heine und Thomas Mann wurzelte.52 Schließlich lehnte Röpke den amerikanischen Melting-Pot als supranationales Einigungsmuster ab, da in Europa die Nation die gesellschaftliche Struktur von Kultur, Identität, Tradition und Politik darstellte.53 Die Kritik der Amerikanisierung hatte eine Verteidigung der europäischen Identität innerhalb der Atlantischen Gemeinschaft zur Folge. Diese sollte aber auf keinen Fall zum Absplittern des westlichen Bündnisses führen und milderte sich allmählich im Laufe der 1950er Jahre durch die Entwicklung des
47 Vgl. Solchany: Wilhelm Röpke, Anm. 27, S. 340. 48 Vgl. Röpke, Wilhelm: Economic Order and International Law, Leyden 1955, S. 220. 49 Vgl. Müller-Armack, Alfred: Die Einheit Europas geistes- und wirtschaftlich gesehen, in: Darius, Rudolf/Paß, Albert (Hg.): Europa. Erbe und Auftrag. Eine Festschrift für Bruno Kuske zum 29. Juni 1951, Köln 1951, S. 579–591, hier S. 590; Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 313–318. 50 Röpke, Wilhelm: Zu spät ist nicht zu spät. Europa als geistige, politische und wirtschaftliche Aufgabe [1951], in: Hennecke, Hans Jörg (Hg.): Wilhelm Röpke. Marktwirtschaft ist nicht genug. Gesammelte Aufsätze, Berlin 2009, S. 224–234. Vgl. auch Hennecke, Hans Jörg: Wilhelm Röpke. Ein Leben in der Brandung, Stuttgart 2005, S. 186–189. 51 Vgl. Röpke: Die Gesellschaftskrisis, Anm. 26; Röpke, Wilhelm: Civitas Humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Zürich 1944. 52 Vgl. Schwann, Gesine: Antikommunismus und Amerikanismus in Deutschland. Kontinuität und Wandel nach 1945, Baden-Baden 1999, S. 41–55. 53 Vgl. Warneke: Die europäische Wirtschaftsintegration, Anm. 5, S. 63.
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Koreakrieges (1950–1953) ab.54 In diesem neuen Kontext lag die Priorität in der Einheit des Westens durch den weiteren Aufbau der NATO und die Verstärkung der atlantischen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen. Diese Gedanken der Ordoliberalen über die kulturellen und sozialen Aspekte einer wirtschaftlichen europäischen Integration unter amerikanischer Ägide entsprachen ihrer allgemeinen Vorstellung der Interdependenz der Ordnungen. Die Beschleunigung der wirtschaftlichen Integration durch den Schuman-Plan über die EGKS im Jahre 1950 und den Beyen-Plan über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) im Jahre 1953 bedrohte ebendieses Gleichgewicht der Ordnungen. Schon 1947 hatte die Mont Pèlerin Society anlässlich ihres Gründungstreffens vor der Gefahr gewarnt, die Wirtschaft über die Politik zu stellen und die wirtschaftliche Integration ohne politische und soziale Grundlage zu beginnen.55 Die meisten Neoliberalen waren sich einig, dass nicht die Wirtschaft, sondern die nationale Souveränität im europäischen Einigungsprozess Priorität haben sollte. Die politische Konvergenz der Nationen in Richtung einer liberalen Wirtschaftsordnung sollte eine Voraussetzung der europäischen Integration bleiben und konnte nicht das Ergebnis eines supranational gezwungenen Prozesses sein.56 Diese fundamentale Kritik der Ordoliberalen gegen die ersten Europa-Projekte Anfang der 1950er Jahre basierte auf zwei Grundgedanken. Der Erste war die Ablehnung des Materialismus und des materialistischen Geschichtsbilds der deutschen Historischen Schule. Der Zweite war die Autonomie des Markts gegenüber der Gesellschaft, die in der Folge der klassischen Theorie vertreten worden war. Beide Theorien ruhten auf der Idee, dass die Wirtschaft sich ohne die Politik aufbauen ließ. Ganz im Gegenteil verteidigten die Ordoliberalen in dieser Perspektive das Primat des Sozialen über die Wirtschaft.57 Auch Eucken unterstrich 1948 in seinem Beitrag zum ersten Band der Zeitschrift ORDO die absolute Notwendigkeit einer spirituellen und politischen Dimension der europäischen Integration. Für ihn handelte es sich nicht nur darum, eine neue Wirtschaftsordnung in Europa zu gründen, sondern sie auf neue politische und
54 Heilperin, Michael: „Kleineuropa“ oder Atlantische Gemeinschaft? Deutsche Übersetzung des ursprünglich englischen Texts aus Fortune, Dezember 1953, Anlage des Briefs Wilhelm Röpkes an Ludwig Erhard vom 15. Januar 1954, in: Archiv der Ludwig-Erhard-Stiftung, I 4) 59. 55 „The Problems and Chances of European Federation“, 3. April 1947 (7. und 8. Sitzung), publiziert in: Caldwell, Bruce (Hg.): Mont Pèlerin 1947. Transcripts of the Founding Meeting of the Mont Pèlerin Society, Stanford 2022, S. 75–95. 56 Vgl. Röpke, Wilhelm: Internationale Ordnung – heute, Erlenbach-Zürich 1954, S. 26; Röpke, Wilhelm: Europa als wirtschaftliche Aufgabe, in: Hunold, Albert (Hg.): Europa – Besinnung und Hoffnung, Erlenbach-Zürich 1957, S. 159–184, hier S. 167. 57 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 365 f.
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soziale Grundlagen zu stützen, die für die moderne industrialisierte Gesellschaft geeignet wären: Seit der französischen Revolution und seit dem Beginn der Industrialisierung ist der altüberkommene Gesellschaftsaufbau Europas zerstört worden. Die Grundherrschaften verschwanden; ebenso die vielen alten lokalen Selbstverwaltungskörper, die Stände und die Zünfte, überhaupt die alte Gliederung der Gesellschaft. Neue soziale Schichten entstanden, vor allem die Schichten der industriellen Arbeiter und Angestellten. Die Gesellschaft bewegt sich auf einen Zustand zu, in dem eine fluktuierende Masse von Individuen vom Staat zusammengehalten wird. […] Wird es möglich sein, einen neuen gesellschaftlichen Organismus in Europa und in allen Ländern, die sich industrialisieren, entstehen zu lassen? Also wieder eine wirklich gegliederte Struktur der Gesellschaft? Wie? – Auch diese große Frage ist mit der Wirtschaftsordnung aufs engste verbunden, die entstehen wird. Die Wirtschaftsordnung ist – so wissen wir – die Gesamtheit der Formen, in denen die Lenkung des alltäglichen Wirtschaftsprozesses in concreto jeweils erfolgt.58
So wie Eucken betrachtete auch sein Schüler Fritz Meyer die Auswahl einer bestimmten Wirtschaftsordnung in der industriellen Gesellschaft als Kernproblem seiner Zeit und infolgedessen auch der europäischen Integration.59 In dieser Perspektive sollte sich Europa klar für die Freiheit in der politischen sowie in der wirtschaftlichen Ordnung entscheiden, statt planwirtschaftliche und protektionistische Maßnahmen weiterzuführen, die letztendlich die politische Freiheit verletzen würden.60 Diese Entscheidung lag aber in der Verantwortung der souveränen Nationalstaaten. Die Völker sollten über ihre Wirtschaftsordnung selbst bestimmen. Die Wende zur wirtschaftlichen Weltintegration war zwar eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung der neuen politischen und gesellschaftlichen internationalen Ordnung, diese sollte aber auf der souveränen Entscheidung der Völker über ihre eigene Wirtschaftsordnung beruhen. Dieser Gedanke bildete Anfang der 1950er Jahre einen breiten Konsens unter den Neoliberalen.61 Röpke maß nunmehr der Nation eine Schlüsselrolle in der Gestaltung einer freien internationalen Ordnung bei, indem diese sowohl den Internationalismus sowjetischer Art als auch den technokratischen Supranationalismus ablehnen sollte.62 Die Zukunft der Welt und der europäischen Integration lag also in den souveränen Entscheidungen der Nationen. Die Überwindung der Nation durch europäische und internationale 58 Eucken: Das ordnungspolitische Problem, Anm. 7, S. 70 f. 59 Vgl. Meyer, Fritz: Der Weg zur europäischen Wirtschaftseinheit, Kitzingen a. M. 1950, S. 6–8. 60 Vgl. Röpke, Wilhelm: Die europäische Integration. Marktwirtschaftliche oder kollektivistische Methode?, in: Rheinischer Merkur, 8. Juni 1951. Vgl. Solchany: Wilhelm Röpke, Anm. 27, S. 339. 61 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 367 f. 62 Vgl. Röpke: Internationale Ordnung, Anm. 30, S. 64 f.; Röpke: Economic Order, Anm. 48, S. 227.
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Projekte nach dem Muster Friedrich Lists erschien im Kontext des Kalten Kriegs nicht mehr als die absolute Priorität. Röpke erkannte vor allem die Notwendigkeit der Nation für die Legitimation der Gesellschaftsordnung, solange das langfristige Ziel der „Schicksalsgemeinschaft“ noch nicht verwirklicht worden war. Ohne klares Bekenntnis der Nationen zu einer gemeinsamen marktwirtschaftlichen Ordnung sei die europäische Integration zum Scheitern verurteilt.63 Diese wachsende Betonung auf dem Politischen und Sozialen in den europäischen Vorstellungen der Ordoliberalen stand komplett im Gegensatz zu den europäischen Projekten und war auch als Reaktion auf diese gedacht. Eine einfache Zollunion nach dem Muster des 1948 in Kraft getretenen Benelux entsprach tatsächlich nicht der Notwendigkeit einer allgemeinen Wirtschaftsordnung mit einer liberalen Wettbewerbspolitik. Eine solche Handelsunion wäre auch für die Entwicklung eines politischen Zugehörigkeitsgefühls völlig unzureichend gewesen. Das Gleiche gilt für eine institutionelle Integration durch die Entstehung einer supranationalen Gemeinschaft, die zwar eine gemeinsame Wirtschaftsordnung garantieren könnte, aber nicht über die notwendige politische Legitimität verfügen würde. Diese supranationale Macht könnte auch die Grundlage zur Entwicklung eines autoritären „Super-Staats“ schaffen.64 Schließlich bedeutete auch die Gründung einer europäischen Gemeinschaft zwischen sechs Ländern die weitere Teilung des Kontinents und des Westens. Gegen die Entstehung eines „kleinen Europas“ plädierte Alfred Müller-Armack dafür, die „geistes- und wirtschaftsgeschichtliche“ Einheit Europas zu wahren.65 Unter vielen Gesichtspunkten betrachteten somit die Ordoliberalen eine europäische Integration als verfrüht. Demzufolge sollten sich die Europa-Projekte zunächst damit begnügen, eine Kooperation zwischen den europäischen Nationen zu gründen, die langfristig die nötige politische und soziale Grundlage für eine weitere wirtschaftliche Entwicklung schaffen würde. Röpke, Rüstow und Erhard plädierten hartnäckig für eine „funktionelle Integration“ anstelle der durchgeführten „institutionellen Integration“.66 Dieser Widerspruch zu den europäischen Projekten war bei den Ordoliberalen besonders deutlich, da französische und italienische Neoliberale dazu neigten, die europäische Integration zu befürworten, weil sie ihre nationale Wirtschaft libe-
63 Vgl. Röpke: Internationale Ordnung – heute, Anm. 56, S. 313. Vgl. auch Solchany: Wilhelm Röpke, Anm. 27, S. 344. 64 Erhard, Ludwig: Europäische Einigung durch funktionale Integration. Rede vor dem Club Les Échos, Paris, 07. Dezember 1954, in: Erhard, Ludwig: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf 1962, S. 253–259, hier S. 257. 65 Müller-Armack: Die Einheit Europas, Anm. 49. 66 Erhard, Ludwig: Gedanken zu dem Problem der Kooperation oder der Integration (private Studie – vertraulich), 25. März 1955, in: Bundesarchiv, B 102, 11580/4.
Weder Nationalismus noch Supranationalismus
ralisieren würde.67 Hinter dem strengen Standpunkt der Ordoliberalen stand die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik, die weitgehend ihren Wünschen entsprach. Nach der von den Besatzungsmächten 1948 initiierten Währungsreform konnte Erhard mit Hilfe seiner ordoliberalen Berater (Eucken, Miksch, Lampe) eine partielle Liberalisierung der westdeutschen Preise und des Handels durchführen.68 Die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik erfolgte gewiss durch einen langfristigen Prozess im Laufe der 1950er Jahre. Schon 1953 beanspruchten aber die Neoliberalen den Einfluss ihrer Vorstellungen auf das deutsche „Wirtschaftswunder“.69 Rüstow sah in der Sozialen Marktwirtschaft ein „Gegenprogramm gegen Kommunismus und Bolschewismus“.70 In dieser Perspektive und im Kontext der deutschen Teilung wurde die Bundesrepublik zur Ausgangsbasis der Liberalisierung Europas. Das westdeutsche Beispiel sollte sich allmählich durchsetzen und verbreiten.71 Diese national gestützte Strategie gab dem Ausbau der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik den Vorzug gegenüber einer europäischen Integration ohne klare Wirtschaftsordnung und ohne Garantie gegen einen technokratischen Supranationalismus. *** Die ordoliberale Konzeption eines internationalen Liberalismus, die sich gegen den Nationalismus der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte, mündete schließlich in der Nachkriegszeit in die national gestützte Vorstellung einer europäischen Kooperation, die eine supranationale Integration als verfrüht betrachtete und ablehnte. Dies stellte aber keinen Widerspruch dar, auch wenn die Wandlung des historischen Kontexts nach dem Untergang der NS-Herrschaft und dem Beginn des Kalten Kriegs eine Neuausrichtung der ordoliberalen Gedanken verursachte. Die ordoliberalen Gedanken über die europäische Integration standen stets im Einklang mit dem umfassenden Ziel der Weltintegration und waren diesem untergeordnet. Weder nationalistische Rückzugspolitiken noch regionale Konstruktionen sollten
67 Vgl. Wegmann: Früher Neoliberalismus, Anm. 5, S. 384 f. 68 Vgl. Nicholls, Anthony: Freedom with Responsibility. The Social Market Economy in Germany, 1918–1963, Oxford 2000, S. 178–205; Nützenadel, Alexander: Stunde der Ökonomen, Wissenschaft Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974, Göttingen 2005, S. 126. Vgl. auch Wünsche, Horst Friedrich: Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft. Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen, Reinbeck/München 2015. 69 Vgl. Hunold, Albert (Hg.): Wirtschaft ohne Wunder, Erlenbach-Zürich 1953. 70 Rüstow, Alexander: Soziale Marktwirtschaft als Gegenprogramm gegen Kommunismus und Bolschewismus?, in: Hunold: Wirtschaft ohne Wunder, Anm. 69, S. 97–108. 71 Vgl. Röpke, Wilhelm: Der Liberalismus und die wirtschaftliche Integration Europas, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. Oktober 1953.
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in dieser Perspektive zum internationalen Desintegrationsfaktor werden. Außerdem sollte eine europäische oder Weltintegration durch einen langfristigen Prozess erfolgen, in dem nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Politische und das Soziale einbezogen werden sollten. Hier spielten Euckens Konzept der „Interdependenz der Ordnungen“ sowie Röpkes Vorstellung einer „Schicksalsgemeinschaft“ eine entscheidende Rolle. Beide Konzeptionen gewährten der Souveränität eine zentrale Funktion als unerlässliches Legitimationsprinzip der Wirtschaftsordnung sowie als Grundlage für die Kohärenz der gesellschaftlichen Ordnungen. Infolgedessen führte der beschleunigte und für die Neoliberalen verfrühte Ausbau der Europa-Projekte zu einer Vertiefung der Integrationsfrage, in welcher die Nation im Rahmen einer internationalen Kooperation die entscheidende Verantwortung behalten sollte.72 Die national gestützte Strategie der europäischen Integration fand ihre Ausgangsbasis in der neu gegründeten Bundesrepublik und deren Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Die untergeordnete Rolle der europäischen Integration in der Weltintegration sowie die zentrale Funktion der Souveränität und des Politischen für den Ausbau europäischer Ordnungen machte die Ordoliberalen zu Gegnern der europäischen Gemeinschaften ab den 1950er Jahren.73 Daraus folgten die drei grundlegenden und dauerhaften Kritikpunkte der Ordoliberalen an dem ausgewählten Integrationsprozess: Der Ausbau eines „kleinen Europas“ auf Kosten der westlichen Einheit und der potentiellen Desintegration des Welthandels; das Fehlen einer klaren Wirtschaftslenkung und des Bekenntnisses der Mitglieder zu einer freien Wirtschaftsordnung; der Mangel an politischer Legitimität und die Entstehung eines technokratischen Supranationalismus im Rahmen der Institutionen der Europäischen Gemeinschaft. In Folge dieser klaren Ablehnung der EGKS und der EWG unterstützten die Ordoliberalen mehrere Alternativlösungen für die europäische Integration: die Weiterentwicklung der nationalen Kooperation im Rahmen der OEEC; die Gründung einer Atlantischen Gemeinschaft durch die Vertiefung der GATT-Abkommen; die Eingliederung der EWG in eine europäische Freihandelszone, die alle westeuropäischen Länder wiedervereinen sollte.74 Nicht der Vertrag
72 Vgl. Röpke, Wilhelm: Nation und Weltwirtschaft, in: ORDO 17 (1966), S. 37–56. 73 Vgl. Erhard, Ludwig: Wer ist ein guter Europäer?, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes 145, 6. August 1955, S. 1221 f. 74 Vgl. die Entwürfe von Müller-Armack im Jahre 1956: Entwurf eines Europäischen Programms, 26. Oktober 1956, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik, 01-236-031/3 und Der Bundesminister für Wirtschaft, Entwurf eines Europäischen Programms, 29. Oktober 1956, in: Bundesarchiv, N 1254/84. Erhard, Ludwig: Das Projekt der Freihandelszone, Paris, 12. Februar 1957, in: Hohmann: Ludwig Erhard, Anm. 44, S. 486 f.; Röpke, Wilhelm: Gemeinsamer Markt und Freihandelszone, in: Rüstow, Alexander (Hg.): Welche Wirtschaftspolitik kann das Vertrauen des Wählers rechtfertigen?, Ludwigsburg 1958, S. 31–62. Vgl. auch Brenke, Gabriele: Europakonzeptionen im Widerstreit. Die
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von Rom, der für die Ordoliberalen sehr weit von einer idealen Wirtschaftsverfassung entfernt war, sondern diese Alternativen stellten ordoliberale Versionen eines europäischen Einigungsprozesses dar. Auch wenn all diese Alternativen durch wirtschaftliche Aspekte die nötige Konvergenz der europäischen Gesellschaften erzielten, waren sie gleichzeitig von einer politischen und ethischen Grundlage tief geprägt und gekennzeichnet. Diese Bedeutung einer politischen und ethischen Grundlage sollte bis heute der Kernpunkt der ordoliberalen Vorstellungen bleiben, ihre Kritik am europäischen Projekt dauerhaft stützen und gleichzeitig die sozialen Aspekte der europäischen Integration beeinflussen.75
Freihandelszonen-Verhandlungen 1956–1958, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 595–633. 75 Vgl. Breker, Olaf: Ordoliberalismus – Soziale Marktwirtschaft – Europäische Integration. Entwicklungslinien einer problematischen Beziehung, in: Sandkühler, Thomas (Hg.): Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920–1960, Göttingen 2002, S. 99–126; Lechevalier, Arnaud: Eucken under the Pillow. The Ordoliberal Imprint on Social Europe, in: Lechevalier, Arnaud/Wielgohs, Jan (Hg.): Social Europe. A Dead End: What the Eurozone Crisis Is Doing to Europe’s Social, Copenhague 2015, S. 49–102; Dold, Malte/Krieger, Tim (Hg.): Ordoliberalism and European Economic Policy. Between Realpolitik and Economic Utopia, London 2020; Dubois, Mathieu: L’économie sociale de marché à la conquête de l’Europe. L’influence de la diplomatie allemande sur le modèle social européen, Rennes 2024.
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Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas? Théodore Ruyssen (1868–1967) und der Zustand der Anarchie im Zeitalter des Ersten Weltkriegs Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der europäischen Identität, das der Philosoph, Jurist und Friedensaktivist Théodore Ruyssen während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach entwickelte, verdeutlicht einige wesentlichen Merkmale, die das erste Viertel des 20. Jahrhunderts prägten. Erstens ging es in seinem Werk um den Umgang mit den zunehmenden Spannungen in den internationalen Beziehungen und um deren Folgen innerhalb der grenzüberschreitenden Friedensbewegung. Im Falle Ruyssens wurden insbesondere die tiefliegenden Differenzen zwischen deutschen und französischen Pazifisten deutlich. Zweiter Aspekt: Das Bewusstsein, dass Europa durch Spaltung und Zerstörung vor einen entscheidenden Krisenmoment gestellt wurde. Damit war die Furcht vor dem Niedergang Europas eng verbunden. Drittens standen immer wieder Optionen zur Debatte, um die Katastrophe zu vermeiden und – nach 1918 – die Rückkehr zum Chaos zu verhindern. Die Frage, die Théodore Ruyssen in dieser Konstellation beschäftigte, war die der Wandlung der kulturellen Identität in Europa: Wie könnten Konflikte gelöst werden, ohne dass es zur Zerstörung zwischen den Kontrahenten und zum Einbruch der europäischen Kultur kommt? Drei thematische Schwerpunkte bilden die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage und für die Auffassung Europas, so wie sie sich bei Théodore Ruyssen herauskristallisierte. Zuerst sollen im Folgenden die historischen und biographischen Hintergründe des pazifistischen Engagements bei Ruyssen erläutert werden, damit das von ihm angeführte Verständigungskonzept besser eingeordnet werden kann. Darauf aufbauend wird Ruyssens Diagnose für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs analysiert und anschließend herausgearbeitet, wie er die europäische Ordnung durch anarchische Verhältnisse in den internationalen Beziehungen bedroht sah. Als Lösungsansatz für diese Missstände setzte sich Ruyssen für einen „juristischen Internationalismus“ ein, der einem „liberalen“ politischen Rahmen entsprach und dessen Wirkungskraft am Beispiel des Umgangs mit Minderheiten in Europa nach dem Ersten Weltkrieg veranschaulicht wurde. Dabei soll auch Ruyssens Auffassung von Liberalismus und deren Anwendung im Bereich der internationalen Beziehungen erläutert werden.
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Nicht zuletzt ist die Perspektive Théodore Ruyssens für die europäische Dimension der Thematik des Bandes relevant, weil er immer wieder die Rolle des Deutschen Reiches und später der Weimarer Republik thematisierte und ständig den durchaus auch kontroversen Dialog mit Vertretern der deutschen Friedensbewegung1 suchte.
1.
Théodore Ruyssen als Friedensdenker und Pazifist
Wer war Théodore Ruyssen?2 Parallel zu einer akademischen Laufbahn, die ihn bis zur Philosophieprofessur in Bordeaux führte, wurde er zu einem sehr engagierten Mitglied der französischen, aber auch der grenzüberschreitenden Friedensbewegung. Als Denker und Publizist trug er intensiv zur philosophischen und politischen Diskussion in diesen Kreisen bei. Er zeichnete sich durch eine maximalistische Deutung des kantischen Kosmopolitismus aus, die seine Unterstützung für den Völkerbund begründete; diese Interpretation wurde bereits in einer anderen Studie aufgearbeitet.3 Er sollte auch eine tragende Rolle in den internationalen Institutionen der Friedensbewegung spielen, insbesondere als Generalsekretär der internationalen Union der Vereine für den Völkerbund.4 Der Werdegang des Friedensaktivisten Théodore Ruyssen ist bis in die Zwischenkriegszeit untrennbar mit dem Bündnis Association pour la paix par le droit verbunden. Ursprünglich trug sie den Namen Association des jeunes amis de la paix und wurde stark vom Protestantismus5 und der Bewegung zur Unterstützung
1 Vgl. dazu Coignard, Tristan: Une histoire d’avenir. L’Allemagne et la France face au défi cosmopolitique (1789–1925) (Beihefte zum Euphorion 96), Heidelberg 2017, S. 375–398. 2 Vgl. zur Biographie und zur Laufbahn von Théodore Ruyssen Filhol, Emmanuel: Théodore Ruyssen (1868–1967). Un philosophe pacifiste à Bordeaux avant et pendant la Grande Guerre, in: Bulletin de l’Institut aquitain d’études sociales 100 (2016), S. 27–71; Callède, Jean-Pierre: Après la guerre, faire la paix. Formes d’engagement chez deux sociologues français durant l’entre-deux-guerres: René Hubert et Théodore Ruyssen, in: Mazauric, Simone (Hg.): Les savants, la guerre et la paix (Actes du 136e Congrès national des sociétés historiques et scientifiques), Paris 2013, S. 58–67; Fabre, Rémi: Un exemple de pacifisme juridique: Théodore Ruyssen et le mouvement „la paix par le droit“ (1884–1950), in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire 39 (1993), S. 38–54. 3 Vgl. Coignard, Tristan: La paix par le droit est-elle affaire d’éducation? Théodore Ruyssen, Friedrich Wilhelm Foerster et la transmission des normes du cosmopolitisme juridique, in: Meyer, Daniel/ Raulet, Gérard (Hg.): A Critical Archaeology of Cosmopolitan Thinking. Return to the Interwar Years (Beiträge zur politischen Wissenschaft 202), Berlin 2023, S. 67–77. 4 Zu Ruyssens Tätigkeit als „Secrétaire général de l’Union internationale des associations pour la Société des Nations“, vgl. Guieu, Jean-Michel: La SDN et ses organisations de soutien dans les années 1920. Entre promotion de l’esprit de Genève et volonté d’influence, in: Relations internationales 151 (2012), S. 11–23. 5 Vgl. dazu die spätere Darstellung der eigenen spirituellen und konfessionellen Entwicklung Ruyssens zum Protestantismus, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vollzog: „Un autre livre ne
Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas?
der internationalen Friedenskonferenz in Den Haag 1899 beeinflusst. Seine intellektuelle und sozialpolitische Ausstrahlung verdankte das Bündnis der Zeitschrift La paix par le droit, die wesentliche Anliegen und Debatten des internationalen Pazifismus zwischen 1887 und 1940 thematisierte. Die Vereinigung war relativ klein und wurde von Vertretern des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums dominiert. Dies hinderte einige ihrer Mitglieder, allen voran Théodore Ruyssen, jedoch nicht daran, sich politisch einzusetzen. Der Verein war in ein republikanisches Netzwerk eingebunden und pflegte Verbindungen zu Organisationen wie der Ligue de l’enseignement und vor allem der Ligue des droits de l’homme. Théodore Ruyssen nahm während des Ersten Weltkriegs an den Debatten innerhalb der französischen Liga für Menschenrechte über die Positionierung gegenüber dem Deutschen Reich und den Friedensperspektiven teil. Um diesen Überblick über die Ausstrahlung des Bündnisses in Frankreich zu vervollständigen, muss erwähnt werden, dass es insbesondere in den 1920er Jahren enge Beziehungen zur politischen Sphäre der Dritten Republik unterhielt, allen voran zum parti radical-socialiste, der politischen Strömung, die Patrick Cabanel die „moralische, bürgerliche und pazifistische Linke“ nennt.6 Im Spektrum der Friedensgesellschaften, die um die Jahrhundertwende in Frankreich gegründet wurden, stach die Association pour la paix par le droit hervor; sie kann als zentrale Organisation betrachtet werden, deren Ideen den Ausgangspunkt für wichtige Entwicklungen im französischen Pazifismus bildeten. Diese Vereinigung zeichnete sich durch ihre internationalistische Ausrichtung und ihr Bestreben aus, das Recht als Grundlage der Friedensgestaltung und der internationalen Beziehungen durchzusetzen. 1.1 Ein Verfechter des Verständigungskonzepts Zentral für Ruyssens Auffassung Europas ist der Begriff der Verständigung (conciliation), der zum Eckpfeiler seines politischen Engagements wurde, aber auch als Fundament dessen fungierte, was Ruyssen als „philosophie de la paix“ bezeichnete.
tarda pas à accroître mes sympathies pour le protestantisme: la Religion de l’esprit d’Auguste Sabatier. J’y fis la connaissance d’un protestantisme libéral qui faisait bon marché de la lettre des dogmes pour n’en retenir que la signification spirituelle et morale […]; mes lectures ultérieures et les relations que je ne tarderai pas à nouer avec des milieux protestants ne purent que fortifier dans cette orientation“ (Ruyssen, Théodore: Itinéraire spirituel. Histoire d’une conscience, Paris 1966, S. 108). 6 Cabanel, Patrick: Les courants pacifistes dans le protestantisme français, in: Cahn, Jean-Paul/Knopper, Françoise/Saint-Gille, Anne-Marie (Hg.): De la guerre juste à la paix juste. Aspects confessionnels de la construction de la paix dans l’espace franco-allemand (XVIe –XXe siècle), Villeneuve d’Ascq 2008, S. 161–176, hier S. 164.
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Bereits 1904 widmete er eine Schrift, die diesen Titel trägt, dem ideengeschichtlichen Hintergrund, der die Gründung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag und die damit verbundene Friedenskonferenz 1899 ermöglichte: „La courbe tracée par l’histoire ne peut-elle, en effet, se prolonger idéalement dans l’avenir, et l’étude du passé ne nous contraint-elle pas à affirmer que, si la paix n’est pas, elle se fait, qu’elle s’organise d’elle-même?“7 Diese äußerst zuversichtliche Teleologie hinterfragte Ruyssen im Laufe seiner Schrift und entwickelte sie mit kritischer Distanz weiter. Die hegelianische Perspektive einer Verwirklichung des Fortschritts durch den Krieg wies er entschieden ab. Er war von der Grundidee überzeugt, dass der erneute Ausbruch eines Krieges die Hoffnungen auf eine permanente Verständigung zunichte machen könnte. Dies erklärt, warum er im Laufe des Jahrzehnts vor dem Ersten Weltkrieg die Fundierung des Verständigungskonzepts mit seinem Wirken als Akteur und Beobachter der Friedensbewegung zu verbinden versuchte. Die Durchsetzung der Verständigungsidee musste in den Augen Ruyssens in den Vordergrund treten, zumal sie als Gegenmittel zu einem Zustand der ‚Anarchie‘ angesehen wurde, der im späteren Verlauf des Aufsatzes noch erläutert wird. 1.2 Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich beim Verständigungsbegriff Dem pazifistischen Hintergrund entsprechend war Ruyssen in der Vorkriegszeit und auch während des Krieges darum bemüht, dieses Verständigungskonzept in den Beziehungen zu Deutschland umzusetzen. Dementsprechend bemühte er sich, die deutsch-französische Annäherung voranzubringen. Das Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit von Deutschland und Frankreich wirkte sich auf sein pazifistisches Engagement aus. Wie viele Akademiker seiner Generation absolvierte Théodore Ruyssen Studienaufenthalte in Deutschland, in seinem Fall in München während der Jahre 1895–1896. Dort wohnte er einem Vortrag von Ludwig Quidde bei. Er war von den Ausführungen und der Tatsache begeistert, dass sich einzelne Persönlichkeiten und Organisationen in Deutschland gegen den Militarismus stemmten, und verfasste für die Zeitschrift La paix par le droit einen Bericht über den Vortrag, was den Ausgangspunkt seiner Mobilisierung darstellte. Dies war die erste Umsetzung einer Überzeugung, die sich im Laufe der Zeit festigen sollte und der zufolge ein dauerhafter Frieden nur durch eine deutschfranzösische Annäherung erreicht werden konnte. Diese Frage und alle damit verbundenen Probleme nahmen in Ruyssens Tätigkeit als Publizist einen wichtigen
7 Ruyssen, Théodore: La philosophie de la paix (Bibliothèque pacifiste internationale), Paris 1904, S. 30.
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Platz ein. Bereits im Februar 1907 richtete er einen Fragebogen an deutsche Universitätskollegen, in dem er von ihnen wissen wollte, ob eine Annäherung zwischen den beiden Ländern nicht nur wünschenswert, sondern angesichts des Zustands der internationalen Beziehungen auch denkbar sei. Die Marokkokrise von 1911 verstärkte für Ruyssen noch die Notwendigkeit, Verbindungen zwischen deutschen und französischen Pazifisten zu knüpfen und über ein transnationales Netzwerk von Vereinen eine Verständigung zu erreichen. Das ursprünglich von Delegierten der Friedensgesellschaften gegründete Komitee für deutsch-französische Verständigung wurde auf Ruyssens Initiative hin wiederbelebt, als er im August 1912 in La paix par le droit einen Aufruf veröffentlichte. Daraus entstand die deutschfranzösische Liga (Ligue franco-allemande).8 Die Überzeugung, dass sich das Verständigungskonzept durch eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich durchsetzen kann, wurde von Ruyssen angesichts des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs kritisch hinterfragt. Er scheute keineswegs den Streit, auch nicht mit deutschen Pazifisten, wenn es darum ging, den deutschen Imperialismus zu kritisieren und die Französische Republik zu verteidigen. 1916, also mitten im Krieg, sah er die Weiterführung des Krieges als notwendig und vertrat bei dem Kongress der französischen Liga für Menschenrechte die Ansicht, dass der Sieg über das Deutsche Reich und dessen Verbündete einer Vollendung der Französischen Revolution entsprechen würde.9 Dies führte zu eindeutigen Meinungsverschiedenheiten mit der deutschen Friedensbewegung. Die denkwürdige Debatte zwischen Théodore Ruyssen und Alfred Fried im Jahr 1916 bietet einen aussagekräftigen Überblick der Auseinandersetzung zwischen deutschen und französischen Pazifisten während und nach dem Krieg. In einem offenen Brief, der im März 1916 in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht wurde, warf Fried Ruyssen und seinen Mitstreitern vor, sich dem Lager der „jusqu’auboutistes“ angeschlossen zu haben, weil sie den Grundsatz eines gerechten Krieges verteidigten, bei dem das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn besiegt werden mussten, damit es zu einem dauerhaften Frieden in Europa kommen konnte. In seiner Antwort auf Frieds Schreiben bekräftigte Ruyssen seine Position: Er hielt die Idee eines sofortigen Friedens für illusorisch und meinte, dass Alfred Fried
8 Vgl. Coignard: Histoire d’avenir, Anm. 1, S. 378. 9 Vgl. Le congrès de 1916 de la Ligue des droits de l’homme, compte-rendu sténographique, 1er et 2 novembre 1916, Paris 1917, S. 64: „Nous n’avons en somme qu’à rester nous-mêmes, c’est-à-dire à rester la Révolution qui ne s’est pas arrêtée à la fin du dix-huitième siècle, mais qui, suivant la parole de de Pressensé, ‚est toujours en marche‘, et demeure intransigeante dans ses exigences de justice et d’humanité tout entière. Oui, poursuivons, achevons la Révolution, qui ne pactise pas avec l’étranger tant qu’il foule le sol sacré de la patrie, mais qui, quand on la contraint à la guerre, porte dans les plis de son drapeau, aux nations mêmes qu’elle combat, la justice et la liberté.“
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nichts gegen die kriegstreibenden Kräfte ausrichten könne, die sich in Deutschland entfachten.10 Mit dieser Debatte wird deutlich, dass man Théodore Ruyssen keine Naivität in der Auseinandersetzung mit der Kriegssituation unterstellen konnte. Vielmehr wurde in seinen Stellungnahmen und seinen Schriften offensichtlich, dass seine Analysen über die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden durch eine Diagnose der Krise Europas untermauert waren.
2.
Ruyssens Diagnose einer europäischen Krise
Der Optimismus, der zu Beginn der Schrift La philosophie de la paix zum Ausdruck kam, war keineswegs eine Verklärung der eigentlichen Verhältnisse in den internationalen Beziehungen. Obwohl Théodore Ruyssen die Gesamtlage im Zuge der Den Haagener Friedenskonferenz eher als vielversprechend einschätzte, war er bereits 1904 der Ansicht, dass es in Europa immer wieder besorgniserregende Anzeichen für eine „Rückkehr zur Barbarei“ gab.11 Diese Idee prägte sein Konzept der europäischen Identität entscheidend mit, weil sie die Anfälligkeit Europas für Krisen auf den Punkt brachte. Das Motiv der befürchteten „Rückkehr zur Barbarei“ brachte Théodore Ruyssen 1916 wieder ins Spiel, als er beim Kongress der Französischen Liga für Menschenrechte an der wegweisenden Diskussion über „die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden“ („les conditions d’une paix durable“) teilnahm. Angesichts der Dauer und der bisher ungeahnten Zerstörungsmacht des Konflikts beschäftigten sich die Delegierten und insbesondere Ruyssen als Vertreter der Fédération de Gironde mit den tiefgründigen Ursprüngen dieses Krieges. In dieser Hinsicht griff Ruyssen auf Deutungsmuster zurück, die im damaligen wissenschaftlichen Diskurs über internationale Beziehungen kontrovers diskutiert wurden. Um das sich seit 1914 entfesselnde Kräfteverhältnis in Europa zu erklären, verwarf er in einem ersten Schritt die Idee einer „balance of power“,12 die Idee, dass es ein neutralisierendes Gleichgewicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen gäbe, weil sich die Großmächte gegenseitig in Schach halten könnten. Im Gegensatz dazu verwies Ruyssen auf die Tatsache, dass es aus seiner Sicht kein regulierendes Prinzip im internationalen Kontext gab und dass insbesondere
10 Vgl. Coignard: Histoire d’avenir, Anm. 1, S. 372 f. 11 Ruyssen: Philosophie de la paix, Anm. 7, S. 40: „L’histoire, avec des motifs d’espérance, nous fournit des cas inquiétants de retour à la barbarie“. 12 Zur Kritik an der „balance of power“ im französischen Kontext der Kriegszeit vgl. Jackson, Peter: Beyond the Balance of Power: France and the Politics of National Security in the Era of the First World War, Cambridge 2013, S. 51 f.
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in Europa Unordnung herrschte. Dies beschrieb Théodore Ruyssen mit dem Begriff der Anarchie, als er beim Kongress der französischen Liga für Menschenrechte den Zustand Europas inmitten des Ersten Weltkrieges charakterisieren wollte. Im selben Jahr 1916 erschien auch das Buch The European Anarchy von Goldsworthy Lowes Dickinson, der unterstrich, dass „die besten Absichten“ notwendigerweise scheitern würden, wenn es in einem Zusammenschluss von Staaten „kein gemeinsames Gesetz“ und „keine gemeinsame Gewalt“ gebe.13 Die Kategorie der Anarchie war in den Kreisen der Juristen, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für die Vertiefung des Völkerrechts einsetzten, ein wichtiger Begriff, der auf die fehlenden Autoritätsinstanzen in den internationalen Beziehungen hinwies.14 Dieser Aspekt war aus der Sicht Théodore Ruyssens für die kulturelle Identität Europas vor dem Ersten Weltkrieg und währenddessen prägend; diese Identität wurde vom Faustrecht bestimmt.15 Er verwendete den Begriff „Anarchie“ bereits 1904 in La philosophie de la paix, als er für die Menschheit die Entwicklung von der Anarchie zur „juristisch geprägten Gesellschaft“ heraufbeschwor.16 Im Gegensatz zu Vertretern einer realistischen Sichtweise der internationalen Beziehungen, bei der der anarchische Zustand nicht verändert werden kann, gehörte Ruyssen zu denjenigen, die dieser Lage ein Ende setzen und ordnende Prinzipien im Weltgeschehen einführen wollten. Damit ging er den liberalen Realisten gegenüber auf Distanz, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem auf die Wirtschaftsmechanismen in den internationalen Beziehungen setzten und derartige zwischenstaatliche Normen für nicht durchsetzbar hielten.17
13 Dickinson, Goldsworthy Lowes: The European Anarchy, London 1916, S. 13: „For it is as true of an aggregation of States as of an aggregation of individuals that, whatever moral sentiments may prevail, if there is no common law and no common force the best intentions will be defeated by lack of confidence and security.“ 14 Vgl. zum Beispiel Le Fur, Louis-Erasme: Le développement historique du droit international. De l’anarchie internationale à une communauté internationale, in: Recueil des Cours de l’Académie de Droit International de La Haye 41 (1932), S. 507: „Une anarchie à peu près complète au sens étymologique du mot et dans toute sa rigueur, c’est-à-dire l’absence complète d’autorité entre Etats.“ Auch in den einflussreichen Schriften von Christian Lange wird der Begriff verwendet, wenn es um Hobbes’ und Spinozas politische Philosophie geht: „Nous serons peut-être taxés d’exagération en les appelant ‚théoriciens de l’anarchie internationale‘. […] Toujours est-il qu’en maintes occasions ils ont attiré l’attention de leurs lecteurs sur l’anarchie fondamentale régnant dans les rapports internationaux“ (Lange, Christian L./Schou, Auguste: Histoire de l’internationalisme II. De la paix de Westphalie jusqu’au Congrès de Vienne [1815], New York 1954, S. 9). 15 Vgl. Le Fur: Anarchie internationale, Anm. 14, S. 508: „le maintien de l’anarchie, c’est-à-dire le triomphe de la force“. 16 Ruyssen: Philosophie de la paix, Anm. 7, S. 30: „[…] que l’humanité se dégage de l’anarchie pour se constituer en société juridique.“ 17 In seiner in den 1950er Jahren veröffentlichten Studie über Les Sources doctrinales de l’internationalisme verwies Ruyssen auf den Realismus der Liberalen im 19. Jahrhundert und auf den damit
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Welche Art von Krisen löst Anarchie in Europa aus und welche Folgen hat dies laut Ruyssen für das Zusammenleben auf dem Kontinent? Théodore Ruyssen setzte sich 1924 mit diesen Fragen auseinander, als er die Schrift Les minorités nationales d’Europe et la Guerre mondiale veröffentlichte.18 Auf zwei Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden, um zu zeigen, wie Ruyssen die strukturelle Krise der europäischen Identität behandelte. Erstens machte er auf die mangelnde kulturelle und politische Einheit Europas aufmerksam. Die kulturelle Identität Europas war seines Erachtens von einer konfliktträchtigen Gegenüberstellung zweier politischer Modelle geprägt, die vom Staatsverständnis und von der Verfassungsstruktur her grundsätzlich verschieden waren. Diese Dichotomie politischer und gesellschaftlicher Natur wurde laut Ruyssen von einer geopolitischen Zweiteilung des Kontinents materialisiert. Die Grenze verlaufe entlang einer Linie, die von der Murmansk-Küste bis zur Mündung der Dnister reiche. Auf der einen Seite des Kontinents sei die Stabilität des westlichen Teils Europas nach dem Krieg wiederhergestellt worden. Auf der anderen Seite mehrten sich in Deutschland, Österreich-Ungarn, Russland und dem Osmanischen Reich die Konflikte und militärischen Auseinandersetzungen, die somit den anarchischen Zustand in dieser Gegend noch verstärkten. Diese europainterne Kluft beschäftigte Ruyssen besonders, weil sie den Umgang mit der Minderheitenfrage mitbestimmte. Diese Frage stellt den zweiten Aspekt dar, den Ruyssen für das Verständnis der Krisensituation in Europa erläuterte. Er betrachtete die Minderheitenfrage als Hauptursache für den Krieg und als Symptom für den damaligen Zustand der Kultur. Ruyssen betonte, dass die Spannungen zwischen Staaten und Minderheiten und unter Minderheiten entscheidend zur Auslösung des Konflikts beigetragen hatten und dass sie auch die sehr instabile Nachkriegsphase prägten. Bei der sehr vollständigen Übersicht der territorialen Folgen und Entwicklungen in den Jahren 1918 bis 1923 verwendete Ruyssen immer wieder eine Terminologie, die den möglichen Zerfall Europas umschrieb.19 Die während des Weltkriegs diagnostizierte Anarchie herrschte somit weiter und äußerte sich in der Auseinandersetzung zwischen zwei Tendenzen, die Europa zu einem sehr fragilen Gebilde machten. Einerseits herrschte das, was Ruyssen als „Staatlichkeit“ und „Imperialismus“ bezeichnete: der Wille, den Minderheiten gegenüber die Staatsordnung zu behaupten. Andererseits blühte der Nationalismus auf, der die Unabhängigkeit vom dominierenden Staat anpeilte. Als Generalsekretär der Union der Vereine für
verbundenen Grundsatz, die Konsequenzen der zügellosen wirtschaftlichen Freiheit hinzunehmen. Vgl. Ruyssen, Théodore: Les Sources doctrinales de l’internationalisme, Band III (De la Révolution française au milieu du XIXe siècle avec index général), Paris 1954, S. 463. 18 Ruyssen, Théodore: Les minorités nationales d’Europe et la Guerre mondiale, Paris 1924. 19 Vgl. Zersplitterung [„Émiettement“, ebd., S. 368] / allgemeine Zersetzung [„dislocation générale“, ebd., S. 369].
Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas?
den Völkerbund wohnte Ruyssen den Verhandlungen zwischen den verschiedenen Akteuren bei und stellte fest, wie kontrovers in den verschiedenen Instanzen darüber diskutiert wurde.20
3.
Internationalismus als Lösungsansatz
Aufgrund des zersetzenden Charakters der unterschiedlichen Forderungen und der damit verbundenen Spannungen sah Ruyssen bereits während des Krieges Internationalismus als den Lösungsansatz, den er als Ausweg aus der Krise bevorzugte und für den er sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte. Internationalismus war in dieser Zeit ein gängiger Begriff in den internationalen Beziehungen, stellte sich allerdings als mehrdeutig heraus.21 Bezeichnenderweise wurde der Begriff des Internationalismus in der damals einflussreichen Schrift Histoire de l’internationalisme, deren ersten Band der zukünftige Friedensnobelpreisträger Christian Lous Lange 1919 veröffentlichte, erstmals genannt. In der Einleitung zu dem Werk unterschied er deutlich zwischen Internationalismus und Pazifismus und verwies auf die Möglichkeit, Waffengewalt für die Durchsetzung internationalistischer Ziele einzusetzen. Damit rechtfertigte er Kriege gegen Akteure und Mächte, die sich gegen internationale Gesetzgebung oder gegen den Willen der Staatengemeinschaft und des Völkerbundes wendeten.22 Dieser Auffassung von Internationalismus als Versuch, das Prinzip der Schiedsgerichtsbarkeit durchzusetzen, hatten Lange und Ruyssen gemein. Allerdings war der Begriff von Internationalismus bei Théodore Ruyssen noch komplexer. Er bemühte sich in seinen Schriften der zwanziger Jahre, die verschiedenen Bedeutungen zu kategorisieren und somit seine eigene Auffassung deutlich zu machen. Mit dem Terminus „Internationalismus“, den er ab 1916 kontinuierlich verwendete, wollte er der zwischenstaatlichen Kooperation einen entscheidenden
20 Vgl. zum Beispiel die Kritik, die von einer Vereinigung mazedonischer Auswanderer in Bulgarien an Ruyssens Stellungnahmen über Jugoslawien formuliert wurde: La Question macédonienne et l’Union internationale des associations pour la société des nations, Sofia 1926. 21 Vgl. Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914, München 2000; insbesondere Kapitel I: „Internationalismus: Zur Entstehung einer modernisierungsorientierten Außenpolitik in der Vorkriegszeit“, S. 13–82. Vgl. auch Ter Meulen, Jacob: Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung – 1300–1800, Haag 1917 (Band 1)/1929 (Band 2,1)/1940 (Band 2,2). 22 Vgl. Lange: Internationalisme, Anm. 14, Band 1, S. 13: „La thèse internationaliste ne serait pas contraire non plus à l’emploi de la force lorsqu’il s’agirait de sauvegarder le respect et l’observation des principes fondamentaux d’un pacte éventuel de la ‚société des nations‘. En cela, l’internationalisme est opposé au pacifisme intégral qui ne veut admettre aucun recours à la force […].“
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Wendepunkt geben und die „liberale Internationale des Rechts“23 zum Pfeiler der neuen Friedensordnung machen. Um diese Form des Internationalismus durchsetzen zu können, musste Ruyssen das Prinzip selbst im Kontext des Kriegs und der Nachkriegszeit rechtfertigen. Aus seiner Sicht sollte erst einmal die Begrifflichkeit rehabilitiert werden: 1916 warb er für eine Wiederaufwertung des Begriffs und erwähnte dabei den christlichen Internationalismus (Internationale religieuse) und den sozialistischen Internationalismus.24 In beiden Fällen ging er auf die grundsätzlichen Vorwürfe gegen diese Orientierungen ein, machte sich aber nicht die Idee zu eigen, dass beide mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endgültig gescheitert seien: Il y a eu déjà deux Internationales qui jouissent, l’une et l’autre, à l’heure présente, d’une assez mauvaise presse: l’Internationale religieuse et l’Internationale socialiste. On a dit de l’une et de l’autre – le reproche est-il juste? je ne l’examinerai pas aujourd’hui – que ces deux grandes Internationales, dont quelques uns avaient attendu une influence bienfaisante en cas de conflit, n’avaient rien pu faire et que la guerre avait divisé en deux fractions hostiles les églises non moins que les socialistes. Est-il possible, malgré ces ruines apparentes tout au moins, de l’Internationale religieuse et de l’Internationale socialiste, d’envisager la création d’une autre Internationale? Je le crois pour ma part. Un avenir reste ouvert à ce que j’appellerai l’Internationale du droit.25
Die Erklärungen für das Scheitern der beiden Internationalen lieferte Ruyssen 1920 in der Schrift De la guerre au droit.26 Das Versagen dieser beiden Optionen führte Ruyssen keineswegs zur Resignation. Vielmehr vertrat er die Ansicht, dass das „Gefühl solidarischer Interessengemeinschaft“27 unter den „modernen Kultur-
23 Congrès de 1916 (Rede T. Ruyssen), Anm. 9, S. 58: „l’Internationale libérale du droit“. 24 Vgl. Ruyssen: Sources doctrinales, Anm. 17, Band 3, S. 528: „sous l’influence néfaste de Marx, l’Internationale ouvrière dégénérait en organisation politique; elle prenait la relève du Parti communiste disparu en 1850. Aussi n’était-il pas surprenant qu’elle n’ait pas résisté au raz de marée suscité par la Commune parisienne de 1871.“ 25 Congrès de 1916 (Rede T. Ruyssen), Anm. 9, S. 57. 26 Vgl. Ruyssen, Théodore: De la guerre au droit, Paris 1920, S. 288: „Aucune [Internationale] n’a d’une heure retardé la guerre. La plus ancienne, l’internationale catholique, a vu son unité morale compromise par la neutralité équivoque de son chef et par les mutuelles accusations des clergés des pays belligérants. La seconde, celle des socialistes, s’est effondrée par suite de la trahison de la social-démocratie.“ 27 Vgl. den auf Deutsch verfassten Aufsatz von Ruyssen, Théodore: Völkerbund und Kooperation, in: Die Friedenwarte 23/1–2 (1923), S. 7: „Es ist im Grunde nichts anderes, als das Gefühl solidarischer Interessengemeinschaft, in gewissem Maße zusammengehalten durch das mehr oder minder deutliche Bewußtsein der wachsenden Solidarität, welche sich auf alle modernen Kulturvölker in Bezug auf juristische, ökonomische und sogar politische Gesetze erstreckt.“
Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas?
völkern“ immer ausgeprägter wurde. Somit machte er diese internationalistische Orientierung zum Kriterium für die Aufnahme der Staaten in den Kreis der Gemeinschaft, die sich dem zivilisatorischen Fortschritt verschrieb und sich in einem „demokratischen Geiste“ zur „freien Republik der Nationen“ weiterentwickeln sollte: La seule organisation internationale que nous puissions concevoir, c’est l’Internationale libérale du droit, je veux dire une sorte d’assurance mutuelle des nations dans la liberté, qui, sans recevoir d’inspiration d’en haut, sans subir la contrainte d’une police militaire, en vertu de l’esprit démocratique qui anime les nations modernes, s’uniraient entre elles pour constituer la libre République des Nations.28
Welche Auffassung des Liberalismus vertrat Théodore Ruyssen bei seinem Verständnis von Internationalismus? In verschiedenen Schriften äußerte er sich gegenüber dem ungezügelten Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts kritisch. In seiner Analyse der internationalen Kräfte, denen es nicht gelungen war, den Krieg zu vermeiden, wurde auch die „Internationale des Goldes“29 erwähnt: Den freien Märkten und dem Gewicht der Banken sprach er die Fähigkeit ab, Konflikte zu befrieden. Diese Stellungnahmen zum Liberalismus sind auf Ruyssens Nähe zu den Ideen der École de Nîmes30 und zu den theoretischen Ansätzen von Charles Gide zurückzuführen, dessen Wirtschaftsmodell auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit gegründet war.31 Daraus kann geschlossen werden, dass Ruyssens Auffassung einer liberalen Internationale vor allem ein Staatensystem in Aussicht stellte, das sich politisch liberal definieren ließ und das sich notwendigerweise auf einer demokratischen Grundlage zur rechtlichen Norm bekannte. In dieser Hinsicht sah Théodore Ruyssen den Völkerbund als liberal konzipierte Struktur, die Europa dank des Internationalismus eine langfristige Friedensperspektive bot. Das Bekenntnis zur Verständigung und zu den neuen Institutionen des Völkerbunds sollte der Gefahr des Chaos und der Zersplitterung ein Ende setzen und 28 Congrès de 1916 (Rede T. Ruyssen), Anm. 9, S. 58. 29 Ruyssen: Guerre au droit, Anm. 26, S. 288: „celle de l’or, si souple, qui sert avec une égale complaisance la guerre et la paix, l’injustice et la paix, s’est divisée […].“ 30 Charles Gide et l’école de Nîmes. Une ouverture du passé vers l’avenir (Actes du colloque organisé à Nîmes le 19 et 20 novembre 1993 par l’Académie de Nîmes, le Collège coopératif Provence-AlpesMéditerranée, la Société d’Histoire moderne et contemporaine de Nîmes, la Société d’Histoire du Protestantisme de Nîmes et du Gard), Nîmes 1995. 31 Vgl. Gide, Charles: Coopération et économie sociale 1886–1904, éd. par Patrice Devillers, Paris 2001. Vgl. dazu die allgemeine Einleitung Patrice Devillers’ (S. 7 f.): „partant du consommateur et de la coopérative de consommation, on doit pouvoir construire une coopération intégrale qui encadrera les relations économiques et sociales par une volonté de justice sociale. La solidarité se posera alors en contrat social de la République coopérative.“
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somit die Erneuerung der europäischen Kultur ermöglichen. Die internationalistische Option wurde von Ruyssen als Mittel angesehen, eine Friedensordnung zu verhindern, bei der sich ein hegemonialer Staat seine Herrschaft gegenüber gedemütigten Nationen und Minderheiten behaupten könnte. Wäre es zum Sieg des Deutschen Reiches gekommen, so wäre in Mitteleuropa auf das anarchische Chaos des Krieges der „Frieden der Gräber und Gefängnisse“32 gefolgt. Welche Identität Europas wurde von Théodore Ruyssen in Aussicht gestellt? Als er 1924 die Schrift Les minorités nationales et la Guerre mondiale veröffentlichte, war er bereits seit 1921 Generalsekretär der internationalen Union der Vereine für den Völkerbund und somit ein anerkannter Vertreter der Institutionen der Société des Nations. Seinen Überzeugungen nach entsprach der Völkerbund dem vom Internationalismus geprägten Rahmen für einen Wandel der internationalen Beziehungen, aber auch für den erhofften Wechsel in der politischen und diplomatischen Kultur seiner Zeit. In einem 1923 veröffentlichten Aufsatz (Völkerbund und Kooperation), der auf Deutsch verfasste wurde, unterstrich er „die Abhängigkeit der Nationen untereinander im 20. Jahrhundert“ und „das mehr oder minder deutliche Bewusstsein der wachsenden Solidarität“ innerhalb der Staatengemeinschaft.33 Dies stellte für Ruyssen die Grundlage dar, auf der neue Konzepte die internationalen Beziehungen prägen konnten. Das vom Völkerbund getragene Prinzip der Schiedsgerichtbarkeit sollte dementsprechend eine Kultur der Kompromissfindung und des Interessenausgleichs fördern und offene und militärische Auseinandersetzungen vermeiden. Von diesem Wandel in den internationalen Beziehungen versprach sich Théodore Ruyssen auch eine Veränderung der Identität Europas. In der behandelten Schrift von 1924 hatte er sich mit den Ursachen des Ersten Weltkriegs in Europa beschäftigt. Er betonte darin immer wieder das zerstörerische Potential des Gegensatzes zwischen zentralisierenden Staatsinteressen und separatistischen Forderungen, die von Minderheiten ausgingen. Das Prinzip der Schiedsgerichtbarkeit und des Interessenausgleichs sah er auch hier als Instrument für eine dauerhafte Befriedung der Verhältnisse und für die Suche nach Kompromissen.
32 Congrès de 1916 (Rede T. Ruyssen), Anm. 9, S. 57 f.: „On peut, selon moi, concevoir deux formes de cette Société des Nations. Il en est une qu’aucun de nous n’est prêt à accepter: on peut concevoir, en effet, une paix semblable à la pax romana, une paix imposée par un impérialisme aux nations humiliées qui accepteraient l’hégémonie d’un Etat militaire puissant. Telle est précisément la conception que le pangermanisme s’efforce de réaliser; l’Allemagne victorieuse, à défaut de justice, serait de taille à faire régner l’ordre parmi les peuples germaniques ou plus ou moins germaniques qui se laisseraient englober et domestiquer par elle. Le ‚Mitteleuropa‘ jouirait ainsi d’une sorte de paix intérieure, la paix des tombeaux et des prisons.“ 33 Ruyssen: Völkerbund, Anm. 27, S. 8.
Welcher „Internationalismus“ als Lösung für die Krise Europas?
Für die Identität Europas bedeutete dieser Paradigmenwechsel die Aussicht auf einen neuen Fluchtpunkt, für den Ruyssen das Modell der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweizerischen Eidgenossenschaft heranzog.34 Mit der föderalistischen Perspektive35 wollte er einerseits die Gefahr eines „Überstaats“ verbannen, andererseits aber auch die Zersplitterung Europas36 vermeiden.
34 Vgl. Ruyssen: Minorités, Anm. 18, S. 369 f.: „En somme, les Etats-Unis des deux Amériques et la Confédération Helvétique offrent à l’Europe le modèle vivant d’une solution harmonieuse, conciliant l’égoïsme centralisateur et le nationalisme séparatiste.“ 35 Vgl. ebd., S. 368: „Ne faut-il pas reconnaître une loi sociale dans l’ample mouvement oscillatoire qui semble porter les peuples modernes à chercher dans la fédération une compensation aux périls de l’isolement?“ 36 Vgl. ebd.: „Il apparaît, en effet, manifestement impossible de satisfaire intégralement toutes les aspirations des minorités, même les plus sincères, car on aboutirait à un émiettement des Etats qui irait à l’inverse du mouvement moderne de centralisation qui semble tendre à la formation de vastes formations politiques.“
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Marcus Llanque
Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa
1.
Einleitung
Verstreut in Hermann Hellers Werk finden sich verschiedenste Einlassungen und Überlegungen zu Europa. Er hält die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘, verstanden als ‚europäischer Bundesstaat‘, nicht für unmöglich, sondern sogar für wünschbar. Bemerkenswert hieran ist, dass diese Meinung heraussticht aus einer intellektuellen Umgebung, die in der Weimarer Zeit alles andere als europafreundlich war. Dazu gehören die beiden Diskurse, welchen sich Heller selbst zuordnete, die deutsche Staatslehre und die Sozialdemokratie. Beide haben in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ihre eigenen Gründe gehabt, sich bezüglich Europas skeptisch bis abweisend zu zeigen, wie wir noch sehen werden. Hellers Position ragt dementsprechend aus beiden dieser Diskurse heraus. Inwieweit Hellers Überlegungen eine in sich kohärente Europa-Idee zugrunde lag, wird zu prüfen sein. Nachdem Heller im habsburgischen Österreich geboren wurde und Kriegsteilnehmer war, reüssierte er zunächst als Jurist bei Gustav Radbruch an der Kieler Universität, war dann am Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Berlin tätig und wurde schließlich auf eine Professur für Staatsrecht an der Universität Frankfurt am Main berufen. Kurze Zeit später starb er 1933 im Madrider Exil an Spätfolgen einer Kriegsverwundung. Zwischendurch war Heller an Einrichtung und Programmatik der Erwachsenenbildung in Leipzig beteiligt gewesen. Ferner war er aktives Mitglied der Sozialdemokratie und schon in dieser Hinsicht gehörte er zu einer Minderheit der Staatslehre an. Doch auch innerhalb der Sozialdemokratie vertrat er eine stark kritisierte Position, welche die Vereinbarkeit von Nation als Kulturgemeinschaft und Sozialismus behauptete. Politisch setzte sich Heller energisch für die Weimarer Republik ein, die er gegen extremistische Angriffe zu verteidigen bereit war, so sehr er selbst einzelne ihrer Elemente kritisierte. Auch das zeigt Heller als einen Autor, der nicht im hegemonialen Meinungsstrom des Zeitgeistes navigierte. Die beiden Diskurse, die ihn am meisten prägten, aus welchen er kam und in welche er hineinwirkte, die Staatslehre und die Sozialdemokratie, gilt es zu berücksichtigen, um Hellers Aussagen zu Europa besser einordnen zu können. Die Forschung hat sich bislang schwergetan, das Europa-Thema bei Heller angemessen zu würdigen, denn Hellers Aussagen zu Europa verteilen sich über sein Werk und sind nicht in einer Abhandlung gebündelt. Die großen Sammelbände
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Marcus Llanque
zu Heller haben das Europa-Thema meist ausgelassen oder unterschätzt,1 einzelne Angaben sind vage und unbewiesen geblieben. Wolfgang Schluchter geht in der Gedächtnisschrift zu Heller von 1984 davon aus, der „europäische sozialistische Bundesstaat zwischen einem bolschewistischen Russland und einem kapitalistischen Amerika“ sei Hellers Forderung gewesen, ohne dies weiter auszuführen oder auch nur nachzuweisen.2 Mit der Auffassung, wonach Heller „einen europäischen Bundesstaat als ein damals zeitgemäßes Modell entwarf “, bleibt Eberhard Lämmert völlig alleine, zumal es bei dieser bloßen Behauptung bleibt.3 Wenig geholfen hat der Umstand, dass das einzige Werk Hellers, das „Europa“ im Titel trägt, Europa und der Fascismus, ein ganz anderes Thema aufgreift, nämlich das Emporkommen faschistischer Bewegungen im Herzen Europas, in Italien. Hellers Ausführungen darin zu Europa sind knapp und vage, er konstatiert im Ergebnis, der „europäische Staat“ habe „gegenwärtig eine schwere und gefährliche Krise durchzumachen“.4 Dieses Buch hat dazu geführt, Hellers Beitrag zur Europa-Debatte auf seine Faschismus-Studien zu verengen.5 Heller wurde zwar jüngst aufgenommen in die ehrenvolle Riege von „Europas vergessenen Visionären“, doch sein Beitrag zum Verständnis Europas bleibt dort auf die erwähnte Analyse beschränkt, Europa befinde sich in einer umfassenden staatlichen, geistigen und historischen Krise,6 es finden sich keine weiteren aufschlussreichen Überlegungen zur Frage, wie sich 1 Vgl. von Müller, Christoph/Staff, Ilse (Hg.): Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891–1933, Baden-Baden 1984, bis zu Frick, Verena/Lembcke, Oliver W. (Hg.): Hermann Hellers demokratischer Konstitutionalismus, Wiesbaden 2022. Das gilt auch für den Sammelband zu Heller, den der Verfasser dieser Abhandlung veranstaltete, was selbstkritisch erwähnt werden muss: Llanque, Marcus (Hg.): Souveräne Demokratie und soziale Homogenität. Das politische Denken Hermann Hellers, Baden-Baden 2010. Seine Heller-Forschung konzentrierte sich bislang vor allem auf dessen republikanisches Denken: vgl. Llanque, Marcus: Politik und republikanisches Denken: Hermann Heller, in: Lietzmann, Hans J./Bleek, Wilhelm (Hg.): Moderne Politik. Politikverständnisse im 20. Jahrhundert, Opladen 2001, S. 37–61; Ders.: Hermann Heller and the Republicanism of the Left in the Weimar Republic, in: Jus Politicum 23 (2019), S. 13–30; Ders.: Hermann Heller, das Berufsbeamtentum und das etatistische Politikverständnis, in: Frick, Verena/Lembcke, Oliver W. (Hg.): Hermann Hellers demokratischer Konstitutionalismus, Wiesbaden 2022, S. 119–143. 2 Schluchter, Wolfgang: Hermann Heller. Ein wissenschaftliches und politisches Portrait, in: Müller/ Staff: Der soziale Rechtsstaat, Anm. 1, S. 45–63, hier S. 54. 3 Lämmert, Eberhard: Hermann Heller und die deutsche Universität. Eine Einführung, in: Müller/Staff: Der soziale Rechtsstaat, Anm. 1, S. 13–22, hier S. 19. 4 Heller, Hermann: Europa und der Fascismus (2 1931), in: Ders.: Gesammelten Schriften, 3 Bde., hier Bd. 2, Tübingen 2 1992, S. 463–609, hier S. 465. 5 Vgl. Lammers, Karl Christian: Europe between Democracy and Fascism. Hermann Heller on Fascism as a Threat to Europe and Democracy as a Community of Values, in: Bruun, Lars K./Lammers, Karl Christian/Sørensen, Gert (Hg.): European Self-Reflection between Politics and Religion. The Crisis of Europe in the Twentieth Century, Houndmills 2013, S. 44–57. 6 Vgl. Voigt, Rüdger: Hermann Heller (1889–1933), in: Böttcher, Winfried (Hg.): Europas vergessene Visionäre. Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen, Baden-Baden 2019, S. 375–382.
Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa
Heller Europa selbst vorstellt. Heller dient mittlerweile immerhin als Inspiration dafür, wie die Krise der Europäischen Union mit Blick auf die Zukunft bewältigt werden kann, aber nicht seine Einlassungen zu Europa selbst werden genutzt, um ihn zum Vordenker der EU zu machen, sondern sein grundsätzliches Verständnis von Politik und Recht.7 Die in Hellers Werk verstreuten Einlassungen zu Europa sollen hier verknüpft und in einen konsistenten Zusammenhang gestellt werden. Das gelingt aber nur, wenn berücksichtigt wird, dass Heller seine Europa-Vorstellungen in zwei sehr unterschiedlichen Kontexten vortrug, im Diskurs der Staatslehre und dem der Sozialdemokratie, was eine jeweils unterschiedliche Argumentationsweise zur Folge hatte. Vor der nötigen diskursiven Einbettung soll vorab und anhand eines wenig bekannten Textes von Heller die von ihm vertretene Europa-Position skizziert werden.
2.
Hellers Europa-Vorstellungen im Gespräch zweier Friedensfreunde von 1924
In einem von der Heller-Forschung wenig beachteten Beitrag zum Mitteilungsblatt der sozialistischen Arbeiter-Jugend, der Zeitschrift Sozialistische Jugend, aus dem Jahr 1924 findet sich ein fiktiver Dialog, das Gespräch zweier Friedensfreunde, den Heller zwei junge Sozialisten führen lässt.8 Dieser Text deutet seine eigene europapolitische Perspektive an. Einer der beiden Gesprächspartner argumentiert pazifistisch und bezeichnet den Krieg als blutigen Austrag von Wirtschaftsinteressen. Stattdessen will er, dass man sich an Immanuel Kants Idee des ewigen Friedens orientiert.9 Beide einigen sich auf die Vorherrschaft des Völkerrechts und die Macht eines Schiedsgerichts zur unblutigen Beilegung von Konflikten zwischen den Nationalstaaten. Die Frage ist nur, wie man dorthin gelangt. Die zweite Person schlägt vor, einen „europäischen Bundesstaat“ als „nächsten Schritt einer kontinuierlichen Annäherung an die Idee des ewigen Friedens“ einzurichten. Das meint in dieser Deutung einen das Völkerrecht „garantierenden Zwangsapparat in der Stärke, daß er den Krieg verhindern kann“. Aber das gelingt nur zwischen Nationen,
7 Vgl. Frick, Verena/Lembcke, Oliver W.: Autoritärer Liberalismus oder demokratischer Konstitutionalisms? Hermann Heller und die europäische Dauerkrise, in: Dies.: Hellers demokratischer Konstitutionalismus, Anm. 1, S. 203–223. 8 Heller, Hermann: Gespräch zweier Friedensfreunde, in: Sozialistische Jugend 1 (1924), S. 64 f., zitiert nach Ders.: Gesammelte Schriften, 3 Bde., hier Bd. 1, Tübingen 2 1992, S. 421–424. 9 Gemeint ist Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), zitiert nach der 2. Aufl. 1796, in: Ders.: Theorie-Werkausgabe, Bd. XI (Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik 1), hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1968, S. 195–251.
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die auch überzeugt sind, „daß es menschenwürdiger und zweckmäßiger ist, einen Schiedsrichter und gemeinsames Recht anzuerkennen“. Der Frieden kann also nur „zwischen Völkern mit annähernd ähnlichen Gewohnheiten aller Art, religiösen, sittlichen und rechtlichen Überzeugungen“ gelingen, d. h. Nationen, die eine „Kulturgemeinschaft“ teilen. Denn nur gemeinsame Überzeugung schaffe Recht. Daher kann im Augenblick das von Kant ersehnte Projekt des Weltfriedens nur von einem „europäischen Bundesstaat“ ausgehen, als erste Stufe einer Gesamtentwicklung. So die beiden Gesprächspartner.10 Diese Inhaltsangabe eines kurzen, fast schon literarisch anmutenden Textes ist insofern charakteristisch für Heller, als sie ihn weder als Juristen noch als Sozialdemokraten zeigt, sondern als Lehrer, der in einer dialogischen Weise die Problematik einer politischen Sache oder Lage zu erkunden versucht und seine eigene Position nicht als dogmatisch einzige Denkmöglichkeit kundtut. Inhaltlich zeigt der Text verschiedene Aspekte, die gerade vor dem Hintergrund zeitgenössischer EuropaVorstellungen in der Weimarer Zeit aufschlussreich sind. Das Gespräch zweier Friedensfreunde erfolgte kurze Zeit, nachdem CoudenhoveKalergi 1923 mit der Veröffentlichung seiner Schrift Pan-Europa den Anstoß zur Paneuropa-Bewegung gegeben hatte.11 Diesen Paneuropa-Plan lehnte Heller ein Jahr nach dem Gespräch zweier Friedensfreunde ab.12 Heller verwendet zwar selbst den Ausdruck ‚paneuropäisch‘, meint damit aber unabhängig von der PaneuropaBewegung sehr konkret die „paneuropäischen Wirtschaftsinteressen“, die aus sich heraus eine nicht zu unterschätzende Bedeutung haben für die Chancen einer internationalen Kooperation.13 Was ihn an dem Paneuropa-Plan stört, sind zwei Punkte: die Missachtung der realpolitischen Konstellation und der Charakter von Plänen, die Modelle vom Reißbrett erstellen. Heller nennt den Paneuropa-Plan eine „Studierstubenidee“, die „nur auf dem geduldigen Papier möglich erscheint“. Der Plan schließt ferner Großbritannien und Russland aus und ignoriert damit die größten Mächte im europäischen Kontext.14 Man kann sagen, dass Heller nicht ideell argumentiert, sondern reell: Es reicht nicht, eine zustimmungswerte Idee darüber zu haben, was man zu erreichen wünscht, sondern man muss zuvorderst
10 Alle Zitate zu finden bei Heller: Gespräch zweier Friedensfreunde, Anm. 8, S. 421–424. 11 Vgl. Coudenhove-Kalergi, Richard: Pan-Europa, Wien 1923. Vgl. hierzu vor allem: Schöberl, Verena: „Es gibt ein großes und herrliches Land, das sich selbst nicht kennt … Es heißt Europa“. Die Diskussion um die Paneuropaidee in Deutschland, Frankreich und Großbritannien 1922–1933, Münster 2008. 12 Vgl. Heller, Hermann: Sozialismus und Nation, zitiert nach der 2. Aufl. 1931, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Anm. 8, Bd. 1, S. 437–526, hier S. 523. In der Erstauflage 1925, S. 100. 13 Ebd., S. 516. 14 Vgl. ebd., S. 523.
Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa
die Faktoren berücksichtigen, welche die Bedingung der Möglichkeit einer Realisierung dieser Idee darstellen. Der Paneuropa-Plan wird heute in jeder Darstellung der Europa-Ideen der Zwischenkriegszeit erwähnt und oft als leuchtendes Vorbild eines frühen europäischen Integrationsgeistes gepriesen. Doch bei aller Fortschrittlichkeit des Paneuropa-Modells darf nicht aus dem Blick geraten, dass die Karte, die Coudenhove-Kalergi seinem Modell zugrunde legt, nicht aus allen europäischen Staaten besteht (wie Heller bemängelte, fehlen Russland und Großbritannien), dafür aber afrikanische und asiatische Territorien einschließt, die französischen und niederländischen Kolonien nämlich. Das Europa des Paneuropa-Modells ist also auch aus heutiger Sicht in vielerlei Hinsicht angreifbar. Wie Heller ein Jahr später wiederholen wird: Die Kantische Idee des ewigen Friedens ist „eine Idee, der wir uns stetig anzunähern haben“.15 Eine europäische politische Ordnung lässt sich nicht mit einem Schlag verwirklichen. Wenn Heller in seinem Gespräch zweier Friedensfreunde auf Kant verweist, so deshalb, weil Kants Idee eines Staatenbundes zum Zwecke der Friedenssicherung nicht vom Ende her gedacht ist, sondern Angaben über Bedingungen der Möglichkeit macht wie vor allem darüber, wie ein solcher Bund überhaupt zustande kommen kann. Kant hat freilich die Meinung vertreten, ein solcher Friedensbund werde sich um eine zentrale Großmacht republikanischen Zuschnitts bilden und dann mit der Zeit einen immer größeren Umfang einnehmen. Das war 1795 ein leicht zu entschlüsselnder Hinweis auf die Französische Republik. Diese Möglichkeit eines europäischen Bunds um eine Hegemonialmacht herum haben in der Zwischenkriegszeit selbst die enthusiastischsten Europäer nicht verfochten, so auch Heller nicht. Kant diente also Heller nicht als Blaupause, sondern als Anstoß der Denkrichtung, wie Europa als künftige politische Ordnung in den Blick genommen werden muss, als ein im Werden befindlicher Prozess. Das Gespräch zweier Friedensfreunde zeigt aber auch, dass Heller eine über Europa hinausweisende Perspektive einnimmt. Seine Vorstellungen von politischer Ordnung, internationaler Kooperation und Zusammengehörigkeit enden nicht an den europäischen Grenzen, wie immer man diese definiert; sie sind auf die „Menschheit“ bezogen, wie Heller sagt: Er lehnt einen von nationalen Aspekten absehenden „Menschenbrei“ ab und zielt stattdessen auf die in ihren jeweiligen nationalen Kulturen verorteten Völker, die sich aus einer solchen Verwurzelung heraus „den übernationalen Zwecken der Menschheit“ widmen können und wollen.16 Daher ist für Heller ein europäischer Einheitsstaat undenkbar. Von vornherein geht es ihm um einen Staatenbund; wie eng dieser auch verknüpft ist, er wird eine Föderation bleiben müssen. Hiergegen spricht nicht Hellers Wortwahl, wenn er
15 Ebd., S. 525. 16 Ebd., S. 522.
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gelegentlich von den „Vereinigten Staaten von Europa“ spricht.17 Sicherlich stehen bei Heller wie bei anderen Verfechtern der europäischen Annäherung die Vereinigten Staaten von Amerika Pate. Das galt schon für Victor Hugo in seiner weit verbreiteten Rede vor der Friedenskonferenz von 1849, als dieser die USA zum Vorbild für die Idee der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ erhob.18 Mit der Formel wurde nicht die Idee eines Einheitsstaates mit föderaler Gliederung verfochten, sondern der Prozess, wie sich eine Vielheit von Staaten miteinander verbündet. Dieser Prozess ist nicht konfliktfrei verlaufen, wie nicht zuletzt der amerikanische Bürgerkrieg zeigte. Hellers Auffassung ist eindeutig föderal im klassischen Sinne, meint also den Bund oder die Allianz von selbstständigen und unabhängigen Einzelstaaten, die ihre Kooperation aber so intensiviert haben, dass sie ihren Niederschlag in dauerhaften Institutionen findet und in vielen Bereichen einzelner Politiken auch große Gemeinsamkeiten oder sogar Gleichheit aufweisen. Daher redet Heller auch von der „europäischen Völkerorganisation“,19 die mehr ist als die „internationale Völkergemeinschaft“, aber noch keine „sozialistische Volksgemeinschaft“,20 wie sie in Hellers Worten der Sozialismus anstrebt. Auch hinsichtlich des im echten Sinne föderalen Charakters der angestrebten politischen Ordnung Europas steht Kant hinter Hellers Denken. Denn Kants Idee des Friedensbundes zielt nicht auf einen Einheitsstaat, sondern auf einen echten Staatenbund, allerdings einen, dessen Mitgliedsstaaten in einigen Aspekten zentrale Gemeinsamkeiten aufweisen, namentlich die republikanische Grundstruktur. Zugleich lehnt Kant jede Vorstellung eines Weltstaates ab, da er eine zu große Spanne zwischen Zentrum und Peripherie aufweisen würde. Diese Spanne wird im Ergebnis immer dazu führen, dass ein solcher Weltstaat als Einheitsstaat für die in der Peripherie befindlichen Normadressaten als „seelenloser Despotism“ wahrgenommen werden muss.21 Bereits der kleine Text Gespräch zweier Friedensfreunde gibt schon erste Aufschlüsse darüber, in welche Richtung Hellers politisches Denken hinsichtlich Europas verläuft. Im Folgenden gilt es, die weiteren Aussagen Hellers zu Europa nach den jeweiligen Diskursen darzustellen, auf die sie gemünzt sind. Das sind die Staatslehre und die Sozialdemokratie.
17 Heller, Hermann: Die politischen Ideenkreise der Gegenwart (1926), zitiert nach: Ders.: Gesammelte Schriften, Anm. 8, Bd. 1, S. 267–412, hier S. 409. 18 Vgl. Metzidakis, Angelo: Victor Hugo and the Idea of the United States of Europe, in: NineteenthCentury French Studies 23 (1994–1995), S. 72–84. 19 Heller: Sozialismus und Nation, Anm. 12, S. 524. 20 Ebd., S. 525. 21 Kant: Zum ewigen Frieden, Anm. 9, S. 225.
Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa
3.
Heller und die Europa-Idee im Kontext der Weimarer Staatslehre
3.1 Europa im Denken der deutschen Staatslehre in Weimar Die Einbettung Hellers in den Diskurs der Weimarer Staatslehre dient dazu, seine Europa-Vorstellungen angemessener beurteilen zu können. Der Fokus von Hellers politischem Denken war der Staat, und dies hatte nicht nur mit seiner Mitgliedschaft in der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer zu tun. Sie wurde 1922 gegründet und trägt diesen Namen bis heute.22 Die zentrale Rolle des Wortes ‚Staat‘ ist hier kein äußerliches Beiwerk, sondern markiert den zentralen Begriff, mit dem dieser Diskurs operiert und aus dem heraus er sich versteht. Das war selbstverständlich das Erbe einer eminent deutschen Denktradition, welche selbst in ihren progressiven Teilen die Tendenz aufweist, alle Politik mit dem Staat zu identifizieren, den Staat als eigentlichen Ort des Politischen anzusehen. Das traf auch auf liberale Staatslehrer zu, etwa auf Georg Jellinek, der in seiner im Jahr 1900 publizierten, weit verbreiteten und auch in Weimar intensiv konsultierten Allgemeinen Staatslehre schrieb: „‚Politisch‘ heißt ‚staatlich‘; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht“.23 Diese Fokussierung auf den Staat belastete die Denkmöglichkeit, Europa als eine politische Ordnung zu denken. Ging man vom Staat als Inbegriff des Politischen aus, so waren politische Ordnungen, die Staaten als Teile aufweisen, entweder Bundesstaaten oder Staatenbünde. Auch dafür kann man auf Jellinek verweisen.24 Das Verständnis Europas war innerhalb dieses Diskurses letztlich darauf beschränkt, Name derjenigen Region zu sein, in welcher bestimmte Staaten sich in Nachbarschaft befinden. Europa kann hieran anknüpfend auch die historische Bezeichnung für den Ort bzw. den Raum sein, in welchem Staatlichkeit selbst erfunden wurde, also als Herkunft der Staatsidee selbst. Dieser Raum konnte aber nicht oder nur mit größter Mühe als eine ‚politische‘ Ordnung auch nur gedacht werden. Die Europa-Idee war kein Vorbild oder Inspiration für politisches Denken in der deutschsprachigen Staatslehre, sie war eher als geistiger Raum gedacht, eher als Abendland denn als mögliche Europäische Union von Staaten. Europa war also nicht Staat, aber möglicherweise ‚Reich‘. Abgesehen von der Eigentümlichkeit, dass der offizielle Name der Weimarer Republik „Deutsches Reich“ lautete, was die Kontinuität zur Staatsgründung des Deutschen Kaiserreichs von 1871 sichern sollte, eröffnet der Reichsbegriff historische Tiefendimensionen, die 22 Vgl. Stolleis, Michael: Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 80 (1997), S. 339–358. 23 Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, Berlin 3 1929, S. 180. 24 Vgl. Jellinek, Georg: Die Lehre von den Staatenverbindungen, Wien 1882.
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zuweilen mythischen Charakter annehmen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation etwa bot eine wenigstens gedankliche Kontinuität zum römischen Imperium, das für das Sonderverhältnis Deutschlands zu Europa lange prägend war: Der deutsche Staat steht hier in einer langen Tradition, die von der römischen Praxis bis zum preußischen Beamtenstaat reicht. Er befindet sich daher nur in Europa, er ist in gewisser Hinsicht eine exemplarische Auslegung dessen, was europäische Staatlichkeit insgesamt bedeutet. Nicht zuletzt daran wollte die Bezeichnung ‚Drittes Reich‘ anknüpfen. Besonders konservative Autoren wie Carl Schmitt nutzten den alten Reichsgedanken, um eine gleichsam geschichtsphilosophische Eigenheit deutscher Staatlichkeit als Inbegriff kontinentaleuropäischer Staatlichkeit herauszustellen und so ‚Kontinental-Europa‘ dem anglo-amerikanischen Raum gegenüberzustellen. Hier war der Gedanke eines europäischen Staatsdenkens unter deutscher Führung bereits angelegt, die dann nach 1933 erheblich zu Schmitts Verstrickung mit dem Nationalsozialismus beitrug. Dies war allerdings eine Fehlkalkulation gewesen, denn die Eroberung Europas durch Nazi-Deutschland, das Dritte Reich, erfolgte unter dem Banner des Rassismus und nicht einer angeblichen staatlichen Gemeinsamkeit. Schmitt opponierte dabei schon frühzeitig gegen den Völkerbund und stützte seine Argumentation auf eine Idee von Europa, die seiner Ansicht nach mit einer supranationalen Einigung unvereinbar ist.25 Liberale Gegenpositionen hinsichtlich des Staatsdenkens sind etwa bei Hans Kelsen zu finden, aber auch sie verschaffen dem Staatsdenken keinen Zugang zu Europa. Denn Kelsen definierte den Staat als Rechtsstaat und die politische Ordnung als Rechtsordnung und damit ungeachtet jeglicher materiellen Substanz. Das ist aus heutiger Sicht ein Ansatz, der es erlaubt, die nationalstaatlichen Kontingenzen zugunsten einer – etwa auf individuellen Rechten ausgerichteten – transnationalen Ordnung zu ersetzen. So wird Kelsen immer wieder als der wichtigste Rechtstheoretiker der europäischen Integration herangezogen.26 Tatsächlich ist für Kelsen die Erweiterung der Rechtsordnung um supranationale Elemente rechtstheoretisch möglich. Wenn das Recht selbst souverän ist, dann lässt sich auch vom Völkerrecht herunter bis zu den lokalen Rechtsordnungen eine Hierarchie denken. Das kann
25 Die Anbiederung an das Nazi-Regime zeigt sich in Schmitts Zusammenstellung von Abhandlungen aus der Zeit zwischen 1923 und 1939: Schmitt, Carl: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles. 1923–1939 (1940), Berlin 4 2014. Für die Europa-Idee vgl. Schmitt, Carl: Völkerbund und Europa (1928), in: ebd., S. 100–110; zum Reichsgedanken vgl. ders.: Reich – Staat – Bund (1933), in: ebd., S. 217–226. 26 Vgl. Ehs, Tamara: Hans Kelsen und die Europäische Union. Erörterungen moderner (Nicht-)Staatlichkeit, Baden-Baden 2008; Stellbrink, Patrick: Wesen und Wert der Europäischen Union. Gestalt und Entwicklungsperspektiven des europäischen Integrationsprojekts im Lichte der Gedanken Hans Kelsens, Berlin/Münster 2014.
Hermann Heller und die Vereinigten Staaten von Europa
aber nicht überdecken, dass Kelsen selbst in seiner Weimarer Zeit kaum über Europa als einer spezifischen Ordnung nachgedacht hat.27 Aus der Sicht seiner abstrakten Normentheorie (der Reinen Rechtslehre), welche den Staat zu einer Rechtsordnung umdeutet, ist Europa ebenso kontingent, wie es die nationalstaatlichen Grenzen sind. Diese bemerkenswerte Leerstelle bezüglich Europa trifft also nicht nur auf jene revanchistischen und etatistischen Staatslehrer zu, die in einer oft geschichtsphilosophisch überhöhten Weise – gelegentlich durch eine schlechte Hegel-Rezeption inspiriert – den Staat als Zentrum der Sittlichkeit begriffen und jede überstaatliche Orientierung nicht nur als Gefährdung des deutschen Staates, sondern der Staats-Idee insgesamt verstanden. Europa war im deutschen Diskurs der Weimarer Zeit auch außerhalb der Staatslehre ein prekärer Begriff. Man denke an die Mitteleuropa-Ideen, die während des Ersten Weltkrieges intensiv diskutiert wurden und der militärischen Allianz des Deutschen Reichs mit dem habsburgischen Reich eine historisch-kulturelle TiefenPerspektive geben wollten. Auf der anderen Seite steht der Begriff ‚Westeuropa‘, welcher in der Weimarer Debatte nicht Deutschland einschloss (anders als in der späteren Westorientierung Adenauers für West-Deutschland), sondern die Entente von Großbritannien und Frankreich meinte. Der Westen war eine politische Vorstellung, welche durch die Konfliktlinie des Weltkrieges eine bestimmte polemische Bedeutung erhalten hatte, die auch nach dem Ende des Krieges Bestand hatte.28 Hiergegen mussten auch solche Autoren ankämpfen, die eine Perspektive suchten, welche sowohl Westeuropa wie auch Deutschland umfasste, etwa Ernst Troeltsch. Diese – sehr rudimentären – Einlassungen zur Stellung Europas im Denken der deutschsprachigen Staatslehre der Weimarer Zeit dienen hier vor allem dem Nachweis, wie genuin und eigenständig Hermann Hellers eigenes Europa-Bild war, wenn man ihn in den Kontext des Staatslehre-Diskurses stellt. 3.2 Hellers Europa-Vorstellungen im Kontext der deutschen Staatslehre Zum Zeitpunkt des Erscheinens vom Gespräch zweier Friedensfreunde aus dem Jahr 1924 befand sich Heller in Leipzig, wohin er 1921 gegangen war, bevor er 1926 weiter nach Berlin zog. In seiner Leipziger Zeit habilitierte sich Heller mit einer Schrift zum Begriff der Souveränität.
27 Die großen monographischen Werke Kelsens der 20er und der frühen 1930er Jahre, Die Allgemeine Staatslehre von 1925 und die Reine Rechtslehre von 1934, erwähnen Europa noch nicht einmal. 28 Hierzu Angaben bei Llanque, Marcus: The First World War and the invention of „Western Democracy“, in: Bavaj, Riccardo/Steber, Martina (Hg.): Germany and the ‚West‘. The History of a Modern Concept, Oxford/New York 2015, S. 69–80.
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Wenige Begriffe haben eine größere Nähe zur deutschen Tradition des Etatismus als die Souveränität. Sie gilt vielen noch heute als das spezifische Attribut des Staates schlechthin. Die Erschütterung der Staatlichkeit durch den Ersten Weltkrieg und die gleich im Anschluss stattfindende Demokratisierung des Staates in Deutschland führten zu einer neuen Debatte um Inhalt und Grenzen der Souveränität. Wenn auch viele an ihr beteiligt waren, so gehört die Debatte zwischen Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Heller zu den bekanntesten ihrer Art aus der Weimarer Zeit.29 Sie nahm ihren Ausgang bei Kelsens Relativierung des Souveränitätsbegriffs und der Umdeutung des Staates zu einer Rechtsordnung.30 Am bekanntesten ist Schmitts Opposition gegen dieses Ansinnen, wenn er – auf einer sehr grundsätzlichen Ebene – Staatlichkeit in ein Verhältnis zu Theologie und zur Politik stellt, mit der berühmten Aussage, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide.31 Heller beteiligte sich an dieser Debatte mit seiner Habilitationsschrift Die Souveränität von 1929,32 in welcher er sich – wie Schmitt – gegen die Entpersonalisierung des Staates durch Kelsen wandte, aber zugleich von Schmitt dadurch abhob, dass er die Souveränität nicht über den Dezisionismus à la Thomas Hobbes definierte, sondern Jean Bodin und der Meinung folgte, dass die Gesetzgebung das Zentrum der Souveränität ist. Diese anders geartete ideengeschichtliche Verortung hat Konsequenzen für die Frage, welchen Stellenwert Souveränität in der Frage der internationalen Beziehungen einnimmt, und damit indirekt für die Integration der europäischen Nachbarstaaten. Heller macht sich stark für ein personalistisches Verständnis von Staatlichkeit, in welchem die zum Staat zusammengeschlossenen Menschen ihre souveräne Selbstgesetzgebung vornehmen. Gegen Kelsen beharrt Heller darauf, dass das Recht nie ohne ein Element der willentlichen Setzung und Zustimmung gedacht werden kann.33 Damit scheint Heller in dieser Sache Partei für den Nationalstaat und gegen eine weltstaatliche Ordnung ergriffen zu haben. Das ist aber nicht ganz zutreffend, denn Heller sieht in der Souveränität kein Hindernis für eine politische Ordnung. Das zeigt sich in seiner Auseinandersetzung mit Hans Freyer, die den Abschluss seiner Souveränität darstellt.
29 Vgl. Dyzenhaus, David: Hans Kelsen, Carl Schmitt, Hermann Heller. Paradigms of Sovereignty Thought, in: Theoretical Inquiries in Law 16 (2015), S. 337–366. 30 Vgl. Kelsen, Hans: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, Tübingen 1920 und Ders.: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922. 31 Vgl. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), Berlin 2 1934. 32 Vgl. Heller, Hermann: Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts (1927), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Anm. 4, Bd. 2, S. 31–202. 33 Vgl. ebd., S. 197.
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Der Etatismus Schmitts und anderer Vertreter der Staatslehre der Zwischenkriegszeit findet sich auch in anderen Disziplinen dieser Zeit, so bei dem Soziologen Hans Freyer, mit dem Heller in seiner Leipziger Zeit viel zu tun hatte. In bestimmten Gebieten kooperierte Heller mit Freyer (etwa in Fragen der Erwachsenenbildung), in anderen widersprach er ihm. In der Zeit der Leipziger Zusammenarbeit von Heller mit Freyer veröffentlichte dieser sein Buch Der Staat.34 Staat meint hier den singulären Nationalstaat. Das Buch endet mit einem ganzen Kapitel zu Europa.35 Darin verabschiedet Freyer nicht nur die Idee des Weltstaates, sondern auch die Europas als einer eigenständigen politischen Ordnung und bezichtigt diese des Verrats am Abendland: „Nicht nur der Weltstaat, auch das Reich Europa ist eine Utopie, die man nicht ernsthaft wollen kann, und die man nicht wollen darf, will man nicht Verrat am Geiste des Abendlandes begehn“.36 Gegen diese Einstellung protestiert Heller vernehmlich. Er zitiert in seinem Buch Souveränität die gerade wiedergegebene Passage aus Freyers Buch und wendet gegen dessen Argumentation ein: Demgegenüber läßt sich sehr wohl die Frage aufwerfen, ob der Kulturindividualismus der europäischen Nationen heute nicht gerade durch ihren politischen Individualismus in seiner Existenz bedroht ist und allein gerettet werden kann durch einen souveränen europäischen Bundesstaat.37
Diese Einlassung Hellers erklärt ein wenig, wie er auf der einen Seite an dem Nationalstaat festhält und auf der anderen die Möglichkeit einer europäischen politischen Ordnung nicht nur für möglich, sondern für nötig erachtet. Denn Heller unterscheidet die Einmaligkeit einer Nation verstanden als Kulturgemeinschaft auf der einen Seite von der Organisation dieser Kulturgemeinschaft zu einem politisch handlungsfähigen Verband, dem Staat, auf der andern Seite. Seine Forderung besteht darin, das, was am Nationalstaat schätzenswert ist, die individuelle Kultur, dadurch politisch zu schützen, dass sich die Nationalstaaten mit vergleichbarer Kultur verbünden. Heller fordert in diesem Zusammenhang daher nichts weniger als den Gedanken einer „europäischen Internationale[n] zur Erhaltung der Nationen“.38 Alle politischen Organisationen gehorchen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten, die nicht mit jenen der Kultur übereinstimmen müssen, aber sie sind
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Freyer, Hans: Der Staat, Leipzig 1925. Vgl. ebd., S. 207–216. Ebd., S. 212, Orthographie unverändert. Heller: Souveränität, Anm. 32, S. 201. Heller, Hermann: Rechtsstaat oder Diktatur? (1930), zitiert nach: Gesammelte Schriften, Anm. 4, Bd. 2, S. 443–462, hier S. 461.
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von der sie umgebenden und praktizierten Kultur abhängig. Erst die Kultur verleiht allem positiven Recht seine Legitimität. In seiner Rechtstheorie legt Heller zwar ähnlich wie Schmitt Wert darauf, dass das Recht nicht als etwas Anonymes gedacht wird, sondern Personen und Personenverbänden zugeordnet wird, deren willentliche Forderung das Recht erst schafft; aber anders als Schmitt beruht das Recht bei ihm nicht auf einer blinden Festlegung (Schmitts Dezision), sondern ist abgeleitet von höheren Grundsätzen wie bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen und Rechtstraditionen, ferner solchen Praktiken, die in der heutigen Sprache als politische und rechtliche Kultur bezeichnet werden. Diese Grundsätze sind allerdings, wie Heller hervorhebt, vage und fließend und müssen, sollen sie Rechtskraft erhalten, positiviert werden, also in konkrete Rechtsnormen übersetzt werden. Heller packt dieses Argument in die Formel, man müsse zwischen „Rechtssatz“ und „Rechtsgrundsatz“ unterscheiden.39 Legitime Rechtssätze sind also nur möglich, wenn sie Übersetzungen derjenigen allgemeinen Rechtsgrundsätze sind, die von den Normadressaten anerkannt werden. Eine gemeinsame Kultur wird so zur Voraussetzung einer gemeinsamen Rechtsordnung. Das gilt laut Heller für jeden Staat, auch für den modernen Nationalstaat. Seine Probleme der Integration nationaler Minderheiten kann auch der Nationalstaat nur auf der Basis geteilter Kultur lösen. Geteilte Rechtsgrundsätze erlauben einen funktionierenden Staat mit mehreren, mehr oder weniger gleichberechtigten Nationalkulturen. Heller verweist hierfür auf die Schweiz: „Für diejenigen, die fürchten, eine übernationale Staatsorganisation wäre der nationalen Kultureigenart gefährlich, genügt es, auf die Schweiz zu verweisen“.40 Daher ist es möglich, eine solche „übernationale Staatsorganisation“ auch auf europäischer Ebene zu verwirklichen, da Heller davon ausgeht, dass hier die nötige Nähe der Rechtsgrundsätze vorliegt: Für die Vereinigten Staaten von Europa stünde wenigstens die Voraussetzung einer uralten geistigen Tradition zur Verfügung, deren gegenwärtig lebendige Wirksamkeit aber ohne eine tiefe Revolution der europäischen Geister sicher nicht genügende politische Tragkraft besäße. Vielleicht, daß das sich ausbreitende Gefühl dafür, daß alle politischen Ideenkreise der Gegenwart tief erschüttert sind und ebenso wie der krisenhafte Zustand des europäischen Staatensystems dringend einer Erneuerung bedürfen, zur Tat wird und das müde Europa verjüngt.41
39 Hellers Argumentation ist genauer dargelegt in meinem Aufsatz: Llanque: Heller and the Republicanism of the Left, Anm. 1. 40 Heller: Sozialismus und Nation, Anm. 12, S. 518. 41 Heller: Ideenkreise der Gegenwart, Anm. 17, S. 409.
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Was es gegenwärtig und auf absehbare Zeit nicht geben kann, ist laut Heller ein alle Menschheits-Kulturen umfassender, weltumspannender Bundesstaat. Hier fehlen einfach die gemeinsamen Rechtsgrundsätze. Daraus folgt keineswegs Feindschaft oder die Unmöglichkeit friedlicher Beilegung von Streitigkeiten, es macht aber sehr viel abstraktere Rechtssätze nötig, die auch nur punktuell und segmentär greifen. Das ist das Völkerrecht, und auch dieses kann nur funktionieren, wenn die beteiligten Staaten vergleichbare, das Völkerrecht überhaupt erst ermöglichende Rechtsgrundsätze teilen, wie etwa das Prinzip ‚pacta sunt servanda‘. Eine „enge gesellschaftliche Verflechtung“ der europäischen Nationen sieht Heller bereits als gegeben an, hinzukommen muss ein „umfassenderes Substrat Europa, in dessen Namen allein noch die gegenwärtige Staatskrise überwunden werden kann“.42 Hierfür muss „die Autarkie des europäischen Nationalstaates“ aufgehoben werden zugunsten einer „internationalen Staatenverbindung“.43 Selten wurde so deutlich hervorgehoben, wie es Heller tat, dass mit jeder größeren Annäherung an eine europäische politische Ordnung auch die Selbstständigkeit des Nationalstaates verringert sein wird; da aber die staatliche Rechtsordnung auf gemeinsamen Rechtsgrundsätzen begründet ist, kann der Verlust an staatlicher Eigenständigkeit einer Nation kompensiert werden durch die Wahrnehmung, derselben Kulturgemeinschaft von Nationen zuzugehören und mit der supranationalen politischen Ordnung eine höhere staatliche Leistungsfähigkeit zu erzielen. Heller operierte also nicht mit dem emotionalen Appell an die friedliebenden Europäer, sondern mit nüchternen, interessenbezogenen Argumenten, hinter welchen ein starkes Selbstbewusstsein der Zugehörigkeit zu primär auf Kultur konzipierten Europa-Ideen erkennbar wird. Ermöglicht also eine vergleichbare Rechtskultur einen europäischen Staat als Bundesstaat von Nationalstaaten, so stellt dies bei Weitem nicht den einzigen Faktor dar, den es laut Heller zu berücksichtigen gilt hinsichtlich der Notwendigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit einer europäischen Ordnung. Heller ist nicht nur Staatslehrer, er ist auch Mitglied der SPD und bezeichnet sich als Sozialist. Was aus dieser Perspektive zusätzlich zur staatsrechtlichen Ebene berücksichtigt werden muss, sind materielle Faktoren, insbesondere soziale und ökonomische Aspekte.
42 Ebd., S. 374. 43 Ebd., S. 407.
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4.1 Das Europa-Denken in der deutschen Sozialdemokratie Die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ waren eine Forderung des Heidelberger Programms der SPD von 1925.44 Angesichts dessen hätte man erwarten dürfen, dass es eine intensive Debatte innerhalb der deutschen Sozialdemokratie um die politische Ordnung Europas gab, doch sie blieb überwiegend aus. Das eingangs erwähnte Gespräch zweier Friedensfreunde, das 1924 erschien, ist eine Ausnahme. Die Forschung zu den europäischen oder kosmopolitischen Ideen im Deutschland der Zwischenkriegszeit besteht nicht aus einer Fülle an sozialdemokratischen Stimmen.45 Wenn hier von einem „sozialdemokratischen Europa“ gesprochen wird als einem Signum der Zwischenkriegszeit,46 so erschöpft sich dies in innenpolitischen Parallelen, zumal in Hinblick auf geteilte Ideen des Wohlfahrtsstaates, umfasst aber keine konzertierte internationale Politik oder deren gedankliche Durchdringung. Das hatte aus deutscher Sicht auch damit zu tun, dass sich erhebliche Teile Europas zum Völkerbund vereinigt hatten, aber zunächst unter Ausschluss Deutschlands. Aus der Sicht nicht nur von unverbesserlichen nationalistischen Revanchisten, sondern auch von progressiven Sozialdemokraten trug der Völkerbund anfangs den Charakter, ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis zu sein. Es ist kein Zufall, dass Europa-Ideen, wie sie in Coudenhove-Kalergis PaneuropaPlan und bei anderen französischsprachigen und sehr wenigen deutschsprachigen Autoren zu finden sind, parallel zum Völkerbund und unabhängig von ihm formuliert werden, insbesondere wo sie den Gedanken der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ aufgriffen. Hierzu kann man exemplarisch auf den französischen Politiker und Deputierten Albert Vazeille oder den deutschen Sozialdemokraten Hermann Kranold verweisen.47 Die Verträge von Locarno 1925 waren kein Resultat des Völkerbundes. Die Rede von den ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ als Beitrag zur Friedensdiskussion der Zwischenkriegszeit nahm 1930 erneut Fahrt auf, als Édouard Herriot, der frühere französische Regierungschef und Unterstützer der 44 Vgl. Dowe, Dieter (Hg.): Programmatische Dokumente der Deutschen Sozialdemokratie, Bonn 3 1990, Dok. 16, S. 211–220, hier S. 219 f. 45 Vgl. Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970), München 2005; Bailey, Christian: Between Yesterday and Tomorrow: German Visions of Europe, 1926–1950, New York 2013; Harrington, Austin: German Cosmopolitan Social Thought and the Idea of the West. Voices from Weimar, Cambridge 2016. 46 Vgl. Berman, Sheri: The Social Democratic Moment. Ideas and Politics in the Making of Interwar Europe, Cambridge/Mass. 1998. 47 Vgl. Vazeille, Albert J.H.: Essai d’une science de la paix: Pour les États-Unis d’Europe, Paris 1924; Kranold, Hermann: Die Vereinigten Staaten von Europa, Hannover 1924.
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Paneuropa-Bewegung, seine Schrift Europe veröffentlichte. Sie trug in der englischen wie der deutschen Übersetzung den Titel Vereinigte Staaten von Europa und rückte damit einen wesentlichen, nicht den einzigen Aspekt seiner Forderungen und Überlegungen, ins Zentrum.48 Als das Briand-Memorandum von 1930 eine engere europäische Staatenkooperation vorschlug, blieb unklar, wie sich dies zum Völkerbund verhielt und wie eine solche Kooperation möglich ist, wenn, wie Briand es verlangte, die absolute Souveränität der Staaten geachtet werden soll. Diese Bedenken trug beispielsweise Rudolf Breitscheid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Reichstagsfraktion, in seiner Reichstagsrede zu dem Briand-Memorandum vor.49 Broschüren, wie sie der Hannoveraner Sozialdemokrat Hermann Kranold mit dem Titel Die Vereinigten Staaten von Europa 1924 veröffentlichte, waren zu diesem Zeitpunkt eine Rarität.50 Die Abhandlung beruhte auf einem Vortrag, den er auf der Pfingsttagung der Jungsozialisten gehalten hatte, einem Kreis, zu dem auch Hermann Heller gehörte. Anders als es der Titel vermuten lässt, spricht Kranold aber kaum über die politische bzw. staatliche Aufgabe der Schaffung der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘, vielmehr spricht er über die wirtschafts- und sozialpolitischen Notwendigkeiten, warum sich die kontinentaleuropäischen Länder vereinigen sollten, und zwar gegen Großbritannien und die USA. Aus der Sicht der späteren europäischen Integration kann Kranold insofern als Vordenker gezählt werden, als er die Annäherung der europäischen Staaten auf den Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik als Bedingung der Möglichkeit einer auch politischen Ordnung ansah, deren staatliche Struktur er zu diesem Zeitpunkt für nachrangig erachtete.51 4.2 Hellers sozialdemokratisch geprägte Europa-Vorstellungen Ohne Hermann Kranold zu nennen, hat Heller dessen Positionen übernommen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen intensivieren Heller zufolge die sozialpolitischen und ökonomischen Interessen den Drang zur Kooperation und steigern damit auch die Möglichkeit einer politischen Zusammenarbeit der Nationalstaaten, und zum anderen ist diese Kooperation und ihre womöglich staatliche Strukturierung nicht nur nach innen (gegen nationalstaatliche Alleingänge), sondern vor allem nach außen gerichtet. Ähnlich wie Kranold nennt Heller hier immer wieder Großbritannien und die USA, aber auch Indien und China. Die beiden
48 Vgl. Herriot, Édouard: Europe, Paris 1930; Ders.: The United States of Europe, London 1930; Ders.: Vereinigte Staaten von Europa, Leipzig 1930. 49 Vgl. Breitscheid, Rudolf: Reichstagsrede am 25. Juni 1930, zitiert nach: Verhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 428, Berlin 1930, S. 5819–5826, hier S. 5825 f. 50 Vgl. Kranold: Die Vereinigten Staaten von Europa, Anm. 47. 51 Vgl. ebd., S. 14.
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erstgenannten Länder sind nicht nur in Hellers Augen der Inbegriff kapitalistischer Wirtschaftsregime, die beiden letztgenannten sind aus Hellers Sicht wenigstens mittelfristig gefährliche Konkurrenten wegen der im Vergleich zu Europa niedrigen Arbeitskosten. Hellers Ausdrucksweise kann hier gelegentlich einen Grad an Drastik erreichen, der seine anti-kapitalistische Grundhaltung sehr sichtbar macht, wie es seine Schrift Rechtsstaat oder Diktatur? von 1930 verrät. Nationalisten gibt er zu bedenken, dass die europäischen Nationen gemeinsame Gegner haben: Man kann heute nicht staatsvergottender Nationalist sein und zugleich erkennen, daß die Nordamerikaner allmählich alle europäischen Nationalstaaten deshalb in weiße Sklavenkolonien verwandeln können, weil die europäischen Nationalwirtschaften sich gegenseitig den Markt verengern und schließlich tot konkurrieren.52
Hat Heller also zuvor einerseits den Paneuropäern vorgeworfen, Russland und Großbritannien bei ihrem Projekt vergessen bzw. ausgeschlossen zu haben, so wiederholt er andererseits 1930 die bereits von Hermann Kranold vorgegebene Stoßrichtung einer europäischen Einigung gegen Großbritannien. Dieser Widerspruch erklärt sich auch aus der Argumentation in zwei verschiedenen Diskursen. Aus einer staatspolitischen Perspektive, welche die machtpolitischen Konstellationen in realistischer Weise berücksichtigen muss, war eine wie auch immer zu organisierende Integration aller europäischen Großmächte dringend geboten; aus sozialistischer Perspektive blies Heller in das Horn des Anti-Kapitalismus. Wie stand es hier nun mit Russland? Und welche Rolle spielt die marxistische Theorie für das Verständnis Europas für den Sozialdemokraten Heller? Was für die einen Kant war, sind für viele Sozialisten Marx und Engels. Das trifft auch auf Heller zu, der sich eindeutig zur marxistischen Tradition bekennt, sie allerdings an manchen entscheidenden Punkten anders deutet als die meisten seiner sozialistischen Zeitgenossen, in und außerhalb der Sozialdemokratie. Heller betont ausdrücklich die „planetarische Einstellung“ von Marx und Engels, aber auch, dass sie deshalb nicht zu utopischen, dafür jedoch unrealistischen Ansichten neigten, sondern über die nötigen „internationalen Kenntnisse für eine Weltpolitik“ verfügten.53 Hinzu kommt aber eine klare Kritik an den Mängeln der marxistischen Vordenker. Laut Heller setzten sie auf die Wirkungen des Freihandels, zumal in Hinblick auf die künftige Entgrenzung der Nationalstaaten, doch sie vernachlässigten die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus einerseits und die Kulturbedeutung der nationalen Staatlichkeit andererseits. Die Sozialistische Internationale muss deshalb
52 Heller: Rechtsstaat oder Diktatur, Anm. 38, S. 461, Orthographie unverändert. 53 Vgl. Heller, Hermann: Sozialistische Außenpolitik (1924), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Anm. 8, Bd. 1, S. 415–420, hier S. 419.
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um einen politischen Realismus ergänzt werden, der an die Stelle „utopistischer Phraseologie“ tritt.54 Heller bekennt sich zur sozialistischen Internationalen, wenn sie für die internationale Politik Folgendes bedeutet: von einem vernünftigen Plan im Weltgeschehen auszugehen, der auf eine „allmähliche, rational erkennbare Entwicklung zu einem Zustand arbeitsteiligen Zusammenwirkens aller Nationen“ abzielt.55 Diese Internationale haben alle Nationalstaaten nötig als Gegengewicht zum Kapitalismus und seinen transnationalen Kräften (gemeint sind vor allem die großen Banken). „Diese übernationale Macht bedroht heute das nationale Dasein; das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen ist durch das internationale Kapital in Frage gestellt“.56 Hier reicht aber die bloße Gesinnung des Antikapitalismus nicht aus, die genauso irrational sein kann wie der Irrationalismus des Nationalismus, wo die Nation immer als gegenüber anderen Nationen vorrangig angesehen wird. Heller fordert demgegenüber die nüchterne, politisch-ökonomische Analyse der Machtfaktoren, die gegenwärtig wirksam sind, und zwar unter Betonung des Politischen. Denn gerade der einzige gegenwärtige Fall einer erfolgreichen sozialistischen Revolution, das bolschewistische Russland, demonstriere, dass Überlegungen aus dem Bereich der Ökonomie Aspekte des Politischen weder erkennen noch ersetzen können: Keine Staatlichkeit interveniert mit mehr Machtpolitik in die Innen- und Außenpolitik als das bolschewistische Russland. Heller geht davon aus, dass auch eine sozialistische Gesellschaft nicht auf Politik verzichten kann, alles andere wäre die Geisteshaltung des Anarchismus. So wenig also das revolutionäre Russland auf Staatlichkeit verzichtet, es Staatlichkeit vielmehr potenziert, so wenig kann es eine politische Ordnung Europas unter Absehung aller Staatlichkeit geben. In dieser innersozialistischen Debatte, die eigentlich die Frage der Stellung und Zukunft des Nationalstaats im sozialistischen Denken behandelte, kreuzte Heller die Klingen mit dem österreichischen Genossen Max Adler.57 In Hellers Augen will Adler anarchistisch auf Staatlichkeit insgesamt verzichten, was sich auch daran zeigt, dass dieser zur Frage der Außenpolitik schweigt bzw. sie überspringt und unvermittelt von einer gleichen und einheitlichen Menschheitsgesellschaft als Telos der sozialistischen Entwicklung ausgeht. Hiergegen wendet Heller ein, solche Vorstellungen glichen dem „Wunder der staatslosen sozialistischen Menschheitsorganisation“, die Interessengegensätze zwar angeblich noch kennt, aber keine Zwangsordnung verlangt.58
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Heller: Sozialismus und Nation, Anm. 12, S. 480. Heller: Sozialistische Außenpolitik, Anm. 53, S. 418. Heller: Sozialismus und Nation, Anm. 12, S. 518. Zur Kontroverse Heller-Adler vgl. Walter, Franz: „Republik, das ist nicht viel“. Partei und Jugend in der Krise des Weimarer Sozialismus, Bielefeld 2011, S. 143–151. 58 Heller: Sozialismus und Nation, Anm. 12, S. 492.
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Heller malt sogar die Gefahr aus, wonach eine sich nur nach materiellen Gesichtspunkten orientierende Arbeiterschaft ihre eigene kulturelle Basis zerstören könnte, nicht willentlich, sondern unter dem Druck des Kapitalismus. Laut Heller ist die Möglichkeit nahegerückt, „daß die nationalen Kulturen erdrückt werden durch die ungeheure kulturfremde Masse eines zum politisch-wirtschaftlichen Macht-Bewußtseins erstarkten Proletariats“.59 Die „kulturschöpferischen Kräfte der europäischen Nationen“ sind aber aus Hellers Sicht keineswegs erschöpft, sie sind freilich von einem „ungezügelten Kapitalismus“ bedroht.60 Diese Nationen zu schützen macht den engeren Zusammenschluss der europäischen Nationen nötig, auch aus der Sicht der Arbeiterschaft. Heller ist zwar Sozialist, aber deswegen kein blinder Internationalist, sobald Letzteres eine Verflachung dessen bedeutet, was menschliche Kultur ausmacht.
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Gesamtwürdigung von Hellers Europa-Idee
Heller ist 1933 frühzeitig im Alter von 42 Jahren gestorben. Zu seinem drei Bände füllenden Werk gehört auch das Fragment einer Staatslehre, dessen Manuskript er mit ins Exil nahm, dort aber nicht mehr vollenden konnte. Dieser Text hätte Heller die Möglichkeit gegeben, seine verstreuten Europa-Vorstellungen zu bündeln. Angesichts seiner immer stark auf Zeitumstände Rücksicht nehmenden politischen Überlegungen wäre es interessant gewesen zu beobachten, wie Heller mit der Zäsur der nationalsozialistischen Machtergreifung umgegangen wäre: Hatte sich damit in seinen Augen das Europa-Projekt endgültig zerschlagen oder war es nur umso wichtiger geworden, nun allerdings als Projekt eines demokratischen Europas im Kampf gegen Autokratien? Zu ermessen, was Heller geschrieben haben könnte, ist notwendigerweise spekulativ. Die verstreuten Europa-Überlegungen Hellers zeigen einen Autor, der zwei Diskursen angehört, deren Vermittlung Hellers Anliegen war. Das führt aber auch zu einigen Ungereimtheiten in seiner Argumentation zu Europa. Diese EuropaÜberlegungen zeigen aber auch einen Denker, der gerade mit Blick auf die Diskurse, in welchen er sich selbst engagierte, ein ungewöhnliches Maß an EuropaZugewandtheit besaß, allerdings mit einer reellen Haltung, keiner nur ideellen Attitüde dessen, der sich mit dem Formulieren von Wunschdenken begnügt. Wenn diese Organisation der Politik im Falle der europäischen Staaten reeller Weise nur einen Bundesstaat erlaubt, dann ist dies doch unendlich viel mehr als die Anarchie souveräner Nationalstaaten.
59 Ebd., S. 473. 60 Ebd.
Reinhard Mehring
Staat, Reich und „Vogel Ziz“ Carl Schmitts Zerfallsanalyse seiner „Großraumordnung“ Carl Schmitt (1888–1985)1 war Jurist und lehrte seit 1919 in München, Greifswald, Bonn (1922), Berlin (1928), Köln (1933) und wieder Berlin (1933–1945). In den 1920er Jahren publizierte er seine grundlegenden Schriften, so das Lehrbuch Verfassungslehre (1928), und engagierte sich dann verfassungspolitisch für das Weimarer Präsidialsystem sowie den Nationalsozialismus, für den er öffentlich erst nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 optierte. Er trat mit einigen nationalsozialistischen Spitzenpolitikern in Kontakt, insbesondere mit Hermann Göring und Hans Frank, und übernahm bei der Gleichschaltung der NS-Rechtswissenschaft und -Justiz zahlreiche Funktionen. Bald geriet er in die Konkurrenzen der NSPolykratie und wurde nach Angriffen der SS Ende 1936 seiner Ämter enthoben. Er publizierte aber weiter mit nationalsozialistischem Akzent, so 1938 sein bekanntes Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, und verlegte seinen Arbeitsschwerpunkt, parallel zur NS-Aggression, mehr ins Völkerrecht, in dem er schon seit Bonner Zeiten unterwegs war. Schmitt gilt insbesondere mit seiner Schrift Völkerrechtliche Großraumlehre, die zwischen 1939 und 1941 in verschiedenen Auflagen erschien, als ein Hauptvertreter der nationalsozialistischen Völkerrechtslehre,2 Großraum- und Europa1 Carl Schmitt wird hier mit Kürzeln nach gängigen Ausgaben zitiert: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938 (Kürzel: L); Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Hg. von Günter Maschke, Berlin 1995 (Kürzel: SGN); Frieden oder Pazifismus. Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik. Hg. von Günter Maschke, Berlin 2005 (Kürzel: FP); Jünger, Ernst/Schmitt, Carl: Briefwechsel 1930–1983. Hg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 1999 (Kürzel: JS); vgl. Mehring, Reinhard: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, 2. verb. Aufl., München 2022; Ders.: Don Capisco und sein Soldat. Carl Schmitt und Ernst Jünger, in: Ders.: Kriegstechniker des Begriffs. Biographische Studien zu Carl Schmitt (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 78), Tübingen 2014, S. 153–172; zu Schmitts Antisemitismus jetzt Mehring, Reinhard: Der „absolut zuverlässige jüdische Experte“. Ludwig Feuchtwangers Antwort auf Carl Schmitt, in: ZRGG 75/1 (2023), im Druck; zu Schmitts vergangenheitspolitischem Rückblick auf sein NS-Engagement Ders.: Bruder Jakob. Hamlet oder Hekuba als Legende von Schmitts Rolle im Nationalsozialismus, in: Weimarer Beiträge 68/4 (2022), im Druck. Schmitt hat eine eigene und eigenwillige Terminologie gepflegt. Schmitt-Lesern geläufige zentrale Termini werden hier ohne weitere Nachweise in Anführungszeichen gesetzt, andere problematische Worte (wie „Weltjudentum“) werden in Anführungszeichen gesetzt, um vorbehaltliche Distanz zu signalisieren. 2 Zur Übersicht Gruchmann, Lothar: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Konstruktion einer ‚deutschen Monroe-Doktrin‘ (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte: Schriftenreihe 4), Stuttgart 1962;
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Konzeption, die auf unseren Tagungen vielfach kritisch thematisiert wurde. Darüber wurde – auch von mir – viel geschrieben. Der folgende Beitrag geht aber einer Frage nach, die selten gestellt wurde, weil sie das geläufige Schmitt-Bild irritiert: Hat sich Schmitt zur laufenden Chronik des Kriegsgeschehens – vor und nach 1941 – konkret geäußert, wie seine politische Verfassungsbetrachtung es eigentlich fordert? Wohl fast durchgängig führte Schmitt 1939 bis 1945 Tagebuch, wie erst unlängst ermittelt wurde. Der stenographische Text muss mühsam transkribiert werden und die Edition wird noch dauern. Wir wissen also nicht genau, was er privatim dachte. Was hat er aber zum Kriegsverlauf damals öffentlich gesagt und publiziert? Wie ist sein relatives Schweigen nach Ausbruch des Russlandfeldzugs zu deuten? Aus den frühen Tagebüchern ist bekannt, dass Schmitt den Ersten Weltkrieg vergleichsweise kritisch sah. Bejahte er die nationalsozialistische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg mehr oder weniger uneingeschränkt? Bis heute finden sich in den zahlreichen – edierten – Ego-Dokumenten keine offenen Äußerungen zum Holocaust. Aber auch Schmitts Haltung zum Zweiten Weltkrieg ist weniger explizit und eindeutig, als oft vermutet wird. Das betrifft auch das Thema der Europa-Konzeptionen. Die Grenzen seiner Apologie einer nationalsozialistischen „Großraumordnung“ sind nämlich schwankend und ungeklärt. Davon handelt der folgende Text, der auf Schmitts Europa- und Frankreichbild bis 1939 sowie die spätere Verfallsgeschichte einer „Entthronung“ und „Entortung“ Europas nach 19453 sowie sein Schweigen zum Nachkriegsprozess der europäischen Einigung nicht weiter eingeht.
1.
Vom Staat der Legisten zum nationalsozialistischen Reich
Schmitt publizierte seine völkerrechtliche Apologie des Nationalsozialismus ab 1939 vor allem in seiner Broschüre Völkerrechtliche Großraumordnung sowie in den großen Abhandlungen über Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten und Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft. Es ist zu beachten, dass Völkerrechtliche Großraumordnung erstmals im Frühjahr 1939 publiziert wurde, nach dem Einmarsch in die sog. Resttschechei, aber vor dem Angriff auf Polen,
Schmoeckel, Mathias: Die Großraumtheorie. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich (Schriften zum Völkerrecht 112), Berlin 1994; Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3: 1914–1945, München 1999, S. 380–400; Koskenniemi, Martti: Carl Schmitt and International Law, in: Meierheinrich, Jens/Simons, Oliver (Hg.): The Oxford Handbook of Carl Schmitt, Oxford 2016, S. 592–611. 3 Produktive positive Umdeutung jetzt bei Bogdandy, Armin von: Strukturwandel des öffentlichen Rechts. Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2356), Berlin 2022.
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und dass die Schrift in verschiedenen Fassungen und Erweiterungen vorliegt, zuletzt mit Datierung auf den 28. Juli 1941, also kurz nach dem Einmarsch in die Sowjetunion, den Schmitt sogleich als Anfang vom Ende begriff und mit einem argumentativen Strategiewechsel beantwortete. Nach dem Juli 1941 reklamierte er nicht mehr ausdrücklich einen Rechtstitel für das „Reich“.4 Er sprach überhaupt nicht mehr vom NS-Reich als hegemonialer Ordnung, die das Ordnungsproblem der Zwischenkriegszeit effektiv und gültig beantwortet hätte. Schmitt gab der NS-Expansion zunächst die Bedeutung einer Abwehrschlacht gegen den US-Imperialismus, indem er einen aggressiven „Sinnwandel[.]“ (SGN 284) der amerikanischen Monroe-Doktrin konstatierte und die „Gegendoktrin“ (SGN 282) einer deutschen Monroe-Doktrin für Nazideutschland reklamierte. Völkerrechtliche Großraumordnung geht auch in den Erweiterungen der verschiedenen Auflagen bis 1941 aber auf die einzelnen Kriegszüge und Eroberungen nicht näher ein und spricht nur abstrakt vom „Raumbegriff “ und dem nationalsozialistischen „Minderheiten- und Volksgruppenrecht“ (SGN 291). Immerhin erwähnt die Schrift in einem Zusatz von 1940 den „deutsch-russischen Grenz- und Freundschaftsvertrag“ (SGN 295), also den Hitler-Stalin-Pakt. Schmitt spricht von „Umsiedlung[en]“ (SGN 295), nicht von Vertreibungen, Deportation, Krieg und Massenmord. Er deutet an, dass das nationalsozialistische Rechtsdenken mit seiner „Entthronung des Staatsbegriffes“ eine hegemoniale „Rangordnung der Völkerrechtssubjekte“ (SGN 299 f.) ermögliche, die die Nationalitätenkonflikte nach 1918 unter der imperialen Hegemonie und Führung des Reiches zu ordnen verspricht. Was damit konkret gemeint ist, zitiert Schmitt mehr in den Fußnoten, durch Verweise auf nationalsozialistisches Schrifttum. Er positioniert sich indirekt. So äußert er sich auch nicht eingehend zum Frankreichfeldzug und den Formen der Besatzungspolitik, schweigt von Vichy und Petain, von Kollaboration und Résistance. Schmitt hielt 1941/42 zwei Vorträge im besetzten Paris. Liest man sie buchstäblich ohne Kontextwissen, erfährt man nicht einmal, dass hier der Vertreter einer Besatzungsmacht in kulturpolitischer Mission mit offenbar hegemonialen Absichten spricht. Beide erfolgten in der zweiten Phase des Weltkriegs nach dem Beginn des Russlandfeldzugs, den Schmitt als Kriegswende und Rechtfertigungsproblem betrachtete. Nach 1941 sprach er nicht mehr offensiv von einer „völkerrechtlichen Großraumordnung“ und mied überhaupt Rechtstitel für das mörderisch entfesselte Reich. Am 24. September 1941 wiederholte er damals in Paris seinen Vortrag Staatliche Souveränität und freies Meer, den er zuvor auf einer Historikertagung in
4 So auch Blasius, Dirk: Carl Schmitt, April 1939: „Der Reichsbegriff im Völkerrecht“, in: Der Staat 60 (2021), S. 455–472, hier S. 472.
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Nürnberg gehalten hatte. Anfang November 1942 sprach er dann über Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten. Der Vortrag von 1941 hatte sich recht kurzfristig über Karl Epting nach Vermittlung von Gretha und Ernst Jünger ergeben. Er ist ein erster Ansatz zur Analyse des „maritimen“ Rechtsdenkens der „Insel“ England und entwickelt Überlegungen, die das Büchlein Land und Meer dann im populären Reclam-Format weiterführte. Schmitt veröffentlichte ihn 1943 auch in französischer Sprache. An Ernst Jünger schreibt er am 18. August 1941 damals zum kommenden Pariser Vortrag: „Das Thema ‚Land und Meer‘ lässt mich nicht mehr los. Der großartige Kapitän Mahan ist seit Monaten mein einziger Gesprächspartner“ (JS 124). Der Vortrag interessiert sich damals also vor allem für die Analyse der Mentalität des Kriegsgegners England. Es ist möglich, dass Schmitt sich bei dessen Wiederholung in Paris auf den ersten Teil des Textes beschränkte und mehr über den kontinentalen französischen Etatismus als über das „maritime“ Rechtsdenken sprach. 1958 publizierte er in den Verfassungsrechtlichen Aufsätzen nur diesen ersten Teil, vielleicht auch deshalb, weil er Land und Meer 1954 bei Reclam gerade in einer zweiten, leicht retuschierten Fassung publiziert hatte und sich nicht zeitnah wiederholen wollte. Ernst Jünger, der den Vortrag hörte, notierte dazu allerdings lapidar ins Tagebuch: „Vortrag von C. S. über die staatsrechtliche Betrachtung des Verhältnisses von Land und Meer. Nachher mit ihm ins Maxime. Er brachte mir Grüße von Perpetua mit. Gespräch über Bodin, Paris, Vokale.“5 Spätestens im Abendgespräch hat Schmitt seine These also auf Frankreich und die Lage in Paris konzentriert. Liest man den Text von 1941 mit dem Vortrag von 1942 zusammen, so lässt sich der spätere Vortrag als eine national- und geistesgeschichtliche Explikation
5 Jünger, Ernst: Strahlungen. Historisch-kritische Ausgabe, 2 Bde, hier Bd. 1. Hg. von Joana van de Löcht und Helmuth Kiesel, Stuttgart 2022, S. 367. In der überarbeiteten Ausgabe der Strahlungen, die 1949 erstmals erschien (Strahlungen, Tübingen 1949), hat Jünger die Gespräche vom 16. und 18. Oktober mit Schmitt auf ein Treffen und Mittagessen im Ritz zusammengezogen, an dem auch Speidel, Grüninger und Graf Podewils teilnahmen (S. 367 f.). Das Abendgespräch direkt nach dem Vortrag im Maxime wird von Jünger 1949 nicht eigens erwähnt, um Schmitts Worte auf dessen bedeutungsschweren Vergleich mit der Lage von Melvilles Benito Cereno zu verdichten. Es gab aber nach dem Vortrag offenbar ein exklusives Treffen und Gespräch mit Schmitt, das von Bodin ausging und von daher auf die Lage in Paris zu sprechen kam, bevor Schmitt sich Jüngers Lob der Vokale zuwandte. Demnach hat Schmitt seinen Pariser Vortrag jedenfalls im späteren Abendgespräch auf die Lage Frankreichs konzentriert. Jünger notierte im Tagebuch, in den Strahlungen gestrichen, auch eine Bemerkung, die auf Schmitt und dessen antisemitische weltgeschichtliche Betrachtungen zurückgehen könnte; er notierte anschließend an das Gespräch im Maxime: „Veränderung der Welt, zwei Daten: Die Schlacht im Osten und der Davidstern, den die Juden anlegen müssen.“ (Jünger: Strahlungen 2022, Bd. 1, S. 367) Der Russlandfeldzug hatte damals gerade erst begonnen und die Kriegswende war noch kaum abzusehen. Eine direkte Verknüpfung der „zwei Daten“ miteinander entsprach einerseits zwar der nationalsozialistischen Politik, andererseits aber weit mehr Schmitts antisemitischer Sicht als derjenigen Jüngers.
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des Vortrags von 1941 betrachten. Die Übereinstimmung in den Thesen ist groß. Schon 1941 erörterte Schmitt die „Prägung“ des französischen Nationalcharakters vom etatistischen Souveränitätsbegriff Bodins her. Während er 1941 aber auf eine Analyse Englands zielt, formuliert er 1942 mehr den Hegemonieanspruch Deutschlands gegenüber Frankreich. Der Vortrag von 1942 klingt deshalb deutlich offensiver und imperialer. 1941 meint Schmitt einleitend: Im 16. Jahrhundert beginnt der Kampf um die Neuordnung der neu entdeckten Erde. Es bilden sich die großen Fronten des Weltkatholizismus und Weltprotestantismus. Von Frankreich, Holland und England her werden die ersten erfolgreichen Vorstöße gegen das Seeherrschaftsmonopol der katholischen Weltmächte Spanien und Portugal unternommen. Aus den konfessionellen Bürgerkriegen entsteht in Frankreich der Gedanken der souveränen politischen Entscheidung, die alle theologisch-kirchlichen Gegensätze neutralisiert und das Leben säkularisiert, auch wenn die Kirche Staatskirche wird. In dieser Lage haben die Begriffe ‚Staat‘ und ‚Souveränität‘ in Frankreich ihre erste maßgebende juristische Ausprägung gefunden. Damit tritt die spezifische Organisationsform ‚souveräner Staat‘ in das Bewußtsein der europäischen Völker. (SGN 401)
Schmitt geht schon 1941 sogleich zu Bodins Souveränitätsbegriff über, der die „Geistesprägung des französischen Staates“ (SGN 403) kennzeichne und Frankreich zum „Prototyp und zum klassischen Beispiel“ (ebd.) moderner Staatlichkeit erhoben habe. Diese Thesen führt Schmitt 1942 mit leichten tonalen Verschiebungen aus: Profiliert er 1941 Frankreich noch positiv gegen England, historisiert er 1942 stärker die Grenzen des etatistischen Denkens. Schon 1941 deutet er aber bereits die These an, dass Frankreich es im Kampf mit Spanien6 und den „großen Fronten des Weltkatholizismus und Weltprotestantismus“ (SGN 401) verpasst habe, sich als Führungsmacht des „Weltprotestantismus“ zu positionieren. Schmitts lange und gewichtige Abhandlung über die Formung des französischen Geistes lässt sich also als geistesgeschichtlich breiter angelegte Fassung der Thesen von 1941 betrachten. Es wäre interessant, sie mit der damaligen deutschen Romanistik zu vergleichen: etwa mit Ernst Robert Curtius oder Hugo Friedrich. Hat die deutsche Romanistik die formierende Kraft der „Legisten“ und namentlich Bodins ähnlich exponiert? Hat sie die Rolle der Juristen gegenüber den Theologen, Philosophen (Descartes!) oder Dichtern (Racine, Corneille, Voltaire etc.) ähnlich hoch veranschlagt? Hat sie Schmitts Frühdatierung der formativen Phase der französischen Nationsbildung überhaupt rezipiert? Schmitt sprach 1942 auf Einladung Eptings erneut im Deutschen Institut zu Paris. Die Rolle solcher Kulturvorträge hat
6 Zu Spaniens Priestermacht an Schmitt anknüpfend vgl. Maunz, Theodor: Das Reich der spanischen Großmachtzeit, Hamburg 1944.
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Hausmann7 eingehend erforscht. In seiner Abhandlung analysiert Schmitt, nicht zuletzt von Max Weber und Eugen Rosenstock8 angeregt, erneut die juridische Prägung des französischen Nationalcharakters durch die französischen Advokaten bzw. Legisten. Er meint: Die juristisch-logische Bildung ist die erste und Jahrhunderte hindurch die einzige Form der nichtkirchlichen, nicht theologischen Bildung gewesen. Die legistische Rechtslehre war die erste, gegenüber der Theologie selbständige weltliche Lehre. (SGN 187)
Schmitt profiliert in gelehrten Ausführungen die Start-up-Phase oder das „Heldenzeitalter des französischen Juristen“ (SGN 193) in der frühen Neuzeit und betont insbesondere die Rolle von Bodin bei der Durchsetzung des etatistischen juristischen Denkens. Er erwähnt, dass dieses Denken politisch neutralisierend wirkte, weshalb Frankreich sich im „konfessionellen Bürgerkrieg“ (SGN 201) der frühen Neuzeit und „Weltkampf der beiden Konfessionen“ (SGN 203) nicht eindeutig entschieden habe und weder zur „Vormacht“ (ebd.) des Katholizismus noch des Protestantismus wurde. Im Kampf gegen Spanien habe England gesiegt, das deshalb auch im 20. Jahrhundert in Versailles und Genf politisch wirksamer geworden sei. Schmitt schreibt: Auch hier wird die Tragik des französischen Geistes darin sichtbar, dass er zum Diener der englischen Weltpolitik herabgesunken war. Aus dem Legisten des französischen Königs wurde auf dem Wege über den Legisten eines parlamentarischen Gesetzespositivismus der Legist einer ihm wesensfremden Weltherrschaft. (SGN 208)
Schmitt schreibt einmal mehr der angelsächsischen Hemisphäre die Führung im Kampf gegen den deutschen Machtanspruch und Revisionismus nach Versailles zu und sucht die Gründe für Frankreichs Blitzkrieg-Niederlage im Rückgang auf die Formierungsphase und den etatistischen Pfad der französischen Nation auf. Das staatsbezogene juristische Denken war demnach zu einer starken mitteleuropäischen Deutschland- und Hegemonialpolitik nicht fähig. So sieht Schmitt es strategisch in seiner Abhandlung von 1942, ohne auf Frankreichs Deutschlandpolitik nach 1918 und 1933 einzugehen und die Gründe für die militärische Niederlage konkret zu untersuchen. Kämpfte er früher gegen die „geistige Unterwerfung“ unter 7 Vgl. Hausmann, Frank-Rutger: „Auch im Kriege schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 169), Göttingen 2001; Ders.: „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945) (Schriften zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 1), Dresden/München 1998. 8 Vgl. Rosenstock, Eugen: Die europäischen Revolutionen und der Charakter der Nationen, Jena 1931.
Staat, Reich und „Vogel Ziz“
die Rechtsbegriffe von Versailles und Genf, so formulierte er nun einen deutschen Superioritäts- und Hegemonieanspruch und forderte seinerseits „geistige Unterwerfung“. Wo er früher die imperialen Machtgrundlagen des Rechts betonte und Recht als Macht entlarvte, als Mittel der Sieger des Ersten Weltkriegs, thematisierte er die NS-Expansion nun als Durchsetzung eines überlegenen Rechts- und Herrschaftssystems. Auch in den folgenden Schriften, insbesondere in Land und Meer, wird er den wirklichen Gegner und Feind exklusiv in England und den USA sehen, nicht in Frankreich oder der Sowjetunion. Mit Land und Meer kommt dabei Ende 1942 die Diagnose hinzu, dass der militärische Ausgang des Weltkriegs sich an der Luftüberlegenheit entscheiden werde: am entschlossenen Einsatz der Luftwaffe, wofür das maritime, am Seerecht gebildete angelsächsische Rechtsdenken in anderer Weise disponiert sei als das terrane Rechtsdenken. Der Luftkrieg war damals 1942 noch nicht entschieden; Staatsrat Schmitt traute seinem einstigen Mentor Göring, dem „Reichsminister der Luftfahrt“, die vollmundig versprochene Sicherung der Luftüberlegenheit aber wohl nicht zu. Man könnte Schmitts andere damalige Publikationen nun ausführlich hinzuziehen. Überall findet sich das Superioritätsargument von der Überlegenheit des nationalsozialistischen Rechtsdenkens gegenüber dem juridischen Etatismus. Schmitt vertritt es durchgängig spätestens seit seiner programmatischen Broschüre Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens von 1934. Es findet sich etwa auch in dem Aufsatz Das ‚Allgemeine deutsche Staatsrecht‘ als Beispiel rechtswissenschaftlicher Systembildung von 1940 sowie der späteren Abhandlung über Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft.9 Mit der Berufung auf Savigny erhielt Schmitts ideenpolitisches Hegemoniekonzept gegen Kriegsende dabei einen resignierten und desperaten Zug und Ton. Schmitt rückte in die Rolle des Besiegten ein, der die Überlegenheit seines Rechtsdenkens auch gegen den nationalsozialistischen Mainstream profiliert. An Schmitts nationalsozialistischem Tenor und Auftrag gibt es zwar keinen Zweifel, mit der Kriegswende von 1941/42 entsagte er aber eigentlich starker Apologie. Er schwieg weitgehend über den Kriegsverlauf seit Moskau und Stalingrad und erörterte auch nach 1945 die NS-Kriegsverbrechen und Gründe der Kriegsniederlage nicht eingehend. Seine Ausführungen in der Theorie des Partisanen sind ihrerseits problematisch, die Kriegsschuldzuschreibung des Nomos der Erde an die „westliche Hemisphäre“ (SGN 604 und 605), insbesondere an die USA, ist offenbar tendenziös. Insbesondere die Abhandlung über die „Formung“ des französischen Nationalcharakters ist aber 1942 schon nur eine sehr indirekte und spekulative Antwort auf den deutschen Blitzsieg und die Besetzung Frankreichs.
9 Dazu jetzt von Bogdandy, Armin/Hussain, Adeel/Mehring, Reinhard (Hg.): Carl Schmitt’s European Jurisprudence (Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 305), Baden-Baden 2022.
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Buchstäblich argumentiert sie nicht auftrumpfend nationalistisch und revanchistisch und verlegt den Anfang vom Ende der französischen Hegemonie eigentlich ins absolutistische Zeitalter. Vorwürfen, die nationalsozialistische Besatzung zu rechtfertigen, hätte Schmitt deshalb in Paris mit einigem Recht entgegnen können, dass er dazu eigentlich gar nichts gesagt habe.
2.
„Vogel Ziz“ im Briefwechsel mit Jünger
Schmitts Zurückhaltung gegenüber konkreten Stellungnahmen zum Kriegsgeschehen fällt schon im Vergleich mit Schülern und Weggefährten wie Huber oder Bilfinger auf. Besonders beachtlich ist das relative Schweigen seit dem Russlandfeldzug. Wie ist es zu deuten? Eine genaue Klärung müsste auf der Grundlage extensiver Berücksichtigung des Nachlasses erfolgen. Von den einschlägigen Ego-Dokumenten sind bisher vor allem die Briefwechsel mit Huber und Jünger verlässlich ediert. Beide sind aufschlussreich, auch wenn sämtliche Korrespondenzen der Kriegsjahre unter Zensurbedingungen zurückhaltend geschrieben sind. Jünger war im Krieg, wie er berichtete,10 ab Februar 1943 auch für Briefzensur zuständig und kannte die Praktiken, hatte seit 1933 deshalb auch immer wieder Autodafés belastender Papiere und Korrespondenzen veranstaltet. Während Schmitt mit Huber eher als Verfassungshistoriker spricht und die Haltung zum Nationalsozialismus mehr mit Bezug auf Bismarck und das Zweite Reich erörtert, äußert er sich Jünger gegenüber offener und deutlicher auch im Verweis auf Kunstgeschichte und biblische Motive. In den Briefen an Jünger zielt Schmitt über die verfassungsgeschichtliche Kritik hinaus auf eine Erfassung der Gegenwart als Ausnahmezustand. Während die Vergleiche mit Poe und Bosch eher von Jünger ausgehen, weist Schmitt Ernst und auch Gretha Jünger sehr energisch – wie bekannt und in der Forschung oft thematisiert ‒ auf Melvilles Novelle Benito Cereno hin. Es gibt weitere, bislang weniger beachtete Interpretamente und Chiffren. So deutet Schmitt im Gespräch mit Jünger eine zeitgeschichtliche Identifikation des „Oberförsters“ an; er spricht von Bismarck, Seneca und Nero. Der Bezug auf Bismarck, der sich auch in der Huber-Korrespondenz findet, changiert dabei zwischen verfassungshistorischer Bemerkung und einer Chiffre für Hitler. Nicht weniger durchgängig und gewichtig sind die Hinweise auf Bruno Bauer: dessen Rußland-Schrift11 sowie die Deutung des Judentums.
10 Vgl. Jünger, Ernst: Jahre der Okkupation, Stuttgart 1958, S. 50–52; zu Jüngers „Rauchopfern“ belastender Papiere ebd. S. 137, 141, 152, 188; dazu Jünger: Strahlungen 2022, Anm. 5, Bd. 1, S. 20. 11 Vgl. Bauer, Bruno: Russland und das Germanenthum, Charlottenburg 1853; Ders.: Die Judenfrage, Braunschweig 1843.
Staat, Reich und „Vogel Ziz“
Jünger erlebte den Zweiten Weltkrieg als Offizier in exponierter Stellung in Frankreich und im Kaukasus. Durch ihn kam Schmitt auch mit Hans Speidel und anderen hohen Offizieren der Frankreich-Besatzung in näheren Kontakt. Schmitt hatte intime Kenntnisse vom Kriegsverlauf. Seine Wahrnehmung des Krieges beschränkte sich nicht auf die offiziellen Medien und seine Beobachtungen in Berlin oder Plettenberg. Im Briefwechsel mit Jünger thematisiert er das Kriegsgeschehen, seiner Elementaranalyse folgend, aber vor allem als Luftkrieg und Bombardement Berlins. Da ist es beachtlich, dass er in einer ersten Bemerkung, am 10. September 1940, von englischen „Re-Repressionen“ (JS 102) spricht, also von Vergeltungsschlägen, und also die – gerade im August 1940 intensiv beginnenden ‒ deutschen Luftangriffe auf England nicht ignoriert, auf die England umgehend mit ersten Nachtangriffen antwortete. Immer wieder wird er im weiteren Korrespondenzverlauf die Bombardierungen Berlins erwähnen und von seiner Lage als ausgebombter Flüchtling berichten. Er deutet dabei an, dass der Luftkrieg der Bevölkerung ein Loyalitätsproblem stellt, weil er die staatsethische Maxime einer Reziprozität von Schutz und Gehorsam unterläuft. Schmitt kritisiert nicht einfach mangelnden Widerstandsund Durchhaltewillen der Bevölkerung, sondern sieht in den Luftangriffen auch ein Scheitern des nationalsozialistischen Staates an seinen Aufgaben. Sein letzter Brief an Jünger vor Kriegsende verweist am 14. März 1945 auf das „Brett des Karneades“ als „Urbild aller moralisch unlösbaren Probleme der sog. Ausnahmesituationen“ (JS 192). Schmitt ist klar, dass der Nationalsozialismus sie zu verantworten hat. Umso interessanter ist es, wie er in der Korrespondenz mit Jünger diese Verursachungs- und Verantwortungsfrage weiter thematisiert: mit Bezug auf das Judentum. Dabei verweist Schmitt wiederholt auf die Schriften Bruno Bauers (JS 84, 169, 190), was hier nicht weiter interessiert.12 Selten beachtet wurde folgende Äußerung vom 29. September 1940: Vorigen Dienstag war ich in der Premiere des neuen Films ‚Jud Süss‘. Ich empfehle Ihnen sehr, sich das anzusehen. Es ist überaus aufschlußreich, in vielen Hinsichten, wenn auch vielleicht nicht so, wie seine Urheber es beabsichtigten. (JS 105)
Die deutsche Premiere des Films hatte am 24. September im Zoo-Palast der UFA in Anwesenheit von Nazi-Größen wie Goebbels stattgefunden. Vermutlich bedurfte die Teilnahme einer besonderen Einladung. Schmitt interessierte sich für den Hauptdarsteller Werner Krauss, dachte vermutlich auch an Ludwig und Lion Feuchtwanger sowie Hans Frank, den Generalgouverneur von Polen, in dessen Verantwortungsbereich der damalige Schwerpunkt des Holocausts lag. Schmitts distanzierende Andeutungen erfolgten vermutlich bereits mit einigen Kenntnissen
12 Dazu Mehring, Reinhard: Carl Schmitts Gegenrevolution, Hamburg 2021, S. 276–287.
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und Ahnungen der Kriegsverbrechen. Schmitt schreibt damals am 3. November zur Einladung nach Berlin: „Das inbrünstige Geheul, mit dem der Behemoth nachts den grossen Vogel Zitz begrüßt, wird sie nicht stören.“ (JS 107) Jünger antwortet umgehend am 8. November, keine sechs Wochen nach Schmitts Verweis auf den Film: An großen Vögeln kenne ich nur den Greif, den Phoenix und den Rukh.13 Der von Ihnen citierte Vogel Zitz ist mir unbekannt. Sollten die Juden ihn neben Leviathan und Behemoth, die Land und Meer beherrschen, als Gebieter der Lüfte vorausgeahnt haben? Wie alle Zeiten, die seitdem gewesen sind, will man ja auch die unsere in der Bibel beschrieben finden; so sollen die Flieger die Heuschrecken der Apokalypse sein. (JS 107)14
Leider fehlen für den Zeitraum, wie die historisch-kritische Ausgabe der Kriegstagebücher jetzt belegt, Eintragungen und also auch direkte Bemerkungen Jüngers
13 Die Frage nach dem „großen Vogel“ war im Nietzscheanismus schon durch Zarathustras Tiere (Adler und Schlange) angeregt. Heidegger zitierte sie 1933 für seine Zarathustrawelt wieder herbei. Ernst Jünger notierte nach seinem „Ruf des Vaterlands“, der ihn durch eine „schlanke Frau“ ereilte, bereits kurz nach Kriegsbeginn, am 29. September 1939, aus den „Harztälern“: „In einem dieser Gründe, auf dem Wege von Hohegeiß nach Rothehütte, stieg vom Bache ein Bussard auf, der eine Natter in den Fängen trug. Die Einzelheiten dieses Bildes im stillen Waldtal leuchteten mir im Vorübereilen ein wie eine Miniatur in unbewegter Welt – so deutlich, daß ich selbst den Silberrand der Schuppen am dunklen Erzleib der Schlange schimmern sah. In solchen Bildern leben Wasser, Luft und Erde, als ob der Vorgang frisch und schmerzlos, so wie in alten, schönen Heldenzeiten aus ihnen entsprungen sei“ (Jünger, Ernst: Gärten und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, Berlin 1942, S. 56). 14 Für die hermeneutische Klärung des Briefwechsels zwischen Schmitt und Jünger sind die erhaltenen Tagebücher eine wichtige Quelle. Jünger publizierte seine Kriegstagebücher zeitnah und überarbeitet im Projekt der Strahlungen. Die 1942 erschienenen Gärten und Straßen bezeichnete er 1949 als ersten Teil der Strahlungen (Jünger: Strahlungen 1949, Anm. 5, S. 14 f.). Schmitt hat beide Tagebuchpublikationen direkt gelesen. Die Strahlungen von 1949 verärgerten ihn sehr und waren ein Anlass der schweren Verstimmung und Krise der Freundschaft, die jahrelang anhielt. Für die hier bislang zitierte Korrespondenz gibt es keinen Reflex in Jüngers Publikationen, weil die Gärten und Straßen mit dem Juli 1940 schließen und die Strahlungen erst wieder mit dem Februar 1941 einsetzen. Anders als in den Gärten und Straßen ist Schmitt in den Strahlungen, oft als „C. S.“ abgekürzt, häufig erwähnt. Schmitts Handexemplar der Strahlungen ist mit Besitzvermerk vom 3. August 1949 (Nachlass Carl Schmitt im Landesarchiv NRW, Standort Duisburg) erhalten. Unter den Innentitel hat Schmitt, gleichsam anstelle einer Autorenwidmung, vermerkt: „Wir wissen von einander mehr / als jeder ahnt“. Deutet er damit an, dass er von dem Wissen überrascht war, das Jünger über Schmitt hatte? Unter dem Besitzverzeichnis hat Schmitt sich ein Register zum Buch angelegt. Dazu hat er nicht weniger als 19 Seitenvermerke eingetragen, die seine Person betrafen, und kritisch nur vermerkt, dass Jünger auf Seite 115 nicht Schmitts Besuch in Kirchhorst im April 1942 erwähnte. Schmitts Lektüre der Strahlungen ließe sich eingehender diskutieren.
Staat, Reich und „Vogel Ziz“
zum Vogel Ziz. Jünger legt Schmitts Andeutungen gegen die antisemitische Identifikation der alliierten Kriegsführung mit Judentum im Briefwechsel aber auf eine apokalyptische Prophetie fest und deutet Vorbehalte an. Schmitt bestätigt umgehend: Den Vogel Ciz oder Bar-Juchne kenne ich von den Talmudisten und Cabalisten her, die ihn vielleicht aus Persien übernommen haben. Es ist in der Tat das große Lufttier, das dem Seetier Leviathan oder dem Landtier Behemot entspricht. Er ist so gewaltig, dass, wenn er im Fluge ein Ei fallen lässt, 1000 Libanon-Zedern zerschmettert werden und 1000 Flüsse aus den Ufern treten. (JS 109)
Faktisch endete der Zweite Weltkrieg mit den Atombombenabwürfen der USA auf Japan. Auch die deutsche Kriegsindustrie hat aber damals verstanden, dass sich der Weltkrieg an der Luftüberlegenheit entscheiden könnte, und „Wunderwaffen“ im Bereich des Luftkriegs zu entwickeln gesucht: Düsenflugzeuge und die Rakete der V-2. Man wüsste gerne genauer, was Schmitt aus der kabbalistischen Literatur zum „großen Vogel“ gelesen hat. Im Leviathan-Buch ist einige Literatur zu „jüdischkabbalistischen Deutung[en]“ (L 17) erwähnt. Schmitt zitiert u. a. Johann Andreas Eisenmenger (1654‒1704), einen Urvater des Antisemitismus, und betont einen Gegensatz zwischen den christlichen und jüdischen Deutungen: „Die jüdischen Deutungen des Leviathan sind wesentlich anderer Art.“ (L 16) Sie seien „Kampfmythen größten Stils“: „Nach solchen jüdisch-kabbalistischen Deutungen stellt der Leviathan ‚das Vieh auf den tausend Bergen‘ (Ps. 50, 10), nämlich die heidnischen Völker dar.“ (L 17) Und Schmitt meint: „Die Juden aber stehen daneben und sehen zu, wie die Völker der Erde sich gegenseitig töten“ (L 18). Er meint auch: „Angesichts solcher Leviathan-Deutungen liegt es nahe, eine Gegendeutung zu wagen“ (ebd.). Man muss seine Andeutungen in der Korrespondenz mit Jünger als einen solchen Ansatz zur Gegendeutung verstehen, der über das Hobbes-Buch von 1938 hinausgeht. Dass Schmitts Leviathan-Buch von 1938 in antisemitischer Stoßrichtung einen Triumph des „jüdischen Kampfmythos“ konstatiert und kein Zeugnis von NS-Kritik ist, hat jüngst erneut Andreas Höfele15 gezeigt. Dass Schmitt mit dem Vogel Ziz eine neue Kampfzone entdeckte, wurde bislang in der Forschung aber fast gänzlich übersehen. Wikipedia verweist in einem kurzen Stichwortartikel16 zum Vogel Ziz auf einen Kommentar zu den Psalmen 50, 11 von dem Rabbiner David Kimchi (1160‒1235) sowie weitere Literatur und erwähnt, dass die Psalmen den Vogel nicht namentlich nennen. „Ich kenne alle Vögel des Himmels“, meint Gott in den Psalmen, und
15 Vgl. Höfele, Andreas: Carl Schmitt und die Literatur, Berlin 2022, S. 260–291, bes. S. 283 f. 16 https://de.wikipedia.org/wiki/Ziz_(Mythologie) (letzter Zugriff 10.10.2022).
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alle seien sein Eigentum. Die Tiere gehören ihm ohnehin, Menschen sind anderes schuldig. Schmitt führt die jüdisch-kabbalistische Deutung nicht aus. Es ist beachtlich, dass er in seinen späteren Publikationen nicht namentlich vom Vogel Ziz spricht, sondern nur von einem „großen Vogel“, und eine Festlegung auf Ziz oder Phönix vermeidet.17 Er meidet damit den konkreten Bezug auf das Judentum, der sich aber in anderen Anspielungen (etwa auf Isaak Abrahanel und Benjamin Disraeli) in Land und Meer, in der Ausgabe von 1942, die nach 1945 (in allen neueren Auflagen) leicht retuschiert wiederaufgelegt wurde, mit weniger eindeutig antisemitischem Akzent auch findet. Ein Auszug in der Deutschen Kolonialzeitung spricht im Titel von einem Vogel „Greif “. Philip Manow18 meint, dass Schmitt unter kapitalismuskritischem, antisemitisch konnotiertem Vorzeichen eigentlich das Bild von der Krake hätte wählen können oder sollen, und führt ein Beispiel19 an, das in der antisemitischen Karikatur des Nationalsozialismus verwendet wurde. Hier interessiert, dass Schmitt den „großen Vogel“ gegenüber Jünger explizit kabbalistisch konnotiert und davon in seinen Publikationen schweigt. Direkt schiebt er, am 20. November 1940, zur „Ergänzung meiner Informationen über Leviathan, Behemoth und Vogel Ziz“ (JS 110), ein eigenes Gedicht nach, das ihm im Luftschutzkeller ohne „besonderes Zutun“ eingefallen sei: Der Drache, der das Ei behütet, Hat dieses Ei längst ausgesoffen; Die Henne, die es treu bebrütet, Fühlt sich dadurch in Nichts betroffen. Sie bleibt auf ihrem Brütesitz; Was kommt heraus? Der Vogel Ziz! (JS 110)
Es handelt sich zweifellos um ein formal nicht kunstlos gebautes Stegreif- und Erlebnisgedicht (aus dem Luftschutzkeller), ein Sextett (ababcc), gebaut aus einem Vierzeiler mit jambischen Vierhebern im Kreuzreim (V. 1–4), der hyperkatalektisch unbetont endet, sowie einem Paarreim ebenfalls mit jambischen Vierhebern (V. 5–6), der betont endet. Das Gedicht ist liedhaft gebaut und schließt wie mit
17 Schmitt, Carl: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942, S. 74; 2. Aufl. 1954, S. 62; 3. Aufl. 1982, S. 105; vgl. auch den 1943 in der Deutschen Kolonialzeitung publizierten Auszug: Schmitt, Carl: Behemoth, Leviathan und Greif. Vom Wandel der Herrschaftsformen; Wiederabdruck in: Ders.: Gesammelte Schriften 1933 bis 1936, mit ergänzenden Beiträgen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Berlin 2021, S. 526: „Zu den beiden mythischen Tieren Leviathan und Behemoth würde dann noch ein drittes, ein großer Vogel hinzutreten.“ 18 Vgl. Manow, Philip: Nehmen, Teilen, Weiden. Carl Schmitts politische Ökonomien, Konstanz 2022, S. 122–130. 19 Vgl. ebd., S. 127.
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einem Refrain. Ein leichter Betonungswechsel zum Auftakt der vierten Zeile („Fühlt sich dadurch …“) leitet zur Pointe des Paarreims-Refrains über, der mit dem Donnerschlag des „Vogel Ziz“ abrupt und schockierend deutlich endet. Das Lied oder Gedicht ist also formal regelmäßig und prägnant gestaltet. Man mag bezweifeln, ob Schmitt es wirklich, ohne stilistisches Feilen, aus dem Stegreif im Luftschutzkeller gedichtet hat; jedenfalls betont er den Anspruch als Stegreif- und Erlebnisgedicht, das eher ins 18. als in 20. Jahrhundert gehörte.20 Die starke, schockierende Aussage oder Botschaft des Gedichts entsteht auch aus dem Kontrast zwischen der einfachen Form, die flüssig beherrscht ist, und der krassen politischen Aussage. Seit seiner Jugend hat Schmitt immer wieder gedichtet und seine einfach gebauten Gelegenheitsgedichte in Briefe und Tagebücher eingestreut. Stets zitierte er auch viel Literatur und Dichtung und war mit der europäischen Avantgarde vertraut. Mit den einfachen lyrischen Formen, die er pflegte, signalisierte er den beiläufigen und marginalen Anspruch seiner Gelegenheitsgedichte. Dabei ist aber zu beobachten, dass er seine politische Lyrik nach 1945 oft und gerne im Kreis verschickte und starke Themen und Botschaften wählte, die in ihrer Radikalität und Anstößigkeit jenseits des lyrischen Kleides kaum kommunizierbar waren. Seine politische Lyrik ist in hohem Maße inkorrekt. Dabei hat Schmitt einige seiner Gedichte sogar pseudonym veröffentlicht und auch in dem zeitdiagnostischen Sammelband Die neue Gesellschaft 21 wiederveröffentlichen lassen, den seine Schüler Rüdiger Altmann und Johannes Groß herausgaben. 2011 hat die Carl Schmitt-Gesellschaft einige Gedichte für und von Carl Schmitt in ihrer Jahresgabe publiziert;22 das erwähnte Ziz-Gedicht ist nicht darunter. Es ist bislang in der Forschung kaum beachtet worden, obgleich es einer der stärksten (und skandalösesten) Kommentare zum Weltkriegsgeschehen ist. Schmitt schreibt dem befreundeten Jünger im intellektuellen Wettstreit: Der Staatsrechtler demonstriert dem Schriftsteller, der Lyrik nicht pflegte, wie man radikale Botschaften in Lyrik verdichtet und verpackt. Der Wikipedia-Artikel erwähnt, dass Vogel Ziz aus einem Ei kroch, das nicht bebrütet wurde. Schmitt lässt es wie ein Kuckucksei oder eine Totgeburt von einer arglos treuen Henne bebrüten. Der Drache hat die Henne also betrogen und um ihre eigene Brut gebracht. Das Gedicht entspricht in der einfachen Reimform wie der satirisch-politischen Aussage den sonst bekannten Gedichten Schmitts. Es ist als Gegendeutung zur
20 Formale Hinweise verdanke ich Pd Dr. Bernhard Walcher. 21 Vgl. Altmann, Rüdiger/Groß, Johannes: Die neue Gesellschaft. Bemerkungen zum Zeitbewusstsein, Stuttgart 1958; dazu vgl. Mehring, Reinhard: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg 2017, S. 238–264. 22 Giesler, Gerd/Hüsmert, Ernst/Spindler, Wolfgang: Gedichte für und von Carl Schmitt (Plettenberger Miniaturen 4), Plettenberg 2011.
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jüdisch-kabbalistischen Auffassung ernst zu nehmen und für Schmitts LeviathanMythologie beachtlich. Ist es antisemitisch zu lesen? Wer ist Drache, Henne und Ei? Der Drache steht, dem Hobbes-Buch von 1938 folgend, für „nichtjüdische Völker“ als ein „Symbol schützender und gütiger Gottheiten“, ist dem Judentum aber „feindlich“ (L 19) gesonnen. Vertauscht Schmitt in seiner Gegendeutung Drache und Henne? Das erschwert und irritiert die Interpretation. In einfachster antisemitischer Lesart wäre das Ei als eine Art Kuckucksei wohl auf das „Judentum“ festzulegen. Sind Drache und Ei hier aber identisch? Wäre der Drache also auf ein Judentum festzulegen, das andere Völker, ob Deutschland oder die USA, wie die Henne für seinen Nachwuchs betrügerisch instrumentalisiert? Beschwört Schmitt eine fortdauernde Bedrohung durch den „großen Vogel“ der Kabbalisten? Oder beschwichtigt er im Luftschutzkeller seine Angst mit einem Verweis auf die Lebensbzw. Machtlosigkeit des Vogels Ziz? Steht der Drache gar für Judenmord? In den weiteren Korrespondenzen der Jahre 1941/42 ist mehr von Bosch, Melville und Poe die Rede. Erst mit der Ausarbeitung von Land und Meer kommt Schmitt erneut auf den „großen Vogel“ zu sprechen. Am 10. Dezember 1942 schreibt er Jünger an die Ostfront: Soll ich Ihnen mein Büchlein ‚Land und Meer‘ schicken? Dort ist am Schluß gesagt, daß die Geschichte der Menschheit nach antiker Lehre ein Gang durch die 4 Elemente ist. Wir sind jetzt im Feuer. Was hat Ihnen Prometheus im Kaukasus gesagt? Was man ‚Nihilismus‘ nennt, ist Verbrennung im Feuer. Der Drang, sich in Krematorien verbrennen zu lassen, ist ‚Nihilismus‘. Die Russen haben dieses Wort gefunden. Aus der Asche entsteht dann der Vogel Phönix, d. h. ein Reich der Luft. (JS 151)
Spielt Schmitt hier auf den Holocaust an? Meidet er gegenüber Jünger mit seiner Rede von einer „antiken“ Lehre und vom Vogel Phönix (statt Ziz) bewusst den Bezug auf das Judentum? Jünger zitiert diesen Brief umgehend, am 23. Dezember, in den Strahlungen, im Kontext apokalyptischer Beschreibungen der KaukasusFront, und merkt an: „Er [Schmitt] zählt doch zu den wenigen, die den Vorgang an Kategorien zu messen suchen, die nicht ganz abwegig sind“.23 In der Korrespondenz ist weiter vom Judentum die Rede. So schreibt Schmitt im August 1943 unvermittelt zur Lektüre von Leon Bloy, Le Salut par les Juifs (1892): In Hamburg war ein jüdischer Kunsthistoriker, Panofsky, der 1933, anläßlich einer Straßen-Demonstration, die unter dem Rufe ‚Juda verrecke‘ marschierte, den Ausspruch tat[:] ‚eher werden die Recken verjuden‘, worauf er mit Recht verhaftet wurde. (JS 164)
23 Jünger: Strahlungen 1949, Anm. 5, S. 242.
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Schreibt Schmitt aus eigener Überzeugung oder für die Zensur? Zieht er eine Linie von den ersten antisemitischen Exzessen zum Holocaust? Oder glaubt er ernstlich, mit Nietzsche, Peterson und Bruno Bauer, an ein „[V]erjuden“ der „Recken“? Jünger spricht im Februar 1945 von einer „Hartnäckigkeit der Juden“: „Es gibt nur die Wahl zwischen dem Alten und dem Neuen Testament“ (JS 188). Schmitt zitiert zur Antwort Bruno Bauer: „Aber schließlich hat Gott auch die Juden erschaffen, und wenn wir sie alle totschlagen, werden wir alle ihre Stelle einnehmen.“ (JS 190) Wie lassen sich solche Äußerungen verstehen? Muss man sie nicht wenigstens als Hinweis auf den Holocaust lesen? Auch unter den Zensurbedingungen und als Satire gelesen verstören sie. Schmitt affirmiert das Bauer-Zitat zwar nicht eindeutig, sondern verweist für seine eigene Auffassung mehr auf Annette von Droste-Hülshoff, auf deren Gedicht Am Gründonnerstage, das von einem „Strafgericht“ und von „Schergen“ spricht. Damals bezieht er sich, im Tagebuch wie noch im Glossarium, immer wieder auf diese hochmoderne Gebetslyrik, die, noch im Sommer 1846 überarbeitet, eine existentielle Lebenskrise „im Durchgang durch den Zweifel“24 zu bewältigen suchte. Die starke Identifikation meint aber keine bedingungslose christliche Buße und Reue. „O Gott, ich kann nicht bergen, / Wie angst mir vor den Schergen, / Die Du vielleicht gesandt / […] zu töten den Verstand! / Es ist mir oft zu Sinnen, / Als wolle schon beginnen / Dein schweres Strafgericht.“ Weiter heißt es im Gedicht: „Doch ist er [Jesus] so vergiftet, / Daß es Vernichtung stiftet, […] / So laß mich ihn verlieren.“25 Schmitt fürchtet damals, bei Kriegsende, explizit die „Rache“ der überlebenden Juden26 und erinnert sich seines verratenen Freundes Georg Eisler. Später versucht er sich über die „geistlichen Gedichte“ Droste-Hülshoffs wieder mehr in den Katholizismus hineinzufinden, „rettende Kraft“27 und „Trost“28 zu erlangen. Anders als im Umgang mit Theodor Däubler und Konrad Weiß scheint sein Interesse an Droste-Hülshoff aber sehr an die damalige Lage gebunden zu sein. Sein Katholizismus bleibt auch in der Reue fragwürdig und problematisch. Das ließe sich auch im Vergleich mit Jünger zeigen, dessen Projekt doppelter Bibel-Lektüre das Strahlungen-Projekt umklammert.29 24 So Borchmeyer, Dieter (Hg.): Annette von Droste-Hülshoff. Darf nur heimlich lösen mein Haar. Ein Lesebuch, München 1997, S. 80. 25 Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte, Leipzig 1945, S. 69 f. 26 Vgl. Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Hg. von Gerd Giesler und Martin Tielke, Berlin 2016, S. 34. 27 Schmitt, Carl: Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 44. 28 So Schmitt am 20./22. Juli 1946 an Duschka Schmitt, in: Schmitt, Carl/Schmitt, Duschka: Briefwechsel 1932 bis 1950. Hg. von Martin Tielke, Berlin 2020, S. 238; Duschka Schmitt hatte ihm am 4. Dezember 1945, am Beginn seiner Lagerhaft, die Insel-Ausgabe (Leipzig 1945) der Gedichte geschickt. 29 Jünger notiert am 29. März 1945 in die Strahlungen (1949, Anm. 5, S. 638), dass ihn Schmitt auf Droste-Hülshoffs Gedicht Am Gründonnerstage aufmerksam machte; er zitiert das Gedicht am 19.
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3.
Zur Lage der EU
Mein Text führte zunächst aus, dass Schmitt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs nicht detailliert ereignisgeschichtlich kommentierte und deshalb auch die Grenzen seiner Großraumkonzeption unbestimmt ließ. Er thematisierte dann das relative Schweigen zum Kriegsgeschehen nach 1941 und entwickelte hier die These, dass Schmitt den Ausgang des Krieges prognostisch an der Frage der Luftüberlegenheit festmachte. Zwar postulierte er bis 1941 eine Überlegenheit des nationalsozialistischen Reiches gegenüber den besetzten Gebieten und reklamierte eine rechtswissenschaftliche Deutungshegemonie. Nach 1941 scheint er den „großen Vogel“ alliierter Lufthoheit aber im Rahmen seiner „Politischen Theologie“ mit Judentum zu assoziieren und nicht von seinem Antisemitismus abzurücken. Zwar schweigt Schmitt seit Beginn des Russlandfeldzugs weitgehend vom Kriegsverlauf und deutet die kommende Niederlage Deutschlands nur an; er wertet die alliierte Luftüberlegenheit aber negativ und assoziiert sie mit dem Vogel Ziz, was wohl als Hinweis auf eine Art jüdische Weltverschwörung und „Weltjudentum“ gelesen werden muss. Nicht nur das Nachkriegstagebuch Glossarium belegt leider unmissverständlich, dass Schmitt an seiner antisemitischen Paranoia und Verschwörungsthese auch nach 1945 festhielt. Schmitt reflektierte dort in zahlreichen Eintragungen auf Grenzen der Elitensoziologie, um für seine Verschwörungstheorie Platz zu schaffen. Unter dem 8. Juli 1949 notierte er: „Und Nürnberg? Hiroshima? Morgenthau?“ Sie reden zwar viel von Eliten, Doch ahnen die meisten es kaum, Es gibt nur noch Isra-Eliten Im großplanetarischen Raum.30
Auch dieses Gedicht gehört zur antisemitischen Gegendeutung, die Schmitt der kabbalistischen Mythologie mit dem Ziz-Gedicht entgegenhielt. Auch hier dient die lyrische und leicht ironische Verpackung einer Neutralisierung der extremistischen Botschaft. Das Spätwerk Der Nomos der Erde beschließt seine Version vom Untergang Europas mit Ausführungen zum Luftkrieg. Dort heißt es etwa:
Januar 1947 in den Jahren der Okkupation (Stuttgart 1958, S. 266 f.) für die christliche „Alternative“ des Martyriums im vollen Wortlaut. In diesem letzten Teil seines Strahlungen-Projekts erwähnt er Schmitt aber wohl auch deshalb nicht mehr (bis auf S. 40), weil das persönliche Verhältnis damals auch durch den Bruch mit Gretha Jünger sehr belastet war. So ist eine positive Erwähnung Schmitts vom 17. August 1945 nicht in die Jahre der Okkupation übernommen: „Wie Stapel mir schreibt hat Carl Schmitt die letzten Monate in Berlin ‚überstanden‘ und arbeitet in der Bibliothek. Das ist eine der seltenen erfreulichen Nachrichten“ (Strahlungen 2022, Anm. 5, Bd. 2, S. 669). 30 Schmitt: Glossarium, Anm. 26, S. 193.
Staat, Reich und „Vogel Ziz“
Der Bombenabwurf aus der Luft […] hat nur den Sinn und Zweck der Vernichtung. Der selbständige Luftkrieg, der keine zu den Waffen und Methoden des bisherigen Landoder Seekriegs hinzutretende, sondern eine völlig neue Kriegsart ist, unterscheidet sich von den beiden anderen Arten des Krieges vor allem dadurch, daß er überhaupt kein Beutekrieg, sondern reiner Vernichtungskrieg ist.31
Schmitt hat sich auch nach 1945 nicht offen und ausführlich über das Kriegsgeschehen und die Nachkriegsordnung geäußert. Er schrieb zwar über globale Grenz- und Linienziehungen, brach den Nomos der Erde aber ab und verzichtete auf eine Integration seines pseudonymen Völkerrechts-Repetitoriums, das auf die Nachkriegslage eingeht. Zum Kalten Krieg äußerte er sich öffentlich kaum, sprach weiter von einer „Einheit der Welt“32 und vom „Weltbürgerkrieg“,33 schwieg von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den ersten Etappen zur Europäischen Union (EU). Machtpolitisch hatte „Mitteleuropa“ seiner Auffassung nach mit der Kriegsniederlage Nazideutschlands ausgespielt. Es gehörte der „westlichen Hemisphäre“.34 Was lässt sich dazu heute, Ende 2022, in erster Annäherung sagen? Das doppelte Ziel einer Erweiterung und Vertiefung der EU ist leicht paradox: Je mehr die EU sich erweitert, desto stärker muss ihre Vertiefung vom alten Gründungskern her bestimmt werden: von den Kernmitgliedern der Römischen Verträge, die die einstigen Kriegsgegner in ein Zweckbündnis zusammenzwingen wollten: Frankreich und die Beneluxstaaten einerseits, Deutschland und Italien andererseits. Deutschland und Frankreich sind heute, in der erweiterten EU ohne England, als Motoren und Kern der EU aber überfordert. Außenpolitische Handlungsfähigkeit bedarf deshalb nach wie vor der Führung durch USA und NATO, wie sich gerade im Ukrainekrieg wieder zeigt. Aktuell scheint ein politischer Verfassungskern und Verfassungskonsens gegen die diktatorischen Entwicklungen in Russland und China zwar erneut leidlich zu tragen; eine säuberliche Unterscheidung von liberalen Demokratien und Diktaturen wäre aber naiv. Ein starkes Homogenisierungskonzept wird innerhalb der EU gerade vielfach relativiert. Ohne relative Gemeinsamkeiten in der deutschen und französischen Europapolitik gibt es keine EU. Zwar scheint der Ukrainekrieg aktuell eine Repolitisierung und Rückbesinnung auf den politischen Kern des Gründungsprojekts zu bewirken. Die EU wird aber nach wie vor primär durch Wirtschafts- bzw. Transferleistungen zusammengehalten, die die Kleinen von den Großen erpressen. Ihre Zukunft bleibt deshalb vom Industriestandort
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Schmitt, Carl: Der Nomos der Erde, Köln 1950, S. 204. Vgl. dazu Schmitt: Glossarium, Anm. 26, S. 180, 251 f. und 285. So auch SGN 496–512. Vgl. dazu Schmitt: Glossarium, Anm. 26, S. 22 und 203. Ebd., S. 136.
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Deutschland abhängig, der seit Jahren erodiert. Wir erleben gerade erneut, wie sehr Wirtschaft und Kultur von der Politik her bestimmt sind. Die europäische Handlungsfähigkeit ist massiv herausgefordert und bedarf institutioneller Reformen und Innovationen. Ein deutscher Hegemonieanspruch ist heute nicht mehr möglich.
Thomas Keller
Europa als dritter Weg Von den Nonkonformismen der Zwischenkriegszeit zur europäischen Integration
1.
Nonkonformismus, dritte Wege, Europa
Wird Europa als Idee aufgerufen, bedeutet dies nicht automatisch ein Votum für Verwestlichung und ein Bekenntnis zum Liberalismus (privatwirtschaftliche Ordnung, repräsentative Demokratie, Betonung individueller Rechte). Ein aufschlussreiches Beispiel dafür sind die sogenannten Nonkonformisten:1 Das ist die Generation der um 1905 Geborenen, die den Ersten Weltkrieg bewusst miterlebt haben, ohne an ihm teilzunehmen. Sie sind in Frankreich als Gruppe gut identifizierbar durch die vielen Absolventen der khâgnes (Vorbereitungsklassen für die Eliteschulen) und der Eliteschulen selbst, besonders der Ecole Normale supérieure (ENS)2 und auch der Ecole Polytechnique, der Hochschule für Ingenieure. Unter ihnen befinden sich viele prominente Intellektuelle, etwa Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty, Simone Weil, Claude Lévi-Strauss und Raymond Aron. Diese Absolventen kennen sich oft untereinander. Eine solche institutionell kanalisierende Gruppenbildung kann in Deutschland nicht stattfinden, aber auch hier gibt es Nonkonformisten, etwa Walter Dirks und Werner Thormann, Paul Ludwig Landsberg, Harro Schulze-Boysen und Eugen Kogon. Ein gemeinsames Merkmal der Nonkonformisten ist die Suche nach einem dritten Weg. Der Begriff ‚dritter Weg‘, in jüngster Zeit durch seine Verwendung in rechtsextremistischen Milieus erneut in Verruf geraten, bezeichnet eine Alternative jenseits von Kapitalismus und Kommunismus, jenseits von Liberalismus und Kollektivismus, jenseits von Marktwirtschaft und zentralistischer Planwirtschaft, jenseits von Individualismus und Aufgehen in der Masse (‚Rasse‘, Volk) oder Klasse. Die Nonkonformisten lehnen die parlamentarische Parteien-Demokratie ab, sofern sich in ihr Einzelinteressen durchzusetzen scheinen. In der Zwischenkriegszeit erweist sich die Dritte Republik Frankreichs mit ihren vielen Regierungswechseln als instabil. Die Politiker der Dritten Republik gelten oft als korrupt. Skandale
1 Vgl. Loubet de Bayle, Jean-Louis: Les non-conformistes des années 30, Paris 1969 (neubearb. und erw. Aufl. Paris 2001). 2 Vgl. Sirinelli, Jean-François: Génération intellectuelle. Khâgneux et Normaliens dans l’entre-deuxguerres, Paris 1988.
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erschüttern die Republik, man denke nur an den Stavisky-Finanzskandal 1934. Die antiliberale Kritik der Nonkonformisten entsteht nicht zuletzt deshalb, weil sich die liberale Welt als korrupt und ohnmächtig gegenüber Faschismus bzw. Nationalsozialismus erweist und es auch nicht vermag, dem alleszermalmenden industriellen Durchmarsch in der Sowjetunion eine alternative Lösung der sozialen Frage entgegenzustellen. Die Distanz zu beiden macht den Nonkonformismus zu einer der ersten Manifestationen des Antitotalitarismus. Die antiliberale Stoßrichtung des Nonkonformismus richtet sich nicht allein gegen Missstände im Frankreich der dreißiger Jahre. Sie macht sich nicht nur am privatwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystem und am schrankenlosen Individualismus fest. Die Kritik bezieht sich grundsätzlicher auf den produktivistischen Charakter des Systems sowie auf das dahinterstehende Menschenbild, das den Menschen auf seine Arbeitsleistung reduziert. Auch die alleinige Auffassung vom Individuum als Rechtsperson vermag es nicht, Menschenwürde und Zusammenleben zu garantieren. Die Nonkonformisten fordern tiefgreifende Umwälzungen, das Wort Revolution geht ihnen leicht von den Lippen. Sie bringen radikale Forderungen wie die Auflösung der Nationalstaaten und die Einführung einer gemischten Wirtschaftsordnung vor. Die die Gruppen verbindende Kritik am Liberalismus bedeutet indes nicht, dass liberale Konzepte gänzlich in ihren Vorstellungen abwesend wären. Nicht nur kommen im antibürgerlichen Habitus der Nonkonformisten freiheitliche Impulse zum Ausdruck. Auch kommt mit staatsund bürokratiekritischen Forderungen wie Föderalismus und Dezentralisierung zugleich ein liberal-libertäres Moment in die Bewegung. Die Positionierung der Nonkonformisten bedeutet auch, dass EuropaKonzeptionen, wie etwa die nationalstaatliche von Briand und Stresemann oder die pan-europäische von Coudenhove-Kalergi, nicht zum Einsatz kommen können. Es dürfte hingegen unmittelbar einleuchten, dass sich der Europa-Komplex hervorragend für verschiedene Ausformulierungen dritter Wege eignet. Es ist der Raum, der sich von der nutzorientierten kapitalistischen Welt der Angelsachsen und von kollektiven Weltentwürfen (Klasse, Rasse) abhebt. Die Nonkonformisten sind substantiell mit dem Europa-Thema verbunden. Die deutlichste Artikulation von Europa-Konzepten findet sich in zwei Ausprägungen des Personalismus: in der L’Ordre Nouveau-Gruppe mit Dandieu, Rougemont, Marc, Chevalley, und in der Esprit-Gruppe um Mounier. Die Integralföderalisten von L’Ordre Nouveau bilden den Kern der föderalistischen Europa-Politiker. Esprit-Personalisten sind nach 1945 federführend in der deutsch-französischen Aussöhnung wie in europäischen Institutionen. Auch planistische und anti-utilitaristische Konzepte wirken in der europäischen Integration weiter.
Europa als dritter Weg
1.1 Die nonkonformistischen Gruppen Loubet de Bayle fasst in seiner klassisch gewordenen Studie unter dem Begriff non-conformistes des années trente drei Gruppen zusammen: die beiden personalistischen Gruppen L’Ordre Nouveau (ON) und Esprit sowie die Jeune Droite. Die Jeune Droite entspricht am ehesten dem, was in Deutschland als konservative Revolution bezeichnet wird;3 sie vereint Nationalrevolutionäre und gilt heute als mitverantwortlich für die Barbarei des 20. Jahrhunderts. Schwere Vorwürfe werden allerdings auch gegen Mitglieder der beiden personalistischen Gruppen erhoben,4 sie sind nur teilweise berechtigt.5 Ich habe – ich denke mit guten Gründen – die Planisten und das Collège de sociologie den Gruppen der nonkonformistischen dritten Wege hinzugefügt und ihre grenzüberschreitenden Bewegungen freigelegt. Die verschiedenen Gruppen haben transkulturelle, häufig deutsch-französische Verbindungen und Kennzeichen. Auch in der Weimarer Republik gibt es liberalismuskritische Vertreter des dritten Wegs. Die Rhein-Mainische Volkszeitung mit den Katholiken Thormann und Dirks etwa nimmt in mancher Hinsicht Positionen von Esprit vorweg. ON ist in Kontakt mit Harro Schulze-Boysen, später als Mitglied der sogenannten ‚Roten Kapelle‘ hingerichtet. Die Calvinisten unter den ON-Mitgliedern eignen sich die dialektische Theologie von Barth und Bultmann an. Der emigrierte Scheler-Schüler Paul Ludwig Landsberg vermittelt der EspritGruppe den Personalismus. Diese Gruppe greift auch die Ich- und Du-Beziehung nach Buber auf. Der Belgier Hendrik (Henri) de Man verbreitet seinen Planismus in Deutschland, Belgien und Frankreich. An den Sitzungen des Collège de sociologie (Bataille, Leiris, Caillois, Klossowski) nehmen die Emigranten Hans Mayer und Paul Ludwig Landsberg teil. Die nationalsozialistische Herrschaft macht der Vielfalt der nonkonformistischen Strömungen in Deutschland ein grausames Ende und treibt sie ins Exil. Im Folgenden werden zunächst die Europa-Konzeptionen der beiden personalistischen Gruppen aufgeschlüsselt, das heißt die integralföderalistische und die gemeinschaftliche Version. Dagegen tun sich die Nationalrevolutionäre der Jeune Droite mit Europa-Konzeptionen schwer. Die Planisten gewinnen Einfluss im sozialistisch-gewerkschaftlichen Milieu; sie visieren intermediäre Wirtschaftsordnungen in mehreren Nationalstaaten in Europa an. Im Collège de sociologie
3 Siehe hierzu Kessler, Nicolas: Histoire politique de la jeune droite, 1929–1942. Une révolution conservatrice à la française, Paris 2001. 4 Etwa von Sternhell, Zeev: Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France, Paris 1983. 5 Vgl. Keller, Thomas: Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001; Roy, Christian: Alexandre Marc et la Jeune Europe (1904–1934). L’Ordre Nouveau aux origines du personnalisme. Mit einem Nachwort von Thomas Keller (Le personnalisme de l’Entre-deux-guerres entre l’Allemagne et la France), Nice 1998.
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bekommt der Anti-Utilitarismus eine europäische Färbung. Dann kommen Fortentwicklungen in den Blick. In der Ökologie-Gruppe der Gascogne formieren sich Personalisten neu. In der Exilzeitschrift Die Zukunft, die eine Europäische Union propagiert, finden sich Esprit-Mitarbeiter wie andere Nonkonformisten ein. Im Kongress des Korporatismus in Rom spiegelt sich eine schillernde Gemengelage: Planisten nähern sich Korporatisten an, wie auch Esprit-Personalisten Gemeinsamkeiten mit Planisten suchen. Bataille verbündet sich im Collège socratique mit Nonkonformisten von ON und der Jeune Droite in einer Wendung nach innen; er grenzt einen Raum gegen die flache amerikanische Konsumwelt und gegen maßhaltende fernöstliche Spiritualität ab. Die Spuren jener Aufbrüche finden sich in der Nachkriegsgeschichte: in föderalistischen Initiativen, in der deutsch-französischen Aussöhnung, im europäischen Plan, im fortwährenden Anti-Utilitarismus. Es sind diese unbestreitbaren Kontinuitäten, die die Nonkonformismen mit dem europäischen Integrationsprozess verbinden, die immer wieder Argwohn wecken, etwa in den Studien von Jean Jacob6 und Undine Ruge7 über die Integralföderalisten. Antonin Cohen8 zeichnet die Wege der Nonkonformisten anhand eines Vichyisten wie François Perroux (Esprit), aber auch der Monnet-Mitarbeiter Marjolin, Reuter, Uri und Hirsch nach. Allerdings bieten solche Lebensläufe keine hinreichenden Kriterien, um eine allgemeine Anfälligkeit der Nonkonformisten für anti-demokratische Lösungen zu unterstellen, bedingt durch den Antiliberalismus.
2.
Ausdifferenzierungen
2.1 L’Ordre Nouveau: Integralföderalismus der kleinen Einheiten Esprit und L’Ordre Nouveau haben die Unterscheidung der unersetzbaren und verantwortungsvollen Person vom atomisierten bindungslosen Individuum gemeinsam. Ein Unterscheidungsmerkmal ist die proudhonistische Tendenz von ON, wodurch diese Gruppe konfliktbetonend wird. ON lehnt den Nationalstaat und den zentralisierenden Staat schlechthin ab. Diese sogenannten Integralföderalisten schreiben état bewusst klein.9 Föderationen sollen den Nationalstaat ersetzen. Diese Forderungen nehmen ihren Ausgang im syndikal-anarchistischen Proudhonismus. Durch die barthianische Richtung bei den Calvinisten von ON kommen Konzepte
6 Vgl. Jacob, Jean: Le retour de l’„Ordre Nouveau“. Les métamorphoses d’un fédéralisme européen, Paris 2000. Jean Jacobs undifferenzierte Studie muss wohl als verleumderisch bezeichnet werden. 7 Vgl. Ruge, Undine: Die Erfindung des ‚Europas der Regionen‘. Kritische Ideengeschichte eines konservativen Konzepts, Frankfurt a. M./New York 2003. 8 Vgl. Cohen, Antonin: De Vichy à la communauté européenne, Paris 2012. 9 Im Französischen wird neben Dieu nur noch ein Begriff großgeschrieben, nämlich Etat.
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wie die personale Beziehung zwischen Menschen und Gott und Mensch in die Debatten. Rougemont bezeichnet gegliederte Gemeinschaft als Kirche. Es gibt weitere Aneignungen aus dem deutschsprachigen Raum. Alexandre Marc (ON) lässt sich von Eugen Rosenstocks Europäischen Revolutionen inspirieren. Ein frühes Zeugnis des Integralföderalismus ist der Artikel von René Dupuis, Patrie oui. Nation non! von 1931.10 Gegner ist der Nationalstaat, propagiert ist die Bindung an eine kleinere Einheit. Von Anfang an muss sich der Föderalismus abgrenzen. Marc verteidigt seine Vorstellung des „befreiten Bodens“ gegen Autarkie und Protektionismus.11 Zusammen mit Chevalley beklagt Marc den „Wahnsinn von Grenzen“.12 Kleine Einheiten sind etwa Gemeinden. Sie sollen den Verlust der Bodenhaftung verhindern und die Entfaltung der Person ermöglichen, wie Chevalley und Marc in einem weiteren Text schreiben.13 Im November 1934 erscheint ein ganzes Heft von ON über den „Föderalismus, der die Grenzen überwindet“.14 Darin argumentieren Michel Gladys (das ist Alexandre Marc)15 und René Dupuis gegen Nationalstaaten und Pan-Europa.16 Sie propagieren eine supranationale Föderation von kleineren Einheiten. Sie sprechen von kleinen Vaterländern mit variablen Grenzen. Der Begriff patrie demonstriert, dass ON einen gewissen lokalpatriotischen Partikularismus verteidigt. Er soll die Uniformität, die durch Zentralismus entsteht, bekämpfen, so Marc.17 Zugleich soll ein solches Vaterland dem Provinzialismus entkommen.18 Die Integralföderalisten spüren selbst die Gefahr, mit maurassianischen Vorstellungen (Maurras ist der Ideologe der Action Française) der Verwurzelung oder gar mit Blut-und-BodenKonzepten verwechselbar zu sein. Sie grenzen sich ab: Sie wollen keine ethnischen Einheiten, aber eine subsidiäre Struktur: Le régionalisme est une conception réactionnaire […]. Il s’orienterait vers le particularisme et l’esprit de clocher, alors que le fédéralisme véritable s’oriente vers l’universel. Il ne part pas de la province ou de la région mais de la commune et de l’entreprise, qui sont déjà des
10 Vgl. Dupuis, René: Patrie oui. Nation non!, in: Notre Temps 107 (13.9.1931), S. 59. 11 Marc, Alexandre: La terre libérée, in: ON 6 (15.12.1933), S. 25–32. 12 Chevalley, Claude/Gladys, Michel (i. e. Alexandre Marc): La folie des frontières, in: ON 12 (15.6.1934), S. 18–26. 13 Vgl. Chevalley, Claude/Marc, Alexandre: Patrie, nation, révolution, in: Avantposte 18 (1934), zitiert nach Loubet de Bayle: Les non-conformistes, Anm. 1, S. 357. 14 Heft Par-dessus les frontières…vers le fédéralisme, i. e. ON 15 (November 1934). 15 Vgl. Gladys, Michel (i. e. Alexandre Marc): A hauteur d’homme, in: ebd., S. 8–22. 16 Vgl. Dupuis, René: Salut de l’Europe, in: ON 15, Anm. 14, S. 23–32, hier S. 29. 17 Siehe hierzu auch Marc, Alexandre: Patrie, nation, état, in: ON 32 (15.6.1936), S. 28–42, hier S. 35. 18 Ebd., S. 37.
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fédérations de personnes […] le fédéralisme est fondé dans la réalité des petits groupes humains.19
In ökonomischer Hinsicht wenden sich die Integralföderalisten gegen Banken, Trusts, Monopole. Sie sind libertär orientiert. Basiseinheiten werden im proudhonistischen Sinne von Gemeinden und Unternehmen gebildet. Ein allgemeines Mindesteinkommen und ein Zivildienst für alle sollen von entfremdeter Arbeit befreien. Eine aufschlussreiche Anwendung findet sich in einem Artikel von René Dupuis und Pierre Prévost über das Elsass,20 den Korrespondenten von ON in Straßburg. Die Elsässer sind bedrängt von zentralstaatlichen Tendenzen in Frankreich und Deutschland. Die patrie alsacienne versammelt eine gemischte Bevölkerung. Die Liebe zu Frankreich verbindet sich mit der Zugehörigkeit zur deutschen Kultur, die Elsässer sind offen für verschiedene Einflüsse, sie wollen spontan gebildeten Gemeinden angehören und Kreuzung (carrefour) verschiedener Kulturen sein.21 Die Elsässer können in der Rolle des Vermittlers, des Übersetzers ihre Mission finden. Das Elsass soll sich nicht als selbstständiger Staat konstituieren, es würde durch vollständige Autonomie provinziell werden. Nur Föderalismus auf der Basis selbstständiger Gemeinden löst das Problem. 2.2 Esprit: gegliederte Gemeinschaft Mit den Integralföderalisten teilen die Esprit-Personalisten die Kritik an der parlamentarischen Parteiendemokratie. In der Esprit-Gruppe versammeln sich überwiegend gläubige Katholiken. Ihr Chef Mounier wird von Emigranten Landsberg mit dem Schelerschen Personalismus bekanntgemacht. Die Person ist Aktzentrum. Sie bildet eine unersetzbare Besonderheit aus. Ihr entspricht als Gruppenform die sogenannte Gesamtperson, unterschieden von der undifferenzierten Gemeinschaft und der atomisierten Gesellschaft. Mounier spricht sich in „Anarchie et personnalisme“ zwar für die Vereinigung (association) nach Proudhon aus. Soziale Rechte könnten nur in dezentralisierten Organisationsformen verwirklicht werden.22 Er nähert sie aber den kollektiven Personen (personnes collectives – gemeint sind
19 Mise au point sur le fédéralisme, in: ON 34 (Oktober 1936), S. 1–16, hier S. 11 f., gezeichnet Ordre Nouveau. 20 Vgl. Dupuis, René/Prévost, Pierre: L’Etat contre les patries: L’Alsace, in: ON 27 (15.1.1936), S. 16–38. 21 „Zones frontières entre français et allemands assez larges pour éviter les heurts, assez perméables pour permettre les contacts, assez autonomes et individualisées pour server, en quelques, sorte, d’interprètes à l’égard des uns comme des autres“ (ebd., S. 32). 22 Vgl. Mounier, Emmanuel: Anarchie et personnalisme, in: Esprit 55 (1.4.1937), zitiert nach Dems.: 1931–1939 (Œuvres 1), Paris 1961, S. 653–725, hier S. 712.
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Gruppen) an, die in sich komplex sind. Diese Übersetzung von Schelers Begriff der Gesamtperson, auch mit „personne de personnes“ oder auch „communauté“,23 ist missverständlich. Zwar heißt es im Manifest des Personalismus von Mounier: „La démocratie personnaliste est un régime pour petites nations“.24 Aber er warnt auch vor einem Verfall der Gesellschaft in kleine Teile: „Le personnalisme doit se garder de conclure hâtivement à on ne sait quelle conception granulaire de la société“.25 Mounier unterscheidet in „patrie“ und „nation“26 und verdammt die absolute Souveränität der Staaten,27 er heißt aber staatliche Kräfte gut: „Un certain étatisme paraît être une phase nécessaire dans l’unification des nations“.28 Die Kritik am Staat meint das Parlament: „le pouvoir parlementaire doit être limité, dans l’Etat même, du côté de l’exécutif qu’il tend aujourd’hui à résorber“.29 Mounier reiht sich in die Parteienkritik der Nonkonformisten ein und fordert zugleich eine starke Exekutive. In „L’Europe contre les hégémonies“, im November 1938, also im Kontext des Münchner Abkommens erschienen, stellt er fest, dass die Hegemonie Frankreichs in Europa auf Nazi-Deutschland übergegangen ist. Das Europa, das er beschwört, ist nicht nur eine dritte Macht gegenüber den kapitalistischen USA und der Sowjetunion, es ist ohne deutsche oder französische Vorherrschaft, ohne Hegemonie schlechthin.30 Wohl um Missverständnisse zu vermeiden, benutzt Landsberg nicht den Begriff der „personne collective“, sondern den der „fédération“. Aber dieser bekommt einen anderen Sinn als bei den Integralföderalisten. Er beschreibt den Frieden und das Zusammenleben nach personalistischen und zugleich augustinischen Kriterien: „Die Person ist das Wesen, das einer Berufung folgend sich vollenden und sich erschaffen muss und dies nur in einer Gemeinschaft einer föderalen Ordnung tun kann.“31 Hier ist ein Vorbehalt, nicht nur gegen die Volksgemeinschaft, sondern
23 Mounier, Emmanuel: Révolution Communautaire, in: Esprit 28 (1.1.1935), zitiert nach Dems.: 1931–1939, Anm. 22, S. 184–209, hier S. 195 und 199. 24 Mounier, Emmanuel: Manifeste au service du personnalisme, in: Ders.: 1931–1939, Anm. 22, S. 481–649, hier S. 624. 25 Ebd. 26 Mounier, Emmanuel: Pacifistes ou Bellicistes? Les chrétiens devant le problème de la paix, in: Esprit 78 (1.3.1939), wiederabgedruckt in: Ders.: 1931–1939, Anm. 22, S. 781–837, hier S. 824 und 825. 27 Vgl. ebd., S. 826. 28 Mounier: Manifeste, Anm. 24, S. 625. 29 Ebd., S. 626. 30 Vgl. Mounier, Emmanuel: L’Europe contre les hégémonies, in: Esprit 74 (1.11.1938), S. 147–165. 31 „La personne est l’être qui doit s’accomplir et se créer suivant une vocation, et qui ne peut le faire que dans une communauté d’ordre fédérale“ (Landsberg, Paul-Louis: Réflexions pour une philosophie de la guerre et de la paix, in: Esprit 85 [1.10.1939], zitiert nach Dems.: Problèmes du personnalisme, Paris 1952, S. 159).
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auch gegen ein ungeschiedenes Kollektiv. Friede setzt voraus, dass Menschen sich so für das Zusammenleben organisieren, dass sie unersetzbar bleiben und eine innere Ordnung verwirklichen, „in der mehrere verschiedene Wesen koexistieren“.32 Mit seinen Säulenheiligen, den spanischen Mystikern und Péguy, die Christus nachfolgen, bleibt der Esprit-Personalismus katholisch. Mounier und Landsberg fordern Ende der dreißiger Jahre allerdings zu gewaltsamem Widerstand gegen die Nazi-Barbarei auf. Der Widerständler Landsberg ist im Konzentrationslager Oranienburg umgekommen. 2.3 Jeune Droite: „Occident“ statt Europa In der Jeune Droite kursieren korporatische Konzeptionen. Nicht Klassenkampf soll herrschen, Unternehmer und Gewerkschaften sollen eng zusammenarbeiten, die Berufe vertreten sein. In einem Europa der Jungen Rechten sollen sich Vaterland (Patriotismus) und Sozialismus verbinden. Dies kombinieren ihre Vertreter mit aristokratischen Aspekten, wie sie im Nietzscheanismus propagiert werden. EuropaKonzepte haben es schwer. In der Action Française ist Deutschenhass konstitutiv, ein bejahtes Europa kann nur ein von Frankreich geführtes sein. Die Überzeugung, die Völker des Nordens seien romantisch gestimmt, pantheistisch, noch immer barbarisch, vor ihnen müsste die raison der Franzosen, das klassische Frankreich geschützt werden, kennzeichnet nicht nur Maurras, sondern auch Thierry Maulnier aus der nonkonformistischen Generation. Er spricht sich in La crise est dans l’homme zwar gegen die technisierte und konsumverfallene amerikanische Welt wie auch gegen den materialistischen Marxismus der Sowjetunion aus, nimmt also eine Dritte-Weg-Position ein.33 Das Abendland, das er verteidigt, ist dem französischen Zivilisationsgedanken, nicht der Französischen Revolution, wohl aber einer universalen Klassik, verkörpert in Racine, verpflichtet. Dieser humanisme ist zugleich anti-egalitär. Er unterzeichnet das Manifeste des Intellectuels Français pour la Défense de l’Occident, das die italienische Invasion in Abessinien rechtfertigt. „Occident“ ist weder (ganz) Europa noch demokratischer Westen. Anders als Maurras, der einem gewissermaßen nicht-gläubigen Katholizismus als Ordnungsmacht
32 „Nous définissons donc l’idée de la paix suivant la tradition augustinienne: Un ensemble existant se trouve en paix quand il réalise un ordre interne dans la coexistence de plusieurs êtres différents“ (ebd., S. 161). 33 Vgl. Maulnier, Thierry: La crise est dans l’homme, Paris 1935; Morel, Ludovic: Thierry Maulnier. Soldat maurrassien de l’humanisme, in: Dard, Olivier/Leymarie, Michel/McWilliam, Neil (Hg.): L’Action Française. Culture, société, politique (Le maurrassisme et la culture 3), Villeneuve d’Asque, 2019, S. 235–248.
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anhängt und zugleich Charles Péguy verehrt,34 verbindet sich für Maulnier die Vorstellung von Klassizität weniger mit der Katholizität Frankreichs. Mit Jean de Fabrègues, Jean-Pierre Maxence und Maurice Blanchot gründet er Zeitschriften wie Combat (1936–1939) und L’Insurgé politique et social (1937), die zwischen der katholisierenden anti-demokratischen Orientierung der Action Française und dem Hitlerismus lavieren. Europa wird allerdings auch von den Extremisten von rechts im Munde geführt. Vor und im Zweiten Weltkrieg propagieren Faschisten wie Nationalsozialisten ein Europa, das gegen den Bolschewismus wie auch gegen das angeblich minderwertige Amerika zusammensteht. Sie weiten ihren nationalen Sozialismus, der eine ethnizistisch-rassistisch bestimmte Volksgemeinschaft begründet, auf die Völker Europas aus. Dies ist der ideologische Kitt für die Kollaborateure. Allerdings nicht von Maulnier, sondern von extremeren wie Robert Brasillach und Drieu La Rochelle. Sie gestehen Nazi-Deutschland die Führungsrolle in Europa zu, den kruden Biologismus eingeschlossen. Diese Spielart des faschistischen Europäismus ist nach 1945 diskreditiert. Man mag in den Äußerungen von Vertretern der Jeune Droite eine letzte Grenzlinie sehen, die den rechten Rand des Nonkonformismus vom Faschismus abtrennt. Sicherlich ist die Jeune Droite nicht in derselben Weise vom biologischen Antisemitismus durchdrungen wie der Nationalsozialismus. Wenngleich antisemitische Äußerungen vorkommen, etwa beim Maurice Blanchot der dreißiger Jahre, so ist Antisemitismus nicht das entscheidende Kriterium in der Jeune Droite. 2.4 Planismus in europäischen Staaten Hendrik de Man (1885–1953), ein aus Belgien stammender Sozialist, der vor 1933 lange in der deutschen Sozialdemokratie gewirkt hat, vertritt einen ethischen Sozialismus, der den Klassenkampf durch Zusammenlegung und durch Zusammenarbeit der sozialen Akteure ersetzen soll. Sein Planismus ist einer der etlichen Revisionismen des revolutionären Marxismus. De Man legt seine Vorstellungen in seinen Büchern Die Psychologie des Sozialismus (1927) und Die sozialistische Idee (1933) dar. In der Psychologie des Sozialismus überführt De Man den Klassenkampf in eine psychische Auseinandersetzung um Anerkennung nicht nur des Industrieproletariats. Henry Corbin und Alexandre Kojève übersetzen L’Idée socialiste.
34 Zum paradoxen Katholizismus von Maurras vgl. Faber, Richard: Über affirmative Religionskritik in autoritär-staatlichem Interesse. Eine politologische Metakritik, in: Junginger, Horst/Faber, Richard (Hg.): Politologische und soziologische Religionskritik. Von Hobbes und Schmitt über Max Weber bis zu Adorno und Horkheimer (Religionskritik in Geschichte und Gegenwart 2), Würzburg, 2021, S. 65–88.
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De Man erarbeitet seit 1931 für den Parti Ouvrier Belge (POB) seinen Plan für eine intermediäre Wirtschaftsordnung. Vor dem Nationalsozialismus weicht er 1933 in sein Heimatland Belgien aus. Er präsentiert seinen Plan 1933 auch auf der Dekade von Pontigny. Der Plan de Man (1934) sieht ein gemischtes Wirtschaftssystem vor, mit Enteignungen von Banken und Großunternehmen. Dies soll aber auf nationaler Ebene geschehen. Er stellt nicht unbedingt die Besitzfrage, wohl aber diejenige der Macht. Der POB in Belgien tritt in die Regierung ein und wendet Mitte der dreißiger Jahre Rezepte des Plans mit einem gewissen Erfolg an. De Man betont allerdings, dass sich das belgische Beispiel nicht eins zu eins auf Frankreich übertragen lasse. An der Ecole Normale Supérieure bildet sich in den zwanziger Jahren die Groupe d’études socialistes, verbunden mit der „Docu“ von Célestin Bouglé, zunächst geleitet von dem Sozialisten Marcel Déat. Ihr gehört damals noch der spätere MonnetMitarbeiter Etienne Hirsch an, der für Reform statt für Revolution eintritt.35 In den dreißiger Jahren sind in dieser Gruppe dann Raymond Aron, Robert Marjolin und Pierre Uri (die beiden Letzteren werden später als Monnet-Mitarbeiter) aktiv. Zusammengehalten wird die Gruppe von Georges Lefranc. Er vermittelt die Doktrin von de Man. 1932 erscheint die Schrift Révolution Constructive.36 Sie beruft sich auf de Man, der die instinktive Reaktion der Massen anruft – „‚Socialiser les âmes en même temps que les institutions‘ […], conference faite à la ‚Vie Socialiste‘ le 23 janvier 1928“37 – und bekräftigt auch die von Déat beschworene Revolte gegen den Kapitalismus.38 Die Schrift enthält ein Kapitel über den Austromarxismus. Die neue Klassenfront reicht von den Bauern über die Arbeiter zu den Intellektuellen. Die Nonkonformisten der Révolution Constructive fordern die sozialistische Partei (SFIO) zu einer revolutionären Erneuerung auf. Sie suchen den Anschluss an die Gewerkschaftsbewegung, an die CGT, wo Léon Jouhaux (später BuchenwaldHäftling) und René Belin (später Vichy-Minister) den Planismus unterstützen.39 In Frankreich bilden sich nun mehrere, miteinander konkurrierende Planismen. Pierre Brosselette, Lucien Laurat und Georges Lefranc propagieren in Pour l’offensive socialiste 1934 den Plan. Mit dem Plan du 9 juillet 1934 um Jules Romains (Jean Coutrot, Paul Marion, Roditi) setzt eine Spaltung ein. In diesem Plan haben die korporatistisch-technokratischen Ingenieure das Sagen. Die Gruppe um Révolution
35 Vgl. Hirsch, Etienne: Ainsi va la vie, Lausanne 1988, S. 21. 36 Boivin, Pierre/Deixonne, Susanne/Deixonne, Maurice/Godard, Jacques/Grignon, Max/Itard, Jean/ Kohen, Ignace/Lefranc, Emilie/Lefranc, Georges/Lévi-Strauss, Claude/Marjolin, Robert: Révolution Constructive, Paris 1932. 37 Ebd., S. 215. 38 Ebd., S. 217. 39 Vgl. Lefranc, Georges: Le courant planiste dans le mouvement ouvrier français de 1933 à 1936, in: Le Mouvement social 54 (1966), S. 69–89; Keller, Thomas: Planismus – Sozialismus – Föderalismus. Debatten im Vorfeld des Schuman-Plans, in: Sociologia Internationalis 1 (2001), S. 1–42.
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Constructive verwirft zusammen mit der CGT den Plan du 9 juillet 1934: „Se séparant d’Henri de Man […] Georges Lefranc refuse toute alliance entre planisme et corporatisme.“40 Die Planisten fühlen auch eine europäische Berufung. In Pontigny, dem Ort der deutsch-französischen Verständigung, treffen sich 1934 französische, belgische, englische und schweizerische Planisten mit de Man. Sie bilden eine Commission internationale des Plans. In ihr sitzen für Belgien de Man, für Frankreich Lefranc, für die Niederlande Vos, für die Schweiz Oprecht. Wenngleich sie keine Nachahmung des belgischen Plans vorsehen, haben sie doch eine gemeinsame Grundlage: Sie streben eine gemischte Wirtschaftsordnung einschließlich Verstaatlichungen (etwa der Banken), eine Entparlamentarisierung und eine enge Zusammenarbeit der Sozialpartner an. Die SFIO unter Léon Blum lehnt den Planismus schließlich ab, er bestimmt nicht die Politik der Volksfront 1936/37. Blum will keine Doktrin, die ein Mittelding zwischen Sozialismus und Kapitalismus schafft. 2.5 Das Collège de sociologie: Verausgabung Das Collège de sociologie mit Bataille, Leiris, Caillois und Klossowski gehört mit seinem ausgeprägten Anti-Utilitarismus deutlich in die Dritte-Weg-Konstellation. Bataille erklärt sich „radicalement opposé à l’agression fasciste, hostile sans réserve à la domination bourgeoise, ne pouvant faire confiance au communisme“ (1935).41 Das Collège grenzt sich wie die anderen Gruppen gegen die angelsächsische Welt mit ihrem Individualismus und vertragstheoretischen Vorstellungen wie auch gegen stalinistische zentralistische Herrschaft ab. Seine Vorstellungen können verschoben auf psychische Dispositionen eingekreist werden, nämlich mit dem Begriff des Sakralen (sacré), das zwischen Person und Gemeinschaft ein Band knüpft. Was den Personalisten die anti-bürgerliche Verdammung des geizigen Sparens und die Feier der Gabe von Péguy sind, ist den Teilnehmern des Collège das großzügige SichVerströmen, eine Auffassung, die Nietzsches Vitalismus und Mauss’ Denken der Gabe amalgamiert. Psychogene Anlagen wie die an-ökonomische Verausgabung (dépense) und die mit Intensität verwobene Entbehrung (aridité, dénuement) sind zwar nicht das Monopol der Europäer, erhalten aber doch bei ihnen eine spezifische Ausprägung. Bataille setzt sich für ein Wirtschaften ein, das Akkumulation und Verbrauch in eine Balance bringt. Der Kredit bezeichnet nicht nur das geliehene Geld, sondern auch den Vertrauensvorschuss, der jeder Transaktion zugrunde liegt. Bataille hatte
40 Lefranc: Le courant planiste, Anm. 39, S. 85. 41 Bataille zitiert nach Hollier, Denis: Le Collège de Sociologie 1937–1939, Paris 1995, S. 18.
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dies bereits mit seinem Kollegen an der Bibliothèque Nationale, Arnaud Dandieu (ON), diskutiert. Der bereits 1933 verstorbene Dandieu legt diesen Gedanken in La Révolution nécessaire (1933) dar. In beider Sicht sind die Individuen amerikanischer Spielart bloße Schafe, Konsumenten. Das Collège arbeitet in seiner Anthropologie ein Wissen heraus, dass Gemeinschaftsbildung ein Opfer fordert, sie immer mit Gewalt verbunden ist. Der Aufstand des Collège gegen widerspruchsfreie diskursive Rationalität mündet freilich in einen Bruch. Die Gruppe schwankt zwischen einer Soziologie des Sakralen und Aktionen in einer aggressiven Verschwörergruppe.
3.
Neugruppierungen
3.1 Ökologische Abspaltungen im Personalismus: der Bruch mit der produktivistischen Zivilisation Immer wieder versuchen die Nonkonformisten eine Allianz unter sich herzustellen. Ein erster Versuch ist das von Denis de Rougemont verantwortete Cahier de revendications, im Dezemberheft 1932 der Nouvelle Revue Française erschienen, das die verschiedenen nonkonformistischen Strömungen bündelt. Gegen Ende der dreißiger Jahre geraten die Gruppen dann in eine Krise und gruppieren sich neu. Dabei kommt es zu überraschenden neuen Verbindungen, von denen einige hier präsentiert seien. Früh äußern Integralföderalisten, besonders Rougemont, eine radikale Kritik am Produktivismus, sei er ein Fordismus oder ein sowjetischer Stakhanowismus. Chevalley (ON) teilt diese Skepsis. Er gehört der MathematikerGruppe Bourbaki an, aus der viele Fortschrittskritiker hervorgehen. Als ON seine gleichnamige Zeitschrift 1938 einstellt, entscheiden sich einige Mitglieder, bei Esprit unterzukommen. Die fortschrittskritischen Personalisten werden hier allerdings nicht heimisch. Seit dem Kongress von Jouy-en-Josas 1938 setzt sich bei Esprit eine national-planistische Linie durch. Für Prévost sind jetzt das Collège de sociologie und die Gruppe der Gascogne glaubwürdiger als die Esprit-Gruppe von Mounier.42 Er bewegt sich in Batailles Collège socratique wie auch in der Gruppe in der Gascogne. Die Ökologen der ersten Stunde aus der Gascogne Charbonneau und Ellul spalten sich von Esprit ab. Sie verbünden sich mit Personalisten von ON43 und entwickeln einen radikalen Ökologismus mit einer starken Bindung an die
42 „Il a fallu le Collège de Sociologie d’une part, la tentative de B. Charbonneau d’autre part, pour que certains reposent, avec tout le sérieux que son importance requiert, ce problème de communauté, et aient le désir de l’examiner dans toute son ampleur“ (Prévost, Pierre: Problèmes d’une orthodoxie personnaliste [suite], in: Esprit 77 [1.3.1939], S. 921). 43 Vgl. Roy, Christian: Aux sources de l’écologie politique: Le personnalisme ‚gascon‘ de Bernard Charbonneau et Jacques Ellul, in: Canadian Journal of History 28 (1992), S. 67–100.
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Region. Diese häufig calvinistischen Dissidenten nehmen das Verbindende der Fortschrittsanhänger aller Couleur wahr, den Produktivismus: „Malgré les prisons et les massacres, communisme, libéralisme et fascisme ont au fond le même argument dernier, mesurable en francs, en tonnes et en hectolitres: la production.“44 Der Bruch mit dem produktivistischen Zivilisationsmodell identifiziert ganz im Sinne der dritten Wege fatale Übereinstimmungen der USA mit der Sowjetunion. Die Fortschrittskritiker nehmen in Europa nicht-produktivistische Ressourcen an, gegeben auch durch seine Kleinteiligkeit und kulturelle Tiefe und Vielfalt. Diese frühe Form des ‚Small is beautiful‘ und der Fortschrittskritik wird von Rougemont und Chevalley wie auch von den Personalisten der Gascogne Charbonneau und Ellul nach dem Krieg weiterverfolgt. Rougemont und Marc propagieren das föderale Europa auf dem Föderalisten-Kongress in Den Haag (1948). Sie gehören zu den Initiatoren des Europarats. In den fünfziger Jahren verbindet sich das Engagement von Integralföderalisten häufig mit der Teilnahme am antitotalitären, antikommunistischen Kongress für kulturelle Freiheit. Rougemont prägt den Begriff des Europas der Regionen und ist in den siebziger Jahren mit Ellul und Charbonneau Galionsfigur von ECOROPA (European network for ecological reflection and action, gegründet 1976). Die Systemkritik trifft immer beides, das nationalstaatliche und das produktivistische Denken und Wirtschaften. Gewiss ist, dass regionalistisch-dezentrale und bundesstaatliche Strukturen Europas und nicht die Vorstellung eines Staatenbunds den Integralföderalisten entgegenkommen. 3.2 Von der Exil-Zeitschrift Die Zukunft (1938–1940) zur deutsch-französischen Aussöhnung Die Europa-Auffassung im Personalismus manifestiert sich Ende der dreißiger Jahre in der Pariser Exil-Zeitschrift Die Zukunft (DZ),45 geleitet von Willi Münzenberg und Werner Thormann; sie versammelt die zweite, jetzt antitotalitäre Volksfront, ohne die Kommunisten. Sie wird von der antikommunistischen Regierung unter Daladier gestützt, auch finanziell. An der Zeitschrift und der mit ihr verbundenen, im April 1939 gegründeten Union Franco-Allemande nehmen viele französische Politiker vom Parti Radical (Linksliberale), von der SFIO und den Christdemokraten teil. Münzenberg, der rote Pressezar in der Weimarer Republik, eine Galionsfigur
44 Charbonneau, Bernard: Le progrès contre l’homme (1936), in: Ders./Ellul, Jacques: „Nous sommes des révolutionnaires malgré nous“. Textes pionniers de l’écologie politique. Hg. von Quentin Hardy/ Sébastien Morillon/Christian Roy, Paris 2014, S. 81–116, hier S. 93. 45 Siehe hierzu Keller, Thomas: Das rheinisch-revolutionäre Europa – Die Exilzeitschrift Die Zukunft (1938–40), in: Grunewald, Michel (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933–1939), Bern/Frankfurt a. M. 1999, S. 63–94.
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der KPD, ruft nach dem Hitler-Stalin-Pakt aus: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“46 Hinzu kommen christliche (linkskatholische) und sozialistische Positionen. Die Zeitschrift ist stark vom Personalismus geprägt, verkörpert von Thormann, Siegfried Marck und Landsberg, allerdings nicht vom integralföderalistischen. Auch Vertreter der dritten Linken zwischen reformistischer SPD und stalinisierter KP arbeiten mit: SAPD, Neu Beginnen, ISK, KPOpposition. Dieser Linken gehören die DZ-Mitarbeiter Richard Löwenthal und Anna, Hans und August Siemsen an. Ebenfalls nehmen Mitglieder des Bunds Freie Presse und Literatur, ein Verband unabhängiger deutscher Schriftsteller und Journalisten im Exil, teil, 1937 gegen den Schutzverband Deutscher Schriftsteller (Feuchtwanger, Heinrich Mann) gegründet. Dem Bund gehören Schwarzschild, Roth, Werfel und Hans Sahl an. In der Rhein-Mainischen Volkszeitung hatten Thormann und Dirks ab 1930 von der Zweiten Republik, nach der Weimarer Republik, gesprochen. Die kommende sozialistische Demokratie soll das Oppositionelle der NSDAP überholen.47 In der DZ schlägt Thormann sogar vor, modernisierende Maßnahmen der Nazis wie Staatsvereinfachung, Wirtschaftsplanung, Übergang natürlicher zu synthetischen Rohstoffen zu übernehmen.48 Er will das Problem der auch demographisch bedingten zu großen Macht der Deutsch(sprachig)en in Europa, noch verstärkt durch den Anschluss, dadurch lösen, dass die Schwerindustrie den Privatinteressen entzogen wird. Das neue Europa soll seine Produktivkräfte arbeitsteilig organisieren und föderativ aufgebaut sein: Die politische Demokratie muss ihre Entsprechung in einem Wirtschaftssystem finden, in dem politisch mißbrauchte Machtpositionen zerschlagen sind, in dem die Produktivkräfte planmäßig gelenkt und gefördert werden und in dem wirtschaftliche Interessen und die sozialen Notwendigkeiten durch keinen Eigentums-Vorbehalt geschmälert werden. Nur nach Erfüllung dieser Voraussetzungen wird auch die friedliche Mission der Deutschen in Europa und die Lösung der mitteleuropäischen Probleme möglich sein […]. Deshalb ist auch ein neues Deutschland nötig, wenn Europa endlich aus dem geographischen Begriff zu einer auf das friedliche Zusammenleben der Völker, auf die arbeitsteiligen Methoden und das föderative Prinzip begründeten Einheit werden soll.49
46 Münzenberg, Willi: Der russische Dolchstoß, in: DZ 2/38 (22.9.1939), S. 1. 47 Vgl. Prümm, Karl: Werner Thormann und Walter Dirks als Publizisten der Weimarer Republik, Heidelberg 1984. 48 So Thormann, Werner: Umgrenzung der Aufgabe, in: DZ 1/2 (21.10.1938), S. 6; vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus, New Deal 1933–1939, München 2005. 49 Thormann, Werner: Die Aufgabe, in: DZ 1/1 (12.10.1938), S. 3.
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Das Prinzip der Föderation verbindet sich für Thormann mit dem personalistischen Katholizismus. Der europäisch-föderal orientierte Katholizismus kenne keine „Polarität deutschen und französischen Wesens“.50 Der freiheitliche Sozialist und Personalist Siegfried Marck teilt diese europäische personalistische Orientierung: Auch Thormann weiß genau, dass der „Personalismus“, eine Kategorie, mit welcher der politische Bereich an den des Ethischen und Religiösen angrenzt, den Schutz der Persönlichkeit vor der nivellierenden und barbarischen Macht des Finanzkapitals verlangt.51
Dass die bürgerliche Revolution in einer zum Teil sozialistischen Wirtschaftsordnung in der schöpferischen Mitte Deutschland nachgeholt werden könne, glauben Thormann und Marck. Die europäische Orientierung vereint auch die Unterzeichner des Gründungsmanifests der Deutsch-Französischen Union, zu dessen Organ sich Die Zukunft erklärt.52 Das Manifest enthält die Verpflichtung zur Menschenrechtstradition, die Bereitschaft, den Frieden mit Widerstand gegen Aggressoren zu verteidigen, und distanziert sich vom alldeutschen Imperialismus. Die Unterzeichner wollen „die Möglichkeiten einer Zukunft [..] denken, in der die deutsch-französische Zusammenarbeit die Grundsteine der Organisation Europas, eines Europas der Freiheit, des Friedens und der Demokratie legen soll“.53 Diese Bestimmung bringt keine Klarheit, ob ein künftiges föderales Europa ein Staatenbund oder ein Bundesstaat sein wird. Kapitalismuskritik und Ablehnung der Sowjetunion sind aber Konsens. Der Riss zwischen der etablierten Christdemokratie und den Nonkonformisten ist überdeckt. Die Parteienkritik tritt zurück. Christdemokraten, Linksliberale und Sozialisten unterstützen die Initiative. Von der Esprit-Gruppe unterzeichnen Landsberg, Mounier, Paul Fraisse Hubert BeuveMéry (späterer Herausgeber von Le Monde), die Übersetzerin Geneviève Bianquis und der Filmspezialist André Bazin. Mounier ist mit drei Artikeln in der Zeitung vertreten. In Der christliche Personalismus und das Jahr 1789 bekennt er sich zu den Ideen der Französischen Revolution;54 in seinem Artikel über Péguy feiert er den extrem antibürgerlichen Katholiken;55 in seinem Text über den gerechten
50 Thormann, Werner: Eine europäische Aufgabe. Demokratie und Sozialismus müssen neu gedacht werden, in: DZ 3/18 (3.5.1940), S. 1. 51 Marck, Siegfried: Ein gemeinsames Weltbild. Beitrag zur Programm-Diskussion, in: DZ 1/4 (4.11.1938), S. 6 f., hier S. 7. 52 Gründungsmanifest der Deutsch-Französischen Union, in: DZ 2/17 (28.4.1939), S. 1. 53 Ebd. 54 Vgl. Mounier, Emmanuel: Der christliche Personalismus und das Jahr 1789, in: DZ 2/26 (30.6.1939), S. 3. 55 Vgl. Péguy, Charles: Die Stimme Frankreichs, in: DZ 2/50 (15.12.1939), S. 2.
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Krieg distanziert er sich vom bedingungslosen Pazifismus.56 Landsberg zufolge ist Deutschland von einem „geistigen Limes“ durchzogen, der das römisch-katholische mit seinen universalen Rechtsvorstellungen vom „asiatischen Einfluss“ trennt.57 In seinem Artikel über Bergson und Péguy behauptet Landsberg, ein gemeinsamer anti-utilitaristischer Vitalismus, religiös grundiert, verbinde Deutsche und Franzosen.58 Die beiden französischen Denker widerlegten Sieburgs Entgegensetzung von deutscher Dynamik und französischer Statik. Auch die Sozialistin Anna Siemsen tritt für ein föderales Europa ein. DZ strebt eine breite Sammlung an. Sie lässt sogar die emigrierten Nationalrevolutionäre und Nazigegner Klaus Dohrn und Paetel in DZ zu Wort kommen. Es lässt sich gleichwohl eine Redaktionslinie ausmachen: Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist der Kern eines zukünftigen Europas, in dem Frankreich und Deutschland gleichberechtigt sind. Das Deutschland muss freilich von seinen anti-humanistischen Tendenzen befreit sein. Hier kommt immer wieder ein auch anti-preußischer Impuls durch. In DZ manifestiert sich eine reformistische Abschwächung der dritten Wege, die gleichsam sozial-liberal die Möglichkeit einer Wirtschaftsdemokratie denkt, ermutigt durch den New Deal in den USA.59 Nation und Nationalstaat wie auch Produktivität, Arbeit und Umverteilung von Reichtum bleiben feste Größen. Nach dem Krieg setzt sich einige Jahre in der Esprit-Gruppe eine philokommunistische Linie durch, ähnlich den Temps Modernes von Sartre, für den der Kommunismus, die Sowjetunion eingeschlossen, der nicht überschreitbare Horizont seiner Zeit ist. Die Esprit-Gruppe gibt damit die Dritte-Weg-Position auf. Zugleich wird Mouniers Comité France-Allemagne federführend in der deutsch-französischen Aussöhnung. Hier wirken Alfred Grosser und Joseph Rovan. Die Esprit-Personalisten treffen auf deutscher Seite auf Walter Dirks, Thormanns ehemaligen Kollegen,60 der einer der Gründer der CDU ist und mit Eugen Kogon die linkskatholischen Frankfurter Hefte redigiert. In dieser frühen CDU ist noch Platz für Forderungen nach einer gemischten Wirtschaftsordnung und einer Kontrolle von Banken und Großindustrie.61
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Vgl. Mounier, Emmanuel: Die Stimme Frankreichs, in: DZ 2/44 (3.11.1939), S. 4. Landsberg, Paul Ludwig: Limes, in: DZ 2/40 (6.10.1939), S. 4. Vgl. Landsberg, Paul Ludwig: Feind der Menschheit, in: DZ 2/43 (27.10.1939), S. 5. Näheres hierzu im Kapitel „Einhegung des Kapitalismus. Die liberale Reformdiskussion in der Zwischenkriegszeit und die Suche nach dritten Wegen“, in: Hacke, Jens: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018, S. 280–377. 60 Thormann ist nicht aus der Emigration zurückgekehrt. Er ist bereits 1947 in New York gestorben. 61 Siehe auch Grohmann-Nogarède, Annette: L’hebdomadaire „Die Zukunft“ (1938–40) et ses auteurs (1899–1979). Penser l’Europe et le monde au XXe siècle, Berlin et al. 2021.
Europa als dritter Weg
3.3 Korporatismus, Planismus, Vichyismus und europäischer Wiederaufbau Fast alle nonkonformistischen Strömungen sind im Congrès d’études corporatives in Rom vom 23. Mai 1935 vertreten. Der Kongress ist von italienischer Seite organisiert von dem Minister Guiseppe Bottai, von Georges Roditi von der Zeitschrift L’homme nouveau und von Hubert Lagardelle von der französischen Botschaft in Rom. Teilnehmer sind: Thierry Maulnier (La Vie intellectuelle), Jean de Frabrèges (La revue du XXe siècle), Robert Aron/Claude Chevalley/René Dupuis (ON), Emmanuel Mounier/André Ullmann/Louis-Emile Galey (Esprit), Georges Roditi/Paul Marion (L’homme nouveau), Pierre Ganivet (L’homme réel). Auch Robert Michels, der nach Italien ausgewanderte und dort eingebürgerte deutsche Soziologe – er unterrichtet seit 1928 an der faschistischen Parteihochschule in Turin –, nimmt teil. Mit dem Korporatismus verbindet sich die Hoffnung, in Europa könne sich eine Alternative zur westlichen Parteiendemokratie und zum Sowjetmodell ausbilden, indem Repräsentationen von Berufen und sozialen Gruppen die politische Willensbildung übernehmen. Einen solchen Versuch stellt zur selben Zeit auch der christliche Ständestaat in Österreich dar. Der italienische Faschismus ist kurz vor dem Abessinienkrieg noch gesellschaftsfähig. Die Teilnahme am Kongress signalisiert indes keineswegs in jedem Fall eine Zustimmung zum italienischen Faschismus und zu korporatistischen Ideologien. Während die Anhänger der Jeune Droite (Maulnier, de Fabrègues) mit den korporatistischen Ideen sympathisieren, verstärkt der Kongress die Vorbehalte von ON und Esprit. Der kurz darauf stattfindende italienische Überfall auf Abessinien tut ein Übriges. Nicht nur Fabrègues und Maulnier von der Jeune Droite haben sich vom VichyRegime verführen lassen. Der Kongress in Rom ist wichtig, um Übergänge zwischen Korporatismus und Planismus zu erfassen. Lagardelle ist erklärter Korporatist. Marion und Roditi, Unterzeichner des Plan du 9 juillet 1934, berufen sich auf den Planismus von Henri de Man. Es gibt zwar deutliche Unterschiede zwischen dem Planismus der Révolution Constructive und demjenigen des Plan du 9 juillet, aber auch die Anhänger der Révolution Constructive sehen die Einpassung der Gewerkschaften in den nationalen Plan vor. Die Amalgamierung von Korporatismus und Planismus im Zeichen von Patriotismus und Sozialismus, Nation und Arbeit erweist sich als eine Ideologie, die Anknüpfungen zu autoritären bzw. faschistischen Regimen erlaubt. De Mans Kollaboration im besetzten Belgien, dann sein Rückzug in die Schweiz im Verlauf des Krieges sind bekannt. Die Neosozialisten Déat und Marion (er findet sich im faschistischen PPF von Doriot), die Gewerkschaftler Lefranc und Belin und der Publizist Roditi übernehmen mehr oder weniger wichtige Funktionen im Vichy-Regime. Der emigrierte Austromarxist Lucien Laurat (Otto Maschl) schreibt für Vichy-Zeitschriften.
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Die Teilnahme von Robert Aron, Claude Chevalley und René Dupuis von ON am Kongress in Rom bestärkt nur ihre Ablehnung von Korporatismus und Planismus. Mounier hingegen entdeckt seine Sympathie für den Planismus. In seiner Besprechung von „Henri de Man: L’Idée socialiste“ (1935) in Esprit vermeint er im Planismus eine Spiritualität zu finden, die dieser gemeinsam mit dem Katholizismus besitze.62 Bestimmte Mitglieder der Esprit-Gruppe erweisen sich vor allem in Kombination mit dem Planismus als verführbar von der nationalen Revolution in Vichy. Das Versprechen von Gemeinschaft lockt. Perroux beschreibt die Arbeiterperson, die mit anderen Arbeiterpersonen eine Elite bildet und mit anderen Klassen kooperiert.63 Er setzt die Nation Frankreich mit einer Person gleich. Er arbeitet dann im Vichy-Regime mit, auch in der Ecole des Cadres d’Uriage bei Grenoble, einer vom Vichy-Regime gegründeten Kaderschule. Die Schule unter Dunoyer de Ségonzac soll eine neue Elite ausbilden und arbeitet Konzepte für ein Nachkriegsfrankreich aus, mit einer starken Exekutive und planistischen Elementen. Hier übt Mounier einen starken Einfluss aus; er hatte ganz zu Anfang Hoffnungen auf das Vichy-Regime gesetzt, wird allerdings sehr schnell zum Gegner der nationalen Revolution. Die Schule wird sehr bald zu einem Widerstandsnest und aufgelöst. Das giftige Ideologiegemisch von Korporatismus und Planismus ist charakteristisch in der ersten Phase des Vichy-Regimes, bevor Pierre Laval das Ruder übernimmt und die nationale Revolution in eine abscheuliche französische Variante des Faschismus überführt. Robert Marjolin und Claude Lévi-Strauss misstrauen sehr früh dem Planismus, sie verlassen die Gruppe um die Révolution Constructive. Marjolin tritt in die Regierung der Volksfront unter Léon Blum ein. Er verlässt sie im Streit, er fordert die Unterstützung der spanischen Republikaner. Ab 1940 ist er in London und wird für De Gaulle tätig. Der sozialistische Freimaurer Brosselette wird Märtyrer der Résistance, er wird hingerichtet. Marjolin, weiterhin Befürworter einer gewissen Lenkung der Wirtschaft, arbeitet ab 1944 in Pariser Planungsbüros, dann in europäischen Plan-Behörden, er wird nach 1945 die rechte Hand von Jean Monnet für den Plan in europäischer Version. Er übernimmt dann die Federführung beim Wiederaufbau Europas, an der Spitze der OECD. Aus dem Umfeld von Esprit kommen weitere Protagonisten, die den Wiederaufbau Europas mit planerischen Elementen gestalten. Der Wirtschaftsingenieur Pierre Uri und der spätere Aixer Jura-Professor Paul Reuter, beide waren in der Ecole d’Uriage tätig, arbeiten mit Monnet den Schuman-Plan aus.64 Hinzu kommt Etienne Hirsch, er trifft Monnet schon 1943 in Alger und macht sich dessen Vorhaben, die 62 Vgl. Mounier, Emmanuel: Henri de Man: L’Idée socialiste, in: Esprit 31 (1.4.1935), S. 90–93. 63 Siehe hierzu Perroux, François: La personne ouvrière et le droit du travail, in: Esprit 42 (1.3.1936), S. 866–897. 64 „certaines dispositions devront être mises en œuvre, comportant l’application d’un plan de production et d’investissement, l’institution de mécanismes de péréquation de prix, la création d’un fonds
Europa als dritter Weg
Saar-Lor-Lux-Region den Nationalstaaten zu entziehen, zu eigen.65 Uri sorgt für die Balance zwischen Markt und Plan. Reuter formuliert die Anti-Trust-Regelungen. Die Nationalstaaten müssen Souveränität aufgeben. Die Einrichtung einer Hohen Behörde, Vorläufer der EU-Institutionen, begründet eine supranationale Ebene.66 Man mag in der Idee der Sozialpartnerschaft, im Nachkriegseuropa propagiert, eine heimliche Kontinuität zum Korporatismus sehen. Die Impulse der Jeune Droite leben allerdings eher im späteren Ethnopluralismus weiter. Maulnier ist gern gesehener Gast des GRECE (Groupement de Recherche et d’Etudes pour la Civilisation Européenne), dem Thinktank der anti-christlichen ethnopluralistischen Neuen Rechten bzw. Konservativen Revolution um Alain de Benoist. Er schließt sich auch Initiativen der Föderalisten an. Der Ethnopluralismus berührt sich nur scheinbar mit personalistischen Konzepten, sofern eine gleichsam herdersche Variante des Differentialismus ein Zwischenglied bildet. Europa soll möglichst kulturelle Besonderheiten ausbilden, die gleichberechtigt koexistieren. Der Ethnopluralismus argumentiert indes gegen kulturelle Vermischung. Auch begrenzt er die Gleichberechtigung auf Europäer. Mit der Überhöhung von Germanentum und Keltentum sowie mit Ursprungsmythen bekommt diese differentielle Ideologie eine identitäre und ethnizistische Schlagseite. 3.4 Collège d’études socratiques und Moré-Kreis: die Wendung nach innen und europäischer Anti-Utilitarismus Eine weitere neue Konstellation findet in einer meist übersehenen Konstellation im Krieg statt. Im Collège d’études socratiques versammelt Georges Bataille ein sehr heterogenes Personal um sich: Pierre Prévost, Xavier de Lignac und Louis Ollivier (alle ON) wie auch Maurice Blanchot, in den dreißiger Jahren in der Jeune Droite aktiv. Sie sind verbunden in der Suche nach innerer Erfahrung und Gemeinschaft und aktualisieren Texte der europäischen Mystik. Bataille situiert seine eigene ekstatische Innere Erfahrung (1943) mit einer doppelten Abgrenzung von asiatischer Spiritualität und vom nutzorientierten Individualismus. Die Indifferenz und Leidensvermeidung im Buddhismus behagen ihm so wenig wie der flache Konsumismus.67 Auch hier scheint ein dritter anti-utilitaristischer Raum auf. Bataille kommuniziert mit dem ökumenischen Moré-Kreis über die Erlösung in der
de reconversion facilitant la rationalisation de la production“ (Bossuat, Gérard: Les fondateurs de l’Europe, Paris 1994, S. 162). 65 Vgl. Hirsch: Ainsi va la vie, Anm. 35, S. 78 f. 66 „ses décisions [i. e. de la Haute Autorité] seront exécutoires en France, en Allemagne, et dans les autres pays adhérents“ (Monnet, Jean: Mémoires, Paris 1976, S. 432). 67 Vgl. Keller, Thomas: Anthropologien des Sakralen. Eine Geschichte des französischen Nonkonformismus (1937–1947), Konstanz 2023.
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Sünde.68 Die Nonkonformisten im Moré-Kreis, Landsberg, Gandillac, Klossowski, Daniélou, distanzieren sich von Esprit. Ihr Denkraum bleibt so abrahamitisch wie zivilisationskritisch. Nach dem Krieg deutet Bataille den Marshall-Plan als großen Potlatch, „sans contrepartie correspondante“ im wiederaufzubauenden Europa.69 Alexandre Kojève, der im Collège de sociologie mit Bataille über Negativität bei Hegel gestritten hatte, wird hoher Funktionär des französischen Staats. Er verzahnt den SchumanPlan mit der 1948 gegründeten OECD,70 die den Marshall-Plan umsetzt. Er bringt einen widerständigen Ton, gegen die gleichmacherische amerikanische Moderne gerichtet, in den europäischen Integrationsprozess. Der Schrecken seiner angelsächsischen Verhandlungspartner setzt sich für ein lateinisch geprägtes Europa gegen die Konsumwelt ein.
4.
Weder Produktivismus noch Barbarei
Der Nonkonformismus hat eine große Wirkung in französischen Nachkriegsprojekten, auf nationaler und europäischer Ebene. Zugleich haben es Europa-Konzepte in Frankreich zunächst schwer. Sie sind dort in Misskredit geraten, da sie mit einer deutschen Eroberung assoziiert werden. Die Propagierung eines antibolschewistischen Europas durch die Nationalsozialisten ist noch in unguter Erinnerung. Nach der Befreiung scheint der Nationalstaat mit seinen Grenzen Schutz zu bieten. In Westdeutschland hingegen werden Europa-Konzepte populär als Ausweg aus der Isolierung der Deutschen, aber sie sind nicht mehr nonkonformistisch und nicht mehr antiliberal. Der Nationalsozialismus, dann die deutsche Teilung, der Kalte Krieg und die Frontlage verhindern einen breiten kontinuierlichen nonkonformistischen Antiliberalismus im Zeichen des Anti-Amerikanismus. In Westdeutschland, an der Frontlinie des Kalten Krieges gelegen, gibt die allgemeine atlantische Ausrichtung nonkonformistischen Strömungen wenig Chancen auf Entfaltung. Die Integralföderalisten haben das Verdienst, den Europa-Gedanken in Frankreich lebendig zu halten. Sie schätzen die Sowjetunion weiterhin illusionslos ein, sie leisten fortgesetzten Widerstand gegen zentralistische Tendenzen in der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Ihre ökologische Fortschrittskritik ist aktueller denn
68 Vgl. Bataille, Georges: Discussion sur le péché, in: Ders.: La Somme athéologique II. Sur Nietzsche. Mémorandum. Annexes (Œuvres Complètes 6), Paris 1973, S. 315–359, hier S. 317. 69 Bataille, Georges: A propos de récits d’habitants d’Hiroshima, in: Critique 8–9 (1947), zitiert nach Dems.: Articles I. 1944–1949 (Œuvres Complètes 11), S. 172–187, hier S. 186. 70 Siehe hierzu Auffret, Dominique: Alexandre Kojève. La philosophie, l’Etat, la fin de l’histoire, Paris 1990, S. 308–329.
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je. Vorbehalte gegenüber den Integralföderalisten berücksichtigen nicht die Abgrenzungen zum Ethnizismus, die bereits in der ON-Gruppe der dreißiger Jahre selbst vorgenommen werden. Problematisch bleiben freilich ethno-regionalistische Grenzziehungen wie etwa von Guy Héraud. Auch die Tatsache, dass Maulnier von der Jeune Droite nach dem Krieg immer wieder mit den Integralföderalisten zusammenarbeiten kann, so in der Union des Fédéralistes Européens, wirft Fragen auf. Dass das Frankreich nach 1945 eine derart starke autoritäre Staatsgewalt hat, dass das Land im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten weniger demokratisch-repräsentativ, aber mit stark exekutiven bis cäsaristischen und planerischen Elementen ausgestattet ist, daran haben Anstöße der Esprit-Personalisten und Planisten sicherlich einen entscheidenden Anteil. Die Gemeinschaftsorientierung mag ein Grund dafür sein, dass die Esprit-Gruppe die anti-totalitäre Orientierung der dreißiger Jahre nicht fortführt. Sie hat Arbeit unterschiedslos überhöht und sich über Technikkritik – von Bernanos, von Ellul und Charbonneau – mokiert, bis sie sich dem Denken von Ivan Illich geöffnet hat. Hinsichtlich der europäischen Orientierung wie in ihrem Einsatz für die deutsch-französische Aussöhnung bleibt Esprit sich indes treu. Der Linkskatholizismus ist im Frontstaat BRD randständiger als in Frankreich. Aus dem revolutionären nonkonformistischen wird ein rheinisches Europa, in dem sich die Parteien Wählerstimmen mit Sozialprogrammen erkaufen. Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission, aus der Esprit-Bewegung, verkörpert die linkskatholische Kontinuität mit starken sozialstaatlichen und sozialpartnerschaftlichen Komponenten. Dem Planismus eignet offensichtlich eine Zweideutigkeit, die eine Auffächerung in einen korporatistisch-autoritären nationalen Weg und einen supranationalen Europäismus ermöglicht, der eine eingehegte Marktwirtschaft mit gelenktsozialstaatlichen Elementen verknüpft. Das planistische Erbe fungiert beim Aufbau der Montan-Union und der Umsetzung des Marshall-Plans als ein europäisierendes Ideologem – jenseits von Radikalkapitalismus und zentralistischer Planwirtschaft nach sowjetischem Muster. Es dient in der Montan-Union auch dazu, den deutsch-französischen Gegensatz zu entschärfen. Die Monnet-Mitarbeiter übertragen planistische Elemente in die Nachkriegszeit, ohne Kompromittierung im Vichy-Regime. Auch dieser Nonkonformismus ist jetzt abgeschliffen. Zugleich bleiben bestimmte nonkonformistische Komponenten randständig und widerständig wie auch widersprüchlich und schillernd. Alle Nonkonformisten teilen die Skepsis gegenüber der repräsentativen Parteiendemokratie und die Ablehnung des konsumverfallenen flachen Individualismus. Die pauschale Parteienkritik, der undifferenzierte Anti-Amerikanismus und die nuancenlose Verachtung der bürgerlichen Welt werfen Fragen auf. Nonkonformisten zu verurteilen ist gerechtfertigt, wenn sie sich im Vichy-Regime kompromittiert haben und zweifelhaften ideologischen Elementen (Führerkult, Boden, ethnizistischer Volksbegriff, Ge-
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meinschaft) anhängen. Dies gilt besonders für die Jeune Droite wie auch für einige Planisten. Viele radikale Aspekte des Nonkonformismus sind inzwischen entschärft, etwa die Anti-Parteien-Haltung oder auch die anti-nationalstaatlichen Tendenzen der Integralföderalisten. Auf lange Sicht haben die Nonkonformismen sogar zu Liberalisierungen beigetragen. Der Plan soll die grenzüberschreitenden Preisabsprachen unter Industriellen explizit verhindern, wie sie in der Zwischenzeit von französischen, deutschen und luxemburgischen Stahlbaronen praktiziert werden. Langfristig sollen in dem entstehenden supranationalen Wirtschaftsraum die Zölle gesenkt und abgeschafft werden und eine Freihandelszone entstehen. Heutzutage beseitigen EU-Normen und -Standards lästige Grenzen. Die Kontinuität zwischen den dritten Wegen der dreißiger Jahre und der europäischen Integration pauschal immer wieder als Skandalon darzustellen, reduziert die Ambivalenzen. Es scheint wenig sinnvoll, alle Impulse unterschiedslos zu denunzieren, die nicht liberal sind bzw. Kritik am Liberalismus bzw. Produktivismus üben. Das Versagen der liberalen Systeme ist nicht nur in den dreißiger Jahren unübersehbar. Letztlich ist und bleibt Europa ja ein dritter Weg, der sich aus Distanzierungen von der amerikanischen Konsumwelt und von freiheitsfeindlichen Gemeinschaftsideologien bildet. So bleiben die Nonkonformismen ein Stachel im Fleische. Heute ist das Bestreben, einen Ausweg aus der Alternative zwischen selbstzerstörerischem Produktivismus und totalitärer Barbarei zu finden, plausibler denn je.
III. Dichter und Weltanschauungsliteraten im Europa-Diskurs
Tomislav Zelić
Über Freiheit und Lust an der Unterwerfung zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer am Vorabend des Ersten Weltkrieges
Gemäß der Ideologie des bürgerlichen Liberalismus seit dem 18. Jahrhundert ist die Freiheit des Individuums das unhintergehbare Grundprinzip zunächst in Rücksicht auf Wirtschaft und Recht, Staat und Gesellschaft, sodann auch auf Wissenschaft, Kunst und Religion. Mit der Umwertung aller Werte in Anlehnung an Nietzsche wird vor allem für die philosophische Ästhetik der Klassischen Moderne im Wechselspiel der dionysischen und apollinischen Triebkräfte die Antinomie der Freiheit und Unfreiheit erkennbar. Gottfried Benn wird in diesem Zusammenhang unter dem Schlagwort des Primitivismus von der „thalassalen Regression“ sprechen.1 Darunter ist rein anthropologisch betrachtet ein leiblicher, seelischer und geistiger Zustand zu verstehen, der dadurch bestimmt ist, dass die höheren Vermögen des menschlichen Geistes, Verstand und Vernunft, deutlich geschwächt sind, während die niederen Vermögen des menschlichen Geistes, Sinneswahrnehmung, Empfindsamkeit, Vorstellung und Einbildungskraft, deutlich verstärkt sind. Darüber hinaus sind kindliche Neugierde und Empfänglichkeit für das Unbekannte, Fremde und kulturelle Andersartige erhöht. In seinen Essays und Reden vergleicht Benn diesen leiblichen, seelischen und körperlichen Zustand mit dem Schlaf, Traum und Rausch.2 Im Sinne des Ästhetizismus ermöglicht dieser Zustand jedoch bei der Begegnung von kultureller Alterität oder Alienität im Medium der Kunst eine „innerweltliche Erlösung“ von den Rationalitätsansprüchen der modernen Gesellschaft.3
1 Benn, Gottfried: Regressiv, in: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 2006, S. 203. 2 Benn, Gottfried: Zur Problematik des Dichterischen, in: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a. M. 1989, S. 83–96, hier S. 93–96. 3 Vgl. Lichtblau, Klaus: „Innerweltliche Erlösung“ oder „Reich diabolischer Herrlichkeit“? Zum Verhältnis von Kunst und Religion bei Georg Simmel und Max Weber, in: Ders.: Die Eigenart der kulturund sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, Wiesbaden 2011, S. 153–171.
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1.
Nietzsches ‚Argonauten des Ideals‘ auf dem ‚idealischen Mittelmeer‘
Unter dem Eindruck der klassischen Musik des französischen Komponisten Georges Bizet (1838–1875) entscheidet sich der nomadische Musiker, Dichter und Denker Friedrich Nietzsche (1844–1900) bei der Frage seiner kulturellen Zugehörigkeit für das „Mittelland“ als seine geistige Wahlheimat: „Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern dem Glauben nach“, sei ein „guter Europäer“,4 dessen musikalische Komposition „vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblaßt“,5 wie es im Achten Hauptstück über die Völker und Vaterländer in der Aphorismensammlung Jenseits von Gut und Böse (1886) heißt. Das Mittelmeer findet im Fünften Buch der Aphorismensammlung Fröhliche Wissenschaft (1882/1887) Erwähnung. Die Irrfahrt der Titelfigur der homerischen Odyssee dient Nietzsche als dichterisches und denkerisches Muster für die Betrachtungen über die Irrungen und Wirrungen des europäischen Geistes. Was die kulturelle Imagination des Mittelmeeres angeht, so vergleicht Nietzsche in dem wohlbekannten Aphorismus Nr. 382 den geistigen Raum Europas, d. h. „eine Summe von kommandierenden Werturteilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind“,6 mit dem „idealischen ‚Mittelmeer‘“.7 Er ruft die Philosophen der Zukunft auf, die „große Gesundheit“ zu verwirklichen.8 Als „Argonauten des Ideals“,9 die „ein noch unentdecktes Land vor [sich] haben, dessen Grenzen noch niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, daß unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst außer sich geraten sind“,10 haben sie durch die Schöpfung neuer Werte die alteuropäische Metaphysik und die Dekadenz und den Nihilismus im modernen Europa zu überwinden. Zu diesem Zwecke sollten sie nach Nietzsches Überzeugung im Geiste der dichterischen und denkerischen Ironie mit allen Werten spielerisch umgehen, um schließlich „das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird“,11 neu zu schöpfen. Diese Art von „Parodie“ wird
4 Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, S. 631. 5 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, S. 200 f. 6 Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, Anm. 4, S. 633. 7 Ebd., S. 636. 8 Ebd., S. 635. 9 Ebd., S. 636. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 637.
Über Freiheit und Lust an der Unterwerfung zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer
„der große Ernst“ in dem Augenblick ergreifen, da „die Tragödie beginnt“,12 deren Weisheitsgehalt Nietzsche erst in seinem philosophischen Roman Also sprach Zarathustra (1883–1885) dichterisch zum Ausdruck bringen wird. Unterdessen nimmt er sich die mittelalterliche Dichtung der provenzalischen Troubadoure zum Vorbild, um sich selbst in der Rolle des „Prinzen Vogelfrei“ als modernen Minnesänger zu inszenieren. In der Rolle des unter Acht Stehenden ist er frei wie der Vogel auf dem Zweig, unabhängig von allen ungeschriebenen Regeln, die in der bürgerlichen und höfischen Welt gelten, genießt er die Kunst der Dichtung. Nietzsche stellt dabei eine vereinfachende und daher äußerst zweifelhafte Dichotomie zwischen dem europäischen Norden und Süden auf. Demnach herrscht über die kontinentale Weltanschauung und Lebensform angeblich nur der Ernst, als ob das Leben nördlich der Alpen dem Menschen keinerlei Freuden biete. In diesem Zusammenhang äußert er eine scharfe Polemik gegen den lutherischen Protestantismus, den er mit einem „Bauernaufstand des Geistes“ vergleicht.13 Dessen denkerische bzw. künstlerische Fortsetzung erkennt er in der Gestalt der deutschen Romantik und des Pessimismus schopenhauerscher Provenienz bzw. des Musikdramas Wagnerscher Provenienz. Demgegenüber herrscht in der mediterranen Weltanschauung und Lebensweise angeblich nur Spielerei, als ob das Leben am Mittelmeer keinerlei Beschwerlichkeiten für den Menschen beinhalte. Es deutet alles darauf hin, als ob Südländer, die einfachen Freuden genießend, das Leben in Unschuld und Leichtigkeit verbringen. Sie erscheinen bei Nietzsche allesamt als Sänger und Liebhaber oder Eroberer und Schöpfer, ganz im Gegensatz zu den Nordländern, die er mit Suchenden nach der Wahrheit in Gestalt einer hässlichen, alten Frau vergleicht,14 als ob alle Südländerinnen ausnahmslos natürliche Schönheiten seien. Es ist dabei jedoch unumgänglich zu beachten, dass Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft den interpretatorischen Relativismus vertritt: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt.“15 Offenbar unterliegt Nietzsche selbst als einer der mediterranen ‚Argonauten des Ideals‘ unter dem Eindruck der Unermesslichkeit des ‚idealischen Mittelmeers‘ im Sinne des altgriechischen Begriffs thalassos der ästhetischen Erfahrung der Erhabenheit und erlebt eine epistemische Krise aufgrund der leiblichen, seelischen und geistigen Desorientierung. Der kritische Beobachter wird mit der dem Prinzen Vogelfrei eigenen, spielerischen Leichtigkeit durchschauen, dass beiderseits der europäischen
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Dichotomie zwischen Norden und Süden eine ganze Reihe perzeptiver und ästhetischer, affektiver und kognitiver Gegensätze und Widersprüche bestehen. Denn es ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob Ernst und Spiel, Verstand und Vernunft, Leib, Seele und Geist, Gesundheit und Krankheit, Freiheit und Knechtschaft, heroisches Seewesen und Schiffbruch, Gottlosigkeit und neue Gottheiten ausschließlich dem Norden oder Süden angehören. In seiner essayistischen Abhandlung über die Krise des Geistes aus dem Jahre 1919, wobei selbstredend der europäische Geist gemeint ist, erkennt Paul Valéry (1871–1945) in dem östlichen Mittelmeer „eine Art Voreuropa“ und er führt an derselben Stelle weiter aus: Die Kelten, die Slawen, die germanischen Völker verspürten den Zauber dieses vornehmsten der Meere. Eine unwiderstehliche Art von Tropismus nach dem Süden, die jahrhundertelang anhielt, hat also das Mittelmeer mit seiner wunderbaren Form zum Gegenstand allgemeiner Begierde und zum Schauplatz größter menschlicher Kraftentfaltung werden lassen.16
Laut dem alten Topos und Tropos des Europa-Diskurses betont Valéry, das Mittelmeer sei vor allen anderen Weltmeeren durch seine besondere Herrlichkeit ausgezeichnet. Dabei ist nicht eindeutig entscheidbar, ob das Mittelmeer als Ursprungsort der europäischen Zivilisation dabei eine einfache oder absolute Alterität und Differenz darstellt, bzw. es ist, paradox formuliert, das fremde Ureigene. Poetisch und ästhetisch betrachtet ist nicht eindeutig zu entscheiden, ob das Mittelmeer dabei Schönheit oder Erhabenheit darstellt. In jedem Fall ist es jedoch die Inspirationsquelle der Schöpfungskraft in allen menschlichen Tätigkeitsbereichen. Das Mittelmeer ist daher Gegenstand der erdkundlichen und geschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bewunderung. Es ist ferner das Medium für die europäische Selbstverständigung und Selbstbestimmung und der Resonanzraum für das europäische Denken und Dichten. Was jedoch die perzeptiven und ästhetischen, affektiven und kognitiven Gegensätze und Widersprüche zwischen Mittelmeer und Europa angeht, so weist Jacques Derrida (1930–2004) darauf hin, dass Valérys kulturelle Imagination des Mediterranen in sich selbst die rhetorische, poetische und logische Aporie von Zentrum und Peripherie Europas beinhaltet.17 In Anlehnung darauf kann Ivan Pederin (geb. 1934) mediterrane Regionen wie die Toskana, Kastilien oder Dalmatien mit „Schlagadern
16 Valéry, Paul: Die Krise des Geistes, in: Zur Zeitgeschichte und Politik (Werke 7). Hg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Frankfurt a. M./Leipzig 1995, S. 26–54, hier S. 43 f. 17 Vgl. Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a. M. 2010.
Über Freiheit und Lust an der Unterwerfung zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer
Europas“ vergleichen.18 Während die mediterranen Regionen geschichtlich den Mittelpunkt des europäischen Geistes einnehmen, fallen sie erdkundlich betrachtet dem kontinentalen Rand zu. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges rekonfiguriert das Mittelmeer, neben Balkan und Orient, als dritter diskursiver Topos bzw. Tropos für das Andere Mitteleuropas. Während Balkan und Orient in der Regel mit einer negativen Konnotation versehen sind, kann das Mittelmeer durchaus auch eine positive Konnotation erhalten. Als nietzscheanische ‚Argonauten des Ideals‘ auf dem ‚idealischen Mittelmeer‘ erschaffen deutsche und österreichische Schriftsteller, wie unter anderem Gerhart Hauptmann (1862–1946), Hermann Bahr (1863–1934) und Thomas Mann (1875–1955), ihre je eigenen kulturellen Imaginationen des Mediterranen in Gestalt der einfachen oder absoluten Alterität und Differenz zu Mitteleuropa.
2.
Hellenistischer Götzendienst
In seinem ungewöhnlichen Reisebericht unter dem Titel Griechischer Frühling aus dem Jahre 1908 stellt Hauptmann die paradoxe Hypothese auf, Griechenland sei in Gestalt des primus inter pares in allen europäischen Provinzen geistig anwesend und es sei zugleich die Hauptprovinz Europas.19 Mit dem Blick auf Parnas und Helikon gerichtet fühlt sich der deutsche Dichter von Sehnsucht danach ergriffen, die alten griechischen Götter mögen den europäischen Geist wiederbeleben: Oftmals wende ich mich auf meinem Maultier nach der verlassenen Felsenwelt der Hirten und Herden zurück, während sich über mir Parnaß und Helikon mit dem Glanz ihrer silbernen Helme über die weite Ebene grüßen. Flössen doch alle Quellen dieser heiligsten Berge wieder reichlich voll und frisch in die abgestorbenen Gebiete der europäischen Seele hinein! Möchte das starre Leuchten dieser olympischen Vision wiederum in sie hineinwachsen und den übelriechenden Dunst verzehren, mit dem sie, wie ein schlecht gelüftetes Zimmer, beladen ist!20
Hauptmann stößt auf ein „vorzivilisatorisches Element des Rausches in der griechischen Kultur“ und verherrlicht es in Anlehnung an Nietzsche als Kontrapunkt
18 Pederin, Ivan: Dalmatinisch-Kroatien als Europas Schlagader, in: Zelić, Tomislav/Sambunjak, Zaneta/Pavić Pintarić, Anita (Hg.): Europa? Zur Kulturgeschichte einer Idee, Würzburg, 2015, S. 33–43, hier S. 33. 19 Hauptmann, Gerhart: Griechischer Frühling, Reisetagebuch Griechenland – Türkei 1907. Hg. von Peter Sprengel, Berlin 1996, S. 14. 20 Ebd., S. 118.
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zu Dekadenz und Nihilismus in Europa am Vorabend des Ersten Weltkrieges.21 Unter dem Eindruck der Wirkung seiner „Halluzinationskraft“22 nimmt er Irrationalismus in Kauf23 und gibt sich der ästhetischen und poetischen Macht, Kraft und Gewalt seiner „kalkulierten Autosuggestion“24 im meditativen und kontemplativen Zustand von Leib, Seele und Geist hin. Währenddessen verringern sich die höheren menschlichen Geistesvermögen der Erkenntnis durch Verstand und Vernunft und die niedrigeren menschlichen Geistesvermögen der Wahrnehmung, Empfindsamkeit und Einbildungskraft erhöhen sich. Aus den dionysischen und apollinischen Triebkräften zu Rausch und Berauschung in der Zerstörung und Vernichtung von sich selbst und anderen sowie aus der Einbildung, bildhaftem Traum und Träumen entsteht die dichterische Gemütsstimmung der Eingebung und Schöpfungskraft. In diesem Zustand befreit sich der Dichter völlig von allen sachlichen und sprachlichen Zwängen des Nachdenkens, Entscheidens und Handelns unter Zeitdruck in der modernen Beschleunigungsgesellschaft, der Zeitverlauf selbst entschleunigt sich, die Zeitstufen geraten in Unordnung und die semiotische Raumstruktur verwandelt sich, das Gesichtsfeld erweitert sich. Dabei gehen sozialer und kultureller Antimodernismus Hand in Hand mit der ästhetischen Moderne. Während er auf der Insel Korfu träumerisch in seine innere, dichterische Welt vertieft an seinem dramatischen Gedicht über Odysseus’ Sohn Telemach arbeitet, stößt Hauptmann auf eine kleine Tempelruine und gibt offen zu, dass er in Wahrheit nicht über das nötige archäologische Wissen verfügt, um deren kulturgeschichtliche Bedeutung wissenschaftlich zu bestimmen.25 „Welchem Gotte, welchem Heros, welchem Meergreise, welcher Göttin oder Nymphe war das Tempelchen etwa geweiht, das, in das grüne Stirnband der Uferhöhe eingeflochten, dem nahenden Schiffer entgegenwinkte?“26 Panegyrisch die mediterrane Epiphanie der elysischen Idylle besingend, erfüllt Hauptmann seine selbsterwählte Rolle als hellenistischer Götzendiener, bereit zu Ergebung, Demut und Verlust der individuellen Freiheit im Sinne des bürgerlichen Liberalismus, um den vollen ästhetizistischen Genuss der Lust an der Unterwerfung in der Andacht des Gläubigen auszukosten: Die Lage des Tempelchens am Rande der Böschung, hoch überm Meer, ist entzückend; alte, ernste Oliven umgeben in einiger Ferne die Vertiefung, in die es gestellt ist. Wel-
21 Meid, Christopher: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen, Berlin/Boston 2012, S. 69. 22 Hauptmann: Griechischer Frühling, Anm. 19, S. 34 f. 23 Vgl. Uvanović, Željko: Gerhart Hauptmanns Egoismus. Eine Interpretation aufgrund des Reiseberichts Griechischer Frühling und der Tagebücher, München 2013, S. 12. 24 Meid: Griechenland-Imaginationen, Anm. 21, S. 69. 25 Vgl. Uvanović: Gerhart Hauptmanns Egoismus, Anm. 23, S. 59. 26 Hauptmann: Griechischer Frühling, Anm. 19, S. 29.
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chem Gotte, welchem Heros, welchem Meergreise, welcher Göttin oder Nymphe war das Tempelchen etwa geweiht, das, in das grüne Stirnband der Uferhöhe eingeflochten, dem nahenden Schiffer entgegenwinkte? diese kleine, schweigende Wohnung der Seligen, die, Weihe verbreitend, noch heute das Rauschen der Ölbäume, das schwelgerische Summen der Bienen, das Duftgewölke der Wiesen als ewige Opfergaben entgegennimmt. Die kleinen, blinkenden Wellen des Meeres ziehen, vom leisen Ost bewegt, wie in himmlischer Prozession heran, und es ist mir, als wäre ich nie etwas anderes als ein Diener der unsterblichen Griechengötter gewesen.27
Hauptmann findet den Ort seiner geistigen Bestimmung als hellenistischer Götzendiener in der mediterranen Idylle: „Ich bin hier, um die Götter zu verehren, zu lieben und herrschen zu machen über mich.“28 Dafür ist er bereit, individuelle Freiheit zu opfern.
3.
Dalmatinische Freiheit
Der ansonsten als „österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden“29 bekannte Hermann Bahr veröffentlicht im Jahre 1909 die Dalmatinische Reise als Auftragsarbeit beim S. Fischer Verlag in Berlin,30 wo er zuvor unter Max Reinhardt (1873–1943) als Dramaturg am Deutschen Theater beschäftigt war. Der Reisebericht ist allein schon aufgrund der Tatsache außergewöhnlich, dass eine eigenartige Gattungsmischung vorliegt und die brüchige Textkonstruktion der Collage und Montage mit zahlreichen Passagen in Gestalt von Kurzprosa, Essay und Epiphanie sichtbar ist. Bahr hält darin ein vehementes Plädoyer für die allumfassende Modernisierung des österreichischen Kronlandes Dalmatien im Geiste des bürgerlichen Liberalismus. Das Projekt umfasst alle Bereiche der Gesellschaft und des Kulturbetriebs von Wirtschaft, Recht und Verwaltung über Erziehung und Bildung bis zu Kunst und Wissenschaft. Von dem österreichischen Kronland Dalmatien ausgehend soll der vorgesehene Vorgang auf ganz Österreich-Ungarn übergehen. Als Ausgangpunkt für die Betrachtungen über die idiosynkratische Idee Österreichs als mitteleuropäische und mediterrane Synthese sind die Schriften aus den Jahren von 1909 bis 1911 zu betrachten, die 1911 unter dem Sammelbegriff
27 Ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. Müller, Martin Anton/Pias, Claus/Schnödl, Gottfried (Hg.): Hermann Bahr. Österreichischer Kritiker europäischer Avantgarden, Bern 2014. 30 Bahr, Hermann: Dalmatinische Reise [1909]. Hg von Gottfried Schnödl (Kritische Schriften in Einzelausgaben 23), Weimar 2012.
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Austriaca erstmals veröffentlicht wurden.31 Darin bringt er im Anschluss an den vergessenen österreichischen Satiriker Ferdinand Kürnberger (1821–1879) die selbstironische Ansicht zum Ausdruck, Österreich bzw. die österreichische Residenzstadt Wien sei kulturgeschichtlich betrachtet „asiatisch“ im Sinne des Orientalismus mit negativer Konnotation nach Edward W. Said,32 und es sei nötig, einen kulturhistorischen Prozess der Europäisierung anzustoßen und durchzuführen.33 Laut Bahr vertritt das österreichische Kronland Dalmatien den europäischen Geist am Mittelmeer im Sinne des literarischen Mediterranismus mit positiver Konnotation. Die mediterrane Provinz an der Peripherie der k. u. k. Doppelmonarchie ist daher in Wahrheit erdkundlich, geschichtlich und kulturell als Ursprung und Mittelpunkt des europäischen Geistes zu betrachten und von dort aus sei das Zentrum von Grund auf zu erneuern. Es entsteht dabei jedoch das Paradox, dass Dalmatien zugleich als Vorbild für die österreichisch-ungarische Multikulturalität in Anlehnung an den „HabsburgMythos“34 und den europäischen und mediterranen Kosmopolitismus im Sinne der Interkulturalität bzw. Transkulturalität dient. Darüber hinaus enthält die kulturelle Imagination Dalmatiens als poetischer Topos und Tropos bzw. Rekonfiguration des Mediterranen in Mitteleuropa eine ganze Reihe von perzeptiven und ästhetischen sowie affektiven und kognitiven Gegensätzen und Widersprüchen in sich. Es stellt sich daher die kritische Frage, ob interkulturelle und transkulturelle Verständigung ohne Machtmissbrauch und Gewalt unter diesen Rahmenbedingungen möglich ist. Bahr ist zwar keiner slawischen Sprache mächtig, inszeniert sich selbst dennoch als gerechten Fürsprecher der dalmatinischen Bevölkerung. Sein Wissen über das österreichische Kronland schöpft er vor allem aus anderen Reisebeschreibungen bzw. aus Korrespondenzen mit Mittlerfiguren wie unter anderem dem tschechischen Schriftsteller Jaroslav Kvapil (1868–1950).35 In Anlehnung an die Forschungsarbeiten des Grazer Slawisten Mathias Murko (1861–1952) zeichnet Bahr ein Porträt der kroatischen Literaturgeschichte von der Renaissance über den Barock bis zur Moderne, die er in Kroatien durch Milan Begović (1876–1948) verkörpert sieht. Vor allem bei Marin Držić (1508–1567) und Ivan Gundulić (1589–1638) findet er Loblieder auf die individuelle und politische
31 Hermann Bahr: Austriaca [1911]. Hg von Gottfried Schnödl (Kritische Schriften in Einzelausgaben 11), Weimar 2011. 32 Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a. M. 2009. 33 Vgl. Bahr: Austriaca, Anm. 31, S. 1. 34 Magris, Claudio: Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna, Torino 1963. 35 Zur Beziehung zwischen Bahr und Kvapil in Bezug auf die Dalmatinische Reise vgl. Ifkovits, Kurt: Hermann Bahrs Dalmatinische Reise aus textgenetischer Sicht, in: Zelić, Tomislav (Hg.): Traditionsbrüche. Neue Forschungsansätze zu Hermann Bahr, Frankfurt a. M. 2016, S. 119–137, hier S. 122.
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Freiheit in der Republik Ragusa (Dubrovnik),36 dem maritimen Stadtstaat, der vom 14. Jahrhundert bis zur Auflösung durch das Napoleonische Reich im Jahre 1808 Bestand hatte. Im Gegensatz dazu herrscht in Dalmatien unter österreichischer Verwaltung das Kolonat: Die Bauernschaft trägt das landwirtschaftliche Risiko allein, während sie das Land vom Adel pachtet und dem Adel Steuern zahlt.37 Dabei geht es Bahr nicht nur um die individuelle und politische Befreiung Dalmatiens von der österreichischen Verwaltung, sondern ebenso um die Europäisierung durch Mediterranisierung der österreich-ungarischen Doppelmonarchie. Im Unterschied zu der Xenophobie, Abneigung gegen das Fremde bzw. Andersartige in Gestalt der unfreien Landbevölkerung in Dalmatien, die Bahr in dem dalmatinischen Reisebericht der britischen Journalistin Maude M. Holbach erkennt,38 befürwortet er selbst einen mitteleuropäischen und mediterranen Exotismus, eine Liebe für das Fremde bzw. Andersartige. Das gilt unter zwei Einschränkungen. Erstens ist das mediterrane Fremde bzw. Andersartige in Dalmatien zugleich das Ureigene des mitteleuropäischen Österreichs und zweitens ist der mediterrane Tropismus eine „zornige Liebe“39 nicht so sehr gegenüber Dalmatien, wo trotz oder gerade wegen der Erinnerung an die glorreiche Vergangenheit und der Hoffnung auf eine verheißungsvolle Zukunft Freiheit nicht mehr oder noch nicht verwirklicht ist, als vielmehr gegenüber der Idee der „Freiheit“40 als solcher im Sinne des bürgerlichen Liberalismus, die in der kulturellen Imagination Dalmatiens als Quintessenz des Europäischen und Mediterranen erscheint.
4.
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In seiner Mittelmeer-Novelle Der Tod in Venedig aus dem Jahre 1912 erschafft Thomas Mann eine ganze Reihe komplexer topographischer bzw. topologischer und tropologischer Rekonfigurationen des Mediterranen in der mitteleuropäischen Lagunenstadt Venedig.41 Dabei werden Mitteleuropa und Mittelmeer nach den ungeschriebenen Regeln der drei Diskursformationen Orientalismus, Balkanismus und Mediterranismus auf vielfältige Weise in ihrer Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit sowie Verflechtung und Durchdringung gezeigt. Die Hauptfigur
36 Vgl. Bahr: Dalmatinische Reise, Anm. 30, S. 50. 37 Vgl. ebd., S. 75 f. 38 Holbach, Maude M.: Dalmatia, The Land Where East Meets the West, London 1910. Vgl. Bahr: Dalmatinische Reise, Anm. 30, S. 26. 39 Ebd., S. 121. 40 Ebd. 41 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig, Frankfurt a. M. 1992.
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Gustav von Aschenbach, böhmisch-preußischer Herkunft, im Alter von fünfzig Jahren, ein weltbekannter Schriftsteller, gerät unter dem Eindruck des Schwellenraums zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer in die homoerotischen Versuchungen der Päderastie durch seine geheime Liebesbeziehung zu dem polnischen Knaben adligen Geschlechts namens Tadzio sowie in die Gefahren und Schrecken in Folge der Heimsuchung Mitteleuropas einerseits durch die Epidemie, andererseits durch den kleinasiatischen Gott Dionysos, jeweils über das Mittelmeer. Die kulturellen Imaginationen des Mediterranen enthalten ein äußerst breites Spektrum an topographischen bzw. topologischen und tropologischen Rekonfigurationen. Unter anderem erscheinen in Venedig am Übergang zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer: Arkadien und Elysium als Ursprungsort der europäischen Wissenschaft, Kunst und Religion, das Weltende (finis terrae) unter ewigem Sonnenschein oder eine Art satirischer Filmprojektor für das neoklassizistische Emblem der vollkommenen Schönheit, die Aschenbach in Tadzio erschaut. Ein kurzer Blick in Richtung des Balkans entdeckt die kulturelle Ambiguität und Ambivalenz Istriens als Grenzgebiet zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer: „so nahm er Aufenthalt auf einer seit einigen Jahren gerühmten Insel der Adria, unfern der istrischen Küste gelegen, mit farbig zerlumptem, in wildfremden Lauten redendem Landvolk und schön zerrissenen Klippenpartien dort, wo das Meer offen war.“42 Die slawische und italienische Bevölkerung in der österreichischen Kriegshafenstadt Pula und auf den Brijuni-Inseln in Istrien erfüllen alle Merkmale des Balkanismus nach Todorova.43 Die Beschreibung der mediterranen Landschaft folgt hingegen den Mustern der dichterischen Lobeslieder auf den europäischen Mediterranismus. Dabei kommt zudem die reichsdeutsche Abneigung gegen die österreich-ungarische Doppelmonarchie zum Ausdruck.44 Nach dem kurzen Zwischenspiel in Istrien führt die Reise die Hauptfigur nach Venedig, wo vollkommen andersartige Gegensätze und Widersprüche bzw. Verflechtungen und Durchdringungen zwischen dem Mediterranen und Mitteleuropäischen erscheinen. In der europäischen Tradition der Bildungs- und Kavaliersreise seit der Renaissance, Grand Tour, ist das moderne Venedig, die traditionsreiche Lagunenstadt an der Grenze zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer, mnemotopologisch betrachtet als ewige Ruhestätte der ruhmreichen Venezianischen Republik gekennzeichnet, die das Adriatische Meer von dem 11. Jahrhundert bis zum Schicksalsjahr 1797 souverän beherrschte. Zunächst waren es junge Adlige und später auch junge Bildungs- und Besitzbürger, die sich in Venedig das mitteleuropäische Erbe am Mittelmeer in Gestalt der architektonischen Sehenswürdigkeiten 42 Ebd., S. 31. 43 Vgl. Todorova, Maria: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999. 44 Siehe hierzu Elsaghe, Yahya: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das ‚Deutsche‘, München 2000, S. 20 f.
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sowie Vorführungen der bildenden, darstellenden und musikalischen Künste in den zahlreichen Theatern, Galerien und Museen aneigneten. Der Handlungsort der Novelle, das Grand Hotel des Bains am Lido, befindet sich auf der Grenzlinie zwischen Mitteleuropa und Mittelmeer und stellt daher auf mehrfache Art und Weise eine „Heterotopie“ und „Heterochronie“ dar.45 In der Frühzeit des Massentourismus gelten derlei Ferienorte als Errungenschaften der modernen Weltkultur. Zumindest während der kurzen Ferienzeit ist der Höhepunkt der menschlichen Freiheit des Individuums und der Gemeinschaft im Sinne des bürgerlichen Liberalismus in der Tat realisierbar. Auf der symbolischen Textebene stellt der Ferienort, während sich das Waffenrasseln der europäischen Großmächte am Vorabend des Ersten Weltkrieges verstärkt, darüber hinaus das Refugium des mitteleuropäischen Kosmopolitismus, interkultureller und transkultureller Verständigung und des ewigen Friedens dar, zumindest als „Illusion“ oder „Kompensation“ im Sinne der „chronischen Heterotopie“ nach Foucault.46 Alle interkulturellen Differenzen zwischen der individuellen Sprache und Herkunft, Weltanschauung und Lebensart sind an diesem Ort nach den ungeschriebenen transkulturellen Verhaltensregeln und Kleiderordnungen ausnahmsweise miteinander versöhnt. Das gilt zumindest unter den im Grand Hotel des Bains am Lido versammelten Vertretern der Oberschicht, die aus den Reihen der europäischen Adelsgeschlechter sowie des europäischen Groß-, Besitz- und Bildungsbürgertums stammen. Dort hat die Utopie der transkulturellen Einheit der Menschheit und der Welt noch Bestand. Über das Mittelmeer wird diese heile Welt zunächst durch eine dystopische Theophanie in der unwirklichen Gestalt eines Alptraums gestört. Die Vision zeigt eine Heimsuchung durch die Vertreter der mediterranen Transhumanz (Wanderweidewirtschaft),47 die von den Anhöhen im Hinterland an die Meeresküste herabklettern und dort „grenzenlose Vermischung“ ohne Rücksicht auf jedwede Identität veranlassen,48 während sie ihrem Ritus nach eine Orgie von Gewalt und Mord zu Ehren des „fremden Gottes“ aus Kleinasien veranstalten.49 In dem Alptraum der Hauptfigur verflechten und durchringen sich gewiss alle kulturellen Stereotypen des Orientalismus nach Said, des Balkanismus nach Todorova und Mediterranismus nach Herzfeld mit negativer Konnotation.50 Der daraus folgende
45 Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper, Frankfurt a. M. 2005, S. 10. 46 Ebd. 47 Vgl. Art. Transhumanz, in: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth/Landfester, Manfred (Hg.): Der neue Pauly, http://dx.doi.org/10.1163/1574-9347_dnp_e1218840 (letzter Zugriff 07.02.2023). 48 Mann: Tod in Venedig, Anm. 41, S. 127. 49 Ebd., S. 125. 50 Vgl. Herzfeld, Michael: The Horns of the Mediterraneanist Dilemma, in: American Ethnologist 11/3 (1984), S. 439–454. Ders.: Of Horns and History. The Mediterraneanist Dilemma Again, in: American
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Verlust der individuellen Freiheit ist dabei in dem Maße durch affektive Ambivalenz und kognitive Ambiguität geprägt, dass sich „Angst und Lust und eine entsetzte Neugier“ miteinander vermischen.51 Die ästhetizistische Lust an der Unterwerfung gegenüber dem fremden Gott aus Kleinasien ist freilich garantiert. Auf der Handlungsebene nimmt die Vision von Ausschweifung, Unzucht und Sittenverfall in der Tat die Gestalt der fiktiven Wirklichkeit an, nachdem in Venedig zudem die Epidemie einer ansteckenden und todbringenden Krankheit namens „indische Cholera“52 ausbricht. In der Folge wird die Lagunenstadt allmählich durch alle Merkmale des Orientalismus, Balkanismus und Mediterranismus mit negativer Konnotation gekennzeichnet: die Korruption der Oberen zusammen mit der herrschenden Unsicherheit, dem Ausnahmezustand, in welchen der umgehende Tod die Stadt versetzte, brachte eine gewisse Entsittlichung der unteren Schichten hervor, eine Ermutigung lichtscheuer und antisozialer Triebe, die sich in Unmäßigkeit, Schamlosigkeit und wachsender Kriminalität bekundete. Gegen die Regel bemerkte man abends viele Betrunkene; bösartiges Gesindel machte, so hieß es, nachts die Straßen unsicher; räuberische Anfälle und selbst Mordtaten wiederholten sich, denn schon zweimal hatte sich erwiesen, daß angeblich der Seuche zum Opfer gefallene Personen vielmehr von ihren eigenen Anverwandten mit Gift aus dem Leben geräumt worden waren; und die gewerbsmäßige Liederlichkeit nahm aufdringliche und ausschweifende Formen an, wie sie sonst hier nicht bekannt und nur im Süden des Landes und im Orient zu Hause gewesen waren.53
Der Sittenverfall in Folge der Epidemie markiert im Handlungsverlauf der Novelle vom Standpunkt des bürgerlichen Liberalismus betrachtet sicherlich einen Höhepunkt des individuellen und politischen Freiheitsentzugs. Die Schlussszene zeigt nicht nur das Titelereignis, zumal die wahre Todesursache rätselhaft ist, sondern sie bringt auf mehrfache Art und Weise perzeptiv und ästhetisch, affektiv und kognitiv Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit der topographischen bzw. topologischen und tropologischen Rekonfiguration der kulturellen Imaginationen des Mediterranen in Gestalt des „Nebelhaft-Grenzenlosen“,54 wodurch die auf immer und ewig unübersichtliche und unergründliche Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet ist. Dementgegen verweist Tadzio als „liebliche[r]
51 52 53 54
Ethnologist 12/4 (1987), S. 779 f. Ders.: Performing Comparisons: Ethnography, Globetrotting, and the Spaces of Social Knowledge, in: Journal of Anthropological Research 57/3 (2001), S. 259–276. Mann: Tod in Venedig, Anm. 41, S. 127. Ebd., S. 119. Ebd., S. 122. Ebd., S. 139.
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Psychagog“,55 als Seelenführer, die Hauptfigur und die Leserschaft auf das Mittelmeer in Gestalt des „Verheißungsvoll-Ungeheure[n]“.56 Trotz oder gerade wegen der Poetik und Ästhetik der Erhabenheit und Schrecklichkeit angesichts der Unendlichkeit, Unermesslichkeit und Unübersichtlichkeit des Mittelmeeres in Gestalt der Ungeheuerlichkeit, was in der Hauptfigur mehrmals Thalassophobie hervorruft, das heißt Angst vor Wasser und Wellen, Angst vor der unermesslichen Leere und Einsamkeit auf dem Meer, Angst vor dem Absetzen von dem Festland auf dem Meer oder Angst vor dem Unbekannten in der Meerestiefe, beinhaltet die kulturelle Imagination des Mediterranen in der apokalyptischen Gemütsverfassung des Ästhetizismus am Vorabend des Ersten Weltkrieges trotz der Tatsache, dass der mitteleuropäische Geist am Mittelmeer von Dekadenz und Nihilismus betroffen ist, auch die Möglichkeit der ‚großen Gesundheit‘ in Anlehnung an Nietzsche, das heißt eine Hoffnung auf Erneuerung, Befreiung und Erlösung in einer bekanntlich unbekannten Zukunft, sei es um den Preis der Lust an der Unterwerfung unter das absolut Andersartige, sei es in Gestalt einer „Passion“ (Tadzio),57 eines ‚fremden Gottes‘ (Dionysos) oder einer tödlichen Viruserkrankung (‚indische Cholera‘). Die Todesursache ist und bleibt rätselhaft.
5.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass sich Bahrs Dalmatinische Reise einerseits im Geist des bürgerlichen Liberalismus individuelle und politische Freiheit auf die Fahnen schreibt, während andererseits Hauptmanns Griechischer Frühling darauf gerade Verzicht leistet, um stattdessen in den vollen ästhetizistischen Genuss der Lust an der Unterwerfung gegenüber den olympischen Göttern zu gelangen. Unter den behandelten literarischen Kunstwerken, die am Vorabend des Ersten Weltkrieges entstanden sind, zeigt jedoch Manns MittelmeerNovelle Der Tod in Venedig die multiplen und komplexen perzeptiven und ästhetischen, affektiven und kognitiven Gegensätzlichkeiten und Widersprüchlichkeiten in den kulturellen Imaginationen des mitteleuropäischen und mediterranen Geistes am deutlichsten. Zugleich werden die Verflechtungen und Durchdringungen der drei mitteleuropäischen Diskursformationen Orientalismus, Balkanismus und Mediterranismus herausgestellt. Die ästhetischen und politischen Antinomien der mitteleuropäischen Freiheit und Unfreiheit des bürgerlichen Individuums werden in Gehalt und Gestalt der Mittelmeer-Novelle zum Erzählgegenstand. Was sich als
55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 132.
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Inanspruchnahme ästhetischer, poetischer oder religiöser Freiheit ausnehmen mag, entpuppt sich in Wahrheit als Verlust der individuellen und politischen Freiheit.
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Nouvelle Revue française 1919, ou le libéralisme en question (A. Gide, P. Valéry, J. Rivière)
L’article de Paul Valéry sur La Crise de l’esprit est très célèbre. Publié en 1919, cet essai contribue d’une manière décisive, peut-être davantage encore que le poème elliptique de La Jeune Parque publié en 1917, à établir la notoriété de Valéry en France aussi bien qu’à l’étranger; les réflexions de Valéry sur l’identité européenne et sur la crise de la civilisation que l’article contient s’établissent rapidement en tant que point de repère incontournable pour la réflexion sur l’idée d’Europe dans l’entredeux-guerres, incessamment citées comme elles le sont dans le débat intellectuel européen. L’incipit de l’article („Nous autres, civilisations, nous savons maintenant que nous sommes mortelles“1 ) demeure aujourd’hui très souvent évoqué dans les travaux sur l’histoire européenne et sur l’idée d’Europe, ainsi que dans le discours social et public concernant la ‚crise‘. Ce qui est moins célèbre, ou qui du moins n’est ni très évident ni tout à fait reconnu dans les études littéraires, est que l’article de Valéry constitue de fait un long développement sur la crise du libéralisme européen – c’est ce que je vais essayer d’expliquer dans la deuxième partie de cet exposé; et surtout, que l’article valéryen prend forme et place dans le cadre de la vaste réflexion sur l’Europe libérale et sa crise qui occupe, voire hante, l’intelligentsia littéraire parisienne au cours du premier après guerre – comme j’essayerai de le montrer dans la première partie de mon exposé. La Crise de l’esprit de Valéry, publiée d’abord en anglais dans la revue londonienne The Athenaeum (en deux livraisons, au mois d’avril et de mai 1919), paraît en français en août 1919 dans la Nouvelle Revue française (NRF), qui vient de reprendre sa parution après la suspension due à la guerre.2 Valéry entretient avec le milieu NRF et notamment avec l’un de ses fondateurs, André Gide, des relations amicales et intellectuelles très étroites: non seulement il souscrit à une même vision de la poésie et de la littérature, conçue dans le legs du symbolisme, mais il partage aussi des préoccupations et un questionnement sur l’actualité qui est de nature esthétique
1 Valéry, Paul: La Crise de l’esprit (1919), in: Ders.: Œuvres (La Pochothèque), édition, présentation et notes de Michel Jarrety, Bd. 1, Paris 2016, S. 695–710, hier S. 696. 2 Vgl. Valéry, Paul: Letters from France. I. The Spiritual Crisis, in: The Athenaeum, 11. April 1919, S. 182–184; II. The Intellectual Crisis, in: The Athenaeum, 2. Mai 1919, S. 279–280; ensuite in: NRF, August 1919, S. 321–337.
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et politique à la fois (les deux domaines sont strictement liés dans les vues de ces auteurs). Loin d’être isolé dans sa tentative d’appréhender les problèmes de l’actualité aux moyens du littéraire,3 l’article de Valéry s’insère dans une série significative de contributions sur les défaillances et sur les problèmes de l’Europe démocratique et libérale, que la NRF accueille durant l’été 1919. Gide en premier ouvre les danses. Dans le numéro de juin 1919, il publie des Réflexions sur l’Allemagne,4 qui incluent des notes prises pendant la guerre et des observations ajoutées après la fin d’un conflit aux conséquences amères non moins pour les vainqueurs que pour les vaincus. Dans son texte, Gide propose sa propre formulation de l’interrogation qui se trouve fatalement, en cette conjoncture du premier après-guerre, au cœur de la réflexion de maints penseurs:5 […] une civilisation, une culture, peut-elle prétendre à se prolonger indéfiniment et selon une trajectoire directe ininterrompue? Et comme la réponse est nécessairement négative, cette seconde question vient aussitôt en corollaire de la première: notre civilisation, notre culture, est-elle encore prolongeable?6
La Crise de l’esprit tire ses mouvances de la même question angoissée. Gide avait sans doute pris connaissance de l’article de Valéry dès, et peut-être même avant, sa publication en anglais au mois de mai, et il s’attèle dans ce numéro de la NRF de juin à proposer ses réflexions sur le sujet. A cet effet, il revient au complexe des remarques et des raisonnements qu’il avait formulés presque une décennie auparavant, lorsque il s’était engagé dans un vif combat contre le nationalisme de Maurice Barrès au cours du long et polémique débat qui va sous le nom de ,querelle du peuplier‘. En 1908–1909, la discussion portait notamment sur les ,racines‘ identitaires et sur le rapport entre littérature et nationalisme; Gide avait
3 La NRF de 1919 fut investie par un vif débat sur le rapport de la revue à la politique: Jacques Rivière publia l’article Le parti de l’intelligence dans la NRF de septembre 1919; Schlumberger y répondit par l’article Sur le parti de l’intelligence dans le numéro de l’octobre 1919; Ghéon publia ses Réflexions sur le rôle actuel de l’intelligence française dans le numéro de novembre 1919, où est publiée même la réponse ultérieure de Rivière, Catholicisme et nationalisme. 4 Vgl. Gide, André: Réflexions sur l’Allemagne, in: NRF, Juni 1919, S. 35–46, ensuite in: Ders.: Incidences, Paris 1924, S. 9–19. 5 L’interrogation se retrouve, avec des formulations et des réponses bien sûr différentes entre elles, entre autres chez Spengler, Oswald: Le Declin de l’Occident. Esquisse d’une Morphologie de l’Histoire Universelle (Bibliothèque des idées 4), traduit de l’allemand par Mohand Tazerout, Paris 1931–1933 [l’original allemand: 1918–1922]; Ferrero, Guglielmo: La Vecchia Europa e la Nuova. Saggi e discorsi, Mailand 1918; Wells, Herbert George: The Salvaging of Civilization. The Probable Future of Mankind, London u. a. 1921, pour ne citer que des exemples concernant des différentes aires linguisticoculturelles. 6 Gide: Réflexions, Anm. 4, S. 16 (Hervorhebung im Original).
Nouvelle Revue française 1919, ou le libéralisme en question (A. Gide, P. Valéry, J. Rivière)
dénoncé les faiblesses logiques et idéologiques des théories de Barrès en usant des armes de la rigueur lexicographique. Il avait attiré l’attention sur la signification réelle du terme ,déraciné‘, dont Barrès s’était servi pour désigner les protagonistes de son célèbre roman Les Déracinés, et qui n’indique point, en arboriculture, la plante à laquelle on coupe les racines, mais plutôt la plante dont les racines ont été extraites de la terre et soigneusement conservées.7 En polémiquant contre les défenseurs de la littérature ,nationale‘, Gide avait ainsi défendu l’idée qu’une œuvre artistique est d’autant plus universelle qu’elle est individuelle, puisque „les œuvres les plus humaines, celles qui demeurent d’intérêt le plus général, sont aussi bien les plus particulières, celles où se manifeste le plus spécialement le génie d’une race à travers le génie d’un individu“.8 Ces observations de 1908 se chargent d’une actualité nouvelle au lendemain de la guerre, lorsque la réconciliation franco-allemande devient à nouveau un objectif politique réel, en outre d’une nécessité toujours urgente autant que difficile; elles deviennent ainsi pour Gide le point de départ d’une réflexion visant à appuyer la cause d’une culture européenne commune, capable d’inclure les différentes composantes nationales sans exclusion aucune: „C’est une absurdité que de rejeter quoi que ce soit du concert européen. C’est une absurdité que de se figurer qu’on peut supprimer quoi que ce soit de ce concert“9 – la cible polémique de Gide sont ici les détracteurs de la culture allemande, puisque il ajoute malicieusement: „Je n’ose dire, il est vrai, quoi de plus allemand que Goethe?“10 En valorisant l’individu avec ses spécificités (c’est là le nœud argumentatif fondamental de son attaque contre le nationalisme barrésien), Gide pose le présupposé essentiel de l’humanisme et de la philosophie libérale au fondement de l’Europe culturelle et politique ouverte et pacifique à laquelle il aspire. En même temps, Gide n’est pas dupe des limites de l’individualisme. Dans un texte successif, L’Avenir de l’Europe de 1924, il dresse un véritable bilan de l’expérience libérale européenne. La Revue de Genève, qui venait d’être fondée dans le cadre de la coopération internationale de la Société des Nations, avait lancé une enquête – genre journalistique très à la mode dans l’entre-deux-guerres11 – auprès des écrivains français majeurs sur les destins du continent; en lieu de réponse, Gide écrit un remarquable essai en forme
7 Vgl. Gide, André: La Querelle du peuplier. Réponse à M. Maurras (1903), in: Ders.: Essais critiques (Bibliothèque de la Pléiade 457), édition présentée, établie et annotée par Pierre Masson, Paris 1999, S. 121–126. 8 Gide, André: Nationalisme et littérature (1909), in: Ders.: Essais critiques, Anm. 7, S. 176–180, hier S. 177. 9 Gide: Réflexions, Anm. 4, S. 17. 10 Ebd., S. 18. 11 Sur le genre des enquêtes vgl. Jacquet-Pfau, Christine: Corpus d’enquêtes 1900–1930. Maurice Barrès, Paul Claudel, Romain Rolland (Biblioteca della ricerca, documenti 2), Fasano/Paris 1995.
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de dialogue entre un chinois et un français (l’auteur lui-même). Ce dialogue, suivant la meilleure tradition des lumières, se fait diagnostic cruel des limites de la société européenne; et le texte de Gide est par ailleurs un exemple significatif de comment les écrits sur l’actualité, loin d’être des textes purement de circonstance, s’avèrent souvent pour les écrivains ,purs‘ l’occasion d’élaborations littéraires et conceptuelles subtiles et profondes autour des questions sociales et politiques. Gide relate donc dans son texte la conversation qu’il dit avoir entretenu avec un diplomate chinois lors d’un diner donné en l’honneur de celui-ci; chacun des deux interlocuteurs est amené, au cours de la conversation, à expliquer à l’autre, et en même temps à méditer entre soi, les dynamiques et les causes des transformations profondes qui sont incontestablement en cours dans les civilisations respectives. Le dialogue en vient bientôt à envisager l’individualisme en tant que, à la fois, trait caractérisant la civilisation occidentale et élément fortement problématique. Sollicité par les observations du diplomate chinois, qui tient la séparation entre morale religieuse d’un côté, et sagesse et raison d’un autre côté, pour la contradiction structurelle et fatale qui mine la civilisation européenne, Gide parvient à reconnaître dans l’individualisme hypertrophique et profondément contradictoire des européens, la raison originaire et ultime de la crise d’Europe. L’homo europaeus serait le produit d’une religion chrétienne (aussi bien catholique que protestante), qui tout en plaidant pour le renoncement de soi, s’avère dans les faits „une école d’individualisme, peut-être la meilleure école d’individualisme que l’homme ait jusqu’à ce jour inventé“;12 aussi et surtout, l’individualisme, de puissance originairement libératrice, serait devenu un instrument d’oppression et d’esclavage: Des individus – me redisais-je – et je cherchais à me souvenir du mot que Montesquieu prête à Eucrate, dans son dialogue avec Sylla: „Il en coûte trop cher pour les produire…“ Oui, c’était à peu près cela: il en coûte trop cher – et toute cette triste comédie qui se jouait sur notre monde occidental portait pour titre: La recherche de l’individuel ou le sacrifice du bonheur.13
La réflexion de Gide sur l’Europe trouve ainsi son centre dans la méditation à la fois du prix et des limites des présupposés libéraux et humanistes qui représentent le fondement de la culture et de la société occidentale, et qui se sont avérés empreints d’un potentiel négatif plus grand que prévu. Après l’article de Gide en juin et celui de Valéry en août, la NRF accueille aussi la réflexion sur la crise européenne de son nouveau directeur, Jacques Rivière, qui intervient dans le numéro de septembre par un article portant un titre éloquent,
12 Gide, André: L’avenir de l’Europe, in: Ders.: Incidences, Paris 1924, S. 23–33, hier S. 30. 13 Ebd., S. 30 f.
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La Décadence de la liberté.14 Il s’agit d’une longue contribution, que des lecteurs tels que Marcel Proust et Saint-John Perse purent qualifier respectivement de „admirable“ et de „remarquable“.15 Rivière y explique comment, à ses yeux ainsi qu’aux yeux de beaucoup de français, la première guerre mondiale avait été combattue essentiellement au nom de la liberté: la liberté de la France et des autres nations qui la invoquaient à voix haute, tout comme la liberté des peuples qui ne la demandaient pas mais auxquels on croyait qu’elle aurait pu être précieuse. Rivière conçoit donc la première guerre mondiale en continuité substantielle avec les idéaux de la Révolution française, ainsi que comme une bataille „des démocraties contre l’autocratie“16 – une lecture tout autre qu’orthodoxe ou acquise sur le plan historiographique, mais qui aux yeux de Rivière, qui d’ailleurs avait vécu la guerre au front d’abord et en tant que prisonnier en Allemagne ensuite, paraît indiscutable. La désillusion – douloureuse – survenue après la guerre consiste à appréhender que ce n’est pas du tout certain que le monde nécessite de la liberté pour laquelle l’on avait combattu si ardemment („Il semble bien que la demande, en matière de liberté, soit à l’heure actuelle, pour l’humanité, prise dans son ensemble, de beaucoup au-dessous de l’offre que nous faisons“17 ). À la question de ‚quoi, exactement, est en crise?‘, Rivière donne une réponse fulgurante: le libéralisme, entendant par ce terme la philosophie de la liberté. Déjà Valéry, comme on le précisera dans un instant, avait dressé dans son article l’inventaire des difficultés vécues par la société libérale: à ses yeux la conception libérale elle-même de l’individu et de ses rapports avec la société est dangereusement en train de s’écrouler. Mais avec Rivière le diagnostic se fait exceptionnellement net et explicite: […] un plus grand nombre de valeurs que certains n’auraient voulu ont été soumises à l’examen, au doute, à la détérioration. Notamment le libéralisme. Jusqu’au bout il a paru mener le jeu; mais il était déjà sérieusement accroché par de nouveaux et solides adversaires; il traînait une grappe de lutteurs sur son dos; une pesée formidable s’exerçait sur lui tout le temps. Et le voici qui sort plus fatigué de l’affaire.18
Le libéralisme a donc vaincu l’autocratie mais il est resté à son tour irréparablement blessé; Rivière reconnaît époustouflé que de plus en plus de personnes, et les oppri-
14 Rivière, Jacques: La Décadence de la liberté, in: NRF, September 1919, S. 498–522, aujourd’hui in: Ders.: Une conscience européenne 1916–1924 (Les cahiers de la NRF), textes présentés et annotés par Yves Rey-Herme, avec la collaboration de Alain Rivière et Bernard Melet, Paris 1992, S. 101–122. 15 Zit. nach Rey-Herme, ebd., S. 122. 16 Ebd., S. 107 f. 17 Ebd., S. 106. 18 Ebd., S. 108.
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més tout particulièrement, tiennent la liberté pour „détestable et funeste“,19 et il se demande si elle „n’aura peut-être été qu’une phase dans l’évolution de l’humanité“.20 À l’horizon, grâce aux évènements de Russie, a fait son apparition un idéal nouveau de vie, où le problème de l’existence sociale dépasse le problème de l’existence libre: augmente constamment le nombre de ceux „qui se mettent à vivre – bien ou mal? dans le bonheur ou dans la misère? la question reste réservée – à vivre tout de même socialement“.21 La crise du libéralisme est donc, dans cette année 1919, une évidence indiscutable22 et que les plumes majeures de la NRF trouvent nécessaire d’examiner. Il faut donc se demander quelle contribution spécifique Valéry apporte à ce débat vivace. C’est en effet sans doute là qu’il faut chercher les raisons du succès de son article. Pour décrire le désarroi du continent, voire la maladie qui le ronge depuis longtemps et bien avant la première guerre, Valéry a recours dans la Crise de l’esprit à l’image, bizarre, d’un four où la chaleur confond tout, et produit un „rien infiniment riche“: Les physiciens nous enseignent que dans un four porté à l’incandescence, si notre œil pouvait subsister, il ne verrait – rien. Aucune inégalité lumineuse ne demeure et ne distingue les points de l’espace. Cette formidable énergie enfermée aboutit à l’invisibilité, à l’égalité insensible. Or, une égalité de cette espèce n’est autre chose que le désordre à l’état parfait. Et de quoi était fait ce désordre de notre Europe mentale? – De la libre coexistence dans tous les esprits cultivés des idées les plus dissemblables, des principes de vie et de connaissance les plus opposés. C’est là ce qui caractérise une époque moderne.23
Une telle description de l’esprit européen ne manque pas de rappeler de près la description de l’Europe comme maison de fous, proposée par Robert Musil dans les mêmes années: selon l’écrivain autrichien l’Europe se rapproche de plus en plus d’un fourre-tout, hétérogène et disharmonique, de croyances et d’opinions: Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das
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Ebd., S. 110. Ebd., S. 109. Ebd., S. 121. Vgl. sur ce thème entre autres Mazower, Mark: Dark Continent. Europe’s Twentieth Century, London 1998; Gauchet, Marcel: L’avènement de la démocratie, Bd. 2: La crise du libéralisme (1880–1914) (Bibliothèque des sciences humaines), Paris 2007; Müller, Jan-Werner: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth Century Europe, New Haven/London 2011; et Newman, Karl J.: European Democracy between the Wars, London 1970. 23 Valéry: Crise, Anm. 1, S. 701 (Hervorhebungen im Original).
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Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird, und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.24
Ni Valéry ni Musil ne croient, bien entendu, que la solution gît dans un redoutable retour à l’ordre: ils sont tous les deux bien avertis du danger représenté par l’ordre, que Valéry écarte explicitement („L’ordre extrême, qui est l’automatisme, serait sa [de l’Europe] perte“25 ). Les images du four incandescent et de la maison de fous sont fonctionnelles à évoquer et à mettre en cause un type spécifique et dangereux de confusion qui règne dans la culture européenne. Valéry souligne à plusieurs reprises qu’à ses yeux un lien étroit existe en réalité entre le désordre et la modernité: la liberté d’expression et la coexistence des opposés appartiennent de manière constitutive au monde moderne, dont elles déterminent presque la naissance. L’idéal social auquel Valéry songe est bien celui de la moderne société libérale, qui se donne la variété pour devise: la philosophie libérale lie indissolublement l’existence et le bonheur de la société à une forme positive de désordre non contrôlé, capable de cultiver et d’assurer le pluralisme et la tolérance en tant que viviers de potentialités et d’avenir. L’article de Valéry s’adressant en premier lieu au public anglais, ses formulations acquièrent toute leur portée philosophique et politique si on les fait résonner avec les principes du libéralisme anglais classique illustrés notamment par John Stuart Mill. Dans un passage de son essai On Liberty, Mill se demande, comme Valéry d’ailleurs, quelles sont les raisons qui conduisent une civilisation à sa perte, et il insiste sur l’importance à accorder aux esprits individuels et à leur originalité, qu’une société doit s’efforcer de préserver et d’alimenter, plutôt que de limiter, contenir ou expurger. La liberté de tout un chacun est en effet „la seule source d’amélioration intarissable et permanente du progrès“, puisque „grâce à elle, il peut y avoir autant de foyers de progrès que d’individus“;26 un peuple cesse de progresser quand „il perd l’individualité“.27 Aux yeux de Mill, l’Europe se distingue des autres civilisations, et en particulier de la civilisation chinoise vouée à l’égalité, par la façon dont elle fait coexister une „pluralité de voies“, déterminant „son développement varié“.28 L’image de la Bourse de commerce – la principale institution du libéralisme économique – finit ainsi pour hanter véritablement Valéry: le marché et la Bourse deviennent sous sa plume des allégories de la civilisation européenne, puisque celle-ci est avant tout le lieu où les biens, les croyances, les idées, de toute sorte et de toute provenance, confluent, pour être comparés, partagés, côtés et échangés
24 Musil, Robert: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, in: Ganymed. Jahrbuch für die Kunst 4 (1922), S. 217–239, hier S. 232. 25 Valéry: Crise, Anm. 1, S. 718. 26 Mill, John Stuart: De la liberté, Paris 1990, ch. III [1859], S. 55. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 57.
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(dans son Cours du Collège de France, Valéry parvient même à appliquer l’image de la Bourse des valeurs à la théorie poétique). L’Europe est donc une Bourse où se produit le miracle de l’orchestration harmonique d’un ensemble hétérogène qui s’enrichît sans cesse et sans limites: „C’est une Bourse où les doctrines, les idées, les découvertes, les dogmes les plus divers, sont mobilisés, sont cotés, montent, descendent, sont l’objet des critiques les plus impitoyables et des engouements les plus aveugles“.29 Si le désordre s’est fait intolérable, c’est parce que le mécanisme de cotation et d’échange s’est enrayé, et qu’un désordre anarchique et stérile a remplacé le désordre fructueux et positif de la variété comme richesse. La critique que Valéry, ainsi que Musil, adresse à l’Europe libérale est ainsi très différente de la critique que des auteurs tels que Joseph de Maistre, avant lui, et Carl Schmitt, après lui, émettent contre le relativisme et le scepticisme qu’ils croient être inhérents à un libéralisme prêt à tout accueillir. Tandis que ces penseurs tiennent le libéralisme pour problématique et dangereux en raison de son hostilité à l’idée du bien objectif, Valéry et Musil sont soulagés de l’absence d’un centre ordinateur, mais ils sont d’un autre côté préoccupés pour la fragilité du mécanisme général. C’est l’‚esprit‘ qui est chargé de présider à la médiation et à l’agrégation de la variété; la crise récente est due essentiellement au fait que l’esprit a de plus en plus abdiqué à son rôle. Pour préciser quelle est exactement la fonction de l’esprit, Valéry utilise deux images paradoxales. La première est l’image d’une balance qui pèse du côté du plat le moins chargé; la deuxième est celle d’une solution d’eau et de vin qui redevient séparée et pure. La pensée est la force qui permet ces mouvements non naturels: en ajoutant de la valeur, elle parvient à annuler les lois physiques (en rendant par exemple plus fort ce qui est plus faible sur le plan quantitatif), et elle assure la passage de l’homogène à l’hétérogène (du mélange à la séparation). L’esprit assure en d’autres termes l’inégalité productrice: en mouvementant et en bouleversant l’ordre donné, il crée un monde meilleur. Pour Valéry la notion d’inégalité est décisive: non pas parce qu’il désire une société injuste ou inéquitable, mais parce qu’il veut vivre dans une société qui puisse reconnaître la valeur (des produits, des individus, des idées), et qui se modèle autour d’elle. L’esprit est, de plus, ce qui empêche à la variété de se faire carnaval, c’est-à-dire une fête gratuite de la diversité. Le règne de l’Esprit est le lieu, invoqué par Valéry, où l’individu se trouve valorisé avec ses spécificités et parfois son exceptionnalité, et où donc des paradoxes tels que la balance pendant du côté du plat le moins chargé et que le passage de l’homogène à l’hétérogène peuvent et doivent être possibles.
29 Valéry: Crise, Anm. 1, S. 717.
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C’est par ailleurs dans ce cadre conceptuel qu’il faut interpréter les notations célèbres et controverses de Valéry sur la deminutio capitis d’Europe.30 Le problème pour Valéry n’est pas tant que l’Europe est en train de perdre sa primauté, mais le changement de paradigme qu’il envisage être en cours, de la primauté de la Pensée et de sa valeur différentielle (qui avait décidé de la fortune d’Europe), à une logique brutalement quantitative et numérique qui va prendre le dessus (et selon laquelle l’Europe est destinée à devenir ce qu’elle est en effet, à savoir un ‚petit cap‘ de l’Asie). Valéry voit la liberté comme idéal libéral menacée par la liberté comme idéal démocratique: ce qui ne veut pas dire qu’il est hostile à la démocratie, mais plutôt qu’il s’interroge sur comment sauvegarder, dans les sociétés démocratiques, la plus-value portée par l’originalité individuelle, qui est à ses yeux essentielle et indispensable. Si la Pensée abdique, pour une raison quelconque, à sa fonction, la richesse de la variété se transforme en fourre-tout invivable, or, ce qui revient au même, en un stérile calme plat. L’esprit est donc à la fois l’instrument et la condition de notre liberté: la société fondée sur la liberté ne peut fonctionner qu’à condition que la pensée, l’esprit, soient toujours éveillés et actifs dans la gestion de la liberté. A la différence de Gide et de Rivière, Valéry ne se limite donc pas à constater la crise du libéralisme et sa faillite. Face aux faiblesses du libéralisme économique et social, il invite à repartir, paradoxalement, de la pensée libérale elle-même: il en vient à invoquer une liberté de type nouveau, spirituel, qui puisse sauvegarder voire renouveler les pulsions authentiques et originaires d’une tradition libérale et humaniste précieuse puisque vouée à l’épanouissement de l’individu avec ses spécificités et son originalité. L’individu identifie en effet pour Valéry à la fois ce qui de plus précieux existe dans le monde et dans la société, et ce qui se trouve fort dangereusement menacé par un cours historique à plusieurs titres dédaigneux de sa force ou insensible à elle (puisque politiquement et socialement tourné vers les masses, culturellement séduit par les raisonnements quantitatifs, et plus en général ayant hâte de s’amender des excès d’un individualisme libéral qui s’était effectivement révélé nuisible). Or ce qui est intéressant est que cette solution inattendue et apparemment paradoxale de repartir de la liberté (originaire et spirituelle) pour guérir le libéralisme (historique et politique), est indiquée également par d’autres, illustres, écrivains de l’entre-deux-guerres. Entre autres, Thomas Mann, José Ortega y Gasset et Benedetto Croce tout particulièrement – pour ne mentionner que trois grands écrivains qui ne cessent de se battre dans l’entre-deux-guerres pour une Europe unie et en paix – prêchent, dans des contextes et selon des modalités différentes, pour une liberté spirituelle, qui puisse renouveler une Europe libérale bloquée entre les pièges d’un libéralisme social et politique indéniablement insatisfaisant. Mann invoque, dans
30 Vgl. ebd., S. 705.
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ses Considérations d’un apolitique, une liberté authentique et absolue, capable de fonder une démocratie qui soit force ‚morale‘ avant que politique (il réaffirme en effet, comme on le sait, le primat des vertus de l’esprit sur une politique qui sans elles reste vide);31 Ortega explique qu’à ses yeux le libéralisme est à dépasser dans une direction non pas anti-libérale (comme le fascisme et le bolchevisme essaient de le faire), mais plutôt ultra-libérale, par un libéralisme profond, éthique avant même que politique;32 Croce, finalement, dans son Histoire de l’Europe au XIXe siècle, où il identifie l’Europe avec la „religion de la liberté“,33 appréhende la crise du libéralisme comme la lutte entre des concepts toujours valables et des évènements nouveaux, et réaffirme l’urgence de revenir à l’acception originaire, éthique, d’une philosophie de la liberté qui est avant tout une leçon d’ouverture intellectuelle et de respect pour les hommes et leurs idées.34 Les points que ces écrivains ont en commun sont nombreux, et il vaut la peine d’en rappeler brièvement quelques-uns. D’abord, ils refusent le primat de la politique: non pas du politique au sens étymologique du terme, à savoir ce qui concerne la polis, qui, au contraire, les occupe intensément; mais de la politique qui absorbe tout en imposant ses dynamiques (de médiation et de réalisme) même à une réflexion spirituelle et idéale qui doit au contraire toujours précéder et informer la politique – on pourrait citer à ce propos bien des pages des Considérations d’un apolitique de Mann, ainsi que les nombreuses et sévères critiques adressées par Valéry à la politique. Ces auteurs convergent également sur une vision de la liberté comme valeur essentielle à l’Europe, à sauvegarder aussi bien des restrictions imposées par les totalitarismes que d’une démocratie qui risque constamment de virer en ‚plébeismo‘ (selon le mot d’Ortega). Ils s’attachent donc à reformuler la liberté et le libéralisme à partir de l’adjectif ‚libéral‘, qui a identifié pendant des siècles et depuis l’Antiquité, avant même qu’un idéal économique et politique, une attitude éthique, faite de largesse et d’ouverture d’esprit (en ce sens ils réconcilient libéralisme moderne et libéralité classique). Finalement, ces auteurs convergent aussi sur un même avertissement angoissé. En dehors d’une telle défense de la liberté de l’individu, il ne reste, à l’horizon, que „le miracle d’une société animale, une parfaite et définitive
31 Vgl. Mann, Thomas: Considérations d’un apolitique, traduit de l’allemand par Louise Servicen et Jeanne Naujac, introduction de Jacques Brenner, Paris 2002. 32 Vgl. Ortega y Gasset, José: La révolte des masses (Bibliothèque classique de la liberté 17), traduction de l’espagnol par Louis Parrot et Delphine Valentin, Paris 2010. 33 Croce, Benedetto: Histoire de l’Europe au XIXe siècle (Collection idées), traduit et préface d’Henri Bédarida, Paris 1959, S. 43. 34 Vgl. ebd. Vgl. auch Croce, Benedetto: Etica e politica (Classici 62), a cura di Giuseppe Galasso, Mailand 1994, S. 361.
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fourmilière“:35 la société humaine court le péril, imminent, de revenir vers une „existence de bêtes sauvages“, comme Croce l’écrit.36 Chez Valéry comme chez les autres auteurs que l’on vient d’évoquer, antilibéralisme et libéralisme coexistent donc: la critique, sévère, du libéralisme ne va pas sans la défense, passionnée, de certains principes fondamentaux de la tradition libérale et humaniste, qui coïncident aux yeux de ces auteurs avec des valeurs spirituelles et culturelles à mettre à l’abri des violences politiques et sociales. Pour refonder l’Europe libérale et démocratique, il s’agit de sauvegarder des principes éthiques préalables à toute politique, en retrouvant une place pour le spirituel, dans un monde qui se soucie de moins en moins de lui.37 L’Europe est ainsi pour ces auteurs avant tout un ethos: davantage qu’une histoire commune ou un ensemble de traditions ou de mémoires (qui ne manquent souvent d’être divisives), elle est pensée comme un style, une attitude, à l’égard de l’avenir tout comme du présent.
35 Valéry: Crise, Anm. 1, S. 704. 36 Croce: Histoire d’Europe, Anm. 33, S. 428; vgl. auch Musil, Robert: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in: Der Neue Merkur, 12. März 1921, S. 841–858: „Die aber nur das an ihm sehn, was die Vernunft nicht bewirkt, müßten schließlich das Ideal in einem Ameisen- oder Bienenstaat suchen, gegen dessen Mythos, Harmonie und intuitive Taktsicherheit alles Menschliche vermutlich nichts ist“ (ebd., S. 857); et Ortega y Gasset: Révolte, Anm. 32: „Aujourd’hui, à force de nous persuader que tout est possible, nous pressentons que même le pire est possible: le retour en arrière, la barbarie, la décadence“ (S. 115). 37 Vgl. Bénichou, Paul: Le Sacre de l’écrivain (1750–1830). Essai sur l’avènement d’un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne (Bibliothèque des idées), Paris 1996, et Marx, William: L’adieu à la littérature. Histoire d’une dévalorisation XVIIIe –XXe siècle (Paradoxe), Paris 2005.
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‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit Verflechtung und Interdiskursivität von Essayistik, interkulturellen Schreibweisen und Romanpoetiken am Beispiel von Yvan Goll, Carl Sternheim, Thomas Mann und Robert Musil
1.
Einleitung
Als denkbar knappste Formel eines positiv besetzten Europa-Begriffs ist Friedrich Nietzsches Rede vom ‚guten Europäer‘ mit Erscheinen seiner in Aphorismen verfassten Schrift Menschliches Allzumenschliches (1878) zur feststehenden Wendung geworden. Ihr Gebrauch erscheint dabei abgekoppelt von dem rückblickend gleichermaßen bemerkenswerten medialen Reflexionskontext, in dem sie bei Nietzsche steht: Gut schreiben lernen. − Die Zeit des gut-Redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. Die letzte Gränze, welche Aristoteles der grossen Stadt erlaubte − es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen −, diese Gränze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Deshalb muss jetzt ein jeder, der gut europäisch gesinnt ist, gut und immer besser schreiben lernen: es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das schlechtSchreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heisst zugleich auch besser denken; immer Mitteilenswertheres erfinden und es wirklich mittheilen können; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn […].1
Mit Blick auf die Diskursivierung Europas in der Moderne hellsichtig erweist sich der Aphorismus in gleich mehrfacher Hinsicht: erstens, insofern sich Nietzsche, gerade 33-jährig, inmitten der Hochphase des ‚nation building‘ auf Europa als transnationales politisch-kulturelles Repräsentationsgebilde beruft; zweitens, weil er den antiken Primat der Rede vor der Schrift umkehrt und mit der Ineinssetzung
1 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches: I und II (Sämtliche Werke 2). Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1980, S. 592. Die Wendung taucht bei Nietzsche an mehreren Stellen seines Werkes auf. Vgl. hierzu Rudolph, Enno: Nietzsches Europa, in: Reschke, Renate/Gerhardt, Volker (Hg.): Nietzsche und Europa – Nietzsche in Europa, Berlin 2007, S. 45−52, hier S. 49.
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von ‚guter europäischer Gesinnung‘ und ‚gutem Schreiben‘ Europa nicht als für sich bestehende, überzeitliche, sondern als hergeschriebene, jederzeit narrativ hervorgebrachte Größe ausweist; drittens schließlich, weil er dem Gut-schreiben-Können als literarisches Antidot gegen den Nationalismus zugleich eine ethische Funktion zuerkennt. Mehr noch als die feststehende Wendung an sich prägt die in Nietzsches Aphorismus zu beobachtende Verkoppelung von transnationaler Repräsentation und poetischer Formation den Europa-Diskurs in der Klassischen Moderne. Dass dieser nicht nur vonseiten der Intellektuellen und durch nationale wie internationale Printmedien hervorgebracht,2 sondern gleichermaßen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern der Zeit mitgetragen wurde und insbesondere um das Epochenereignis des Ersten Weltkrieges eine besondere Konjunktur erlangte, ist von literaturwissenschaftlicher Seite umfänglich dokumentiert worden.3 Darüber hinaus ist die Deutung der sogenannten ‚Zwischenkriegszeit‘ als eine ausschließlich durch Krisenszenarien und Verfallsdiagnosen gekennzeichnete Übergangsphase seitens der jüngeren Forschung inzwischen korrigiert und präzisiert worden. Die regressive Tendenz der Epoche bildet demnach lediglich eine Seite der Medaille ab. Auf ihrer anderen stellt sie sich zugleich auch als ein „Laboratorium“ der Moderne heraus,4 in dem verstärkt Modelle der Zukunft, des utopischen wie transformativen Denkens entwickelt und auf die Zukunft des europäischen Kontinents sowie den europäischen Menschen hin bezogen wurden.5 Der vorliegende Beitrag geht von der These aus, dass die literarische Beschäftigung mit Europa im Essay nicht lediglich als expositorisches Beiwerk zu literarischen Œuvres zu werten ist, sondern vielmehr als diskursiver Kreuzungspunkt anzusehen ist, von dem ausgehend produktive Wechselwirkungen von kulturtheoretischen und literarischen Innovationsbestrebungen zu beobachten sind. Entgegen
2 Vgl. Gangl, Manfred/Raulet, Gérard (Hg.): Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Darmstadt 1994; Greiner, Florian: Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien. 1914−1945, Göttingen 2014. 3 Vgl. Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1992, Kap. 6–8, S. 225−364 sowie die von Lützeler herausgegebene Edition von EuropaEssays: Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994. 4 Becker, Sabina: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918−1933, Darmstadt 2018, S. 202. 5 Zum Zukunftsdenken der Klassischen Moderne vgl. Hölscher, Lucian: Die Periode des Höhepunkts 1890–1950, in: Ders.: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, S. 137−287; Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918−1933, Berlin/New York 2008; zum homo europaeus und seiner Konstruktion: Bluche, Lorraine/Lipphardt, Veronika/Patel, Kiran Klaus (Hg.): Der Europäer. Ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken. Göttingen 2009, bes. S. 135−186.
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
zeitgenössischer, auf räumliche wie zeitliche Demarkation und Identifikation zielender, häufig elitärer wie antiliberaler Vorstellungen des Europäischen lassen sich parallel bereits Semantisierungen und Narrative ausmachen,6 die nicht primär auf feste topographische Grenzen, Imperien, robuste Gründungserzählungen rekurrieren, sondern Europa eher als eine historisch variable Reflexionskategorie fassen, die für (inter)kulturelle Transfers und gesellschaftliche Transformationen durchlässig ist.7 Das Nachdenken über ein so gefasstes interkulturelles ‚Europa der Übergänge‘ gestaltet sich einerseits in und mittels literarischer Formen,8 nach 1918 vorwiegend denen des Essays, andererseits tragen die vermeintlichen Um- und Seitenwege über Europa aber auch zur innerliterarischen Kommunikation wie Innovation bei. In den nachfolgenden beiden Abschnitten des Aufsatzes soll zunächst die interdiskursiv vernetzende Rolle des Europa-Essays anhand ausgewählter Beispiele dargestellt und dabei ihre Polyfunktion aufgezeigt werden, insofern die Bezugnahme auf Europa erstens der Selbstinszenierung und Neuverortung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern im literarischen Feld nach 1918 dient;9 zweitens poetologische Reflexionen sowie neue literarische Schreibweisen und Formexperimente entweder anstößt oder diese rückblickend legitimiert und drittens im Format des literarischen bzw. literarisierten Textes Möglichkeiten, Europa im Sinne des Paradigmas ‚Interkulturalität‘ neu und anders zu denken, auslotet.10 Im vierten und abschließenden Abschnitt soll schließlich, ebenfalls an ausgewählten Beispielen, für die Gattung des Romans dargelegt werden, wie jeweils unterschiedliche Semantisierungen und Bezugnahmen auf Europa verschiedene
6 Vgl. z. B. Heise, Tillmann: „Schöpferische Restauration“ und Habsburg reloaded. Hugo von Hofmannsthals Europaideen der 1920er Jahre, Rohans Kulturbund und die Europäische Revue, in: Beßlich, Barbara/Fossaluzza, Cristina (Hg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938) (Beihefte zum Euphorion 110), Heidelberg 2019, S. 87−104. 7 Vgl. Johann, Wolfgang/Patrut, Iulia-Karin/Rössler, Reto (Hg.): Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne, Bielefeld 2019. 8 Vgl. Patrut, Iulia-Karin: Poetiken des Übergangs. Interkulturelle Literatur als poetische Gesellschaftskritik, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 10 (2020), S. 11−23; Patrut, Iulia-Karin/ Rössler, Reto/Schiewer, Gesine Lenore (Hg.): Für ein Europa der Übergänge. Interkulturalität und Mehrsprachigkeit in europäischen Kontexten (Interkulturelle Germanistik 2), Bielefeld 2022. 9 Vgl. z. B. Honold, Alexander: Zwischen den Werken. Thomas Manns Spiel mit der Autorschaft, in: Peck, Clemens/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit, Paderborn 2017, S. 29−49. 10 Siehe hierzu Glesener, Jeanne/Roelens, Nathalie/Sieburg, Heinz: Editorial, in: Dies. (Hg.): Das Paradigma der Interkulturalität. Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften, Bielefeld 2017, S. 2−4; Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred: Interkulturalität als Projekt, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5/2 (2014), S. 119−144.
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Schreibweisen und Konzeptionen des Romans in der ‚Klassischen Moderne‘ hervorgebracht haben. Die Romanform erweist sich hier, so scheint es, als diejenige literarische Großgattung, in der sich die Beobachtung und Reflexion von kulturellen Krisenerscheinungen, gesellschaftlichen Transformationen und Zukünften – auch und besonders mit Blick auf Europa − untrennbar mit poetologischen Fragen der Krise und Innovation der Romanform verschränken. Gleichwohl gilt: So entschieden innerhalb des Europa-Diskurses das Format des Essays zur begrifflichen Explikation und These drängt, so sehr tendiert der Roman zur Latenz und poetischen Transposition. Wie sich im Vergleich der narrativen Strategien der Europa-Romane Yvan Golls und Carl Sternheims und einem kurzen Ausblick auf die ‚Epochenromane‘ Thomas Manns und Robert Musils zeigen wird, haben sich rückblickend betrachtet weniger jene Romankonzepte, die Europa auf metaphorische oder allegorische Weisen zu fassen versuchten, als solche, die (historisch synchron wie diachron) Denk- und Repräsentationsweisen Europas und des Europäischen in ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit narrativ inszeniert haben, für die literarische wie interkulturelle Moderne als wegweisend erwiesen.
2.
Neuverortungen im literarischen Feld nach 1918. Europa als interdiskursiver Operator
Unter den Einschätzungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zur politischen und kulturellen Situation in Deutschland und Europa in den Jahren 1914 bis 1918 dürfte sich kaum eine finden, die den ‚großen Krieg‘ lediglich als Auseinandersetzung verfeindeter Großmächte auf dem Schlachtfeld und nicht weit darüber hinausreichend als einen umfassenden Umsturz des Systems der tradierten Normen und Werte gedeutet hätte. Selbst in den Jahren der Weimarer Republik bleibt der Topos der Ruptur, welche die europäische ‚Seele‘ wie auch die individuellen Lebensläufe im frühen 20. Jahrhundert abrupt in zwei Hälften geschnitten habe, zentral.11 Bei aller konzeptuellen Heterogenität ist dem Gros der in dieser Phase entstehenden Europa-Essays gemeinsam, dass sie die Gegenwart als kulturellen und geistigen ‚Nullpunkt‘ wahrnehmen, der daher neue Standortbestimmungen, Rückund Vorausblicke, ideelle Traditionsanschlüsse wie europäische Zukunftsentwürfe erfordert. Bezogen auf den Begriff des literarischen Feldes und dem damit verbundenen literatursoziologischen Rahmen erweist es sich an dieser Stelle als metho-
11 Vgl. z. B. Zweig, Stefan: Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung, in: Ders.: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941 (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. von Knut Beck, Frankfurt a. M. 1983, S. 185−210, hier S. 190.
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
disch schwierig, die Bourdieu’schen Matrizen eins zu eins auf den Europa-Diskurs und die an ihm beteiligten Schriftsteller und Schriftstellerinnen zu übertragen.12 Einzelne Europa-Konzepte der Zeit, wie etwa das ‚Abendland‘,13 ‚Mitteleuropa‘ oder ‚Pan-Europa‘ lassen sich hier nicht ohne Weiteres in ein politisches RechtsLinks-Schema überführen; auch zeigen sich bezogen auf die Standpunkte einzelner Autorinnen und Autoren diesbezüglich Verwerfungen, beispielsweise im Falle des (Pan-)Europa-Konzepts Richard von Coudenhove-Kalergis, das sowohl trans- als auch renationalisierende Züge aufweist,14 oder auch die in den Jahren des interbellum stark wechselnden Positionen Robert Musils und Thomas Manns. Beide Beispiele belegen die konzeptuelle Dynamik Europas wie auch die werkpolitische, die mit Bezugnahmen auf Europa einhergeht, und lassen starre Schematisierungen daher als wenig geeignet erscheinen. Methodisch zielführender und der konzeptuellen Breite des Gegenstandes angemessener scheint es demgegenüber zu sein, hier zunächst eine gröbere Unterscheidung entlang von textuellen und figurativen Repräsentationsstrategien Europas vorzunehmen, um von hier ausgehende interdiskursive Verflechtungen zu beobachten.15 Als ein solcher konzeptueller Gabelungspunkt, der zu jeweils unterschiedlichen Europa-Entwürfen geführt hat, erweist sich etwa die Unterscheidung zwischen Repräsentations- und Reflexionsweisen, die Europa möglichst exakt zu bestimmen, verorten und als möglichst homogene Einheit zu ‚identifizieren‘ suchten, sowie Entwürfen, die in beiderlei Hinsicht demgegenüber eher zu Pluralisierung, Hybridisierung und der Betonung kultureller Ähnlichkeiten innerhalb und außerhalb der europäischen Kulturen und Völker tendierten.16 Auf der einen Seite stehen demnach europäische Identitätskonstruktionen, die sich auf räumlich-territoriale und/oder nationale Grenzziehungen, historiographische Anfangsnarrative (Athen; Rom; Mittelalter; Aufklärung; ‚große Männer‘ wie Alexander oder Karl der Große) sowie kulturelle und geistige Einheitsprinzipien (etwa ‚große Dichter‘ als geistige Träger) berufen. Als Beispiele der beiden erstgenannten Identifizierungsnarrative
12 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. von Bernd Schwibs/Achim Russer, Frankfurt a. M. 1999, S. 340−345. 13 Vgl. Conze, Vanessa: Abendländische Idee und Abendländische Bewegung (1920–1945), in: Dies.: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920−1970), München 2005, S. 25−111. 14 Vgl. Conze, Vanessa: Zwischen allen Stühlen, in: Dies.: Richard Coudenhove-Kalergi. Umstrittener Visionär Europas, Zürich 2004, S. 40−49. 15 Zur Interdiskursanalyse vgl. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 284−311. 16 Vgl. Streim, Gregor: Deutscher Geist und europäische Kultur. Die „europäische Idee“ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz, in: GermanischRomanische Monatsschrift 46 (1996), S. 174–197.
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lassen sich etwa der geopolitische Europa-Diskurs sowie der Spezialdiskurs um ‚Mitteleuropa‘ anführen, als Exempel eines historiographisch auf Demarkation und Exklusion hin ausgerichteten Geschichtsentwurfs beispielweise die teleologische Weltanschauungsphilosophie Oswald Spenglers. Einen geistigen Identifikationsversuch vollzieht auch Hugo von Hofmannsthal in seinem kurzen Essay Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922), in dem er „das europäische Geistesleben des Augenblicks“ als „das Ringen der beiden Geister [Goethe und Dostojewski; R. R.] um die Seele der Denkenden und Suchenden“ bestimmt.17 Auf der anderen Seite zeichnen sich die Europa-Essays Robert Musils, Stefan Zweigs, Klaus und Thomas Manns dadurch aus, dass sie Tendenzen zur Festschreibung Europas auf eine bestimmte Identität hin eine Absage erteilen und die eigene essayistische Schreibform demgegenüber eher als eine offene, nicht auf Vereindeutigungen hinauslaufende Suchbewegung begreifen. Deutlich tritt dieser konjekturale wie konstellative Grundzug etwa bereits im Titel von Musils Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) hervor. Musil weist hierin zu Beginn nicht nur bisherige ‚robuste‘ Deutungsversuche Europas als fehlgeleitet zurück, sondern bezieht dies ausdrücklich auch auf seinen eigenen essayistischen Versuch der konzeptuellen Annäherung: „Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden.“18 Die hierauf folgende Analogisierung der Wahrheit mit einem „Sack“, der immer fester werde, je mehr „neue Meinung“ man hineinstopfe, lässt die zweifache rhetorische Strategie des Essays erkennen: Einerseits verortet Musil sich, wenn er den Essay als Form des Konstellierens, Hin- und Her-Wägens von bestehenden Positionen und ihrem allenfalls schrittweise Annäherungen ermöglichenden In-der-Schwebe-Haltens begreift, in der Essay-Tradition Montaignes sowie der essayistischen ‚Versuche‘ der Aufklärung; andererseits verweist die Wahl des Sprachbildes ‚Sack‘, dessen Profanität hehre Konzepte der philosophischen Wahrheitsproduktion und ihrer Abgrenzung gegenüber den Gebieten der Rhetorik und bloßen Meinungsbildung durchkreuzt, auf das dekonstruktive Potential des Essays. Als ‚hilflos‘ erweist sich Europa, wie Musil ausführt, deshalb, weil alle Deutungsversuche mittels tradierter Erfahrungs- und Ordnungsbegriffe, da sie ihrerseits Integrale des geistigen Zusammenbruchs bilde-
17 Hofmannsthal, Hugo von: Blick auf den geistigen Zustand Europas, in: Ders.: Reden und Aufsätze II. 1914–1924 (Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden 9). Hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt a. M. 1979, S. 478−481, hier S. 480. 18 Musil, Robert: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste, in: Ders.: In Zeitungen und Zeitschriften 2. 1922–1924 (Gesamtausgabe in zwölf Bänden 10). Hg. von Walter Fanta, Salzburg/Wien 2020, S. 104−133, hier S. 104.
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
ten, zum Scheitern verurteilt seien und demgegenüber eine umfassende begriffliche und konzeptuelle Orientierungsarbeit zu leisten sei.19 Als Versuche einer schriftstellerischen Neuverortung im literarischen Feld nach 1918 lassen sich auch Musils kulturtheoretische Essays der frühen 1920er Jahre im zeitlichen Umkreis von Das hilflose Europa lesen. Mit ihnen nimmt er sowohl bezogen auf seine Vorstellung von Europa und Nation als auch auf die Funktionsbestimmung des Schriftstellers eine geradezu diametral entgegengesetzte Position ein.20 Hatte Musil vor und während des Krieges als Herausgeber zweier Soldatenblätter entschieden für eine geistige Mobilmachung geworben, so ziehen Essays wie Die Nation als Ideal und Wirklichkeit (1921), Der deutsche Mensch als Symptom (1923) oder auch seine Spengler-Rezension Geist und Erfahrung (1921) Vorstellungen einer politischen Wirklichkeit, die durch kollektive Substanz- und Identitätsbegriffe wie ‚Rasse‘, ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Geist‘ geprägt sind, stattdessen in Zweifel, weisen sie als ideologische Figurationen der Schließung aus und unterlaufen ihre narrative Konstruktion mit poetischen Mitteln. Mit seiner Wendung gegen völkisch-nationalistische und teleologisch geschlossene Vorstellungen Europas entwirft sich Musil nach 1918 nicht nur als Essayist neu. Der Essay Das hilflose Europa endet beispielsweise mit einer (kultur-)poetologischen Reflexion, in der Musil das Desiderat einer umfänglich zu leistenden „Ordnungsaufgabe“, die sowohl die Rekonstruktion des geistigen Zusammenbruchs als auch das Nachdenken über neue, der Gegenwart im Nachkriegseuropa angemessene Leitbegriffe und Deutungsschemata umfasst, in den Raum stellt und ihre Bewältigung nicht etwa der Theorie, sondern (neben Ethik und Mystik) der „Kunst“ anheimstellt – womit er bereits auf das zeitgleich begonnene Romanprojekt des Manns ohne Eigenschaften vorausdeutet.21 Während die Musil’schen Essays der Zwischenkriegszeit also sein literarisches opus magnum lancieren, verhält es sich im Falle Thomas Manns umgekehrt; hier ist der essayistische, Europasicht und literarisches Werk engführende Blick kein projektiv-vorausentwerfender, sondern ein nachträglich selbstdeutender. Seine im Mai 1939 an seine Studenten und Studentinnen in Princeton gerichtete Einführung in den Zauberberg, die dem Roman nach wie vor in diversen Werkausgaben „als Vorwort“ voransteht, setzt etwa mit einer captatio benevolentiae ein, wenn sich hier
19 Vgl. ebd., S. 132 f. 20 Vgl. Midgley, David: „Das hilflose Europa“. Eine Aufforderung, die politischen Essays von Robert Musil neu zu lesen, in: The German Quarterly 67 (1994), S. 16−26. 21 Musil: Das hilflose Europa, Anm. 18, S. 133. Indem Musil hier die Funktion der Dichtung auf die Erkenntnis von innerseelischen Zuständen bestimmt, schließt er an seine frühen poetologischen Überlegungen aus dem Essay Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918) an und weitet den Fokus dabei von der Perspektive des Individuums auf jene politischer Kollektive aus.
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der „Verfasser“ in Anspielung auf den thematischen Rahmen der Princetoner Vortragsreihe zur Weltliteratur zu Wort meldet und es der „Nachwelt“ anheimstellt, „ob man den Zauberberg als ein ‚Meisterwerk‘ im Sinn der übrigen klassischen Objekte Ihrer Studien betrachten darf “ – um hinzuzusetzen: „Immerhin, ein Dokument der europäischen Seelenverfassung und geistigen Problematik im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts wird diese Nachwelt wohl einmal darin sehen.“22 Aus der Rückschau von eineinhalb Jahrzehnten seit Erscheinen des Romans und mittlerweile der Distanz des amerikanischen Exils deutet Thomas Mann als sein eigener Leser diesen damit rückblickend nicht nur als Europa-Roman. Noch wichtiger erscheint, dass er den Begriff der ‚europäischen Seele‘, vor dessen festschreibenden Identifikationen er in seinem Essay Achtung Europa! (1936) bereits gewarnt hatte, aufgreift und als ‚dokumentarisch‘ ausweist – und damit eine Lesart des Zauberbergs nahelegt, die ebenjene europäische Seelenverfassung der Zeit ‚problemgeschichtlich‘ in den Blick zu nehmen versucht, indem sie auf ideologische Abwege führende, aber auch in die Zukunft weisende Sichtweisen auf Europa narrativ konstelliert.
3.
Literaturgeschichte als Problemgeschichte. ‚Europa der Übergänge‘, interkulturelle Moderne und ihre widerständige Herausbildung
Die interkulturelle Germanistik hat ‚Europa‘ und seine literarische Reflexion und Darstellung erst vergleichsweise spät als ihren Gegenstand entdeckt, sich jedoch gerade in den letzten fünf bis zehn Jahren verstärkt mit Formen europäischer Fremdund Selbstrepräsentation, binneneuropäischen Transfers und Grenzziehungen sowie Figurationen des ‚Übergangs‘ beschäftigt.23 Eine Richtung, die bislang lediglich in ersten Ansätzen eingeschlagen wurde,24 betrifft dabei eine sowohl historisierende als auch problemgeschichtliche Perspektive auf interkulturelle Poetiken, die die widerständige Genese des Konzepts ‚Interkulturalität‘ im Kontext von Literatur und Kulturtheorie rekonstruiert. Aufgrund der konzeptuellen Heterogenität, Überlappung und teils Polarität erweist sich der Europa-Diskurs der Zwischenkriegszeit in dieser Hinsicht geradezu als Modellfall, an dem sich die Verflechtung von interkulturellen Repräsentationsweisen und poetischem Schreiben ebenso wie die widerständige Genese interkultureller Figurationen aufzeigen lassen. In der
22 Mann, Thomas: Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität Princeton. Als Vorwort, in: Ders.: Der Zauberberg. Roman, Frankfurt a. M. 1952, S. 7−20, hier S. 7. 23 Siehe hierzu z. B. Zink, Dominik: „Identität – das Wort kann ich immer noch nicht aussprechen“. Bericht zur Jahrestagung Europa im Übergang der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) vom 9. bis 15. September an der Europa-Universität Flensburg, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9/1 (2018), S. 183−194. 24 Siehe hierzu z. B. den Band von Wiegmann, Eva (Hg.): Diachrone Interkulturalität, Heidelberg 2018.
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
‚interkulturellen Moderne‘ wirkt die Literatur seit dem frühen 20. Jahrhundert an „Transformationen Europas“ (1) auf diskursiver Ebene in Form von Beobachtung, Reflexion und Re-Modellierung etablierter Semantisierungen und Narrative Europas; (2) auf genealogischer Ebene in der Darstellung, Analyse und Subversion damit einhergehender interkultureller Machtasymmetrien und Prozesse der Inklusion und Exklusion sowie (3) auf der Ebene ästhetischer Transfers in der Etablierung von ‚Poetiken der Interkulturalität‘.25 Haben sich Denk- und Schreibweisen eines interkulturellen Europas im literarischen Feld der Moderne also einerseits in ersten Ansätzen herausgebildet, so gilt es aus einer problemgeschichtlichen Sicht der Literaturwissenschaft auch die andere Seite, hier: Repräsentationsweisen Europas und des Europäischen, in denen Interkulturalität nicht mit angelegt oder gar ausgeschlossen wird (und die ihrerseits gleichermaßen diverse Anschlussstellen zu Literatur und literarischer Formbildung ausbilden) zu berücksichtigen.26 So ist bezogen auf die Europa-Darstellungen der Zwischenkriegszeit dem Befund von Barbara Beßlich und Tillmann Heise zuzustimmen, dass die Vorstellung eines interkulturellen und offenen Europas hier gerade noch nicht die dominierende war – im Gegenteil: Die damaligen Vorstellungen unterschieden sich […] oft deutlich von den heutigen liberaldemokratischen Konzepten eines politisch und wirtschaftlich integrierten Kontinents. Neben progressiven und liberalen Ideen gab es auch Europa-Entwürfe, die mit einer ausgeprägten Freund-Feind-Matrix antiliberale Gegenordnungen imaginierten.27
Während die ältere Forschung ästhetische Interkulturalität vorwiegend auf der Ebene der Intersubjektivität situiert und damit einhergehende Perspektivwechsel von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ gefasst hat,28 stellt die neuere Forschung dem zugrunde liegende binäre Codierungen im Rückgriff auf das kulturtheoretische Konzept der ‚Ähnlichkeit‘ gerade in Frage und untersucht stattdessen aus umgekehrter Blickrichtung, wie Repräsentationen von ‚Nation‘, Europa und politischer 25 Vgl. Johann/Patrut/Rössler: Einleitung, in: Dies.: Transformationen Europas, Anm. 7, S. 9−30. Zu den drei Ebenen siehe auch: Uerlings, Herbert: Poetiken der Interkulturalität. Haiti bei Kleist, Seghers, Müller, Buch und Fichte, Tübingen 1997; Patrut, Iulia-Karin/Uerlings, Herbert (Hg.): Inklusion/ Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2013. 26 Zur Problemgeschichte in der Literaturwissenschaft vgl. Werle, Dirk: Problem und Kontext. Zur Methodologie der literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Journal of Literary Theory 8 (2014), S. 31−54. 27 Beßlich, Barbara/Heise, Tillmann: Im Kampf mit der Moderne. Verfreundete Europäer, in: Ruperto Carola. Forschungsmagazin der Universität Heidelberg 17 (2021), S. 123−131, hier S. 123. 28 Zum Forschungsüberblick vgl. Holdenried, Michaela: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Berlin 2022, S. 35−55.
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Kollektive durch dichotomische Ein- und Ausschlüsse konstruiert und mittels poetischer Analogie- bzw. Ähnlichkeitsbildungen, die hier als ‚Figuren des Dritten‘ wirken, dekonstruiert, unterlaufen oder invertiert werden.29 Hinsichtlich des Europa-Diskurses des interbellum stellt sich beispielsweise der ‚europäische Geist‘ als eine Figuration heraus, über deren affirmative wie kritische Bezugnahmen sich sowohl identifikatorisch festschreibende als auch interkulturelle und transformatorische Europa-Vorstellungen bestimmen. Beschwört etwa Rudolf Pannwitz in seinem Essay Der Geist Europas (1927) eine Nationen und Kulturen in Europa umspannende innere Haltung, in welcher sich „geistiges Heldentum“ verwirkliche und dieser Geist im Handeln ‚großer Männer‘ um ein politisches und „statisches Europa“ ringe,30 so weist noch im selben Jahr der junge Klaus Mann in seinem Europa-Essay Heute und morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas kollektive und homogenisierende Zuschreibungen von Geisteshaltungen als potentielle Ideologeme aus: Zudem kommt das Mißtrauen gegen den Geist, das nach und nach so stark geworden ist. Von bösartiger Geistfeindschaft bis zu der Übersättigung an Geist geht dieses Mißtrauen stark und unverkennbar durch die ganze Generation. Es ist tief begründet und hatte ja, während all der Jahre, ein gar zu gründliches Versagen des Gedankens erlebt.31
Das Prinzip der Vergeistigung weist Klaus Mann als überkommenen und fehlgehenden Orientierungsbegriff der Vätergeneration (womit er offensichtlich auch auf den eigenen Vater anspielt) aus, dem die jüngere Generation, das ‚junge Europa‘, neue Prinzipien entgegenzusetzen habe, um wieder ‚neu denken‘ zu lernen: Überdruß am Geist geht von rechts bis nach links, keiner von uns, der es nicht erlitten und empfunden hätte. – Aber wir merkten schon, daß es sich ändern muß. Wir haben uns als Körper, so tief erlebt, so ganz und gar, mit so viel Lust, so viel Trauer – daß wir auch wieder anfangen dürfen zu denken.32
29 Zur ‚Ähnlichkeit‘ als theoretischem und ästhetischem Paradigma vgl. Bhatti, Anil u. a.: Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma, in: IASL 36/1 (2011), S. 233−247. 30 Pannwitz, Rudolf: Der Geist Europas, in: Neue Rundschau 38 (1927), S. 449−456, hier S. 456. 31 Mann, Klaus: Heute und Morgen. Zur Situation des jungen geistigen Europas, Hamburg 1927, S. 8. Vgl. hierzu Rössler, Reto: Formationen ‚Europas‘ im Essay. Wissenspoetik und Interkulturalität bei Hugo von Hofmannsthal und Klaus Mann, in: Heimböckel, Dieter/Capano, Lucia Perrone/ Patrut, Iulia-Karin (Hg.): Interkulturalität und Gattung. Akten des 14. IVG-Kongresses Wege der Germanistik in transkulturellen Perspektiven 2021 in Palermo, Frankfurt a. M. u. a. 2023, S. 461−473 (im Druck). 32 Mann: Heute und Morgen, Anm. 31. (Hervorhebung im Original).
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
Der Körper bildet aus Sicht Klaus Manns ein ‚Gegenprinzip‘, das jedoch auch seinerseits nicht absolut zu setzen sei. Auch sein Essay gestaltet sich in seinem letzten Drittel als eine offene Suchbewegung, die zwischen utopisch-revolutionären Philosophemen des jungen Ernst Bloch (Geist der Utopie [1918]), dem TechnikOptimismus Coudenhove-Kalergis (Apologie der Technik [1922]) oder der Idee eines europäischen Staatenbundes, dessen Gründung u. a. sein Onkel Heinrich Mann (VSE, Vereinigte Staaten von Europa [1924]) gefordert hatte, hin- und herpendelt, sie alle als Elemente einer noch zu vollziehenden und wesentlich von der europäischen Jugend getragenen Transformation Europas begreift, ohne sich auf eines abschließend festzulegen.33 Die Kritik am Geist zur Begründung einer europäischen Jugendbewegung weitet sich in Thomas Manns Exil-Essay Achtung Europa! (1936) schließlich zu einer umfassenden ideologiekritischen Betrachtung von Denkformen des „Massengeistes“ in zwei Richtungen, die Vergangenheit und Zukunft Europas betreffend, aus: Habe deren Berufung auf ‚Volk‘, ‚Erde‘ und ‚Blut‘ faktisch bereits vor Ausbruch des ‚Großen Krieges‘ den „europäischen Kulturschwund“ hervorgebracht, sei dem Fortwirken dieses Massengeistes, um einen neuen Krieg zu verhindern, allein mit dem Prinzip eines „europäischen Humanismus“, der dem „Fanatismus“ mit der Entschiedenheit des „Zweifels“ wie dem „Prinzip der Freiheit“ begegne, entgegenzutreten.34 Die Warnung vor ideologischen Vereinnahmungen und Vereindeutigungen durch Figurationen der Schließung sowie ein emphatisches Eintreten für die Offenheit, Vielgestaltigkeit und Pluralität Europas kennzeichnen damit bereits in der Zwischenkriegszeit eine interkulturelle Linie der Europa-Repräsentationen, die sich von hier aus bis in die Europa-Essayistik der Zeit nach 1989 sowie der Gegenwart fortschreibt, wo sie – im Unterschied zum frühen 20. Jahrhundert – zum diskursprägenden Narrativ avanciert (und zudem auch der Selbstrepräsentation der EU-Institutionen entspricht).35 Yoko Tawadas Essay mit dem sprechenden Titel Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht (2011)36 ist dabei ebenso als Absage an festschreibende europäische ‚Verkörperungen‘ zu interpretieren wie die kartographische Überschreibung und Durchkreuzung, die Robert Menasse an den Beginn seines Europa-Essays Der europäische Landbote (2012) stellt:
33 Vgl. ebd., S. 30−39. 34 Mann, Thomas: Achtung Europa!, in: Ders.: Essays 1933–1938 (Essays nach den Erstdrucken 4). Hg. von Hermann Kurzke/Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2 2007, S. 147−160, hier S. 158 f. 35 Im Jahr 2000 wurde etwa der Leitspruch „In Vielfalt geeint“ (lat. „in varietate concordia“) von den damals 15 Mitgliedsstaaten zum offiziellen Europamotto gewählt. 36 Tawada, Yoko: Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht, in: Dies.: Talisman. Literarische Essays, Tübingen 2011, S. 44–52.
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Wenn man auf einer Europakarte alle politischen Grenzen, die es im Lauf der geschriebenen Geschichte je gegeben hat, mit einem schwarzen Stift einzeichnet, dann liegt am Ende über diesem Kontinent ein so engmaschiges schwarzes Netz, dass es fast einer geschlossenen schwarzen Fläche gleichkommt. Welche schwarze Linie auf dieser schwarzen Fläche kann da augenfällig als natürliche Grenze gelten? Wenn man dann auf dieser Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegführenden Parteien zieht, Schlachtfelder und Frontverläufe markiert, dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem rotgefärbten Feld.37
Wichtiger noch als die schrittweise Etablierung interkultureller EuropaFigurationen für einzelne Genres wie dem Essay nachzuzeichnen, erscheint jedoch in synchroner Blickrichtung auf das interbellum der Nachweis, dass auch hier Wechselwirkungen zwischen politischen und poetischen Repräsentationsweisen vorliegen und etwa die essayistische Kritik an vereindeutigenden Semantisierungen in der Gattung des Romans aufgegriffen und poetisch bzw. poetologisch anverwandelt wurde.
4.
Europa-Poetiken in den 1920er Jahren. Y. Golls Décadence- und C. Sternheims Revolutionsroman
Die enge Verflechtung zwischen politischer, weltanschaulicher und kulturtheoretischer Reflexion Europas auf der einen und literarischem Schreiben sowie dem Bemühen um poetologische und ästhetische Innovation auf der anderen Seite kulminiert im literarischen Feld der Klassischen Moderne in einer Reihe von ‚EuropaRomanen‘, die auf explizite wie implizite Weisen den kulturellen Zusammenbruch nach 1918 poetisch reflektieren oder darüber hinaus auf die Re-Modellierung europäischer Identität(en) hindeuten. Yvan Golls Die Eurokokke (1927) und Carl Sternheims Europa-Roman (1919/20) lassen sich hinsichtlich ihres poetologischen Verfahrens insofern einander gegenüberstellen, als sie Europa bereits auf der paratextuellen Ebene des Titels adressieren und sich beide Romanhandlungen als hierauf bezogene Inszenierungs- sowie allegorische Ausdeutungsversuche lesen lassen. In Golls Eurokokke folgt der Leser bzw. die Leserin den Spuren des namenlosen Ich-Erzählers durch das moderne Paris, dessen Einzelphänomene, Straßen, Häuserfassaden, Plätze, Bauwerke, Kunstwerke und -formen sowie schließlich dort
37 Menasse, Robert: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder: Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss, Freiburg/Basel/Wien 2012, S. 7.
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eingegangenen menschlichen Beziehungen er allesamt seiner umfassenden Verfallsund Niedergangsdiagnose anheimstellt. Wo immer er als Flaneur Beobachtungen macht, die den Anschein von Hoffnung, Utopie einer kulturellen Erneuerung oder Wiederbelebung kurzzeitig aufkeimen lassen, folgt dem die Desillusion stets rasch auf dem Fuße: So stürzte ich mich in die Stadt, immer mit einer neuen Hoffnung, wartend auf das Wunderbare […]. Ich suchte die Schwesterseele oder die Bruderseele, bettelte jeden Passanten um seine Augen an […]. Sehr viele Menschen haben gar keine Augen. Die Masse rann wie Gallert schwarz über die Boulevards.38
Anonymität, Einsamkeit und Entfremdung, Langeweile und Kraftlosigkeit, Verlust von Lebensfreude sowie die gefühlte Unfähigkeit, aufrichtige und stabile Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen einzugehen – die Reflexionen, die der IchErzähler während seines Spaziergangs anstellt, schöpfen aus dem topischen Bestand der Décadence der Jahrhundertwende, der im Jahr 1927 auf den ersten Blick bereits antiquiert anmutet. Dass es sich hier jedoch eher um eine reaktualisierende Revokation kulturkritischer Topoi handelt, deren Variation eher auf die unmittelbare Gegenwart gemünzt ist, erhellt beispielsweise daraus, dass es gerade die ‚Schattenseiten‘ der technischen Errungenschaften der Moderne, wie der Verkehr und Lärm der Automobile und Autobusse, Benzinfässer am Straßenrand, die Reizüberflutung der elektrischen Straßenbeleuchtung und Leuchtreklame, die Kinos, Tanzpaläste und Varietés sind, die der Erzähler allesamt als Insignien des Verfalls wahrnimmt. Zugleich bildet jedoch nicht die ‚Kultur‘ selbst das Ziel seiner Kritik, sondern – auch dies ist als diskursive Aktualisierung zu lesen – Europa selbst. Nicht als junge Frau (wie im Mythos) sei Europa in zeitgemäßer Weise zu imaginieren, äußert er gegenüber seinem Hotelnachbarn Henry d’Anglade, sondern als „eine alte Hure“.39 Sehr klare und weitreichende intertextuelle Bezüge ergeben sich darüber hinaus über die motivische Verknüpfung eines aus dem Traum erwachenden Ich-Erzählers und dessen Erkenntnis vom Tod Gottes auch auf Jean Pauls in den Roman Siebenkäs eingeschobenes Blumenstück Rede des toten Christus (1796). Auch Golls Roman lässt den Erzähler gleich mit dem ersten Satz in einer alptraumhaften Szenerie erwachen („Ich bin aufgewacht aus einem Traum, der sich hinter mir schloß wie ein vergoldetes Gittertor“);40 auch er erlebt seine „Wanderung“ als „Traum der Wirklichkeit“, den „Kosmos“ als unbeseelten und gottesfernen Ort. Auch in diesem Fall wird das zitierte Schema variiert: Denn im Unterschied zu Jean Pauls
38 Goll, Ivan: Die Eurokokke, Göttingen 2002, S. 18. 39 Ebd., S. 13. 40 Ebd., S. 5.
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Blumenstück gibt es für den Ich-Erzähler nach seinem Erwachen im Traum kein zweites Erwachen aus dem Traum. Im Gegenteil, er bettet auch hier seine eigene Nihilismus-Erfahrung in eine umfassende europäische Verfallsdiagnose ein, in der die „Illusionen“ von den leeren Heilsversprechen der Werbung bis zur christlichen Religion reichen: Sie [die europäischen Menschen; R. R.] glaubten, was auf den Häusern in feurigen Lettern geschrieben stand, nämlich daß Gilletteklingen die besten seien. […] Sie glaubten und hatten keinen Glauben. Europa war ohne Gott, und deshalb war sein Schicksal so schwer. […] Europa schmachtete trotz der zahllosen Waren, die es zu kaufen und zu verkaufen gab, denn es hatte nichts anzubeten! Es schrie nach einer neuen Demut, und niemand brachte sie ihm.41
Das poetische Verfahren der Eurokokke bleibt im Wesentlichen fokussiert auf metaphysisch-kulturelle Zertrümmerungen, ohne ihnen dabei utopische Gegenbilder an die Seite zu stellen. Deutlich zeigt sich diese Tendenz auch an der titelgebenden Metaphorik der ‚Kokke‘, mit der Goll auf die Mikrobiologie und Bakteriologie seit der Jahrhundertwende anspielt. Auf metaphorischer Ebene zeigen sich hier Mikrokosmos und Makrokosmos, aber auch Natur und Kultur als wechselseitig durchdrungen. Wie die Aufladung mikrobiologischer Vorgänge durch kulturelle Semantiken der Kriegsführung zur Visualisierung einer unsichtbaren Natur gereichte, so sehr implizierte die metaphorische Einkleidung ‚der Kultur‘ in Zustände der ‚Krankheit‘ (bzw. ‚Gesundheit‘) die Aussicht auf Erholung oder vollständige Genesung.42 Doch auch diese Hoffnung zerschlägt sich in Golls europäischem Décadence-Roman. An dessen Ende ist es hier ausgerechnet ein amerikanischer Chemiker, der mittels seines Taschenmikroskops auf den Handballen des IchErzählers die titelgebende Eurokokke nachweisen kann, um ihm sogleich zu verkünden, dass diese eine ‚Krankheit zum Tode‘ sei, gegen die noch kein Antidot gefunden wurde: „Sie wissen nicht, was die Eurokokke ist? Es ist der Bazillus, der die europäische Kultur zerfrißt. Derjenige, der einmal den Tod dieses Kontinents hervorrufen wird.“43 Die der Reaktualisierung inhärente konzeptuelle Spannung zieht Golls Eurokokke immerhin daraus, dass der Standpunkt des Ich-Erzählers gerade kein übergeordneter ist, so dass dessen Abgesänge auf Europa und seine Kultur immer auch auf die zeitgenössische Diskursivierung Europas in Literatur und Essay verweisen – 41 Ebd., S. 20 f. 42 Vgl. Gradmann, Christoph: Die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde der Menschheit. Bakteriologie, Sprache und Politik im Deutschen Kaiserreich, in: Samida, Stefanie (Hg.): Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 61−82. 43 Goll: Eurokokke, Anm. 38, S. 97.
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und damit letztlich auch Golls Roman selbst mit adressieren. Wenn der Erzähler bei seiner Zeitungslektüre die erschienenen Europa-Artikel allmorgendlich als „europäisches Morgengebet“ verspottet, so gilt seine Kritik eindeutig den aus seiner Sicht ins Leere laufenden Identifizierungsversuchen Europas, die sich ebenso wie die Idee eines präsenten und ordnungsstiftenden Schöpfergottes als metaphysisch unhaltbar herausstellen.44 Bereits acht Jahre vor dem Erscheinen von Golls Eurokokke hatte Carl Sternheim seinem schlicht mit Europa überschriebenen Roman (1919) eine narrative Inszenierungsstrategie zugrunde gelegt, die zumindest bei oberflächlicher Betrachtung im Fokus solcher kritischer Revisionen im Stile des Goll’schen Erzählers stehen konnte. Denn figuriert wird Europa in Sternheims Roman ganz unmittelbar über die Romanprotagonistin Eura. Geboren unmittelbar vor der deutschen Reichsgründung, im Jahr 1870, wächst sie als Tochter eines Amsterdamer Kunsthändlers umgeben von einer musealen Welt aus Kunstobjekten ganz unterschiedlicher geographischer wie epochaler Provenienz auf. Mit ihnen setzt sie sich intensiv auseinander und erschließt sich die Welt aus der Perspektive der Kunst, die ihr bedeutsamer erscheint als die ungefilterte Wirklichkeit. Dieses konstellative und zugleich dialogische Erschließungsverfahren steht zu Beginn des ersten der vier mit „Deutschland“, „Frankreich“, „Europa“ und „Die Welt“ überschriebenen Bücher und zeichnet damit die transnationale und kulturell vernetzende Bewegungsrichtung des Romans vor. Ihre Begeisterung für die Künste führt Eura als junge Erwachsene zunächst in das Berlin der späten 1880er Jahre, wo sie den Aufstieg der Stadt als europäische Metropole miterlebt, aber auch mit Theater (Wedekind, Ibsen, Hauptmann, Carl Wundt) und Philosophie (Schiller, Kant, Hegel, Marx) in Berührung kommt, die sie, „sich mit Inbrunst in alle Theorie werfend“ in teils eigenwilligen Lesarten anverwandelt und dabei stets auf ihre utopischen sowie transformatorischen Potentiale hin befragt.45 Im Verlauf der Romanhandlung verschiebt sich Euras Sichtweise auf die Instanzen und Träger gesellschaftlicher Transformationen jedoch mit ihrer Bewegung durch den (europäischen) Raum: von der Rolle der Poesie und Theorie im ersten Buch auf die des Körpers im zweiten hin zu der der sozialen Organisation im dritten Buch. In der Liebesbeziehung mit Carl Wundt (alias Carl Sternheim) in Frankreich entdeckt sie ihre sexuelle Lust als rauschhaftes Moment
44 Ebd., S. 9. Im Werk Yvan (und Claire) Golls nimmt die Beschäftigung mit ‚Europa‘ noch einen weiter ausgreifenden Raum ein, der neben weiteren Prosatexten (Der Mitropäer; 1928) auch seinen LyrikZyklus Requiem. Für die Gefallenen Europas (1917) umfasst. Siehe hierzu Kramer, Andreas: Europa minor. Yvan and Claire Goll’s Europe, in: Sascha Bru u. a. (Hg.): Europa! Europa? The Avant-Garde, Modernism and the Fate of a Continent, Berlin/New York 2009, S. 126–137. 45 Sternheim, Carl: Europa. Roman (Gesammelte Werke 5). Hg. von Fritz Hofmann, Berlin/Weimar 1964, S. 30.
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der Lebenssteigerung, ihre sado-masochistischen Phantasien lebt sie dabei ungezügelt aus, indem sie Carl als ihren Sklaven unterwirft und damit bestehende Geschlechter-Machtasymmetrien, über die sie währenddessen sinniert, invertiert.46 Im dritten, mit „Europa“ überschriebenen Buch tritt Eura schließlich aus ihrer auf theoretische Betrachtung und private Glückserfüllung hin orientierten Lebensführung heraus und übernimmt nun Verantwortung für andere: zum einen durch ihre Mutterschaft, zum anderen, indem sie mit Dr. Rank, einem befreundeten Arzt, eine Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie herausgibt, das ‚Institut Fuld für sozialwissenschaftliche Forschung‘ gründet und sich sozialrevolutionär engagiert.47 Der Fokus ihres politischen Handelns ist in allen Fällen ein transnationaler und europäischer, was insbesondere das Enzyklopädie-Projekt belegt, dessen Ziel es ist, Ideologeme der „Sprache, die Europa heute im Maul wälze und mit der es sich ständig um jeden ursprünglichen Sinn betrüge [zu] zerstören, um im Anschluß an die Demolierung […] für verwaschenen und gefälschten Ausdruck überall zeitgemäßen und erschöpfenden zu setzen.“48 Indem Sternheim seinen Europa-Roman mit einer weiblichen Hauptfigur besetzt und sie sich entwickeln lässt, nimmt auch er auf den antiken Europa-Mythos Bezug und verkehrt dabei die Vorzeichen der Geschlechterrollen. Während im Mythos die geraubte phönizische Königstochter lediglich passiv agiert und dem Willen des männlichen Gottes Zeus unterworfen bleibt, baut der Roman Eura als starke und sich emanzipierende Hauptfigur auf, die aktiv dafür eintritt, die europäischen Länder zu transformieren und ihre zementierten (männlich dominierten) Herrschaftsstrukturen aufzubrechen. Dass der Roman trotz einiger struktureller Anleihen jedoch nicht dem narrativen Schema des Bildungsromans folgt, zeigt sich im vierten und letzten Buch („Die Welt“). Die Ausweitung der Handlung über die Grenzen Europas hinaus führt in der Logik des Romans die politische Handlungsschwäche der männlichen Romanfiguren Dr. Rank und Carl vor, die im Moment der revolutionären Tendenzen in den Niederlanden 1917 ins Kloster gehen („in süßer Schwäche zu Jesus fliehen“) oder stattdessen ausgerechnet in der ehemaligen Kolonie („Niederländisch-Ostindien“) ihr Heil suchen.49 Im Gegensatz zu ihnen nimmt Eura begeistert an politischen Kundgebungen teil, doch ist es auch hier am Ende die Gewalteskalation der Männer, durch die sie währenddessen nicht lediglich umkommt, sondern ihr Körper regelrecht zerstört, ihr „zertrampelter Kadaver“ am Ende gar im Kanal ‚entsorgt‘ wird.50 „Europa war tot“, so lautet die lapidare Schlussbemerkung des Erzählers.51
46 47 48 49 50 51
Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 177 und 197. Ebd., S. 178 f. Ebd., S. 245. Ebd., S. 273. Ebd., S. 274.
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Auch er erkennt am Ende, dass Euras philosophische Jugendlektüren, Hegel und Marx, nicht hinreichen, um die lokale Gewalteskalation, die im Kleinen auf den parallel andauernden ‚Großen Krieg‘ in Europa verweist, zu deuten. Anstelle einer adäquaten geschichtsphilosophischen Formel erinnert ihn seine Diagnose viel eher an das Kontingenzeingeständnis einer „Unfallchronik“: „Wiederbelebungsversuche wären aussichtslos“.52 Trotz aller Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen poetologischen Verfahren teilt Sternheims Europa-Roman mit Golls Eurokokke die Perspektive auf ein Europa, das sich simplifizierenden Identifizierungs- und Festschreibungsversuchen seitens der zeitgenössischen Weltanschauungsphilosophien, aber auch der Künste entzieht. Gegenüber der Reaktualisierung der Krankheitsmetaphorik bei Goll erweist sich Sternheims Inszenierungsweise genauer besehen jedoch als komplexer und differenzierter. Zwar wird auch hier die in der Romanstruktur angelegte Teleologie eines sich neu begründenden, Körper und Geist, Anschauung und Theorie umfassenden Europas aus dem Geist der bürgerlichen Revolution auf der Ebene der Romanhandlung zurückgewiesen. Jedoch zeigen darüber hinaus die Reflexionen, die Eura hinsichtlich der Transformierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaften in Europa anstellt, darunter das Aufbrechen von bestehenden Geschlechterasymmetrien oder auch die Multiperspektivik und Dialogizität von Kunst (und Theorie), durchaus eine Reihe von Möglichkeiten auf, wie sich Europa als offenes und konstellatives Gefüge neu denken und darstellen lässt.
5.
Ausblick: (Trans-)Formationen Europas im ‚Epochenroman‘ (Th. Mann; Musil)
Warum eine ästhetische Strategie funktioniert und sich womöglich gar als gattungsprägendes Modell etabliert, während eine andere zeitgleich scheitert, darüber lässt sich rückblickend in aller Regel nur mit einem gewissen Grad an Spekulation befinden. Ein ästhetisches Manko, das zeitgenössische Literaturkritik und Forschung gleichermaßen in Golls Eurokokke wie in Sternheims Europa realisiert sehen, ist indes, dass beide (insbesondere Goll) zwar eine Vielzahl von starken poetischen Bildern und Figuren aufrufen und diese im Hinblick zu einem dichten interdiskursiven Gewebe verflechten, es ihnen demgegenüber jedoch an narrativer Stringenz und Tiefe der Figuren sowie der sozialen Welt – von erzählerischer Virtuosität ganz abgesehen – fehle.53 Gerade in der vergleichenden Analyse von 52 Ebd., S. 275. 53 Zur Rezeption beider Romane vgl. Zittel, Claus: Venus ohne Pelz. Carl Sternheims Europa-Roman, in: Paintner, Ursula/Zittel, Claus (Hg.): Carl Sternheim. Revolution der Sprache in Drama und Erzählwerk. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Carl-Sternheim-Tagung (Olsztyn 2009), Frankfurt
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Europa-Essays und Romanen der Zwischenkriegszeit zeigt sich, dass die im expositorischen Format des Essays gängige und hier durchaus erfolgreiche Praxis von Eins-zu-eins-Figurationen in ihren poetischen Transpositionen (hier: als topische oder mythische Reaktualisierung) den Darstellungsrahmen der Gattung Roman eher limitiert als erweitert. Demgegenüber deuten die Europa-Essays Robert Musils und Thomas Manns bereits auf die funktionale Differenz von Essay und Roman hin, und sie weisen im Zuge ihrer schriftstellerischen Selbstinszenierung und Neuverortung darauf hin, dass den Darstellungsproblemen Europas − der Unschärfe des Gegenstands wie auch Problemen der kulturellen Festschreibung – formästhetisch am ehesten im Rückgriff auf die Potentiale des modernen Romans zu begegnen ist. Manns und Musils poetische Umsetzungen, den Zauberberg (1924) und den Mann ohne Eigenschaften (1930), verbindet, dass sie im Unterschied zu Goll und Sternheim Transformationen Europas anno 1913 weniger in direkter (Repräsentation) denn in indirekter Weise (Darstellung), in Gestalt von ‚Epochenromanen‘ narrativ inszenieren. Beide Romane repräsentieren Europa mithin nicht als ein Drittes und/oder Anderes, sondern sie führen auf der Handlungsebene dialogisch und vielstimmig vor, wie sich nationale und europäische Identitätskonstruktionen in ihrer diskursiven Widerständigkeit und gegenseitigen Abgrenzung formieren und einzelne Stimmen und Positionen sowohl durch Figurenrede als auch aus der narrativen Rückschau auf den Vorabend des Weltkriegs als obsolet oder problematisch ausgewiesen werden. Es wäre das Thema eines eigenen Beitrags, die unterschiedlichen performativen Ebenen, auf denen sich die Formation wie Transformation Europas in Manns und Musils Roman gestaltet, zu differenzieren und vergleichend zu untersuchen. Auch die Romanperspektiven des Zauberbergs und des Manns ohne Eigenschaften weisen Europa nicht als ein definitorisch oder konzeptuell festschreibbares Gebilde, sondern vielmehr als Gegenstand permanenter Selbsttransformationen aus. Dass die Romane so rückblickend an der Herausbildung eines vielfältigen und offenen Europas mitschreiben und an ihnen zugleich die widerständige und teils paradoxe Genese interkultureller Denk- und Schreibweisen rekonstruierbar wird, lässt beide auch für nachfolgende Untersuchungen im Bereich der interkulturellen Germanistik relevant erscheinen.54 Wenn in der jüngeren Gegenwartsliteratur europäische Identitäten als Geflecht aus Erinnerungen und Fiktionen, als Herkunft wie in Saša Stanišićs gleichnamigem
a. M. u. a. 2013, S. 85−116, hier S. 85−91; Glauert-Hesse, Barbara: Nachwort, in: Goll: Eurokokke, Anm. 38, S. 159−176, hier S. 165. 54 Zu ‚Interkulturalität‘ und ‚Europa‘ in beiden Romanen siehe: Lützeler, Paul Michael: Schlafwandler am Zauberberg. Die Europa-Diskussion in Hermann Brochs und Thomas Manns Zeitromanen, in: Thomas Mann Jahrbuch 14 (2001), S. 49−62; Biebuyck, Benjamin: Interkulturalität und Kri-
‚Europa‘ im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit
Roman (2019) einzig plural adäquat erzählt werden können, oder in Robert Menasses Die Hauptstadt (2017) Europa sich über die institutionelle Perspektive der EU-Kommission in Brüssel formiert, so bieten sie mit aller gebotenen Entschiedenheit Gegenerzählungen zu EU-Skepsis, widererstarkendem Nationalismus und neu errichtetem Grenzregime in Europa an. Die widerständige Formation derartiger interkultureller Narrative lässt sich indes bereits genau ein Jahrhundert zuvor, in den Epochenromanen der Zwischenkriegszeit, beobachten.
se. Erlebtes Europa bei Thomas Mann und Annette Kolb, in: Klaeger, Florian/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): „Europa gibt es doch…“. Krisendiskurse im Blick der Literatur, Paderborn 2016, S. 159–184; Wolf, Norbert Christian: Europa-Konzeptionen in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit: Hofmannsthal – Musil – Zweig, in: Pandaemonium Germanicum 24 (2021), S. 106–123; Bauer, Matthias/Patrut, Iulia-Karin/ Rössler, Reto (Hg.): Europa (Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum Mann ohne Eigenschaften 5), Berlin 2023 (i. V.).
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Jenseits des Politischen Alfred Döblins Reflexionen über Deutschland und Europa
1.
Vorwort
Neben den programmatischen Äußerungen zur Literatur und den autobiographischen Überlegungen zum eigenen Werk stellen Alfred Döblins politische Schriften ein einzigartiges Reservoir in der Produktion des Berliner Autors dar. Die anfangs in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten und später von Walter Muschg in dem Band Schriften zur Politik und Gesellschaft 1 versammelten Texte mögen im Vergleich zu Döblins anderen ziemlich repetitiv und vorhersagbar erscheinen, obwohl sie stilistisch schätzenswert und geistreich sind. Außerdem erschweren der häufige Perspektivenwechsel und die teilweise Widersprüchlichkeit es manchmal, die Positionierung des Autors zu bestimmten Fragen festzustellen. Trotzdem – oder vielleicht eben aus diesem Grund – ist es aufschlussreich, sich mit diesen Schriften auseinanderzusetzen, um die Überlegungen eines berühmten deutschen Autors des 20. Jahrhunderts zu umstrittenen gesellschaftspolitischen Themen zu entdecken. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Parabel des Döblin’schen politischen Denkens von den 1910er bis zu den 1940er Jahren zu skizzieren, einer Zeitspanne, die besonders reich an relevanten historischen Ereignissen ist und in der sich die europäischen Intellektuellen mit ethischen sowie mit gesellschaftspolitischen Herausforderungen konfrontieren mussten. Dabei werden einige repräsentative politische Schriften Döblins – unter anderem das Werk Wissen und Verändern! – analysiert, aber es wird auch auf Werke wie Unser Dasein Bezug genommen sowie auf die Rolle des Autors im Rahmen des Projekts der Exilzeitschrift Die Zukunft. Es soll nicht versucht werden, Döblins politische Gedanken in eine zusammenhängende Theorie zu zwängen, sondern vielmehr der teilweise widersprüchlichen Natur dieser Gedanken Ausdruck zu verleihen und sie kritisch zu hinterfragen. Somit wird die – teilweise komplexe und ambivalente – Einstellung des Schriftstellers zu Themen wie etwa Demokratie, Parlamentarismus, Republik und Meinungsfreiheit beleuchtet werden; die Entwicklung seiner politischen Auffassung von einem nationalistisch-polemischen Standpunkt zu einer konstruktiveren und utopischen Perspektive im europäistischen Sinne wird auch deutlich gemacht werden.
1 Döblin, Alfred: Schriften zur Politik und Gesellschaft, hg. von Walter Muschg (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), Olten/Freiburg i. Br. 1972.
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Claudia Cippitelli, Giulia Frare
2.
Kritik an den europäischen Demokratien während des Ersten Weltkriegs
Die ersten öffentlichen polemischen Meinungsäußerungen Döblins zu den europäischen Demokratien sind in einigen Schriften aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu finden, im Besonderen in der 1914 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Schrift Reims und im ebendort 1917 erschienenen Text Es ist Zeit!. Döblin verflicht in diesen Schriften verschiedene thematische Leitfäden: Die Engländer werden als hinterlistige Feinde dargestellt,2 während Deutschland kraft seines historischen und politischen Sonderwegs – welcher in der Hermannsschlacht wurzele3 – als „Kulturträger“ präsentiert wird; die Überlegenheit des eigenen Vaterlands wird nachdrücklich betont und von seinem künftigen Schicksal im Krieg unabhängig gemacht;4 die Kultur selbst, welche die Feinde mit vorgetäuschter Empörung als unschuldiges Opfer darstellen würden, wird hier kritisch betrachtet und von deren materiellen, kontingenten Äußerungen unterschieden: Als spirituelles Vermögen sei sie unveräußerlich und unzerstörbar.5 Die verwendeten Slogans6 und die Rhetorik der beiden erwähnten Texte verraten den Einfluss der Kriegspropaganda jener Zeit sowie der altbekannten Kultur-versus-
2 Ihnen wirft der Schriftsteller vor, Deutschland nicht direkt attackiert zu haben, sondern die anderen europäischen Mächte mit dem Vorwand der verletzten Neutralität Belgiens aufgehetzt zu haben: „Wieder hat das Inselreich das Alte getan: es hat Fremde für sich kämpfen lassen […].“ (Döblin, Alfred: Reims, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 17–25, hier S. 22). 3 Vgl. ebd., S. 24. 4 „Wir erkennen in diesem Krieg noch nicht Sieger und Besiegte, aber schon ist es jedem Vorurteilsfreien klar, daß Deutschland unüberwindlich ist.“ (ebd., S. 21). 5 Eine solche Sichtweise erweckt zwar Bedauern über die im Krieg zerstörten Kunstwerke, evoziert jedoch gleichzeitig ein Rebellionsgefühl, das an den futuristischen Bildersturm erinnert: „Kunstwerke sollen hingestoßen, getreten, zertrümmert werden, Bücher verbrannt, Lehrsätze in die Luft geblasen. Das Wertvollste hat keinen Bestand mehr.“ (Döblin, Alfred: Es ist Zeit!, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 25–33, hier S. 25). Döblins Kritik ist vor dem Hintergrund von Nietzsches Polemik gegen die Bildungsphilister zu lesen, die der Berliner Autor jedoch neu interpretiert: Die Konstellation Krieg-Kultur-Barbarei-Heuchelei (oder Philisteismus) sowie die Kritik an einer Kulturvorstellung, die auf dem Aneinanderhäufen von Kunstwerken fußt, haben die erste Unzeitgemäße Betrachtung und Döblins Es ist Zeit! gemeinsam; aber während der Philosoph die Anmaßung der Deutschen ins Visier genommen hat, ihre vermutete kulturelle Überlegenheit als bloße Eitelkeit denunziert hat und von dem siegreichen Ende des Deutsch-Französischen Krieges unabhängig gemacht hat, setzt sich Döblin dennoch für diese kulturelle Vormachtstellung ein und scheint sie quasi als Kompensationsmittel für diese geopolitisch ungünstige Situation zu verwenden. Für eine umfassendere Analyse von Döblins Nietzsche-Rezeption vgl. Spreng, Michaela: Alfred Döblins Nietzsche-Verständnis vor dem Hintergrund der philosophischen Schriften Felix Hausdorffs, München 2014. 6 „Unsere Freunde, unsere Brüder, unsere Vettern! Die Stunde bleibt nicht aus! Wehe England!“ (Döblin: Reims, Anm. 2, S. 24).
Alfred Döblins Reflexionen über Deutschland und Europa
Zivilisations-Debatte, die gerade in den Jahren des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges viele deutsche Intellektuelle beschäftigt hat. Trotz seines Dienstes als Militärarzt an der Westfront, bei dem er die konkreten Folgen des Krieges sowohl an den Menschen als auch an den Städten – ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit – mit Händen gegriffen hat, idealisiert Döblin hier den Krieg, welcher als eine positive Gelegenheit interpretiert wird, um ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln und die Zwietracht zwischen den verschiedenen Sozialgruppen zu überwinden.7 Die etwas rhetorische, patriotische Begeisterung und der chauvinistische Ton nehmen auch zu Kriegesende nicht ab: Die Herbheit gegenüber den „Feinde[n]“ verschärft sich und in der im Februar 1918 in der Neuen Rundschau veröffentlichten Schrift Drei Demokratien richtet der Autor seine bissige Kritik an die Staaten der Triple Entente und deren Alliierte: Das heuchlerische Vereinigte Königreich strebe „nach Seeherrschaft“, Frankreich sei von „Revanchelust“ und „Böswilligkeit“ getrieben und die übermütigen Vereinigten Staaten seien unverzüglich und ohne Grund gegen Deutschland in den Krieg gezogen.8 Obwohl in allen diesen Schriften die Polemik über eine mögliche produktive Kritik die Oberhand gewinnt, ist hier die Anklage einer fehlenden Übereinstimmung zwischen angeblichen demokratischen Werten und tatsächlicher Demokratie interessant. Nochmals sind die Engländer und ihr Premierminister Lloyd George das Ziel von Döblins scharfem verbalem Angriff, denn sie würden als Garanten der Bürgerrechte und des nationalen Wohlstands auftreten, aber de facto eine innere und äußere Machtpolitik ausüben (wie sowohl ihre Kriegsrhetorik als auch ihre Kolonialpolitik bezeugen würden). Döblin greift nochmals zum alten Schema der Gegenüberstellung entgegengesetzter Modelle sowie zur idealistischen Kategorie des Humanismus, um Demokratie und Staatsverfassung in Verbindung zu setzen und die Überlegenheit Deutschlands auch in dieser Hinsicht zu behaupten: Sie [die Engländer] meinen eine Verfassungsform, wir die Ausbreitung, das Ausblühen einer Menschlichkeit, einer sich wandelnden Menschlichkeit in die Verfassung hinein. Sie meinen Sicherung, Zentrierung, Stabilisierung der Gewalt, wir den Sieg der rastlos drängenden, aus der Tiefe aufquellenden Humanität über die Physik. Wir brauchen keine englischen Staatsformen und können doch demokratischer sein als irgendein Land.9
7 Wie auch aus den Schriften der Weimarer Zeit zu entnehmen ist, sei die Verteilung der Bürger in einander gegenüberstehenden, feindseligen Gruppen und Parteien das wahre Übel, das eine solide politische Entwicklung verhindere, vgl. Döblin: Es ist Zeit!, Anm. 5, S. 29 f. 8 Vgl. Döblin, Alfred: Drei Demokratien, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 33–44, hier S. 43 f. 9 Ebd., S. 36.
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Die Demokratie – so fährt der Autor fort – könne nicht mit einer bestimmten Regierungsform identifiziert werden, sie sei vielmehr eine Form von „innerem Frieden“,10 die – paradoxerweise – eben von jener Art Demokratie, die er kritisiert, gefährdet werde: „[D]as Bitterste und Schmerzlichste ist es, daß niemand so Hindernis des Friedens ist wie die Demokratie, die Pseudodemokratie unserer jetzigen Feinde.“11 Obwohl Döblin das „Fiasko der schrankenlosen Vaterländerei“12 beklagt und in einem anderen Text versichert, „mit Nationalismus nichts zu tun [zu haben]“,13 bleibt er selbst jener Freund-Feind-Rhetorik treu, die eigentlich der von ihm gepredigten Humanität widerspricht.14 Auch die Kritik, die er an den westlichen Demokratien übt, klingt weder parteilos noch konstruktiv, sondern eher wie eine von Ärger getriebene Rehabilitierung Deutschlands und eine Rechtfertigung seines Verhaltens im Krieg.
3.
Hinwendung zur Innenpolitik zu Beginn der Weimarer Zeit
Mit der Novemberrevolution und der Ausrufung der Republik eröffnet sich auch im Rahmen von Döblins politischem Schreiben eine neue Phase. Als Schriftsteller und Intellektueller fühlt er sich nun zur Verantwortung gerufen, seinen Beitrag zur politischen Entwicklung des eigenen Staates zu leisten. Das macht er jedoch nicht, indem er für eine bestimmte Gruppe Partei ergreift, sondern gerade aus gegenteiligem Interesse: Seine Ablehnung jeder ideologischen Aufstellung und sein parteiloses, unabhängiges (oft eklektisches) Engagement werden von Anfang an offengelegt. Die Schriften der republikanischen Phase beweisen daher ein gesteigertes Interesse an spezifischen politischen Fragen; der Autor lässt die Kritik an anderen Ländern beiseite, um sich auf die Innenpolitik zu fokussieren, allerdings ohne dabei auf den gewohnten polemischen Ton zu verzichten. Eine weitere Neuigkeit dieser Jahre ist, dass die Schriften politischer Natur – die häufiger werden – nun zwei verschiedene Ausdruckskanäle finden: 1919 veröffentlicht der Autor in der Neuen Rundschau nämlich gleichzeitig einige Artikel mit seinem eigenen Namen, andere unter dem Pseudonym Linke Poot. Die beiden Gruppen von Schriften unterscheiden sich weniger inhaltlich und ideologisch als vielmehr stilistisch: Die von Linke
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Ebd. Ebd., S. 38. Ebd., S. 44. Döblin, Alfred: Die Vertreibung der Gespenster, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 71–82, hier S. 72. 14 Vgl. Schoeller, Wilfried F.: Döblin. Eine Biographie, München 2011, S. 178.
Alfred Döblins Reflexionen über Deutschland und Europa
Poot unterschriebenen Texte sind karikierende und witzige Glossen, in denen sich der Schriftsteller gestattet, sich freier, sarkastischer zu äußern.15 Schon in einem Brief an Herwarth Walden vom Juli 1916 hat Döblin prognostiziert, dass das Ende des Konflikts keinen eigentlichen Frieden mit sich bringen würde, sondern vielmehr neue Streitigkeiten. Was er befürchtete, war der Kampf der Ideologien, der auf jenen der Waffen folgen würde: [D]ann fängt erst der Krieg an, der das Resumee des äußeren zieht, Parole: Deutschland contra Ostelbien, Europa gegen Feudalismus; die Politik wird uns Unpolitischen dann hoffentlich auch etwas in die Knochen fahren. Dummheit: die Partei der Intellektuellen à la Hiller etc; jede Partei hat die Intelligenz, die sie braucht, ich bin gegen Börsianer, Sozialdemokraten, Agrarier, Litteraten, aber die Reste des Feudalismus in Heer, Bürokratie müssen hin […].16
Das Thema der anachronistischen und schädlichen Verbundenheit mit alten politischen Traditionen ist auch in der Schrift Die Vertreibung der Gespenster (1919) zu finden. In diesem Text, der in einer Sondernummer des Neuen Merkurs veröffentlicht wurde, nachdem er von der Neuen Rundschau als zu radikal zurückgewiesen worden war, tadelt Döblin Institutionen wie die protestantische Kirche, das Militär und das Schulsystem, aber vor allem kritisiert er, dass die Werte, für die die Deutschen in den Krieg gezogen sind, nichts als leere Worte und alte Geschichtsmythen waren, „Leichen der Geschichte“,17 wodurch man das Nationalgefühl trügerisch gelockt habe: „[W]as auf den Schlachtfeldern lag, war nicht verblutet für das Deutsche Reich, sondern für uralte Kamellen, für Friedrich den Großen, für den Burggrafen von Nürnberg, für die Siegesallee.“18 Der nostalgische Blick der Deutschen auf Vorbilder der Vergangenheit und ihre Unfähigkeit, die gegenwärtigen sozialen und politischen Prozesse unvoreingenommen zu begreifen, führe dazu, dass sie keiner effektiven demokratischen Revolution gewachsen seien und ständig zu den gleichen Machtschemata zurückkehren würden. In der Schrift Dämmerung (1919) klagt der Schriftsteller öffentlich an, dass sich das Parteiensystem der neugeborenen deutschen Republik im Vergleich zu
15 Vgl. Grevel, Liselotte: Linke Poot. Der deutsche Maskenball (1921), in: Becker, Sabina (Hg.): DöblinHandbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2016, S. 190–194, hier S. 190; Wildenhahn, Barbara: „Linke Poot hat sich entschlossen zu sprechen“: Die poetologische Kooperative der Erzähler „Linke Poot“ und „Alfred Döblin“ in den Schriften zu Politik und Gesellschaft, in: Davies, Steffan/Schonfield, Ernest (Hg.): Alfred Döblin. Paradigms of Modernism, Berlin/New York 2009, S. 144–159. 16 Döblin, Alfred: Briefe, hg. von Walter Muschg (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), Olten/Freiburg i. Br. 1970, S. 87. 17 Döblin: Die Vertreibung der Gespenster, Anm. 13, S. 82. 18 Ebd.
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jenem dynastischen des Kaisertums nicht grundlegend geändert habe, denn die „Massen“ tendieren dazu, sich mit alten politischen Gewohnheiten zufriedenzugeben, anstatt etwas Neues zu wagen: „Die Revolution hat nicht Republik, Demokratie und Zivilismus gemacht. Sondern die Möglichkeit dazu.“19 Diese Möglichkeit sei nicht genutzt worden, denn [die Massen] fallen beruhigt zurück, satt und gelangweilt in Schwere und Lethargie. Umsonst ist die deutsche Bürgerschaft lecker gemacht worden nach Freiheit […]. Die Pasteten stehen auf dem Tisch, sie greifen nicht danach, schlucken ihren ererbten patentierten Schiffszwieback. Wie sie über den alten Reichstag lachten – statt ihn stark zu machen – und die Dynasten mit ihren Heeren anbeteten, beten diese Fetischisten Parteischemata an, nennen es Demokratie […].20
Die gleiche Kritik wird in der Schrift Republik (1920) geäußert: Anstelle der Dynastien seien nun die Fraktionsmänner aufgetreten, die sich als Repräsentanten des Volks vorstellen und dem ganzen System einen demokratischen Anschein geben würden.21 Auch das Verhältniswahlrecht der jungen Weimarer Republik gerät ins Visier Döblins, der unter dem Namen seines Pseudonyms die Sitzverteilung im Parlament ironisiert: Da man nicht weiß, wie man sich verhalten soll, spielt man: „verwechsel, verwechsel die Bäumchen“, gruppiert die Parteien um, heute so, morgen so, berechnet die Kopfzahl. Man behilft sich mangels höherer Rechnungsarten mit Regeldetri; als Demokratie preist man es allerorten.22
In Döblins inhomogener Kritik erweist sich die Staatsordnung als letztendlich irrelevant, denn nicht sie bestimme die Möglichkeit zu Freiheit und Demokratie. Das Grundproblem der deutschen Politik bestehe nicht so sehr in der Gegenüberstellung der verschiedenen sozialen Schichten (wie es der Sozialismus und der Marxismus betonen), sondern eher in dem Riss zwischen Volk und Staat – sei dieser monarchisch oder republikanisch. Auch durch eine täuschende Rhetorik, die sich mit verlockenden Worten wie ‚Demokratie‘ und ‚Volksvertretung‘ schmücke, habe sich dieser Riss im modernen Parteiensystem unbemerkt wiederholt. 19 Döblin, Alfred: Dämmerung, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 109–117, hier S. 112. 20 Ebd., S. 111 f. 21 Vgl. Döblin, Alfred: Republik, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 117–125, hier S. 119 f. 22 Döblin, Alfred: Der Bär wider Willen, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 100–109, hier S. 105.
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Den Sozialdemokraten, die Döblins politische Orientierung – zumindest theoretisch – am besten ausdrücken, wird solche Kritik nicht erspart, denn auch sie würden sich diesem System untergeben fügen: Die Sozialdemokraten […] tun was das Ihre ist: sie stellen die Demokratie voran und lassen die Dinge wachsen, bis sie reif für den Sozialismus sind. Es ist zwar schwer auf den Sozialismus zu warten bis zu diesem Punkte, aber man wird sich nicht durch die Zufälligkeiten der Zeit beirren lassen. Die Juden warten schon zwei Jahrtausende auf den Messias und sind dabei ein auserwähltes Volk geworden. […] Auch die Sozialisten können, wenn sie zwei Jahrtausende auf den Sozialismus warten, ein auserwähltes Volk werden […].23
Solche bissigen und heterogenen Äußerungen sind nicht als persönlicher Wutausbruch eines polemischen Schriftstellers zu betrachten, da sie direkt mit Döblins Auffassung des Intellektuellen (und insbesondere des Literaturautors) im politischen Leben seines Staates zusammenhängen. Dieses Thema, mit dem sich der Berliner Autor vor allem in den Jahren der Weimarer Republik auseinandergesetzt hat, ist besonders für die Gruppe 1925 dringlich, in deren Führungsausschuss Döblin eine zentrale Rolle gespielt hat. Vor allem anlässlich der Inszenierung eines Literaturgerichts zur Verteidigung des von Johannes Becher beschlagnahmten Romans äußert sich Döblin kritisch gegenüber jener von ihm als „diktatorisch“ beschriebenen Maßnahme und plädiert für das Recht der freien Meinungsäußerung der Künstler. Noch expliziter hat er sich aber drei Jahre zuvor in der Schrift Schriftsteller und Politik (1924) geäußert, als er eine Debatte im Rahmen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller (SDS) zum Anlass genommen hat, um über den Ausschluss politischer Fraktionen innerhalb des Verbands zu beraten. Im Text argumentiert der Autor, dass ein Schriftsteller, der letztendlich in einem politischen System einbegriffen sei, unweigerlich politisch sei, wenn auch nicht unbedingt im Sinne der politischen Parteien. „Es gibt keine unpolitischen Schriftsteller“, behauptet er: „Die Frage, ob der Schriftsteller, der Geistige, der schreibt, sich politisieren soll, ist dahin beantwortet, daß er politisiert ist.“24 Im Gegenteil: Der Verfasser kommt zum Schluss, dass man „allgemein [sieht], wie schädlich einem Lande das Abgeben der Politik an einen Haufen Professionals ist. Der Schriftsteller muß Politik als einen integrierenden Teil des Geistigen, als wesentliche Äußerung des Geistes erfassen.“25 In Döblins Interpretation dient also der Schriftsteller als Bürge für eine
23 Ebd., S. 107. 24 Döblin, Alfred: Schriftsteller und Politik, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 233–235, hier S. 233 f. 25 Ebd., S. 234.
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rechtschaffene und humanistische Politik, die seiner Auffassung nach eher kultureller als bürokratischer Natur sein solle. In dieser Hinsicht betreibe der Intellektuelle Politik, ohne politisiert im Sinne der Parteien zu sein.
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Die Schriften der frühen 1930er Jahre: Wissen und Verändern! und Unser Dasein
In Döblins Augen offenbart sich die sozialistische Weimarer Republik als eine auf dem Parteiensystem und dem ideologischen Denken fundierte politische Ordnung, in welcher die Bevölkerung keine reale Möglichkeit habe, sich an der politischen Praxis zu beteiligen. In den frühen 1930er Jahren führt diese Enttäuschung gegenüber der neuen Regierung zu der Etablierung und Behauptung einer Einstellung, welche einen starken utopischen Charakter hat und mit naturphilosophischen Überlegungen eng verbunden ist. Zur Auseinandersetzung mit dieser Phase von Döblins politischem Denken sind zwei Essays relevant: Wissen und Verändern! (1931) und Unser Dasein (1933). Beide in der Krisenzeit der Weimarer Republik geschrieben – Wissen und Verändern! entsteht 1930, Unser Dasein vorwiegend 1932 –, behandeln diese Werke unterschiedliche Fragen. Während in Wissen und Verändern! auf die Frage nach der geistigen Positionierung der Elite der Intellektuellen angesichts der politisch chaotischen Atmosphäre am Ende der Weimarer Republik eingegangen wird, geht es in Unser Dasein um nichts Geringeres als die Frage nach dem menschlichen Dasein – eine Frage, die Döblin von einer philosophisch-anthropologischen Perspektive aus behandelt. Trotz dieses radikalen inhaltlichen Unterschieds liegt beiden Werken jene Döblin’sche Auffassung des wahren politischen Menschen als eines „freie[n] natürliche[n] Menschen“26 zugrunde, aus welcher sich seine politische Einstellung der späteren Weimarer Republik ableiten lässt. Den Anlass zu Wissen und Verändern! gibt Döblin der 1930 in Das Tage-Buch erschienene offene Brief von Gustav René Hocke, welcher sich an Döblin wendet, um Ratschläge für das richtige Handeln der Intellektuellen in der damaligen geistigen Krisenzeit zu erhalten.27 Döblin gestaltet seine Antwort in Form von offenen Briefen und lässt sie wiederum in Das Tage-Buch veröffentlichen.28 Nach kurzer
26 Döblin, Alfred: Der deutsche Maskenball. Von Linke Poot/Wissen und Verändern!, hg. von Walter Muschg (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), Olten/Freiburg i. Br. 1972, S. 206. 27 Döblin, Alfred: Offene Antwort an einen jungen Menschen, in: Das Tage-Buch 27 (1930), S. 1061–1070, hier S. 1061–1063. 28 Vgl. ebd., S. 1063–1070; Döblin, Alfred: Führer für junge Wanderer durchs Labyrinth. II. Materialismus und „Geistigkeit“, in: Das Tage-Buch 34 (1930), S. 1338–1344; Döblin, Alfred: Führer für junge Wanderer durchs Labyrinth. III. Der wahre politische Ort der deutschen Geistigen, in: Das
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Zeit entsteht aus diesen Aufsätzen das Buch Wissen und Verändern!. Dort vertritt Döblin die These, dass das Denken im Sinne politischer Aktionen Vorrang vor der Tat haben solle. Mit dieser Auffassung beabsichtigt er, das Denken, unter welchem er das freie und individuelle Denken, den kritischen Blick und das Erkennen des Lebens in seiner Ganzheit versteht, zu rehabilitieren und es zur „schwere[n], seltene[n] Aktion“29 zu erheben. Zur Entfaltung seiner Kritik an dem vom ideologischen Glauben diktierten politischen Handeln führt Döblin die marxistische Ideologie als Beispiel an, welche in diesem Werk seine eigentliche Zielscheibe ist. Insbesondere den Gedanken des Klassenkampfes lehnt er ab. Döblin zufolge sei die Vorstellung, der Klassenkampf könne die klassenlose Gesellschaft und den Sozialismus zur Folge haben, inakzeptabel, denn der Klassenkampf wurzele im gewalttätigen Fundament der Revolution. Im Gegensatz zur russischen Lösung plädiert Döblin für eine Art Ursozialismus, einen Sozialismus, welcher als „reine Kraft“30 zu verstehen sei und auf die Verteidigung der Menschenrechte ziele: „Freiheit, spontaner Zusammenschluß der Menschen, Ablehnung jedes Zwanges, Empörung gegen Unrecht und Zwang, Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung“31 sind seiner Meinung nach die wahren Ideale des Sozialismus. Döblins Antwort auf Hockes Bitte um geistige Hilfe besteht also in einer leidenschaftlichen und an die gesamte Elite der Intellektuellen gerichteten Bitte, an einer „menschliche[n] Position“32 festzuhalten, die über die Frage der Klassengesellschaft hinauszugehen vermöge. Diese Vorstellung des humanistischen Sozialismus geht mit einer radikalen Gesellschaftskritik anarchistischer Natur an der auf dem Parteiensystem gegründeten und höchst bürokratisierten Massendemokratie einher.33 Dieses anarchistische Element ist sowohl in Wissen und Verändern! als auch in Unser Dasein anzutreffen. So fordert Döblin in Wissen und Verändern! eine „Regeneration der Gesellschaft“,34 die durch den
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Tage-Buch 36 (1930), S. 1421–1427; Döblin, Alfred: Führer für junge Wanderer durchs Labyrinth. IV. Das Gesicht gegen die Front der Scheinbürger, in: Das Tage-Buch 41 (1930), S. 1638–1645. Döblin: Wissen und Verändern!, Anm. 26, S. 135. Ebd., S. 143. Ebd., S. 141. Ebd., S. 142. Zum Thema des Einflusses der anarchistischen Literatur auf Döblins Denken siehe: Köhn, Barbara: Alfred Döblins provokatorische Beurteilung deutscher politischer Institutionen zum Zweck institutioneller Erneuerung, in: Wolf, Yvonne (Hg.): Alfred Döblin zwischen Institution und Provokation. Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium, Mainz 2005, Bern u. a. 2007, S. 99–137, hier S. 132 f.; Althen, Christina/Keil, Thomas: Nachwort, in: Döblin, Alfred: Unser Dasein, hg. von Dens. (Gesammelte Werke 11), Frankfurt a. M. 2017, S. 501–520, hier S. 501–508; Qual, Hannelore: Natur und Utopie. Weltanschauung und Gesellschaftsbild in Alfred Döblins Roman „Berge, Meere und Giganten“, München 1992. Döblin: Wissen und Verändern!, Anm. 26, S. 263.
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„Abbau der Öffentlichkeit“,35 die Ausrottung der Bürokratie und die „Wiederherstellung eines wirklichen gesellschaftlichen Lebens“36 zu schaffen sei. Auf eine ähnliche Weise warnt er in Unser Dasein vor dem „Moloch Öffentlichkeit“37 – er rät dem Leser, sich „vor der ‚Öffentlichkeit‘, Organisationen, Kollektiven [zu] hüten!“38 –, außerdem äußert er seinen Widerwillen gegenüber der politischen Ordnung des Großstaates39 und appelliert mit drastischen Worten an die Verantwortung des Individuums gegenüber der Gesellschaft. Dieses idealisierte Demokratieverständnis, oder anders gesagt, diese Vision der demokratischen Gemeinschaft als spontanem Zusammenschluss von freien verantwortlichen Individuen hat ein starkes naturphilosophisches Fundament. Döblin, der sich intensiv mit der Naturphilosophie beschäftigt, macht daraus keinen Hehl: 1931 schreibt er über die Entstehung seines Wissen und Verändern!, dass sich dabei „das Zentrum aller [seiner] Erwägungen“40 in dem „naturalistischen Gedanken“41 formuliert habe. Die Realisierung des Essays sei „von der naturalistischen Basis“42 ausgegangen; sein Ziel sei die „Entfaltung und Darstellung des natürlichen gesellschaftlichen Menschen“43 gewesen. Noch deutlicher offenbart sich das Bündnis zwischen naturphilosophischen und politischen Überlegungen in Unser Dasein. Dort definiert der Autor den Menschen als „Stück und Gegenstück der Natur“:44 Der Mensch sei ein Abkömmling der sinnhaften natürlichen Ureinheit, unterscheide sich aber von anderen Naturelementen durch sein Erkenntnisvermögen. Wegen dieser ursprünglichen Lossagung von der beseelten Natur stehe der Mensch in einer andauernden Spannung zwischen Individuation des Ich und Anonymität der Natur, zwischen Geist und Körper. Wenn einerseits die Unmöglichkeit, sich mit dem natürlichen Urprinzip wiederzuvereinigen, die Ursache der menschlichen Tragik und Unzufriedenheit sei, habe sie andererseits in Hinblick auf das menschliche Handeln eine entscheidende Rolle, denn nur aus dieser „unvollständigen Individuation“45
35 Ebd. 36 Ebd. 37 Döblin, Alfred: Unser Dasein, hg. von Walter Muschg (Ausgewählte Werke in Einzelbänden), Olten/ Freiburg i. Br. 1964, S. 418. 38 Ebd. 39 Mit dem Begriff Großstaat bezieht sich Döblin auf das den modernen europäischen Staaten zugrunde liegende politische Modell, so wie es sich nach den aufklärerischen Idealen in Europa durchgesetzt hat, vgl. Köhn: Alfred Döblins provokatorische Beurteilung, Anm. 33. 40 Döblin, Alfred: Nochmal: Wissen und Verändern!, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 266–290, hier S. 267. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 276. 44 Döblin: Unser Dasein, Anm. 37, S. 49. 45 Ebd., S. 70.
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ergebe sich der menschliche Wille nach dem Neuen, welcher als Voraussetzung für eine gesellschaftliche Veränderung gelte. Dass Döblins politischer Vorschlag einen vagen und höchst utopischen Charakter hat, liegt auf der Hand. Bei ihm ist die Kritik ohnehin besser ausformuliert als seine Vorschläge, welche in der Regel vage bleiben, und die Frage, wie das von ihm skizzierte politische Handeln zu verstehen sei, bleibt offen. Der schillernde Charakter seiner politischen Vision entging den Zeitgenossen nicht: Man werfe nur einen Blick auf die Titel einiger Rezensionen zu Wissen und Verändern! der damaligen Zeit, so etwa Kessers Das Labyrinth des Dr. Döblin46 oder Kracauers Was soll Herr Hocke tun?.47 Tatsächlich war es nicht Döblins Interesse, eine konkrete politische Struktur zu entwerfen, in welcher seine Utopie hätte verwirklicht werden können. In Wissen und Verändern! schreibt er Folgendes über seinen sozialistischen Vorschlag: Ich weiß, dies sind Wege des Sozialismus kaum für heute, kaum für morgen, für ein spätes Übermorgen; das kann jedoch nicht hindern, die Hauptaufgabe des Sozialismus, soweit er kämpft, zu sehen in der Niederringung der Macht- und Gewaltinstinkte von Menschen und Menschengruppen und in der systematischen Zerstörung des Nährbodens dieser Instinkte.48
Neben dem vordergründigen naturphilosophischen Charakter und dem entschlossenen Hang zum Utopischen unterscheidet sich Wissen und Verändern! auch durch die heftige Kritik an der marxistischen Ideologie von den früheren Schriften der 1920er Jahre. Döblin wendet sich aus einem sehr bestimmten Grund gegen die marxistische Lehre. Dadurch will er nicht nur eine dezidierte Antwort auf die Angriffe der Linkskurve gegenüber seinem Roman Berlin Alexanderplatz geben,49 sondern zielt vor allem darauf ab, durch seine Infragestellung des Marxismus den
46 Vgl. Kesser, Armin: Das Labyrinth des Dr. Döblin, in: Linkskurve 9 (1931), S. 28–30. 47 Vgl. Kracauer, Siegfried: Was soll Herr Hocke tun?, in: Ders.: Aufsätze 1927–1931, hg. von Inka Mülder-Bach (Siegfried Kracauer: Schriften 5.2), Frankfurt a. M. 1990, S. 301–307. 48 Döblin: Wissen und Verändern!, Anm. 26, S. 264. 49 Im Zuge der Veröffentlichung von Berlin Alexanderplatz (1929) war Döblin von einigen Vertretern der Linkskurve stark kritisiert worden. Die heftigsten Angriffe gingen von Klaus Neukrantz und Johannes R. Becher aus. Die Kritiken der beiden Intellektuellen, die für eine proletarische Literatur plädierten, hatten sich insbesondere auf Döblins Charakterisierung der Hauptfigur Franz Biberkopf gerichtet. Die Figur habe – so Neukrantz’ und Bechers Einwand gegenüber Döblin – mit der Gestalt eines klassenbewussten Arbeiters nichts zu tun; Döblins Buch verberge einen impliziten Angriff auf die These des organisierten Klassenkampfes. Döblin verteidigt sich gegen diese Angriffe zunächst durch seinen 1930 erschienenen scharfzüngigen Aufsatz Katastrophe in einer Linkskurve (Döblin, Alfred: Katastrophe in einer Linkskurve, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 247–253), daraufhin durch Wissen und Verändern!. Zum Thema der Auseinandersetzung zwischen
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Wahrheitsanspruch jeglichen ideologischen Denkens und, in weiterem Sinne, die eindimensionale und beschränkte Natur der an die Wissenschaft und Ökonomie gerichteten modernen Denkweise an die Oberfläche steigen zu lassen. Seine Kulturkritik am Marxismus lässt sich als Pauschalkritik an der damals gängigen Vorstellung deuten, laut welcher das Denken als ein auf unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit anwendbares Werkzeug gelte. Entgegen der Auffassung, dass das politische Handeln „Anwendung des Intellekts“50 bedeute, will Döblin dem freien Denken, dem als vieldimensionales Wesen aufgefassten Menschen Relevanz verleihen. Im Kapitel „Materialismus und ‚Geistigkeit‘“ von Wissen und Verändern! heißt es: Die Geistigen […], sie haben heute keine gute Stunde. Geistigkeit ist enorm diskreditiert. Sie wird von sämtlichen politischen Parteien diskreditiert, jede Partei hält den geistigen Menschen für den Ideologen ihrer sehr soliden Interessen und hat eine entschlossene materialistische Auffassung von der Geistigkeit. Von allen Seiten wird der Geistige, der Intellektuelle, der Arzt, Jurist, Student, Lehrer, Gelehrte, Künstler, Journalist, alles, was nicht an Maschine und Pflug steht, ermahnt, seinen wirtschaftlichen und politischen Ort zu erkennen, und ferner, seine Abhängigkeit von diesem Ort anzuerkennen, nämlich indem er Handlanger der Partei dieses Ortes wird.51
Da die politische Ideologie den Menschen aus einer einzigen Perspektive betrachte – im Falle des Marxismus aus der materialistisch-ökonomischen Perspektive –, erweise sie sich als eindimensionale Denkweise, die glaube, die endgültige Wahrheit bieten zu können. Diese Engstirnigkeit, aus welcher sich Realitätsentfremdung, Neigung zur Metaphysik, Heuchelei und schließlich Hochmut ergäben, wirft Döblin anderen Bereichen des Wissens pauschal vor. So etwa lautet seine Kritik an der zeitgenössischen Wissenschaft: „[Die Wissenschaft] denkt über einen kleinen Tisch hin und ist stolz dabei und merkt nicht, daß der größte Teil der Welt unter ihrem Tisch liegt.“52 Döblins unpolitische Haltung sowie die widersprüchliche Natur seiner Argumentation – einerseits wird dem Individuum Relevanz verliehen, andererseits dürfe es aber in die Welt nicht konkret eingreifen – hängen also mit seinem Verständnis der Welt und des Menschen als komplexer Realitäten zusammen und mit seinem Versuch, dem Leser viele Perspektiven zu bieten. Sein Polyperspektivismus, in dem
Döblin und der Linkskurve siehe Scimonello, Giovanni: Alfred Döblin e la crisi di Weimar, Mailand 1991. 50 Döblin: Nochmal: Wissen und Verändern!, Anm. 40, S. 276. 51 Döblin: Wissen und Verändern!, Anm. 26, S. 148. 52 Ebd., S. 133.
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er ohnehin von Nietzsche beeinflusst wird, kommt in seiner essayistischen Schreibweise deutlich zum Vorschein. Wie die Forschung richtig bemerkt, „behauptet [Unser Dasein] eine eigentümliche Stellung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft, politischer Theorie und Literatur“.53 Und in der Tat bildet die Einbeziehung literarischer Zwischenspiele in die philosophischen Überlegungen eines der interessantesten Elemente seines Essays: Dadurch vermag Döblin, seine theoretische Auffassung in die Praxis umzusetzen, dass Erkenntnis nur zu gewinnen sei, indem viele Dimensionen der menschlichen Existenz berücksichtigt werden.
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Die Exiljahre und die späte Zeit: Die Beschäftigung mit dem Thema Europa
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Döblin zwingt, zunächst nach Zürich, dann nach Paris und schließlich nach Los Angeles zu fliehen, bringt nicht wenige Änderungen in seinem Leben und Werk. Ins Zentrum seiner Schriften rücken nun das Thema des Nationalsozialismus und die Frage nach der Organisation Europas. In dieser Phase sind Appelle an die menschliche Vernunft und Friedensforderungen vorherrschend. An die Stelle der in den 1920er Jahren geübten Kritik an den modernen Demokratien tritt nun eine gewisse Offenheit gegenüber der politischen Praxis der europäischen Regierungen. Was ohne Zweifel auch in dieser Phase unverändert bleibt, ist Döblins Grundhaltung, das Politische aus einer kulturell-humanistischen Perspektive zu begreifen. Ein Beispiel dafür bildet der 1938 veröffentlichte Essay Prometheus und das Primitive, in welchem die Ursache der nationalsozialistischen Diktatur unter einem geschichtsphilosophischen Gesichtspunkt erforscht wird. In diesem Essay zeichnet der Autor den Verlauf der Entwicklungsgeschichte nach, in welchem sich die „prometheische Reihe“54 – die der Technik und des menschlichen Hochmuts – und die „primitive Reihe“55 – die der Religion und des Anhängens am Göttlichen – gegenüberstehen. Der Geschichtsverlauf wird als ein ständiger Wechsel dieser beiden Pole gelesen und der Nationalsozialismus wird als eine in die Irre geführte Erscheinungsform des Prometheischen definiert. Auch dieses Mal geht Döblins Reaktion auf die politischen Probleme der Zeit mit dem Vorschlag einer Mentalitätsänderung einher: Eine neue Menschlichkeit könne nur unter den „Opfern, [unter] den Leidenden, den Beherrschten, den Erniedrigten und Entstellten“56 entstehen. 53 Althen/Keil: Nachwort, Anm. 33, S. 519. 54 Döblin, Alfred: Prometheus und das Primitive, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 346–367, hier. S. 349. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 366.
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Die Einbeziehung der europäischen Dimension in Döblins politisches Denken hängt mit dessen Beteiligung an den Diskussionen zusammen, die in Paris unter den deutschen exilierten Intellektuellen (wie Willi Münzenberg, René Schickele, Arthur Koestler und Manès Sperber) stattfinden. Die von Münzenberg gegründete Wochenzeitung Die Zukunft wird zur Plattform dieser Diskussionen: Sie erscheint vom 12. Oktober 1938 bis zum 3. Mai 1940 und versteht sich als unabhängige Emigrantenzeitung, die Propaganda gegen die Nazis machen will und ein Programm für die Zeit nach dem Fall des NS-Regimes ausarbeiten will. Im Mittelpunkt der Überlegungen dieser Intellektuellen steht seit Beginn der Zeitungsgründung die Idee, dass ein neues Deutschland nur durch eine friedliche Koalition der europäischen Mächte verwirklicht werden könne; darauf weist der Untertitel der Zeitschrift, Ein neues Deutschland: Ein neues Europa!, deutlich hin. In dem Klima des drohenden Krieges wird die Zeitschrift weiterhin zum Sprachrohr der „Union Franco-Allemande – Deutsch-Französische Union“, deren Ziel es ist – so heißt es auf dem Titelblatt der Sondernummer vom 28. April 1939 –, „an die Möglichkeiten einer Zukunft zu denken, in der deutsch-französische Zusammenarbeit die Grundsteine der Organisation Europas, eines Europas der Freiheit, des Friedens und der Demokratie legen soll.“57 Döblin gehört zu den Mitgliedern der Union und bekennt sich zu diesen Idealen. In der erwähnten Sondernummer veröffentlicht er den Aufsatz Der Friede von morgen,58 eine pazifistische Schrift, in welcher er vor der Gefahr des drohenden Krieges warnt, auf die Relevanz einer europäischen Dimension aufmerksam macht und an die menschliche Vernunft appelliert. An dieser Stelle ist aber zu bemerken, dass sich Döblin der von Münzenberg gegründeten propagandistischen Zeitschrift hauptsächlich dazu bedient, um Vorabdrucke seiner Geschichtstrilogie November 1918. Eine deutsche Revolution zu veröffentlichen. Dies ist höchst bedeutend und stellt ein weiteres Zeugnis seiner unkonventionellen Interpretation des politischen Engagements dar; denn dadurch vertritt er erneut seine Überzeugung, dass man mit dem Mittel der Literatur Politik machen kann. Inwieweit der Döblin des Exils die Rolle Europas in Hinblick auf die Lage Deutschlands für grundlegend hält, weist auch die Schrift Programmatisches zu Europa (1940) hin. In dieser nur fragmentarisch gebliebenen Schrift bestätigt er das Grundprinzip seiner Politikauffassung, nämlich „daß der Mensch frei geboren ist und daß er ewige Rechte besitzt, die unveräußerlich sind“;59 ändert aber seine
57 Die Zukunft. Ein neues Deutschland: Ein neues Europa!, 28. April 1939, N. 17, S. 1, abgedruckt in: Die Zukunft. Organ der Deutsch-Französischen Union. Paris Oktober 1938–Mai 1940, hg. von Willi Münzberg, Vaduz 1978, S. 333. 58 Vgl. Döblin, Alfred: Der Friede von morgen, in: Die Zukunft, 28. April 1939, N. 17, S. 4, wieder abgedruckt in: Die Zukunft, Anm. 57, S. 336. 59 Döblin, Alfred: Programmatisches zu Europa, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 419–423, hier S. 419.
Alfred Döblins Reflexionen über Deutschland und Europa
Haltung den alliierten Mächten gegenüber grundsätzlich. Gerade England und Frankreich, die in den Schriften des Ersten Weltkriegs heftig kritisiert worden sind, werden nun als geeigneter Nährboden präsentiert, in dem die Keime eines „wirtschaftlichen und politischen Europas“60 endlich erblühen könnten. Die Realisierung des europäischen Projekts unter der Führung Englands und Frankreichs wird als eine konkrete Handlung gegen die „Angriffe[…] des Nazibolschevismus“61 betrachtet und entspricht in Döblins Vorstellung bestimmten Maßstäben: „Dieses Europa muß 1. stark, machtpolitisch, sein und 2. ein starkes ideelles Selbstbewußtsein haben. Es muß einen Missionswillen empfinden, der die alten, bisher nur demokratischen politischen Kräfte allgemein anspornt.“62 Politik und Humanismus gehen wiederum in diesem europäischen Programm miteinander einher, denn „[e]s handelt sich um wirkliche geistige Vorherrschaft, die sich der machtpolitischen anschließt.“63 Döblin bleibt seiner Position jenseits aller politischen Zugehörigkeit auch nach dem Zweiten Weltkrieg treu, als er nach Deutschland zurückkehrt. In dem Artikel Weg mit der Furcht! (1947), der in dem historischen Kontext der Londoner Konferenz entsteht, bekräftigt er seine Ablehnung der Ideologien, seine Hoffnung auf die Menschheit und seinen Glauben an den Frieden. Die Ideologien – so Döblin – schließen sich aus, aber die Bevölkerungen nicht; neben den zwei sich konfrontierenden Großmächten gebe es also noch eine dritte Großmacht und diese sei „die größte, sie [sei] anwesend, aber nicht sichtbar, es [sei] der Friedenswille der Völker, der echte, ehrliche und leidenschaftlich entschlossene“.64
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Schlussbemerkungen
Döblins disparate und teilweise widersprüchliche Überlegungen zur Politik und Gesellschaft weisen einen Experimentalismus auf, der allem Anschein nach nicht auf das literarische Schaffen im engen Sinne begrenzt bleibt. In seiner DöblinBiographie bemerkt Wilfried Schoeller, dass das politische Denken des Autors – vor allem in der Weimarer Zeit – durch „unermüdliche[] Suche und stete […] Verwerfung“65 gekennzeichnet sei, was zum Teil die Ambivalenz, die aus der Übersicht der bedeutsamsten Schriften der Kriegs- und Nachkriegszeit hervorgeht, erklärt:
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Ebd., S. 421. Ebd., S. 422. Ebd., S. 421. Ebd. Döblin, Alfred: Weg mit der Furcht!, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 444–446, hier S. 446. 65 Schoeller: Döblin, Anm. 14, S. 287.
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Auf der einen Seite zeigt sich Döblin von der Überlegenheit Deutschlands überzeugt, auf der anderen kritisiert er dessen Demokratie fast ebenso schonungslos wie jene anderer europäischer Länder; er setzt sich für sozialdemokratische Ideale ein, scheint sich jedoch nicht darum zu bemühen, einen konkreten Beitrag zur eigenen, deutschen Sozialdemokratie zu leisten; er verteidigt die freie Meinungsäußerung, verurteilt aber gleichzeitig sowohl die Pluralität der Parteien als auch die der Zeitungen.66 Durch solch eine nicht-lineare, sozusagen ‚wankelmütige‘ Vorgehensweise scheint Döblin gleichzeitig auch mit dem Begriff der Demokratie zu spielen, um sowohl dessen Potential als auch dessen Grenzen auszuloten: Der Leitfaden der Döblin’schen politischen Kritik ist die Anklage der Heuchelei von Institutionen, die sich als demokratisch ausweisen, aber dies durch ihre Taten verleugnen; entgegen diesem politischen Modell scheint der Autor in seinen Schriften die Alternative einer Demokratie aufzuzeigen, die offener als die politische im engeren Sinne ist, da sie auch dialektische Widersprüche zulässt. Eine solche Auffassung der Demokratie ist nur möglich, weil in Döblins politischen Überlegungen seine Weltanschauung ins Spiel kommt, nach welcher der Mensch in seiner Gesamtheit aufgefasst wird. In seinen theoretischen Schriften geht Döblin davon aus, dass die Welt viele Seiten hat und im ständigen Werden ist. Daraus zieht er die Folgerung, dass es keine allgemein gültige Wahrheit geben könne. Diese Überzeugung hindert ihn daran, sich auf konkrete Weise politisch zu positionieren und ein politisches Programm jeglicher Art zu unterstützen. Wenn Döblins Grundhaltung einerseits dem Leser keine Anhaltspunkte für das politische Handeln bietet, eröffnet sie andererseits eine utopische Ebene, einen hoffnungsvollen, nicht realisierbaren dritten Weg jenseits aller politischen Parteinahme, in welcher sich der Berliner Autor nach einer besseren Menschheit sehnt.
66 Im Essay Neue Zeitschriften (1919) behauptet Döblin nämlich: „Die Preßfreiheit wurde uns oft als die wichtigste Errungenschaft der Revolution angepriesen. Ich habe schon immer gefunden, daß zuviel Preßfreiheit besteht. […] [D]ie Masse ist wie ein Kind das Opfer dessen, der schön zu erzählen versteht […]“ (Döblin, Alfred: Neue Zeitschriften, in: Ders.: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Anm. 1, S. 83–98, hier S. 92). Dabei scheint er aber zu übersehen, dass er selbst fast ohne jegliche Einschränkung die Möglichkeit dazu hat, sowohl namentlich als auch – gleichzeitig – unter Pseudonym, die eigenen Meinungen zu veröffentlichen.
Tillmann Heise
Dorische Welt – Dorisches Europa? Ästhetischer Aristokratismus zwischen Poetologie und Weltanschauung in Gottfried Benns Essays 1933/34
Der Nationalsozialismus ist heute eine feststehende geschichtliche Erscheinung; seine Fundamente sind eingelassen in den glanz- und opferdurchtränkten Boden Europas. Er wächst, er richtet sich aus. Er wird Europa geben, und er wird aus Europa nehmen. Er wird die Fluten seiner ahnenschweren Vitalität durch abgelebte europäische Flächen ergießen, aber er wird sich auch einspinnen in dieses Erdteils alte Gesichte, denn seine Kraft ist sowohl treibend wie sammelnd, geschichtsgebunden wie revolutionär, und seine Tendenz im ganzen ungemein synthetisch.1
So eröffnete Gottfried Benn in seinem Vorwort den im Oktober 1934 erschienenen Essay-Band Kunst und Macht, die letzte Sammlung seiner in essayistischer Hinsicht hochproduktiven Schaffensphase der Jahre 1930 bis 1934.2 Nicht zuletzt angesichts des ersten Satzes kann es kaum verwundern, dass die fünf Texte des Bandes primär im Kontext von Benns Haltung zum NS-Regime perspektiviert wurden; so wie Benns Essayistik der Jahre 1933/34 insgesamt.3 Hingegen mag es angesichts des
1 Benn, Gottfried: Kunst und Macht. Vorwort [1934], in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 4: Prosa 2. Hg. von Gerhard Schuster in Verbindung mit Ilse Benn, Stuttgart 1989, S. 198–201, hier S. 198. Im Folgenden wird dieser Band der Sämtlichen Werke mit der Sigle „SW 4“ zitiert. 2 Vgl. die Bände Fazit der Perspektiven (Berlin 1930); Nach dem Nihilismus (Berlin 1932); Der neue Staat und die Intellektuellen (Stuttgart/Berlin 1933) und Kunst und Macht (Stuttgart/Berlin 1934). 3 Vgl. etwa Ansel, Michael: Zwischen Anpassung und künstlerischer Selbstbehauptung. Gottfried Benns Publikationsverhalten in den Jahren 1933 bis 1936, in: Martínez, Matías (Hg.): Gottfried Benn. Wechselspiele zwischen Biographie und Werk, Göttingen 2007, S. 35–70; Anz, Thomas: Benns Bekenntnisse zur expressionistischen Moderne und zum Nationalsozialismus, in: Reents, Friederike (Hg.): Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, S. 11–23; Eke, Norbert Otto: Gottfried Benns „Todessprung aus der Enttäuschung in den Faschismus“. Ein paradigmatischer Fall?, in: Benn Forum 4 (2014/15), S. 33–51; Fischer, Torben: „Der Drang der Schriftsteller, eine öffentliche politische Rolle zu spielen, ist die Ursache ihres Verfalls“. NS-Engagement, innere Emigration und Erinnerungsdiskurs bei Gottfried Benn, in: Delabar, Walter/Kocher, Ursula (Hg.): Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk (Moderne-Studien 2), Bielefeld 2007, S. 181–199; Hoffmann, Dieter: Totalität und totalitär. Gottfried Benn und die Expressionismusdebatte, in: Delabar, Walter/Kocher, Ursula (Hg.): Gottfried Benn (1886–1956). Studien zum Werk (Moderne-Studien 2), Bielefeld 2007, S. 37–50; Korte, Hermann: „Verfallskunst“ oder doch die letzte große Kunsterhebung Europas im frühen 20. Jahrhundert? Gottfried Benns Bekenntnis zum Expressionismus (1933), in: Benn Forum 4 (2014/15), S. 53–77.
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lexikalischen Befundes der zitierten Passage schon verwundern, dass eine andere Perspektive auf Benns essayistisches Schaffen dieser Zeit in der Forschung bisher noch kaum gewählt wurde: Fünf Mal taucht „Europa“ allein im ersten Absatz auf, in substantivischer, adjektivischer und synekdochischer Form („Erdteil“). Dennoch findet sich bislang keine Untersuchung, die sich systematisch Benns Reflexionen zum Thema Europa während seiner vielleicht öffentlichkeitswirksamsten Schaffensphase zu Beginn der 1930er Jahre widmet.4 Das mag auch daran liegen, dass Benn anders als essayistisch ebenso umtriebige Autoren wie Rudolf Pannwitz (Krisis der europäischen Kultur) oder Theodor Lessing (Europa und Asien. Untergang der Erde am Geist) keine Essays oder Weltanschauungsmonographien vorlegte, die „Europa“ prominent im Titel trugen.5 Auch in der eingangs zitierten Passage tritt nicht Europa, sondern der stets pronominalisierte „Nationalsozialismus“ als eigentlicher Akteur in Erscheinung, wenn auch in schon lexikalisch markierter enger Verbundenheit („eingelassen“, „einspinnen“) mit dem Kontinent. Dieser Befund kann als Ausgangshypothese für die folgenden Überlegungen dienen: Europa tritt in Benns Essayistik der Jahre 1933/34 zumeist eher sublim in Erscheinung und wird doch, sowohl in historischer wie auch in zukunftsgerichteter Perspektive, stets implizit und in wenigen Fällen auch sehr explizit mitreflektiert. Daher legt meine Untersuchung ein besonderes Augenmerk auf die spezifischen Schreibweisen, mit denen Europa verhandelt wird: auf Strategien argumentativer Persuasion und Formen interdiskursiver Verschränkung in den Einzeltexten sowie auf intratextuelle Verweisstrukturen zwischen den verschiedenen Essays. Damit soll auch auf ein von Michael Ansel diagnostiziertes Desiderat der Benn-Philologie reagiert werden, die sich der Essayistik zumeist mit politisch-ideologischem Interesse genähert hat, zulasten der formalästhetischen Aspekte der Texte.6 Anknüpfen möchte ich zudem an einen Ansatz Hans-Edwin Friedrichs, der Benns vielfach untersuchtes, an Nietzsche geschultes Erkenntnisprinzip des subjektiven ‚Perspektivismus‘ auf die Faktur essayistischen Schreibens überträgt und damit auch als literaturwissenschaftliche Kategorie anwendbar macht.7 Die Essays der Jahre 1933/34,
4 Allein für die Zeit des Frühexpressionismus untersucht Hermann Korte Benn im Kontext des kolonialistischen Europa-Diskurses, vgl. Korte, Hermann: „Europa, dieser Nasenpopel aus einer Konfirmandennase.“ Gottfried Benn und der koloniale Europa-Diskurs im literarischen Frühexpressionismus, in: Benn Forum 2 (2010/11), S. 3–29. 5 Vgl. Pannwitz, Rudolf: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg 1917; Lessing, Theodor: Europa und Asien. Untergang der Erde am Geist. 5., völlig neu bearb. Aufl., Leipzig 1930. 6 Vgl. Ansel, Michael: Art. ‚Essayistisches Schreiben‘, in: Hanna, Christian M./Reents, Friederike (Hg.): Benn-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2016, S. 294–296. 7 Vgl. Friedrich, Hans-Edwin: Physiognomik des essayistischen Ich. Zum Perspektivismus in Gottfried Benns Essayistik der 1930er Jahre, in: Ansel, Michael/Egyptien, Jürgen/Friedrich, Hans-Edwin (Hg.): Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 88), Leiden/Boston
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insbesondere jene aus dem Band Kunst und Macht, sollen in diesem Sinne hier verstanden werden als variierende Perspektiven auf einen gemeinsamen Reflexionsgegenstand: Europa. Angelehnt an Friedrich dienen die Essays dabei nicht in erster Linie als Steinbrüche für autorintentionale, politisch-ideologische Aussagen des empirischen Autors Gottfried Benn. Ziel ist also nicht, aus den in ihren Sujets und Reflexionshaltungen zum Teil sehr disparaten Essays ein kohärentes EuropaKonzept zu synthetisieren. Stattdessen richtet sich mein Blick besonders auf die Ambiguität essayistischer Reflexion in den unterschiedlichen Texten, die sich im Zusammenspiel der Perspektiven gegenseitig erhellen. So lassen sich die fünf Essays und Reden in Kunst und Macht, von denen die meisten bereits zuvor publiziert worden waren, grob auf drei Perspektiven aufteilen: Der Eröffnungsessay Dorische Welt wählt einen vordergründig kulturhistorischen Zugriff mit Schwerpunkt auf der griechischen Antike im fünften vorchristlichen Jahrhundert, der Expressionismus-Essay sowie die Reden auf Stefan George und Filippo Tommaso Marinetti blicken mit literarhistorischem bzw. -ästhetischem Interesse in die jüngste Vergangenheit und der Lebensweg eines Intellektualisten schließt den Band mit einer Montage aus autobiographischem Rückblick und Kulturdiagnostik. Ein besonderes Augenmerk soll im Folgenden auf dreien der Texte liegen, darunter mit dem Bekenntnis zum Expressionismus und Dorische Welt zwei in der Forschung vielfach diskutierte, wenn auch bislang meist unter anderen Fragestellungen behandelte Essays,8 sowie mit der Rede auf Stefan George ein tendenziell weniger stark beachteter Text.
2016, S. 160–176. Vgl. zum Perspektivismus bei Nietzsche überblicksartig Zittel, Claus: Art. ‚Perspektivismus‘, in: Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2011, S. 299–301 und zum produktionsästhetischen Rezeptionsphänomen in der Essayistik des frühen 20. Jahrhunderts Jander, Simon: Zwischen Auflösung und Setzung. Nietzsches Perspektivismus und die Reflexionsbewegungen in der Essayistik der Moderne, in: Braungart, Wolfgang/Kauffmann, Kai (Hg.): Essayismus um 1900 (Beihefte zum Euphorion 50), Heidelberg 2006, S. 139–156. 8 Vgl. zu Dorische Welt neben Crescenzi, Luca: Vor der Katastrophe. „Züchtung“ und „dorische Welt“ bei Gottfried Benn, in: Merlio, Gilbert/Raulet, Gérard (Hg.): Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewusstsein (Schriften zur politischen Kultur der Weimarer Republik 8), Frankfurt a. M. et al. 2005, S. 223–234 insb. die Studien von Gann, Thomas: Im Züchtungswahn? Gottfried Benns Dorische Welt, in: Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (Hg.): Wahn – Wissen – Institution. Bd. 1: Undisziplinierbare Näherungen, Bielefeld 2005, S. 147–171; Ders.: Divergente Antiken. Benns Dorische Welt, in: Benn Forum 4 (2014/2015), S. 99–113. Zum Bekenntnis zum Expressionismus vgl. besonders Korte: „Verfallskunst“, Anm. 3.
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1.
„Keine deutsche Frivolität“: Expressionismus als europäisches Phänomen
Den Auftakt bildet Benns Essay Bekenntnis zum Expressionismus, der im November 1933 als Verteidigungsschrift gegen die diffamierenden Angriffe des Balladendichters Börries von Münchhausen auf die expressionistische Schriftstellergeneration erschien. Der Text wurde daher zumeist vor dem Horizont der frühen NS-Kulturpolitik rezipiert, in der pro- und antiavantgardistische Fraktionen um Einfluss stritten.9 Dass Benn mit seiner Verteidigung der Avantgarde zeitgenössisch keineswegs allein dastand, haben unter anderem die Arbeiten von Thomas Anz und Hermann Korte bereits gezeigt.10 Allerdings ließe sich noch stärker als bisher auf eine gewisse Sonderstellung Benns innerhalb des Expressionismus-Diskurses hinweisen, die etwas mit der spezifisch europäischen Wendung seiner AvantgardeDeutung zu tun hat: Während zum Beispiel der Sprecher des NSD-Studentenbundes und prononcierte Expressionismus-Verfechter, Otto Andreas Schreiber, die Abkehr vom naturalistischen Darstellungsprinzip auf ein spezifisch deutsches metaphysisches Bedürfnis zurückführte,11 betont Benn entgegen dieser nationalen Vereinnahmung die konstitutive europäische Dimension des Expressionismus: Zunächst muss man einmal richtigstellen, daß der Expressionismus keine deutsche Frivolität war und auch keine ausländische Machenschaft, sondern ein europäischer Stil. Es gab in Europa von 1910 bis 1925 überhaupt kaum eine naive, d. h. gegenstandsparallele Gestaltung mehr, sondern nur noch die antinaturalistische. […] Der Ausbruch eines neuen
9 Vgl. Anz: Benns Bekenntnisse, Anm. 3; Dyck, Joachim: Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949, Göttingen 2006, S. 134–145; Hoffmann: Gottfried Benn und die Expressionismusdebatte, Anm. 3. Zu den Kontroversen in der frühen NS-Kulturpolitik vgl. die immer noch grundlegende Studie Brenner, Hildegard: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 167/168), Reinbek bei Hamburg 1963. 10 Anz: Benns Bekenntnisse, Anm. 3; Korte: „Verfallskunst“, Anm. 3. 11 Zentral ist in diesem Zusammenhang Schreibers Rede auf der vom NSD-Studentenbund organisierten, pro-expressionistischen Kundgebung „Jugend kämpft für deutsche Kunst“ an der Berliner Humboldt-Universität am 30. Juni 1933, vgl. Schreiber, Otto Andreas: Bekenntnis der Jugend zur deutschen Kunst, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 10. Juli 1933 (Ausgabe Groß-Berlin), S. 2. Wiederabgedruckt und kommentiert ist der Text bei Fleckner, Uwe/Steinkamp, Maike (Hg.): Gauklerfest unterm Galgen. Expressionismus zwischen „nordischer“ Moderne und „entarteter“ Kunst (Schriften der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ 9), Berlin/Boston 2015, S. 196–203. Für diesen Hinweis danke ich Nora Jaeger (Bonn/Bochum), die an einer kunsthistorischen Dissertation zu Otto Andreas Schreiber und der nationalsozialistischen Kunstpolitik arbeitet.
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Stils auf so breiter Front spricht ohne jede Erklärung für das vollkommen Autochthone, Elementare seiner Formen, für eine neue naturhafte Lage des europäischen Geschlechts.12
Die dreifache Betonung des europäischen Entstehungskontextes dient hier dazu, den Expressionismus weder als genuin deutsches noch als fremdes kulturelles Phänomen, sondern als Ausdruck einer grundlegenden weltanschaulichen und anthropologischen Wandlung in Europa sichtbar zu machen – und damit auch vor den diffamierenden Zuschreibungen als „entartet“ seitens der kulturpolitischen Front um Alfred Rosenberg in Schutz zu nehmen.13 Den künstlerischen Ausdruck dieses neuen europäischen Geistes, die „Wirklichkeitszertrümmerung“ (BzE 79), interpretiert Benn als Reaktion auf die geistesgeschichtliche Situation um 1900, auf die Krise der positivistischen Wissenschaften und den schleichenden Verlust ihres objektiven Wahrheitsanspruchs (vgl. BzE 81 f.). Der Expressionismus ist in der Lesart Benns damit nur vordergründig eine literarische Epoche oder ein ästhetisches Phänomen, im eigentlichen Sinne aber Symptom eines weltanschaulichen Aufbruchs gegen den „liberalistisch-individuellen Geist“ des „alte[n] Europa“ (BzE 86). Oder produktionsästhetisch gewendet: Benn exemplifiziert an einer literarischen Bewegung, in der er selbst ästhetisch sozialisiert wurde, einen abstrakten weltanschaulichen Wandel, erzeugt so mit Horst Thomé gesprochen Pseudo-Empirizität für ein schwer beschreibbares gedankliches Konstrukt und lässt dieses „sinnlich evident“ erscheinen.14 Und er variiert zudem im Laufe des Essays die Funktionalisierung dieser weltanschauungsliterarischen Schreibweise. Mit dem vorletzten von insgesamt fünf Kapiteln verschiebt sich nämlich der Fokus der Verteidigungsschrift: Benn verlässt den zeitlichen Rahmen des literarhistorischen Expressionismus, reflektiert über das Nachleben der expressionistischen Bewegung in der Gegenwart, beschwört – sich selbst dezidiert eingeschlossen – noch einmal das kollektive Gefühl der Generationenzusammengehörigkeit und elaboriert anhand des literarischen Sozialisationsprozesses der Expressionisten sein zwischen Poetologie und Anthropologie oszillierendes Programm der „Form“:
12 Benn, Gottfried: Bekenntnis zum Expressionismus [1933], in: SW 4, Anm. 1, S. 76–90, hier S. 78. Der Essay wird im Folgenden mit der Sigle „BzE“ und Seitenzahl im Fließtext zitiert. 13 Zu Rosenbergs diffamierender Hetze gegen Vertreter des Expressionismus vgl. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder, München 1995, S. 22–27 und 116–132 sowie Ketelsen, Uwe-Karsten: Literatur und „Drittes Reich“, Schernfeld 1992, S. 295 f. 14 Thomé, Horst: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp, in: Danneberg, Lutz/Vollhardt, Friedrich (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380, hier S. 353.
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Form und Zucht steigt als Forderung von ganz besonderer Wucht aus jenem triebhaften, gewalttätigen und rauschhaften Sein, das in uns lag und das wir auslebten, in die Gegenwart auf. Gerade der Expressionist erfuhr die tiefe sachliche Notwendigkeit, die die Handhabung der Kunst erfordert, ihr handwerkliches Ethos, die Moral der Form. Zucht will er, da er der Zersprengteste war; und keiner von ihnen, ob Maler, Musiker, Dichter, wird den Schluß jener Mythe anders wünschen, als daß Dionysos endet und ruht zu Füßen des klaren delphischen Gottes. (BzE 86 f.)
Diese Wendung Benns vom dionysischen zum apollinischen Kunstideal, allegorisiert im „klaren delphischen Gott“ Apollon, ist in der Forschung bereits verschiedentlich untersucht worden.15 Besonders überzeugend hat Gregor Streim sie als „anthropologische Ästhetik“ beschrieben, die „künstlerische Form als Manifestation eines metaphysischen Willensprinzips“ versteht.16 Neben den inhaltlichen Aspekten dieser Poetologie ist allerdings hier auch der formale Aspekt ihrer Herleitung innerhalb des Textes bemerkenswert: Das Form-Prinzip skizziert Benn am vorläufigen Endpunkt seiner Charakterisierung des Expressionismus, den er – wie gezeigt – ideengeschichtlich als ästhetischen Ausdruck eines Weltanschauungswandels gegen das liberale Europa des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ versteht. Die „Moral der Form“ ist daher ebenso Teil und Produkt eines europäischen Geisteslebens, wie es der Expressionismus gewesen war; sie tritt darüber hinaus gewissermaßen dessen Nachfolge an und wird damit auch für die zukünftige geistige, aber zunehmend auch politische Entwicklung Europas relevant. Denn im abschließenden fünften Kapitel des Essays, das den Blick dezidiert in die Zukunft richtet, leitet Benn wiederum aus dem zuvor elaborierten Prinzip der Form die anthropologischen und politischen Konturen des kommenden Europa her: [E]s geht hier um Verwandlung, ein neues Geschlecht steht Europa bevor. […] Was politisch geprägt werden wird, wird nicht die Kunst sein, sondern ein artneues, schon klar erkennbares Geschlecht. Es ist für mich kein Zweifel, daß es politisch in die Richtung jener ghibellinischen Synthese geht, von der Evola sagt, die Adler Odins fliegen den Adlern der römischen Legion entgegen. […] Mythologisch heißt das: Heimkehr der Asen, weiße Erde von Thule bis Avalon, imperiale Symbole darauf: Fackeln und Äxte, und die Züchtung der Überrassen, der solaren Eliten, für eine halb magische und halb dorische Welt. (BzE 89)
15 Immer noch einflussreich ist die ältere Studie von Wodtke, Friedrich Wilhelm: Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1963. Einen guten Überblick über die nachfolgenden Forschungen leistet außerdem Hanna, Christian M.: Art. ‚Antike und Mythos‘, in: Hanna/Reents (Hg.): BennHandbuch, Anm. 6, S. 315–320. 16 Streim, Gregor: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 49), Berlin et al. 2008, S. 348.
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Europa nähert sich Benn hier über eine avisierte Gruppe von Menschen, die er zweifach als „neues Geschlecht“ apostrophiert und die er über eine markierte intertextuelle Montage zu charakterisieren versucht. Denn die Bildlichkeit seiner Beschreibung leiht sich Benn vom italienischen Kulturphilosophen und Rassentheoretiker Julius Evola. Dieser hatte 1933 im Juli-Heft der Rundschauzeitschrift Europäische Revue die antiliberale und neoaristokratische Europa-Vision eines übernationalen, nach dem Führerprinzip strukturierten sakralen Reiches skizziert, die er synkretistisch gleichermaßen aus der nordischen Mythologie, dem römischantiken Imperialismus und dem mittelalterlichen Ghibellinismus herleitet.17 Die der nordisch-germanischen Mythologie entlehnten Sujets – Odin als zentrale Göttergestalt und Oberhaupt des kriegerischen germanischen Göttergeschlechts der Asen, die sagenhaften Orte Thule und Avalon sowie die imperiale Symbolik der „Fackeln und Äxte“ – evozieren die Vorstellung einer gleichermaßen vorrational im Mythos verhafteten wie heldisch-kriegerischen Gruppe von Menschen. Zugleich rekurriert Benn mit den Stichworten „Überrassen“ und „solare Eliten“ auf den transzendentalen Rassen-Aristokratismus Evolas, der das Konzept ‚Rasse‘ weniger biologistisch denn anthropologisch als Inbegriff eines geistig-kulturellen Neu-Adels konstruiert.18 Das „neue Geschlecht“, das Europa bevorsteht und das Benn in die Tradition einer weltanschaulich überbauten, ‚apollinisch‘ codierten „Moral der Form“ (BzE 86) einschreibt, lässt sich nicht zuletzt über diesen intertextuellen Hinweis interpretieren als die Vorstellung einer neuen aristokratischen Elite. Angelehnt an Streim („anthropologische Ästhetik“)19 könnte man von einer ästhetischen Anthropologie, präziser: von einer Form des ästhetischen Aristokratismus sprechen, der eine Elite an der Schwelle von Ästhetik und Politik imaginiert, die auch jenseits der Kunst politische Macht- und Gestaltungsansprüche erheben kann und die mithin über die personenbezogene Größe des „Geschlechts“ hinaus eine neue
17 Vgl. Evola, Julius: Die Unterwelt des christlichen Mittelalters, in: Europäische Revue 9/7–8 (Juli/ August 1933), S. 409–419 und 549–553. 18 Vgl. zu Evolas Konzept eines ‚Rassen-Aristokratismus‘ insb. Gregor, A. James: Mussolini’s Intellectuals. Fascist Social and Political Thought, Princeton 2005, dort besonders das Kapitel „Doctrinal Interlude: The Initiatic Racism of Julius Evola“, S. 191–222. Zur komplexen Weltanschauung Evolas insgesamt Furlong, Paul: Social and Political Thought of Julius Evola (Routledge Studies in Extremism and Democracy 13), London et al. 2011. Vgl. zum größeren Kontext intellektueller Neuadelsdiskurse im frühen 20. Jahrhundert Gerstner, Alexandra: Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008 und aus interdisziplinärer Perspektive die aus einem Marburger DFG-Projekt zu Semantiken des ‚Adels‘ hervorgegangenen Bände Conze, Eckart et al. (Hg.): Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945 (Adelswelten 1), Köln/Weimar/Wien 2013 und Ders. et al. (Hg.): Aristokratismus. Historische und literarische Semantik von ‚Adel‘ zwischen Kulturkritik der Jahrhundertwende und Nationalsozialismus (1890–1945), Münster/New York 2020. 19 Streim: Ende des Anthropozentrismus, Anm. 16, S. 348.
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„Welt“ konstituieren wird: eine „halb magische“ – das Attribut borgt sich Benn von Evola –, aber eben auch eine „halb dorische Welt“. Die Passage stellt Benns Expressionismus-Essay damit neben der intertextuellen Verweis-Struktur auf den Evola-Aufsatz in der Europäischen Revue zugleich in eine intratextuelle Relation zum späteren Essay Dorische Welt, der im Übrigen seinerseits zuerst in der Europäischen Revue erschien.20 Die beiden Verweisstrukturen hängen also womöglich eng miteinander zusammen: Intratextuell eröffnet der Expressionismus-Essay einen Deutungshorizont für den späteren Essay Dorische Welt, indem er dessen titelgebende kulturhistorische Chiffre bereits im November 1933 nutzt, um seine schrittweise aus dem Expressionismus entwickelte EuropaVision in einem Begriff zu abstrahieren; und intertextuell greift der Essay gerade an der Stelle, an der Europa verhältnismäßig explizit in zukünftiger Perspektive thematisiert wird, auf einen Text aus der „bedeutendste[n] deutschsprachige[n] Europazeitschrift der Zwischenkriegszeit“ zurück,21 der Europäischen Revue. Freilich soll damit kein exklusives Ableitungsverhältnis zwischen der weltanschaulich dem ‚konservativ-revolutionären‘ Spektrum nahestehenden Revue und Benns EuropaReflexionen insinuiert werden. Es ist hinreichend erforscht, wie virtuos Benn in seinen Essays unterschiedlichste Quellen zusammenmontierte.22 In Ergänzung dazu lässt sich aber festhalten, dass eben auch die Europäische Revue gerade in den Jahren 1933/34 an Benns interdiskursivem Montage-Spiel teilhatte und er den in der Zeitschrift geführten Europa-Diskurs mitverfolgen konnte.
20 Vgl. Benn, Gottfried: Dorische Welt, in: Europäische Revue 10/6 (Juni 1934), S. 364–376. 21 Müller, Guido: Art. ‚Europäische Revue‘, in: Schrenck-Notzing, Caspar von (Hg.): Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996, S. 162 f., hier S. 162. Vgl. zur Europäischen Revue außerdem Bock, Manfred: Das „Junge Europa“, das „andere Europa“ und das „Europa der weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925–1939, in: Grunewald, Michel (Hg.): Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933–1939) (Convergences 11), Bern et al. 1999, S. 311–351; Müller, Guido: Von Hugo von Hofmannsthals „Traum des Reiches“ zum Europa unter nationalsozialistischer Herrschaft. Die Europäische Revue 1925–1936/44, in: Kraus, Hans-Christof (Hg.): Konservative Zeitschriften zwischen Kaiserreich und Diktatur. Fünf Fallstudien (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus 4), Berlin 2003, S. 155–181; Paul, Ina U.: Konservative Milieus und die Europäische Revue (1925–1944). In: Grunewald, Michel/Puschner, Uwe (Hg.): Das konservative Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (1890–1960) (Convergences 27), Bern 2003, S. 509–555. 22 Vgl. dazu überblicksartig Kiesel, Helmuth: Art. ‚Schreibweisen und Techniken‘, in: Hanna/ Reents (Hg.): Benn-Handbuch, Anm. 6, S. 286–294 und weiterhin die ältere, aber sehr gründliche Studie Hof, Holger: Montagekunst und Sprachmagie. Zur Montagetechnik in der essayistischen Prosa Gottfried Benns, Diss. masch. Mainz 1991.
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2.
Zwischen Dichter-Nekrolog und Europa-Vision: Die Rede auf Stefan George (1934)
Dass Benn die Revue in den Jahren 1933/34 regelmäßig zur Kenntnis genommen haben muss, lässt sich auch im zweiten Text nachverfolgen, in dem das Syntagma „dorische Welt“ auftaucht, schon bevor der gleichnamige Essay erscheint: in der Rede auf Stefan George, die Benn für einen Gedenkabend der Deutschen Akademie der Dichtung zu Ehren des im Dezember 1933 verstorbenen Schriftstellers verfasst, dann aber nicht gehalten hatte.23 Der Text erschien somit erstmals im April 1934 in der Zeitschrift Die Literatur.24 Am Ende dieses Abdrucks nennt Benn als eine seiner Quellen Gustav Steinbömers Nekrolog Die Gestalt Stefan Georges, der 1934 im Januar-Heft der Europäischen Revue erschienen war und in dem Steinbömer Georges Leben als Wandlung vom europäischen zum genuin völkisch-deutschen Dichter deutet.25 Beinahe wie eine Kontrafaktur liest sich dagegen Benns Rede, wenn sie George zwar ebenso als gleichermaßen deutschen wie europäischen Dichter charakterisiert, Georges Verdienst aber nicht in der Läuterung vom Europäer zum Deutschen identifiziert, sondern umgekehrt die Bedeutung Georges gerade in seinem Wirken als europäisches „Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen“ situiert.26 So perspektiviert die Rede George primär im europäischen Kontext, wenn sie „diesem deutschen Schicksal und seinem europäischen Sinn“ (StG 100) nachzuspüren versucht. Über die historische Analogiebildung zur Schlacht von Salamis (vgl. StG 100 f.) verleiht der Text dem Verstorbenen innerhalb der kulturellen Entwicklung Europas einen Rang von geradezu epochaler Bedeutung, die er direkt aus dessen literarischem Vermächtnis im Zeichen des europäischen l’art pour l’art ableitet: [D]ieser Wille zur Form, dieses neue Formgefühl, das ist nicht Ästhetizismus, nicht Intellektualismus, nicht Formalismus, sondern höchster Glaube […]. Es ist das Formgefühl, das die große Transzendenz der neuen Epoche sein wird, die Fuge des zweiten Zeitalters, das erste schuf Gott nach seinem Bilde, das zweite der Mensch nach seinen Formen, das Zwischenreich des Nihilismus ist zu Ende. (StG 110)
23 Vgl. den Kommentar zu Benn, Gottfried: Rede auf Stefan George [1934], in: SW 4, Anm. 1, S. 548–557, hier S. 548. 24 Vgl. Benn, Gottfried: Rede auf Stefan George, in: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde 36/7 (April 1934), S. 377–382. 25 Vgl. Steinbömer, Gustav: Die Gestalt Stefan Georges, in: Europäische Revue 10/1 (Januar 1934), S. 1–6. 26 Benn, Gottfried: Rede auf Stefan George [1934], in: SW 4, Anm. 1, S. 100–112, hier S. 102. Die Rede wird im Folgenden mit der Sigle „StG“ und Seitenzahl im Fließtext zitiert.
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Hier verschiebt sich beinahe unmerklich der Fokus der essayistischen Reflexion von der Kunst in den geistig-weltanschaulichen Bereich, die Form avanciert vom Kunst- zum Glaubensprinzip. Benn knüpft strukturell an die Reflexionsbewegung des Expressionismus-Essays an, exemplifiziert auch hier anhand eines Dichters sein Form-Prinzip und lädt die poetologische Lesart des antinaturalistischen Kunstideals schrittweise weltanschaulich auf. Wieder verschiebt sich dabei die zeitliche Betrachtungsperspektive von der Vergangenheit in die Zukunft: vom nekrologischen Rückblick zur implizit programmatischen Zukunftsvision eines neuen europäischen Zeitalters, die im Ton erkennbar den prophetischen Gestus des poeta vates George beleiht: Abendländischer Geist, der neue, der wird sprechen aus jener Welt der ungeheuersten Klarheit, die sich vorbereitet, die sich nähert, ihre Linien sind Verachtung jedes Geschöpfes der Furcht, des Hoffens und des Sehnens, feste bezwingende Gesetze, objektive Machtverhältnisse, Klarheit, Unterschied, Tat. Eine Welt, die sich gegen das Mütterliche richtet, das Faustische, das Christliche, gegen alles Allzufrühe und Allzuspäte, es ist dorische Welt. Form und Schicksal. Moira –: der jedem zugewiesene Teil, der Raum des Lebens, den die Arbeit füllt am Staat und am Marmor. Zucht und Kunst, – die beiden Symbole des neuen Europas, wenn es noch ein neues geben soll, da steht George, und es gibt kein Zurück. (StG 111)
Über die verschachtelte intra- und intertextuelle Verweisstruktur – von der GeorgeRede auf den Expressionismus-Essay und von dort auf Evola – wird die skizzierte „dorische Welt“ auch hier lesbar als eine an Evolas Aristokratismus angelehnte Europa-Vision, die mit dem „Mütterlichen“, „Faustischen“ und „Christlichen“ wichtige Feindkonstruktionen von dessen Weltanschauung alludiert.27 Allerdings ist neben der ideengeschichtlichen Referenz hier ebenso die formalästhetische Textgestalt für die Umrisse der „dorischen Welt“ von Bedeutung. Einerseits beschreibt die Passage, markiert durch die futurische Verwendung des Verbs „sprechen“ sowie die Verben „vorbereiten“ und „nähern“, einen zukünftigen Zustand, der noch nicht eingetreten ist, entzeitlicht diesen Zustand aber zugleich, indem anders als zuvor im Text nicht mehr von der „neuen Epoche“ (StG 110) die Rede ist, sondern in leitmotivischer Verwendung gleich drei Mal von der „Welt“: Die Zukunft überführt Benn hier von einer zeitlichen in eine räumliche Dimension, die wiederum ausnahmslos in vergegenwärtigendem Präsens konturiert wird. Zugleich bleibt die inhaltliche Gestalt dieser kommenden Welt abstrakt, wie lexikalisch schon die graphische Metapher der „Linien“ andeutet: Darin wird man freilich weniger ein Manko von Benns Europa-Reflexion als dessen ganz bewusst und vielfach in seiner Essayistik
27 Vgl. Furlong: Social and Political Thought, Anm. 18.
Dorische Welt – Dorisches Europa?
praktizierte Schreibstrategie der Abstraktion erkennen müssen, die besonders auf die assoziative Kraft asyndetischer Substantivreihungen setzt.28 Streim hat auf die Nähe Benn’scher Schreibverfahren zu Wilhelm Worringers Kunstphilosophie der Abstraktion von 1908 hingewiesen,29 die ebenso wie Benns Form-Poetologie anthropologisch grundiert ist und eine kulturkritisch inspirierte Ästhetik der Erhabenheit ventiliert.30 Diese will im Medium dezidiert antinaturalistischer, künstlerischer Abstraktion die Kontingenzerfahrungen der Moderne überwinden, das heißt, eine neue ‚Wirklichkeit‘ ohne die störenden und verwirrenden Einflüsse von Leben und menschlicher Subjektivität kreieren. Sie bedient damit, wie Claudia Öhlschläger herausgearbeitet hat, die „zeitgenössische Sehnsucht nach allgemeingültigen und überzeitlichen Werten“.31 Derart verwoben zeigen sich Ästhetik und Weltanschauung auch in der oben zitierten Passage: Die verbelliptischen, statischen Substantivketten bilden in performativer Hinsicht die abstraktionsästhetische Entsprechung der auf semantischer Ebene evozierten Welt und geben damit gewissermaßen die Deutungsrichtung vor. „[F]este bezwingende Gesetze, objektive Machtverhältnisse, Klarheit, Unterschied, Tat“: Der ästhetische Aristokratismus der Abstraktion findet seine weltanschauliche Entsprechung in den Attributen der „dorischen Welt“, die in ihrer quasi-anthropologischen Allgemeinheit jenseits der Kunst auf ein bestimmtes Menschenbild und implizit ebenso auf politische und soziokulturelle Ordnungsmodelle verweisen: Diese richten sich mit mütterlicher Nachsichtigkeit, faustischer Widersprüchlichkeit, christlicher Barmherzigkeit und nietzscheanisch gelesener, allzumenschlicher Unzulänglichkeit gegen alle Ausdrucksformen humanen Mitfühlens und individueller Unsicherheit. Dagegen codieren die Epitheta „fest bezwingend“ und „objektiv“ antipluralistische und autoritäre Modelle sozialer Organisation, die Folgsamkeit einfordern und sich dem individuellen Zugriff entziehen; die Substantive „Unterschied“ und „Tat“ heben auf das in ‚konservativ-revolutionären‘ Kreisen populäre Ordnungsmodell der Ungleichheit32 ab sowie auf ein weltanschaulich gegen Intellektualismus gerichtetes Ethos unsentimentalen beziehungsweise ‚kalten‘ Handelns.33 Der ästhetische
28 Vgl. Ansel: Essayistisches Schreiben, Anm. 6, S. 295. 29 Diese entwickelte er maßgeblich in seiner 1907 abgeschlossenen und 1908 erschienenen Dissertation, vgl. Worringer, Wilhelm: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 1908. 30 Siehe hierzu Streim: Ende des Anthropozentrismus, Anm. 16, S. 347. 31 Öhlschläger, Claudia: Wilhelm Worringer und der Geist der Moderne, München 2005, S. 21. 32 Vgl. dazu grundlegend Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001. 33 Vgl. zum weltanschaulich überformten Attribut der ‚Kälte‘ in der Zwischenkriegszeit immer noch maßgeblich Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994.
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Aristokratismus der Form spiegelt sich im anthropologischen und soziokulturellen Aristokratismus der Haltung.34 Weder im Expressionismus-Essay noch in der George-Rede beschreibt Benn mit dem Syntagma „dorische Welt“ eine kunst- und kulturhistorische Epoche oder einen griechisch-antiken Volksstamm, verwendet damit keine der beiden hergebrachten Bedeutungsdimensionen des Begriffs „dorisch“. Kein bestimmter Artikel verweist auf ein singuläres historisches Phänomen, es ist nicht die „dorische Welt“ und auch nicht „dorische Zeit“ oder „dorische Epoche“, womit ebenso eine zeitlich spezifizierbare, begrenzte und abgeschlossene Phase europäischer Kulturgeschichte konnotiert wäre.35 Stattdessen fungiert die „dorische Welt“ in beiden Fällen eher als antikisierende Allegorie für ein nicht auf die Antike begrenztes anthropologisches Prinzip, das sich gleichermaßen künstlerisch, weltanschaulich, politisch und soziokulturell manifestieren und das künftige Europa grundlegend strukturieren und organisieren kann.36 Von diesem Befund ausgehend soll nun im dritten Teil der Blick auf den Essay Dorische Welt selbst gerichtet werden, der anders als die beiden Vorgängertexte sehr ausführlich griechisch-antike Sujets bemüht, den Essay-Band Kunst und Macht nach dem Vorwort eröffnet und dessen Titel zudem in der Unterüberschrift wiederaufgreift: Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht.
3.
Antike Silhouetten. Blicke in Vergangenheit und Zukunft im Essay Dorische Welt (1934)
Über eben diese Rollenverteilung zwischen Kunst und Macht hat sich die BennPhilologie lange Zeit trefflich gestritten, insbesondere über die Frage, ob Benn in Dorische Welt nun eine willfährige Allianz der Kunst mit dem NS-Regime einfordert oder im Gegenteil bereits die regressive Position der Kunstautonomie präludiert.37 Auch hier hat Streim eine Deutung angeboten, die abseits dieses Disputs noch einen weiteren Zugang zum Essay öffnet, indem er darauf hingewiesen hat, dass Dorische Welt das Verhältnis von Kunst und Macht grundsätzlich auf zwei verschiedenen
34 Man kann Benns ästhetischen Aristokratismus somit sicher zu einer tendenziell „totalitären“ Spielart der ‚Klassischen Moderne‘ rechnen, vgl. Hebekus, Uwe/Stöckmann, Ingo (Hg.): Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933, München/Paderborn 2008. 35 Vgl. Gann: Divergente Antiken, Anm. 8, S. 100. 36 Auf das Aktualisierungspotential antiker Sujets bei Benn hat bereits hingewiesen Pittrof, Thomas: Gottfried Benns Antikerezeption bis 1934, in: Aurnhammer, Achim/Pittrof, Thomas (Hg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-Rezeption um 1900, Frankfurt a. M. 2002, S. 471–501. 37 Vgl. für erstere Position stellvertretend Kittler, Friedrich: Benns Lapidarium, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 5–14, für zweitere Hillebrand, Bruno: Benn, Frankfurt a. M. 1986.
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reflexiven Ebenen verhandelt: Auf einer empirischen beziehungsweise realpolitischen Ebene sind Macht, hier verstanden als staatliche Autorität, und Kunst recht deutlich voneinander geschieden und stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander,38 das Benn in Dorische Welt auf die bekannte Formel bringt: „[D]er Staat macht das Individuum kunstfähig, aber übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie. Sie können beide gemeinsame Erlebnisse mythischen, volkhaften, politischen Inhalts haben, aber die Kunst bleibt für sich die einsame hohe Welt.“39 In einem anthropologischen Sinne dagegen sind Macht und Kunst grundsätzlich identisch, sofern sie idealtypisch verstanden werden als zwei Ausdrücke eines beiden zugrunde liegenden anthropologischen Prinzips: dem der ‚Form‘,40 wie es Benn bereits im Expressionismus-Essay und der George-Rede elaboriert und als „dorische Welt“ allegorisiert. So verstanden würde es mit Blick auf den Essay Dorische Welt zu kurz greifen, die im Untertitel zur Untersuchung ausgeschriebene Beziehung von Kunst und Macht gleichzusetzen mit dem Verhältnis zwischen nationalsozialistischem Staat und dem künstlerisch-literarischen Feld in Deutschland. Das soll freilich keineswegs verkennen, dass sich in dem Essay zahlreiche Allusionen auf weltanschauliche und anthropologische Ideologeme des NS-Regimes finden lassen.41 Allerdings scheinen Benns Reflexionen darüber hinaus noch auf eine allgemeinere Ebene abzuzielen, sowohl in anthropologischer als auch in geographisch-kulturräumlicher Hinsicht, wie der Verweis auf die beiden Vorgängertexte gezeigt hat. Die unterschiedlichen Essays konstituieren somit nicht nur multiple Perspektiven, sie erschließen im intratextuellen Zusammenspiel auch neue Deutungspotentiale. Dorische Welt wird in diesem Verständnis des essayistischen Perspektivismus lesbar als weiterer Blick auf die Zukunft Europas. Dieser Blick gibt sich freilich nicht so leicht als solcher zu erkennen. Vielmehr geriert sich der Text über weite Strecken eher als kulturhistorischer Überblick, der durch den generischen Untertitel Untersuchung zudem den Anschein einer wissenschaftlichen Analyse erwecken kann. Allerdings unterläuft der Text mit seinen Schreibweisen gleich in mehrfacher Hinsicht diese paratextuell angedeutete Erwartungshaltung. Am sichtbarsten wird dies an den rhetorischen Persuasionsstrategien, die in den einzelnen Kapiteln zur Anwendung kommen und eine Vergangenheitsbetrachtung konstituieren, die weniger auf analytisch-neutrale Distanz als auf einfühlende Vergegenwärtigung setzt. So dominieren im ersten von fünf Kapiteln des
38 Vgl. Streim: Ende des Anthropozentrismus, Anm. 16, S. 352 f. 39 Benn, Gottfried: Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht [1934], in: SW 4, Anm. 1, S. 124–153, hier S. 150. Der Essay wird im Folgenden mit der Sigle „DW“ und Seitenzahl im Fließtext zitiert. 40 Vgl. Streim: Ende des Anthropozentrismus, Anm. 16, S. 353. 41 Vgl. Gann: Im Züchtungswahn?, Anm. 8, insb. S. 149–151.
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Essays präsentisch erzählende Passagen, die einen namenlosen Athener auf seinem Gang durch die Polis begleiten, mit typischen narrativen Mitteln wie Orts- und Zeitdeiktika arbeiten („Nun“, „endlich“, „hier“, „dort“, DW 128 f.) und stellenweise durch ihre interne Fokalisierung zudem Merkmale von Fiktionalität aufweisen („Er will“, „wie oft sah er sie“, „Er denkt“, DW 128 f.). Hier wird weniger historisches Wissen vermittelt als mit narrativen Mitteln die antike Vergangenheit suggestiv vergegenwärtigt. Den gleichen Effekt erzielt eine prägnante visuelle Metaphorik des Sehens, die zudem die gegenwartsbezogene Erwartungshaltung der essayistischen Vergangenheitsbetrachtung markiert. So wird gleich zu Beginn des ersten Kapitels die dorische Welt eingeführt als „diese Welt, die in unsere Bewegungen hineinragt und auf deren Resten unsere gespannten erschütterten, tragisch fragenden Blicke ruhen“ und die das zu finden verspricht, „was unsere heute so zerstörten Blicke suchen“ (DW 124). Die antike Vergangenheit ist hier nicht historiographisch als geschichtlicher Gegenstand von Interesse, sondern wird mit der Erwartung perspektiviert, einer zwischen Erschütterung und Zerstörung mäandernden Gegenwart weltanschauliche Orientierung zu stiften. Das zweite Kapitel scheint diese Erwartungshaltung zunächst zu konterkarieren, wenn es explizit markiert historiographisches Wissen aus Herodots Historien in den Text montiert und die kriegerische Unbarmherzigkeit sowie das opportunistische Machtstreben in der griechisch-antiken Welt im präteritalen Modus nachzeichnet (vgl. DW 131 f.). Jedoch erweist sich auch dies in dem Moment als Textstrategie, wenn das dritte Kapitel sogleich das unmittelbar zuvor Geschilderte als bloßes Oberflächenphänomen entlarvt: „Hinter dieser Silhouette Griechenlands, panhellenisch gemischt, steht die graue Säule ohne Fuß, der Tempel aus Quadern, steht das Männerlager am rechten Ufer des Eurotas, seine dunklen Chöre –: die dorische Welt.“ (DW 135) Die Metapher der „Silhouette“ verleiht der Vergangenheit hier eine neue, räumliche Dimension, die ein Verhältnis von Vorder- und Hintergrund, oder qualitativ ausgedrückt: von augenscheinlicher und ‚eigentlicher‘ Wirklichkeit visualisiert. In der Gegenüberstellung der am rechten Ufer des Flusses Eurotas gelegenen Polis Sparta – von Benn durchweg synonym zum Begriffsfeld des Dorischen verwendet – und der übrigen griechischen Staatenwelt rekurriert Benn gewiss auf die lange Tradition kulturhistorischer und politischer Publizistik, die im Gegensatz von Sparta und Athen den Antagonismus von aristokratischem und demokratischem Herrschafts- und Gesellschaftsmodell hypostasiert;42 ebenso hat die Forschung auf den politisch höchst intrikaten Bezug zum rassenaristokratischen Dorer-Bild 42 Vgl. dazu Bauer, Barbara: Der Gegensatz zwischen Sparta und Athen in der deutschen Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Dies./Müller, Wolfgang G. (Hg.): Staatstheoretische Diskurse im Spiegel der Nationalliteraturen von 1500 bis 1800 (Wolfenbütteler Forschungen 79), Wiesbaden 1998, S. 41–94.
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in Alfred Rosenbergs Weltanschauungsschrift Der Mythus des 20. Jahrhunderts hingewiesen.43 Auch die Merkmale des ‚Dorischen‘, die Kapitel drei und vier mit Blick auf Menschenbild und politisch-soziale Ordnungsmodelle im definitorischen Präsens katalogartig aufzählen, sind dieser antiliberalen ideengeschichtlichen Traditionslinie verpflichtet: asketisch, männlich-heroisch, aristokratisch.44 Allerdings chiffriert Benn in der Metapher der „Silhouette“ nicht so sehr die Vorstellung einer strikten Polarität von partikularem Dorer- und universalem Griechentum, sondern eher die einer sublimen Durchdringung. Dorische Welt, das ist in diesem Sinne die historische und anthropologische Tiefenstruktur, in Benns Worten: die „Keimzelle“ (DW 145) der gesamten, panhellenischen Antike und somit auch Athens, das im Text folgerichtig an keiner Stelle als demokratischer Antagonist Spartas auftritt. Stattdessen zeichnet Benn das Bild einer griechischen Antike, die sich in ihrer Gesamtheit aus dem Prinzip des ‚Dorischen‘ herleitet, also im anthropologischen Kern aristokratisch ist. So heißt es am Ende des vierten Kapitels: „Wir leiten also aus Sparta Griechenland ab, und aus dem Dorisch-Apollinischen die griechische Welt.“ (DW 146) Dass diese Herleitung entgegen ihrem prägnant-definitorischen Ton der historischen Prüfung kaum standhalten kann, ist durch die Arbeiten von Thomas Gann hinreichend belegt.45 Allerdings formuliert der Essay auch an keiner Stelle explizit den Anspruch, eine wissenschaftliche Analyse zu leisten. Stattdessen greift er im fünften und letzten Kapitel die anfangs eingeführte Metaphorik der Blicke wieder auf, um die vorherige Schilderung der griechischen Antike zu resümieren. Die insgesamt sechsmalige Verwendung des Verbes „sehen“ markiert dabei weniger das wissenschaftliche als das selbstidentifikatorische und aktualisierende Erkenntnispotential der Vergangenheitsbetrachtung: Fassen wir zusammen und versuchen wir, zu einer Perspektive zu kommen. Wir sehen das vielfältige Reich des Hellenentums, aufgebaut aus einzelnen Städten und Staaten […]. Wir sehen die Zeichen der modernen Öffentlichkeit, des modernen Staates, der modernen Macht. Man kann nicht sagen, das ist weitab, Antike, keineswegs! Die Antike ist sehr nah, ist völlig in uns, der Kulturkreis ist noch nicht abgeschlossen. (DW 147)
Die visuelle Metaphorik konstituiert somit einerseits eine rhetorische Klammer um die fünf Kapitel des Essays und kann andererseits als retrospektive Rezeptionsanleitung gedeutet werden, die Aufschluss über das epistemische Programm des 43 Vgl. Streim: Ende des Anthropozentrismus, Anm. 16, S. 350 f. 44 Die Beispiele sind zahlreich, exemplarisch sei verwiesen auf Zuschreibungen wie „stärkster aristokratischer Rasseglaube“ (DW 135), „Erziehung geht nur auf dieses Ziel: Schlachten und Unterwerfung“ (DW 136), „Dorisch ist jede Art von Antifeminismus“ (DW 137). 45 Vgl. insb. Gann: Divergente Antiken, Anm. 8.
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Textes gibt: Die griechische Antike ist so etwas wie ein historisches Prisma, durch das man aus der Essay-Gegenwart über den Umweg antikisierter Verfremdung auf sich selbst blickt. Das Sehen ist dabei weniger physiologisch als Verarbeitung optischer Reize denn epistemisch als Fähigkeit zur gleichsam visionären Schau hinter die Silhouetten der Empirie konnotiert. Poetologisch gewendet findet das Sehen seine produktionsästhetische Entsprechung in einer essayistischen Schreibhaltung, die weniger auf wissenschaftliche Erkenntnis denn weltanschauliche Orientierung abzielt. Fassen wir also zusammen und versuchen wir, zu einer Perspektive zu kommen. Liest man Dorische Welt nun vor dem Horizont des zeitgenössischen Weltanschauungsdiskurses um die Zukunft Europas, entfaltet er sein persuasives Potential weniger durch den Inhalt als durch die Form. Er elaboriert keine kohärente EuropaProgrammatik, die durch argumentative Stringenz und kausallogische Schärfe zu überzeugen versucht. Die Vision des ästhetisch-anthropologischen Aristokratismus bleibt anspielungsreich und vage zugleich. Negativ gelesen ließe sich konstatieren: Ein empirischer Autor Gottfried Benn betreibt diskursive Positionsverweigerung. Blickt man hingegen auf die formalästhetische Gestaltung und die inter- sowie intratextuellen Relationen des Essays, ließe sich mit vielleicht ebenso großer Berechtigung feststellen: Dorische Welt reflektiert mit dem Aristokratismus sehr wohl ein zentrales Theorem insbesondere des antiliberalen Europa-Diskurses, in dessen wichtigstem Diskursmedium Benn den Text zudem platziert. Und er tut dies auf eine ästhetisch avancierte Weise, die die Reflexion über Europa von der faktualen Ebene des intellektuellen Diskurses in den Bereich literarisch-fiktionaler Suggestion verschiebt, die Symbiose aus Poetologie und Weltanschauung nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern performativ erfahrbar macht. Das dorische Europa bleibt programmatisch zwar unscharf, sein aristokratisches Form-Prinzip aber gerinnt in der Faktur des Essays bereits zu ästhetischer Wirklichkeit.
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Thomas Manns Europakonzepte im amerikanischen Exil
1.
Die Vorgeschichte: Europa in der Weimarer Republik
Spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkriegs avancierte Europa für Thomas Mann von einer kulturellen zu einer politischen Größe. Sein Bekenntnis zur Demokratie in der Rede Von deutscher Republik (1922), erst recht seine Briefe aus Deutschland (1922–1925) verzeichneten eine politische Annäherung der europäischen Nationen, einen zunehmenden geistigen Austausch und eine wechselseitige kulturelle Neugier. In seinem Essay Goethe und Tolstoi (1925) profilierte er Goethe ausdrücklich nicht als deutschen Nationaldichter, sondern als Europäer. Angesichts der erstarkenden nationalistischen Bewegungen plädierte Thomas Mann wie viele andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Zwischenkriegszeit für eine Überwindung der innereuropäischen Gegensätze und ein politisch vereinigtes Europa im Zeichen von Freiheit und Demokratie. Ein sichtbares Zeichen dieses Engagements war Manns Beteiligung an der von Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi initiierten Paneuropa-Bewegung: In seinem Buch Paneuropa von 1923 hatte Coudenhove-Kalergi für einen europäischen Staatenbund plädiert, da nur größere Agglomerationen in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht überlebensfähig seien.1 Im Oktober 1926 folgte ein erster Paneuropa-Kongress in Wien, dessen politischen Ziele CoudenhoveKalergi in seinem Aufruf Von der Bewegung zum Kongreß ausgeflaggt hatte: „[D]er Kongreß wird kein Kongreß über Paneuropa sein – sondern für Paneuropa; kein Debattierklub politischer Theorien – sondern der erste Kriegsrat eines politischen Feldzuges: Die Mobilisierung für das europäische Ideal!“2 – ein durchaus martialisches Programm. Thomas Mann lernte Coudenhove-Kalergi bei seinem Paris-Aufenthalt im Januar 1926 kennen und trat noch im selben Jahr der Paneuropa-Union bei.3 Für den ersten Paneuropa-Kongress übermittelte er ein briefliches Grußwort, in dem er der Bewegung seine innere Verbundenheit versicherte. Auch wenn noch Hass 1 Vgl. Coudenhove-Kalergi, Nikolaus: Paneuropa, Wien 1923. 2 Coudenhove-Kalergi, Nikolaus: Von der Bewegung zum Kongreß, in: Paneuropa 2/11–12 (1926), S. 36–46, hier S. 46. 3 Vgl. Manns Bericht von seiner Reise nach Paris: Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft, in: Essays II 1914–1926 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 15.1). Hg. von Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2002, S. 1115–1214, hier S. 1136, 1157 u. 1163.
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und Widerstand der „im Alten Wohnenden“ zu spüren seien, dürfe man nicht die Geduld verlieren, so Thomas Mann: Es handelt sich um die Lebensbedingungen unserer Kinder. Daß wir Fünfzigjährigen das Europa noch sehen werden, in dem unsere Kinder wohnen sollen, wohnen wollen, ist kaum wahrscheinlich. Aber wir können es schauen und durch den Druck unseres Willens und Wortes dahin wirken helfen, daß es werde. Das ist eine Sache der Fürsorge, und es ist eine Art von Ehrensache. Wir sind unseren Kindern einiges schuldig, sind, als Generation genommen, einigermaßen schuldig vor ihnen. Mögen sie erkennen, daß sie nicht ganz allein sind, daß die Kluft zwischen den Geschlechtern nicht ganz so tief und hoffnungslos ist, als sie glauben mochten.4
Für Thomas Mann war das Engagement für ein vereinigtes Europa offenbar ein Akt der Solidarität mit der nächsten Generation – die ihm in der eigenen Familie selbstbewusst entgegentrat: Erika und Klaus, seine ältesten Kinder, wurden in den Medien der 1920er Jahre längst als Stimmen einer weltoffenen Nachkriegsjugend wahrgenommen. Das generationsübergreifende politische Engagement der literarischen Szene für Europa wurde freilich von nationalkonservativen oder nationalistischen Kräften als Kampfansage aufgefasst – sichtbar u. a. in Ewald Geißlers Streitschrift Paneuropa in der deutschen Dichtung der Gegenwart von 1930. Geißler diagnostizierte eine problematische, ja verderbliche paneuropäische Gesinnung bei vielen namhaften, auflagenstarken Schriftstellern der Gegenwart, unter ihnen Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig, Thomas Mann, Klaus Mann, Jakob Wassermann und Bruno Frank. „Paneuropa als geistige Lebensform“: Mit dieser Anspielung auf Manns Rede Lübeck als geistige Lebensform von 1926 eröffnete Geißler seine Polemik und gab die Stoßrichtung vor.5 Geißler sah in Thomas Mann den „bedeutsamsten Paneuropadichter des deutschen Heute“,6 das zeige u. a. der Zauberberg-Roman, in dessen literarischer „Erörterungshalle“ um nichts anderes als Paneuropa gestritten werde – freilich nur von den „Ausländern“ Lodovico Settembrini und Leo Naphta: Das also ist das große paneuropäische Gespräch: westlerische „Humanität“ auf der einen Seite, und als Vertretung alles widergeistig-düster-unfrei-blutrünstigen der Menschheit eine russische-katholische Jenseitigkeit auf der anderen. Das sind die zwei geistigen Mächte! Deutschland – fällt aus! […] Hans Castorp ist ein netter tumber Michel, die zwei Ausländer streiten über seinen Kopf, allenfalls lernt er im Laufe der Zeit ein paar
4 Mann, Thomas: [Zum I. Paneuropa-Kongreß in Wien], in: Paneuropa 2/13–14 (1926), S. 73. Zuvor bereits in: Neues Wiener Journal 34/11806 (3.10.1926), S. 8. 5 Geißler, Ewald: Paneuropa in der deutschen Dichtung der Gegenwart, Langensalza 1930, S. 5. 6 Ebd., S. 17.
Thomas Manns Europakonzepte im amerikanischen Exil
schülerhafte Zwischenreden einwerfen. […] Deutschland im Zauberberg, das heißt: ein gattungshaft gemeinter deutscher junger Mann, anmutend, doch gewöhnlich und ungeistig, gerät […] in den Zauberberg und lernt dort, neben allerhand Sonstigem, die große Paneuropa-Auseinandersetzung der Gegenwart kennen. […] Ein deutsches Wort in die Wagschale [sic] zu werfen, als im Geistgefecht ebenbürtiges Widerspiel, ist er nicht imstande. Deutschland, als ob geistige Macht und Überlieferung in ihm gar nicht wäre, wird im Paneuropa-Kampf überhaupt nicht eingesetzt.7
Abgesehen von stilistischen Defiziten des Romans – einer „Verliteratung“ und „Rhetorisierung des Dichterischen“8 – kritisierte Geißler vor allem das fehlende Nationalbewusstsein, das ausgesparte Deutschtum: In der Dichtung sei Paneuropa gleichzusetzen mit Überfremdung.9 Dass Geißler mit Feuchtwanger, Ludwig, Thomas und Klaus Mann, Wassermann, Frank (zudem beiläufig Carl Sternheim, Georg Kaiser, Walter Hasenclever, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky) ausnahmslos jüdische Autoren oder solche, die wie Mann, Kaiser und Hasenclever von der Rechtspresse als jüdisch diffamiert wurden, als Beispiele für Paneuropa in der deutschen Dichtung der Gegenwart anführte, zeigt den rassistischen, antisemitischen Unterton der Polemik. Die Deutsche Zeitung ließ es sich nicht nehmen, das Thomas-Mann-Kapitel des Buchs anlässlich des zweiten Paneuropakongresses in Berlin abzudrucken, verbunden mit der redaktionellen Einleitung: „Die Schrift Professor Geißlers zeigt die paneuropäische Verwirrung des deutschen Schrifttums und seine Zerrüttung durch den reinen Literaturbetrieb.“10 Im Rahmen dieses zweiten Kongresses hatte Thomas Mann am 18. Mai 1930 seine Rede Europa als Kulturgemeinschaft gehalten: eine unmissverständliche Warnung vor den geistfeindlichen nationalistischen Tendenzen der Gegenwart. In Deutschland sei „der vitalistisch-irrationale, der lebensgläubige, ja lebensmystische Rückschlag an der Tagesordnung“11 – höchste Zeit also, Europa als Kulturgemeinschaft zu verstehen – und Deutschland zu europäisieren. Schon zwei Jahre zuvor hatte Thomas Mann eine zunehmende politische Lagerbildung beobachtet: Dem „Prozeß einer gewissen geistigen Entnationalisierung“, dem kosmopolitischen, europäisierenden Liberalismus stehe ein reaktionärer, national-aristokratischer
7 Ebd., S. 15 f. 8 Ebd., S. 32. 9 Vgl. ebd., S. 33: Paneuropa sei „nur dem Namen nach übernational, darunter verkappt national, freilich fremdnational, nämlich Vergleichmäßigung im Sinn des Romanischen, geradezu Überfranzosung des Stils“, schrieb Geißler. 10 Geißler, Ewald: Paneuropa und Thomas Mann, in: Deutsche Zeitung 35/141 (19.6.1930). 11 Mann, Thomas: Europa als Kulturgemeinschaft, in: Paneuropa 6/6–7, S. 239–247, hier S. 243. Manns Rede endete mit der Aufforderung, den schon von Friedrich Nietzsche wahrgenommenen absurden Zustand Europas, mithin den in Europa grassierenden Nationalismus, endlich zu beenden.
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Erhaltungswille gegenüber.12 An seiner eigenen Position in dieser Auseinandersetzung ließ Mann keinen Zweifel. Der Beruf des deutschen Schriftstellers in unserer Zeit (so der Titel der Geburtstagsrede für seinen Bruder Heinrich am 27. März 1931 vor der Preußischen Akademie der Künste in Berlin) sei „ohne Europa“ nicht denkbar: Wenn es ihn je gegeben hat, den deutschen Meister ohne Welt, ohne Europa im Blut – heute kann es ihn nicht mehr geben. […] In einem geistig und wohl auch wirtschaftlichpolitisch zusammenwachsenden Europa wäre ein Meistertum der Enge, der Verstocktheit und des provinziellen Winkels eine weinerliche Erscheinung.13
In seiner Ansprache an die Jugend anlässlich der 400-Jahr-Feier des Lübecker Katharineums am 7. September 1931 bekannte er sich ein weiteres Mal zur transnationaleuropäischen Tradition und zum Bildungsideal der Persönlichkeit, das dem grassierenden kollektiven Führerkult entgegenstehe.14 Bei der adressierten Lübecker Jugend kam dieses statement offenbar nicht wirklich an. In der Vossischen Zeitung hieß es: Vielleicht fällt es der Jugend unserer Zeit schwer, der Rede ganz zu folgen, wenn Europa über dem eigenen Volke zu stehen scheint, wenn das Wort ‚Friedensidee‘ tönt und grade der Nationalismus in die Nähe einer monströsen Ausgeburt der bürgerlichen Kultur gerückt ist. Das kann und will die Jugend nicht verstehen.15
2.
Europa im Exil
Schon vor dem Machtwechsel in Deutschland hatte Thomas Mann betont, wie schwierig es sei, die abstrakte Vorstellung einer europäischen Kulturgemeinschaft der Mehrheit zu vermitteln.16 Der Wahlerfolg der Nationalsozialisten bestätigte diese Befürchtung. Mit dem Beginn des Exils im Frühjahr 1933 riss sein öffentliches 12 Mann, Thomas: Vorwort, in: Jaloux, Edmond: Die Tiefen des Meeres. Übers. von Nanny Collin, Berlin 1928, S. 5–13, hier S. 8. 13 Mann, Thomas: Vom Beruf des deutschen Schriftstellers in unserer Zeit. Ansprache an den Bruder, in: Neue Rundschau 42/5, S. 604–612, hier S. 609. 14 Vgl. Mann, Thomas: Ansprache an die Jugend, in: Vossische Zeitung 422/A 214 (8.9.1931), MorgenAusgabe, Beilage Das Unterhaltungsblatt 209, S. 1 f. 15 Rosenthal, Georg: Ansprache an die Jugend, in: Vossische Zeitung 612 (30.12.1931), S. 4. 16 In einem Brief an John Otto Reinemann, den Leiter der internationalen pazifistischen Weltjugendliga, schrieb Mann am 26.7.1931: „Wir handeln, indem wir dem Frieden dienen, als Europäer nicht nur im politischen, sondern auch im moralischen Sinn. Bleiben Sie Ihrer Sache treu und lassen Sie sich nicht einschüchtern von der Massenhaftigkeit der entgegenwirkenden Instinkte und dem Massencharakter ihrer Propagation“. In: Mann, Thomas: Briefe III 1924–1932 (Große kommentierte
Thomas Manns Europakonzepte im amerikanischen Exil
Engagement für Europa nicht ab, auch wenn er bis 1936 von einer öffentlichen Abrechnung mit dem neuen Regime absah. Die Exilerfahrung, ab 1938 verbunden mit der Wahrnehmung Nord-Amerikas als möglichem neuem Lebensraum, führte bei ihm allerdings zu einer Revision seiner Europavorstellungen. Zwei Aspekte scheinen mir besonders signifikant: Erstens: Die bittere Erfahrung, wie rasch europäische Demokratien in eine nationalistische oder gar diktatorische Richtung abrutschten, ließ die Überzeugung von einem gewachsenen europäischen Führungsanspruch erodieren. In der bereits zitierten Ansprache an die Jugend von 1931 hatte Thomas Mann einen solchen Herrschaftsanspruch Europas noch als selbstverständlich vorausgesetzt: Europa wird nicht aufhören, den Blick der Welterwartung auf sich gerichtet zu fühlen, sei es auch, daß es ihn los sein und abdanken möchte. Ein solcher Antrag würde nicht angenommen werden aus dem einfachen Grunde, weil nichts vorhanden ist, was Europas Herrschaft ersetzen könnte. Sie bleibt vorderhand eine menschliche Gegebenheit.17
Was Thomas Mann hier als Gegebenheit und „aristokratische Überzeugung“ vorstellte, geriet unter dem Eindruck der Innen- und Außenpolitik der europäischen Staaten ins Wanken.18 Sein Bruder Heinrich, der 1940 mit Hilfe des 1938 in Hollywood gegründeten European Film Fund aus Frankreich über Portugal in die USA fliehen konnte, brachte das Gefühl der Bedrohung der europäischen Kultur gleich nach seiner Ankunft in New York auf den Punkt. In seiner Dankesrede vor dem European Film Fund am 31.10.1940 hielt er fest: Dort ist unser Europa, dem wir alle zeitlebens verbunden bleiben. Dort ist seine Kultur, an der wir aufgewachsen sind und mitgearbeitet haben, dort sind unsere Erinnerungen, die guten oder weniger guten, – gleichviel, wir wollen sie nicht zerstören lassen. Das ist es. Wir wollen nicht die Zerstörung Europas, sondern seine Erneuerung.19
Frankfurter Ausgabe 23.1). Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini, Frankfurt a. M. 2011, S. 543 f. 17 Mann: Ansprache an die Jugend, Anm. 14, S. 1 f. 18 Das galt auch für andere Schriftsteller, die sich wie Stefan Zweig in der Zwischenkriegszeit für ein vereinigtes Europa erklärt hatten. Vgl. den Aufsatz des Verf.: Europäer im Exil. Stefan Zweig und Thomas Mann, in: Larcati, Arturo et al. (Hg.): Begegnungen. Stefan Zweig und Thomas Mann, Frankfurt a. M. 2023 (im Druck). 19 Nach dem Manuskript der ungedruckten Rede Heinrich Manns vor dem European Film Fund am 31.10.1940, erhalten in den Special Collections der Feuchtwanger Memorial Library, University of Southern California.
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Die völlige Zerstörung Europas verhindern, an der Erneuerung Europas arbeiten: Darum ging es den meisten Europäern im Exil. Diese Erneuerung sollte allerdings schon deswegen nicht an den Grenzen Europas Halt machen, weil sich spätestens 1939 zeigte, wie schnell dieser Kontinent von einer Diktatur überrannt werden konnte und wie unzureichend die europäischen Demokratien gegen diesen Überfall gewappnet waren. Ein entsprechend international ausgerichteter Erneuerungsversuch war das von Guiseppe Antonio Borgese 1938 initiierte Committee on Europe, an dem auch Thomas Mann teilhatte: ein Zusammenschluss von europäischen und amerikanischen Intellektuellen, die sich über die Zukunft Europas Gedanken machten. Nach dem Kriegsausbruch verlagerten sich die Aktionen des Committees in die USA und weiteten sich insofern aus, als es nicht mehr allein um das bedrohte Europa, sondern die von der Hitler-Diktatur ausgehende weltweite Gefährdung der Demokratie ging. Borgese gelang es, vom 24. bis 26. Mai 1940 in Atlantic City eine erste Konferenz zu organisieren, um diese Ideen voranzutreiben: Thomas Mann nahm als Redner teil – krank vor Grauen, wie er im Tagebuch festhielt, angesichts der hoffnungslosen Kriegslage.20 Im Anschluss an die 2. Konferenz vom 24.–25.8.1940 in Sharon (Conneticut) publizierte das Komitee im November 1940 ein Manifest mit dem Titel City of Man. A Declaration on World Democracy:21 Damit wollte man zum einen die USA von der Notwendigkeit des Kriegseintritts gegen NS-Deutschland überzeugen, zum anderen wollte man Vorschläge machen, wie eine stabile, wehrhafte Weltdemokratie in Zukunft und auf Dauer zu etablieren sei. Dieses Manifest markiert insofern eine Wende in den Europa-Debatten des Exils, als es hier nicht länger um die Zukunft eines Kontinents, sondern um die Zukunft der weltweiten Völkerverständigung ging: ein erster Vorklang zur Gründung der United Nations fünf Jahre später.22 Diese Überzeugung schlug sich auch in Thomas Manns Ansprache zu Heinrich Manns siebzigstem Geburtstag am 2.5.1941 im Haus von Salka Viertel in Pacific Palisades nieder:
20 Vgl. Manns Tagebucheinträge vom 23.–26.5.1940, in: Mann, Thomas: Tagebücher 1940–1943. Hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1982, S. 81–83. 21 The City of Man. A Declaration on World Democracy, New York 1941. Unterzeichnet von Herbert Agar, Frank Aydelotte, G. A. Borgese, Hermann Broch, Van Wyck Brooks, Ada L. Comstock, William Yandell Elliott, Dorothy Canfield Fisher, Christian Gauss, Oscar Jászi, Alvin Johnson, Hans Kohn, Thomas Mann, Lewis Mumford, William Allan Neilson, Reinhold Niebuhr und Gaetano Salvemini. 22 Giuseppe Antonio Borgese beteiligte sich einige Jahre später im Committee to Frame a World Constitution an dem Entwurf einer Weltverfassung, der im März 1948 im Organ des Komitees Common Cause. A Monthly Report of the Committee to Frame a World Constitution publiziert – und im Folgeheft von Thomas Mann kommentiert wurde. Vgl. seinen [Brief über den Entwurf einer Welt-Verfassung] an Borgese vom 2.10.1947, in: Mann, Thomas: Essays VI 1945–1950 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 19.1). Hg. von Herbert Lehnert, Frankfurt a. M. 2009, S. 295.
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[W]enn es vor einem Menschenalter noch hieß: Europa will eins werden, so heißt es heute schon unmißverständlich und unüberhörbar: die Welt will eins werden. Einheit, Vereinheitlichung ist das Schlüsselwort der Zeit. Schon Goethe wußte: „National-Literatur will heute wenig sagen; Welt-Literatur ist an der Tagesordnung.“ Er wüßte und sagte heute: „National-Staaten und National-Kulturen wollen nichts mehr besagen; Welt-Einheit und Welt-Kultur ist die Forderung des Tages.“23
Im Vergleich mit der Geburtstagsansprache zehn Jahre zuvor zeichnet sich hier eine deutliche Verschiebung ab: Die Europa-Orientierung avanciert zu einem Plädoyer für Welt-Kultur. Zweitens: Spätestens seit 1939 mussten Hitlers militärische Ambitionen als Perversion der hochfliegenden Europa-Ideen der Weimarer Republik erscheinen, insofern sie auf ein unter Deutschland vereinigtes Europa abzielten. Diese Einschätzung schlug sich u. a. in Manns Deutschlandroman Doktor Faustus (1947) nieder. Dort bemerkt die Erzählerfigur Serenus Zeitblom angesichts militärischer Erfolgsmeldungen der deutschen Wehrmacht, dass das Regime „den Intellektuellentraum von einem europäischen Deutschland durch die allerdings etwas beängstigende, etwas brüchige und, wie es scheint, der Welt unerträgliche Wirklichkeit eines deutschen Europa ersetzt hat“.24 Als Chronist der Kriegsereignisse wirkt Zeitblom durchaus affiziert von den geopolitischen Europa-Konzepten, die die Nationalsozialisten seit 1939 brutal umsetzten: Darauf hat Barbara Beßlich hingewiesen.25 Zeitbloms Einlassungen zur Europapolitik des Regimes waren in den 1940er Jahren auch deswegen von aktueller Brisanz, weil die geopolitischen Entwürfe der Nationalsozialisten auch bei einigen Planungen zur Nachkriegsordnung Europas wieder ins Spiel kamen. Das galt u. a. für den Aufsatz Maps of a New World von George T. Renner, Professor für Geographie und Wirtschaftswissenschaft an der Columbia University, der am 6.6.1942 in Collier’s Magazine erschienen war. Renners Vorstoß sorgte in den US-amerikanischen Medien für Aufsehen. Erika Mann machte ihren Vater umgehend auf den Aufsatz aufmerksam. Am 4.6.1942 notierte Thomas Mann in sein Tagebuch: Bericht Erika’s über die monströse Publikation eines Columbia-Professors: Nachkriegskarte Europas nach „geopolitischen“ Gesichtspunkten unter Berufung auf Haushofer
23 Mann, Thomas: Ansprache zu Heinrich Manns siebzigstem Geburtstag, in: Ders./Mann, Heinrich: Briefwechsel 1900–1949. Hg. von Hans Wysling, Frankfurt a. M. 1995, S. 395 f. 24 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 10.1). Hg. von Ruprecht Wimmer, Frankfurt a. M. 2007, S. 251. 25 Vgl. Barbara Beßlichs Beitrag im vorliegenden Band: Zeitbloms „Festung Europa“. Nationalsozialistische Europapläne – (un)zuverlässig erzählt in Thomas Manns Doktor Faustus.
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und Bahnse entworfen, mit riesenhaft vergrößerten Deutschland und Italien und aufgeteilter Schweiz, Holland an England gefallen. Ein skandalöser Gallimathias, der Protest verlangt.26
Tatsächlich griff Renner mit seinem Entwurf unmittelbar auf die geopolitischen Entwürfe Karl Haushofers (1869–1946) zurück, der seit 1921 als Professor für Geographie in München die theoretischen Grundlagen für die Geopolitik der Nationalsozialisten gelegt hatte. Mit der Familie des Professors war Thomas Mann weitläufig bekannt: Vorlesungen des Vaters Max Haushofer hatte er als Student gehört (und geschätzt), und Karl Haushofer ging als Kollege und Freund Alfred Pringsheims im Haus seiner Schwiegereltern ein und aus. Man traf sich unter anderem im Rahmen der 1925 in München gegründeten Deutschen Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums, der Thomas Mann bis 1933 angehörte. Karl Haushofers Einfluss auf die Lebensraum-Ideologie der Nationalsozialisten und seine Nähe zum Regime ließen ihn freilich zunehmend „sinister“ erscheinen. Umso verstörender musste es wirken, dass dessen Ideen von einem amerikanischen Geographen aufgegriffen wurden. Als „blueprint“ für Hitlers Eroberungspolitik seien Haushofers Ideen zwar moralisch schlecht, so George T. Renner, strategisch aber durchaus überzeugend.27 Sein Vorschlag für eine geopolitische Nachkriegsordnung sah die Aufteilung Europas in neun Staatengebilde vor, darunter ein um alle deutschsprachigen Gebiete vergrößertes Deutschland: It is entirely possible to have a strong united Germany surrounded by eight other strong European nations, any one of which would be tough enough to discourage aggression. A Europe consisting of nine strong nations would constitute its own framework for achieving stability. […] Germany should include all the German-speaking peoples of Europe, and its perennial ally Hungary should be attached to it.28
Renners Idee, den Kriegsaggressor Deutschland auf diese Weise territorial zu belohnen, löste bei den Manns heftige Empörung aus. Tatsächlich protestierte Thomas
26 Mann: Tagebücher 1940–1943, Anm. 20, S. 437 f. Neben Karl Haushofer gehörte auch der Geograph Ewald Banse (1883–1953) zu den vom NS-Regime geförderten Theoretikern der Geopolitik. 27 Wörtlich hieß es bei George T. Renner: „It was the geographer Herr Doktor Professor Haushofer who drew the blueprint for Hitler’s New Order as set forth in Mein Kampf. Moreover, he helped to draw up the maps of military strategy by which this New Order was to be achieved. The result of using this scientific geography has been morally bad but it has been so good strategically that it has enabled an otherwise hopeless scheme to succeed pretty well so far.“ Renner, George T.: Maps for a new world, in: Collier’s Magazine (6.6.1942), S. 14–16, hier S. 14. 28 Ebd., S. 15.
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Mann umgehend. An Nicholas Butler, den Präsidenten der Columbia Universität schrieb er, unterstützt von seiner Tochter Erika, am 12. Juni 1942: „De facto stehen Renners territoriale Forderungen für Deutschland hinter den von Hitler in Mein Kampf gestellten nicht zurück, ja, übertreffen sie teilweise.“29 Aus Manns brieflichem Protest sprach die Sorge, dass die geopolitischen, im Kern imperialistischen Europa-Konzepte Karl Haushofers für die Nachkriegsordnung noch einmal neu aufgelegt werden könnten. Unter dem Eindruck des Renner-Beitrags schrieb er am 16.6.1942 an Agnes E. Meyer: Haushofer scheint jetzt grosse Mode zu sein in Amerika. Wenn man wüsste, was für ein mediokrer Esel er ist (der allerdings vor vielen anderen erschossen zu werden verdient, sobald wir gesiegt haben), und wie kindlich den guten Amerikanern die Bewunderung für seine ‚Wissenschaftlichkeit‘ zu Gesichte steht!30
Dass der einflussreiche amerikanische Publizist Walter Lippmann wenig später The Case of Prof. R. in einer Artikelserie des New York Herald Tribune einer gründlichen Kritik unterzog, nahm Thomas Mann mit Erleichterung zur Kenntnis.31 Die Debatte über die Fortschreibung der Geopolitik Karl Haushofers strahlte auch auf Manns Verhältnis zu Coudenhove-Kalergi aus, der seine paneuropäische Bewegung im amerikanischen Exil weiter voranzutreiben suchte. Auf die Einladung Coudenhove-Kalergis zum 5. Paneuropa-Kongress in New York reagierte er am 27.12.1941 zunächst zustimmend.32 Ein Jahr später kam Coudenhove-Kalergi auf Manns Zusage zurück und suchte ihn zur Teilnahme an dem für 1943 geplanten Paneuropa-Kongress in New York zu gewinnen. Thomas Mann sagte ein weiteres
29 Zitiert nach Thomas Mann, in: Bürgin, Hans/Mayer, Hans-Otto (Hg.): Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. IV: 1951–1955 und Nachträge, Frankfurt a. M. 1987, Reg 42/4, S. 499. Präsident Butler antwortete offenbar umgehend, aber, wie Thomas Mann am 22.6.1942 im Tagebuch festhielt, „nichtssagend wie zu erwarten“ (Mann: Tagebücher 1940–1943, Anm. 20, S. 444). 30 Mann, Thomas/Meyer, Agnes E.: Briefwechsel 1937–1955. Hg. von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt a. M. 1992, S. 410. 31 Vgl. Lippmann, Walter: The Case of Professor R., in: New York Herald Tribune, Today and Tomorrow vom 30.6., 2.7. und 4.7.1942. Über den ersten Beitrag von Lippmann notierte Thomas Mann am 1.7.1942 in sein Tagebuch: „Artikel von Lippmann gegen Renner, gut.“ Tags drauf: „Weiterer Artikel Lippmanns gegen Renner, dessen Stellung doch wohl erschüttert sein dürfte.“ (Mann: Tagebücher 1940–1943, Anm. 20, S. 447). 32 „Das paneuropäische Gebaren Hitlers ist in der Tat so niederträchtig wie es lächerlich ist, und sein Wiener Europa-Kongress muss konterkariert werden – darin bin ich durchaus Ihrer Meinung. Ich würde es außerordentlich begrüssen, wenn die fuenfte Paneuropa-Konferenz in New York den Charakter einer energischen Gegenkundgebung gegen das schlechte Theater Hitlers in Wien annähme“, schrieb Thomas Mann am 29.12.1941 an Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi; Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich: Sigle B-I-COUD-3.
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Mal zu. Seine Solidarität bekräftigte er zudem durch den Eintritt in das Preliminary Committee des Kongresses: As I am convinced of the necessity to oppose Hitlers falsification of a united Europe with the idea of a united Europe based on liberty and justice I am glad to confirm my consent to belong to the preliminary Committee of the Paneuropa Congress and assure you of my full sympathy,
hieß es in Manns Telegramm an Coudenhove-Kalergi vom 11. Dezember 1942.33 Zwei Monate später zog Thomas Mann seine Zusage allerdings zurück. Damit schloss er sich den Vorbehalten Carlo Graf Sforzas und Jacques Maritains an: Beide hatten die Bewegung bis dahin tatkräftig unterstützt. Im Vorfeld des fünften Paneuropa-Kongresses protestierten sie einerseits gegen Coudenhove-Kalergis monarchistische Restaurationstendenzen, die sich u. a. in der Einbeziehung Otto von Habsburgs abzeichneten, andererseits gegen den von ihm betriebenen Ausschluss Russlands.34 Thomas Manns briefliche Begründung seines Rückzugs enthielt freilich ganz andere Vorbehalte. Am 20. Februar 1943 schrieb er an CoudenhoveKalergi, man habe einstmals sogar mit Haushofer an einem Tisch gesessen, der dem deutschen Imperialismus das geistige Rüstzeug liefere. Zur Zeit Briands und Stresemanns sei Europa per se eine fortschrittliche, revolutionäre, zukünftige Idee gewesen. Die europäische Idee sei jedoch alt und grau, langweilig und vorgestrig geworden. Die Einigung Europas sei zu einem Gemeinplatz herabgesunken, auf dem man jeden treffe. Auch Hitler wolle sie. Mit politischer Neutralität sei es eine unheimliche Sache, sehr bald stehe sie nicht bloß für nichts, sondern schlechthin für das Schlechte. Er fürchte, an ‚Pan-Europa‘ beweise sich das wieder, – von Weitem habe er diesen unbehaglichen Eindruck.35 Der Hinweis auf Karl Haushofer signalisiert, warum Thomas Mann „unbehaglich“ zumute war. Unter dem Eindruck der Renner-Debatte hielt er es für möglich, dass
33 Telegramm Thomas Manns vom 11.12.1942 an Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich: Sigle B-I-COUD-5. 34 Carlo Graf Sforza (1873–1952), italienischer Historiker, Kulturphilosoph und Politker, 1920–1921 italienischer Außenminister, als Antifaschist und Gegner Mussolinis zunächst im belgischen Exil, seit 1940 in den Vereinigten Staaten. 1943 kehrte er nach Italien zurück. Jacques Maritain (1882–1973), französischer Philosoph, im amerikanischen Exil engagierter Kritiker des NS-Regimes, wirkte später am Text der UN-Menschenrechtscharta mit. Im Hinblick auf Pläne zur europäischen Nachkriegsordnung schienen beide Thomas Mann vertrauenswürdiger als Coudenhove-Kalergi. Am 18.2.1943 notierte er in sein Tagebuch: „Brief von Sforza über seine Absage an Coudenhove, der ich wohl werde folgen müssen.“ Mann: Tagebücher 1940–1943, Anm. 20, S. 539. 35 Zitiert nach dem Faksimile im Auktionskatalog Hauswedell & Nolte: Wertvolle Bücher des 15.–20. Jahrhunderts. Handschriften, Autographen von Hauswedell & Nolte, Hamburg 1978, S. 129 [Tafel 22].
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auch die erneuerten Paneuropa-Pläne Coudenhove-Kalergis nicht allzu weit von den geopolitischen Entwürfen Haushofers entfernt sein könnten und Deutschland auch innerhalb eines zukünftigen europäischen Staatenbundes einen zu großen Einfluss ließen. Dieser Vorbehalt zeichnete sich auch in Manns Beurteilung eines ganz anderen Vorschlags zur Nachkriegszukunft Deutschlands ab: Im Frühjahr 1943 brachten die American Friends of German Freedom, dessen National Committee Thomas Mann angehörte, die Broschüre Germany Tomorrow heraus, in der verschiedene Szenarien diskutiert wurden, die ein Wiedererstarken nationalistischer Kräfte in Deutschland dauerhaft verhindern sollten. Als Ergebnis sah die Broschüre eine substantielle Stärkung der demokratischen Kräfte in Deutschland durch die Einbindung in einen europäischen Staatenbund vor: Therefore, we think that the only possible solution is to rely on the only existing guarantee against another German regression after this war. The only possible guarantee is a democratic guarantee expressed in a few words – jobs, freedom and equal opportunity. This is the guarantee offered by mature development within Germany herself which would complete the delayed democratic revolution and make Germany institutionally a country like the western countries of Europe. Internationally, an effective democratic control on Germany would automatically be exerted by the preponderance of other European peoples incorporated into the European federal system. In this way they would, in fact, have the best possible control on inner German developments. On the other hand, this would also constitute the only psychological condition under which the German people could be prevented from feeling or being an „oppressed“, and therefore rebellious, nation. […] Only with such plans and such aims can we hope to absorb what was sound in Hitler’s perverted new order which – let us be realistic – in a time of confusion attracted not only reactionary forces in Europe. Under such a plan there can be a fulfillment of the old dreams and hopes of a European society. This will be the one rational and peaceful solution after this war. […] This and nothing else remains as the effective solution of the most profound crisis Europe has experienced since the Dark Ages.36
Auch diesen Vorschlag nahm Thomas Mann sogleich zur Kenntnis. „Abends sehr verständige Schrift der ‚Friends of German Freedom‘ über Deutschland nach Hitler“, notierte er am 11. Mai 1943 in sein Tagebuch.37 Im Brief an die Verfasser vom 12. Mai 1943 gab er seiner Zustimmung Ausdruck, benannte aber auch Bedenken im Hinblick auf den avisierten europäischen Staatenbund, den er schon jetzt durch die
36 The American Friends of German Freedom: Germany Tomorrow, New York 1943, S. 14 f. 37 Mann: Tagebücher 1940–1943, Anm. 20, S. 574.
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Kriegsaggression Deutschlands geschwächt sah. „The individual point in question least satisfactorily solved by the pamphlet is, in my opinion, that concerning the constant danger threatening every European Federation of failing under German domination“, hieß es in Manns Briefentwurf vom 14.5.1943.38 Dabei berief er sich auf die Einwände, mit denen Walter Lippmann im Juli 1942 in einer Artikelserie für The New York Herald Tribune gegen den geopolitischen Vorstoß George Renners kritisiert hatte.39 Offenbar lag Thomas Mann sehr daran, bei allen Plänen zur europäischen Nachkriegsordnung die politische und wirtschaftliche Macht Deutschlands so beschränkt zu sehen, dass ein abermaliges Erstarken des deutschen Nationalismus unmöglich würde. Diese brieflichen Äußerungen Thomas Manns aus den frühen 1940er Jahren zeigen, in welche Richtung sich seine Europa-Vorstellungen veränderten. Aus der Perspektive des Kalifornischen Exils wirkte der Kontinent nicht nur räumlich entrückt, sondern auch in politischer Hinsicht zunehmend unzuverlässig. Die Vorstellung einer weltpolitischen Führungsrolle Europas musste Thomas Mann schon deswegen obsolet erscheinen, weil Hitler sie für seine Eroberungspläne in Anspruch genommen hatte. Umso mehr lag Mann daran, über Europa hinausdenken, um die Demokratie als Regierungsform dauerhaft zu sichern – etwa durch die Mitwirkung an den Entwürfen für eine Weltdemokratie im City of Man-Projekt im Jahr 1940/41 oder durch sein Plädoyer für eine Weltkultur. Dementsprechend sah er auch in den paneuropäischen Initiativen, an denen er sich seit 1925 beteiligt hatte, nicht länger ein probates Mittel zur Bekämpfung nationalistischer Bewegungen. Die Debatte um Georges Renners Maps of a New World signalisierte eine Renaissance jener geopolitischen Konzepte, die von den Nationalsozialisten auf brutale Weise machtpolitisch in Europa umgesetzt wurden. Thomas Mann fürchtete offenbar, dass Haushofers geopolitische Europa-Vorstellungen auch auf ganz andere Konzepte für eine Nachkriegsordnung Europas ausstrahlen könnten. Auch aus diesem Grund rückte er vorübergehend von CoudenhoveKalergis Kampagne für ein vereinigtes Europa ab. Auch innerhalb eines künftigen europäischen Staatenbunds müssten dem politischen Einfluss Deutschlands klare Grenzen gesetzt werden. Diese Sorgen führten freilich nicht zu einer dauerhaften Entfremdung. Im Oktober 1954, zwei Jahre nach seiner Rückkehr nach Europa, übermittelte Thomas Mann dem 6. Paneuropa-Kongress in Baden-Baden, mit dem Coudenhove-Kalergi die Neu-Gründung der Bewegung in der Nachkriegszeit vorantreiben wollte, telegraphisch „aufrichtige Wünsche und Grüße“: Er verstehe den
38 Zitiert nach dem Briefentwurf Thomas Manns vom 14.5.1943 an die American Friends of German Freedom im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich: Sigle B-I-AMEG-2.1. 39 Vgl. Lippmann: The Case of Professor R., Anm. 31.
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Kongress „als Kundgebung für ein einiges, freies, seiner alten Würde bewusstes und zum Frieden gewilltes Europa“.40
40 Die handschriftlichen Wünsche an Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi vom 27.10.1954 sind im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich erhalten: Sigle B-I-COUD-6.
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Zeitbloms „Festung Europa“ Nationalsozialistische Europapläne – (un)zuverlässig erzählt in Thomas Manns Doktor Faustus Thomas Manns Doktor Faustus (1947) gilt gemeinhin als Deutschlandroman par excellence. Diese Einschätzung hat der Autor selbst lanciert, wenn er etwa in einem Brief an Pavel Eisner 1946 die Anlage seines Romans folgendermaßen erläuterte: Eine fiktive Künstler-Biographie also und eine dämonische Geschichte, sorgsam vorgetragen von einem […] Humanisten und unter den Nazis pensionierten Gymnasialprofessor, der der fasziniert-ergebene Freund des zugrunde gegangenen Komponisten war. Dieser teilt das Schicksal Nietzsche’s – und vieler hervorragender Musiker. Es ist die Geschichte einer Paralyse und ihrer inspiratorischen Wirkungen mit dem Kollaps am Ende. Die Geschichte einer Teufelsverschreibung und also eine religiöse Geschichte, die denn auch mit einem Fuß immer im deutschen 16. Jahrhundert steht. Ein schrecklich deutscher Roman ‒ beinahe der Roman Deutschlands, ‒ das sich dem Teufel verschrieb. Er hat doppelte Zeit, denn die Biographie wird von 1943 bis 45 geschrieben und nimmt die Ereignisse dieser Jahre wahr, während sie ein Leben erzählt, das 1885 beginnt und schon 1930 in geistige Nacht sinkt. Was für ein Waschzettel! Aber Sie wollten ja etwas hören.1
Der Romanerzähler Dr. Serenus Zeitblom, seines Zeichens Klassischer Philologe und Gymnasiallehrer, verschaltet nationalsozialistische Weltherrschaftsphantasien und musikalischen Überwältigungswillen in eigentümlicher Weise und macht so Deutschlandthema und Künstlerproblematik wechselseitig spiegelbar. Aber parallel zu diesem präpotenten Deutschlandthema entfaltet der Roman auch, wenn auch weniger auffällig und bis jetzt nicht wirklich von der germanistischen Forschung registriert, einen Kommentar zu den Europadebatten der 1940er Jahre. Um diesen soll es im Folgenden gehen. Zeitblom beginnt die Niederschrift seiner Leverkühn-Biographie im Mai 1943, als sich der Untergang des nationalsozialistischen Regimes und der Zerfall von
1 Brief Thomas Manns an Pavel Eisner vom 5. August 1946, in: Wysling, Hans (Hg.): Dichter über ihre Dichtungen. Thomas Mann (Teil III: 1944‒1955). Unter Mitwirkung von Marianne Fischer, Frankfurt a. M. 1981, S. 68 f.
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Hitlers Imperium deutlich abzeichnen. In dieser Zeit rückte das Thema Europa immer mehr in den Vordergrund der nationalsozialistischen Politik und Propaganda. Der Historiker Mark Mazower hat die imperialen Herrschafts- und Kollaborationsstrategien des NS-Regimes in Hitlers Europa analysiert.2 Während die ältere geschichtswissenschaftliche Forschung solche totalitären Vorstellungen über die Formation des Kontinents als ‚antieuropäisch‘ bezeichnete und damit aus dem Diskussionszusammenhang der Europaforschung ausklammerte, interessiert sich die Historiographie seit den 2000er Jahren vermehrt für diese antiliberalen und antidemokratischen Europakonzepte. Man erforscht die Pläne für eine faschistische Europaunion, in denen Nationalismus und kontinentale Größenphantasien je unterschiedlich als miteinander kompatibel in einer paradoxen Internationale der Nationalisten gedacht wurden. Solchermaßen formulierten Historiker wie Thomas Sandkühler, Vanessa Conze, Dieter Gosewinkel, Johannes Dafinger und Dieter Pohl eine etwas andere Integrationsgeschichte des Kontinents: Sie irritierten die angenehme Mastererzählung von der Geburt der Europäischen Gemeinschaft aus dem Geist des demokratischen Widerstands gegen Hitler und betonten dagegen, wie sehr die europäischen Einigungsnarrative der Nationalsozialisten ihrerseits an antiliberale Europadebatten der Zwischenkriegszeit anknüpfen konnten.3 Dabei muss man einerseits zeitlich differenzieren zwischen erstens der relativen Irrelevanz von Europa-Überlegungen in der nationalsozialistischen Politik vor 1939, den zweitens expansiven Vorstellungen von einem deutschen „Europa aus Rasse und Raum“,4 die dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs oft lediglich rhetorisch das hegemoniale Konzept eines „großgermanischen Reichs“ verbrämten. Schließlich ist davon aber abzusetzen eine dritte Phase ab Januar 1943 nach Stalingrad, wenn das nationalsozialistische Regime mit Slogans von der „Neuordnung Europas“ und der „Neuen Ordnung“ vergeblich versuchte, eine kontinentale Einheit als antibolschewistische Abwehrgemeinschaft und Kollaborationsangebot zu beschwören. 1943 wird im Auswärtigen Amt dementsprechend ein „Europa-Ausschuss“
2 Mazower, Mark: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009. 3 Sandkühler, Thomas (Hg.): Europäische Integration. Deutsche Hegemonialpolitik gegenüber Westeuropa 1920‒1960, Göttingen 2002; Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa zwischen Reichstradition und Westorientierung (Studien zur Zeitgeschichte 69), München 2005; Gosewinkel, Dieter: Antiliberales Europa ‒ eine andere Integrationsgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), S. 351‒364; Gosewinkel, Dieter (Hg.): Anti-liberal Europe. A Neglected Story of Europeanization, Oxford/New York 2015; Dafinger, Johannes/Pohl, Dieter (Hg.): A New Nationalist Europe Under Hitler. Concepts of Europe and Transnational Networks in the National Socialist Sphere of Influence 1933‒1945, London 2019. 4 Vgl. hierzu Kletzin, Birgit: Europa aus Rasse und Raum. Die nationalsozialistische Idee der neuen Ordnung (Region – Nation – Europa 2), Münster 2000.
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eingerichtet. Ulrich Herbert hat diese nationalsozialistischen Europa-Aktivitäten folgendermaßen beurteilt: Deutschland als Vormacht eines geeinten Europa gegen die bolschewistische Bedrohung aus dem Osten – das sollte nun die Perspektive für die Nachkriegsordnung sein. Angesichts der Praxis der deutschen Besatzungs- und Deportationspolitik in den westeuropäischen Ländern war dies eine einigermaßen absurde Vorstellung, was nicht bedeutete, dass die Kampagne wirkungslos blieb.5
Grob gesprochen könnte man für die zeitliche Dimension der nationalsozialistischen Europapläne formulieren: Je deutlicher sich eine Kriegsniederlage des nationalsozialistischen Deutschlands abzeichnet, desto mehr rücken die nationalsozialistischen Bemühungen um Europa in den Vordergrund. Das sind auch diskursive Rückzugsgefechte, allerdings flankiert von Europagedanken westeuropäischer faschistischer Bewegungen, die Robert Grunert und Sven Reichardt untersucht haben.6 Neben dieser zeitlichen Dimension (vom nationalsozialistischen Desinteresse an Europa zu einer nationalsozialistischen Europapolitik) gilt es aber auch, die unterschiedlichen Träger der jeweiligen deutschen Europakonzepte während des Nationalsozialismus zu beachten: Neben dem offiziellen Kurs des Regimes gab es auch eine mal mehr und mal weniger gleichgeschaltete Europadebatte in den Wissenschaften, wenn Carl Schmitt, Karl und Albrecht Haushofer oder Werner Frauendienst sich geopolitisch und völkerrechtlich zu Wort meldeten. Carl Schmitts Europaüberlegungen zur Völkerrechtlichen Raumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht haben etwa Ulrich Herbert und Hans Joas jüngst untersucht.7 Auch Anknüpfungen an die Mitteleuropadebatten der Zwischenkriegszeit waren nicht unerheblich. Sie rekurrierten ebenfalls auf die Reichstradition. Und schließlich spielt Europa in den großen Tageszeitungen in Deutschland, Frankreich, England und Amerika eine riesige Rolle. Das ist ein wichtiger Quellenbestand, den Florian Greiner in seiner
5 Herbert, Ulrich: Das dritte Reich. Geschichte einer Diktatur (C. H. Beck Wissen 2859), Berlin 2016, S. 114. 6 Grunert, Robert: Der Europagedanke westeuropäischer faschistischer Bewegungen 1940‒1945, Paderborn 2012; Reichardt, Sven: Globalgeschichte des Faschismus. Neue Forschungen und Perspektiven, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67, Nr. 42/43 (2017), S. 10‒16. 7 Herbert, Ulrich: Deutsches Europa und großgermanisches Reich, in: Ders.: Wer waren die Nationalsozialisten? München 2021, S. 157‒183; Joas, Hans: Großraumordnung mit Interventionsverbot. Carl Schmitt und die Europapläne des Nationalsozialismus, in: Ders.: Friedensprojekt Europa? München 2020, S. 41‒59.
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Dissertation ausgewertet hat,8 und auch ein Fundus für den Autor Thomas Mann im amerikanischen Exil bei der Arbeit an seinem Roman. Dieser Roman, Doktor Faustus, präsentiert, wie es der Untertitel bereits ankündigt, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Diese narrative Faktur ist zentral für das Verständnis des Romans, denn alle Informationen, die der Leser erhält, sind gefiltert und perspektiviert von Serenus Zeitblom. Dieser figuralisierte, homodiegetische Narrator ist in mehrfacher Hinsicht ein unzuverlässiger Erzähler. Vom unzuverlässigen Erzählen spricht man in der Narratologie, wenn in einem literarischen Text die von einem fiktiven Erzähler vermittelte Geschichte Widersprüche und Ungereimtheiten aufweist, die sich nicht auf einen Fehler des Autors zurückführen lassen, sondern Zweifel an der Kompetenz oder Glaubwürdigkeit des Erzählers wecken sollen.9 Ein Erzähler ist unzuverlässig, wenn seine Aussagen und Handlungen in Spannung treten zu den Normen des gesamten Werks. Das ist bei Serenus Zeitblom in verdichteter Weise der Fall. Das von Zeitblom Gesagte ist nicht unbedingt das vom Text Gemeinte und das produziert eine seltsame Zweistimmigkeit. Das gilt sowohl für Zeitbloms Deutungen von Leverkühns Musik als auch für die Dämonisierung der erzählten Welt. Teils entgehen Zeitblom Tatbestände, teils versucht er, Dinge in euphemistischer Absicht zu vertuschen. Missverständliche Sachverhalte klärt er gelegentlich erst im Nachhinein auf und lässt den Leser öfter eine Zeit lang unter- oder fehlinformiert. Er ist voreingenommen und stets bemüht, seinen Freund Leverkühn zu verteidigen. Manches missversteht er und manches interpretiert er sich zurecht. Dass Zeitblom auch ein politisch unzuverlässiger Chronist ist, haben Jens Ewen, Ludwig Stockinger und Tom Kindt in jüngerer Zeit narratologisch untersucht und betont, dass die weltanschaulich-politischen Äußerungen Zeitbloms in deutlicher Spannung stehen zur politischen Positionierung des gesamten Romans.10
8 Greiner, Florian: Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914‒1945 (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert 1), Göttingen 2014. 9 Vgl. vor allem Nünning, Ansgar: Unreliabe Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitivnarratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens, in: Ders. (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Literatur. Unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck, Trier 1998, S. 3–39; Ders.: Reconceptualizing the Theory, History and Generic Scope of Unreliable Narration. Towards a Synthesis of Cognitive and Rhetorical Approaches, in: D’hoker, Elke/Martens, Gunther (Hg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel (Narratologia 14), Berlin/New York 2008, S. 29‒76; Nünning, Vera (Hg.): Unreliable Narration and Trustworthiness. Intermedial and Interdisciplinary Perspectives (Narratologia 44), Berlin 2015. 10 Ewen, Jens: Deutungsangebote durch Sympathiepunkte. Zur Strategie narrativer Unzuverlässigkeit in Thomas Manns Roman Doktor Faustus, in: Hillebrandt, Claudia/Kampmann, Elisabeth (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft (All-
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Für den hier nun in Betracht kommenden politisch europäischen Themenzusammenhang ist entscheidend, dass sich Zeitbloms Haltung zum Nationalsozialismus im Verlauf seiner Erzählung verändert. Während der Roman 45 Lebensjahre Leverkühns als biographisch erzählte Zeit vorträgt, vergehen Zeitblom knapp zwei Jahre abschüssiger Erzählerzeit vom Mai 1943 bis zum Frühjahr 1945, die von ihm mitrapportiert werden und in denen er sich langsam immer mehr vom Nationalsozialismus distanziert. Oder anders formuliert: Doktor Faustus ist von Beginn an ein antinationalsozialistischer Roman, sein Erzähler hingegen entwickelt sich erst allmählich zu einem überzeugten Kritiker des Nationalsozialismus. Dies gilt es bei Analyse der erzählerischen Präsentation nationalsozialistischer Europapläne zu beachten. Obwohl Zeitblom sich bereits 1934 wegen seiner Distanz zum Nationalsozialismus in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lässt, um nicht die neue Staatsideologie im Schulunterricht vermitteln zu müssen, und trotzdem er schon zu Beginn seines Berichts betont, dass er während des Kriegs nur etwas mehr fürchtet „als die deutsche Niederlage, und das ist der deutsche Sieg“,11 erscheint er doch im Mai 1943 in manchen Aussagen noch dem Nationalsozialismus in einer Weise nah, die sein Autor definitiv zu dieser Zeit nicht gut geheißen hat. Gleich auf der ersten Seite seiner Niederschrift entschuldigt sich Zeitblom beim Leser für eine etwas ausführlich geratene Selbstvorstellung und er definiert den eigenen Schreibort in einer ziemlich verhedderten Hypotaxe: Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, daß der Leser ‒ ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, ‒ es sei denn, daß sie durch ein Wunder unsere umdrohte Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; ‒ ich bitte wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird, über das Wer
gemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 19), Berlin 2014, S. 270‒283; Stockinger, Ludwig: Serenus Zeitblom und Monsignore Hinterpförtner. Darstellung und Deutung des ‚Christlichen Humanismus‘ der Zwischenkriegszeit in Thomas Manns Doktor Faustus, in: Löwe, Matthias/ Streim, Gregor (Hg.): Humanismus in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland (Klassik und Moderne 7), Berlin/Boston 2017, S. 215‒234; Kindt, Tom: ‚Fieberhafte Steigerung‘. Zur Zuverlässigkeit des Erzählers in Thomas Manns Doktor Faustus (1947), in: Ders./Aumüller, Matthias (Hg.): Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens (Abhandlungen zur Literaturwissenschaft), Stuttgart 2021, S. 49‒61. 11 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2007 (= Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 10. 1), S. 50. Im Folgenden wird Doktor Faustus nach dieser Ausgabe mit der Sigle „DF“ im Fließtext zitiert.
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und Was des Schreibenden beiläufig unterrichtet zu sein, schicke ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum voraus, ‒ nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser Zweifel zu erwecken, ob er sich auch in den rechten Händen befindet, will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der rechte Mann für eine Aufgabe bin, zu der vielleicht mehr das Herz als irgendwelche berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht. (DF, 11)
Zeitblom bestimmt den eigenen Schreibort nicht national auf Deutschland beschränkt, sondern als „unsere umdrohte Festung Europa“. Er wählt damit einen Begriff der Nazipropaganda („Festung Europa“), den Joseph Goebbels eingeführt und Heinrich Himmler etabliert hatte für die von Deutschland und Italien während des Zweiten Weltkriegs besetzten Gebiete Europas. Es ist ein „Slogan der ersten Kriegsjahre, der die Stärke des von der Achse beherrschten Kontinents im Kampf gegen die Alliierten ausdrücken sollte“.12 Wenn also Zeitblom sich im Mai 1943 mit dieser Vokabel einführt, illustriert das recht gut, inwiefern er in seinem Duktus einerseits durchaus noch Phrasen und Denkfiguren des Nationalsozialismus aufgreift und sie sich mit dem einvernehmlichen Possessivpronomen „unsere“ zu eigen macht. Andererseits ist „Festung Europa“ aber auch ein Begriff, der 1942/43 bei den Nationalsozialisten zunehmend in Verruf geriet, so dass schließlich auch Befehle ergingen, den Gebrauch des Begriffs zu untersagen, „da es ein negativer Ausdruck ist. Festungen sind immer auf Belagerung und Verteidigung eingestellt, dagegen befindet sich Europa im Angriff “, so eine nationalsozialistische Presseanweisung.13 In den Bereich der politisch-axiologischen erzählerischen Unglaubwürdigkeit fallen auch Zeitbloms Äußerungen zum Jüdischen. Die Erinnerung an den Rabbiner von Kaisersaschern ist der Anlass für Zeitblom, zu Beginn seines Berichts zu bekennen, daß ich gerade in der Judenfrage und ihrer Behandlung unserem Führer und seinen Paladinen niemals voll habe zustimmen können, was nicht ohne Einfluß auf meine Resignation vom Lehramte war. Freilich haben auch Exemplare jenes Geblütes meinen Weg gekreuzt ‒ ich brauche nur an den Privatgelehrten Breisacher in München zu denken ‒, auf deren verwirrend antipathisches Gepräge ich an gehörigem Ort einiges Licht zu werfen mir vornehme. (DF, 17)
12 Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2 2007, S. 232; Glunk, Rolf: Erfolg und Mißerfolg der nationalsozialistischen Sprachlenkung, in: Zeitschrift für deutsche Sprache 25 (1969), S. 116–128, hier S. 127. 13 Ebd.
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Hier wird klar, dass die politische Position Zeitbloms zu Beginn seiner Niederschrift 1943 in deutlicher Spannung steht zu der weltanschaulichen Gesamtaussage dieses Exilromans.14 Zeitblom spricht hier noch einvernehmlich von Hitler als „unserem Führer“ und provoziert natürlich die Nachfrage, inwieweit er zwar „niemals voll“, aber dann doch wohl irgendwie partiell der nationalsozialistischen Judenverfolgung zugestimmt habe. Euphemistisch vernebelnd ist die Wortwahl, die für die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten den neutralen Begriff der „Behandlung“ heranzieht. Auch der hervorbrechende Vorverweis auf Dr. Chaim Breisacher, der eine zentrale Gestalt des konservativ-revolutionären Kridwiß-Kreises im Roman ist, dokumentiert Zeitbloms ambivalentes Verhältnis zu den Juden. Er möchte an dieser Stelle seine im Selbstbild religiös tolerante, regimekritische und politisch unabhängige Haltung vermitteln und transportiert (sowohl für den zeitgenössischen als auch den heutigen Leser erkennbar) ungewollt gleichzeitig, wie sehr er im Sprachgebrauch und Gedankenhaushalt Kind seiner Zeit ist. Er definiert das Jüdische nicht als eine Religionszugehörigkeit, sondern biologistisch als Angelegenheit des „Geblütes“. Auch noch im Oktober 1943 knüpft Zeitblom an nationalsozialistische Europakonzepte an, wenn er nach der Lektüre von Kriegsberichten in der Zeitung von einem militärisch wichtigen „neuen Torpedo von fabelhaften Eigenschaften“ schwärmt, „das der deutschen Technik zu konstruieren gelungen ist“ (DF, 251): Ich kann eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken über unseren immer regen Erfindungsgeist, die durch nochsoviele Rückschläge nicht zu beugende nationale Tüchtigkeit, welche immer noch voll und ganz dem Regime zur Verfügung steht, das uns in diesen Krieg geführt hat und uns tatsächlich den Kontinent zu Füßen gelegt, den Intellektuellentraum von einem europäischen Deutschland durch die allerdings etwas beängstigende, etwas brüchige und, wie es scheint, der Welt unerträgliche Wirklichkeit eines deutschen Europa ersetzt hat. (DF, 251)
Die kosmopolitische Idee von einem „europäischen Deutschland“ wird retrospektiv als bloßer „Intellektuellentraum“ ohne Sitz im Leben abgestempelt. Der Wechsel von gleichberechtigter Partizipation und Weltoffenheit zu hegemonialen Unterwerfungspraktiken wird rhetorisch überführt in den Twist vom „europäischen Deutschland“ zum „deutschen Europa“. Dieser Chiasmus ist vielleicht auch deshalb so schillernd, weil er mit dem gleichen Wortmaterial nicht nur politisch gegensätzliche Konzepte, sondern auch recht unterschiedliche Geltungsbereiche vermittelt.
14 Vgl. hierzu auch Kaiser, Gerhard: „… und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine“. Erzählstrategien in Thomas Manns Doktor Faustus, Stuttgart/Weimar 2001.
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Während die Formulierung vom „europäische Deutschland“ das Ideal einer universalistischen Geisteshaltung formuliert, zielt „deutsches Europa“ auf politische Herrschaftsverhältnisse und Hegemonie. Die „Wirklichkeit eines deutschen Europa“ fasziniert und schreckt den Erzähler dabei gleichermaßen. Aber die Zufriedenheit darüber, dass hier den Deutschen scheinbar der „Kontinent zu Füßen gelegt“ wurde, scheint die Zweifel zu kompensieren. Gleichwohl deutet sich hier aber auch schon an, dass diese kurzzeitige Kriegswirklichkeit „eines deutschen Europa“ nicht stabil, sondern dilatorisch und nicht nur für die Welt, sondern auch für den deutschen Erzähler eine „etwas beängstigende, etwas brüchige“ Vorstellung ist. Zeitblom kommt zwar mehr und mehr der „vorgeschriebene[.] Glauben an die Unverletzlichkeit der Feste Europa“ (DF, 255) abhanden, aber er bedient sich weiter der lingua tertii imperii, bleibt bei der Bezeichnung „unser Führer“ (DF, 254) ohne distanzierende Anführungszeichen, von denen er sonst sehr gerne Gebrauch macht, um einen Begriff zu relativieren. Er oppositioniert „unserer Wehrmacht“ die „russischen Horden“ (DF, 253), die er variierend auch als „rote Flut“ (DF, 254) verbildlicht. Die ideologischen Fronten scheinen klar abgesteckt zu sein, wenn Zeitblom die Gefahr und Wahrscheinlichkeit eines Vorrückens der Sowjets in dazumal deutsches Territorium reflektiert: Gottlob liegen noch weite Strecken zwischen dem östlich andringenden Verderben und unseren heimatlichen Gefilden, und wir mögen bereit sein, an dieser Front vorerst manche kränkende Einbuße hinzunehmen, um mit desto zärtlicherer Kraft unseren europäischen Lebensraum gegen die westlichen Todfeinde deutscher Ordnung zu verteidigen. (DF, 254 f.)
Gleichermaßen bedroht von dem „östlich andringenden Verderben“ wie gepolt „gegen die westlichen Todfeinde deutscher Ordnung“, schrumpft der „europäische Lebensraum“ erheblich. Es wird im Oktober 1943 langsam immer enger und umzingelter in Zeitbloms „Festung Europa“. Es scheint mir gut möglich, dass der Autor Thomas Mann hier auch reagiert auf Debatten in amerikanischen Tageszeitungen, die sich Gedanken über Hitler’s New Europe machten.15 Die New York Times brachte am 10. Oktober 1943 etwa eine Karikatur: That Fortress of Europe schrumpft hier in vier Bildern von einer breitflächigen Festung mit Mauercharakter zu einem immer schmaler werdenden Turm, auf dessen Ausguck es Hitler langsam ungemütlich und eng wird. Das letzte Bild scheint zudem Hitler zur menschlichen Kanonenkugel zu verformen, der sich selbst ungewollt aus seiner Festung Europa herausschießt.
15 Hitler’s New Europe, in: Chicago Tribune vom 19. März 1943, S. 16.
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Abb. 1 [Ruskill:] That Fortress of Europe, in: New York Times vom 10. Oktober 1943. Zitiert nach Greiner: Wege nach Europa, Anm. 8, S. 195.
Die zuvor zitierten Passagen vom „europäischen Lebensraum“ und den „westlichen Todfeinden deutscher Ordnung“ lesen sich im Doktor Faustus auch wie Paraphrasen aus der örtlichen „Freisinger Zeitung“, dem „Blatt“ (DF, 251), das Zeitblom morgens zum Frühstück liest, wenn er auch von der amerikanischen „Invasion unseres schönen Siziliens“ (DF, 255) berichtet. Aber je länger diese Rekapitulation des Morgenblattes andauert, desto mehr schleichen sich in die unkritisch einvernehmliche Paraphrase zweifelnde Zwischentöne Zeitbloms an der deutschen Kriegsberichterstattung ein. Der Rückzug deutscher Truppen aus Neapel angesichts der amerikanischen Landung und eines dortigen kommunistischen Aufstands des italienischen Widerstands wird von Zeitblom folgendermaßen begründet: Vorige Woche ist in Neapel ein kommunistischer, den Alliierten behilflicher Aufstand ausgebrochen, der die Stadt nicht länger als einen deutscher Truppen würdigen Aufenthalt erscheinen ließ, so daß wir sie, nach gewissenhafter Zerstörung der Bibliothek und mit Hinterlassung einer Zeitbombe im Hauptpostamt, erhobenen Hauptes geräumt haben. (DF, 255)
Hier nun kippt die Propaganda-Paraphrase in Propaganda-Entlarvung. Es bleibt in der Schwebe, inwiefern Zeitblom die durchsichtige regimetreue journalistische Verbrämung einer Niederlage zum bloßen Standortwechsel hier bloß nachschreibt oder im Nachschreiben bewusst schon ironisierend und sarkastisch vorführt als durchsichtigen Euphemismus. In den Passagen zuvor macht sich Zeitblom aber auch den nationalsozialistischen Untergangsheroismus zu eigen, wenn er fatalistisch wagnerisierend ausholt: „Ja, wir sind ein […] Volk von mächtig tragischer Seele, und unsere Liebe gehört dem Schicksal, jedem Schicksal, wenn es nur eines ist, sei es auch der den Himmel mit Götterdämmerungsröte entzündende Untergang!“ (DF, 254) In dieser Untergangsfixierung wird er auch von anderer Seite bestätigt, nämlich in den Gesprächen mit dem katholischen „Haupt[..] unserer Freisinger theologischen Hochschule,
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Monsignore Hinterpförtner“ (DF, 252). Der ist überzeugt, dass das „Fehlschlagen unseres Welteroberungsunternehmens einer nationalen Katastrophe ersten Ranges gleichkommen muß“ (DF, 252). Diesem fiktiven Freisinger Katholiken verdankt Zeitblom „beim Abendschoppen unter vier Augen“ (DF, 252) viele seiner politischen Positionen.16 Mit Anerkennung spricht Zeitblom davon, dass „dessen Weltverstand ihm keine Illusionen erlaubt“ (DF, 252). Er versucht, Hinterpförtners Haltung zu vergleichen mit dem „leidenschaftlichen Gelehrten, um den sich im Sommer [des Jahres 1943] der gräßlich im Blut erstickte Münchner Studentenaufstand zentrierte“ (DF, 252). Damit ist die Widerstandbewegung der „Weißen Rose“ gemeint. So präsentieren diese erzählerisch selbstreflexiven Passagen des XXI. Kapitels verschiedene Optionen und Grade der politischen Abstandnahme während des Nationalsozialismus: von der stillen inneren Emigration eines christlich humanistischen Monsignore Hinterpförtner, dessen Rückzug und Beiseitestehen ja schon sein sprechender Nachname signalisiert, bis hin zum Münchner Widerstand der Weißen Rose und ihres „leidenschaftlichen Gelehrten“ Kurt Huber, die hier allerdings zwar örtlich nah, aber ideologisch weit entfernt sind von dem angstvoll zurückgezogenen Beobachtungsmodus von Zeitblom in Freising. Im April 1944 reflektiert Zeitblom angesichts der Luftangriffe auf Deutschland den Zustand „unsere[r] wohlgegürtete[n] Festung Europa“ (DF, 367), spricht noch einmal vom Himmel des „kühn geeinten Kontinents“ (DF, 367), gedenkt „unserer heldenhaften Abwehr“ (DF, 367) und sorgt sich um die Vorkehrungen, die getroffen werden, um „uns und den Erdteil vor dem Verlust unserer gegenwärtigen Führer zu schützen“ (DF, 368). Aber je länger er grübelt, desto mehr kommen ihm Zweifel, ob diese gewohnten Begriffe der Situation noch angemessen sind: Unterdessen wächst der Schrecken der fast täglichen Luftangriffe auf unsere wohlumgürtete Festung Europa ins Überdimensionale. Was hilft es, daß viele dieser ein immer sprengmächtigeres Verderben niedersenkenden Ungeheuer unserer heldenhaften Abwehr zum Opfer fallen? Tausende verdunkeln den Himmel des kühn geeinten Kontinents, und immer weitere unserer Städte sinken in Trümmer. […] Die Invasionsspannung wächst: Der Angriff von allen Seiten, mit überlegenem Material und Millionen Soldaten auf unser europäisches Kastell ‒ oder soll ich sagen: unser Gefängnis, soll ich sagen: unser Narrenhaus? ‒ wird erwartet […]. (DF, 367 f.)
16 Dass damit auch die Grenzen von Zeitbloms und Hinterpförtners katholischem Humanismus vorgeführt werden, betont Stockinger: Serenus Zeitblom und Monsignore Hinterpförtner, Anm. 10; zu Zeitbloms Katholizismus vgl. auch Neumann, Michael: Der Humanist auf dem Domberg oder Thomas Mann und das Katholische, in: Deterich, Heinrich/Marx, Friedhelm (Hg.): Thomas Manns Doktor Faustus ‒ neue Ansichten, neue Einsichten (Thomas-Mann-Studien 46), Frankfurt a. M. 2013, S. 77‒95 und Elsaghe, Yahya: Serenus Zeitbloms Katholizismus. Zum Spätwerkscharakter des Doktor Faustus, in: Weimarer Beiträge 48 (2002), S. 226‒241.
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Bemerkenswert ist, dass zu Beginn dieser Passage explizit noch vom „kühn geeinten“, nicht etwa kriegerisch-feindlich eroberten Kontinent die Rede ist. Das spiegelt noch einmal literarisch, wie sehr die Einigungsbegrifflichkeit nicht erst eine Semantik eines demokratischen Friedensprojekts Europa der Nachkriegszeit gewesen ist, sondern bereits im Nationalsozialismus genutzt wurde für das Propagandanarrativ einer kriegerisch europäischen Abwehrgemeinschaft. Der „Gründungsmythos vom Friedensprojekt Europa“ lässt sich, so hat es Hans Joas kürzlich formuliert, „in vielen Hinsichten historisch nicht halten“.17 Die Schutz gebende, einstmals vermeintlich „wohlumgürtete Festung Europa“ mutiert bei Zeitblom allerdings nun zu einem freiheitsberaubenden „Gefängnis“ und politische Tollheit kasernierenden „Narrenhaus“. Die Festung verliert ihre Festigkeit, Beständigkeit und Härte für die von außen beziehungsweise vor allem von oben eindringenden Feinde, während sie im Innern den Eindruck von Eingesperrtsein vermittelt. Wichtig scheint mir hier zu sein, dass Zeitbloms Abrücken vom nationalsozialistischen Jargon vor allem initiiert wird durch die prekäre militärische Lage, in der sich Deutschland befindet. Nicht das Entsetzen vor dem nationalsozialistischen Terror, sondern die militärischen Misserfolge des Regimes lassen Zeitblom langsam umdenken. Seine Haltung zum politischen System verschiebt sich allmählich. Je länger der Krieg dauert und je eindeutiger sich eine deutsche Niederlage abzeichnet, desto mehr und deutlicher distanziert sich Zeitblom vom Nationalsozialismus. Man kann daher narratologisch formulieren, dass Doktor Faustus einen Erzähler präsentiert, dessen politische „Werthaltungen während seines Berichts tendenziell zuverlässiger werden“ gemessen am Wertesystem, das der gesamte Roman von Anfang an präsentiert.18 Im Juni 1944 ist Zeitblom angesichts der Invasion Frankreichs schließlich überzeugt, dass Niederlage und Kapitulation Deutschlands der einzig noch gangbare Weg sein wird. Er blickt auf den französischen Widerstand und bilanziert noch einmal die nationalsozialistischen Europapläne mit der französischen Hauptstadt, mit Paris, dem in der neuen Ordnung die Rolle des europäischen Lunaparks und Freudenhauses zugedacht war, und wo nun, kaum noch im Zaum gehalten von den vereinten Kräften unserer Staatspolizei und ihrer französischen Mitarbeiter, der Widerstand keck sein Haupt erhebt. (DF, 489)
17 Joas: Friedensprojekt Europa?, Anm. 7, S. 97. 18 Kindt: ‚Fieberhafte Steigerung‘, Anm. 10, S. 59.
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Die Formulierung von der „neuen Ordnung“ greift die nationalsozialistische Neuordnungsrhetorik auf.19 „Neu“ sollte „besser“ suggerieren und wurde „abgegrenzt vom sogenannten ‚alten Europa‘, welches primär mit einem der großen Feindbilder des Nationalsozialismus, der Ordnung von Versailles, gleichgesetzt wurde“.20 Interessant ist, dass Thomas Mann an dieser Stelle sehr gefeilt hat, im Typoskript hatte noch nicht der „Widerstand“, sondern die „die Sabotage keck ihr Haupt“ in Paris erhoben.21 Diese Korrektur zeigt, wie sehr es dem Autor darum ging, Zeitbloms zwiespältige Haltung zum Nationalsozialismus herauszuarbeiten, der an dieser Stelle zwar noch einvernehmlich „von den vereinten Kräften unserer Staatspolizei“ spricht, aber dann nicht mehr die Aktionen der Résistance als „Sabotage“ verunglimpft, sondern als „Widerstand“ kennzeichnet. Über die Propagandaformel vom „heiligen deutschen Boden“ entnervt aufstöhnend, kommt Zeitblom endlich zu dem Schluss: Als ob noch irgend etwas an ihm [i. e. dem deutschen Boden] heilig, als ob er nicht durch ein Unmaß von Rechtsbeleidigung längst über und über entweiht wäre und nicht moralisch ebenso, wie tatsächlich, der Gewalt, dem Strafgericht offenläge. Es komme! Nichts anderes bleibt mehr zu hoffen, zu wollen, zu wünschen. (DF, 491)
Mit dieser Akzeptanz von Deutschlands Schuld beginnt auch eine ganz vorsichtige und noch zaghafte Verwandlung Zeitbloms.22 Sein politischer Kompass verschiebt sich. Seine geistige Landkarte sortiert sich neu. Er spricht nicht mehr von den „westlichen Todfeinde[n] deutscher Ordnung“ (DF, 255) wie noch im Oktober 1943, sondern er konzediert, wenn auch mit vielen gravierenden Vorbehalten, dass eine Umorientierung hin zum Westen möglich und vonnöten sei: Seither [seit 1919] hat die Geschichte mich gelehrt, unsere Besieger von damals, die es nächstens im Bunde mit der Revolution des Ostens wieder sein werden, mit anderen Augen zu betrachten. Es ist wahr: gewisse Schichten der bürgerlichen Demokratie schienen und scheinen heute reif für das, was ich die Herrschaft des Abschaums nannte, ‒ willig zum Bündnis damit, um ihre Privilegien zu fristen. Dennoch sind ihr Führer erstanden,
19 Vgl. auch Dafinger, Johannes: Speaking Nazi-European: the Semantic and Conceptual Formation of the National Socialist „New Europe“, in: Ders./Pohl (Hg.): A New Nationalist Europe under Hitler, Anm. 3, S. 43‒56. 20 So Greiner: Wege nach Europa, Anm. 8, S. 187. 21 Vgl. Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Kommentar von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt a. M. 2007 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, 10.2), S. 675. 22 Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert (Kleine Reihe V&R 4017), Göttingen 1999.
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welche, nicht anders als ich, der Sohn des Humanismus, in dieser Herrschaft das Letzte sahen, was der Menschheit auferlegt werden konnte und durfte, und ihre Welt zum Kampf auf Leben und Tod dagegen bewogen. Nicht genug ist das diesen Männern zu danken, und es beweist, daß die Demokratie der Westländer, bei aller Überholtheit ihrer Institutionen durch die Zeit, aller Verstocktheit ihres Freiheitsbegriffs gegen das Neue, wesentlich doch auf der Linie des menschlichen Fortschritts, des guten Willens zur Vervollkommnung der Gesellschaft liegt und der Erneuerung, Ausbesserung, Verjüngung, der Überführung in lebensgerechtere Zustände ihrer Natur nach fähig ist. (DF, 494 f.)
Das ist natürlich kein enthusiastisches und ungetrübtes Bekenntnis zum Westen. Aber es markiert einen Punkt, an dem ein Umdenken eingeleitet ist, ein langsamer und mühsamer Weg nach Westen sich öffnet oder zumindest begehbar erscheint.23 Man kann diesen hier präludierten Prozess mit Anselm Doering-Manteuffel als „Westernisierung“ Deutschlands und Westeuropas nach 1945 beschreiben.24 Während der Begriff der Amerikanisierung auf eine europäische Übernahme einer Konsum- und Marketingkultur und eines Lebensstils zielt, bedeutet Westernisierung die „Hinwendung zu und Anpassung an anglo-atlantische Muster soziopolitischer und sozialökonomischer Ordnungsvorstellungen“.25 Westernisierung meint die politisch-ideelle Homogenisierung der westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften. Ob der 1885 geborene Zeitblom diesen Weg nach Westen weiter beschritten hätte und dort gut angekommen und Teil der liberalen Wandlungsprozesse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft geworden wäre,26 lässt der Roman offen. Er endet noch vor dem 8. Mai 1945. In Zeitbloms Spekulationen über westernisierende Liberalisierungs- und Demokratisierungsmöglichkeiten speist Thomas Mann seine eigene Entwicklung ein. Aber während Thomas Manns Auseinandersetzung mit westlichen Ordnungsideen vor Ort im kalifornischen Exil stattfand, bleibt Zeitbloms zaghafte Westernisierung amerikaskeptisch und auf Europa konzentriert.
23 Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen. 2 Bde, München 2000. 24 Doering-Manteuffel meidet den Begriff der Verwestlichung, weil diesem durch das häufig negativ konnotierte Präfix „ver“ die nötige Neutralität einer analytischen Beschreibungskategorie fehlt: „Wer von ‚Veramerikanisierung‘ spricht, äußert sich geringschätzig. Das will bedacht sein, wenn der Begriff ‚Verwestlichung‘ daneben gestellt wird. Wer zudem als Zeithistoriker/in die Sprache der Nazis kennt, die mit voller Absicht von ‚Verjudung‘ sprachen, um negative Assoziationen zu erzeugen, wird es vermeiden, von ‚Verwestlichung‘ zu sprechen, wenn das Beschreiben wertneutral dargelegt werden soll“ (Doering-Manteuffel, Anselm: Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19. August 2019, http://docupedia.de/zg/Doering-Manteuffel_ amerikanisierung_v2_de_2019 [letzter Zugriff 25.10.2022]). 25 Ebd. 26 Vgl. Schildt, Axel: Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1999. Herbert, Ulrich (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945‒1980 (Moderne Zeit 1), Göttingen 2002.
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Zeitbloms kontinentale Selbstbezüglichkeit rekapituliert, spiegelt und verzerrt vielmehr noch einmal die Europavorstellungen von Thomas Mann in der Zwischenkriegszeit.27 In der Pariser Rechenschaft hatte Thomas Mann 1926 gleichzeitig noch Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropa-Konzepte und Karl Anton Rohans faschismusfreundliche Europa-Umtriebigkeit positiv gewürdigt. Danach hatte er, wie es erstmals Tillmann Heise herausgearbeitet hat, sogar noch gemeinsam mit Karl Wolfskehl in München eine Ortgruppe von Rohans ultrakonservativen europäischen Kulturbünden gegründet.28 Erst Ende der 1920er Jahre vereindeutigte sich dann Thomas Manns Europa-Engagement in die demokratische Variante. Aber es scheint mir wichtig festzuhalten, dass die Europapositionierungen Thomas Manns länger politisch zweideutig oder „vexatorisch“ bleiben (um einen von Thomas Mann gern gewählten Begriff zu benutzen) als seine Haltung zur Weimarer Republik. Zu der bekannte er sich bereits 1922. Diese europäische Ambivalenz lässt Thomas Mann meines Erachtens seinen Erzähler Serenus Zeitblom übernehmen, wenn dieser längere Zeit die antiliberalen, nationalistischen und nationalsozialistischen Europapläne freundlich bis affirmativ kommentiert, bevor er sich angesichts des Untergangs des nationalsozialistischen Regimes auch von dessen Konzepten einer „Festung Europa“, eines „neuen Europa“ und dessen „neuer Ordnung“ distanziert. Das adäquate ästhetische Mittel, um eine solche europäische Zweideutigkeit zum Ausdruck zu bringen, ist das unzuverlässige Erzählen.
27 Vgl. hierzu Marx, Friedhelm: „Europa als Kulturgemeinschaft“. Thomas Manns Europa-Bild in der Weimarer Republik, in: Costagli, Simone (Hg.): Spazi e figure del politico nell’opera di Thomas Mann, Rom 2020, S. 49‒58. 28 Vgl. Heise, Tillmann: Der Kulturbund, die Europäische Revue und die Schriftsteller. Antiliberale Ideen von Europa zwischen den Weltkriegen. Heidelberg 2019 (ungedruckte Masterarbeit).
Johannes Dafinger
Agent und Instrument Hans Friedrich Blunck, die Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und das nationalsozialistische „neue Europa“
1.
Einleitung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste sich Hans Friedrich Blunck einem Entnazifizierungsverfahren vor dem Entnazifizierungsausschuss in Kiel stellen. In den Fragebogen der britischen Militärregierung trug Blunck, um Auskunft nach seiner „augenblicklichen oder angestrebten Stellung“ gebeten, „Schriftsteller und Bauer“ ein.1 Tatsächlich war Blunck ein auf einem Gutshof lebender ehemaliger Bestsellerautor, dessen Bücher im nationalsozialistischen Deutschland in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren gedruckt worden waren und ihn zum Spitzenverdiener gemacht hatten.2 Dass Blunck hinter Schriftsteller „und Bauer“ hinzugefügte, ist daher einerseits ein erster Hinweis darauf, wie Blunck in seinem Entnazifizierungsverfahren durch die stärkere Gewichtung von Nebensächlichkeiten, das Verschweigen von Informationen sowie durch unpräzise bzw. komplett falsche Angaben einen für sich günstigen Ausgang erreichen wollte. Andererseits passt der Zusatz auch zu Bluncks Selbstverständnis als heimat- und volksverbundener Dichter. Während der Verhandlung vor dem Entnazifizierungsausschuss rückte die Anklage von der Einschätzung, Blunck habe „durch seine Haltung, Stellung und Tätigkeit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wesentlich gefördert und gefestigt“,3 ab: Obwohl Blunck von 1933 bis 1935 der Reichsschrifttumskammer als Präsident
1 National Archives College Park (NACP), Record Group (RG) 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021 (Blunck, Hans Friedrich), Frames 2718–2730, Fragebogen des Military Government of Germany, von Blunck ausgefüllt am 20.02.1947, S. 1. 2 Zu Bluncks steuerpflichtigem Einkommen siehe ebd., S. 10. Siehe außerdem: Schneider, Tobias: Bestseller im Dritten Reich. Ermittlung und Analyse der meistverkauften Romane in Deutschland 1933–1944, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), H. 1, S. 77–97. 3 NACP, RG 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021, Frames 3352–3382, Abschrift des Sitzungsprotokolls [des Entnazifizierungsausschusses Kiel], o. D., S. 1, Anlage zu: Landesregierung Schleswig-Holstein, Ministerium des Innern, Abteilung für Entnazifizierung und Kategorisierung an den Licensing Adviser der Zonal Offices of Information Services v. 06.04.1949, betr. Entnazifizierung Dr. Hans-Friedrich [sic] Blunck.
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vorgestanden hatte, 1937 der NSDAP und zahlreichen weiteren Parteiorganisationen beigetreten war und von 1936 bis 1941 als Präsident der Stiftung Deutsches Auslandswerk fungierte, forderte der Öffentliche Kläger letztlich nur eine Einstufung Bluncks als „Mitläufer“, denn Blunck sei niemand gewesen, der „für den Nationalsozialismus eintrat, sondern nur für sein Volk und Vaterland“.4 Insofern hatte Bluncks Verteidigungsstrategie also tatsächlich Erfolg. Zu diesem für Blunck günstigen Ausgang des Verfahrens trugen auch zahlreiche Persilscheine bei.5 Zu den wenigen Bluncks Rolle in der NS-Zeit gegenüber kritischen Stimmen gehörte die von Thomas Mann. Von Bluncks Bruder bereits unmittelbar nach Kriegsende mit der Bitte kontaktiert, sich für eine Freilassung Bluncks aus britischer Kriegsgefangenschaft einzusetzen,6 und später auch von Blunck selbst indirekt um Absolution gebeten,7 reagierte Mann bestürzt ob der fehlenden Einsicht und des sentimentalen Selbstmitleids des Kollegen.8 Gegenüber dem Kieler Entnazifizierungsausschuss gab Mann an, Bluncks Werke enthielten faschistische Tendenzen.9 Blunck verteidigte sich in einem Brief an Mann gegen diesen Vorwurf unter anderem mit dem Hinweis, dass seine letzte Arbeit vor Kriegsende von der „geistigen Einheit Europas“ gehandelt habe, womit insbesondere ein Vortrag bzw. Essay Bluncks mit dem Titel Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas gemeint gewesen sein muss.10 Auch in einer Schutzschrift, die er dem Entnazifi4 Ebd., S. 13. 5 NACP, RG 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021, Frames 3256–3300, Dr. Emcke (Rechtsanwalt und Notar) an den Entnazifizierungsausschuss in Plön/ Holstein v. 21.04.1947 (englische Fassung: Frames 3206–3250). Das Schreiben enthält Abschriften (teils in Übersetzung) von wohlwollenden Briefen bzw. Auszügen aus Briefen an Blunck, etwa von Peter Suhrkamp, Leonard A. Willoughby, William Edward Collinson, August Closs, Erik Rooth, Ernst Robert Curtius und der Tochter von Alfons Paquet. Zum Verhältnis zwischen Willoughby und Blunck, auch zu Willoughbys Rolle in Bluncks Entnazifizierungsverfahren, siehe: Wilson, W. Daniel: Willoughby, Blunck, and their Jewish Critics: The English Goethe Society and AngloGerman Relations in the Nazi Period, in: Publications of the English Goethe Society 90 (2021), H. 3, S. 167–213. 6 Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel (SHL Kiel), Nachlass Hans Friedrich Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Rudolf W. Blunck an Mann v. 06.11.1945. 7 SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Blunck an Mann v. 28.05.1946. 8 SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Mann an Blunck o. D. [22.07.1946]. Vgl. auch SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Mann an Rudolf W. Blunck v. 19.11.1945. 9 Dass Mann faschistische Tendenzen in Bluncks Oeuvre erkannte, lässt sich nur indirekt erschließen aus: SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Blunck an Mann v. 24.03.1949. Im Material des Entnazifizierungsausschusses im NACP konnte der Brief, den Mann Blunck zufolge an den Ausschuss gesendet habe und den Blunck gelesen hatte, nicht aufgefunden werden. 10 Blunck, Hans Friedrich: Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden Nr. 59 v. 03.08.1943, Nr. 60 v. 04.08.1943 (Fortsetzung), Nr. 61 v.
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zierungsausschuss vorlegen ließ, wies Blunck darauf hin, dass er sich schon früh mit der „Vorgeschichte, die Europa als Einheit deutet“, beschäftigt habe, was seine politische Einstellung und sein politisches Handeln beeinflusst habe: So habe er eine leitende Rolle im Netzwerk der zwischenstaatlichen Freundschaftsgesellschaften des Deutschen Reiches angenommen, um am „Aufbau einer europäischen Geistigkeit und Gemeinsamkeit“ mitzuwirken – „im Sinne einer europäischen Kulturpolitik“.11 Und in einer Anlage zur Schutzschrift erläutert Blunck, das politische Ziel, das er mit seiner Publikation von Sagen unter dem Titel Sage vom Reich verfolgt habe, ergebe sich ebenfalls aus dem gleichzeitig entworfenen Vortrag.12 Offensichtlich hoffte Blunck, seine Beschäftigung mit Europa und seine Funktion als Kulturmanager zwischenstaatlicher Verbände mache ihn in den Augen des Entnazifizierungsausschusses zu einem Antifaschisten – als den Blunck sich sowohl in der Schutzschrift als auch in seinem autobiographischen, Anfang der 1950er Jahre erschienenen „Lebensbericht“ selbst bezeichnete.13 Anhand einer Analyse des Essays Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas soll im Folgenden gezeigt werden, dass es zu dieser Schlussfolgerung keinen Anlass gibt. Denn dieser Text Bluncks war keineswegs antifaschistisch, sondern fügte sich im Gegenteil bruchlos in den nationalsozialistischen Europadiskurs ein, der „Europa“ als Raum rassistisch definierte und unter deutscher Vorherrschaft einer völkischen Ordnung unterwerfen wollte. Anschließend wird Bluncks Europa-Essay in den Kontext von Bluncks Rolle als Präsident der Stiftung Deutsches Auslandswerk gestellt und in den breiten Europadiskurs im Rahmen des Netzwerks der zwischenstaatlichen Freundschaftsgesellschaften des nationalsozialistischen Deutschland eingeordnet, zu deren verdeckter Finanzierung und Kontrolle die Stiftung Deutsches Auslandswerk gegründet worden war.
05.08.1943 (Fortsetzung), Nr. 62 v. 06.08.1943 (Fortsetzung) und Nr. 64 v. 08.08.1943 (Fortsetzung). Dieser Essay ging aus einem Vortrag Bluncks hervor, siehe dazu unten. 11 NACP, RG 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021, Frames 2742–2748 (besser lesbare Abschrift: Frames 2874–2880), Hans Friedrich Blunck, Berührung mit der Kulturpolitik 1933/45 (Auszug aus der Schutzschrift), o. D. [ca. 1947]. 12 NACP, RG 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021, Frames 2750–2756, Anlage zur Schutzschrift Bluncks. Es gibt eine weitere Fassung dieser Anlage (Frames 2900–2906), in der der Bezug zwischen der „Sage vom Reich“ und dem Vortrag nicht hergestellt wird. 13 NACP, RG 242, BDC, Reichskulturkammer Miscellaneous, Mikrofilm A3339–RKK–W021, Frames 2742–2748 (besser lesbare Abschrift: Frames 2874–2880), Hans Friedrich Blunck, Berührung mit der Kulturpolitik 1933/45 (Auszug aus der Schutzschrift), o. D. [ca. 1947], S. 3; Blunck, Hans Friedrich: Unwegsame Zeiten. Lebensbericht 2. Band, Mannheim 1952, S. 289. Vgl. Wagner, Jens-Peter: Die Kontinuität des Trivialen. Hans Friedrich Blunck (1888–1961), in: Caemmerer, Christiane/Delabar, Walter (Hg.): Dichtung im Dritten Reich? Zur Literatur in Deutschland 1933–1945, Opladen 1996, S. 245–264, hier S. 246.
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Blunck ist in der Forschung kein Unbekannter, doch wurden diese Aspekte seiner Biographie bisher wenig beleuchtet. Hervorzuheben sind die Dissertation von Tara Windsor, die an einzelnen Beispielen, darunter Blunck, die Rolle von deutschen Schriftstellern in der auswärtigen Kulturpolitik der Weimarer Republik untersucht,14 sowie die Blunck-Biographie von W. Scott Hoerle,15 die beide Gebrauch von Bluncks umfangreichem Nachlass in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel gemacht haben. In deutscher Sprache finden sich neben seriösen Darstellungen16 auch allerlei apologetische, häufig im Umfeld der Gesellschaft zur Förderung des Werkes von Hans Friedrich Blunck entstandene Publikationen, in denen auch rechtsextreme Autorinnen und Autoren zu Wort kommen.17
2.
Hans Friedrich Blunck als Agent des nationalsozialistischen „neuen Europa“
Den Vortrag Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas hielt Blunck Ende März 1943 in Wien.18 In gedruckter Form war er als fünfteiliger Essay im August 1943 in der Deutschen Zeitung in den Niederlanden nachzulesen.19
14 Windsor, Tara Talwar: Dichter, Denker, Diplomaten: German Writers and Cultural Diplomacy after the First World War (1919–1933), phil. Diss., University of Birmingham, 2012. Vgl. auch Dies.: Empire, Authorship and völkisch Fairy Tales: Hans Friedrich Blunck and the Re-Invention of Tradition after World War I, in: Oxford German Studies 49 (2020), H. 4, S. 363–379 sowie Dies.: „Extended Arm of Reich Foreign Policy“? Literary Internationalism, Cultural Diplomacy and the First German PEN Club in the Weimar Republic, in: Contemporary European History 30 (2021), H. 2, S. 181–197. 15 Hoerle, W. Scott: Hans Friedrich Blunck. Poet and Nazi Collaborator, 1888–1961, Oxford u. a. 2003. 16 Hey’l, Bettina: Hans Friedrich Blunck, Mitläufer und Romancier, in: Dainat, Holger/Danneberg, Lutz (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, Tübingen 2003, S. 167–183; Wagner: Kontinuität, Anm. 13; Stokes, Lawrence D.: Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus (1936–1945). Eine Dokumentation, Neumünster 2001, insb. S. 239–251. 17 Zur Gesellschaft zur Förderung des Werkes von Hans Friedrich Blunck siehe Brinkmann, Jans-Henning: „Literarische Seniorenzirkel“? Gesellschaft zur Förderung des Werkes von Schriftstellern des „Dritten Reichs“ (Miegel, Kolbenheyer, Blunck), in: Düsterberg, Rolf (Hg.): Dichter für das „Dritte Reich“, Band 2: Biographische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 9 Autorenportraits und ein Essay über literarische Gesellschaften zur Förderung des Werkes völkischer Dichter, Bielefeld 2011, S. 301–337. 18 SHL Kiel, Nachlass Blunck, Cb 92:62.2:1,01,492, Blunck an Walter Lohmann (Geschäftsführender Vizepräsident der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und Einrichtungen) v. 22.03.1943. 19 Möglicherweise wurde er dort auf Initiative des deutschen Reichskommissars in den besetzten Niederlanden, Arthur Seyß-Inquart, abgedruckt. Denn Seyß-Inquart hatte einen (Zeitungs-)Bericht über Bluncks Vortrag gelesen, Blunck daraufhin per Brief kontaktiert und ihm einen eigenen Vortragstext mit Überlegungen zu Europa geschickt. SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwech-
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Die Kernthese des Zeitungsessays20 lautet, dass Europa objektiv eine Einheit bilde. Europa sei nicht konstruiert, keine imagined community und nicht durch politische Entscheidungen entstanden. Blunck sucht das die europäischen „Völker“ Verbindende stattdessen in der Biologie und in der Geschichte. Die „Völker“ sieht er dabei als zentrale Einheiten Europas: Die Zukunft Europas liege im „Verbund, nicht [in der] Vermengung seiner Völker, die seinen Reichtum in ihrem Eigenwuchse tragen.“ In Bluncks biologistischer Weltsicht gehörten die europäischen Völker der uralten indogermanischen bzw. indoarischen Gemeinschaft an oder seien im Laufe der Zeit zumindest durch „Blutmengung“ mit den Ariern so gewandelt worden, dass „die Spuren des oft so fremden Wesens nicht mehr zu erkennen sind“. So trügen etwa die Finnen und Esten „rassisch […] kaum noch Züge ihrer frühesten Vergangenheit“; nur sprachlich gehörten sie noch zu den ugrischen Völkern. Dass die äußeren Merkmale der frühen Indogermanen in der Gegenwart nur noch bei den Völkern im Norden Europas anzutreffen seien, wie Blunck meint feststellen zu können, sei ebenfalls unerheblich für die These von der „Verwandtschaft aller arischen Völker“, denn die biologische Forschung habe gezeigt, dass „Wesen und Bestimmung eines Volkes auch bei bestimmten Änderungen des äusseren Bildes in manchen und sogar wesentlichen Zügen erhalten bleiben kann.“ Der arische Mensch präge seit Jahrtausenden das Schicksal Europas, arische Völker hätten die frühe Einheit des Erdteils geschaffen. Die „rassische“ Verwandtschaft der Arier reiche freilich über Europa hinaus. Für seine These, dass Europa eine abgeschlossene Einheit darstelle, benötigt Blunck also die von ihm angenommenen gemeinsamen historischen Erfahrungen der Europäerinnen und Europäer als zweites Argument. Er nennt drei „Einwirkungen“ auf die Entwicklung der Kultur Europas, die es nur in Europa gegeben habe: erstens die klassische griechische und römische Kultur, zweitens die christliche Religion sowie drittens die kulturelle Prägekraft der „Germanen“, die über Jahrhunderte Europas „Herrenschicht“ gestellt und Europa geformt hätten. Die Einheit Europas, die daraus entstanden sei, erkenne man unter anderem am Glauben an einen höchsten Gott sowie an der Verwandtschaft der Sprache und der Schrift. Kriege zwischen europäischen Völkern, die Blunck „europäische Bürgerkriege“ nennt, seien kein Beweis dafür, dass in Europa das „Bewusstsein alter Verbundenheit je verlorengegangen“ sei. Wenn es um das Schicksal ganz Europas gegangen sei, hätten die europäischen Völker immer zueinander gefunden. Als Beispiele führt Blunck zwei mythisch aufgeladene, nicht nur in der NS-Zeit immer wieder in sel mit Arthur Seyß-Inquart, Seyß-Inquart (Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete) an Blunck v. 06.04.1943. 20 Alle Zitate im Folgenden aus der in der Deutschen Zeitschrift in den Niederlanden publizierten Fassung des Vortrags (siehe Anm. 10).
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Erinnerung gerufene militärische Auseinandersetzungen an: die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern gegen die Hunnen unter König Attila im Jahr 451 sowie die Belagerung Wiens durch die Armee des Osmanischen Reiches im Jahr 1683. Die gemeineuropäischen Kräfte hätten „alle erbitterten politischen und religiösen Kämpfe“ überdauert. Blunck teilt auch mit, warum er sich intensiv mit der Frage der Einheit Europas beschäftige: Sie sei in der aktuellen Kriegslage von existentieller Bedeutung. Denn „aus der Selbstzerfleischung der weissen Völker“ erwachse eine „Schwäche des ganzen Europas […], die seine Selbstständigkeit und damit die uns allen heilige Kultur des Abendlandes mit Zertrümmerung bis in die Grundfesten“ bedrohe. Doch wie in der Vergangenheit fände sich Europa angesichts der Bedrohung auch in der Gegenwart zur Verteidigung der eigenen Existenz zusammen. Dies solle ein Zusammenfinden unter deutscher Führung sein, wie Blunck unumwunden zugab. Das neue Europa könne nur von seiner Mitte aus gebildet werden. Die Geschichte lehre, dass es Frieden „nur zur Zeit eines starken Reiches der Mitte“ gegeben habe. Bluncks Essay enthält alle Elemente, die den nationalsozialistischen Europadiskurs prägten: die Überzeugung, dass es eine im Wortsinn verstandene, d. h. biologische Verwandtschaft der europäischen „Völker“ gebe;21 die Wahrnehmung Europas als von äußeren Feinden bedrohte Schicksalsgemeinschaft; das Konzept der vermeintlich „natürlichen“ inneren Ordnung Europas entlang von Volksgrenzen, auch im kulturellen Bereich; sowie den mit historischen, kulturellen und geopolitischen Argumenten begründeten Anspruch auf deutsche Vorherrschaft in diesem Europa.22 Im August 1943, als Bluncks Essay in der Deutschen Zeitung in den Niederlanden erschien, war es ein zentraler Topos der nationalsozialistischen Propaganda, dass „Europa in Todesgefahr“ sei. Denn „internationale[] Plutokratie und internationale[r] Bolschewismus“ beziehungsweise „das westeuropäische scheinzivilisierte Judentum und das Judentum des östlichen Gettos“ – antisemitische nationalsozialistische Chiffren für die westlichen Demokratien und die kommunistische
21 Jüdinnen und Juden wurden von vielen, die sich am nationalsozialistischen Europadiskurs beteiligten, als eigenes und nicht-europäisches „Volk“ gesehen. Dieser diskursive Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus Europa ging mit ihrer physischen Ermordung Hand in Hand. Blunck erwähnte Jüdinnen und Juden in seinem hier analysierten Europa-Essay nicht. Zu antisemitischen Stereotypen, derer sich Blunck bediente, siehe Anm. 45 sowie – für die Zeit der Weimarer Republik – Windsor: Dichter, Anm. 14, S. 117. 22 Vgl. Dafinger, Johannes: Speaking Nazi-European. The Semantic and Conceptual Formation of the National Socialist „New Europe“, in: Dafinger, Johannes/Pohl, Dieter (Hg.): A New Nationalist Europe Under Hitler. Concepts of Europe and Transnational Networks in the National Socialist Sphere of Influence, 1933–1945, London/New York 2019, S. 43–56.
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Sowjetunion – hätten sich gegen Europa verbündet. So formulierte es Joseph Goebbels in seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943.23 Wie unter anderem Bluncks Text zeigt, war der Propaganda-Slogan vom „Neuen Europa“, der Victor Klemperer eine Erwähnung in seinem Notizbuch eines Philologen wert war,24 aber keine leere Hülle und auch keine „täuschende Schminke“, wie Klaus Hildebrand es in einer vielzitierten Formulierung einmal ausgedrückt hat,25 sondern entsprach jenen Vorstellungen von Europa, die den Europadiskurs NS-affiner Deutungseliten prägten. Dieser Diskurs fand in den letzten Kriegsjahren, in denen „Europa“ auch als Propagandabegriff eine zentrale Rolle in Reden und Publikationen in Deutschland spielte, seinen Höhepunkt. Viele der Überlegungen, die in diesen Diskurs einflossen, waren aber älter. Im Fall Bluncks lässt sich eine klare Linie von den Vorstellungen von Europa, die er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre und Anfang der 1930er Jahre entwickelte, zu seinem Essay aus dem Jahr 1943 ziehen. Denn schon in dieser Zeit schwebte Blunck eine europäische Föderation vor, die nach „Kulturgruppen“ geordnet sein sollte.26 Eine solche Föderation setzte er ab von Konzepten, die Europa in den Worten Bluncks als „Esperantostaat“ sähen und „jede volkliche Unterscheidung aufheben“ wollten.27 Die vermeintlichen kulturellen Eigenarten und Freiheiten der „Völker“ Europas müssten gewahrt werden – die Vorstellung kultureller Homogenität in Europa war ein Bild des Schreckens für Blunck.28 Gleichwohl bedürfe es einer europäischen Zusammenarbeit, denn ein neuer Krieg in Europa müsse unbedingt vermieden werden, da andernfalls die Einheit und sogar der Fortbestand der „weißen Rasse“ (von deren kultureller Überlegenheit er überzeugt war) gefährdet sei.29 Blunck legte besonderen Wert auf gute Beziehungen zu skandinavischen Ländern – oder, wie er selbst es ausdrückte, zu den „nordischen Völkern“. Dies war in seinen Schriften vor 1933 ebenfalls schon angelegt. Das Verhältnis zwischen dem deutschen und den skandinavischen „Völkern“ bezeichnete er Anfang 1930 als „zwillingshaft“, die deutsch-„nordischen“ Kulturbeziehungen als „Vorbild für 23 Goebbels, Joseph: Rede im Berliner Sportpalast („Wollt ihr den totalen Krieg“), 18.02.1943, https:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0200_goe&object=translation &l=de (letzter Zugriff 26.02.2023). 24 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1975, S. 189–196, insb. S. 192. 25 Hildebrand, Klaus: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945, Stuttgart 1995, S. 778. 26 Windsor: Dichter, Anm. 14, S. 116. Mitte der 1930er Jahre forderte er in ähnlicher Weise eine „Neugruppierung [Europas] nach dem Volkstum“ (Blunck, Hans Friedrich: Deutschland und Europa, in: Deutscher Almanach für das Jahr 1936, Leipzig 1935, S. 31–52, hier S. 37). 27 Blunck an Hermon Ould, 22.10.1926, zitiert nach: Windsor: Dichter, Anm. 14, S. 149. 28 Vgl. Windsor: Dichter, Anm. 14, S. 117. 29 Vgl. ebd., S. 114, S. 117 und S. 141 f.
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Europa“.30 Diese Konzepte einer „nordischen“ oder „germanischen“ Zusammenarbeit traten in Bluncks Schriften nach 1933 noch stärker in den Vordergrund, etwa in Bluncks Einleitung zum von ihm im Jahr 1937 herausgegebenen Sammelband Die nordische Welt. Zwar betonte er auch in dieser Publikation die vielen Gemeinsamkeiten, auf denen die europäische Kultur aufgebaut sei. Den Zeitpunkt für ein gemeinsames politisches Handeln auf europäischer Ebene hielt er aber noch nicht für gekommen; zuerst sollten die Beziehungen „mit denen […], die uns blutsmäßig am nächsten sind“ (d. h. mit der „nordischen Welt“) vertieft werden, wodurch allmählich auch ein „europäisches Bewußtsein“ von unten „natürlich wachsen“ werde (anstatt „erdacht“ zu werden).31 Derartige biologistische Argumente ergänzten in Bluncks Schriften nach 1933 kulturalistische Begründungsmuster, auf die er seine Thesen vor 1933 meist aufgebaut hatte. Auch für Europa als Ganzes nahm Blunck Mitte der 1930er Jahre – nicht erst während des Zweiten Weltkriegs, als der Begriff „Europa“ als Propagandafloskel allgegenwärtig wurde – das Argument der „rassischen“ Verwandtschaft der europäischen „Völker“ auf: Die Rassenwissenschaft habe gezeigt, so Blunck bereits 1935, dass nicht nur „zwischen den Völkern des Nordlands und zwischen denen des Mittelmeers“, sondern auch „zwischen Slawen, Romanen und Germanen eine [germanisch-indogermanische] Urverwandtschaft“ bestehe.32 Wiederum verwendet Blunck in diesem Zusammenhang auch die Formulierung „Europa der weißen Rasse“.33
3.
Die Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände, die zwischenstaatlichen Gesellschaften und der Europadiskurs NS-affiner Deutungseliten
Bluncks Engagement für das Netzwerk der zwischenstaatlichen Freundschaftsgesellschaften des nationalsozialistischen Deutschland und der Partnerverbände in verbündeten, neutralen und besetzten Staaten kann als Ausdruck seines Interesses 30 Beide Zitate aus Blunck, Hans Friedrich: Gruss an Gunnarsson, in: Das Unterhaltungsblatt der Vossischen Zeitung v. 26. Februar 1930, zitiert nach: Windsor: Dichter, Anm. 14, S. 132 f. 31 Blunck, Hans Friedrich: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Die nordische Welt. Geschichte, Wesen und Bedeutung der nordischen Völker, Berlin 1937, S. XI–XVIII, hier S. XI f. Vgl. auch Bluncks spätere Darlegungen zum Verhältnis eines „germanischen Reiches“ und Europa zueinander: Blunck, Hans Friedrich: Vom Reichsbewusstsein der Deutschen, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden Nr. 69 v. 12.08.1942; Blunck, Hans Friedrich: Deutschland und der Norden, in: Deutsche Zeitung in den Niederlanden Nr. 29 v. 04.07.1943, Nr. 30 v. 05.07.1943 (Fortsetzung), Nr. 31 v. 06.07.1943 (Fortsetzung) und Nr. 32 v. 07.07.1943 (Fortsetzung). 32 Blunck: Deutschland und Europa, Anm. 26, S. 40. 33 Ebd., S. 41.
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an internationalen kulturellen Beziehungen und völkisch-rassistischen EuropaKonzepten interpretiert werden. Im Laufe der frühen 1940er Jahre wurde dieses Netzwerk zu einem zentralen Ort für persönliche Begegnungen und gedanklichen Austausch im von nationalsozialistischen Europa-Vorstellungen gesetzten Rahmen. Zwischenstaatliche Gesellschaften wie etwa die Deutsch-Französische Gesellschaft oder die Deutsch-Bulgarische Gesellschaft konnten in Deutschland 1933 auf eine teils schon jahrzehntelange Tradition zurückblicken. In ihren Satzungen beschrieben sich diese privaten Verbände als Zusammenschlüsse von Einzelpersonen, die sich für Kultur und Geschichte der Partnerländer interessierten und Beziehungen zu Partnerverbänden und Personen in diesen Ländern pflegten. Konkret organisierten sie Kulturveranstaltungen und Vorträge mit Bezug zu ihren Partnerländern, veröffentlichten Zeitschriften und Jahrbücher, unterhielten Gesellschaftsräume und Bibliotheken und waren Anlauf- und Informationsstelle für Gäste aus dem Partnerland. Für die bekannteren Gäste organisierten sie Empfänge, auf denen die ausländischen mit deutschen Wissenschaftlern, Künstlern und politischen Funktionsträgern zusammentrafen. Die Dienststelle Ribbentrop, das Auswärtige Amt und das neugeschaffene Propagandaministerium suchten nach dem Regimewechsel 1933 alle nach Wegen, das Netzwerk der zwischenstaatlichen Gesellschaften diskret zu kontrollieren und nach den eigenen Vorstellungen auszubauen. Bei der Etablierung entsprechender institutioneller Strukturen spielte Hans Friedrich Blunck eine große Rolle. Er trat im Sommer 1936 offiziell als Gründer einer neu geschaffenen Stiftung, der Stiftung Deutsches Auslandswerk, auf und wurde Präsident dieser Stiftung.34 Dass ihm das Stammvermögen in Höhe von 5.000 Reichsmark, das er laut Stiftungsurkunde in die Stiftung einbrachte, vom Propagandaministerium zurückerstattet wurde, hielt man geheim.35 Alleiniger Zweck der Stiftung war die verdeckte Finanzierung einer weiteren Neugründung, der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und Einrichtungen, die ebenfalls im Sommer 1936 offiziell als Zusammenschluss von sieben zwischenstaatlichen Gesellschaften zur Bearbeitung und Vertretung ihrer „gemeinsamen Angelegenheiten“ ins Leben gerufen wurde.36 À la longue wurden alle existierenden sowie die in den Folgejahren neugegründeten zwischenstaatlichen Gesellschaften in Deutschland der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und Einrichtungen angeschlossen und ebenfalls von finanziellen Zuwendungen der Stiftung Deutsches Auslandswerk abhängig gemacht. Diese erhielt ihre Mittel zum
34 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 61.277, Stiftungsurkunde der Stiftung Deutsches Auslandswerk. 35 SHL Kiel, Nachlass Blunck, Cb 92:62.2:1,05,02, Blunck an Robert Holthöfer (Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda) v. 31.01.1936. 36 Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. 030-04, Nr. 2015, Bl. 1–4, Satzung der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und Einrichtungen e.V.
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einen aus den Etats des Auswärtigen Amts und des Propagandaministeriums, zum anderen aus der Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft.37 Blunck amtierte bis 1941 als Präsident der Stiftung. Dann übernahm der machtbewusste Präsident der Vereinigung zwischenstaatlicher Verbände und Einrichtungen, Werner Lorenz, auch die Präsidentschaft der Stiftung Deutsches Auslandswerk und leitete also die beiden Arme des Dachverbands der zwischenstaatlichen Gesellschaften in Personalunion. Lorenz war nicht nur seit 1937/38 Ribbentrops „ständiger Stellvertreter“ und Leiter der Dienststelle Ribbentrop, sondern auch Obergruppenführer der SS und Leiter der zu Heinrich Himmlers Machtbereich gehörenden Volksdeutschen Mittelstelle.38 Blunck fühlte sich von seinem mächtigen Rivalen ständig übervorteilt und legte die Leitung der Stiftung Deutsches Auslandswerk in Reaktion auf Lorenz’ wachsende Machtfülle nieder. Er blieb der Stiftung Deutsches Auslandswerk aber als Ehrenpräsident verbunden, hatte Vorstandsposten in einzelnen zwischenstaatlichen Gesellschaften inne und hielt Vorträge auf Einladung von einigen von ihnen. Der Europa-Diskurs innerhalb des Netzwerks der zwischenstaatlichen Gesellschaften wird greifbar, wenn man die Zeitschriften und Jahrbücher der zwischenstaatlichen Gesellschaften auswertet. Besonders früh ist die Auseinandersetzung mit „Europa“ dokumentiert auf den Seiten der Cahiers Franco-Allemands/DeutschFranzösischen Monatshefte, die ab dem dritten Jahrgang 1936 das offizielle Organ der Deutsch-Französischen Gesellschaft waren. Die meisten anderen zwischenstaatlichen Gesellschaften gaben zu diesem Zeitpunkt noch keine Zeitschriften oder Jahrbücher heraus. Darüber hinaus waren Europa-Ideen in deutsch-französischen Kreisen in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre besonders virulent, möglicherweise, weil es unter linken und liberalen Mitgliedern der Deutsch-Französischen Gesellschaft auch in den 1920er Jahren viele Debatten über Europa gegeben hatte und sich nationalsozialistische Denker und ihnen nahestehende Kreise herausgefordert fühlten, den liberalen Europa-Konzepten ihre eigenen entgegenzustellen. In den Texten zu Europa, die in den Deutsch-Französischen Monatsheften und später in anderen Veröffentlichungen der zwischenstaatlichen Gesellschaften, etwa dem Jahrbuch der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft, publiziert wurden, sind zahlreiche Topoi enthalten, die sich auch bei Blunck finden lassen, so etwa in einem Beitrag des Prähistorikers Rudolf Ströbel mit dem Titel L’Europe et la Préhistoire Nordique,
37 Über die Finanzen der Stiftung Deutsches Auslandswerk geben detailliert die Berichte der Deutschen Revisions- und Treuhand-Aktiengesellschaft Berlin über die jährlichen Prüfungen des Rechnungsabschlusses der Stiftung Auskunft, die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts (R 61.375, R 61.378, R 61.380 und R 61.381) sowie im Bundesarchiv Berlin (R 8135/7273) überliefert sind. 38 Eintrag „Werner Lorenz“ in: Schulz, Andreas/Zinke, Dieter: Die Generale der Waffen-SS und der Polizei. Die militärischen Werdegänge der Generale, sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang, Bd. 3, Bissendorf 2008, S. 65–79, hier S. 70 f.
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der 1936 in den Monatsheften erschien. Ströbel hatte beim Rosenberg-Intimus Hans Reinerth promoviert und arbeitete im von diesem geleiteten Reichsbund für deutsche Vorgeschichte (1937 umbenannt in Reichsamt für Vorgeschichte) im Amt Rosenberg. Ströbel suchte den Nachweis zu erbringen, dass die „nordische Kultur“ durch die Migration von „Indo-Europäern“ aus Nord- und Zentraleuropa nach Süden in den Mittelmeerraum gelangt sei. Später hätten vor allem die Wanderungen der „Germanen“ eine europäische Kultur stiften geholfen.39 Das Beispiel zeigt, dass Bluncks ganz ähnliche Thesen, die er beinahe zeitgleich in seinem Band Die nordische Welt publizierte, Teil eines breiteren Diskurses war. Neben derartigen Versuchen, die Verbundenheit der europäischen „Völker“ biologistisch zu begründen, standen wie bei Blunck kulturalistische Ansätze. Dass Europa „nicht auf dem Wege zufälliger Verhandlungen entstanden, sondern […] das Ergebnis eines historischen Prozesses“ sei, wie es der Juraprofessor der Universität Sofia und ehemalige bulgarische Justizminister Ljuben Dikov im Jahrbuch 1942 der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft formulierte, gehörte zu den Gemeinplätzen dieses Diskurses. Zentral war darüber hinaus wie bei Blunck die Betonung der Eigenständigkeit der „Völker“ in Europa. Die „Achtung vor fremdem Volkstum und die eigenvölkische[] Selbstentfaltung“ seien „die Grundlagen der neuen und gerechten Ordnung im Leben der Völker“. Innerhalb der europäischen „Völkergemeinschaft“ solle „jedes Volk auf seine Fasson selig werden“.40 Die von Blunck formulierte Sorge um den Fortbestand Europas, die aus der wahrgenommenen existentiellen Bedrohung von außen abgeleitet wurde, wurde in den Zeitschriften und Jahrbüchern der zwischenstaatlichen Gesellschaften ebenfalls vielfach formuliert. Der Krieg sei ein Kampf „auf Leben und Tod“,41 und die europäischen „Völker“ würden sich „[z]wischen der bolschewistischen und der angelsächsischen Bedrohung […] immer stärker ihrer kontinentalen Schicksalsgemeinschaft bewußt.“42 Schließlich wurde im Umfeld der zwischenstaatlichen Gesellschaften auch offen für eine hierarchische Strukturierung des „neuen Europa“ Partei ergriffen. Es gebe eine „natürliche Rangordnung der Völker“, die sich danach bestimme, welchen Beitrag die einzelnen Völker „zum
39 Ströbel, Rudolf: L’Europe et la Préhistoire Nordique, in: Deutsch-Französische Monatshefte 3 (1936), H. 8–9, S. 303–311, hier S. 307 f. 40 Dikov, Lüben: Der Weg Bulgariens zum Dreimächtepakt, in: Bulgaria. Jahrbuch 1942 der DeutschBulgarischen Gesellschaft Berlin, hg. von Ewald von Massow, Leipzig [1942], S. 278–286, hier S. 284 f. Vor- und Nachnamen werden in den Publikationen der zwischenstaatlichen Gesellschaften nicht wissenschaftlich, sondern der Aussprache im Deutschen folgend transliteriert. 41 Kampfbasis Europa, in: Deutsch-Französische Monatshefte 10 (1943), H. 6–8, S. 125–128, hier S. 125. 42 Mobilmachung der geistigen Werte, in: Deutsch-Französische Monatshefte 10 (1943), H. 3–5, S. 61–64, hier S. 63.
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Aufbau der europäischen Kultur geleistet“ hätten.43 Zweifel daran, welches „Volk“ an der Spitze dieser Rangordnung stehe, wurden nicht gelassen: Das „große[] deutsche[] Volk“ werde „die Hauptsorge um die Führung des neuen Europa zu tragen haben“.44
4.
Resümee
Hans Friedrich Blunck und andere, die sich am Europa-Diskurs im nationalsozialistischen Machtbereich beteiligten, eigneten sich die Europa-Idee an und deuteten sie um. Die Nationalsozialisten hatten Europa in den 1920er und frühen 1930er Jahren meist selbst noch mit politischen und moralischen Ideen assoziiert, die sie bekämpften: Liberalismus, internationaler Sozialismus, parlamentarische Demokratie, universelle Menschenrechte. Ihr „neues Europa“, das Akteure wie Blunck miterdachten, stand für anderes: für Rassismus, Partikularismus, völkischen Nationalismus und autoritäre Regierungsformen. Diese Ideologeme gehörten schon immer zu den Kernbestandteilen völkischer und faschistischer Ideologie. Neu war jedoch, dass diese Vorstellungen und Ideen mit dem Begriff „Europa“ verbunden wurden. Blunck gehörte zu den Vorreitern dieser Entwicklung. Blunck selbst grenzt in seinem Essay Grundlagen und Bereich einer geistigen Einheit Europas sein Europa-Bild ebenfalls scharf und unter Heranziehung antisemitischer Stereotype von anderen Europa-Vorstellungen ab: Allzu viele hätten das Wort von Europa im Mund geführt, darunter einige „händlerisch listig“ auf ihren eigenen finanziellen Vorteil bedacht, andere, nämlich die „Schemen in Genf “ – gemeint ist der Völkerbund, den Deutschlands Kriegsgegner aus dem Ersten Weltkrieg ins Leben gerufen hatten – von „Selbstsucht besessen“.45 Bluncks Verhalten in seinem Entnazifizierungsverfahren nach Kriegsende zeigt, dass er selbst nicht davon ausging, dass die Umdeutung des Europa-Begriffs in der NS-Zeit nachhaltig erfolgreich gewesen war. Sonst hätte er kaum gegen den Vorwurf, die NS-Gewaltherrschaft gefördert zu haben, ins Feld geführt, dass sein Europa-Engagement das Gegenteil beweise. Und tatsächlich ging seine Verteidigungsstrategie ja auf – zumindest der Entnazifizierungsausschuss nahm sie ihm ab. Auch seine Tätigkeit in der Stiftung Deutsches Auslandswerk und seine Vortragsrei-
43 Thierfelder, Franz: Bulgarien am Kreuzweg der Kulturen, in: Bulgaria. Jahrbuch 1943/44 der DeutschBulgarischen Gesellschaft, hg. von Ludwig Steeg, Leipzig [1944], S. 351–371, hier S. 352. 44 Konsulov, St.: Das Wesen des Bulgaren, in: Bulgaria. Jahrbuch 1942 der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft Berlin, hg. von Ewald von Massow, Leipzig [1942], S. 1–11, hier S. 1. 45 Blunck: Grundlagen, Anm. 10. Sowohl die „händlerische List“ als auch die „Selbstsucht“ sind als antisemitische Chiffren zu lesen.
Agent und Instrument
sen ins europäische Ausland scheinen ihn in den Augen des Vorsitzenden und der Beisitzer des Ausschusses wohl ent-, nicht belastet zu haben. Blunck war zweifellos, wie Thomas Mann ihm nach Kriegsende vorhielt, ein „literarische[r] Exponent[] und Notable[r]“ des NS-Regimes,46 also ein willfähriges Instrument der nationalsozialistischen Kulturpolitik bzw. auswärtigen Kulturpolitik. Aber nicht nur das: Blunck war auch selbst Agent des nationalsozialistischen „neuen Europa“. Die zwischenstaatlichen Gesellschaften nutzten er und andere Mitglieder als Instrument zur Stabilisierung eines transnationalen Netzwerks Gleichgesinnter sowie zur Verbreitung der rassistischen, partikularistischen, völkischnationalistischen und autoritären Ideen, die Kernbestandteile der innerhalb dieses Netzwerks diskutierten Europa-Ideen waren. In den 1950er Jahren war Blunck weiterhin Teil rechtsextremer Zirkel, etwa als Mitglied des Deutschen Kulturwerks Europäischen Geistes. In diesen und anderen Kreisen der extremen Rechten wurden und werden bis heute Europa-Konzepte vertreten, die an Bluncks Europa-Essay und andere Ausformulierungen eines nationalsozialistischen „neuen Europa“ angelehnt sind. Dies macht die Beschäftigung mit dem Europa-Diskurs der NS-Zeit zu einer ebenso notwendigen wie beunruhigenden Angelegenheit.
46 SHL Kiel, Nachlass Blunck, Privater Briefwechsel mit Thomas Mann, Mann an Blunck o. D. [22.07.1946].
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Mythos, Macht und Markt Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
1.
Einleitung
Von der Forschung wurden die 1950er Jahre in der bundesrepublikanischen Literatur- und Ideengeschichte lange als Zeit der bleiernen Restauration und eines forcierten Konservatismus im Horizont von wirtschaftlichem Wiederaufbau, Demokratie-Festigung und einer allgemeinen Rationalisierung und Verwissenschaftlichung zahlreicher gesellschaftlicher Bereiche charakterisiert.1 Der von Georg Bollenbeck und Gerhard Kaiser im Millenniumsjahr (2000) publizierte Sammelband zur „Janusköpfigkeit der 50er Jahre“ relativierte – wie schon andere Beiträge zuvor – diese Vorstellung der 50er Jahre als einer Zeit „apolitische[r] Untertanenmentalitäten“ und künstlerischer „Vorlieben fürs Bewährte und zu Bewahrende“.2 Bollenbeck und Kaiser diagnostizieren auf der Grundlage neuerer kultur- und sozialhistorischer Studien einen „enormen gesellschaftlichen Strukturwandel“, der sich sowohl in einer erhöhten „Mobilität und Verstädterung“ sowie in der „Herausbildung neuer Freizeitstile und Konsumerwartungen“ als auch in künstlerischen und literarischen Ausdrucksformen, die sich dezidiert als modern verstanden, manifestiere.3 Gleichwohl ist damit nicht in Abrede gestellt, dass in den 50er Jahren deutlich konservativ-restaurative Tendenzen in Kultur, Gesellschaft und Politik zu beobachten sind. Tatsächlich trifft dieser Befund besonders zu bei
1 Vgl. Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre (Ordnungssysteme 4), München 1999, S. 1–10; Etzemüller, Thomas: Eine Zeit der Restauration? Strukturmerkmale der fünfziger Jahre, in: Häntzschel, Günter (Hg.): Neue Perspektiven der deutschen Buchkultur in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein Symposion (Buchwissenschaftliche Forschungen 3), Wiesbaden 2003, S. 2–11; Schäfers, Bernhard: Die westdeutsche Gesellschaft. Strukturen und Formen, in: Schildt, Axel/Sywottek, Arnold (Hg.): Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Studienausgabe, Bonn 1998, S. 307–315; Żyliński, Leszek: Waren die fünfziger Jahre nur unpolitisch? Ein Blick auf die westdeutsche Literatur und Öffentlichkeit, in: Białek, Edward/Żyliński, Leszek (Hg.): Die Quarantäne. Deutsche und österreichische Literatur der fünfziger Jahre zwischen Kontinuität und Neubeginn (Beihefte zum Orbis Linguarum 45), 2., erweiterte Auflage, Wrocław/Dresden 2006, S. 43–58. 2 Bollenbeck, Georg/Kaiser, Gerhard (Hg.): Die janusköpfigen 50er Jahre (Kulturelle Moderne und bildungsbürgerliche Semantik 3), Wiesbaden 2000, S. 7–15, Zitate S. 7. 3 Ebd.; vgl. ferner auch Schäfers: Die westdeutsche Gesellschaft, Anm. 1, S. 307 f.
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dem Thema, das im Mittelpunkt dieses Bandes steht, nämlich bei Konzepten und Konstruktionen europäischer Identität und Ordnungsvorstellungen – in diesem Falle eben nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie schon für die Zwischenkriegszeit nach dem Ersten Weltkrieg, die Florian Greiner aufgrund der großen Zahl von Publikationen mit Europa-Ideen als ein „Experimentierfeld für europäische Ordnungsentwürfe“4 bezeichnet hat, kann auch das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg als Phase einer regelrechten Europa-Euphorie charakterisiert werden, die ebenfalls in unzähligen Texten unterschiedlicher Gattungen sichtbar wird.5 Gerade mit Blick auf konservativrestaurative (und nicht selten konfessionell katholisch dominierte) Denkmodelle ist aus diesem umfangreichen publizistisch-literarischen Feld die AbendlandBewegung bzw. die Bewegung Neues Abendland nach 1945 hervorzuheben, deren führende Köpfe wie Werner Bergengruen, Walter Hagemann, Helmut Ibach, Friedrich Zoepfl, Wilhelm Schmidt, Hermann Port und eben Reinhold Schneider als Vertreter einer konservativen Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik sich vor allem einem bürgerlichen Wertebegriff und oftmals theologisch-christlichen Argumentationsfiguren und -mustern verpflichtet sahen. Politisch identifizierten sich diese Autoren oftmals mit dem Antibolschewismus und ideengeschichtlich mit Rechristianisierungs-Ideen.6 Die Europa-Vorstellungen dieser Bewegungen und Autoren orientieren sich eher an kulturell-räumlichen und kulturgeschichtlichen Konzeptionen und vermeiden nicht selten die Festlegung auf konkrete Staatsformen oder realgeschichtliche Entwicklungen. Das hat Paul Michael Lützeler bereits als Merkmal zahlreicher kulturell-geistiger – und eben nicht politisch-pragmatischer – Europa-Vorstellungen seit dem Ersten Weltkrieg insgesamt benannt.7 Oftmals sind 4 Greiner, Florian: Europäische Erfahrungen. Europa als Raumvorstellung in der Weimarer Zeit, in: Braune, Andreas/Dreyer, Michael (Hg.): Weimar und die Neuordnung der Welt. Politik, Wirtschaft, Völkerrecht nach 1918 (Weimarer Schriften zur Republik 11), Stuttgart 2020, S. 101–119, hier S. 102. 5 Vgl. Conze, Vanessa: Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920–1970) (Studien zur Zeitgeschichte 69), München 2005, S. 113–136; Lützeler, Paul Michael: Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, München/Zürich 1995, S. 402–423. 6 Gerade die Abendland-Tradition manifestiert sich in zahlreichen Medien und Institutionen, etwa in der von Johann Wilhelm Naumann ins Leben gerufenen Zeitschrift Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Gesellschaft (1946–1958), einer Institution wie der Abendländischen Akademie (1952–1964) oder der Abendländischen Aktion (1951–1953), vgl. hierzu Schildt: Abendland, Anm. 1, S. 19–23 und S. 39 f.; alle Konservativen berufen sich auf das Abendland, aber eben auch nicht nur diese, dazu Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 113–140; zur konservativen Kulturkritik in Deutschland vgl. Uertz, Rudolf: Konservative Kulturkritik in der frühen Bundesrepublik Deutschland. Die Abendländische Akademie in Eichstätt (1952–56), in: Historisch-Politische Mitteilungen 8 (2001), S. 45–71. 7 Vgl. Lützeler, Paul Michael: Der Europa-Diskurs der Schriftsteller als Plädoyer für den Frieden, in: Études Germaniques 64 (2009), S. 271–287, hier S. 273.
Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
diese Konzepte stilistisch und von ihrer Textstrategie her durch die Verwendung von semantisch und historisch hochaufgeladenen Großbegriffen und durch Pathosformeln gekennzeichnet und zielen nicht so sehr auf eine systematische Erörterung, sondern stärker auf affektive Erregung und Persuasion. Fast schon als Aushängeschild eines katholisch-konservativen Denkers und Autors war Reinhold Schneider ein gern gesehener Beiträger in der von den Alliierten lizensierten und von Johann Wilhelm Naumann seit 1946 (bis 1958) publizierten Zeitschrift Neues Abendland, die sich in die Tradition der von Hermann Platz in der Weimarer Republik verantworteten Zeitschrift Das Abendland (1925–1929/30, 5 Jahrgänge) stellte. Seit seinem pazifistischen Engagement, seinem Eintreten gegen die Wiederbewaffnungspläne der Bundesrepublik und der vehementen Ablehnung von Krieg und Waffen jeglicher Art ausgerechnet in einem Artikel für Johannes R. Becher in der DDR-Zeitschrift Aufbau im Frühjahr 1951 – was als ‚Fall Schneider‘ in die Literaturgeschichte eingegangen ist – war Reinhold Schneider indessen zumindest institutionell in der Abendland-Bewegung der 50er Jahre isoliert, ja sogar geschmäht.8 Ganz allgemein gesprochen war der Abendland-Begriff als Konstruktionsgrundlage europäischer Zukunfts- und Gegenwartsgestaltung gerade bei christlich(-katholisch) geprägten Autoren nach 1945 deshalb so beliebt, weil er als (vermeintlich) unvorbelastet galt und als Alternative zum gescheiterten Nationalismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet wurde, auf dessen Grundlage nicht selten Europa-Entwürfe formuliert worden sind.9 Die 1950er
8 Dazu Schildt: Abendland, Anm. 1, S. 51; knapp dazu auch Ensberg, Claus: Die Orientierungslosigkeit der Moderne im Spiegel abendländischer Geschichte. Das literarische Werk Reinhold Schneiders (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 29), Tübingen 1995, S. 262 f.; ferner auch Müller, Georg: Reinhold Schneider und die Politik. Zwischen Macht und Gewissen, Ulm 1994, S. 65; ausführlich dokumentiert und kommentiert ist der ‚Fall Schneider‘ in den zwei Bänden von Ekkehard Blattmann: Reinhold Schneider im Roten Netz 2001. Der „Fall Reinhold Schneider“ im kryptokommunistischen Umfeld (Christliche Autoren des 20. Jahrhunderts 5), Frankfurt a. M. u. a. 2001. 9 Den großen Zuspruch zu diesem Konzept sieht man schon an der puren Menge an Texten und Autoren, die sich mit dem Abendland-Begriff auseinandersetzen. Auch die ‚Metareflexion‘ des Themas zum Beispiel in den theologischen Standardlexika LTHK und RGG dokumentiert die Reichweite dieses Denkmodells. Dort wurde der Begriff ‚Abendland‘ bezeichnenderweise erst in den Neuauflagen der 1950er Jahre aufgenommen, vgl. hierzu Dingel, Irene: Der Abendlandgedanke im konfessionellen Spannungsfeld. Katholische und protestantische Verlautbarungen (um 1950/60), in: Dingel, Irene/Schnettger, Matthias (Hg.): Auf dem Weg nach Europa. Deutungen, Visionen, Wirklichkeiten (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 82), Göttingen 2010, S. 215–236; Pöpping, Dagmar: Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002, S. 18 f.; gerade bei theologisch ausgerichteten Autoren und Denkern erscheint die Rückbesinnung auf das ‚Abendland‘ immer wieder als Alternative zur Nation, auch aufgrund der geschichtlichen Erfahrung. Mit Blick auf die Publikationen Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag
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Jahre waren nach Paul Michael Lützeler im Hinblick auf das Spannungsfeld von Europa-Konzeptionen und europäischem Einigungsprozess geprägt von einem „Wettlauf um die Atomenergie von morgen und der Sehnsucht nach dem Abendland von gestern“,10 genauer gesagt: mit den Römischen Verträgen vom März 1957, die mit dem ersten Januar 1958 in Kraft traten, war der institutionelle Rahmen für das gegenwärtige und zukünftige politische Europa markiert, in dem gleichzeitig aber auch viel an „zivilisatorischem Erbe“ mitschwang, oder wie es Lützeler pointiert ausdrückt: Die Unterzeichnung der Römischen Verträge war eine merkwürdige Mischung aus „ökonomischem Kalkül und konservativem Zeremoniell“.11 Sowohl für dieses Spannungsverhältnis von geschaffenen institutionellen Fakten und geistesgeschichtlicher Tradition als auch für die ambivalente Gemengelage der 50er Jahre im Sinne von Bollenbecks und Kaisers Janus-Bildlichkeit ist der zunächst im August 1957 von Reinhold Schneider als Rede im Forum Hohensalzburg gehaltene, im selben Jahr gedruckte Text Europa als Lebensform symptomatisch. Wurden Europa-Vorstellungen vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg von der Forschung nach den auf Lützeler zurückgehenden Kategorien geistig-kultureller oder politisch-pragmatischer Tendenzen auch immer wieder auf ihren Realisierbarkeitsanspruch hin untersucht, so ist bei Reinhold Schneiders Europa als Lebensform die umgekehrte Ausgangssituation für eine Analyse gegeben: Seine Europa-Konzepte sind nur bedingt oder nicht nur unter der Perspektive einer europäischen Zukunftsvision zu lesen, sondern Schneider schreibt gewissermaßen auch gegen ein bereits bestehendes und (zum Teil jedenfalls) geeintes politisches Europa an – nämlich gegen ein Europa der Institutionen. Nicht die Ausblendung der realen politischen Verhältnisse und Entwicklungen bilden die Grundlage für seine Überlegungen, sondern die Anerkennung des status quo, wenn er konstatiert: „Brunnenstube gegenwärtiger europäischer Geschichte ist der Platz auf dem Kapitol, den Michelangelo gefaßt und der Stadt zugewendet hat.“12 Damit spielt Schneider auf die nur wenige Monate vor seiner Rede am 25. März 1957 unterzeichneten Römischen Verträge an, die jenen mit der 1951 geschlossenen Europäischen Gemeinschaft zum Verständnis deutscher Geschichte (1946) des Kommunisten Alexander Abusch und Friedrich Meineckes Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen (1946) behandelt das Möller, Horst: Deutschland, in: Buchstab, Günter/Uertz, Rudolf (Hg.): Geschichtsbilder in Europa, Freiburg i. Brsg./Basel/Wien 2009, S. 21–37. 10 Lützeler, Paul Michael: Schriftsteller und die Europäische Union: Reinhold Schneider, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Muschg, in: Ders.: Kontinentalisierung. Das Europa der Schriftsteller, Bielefeld 2007, S. 26–48, hier S. 28. 11 Ebd. 12 Schneider, Reinhold: Europa als Lebensform, in: Ders.: Schwert und Friede. Auswahl und Nachwort des Bandes von Rita Meile (Reinhold Schneider, Gesammelte Werke 8), Frankfurt am Main 1977, S. 420–444, hier S. 443.
Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
für Kohle und Stahl (EGKS) begonnenen europäischen Einigungsweg durch die Ergänzung um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) vervollständigte und erweiterte.13 Im Grunde erhalten Schneiders Europa-Vorstellungen, seine Überlegungen zum Verhältnis von europäischer Geschichte und europäischem Geist in ihrem Spannungsverhältnis zur europäischen Gegenwart und Identität in einem politischinstitutionellen Sinne, ihre Argumentationsbasis und Grundlage aus dem Rückgriff auf eigentlich ältere kulturkritische Denkmuster und Motive, die sich mit Fortschrittskritik und einer Warnung vor der einseitigen Konzentration auf Naturwissenschaften und Technik, auf Ökonomie und Bürokratie als Elemente und Inhalte europäischen Handelns, Denkens und Selbstverständnisses benennen lassen. Ich möchte nun in zwei Schritten vorgehen und Folgendes zeigen: Zunächst sollen in einem ersten Teil Schneiders Europa-Vorstellungen im Kontext seiner Friedenstheologie und Institutionenkritik mit Blick auch auf die vielfach aufgerufenen Abendland-Traditionen in ihren wesentlichen Zügen vorgestellt werden. Anschließend werden in einem zweiten Teil Schneiders Geschichtskonzeption und Geschichtsverständnis sowie die aus diesen Überlegungen sich ergebenden Appellstrukturen und Haltungsforderungen seiner Europa-Vorstellungen analysiert. In seiner wenige Monate nach der Publikation von Europa als Lebensform am 12. November 1957 in Stuttgart gehaltenen Rede zu Macht und Herrschaft in der Geschichte fasst Schneider noch einmal seine Überlegungen zum Verhältnis von Macht, Geschichte und Europa zusammen und verweist auch auf die für Europa als Lebensform relevante maßgebliche zeitgenössische Konstellation des Ost-West-Konfliktes: „Unsere Vorstellung ist, der gegenwärtigen politischen Spannung unterliegend, eingeengt auf nur zwei Möglichkeiten: die aggressive und die defensive Macht.“14 Bezeichnenderweise behandelt Schneider in diesen Überlegungen – wie auch in
13 Einen guten, chronologisch geordneten Überblick zu den wichtigsten politischen Stationen, auch mit den relevanten Dokumenten, bietet Gasteyger, Curt: Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945–1990. Eine Darstellung und Dokumentation über das Europa der Nachkriegszeit, Köln 1990, S. 55–62 bzw. S. 85–94 und 150–156; vgl. auch Vanthoor, Wim F.W.: A Chronological History of the European Union 1946–2001, Cheltenham 2002, S. 16 f.; als zusammenfassende Darstellung empfiehlt sich Gehler, Michael: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, 3., komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Auflage, Reinbek 2018, S. 211–251; ferner auch Żyliński, Leszek: Europa als Vorstellung. Der europäische Gedanke in den Essays deutscher Schriftsteller in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Białek, Edward/Żyliński, Leszek (Hg.): Die Quarantäne. Deutsche und österreichische Literatur der fünfziger Jahre zwischen Kontinuität und Neubeginn (Beihefte zum Orbis Linguarum), 2., erweiterte Auflage, Wrocław/Dresden 2006, S. 105–119, hier S. 107 f. 14 Schneider, Reinhold: Macht und Herrschaft in der Geschichte, in: Ders.: Schwert und Friede. Auswahl und Nachwort des Bandes von Rita Meile (Reinhold Schneider, Gesammelte Werke 8), Frankfurt a. M. 1977, S. 108–132, hier S. 117.
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Europa als Lebensform – die Fragen nach „Macht und Herrschaft“ nicht abstrakt oder im Stile eines philosophisch-ideengeschichtlichen Eliten-Diskurses, sondern geht auch immer wieder der Frage nach der Alltags-Relevanz des Europäischen nach.
2.
Abendländischer Mythos und europäische Gegenwart: Kultur- und Institutionenkritik
Reinhold Schneider war einer der viel beachteten und viel gelesenen Autoren, dessen Werke wie Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit (1938) nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 50er Jahre hinein teils sogar noch auf den Schul-Lehrplänen standen. Sein Selbstverständnis als bürgerlich-konservativer, katholischer Dichter, sein auch nach dem Krieg bisweilen nostalgischer Rückblick auf die deutsche Monarchie haben diese Popularität nicht geschmälert.15 Gleichzeitig leistete Schneider mit seinen schon erwähnten Artikeln für das Neue Abendland einen beachtlichen Beitrag zur (Kriegs-)Schuldfrage, was als eine der wesentlichen Grundlagen einerseits für seine pazifistische Haltung nach dem Zweiten Weltkrieg, andererseits auch für seine Europa-Vorstellungen gesehen werden kann, indem er auch in diesem Kontext stets die Gegenwart und Zukunft durch den Blick in die Geschichte in den zwei 1946 im Neuen Abendland erschienenen Beiträgen Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte und Schuld und Sühne analysiert und konzipiert. Dort heißt es mit Blick auf die unmittelbare deutsche Vergangenheit: „Fassen wir uns für den Augenblick ans Herz und fragen wir uns, was wir erlebt haben! Dann vielleicht werden wir verstehen, was wir erleben und wieder erleben
15 Schneiders (vermeintliche) Annäherung an den Nationalsozialismus, aber auch seine Konfrontation mit der Schuldfrage bis hin zu einer Stilisierung als ‚Widerstandskämpfer‘ werden in vielen Darstellungen problematisiert, vgl. Steinle, Jürgen: Reinhold Schneider (1903–1958). Konservatives Denken zwischen Kulturkrise, Gewaltherrschaft und Restauration (Zeitgeiststudien 3), Aachen 1992; Heyer, Ralf: „Verfolgte Zeugen der Wahrheit“. Das literarische Schaffen und das politische Wirken konservativer Autoren nach 1945 am Beispiel von Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Stefan Andres und Reinhold Schneider (Arbeiten zur neueren deutschen Literatur 19), Dresden 2008, speziell auch zu Schneiders Verhältnis zu Hitler und den Nazis S. 241–255; als bildungsbürgerlich-konservativ ordnet ihn im größeren Kontext neuerdings die verdienstvolle Studie ein von Kaluza, Mariam: Zwischen Geist und Macht. Orientierungsversuche und Standortbestimmungen konservativ-bildungsbürgerlicher Autoren in Deutschland (1930–1950) (Literatur – Kultur – Theorie 30), Baden-Baden 2020, bes. S. 177–237; mit Schwerpunkt auf konfessionellen Perspektiven vgl. auch Susteck, Sebastian: Katholische Neugestaltung. Reinhold Schneider, Gertrud von le Fort, Romano Guardini und eine Episode deutscher Literatur- und Schulgeschichte ab 1945, in: Wirkendes Wort 69 (2019), S. 69–85, hier S. 73 f.
Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
werden.“16 Und: „Wir halten die Frage nach der Schuld, nach dem Verhalten zu ihr sogar für die wichtigste Frage unseres inneren deutschen Lebens; von ihrer Beantwortung hängt die Zukunft unseres Volkes ab.“17 In den Überlegungen zu Europa als Lebensform greift Schneider seine Gedanken zu Frieden und Schuld wieder auf, ordnet die historischen Zusammenhänge und Begriffe aber neu – worauf noch zurückzukommen ist. Vor allem hat Schneider auf die Gefahren hingewiesen, welche ein hauptsächlich nur wirtschaftlich und sicherheitspolitisch ausgerichtetes Europa birgt, und setzt dagegen auf ein geistiges und geschichtsbewusstes Europa-Konzept.18 Grundlegend für Schneiders Text ist der performative Widerspruch von (scheinbar) verweigerter Definition und expliziter Geschichts- und Traditionsverbundenheit. Mit anderen Worten: Schneider lehnt eine endgültige Definition von Europa ab, konturiert aber in seiner Rede fortlaufend und apodiktisch ein Konzept europäischer Identität aus der Geschichte, was als Hauptmerkmal der rhetorischen Struktur seines Denkens gesehen werden kann: „Alle europäischen Lebensformen, Machtgestaltungen waren und sind unvollendbar: sie tragen das Neue im Herzen, das ihnen den Tod bereiten wird.“19 Schneider spricht sich, wie schon erwähnt, gegen die von Konrad Adenauer betriebene Westbindung der Bundesrepublik und eine eindimensionale Ausrichtung europäischer Politik auf wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte aus und plädiert für ein Europa, das sich aus der Geschichte sowie zentralen, letztlich theologisch-philosophisch hergeleiteten Begriffen wie Gewissen und Sittlichkeit her legitimiert.20 Er betont die Kontinuität von Antike und Christentum und bebildert sein zyklisches Geschichtsdenken, seine Vorstellung von europäischer Geschichte als immerwährende Abfolge von Selbstzerstörung und Wiedergeburt mit dem 16 Der Beitrag erschien im ersten Band (1946) von Neues Abendland (S. 5–42), hier zitiert nach der Ausgabe Schneider, Reinhold: Der Mensch vor dem Gericht der Geschichte, in: Ders.: Schwert und Friede. Auswahl und Nachwort des Bandes von Rita Meile (Reinhold Schneider, Gesammelte Werke 8), Frankfurt am Main 1977, S. 133–155, hier S. 133. 17 Auch dieser Beitrag erschien zuerst in Neues Abendland (1946), zitiert nach der Ausgabe: Schneider, Reinhold: Schuld und Sühne, in: Ders.: Schwert und Friede. Auswahl und Nachwort des Bandes von Rita Meile (Reinhold Schneider, Gesammelte Werke 8), Frankfurt am Main 1977, S. 155–165, hier S. 155; die Schuldfrage wird in den Jahrgängen 1946 bis 1948 in der Zeitschrift Neues Abendland recht oft thematisiert und nimmt letztlich immer Bezug auf Karl Jaspers berühmten Text Die Schuldfrage (1946), vgl. dazu Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 125–130; ferner auch Schildt: Abendland, Anm. 1, S. 23 f. 18 Vgl. Lützeler: Schriftsteller und die EU, Anm. 10, S. 29–34; Müller, Georg: Reinhold Schneider und die Politik. Zwischen Macht und Gewissen, Ulm 1994, S. 108–115; zum Geschichts-, Glaubens- und Menschenbild bei Schneider vgl. die politikwissenschaftliche Studie von Bossle, Lothar: Utopie und Wirklichkeit. Im politischen Denken von Reinhold Schneider, Mainz 1965; Ensberg: Orientierungslosigkeit, Anm. 8; Steinle: Reinhold Schneider, Anm. 15. 19 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 428. 20 Vgl. Heyer: Verfolgte Zeugen, Anm. 15, S. 163.
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Europa-Stier-Motiv aus der Mythologie: „Denn Europa ist ein Bündel widerstreitender Kräfte. Freilich muß das fesselnde Band stärker sein als der Widerstreit. Aber immer wieder bedeutet Europa das Hervortreten Gottes aus dem Stier.“21 Textstrategisch funktioniert seine Argumentation vom gleich zu Beginn eingesetzten Topos der grundsätzlich nicht möglichen Erfassbarkeit des Europäischen, das er – obwohl er es fortan im Text dann tut – „nicht auf eine Formel bringen“ möchte, denn die europäische Lebensform habe „noch immer das Elementare lebendiger Überlieferung“22 und sei damit ein Prozess, der nicht durch den Abschluss von Verträgen zu einem Ende gebracht werden könne. Ziel seiner Rede sei es, „einen geringen Beitrag zum Verständnis der Zeit zu leisten; auf eine Haltung hinzuweisen, eine Selbstbehauptung, eine in sich gegründete echte Existenz“.23 Entsprechend seiner christlich-theologischen Haltung und Überzeugung ordnet Schneider seine „Hinweise“ nicht als programmatische Wegweiser oder wissenschaftliche Geschichtsanalyse ein, sondern markiert seine Rede als „Bekenntnis“: „Überzeugen will ich nicht und wollte ich nie; ich kann nur bezeugen.“24 Zu Beginn seiner Rede konturiert Schneider gerade unter Einbeziehung und eben nicht Ausblendung der aktuellen Situation europäischer Politik das Kräfteverhältnis zwischen europäischer Geschichte und Tradition und institutioneller Entwicklung. Er koppelt das Wort Europa an den Mythos-Namen und eine gegenwärtige Bedrohungsszenerie, die rhetorisch durch die auffällige Verwendung von Relativierungspartikeln wie „kaum noch“ und „nicht mehr“ das Spannungsverhältnis von Mythos und Geschichte einerseits sowie politisch-ökonomischer Zielsetzung und Namensersetzung (Euratom) andererseits verdeutlichen: Wie das Wort Friede erweckt der Name „Europa“ sofort ein Widerstreben: Dieser Name ist, aus durchaus verständlichen Gründen, in den letzten Jahren so oft genannt worden, daß er seine ehrwürdige mythische Bedeutung und seinen hohen Geschichtsgehalt mehr und mehr zu verlieren droht. Europa ist im wirkenden Bewußtsein kaum noch die phönikische Königstochter, die der Gott in Stieresgestalt geraubt hat, Mutter der Heroen, die in den Mysterien Kretas göttliche Ehren genoß. Europa ist nicht mehr die Verdunkelte, die dem dunkelnden, gegen Sonnenuntergang gewendeten Festland den geheimnisvollen Namen gab […]. Nicht allein die Umgestaltung der Macht und ihrer
21 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 422; konzeptionell ist Schneiders Blick in die Vergangenheit durchaus gekoppelt an Fragen einer prospektiven Legitimierung. Anders aber als Conze das mit Blick auf die unkonkreten und utopischen Sendungsvorstellungen der Abendland-Bewegung feststellt, findet man bei Schneider immer wieder konkrete Bezugnahmen zu aktueller europäischer Politik, vgl. Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 122. 22 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 421. 23 Ebd. 24 Ebd.
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Ausübung, die in diesen Jahren sich durchsetzt, vielleicht auch das Verlangen nach einem neuen Geschichtsgehalt an Stelle des alten, gezeichneten, scheinen es zu bewirken, daß die Bezeichnungen „Euratom“ oder gar „Euromarkt“ den Namen „Europa“ verdrängen möchten. Der mythische Name und die Benennung des geplanten Unternehmens bedeuten eine Unterscheidung, wie sie kaum schärfer sein kann. Euratom weist auf eine politische Zielsetzung unter dem Zwange der aus der Wissenschaft entwickelten Technik, die mit elementarer Gewalt ihre Bahn beanspruchen möchte; sie erhebt sich ohne Zweifel aus geschichtsbildender Kraft und hat das Forschen, Denken, die Geschichtserfahrung des Abendlandes seit der Konzeption des Kosmos durch die frühgriechischen Denker zur Voraussetzung; […] Europa hingegen bedeutet eine Lebensform, eine bestimmte Art zu sein und zu denken, geschichtliche Auswirkung dieses bewegten Innern unter der Einwirkung weltlicher und überweltlicher äußerer Mächte, ein Dasein, könnte man zu sagen wagen, zwischen Aufgang und Untergang, in ihnen beiden.25
Anhand also der Namen und Namensgeschichte präsentiert Schneider gleichsam eine ins Ungleichgewicht gekommene europäische Gegenwart und liefert eine kulturkritische Bestandsaufnahme und Diagnose. Im begrifflichen Mittelpunkt seines Denkens steht mit dem Gewissen zudem ein Begriff aus der Moraltheologie, den Schneider – so voraussetzungsreich und vielschichtig er ist – auf eine offenbar intersubjektiv erkennbare Verpflichtung des Individuums, sofern es den Verlauf der europäisch-abendländischen Geschichte betrachtet, reduziert: Die verpflichtenden Geister des Abendlandes waren einig in der Achtung des Gewissens. Heute aber ist die Stunde, da wir, mit von unendlichem Leid geschärften Sinnen, auf sein ernstestes Wort hören müssen: da es aller Menschen Gesetz ist, so gebietet es Friede unter den Menschen; es hört nicht auf, uns zu fragen, ob wir irgendein Recht finden zu töten oder die Verpflichtung zu töten eingehen.26
Deutlich wird hier, dass Schneiders Europa-Vorstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg in enger Wechselwirkung mit seinem pazifistischen Engagement stehen.27 Europa als Lebensform in der Gegenwart korrespondiert mit einer pazifistischen
25 Ebd., S. 420. 26 Ebd., S. 445. 27 Ein vergleichender Blick auf benachbarte Texte und Autoren würde in diesem Zusammenhang lohnen und ist auch von der Forschung bislang immer nur sporadisch erwähnt worden. Zu denken ist etwa an den 1946 erschienen Essay von Thiess, Frank: Europa als geistige Einheit, in: Ders.: Vulkanische Zeit. Vorträge, Reden, Aufsätze, Neustadt Haardt 1949, S. 82–87 oder an die 1948 gehaltene Rede von Bergengruen, Werner: Über abendländische Universalität. Rede zur Siebenhundertjahrfeier des Kölner Doms, Universität Köln, 16. August 1948, in: Ders.: Mündlich gesprochen. Ansprachen, Vorträge und Reden, Zürich 1963, S. 331–348.
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Grundhaltung, gleichzeitig – und daher ist Schneiders Pazifismus von der Forschung auch bisweilen als nicht eindimensional bezeichnet worden – lebt sein Geschichtsverständnis (worauf ich noch im zweiten Teil zurückkomme) von einer produktiven Vorstellung des Antagonismus von Gewalt und Frieden.28 Im Unterschied zu zahlreichen Europa-Konzepten der 50er Jahre nimmt Schneider deutlich Stellung zu dem im Rom im März 1957 verfestigten politischen Kurs einer dominierenden pragmatisch-technischen Orientierung Europas, die sich für Schneider in den seit den frühen 50er Jahren rasch hintereinander gegründeten Institutionen, Verbänden und Bündnissen manifestiert.29 Die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom ist für Schneider pars pro toto als vorläufiger Schlusspunkt einer fehlgeleiteten Entwicklung zu sehen. Er spielt damit auf die zwischen 1948 und 1957 gegründeten Institutionen an, die sich allesamt auf einen wirtschaftlich-technischen Nenner bringen lassen: Von der am 6. April 1948 gegründeten Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC), der 1950 entstandenen Europäischen Zahlungsunion (EZU)30 bis hin zu der 1952 ins Leben gerufenen Europäischen Konferenz der Verkehrsminister (CEMT) und Europäischen Produktivitätszentrale (EPZ) von 195331 sowie der sicherheitspolitischen Wegmarken der NATO-Gründung am 4. April 194932 und den – allerdings rasch gescheiterten – Plänen einer Europa-Armee33 in den 1950er Jahren dokumentiert sich für Schneider ein Tableau wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Neuerungen, die nach seinem Dafürhalten aber nicht der Inhalt, sondern – in der Bildlichkeit seines mythologischen Europa-Verständnisses – „Helm“34 auf dem Haupt der Europa sein können. Allerdings wendet sich Schneider nicht grundsätzlich gegen diese Tendenzen und Entwicklungen auf der Ebene europäischer Politik, sondern warnt vor einer europäischen Einheit, die sich alleine auf diese Dimensionen eines europäischen Selbstverständnisses berufe. Insofern ist Schneiders Ansatz auch von Tendenzen der früheren Abendland-Bewegung (in der Zwischenkriegszeit) zu unterscheiden, als er nicht der Illusion oder Utopie verfällt, dass eine „Rückkehr in
28 29 30 31 32 33
Vgl. Steinle: Reinhold Schneider, Anm. 15, S. 10 und 243 f. Vgl. Żyliński: Europa als Vorstellung, Anm. 13, S. 107 f. Vgl. Gehler: Europa, Anm. 13, S. 211–214. Vgl. Gasteyger: Europa, Anm. 13, S. 55. Vgl. auch Żyliński: Europa als Vorstellung, Anm. 13, S. 114 f. Deutschland unterzeichnete zwar 1952 einen Vertrag über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, diese Pläne begannen nach/mit dem Koreakrieg 1950, scheiterten aber 1954 an der Ablehnung durch die Assemblée Nationale, vgl. hierzu Middelaar, Luuk van: Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa. Aus dem Niederländischen von Jacob Jansen, Berlin 2016, S. 249; ferner auch Gehler: Europa, Anm. 13, S. 217. 34 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 422.
Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
vormoderne Zeiten“35 möglich sei. Statt für einen geographischen, wirtschafts- und machtpolitischen Europa-Begriff setzt sich Schneider für ein inneres und geistiges Europa ein: Alles kommt darauf an, daß „Euratom“, wenn diese defensive Organisation unvermeidlich ist, nicht Inhalt werde, sondern Helm auf dem edeln, denkenden Haupt, Schild vor einer lebendigen Brust, und daß die Börse des umstrittenen europäischen Marktes nicht mehr gilt als das Herz, Euromarkt nicht mehr als Europa. Von der Verteidigung nämlich und vom wirtschaftlichen Zusammenschluß kann man nicht leben, und es muß Besorgnis erregen, daß diese Devise fast in der gesamten Presse des Westens an erster Stelle steht. Damit überläßt man an der wichtigsten Stelle die Führung dem, gegen den man sich verteidigen möchte und der, paradoxerweise, ich meine den sich technisierenden Osten, in der Forschung wie in der einseitigen philosophisch-soziologischen Dogmatik von uns geführt worden ist. Unser Leben, unser Dasein kann nur die innere Kontinuität europäischer Tradition sein.36
3.
Geschichte(n) erzählen: Europa als Geschichte des Widersprüchlichen und Appell an den Geist
Diese „innere Kontinuität europäischer Tradition“ – ich komme damit zum zweiten Punkt: Schneiders Geschichtsbild – ist für den Autor das gemeinsame kulturelle Erbe von Antike und Christentum. Seinem Verständnis nach besteht einerseits eine historische Kontinuität zwischen Antike und Christentum, andererseits ist sein Bild europäischer Geschichte geprägt von einem zyklischen Denken zwischen Aufstieg und Verfall. Diese Nähe zur Geschichtsauffassung eines Oswald Spengler, die Vorstellung, Gegenwart (und potentielle Zukunft) aus der (Kultur-)Geschichte zu erschließen, zeigt sich schon in einem früheren Beitrag Schneiders zur Rechtfertigung der Macht, der am 30. September 1934 in der Europäischen Revue erschienen ist: „Europa bietet in einem Zeitraum von anderthalb Jahrtausenden den Anblick mit ungeheurer Schnelligkeit erblühender und welkender Reiche […]“.37
35 Vgl. hierzu Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 121; zu Schneiders ‚tragischem‘ Geschichtsverständnis als Schlagwort in der älteren Forschung auch Steinle: Reinhold Schneider, Anm. 15, S. 33 f. und Bossle: Utopie und Wirklichkeit, Anm. 18, S. 79 f. 36 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 422. 37 Schneider, Reinhold: Die Rechtfertigung der Macht, in: Ders.: Schwert und Friede. Auswahl und Nachwort des Bandes von Rita Meile (Reinhold Schneider, Gesammelte Werke 8), Frankfurt a. M. 1977, S. 16–27, hier S. 16; zur Geschichte als Instrument des Denkens bei Schneider vgl. Bossle: Utopie und Wirklichkeit, Anm. 18, S. 52 f. und Susteck: Katholische Neugestaltung, Anm. 15, S. 73.
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Diese Form von zyklischer Geschichtsauffassung behält Schneider nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso bei wie die auch bei Spengler zu beobachtende Rückbesinnung auf traditionelle Werte, auf gemeinsame Geschichte und Kultur.38 Wie bei vielen anderen Abendländern nach 1945 lässt sich aber auch bei Schneider durchaus eine Relativierung des von und durch Spengler redensartlich gemachten Untergangs des Abendlandes erkennen. Von Spenglers Untergangsmystik ist bei Schneider nichts zu finden und auch sein Kulturpessimismus mündet nicht in die Form einer radikalen Kritik des Bürgertums, sondern (wie Steinle betont hat) ist eher geprägt von einem Bedauern über das diagnostizierte Schwinden (bildungs-)bürgerlicher Werte.39 Europas kulturelles Erbe und seine Geschichte sind für Schneider gekennzeichnet durch eine kontinuierliche Dialektik, eine Polarität und einen Prozess von Konstruktion und Dekonstruktion, die aber positiv im Sinne einer fortschreitenden Produktivität semantisiert werden. Bewusst wird der Versuch unternommen, Gegensätzliches und Widersprüchliches in Balance zu halten:40 Unser Geschichtsbewußtsein hat mit der Fruchtbarkeit fast tödlicher Gegensätze zu rechnen. Der Kampf zwischen Westen und Osten – und ihr Zusammenwirken – haben so wenig eine Aussicht auf Versöhnung wie die Spannung zwischen Norden und Süden, Rom und dem Sturm, dem Löwen auf Mitternacht, die so lange europäische Dominante war. Und daraus bildet sich – vielleicht – ein Kreuz: Zeichen jeglichen Daseins und Wirkens, die Erscheinung Gottes, überrationaler europäischer Existenz, ausgetragen, wie sich versteht, nicht mehr mit innereuropäischen Kriegen, die absurd geworden sind, sondern im Seelenraum und auf den Schlachtfeldern des Glaubens und des Geistes.41
Schneiders Modell einer Geschichtsdeutung operiert mit der Darstellung letztlich unerklärbarer und widersprüchlicher Entwicklungen, Konstellationen und Zusammenhänge, die nicht aufgelöst werden sollen, sondern sein Konzept besteht darin, diese Widersprüchlichkeit(en) zum Denk- und Organisationsprinzip von Geschichte und Geschichtsreflexion schlechthin zu machen. Immer wieder richtet sich sein Blick aus der Geschichte daher auch auf gegenwärtige Spannungen, die von der ideologischen und sicherheitspolitischen Lagerbildung in Ost und West im Kalten Krieg ihre Bedeutung beziehen. Seine Kritik an der von der Bundesregierung unter Adenauer betriebenen Westbindung gewinnt ihre Argumente wiederum aus der Geschichte, die Europa als geistig-kulturelle Einheit erkennen lasse, der gegenüber 38 Vgl. Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 27–32. 39 Vgl. Steinle: Reinhold Schneider, Anm. 15, S. 149 f.; zur Abendland-Bewegung und Spengler: Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 113 f. 40 Vgl. Lützeler: Schriftsteller und die EU, Anm. 10, S. 33. 41 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 434.
Reinhold Schneiders Konzept eines geistigen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg
Schneider die Gegenwart Europas zum bloßen „Verteidigungsblock gegenüber dem Osten“42 verkommen sieht: Eigenständigkeit und Universalität sind komplementär. Wir können nicht gesamteuropäisch empfinden, wenn wir nicht eigenständig sind. Aber der Eigenständigkeit muß die Erfahrung der Universalität vorausgehen: die Basis zwischen Athen und Rom. […] Wer könnte es wagen, mit wenigen Sätzen das geheimnisvolle Leben ineinandergeschlungener europäischer Traditionen zu beschreiben! Ich will nicht von den großen Völkern sprechen, die heute eine fast verzweifelte Anstrengung machen, wieder Weltmacht zu werden. In den sogenannten kleinen Völkern, den Mächten, die ihre Kulmination überlebt haben und darüber weise geworden sind, ist heute das europäische Erbe klarer zu erkennen als in denen, die sich noch in der Mitte des Schwungrades festzuklammern suchen und sich unaufhaltsam amerikanisieren.43
Die Gemeinsamkeit, die die „widerstreitenden Kräfte“, also die einzelnen europäischen Völker, trotz aller Kriege und kultureller Unterschiede zusammenhält, ist eine von Schneider als europäische Universalität bezeichnete Vorstellung der Kontinuität von Antike und Christentum. Nur nebenbei sei erwähnt, dass es zu diesem Kontinuitätsdenken Schneiders durchaus auch Gegenpositionen gegeben hat, was sich etwa am Beispiel des 1949 erschienenen Textes Die Aussichten Europas des Buchenwald-Überlebenden und Europa-Politikers Eugen Kogon (1903–1987) zeigen lässt. Dieser beklagt zwar in seiner 1949 in Die Neue Rundschau erschienenen Analyse Die Aussichten Europas die gegenwärtigen europäischen Missstände wie „Desintegration, Diskontinuität“44 und Termitenbürokratie, sieht aber in der ökonomisch-politischen Einheit die Voraussetzung für die Entwicklung auf geistigkultureller Ebene. Vor allem aber lehnt er eine Kontinuität zwischen abendländischer Tradition und der Gegenwart, zwischen Antike und Christentum vehement ab: Vorbei, Sokrates, Seneca und die Kirchenväter sind im günstigsten Falle zu Predigern geworden, deren Chinesisch von Menschen, die Kisuaheli sprechen, nicht verstanden werden kann, Herodots und Plutarchs Geschichten, auf short stories umgearbeitet, können allenfalls noch im Feuilleton interessieren, das man in der S-Bahn, Metro oder Subway liest, mit Aristoteles und Thomas von Aquin weiß kaum der Klerus etwas anzufangen […]. Die großen Religionen und Ersatzreligionen; das Christentum, der Humanismus, der
42 Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 140, zu dem Komplex auch S. 137 f. 43 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 423 bzw. 432. 44 Kogon, Eugen: Die Aussichten Europas, in: Die Neue Rundschau 1949, S. 1–17, hier S. 3.
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Rationalismus, sie haben in Europa und weit darüber hinaus ihre Kraft verloren, die Welt und die Menschen umzuwandeln.45
Zurück zu Schneider: Wenn auch die von Schneider beschworene Wechselwirkung von Einheit und Vielfalt den Eindruck von Toleranz gegenüber Kulturen und Religionen erwecken möchte, so wird doch deutlich, dass in seinem Denken das Christentum immer als übergeordnete, einheitsstiftende Größe den Vorrang gegenüber anderen Religionen und Ideologien besitzt. Diese Parallelführung der Superiorität des Christentums und des Konzepts eines geistigen Europas formulierte anlässlich des Kölner Domjubiläums bereits der katholische Moraltheologe Theodor Steinbüchel in seiner im August 1948 gehaltenen Rede zu Europa als Idee und geistige Verwirklichung.46 Schneider legitimiert aus der Geschichte sein Konzept eines geistigen und inneren Europas, doch es geht ihm keineswegs um eine Verklärung europäischer Geschichte, vielmehr wendet er auch bei der Rekapitulation der konfliktreichen europäischen Ereignisgeschichte sein dialektisches Denkkonzept an. Der dialektische Zustand von Konflikt und Vereinigung bildet für ihn die Voraussetzung für ein verstärktes europäisches Einheitsbewusstsein, was letztlich den Kern seiner Konzeption eines geistigen Friedens-Europas ausmacht:47 Über der inneren Dynamik können wir die äußere geschichtlich-geographische nicht übersehen, weil ohne den Ansturm äußerer Mächte, immer neuer Kräfte in das Lebenszentrum die innere Gestalt sich so, wie wir sie sehen, nicht ausgebildet hätte. Es ist erschütternd, mit welcher Produktionskraft das antike wie das moderne Europa sich gegen die Völkerstürme einsetzte, die es zerstören wollten, selbst in scheinbar schon hoffnungsloser Lage […]. Zur europäischen Lebensform gehört ein positives Verhältnis zu den Feinden, positiv im Sinne des sich selbst Suchens und Findens, der Leistung, der Antwort, nicht als Nein, sondern als Gestalt, als höhere Form, wie sie uns Aeschylus auf unvergleichliche Weise in den „Persern“ vorgebildet hat: Griechenland wäre nicht, was es ist und bleiben wird. […] Europa ist kein Friedensreich gewesen. Es hat sich immerfort selbst zerstört, wie es die Griechen getan haben. Und es wurde immerfort wiedergeboren.48
45 Ebd., S. 2. 46 Vgl. Dingel: Abendlandgedanke, Anm. 9, S. 223 f. 47 Ergänzend zum Thema Steinle: Reinhold Schneider, Anm. 15, S. 184; Schneider verwendete vor dem Krieg noch einen durchaus positiven Macht-Begriff, den er mit Blick auf Hitler dann aber aufgegeben hat. Prägnant wird das reflektiert in seinem Beitrag vom Oktober 1957, vgl. Schneider: Macht und Herrschaft, Anm. 14, S. 108–132; vgl. auch Żyliński: Europa als Vorstellung, Anm. 13, S. 108 und Gehler: Europa, Anm. 13, S. 33. 48 Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 429 bzw. 434.
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Das von Vanessa Conze in ihrer Studie der abendländischen Bewegung (zumindest in der Tendenz) zu Recht attestierte „utopische und vor allem unkonkrete Sendung[sbewusstsein]“49 ist in Schneiders Europa-Konzept allerdings nur noch bedingt zu beobachten: Weder übergeht er die Konflikte im Europa der Vergangenheit, noch nimmt er eine verklärende Zukunftsperspektive ein, sondern konstatiert vielmehr: „Und doch ist keine Prophetie erlaubt – so wenig wie ein billiger oder oberflächlicher Trost.“50 Die von Schneider geforderte europäische Haltung zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie trotz der Einsicht in die Unerreichbarkeit der Utopie eines geistigen Europas immer wieder ein „Suchen [darstellt], das über sich selbst hinausstrebt“51 und sich so letztlich die proklamierte innere Freiheit – als Kern von Schneiders geforderter europäischer Haltung – aus einem Geschichtsbewusstsein herausbildet, das er als Voraussetzung für ein geistiges, kulturelles Europa als Gegenstück zum Europa der Institutionen betrachtet: Unsere Aufgabe – unsere etwa mögliche Rettung – ist die Übertragung des Gesamtgeschichtlichen in unser Bewußtsein, seine Bergung und Verdichtung in beseelter Geistigkeit und Schicksalsbereitschaft. Unsere Bestimmung ist: das Gesamtgeschichtliche anwesend zu erhalten. Das ist die Voraussetzung der heute gebotenen Haltung.52
Indem Schneider die selektierte europäische Geschichte instrumentalisiert, um die in der Gegenwart und Zukunft einzunehmende Haltung zu legitimieren, leistet er Überzeugungsarbeit für seine zu Beginn seiner Rede nur als subjektives „Bekenntnis“ klassifizierten Europa-Vorstellungen und formuliert damit gleichzeitig einen allgemeinen und allgemein gültigen Anspruch: „Unser Leben, unser Dasein kann nur die innere Kontinuität europäischer Tradition sein.“53 Schneiders Europa als Lebensform kann als letzter Aufruf zu einer geistig-sittlichen Haltung gedeutet werden, in dem der Dichter im Wissen um die Marginalisierung seiner eigenen Denkhorizonte und der Ideen der Abendland-Bewegung nochmals versucht, die Bedeutung eines geistigen Europas, das sich seiner Geschichte bewusst ist, zu unterstreichen.54
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Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 122. Schneider: Europa als Lebensform, Anm. 12, S. 442. Ebd., S. 425. Ebd., S. 434. Ebd., S. 422. Vgl. Conze: Das Europa der Deutschen, Anm. 5, S. 170.
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Autor*innenverzeichnis
Olivier Agard, Dr., Professor für deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne Université, Promotion 2000 (Siegfried Kracauer: le chiffonnier mélancolique, Paris 2010), Habilitation 2012 (Max Scheler ou l’esprit vivant: enquête sur les sources françaises de l’anthropologie philosophique allemande). Forschungsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Kulturkritik, Siegfried Kracauer, Elias Canetti, Deutsch-französische Transfers in der Philosophie und Soziologie. Frédéric Attal, Dr., Professor für Zeitgeschichte an der Université Polytechnique Hauts-de-France. Autor von Histoire des intellectuels italiens au XXe siècle. Prophètes, philosophes, experts (Paris 2013). Barbara Beẞlich, Dr., Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Heidelberg, Promotion 1999 (Wege in den ‚Kulturkrieg‘. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000), Habilitation 2005 (Der deutsche Napoleon-Mythos. Literatur und Erinnerung 1800 bis 1945, Darmstadt 2007). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Geschichte vom 18.–21. Jahrhundert, Narratologie, Klassische Moderne (Thomas Mann, Junges Wien, Stefan George), Kulturkritik. Paola Cattani, Dr., Professeur de littérature française à l’université Roma Tre. Ancienne élève de l’École Normale Supérieure de Pise, doctorat en 2007 (Paul Valéry et les arts visuels, Pise 2007); autre publication: P. Valéry, L’Europe et l’Esprit. Écrits politiques 1896–1945, édition établie et présentée par P. Cattani, Paris 2020. Domaines de recherche principaux: Histoire des idées (idées de l’Europe, démocratie et libéralisme), relation entre littérature et politique, théorie de la littérature entre le 19ième et le 20ième siècle. Claudia Cippitelli, Dr., Fachexpertin (cultrice della materia) für Germanistik an der Università Ca’Foscari Venezia, Promotion 2022 zur Amazonas-Trilogie Döblins (Revolution als naturmystische Wiedergeburt. Alfred Döblins November 1918. Eine deutsche Revolution im Licht seiner Naturphilosophie) an der Università Ca’Foscari Venezia im Rahmen eines Cotutela-Promotionsprogramms in Kooperation mit der Universität Stuttgart. Forschungsschwerpunkte: Alfred Döblin, Kulturkritik.
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Tristan Coignard, Dr., Professor für Germanistik an der Universität Bordeaux Montaigne und Fellow am Institut universitaire de France (2018–2023), Promotion 2005 (L’apologie du débat public. Réseaux journalistiques et pouvoirs dans l’Allemagne des Lumières, Pessac 2009), Habilitation 2014 (Une histoire d’avenir. L’Allemagne et la France face au défi cosmopolitique [1789–1925], Heidelberg 2017). Forschungsschwerpunkte: Ideen- und Kulturgeschichte (18.–21. Jahrhundert), Kosmopolitismus- und Friedensforschung, Geschichte der Bürgererziehung (18.–21. Jahrhundert), deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Presse und Politik. Johannes Dafinger, Dr., Universitätsassistent (Postdoc) am Fachbereich Geschichte, Abteilung Zeitgeschichte der Paris-Lodron-Universität Salzburg, Promotion 2017 (Kulturbeziehungen und informelle Netzwerke in Hitlers Europa. Die deutschen zwischenstaatlichen Gesellschaften 1933–1945). Forschungsschwerpunkte: Europa in der Zeit des Nationalsozialismus, transnationale Netzwerke der extremen Rechten nach 1945, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. Massimiliano De Villa, Dr., Professor für Deutsche Literatur an der Universität Trento, Promotion 2010 (La Verdeutschung der Schrift di Martin Buber e Franz Rosenzweig: analisi del testo e ricostruzione del contesto). Forschungsschwerpunkte: Deutsch-jüdische Kulturgeschichte, deutsch-jüdische Symbiose (Martin Buber, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin), jüdische Renaissance, Literatur der Weimarer Republik, Paul Celan, jiddische Literatur. Mathieu Dubois, Dr., Maître de conférences an der Sciences Po Rennes, Promotion 2012 (Génération politique: les années 1968 dans les jeunesses des partis politiques en France et en RFA, Paris 2014; Les conséquences économiques de Mai 68: du désordre social français à l’ordre monétaire européen, Bruxelles 2018), Habilitation 2022 (L’économie sociale de marché à la conquête de l’Europe. L’influence de la diplomatie allemande sur le modèle social européen, Rennes 2024). Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Europäischen Integration, Transnationale Geschichte nach 1945 (Frankreich, Bundesrepublik Deutschland). Gabriele D’Ottavio, Dr., Professor für Europäische und Globale Geschichte an der Universität Trento, Promotion 2009 (Die Bundesrepublik und die Europäische Integration 1949–1966, Bologna 2012/Berlin 2016), Habilitation für Neueste Geschichte und für Geschichte der Internationalen Beziehungen 2017. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert, Geschichte Europas, Kalter Krieg, Europäische Integration, Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Europadiskurs.
Autor*innenverzeichnis
Cristina Fossaluzza, Dr., Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Ca’Foscari Venezia, Promotion 2005; Monographien: Subjektiver Antisubjektivismus: Karl Philipp Moritz als Diagnostiker seiner Zeit, Hannover 2006; Poesia e nuovo ordine. Romanticismo politico nel tardo Hofmannsthal, Venezia 2010. Forschungsschwerpunkte: Verknüpfungen von Ästhetik und Politik vom 18.–21. Jahrhundert, Literatur und Ausnahmezustand, Europa-Konzeptionen von der Romantik bis zur Moderne, Kulturkritik, deutsch-italienische Literaturbeziehungen. Giulia Frare, Dr., Lehrbeauftragte an der Università degli Studi di Trieste und Fachexpertin (cultrice della materia) für Germanistik an der Università Ca’Foscari Venezia, Promotion 2022 mit einer Arbeit über die Barockrezeption im frühen 20. Jahrhundert (Lektüren des Barock in der Zwischenkriegszeit. Die Barockrezeption in Werken Walter Benjamins, Bertolt Brechts und Alfred Döblins der 1920er und 1930er Jahre), Beiträge zu F. Kafka, A. Döblin, B. Brecht und R.M. Rilke. Forschungsschwerpunkte: Barockrezeption in der ‚klassischen Moderne‘, Kulturkritik. Gabriele Guerra, Dr., Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Sapienza Universität Rom, Promotion 2005 (Judentum zwischen Anarchie und Theokratie. Eine religionspolitische Diskussion am Beispiel der Begegnung zwischen Walter Benjamin und Gershom Scholem, Bielefeld 2006), weitere Studie: L’acrobata d’avanguardia. Hugo Ball tra dada e mistica, Macerata, 2020. Forschungsschwerpunkte: Deutschjudentum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Literatur der ‚Konservativen Revolution‘, Ästhetische Moderne, klassische Avantgarden zwischen Ästhetik und Kultur, kulturpolitischer Katholizismus der Weimarer Zeit. Tillmann Heise, M. A., Doktorand in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft (Prof. Dr. Barbara Beßlich) an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Stipendiat der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und der Studienstiftung des deutschen Volkes, Dissertationsprojekt: Autoren, Schreibweisen und Netzwerke des antiliberalen Europa-Diskurses in Deutschland und Österreich (1918–1934). Forschungsschwerpunkte: Europa-Diskurs im literarischen Feld, Weltanschauungsliteratur, Intellektuellengeschichte, Zeitschriftenforschung, literaturwissenschaftliche Ideengeschichte. Thomas Keller, Dr., Professor em. für deutsch-französische Kulturwissenschaft, Aix-Marseille Université, dt. Promotion 1980 (Die Schrift in Stifters „Nachsommer“. Buchstäblichkeit und Bildlichkeit des Romantextes, Köln, Weimar, Wien 1982); frz. Promotion 1986 (Les Verts allemands. Un conservatisme alternatif, Paris 1993), Habilitation 1992 (Deutsch-Französische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München 2001). Forschungsschwerpunkte:
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Dekonstruktion, Deutsch-französische Lebensläufe, (Auto)Biographien und Gedächtnisorte, Nonkonformismen, Anthropologie und Ethnologie, Kulturtransfer, Tertiarität, Sakralität. Marcus Llanque, Dr., Professor für Politische Theorie an der Universität Augsburg, Promotion 1997 (Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000), Habilitation 2004 (Klassischer Republikanismus und moderner Verfassungsstaat, Berlin 2004). Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Politische Theorie des Republikanismus, Demokratietheorie. Olimpia Malatesta, Dr., PostDoc für Sociologia dei processi culturali e comunicativi an der Università degli Studi di Milano-Bicocca, Promotion 2021 (Ordoliberalism, Law and Society. An Epoch Making Theory, London 2024). Forschungsschwerpunkte: Ordo- und Neoliberalismus, ‚Konservative Revolution‘, politische Ideengeschichte vom 19.–21. Jahrhundert (Carl Schmitt, Werner Sombart), Philosophie des Rechts. Friedhelm Marx, Dr., Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Promotion 1994 (Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur, Heidelberg 1995), Habilitation 2001 („Ich aber sage Ihnen…“ Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt a. M. 2002). Forschungsschwerpunkte: Thomas Mann, Literatur und Kultur der Weimarer Republik, Gegenwartsliteratur, Genie-Ästhetik. Reinhard Mehring, Dr., Professor für Politikwissenschaft und deren Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Promotion 1988 (Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels. Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie, Berlin 1989), Habilitation 2000 (Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001). Forschungsschwerpunkte: Carl Schmitt, Martin Heidegger, Thomas Mann, politische Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Bérénice Palaric, Doktorandin in Germanistik/deutscher Ideengeschichte (Sorbonne-Lettres), Dissertationsprojekt über Ernst Troeltschs kulturphilosophisches Spätwerk (1917–1923), Master 1 und 2 in Soziologie, Philosophie, Germanistik (Sprachwissenschaft), und protestantischer Theologie. Forschungsschwerpunkte: Kulturphilosophie von 1900 bis 1930, Christentum und Theorie der Demokratie in der Weimarer Republik, Ernst Troeltsch und seine Zeitgenossen (Max Scheler, Ernst Robert Curtius, Oswald Spengler). Maurizio Pirro, Dr., Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mailand, Promotion 2002 (Anime floreali e utopia regressiva. Salomon Gessner e la
Autor*innenverzeichnis
tradizione dell’idillio, Pasian di Prato 2003). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Aufklärung, Weimarer Klassik, Klassische Moderne. Gérard Raulet, Dr., Professor em. für deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne Université, Promotion 1981 (Humanisation de la nature, naturalisation de l’homme, Université Panthéon-Sorbonne), Habilitation 1985 (Espérance et sécularisation, Université Paris-Sorbonne). Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie (einschließlich Ästhetik), 18.–21. Jahrhundert. Letzte Buchveröffentlichungen: Das befristete Dasein der Gebildeten. Benjamin und die französische Intelligenz, Konstanz 2019; Das kritische Potential der philosophischen Anthropologie. Studien zum historischen und aktuellen Kontext, Nordhausen 2020; Politik des Ornaments, Münster 2020. Christian E. Roques, Dr., Dozent für German Studies an der Universität Reims Champagne-Ardenne, Promotion 2011 (La réception du romantisme politique sous la République de Weimar, Paris 2015). Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte, Geschichte der Weimarer Republik, Politische Theorie des Ordoliberalismus, Demokratiekritik, Machiavelli-Rezeption im 20. Jahrhundert, Kulturkritik. Reto Rössler, Dr., Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg, Promotion 2018 (Weltgebäude. Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung. Göttingen 2020). Forschungsschwerpunkte: European Studies, Interkulturelle Germanistik, Literatur- und Wissensgeschichte, Literaturtheorie. Bernhard Walcher, PD Dr., Akademischer Rat a.Z., Germanistisches Seminar der Universität Heidelberg, Promotion 2009 (Vormärz im Rheinland. Nation und Geschichte in Gottfried Kinkels literarischem Werk, Berlin/New York 2010), Habilitation 2018 (Das deutschsprachige Bildgedicht. Kunstwissen und imaginäre Museen [1870–1968], Berlin/Boston 2020). Forschungsschwerpunkte: Politisches Engagement und literarische Publizität im 19. Jahrhundert, Wechselbeziehungen von Literatur und Bildender Kunst vom 18. bis 20. Jahrhundert, Intermedialitätsgeschichte und -konzepte, Kulturkritik, Kunstgeschichte und Weltanschauung 1870–1918. Tomislav Zelić, Ph.D. (USA), Professor für Theorie und Geschichte der Literatur an der Abteilung für Germanistik der Universität Zadar, Promotion 2009 (The Paradox of Sovereignty in Modern German History Plays, Ann Arbor 2009/2 2011), Habilitation 2011 (kumulativ). Forschungsschwerpunkte: deutsche Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Romantik, Klassische Moderne, Mediterranismus, Religion und Literatur.
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Kursivierte Seitenzahlen verweisen auf Nennungen in Fußnoten. Abusch, Alexander 432 Adenauer, Konrad 440, 435 Adler, Max 265 Adorno, Theodor W. 42 f. Agar, Herbert 392 Agnelli, Giovanni 132 Aischylos 442 Alexander der Große, König von Makedonien 135, 339 Alfieri, Vittorio 62 Altmann, Rüdiger 279 Andres, Stefan 434 Aristoteles 110, 132, 136, 335, 441 Aron, Raymond 119, 285, 294 Aron, Robert 301 f. Attila 420 Augustinus 91, 96, 110, 112–115 Baeck, Leo 175 f., 179 Bahnse, Ewald 394 Bahr, Hermann 19, 24, 313, 315‒317, 321 Baker, Josephine 72 f. Bakunin 196 Barbusse, Henri 36 Barrès, Maurice 36, 324 f. Barth, Karl 173, 287 Basilius von Caesarea 113 Bataille, Georges 288, 295 f., 303 f. Bauer, Bruno 274, 281 Bauer, Otto 223 Bazin, André 299 Beauvoir, Simone de 285 Becher, Johannes R. 361, 365, 431 Becker, Carl Heinrich 107
Begović, Milan 316 Benda, Julien 159 Benes, Edvard 148 Benn, Gottfried 19, 25 f., 309, 371‒386 Benoist, Alain de 303 Benz, Richard 106 Bergengruen, Werner 430, 437 Bergson, Henri 92, 115, 300 Berlin, Isaiah 119 Bernanos, Georges 305 Beuve-Méry, Hubert 299 Bianquis, Geneviève 299 Bilfinger, Karl 274 Bismarck, Otto von 59, 61, 92, 151, 162, 191, 204, 274 Bizet, Georges 310 Blanchot, Maurice 293, 303 Bloy, Léon 280 Blum, Léon 148, 295, 302 Blunck, Hans Friedrich 19, 26 f., 415‒427 Blunck, Rudolf W. 416 Bobbio, Norberto 119 Bodin, Jean 258, 270–272 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 119 Böhm, Franz 202, 204–206, 218 Boehm, Max Hildebert 202 Bonghi, Ruggero 52 Bonhoeffer, Dietrich 221 Bonn, Moritz Julius 220 Borchardt, Rudolf 339 Borgese, Giuseppe Antonio 18 f., 25, 51–65, 392 Borsa, Mario 152 Bosch, Hieronymus 274, 280
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Bottai, Giuseppe 301 Botero, Giovanni 137 Bouglé, Célestin 294 Bourquin, Maurice 148 Braudel, Fernand 140 Breitscheid, Rudolf 263 Briand, Aristide 263, 396 Broch, Hermann 352, 392 Brodnitz, Julius 170 Brooks, Van Wyck 392 Brosselette, Pierre 294 Bruno, Giordano 136 Bülow, Fürst Bernhard von 58 Bultmann, Rudolph 173, 287 Burckhardt, Jacob 99 Burke, Edmund 188 Butler, Nicholas 395 Cabiati, Attilio 132 Cäsar (Gaius Julius Cäsar) 153 f. Cahnmann, Werner 171 f. Caillois, Roger 295 Calamandrei, Piero 64 Calvin, Johannes 107 Caro, Isidor 175 Carstens, Karl 183 Cavour, Camillo Benso Graf von 62 Chabod, Federico 18, 131–140 Chamberlain, Houston Stewart 58 Charbonneau, Bernard 297, 305 Chevalley, Claude 286, 289, 296 f., 301 f. Claudel, Paul 325 Clemens von Alexandria 113 Closs, August 416 Cohen, Hermann 171, 176 Collin, Nanny 390 Collinson, William Edward 416 Colorni, Eugenio 132 Columbus, Christopher 174 Comstock, Ada L. 392 Comte, Auguste 188
Corbin, Henry 293 Corneille, Pierre 271 Coudenhove-Kalergi, Richard (Graf) 12, 16, 25, 148, 184, 222, 252, 262, 286, 339, 345, 387, 395‒399, 414 Coutrot, Jean 294 Crispi, Francesco 151 f. Croce, Benedetto 52, 132, 134, 136, 140, 147, 153 f., 157, 159, 331‒333 Curtius, Ernst Robert 18, 20 f., 25, 33, 35–37, 120–129, 271, 416 Däubler, Theodor 281 Dandieu, Arnaud 286, 296 Daniélou, Jean 304 Danilewski, Nikolai Jakowlewitsch 113 Dante Alighieri 57, 79, 121, 135 Dawson, Christopher 159 Déat, Marcel 294, 301 De Gaulle, Charles 302 De Man, Hendrik 287, 293 f., 295, 301 f. Dehmel, Richard 52 Delitzsch, Franz 172 Delitzsch, Friedrich 172 Delors, Jacques 305 Derrida, Jacques 312 Descartes, René 271 Desjardin, Paul 98 Dewey, John 184 Dickinson, Goldsworthy Lowes 241 Dienemann, Max 174 f. Dikov, Ljuben 425 Dirks, Walter 285, 287, 298, 300 Döblin, Alfred 19, 25, 355‒370 Dohms, Christian Wilhelm 161 Dohrn, Klaus 300 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 111, 340 Droste-Hülshoff, Annette von 281 Dupuis, René 289 f., 301 f.
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Einaudi, Luigi 132, 221 Einstein, Albert 64 Eisenmenger, Johann Andreas 277 Eisler, Georg 281 Eisner, Pavel 401 Eliade, Mircea 173 Elk, Max 175 Elliott, William Yandell 392 Ellul, Jacques 297, 305 Engels, Friedrich 264 Epting, Karl 270 Erasmus von Rotterdam 119, 123 Erhard, Ludwig 226 Eucken, Rudolf 204, 219 Eucken, Walter 202, 209, 213, 217–219, 226, 228 f., 231 f. Eulenburg, Philipp zu 58 Evola, Julius 377 f., 380 Fabrègues, Jean de 293, 301 Ferrero, Guglielmo 18, 21 f., 143–159, 324 Ferrero Raditsa, Nina 149 Feuchtwanger, Lion 275, 298, 388 f. Feuchtwanger, Ludwig 275 Fichte, Johann Gottlieb 192 Ficino, Marsilio 126 Fisher, Dorothy Canfield 392 Fisher, Henry 134 Foerster, Friedrich Wilhelm 22, 181–196 Foerster, Karl 183 Foerster, Wilhelm 183 Foscolo, Ugo 62 Fraisse, Paul 299 Frank, Bruno 388 f. Frank, Hans 275 Frantz, Constantin 185, 188, 190, 193 f. Frauendienst, Werner 403 Freyer, Hans 258 f. Fried, Alfred 239 Friedrich, Hugo 271
Friedrich I. (Barbarossa), Kaiser des Hl. Römischen Reiches dt. Nation 60 Friedrich II. (der Große), König von Preußen 59, 359 Fuchs, Eugen 169 Galey, Louis-Emile 301 Gandillac, Maurice de 304 Ganivet, Pierre 301 Garibaldi, Giuseppe 61 f. Gauss, Christian 392 Geißler, Ewald 388 f. George, Lloyd 357 George, Stefan 127, 171, 373, 379‒382 Gerhart, Walter (d.i. Waldemar Gurian) 119 Gide, André 19, 25, 323‒333 Gide, Charles 245 Glaeser, Ernst 183 Gobetti, Piero 131 Goebbels, Joseph 117, 275, 406 Göring, Hermann 273 Görres, Joseph 189 Goethe, Johann Wolfgang von 340, 387, 393 Gogarten, Friedrich 173 Goldmann, Felix 174 Goll, Claire 349 Goll, Yvan 19, 25, 335, 338, 346‒351 Graetz, Heinrich 174 Groeben, Hans von der 217 Groß, Johannes 279 Grosser, Alfred 300 Großmann-Doerth, Hans 218 Grünewald, Max 175 Grüninger, Horst 270 Guardini, Romano 434 Guizot, François 133 Gundolić, Ivan 316 Gunkel, Friedrich 172 Gunnarsson, Gunnar 422
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Gurvitch, Georges 85 f., 97 Gutkind, Curt 62 Habermas, Jürgen 19, 38–42, 47–49 Habsburg, Franz Josef Otto (von) 26, 396 Hagemann, Walter 430 Hallstein, Walter 217 Harden, Maximilian 58 Harnack, Adolf von 113, 172, 176 Hasenclever, Walter 389 Hauptmann, Gerhart 19, 24, 313‒315, 321, 349 Haushofer, Albrecht 403 Haushofer, Karl 26, 393‒396, 403 Haushofer, Max 394 Hayek, Friedrich A. von 199. 213 f., 221 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49, 192, 304, 349, 351 Heilperin, Michael 221, 227 Heller, Hermann 18, 22 f., 197, 199–202, 207 f., 215, 249–266 Héraud, Guy 305 Herder, Johann Gottfried 43 Herodot 134, 441 Herriot, Éduard 148, 262 Herz, Henriette 161 Hiller, Kurt 359 Himmler, Heinrich 406, 424 Hindenburg, Paul von 68, 117, 200 Hippokrates von Kos 135 Hirsch, Etienne 288, 302 Hitler, Adolf 117, 179, 182, 192, 195, 219, 269, 274, 293, 298, 393‒395, 397 f., 402, 407‒409, 424, 434, 442 Hobbes, Thomas 258, 267, 277, 280 Hocke, Gustav René 362 f. Hölderlin, Friedrich 120 Hofmannsthal, Hugo von 337, 339 f., 344, 353 Holbach, Maude M. 317 Holländer, Ludwig 170
Homer 310, 314 Horkheimer, Max 42 f., 83 Huber, Ernst Rudolf 274 Huber, Kurt 410 Huch, Ricarda 196 Hugo, Victor 254 Humboldt, Wilhelm von 91 Husserl, Edmund 42–45, 173 Ibach, Helmut 430 Ibsen, Hendrik 349 Illich, Ivan 305 Isokrates 135 Jaloux, Edmond 390 James, William 89 Jaspers, Karl 435 Jaszi, Oscar 392 Jean Paul (d.i. Johann Paul Friedrich Richter) 347 Jellinek, Georg 255 Jesus Christus 292 Johnson, Alvin 392 Joseph II., Kaiser des Hl. Römischen Reiches dt. Nation 161 Jünger, Ernst 270, 274–279, 434 Jünger, Friedrich Georg 434 Jünger, Gretha 270, 274, 282 Jung, Carl Gustav 173 Jung, Edgar Julius 202 Kästner, Erich 183 Kahler, Erich von 171 Kahn, Fritz 177 Kaiser, Georg 389 Kanner, Heinrich 194 Kant, Immanuel 47, 49, 92, 96, 251, 253 f., 349 Karl der Große, Kaiser des Hl. Römischen Reiches 135, 339
Personenregister
Karl V., Kaiser des Hl. Römischen Reiches dt. Nation 434 Kautsky, Karl 182 Keenan, George F. 181 Keil, Friedrich 172 Kelsen, Hans 148, 256 f., 258 Kerr, Alfred 389 Kesser, Armin 365 Keynes, John Maynard 227 Keyserling, Hermann (Graf) 37, 54 Kierkegaard, Søren Aabye 173 Kimchi, David 277 Klages, Ludwig 77 Kleist, Heinrich von 343 Klemperer, Viktor 37, 421 Klossowski, Pierre 295, 304 Koeppen, Wolfgang 314 Koestler, Arthur 368 Kogon, Eugen 285, 300, 441 Kohl, Helmut 49 Kohn, Hans 392 Kojève, Alexandre 293, 304 Kolb, Annette 353 Koselleck, Reinhart 118 Kracauer, Siegfried 365 Kranold, Hermann 262–264 Krauss, Werner 275 Kürnberger, Ferdinand 316 Kvapil, Jaroslav 316 Lagardelle, Hugo 301 Lampe, Adolf 231 Landsberg, Paul Ludwig 86, 285, 287, 290, 292, 298–300, 304 Lange, Christian Lous 243 Laurat, Lucien 294, 301 Laval, Pierre 302 Le Fort, Gertrud von 434 Lefranc, Georges 294 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 92 Leires, Michel 295
Leopardi, Giacomo 62 Lessing, Gotthold Ephraim 52 Lessing, Theodor 18–20, 67–80, 372 Lévi-Strauss, Claude 285, 302 Leyen, Ernst Albrecht 217 Leyen, Ursula von der 217 Lignac, Xavier de 303 Lippmann, Walter 222, 395, 398 List, Friedrich 222, 230 Liutprand, König der Langobarden 135 Lombroso, Cesare 145 f., 149, 152 Lombroso, Gina 145, 149 Löwenstein, Hubertus Prinz zu 196 Löwenthal, Richard 298 Lorenz, Werner 424 Lublinski, Samuel 68 Lucan (Marcus Annaeus Lucanus), 121 Ludwig XIV., König von Frankreich 139 Ludwig, Emil 388 f. Luhmann, Niklas 47 Lukács, Georg 78 Luther, Martin 92, 96 Mably, Gabriel Bonnot de 138 Macchiavelli, Niccolò 61, 92, 131, 133, 135, 138, 186–189, 191, 194 Madariaga, Salvador de 148, 227 Maistre, Joseph de 330 Mann, Erika 388, 393, 395 Mann, Golo 64 Mann, Heinrich 35, 183, 298, 345, 390 f. Mann, Klaus 340, 344, 388 f. Mann, Thomas 19, 24–26, 35, 51, 64, 68, 78, 123, 177, 183, 313, 317‒322, 331 f., 335, 337‒342, 345, 351‒353, 387‒414, 416, 427 Mannheim, Karl 120, 122, 124 f. Mantoux, Paul 148 Manzoni, Alessandro 62 Marc, Alexandre 286, 289, 297 Marck, Siegfried 298 f.
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Marcks, Erich 196 Marcuse, Herbert 83 Marinetti, Filippo Tommaso 373 Marion, Paul 294, 301 Maritain, Jacques 396 Marjolin, Robert 288, 294, 302 Marshall, George C. 226, 304 f. Marx, Karl 182, 264, 292 f., 349, 351 Massow, Ewald von 425 f. Matteotti, Giacomo 147 Maulnier, Thierry 292 f., 301, 303, 305 Maurras, Charles 292, 325 Mayer, Hans 287 Maxence, Jean-Pierre 293 Mazzarini, Santo 154 Mazzini, Giuseppe 62–64, 140 Meinecke, Friedrich 92, 432 Melville, Herman 270, 274, 280 Menasse, Robert 345 f., 353 Mendelssohn, Moses 161 Merleau-Ponty, Maurice 285 Meyer, Agnes E. 395 Meyer, Conrad Ferdinand 183 Meyer, Eduard 107 Meyer, Fritz 217, 229 Michelangelo (Buonarroti) 432 Michels, Robert 301 Miksch, Leonhard 231 Mill, John Stuart 329 Mises, Ludwig von 199 Mommsen, Theodor 153 Monnet, Jean 288, 294, 305 Monroe, James 269 Montaigne, Michel de 137, 340 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de 133, 137–139, 326 Moravia, Alberto 56 Morley, John 188 Mosca, Gaetano 152 Mounier, Emmanuel 86, 97, 286, 290–292, 299–302
Müller, Adam 124 Müller-Armack, Alfred 202, 213, 227, 232 Münchhausen, Börries von 374 Münzenberg, Willi 297, 368 Mumford, Lewis 392 Murko, Mathias 316 Musil, Robert 19, 25, 328‒330, 333, 335, 338‒342, 351‒353 Mussolini, Benito 12, 51, 132, 201, 377, 396 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 48, 191 Naumann, Johann Wilhelm 430 f. Neilson, William Allan 392 Nero, Kaiser des Römischen Reiches 274 Neukrantz, Klaus 365 365 Niceforo, Alfredo 152 Niebuhr, Reinhold 392 Nietzsche, Friedrich 12, 24 f., 68, 115, 281, 292, 295, 309‒311, 313, 321, 335 f., 356, 367, 372 f., 389, 401 Nitti, Francesco Saverio 157 Novalis (d.i. Hardenberg, Friedrich von) 44, 52 Olivier, Louis 303 Oppenheimer, Franz 14 Oprecht, Emil 295 Ortega y Gasset, José 331‒333 Otto, Rudolf 173 Origenes 113 Pannwitz, Rudolf 339, 344, 372 Papen, Franz von 200 f., 207 Papini, Giovanni 52 Paquet, Alfons 416 Parini, Giuseppe 62 Paulus (von Tarsus) 96 Pederin, Ivan 312 f. Péguy, Charles 292 f., 299 f. Perikles 139
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Perroux, François 288 Pétain, Philippe 269 Peterson, Erik 281 Philipp II., König von Makedonien 135 Philipp II., König von Spanien 58 Philon von Alexandria 107 Platon 107, 110, 114 f. Platz, Hermann 431 Plutarch 441 Podewils, Clemens Graf von 270 Poe, Edgar Allan 274, 280 Popper, Karl R. 119 Port, Hermann 430 Prévost, Pierre 290, 296, 303 Prezzolini, Giuseppe 56 Pringsheim, Alfred 394 Proust, Marcel 327 Racine, Jean 271, 292 Radbruch, Gustav 249 Raditsa, Bogdan 148 Ranke, Leopold von 37 Rappard, William 221, 227 Reinemann, John Otto 390 Reinhardt, Max 315 Renner, George T. 26, 393‒396, 398 Reuter, Paul 288, 302 f. Ribbentrop, Joachim von 423 f. Ricardo, David 218 f. Rivière, Jacques 19, 25, 313‒333 Robbins, Lionel 221 Roditi, Georges 294, 301 Röpke, Wilhelm 202, 209, 211, 213, 217, 218, 221–230, 232 Rohan, Karl Anton (Prinz) 337, 414 Rolland, Romain 60, 325 Romains, Jules 294 Roosevelt, Theodor 146 Rooth, Erik 416 Rosenberg, Alfred 375, 385, 424 Rosenstock, Eugen 272, 289
Rosenthal, Georg 390 Rosselli, Carlo 14 Rossi, Ernesto 64, 132 Roth, Joseph 298 Rougement, Denis de 148, 227, 286, 289, 296 f. Rousseau, Jean-Jacques 137 Rovan, Joseph 300 Rüstow, Alexander 201 f., 209, 218, 222, 227, 231 Ruyssen, Théodore 18, 23, 235–247 Sabatier, Camille 14 Sahl, Hans 298 Saint-John Perse (d.i. Alexis Léger) 327 Saint-Pierre, Charles Irénée Castel de 138 Salomon, Ernst von 434 Salvemini, Gaetano 131, 392 Sartre, Jean-Paul 285 Savigny, Friedrich Carl von 273 Scheler, Max 13, 16–18, 20, 41 f., 81–116, 287, 290 f. Schickele, René 368 Schiller, Friedrich von 349 Schleicher, Kurt von 207 Schleiermacher, Friedrich 173 Schmidt, Wilhelm 430 Schmitt, Carl 18, 22–24, 118 f., 123 f., 199, 201–205, 208–210, 256, 258–260, 267–284, 330, 403 Schneider, Reinhold 19, 26, 429‒443 Schopenhauer, Arthur 68 Schreiber, Otto Andreas 374 Schulze-Boysen, Harro 285, 287 Schumann, Robert 228, 304 Schwarzschild, Leopold 298 Seghers, Anna 343 Segonzac, André Dunoyer de 302 Seligmann, Cäsar 173 Seneca 274, 441 Sergi, Giuseppe 152
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Personenregister
Seyß-Inquart, Arthur 418 f. Sforza, Carlo Graf 396 Siegfried, André 148 Sieburg, Friedrich 300 Siemsen, Anna 298, 300 Siemsen, August 298 Siemsen, Hans 298 Sieyès, Emmanuel-Joseph 49 Sighele, Scipio 152 Simmel, Georg 13, 88, 309 Smith, Adam 14 Sokrates 441 Solowjew, Wladimir Sergejewitsch 111, 113 Spann, Othmar 85 Speidel, Hans 270, 275 Spengler, Oswald 101, 113,157, 177, 324, 333, 340 f., 439 f. Sperber, Manès 368 Spinelli, Altiero 64, 132 Spranger, Eduard 91, 94, 105 Staël, Germaine de 56 Stanišić, Saša 352 f. Stapel, Wilhelm 282 Stalin, Josef 224, 269, 298 Stavisky, Alexandre 286 Steeg, Ludwig 426 Stein, Karl Reichsfreiherr vom 196 Steinbömer, Gustav 379 Steinbüchel, Theodor 442 Sternheim, Carl 19, 25, 335, 338, 346‒352, 389 Stresemann, Gustav 396 Ströbel, Rudolf 424 f. Suhrkamp, Peter 416 Taine, Hippolyte 149 f. Taube, Otto von 54 Tawada, Yoko 345 Thälmann, Ernst 117 Theopompos von Chios 135
Thibaudet, Albert 148 Thierfelder, Franz 426 Thiess, Frank 437 Thomas von Aquin 441 Thormann, Werner 285, 287, 297–300 Tieck, Ludwig 52 Tietz, Ludwig 170 Tillich, Paul 173 Tönnies, Ferdinand 83, 170 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch 111, 387 Troeltsch, Ernst 13, 18, 20, 84, 91, 99–116, 257 Tucholsky, Kurt 389 Tusk, Donald 217 Ullmann, André 301 Uri, Pierre 288, 294, 303 Valéry, Paul 19, 24 f., 148, 157, 312, 323‒333 Varnhagen, Rahel Levin 161 Vazeille, Albert 262 Vergil 121 Villey, Daniel 222 Volpe, Gioacchino 131 Voltaire (d.i. François-Marie Arouet) 21, 133, 135–139, 271 Wackenroder, Wilhelm Heinrich Wagner, Richard 311 Walden, Herwarth 359 Warburg, Aby 121, 127 Wassermann, Jakob 388 f. Weber, Max 122, 272, 309 Wedekind, Frank 349 Weil, Simone 285 Weiß, Konrad 281 Wells, Herbert George 324 Werfel, Franz 298 Wiener, Max 175
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Personenregister
Wilhelm II., Kaiser des Deutschen Reiches 58–60 Willoughby, Leonard A. 416 Worringer, Wilhelm 381 Wundt, Carl 349
Zoepfl, Friedrich 430 Zweig, Stefan 338, 340, 353, 391
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