Lex publica: Gesetz und Recht in der römischen Republik [Reprint 2015 ed.] 9783110833171, 9783110045840


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German Pages 543 [544] Year 1975

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Table of contents :
Einleitung
I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen
1. Geistiger Hintergrund und Charakteristik des ,Römischen Staatsrechts‘
2. Begriffe und Systematik im ,Römischen Staatsrecht‘ Mommsens
II. Der Begriff der lex
1. Historische Bedingtheit antiker und moderner Interpretationen zum Gesetzesbegriff
2. Der Begriff der lex
III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses bis zum Ausgang des Ständekampfes
1. Der Volksbeschluß der Frühzeit
2. Ursprung und Ausbildung des normativen Volksbeschlusses (lex)
IV. Systematische Übersicht über die Materie der Gesetze vom dritten Jahrhundert bis zum Ausgang der Republik
1. Vorbemerkungen
2. Das situationsgebundene Gesetz
3. Das normative Gesetz
V. Analyse der Gesetze der hohen und späten Republik
1. Form und Inhalt des Gesetzes
2. Der Willensträger des Gesetzes
a) Volk und Magistrat
b) Auctoritas senatus
3. Die Funktion des Gesetzes (Staat und Gesetzesrecht)
a) Politik und Gesetz
b) Lexfius und mos (maiorum)
c) Das spätrepublikanische Gesetzesdenken
d) Die Krise des Gesetzesgedankens in der späten Republik
Schlußwort
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Lex publica: Gesetz und Recht in der römischen Republik [Reprint 2015 ed.]
 9783110833171, 9783110045840

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BLEICKEN / LEX PUBLICA

JOCHEN BLEICKEN

LEX PUBLICA GESETZ UND RECHT IN DER RÖMISCHEN REPUBLIK

w DE

G WALTER DE G R U Y T E R • B E R L I N • NEW YORK 1975

ISBN 3 11 004584 2

© 1975 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sehe Verlagshandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • K a r l J . Trübner • Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. P r i n t e d in G e r m a n y Alle Rechte, insbesondere das der Obersetzung in f r e m d e Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter Pieper, Würzburg E i n b a n d : Wübben Sc Co.. Berlin

GEWIDMET DEM ANDENKEN AN KONRAD KRAFT

VORWORT

Die vorliegende Schrift wurde im Frühjahr 1973 abgeschlossen. Die seitdem erschienene Literatur, so u. a. auch die Bücher von E. S. Gruen, The last generation of the Roman republic (1973) und A. Watson, Law making in the later Roman republic (1974), konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Ich habe allen Mitarbeitern am Seminar für Alte Geschichte der Universität Frankfurt für ihre Mithilfe bei der Durchsicht der Druckfahnen, insbesondere auch den Sekretärinnen, Frau Kossler und Frau Hanke, für ihre unermüdliche Hilfe bei der Anfertigung des Manuskriptes zu danken. Die Schrift ist meinem allzu früh verstorbenen Kollegen Konrad Kraft gewidmet, in dem seine Schüler einen aufopfernden Lehrer, seine Kollegen und Mitarbeiter einen anregenden Kritiker, die althistorische Wissenschaft einen bedeutenden Gelehrten verloren haben. Frankfurt a. M., im September 1974

Jochen Bleicken

INHALT

Einleitung I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

. . . .

1. Geistiger Hintergrund und Charakteristik des .Römischen Staatsrechts' von Theodor Mommsen 19 2. Begriffe und Systematik im ,Römischen Staatsrecht' Mommsens 36 II. Der Begriff der lex 1. Historische Bedingtheit antiker und moderner Interpretationen zum Gesetzesbegriff 52 2. Der Begriff der lex 58 III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses bis zum Ausgang des Ständekampfes 1. Der Volksbeschluß der Frühzeit 72 2. Ursprung und Ausbildung des normativen Volksbeschlusses (lex) 82 IV. Systematische Übersicht über die Materie der Gesetze vom dritten Jahrhundert bis zum Ausgang der Republik 1. Vorbemerkungen 100 2. Das situationsgebundene Gesetz 106 Kompetenz der Curiatcomitien 106 Kriegserklärung, Friedensschluß, Vertragsschluß 108 Verteilung von Ackerland 110 Beschlüsse über den kultischen Bereich 111 Bürgerrechtsverleihung 112 strafprozessuale Tätigkeit 113 Konstituierung außerordentlicher Gewalten 115 Bewilligung des Imperiums zur Durchführung des Triumphes 121 Abrogation von Beamten 122 Beschlüsse über die Durchführung von Maß-

Inhalt nahmen, die an sich dem reinen Administrationsbereich der Beamten und des Senats zuzuordnen sind 123 Schuldentilgung 128 Gewährung von Sonderrechten 129 3. Das normative Gesetz 137 Gesetze über das Verfahren der Volksversammlungen und das Stimmrecht 138 Bestimmungen über das Bürgerrecht 141 Privatrecht und Privatprozeßredit 141 leges {rumentariae 145 Strafrecht und Strafprozeßrecht 146 Verwaltung des sakralen Bereichs 152 Ordnung und Erweiterung der bestehenden Magistraturen 156 Zusammensetzung, Verfahren und Kompetenz des Senats 161 leges militares; leges viariae; Vereinsgesetzgebung 162 Triumphrecht 164 Finanzrecht 164 leges municipales; Modalitäten viritaner Assignation; Provinzialordnungen 165 leges sumptuariae 169 lex Claudia de nave senatorum und weitere Gesetze über den Senatoren- und Ritterstand 172 leges anndes 175 . Analyse der Gesetze der hohen und späten Republik 1. Form und Inhalt des Form der Abstimmung keit 193 Privilegium Effektivität 217 Inhalt ren Normen 232

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.

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Gesetzes 178 179 Abstraktheit 179 Allgemeinverbindlich196 Begriffsgeschichte von Privilegium 198 des Gesetzes; Verhältnis des Gesetzes zu ande-

2. Der Willensträger des Gesetzes 2 4 4 a) Volk und Magistrat 244 Faktoren der Beschränkung des Volkswillens 245 Abhängigkeit des Volkswillens von der Nobilität 268 gentilizisdi-patronale Struktur der Volksversammlungen 271 Diskrepanz zwischen Bürgerzahl und Teilnehmern an den Volksversammlungen 273 Bezugslosigkeit der Volksversammlungen zur realen gesellschaftlichen Situation in der Spätzeit 279 vis und lex 285 summa potestas populi Rotnani 288 b) Auctoritas senatus 294 Vorbemerkungen 294 die auctoritas patrum der Frühzeit 296 die auctoritas senatus des patricisch-plebejischen Staates 304 3. Die Funktion des Gesetzes (Staat und Gesetzesrecht) 3 2 4 a) Politik und Gesetz 324 Vorbemerkungen 324 Thematik der lex 325 die Willensträger des Gesetzes und der Politik 330 die Politik und die Möglichkeiten des Rechts 337 die Frage nach dem Schutz der Grundordnung 338 b) Lex/ius und mos (maiorum) 347 Lex rogata der frühen und hohen Republik 348 das sich nicht auf Volksgesetz gründende ius publicum der frühen und hohen Republik 348 Begriff des mos, besonders im Privatrecht 354 mos im öffentlichen Bereich der älteren Zeit 359 die Krise der res publica im zweiten und ersten Jahrhundert als Voraussetzung für den Bedeutungswandel von mos 371 die Idealisierung von mos 373 die Konsequenzen der Übertretung von mos; das censorische re gimen morum 377 die Jurifizierung von mos 387 Zusammenfassung 393

lohalt

XI

c) Das spätrepublikanische Gesetzesdenken 396 Einleitung 396 Entwicklung des Gesetzesrechts zu seinem späteren Umfang 397 Bedeutung und Möglichkeiten des Gesetzesredlts für die res publica 403 legalistische Tendenzen in der späten Republik; Cicero de legibus 417 Mommsens ,Römisches Staatsrecht' und der ,Legalismus' der Römer 432 d) Die Krise des Gesetzesgedankens in der späten Republik 440 Die Verselbständigung der Magistratur 441 Verlust der Kontrolle über die Magistratur; wachsende Wirkungslosigkeit der rechtlichen Kontrollen: Intercession, Promulgationsvorschriften, religiöse Vorschriften; der Einsatz physischer Gewalt gegen die Rechtsordnung 444 Gegenmaßnahmen der Senatsmehrheit zur Wiedergewinnung der Kontrolle über die Rechtsordnung: Betonung der dienenden Rolle der Magistratur; die Kassation von Gesetzen; das senatus consultum ultimum-, die Tolerierung und Rechtfertigung von Gewaltmaßnahmen, die zugunsten der Senatsmehrheit ausgeübt wurden 462 die akute Krise der Rechtsordnung im letzten Bürgerkrieg der Republik 491 die Wiederaufrichtung der Rechtsordnung im Principat und deren Problematik 508 Schlußwort

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS (die gebräuchlichen Abkürzungen von Zeitschriften, Handbüchern und Inschriftenpublikationen wurden in das Verzeichnis nicht aufgenommen; vgl. die Verzeichnisse in: M. Käser, Das römische Privatrecht, 1955 ff.) Abbott/Johnson Aufstieg Bleicken, Volkstribunat Botsford Broughton MRR Bruns Dessau Diz. epigr. Frezza, Lex publica

Gaudemet, Institutions Geizer, Nobilität Geizer, Cicero Gioffredi, lus Herzog, Staatsverfassung Homo, Institutions Jhering, Geist

Käser, lus

F. F. Abbott / A. Ch. Johnson, Municipal Administration in the Roman Empire, 19682 Aufstieg u. Niedergang der römischen Welt. I. Von den Anfängen Roms bis zum Ausgang der Republik, herausg. von H. Temporini, 1. und 2. Bd., 1972 J. Bleicken, Das Volkstribunat der Klassischen Republik. Studien zu seiner Entwicklung zwischen 287 und 133 v. Chr., 1955 (Zetemata 13) G. W. Botsford, The Roman Assemblies from their Origin to the End of the Republic, 1909 (Nachdruck 1968) T. R. Broughton / M. L. Patterson, The Magistrates of the Roman Republic, 2 Bde, 1951-1952 Fontes iuris Romani antiqui I (leges et negotid) ed. C. G. Bruns / O. Gradenwitz, 1909 (die Zahlen) beziehen sich auf die Nummern der Dokumente) H. Dessau, Inscriptiones Latinae selectae Dizionario epigrafico di antichità romane di E. de Ruggiero, Iff., 1895 ff. P. Frezza, Preistoria e storia della lex publica, Archives de droit privé 16, 1953, 54 ff. (erneut abgedruckt in: Bull, dell' istit. dir. rom. 59/60, N. S. 18/19, 1956, 55 ff.) J. Gaudemet, Institutions de l'antiquité, 1967 M. Geizer, Die Nobilität der römischen Republik, 1912 (zitiert nach dem Abdruck in: Kleine Schriften I 17 ff.) M. Geizer, Cicero. Ein biographischer Versuch, 1969 C. Gioffredi, lus, lex, praetor, SDHI 13/14, 1947/ 48, 7 ff. E.Herzog, Geschichte und System der römischen Staatsverfassung, 2 Bde (nur der erste Band erschienen), 1884 L. Homo, Les institutions politiques romaines, 1927 R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3 Bde (seit 1852), 1894-19075-6 (nach diesen letzten unveränderten Auflagen, die auch dem Nachdruck von 1968 zugrunde liegen, wurde hier zitiert) M. Käser, Altrömisches lus. Studien zur Rechtsvorstellung und Rechtsgeschichte der Römer, 1949

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Abkürzungsverzeichnis

M. Käser, Das römische Privatrecht, 2 Bde, 19551959 (Handbuch der Altertumswiss. X 3, 3) W.Kunkel, Untersuchungen zur Entwicklung des Kunkel, Vorsullanisches Kriminalverfahren römischen Kriminalverfahrens in vorsullanischer Zeit, Abh. d. Bayr. Akad. d. Wiss., phil.-histor. Kl., N. F. Heft 56,1962 L. Lange, Römische Altertümer, 3 Bde, 1876-18793 Lange, Altertümer K. Latte, Zwei Exkurse zum römischen Staatsrecht: Latte, Exkurse 1. Lex curiata und cortiuratio, Nadir. Gött. Ges. d. Wiss., phil.- histor. Kl., N. F. Fachgruppe 1, Nr. 3, 1934 ( = Kleine Schriften, 1968, 341 ff.) U. v. Lübtow, Das römische Volk. Sein Staat und Lübtow, Volk sein Recht, 1955 Marquardt J. Marquardt, Römische Staatsverwaltung, 3 Bde., 1881-18852 Martin, Die Popularen J. Martin, Die Popularen in der Geschichte der späten Republik, Diss. Freiburg i. Br. 1965 De Martino, Costituzione F. De Martino, Storia della costituzione romana, 5 Bde, 1958-1967, Bd. I - I I in 2. Aufl. Meier, Res publica amissa Chr. Meier, Res publica amissa. Eine Studie zur Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, 1966 E. Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke, E. Meyer, Staat 19643 Mommsen, Abriß Th. Mommsen, Abriß des römischen Staatsrechts, 1893 Mommsen, Staatsr. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3 Bde, 1887/ 1888, Bd. I - I I in 3. Aufl. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899 Mommsen, Strafr. Novissimo digesto italiano NDI Nocera, Comizi G. Nocera, II potere dei comizi e i suoi limiti, 1940 D'Ors, Epigrafía jurídica A. D'Ors, Epigrafía jurídica de la España romana, Publ. Inst. Nación, de Estud. Jurid. Ser. 5 c, 1953 Peter HRR H. Peter, Historicorum Romanorum reliquiae I 2 (1914), I I (1906) Rotondi G. Rotondi, Leges publicae populi Romani, 1912 (Nachdruck 1966 mit dem Abdruck des Nachtrags von Rotondi aus den scritti giuridici I, 1922) Schulz, Prinzipien F. Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, 1934 (Nachdruck 1954) Staveley, Voting E. S. Staveley, Greek and Roman Voting and Elections, 1972 Sydenham E. A. Sydenham, The Coinage of the Roman Republic, 1952 Taylor, Party Politics L. R. Taylor, Party Politics in the Age of Caesar, 19643 L. R. Taylor, The Voting Districts of the Roman Taylor, Voting Districts Republic, Pap. and Monogr. of the American Acad. in Rom XX, 1960 Tibiletti, Sülle leges romane G. Tibiletti, Sülle leges romane, Studi in onore di P. de Francisci vol. IV, 1956, 593 ff. Käser, Privatrecht

Abkürzungsverzeichnis Wenger, Quellen Wieadcer, Lex publica

Willems, Sénat Wirszubski, Libertas

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L. Wenger, Die Quellen des römischen Redits, Denksdir. d. Österr. Akad. d. Wiss. 2, 1953 F. Wieadcer, Lex publica, in: Vom römischen Recht 1961 2 , 45 ff. (-- Privatrechtsgesetzgebung und politische Grundordnung im römischen Freistaat, Die Antike 16, 1940, 176 ff.) P. Willems, Le sénat de la république romaine, 2 Bde, 1883-18852 Ch. Wirszubski, Libertas als politische Idee im Rom der späten Republik und des frühen Prinzipats, 1967 (Übers, d. engl. Originalausgabe von 1950)

EINLEITUNG 1. Die historische Wissenschaft hat die öfEentliche Rechtsordnung der römischen Republik seit jeher als ein wesentliches Stück der römischen res publica angesehen und ihr daher für die Gesamtentwicklung Roms große Bedeutung zugemessen. Das ist gewiß nicht allein der Stellung zuzuschreiben, die das öffentliche Recht in der römischen Republik tatsächlich hatte. Ohne Zweifel hat hier einmal die Hochschätzung und die Bedeutung des römischen Privatrechts in der Neuzeit auch zu dem Urteil über das öffentliche Recht beigetragen: Dem ,Volk des Rechts' mochte man keine geringere Begabung in der Ausbildung des öffentlichen wie des privaten Rechts zusprechen, zumal nicht in der Phase des Aufstiegs Roms von der Stadt am Tiber zum Weltreich. Die ans Wunderbare grenzende Entwicklung Roms schien die Fähigkeit zur Gestaltung öffentlicher Rechtsnormen geradezu vorauszusetzen. Aber stärker noch hat wohl auf die Darstellung der Republik als einer auf Rechtsnormen ruhenden Ordnung die Staatsanschauung des 19. Jahrhunderts gewirkt, für die die öffendiche Rechtsordnung das für den Staat konstitutive Element und ,Staat' vor allem (oder sogar ausschließlich) durch sein Recht schaubar war. Damit hängt zusammen, daß die römische res publica allein in ihrer Rechtsordnung dargestellt werden konnte; das Römische Staatsrecht' von Theodor Mommsen ist der prägnanteste und zugleich großartigste Ausdruck dieser Denkweise. Unter dem Eindruck neuer Ideen, die die politischen, sozialen und ökonomischen Zusammenhänge als die wesentlichen Grundlagen einer staatlichen Ordnung ansehen, ist diejenige Auffassung, die den römischen Staat 1 vorwiegend von seinem rechtlichen Erscheinungsbild her interpretierte, heute fast durchweg aufgegeben; in vielen modernen Abhandlungen zur römischen Republik spielt die Rechtsordnung sogar eine geringe, die res publica kaum noch charakterisierende 1 Wenn in dieser Arbeit für die römische res publica öfter der Begriff,Staat' verwendet wird, ist das lediglich als Understatement zu verstehen und soll damit also nichts Modernes unterstellt sein. Die Römer verwendeten für die entsprechende Sache bekanntlich mehrere Worte (res publica, populus Romanus, senatus populusque Romanus) oder Wortverbindungen der verschiedensten Art, von denen jedoch nur die personifizierten Begriffe als Subjekt (etwa in internationalen Verträgen) aufgefaßt werden konnten. Auf einen Teil dieser Begriffe werde ich in der Darstellung näher eingehen.

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Einleitung

Rolle. Trotz dieses Tatbestandes gilt aber das ,Römische Staatsrecht' von Mommsen oder gelten doch große Teile desselben ganz allgemein als Autorität; jedenfalls wird im allgemeinen anerkannt, daß das öffentliche Recht der Republik ein Element staatlichen Seins war, das durch die modernen Erkenntnisse in seinem Gewicht zwar herabgesetzt, aber für die Interpretation der Republik nicht unwesentlich ist. 2. Es geht im folgenden um den Versuch, den Stellenwert des öffentlichen Rechts innerhalb des republikanischen Staates und seiner Entwicklung etwas näher zu bestimmen. Um von vornherein einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Es geht nicht darum, in Reaktion auf moderne Arbeiten die Bedeutung des öffentlichen Rechts in Rom .wieder' hervorzukehren. Unser heutiges Verständnis von historischen (und gegenwärtigen) Staaten schließt eine einseitige Darstellung eines Staates in seinem Recht völlig aus. Aber es scheint mit der Abkehr von den Vorstellungen, wie sie Mommsen und seine Zeitgenossen (und auch noch heute dieser oder jener Gelehrte) vertraten, das öffentliche Recht eher beiseite gestellt als wirklich in seiner Funktion analysiert oder auch nur als reine Materialgrube, als Quelle für die hinter dem Recht sichtbaren sozialen und wirtschaftlichen Bezüge benutzt worden zu sein. Man hat offenbar versäumt danach zu fragen, was das öffentliche Recht als eine R e c h t s o r d n u n g denn für die römische Republik bedeutete, welche Funktion es hatte, wie es entstanden ist und welche Gruppen innerhalb der Bürgerschaft es vertreten und erweitert haben. Diese Fragen, die eine positivistische Staatsrechtslehre von ihrem methodischen Ansatz her überhaupt nicht stellen konnte, darf man nicht mit dem Hinweis abtun, daß sie sich mit der Abkehr vom Rechtspositivismus erledigt hätten, denn das öffentliche Recht der Republik war zwar nicht mit der staatlichen Ordnung identisch, aber es war doch vorhanden und verlangt daher seine Einordnung in die res publica. Nun sind gewiß die oben gestellten und andere hier zu behandelnde Fragen in der modernen Wissenschaft nicht übersehen, sondern in größeren und kleineren Abhandlungen mit vielfach großem Gewinn erörtert worden. Doch schien mir der Zeitpunkt für eine zusammenfassende Behandlung des ganzen Problems angemessen zu sein. 3. Wenn man von der öffentlichen Rechtsordnung im republikanischen Rom spricht, hat man sich vorweg zu vergewissern — was leider nicht immer geschieht - , was unter dem Begriff des Rechts zu verstehen ist. Recht meint hier in erster Linie Gesetzesrecht, also diejenigen Rechtsnormen, die durch Volksbeschlüsse aufgestellt worden sind: Die große Masse des ius publicum beruhte auf leges rogatae. Durch die Behandlung des Gesetzesrechts wird

Einleitung

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daher auch die ganze Problematik der Form und Entwicklung der römischen Volksversammlungen und der Willensträger in ihnen in die Analyse einbezogen. Aber nicht nur das. Die römischen Volksbeschlüsse stellten nicht nur rechtliche Normen auf, sondern sie regelten auch Probleme der aktuellen Politik, die sich in dem Anlaß, der sie hervorbrachte, erschöpften (hier ,situationsbedingte' Gesetze genannt). Es ist daher auch das Verhältnis dieser Beschlüsse zu den normativen' Gesetzen zu erörtern. - Die öffentliche Rechtsordnung Roms beruhte jedoch - neben dem Gesetzesrecht - auch auf Recht, für das keine bestimmte Rechtsquelle, insbesondere nicht das Volk als Urheber nachgewiesen werden kann, das aber nichtsdestoweniger mit dem Begriff des ius verbunden wurde. Audi dieses Recht muß zu einer Interpretation herangezogen werden. - Wollte man jedoch nur die öffentliche Rechtsordnung im strengen Sinne, also das ius publicum, darstellen, bekäme man lediglich ein mehr oder weniger zufälliges und auf jeden Fall sehr lückenhaftes Bild von den Normen, nach denen das staatliche Leben ablief. Das öffentliche Recht wurde ergänzt durch das, was die Römer mos, mos maiorum bzw. instituta maiorum nannten. Mos und ius geben erst gemeinsam eine Vorstellung von der römischen Staatsordnung. Obwohl mos in der späten Republik in eine nahe Stellung zum ius rückte und beide Begriffe als Hendiadyoin sogar ein einheitliches Ganzes ausdrücken konnten, war mos doch nicht dasselbe wie ius. Es ist also das Verhältnis des mos zum ius und insbesondere die Entwicklungsgeschichte dieses Verhältnisses aufzuzeigen; sie wird einen wesentlichen Charakterzug der römischen Rechtsordnung enthüllen, der den Positivisten auf Grund ihrer Prämissen verborgen bleiben mußte. 4. Die Masse der verläßlichen Quellen über die römische res publica entstammt der hohen und vor allem der späten Republik. Eine Analyse der römischen Rechtsordnung hat zunächst von dieser Zeit auszugehen. Der Hauptteil der vorliegenden Abhandlung betrifft daher auch diese Zeit; der Versuch, die Linien der Entwicklung weiter in die frühe Republik zurückzuverfolgen (s.u.), kann nicht mehr sein als der Versuch einer groben Skizze. Der Hauptteil verfolgt das Ziel, in einer stärker systematischen Übersicht die einzelnen mit der Rechtsordnung zusammenhängenden Fragen zu besprechen; innerhalb der Systematik wird der historischen Entwicklung (in der hohen und späten Republik) Rechnung getragen. Die zahlreichen miteinander verflochtenen Probleme sind unter drei Stichworten zusammengefaßt worden, von denen ich einen Zugang zu der zentralen Frage nach der Rolle des öffentlichen Rechts in der römischen Republik erhoffe, nämlich unter denen der Form, des Willensträgers und der Funktion des Rechts.

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Einleitung

Nicht, daß ich glaube, damit einen idealen Aufhänger an die Hand zu geben: Die zahlreichen Überschneidungen und Wiederholungen innerhalb dieser drei großen Kapitel zeigen, daß die gewählten Stichworte nur Hilfsmittel der Verständigung sind. Sie dürften jedoch auch dadurch berechtigt sein, daß dieser in der Forschung wenig übliche Ausgangspunkt für die Frage nach der Bedeutung des öffentlichen Rechts die durch die eingefahrenen Bahnen abgeschliffenen Konturen der Probleme schärfer hervortreten läßt. Insbesondere scheinen mir die Möglichkeiten, die durch eine Besinnung auf die F o r m des Rechts, also auf seine Abstraktheit, Generalität, Effektivität u. ä., gegeben sind, für die Interpretation des öffentlichen Rechts noch nicht ausgeschöpft zu sein, obwohl es einige gute Vorarbeiten gibt, auf die ich mich stützen konnte (u. a. F. Wieacker und G. Gioffredi); die hinter dem Recht stehende Bewußtseinslage kommt in ihnen besonders deutlich zum Ausdruck. Aber auch der besondere Charakter des W i l l e n s b i l d u n g s p r o z e s s e s in den Volksversammlungen, an dem neben dem Volk der die Versammlung leitende Beamte und der Senat beteiligt waren, erlaubt aus dem Grad der Intensität der jeweils an diesem Prozeß beteiligten Personengruppen, aus dem Verhältnis dieser Gruppen zueinander und aus dem jeweiligen Inhalt des Antragsgegenstandes Rückschlüsse auf die Natur und die Funktion des Rechts. Die F u n k t i o n des Rechts tritt ferner auch in dem Gegenstand der Volksbeschlüsse wie der öffentlichen Normen überhaupt zutage. Sowohl der Inhalt der Rechtsnormen wie auch der Gebrauch des Rechtsbegriffs innerhalb der politischen Diskussionen können über den Charakter der Republik, insbesondere der späten Republik, Erkenntnisse verschaffen, die ältere Ergebnisse der Wissenschaft ergänzen oder auch korrigieren. 5. Die Reflexion auf eine mehr statisch gesehene Rechtsordnung allein kann aber nicht genügen, ja sie kann sogar verzerren, wenn sie sich nicht gleichzeitig auch auf den Wandel besinnt, dem die Form und die Funktion des Rechts sowie der Prozeß der Willensbildung, der zum Gesetzesrecht führt, unterworfen sind; der Wandel macht erst wirklich deutlich, was es mit dem öffentlichen Recht in der Republik auf sich hat. Hier ist jedoch zu bedenken, daß es für uns schon schwer ist, von der hohen zur späten Republik Entwicklungslinien aufzuzeigen. Wenn das hier versucht worden ist, hat man jedoch zu bedenken, daß wir über die ausgehende Republik wieder sehr viel besser unterrichtet sind als über die hohe Republik (und innerhalb der ausgehenden Republik wieder am besten über die letzten Jahre der Republik) und daß wir das wenige, was wir über die hohe Republik, also über das dritte Jahrhundert und die erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts wis-

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sen, zum allergrößten Teil aus dem Munde und der Formulierung und d. h. auch u. U. aus der Bewußtseinslage der Spätzeit kennen. Kann daher die politische Topik nicht oder nur wenig für die Analyse der hohen Republik herangezogen werden, gibt es doch immerhin Nachrichten, die sich auch für das dritte und zweite Jahrhundert auswerten lassen. Das wird sehr viel schwieriger, wenn wir in die Zeit des vierten Jahrhunderts oder gar in noch frühere Zeiten zurückgehen. Es war jedoch für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung, die gerade auch aus der Entwicklung von Form, Willensträger und Funktion des Rechts Schlüsse auf den Gesamtcharakter der römischen res publica ziehen möchte, notwendig, die Linien der Entwicklung wenigstens in ganz groben Umrissen oder auch nur mit einigen Andeutungen bis in die frühe Zeit Roms zurückzuverfolgen. Dies ist auch in zwei kleineren Kapiteln geschehen. Die besondere Quellenlage für die Frühzeit Roms, mit der sich diese Kapitel auseinanderzusetzen haben, verlangt eine vorausgehende Rechtfertigung der hier vertretenen Methode, nach der diese Quellen behandelt wurden, da über sie in der heutigen althistorischen Wissenschaft keine Einigkeit herrscht. 6. Die vorliegenden Überlegungen gehen davon aus, daß die gesamte annalistische Überlieferung, die vor dem letzten Drittel des vierten Jahrhunderts liegt, auf Grund der allgemein bekannten, im 19. Jahrhundert erarbeiteten Genesis dieser Annalistik keine Glaubwürdigkeit verdient. Erst seit dem Ende des vierten Jahrhunderts setzt eine Chronik ein, die, insbesondere nach dem Eintreten von Plebejern in das Pontifikalkollegium, das die Chronik betreute, einiges Material auch zur politischen Geschichte bringt und die in ihren frühesten Ausprägungen uns bei Diodor (ab 19,10 = 317/316 v. Chr.) und bei Polybios (2,18 ff. über die älteren Keltenkriege) erhalten ist 2 . Vor dieser Zeit können wir an schriftlichem Material 2

Zu Diodor: Die seit Mommsen (Fabius und Diodor, Römische Forschungen II 221 ff.) lange vorherrschende Meinung, daß der bei Diodor erhaltenen älteren annalistischen Uberlieferung jedenfalls zu einem guten Teil die Darstellung des Fabius Pictor zugrunde liege, gilt nicht mehr unangefochten, doch bleibt unbestritten, daß die Quelle Diodors ein annalistisches Werk aus vorsullanischer Zeit ist; vgl. aus der Literatur vor allem Ed. Meyer, Untersuchungen über Diodors römische Geschichte, Rhein. Mus. 37, 1882, 610 ff.; A. Klotz, Diodors römische Annalen, Rhein. Mus. 86, 1937, 206 ff. ( = Römische Geschichtsschreibung, in: Wege der Forschung 90, 1969, 201 ff.). - Zu Polybios: Die Annahme, daß Fabius Pictor auch für den Bericht des Polybios über die älteren Keltenkämpfe herangezogen worden ist, gründet sich darauf, daß Polybios die Liste der wehrfähigen römischen Bundesgenossen ausführlich bespricht (2,24), die nach Oros. hist. 4 , 1 3 , 6 und Eutr. 3 , 5 aus dem Werk des Fabius stammt; vgl. zur Diskussion F.W.Walbank, A Historical Commentary on Polybios I, 1957, 2, 24. - Nur noch selten werden heute die annalistischen Berichte für die Zeit vor der Eroberung Roms durch die Kelten mit der Annahme einer

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Einleitung

lediglich mit einem Kalender, mit Beamtenverzeichnissen und allenfalls mit Aufzeichnungen rechnen, die lediglich Prodigien, ihre Entsühnungen und vielleicht noch einige wichtige, in dem allgemeinen Bewußtsein tief eingeprägte Ereignisse brachten 3 , doch ist es schwierig und z. T. auch fast un-

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,Chronik' gestützt, die in dieser frühen Zeit bereits politische Ereignisse aufgezeichnet und sich bis in die Zeit der ersten Annalisten erhalten hätte (zu Crake vgl. die folgende Anmerkung). Nach Mommsen, der schon in der ,Römischen Geschichte' Iio 465 f. ¿Je beginnende Konstruktion der Frühgeschichte in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts setzte und den griechischen Einfluß auf sie erkannte, sind immer wieder die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des ausgehenden vierten bzw. des dritten Jahrhunderts als Bedingung einer ,Chronik' angesehen worden, die den Anspruch erheben kann, die Basis einer darstellenden römischen Geschichte zu sein, mochte man nun an eine noch vor P. Mucius Scaevola liegende Redaktion glauben, wie im Gefolge von A. Enmann, Rhein. Mus. N. F. 57,1902, 517 ff. auch E. Kornemann, Klio 11, 1911, 245 ff. ( = Römische Geschichtsschreibung a. O. 59 ff.), oder vor Scaevola eine zwar zusammenfassende, aber noch nicht bis zur Stadtgründung erweiterte .Chronik' annehmen, wie M. Geizer, Hermes 69,1934,46 ff. und Festschr. F. Oertel, 1954 ( = ders., Kleine Schriften I I I 93 ff. 104 ff. = Römische Geschichtsschreibung a. O. 130ff. 144 ff.); zur Frage einer 1. Edition der annales maximi vgl. auch E. Gabba, Considerazioni sulla tradizione letteraria sulle origini della repubblica, in: Fondation Hardt, Entretiens 13, 1967, 152 ff., der gegen A. Alföldi in unserer Überlieferung keine Spuren einer frühen Edition zu erkennen vermag und im übrigen nachgewiesen hat, daß die annales maximi bereits annalistisches Material aufgenommen hatten (a. O. 152 ff. 172 und pass.). Cato orig. bei Gell. 2, 28, 6: non lubet scribere, quod in tabula apud pontificem maximum est, quotiens annona cara, quotiens lunae auf solis lumine caligo aut quid obstiterit, beweist, daß auch noch z.Zt. Catos die Pontifikalaufzeichnungen, welche man heute .Chronik' nennt, ihren sakralbezogenen Charakter nicht verloren hatten; vgl. auch Liv. 8 , 4 0 , 5 (zu der Frage, warum i. J . 322 ein Dictator gewählt wurde): nec quisquam aequalis temporibus Ulis scriptor extat, quo satis certo auctore stetur. - Man muß den Beginn von Aufzeichnungen, die in eine fortlaufende Sammlung übernommen bzw. jährlich dort eingetragen werden konnten, noch später ansetzen, wenn man den Tatbestand, daß die Prodigienliste des Iulius Obsequenz mit d. J . 249, dem Jahr der ersten Säkularfeier, beginnt, darauf zurückführt, daß Livius bzw. seine Quellen für die vorangehende Zeit kein in chronologischer Folge aufgezeichnetes Material gehabt haben. - Es lassen sich allerdings nicht unschwer alle Belege für die späte Datierung einer Chronik, die mehr als nur Prodigien oder Beamtennamen enthielt, abschwächen, so kann man z. B. die zitierte Cato-Stelle als eine bewußte Übertreibung eines ausgesprochen politisch denkenden und daher die pontifikalen Annalen gering achtenden Mannes hinstellen; aber es bleibt entscheidend, daß es an positiven Beweisen für das Vorhandensein einer fundierten ,Chronik', die über das Ende des vierten Jahrhunderts hinausgeht, fehlt und daß derjenige, der mit einer derartigen ,Chronik' operiert, für deren Existenz beweispflichtig ist. - Gelegentliche Versuche, die Chronik höher zu datieren und ihr ein Interesse an politischen Problemen zu unterstellen, sind petitiones principii. So hat etwa in jüngerer Zeit wieder J . E. A. Crake, The Annais of the Pontifex Maximus, Class. Phil. 35,1940, 375 ff. ( = Römische Geschichtsschreibung, in: Wege der Forschung 90, 1969, 256 ff.) die bei Cicero rep. 1,25 erwähnte und auf 350 Jahre nach der Stadtgründung datierte Sonnenfinsternis, die nach Cicero bei Ennius und in den annales maximi überliefert ist, in

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möglich, selbst dieses spärliche Material aus dem Wust späterer Spekulation herauszupräparieren. Dieses sich aus der Genesis der Annalistik ergebende Bild der frühen Überlieferung wird noch durch die ganz allgemeine Überlegung erhärtet, daß es ohne ein bestimmtes Interesse an Aufzeichnungen keine Dokumentation geben kann und die älteste Dokumentation (Kalender, Fasti, Prodigien etc.) ganz offenbar ihre Entstehung vor allem dem Wunsche nach der chronologischen Erfassung von Zeiträumen (z. B. für Gerichtszwecke) und der Sammlung göttlicher Zeichen (zum Zwecke ihrer Entsühnung) verdankte, dem erst nach den Ständekämpfen ein spezifisch politisch-historisches Interesse an die Seite trat, das zunächst das Selbstbewußtsein der neuen plebejischen Geschlechter gegenüber ihren patricisdhen Standesgenossen und später, vor allem auch unter dem Einfluß griechischen Denkens, die wachsende Machtstellung Roms hervorbrachte. Danach bleibt -

neben Archäologie, Sprachwissenschaft, Religionsgeschichte

und gelegentlichen Äußerungen griechischer Historiographen 4 - zur Rekon-

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die von Cicero angegebene Zeit gesetzt (400) und damit die .authentische Chronik' über den gallischen Brand gerettet (in dem übrigens nach ihm selbst diese ,Chronik' wieder vernichtet wurde). Aber Cicero bezieht sich auf die annales seiner Zeit (videmus), und es besteht kein Zweifel in der Forschung darüber, daß diese bereits eine konstruierte Geschichte der Frühzeit enthielten, und dazu gehört - neben vielen anderen Spekulationen, wie die Kenntnisse des Numa über die pythagoreische Lehre (Cic. rep. 2,28: annales publict) oder Strafbestimmungen (Cic. Rab. p. r. 15: annalium monumenta) (eine Zusammenstellung aller Berichte der .Chronik' für die Frühzeit gibt W. Soltau, Livius' Geschichtswerk, 1897, 91 ff.) - eben auch die Sonnenfinsternis; vgl. auch die Skepsis gegenüber einer frühen Datierung pontifikaler Aufzeichnungen von Gabba a. O. 173. So können sich Daten der römischen Königsgeschichte über die sog. Chronik von Kyme (Dion. 7, 3-11) erhalten haben, wie u.a. nach dem Vorgang von A. Alföldi auch Gabba a. O. 142 ff. glaubt. Wie Gabba auch gezeigt hat, dürfte die annalistische Überlieferung über die Königszeit, die durchaus besser und breiter als die Geschichte der 150 Jahre zwischen dem Beginn der Republik und dem der Samnitenkriege ausgearbeitet ist, auf griechische Quellen zurückgehen, die zugleich mit dem wachsenden Interesse an der aufsteigenden römischen Macht ein Bild von Rom entwarfen und dabei, entsprechend der Ausrichtung der griechischen Historiographie, vor allem den Ursprung der Stadt behandelten; diese Arbeit mögen lokale römische, latinische oder etruskische Traditionen unterstützt haben (a. O. 154 ff. 164 ff.), obwohl diese Traditionen bei dem bestimmten Interesse der griechischen Historiographie natürlich verzerrt worden sind, sich ferner Spekulationen hineingemischt haben und schließlich das Interesse vornehmlich auf außenpolitische Probleme beschränkt gewesen ist; ist es also schon schwierig, durch diese etwaige griechische Tradition hindurch zu einem vertrauenswürdigen Kern über die römische Königszeit zu kommen, türmen sich noch zusätzliche Hindernisse dadurch auf, daß eine solche Tradition in eine annalistische Darstellung verwebt ist, die ganz offensichtlich der Topik von Gründungs- bzw. Frühgeschichten verpflichtet und mit Parallelismen aus der griechischen Geschichte sowie mit Einfärbungen aus der Zeit der späten Annalistik durchsetzt ist. Allenfalls kann für dieses oder jenes Datum einige Sicher-

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struktion der älteren römischen Geschichte ausschließlich die Interpretation der Institutionen (die sogenannten Rechtsaltertümer), die sich bis in die historische Zeit erhalten haben oder von denen man, soweit sie nicht mehr praktiziert wurden, noch den Namen wußte und aus denen die ältere Entwicklungsstufe noch herausschaut. Mit anderen Worten: Die Annalisten gingen bei ihrer Konstruktion der Frühgeschichte im großen ganzen von denselben Voraussetzungen aus wie wir. Wir, denen unser Verständnis von Historiographie feste Schranken setzt, können aus dem vorhandenen Material nur ein Gerüst mit relativer Chronologie ermitteln, da selbstverständlich die Fasten, obwohl z. T. gute Überlieferung, keine Grundlage einer absoluten Chronologie bilden und gelegentliche absolute Daten aus der griechischen Historiographie, wie z. B. die Seeschlacht von Cumae, schwer einzuordnen sind oder doch nur, wie die Daten der Archäologie, grobe Annäherungswerte geben können. Diese Ansicht muß auch alle Versuche zurückweisen, zur Rettung von Teilen der annalistischen Überlieferung literarische Quellen oder Quellengattungen zu hypostasieren, die außerhalb der ,amtlichen Chronik' stehen. Die Niebuhrsche These von den römischen Heldenliedern findet heute gewiß kaum noch Anhänger 5 , wohl aber Spekulationen über römische Familienarchive, die jeweils dann vorgebracht werden, wenn man einmal ein Zitat stützen möchte 6 . Es ist gewiß nicht auszuschließen, daß dieses oder jenes

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heit gewonnen werden, doch sind das immer nur Einzeldaten, die keinen Rahmen für die Königszeit und vor allem nicht für deren innere Entwicklung zu schaffen vermögen. - Einen nüchternen Überblick über unsere Erkenntnismöglichkeiten liefert A. Momigliano, JRS 53, 1963, 96 ff. Ausnahmen sind G. De Sanctis, Storia dei Romani I, 1956 2 ,21 ff.; E. Ciaceri, Le origini di Roma, 1937,47 ff.; L. Pareti, Storia di Roma I, 1952, 4 ff. Vgl. zur jüngsten Diskussion A. Momigliano, Perizonius, Niebuhr and ihe Character of Early Roman Tradition, JRS 47, 1957, 104 ff. (dtsch. in: Römische Geschichtsschreibung, Wege der Forschung 90, 1969, 312 ff.; vgl. auch ders., JRS 53, 1963, 97), wonach dasjenige Material der Annalistik, das seinem Charakter nach zu älteren carmina hätte gehören können, kaum früher als das dritte Jahrhundert ist. Selbst eine so kritische Darstellung der Überlieferung wie die von W. Soltau, Die Anfänge der römischen Geschichtsschreibung, 1909 schreibt den .Familienarchiven' einigen Wert zu, die für die ältere Zeit als Sammlung von mit Inschriften versehener imagines und von amtlichen Akten, die den Beamten zur Aufbewahrung im Hause mitgegeben seien (181 ff.), interpretiert werden. Wo diese Akten in der Annalistik zutage treten sollen, wird nicht gesagt, und die angenommenen Inschriften der imagines, die es schon sehr früh gegeben haben mag, dürften irgendwo in der Masse unserer kompilatorischen Überlieferung verborgen sein, wo wir sie mangels methodischer Grundlage als echt gar nicht erkennen können: Sie können allenfalls jedem, der etwas beweisen will, als billiges Argument dafür dienen, daß das als ,echt' Gewünschte auch ,echt' sei.

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Ereignis - etwa Erzählungen über den Keltensturm - oder einzelne Namen etwa dieser oder jener Königsname - durch mündliche Überlieferung weitergegeben wurden und auf diese Weise in die Redaktion der Pontifikalchronik oder in die älteren Annalen hineingeflossen sind; aber weder können wir für diese ,Überlieferung' irgendeine noch so rudimentäre literarische Form postulieren noch ist es möglich zu wissen, wieweit solche Überlieferungen' durch eine jahrhundertelange Tradierung überhaupt noch den historischen Tatbestand, an den sie ursprünglich anknüpften, wiedergeben, und vor allem wo sie denn in dem Knaul der späten, aus vielerlei Motiven errichteten Konstruktion stecken. Da für diese — im übrigen äußerst vagen Vermutungen jegliche Kriterien fehlen, mit Hilfe derer man einen historischen Kern erkennen könnte, hat man von vornherein davon auszugehen, daß den Annalisten außerhalb der pontifikalen Überlieferung keine Quelle zur Verfügung stand. Wenn immer einmal wieder Versuche unternommen wurden und werden, verschollene' Quellengattungen zu konstruieren, die älteste ,Chronik' als Quelle aufzubessern oder, häufiger, nur en passant auf die Möglichkeit einer ,echten' Überlieferung hinzuweisen, haben solche Bemühungen im allgemeinen keinen größeren Wert als den von Deklarationen, die außerhalb der kritischen Methode historische Daten einfach nur postulieren. Trotzdem sind es nicht diejenigen, die solche Quellen hypostasieren, die die eigentliche Verwirrung stiften, sondern diejenigen, die im Prinzip das kritische Urteil über die Berichte der Annalisten teilen und sie t r o t z d e m als Quelle benutzen. Zur Rechtfertigung ihres Tuns apostrophieren sie die kritische Position, die sie selbst auch zu vertreten vorgeben, als Hyperkritik oder gar als Pyrrhonismus, ohne allerdings bei solchem Vorwurf zu erkennen zu geben, inwiefern der Tadel gegen den Hyperkritiker bei der gerade zur Debatte stehenden Frage denn berechtigt ist, und vor allem: Sie legen oft nicht Rechenschaft darüber ab, warum sie an dieser Stelle selbst kritisch sind, an anderer Stelle nicht. Ohne jedes erkennbare Kriterium wird hier ein annalistiscbes Datum akzeptiert, dort verworfen, und die Wissenschaft verliert auf diese Weise ihre Voraussetzung, nämlich die Möglichkeit der Diskussion. Die Sachlage hat sich in den letzten Jahren besonders deutlich dort gezeigt, wo auf Grund von Ausgrabungen neues Material zur Frühgeschichte Roms vorgestellt wurde: Hier werden zwei grundsätzlich verschiedene Quellen der Erkenntnis, die Archäologie und die literarische Überlieferung, nicht, wie es notwendig wäre, jeweils getrennt für die beiden Überlieferungsstränge (hier Denkmäler, dort Literatur) angewandt und dann - n a c h der getrennten Analyse - miteinander konfrontiert, sondern es wird jeweils bei Einzelfragen und zu Einzelfunden das eine für das

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andere als .Bestätigung' herangezogen, also z. B . ein Bodenfund zur Bestätigung einer literarischen Überlieferung g e n o m m e n , o b w o h l doch die literarische Ü b e r l i e f e r u n g nach ihrer Genesis jedenfalls für die älteste römische Geschichte ü b e r h a u p t nichts bestätigen k a n n : W ä r e solche Ü b e r e i n s t i m m u n g .tatsächlich' e i n m a l vorhanden (und ließe sich als solche »objektiv' nachweisen), w ä r e das ein reiner Z u f a l l 7 . K e i n e Intuition, deren W e r t u n d Möglichkeiten gar nicht geleugnet werden sollen, k a n n die methodischen P r ä m i s s e n ersetzen 8 . A u c h

die immanente K r i t i k

an der Annalistik, die schon v o r

B . G . N i e b u h r durch hervorragende G e l e h r t e , am eindrucksvollsten vielleicht durch L o u i s d e B e a u f o r t , geübt w u r d e , ersetzt nicht die F r a g e nach der Genesis der Annalistik, sondern ergänzt sie n u r 9 . Grundsätzlich andere methodische P o s i t i o n e n als die hier vertretenen sind zwar denkbar, aber doch nur 7 Diese methodischen Vorfragen hat besonders auch E. Gjerstad nicht beachtet, dessen Ergebnisse überall dort, wo literarische Quellen zur Interpretation der Ausgrabungsbefunde herangezogen werden, überprüft werden müssen; vgl. vor allem E. Gjerstad, Legends and Facts of Early Roman History, 1962; Les origines de la république romaine (Entretiens sur l'antiquité classique 13, Fond. Hardt), 1966, 3 ff.; Innenpolitische und militärische Organisation in frührömischer Zeit, in: Aufstieg I 2, 1972, 136 ff., dort S. 136 f. auch der Grundsatz: „Zudem kann das archäologische Material in Fällen, wo eine kritische Analyse eines schriftlichen Berichtes zu keinen endgültigen Ergebnissen führt, als Prüfstein dienen, den eigentlichen Wert des fraglichen Berichtes als Quelle historischer Kenntnis zu bestimmen. . . . Das archäologische Material wird uns Fixpunkte liefern, denen wir die Tatsachen dieser (sc. schriftlichen) Berichte zuordnen können" (ebenso schon Early Rome I , 1953, 8 f.). Es ist z. B. völlig unbegreiflich, warum die Interregna zwischen den Königen durch die Annalistik .belegt' sein sollen (Innenpolitische und militärische Organisation a. O. 154), Tarquinius Priscus i. J . 499 noch regiert haben soll, die lokale Tribusorganisation i. J . 495 eingerichtet sein soll (165), die von der Annalistik gemeldeten Ansprachen des Königs Servius Tullius „natürlich pure Erfindung" sein sollen, die demophile Politik des Königs aber „ohne Zweifel einen Kern von Wahrheit" enthalten soll (168) usw.; vgl. zur Kritik auch F. De Martino, Origine della repubblica romana, in: Aufstieg I 2, 227 ff.; A. Momigliano, J R S 53, 1963, 103 f. 8

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Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen von A. Momigliano, Lewis, Niebuhr e la critica délie fonti, Contributo alla storia degli studi classici, 1955, 251 f. Die Ergänzung ist allerdings notwendig und heute mehr denn je gefordert. Eine gründliche Untersuchung darüber, was in der älteren Annalistik - neben der für Frühgeschichten üblichen Topik und der nachweislichen (z. B. etymologischen) Spekulation - Reflex eines späten politischen Bewußtseins ist und daher für die spätrepublikanische Geschichte, für die gracchische und sullanische Zeit insbesondere, genutzt werden kann, würde, neben der Ausbeute für die politische Begrifflichkeit und Denkweise der Spätzeit, den verbleibenden Rest als ein für eine Rekonstruktion gänzlich unbrauchbares Gerüst ausweisen. Im einzelnen sind die zeitgebundenen Bezüge der Annalistik natürlich oft gesehen; für die .Verfassung' des Romulus und die Sp. CassiusAffäre vgl. die ausgezeichneten Beiträge von E. Gabba, Athenaeum 38, 1960, 175 ff. und 42, 1964, 29 ff., der die annalistische Darstellung aus der sullanischen bzw. gracchischen Zeit heraus interpretiert.

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auf Grund klar voneinander geschiedener Voraussetzungen, die die andere Position als eine solche verständlich machen 10 . 7. Wenn daher die Basis für eine Rekonstruktion der älteren römischen Geschichte, soweit wir sie unserer schriftlichen Überlieferung entnehmen, die Institutionen und Rechtssätze der späteren Zeit bilden müssen, stellt sich uns das frühe Rom zuvörderst als Verfassungsgeschichte (mit relativer Chronologie) dar. Es wäre allerdings falsch zu glauben, daß folglich diejenige moderne Forschungsrichtung, die sich mit der Verfassung und deren Entwicklung beschäftigt, uns ein unverfälschteres Bild von dem frühen Rom geben würde als die allgemeinen .politischen' Darstellungen. Denn auch die Rechtshistoriker zeigen eine deutliche Neigung, die Verfassungsentwicklung Roms ,annalistisch' zu sehen, und zwar nicht nur Mommsen, sondern auch die ihm folgende Generation, die selbst bei kritischer Einstellung gegenüber der Annalistik sich in wesentlichen Punkten nicht von dem; großen Vorbild befreien konnte 11 . Auf den ersten Blick kann die ,annalistische Sehweise' Mommsens erstaunen. Denn es bedarf keines Hinweises, daß Mommsen die methodischen Probleme bei der Abfassung seines Staatsrechts' völlig klar waren; er selbst hat ja wie keiner nach ihm zur Verfeinerung der Kritik an der Überlieferung und zur Erforschung der älteren römischen Geschichte auf Grund dieser methodischen Prämisse beigetragen, und dies schon in den frühen Jahren seines Schaffens. Ein Blick in seine .Römische Geschichte' genügt, um festzustellen, wie unkonventionell er - gerade auch gegenüber Niebuhr - über die Erkenntnismöglichkeiten in der älteren römischen Geschichte dachte. Als Konsequenz der Forschungen über die Entstehungsgeschichte der Annalistik war ihm völlig selbstverständlich, daß - neben Sprachwissenschaft und Etymologie - nur die ,Rechtsaltertümer' für die Rekonstruktion der Frühzeit aus der literarischen Überlieferung als eine eini10

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So auch A. Momigliano, der als einer der wenigen in jüngster Zeit es unternommen hat, die Basis unserer Uberlieferung über das frühe Rom zu überprüfen. Er kommt zu dem Ergebnis (Perizonius, Niebuhr usw. a. O. 335 ff.), daß die Mommsensche Position, wonach die Verfassungsgeschichte die einzig authentische Basis für die Rekonstruktion der frührömischen Geschichte ist, die den Annalisten in den Institutionen - genau wie uns heute - zur Verfügung stand, richtig sei, daß es jedoch noch Spuren einer Uberlieferung gäbe, die die Annalisten nicht aufgenommen hätten. Diese Spuren sind aber wohl so spärlich, daß sie für die frührömische Geschichte wenig hergeben und vor allem: Sie ,retten' nicht die Annalistik als Quelle für die römische Frühzeit. Ganz besonders deutlich ist das z . B . bei H. Siber, Römisches Verfassungsrecht in geschichtlicher Entwicklung, 1952, der trotz seines programmatischen Werktitels die Systematik Mommsens nicht aufgehoben, sondern sie lediglich auf mehrere zeitliche Abschnitte verteilt hat, die den Mommsenschen Ansatz eher immer wieder hervorbringen als ihn verwischen oder gar ersetzen.

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germaßen verläßliche Quelle angesehen werden konnten. Dem Juristen Mommsen war der methodische Umgang mit ,Rechtsaltertümern' auch bereits von seinem Studium der Pandektistik her vertraut, und für das öffentliche Recht des frühen Rom war dieser methodische Ansatz auch bereits vor Mommsen angewandt worden. Vor allem J. Rubino hatte schon in der Einleitung zu seinen ,Untersuchungen über römische Verfassung und Geschichte' (1839) die Überlieferung der Rechtsaltertümer von der übrigen Überlieferung abgesetzt. Er hatte erkannt, daß der Traditionalismus der Römer zäh an der alten Form festhielt und daher auch das Recht der späteren Zeit die ältere Stufe vielfach noch in sich trug. Wenn Mommsen das aufgriff, hat er sich jedoch nicht immer an dieForderung gehalten, die Rechtsaltertümer nur in sich zu begreifen und eine Entwicklungsgeschichte der staatlichen Ordnung allein aus ihnen zu verstehen. Er vereinigte nämlich unter dem Eindruck einer spezifisch systematisch-dogmatischen Methodenlehre manche Angaben der Annalisten zur Verfassungsgeschichte mit den überlieferten Rechtsaltertümern und ließ so das annalistische Geschichtsbild — zumindest was die Verfassungsentwicklung anbelangt - in sein Staatsrecht eindringen. Der systematisch-begriffslogische Ansatz Mommsens hat daher die quellenkritische Analyse bisweilen suspendiert, und bei dem Ansehen des Mommsenschen Staatsrechts wurden damit die Ansichten der Annalisten über die ältere Verfassungsgeschichte auf weite Strecken kanonisiert. Mit dem genialen Entwurf des großen Meisters waren aber nicht nur ganze Generationen auf dieses Bild festgelegt, sondern auch alle älteren Ansätze einer vom begriffslogischen Formalismus freien Forschung abgeschnitten worden n . Die Gründe dafür, daß Mommsen die annalistische Darstellung der frührepublikanischen Verfassungsentwicklung in seinem System des römischen Staatsrechts weitgehend berücksichtigt hat, sind leicht zu finden. Die Annalisten hatten bei der Konstruktion der älteren Geschichte den Staat des dritten Jahrhunderts - mit manchen Ausnahmen selbstverständlich, die man der Entwicklung' vorbehielt - einfach in den Anfang der Republik projiziert. Da die juristische Methodenlehre mit ihrer systematisch-begriffslogischen Denkungsart, der Mommsen verpflichtet war, von der Stabilität der Rechtsnormen ausging, mußte die Erstreckung der späten Institutionen und Rechtssätze in die Vergangenheit der methodischen Prämisse durchaus ent12 So hatte z. B. bereits Albert Schwegler, dessen unvollendete ,Römische Geschichte' (1853-58) fast gleichzeitig mit der Mommsens (1854) erschien und durch diese in Vergessenheit geriet, die heute vielfach wieder aufgenommene (vgl. De Martino, Costituzione I 187 f.) Ansicht vertreten, daß das Königtum durch eine einstellige Magistratur (dictator bzw. praetor maximus) abgelöst worden ist, der das Consulat dann erst später sukzedierte (II 92 ff.).

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sprechen. War Mommsen hier der Annalistik einmal gefolgt, ließen sich Abweichungen von der durch die Lehre postulierten Norm auch als solche deklarieren und brauchte man selbst bei Häufung normenwidriger Erscheinungen nicht an der Gültigkeit des ganzen Systems zu zweifeln. So konnte Mommsen die Normen, die er seinem System zugrunde legte, bis an den Beginn der Republik zurückverfolgen, ja sie z.T. über die Republik hinaus schon in der Königszeit voraussetzen und auf diese Weise ihre von der begriffslogischen Systematik verlangte Unveränderlichkeit für das System sichern. 8. Die Kritik an dem ,Römischen Staatsrecht' von Mommsen kann daher sowohl auf die dem Werk zugrunde liegende juristische Methodenlehre, die ein Kind des 19. Jahrhunderts war und wegen der von ihr implizierten, dem 19. Jahrhundert zugehörigen Denkweise für eine Darstellung und Interpretation historischer Verfassungen ungeeignet ist, als auch auf die - durch die juristische Methode bedingte - mangelnde Stringenz in der Beurteilung des benutzten Quellenmaterials verweisen. Diese Überlegung könnte daher den Gedanken eingeben, überall dort, wo wir nicht mehr bereit sind, Mommsen zu folgen, an die heute fast vergessene, reiche sogenannte historischantiquarische Forschung der Zeit Mommsens oder der Zeit vor ihm anzuknüpfen und also etwa die ,Römische Geschichte' von Albert Schwegler (1853-58; 18817) und die von W. Ihne (1868-90) sowie die .Römischen Altertümer' von L. Lange (1856 ff.; 1876-1879 3 ) erneut zu studieren oder sich sogar auch auf die z. T. sehr kritische Literatur vor Niebuhr, also etwa auf Carolus Sigonius, auf den Abbé de Pouilly, Giambattista Vico oder Louis de Beaufort, zu besinnen13. An manchen Punkten scheinen uns jedenfalls die Vorstellungen jener älteren Literatur darüber, was man an einer Organisation menschlicher Gesellschaft als wesentlich anzusehen und worauf man folglich bei der Interpretation der Quellen zu achten habe, näher zu stehen als die Rechtsabstraktionen der Begriffsjurisprudenz, auf jeden Fall enthalten sie nicht deren Fehlerquellen und sind nicht so strikt an eine Methode gebunden wie die der Begriffsjuristen. Man darf allerdings nicht vergessen, daß das Werk Mommsens bei aller Kritik doch einen Erkenntnisstand repräsentiert, den man nicht einfach aufgeben kann. Den Erkenntniswert des ,Römischen Staatsrechts' von Mommsen ersieht man schon aus der ganz unreflektierten fleißigen Benutzung, der sich das Werk heute erfreut: Selbst die kritische Position lehnt es nicht grundsätzlich ab, sondern 13

Vgl. die Bemerkungen von A. Momigliano, JRS 39, 1949, 156 = Contributo alla storia degli studi classici, 1955, 398 f.

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nimmt es als Diskussionsgrundlage hin. Tatsächlich findet der heutige Historiker, der den methodischen Ausgangspunkt Mommsens längst nicht mehr teilt, viele Ansichten Mommsens bestätigt, und auch diese Arbeit wird eine ganze Reihe von Thesen und Teilergebnissen Mommsens bekräftigen können. Wir dürfen also nicht vergessen, daß unser Wissen über den römischen Staat durch Mommsen t r o t z der heute berechtigten methodischen Kritik am .Römischen Staatsrecht' in einem solchen Umfang erweitert worden ist, daß wir kaum noch die Sprache und Argumentationsweise der älteren Forschung verstehen; eine Diskussion mit ihr würde einen gewaltigen Apparat erfordern, der die durch Mommsen gegebene neue Situation ständig berücksichtigen müßte. Eine bedeutende Rolle für den durch Mommsen gewachsenen Abstand zu der Forschung vor ihm und zu der seiner Zeit spielt auch der Fortschritt in der Beurteilung der Quellen zur römischen Frühzeit (s. o.), die eine Diskussion mit einem großen Teil der älteren Werke kaum noch erlaubt. Und selbst wenn eine sehr kritische Einstellung zu den Quellen einmal gegeben ist, verbietet die ,moderne' Vorstellung des Materials durch Mommsen, die logische Stringenz seiner Argumente und seine große Intuition für historische Zusammenhänge die Anknüpfung an ältere Positionen. Wie soll man z. B. mit L. Lange diskutieren, der die lex curiata de imperio zu einem ,Obergesetz' der Republik gemacht hat, das man bei jedem Wandel der staatlichen Organisation berücksichtigen soll, dies eine Form von Legalismus, die der ,Legalist' Mommsen gewiß nicht einmal hat denken können. In manchen Einzelfragen, aber eher in der allgemeinen Einstellung zur Geschichte mag man auf Älteres verweisen, im allgemeinen jedoch ist es eher ein Stück Wissenschaftsgeschichte als ein Teil der heutigen Diskussion um die Erhellung der römischen Verfassungsentwicklung14. 9. Nun genügt es aber nicht, den trotz der Kritik an der Methode unbezweifelbaren Erkenntniswert des ,Römischen Staatsrechts' von Mommsen zu bestaunen; man muß sich auch fragen, worauf er denn beruht. Es ist also nicht damit getan, den methodischen Ansatz Mommsens nur zu kriti14

Eine Sonderstellung nimmt - neben manchen anderen Abhandlungen - das Werk von E.Herzog ein. Es erschien, nachdem bereits die ersten Bände von Mommsens .Staatsrecht' vorlagen, und es bedeutete, obwohl Herzog sich in seinem ausführlichen programmatischen Vorwort mit Mommsen nicht grundsätzlich auseinandersetzte, nach Disposition und methodischer Basis einen Widerspruch gegen Mommsen. Insofern der Widerspruch nicht nur auf der breiten Forschung der historisch-antiquarischen und der philologisch-kritischen Richtung fußte, sondern auch auf den Erkenntnissen, die Mommsen in seinem .Staatsrecht' wie in seinen sonstigen Schriften schuf, ist dieses Werk, die .Geschichte und System der römischen Staatsverfassung', auch heute noch aktuell und in mancher Hinsicht ein Anknüpfungspunkt für eine neuere Anschauung vom römischen Staat.

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sieren - das ist auch bereits in glänzender Weise geschehen 15 - und dann, wenn ein Ergebnis Mommsens sich bestätigt, auf die Ingeniosität des Meisters zu verweisen. Es sind vielmehr auch die Gründe aufzuspüren, warum und inwieweit das Werk als Ganzes und in seinen einzelnen Teilen noch heute Erkenntniswert vermittelt, und es sind, umgekehrt, auch genau die Fehlerquellen aufzuspüren, die uns festzustellen erlauben, warum und inwieweit die Gesamtkonzeption und einzelne Teile heute abgelehnt werden müssen. Erst dann dürfen wir das Mommsensche Werk wirklich benutzen. Diese Gedanken müssen einer Studie wie der vorliegenden, die sich mit dem Recht der römischen Republik beschäftigt und also die moderne Literatur und hier vor allem das ,Römische Staatsrecht' von Mommsen benutzt, vorangeschickt werden. Entsprechende Überlegungen finden sich daher im Eingangskapitel und auch innerhalb der auf es folgenden Darstellung: Das Eingangskapitel beschäftigt sich mit dem geistesgeschichtlichen Hintergrund des Mommsenschen Staatsrechts und mit der Frage, was die Übertragung der juristischen Methodenlehre des 19. Jahrhunderts, die sich auf das geltende Recht der Zeit bezog, auf den römischen, also einen historischen, vergangenen Staat bedeutete; besonders der letzte Gedanke soll - über die allgemein bekannten Einwendungen gegen eine rechtspositivistische Staatsrechtslehre hinaus - die Bedingtheit des Werkes verdeutlichen und dessen Fehlerquellen klarlegen. Sowohl innerhalb dieses Kapitels als auch innerhalb späterer, bereits der Analyse des öffentlichen Rechts der Republik gewidmeten Kapitel (432 ff.) werden aber auch die Gründe dafür dargelegt werden, warum große Teile des ,Römischen Staatsrechts' und in gewissen Grenzen auch bestimmte Aspekte der Mommsenschen Gesamtkonzeption ihren Erkenntniswert behalten haben.

is Vgl. u. S. 18 Anm. 2.

I. K R I T I K D E R S T A A T S R E C H T S L E H R E VON THEODOR MOMMSEN Das 19. Jahrhundert hat der Staatengeschichte seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet und die Ergebnisse dieser Forschung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in großen Kompendien zusammengetragen. Das Interesse an dem Staatsrecht und der Staatenentwicklung der Vergangenheit wurde dabei stets wachgehalten durch die Verfassungsentwicklung des zeitgenössischen Staates, und wiewohl die Gelehrten sich in ihrem Urteil von dem Zeitgeist unabhängig glaubten, sind die Einflüsse der modernen Staatsrechtswissenschaft auf die historische Forschung unverkennbar. Sie waren in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts so stark, daß die grundsätzlichen Anschauungen der Lehre vom geltenden Staatsrecht wie selbstverständlich auch den historischen Staaten unterstellt wurden. Die Frage danach, was der Staat ist und wie er zu erforschen und darzustellen sei, stand für den Staat der Gegenwart wie für den der Vergangenheit in Deutschland für zwei bis drei Generationen unter der Herrschaft einer selbstsicheren Methodenlehre, die kaum je auf ihre Grundlagen reflektierte. Die Abhängigkeit der historischen Forschung von den Rechtsanschauungen der eigenen Zeit war zwar schon vor der Jahrhunderthälfte groß, und sie ist gewiß auch heute — trotz der Erfahrungen, die wir aus der Reflexion auf die Bedingtheit der Staatsanschauung des 19. Jahrhunderts gewonnen haben - noch stark und um so stärker, je aktueller die Fragestellungen sein wollen: Die Distanz des Historikers zur Gegenwart ist ja gerade heute wieder wenig gefragt, und so suchen und finden viele, die sich dem Fortschritt' verpflichtet glauben, in der Vergangenheit das, was doch gerade erst in der Gegenwart geworden ist. Zwar können neue Fragestellungen und Methoden moderner Staatslehre auch der Rechtsgeschichte zugute kommen und ist darum die Kenntnis der Probleme der heutigen Staatenwelt auch für den Verfassungshistoriker notwendig. Doch sollten die Irrtümer und Fehlentwicklungen der Vergangenheit vor unreflektierter Übernahme moderner Methoden warnen und vor allem davor bewahren, durch die naive Gleichsetzung historischer und moderner Sachverhalte die Geschichte an falscher Stelle als Lehrmeisterin aufzuputzen. Die Belehrung der Geschichte liegt weniger in der Gleichsetzung mit dem Heute

I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

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als in der Verfremdung und Differenzierung sachbezogenen Denkens. Die Analogien, die selbstverständlich auch vorhanden sind, stellen sich hernach von selbst ein. Unsere Kritik an der Verfassungsgeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrifft weniger die Einzelforschung. Sie setzt überhaupt nur an einem einzigen Punkt mit Nachdruck ein, nämlich dort, wo sich die historische Forschung mit der juristischen Methodenlehre verbindet. Es soll nicht Aufgabe der folgenden Überlegungen sein zu untersuchen, wie es zu der Herrschaft einer spezifisch juristischen Lehre in der verfassungsgeschichtlichen Forschung gekommen ist; das ist auch in jüngster Zeit in verschiedenen Arbeiten geklärt worden 1 . Es soll vielmehr die moderne Kritik an der von der juristischen Methodenlehre beherrschten Verfassungsgeschichte speziell am Staatsrecht' Mommsens zu Worte kommen. In den letzten Jahrzehnten ist die methodische Bedingtheit der Verfassungsgeschichten des Mittelalters und der frühen Neuzeit in vielen Arbeiten klargelegt worden und hat hier zu einem völlig neuen Ansatz in der Erforschung vergangener staatlicher Ordnungen geführt. Das Staatsrecht' Mommsens hingegen, das ein Musterbeispiel einer rechtspositivistischen Staatsanschauung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist, erfuhr jedenfalls als Ganzes keine Kritik, die Mommsens Entwurf von der römischen Verfassung berichtigt hätte, und wurde erst recht nicht durch ein neues, der Moderne genügendes Werk ersetzt; es ist zusammenhängend lediglich als ein in sich selbst ruhendes Werk behandelt und in dieser Weise auch meist nur innerhalb der Biographie Mommsens analysiert und kritisiert worden 2 . öfter als die Kritik findet sich jedoch das unreflektierte Lob des Werkes, und man kann sogar ohne irgendeine Übertreibung sagen, daß die althistorische Wissenschaft als Ganze sich mit ihm überhaupt noch nicht auseinandergesetzt hat. Wo liegen die Gründe dafür, daß die Alte Geschichte auf das Werk Mommsens so anders reagiert hat als die Mittlere und Neuere Geschichte auf ihre, dem gleichen Geist entsprungenen Verfassungsgeschichten? Müssen wir die mangelnde Kommunikation 1 Vgl. zur geltenden Staatsrechtslehre der Zeit vor allem W. Wilhelm, Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, 1958; E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 1958; F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 19672, 348 ff.; zur historischen Staatslehre O. Brunner, Land und Herrschaft, 1965 5 , 111 ff.; E.-W. Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, 1961. 2 Dazu vgl. A. Heuß, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, 1956, 33 ff. und die kurzen Bemerkungen von A. Momigliano, JRS 39, 1949, 155 ff. ( = Contributo alla storia degli studi classici, 1955, 395 ff.).

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

der Alten Geschichte mit der übrigen Geschichtswissenschaft dafür verantwortlich machen oder sind sachliche Gründe hier maßgebend gewesen und haben wir darum das Mommsensche Staatsrecht' von den gleichzeitig geschriebenen Verfassungsgeschichten anderer Perioden abzusetzen? Die Antwort wird nicht nur unser Bild von der Wissenschaftsgeschichte des Faches im 19. Jahrhundert erweitern; von ihr hängt vor allem auch ab, wieweit dieses Staatsrecht' gegenüber den anderen weiterhin Aktualität beanspruchen kann. Ist es, wie manche älteren Verfassungsgeschichten besonders des Mittelalters, nur noch ein Stüde Wissenschaftsgeschichte oder noch ein dem heutigen Forschungsstand angemessenes Handbuch zum römischen Staat? Es wird jedenfalls in der althistorischen Wissenschaft noch heute als das klassische Handbuch benutzt; zwar ist das Verhältnis zu ihm nicht mehr ungebrochen, aber im Prinzip hat es seine zentrale Stelle innerhalb der Forschung nicht eingebüßt. Hat die althistorische Wissenschaft hier etwas versäumt und muß sie nachholen, was die Mediävisten und neuzeitlichen Historiker längst getan haben, oder rechtfertigt sich die weitere Benutzung des Werkes? Eine Antwort auf die Frage bedarf eines genaueren Verständnisses des ,Römischen Staatsrechts' von Mommsen und damit auch der besonderen juristischen Methodenlehre, nach der es konzipiert wurde. Im folgenden soll daher die Entstehung dieser Methodenlehre und ihre Anwendung auf die Darstellung des römischen Staates durch Mommsen vorgestellt und der Aufbau des ,Römischen Staatsrechts' in Umrissen skizziert werden. Daran schließt sich eine kritische Überlegung darüber an, wieweit die von Mommsen verwendete, der juristischen Methodenlehre verpflichtete Begrifflichkeit und Systematik auf den behandelten Gegenstand, die römische res publica, gewirkt hat. Dabei soll aber nicht nur darauf geachtet werden, in welchem Maße die verwandte Methode den Gegenstand etwa in unangemessener Weise verzerrt hat - die Verzerrungen sind deutlich und auch bereits öfter herausgestellt worden - , sondern vor allem auch darauf, auf welche Weise Mommsen — bewußt oder unbewußt — in dem beschränkten Rahmen einer römischen Staats r e c h t s lehre grobe Fehlerquellen vermieden hat, so daß sein Werk nicht nur für seine Zeit, sondern auch für eine Zeit, die die juristische Methodenlehre nicht mehr als Methode der Staatswissenschaften billigen konnte, bleibende und allgemein anerkannte Erkenntnisse geschaffen hat. Die späteren Überlegungen über das römische Volksgesetz werden weiter zeigen, daß zwar nicht die römische Staatengeschichte schlechthin, aber doch eine bestimmte Periode wenigstens e i n e Voraussetzung des Römischen Staatsrechts', nämlich den juristischen Ansatz, in einem gewissen Umfang unterstützte (u. S. 396 ff.) und dadurch den allgemeinen, auch heute noch

1. Charakteristik des ,Römischen Staatsrechtes*

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vorhandenen Eindruck von der Angemessenheit der Mommsenschen Darstellung stärkte.

1. Geistiger Hintergrund und Charakteristik des ,Römischen Staatsrechts' von Mommsen Die Staatslehre des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts begriff den Staat als ein rein oder doch vornehmlich juristisches Phänomen. Staatlichkeit äußerte sich danach in Rechtssätzen, Darstellung des Staates bedeutete immer Darstellung von Staatsrecht, und Staatslehre war stets Staatsrechtslehre. Außerrechtliche Phänomene suchte man möglichst zu jurifizieren, oder man drängte sie in untergeordnete Abschnitte, wo sie ein trauriges, weil unjuristisches Dasein fristeten. Das Charakteristische lag jedoch nicht allein in der juristischen Natur der Lehre, sondern auch in der Einordnung aller rechtlichen Erscheinungen in ein strenges, durchdogmatisiertes System. Der Staat wurde aufgefaßt als ein System von Rechtsnormen, aus denen sich alle übrigen Rechtssätze logisch deduzieren lassen. Der eindrucksvolle Bau dieser Systeme ist erfüllt von dem Geist juristischer Interpretationskunst; das Ziel ist stets Geschlossenheit und Bezogenheit der Rechtssätze; nichts lebte hier isoliert und getrennt, alles hatte seinen bestimmten Ort. Es handelte sich darum hier nicht einfach um Staatsrecht schlechthin, sondern um eine spezifische Methode der Darstellung von Staatsrecht, nämlich um die im strengen Sinne juristische Methode, die die Bedeutung von Politik, Wirtschaft, Geschichte und Philosophie für das Recht zwar nicht leugnete, jedoch auf Grund ihres apriorischen, formalen Ansatzes diese Gegenstände aus der Darstellung drängte und damit faktisch für die allgemeine Erkenntnis des zu erforschenden Gegenstandes ausschloß. Voraussetzung für das juristische System war eine genaue und scharfe Vorstellung der einzelnen Bausteine des Gebäudes, und so wurde der juristische Begriff zum Kern der Denkungsart. Über seine Herkunft legte sich der Systematiker nicht immer Rechenschaft ab. Die Begriffe waren vielfach und gerade die wesentlichen unter ihnen vorausgesetzte Begriffe; soweit sie in historischen Staatsrechten benutzt wurden, entstammten sie oft nicht der Geschichte selbst, sondern waren ihr aufgepflanzt. Der Ort ihrer Entstehung war nicht immer nachweisbar, ja es wurde meist gar nicht nach ihm gefragt. Die Begriffe waren vielfach apriorisch gesetzt, waren vor dem Staate da, und sie erhoben vor allem auch Anspruch auf Vollständigkeit 3 . 3 Vgl. R. v. Jhering, Unsere Aufgabe, Jherings Jahrb. für die Dogmatik des heutigen

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

Die Herkunft dieser sogenannten Begriffsjurisprudenz aus dem Geist der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts soll nur insoweit ins Gedächtnis zurückgerufen werden, als es für den Gang dieser Überlegungen unbedingt notwendig ist. Es ist hier darum vor allem daran zu erinnern, daß neben einer naturrechtlichen Komponente besonders die damalige Rechtswissenschaft der Historischen Schule Savignys zur Begriffsjurisprudenz geführt hat 4 . Der Gedanke Savignys, daß das Recht seiner Zeit durch das Studium der Geschichte des damals geltenden römischen Rechts zu erkennen wäre und so die Immanenz der Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar würde, war nicht nur ein Protest gegen den Pragmatismus der Aufklärung, sondern entsprach durchaus auch den Gegebenheiten einer Pandektistik, die in der neuen Situation des nachrevolutionären Zeitalters um Klarheit und Gültigkeit rang. Für die Entwicklung der Rechtswissenschaft wurde jedoch nicht dieser historische Ausgangspunkt bestimmend, sondern gerade das Scheitern der Historischen Schule vor der selbst gestellten Aufgabe, das zu einem inneren Bruch mit der Rechtsgeschichte führte. Savigny selbst vollzog noch die Wendung zur Systematik in seinem großen Werk über das ,System des heutigen römischen Rechts' und trug durch die Idee des Rechtsinstituts viel zu der zukünftigen Lehre bei. Doch während er selbst sich noch mit seiner Idee in Übereinstimmung glaubte, hat sein Schüler Georg Friedrich Puchta die Abkehr von der Rechtsgeschichte und die Hinwendung zur ,logisdien' und ,vernünftigen' Seite des Rechts (das, was dann /wissenschaftliches' Recht hieß) bewußt vollzogen. Der Sieg der neuen Richtung war so vollständig, daß nicht nur die Masse der Pandektisten, darunter in seinen frühen Schriften Rudolf von römischen und deutschen Privatrechts 1, 1857, 16: „Denn in wie ungewöhnlichen, abweichenden Bildungen sich auch der fortschreitende Verkehr ergehen möge, die Besorgniß (!), daß er uns etwas absolut Neues bringen könnte, d. h. etwas, was nicht unter irgend einen unserer bisherigen Begriffe fiele, und wäre derselbe auch noch so allgemein - , diese Besorgniß ist ebenso unbegründet, als wenn man glauben wollte, es könnten heutzutage noch Thiere entdeckt werden, die im Zoologischen System der heutigen Wissenschaft absolut kein Unterkommen fänden. Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Übrigen von der bisherigen divergieren möge; eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen."; P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preuß. Verfassungs- Urkunde, 1871, 75 (mit Bezug auf die Folgen bei NichtZustandekommen des Budgetgesetzes): „Gesetze können lückenhaft sein, die Rechtsordnung selbst aber kann ebenso wenig eine Lücke haben, wie die Ordnung der Natur." 4 Neuerdings hat W . Wilhelm in einer eindrucksvollen Studie (s. o. S. 18 Anm. 1) den Weg von der Historischen Schule zu den positivistischen Lehren der zweiten Jahrhunderthälfte weitergeführt.

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Jhering, sondern auch zahlreiche Germanisten, vor allem Carl Friedrich v. Gerber, die neue Methode übernahmen. Von der historischen Prämisse blieb nach Ausschaltung der Rechtsgeschichte lediglich das ,logische' Substrat übrig und verlor das wissenschaftliche' Recht nicht nur seine Verbindung zur Tradition, sondern erhielt nach der Lösung von der Überlieferungsgeschichte auch keine Impulse mehr aus den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der Zeit, die eine neue Basis hätten liefern können. Wenn Gerber und nach ihm Paul Laband dann die ,reine Rechtslehre' auf das Staatsrecht übertragen konnten, so nur deswegen, weil der Bezug des Rechts nicht außerhalb seiner selbst, sondern in ihm, in seiner logischen Struktur lag. Die Abstraktion der Rechtsverhältnisse brachte auch die Selbstgenügsamkeit des einmal vorhandenen Rechts hervor: Es konnte in seiner in sich selbst ruhenden und gleichsam frei schwebenden Natur nur noch aus sich selbst heraus neues Recht erzeugen, und tatsächlich glaubten die Begriffsjuristen ja auch, daß durch die logisch-deduktive Methode alle Lücken geschlossen werden könnten. Bei der Bedeutung der Pandektistik für diesen EntwiddungsVorgang versteht es sich, daß der Anteil an rezipiertem römischen Gedankengut außerordentlich groß war, insbesondere die in den ,Rechtsinstituten' vorgebildete Begrifflichkeit ihr enges Verhältnis zum Römischen nicht verleugnen konnte, ein Trend, der noch dadurch verstärkt worden war, daß die Historische Schule durch ihre rechtsgeschichtlichen Studien sich den antiken Rechtsquellen mit großer Intensität zugewandt hatte. Obwohl die Proteste gegen den neuen Geist nicht ausblieben, gelangte die Begriffsjurisprudenz vor allem auch durch den Aufschwung der Naturwissenschaften, die sie zu bestätigen schienen, schnell zur Herrschaft. Selbst die leidenschaftlichsten Gegner standen in vielerlei Hinsicht auf ihren Schultern. Otto v. Gierke übernahm trotz seiner scharfen Kritik am Rechtspositivismus doch weitgehend dessen Denkungsart 5 , und das gilt besonders auch für seine staatstheoretischen Ansichten 6 . Das für die hier angestellten Überlegungen eigentlich Bemerkenswerte jedoch ist die Übernahme der juristischen Methodenlehre auch durch die R e c h t s h i s t o r i k e r . Die aus der Rechtswissenschaft gerade verdrängte Rechtsgeschichte verließ das Feld der .antiquarischen' Forschung, in der sie seit dem Anbruch des wissenschaft5 Wieacker, Privatrechtsgeschichte 454. 6 Von der Methode her gesehen liest sich seine organische Staatstheorie (Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neueren Staatsrechtstheorien, Ztschr. f. d. ges. Staatswiss. 30, 1874, 153 ff. 265 ff.; Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Jahrb. für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich N.F.7, 1883, 1097 ff., Neudruck 1961) als begriffslogischer Traktat, obwohl sie aus dem Widerspruch gegen die Begriffsjurisprudenz entstanden ist.

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liehen Zeitalters und gerade auch durch den wissenschaftlichen Impetus der Historischen Schule steckte, und begann mit zunehmend verächtlichem Blick auf die .antiquarische' Forschungsrichtung in den Kategorien des neuen Geistes zu denken, der die Wissenschaftlichkeit im reineren Sinne für sich beanspruchte. Und so dachte nicht nur Mommsen 7 , sondern dachten gerade auch die Germanisten, obwohl die Ausbildung der Begriffsjurisprudenz vor allem von der Pandektistik ausgegangen war. Die Verfassungsgeschichten des Mit7 Darüber belehrt nicht nur der Anmerkungsapparat des .Römischen Staatsrechtes', der diese Literatur einfach verschweigt, sondern vor allem auch das programmatische Vorwort zur 1. Auflage des 1. Bandes (1871), S . X ( S . I X f f . der 3. Aufl.): „Wohl hätte ich gewünscht die schwierige Arbeit noch länger zurückzuhalten, insbesondere die vorhandene Litteratur vollständiger dafür ausnutzen zu können. Allerdings gestattet die begrifflich geschlossene und auf consequent durchgeführten Grundgedanken wie auf festen Pfeilern ruhende Darlegung, die das Wesen wie jedes Rechtssystems so audi des Systems des römischen Staatsrechts, wenn auch noch nicht ist, doch werden muss, in der systematischen Entwickelung selbst keine Polemik gegen principiell entgegengesetzte Auffassungen; und was mir von derartigen bekannt ist, dürfte auch kaum auf Widerlegung in anderer Form Anspruch haben. Aber wenn diese Art von Litteratur bei Seite gelassen werden musste, so gilt dies nicht von den Specialschriften, an denen es nur leider weit mehr fehlt als es demjenigen scheinen mag, der das Getümmel auf dem antiquarischen Bauplatz von fern betrachtet und nicht weiss, wie viele geschäftige Leute bloss die Balken und Ziegel durch einander werfen, aber weder das Baumaterial zu vermehren noch zu bauen verstehen." Die Forderung nach ,bauenden', d. h. nach begriffslogischen Kategorien konstruierenden Antiquaren ist allerdings eine contradictio in adiecto. Vgl. auch die einzige wesentliche briefliche Äußerung Mommsens zu seinem Staatsrecht' (an den Juristen H. Degenkolb am 8 . 1 1 . 1 8 8 7 , kurz vor Vollendung des .Staatsrechtes' geschrieben; abgedruckt bei L. Wickert, Theodor Mommsen I I I , 1969, 559): „ . . . denn unter uns gesagt, das Buch ist für die Philologen doch Caviar und sie schnuppern nach Zitaten, weil es ihnen nicht gegeben ist im Ganzen zu denken." Nicht nur von den Philologen, sondern auch von den Historikern der Altertumswissenschaft hat ihn in der Tat kaum jemand verstanden. Ein mit der Geschichte des römischen Staates so vertrauter Mann wie E. Herzog hat sich in dem ausführlichen programmatischen Vorwort zu seinem bedeutenden Werk (.Geschichte und System der römischen Staatsverfassung. I : Königszeit und Republik', 1884) mit Mommsen nicht grundsätzlich auseinandergesetzt; es scheint, daß er das Streitgespräch gescheut hat. Und selbst der Philologe J . Bernays, der das .Staatsrecht' begeistert aufnahm und mit seiner .Behandlung des römischen Staatsrechtes bis auf Theodor Mommsen' (Deutsche Rundschau 2, 1875, 54 ff. = J . Bernays, Abhandlungen I I , 1885, 255 ff.) den Anspruch auf eine angemessene Charakterisierung der Forschung vor Mommsen und des .Staatsrechtes' von Mommsen selbst erhob, sah doch in dem von Mommsen gebrachten Neuen vor allem nur die Systematisierung, und obwohl er manches aus dem Vokabular der Begriffsjuristen benutzte (so wettert er gegen die .antiquarischen' Forschungen, lobt die Deckung der Lücken durch die Begriffe, spricht von „Wurzelbegriffen" und von der „Metaphysik des Staatsrechtes" [dieses Dictum war wohl eher ein Ausrutscher], doch ist einiges auch deutlich unselbständig, z. B. eng an das Vorwort Mommsens zum .Staatsrecht' angelehnt: Bernays 60 f. / Mommsen I X ) , zeigen seine Bemerkungen zu dem l . B a n d des Mommsenschen Staatsrechts (S. 62 ff.) ein nicht sehr tiefgehendes Verständnis des Grundgedankens.

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telalters und der Frühen Neuzeit, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurden, waren zu einem großen Teil in diesem begriiisjuristischen Geist geschrieben; Paul v. Roth, Rudolf Sohm und Heinrich Brunner sind die bedeutendsten Namen dieser Richtung. Staat schien auch als historisches Phänomen nur noch nach dieser Methode faßbar zu sein. In dem Werk Mommsens erlebte die begriffslogische Staatsrechtslehre einen ihrer größten Triumphe, und zwar sowohl deswegen, weil das begriffliche Gebäude so scharfsinnig durchdacht war, als besonders auch deswegen, weil die Übertragung des Systemdenkens auf die historische Dimension bei ihm ungewöhnlich große Zeiträume in die klaren Denkfiguren der Jurisprudenz zusammenfaßte und so, wie man meinte, die Wesenszüge des römischen Staates aus der Fülle der vordergründigen historischen Erscheinungen erst zum Vorschein brachte. Das Staatsrecht Mommsens 8 erfaßte tausend Jahre römischer Geschichte (Königszeit, Republik, Principat): Tausend Jahre Staatengeschichte waren hier in einem System zusammengezogen. Entscheidend für die Wirkung des Werkes aber wurde der Umstand, daß selbst die härteste Kritik die Darstellung nicht grundsätzlich aus den Angeln heben konnte; jeder Kritiker ging von Mommsen aus, stützte sich bei Widerlegung eines Teils auf einen anderen Teil desselben Werkes, und oft genug kehrte er auch reumütig zu Mommsen zurück. Die offensichtliche Richtigkeit vieler Aussagen, ja großer Teile des Werkes veranlaßte gar viele, mit dem Staatsrecht und seinen Problemen weniger vertraute Historiker, es mit einem kritischen Standpunkt gar nicht erst zu versuchen; der Name Mommsens und die Standhaftigkeit seiner Aussagen gegenüber der Kritik mochten ihnen als Rechtfertigung dienen. Es soll im folgenden nicht der Zusammenhang des Mommsenschen Staatsrechts mit der juristischen Methodenlehre im einzelnen vorgeführt werden. Die Grundzüge des Werkes sind auch bereits analysiert worden 9 und dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. Da das Ziel dieser Überlegungen darin besteht, das Mommsensche System von entsprechenden rechtspositivistischen Verfassungslehren des 19. Jahrhunderts abzusetzen und seine Sonderstellung hervorzukehren, genügen einige wenige Bemerkungen. Sie sind so ausgewählt, daß aus ihnen einerseits der juristisch-dogmatische Charakter des Werkes, andererseits aber auch die Problematik des Ganzen besonders deutDas ¡Römische Staatsrecht' wird, wenn nicht anders vermerkt, nach der jeweils letzten Auflage der einzelnen Bände zitiert, d.h. Bd. I, 1887 3 ( l . A u f l . 1871); II, 18873 ( l . A u f l . II 1, 1874; II 2, 1875); III 1, 1887; III 2, 1888. 9 Vgl. Heuß a. O. 33 ff. 8

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lieh wird. Daran werden sich dann kritische und rechtfertigende Betrachtungen als das eigentliche Anliegen dieser Seiten anschließen. Rechtspositivistisches, d. h. auf das Institutionelle gerichtetes Denken und begriffslogische Systematik sind am schärfsten in den Grundpfeilern des Mommsenschen Systems erkennbar. Doch tritt sowohl die Schärfe und Geschlossenheit des Systems als auch die Problematik deutlicher noch als in der Darstellung der einzelnen Pfeiler in der Beschreibung des Verhältnisses dieser zueinander hervor. Die drei Institutionen, die das System tragen, sind die Magistratur, der Senat und die Volksversammlung10. Alle Lehre vom römischen Staatsrecht erschöpft sich bei Mommsen fast ausschließlich in der Darstellung dieser Institutionen und ihrer Beziehungen zueinander. Ich beschränke mich hier auf eine kurze Skizze des Verhältnisses zwischen der Magistratur und dem Senat einerseits und der Magistratur und der Volksversammlung andererseits. Innerhalb der drei Institutionen erhielt die M a g i s t r a t u r ein klares Übergewicht über die anderen. Das zeigt schon der rein äußerliche Umstand, daß Mommsen ihr zwei Bände seines Werkes widmete, während Volksversammlungen und Senat sich in den dritten Band teilen mußten. Mommsen hat die Magistratur als ein Rechtsinstitut genau definiert und als unwandelbare Mitte zu den übrigen Gliedern der staatlichen Ordnung in eine Beziehung gesetzt. Tatsächlich finden seine Definitionen vielfach in genauen, durchaus positivistischen Regelungen des römischen Amtsrechts, wie es die Quellen uns vorführen, einen Widerhall, und es steht darum die Magistratur als das rechtspositivistisch am schärfsten faßbare Element ganz natürlich im Mittelpunkt der juristischen Staatslehre. Große Schwierigkeiten stellten sich 10 Schon Polybios hatte in seiner berühmten Darstellung der römischen ,Mischverfassung' erkannt, daß der Charakter der staatlichen Ordnung Roms von diesen drei Institutionen aus am besten zugänglich sei, und wenn wir auch den von der griechischen Staatsphilosophie kommenden staatstheoretischen Ansatz des Polybios ablehnen, so bleibt doch so viel an ihm (und an dem System Mommens) richtig, daß das Verständnis des römischen Staates ohne eine Analyse der genannten Institutionen nicht auskommt. Gegenüber der Kritik, daß eine staatliche Ordnung nicht allein an ihren Institutionen darzustellen sei, hätte Mommsen sich auf die bei Polybios uns erhaltene staatstheoretische Definition des römischen Staates berufen können. Er verzichtete darauf nicht deswegen, weil die Durchführung der Analyse bei Polybios sich für eine Rechtfertigung schlecht eignete, sondern weil der Philosoph für den Rechtspositivisten kein denkbarer Gesprächspartner war. Mommsen konnte in der Polybianischen Darstellung der römischen Verfassung als Mischverfassung nur den spekulativen Ansatz der Philosophie sehen, und er hat sie deswegen auch in seiner .Römischen Geschichte' ausdrücklich als „törichte politische Spekulation" (II 1 0 452) gebrandmarkt; vgl. A. Wucher, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, 1956, 35.

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jedoch ein, als Mommsen das Verhältnis der Magistratur zum S e n a t darzustellen hatte. Denn der Senat war, wie jedem Betrachter römischer Geschichte vertraut ist, doch ganz offenbar der Mittelpunkt des staatlichen Lebens in Rom, von dem alle Initiative ausging und in dem sich alle Staatsgewalt konzentrierte. Die Ursache für die überragende Machtstellung des Senats wird jeder leicht darin finden, daß der republikanische Staat eine aristokratische Ordnung und der Senat die Versammlung der einflußreichsten Aristokraten war, und folglich ist die Forderung nur billig, daß er auch in der Mitte einer Lehre vom römischen Staat zu stehen habe. Der Magistrat konnte bei dieser Sachlage eigentlich nur der kontrollierte und möglichst schwach gehaltene Exekutivbeamte der herrschenden Klasse sein, nicht Kernstück des Staates. Mommsen war viel zu sehr Historiker, um diese Verhältnisse etwa zu verkennen. Daß der Senat in Wahrheit die ,Regierung' und der Magistrat der gar nicht einmal so starke Exponent der im Senat versammelten Klasse war, wußte auch er. Man kann die Bedeutung der Methode für Mommsen am besten ermessen, wenn man sieht, daß er trotz dieser Erkenntnis das Verhältnis von Magistratur und Senat rigoros der juristischen Systematik untergeordnet hat. Der Rechtsstandpunkt verlangte die Präponderanz der Magistratur, und da die Bedeutung des Senats im Staatsleben für uns vor allem in der Republik faßbar ist, konstruierte er die Magistratur kurzerhand von ihrem (dunklen) Beginn, der Königszeit, und von ihrem Ende, dem Principat, her und zwang die republikanische Magistratur in diese Konstruktion hinein. Der Einwand, daß der König doch kein Magistrat sein könne (und man im übrigen über ihn auch herzlich wenig wisse), war für Mommsen gar nidht vorhanden: So kann eben nur einwenden, wer evolutionistisch denkt; wer im System, d. h. ,im Ganzen' denkt, erfaßt die apriorische Existenz der Magistratur ganz von selbst als die dem ,Ganzen' innewohnende Wahrheit. Die Magistratur besteht also nach Mommsen seit Beginn der staatlichen Ordnung Roms, ja sie ist sogar „älter als die Volksgemeinde" und also vor dem Staate da 1 1 . Da nun aber innerhalb der exekutiven Staatsgewalt nicht zwei verschiedene Institutionen die gleiche rechtliche Relevanz haben können, ferner der Senat ein konstitutives Element der Exekutive - die selbständige Initiative - entbehrt, schließlich vor allem auch ein rechtliches Regulativ zwischen den beiden Institutionen (etwa als Instrument der Schlichtung von Auseinandersetzungen) ganz offensichtlich nicht vorhanden ist und man darum auch nicht von dorther ein angemessenes juristisches Verhältnis konstruieren kann, erscheint bei Mommsen allein der 11 Abriß 82; vgl. Staatsr. P 212; I P 6; III 300 f.

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magistratische Wille als wirklich relevante, weil rechtlich faßbare Gewalt, der Senatsbeschluß nur als Ratschlag für den Magistrat12. Zwar erkannte auch Mommsen an, daß der Senat als Institution rechtlich relevant ist - er hat ja eine Geschäfts- und Mitgliederordnung, und es gibt bestimmte rechtliche Regeln, die den Senat mit der Magistratur verbinden und damit die Zusammenarbeit sicherstellen (jus senatus habendi; ius relationis etc.) - , aber der Wille des Senats wird nach seiner Meinung niemals Recht13. Der rechtliche Träger der exekutiven Staatsgewalt ist allein der Magistrat, und ,von Rechts wegen' (und nur das interessiert die Staatsrechtslehre Mommsens) kann es darum nicht einmal eine (rechtliche) Kollision zwischen dem Senat und einem Magistrat geben. Da nun das absolute Übergewicht der Magistratur über den Senat, das durch die Auffassung der Staatslehre als Staatsrechtslehre erzwungen ist, den tatsächlichen Verhältnissen deutlich widerspricht, half sich der H i s t o r i k e r Mommsen damit, daß er das Rechtliche vom Faktischen trennte und von dem Gegensatz von Inhalt und Form sprach14; auf diese Weise ließ er den Senatsbeschluß a u ß e r h a l b 12 Staatsr. I I I 1022 ff. 1027 ff. und pass.; Staatsr. I I I 1026 steht der charakteristische Satz, daß der Senat „so zu sagen nichts (ist) als eine Verstärkung der Magistratur". Es besteht nach Mommsen auch keine rechtliche Verpflichtung des Magistrats, den Senat überhaupt anzuhören (Abriß 327 f.), doch spricht er nichtsdestoweniger von einem Beratungs r e c h t des Senats (Abriß 328) und nennt Staatsr. I I I 1030 f., wo er den Senat von dem einfachen consilium absetzt und darum auch die Effektivität des Senatsbeschlusses im Gegensatz zu der Willensäußerung eines Consiliums herauszukehren sich genötigt sieht, die Nichtbefragung eine rechtswidrige Handlung. 13

Von den mannigfachen Schwierigkeiten, die Mommsen bei der Durchführung seines systematischen Ansatzes hatte, zeugen viele Stellen des Werkes. Staatsr. I I I 994 ff. z. B. möchte er für die ältere Zeit den Senatsbeschluß in dem magistratischen Dekret aufgehen lassen; der Senat wäre danach in älterer Zeit tatsächlich nichts mehr als ein einfaches consilium (Terminus damals angeblich: decretum consulis etc. de senatus sententia), und die Rechtsfrage hätte sich damit erledigt. Später jedoch sei der Senatsbeschluß „Vorschrift" geworden, was sich auch in einer neuen Terminologie gezeigt habe {ex senatus consulto), und sei mit ihm nun „der Begriff der rechtlichen Bindung .. . verknüpft" worden (996). Hat er hier der Faktizität zuliebe seine Grundposition halbwegs verlassen, kehrt er nur eine Seite später zu ihr zurück, wo er die Intercession gegen den Senatsbeschluß behandelt. Denn da der Akt, gegen den interzediert werden soll, nicht nur einen verschwommenen .Begriff von rechtlicher Bindung' enthalten darf, sondern ganz ein rechtlicher Akt sein muß (die Interzession kann nichts kassieren, was nicht von Rechts wegen besteht), hätte er hier klar die Rechtserheblichkeit des Senatsbeschlusses bekennen müssen. Da er das nicht will, begründet er die Möglichkeit der Intercession gegen Senatsbeschlüsse damit, daß der Senatsbeschluß nichts „als ein mit Zuziehung des Senats gefaßtes magistratisches Dekret" sei, und gesteht damit auch für die Spätzeit, als der Senatsbeschluß nach seiner Lehre „Vorschrift" war, zu, daß er als solcher nicht rechtserheblich sei, es sei denn, man fasse ihn auf nicht als einen Akt des Senats, sondern als einen des Magistrats.

H Staatsr. I I I 1024. 1027; Abriß 329 und pass.

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des juristischen Systems (man ist versucht zu sagen: t r o t z des juristischen Systems) zwar nicht zu seinem Recht, aber doch zu seiner Wirksamkeit kommen. So durchzieht das Staatsrecht allenthalben - nicht nur hier in dem Verhältnis von Senat und Magistratur 15 -dieses Gegeneinander von Rechtlichem und Faktischem als notwendiges Regulativ zwischen dem System und der Geschichte. Allerdings ist das Regulativ höchst unvollkommen, weil es die Problematik nicht löst, sondern sie nur aufdeckt und ein Gefühl des Unbehagens zurückläßt. Denn es versteht sich von selbst, daß trotz der Bedeutung des Faktischen in diesem Staatsrecht der Satz von der Normativität des Faktischen hier nicht gelten kann. Der Satz ist nur anwendbar, wenn man Zeit berücksichtigt. Das System des Mommsenschen Staatsrechts kennt wie alle positivistischen Systeme jedoch nicht den Begriff der Zeit. Und wenn auch Mommsen innerhalb der einzelnen Kapitel stets historische Überblicke eingeschaltet hat, also Zeit berücksichtigt und damit die Historizität des behandelten Staatsrechts immer gegenwärtig ist, so duldete jedenfalls das Kernstück des Systems, die Begriffe, keine Aufhebung in der Zeit: Die Grundbegriffe mußten als Rechtsnormen unveränderlich bleiben; der Wandel der Umstände durfte keine neuen Normen erzeugen. Wenn in dem System die Faktizität über das Recht obsiegt hätte, würde das (im Sinne der Lehre Mommsens) den Untergang des Staates bedeutet haben. Von den drei Hauptinstitutionen des römischen Staatsrechts kommt also dem Senat in der juristischen Lehre das geringste Gewicht zu; er ist „der dritte Factor der Gemeindegewalt", wie Mommsen sagt 16 . Die beiden anderen Institutionen, Magistratur und Volksversammlung, sind die einzigen Träger der rechtlichen Gewalt, die sie niemals .formell' (und nur das ist erheblich) auf den Senat übertragen haben, und die Stellung des Senats in der staatlichen Ordnung Roms ist folglich zwar „eminent und effectiv", aber (rechtlich) „unbestimmt und formell unfundirt" 17. Rechtliche Relevanz hatte der Senat nach Mommsen überhaupt nur in der älteren auctoritas patrum, dem Bestätigungsrecht des Senats für Volksbeschlüsse. Als dieses tatsächlich (nicht rechtlich) annulliert worden war, sei damit „der dritte Die Gegensatzpaare sind rechtlich/ formell/'nominell/'begrifflich - faktisch/tatsächlich/ materiell/inhaltlich bzw. deren Substantive. An Beispielen dieses Gegensatzes außerhalb des Verhältnisses Magistratur-Senat nenne ich die auctoritas patrum für die Volksbeschlüsse (Abriß 326); die Stellung der Comitien insgemein gegenüber dem Senat (Abriß 323); die Gesetzesinitiative des Senats (Staatsr. I I I 1046 ff.; Abriß 330) und die Kompetenzteilung innerhalb des einheitlichen und totalen Imperiums (Staatsr. P 35; I P 207; Ges.Sdir. IV 96). 16 Abriß 326. 17 Staatsr. I I I 1032 f.

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Factor der Gemeindegewalt" verschwunden18. Was dem Senat blieb, nennt Mommsen das „verschwommene und aller strengen Definition sich entziehende Wort auctoritas". Mit ihr habe der Senat zwar die Welt erobert und regiert; sie sei ganz offenbar eine außergewöhnliche Machtquelle gewesen 19 . Bloße Macht aber ist etwas Politisches, gehört als solche nicht der Rechtssphäre und damit auch nicht der Mommsenschen Staatsrechtslehre an: ,Macht' bringt keinen rechtserheblichen Willensentscheid hervor; vor ihr versagt die juristische Definition, und was man nicht definieren kann, ist für die rechtspositivistische Lehre nicht existent 20 . Nicht weniger aufschlußreich als das Verhältnis von Magistratur und Senat ist das zwischen M a g i s t r a t u r und V o l k s v e r s a m m l u n g ( e n ) . Da nämlich die Magistratur von ihrem Begriff her einen Bezug benötigte (sonst wäre sie absolute Gewalt) und der Senat bei seiner rechtlichen Irrelevanz ihn nicht geben konnte, wurde für Mommsen die Volksversammlung (für die Mommsen oft einfach ,Volk' sagt) der eigentliche Partner der Magistratur. Mommsen konstruierte das Verhältnis nun allerdings nicht so, daß er das magistratische Recht aus dem Volksrecht ableitete, sondern er postulierte eine Partnerschaft im echten Wortsinn: Beide Partner, der eine als Exekutor der bestehenden Ordnung (Exekutive), der andere als die reformierende Staatsgewalt (Legislative), leiten danach ihre Relevanz unabhängig voneinander aus sich selbst her. Sie sind apriorische Stücke des Systems. Wie die Magistratur „älter ist als die Volksgemeinde" und also vor dem Staate da ist 2 1 , ist die Gemeinde, die von der Magistratur bei der Stadtgründung erschaffen wird, mit ihrer Entstehung kein Produkt magistratischer Satzung, sondern „souverän". An zahllosen Stellen seines Staatsrechts spricht Mommsen von der Gemeindesouveränität bzw. Volkssouveränität, von dem souveränen Willen der Gemeinde bzw. Gemeindeversammlung22. Die Souveränität ist in den rechtspositivistischen Staatslehren des 19. Jahrhunderts selbstverständlich ein Begriff des Rechts, und so wird sie von Mommsen ganz Abriß 326. 19 Auctoritas figuriert im Staatsrecht Mommsens nur in ihrer jurifizierten Form als Bestätigungsrecht des Senats für Volksbeschlüsse (auctoritas patrurn) und als kassierter Senatsbeschluß (nach Mommsen richtiger: kassiertes magistratisches Dekret) (auctoritas senatus); vgl. o. S. 26 Anm. 13; u. S. 49 f. 20

Man erinnere sich des gegen die organisdie Rechtslehre gerichteten Spottverses von v. Krieken: „Was man nicht definieren kann, das sieht man als organisch an" (zit. nach R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts II 2, 1883 4 , 351 Anm. 501).

21 Vgl. o. S. 25 Anm. 11. 22 Das bedarf keines Beleges; die Hauptstellen sind I I I 300 ff. 313 f.

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oilenbar auch eingeführt 23 , wiewohl er sie nirgends systematisch abhandelt 2 4 . Deutlich ist aber soviel, daß magistratische Gewalt und Volkssouveränität sich als unabhängige Größen aufeinander beziehen. Mommsen drückt das so aus, daß das Volk (populus) der Staat sei ( I I I 3. 300) bzw. daß alles, was dem Staat gehöre oder ihn angehe, das Volk betreife, demgegenüber der Magistrat (nur) Träger der staatlichen Aktion sei ( I I I 300). Magistratur bedeutet danach Aktion, das Volk ist der Bezugspunkt für die Aktion. Magistratisches Recht und Volkssouveränität bilden zusammen die Staatsidee. Die Souveränität ist Bezug der Magistratur, nicht notwendig tatsächliche Gewalt; sie ist in der Staatsidee schaubar, in der Staatspraxis jedoch nicht notwendig erkennbar 25 . Diese Konstruktion erlaubte Mommsen, für die gesamte von ihm behandelte Zeit — Königtum, Republik und Principat Magistratur und Volk bzw. magistratische Gewalt und Volkssouveränität als Basis der staatlichen Ordnung zu erhalten, ja sie hält sogar diese Perioden gerade zusammen und erfüllt die Funktion, die ganz offenbar verschieden strukturierten Perioden unter das System zu bringen 26 . Da die Souveränität trotz ihrer Bestimmung, lediglich den Bezug zur Magistratur herzustellen, einen .formalen', d. h. dem System verbundenen Aufhänger braucht, wird sie an die Volkswahl der Magistratur geknüpft 11 . Volkswahl ist also ,formaler' 23

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Staatsr. I I I 1030 nennt Mommsen die Bürgerschaft den „rechtlichen Träger der souveränen Staatsgewalt"; vgl. I I I 313 f. Man hätte etwa an eine inhaltliche Definition (durch Aufzählung der Rechte der Volksversammlung) denken können, wie die Positivisten z. Zt. Mommsens verfuhren. Vgl. etwa die lapidare Feststellung zum magistratischen Charakter des Kaisertums, I P 749: „Wie die frühere Republik, so ruht auch der Principat auf der Volkssouveränetät. Alle Gewalten im Staate üben nicht eigenes Recht aus, sondern stellvertretend dasjenige des Volkes, und der Princeps ist nichts als ein Beamter mehr." I I I 300: „Der principielle Gegensatz des Königthums, der Republik und des Principáis ruht auf dem Verhältniss der Bürgerschaft zu der Magistratur und der verschiedenartigen Vertretung des Gemeinwesens durch jene oder diese." Staatsr. I I I 300: „Unter dem Königthum findet der souveräne Wille der Gemeinde seinen Ausdruck in dem zusammentreffenden Willen des Königs und der Bürgerschaft. Die Magistratur, deren zeitiger Träger sein Imperium von dem Vormann überkommt, ruht auf sich selbst und steht der des Imperium unfähigen Bürgerschaft gleichberechtigt gegenüber . . . 301: Auch unter der Republik wird daran festgehalten, daß der Gemeindewille seinen Ausdruck findet in dem Zusammenhandeln des Magistrats und der Bürgerschaft. Aber der Magistrat empfängt jetzt seine Amtsgewalt von der Gemeinde und es entwickelt sich der Begriff der Magistratur dahin, daß jeder Magistrat und nur Magistrat ist, wer unmittelbar von der Bürgerschaft ein Mandat empfängt. . . . 302: Als dann die Republik dem Principat weicht, verschiebt sich, wenn auf die Realität der Dinge gesehen wird, das Verhältniss zwischen Magistratur und Bürgerschaft abermals dahin, daß an Stelle des ursprünglichen Gleichgewichts beider Theile und der späteren Vorherrschaft der Bürgerschaft jetzt die Vor-

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Reflex der Souveränität. Sie leitet sich somit - soweit sie .formaler' Natur ist - ganz im Gegensatz zu den Anschauungen des 19. Jahrhunderts nicht aus vor(staats)rechdichen (etwa naturrechtlichen) Prämissen her noch ist sie durch ihren Inhalt bestimmt, sondern Souveränität bedeutet hier ,Funktion des populus im Hinblick auf die Magistratur', d.h. Souveränität ist als Normales' Element des Systems formalisierter (,systemgerechter') Bezug. Doch da diese Formalisierung unter dem Zwang steht, auch dort den Bezug herzustellen, wo er in den tatsächlichen historischen Verhältnissen kaum oder überhaupt nicht existiert und darum auch ,formal' schwer konstruierbar ist, hat sie Mommsen durchaus nicht in den Vordergrund gerückt. Aber wie das System nicht auf sie verzichten konnte, mußte Mommsen sie selbst für die Königszeit und für den Principat, als das Volk an der Wahl der Könige bzw. Kaiser kaum oder gar nicht beteiligt war, postulieren. Da die Souveränität in diesen Perioden faktisch nicht erkennbar war, konstruierte er sie als eine „ideale" 28 ; in der Repubilk wandelte sich dann diese „ideale" Gemeindesouveränität in eine reale, indem nunmehr das Verhältnis von Volk und Magistratur sich aus einer Partnerschaft in ein Herr-Diener-Verhältnis verkehrte 29 . Doch wird mit dem Wandel der Verhältnisse der Inhalt des Souveränitätsbegriffs nicht berührt; konstitutiv bleibt allein sein Bezugscharakter 30. Es ist deutlich, daß Mommsen den Begriff der Souveränität nicht eingeführt hat, um durch ihn ein wesentliches Element der römischen staatlichen Ordnung hervorzuheben. Er hat bei ihm lediglich die Funktion, den systematischen Rahmen des Ganzen abzustützen, innerhalb dessen die staatlichen Organe und deren Funktionen gezeichnet werden. Mommsen erreichte mit ihm vor allem zweierlei: Einmal ist er Ersatz für die dem Werke fehlende Definition des Staatsbegriffs, die in den mediävistischen und frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichten so unheilvoll wirkte; ihr ging Mommsen dadurch aus dem Wege 3 1 . Zum anderen aber war es so (und nur so) möglich, herrschaft der Magistratur tritt und der Wille des höchsten Beamten gefaßt wird als der rechte Ausdruck des Willens der Gemeinde." 28 Staatsr. III 300: „Alles was dem Staat gehört oder den Staat angeht, ist publicum und das Königthum wie die spätere Magistratur nur der Träger der staatlichen Action. . . . Diese Grundanschauung ist durch die drei großen Abschnitte der politischen Entwickelung, Königthum, Republik und Principat gleichmäßig festgehalten worden, diese ideale Gemeindesouveränetät dem römischen Staatswesen eingeboren und unverlierbar". 29 s. o. S. 29 Anm. 27. 3° Mommsen spricht von der „Steigerung der Gemeindesouveränetät" in der Republik (Staatsr. III 301 f.). Nicht allein und nicht einmal in erster Linie hierdurch; vgl. u. S. 36 ff.

i. Charakteristik des .Römischen Staatsrechtes'

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die staatliche Ordnung Roms auf der Ebene des R e c h t s darzustellen: Magistratisches Recht und Volkssouveränität sind die Pfeiler des römischen Staates, zu denen sekundär der Senat hinzutritt. Die Kritik gegen diese Auffassung ist schnell zur Stelle: Die eigentliche Relevanz des Volkes im römischen Staatsleben ruhe auf einem außerrechtlichen, sozialen Verhältnis zwischen dem Volk und der Aristokratie; das Volk als rechtliche Institution (Volksversammlung) sei überhaupt nur während des Ständekampfes Realität, danach nur Fiktion. Aber hier interessiert zunächst nicht die Kritik, sondern das Verständnis des Systems. In ihm ist die Souveränität, zusammen mit der Magistratur, die Stütze einer (systematisch konzipierten) S t a a t s r e c h t s l e h r e . Dabei bleibt sie allerdings so schemenhaft und tritt so wenig aus ihrer Rahmen- und Stützfunktion heraus 32, daß sie die positive Darstellung des Staatsrechts kaum stört; sie dringt nicht in die Abhandlung selbst. Souveränität ist bei Mommsen ein lediglich die Systematik stützender Begriff, kein Rechtsbegriff 33 . Es ist also weniger die Verwendung des Begriffs problematisch (er richtet ja in der Darstellung kein Unheil an); problematisch ist nur der methodische Ansatz, der sie hervorbrachte, nämlich die Auffassung der Staatslehre als Staatsrechtslehre und deren systematisch-dogmatische Prämisse. Der ,Rahmencharakter' der Souveränität bei Mommsen wird durch einen Blick auf deren Verwendung im Principat deutlich unterstrichen. Denn unbeschadet seiner Aussage, daß die Gemeindesouveränität ideell auch für den Principat gelte, hat Mommsen doch in der praktischen Durchführung der die Kaiserzeit betreffenden Abschnitte die Souveränität vom Volke auf den 32

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Es ist beaeichnend, daß Mommsen später in seinem .Abriß des römischen Staatsrechts' (1893) das Verhältnis von Magistratur und Volk gegenüber dem in manchen Punkten dogmatischeren Staatsrecht freier konstruieren konnte, ohne dabei seine grundsätzlichen Auffassungen zu den einzelnen Institutionen zu ändern. Faßt er im Staatsrecht den populus als Staat auf (s. o. S. 29), so kann er im Abriß 82 die Magistratur als die „Verkörperung des Staatsbegriffs" vorstellen. Die Lehre von der Souveränität der Gemeinde ist sogar im Abriß weitgehend (stillschweigend) aufgegeben, ohne eine spürbare Lücke zu hinterlassen; hier spricht Mommsen von der Gemeindesouveränität mit Nachdruck nur noch im Zusammenhang der späten Republik und ist die Funktion der Volksversammlung sehr viel enger von den tatsächlichen historischen Verhältnissen her interpretiert worden (vgl. Abriß 297 f. 323 f.). Ein Rechtsbegriff ist lediglich die Volksversammlung, die mit der .Souveränität' dadurch verknüpft wird, daß jene als der Reflex dieser erscheint: „Auf den Comitien der Centurien und der Tribus und dem Concilium der Plebs ruht die Souveränetät, der Bürgerschaft" (III 325). Doch täuscht diese Verbindung nicht darüber, daß sich der primäre Gedanke auf das Rechtsinstitut - hier die Volksversammlung - richtet, zu dem lediglich sekundär die .Souveränität' (als eine der Systematik dienende Größe) hinzutritt.

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

Senat übergehen lassen; dies zwar (charakteristischerweise) nicht,formell' 34 ; er sieht in dem Senat hier den Vertreter des souveränen Volkes (Staatsr. III 1253) oder „rechten Träger der Volkssouveränetät" (Abriß 298; vgl. Staatsr. III 1271). Aber er spricht dann doch ganz allgemein für diese Periode von dem „souveränen Senat". Diese Konstruktion, die - den historischen Verhältnissen angemessen — die Volksversammlung faktisch ekartiert, führt dann zur Lehre von der Dyarchie. Der Senat ,beerbt' gleichsam die Volksversammlung und tritt damit nun tatsächlich ,in seine Rechte'. Doch bleibt, auch wenn man im System Mommsens denkt, die Dyarchie sehr problematisch, weil der Senat offenbar die Souveränität nicht in derselben Ursprünglichkeit hat, wie das Volk sie hatte. Vor allem aber - und das ist wichtiger - zeigt sich hier die Insuffizienz des Souveränitätsbegriffs und seine bloße Rahmenstellung besonders scharf. Der Souveränitätsbegriff läßt sich, wie sich zeigt, verschieben wie ein Statist auf der Bühne: Es kommt nicht so sehr darauf an, wo er steht (das ist Sache der jeweiligen Regie), sondern lediglich darauf, daß er überhaupt da ist. Bei der Verschiebung innerhalb des Systems verliert der Begriff dann den letzten Rest an Verbindlichkeit und Verständlichkeit. Er wird von dem Volk, wohin er allenfalls zu setzen wäre, über die Volksversammlung (das institutionalisierte Volk; jetzt ist der Begriff ,im System') auf den Senat (eine andere Institution innerhalb des Systems, die nach Mommsen nicht einmal Rechtssubjekt ist 35 ) übertragen und enthüllt auf diesem Weg deutlich seine Funktion als leerer ,Rahmenbegriff', der lediglich die Einheit der Perioden unter das System zusammenfassen soll, aber selbst nichts ,Positives' aussagt36. Es ist heute leicht, an der Begriffsjurisprudenz Kritik zu üben. Soweit die Kritik sich gegen die Systeme geltender Rechtsordnung richtet, ist sie vielfach schon zu einer handlichen Schablone geworden, die weniger etwas über die 34

S. o. S. 26 f. Dort, wo Mommsen nicht den Senat des Principats, sondern die Comitien (III 300 ff.) oder die Magistratur des Principats, den Kaiser (II 3 749 mit Anm. 1), abhandelt, .vergißt' er denn auch leicht diese Verschiebung der Souveränität vom Volk auf den Senat, postuliert die Volkssouveränität wie selbstverständlich als unabhängige Größe und behauptet, daß an diesem Prinzip niemals, auch nicht im Principat, gerührt worden sei. 35 S. o. S. 25 f. 36 Totalität des Imperiums und Souveränität spielen als überzeitliche Rahmenbegriffe schon in der .Römischen Geschichte' Mommsens eine Rolle, ohne dort natürlich eine systematische Funktion zu haben. Zum Imperium vgl. etwa RG Ii 157 ff.; III! 448; zur Volkssouveränität z.B. P 61; Iii 8 7 f . ; IUI 451. n i i 513 nennt er dann aber den Senat der Republik einen Souverän und läßt dessen Souveränität mit Caesar auf den Monarchen übergehen. Der Begriff hat hier wenig Verbindlichkeit.

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Natur und die Mängel des Rechtspositivismus aussagt, als sie den rechtfertigenden Hintergrund für neue Ideen liefern soll. In diesem Zusammenhang interessiert jedoch nur die Kritik an der begriffslogischen Systematik des historischen Staates, und sie ist auch ganz anderer Natur als die an geltenden Systemen. Billig ist der Vorwurf, daß man Geschichte nicht in Systeme pressen könne. Das ist in dieser allgemeinen Formulierung noch nicht einmal richtig, obwohl man es am häufigsten hört. Denn wenn Geschichte nicht nur die endlose Aufzählung dessen ist, was sich ereignet hat, sondern sich in ihr die Vorstellungswelt verschiedener Epochen offenbart, wird Systematik, richtig angewandt, immer ein notwendiges Mittel der Erkenntnis bleiben. In diesem Sinne wird man den Tatbestand, daß die Römer selbst ihre staatliche Ordnung nicht systematisch durchdacht haben, nicht als absoluten Hinderungsgrund für eine moderne systematische Behandlung ansehen dürfen. Härter traf schon die Kritik an der Dogmatik des Systems 37 ; vor allem ist hier der Einwand berechtigt, daß ein System logisch aufeinander bezogener Teile die fatale Tendenz zeige, Lücken in dem System, die sich durch unsere Quellen nicht schließen lassen, einfach durch Deduktion aus der Logik des Systems zu schließen. Der Historiker muß mit Nachdruck eine Methode verwerfen, die Quellen produziert, und er wird den Begriffsjuristen heute gewiß nicht mehr nachreden wollen, daß das System den Geist der Vergangenheit offenbare und also die Deduktionen richtig seien. Die schärfste Kritik ging jedoch gegen die Begriffe und, da sie juristischer Natur sind, auch gegen die einseitig juristische Betrachtungsweise des Staates. In der Tat hat nun die Kritik an den mediävistischen und frühneuzeitlichen Verfassungslehren nachgewiesen, daß die verwendeten Begriffe den Zeiten, in die sie hineingelegt wurden, nicht immer angemessen sind. Die Kritik war so zwingend, daß ein großer Teil dieser Forschung daraufhin beiseite gelegt werden 37

Vgl. die Ablehnung von L. Lange in seiner Rezension des ersten Bandes des Mommsenschen Staatsrechts (Literarisches Zentralblatt 1872, Nr. 26, 684 f. = Kleine Schriften II 154 f.), der auf die Berechtigung der "historisch-antiquarischen . . . n e b e n der dogmatisch-juristischen'' Forschung verwies. Allerdings richtete sich die Konzeption Mommsens vor allem gegen die antiquarische Richtung, die Lange vertrat. E. Herzog, der die Forschung vor Mommsen in einer die (nicht begriffslogische) Systematik und die Geschichte zugleich berücksichtigenden Weise weiterführte, läßt in seiner Würdigung des .Staatsrechts' von Mommsen (im Vorwort von ,Geschichte und System der röm. Staatsverfassung', 1884, X X X I V 2 . ; damals waren erst die beiden ersten Bände des Mommsenschen Werkes erschienen) Kritisches kaum anklingen, obwohl seine Darstellungsweise sich von der Mommsens ständig provoziert fühlen mußte. Sein glänzendes Werk, an das wir heute in vielen Punkten wieder anknüpfen können, hätte sich vielleicht einen besseren Platz neben dem .Staatsrecht' Mommsens erobert, wenn es schärfer gegenüber ihm abgesetzt worden wäre.

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

mußte. Man stellte etwa fest, daß die Verwendung des Gegensatzes öffentlich' und ,privat' einen völlig falschen Ansatz für die mittelalterliche und frühneuzeitlidhe Welt enthält und daß sie zu einer sehr gewaltsamen Behandlung dieser Epochen geführt hat. Damit hängt unmittelbar auch die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft in diesen begriffslogischen Systemen zusammen. Die Trennung dieser Begriffe und d. h. die Herausnahme der gesellschaftlichen Verhältnisse aus dem Staat aber ist ein Spezifikum des neuzeitlichen Staates, indem der Staat sich hier — eben unter dem Einfluß des Positivismus - zu einer bloßen ,normativen Ordnung' wandelte, die entweder als von der Gesellschaft geschaffen oder auch als Organisator der Gesellschaft erscheint, auf jeden Fall etwas anderes ist als Gesellschaft. Die Kritik an der rechtspositivistischen Anschauung historischer Ordnungen hat zu der Einsicht geführt, daß die verfassungsgeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts weitgehend durch die damals herrschende Auffassung von Staat und Staatlichkeit bedingt war und daher der Korrektur bedürfe. Die grundsätzliche Kritik verlangte einen völlig neuen Ansatz in der Betrachtung historischer Staaten, und in der Tat ist in den letzten Jahrzehnten — ausgehend von den Arbeiten Otto Brunners 38 - das Bild des Staates der Vergangenheit grundlegend revidiert worden. Man geht nunmehr von den Begriffen der Zeit aus, die es zu beschreiben gilt, und sucht von ihnen her die staatliche Struktur und ihre Wandlungen in der Zeit zu erfassen. Das Kennwort der neuen Arbeitsweise heißt B e g r i f f s g e s c h i c h t e , und die Arbeit an einem begriffsgeschichtlichen Lexikon für die frühe Neuzeit mag stellvertretend für zahllose andere Untersuchungen hier angeführt werden. Die Kritik am dogmatischen juristischen Begriff hat also zur historischen Begriffsforschung geführt. Die Alte Geschichte und hier speziell die Wissenschaft vom römischen Staat hat aber an diesen Untersuchungen kaum Anteil. Ausgerüstet mit dem Musterbeispiel eines ,positivistischen' Staatsrechts scheint sie sich mit ihm zu begnügen. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen darauf, daß diese oder jene These Mommsens quellenwidrig sei, und tatsächlich ist sein System und gerade auch das Kernstück, nämlich die Lehre von der Magistratur, weitgehend abgebaut worden 39 . Aber man sollte nicht glauben, daß deswegen die Systemkritik in der althistorischen Forschung eine wesentliche Rolle spiele. Es gibt allerdings auch einige ausgesprochen begriffsgeschichtliche Untersuchungen, die vom Standpunkt der heutigen Geschichtswissenschaft aus gesehen sehr modern anmuten. Diese Arbeiten scheinen sich 38 S. o. S. 18 Anm. 1. Wichtig ist hier die Kritik von A. Heuß an dem Mommsensdien Begriff des Imperiums (SZ 64, 1944, 57 ff.).

i . Charakteristik des ,Römischen Staatsrechtes*

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von der Präponderanz des juristischen Begriffs gelöst und mit der Befreiung vom juristischen System dann soziale und politische Begriffe als unmittelbare Äußerungen staatlichen Daseins erfaßt zu haben. Wohl die früheste Arbeit auf diesem Gebiet ist die Untersuchung des Begriffs der Nobilität von Matthias Geizer (1912). Vor allem Philologen haben hier weitergearbeitet; es sei nur an die Aufsätze von Richard Heinze über auctoritas und fieles (1925; 1929) erinnert 40 . Aber schon die Erscheinungsdaten dieser Arbeiten zeigen, daß sie vor jener oben genannten Kritik an dem Positivismus geschrieben wurden, und tatsächlich wurden sie auch nicht aus der Systemkritik geboren, sondern sind davon unabhängige Forschungen. Sie täuschen also nicht darüber hinweg, daß es jene reinigende Grundsatzdiskussion der Mediävistik, die mit ihrer Reflexion auf die Forschungsmethode neue Wege wies, in der Alten Geschichte nicht gegeben hat. Woran liegt das? Ist es die Autorität Mommsens, der als der größte Historiker und Jurist des Faches den endgültigen Bruch hemmt? 41 Oder ist es eher die mangelnde Kommunikation der Alten Geschichte und der gesamten Altertumswissenschaft mit den Nachbardisziplinen, die — als Bildungsmacht durch die moderne Gesellschaft entthront - in ihrem humanistischen Winkel schmollt? Ein Kritiker könnte zur Illustration dieser Meinung etwa anfügen, daß das neue Lexikon der Alten Welt (Artemis-Verlag 1965), das sich an einen breiten Leserkreis wendet und als eine Art Visitenkarte der Altertumswissenschaft gelten kann, sei es aus Unkenntnis der neuen Situation, sei es aus Trotz, kurzerhand auf die Begriffsgeschichte verzichtete und sich auf den positivistischen Apparat des 19. Jahrhunderts - wie auf die gute alte Zeit - beschränkte. Oder aber gilt die Kritik an der verfassungsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts nicht in gleicher Weise für den römischen wie für den mittelalterlichen Staat? Diese Fragen lassen sich nicht einfach bejahen oder verneinen. Eine Antwort auf sie wollen die folgenden kritischen Überlegungen zum Staatsrecht Mommsens versuchen. Sie werden die Bedingtheit der Anschauungen Mommsens offenbaren, aber auch - und darauf kommt es hier vor allem an - seine innerhalb eines bestimmten Rahmens dauernde Aktualität. Denn so gewiß das Mommsensche Staatsrecht den begriffslogischen Systemen des 19. Jahrhunderts zuzurechnen ist, muß die Kritik an ihm doch von ganz anderen Vor« Auctoritas, Hermes 60, 1925, 348 ff.; Fides, Hermes 64, 1929, 140 ff., beides wieder abgedruckt in: Vom Geist des Römertums, 1938, 19603. 41 A. Momigliano, der selbst als einer der bedeutendsten Kritiker gelten darf, trägt nichts zum Abbau der Hemmungen bei, wenn er a. O. 157 sagt: „Mommsen cannot be replaced by people who are smaller than Mommsen."

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

aussetzungen ausgehen. Das negative Urteil der heutigen Geschichtswissenschaft über die verfassungsgeschichtliche Forschung der Vergangenheit gilt wegen dieser anderen Voraussetzungen nicht in gleicher Weise für das ,Römische Staatsrecht' Mommsens.

2. Begriffe und Systematik im ,Römischen Staatsrecht' Mommsens Es ist zunächst daran zu erinnern, daß der juristische Positvismus der Pandektistik entstammt; die neue Denkungsart ist also aus der Betrachtung römischen Rechts- bzw. Traditionsgutes entwachsen, und viele Begriffe des Positivismus gehen daher auch auf römische Quellen zurück. Nun ist jedoch die juristisch-dogmatische Behandlung des r ö m i s c h e n Staatsrechts im Gegensatz zu der anderer Staatsrechte nicht einfach deswegen gerechtfertigt, weil diese methodische Lehre die römische Privatrechtswissenschaft der Zeit beherrschte. Es ist zu bedenken und wird in der heutigen Romanistik mit Nachdruck hervorgehoben, daß diese Methode auch im Privatrecht nicht die der R ö m e r , sondern die der pandektistischen Schule war. Aber auch die Ansätze zu einer begrifflichen und systematischen Ordnung des römischen Privatrechts, die wir schon in der Antike in den juristischen Lehrbüchern, den Institutionen, und besonders dann in der Justinianischen Kodifikation finden, und vor allem auch die das Privatrecht beherrschende Abstraktion der Rechtstatbestände, die zu klaren Denkfiguren führte, lassen sich auf das römische Staatsrecht nicht übertragen. Der römische Staat ist von den Römern selbst niemals theoretisch-begrifflich durchdrungen worden; es gibt nicht einmal den Versuch einer systematischen Ordnung der geltenden Bestimmungen des öffentlichen Rechts irgendeiner Periode. Das Staatsrecht der Römer war historisches Recht, nicht Abstraktion zusammengehöriger Tatbestände. Das öffentliche Recht entstand aus konkreten historischen Situationen und hat, sofern es nicht, was selten vorkam, abgeschafft wurde, im Laufe der Zeit und unter veränderten Situationen vielfach einen neuen Inhalt angenommen, ohne dabei seine Form (den Begriff, um mit den Positivisten zu reden) zu ändern. Die wenigen Fragmente, die aus dem öffentlich-rechtlichen Schrifttum der Römer auf uns gekommen sind, wie etwa die Überlegungen des Messalla zu dem Verhältnis von auspicium und potestas bei Gellius 1 3 , 1 5 , 3 ff., zeigen denn auch, daß sich die römischen ,Staatsrechtler' darauf beschränkten, das seinem Sinn nach nicht mehr immer verständliche historische Rechtsgut mit der geltenden Praxis in Einklang zu bringen.

2. Begriffe und Systematik im .Römischen Staatsrecht'

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Insofern durch die Begriffsjurisprudenz die Methode römischer Privatrechtslehre auf die Staatsrechtslehre übertragen wurde, gilt die Kritik also nicht nur demjenigen, der den mediävistischen und frühneuzeitlichen Staat, sondern auch dem, der den römischen Staat in dieser Methode dargestellt hat. Mommsen hatte bei der Übertragung der juristischen Methode der Pandektistik auf die Staatsrechtslehre nun offenbar nicht die geringsten Bedenken. Er zeigte hier keine kritische Reflexion und sah als echtes Kind seiner Zeit in der Übernahme der Methode gerade den Fortschritt der Staatsrechtswissenschaft Unzählige Male hat er darum in seinem Staatsrecht auf Privatrechtsverhältnisse hingewiesen und damit die Verbindung bewußt immer wieder hergestellt. Und doch hat die Kritik das ,Römische Staatsrecht' von entsprechenden Darstellungen des Mittelalters scharf zu scheiden, will sie zu einem gerechten Urteil über die dort zutage geförderten Ergebnisse gelangen. Die notwendige Differenzierung des Urteils hat man jedoch nicht in dem systematisch-dogmatischen Ansatz des Werkes zu suchen; hier trifft die Kritik Mommsen in gleicher Weise wie die anderen Positivisten unter den Historikern. Der Unterschied des ,Römischen Staatsrechts' zu anderen historischen Staatsrechtslehren liegt vielmehr in der Verwendung und in der Auswahl der Begriffe, also in dem eigentlichen Kernstück der juristischen Methodenlehre. Der Vorwurf gegen die Verfassungshistoriker der nachantiken Perioden, daß sie mit der Methodenlehre auch sachfremde Begriffe übernommen hätten - seien es solche, die ursprünglich der römischen Privatrechtslehre angehörten, seien es auch solche, die der geltenden Staatsrechtslehre entstammten - , trifft Mommsen nämlich nicht. Zwar kennt auch er selbstverständlich nur j u r i s t i s c h e Begriffe, aber sie sind doch alle den Quellen zum staatlichen Leben Roms selbst entnommen. Er handelt von auspicium, imperium, potestas, coercitio etc. und verläßt mit seiner Begrifflichkeit nirgendwo den von den Römern selbst benutzten terminologischen Rahmen. Wenn er Begriffe des römischen Privatrechts heranzieht - und er tut dies, wie gesagt, unzählige Male - , so haben sie doch keine Funktion innerhalb des Systems. Sie sind lediglich als Vergleich herangezogen, um den Begriffen 1

Vgl. aus dem Vorwort zum 1. Bande der 1. Auflage des Staatsrechts S. I X (VIII f. der 3. Aufl.): „Wie in der Behandlung des Privatrechts der rationelle Fortschritt sich darin darstellt, daß neben und vor den einzelnen Contracten (später: Rechtsverhältnissen) die Grundbegriffe systematische Darstellung gefunden haben, so wird auch das Staatsrecht sich erst dann einigermaßen ebenbürtig neben das - jetzt allerdings in der Forschung und der Darlegung ihm eben so weit wie in der Überlieferung voranstehende - Privatrecht stellen dürfen, wenn, wie dort der Begriff der Obligation als primärer steht über Kauf und Miethe, so hier Consulat und Dictatur erwogen werden als Modificationen des Grundbegriffs der Magistratur."

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

des Staatsrechts die Schärfe zu verleihen, die das begriffslogische Staatsrecht verlangt und die von vornherein in ihnen nicht angelegt i s t 2 , was allerdings M o m m s e n natürlicherweise nicht zugegeben hätte, da er die Funktion des Vergleichs mit privatrechtlichen Begriffen gerade darin sah, daß die den staatsrechtlichen Begriffen seiner Meinung nach tatsächlich innewohnende begriffliche Klarheit so hervorgeholt und ihre ratio zur Anschauung gebracht w e r d e 3 . - I n den wenigen Fällen ferner, in denen M o m m s e n eine privatrechtliche Vorstellung übernommen und in das System auch wirklich integriert hat, besteht tatsächlich eine Gemeinsamkeit zwischen öffentlichem und privatem römischen Recht. So ist etwa der Begriff des ,Privaten' selbst und seine scharfe Trennung von dem ,öffentlichen' etwas spezifisch R ö m i s c h e s 4 , und wenn M o m m s e n diese Vorstellung wie selbstverständlich seiner Darstellung unterstellen konnte (und mußte), zeigt sich gerade hierin seine gegenüber den Verfassungshistorikern des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staates grundsätzlich verschiedene Ausgangssituation. D e n n wenn die genannten Verfassungshistoriker des 1 9 . Jahrhunderts die begriffliche Tren2 Von den zahlreichen Vergleichen seien nur einige Beispiele angeführt. Es werden verglichen: Magistratur - Volk mit Herr - Dienerschaft (Staatsr. I I I 301); Vertretung des nicht handlungsfähigen Volkes durch die Magistratur mit der Vertretung des nicht handlungsfähigen Mündels durch den Vormund (Abriß 81; vgl. Staatsr. I I I 302); auctoritas patrum - Volk bzw. Volksbeschluß mit Vormundschaft - Mündel (Abriß 325; vgl. Staatsr. I I I 1038 f.); Einschränkung der consularisdien Kompetenz - consularisches Imperium mit Servituten - Eigentum (Abriß 160); ursprüngliche Einheit des höchsten Kommandos mit patria polestas/tutela (Abriß 118); das .titulare' Imperium der Statthalter (d.i. die ,Kommandogewalt' zwischen der Abgabe des Oberbefehls in der Provinz und dem Betreten der Hauptstadt) mit der nuda proprietas (Ges. Sehr. IV 124); die gemeinsame Rogation, aber das getrennte Dekretierungs- und Kommandorecht der Consuln mit der Correalobligation, aber dem Vorhandensein von jeweils nur einem Kläger, Beklagten und Richter (Ges. Sehr. I V 93 Anm. 2); der Ausschluß der Selbstverabschiedung des Feldherrn, Offiziers oder Soldaten mit dem Ausschluß der Niederlegung der patria potestas durch den pater familias (Ges. Sehr. I V 116). 3 Vgl. aus dem Vorwort des Abrisses: „Die einzelnen Institute sind historisch entstanden, also irrationell; man muß ein jedes sowohl in seiner Selbständigkeit zusammenfassen wie auch nach seinen oft sehr mannichfaltigen politischen Functionen auseinanderlegen." Geschichte ist irrational, die ratio staatlicher Ordnung liegt allein in ihrer begrifflich-systematischen Anlage, für deren Hervorbringung die Begriffe des Privatrechts eine Art Geburtshelfer sind. Die aus dem zitierten Satz sprechende Abneigung gegen entwicklungsgeschichtliche Analyse, die hier in der systematischen Denkungsart begründet ist, hat Mommsen anderswo auch mit dem Mangel an Quellen für ein derartiges Verfahren erklärt (vgl. die Bemerkung zu der Arbeit an seinem Strafrecht in einem bei Wucher a. O. 132 veröffentlichten Brief an Wilamowitz v. J . 1883). * Vgl. auch G. Rotondi, Osservazioni sulla legislazione comiziale romana di diritto privato, II Filangieri 9/10, 1910, 1 ff.

2. Begriffe und Systematik im .Römischen Staatsredit'

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nung von öffentlich' und ,privat' ihren Darstellungen zugrunde legten, weil die der Pandektistik verpflichtete Begriffsjurisprudenz ihnen das nahelegte, nahmen sie ja mit der Methode antike Begriffe in nachantike Verhältnisse hinein und richteten damit jenes Unheil an, das zur Ablehnung ihrer Gesamtkonzeption geführt hat. Und dieses Beispiel, das die verschiedene Ausgangssituation eines römischen und mittelalterlichen/frühneuzeidichen Staatsrechts unter methodisch einheitlich verfahrenden Verfassungshistorikern demonstriert, erklärt auch, warum das ,Römische Staatsrecht' Mommsens von manchen grundsätzlichen Fehlern frei blieb und bei aller Kritik ein auch heute noch benutztes Handbuch sein kann. Bei dieser Feststellung habe ich zunächst nur den verwendeten Begriffsapparat des Systems im Auge, um das noch einmal deutlich hervorzuheben, nicht den juristisch-dogmatischen Ausgangspunkt, den wir heute selbstverständlich auch als .Fehlerquelle' ansehen 5 . Bei der Übertragung einer privatrechtlichen Methode auf das Staatsrecht konnte Mommsen als Romanist der Historischen Schule gar nicht in den schweren Irrtum vieler Mediävisten verfallen, daß er die der römischen Privatrechtsschule entstammenden Begriffe als absolute Größen, als ,reine und zeitlose Rechtsbegriffe' hinnahm und benutzte. Wo sich die Begriffe der zunehmend ,im System' denkenden Pandektistik nicht mit den Verhältnissen des römischen Staatslebens deckten, mußte schon das zeitliche Nebeneinander von römischem Privatrecht und römischem Staatsrecht ihn vor einer Identifikation privatrechtlicher Begriffe mit staatsrechtlichen Vorstellungen zurückhalten, während etwa der Mediävist sie zugleich mit der Methode, ja bisweilen als ein integriertes Stück der Methode übernahm. Doch benötigte Mommsen gewiß nicht erst den besonderen Hinweis auf das Nebeneinander von Privatrecht und Staatsrecht, um vor Irrtümern gefeit zu sein. Denn er war durch seine Stellung innerhalb der juristischen Schulen seiner Zeit wie durch seine eigene Einstellung zu dem Methodenstreit dieser Schulen von vornherein vor dem Irrtum geschützt, das begriffliche Gerüst eines Systems als absolute Größe hinzunehmen. Als Romanist wurzelte er zunächst in der Historischen Schule Savignys, mit der er durch den Savigny-Schüler Georg Christian Burchardi vertraut gemacht wurde. Größere Wirkung übte auf ihn während seiner Studienzeit Johann Friedrich Kierulff aus, der der Schule Savignys kritisch gegenüberstand und unter dem Einfluß Hegelianischen Denkens eine in der gesamten deutschen Rechtswissenschaft der Zeit sehr unabhängige Stellung einnahm 6 . War auch die Wir5 Zur Systematik vgl. u. S. 42 ff., zum juristischen Ausgangspunkt der Lehre S. 49 ff. 6 Zu dem juristischen Studium Mommsens und zu seinen Lehrern vgl. Heuß a. O.

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

kung Kierulffs auf die Entwicklung der Jurisprudenz nicht übermäßig groß, weil seine Rechtstheorie ein mit dem nationalen Rechtsgeist übereinstimmendes positives Recht voraussetzte, das es zu seiner Zeit nicht gab, fand doch Mommsen in ihm einen Mann, der seinen kritischen und den praktischen Erfordernissen des Rechts zugewandten Geist stärkte. So dürfte er nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lehre Kierulffs schon bald die Diskrepanz zwischen der Absicht und der Durchführung des Savignyschen Programms und überhaupt die Fragwürdigkeit einer geschichtlichen' Rechtswissenschaft, die den doktrinären Anhänger schnell in einen Konflikt mit der Wirklichkeit bringen mußte, erkannt haben. Mommsen vollzog daher die Wendung der Schule zur Systematik mit, die bei Savigny (vor allem in seinem Spätwerk) bereits angelegt war und durch Puchta auf ihren Höhepunkt geführt wurde. Die Konsequenz aus der Systematisierung des Rechts und der Begriffsaxiomatik war die Herausdrängung der Rechtsgeschichte aus der Wissenschaft vom geltenden Recht, also eine - aus dem Scheitern des Savignyschen Ansatzes entstandene - Umkehrung des Ausgangspunktes der Historischen Schule. Auch das hat Mommsen bejaht 7 , und insofern ist er ganz Systematiker und Anhänger jener modernen, zukunftsträchtigen Richtung geworden, für die „das System seine eigene Wahrheit (ist)" 8. Und doch führt von Mommsen nicht der Weg zur ,reinen' begriffslogischen Methode, die sich gegenüber ihrem Gegenstand verselbständigte und schließlich zur Herrschaft der Methode über das Recht geführt hat. Hatte er im Hinblick auf das geltende Recht seiner Zeit gegenüber den Anhängern Savignys energisch den Standpunkt vertreten, alles Unbrauchbare und Veraltete des romanistischen Traditionsgutes auszuscheiden 9 , so trat er ebenso energisch dafür ein, das von dem Schutt der Vergangenheit befreite Rechtsgut aus seiner Überlieferungsgeschichte zu verstehen. Der historische Aspekt lieferte ihm sowohl Argumente für die weitere Verwendung einer tradierten Einrichtung, als auch half er, die Einrichtung in ihrer Verwendung richtig zu verstehen 10 . Rechtsgeschichte blieb für ihn daher durchaus ein Stück der 9 ff., 33 ff.; L . Wickert, Theodor Mommsen, Bd. I , 1959, 163 ff.; Landsberg-Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. I I I 1, 1910, 592 ff. (Kierulff) und vor allem K. Larenz, Festschrift zum 275-jährigen Bestehen der Christian-AlbrechtsUniversität Kiel, 1940, 116 ff. (Kierulff). 7 Vgl. seine Äußerungen in dem Vortrag ,Die Aufgabe der historischen Rechtswissenschaft' (1848), Ges. Sehr. I I I 588 und Reden und Aufsätze 204 (1885); vgl. auch Heuß a. O. 40. s Ges. Sehr. I I I 546 (aus einer Rezension d. J . 1845). 9 Ges. Sehr. I I I 573 f. (aus einer Rezension über ein Buch d. J . 1851 zum Obligationenrecht). 597 f. (aus: ,Die Bedeutung des römischen Rechts', Vortrag 1852). 10 „Es ist uns also die Aufgabe gestellt, aus jenem ungeheuren Material das Geschieht-

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Methode der Wissenschaft vom geltenden Recht. Und wie sehr auch die Entwicklung auf eine Absonderung der Rechtsgeschichte als selbständige und sich selbst genügende Sonderdisziplin hindrängte und Mommsen selbst sie auch durch seine praktische Einstellung zu dem Überlieferten förderte, ja sogar als Historiker des römischen Privatrechtes viel für die Ausbildung der Rechtsgeschichte als Sonderdisziplin getan hat, blieb sie ihm a u c h ein integrierter Teil der Zivilistik. Für Mommsen bedeutete darum der Sieg des ,enthistorisierten' Rechtssystems kein völliges Beiseitetreten der Geschichte. Geschichte und wissenschaftliches Recht blieben in ihm eine Einheit; er hat den historischen Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung nie ganz verlassen und blieb als Jurist und gerade auch wegen seines sehr unmittelbaren Verhältnisses zum praktischen Gebrauch des Rechts selbst dann noch Historiker, als er das System bejahte 1 1 . System und Geschichte waren zwei Seiten eines demselben Ziele zugewandten Ganzen. Sie umreißen seine Vorstellung vom wissenschaftlichen Recht, vom Zivilrecht zunächst, aber wie von jedem Recht so auch vom Staatsrecht. War ihm so von seiner geistigen Herkunft der juristische und dogmatisch-systematische Ansatz in seinem ,Römischen Staatsrecht' selbstverständlich, hielt ihn dieses sein Verständnis vom wissenschaftlichen' Recht davor zurück, bei der Übertragung der Methode auf die Staatsrechtslehre Begriffe zu präjudizieren, die nicht dem von ihm behandelten historischen Raum angehörten. So war Mommsen auch dagegen gefeit, Begriffe aus den staatsrechtlichen Vorstellungen seiner Zeit auf die römischen Verhältnisse zu übertragen. Den ,Staat' hat er von vornherein begrifflich nicht definiert und hat damit vermieden, seine Lehre mit einem den römischen Verhältnissen unangemessenen ,Oberbegriff' zu belasten. Wenn er einmal sagt, der populus sei der S t a a t n , hat das für seine Lehre nicht die geringste Bedeutung, sondern ist nur eine Verlegenheitsfloskel, welche die Definition gerade vermeiden soll. Anstelle von ,Staat' benutzt Mommsen meist das Wort ,Gemeinde', das in seiner Zeit gerade nicht ,Staat', sondern (als Stadtgemeinde) liehe ganz auszuscheiden, das praktische Civilrecht aber in ein systematisches Reditsgebäude zusammenzufassen, so daß jede einzelne Institution sowohl in ihrer durch historische Studien erforschten Individualität als im Einklänge mit dem ganzen Rechtssystem erscheint und dieses Rechtssystem also zugleich die Quintessenz der historischen Rechtsforschung und der methodische Ausdruck der gegenwärtigen Rechtsbegriffe sein wird" (aus: ,Die Aufgabe der historischen Rechtswissenschaft', Vortrag 1848, Ges. Sehr. I I I 587). 11 Vgl. Heuß a. O. 38 ff. Mommsen sah auch keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen der Historischen Schule und einer Rechtssystematik, die sich von dem Ballast historischen Gerumpels befreite. 12 Staatsr. I I I 3. 300.

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I. Kritik der Staatsrechtslehre von Theodor Mommsen

organisatorische Einheit oder (als Volksgemeinde) kulturelle Einheit meinte; nicht selten benutzt er auch das Wort ,Bürgerschaft', das auf die Gesamtheit der Personen zielt, die der Ordnung Roms angehören und desgleichen weder ein Rechtsbegriff ist noch,Staat' im modernen Sinne wiedergeben will. Beide Worte zeugen von seinem Bemühen, der Definition von ,Staat' aus dem Wege zu gehen. Das Wort ,Parlament', das Mommsen gelegentlich für den Senat verwendet 13 , hat ebenfalls nur illustrative Funktion, keinen spezifischen Stellenwert innerhalb des Systems. Das Wort soll nur manche Gemeinsamkeiten zwischen der Geschäftsordnung des Senats und modernen Parlamenten vergegenwärtigen, soll vielleicht auch in allgemeinerer Weise die Bedeutung dieser beiden Gremien nebeneinanderstellen; um eine Herübernahme des Begriffs in die römischen Verhältnisse geht es jedenfalls hier nicht. Einzig der Verwendung des Begriffs der .Souveränität' mag man innerhalb des Systems einigen Wert zumessen. Doch wurde o. S. 28 ff. gezeigt, daß dieser Begriff die eigentliche Darstellung des positiven Staatsrechts gar nicht berührt; er soll als reine Kategorie der systematischen Ordnung nur das Volk bzw. die Volksversammlung von dem Entwicklungsgedanken und also von der Kategorie der Zeit befreien und sie damit befähigen, zusammen mit der Magistratur die Basis des (zeitlosen) Systems zu bilden. Die Souveränität' ist also nicht positives Recht im Sinne des Systems, sondern sie macht nur eine der beiden positiven Grundelemente des Staatsrechts für das System funktionsfähig. Sie entspricht ihrer Funktion nach genau dem Postulat der .Einheit der Amtsgewalt' (Totalität des Imperiums) für das andere Grundelement des Staatsrechts, die selbst auch nicht positives Recht ist das ist das imperium als konkrete Gewalt, seine Bestandteile und seine Einschränkungen - , sondern lediglich die Magistratur zu ihrer systemgerechten Funktion befähigt. Insofern sind Souveränität' und .Totalität des Imperiums' nicht positive Elemente des römischen Staatsrechts, sondern gehören zum Vorverständnis des Staatsrechts als eines (zeitlosen) Systems. Selbstverständlich ruft dieses ,Vorverständnis' heute unsere Kritik herauf; jedoch richtet sie sich hier nicht gegen die verwendete Begrifflichkeit, sondern gegen die Systematisierung von Verfassungsgeschichte. Der letzte Gedanke führt zu einer weiteren Überlegung. Denn so sehr wir auch in dem Juristen Mommsen den Historiker sehen mögen, war er doch nicht nur darin Jurist der spezifischen Denkungsart seiner Zeit, daß er Staatslehre als Staatsrechtslehre begriff, sondern vor allem darin Jurist und 13 Z. B. Staatsr. III 965.1255; I I I 1034 wird der Senat auch wieder vom Parlament abgehoben.

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reiner ,Systematiker', daß er die juristische Methode des geltenden Rechts auf ein vergangenes Recht übertrug. Und das ist nun allerdings eine Tat, die auf das Konto Mommsens allein ging; sie trennte ihn nicht nur von dem Historiker, sondern sogar von der juristischen Methode, von der er ausgegangen war. Die Übertragung der Methode auf das Staatsrecht war allerdings schon kurz vor Mommsen erfolgt. Carl Friedrich v. Gerber bearbeitete jedoch den Staat seiner Zeit 14 , und er stand, als er die Methode Savignys und Puchtas für das geltende Staatsrecht (und das deutsche Privatrecht) verwandte, doch weniger weit entfernt von ihr als Mommsen. Denn mochte auch die juristisch-begriffliche Systematik einem staatlichen Gebilde unangemessener sein als dem Privatrecht, blieb doch dem Zivilisten wie dem Staatsrechtler der historische Ausgangspunkt und der Bezug auf die eigene Zeit gemeinsam, und insofern diese Bezüge auch dem Staatsrechtler die Antriebskraft lieferten und damit zu Korrektur und Anpassung drängten oder gar zwangen, stand auch er in einem ständigen Prozeß der Auseinandersetzung mit einer Kraft, die außerhalb des juristischen Konstruktionswillen lag, und war in dieser Problematik dem Zivilisten verbunden. Die Übertragung der Methode von dem geltenden auf das h i s t o r i s c h e (im Sinne von endgültig vergangenem, nicht mehr geltendem) Recht konnte hingegen nur der Systematiker machen, der die funktionale Bedeutung des historischen und praktischen Denkens für das Recht nicht mehr gelten lassen wollte und damit unter Absolutsetzung einer systematischen Dogmatik die Brücken, die zu der Entstehung und zu dem Zweck der Methode führten, hinter sich abgebrochen hatte. Und dieser Systematiker stand nun insofern nicht mehr innerhalb der juristischen Methode, als für sie das, was aufgegeben wurde, nicht einfach abstreifbare Zutat, sondern konstitutives Element war. Denn die Historische Schule und die von ihr ausgehende neue Rechtswissenschaft hatte sowohl den historischen Ansatz wie die Neigung zum System aus dem Bedürfnis nach Ordnung des g e l t e n d e n Rechtes empfangen und war wie in ihrem Ausgangspunkt — auch in ihrem methodischen Vorgehen und Fortschreiten immer abhängig von den Problemen des praktischen, geltenden Rechts. Jeder Jurist war unlöslich in diesen Sinnzusammenhang von historischer Reflexion und praktischem Bezug als den Konstituanten seines systematischen Ordnungswillens eingeschlossen. Wer diese Position verließ, um sich dem historischen, nicht mehr gültigen und auch keinen Anspruch auf Gültigkeit erhebenden Recht zuzuwenden, stand offenbar vor einer ganz anderen Situation, vor der sich uns heute weniger die Frage stellt, wie die i« Vgl. Wilhelm a. O. 88 ff.

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juristische Methode diesen Umständen anzupassen wäre, als die, ob dieser Schritt überhaupt möglich und nicht vielmehr die Methode von den besonderen Bedingungen ihrer Entstehung und ihres Zwecks abhängig war, mit anderen Worten, ob nicht das juristische System als Produkt der Methode, wenn überhaupt, dann nur als geltendes geschaffen werden konnte 15 . Der Zweck eines Rechtssystems ist ja zunächst der, seinem bestimmten Gegenstand (Pandektistik, deutsches Privatrecht, deutsches Staatsrecht) Geltung zu verschaffen. Das System wird darum auch im Hinbick auf die Zukunft g e s c h a f f e n , ist nicht etwa schon da und wird nicht als vorhandenes ,gefunden' (im Sinne von /vorgefunden'). Zwar entnimmt der Schöpfer des Systems der Gegenwart (und auch der Vergangenheit) des bestimmten Gegenstandes sein Material (das durchaus nicht nur positiver Rechtssatz ist, sondern auch praktisches Bedürfnis und Rechtsüberzeugung umfaßt), doch verlangt die Forderung nach Geltung die Adaptation des Materials an das (künftige) Sollen. Systematisierung von Recht entsteht daher aus dem Abwägen, Aussondern, kurz aus einer geistigen Auseinandersetzung mit dem Material (ein ,finden' im Sinne von ,erfinden'); sie ist eine p r o d u k t i v e Tätigkeit. System ist also immer gleichbedeutend mit Neubildung und enthält in dem Augenblick, in dem man es ,denkt', Produktivität. Letztere tritt nicht erst bei der Ordnung der Dinge innerhalb des Systems hinzu; der Gedanke und Begriff der Systematisierung selbst hat sie schon als konstitutives Element in sich. Mommsen hatte ja als praktisch denkender Zivilist genauso gedacht, und es bedeutete bei ihm etwa das „Ausscheiden des Veralteten" eben jene produktive, aus praktischem Bedürfnis geborene Leistung, die zum Rechtssystem führt. Die Produktivität ist aber nicht nur in dem Augenblick der Schaffung des systematischen Gebäudes gegeben. Denn das geltende Rechtssystem verlangt nicht nur im Augenblick der Entstehung, sondern auch in jedem Augenblick seiner Anwendung den ständigen Rapport zwischen seinen einzelnen Sätzen und seiner Wirksamkeit. Die Durchsetzung (das Postulat der Geltung) eines Rechtssatzes ist aber nicht einfach die mechanische Zusammenstellung von konkreten Sachverhalten mit Rechtssätzen, aus denen sich automatisch (d. h. ohne einen Denkprozeß) die Rechtsfolge ergibt, sondern ein komplizierter Vorgang, in dem die Auslegung und das Analogiedenken mit allen ihren notwendigen Voraussetzungen eine Rolle spielt und also produktive Tätigkeit ausgeübt wird 1 6 . 15 Vgl. Heuß a. O. 52 ff. 16 Vgl. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 19692, 222 S.

2 . Begriffe und Systematik im ,Römischen Staatsrecht*

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Dem historischen System aber fehlt jene Produktivität. Und selbst wenn wir einmal zugeben wollten, daß es angängig wäre, historisches Recht gleichsam auf einen Zeitpunkt zusammenzuziehen und von dorther die Geltung zu postulieren (denn Geltung benötigt ja den bestimmten Zeitpunkt), fehlt doch dem Historiker ganz offenbar die Möglichkeit, aus den Materialien der Vergangenheit ein geltendes System zu konstruieren. In der Tradition kann er ja nur .vorfinden', nicht ,erfinden', kann (und darf) er nicht produktiv werden (das kann er ja nur g e g e n die Tradition): Die Geltung eines Rechtssystems existiert zunächst einmal ganz unabhängig von seiner faktischen Anwendung, die allein wir in den Quellen finden können. Ein Rechtssystem kann gelten, auch wenn es ohne Reaktion der staatlichen Exekutive (Magistrat, Richter) übertreten wird: Es existiert neben oder über dem staatlichen Zwangsapparat und dem Bürgerverband. Der Rapport zwischen dem Rechtssystem, das gilt, und der Gerichtspraxis, die das Recht anwendet, ist also nicht einfach mechanisch (etwa durch den Gebotszwang gegeben); die Verknüpfung ist vielmehr etwas Ideales, eine Verpflichtung, ein Sollen. Der Historiker kann daher weder ein System mit dem Postulat der Geltung (für die Vergangenheit) noch seine Anwendung sich überhaupt vorstellen. Die Geschichte liefert zwar Daten für Rechtsinstitute bzw. Rechtssätze und auch Daten für deren Anwendung, und es läßt sich selbstverständlich zwischen diesen Daten auch die Geltung postulieren; aber die Vorstellung von Geltung stellt sich hier durch eine rein mechanische Verknüpfung der Daten ein. Das von dem historischen Betrachter konstruierte System hingegen will aus sich selbst - als System - Geltung schaffen und legt damit in sein historisches Objekt fortwährend alle jene Erfordernisse als Prämisse hinein, die die Anwendung geltenden Rechtes verlangen. Die historischen Daten werden so gleichsam überspielt, indem in sie vom System her unterschwellig Rechtsinterpretation, Rechtsüberzeugung, Rechtspraxis etc. hineingelegt werden. Obwohl kein Datum von der Auslegung der Norm handelt, werden alle trotzdem so behandelt, als ob das in ihnen erfüllt wäre. Die Daten werden auf diese Weise ständig .bearbeitet'; der Systematiker produziert damit Geschichte. Systematisierung von historischem Recht ist daher nicht nur problematisch, sondern einfach verkehrt. Wenn man das Wort nicht in dem strengen, juristischen Sinn nimmt, mag es angehen; aber dann meint es nur ein Ordnen und Zusammensetzen des Vorhandenen. So verstand es Mommsen nicht. Für ihn war das System die Wahrheit; es zeugte also aus sich, war sidi selbst genüge. Indem also Mommsen - ganz unbeschwert von solcher Problematik - die juristische Methode auf das historische Recht übertrug, mußte es sich von

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selbst ergeben, daß er dem System, dem als historischen jene Produktivität als Voraussetzung seiner selbst ermangelt, das Fehlende a priori unterstellte, d. h. in das System jene Produktivität hineinlegte, die es verlangte. Daß Mommsen darauf nicht verzichten konnte, ist heute jedem deutlich, der sein Staatsrecht als ein System im Sinne der damaligen Jurisprudenz erkannt hat. Die s c h ö p f e r i s c h e Leistung Mommsens ist auch offenbar; sie liegt in den apriorischen Prämissen (Souveränität; Totalität des Imperiums; Erstrekkung positiven Rechtes, das nur in einem beschränkten Zeitraum Gültigkeit hatte, auf das System, wie z.B. potestas), die keine andere Funktion haben als die, den Begriff der G e l t u n g zu erfüllen, auf den das System nicht verzididiten kann. Diese Prämissen, die der Geltung genügen sollen, sind aber von ganz besonderer Art. Denn da das System des ,Römischen Staatsrechts' nicht auf ein zukünftiges Sollen hin geschaffen, sondern sein Sollen auf einen längeren Zeitraum der Vergangenheit gerichtet ist, wird das Postulat der künftigen Geltung zu dem der (für den betrachteten Zeitraum, der als Z e i traum jedoch gerade durch das System eliminiert wird) d a u e r n d e n Geltung. Alle geistige Produktivität, die der moderne Jurist für die Wirksamkeit und die Anwendung seines Systems im Hinblick auf künftige Geltung aufwendet, ist in dem historischen System Mommsens also auf die Dauer der Geltung gerichtet. Wenn ich ,Dauer der Geltung' sage, ist das jedoch nicht ganz genau. Denn insofern das System gerade die Zeit eliminieren und punktuell verstanden sein will, ist,Dauer' hier eigentlich keine Kategorie der Zeit. Es ist vielmehr so, daß in dem Begriff der Geltung im vorhinein die Kategorie der Dauer als einer bestimmbaren, endlichen Zeit mitgedacht ist. ,Dauer der Geltung' meint also Geltung im Sinne des historischen Systems. Durch die Vorstellung von Geltung als einer apriorisch dauernden ist die Zeit aufgehoben und gleichzeitig im vorhinein jener Rapport zwischen dem Rechtssatz und dem Gegenstand seiner Anwendung, zwischen Sollen und Sein, der in der (künftigen) Zeit vor sich geht, aufgehoben. Geltung meint hier kein Sollen (das benötigt die Kategorie der Zeit), sondern ein Sein. Und durch diese Umstrukturierung eines künftigen Sollens zu einem dauernden Sein hat das historische Rechtssystem den Charakter des Gewesen-Seins und damit die dem historischen Gegenstand angemessene Form. In diesem Aggregatzustand ist die Problematik der Geltung des Systems ausgeschaltet. Wie dies durch das besondere Verständnis des Begriffs der Geltung erreicht wurde, liegt auch die eigentliche schöpferische' (in dem Sinne von .gegen die Geschichte gerichtete') Tätigkeit Mommsens also hier, und in der Tat tragen seine apriorischen Prämissen jenen aus der Aporie der Geltung geborenen Wesenszug.

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Die Überlegung zeigt, daß das historische System den Begrifi der Geltung nicht enthalten kann. Der Versuch ihrer Ersetzung durch Prämissen muß zur falschen Konstruktion führen, weil die Prämissen produktive Leistung enthalten, das Vergangene aber als Vergangenes aufgehört hat, produktiv zu sein. Doch ist immerhin bemerkenswert, daß Mommsen entsprechende Prämissen verhältnismäßig sparsam einsetzte und also die eigene Produktivität auf ein Mindestmaß beschränkte. Vor allem hat er sich nicht dazu verleiten lassen, durch Einführung sachfremder, moderner Begriffe die apriorischen Prämissen zu stützen. Die Kritik geht daher nicht gegen die Begriffe, sondern gegen die dogmatische Systematisierung selbst, von der aus dann allerdings die Prämissen in die verwendeten (an sich der Sache angemessenen) Begriffe hineinstrahlen, sie von der Zeitgebundenheit lösen und für das System gültig machen. Und wenn auch der historische Exkurs, den Mommsen überall einflocht, immer wieder etwas von der Gültigkeit (im Sinne des Systems) zurücknimmt, gilt doch - in diesem eingeschränkten Sinne - die grundsätzliche Kritik, die den Gedanken der dogmatischen Systematisierung von Verfassungsgeschichte zurückweist. Es mag vielleicht verwunderlich erscheinen, daß Mommsen die Problematik der Systematisierung gar nicht aufging. Zur Erklärung seines Irrtums könnte man anführen, daß die Begriffs)urisprudenz, deren Grundlagen Mommsen bei aller praktischen Einstellung gegenüber den Fragen des geltenden Zivilrechts teilte, ihm durch ihr sehr bestimmtes Verständnis von ,Geltung' entgegenkam. Für die juristische Methodenlehre nämlich war das geltende Rechtssystem die „juristische Wiedergeburt des früheren Rechts", und die produktive Tätigkeit des Juristen lag eben darin, das schon Vorhandene zu ,finden', oder, wie man sagte, es aus der ,Natur der Sache zu deduzieren' 17 . Das ,Finden' ist hier ein ,Vorfinden' (nicht ein ,Erfinden'), und somit scheint sich die Position des Systematikers des geltenden Rechts der des systematisierenden Historikers zu nähern; denn bei diesem Standpunkt ließe sich der Begriff der Geltung u. U. auch für den vergangenen Zeitpunkt postulieren, weil Produktivität als ,Deduktion aus der Natur der Sache' auch für ihn denkbar sein könnte. Dem ist aber nicht so, und Mommsen wird also durch diese Überlegung nicht gestützt. Denn - einmal abgesehen davon, ob die Begriffsjurisprudenz wirklich das tat, was hier behauptet wird — es ist zunächst fraglich, ob solche Deduktionen für jede Zeit und für jeden Ort gelten und nicht vielmehr für die Anwendung dieser 17 Vgl. den programmatischen Aufsatz Jherings zu seiner neuen Zeitschrift (zitiert o. S. 20 Anm. 3 ) , besonders 8 ff., 23 f.

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Methode bestimmte historische Entwicklungsstadien vorausgesetzt werden. Zum anderen bezieht sich der Gedanke allein auf das Privatrecht, das, wie die Rechtsanalogie zeigt, allgemeinen Regeln zugänglicher ist als andere Bereiche. Überträgt man den Gedanken auf das Staatsrecht, gilt er ferner (nach der hinter ihm stehenden Überzeugung der allgemeinen Gültigkeit) nur für die staatliche Ordnung schlechthin, nicht auch für den bestimmten Staat: Für den bestimmten Staat gibt es solche Fundamente, die die Begriffsjuristen für das Privatrecht zu sehen meinten, nicht: Die ,Natur der Sache' würde hier in dem konkreten, durch die historische Situation begrenzten Gegenstand liegen und von außen keine Unterstützung für die Gültigkeit einer Systematisie • rung hinzukommen. Es hat sich ergeben, daß eine Kritik am ,Römischen Staatsrecht' sich nicht gegen die hier verwendeten Begriffe wenden darf, sondern nur gegen den Gedanken der Systematisierung des historischen Rechts und nur insofern auch gegen die Begriffe, als sie systematisiert (systemgerecht bearbeitet) worden sind. Man mag gegenüber der Kritik am System einwenden, daß Systematisierung nicht nur eine negative, sondern u. U. auch eine positive Seite habe, und könnte zugunsten des Systems des ,Römischen Staatsrechts' anführen, daß die von Mommsen behandelten tausend Jahre römischer Verfassungsgeschichte im ganzen gesehen stationärer abliefen als etwa der gleiche Zeitraum in der Mediävistik. Doch trifft letzteres nur insofern zu, als für den modernen Betrachter Rom sehr viel leichter überschaubar ist als die Fülle mittelalterlicher Erscheinungen; der Wandel war innerhalb des einheitlicheren Rahmens in Rom nicht sehr viel weniger groß. Trotzdem darf man die Erkenntnismöglichkeiten eines Systems nicht einfach abstreiten. Es läßt sich hierzu gewiß soviel sagen, daß der Erkenntniswert eines Systems um so größer ist, je weniger doktrinär es ist, und daß also ein mit wenigen systematischen Prämissen belastetes System, das in einem beschränkten zeitlichen Rahmen Zusammengehöriges ordnet und analysiert, durchaus (als System) etwas leisten kann. Zwar gilt nun für Mommsen diese undoktrinäre Vorstellung von Systematik nicht. Doch wenn man bedenkt, daß seine Art der Systematisierung jedenfalls die Begriffe selbst nicht oder nur sehr eingeschränkt erfaßt hat und deswegen die Fehlerquellen leicht erkannt und bei Berechnung des bleibenden Wertes berücksichtigt werden können, wird man sdhon von vornherein seinem System den Erkenntnis wert nicht absprechen können. Tatsächlich kann man sogar sagen, daß sich in dem Werk Mommsens vielfach der Satz bewahrheitet hat, daß die Fesselung historischer Erscheinungen in einem System oft erst das Verständnis für die Geschichte

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öffnet. Das sei jedoch mit aller Zurückhaltung gegenüber vielen Aussagen Mommsens, insbesondere natürlich gegenüber den mit jenen oben herausgearbeiteten Prämissen stärker belasteten Aussagen gesagt. Aber man muß auch bedenken, wie denn die Ergebnisse der verfassungsgeschichtlichen Forschung vor Mommsen beschaffen waren. Man würde schnell erkennen, daß wir heute mit vielen Daten des römischen Staatsrechts umgehen, die doch erst durch Mommsen zu einem Datum wurden. Indem Mommsen nämlich den rechtlichen Erscheinungen staatlichen Lebens die Schärfe juristischer Begrifflichkeit gab, legte er ihre innere Struktur vielfach erst offen, und indem er sie durch das System als konstitutives Element der römischen res publica verstand, enthüllte er die Bedeutung der Kontinuität in dem Entwicklungsgang der staatlichen Formen. Zahllose Belege ließen sich anführen. Es sei hier nur darauf verwiesen, daß ein wichtiger Wesenszug des frühen Kaisertums, nämlich seine rechtliche Begründung, in seiner Bedeutung und Funktion durch Mommsen erst entdeckt wurde. Wenn heute vielfach gerade kritisiert wird, daß Mommsen den Principat in sein System hineinnahm, sollte man nicht vergessen, daß der dadurch erzeugte strenge Bezug des Principáis auf die Republik erst die Bedeutung verständlich macht, die dieser Bezug in der Öffentlichkeit des Kaiserreiches tatsächlich hatte. Selbst dort, wo wir die Konstruktion Mommsens heute mit kritischen Augen sehen, gehen wir meist von seinen Definitionen aus, da sie, wenn nicht zur endgültigen Klärung, so doch zu dem Ausgangspunkt einer neuen Untersuchung zu führen vermögen. Wenn man das Für und Wider bei der Analyse des Mommsenschen Staatsrechts abwägt, darf eine Kritik heute sich jedoch nicht damit bescheiden, das Werk lediglich innerhalb des Rahmens einer Staatsrechtslehre zu untersuchen, und also nur die juristischen Begriffe und die Systematik kritisch beleuchten. Sie wird vielmehr in dem methodischen Ausgangspunkt Mommsens — neben der begriffslogischen Systematisierung - vor allem auch die Vorstellung verwerfen, daß der Staat sich in seinem Staats r e c h t erschöpfend darstellen ließe. Niemand wird die Bedeutung des Rechts für den Staat leugnen, daneben aber doch den soziologischen Hintergrund, die Ökonomie und die Wesenszüge der Politik darstellen wollen. Für Mommsen sind diese Bereiche gar nicht existent. Die Begriffe auctoritas und clientela etwa, ohne die Form und Leben des römischen Staates unverständlich bleiben müssen, haben innerhalb des Mommsenschen Systems keine Funktion. Die auctoritas des Senats zitiert Mommsen nur, um sie wegen ihrer rechtlich unbestimmten Natur schnell wieder beiseite zu legen 18 , und die Clientel behandelt er ledig18

Staatsr. III 1033. Auctoritas gibt es innerhalb des Systems nur in ihrer jurifizierten

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lieh soweit er sie als „Rechtsbegriff" mit konkretem, privatrechtlichem Bezug fassen kann, nicht als politische Clientel; mit dem Aufgehen der rechtlich Hörigen (Plebejer) in die „Bürgerschaft" ist daher für Mommsen die Clientel allenfalls noch „formell", d. h. mit ihren privatrechtlichen Rudimenten existent, doch für das Staatsrecht bedeutungslos 19 . Es ist nicht allein das System, sondern gerade auch sein Rechtscharakter, der den Eindruck von Starrheit und Unbeweglichkeit des Ganzen hervorruft. Sowohl die Institutionen wie auch die unter ihnen stehenden Rechtsbegriffe, wie etwa Amtsgewalt, Kollegialität etc., vermitteln selbst dann noch den Eindruck von Ruhe und Stillstand, wenn man die Zeitlosigkeit der Systematik einmal beiseite zu lassen sucht und sich die Ordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt als eine funktionierende denkt. Das staatliche Dasein erscheint in Instituten und Rechtsdefinitionen versachlicht, das staatliche L e b e n , d. h. die A k t i o n , spielt eine untergeordnete Rolle. Wie o. S. 24ff. bei der Charakterisierung des Mommsenschen Werkes gezeigt wurde, meldet sich die Kritik besonders dann, wenn man sich die staatliche Rechtsordnung in dem Wirken der einzelnen Teile zueinander und gegeneinander vorstellt. Wenn der juristische Begriff in das Zentrum der Staatsrechtslehre gestellt wird, wie es Mommsen und mit ihm die ganze Begriffsjurisprudenz tat, herrschen die Institute und Rechtssätze; ihre Verhältnisse zueinander, mit anderen Worten: das Funktionieren der Ordnung hat sich nach ihnen zu richten. Die praktische Handhabung der zugrundeliegenden Institute und Rechtssätze ist Mommsen wenig interessant; sie ist, wie er einmal sagt, selbst dann uninteressant, wenn sich (nach Ausweis der Quellen) die Praxis kontinuierlich gegen den Sinn der Institute kehrte; solche Mißverhältnisse gehören „mehr der Geschichte an als dem Staatsrecht" 20 . Es kommt hier, Form als auetoritas patrum und auetoritas senatus (der durch Intercession kassierte Senatsbeschluß); vgl. o. S. 28. Es ist bezeichnend, daß Mommsen die begriffliche Definition des kassierten Senatsbeschlusses als auetoritas nicht von jener „verschwommenen" und rechtlich unbestimmten auetoritas senatus ableiten möchte, sondern von der juristisch relevanten auetoritas patrum (Staatsr. I I I 998): Der offensichtlich .formale* Charakter des kassierten Senatsbeschlusses durfte seine formale Relevanz nicht aus der rechtlich indifferenten allgemeinen auetoritas senatus ableiten, i ' Vgl. Staatsr. I I I 54 ff., besonders 75 ff.; Abriß 15 ff., besonders 20 f. 2 0 Staatsr. I I 3 308 im Zusammenhang mit dem Gebrauch der tribunizischen Intercession. Hier steht auch der ebenso seltsame wie für Mommsen charakteristische Satz: „Diese seltsame (sc. die tribunizische Gewalt), nicht aus dem praktischen Bedürfniss, sondern aus politischer Tendenz hervorgegangene, jeder positiven Competenz entbehrende und bloss zum Verneinen geschaffene Institution konnte je nach Umständen jeder Partei zum Werkzeug dienen und hat nach der Reihe allen und gegen alle gedient". Politik ist eben kein Thema für das Staatsrecht, und die praktischen Be-

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wie man sieht, nicht der Gedanke, daß das mannigfache und wechselnde Zusammenspiel der Institute ein wesentliches, ja entscheidendes Charakteristikum staatlicher Ordnung sein kann. Da nicht die Praxis, die Aktion, im Mittelpunkt steht, spielen auch diejenigen, die die Aktion tragen, die Personen und Personengruppen, eine untergeordnete Rolle. Für Mommsens Staatsrecht - wie für jede rechtspositivistische Staatslehre - ist zunächst der Rechtsbegriff da, der Personenwille tritt erst sekundär hinzu. Die Berechtigung der Kritik an einer einseitig r e c h t s positivistischen Staatsauffassung bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wenn wir Mommsen darum hier nicht mehr folgen können, dürfen wir allerdings jene juristische Grundkonzeption seines Staatsrechts nicht einfach mit der Bemerkung abtun, daß das eben die Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts sei, die ihre Staatsanschauung dem historischen Gegenstand aufoktroyiert habe. Das mag man manchen Verfassungstheoretikern der Mediävistik vorwerfen, nicht aber Mommsen. Denn so gewiß Mommsens Staatsrecht der Begriffsjurisprudenz zuzurechnen ist, ist doch seine rechtspositivistische Struktur nicht allein und vielleicht nicht einmal vornehmlich in ihr, sondern jedenfalls in gewissen Grenzen schon im römischen Staat selbst oder doch in einer bestimmten Periode dieses Staates begründet. Die folgenden Ausführungen, die auch diesen Gedanken erhellen sollen, dienen selbstverständlich nicht der Rechtfertigung einer juristischen Lehre vom römischen Staat oder gar einer begriffslogischen Systematik. Sie sollen lediglich zeigen, daß die rechtspositivistische Staatsanschauung Mommsens zwar nicht auf die einzig mögliche, aber immerhin auf e i n e mögliche Denkungsart zurückgeht, die - in gewissen zeitlichen und sachlichen Grenzen - die Römer selbst von ihrer res publica hatten 21 , und daß folglich auch von hierher betrachtet die Darstellung Mommsens in stärkerem Maße als etwa die mediävistischen Verfassungsgeschichten seiner Zeit ein Stück römischer Wirklichkeit wiedergibt.

dürfnisse haben keinen Zusammenhang mit ihr, sondern ergeben sich von selbst aus dem System der Rechtsbegriffe. 21 S. u. S. 396 ff.

II. D E R B E G R I F F D E R

LEX

1. Historische Bedingtheit antiker und moderner Interpretationen zum Gesetzesbegriff In unseren Betrachtungen, die sich mit dem römischen Volksbeschluß befassen, meint lex ohne besonderen Zusatz natürlich lex publica bzw. rogata. Lex publica ist jedoch nicht die einzige Form von lex, die die Römer kannten, und es wird gleich darauf zurückzukommen sein, daß wir die lex publica nicht gänzlich unabhängig von dem betrachten können, was lex ganz allgemein bedeutete. Doch bevor das geschieht, soll zunächst auf die besonderen Schwierigkeiten hingewiesen werden, die sich einer historischen Untersuchung der lex und insbesondere der lex publica in den Weg stellen. Denn lex publica bzw. ihre moderne Übersetzung (Gesetz, law, loi, legge usw.) sind als Begriffe abhängig von der jeweiligen Situation, in der sie verwendet werden; lex und Gesetz sind keine Begriffe, die sich einfach in Zeit und Raum versetzen ließen, ohne dabei ihre Bedeutung zu wandeln. Wie für den Begriff ör|u.ov.Qcma bzw. dessen Übersetzungen gilt auch für lex/Gesetz, daß deren Anwendung durch die jeweilige historische Umwelt bedingt ist. Und der Historiker hat dabei nicht nur zu berücksichtigen, daß der moderne Begriff des Gesetzes etwas anderes meinen kann als der antike Begriff lex {publica), sondern daß u . U . auch schon der antike Benutzer des Wortes zu den verschiedenen Zeiten Verschiedenes mit dem Begriff ausgedrückt hat. Dazu zunächst noch einige ausführende Bemerkungen. Unsere antiken Quellen zur lex publica entstammen größtenteils der letzten Phase der Republik, nämlich der sogenannten Revolutionszeit, und hierin liegt auch das eigentliche Problem einer Darstellung des römischen Gesetzes wie überhaupt des römischen Staates, die die gesamte Entwicklungsgeschichte überblicken will. Denn die Geschichte der ersten vier Jahrhunderte der Republik erscheint uns in der Darstellung und in dem Verständnis, das die Spätzeit von ihr hatte. Da zudem die römische Literatur erst in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts einsetzt und es also überhaupt erst seitdem eine einigermaßen verläßliche Überlieferung gibt, von der die späteren, uns erhaltenen Schriftsteller zehren konnten, ist vor allem die Frühzeit auf weite

i. Historische Bedingtheit des GesetzesbegrifEs

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Strecken eine Konstruktion der Spätphase: Das let2te Jahrhundert der Republik, aus dem unser Wissen über die Frühzeit fast ausschließlich stammt, ist aber eine Zeit der Staatskrise. Da die Republik eine aristokratische Ordnung war, ist die Krise vor allem auch eine der Aristokratie. Die Ansichten über die res publica und ihre verschiedenen Einrichtungen haben sich gerade unter dem Eindruck der Not und Bedrängnis dieser Zeit in besonderer Weise gewandelt, und die Vorstellungen dieses Jahrhunderts über den Begriff und die Bedeutung des Gesetzes spielen dabei eine hervorragende Rolle. Doch gilt es nicht nur, sie herauszuschälen, sondern auch die Entwicklung aufzuzeigen, die dorthin führte. Die Schwierigkeit, daß gerade die unter dem Eindruck jener Krise und daher in dem Wandel der staatspolitischen Anschauungen stehende Zeit der späten Republik uns auch über die ältere Zeit informiert und zugleich mit der Information das Bild der frühen Perioden in ihrem Sinne färbt, macht eine Darlegung der Entwicklungsgeschichte des Gesetzesbegriffs zwar nicht völlig unmöglich, erlaubt jedoch nur eine grobe Skizzierung ihres Umrisses. Wenn wir uns daher davor hüten müssen, das, was der Begriff der lex publica in der spätrepublikanischen Zeit beinhaltete, ohne weiteres in die frühe Zeit der römischen res publica zu übertragen, haben wir uns aber ebenso vorzusehen, unsere h e u t i g e Vorstellung von dem, was Volksgesetz/ Gesetz bedeutet, einfach mit dem Begriff der lex publica zu identifizieren. In den modernen Arbeiten zum römischen Staat ist jedoch nicht immer die Differenz, die die Begriffsgeschichte eines Wortes und hier insbesondere des Wortes ,Gesetz' ausweist, berücksichtigt worden. Denn gehen die verschiedenen modernen Behandlungen der römischen Gesetze einmal über das Referieren des bloß Faktischen hinaus und versuchen sie, das Wesen des Gesetzes zu erfassen, ist dieser Versuch oft mit der Auffassung verquickt, die der Autor von dem Gesetz seiner Zeit hat. Die Ergebnisse sind um so verwirrender, als der Gesetzesbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts sehr uneinheitlich ist, und wenn wir nur die im deutschen Sprachraum darüber herrschenden Ansichten an uns vorüberziehen lassen, können wir nicht nur eine Entwicklung in dem modernen Verständnis des Gesetzes erkennen, sondern sehen oft zur gleichen Zeit verschiedene Ansichten einander bekämpfen Die Verbindungen zwischen der Moderne und der Antike sind, soweit sie den Gesetzesbegriff betreffen, sowohl sehr allgemeiner als auch spezieller Natur. Die bis auf Piaton zurückreichende Ansicht, daß das Gesetz die Herr1

Vgl. die zusammenfassende Darstellung von E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, 1958.

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II. Der Begriff der lex

schaft von Menschen über Menschen durch eine vernünftigere, auf jeden Fall von dem Belieben des einzelnen unabhängige und an Normen gebundene Herrschaft ablöst und es somit als Gehorsam heischende Macht in der Mitte des .Staates' steht 2 , hat — wie für die Moderne — so auch gewiß für die modernen Ansichten über die römische res publica eine wichtige Rolle gespielt. Hier ist weniger ein griechischer Gedanke auf römische Verhältnisse übertragen (was auch nicht ohne weiteres statthaft ist), sondern eher ein von den Griechen übernommener Gedanke der modernen Zeit in die Antike zurückübertragen worden. Und tatsächlich steckt in ihm so, wie er verwandt wird, weit weniger Griechisches oder Platonisches als Modernes. Es handelt sich nicht nur mehr einfach um eine bloße Reflexion auf den Vorzug des Gesetzes vor dem Befehl des allmächtigen Herrschers: Die aus dem Gedanken resultierende Pflicht zum Gesetzesgehorsam wird vielmehr hier zu der ethischen Verkleidung einer spezifisch juristischen Staatsauffassung der Neuzeit. Dürfen wir aber den Gehorsam gegenüber den Gesetzen, den etwa Cicero von den Römern fordert, analog zu modernem Denken als Beweis dafür nehmen, daß schon die römische res publica sich in einem Rechtsbegriff abstrahierte? Ist das Geseteesdenken der Römer mit heutigen Vorstellungen überhaupt vergleichbar? Noch deutlicher tritt die unheilvolle Interpretation römischer Begriffe durch moderne Gedanken in der Übertragung der Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff auf Rom hervor. Die von Paul Laband und Georg Jellinek begründete Lehre geht davon aus, daß das Gesetz im eigentlichen Sinne der „Ausspruch eines Rechtssatzes" ist. Gesetz und Rechtssatz sind also dasselbe. Da aber etliche Willensakte des Staates als Gesetz auftreten, ohne doch einen Rechtssatz zu enthalten, wie z. B. Haushaltspläne und Ermächtigungen, wurde zwischen materiellem und (nur) formellem Gesetz unterschieden 3. Da man den Rechtssatzbegriff im weiteren Verlauf der Diskussion als a l l g e m e i n e Rechtsregel konkretisierte 4 und ferner die Anordnungsbefugnis von Gesetzen auf die Volksvertretung beschränkte, wurde das Gesetz zur generellen, von der Volksvertretung (Legislative) aufgestellten Norm, der das formelle Gesetz, das keine Rechtssätze schafft, nur nebengeordnet ist. Die Diskussion und die Kritik, die diese Lehre hervorgebracht hat, gehört nicht hierher 5 . Nur soviel sei zu ihrem Verständnis vermerkt, 2 Pkt. leg. 715 c / d; vgl. H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, 277 ff. 3 Vgl. vor allem P. Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preuß. Verfassungs-Urkunde, 1871, 3 ff. Vgl. Böckenförde a. O. 259 ff. 5 Ich verweise auf die zitierte Arbeit von Böckenförde.

i. Historische Bedingtheit des Gesetzesbegriffs

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daß ihr zeitgebundener Bezug sehr klar schon in ihren geistigen Voraussetzungen zutage tritt. Die Lehre ist ohne die Vorstellung von der Gewaltenteilung, welche die gesetzgebende (und d. h. vor allem normsetzende) von der ausübenden (verwaltenden) Gewalt trennt, nicht denkbar. Es leuchtet daher ein, daß ihre Übertragung auf antike Verhältnisse, denen diese Gewaltenteilung unbekannt ist, ein von vornherein falscher Ansatz ist. Wenn man es doch getan hat 6 , liegt die Ursache nicht ausschließlich in der Unfähigkeit der Historiker, sich von den zeitgenössischen Staatslehren zu lösen, sondern in diesem Falle auch wohl in der juristischen Klarheit der Definition, die scheinbar ein Mittel zur Gliederung der diffusen römischen Gesetzesmasse bereitstellte. Es ließ sich so leicht als ,Kern' der Gesetzesmaterie das generelle Gesetz von der unübersehbaren Zahl .zeitbezogener' Gesetze scheiden, die nicht Rechtssätze aufstellten, sondern Aktionen politischer bzw. militärpolitischer Natur begründeten, wie Kriegserklärungen, Belohnungen einzelner, Dispensationen vom Gesetz usw. Gleichzeitig war so auch der Begriff des Gesetzes als ein Begriff der Rechtssphäre definiert und der unberechenbaren Sphäre des Politischen entzogen: Gesetz im engeren Sinne war damit auch in Rom Rechtssatz; das ,formelle' Gesetz lief nur nebenher7. Mommsen übernahm die Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff nicht. Aber wie er in seiner juristischen Methode denjenigen nahestand, die jene Lehre schufen, enthält seine Lehre vom Gesetz und von dem Verhältnis von Recht und Gesetz denselben Grundgedanken. Mommsen versteht lex zunächst ganz allgemein als Bindung, die als Begriff nicht nur Volksbeschluß, sondern auch die magistratische Satzung (lex data), die Vereinssatzung (lex 6 7

Vgl. etwa A. Pernice, Formelle Gesetze im römischen Recht, 1888, in: Festschrift für Rudolf Gneist. Pernice a. O. betrachtet die formellen Gesetze Roms als „Akte der souveränen Staatsgewalt eigener Art, . . . die man nicht unter eine bestimmte Schablone bringen kann." Weil sie „Souveränitätsakte" sind, mußten sie in der Form von Gesetzen auftreten (a. O. 8). Zu ihnen zählt er Begnadigung, Verleihung von Ehrungen und Auszeichnungen, Kriegserklärung, Dedition von Bürgern, Absetzung von Beamten, Errichtung und Übertragung außerordentlicher Gewalten, Dispensationsrecht und „Privilegienhoheit". Arrogatio und testamenti factio der Curiatcomitien nehmen bei ihm eine Sonderstellung ein. Es ist hier deutlich zu beobachten, wie der Jurist das ihm begrifflich Faßliche aussortiert und den überschießenden Rest, der nicht in eine Schablone (d. h. in einen juristischen Begriff) paßt, beiseite schiebt. Doch möchte der Jurist seine Meinung auch gern den Subjekten seines historischen Gegenstandes unterstellen. Darum ist P. überzeugt, daß die Römer selbst den formellen Charakter dieser Gesetzeskategorien gefühlt haben. Doch nicht nur das. Sie sollen auch das formelle Gesetz als so sehr „widerspruchsvoll" (und also den normativen Charakter der lex als so selbstverständlich) empfunden haben, daß sie das formelle Gesetz mehr und mehr in den Hintergrund drängten (S. 35). Ein Blick auf die Liste der spätrepublikanischen Gesetze lehrt, daß er irrt.

56

II. Der Begriff der lex

collegii) und den privatrechtlidien Kontrakt umfaßt habe. Die lex

publica

(rogata), also den Volksbeschluß, definiert er aus dieser normsetzenden Rolle des allgemeinen /ex-Begriffs ebenfalls als Satzung: „Lex und ius verhalten sich wie Satzung und Recht; dort wird mehr die Entstehung der Bindung und die Einzelbestimmung, hier mehr ihr Dasein und ihre Gesamtheit ins Auge gefaßt; sachlich fallen sie wesentlich zusammen und iubere, setzen, ist diejenige Tätigkeit, aus welcher die lex hervorgeht."

8

Recht

Der ,Rechts-

satzcharakter' des römischen Volksgesetzes steht also für Mommsen fest. Zwar sieht er natürlich, daß lex nicht ausschließlich die generelle Norm umfaßte 9 ; doch bleibt es unklar, ob er die stärker situationsgebundenen Gesetze unter den Rechtssatzbegriff subsumiert. In der Darstellung der Kompetenzen der Volksversammlungen wird das Problem nicht berührt, sondern einmal durch den Hinweis unterdrückt, daß die Definition der lex als generale

ius-

sum populi aut plebis mehr und mehr um sich gegriffen habe 1 0 , zum anderen überspielt durch die Konstruktion der „Gemeinde" (Volksversammlung) als „souveräner Staatsgewalt". Denn wie die „Gemeindesouveränität" als Voraussetzung der res publica für Mommsen feststeht und eine der Säulen seiner Staatsrechtslehre ist (vgl. o. S. 2 8 ff.), steht mit ihr das „Satzungsrecht der Comitien" am Anfang des römischen Staates 1 1 . 8 Staatsr. I I I 310. Am wenigsten überzeugt die etymologische Argumentation. Einmal nämlich ist die Etymologie ius-iubere ganz fragwürdig, die Sprachwissenschaft sieht heute keinen Zusammenhang mehr (vgl. Ernout/Meillet, Dict. etymol. de la langue Latine, 1959t s . v . ; Walde/Hofmann, Latein, etymol. Wörterbuch, 19383 s.v.). Und selbst wenn sie richtig wäre, bliebe sehr zweifelhaft, ob zu dem Zeitpunkt, als das Volk zum ersten Male über die Errichtung von Normen (ius) entscheiden konnte (nach der Tradition im fünften, tatsächlich, wie zu zeigen sein wird, kaum früher als im vierten Jahrhundert v. Chr.), den Römern die Verbindung von ius-iubere noch bewußt war. 9 Vgl. Staatsr. I I I 312 Anm. 1 sowie die Darstellung der einzelnen Kompetenzen der Volksversammlungen. 10 Staatsr. I I I 312 Anm. 1 nach der Definition des Ateius Capito bei Gell. 10, 20,2; der Widerspruch gegen die Definition Capitos stellte sich schon in der Antike ein, wie der zitierte Passus bei Gellius zeigt; vgl. dazu u. S. 215 Anm. 79. u Staatsr. I I I 313 f. 326 f. Trotz der Erkenntnis, daß das Satzungsrecht der Comitien erst von der Tradition in die Frühzeit projiziert wurde (a. O. 313), formuliert Mommsen seine These mit größter Schärfe: „Ohne das Satzungsrecht der Comitien kann die römische Staatsordnung überhaupt nicht gedacht werden" (a. O. 327). Einer genaueren Beschreibung dieses Satzungsrechts, die die Differenz zwischen Theorie und historischem Material aufdecken würde, geht er mit dem Hinweis aus dem Wege, daß „das souveräne Recht der Gemeinde in seiner Totalität keine Auseinandersetzung zuläßt" (a. O. 328). An die Stelle der Argumentation auf Grund der überlieferten Gesetzesmaterien tritt dann die Aufzählung der einzelnen Kompetenzen (a. O. 328 ff.).

1. Historische Bedingtheit des Gesetzesbegrifls

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Sowohl die Theorien über den Gesetzesbegriff der Moderne wie auch die Bemühungen von Rechtshistorikern, historischen Staaten einen einheitlichen Gesetzesbegrifi zu unterstellen (und diesen dann womöglich noch mit modernen Vorstellungen zu verbinden), führen bei kritischer Betrachtung zu der Erkenntnis, daß das Gesetz ganz offenbar keine Größe ist, die sich in Raum und Zeit einfach versetzen ließe, sondern vielmehr seine begriffliche Definition abhängig ist von den jeweiligen Verhältnissen, in denen es steht: Das Gesetz ist kein von Raum und Zeit unabhängiger Begriff wie der der Kontrolle; es ist durchaus ein historischer Begriff und als solcher an die besonderen Bedingungen seines Geltungsbereiches gebunden n . Allein diese Überlegung muß von vornherein jeden Versuch als gescheitert ansehen, der der römischen lex publica eine einheitliche und ein für allemal gültige Definition geben möchte, sei es durch die Gleichsetzung von Gesetz und Rechtssatz, sei es durch andere Konstruktionen, wie etwa jene (negative) Definition von V. Arangio-Ruiz, nach der das Gesetzesrecht in Rom dem Gewohnheitsrecht untergeordnet gewesen sei 1 3 . Als eine historische Größe läßt sich das, was die Römer unter lex pubica verstanden, nur aus einer Entwicklungsgeschichte des Begriffs erkennen, die aufzeigt, wie von einer ursprünglichen Wortbe12 Vgl. Böckenförde a. O. 332 ff. La règle de droit et la loi dans l'antiquité classique, Rariora 1946, 231 ff. (zuerst publiziert in: L'Égypte contemporaine 29, 1938, 17 ff.). Als Beweis führt A. die bekannte Gesetzesklausel ,si quid ius non esset rogarier, eius ea lege nihilum rogatum' und die Behauptung an, daß Gewohnheitsrecht durch Gesetzesrecht nicht aufgehoben werde. Erst die lex perfecta hätte mit ihrer Nichtigkeitserklärung der dem Gesetzestext entgegenstehenden Akte den Wandel gebracht. Die Ansicht Arangio-Ruiz' schließt ein, daß die Römer die verschiedenen Ebenen der Rechtsschöpfung in so scharfer Konkurrenz gesehen haben, daß man die eine gegen die andere (so doch dann auch das prätorische Recht gegen das ius civile) hätte ausspielen können, während ein wesentliches Geheimnis römischer Rechtsentwicklung gerade darin zu suchen ist, daß man jene Gegensätze nicht zum Tragen brachte. Wenn Cicero in seiner Rede für Caecina die zitierte Gesetzesklausel zur Entkräftung eines bestimmten Gesetzes ausspielte (was von A. breit herangezogen wird; es handelt sich um die lex Cornelia, die den Einwohnern von Volaterra das Bürgerrecht nahm), bedeutete das nicht die Deklassierung des Gesetzesrechtes gegenüber dem Gewohnheitsrecht, sondern die Deklassierung eines gegen die Grundordnung - sei sie nun als Gesetz formuliert oder nicht - gerichteten Gewaltaktes, den die Gesetzesmaschinerie sanktioniert hatte. Wenn das Gesetzesrecht das Gewohnheitsrecht tatsächlich nicht abänderte, so gewiß nicht darum, weil es geringeres Recht war, sondern weil die Römer Rechtsschöpfung als die Hervorbringuni; des (schon vorhandenen) richtigen Rechts ansahen und darum die Gewohnheit nicht durch eine etwa höher liegende Instanz beseitigt werden konnte. Die Reform des mos durch Gesetz war keine Idee, die man denken konnte, und A. konstruiert darum einen Gegensatz, der in Rom gar nicht bewußt war. Vgl. auch Käser, lus 69 f.; Frezza, Lex publica 70 ff. Über den Sinn des o. zitierten Satzes vgl. u. S. 339 ff.

13

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II. Der Begriff der lex

deutung über eine jahrhundertelange Entwicklung hinweg sich in der späten Republik mit dem Begriff der lex publica eine ganz bestimmte Vorstellungswelt verbindet, die angesichts der damaligen politischen Zerrissenheit und gerade wegen ihrer Verknüpfung mit den politischen Auseinandersetzungen zwar nicht die Klarheit juristischer Begriffsbestimmung widerspiegelt und sich wegen ihrer historischen Gebundenheit auch gegen jede abstrakte Bestimmung sträubt, die aber doch in wesentlichen Grundtendenzen von den Römern der Zeit anerkannt und gewürdigt war.

2 . Der Begriff der lex Das Hauptanliegen dieser Arbeit ist eine Analyse des römischen Volksgesetzes in der Zeit der Republik, aus der wir sicherere Nachrichten haben, also aus der Zeit von der Mitte des dritten Jahrhunderts bis zum Ausgang der Republik. Doch läßt sich eine angemessene Behandlung des Volksgesetzes dieser Zeit und seiner Stellung innerhalb der römischen res publica nicht völlig unabhängig von einer Antwort auf die Frage durchführen, was denn das römische Volksgesetz der Frühzeit gewesen ist und was lex in dieser frühen Zeit bedeutete. In der modernen Literatur gibt es allerdings zur Genüge Antworten auf diese Frage, doch scheinen sie mir meist darin zu irren, daß sie in ihren Interpretationen und Hypothesen allein von der lex publica ausgehen, diese also isoliert betrachten und nicht berücksichtigen, daß der Begriff der lex publica nicht völlig unabhängig von dem gesehen werden kann, was der Begriff lex ganz allgemein beinhaltete. Dagegen würde eine Besinnung auf den Begriff lex schlechthin eventuell Rückschlüsse auf eine allgemeine Bedeutung auch von lex publica erlauben, die ja eine Form von lex ist, und es ließe sich etwa denken, daß solche Überlegungen zu dem Schluß kämen, daß durchaus nicht alle Volksbeschlüsse der Frühzeit leges in strengem Sinne waren, sondern erst eine spätere Zeit, die den Begriff erweiterte, diese Begriffserweiterung auf die frühe, konstruierte Geschichte übertragen hat. Nun entstammen allerdings unsere Quellen auch zu dem Begriff der lex (schlechthin) zum größten Teil einer späteren Zeit. Doch wenn wir unter den uns überlieferten Formen von lex einheitliche Züge feststellen können, dürfen wir voraussetzen, daß dieser einheitliche Kern, in dem lex später überall erscheint, auch in der frühen Zeit vorhanden war und er, wie für alle Formen von lex, so auch für lex publica galt; und wir dürfen dies vor allem dann voraussetzen, wenn die frühesten Überlieferungen über lex mit dem

2. Der Begriff der lex

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Ergebnis der (meist aus den Quellen einer späteren Zeit gewonnenen) systematischen Analyse des Begriffs übereinstimmen. Wenn man auch gegen die folgenden Überlegungen im einzelnen Einwendungen machen wollte, erscheint mir jedenfalls die begriffsgeschichtliche und darin inbegriffen die institutionengeschichtliche (neben der sprachgeschichtlichen) Betrachtung die einzig wirklich unumstrittene Methode der Behandlung unserer literarischen Quellen zu sein, wenn wir die älteren Perioden, aus denen keine direkte Kunde auf uns gekommen ist, untersuchen. I. Vor Eintritt in die Überlegungen zu dem Begriff lex (schlechthin) noch einige Bemerkungen über die spätrepublikanische bzw. frühkaiserzeidiche Verwendung des Wortes lex publica. Als lex publica wurde im späteren Wortsinn derjenige Volksbeschluß angesehen, der nicht Wahl oder Gerichtsurteil war1. Man könnte dies daraus erklären, daß die Wahl und das Gerichtsurteil der Volksversammlung jüngere Zuständigkeiten waren, die als neue und anders geartete Sachkompetenzen nicht mehr unter einem schon auf bestimmte Sachinhalte festgelegten Begriff der lex publica subsumiert werden konnten. Tatsächlich jedoch sind, wie noch zu zeigen sein wird, gerade in jener Zeit, als die Volksversammlungen für die Wahl der Beamten und für Gerichtsurteile zuständig wurden, noch weitere, neuartige Kompetenzen hinzugetreten, die unter den Begriff der lex gefaßt wurden und die zeigen, daß lex als eine Einheit bestimmter Materie durchaus nicht festgelegt war; lex publica scheint also von ihrem Ursprung her keinen Bezug auf einen bestimmten Sachinhalt gehabt zu haben. In der Tat werden die späteren Ausführungen zeigen, daß die in den Ständekämpfen neu hinzutretende Sachkompetenz, soweit sie nicht Wahl oder Gericht war, überhaupt erst den Begriff der lex für den Volksbeschluß gebracht und ihn von hier aus auch auf die Volksbeschlüsse mit älterer Sachkompetenz (außer Wahl und Gericht) übertragen hat. Man kann daher von der in der spätrepublikanischen Zeit üblichen Trennung der Comitien in Wahl-, Gerichts- und Gesetzescomitien nicht darauf schließen, daß die lex eine durch bestimmte Sachkompetenz charakterisierte Form des Volksbeschlusses war oder gewesen war. Offenbar hatte lex überhaupt keinen be1 Wegen des allmählichen Verschwindens der Volksgerichte sprach man später praktisch nur noch von den comitia legum und den comitia magistratuum (z. B. Cic. Sest. 109; Liv. 1,17, 9; 6, 41, 10); die vollständige Kompetenzaufzählung z.B. bei Cic. div. 2, 74: ut comitiorum vel in iudiciis populi vel in iure legum vel in creandis magistratibus principes civitatis essent interpretes, und legg. 3 , 3 3 : suffragia in magistratu mandando ac de reo iudicando [sciscendajque in lege aut rogatione.

60

II. Der Begriff der lex

stimmten Bezug auf Sachinhalte. Wenn man später unter lex publica niemals Wahlen und Gerichte verstanden hat, tat man dies wohl auch in dieser Zeit nicht wegen der in sich einheitlichen Materie von Wahl und Gericht, denen die Gesetzesmaterie gegenüberstand, sondern vor allem wegen des sehr andersartigen Entscheidungsmodus' bei diesen Versammlungen. Denn in den Gesetzescomitien wurde, im Unterschied zu den Wahlen und Gerichten des Volkes, über einen Vorschlag durch Bejahung oder Verneinung entschieden. Es sei vorerst jener Tatbestand, daß Wahl und Gericht von den Römern niemals unter den Gesetzesbegriff gezogen wurden, nicht weiter diskutiert, sondern lediglich vorgestellt; er galt selbstverständlich für alle Volksversammlungen, für die älteren Curiatcomitien ebenso wie für die jüngeren Centuriat- und Tributcomitien und für das concilium plebis. Die Römer haben den Begriff der lex publica nach dem Ausweis unserer Quellen nicht genau präzisiert, geschweige denn ihn im Zusammenhang mit dem (viel weiteren) Begriff der lex definiert. Was wir an Definitionen bzw. an dem, was man als Definition hinnehmen muß, besitzen, ist der späte Versuch, der lex publica einen Platz in dem Gebäude der frühkaiserzeitlichen Jurisprudenz zuzuweisen. Abgesehen von der Tendenz nach systematischer Fixierung, die eine Entwicklung des Begriffs nicht berücksichtigt, wird nur dieser oder jener Zug der lex publica, im allgemeinen der im jeweiligen Zusammenhang interessierende, hervorgehoben. Am klarsten ist noch die Definition der lex publica als lex populi2, doch sagt sie nur etwas über die Herkunft der lex publica, nicht auch etwas über die lex selbst aus. Weiter wird die lex publica definiert durch den generellen Bezug auf alle Bürger. Diese Definition ist nur insoweit richtig, als das Volksgesetz alle Bürger b i n d e t , doch verstanden die betreffenden römischen Erklärer den generellen Bezug als Gegensatz zum Privilegium, sahen also in der lex die alle Bürger u n m i t t e l b a r b e t r e f f e n d e R e g e l 3 . Das steht nun ganz offensichtlich im Widerspruch zu dem Inhalt vieler republikanischer Gesetze, wie ein Blick auf die Liste der römischen Volksgesetze lehrt, doch ist uns diese Definition der frühen Kaiserzeit erklärlich. In dem Bemühen nämlich, die lex publica als Quelle von ius hinzustellen, hat man den aus den XII-Tafeln tradierten Begriff des Privilegiums herangezogen, um alle nicht-normativen Gesetze der Republik auszuscheiden. Die spätere Betrachtung wird zeigen, daß die Juristen der Kaiserzeit dabei auf eine Diskussion d. J. 58/57 zurück2

3

So Ateius Capito bei Gell. 10, 20, 2 und der Kommentator der Stelle ebd. § 7 f., ferner Gai. 1, 3 und noch Isid. orig. 5 , 1 0 f. Ateius Capito bei Gell. 1 0 , 2 0 , 2 - 4 ; Papinianus Dig. 1 , 3 , 1 ; Isid. orig. 5 , 2 1 .

2. Der Begriff der lex

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greifen konnten, in der sich bereits die Ansätze zu der Weiterentwicklung des Begriffs im Sinne der Jurisprudenz der Kaiserzeit finden 4 . Die folgenden Überlegungen versuchen, von dem Begriff der lex ganz allgemein einen Zugang zu dem Verständnis der lex publica zu erarbeiten. I I . Unter lex wurde in jeder Periode der römischen Staatsentwicklung nicht nur der Volksbeschluß (lex rogata, publica) verstanden, und es ist daher die Bestimmung der lex als Volksbeschluß, der nicht Wahl oder Gericht ist, nicht eine allgemeine Definition von lex, sondern nur die der lex rogata. Zwar verstehen die Quellen, die uns vorliegen, unter lex ohne Zusatz fast immer das Volksgesetz5, doch beziehen sich die Quellen, aus denen wir diesen Wortgebraudi entnehmen, meist auf den öffentlichen Bereich und können daher aus der Natur ihrer Thematik leicht einen falschen Eindruck vermitteln. Für die Bestimmung des Begriffs der lex, von der die lex rogata nur einen Teil darstellt, ist aber die Kenntnis der ganzen Gruppe, die unter den Begriff der lex zusammengefaßt ist, erforderlich. Die Charakteristika, die allen leges gemeinsam sind, können die lex rogata insoweit definieren, als sie lex ist. Als lex, die wortgeschichtlich auf ,Bindung' zurückzuführen ist 6 , wird in republikanischer Zeit, und zwar von den frühesten uns faßbaren Perioden bis in die Spätzeit, eine Verpflichtung zwischen Personen verstanden, die bei gleichbleibender Form ganz verschiedenen Inhalts sein und zwischen ganz uneinheitlichen Personen bzw. Personengruppen geschlossen werden kann. Lex ist einmal rechtsgeschäftliche Vereinbarung im privaten oder administrativen Bereich (lex dicta); im Privatrecht kann sie z. B. als lex mancipio dicta der mancipatio hinzutreten7, im Administrativbereich findet sie als lex cent S. u. S. 205 ff. 5 Vgl. Tibiletti, Diz. epigr. I V 7 0 6 f., vgl. aber 704. 6 Das Wort wird abgeleitet von legere/XeyEiv (so schon Cic. legg. 1, 6 , 1 9 und Isid. orig. 5 , 3 , 2 ) oder legare; vgl. zur Etymologie Mommsen, Staatsr. I I I 308 Anm. 4 ; Herzog, Staatsverfassung 112 Anm. 1; Botsford 179 Anm. 2 {legare)-, Rotondi 5 Anm. 1; Käser Ius 6 4 ; ders., Privatrecht I 24 (legere/Myeiv); Walde/Hofmann, Latein, etymol. Wörterbuch I, 19383 s. v.; Ernout/Meillet, Dict. etymol. de la langue Latine, 1959*, s . v . {legare). - Es fehlt eine neuere begriffsgesdiichtliche Untersuchung; die älteren und auch viele der jüngeren romanistischen Behandlungen des Wortes mischen durchweg die Quellen von den frühesten Belegen bis auf das Corpus Iuris Justiniani. - Zum Verwendungsbereich des Wortes vgl. Rotondi 4 ff.; E . Weiss. R E IV, 1925, 2 3 1 7 ff.; Tibiletti a . O . 702 ff. Letzterer (vgl. auch ders., Sülle leges romane 5 9 6 mit Anm. 3) betrachtet als Grundbedeutung .Bedingung', was der Vorstellung von ,Bindung' jedoch nicht entgegensteht; lex als .Bedingung' ist Form der Bindung. 7 Vgl. Käser, Privatrecht I 41.

62 sui censendo

II. Der Begriff der lex dicta für die Schätzung und als lex censoria für die Verpach-

tungen der Censoren Verwendung 8 . Als lex sacrata ist sie ein Gebot oder Verbot normativer Art, das durch Weihung des Übeltäters an die Gottheit abgesichert wird 9 . Da die lex sacrata durch die Sacration schärfer als Verbot denn als Gebot charakterisiert ist, kann man sie als eine frühe Form normativer Strafgerichtsbarkeit ansprechen. Lex ist ferner die gewöhnliche Bezeichnung für zahlreiche Statuten von Heiligtümern (lex luci, templi,

arae)

und Vereinen der verschiedensten Art, unter denen die religiösen und berufsständischen Vereine sowie in späterer Zeit auch die Bestattungsvereine die wichtigsten sind (lex collegii)10.

Auch im öffentlichen Bereich wird lex

als lex data im Sinne von Statut verwendet. Lex ist hier die positive Satzung von Magistraten für einen beschränkten Geschäftsbereich. Während sie in der Kaiserzeit sehr häufig vom Kaiser bzw. von dessen Mandataren z. B. für Domänenordnungen 11 verwandt wird, können wir ihre Anwendung in republikanischer Zeit schlechter überblicken; doch ist sie uns als Ordnung des 8 Vgl. Mommsen, Staatsr. 113 372. 430f.; G. Tibiletti, Leges dictae, Studia Ghisleriana Ser. I, vol. II, 1955 179 ff. Tibiletti führt die leges dictae zu Redit auf die archaische Rechtsordnung Roms zurück. Entsprechend ihrer ursprünglichen Bedeutung will er den Begriff aber nicht auf die lex dicta privata und die lex (dicta) censoria, die vielmehr nur einen Kern der leges dictae gebildet hätten (a. O. 189 f.), beschränkt wissen, sondern zieht - neben den leges collegii, leges sepulcri, der legum dictio der Auguren, den leges der kaiserlichen Verwaltung u. a. - auch das magistratische Edikt in den Begriff hinein. Doch wie er es ablehnt, eine Definition der lex dicta zu geben und für seine Ablehnung die Nachteile der modernen Konstruktionen und die Vorteile des Empirismus anführt, bleibt er den Beweis dafür, daß z. B. das Edikt seiner Herkunft nach lex dicta sei (aber weder lex noch lex dicta genannt wurde) schuldig. Das Edikt des Magistrats war - im Gegensatz zur lex data - gewiß deswegen nicht lex (und wurde darum auch nicht so genannt), weil ihm manche der o. im Text genannten Voraussetzungen fehlten; es konnte sich z. B. auf bestimmte Personen beziehen und schloß damit die Normativität der Vorschrift aus. Es ist eine andere Sache, wenn durch Edikt auch Ordnungen gesetzt werden konnten, die die o. angegebenen Anforderungen einer lex erfüllten (man vgl. z. B. das edictum Augusti de aquaeductu Venajrano [Bruns 77] und de temporibus accusationum [Bruns 78]). Das Edikt war eben auch eine mögliche Form normativer Satzung, ohne damit von seinem Begriff her - wie die lex - die Normativität zu fordern. Zur Geschichte der lex privata, insbesondere zur lex locationi dicta des privaten wie des öffentlichen Bereichs, vgl. vor allem V. AI. Georgescu, Essai d'une théorie générale des „leges privatae", 1932; U. v. Lübtow, Catos leges venditioni et locationi dictae, Eos 48, 1956, Fase. 3, 227 ff. und A. Biscardi, Diz. epigr. IV 1430 ff. ' Über sie ausführlich u. S. 87 ff. 1 0 Vgl. die leges luci, templi, arae bei Bruns 104-109 und leges collegii ebd. Nr. 174181. 11 Z. B. lex de villae Magnae colonis data ad exemplum legis Mancianae aus trajanischer Zeit (Bruns 114), die lex metalli Vipascensis aus nachhadrianischer Zeit und die in letzterer Z. 59 genannte lex metallis dicta (Bruns 112).

2. Der Begriff der lex

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Geschäftsbereichs abhängiger Gerichtsbeamter12 und als Stadt- und Provinzialordnung13 bekannt. Neben der lex rogata, dem Volksbeschluß, gehört in den öffentlichen Bereich schließlich noch die legum dictio der Auguren, die in der Auguraldisziplin die genaue Ansage der Zeichen bedeutet, die der Augur aufstellt und der Gott beantwortet14. Manche der genannten Gruppen von leges sind, wie z. B. die lex rogata und lex sacrata, schon in der Antike als fest umrissene Gesetzesgruppen angesehen worden, ohne daß sie jedoch abstrakt definiert worden wären; ihre Einheit und Geschlossenheit vermittelte die praktische Erfahrung, der gelegentlich ein Versuch nachträglicher Definition hinzutrat (s. o. S. 60). Das Prinzip der antiken Gliederungen bildete teils die Herkunft der lex (wie bei der lex publica/rogata), teils die besondere Form ihrer Entstehung (z. B. die lex sacrata und lex rogata/publica) und teils der Inhalt der lex (wie bei der lex arae). In moderner Zeit hat man nicht nur aus praktischen Rücksichten der Übersichtlichkeit, sondern auch aus dogmatischen Gründen die leges schärfer kategorisiert. Mommsen konstruierte so die lex data als die - mit dem magistratischen Dekret identische - magistratische lex, die er der lex rogata des Volkes gegenüberstellte. Tatsächlich stimmt die Konstruktion nicht mit dem lateinischen Wortgebraudi überein15. Da sich weder von dem Inhalt noch von der Herkunft der einzelnen leges her ein befriedigendes und mit der Terminologie der Quellen harmonisierendes Einteilungsprinzip herstellen läßt, bleibt nur übrig, einzelne Gruppen von leges, die bereits die Römer als zusammengehörig empfanden, zusammenzustellen und die schwerer zu gruppierenden leges nach dem jeweils am günstigsten scheinenden Einteilungsprinzip zusammenzufassen und den gefestigteren' Gruppen ein- oder nebenzuordnen. Da aber auf diese Weise die von den Magistraten gesetzten leges auf verschiedene Gruppen von leges (leges provinciae, leges municipales etc.) verstreut werden und man, jedenfalls für die republikanische Zeit, einer Kategorie von leges entbehrt, die alle leges von Magistraten zusammenÜberliefert sind leges datae des Stadtprätors für die Präfekten von Capua aus d. J . 318 v. Chr. (Liv. 9 , 2 0 , 5 ) . 13 Lex data als Stadtordnung: lex lulia tnutiicipalis Z. 159 (45 v. Chr.; Bruns 18); lex Ursonensis c. 134 (44 v. Chr.; Bruns 2 8 ) - als Provinzialordnung: Cic. in Verr. I I 2 , 9 0 . 125 für Sizilien; Liv. 45, 3 1 , 1 . 3 2 , 7 für Makedonien; Liv. per. 100 für Creta. n Serv. Aen. 3 , 8 9 . - Die legum dictio ist natürlich nicht die lex selbst, sondern die Anwendung der allgemeinen lex disciplinae für den bestimmten Fall. 1 5 Tibiletti, Sülle leges romane 602 ff. lehnt mit dem Hinweis auf die antike Terminologie die Verwendung des Terminus lex data ab; er weist nach, daß legem dare bzw. lex data insbesondere Satzungen von Municipien, Kolonien und Provinzen sind, die von römischen Organen (Volk, Senat, Magistraten) ohne Beteiligung der Interessierten auferlegt wurden (612 ff.). 12

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II. Der Begriff der lex

faßt, empfiehlt es sich, die Mommsensche lex data neben den anderen Einteilungen trotz der Kritik an ihr beizubehalten16, wobei man sich dann natürlich bewußt sein muß, daß diese Kategorie eine moderne Konstruktion ist. Bei allen diesen mannigfachen leges ist als gemeinsamer Zug die z w e i s e i t i g e Vereinbarung u n g l e i c h e r Partner zu beobachten. Leges sind daher keine pacta, die zwischen gleichen Partnern vereinbart werden17, sondern Bindungen rechtsgeschäftlicher bzw. sakralrechtsgeschäftlicher Natur, für die der freie Wille derjenigen, die gebunden werden, nicht vorausgesetzt wird. Es spielt nach dem Begriff der lex also keine Rolle, ob der Eintritt in den Bezugsbereich der lex freiwillig erfolgte: Die lex berührt nicht die Frage, ob der Betreffende auch eintreten will; die Bedingungen des Eintritts liegen außerhalb ihres Bezugs. Sie setzt vielmehr voraus, daß der Betreffende dazugehört. Sie ist folglich z. B. nicht damit befaßt, ob der Handwerker, dem die lex seiner Zunft nicht gefällt, die Möglichkeit zur Verweigerung des Eintritts oder zum Austritt hat, oder ob der Kolone gegenüber dem Domänengesetz oder der Gott gegenüber den leges des Auguren diese Möglichkeiten hat. Wenn die Möglichkeit des Rücktritts gegeben ist, wie bei der lex templi es besteht ja kein Zwang zum Betreten des Tempelbezirks - oder bei der lex rogata, wo die Freiwilligkeit des Beitritts sich in der Abstimmung der Comitien äußert, berührt sie nicht den Charakter der lex. Für den, der Partei im rechtsgeschäftlichen Sinne ist, d. h. wer dem bestimmten Geschäftsbereich, den die lex umfaßt, zugehört, besteht jedoch ohne Rücksicht auf die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit der Zugehörigkeit ein Zwang zum G e h o r sam 1 8 . Die Person, die z. B. in einen Tempelbezirk eintritt, ist also zum Gehorsam gegenüber der lex des Tempels ebenso verpflichtet wie der Handwerker gegenüber der lex der Zunft, in die er eintritt, der Kolone gegenüber der lex der Domäne, der er angehört, oder der Gott gegenüber der lex des Auguren, der ihn befragt. Die lex ist weiter dadurch bestimmt, daß ihre Partner Personen sindI9. 16 So auch Tibiletti a. O. 621. 17 Vgl. auch Frezza, Lex publica 55 Anm. 2. 63 und zum Vertragscharakter der lex (publica) allgemein J. Rubino, Untersuchungen über römische Verfassung und Geschichte, 1839, 253 ff. sowie Jhering, Geist 16 216 ff. 18 Mommsen, Staatsr. III 311: „In allen diesen Fällen (sc. der angeführten Beispiele von leges) wird der Bürger nicht bloß, ohne gefragt zu werden, gebunden, sondern es kann sogar nach römischer Auffassung, wer zu gehorchen hat, überall nicht gefragt werden, ob er gehorchen wolle". - Der Zwang zum Gehorsam besteht notwendigerweise auch für den Gott, weil man mit ihm überhaupt nur mittels der Fiktion, daß er jederzeit zu einer Antwort bereit sei, kommunizieren kann. 19 Bei der legum dictio ist der Gott personalisiert, weil anders eine Kommunikation mit ihm nicht möglich ist.

2. Der Begriff der lex

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E s spielt dabei keine R o l l e , wieviele P e r s o n e n auf beiden Seiten an d e m A k t der B i n d u n g beteiligt sind, jedoch b e s t e h t die g e b e n d e Seite in aller R e g e l nur aus einer, die e n t g e g e n n e h m e n d e a u s einer Mehrzahl v o n P e r s o n e n 2 0 . D i e s e an sich selbstverständliche F e s t s t e l l u n g ist nicht gan2 überflüssig. A u s ihr ergibt sich, daß d i e lex nicht etwas i m m e r schon V o r h a n d e n e s , seit e w i g D a u e r n d e s ist, sondern sie zu einem b e s t i m m t e n Z e i t p u n k t , der o f t allerdings v e r g e s s e n ist, in irgend einer F o r m - durch E r k l ä r u n g , G e w ä h r u n g , E r f r a g u n g (dicta, data, rogata) — g e s e t z t

w o r d e n ist. Lex ist also niemals

G e w o h n h e i t . D a r a u s ergibt sich e t w a , daß die legis actio eine gesetzte, nicht auf G e w o h n h e i t ruhende P r o z e ß f o r m ist, w o m i t die A n n a h m e , daß sie auf die X I I - T a f e l n stimmt

21

oder

volksrechtliche

Einzelgesetze

zurückgeht,

überein-

.

F ü r d i e Definition ist ferner wichtig, daß die lex einen B e z u g auf die b e s t i m m t e Sache, nicht auf b e s t i m m t e P e r s o n e n hat. W i e w o h l alle leges bei ihrer K o n s t i t u t i o n v o n b e s t i m m t e n P e r s o n e n gemacht w e r d e n , die b e k a n n t sind (z. B . der G r ü n d e r einer Z u n f t , der b e s t i m m t e M a g i s t r a t ) , u n d v o n bes t i m m t e n P e r s o n e n e n t g e g e n g e n o m m e n w e r d e n , die b e k a n n t sind (die Mitglieder d e r Z u n f t , die K o l o n e n der D o m ä n e ) , ist die lex ü b e r die P e r s o n ihres B e g r ü n d e r s u n d die P e r s o n e n , die sie zuerst entgegennahmen, hinaus 20 Nach Frezza, Lex publica 58 ff. erstreckt sich der Anwendungsbereich der lex u. U. über den Kreis derjenigen Personen, die die lex gesetzt haben, hinaus auch auf solche, die weder direkt noch potentiell als Kontrahenten der lex gedacht sind. Er glaubt das an der lex sacrata nachweisen zu können, deren Sanction auch Patricier traf, also Personen, die nicht als Kontrahenten der lex gedacht waren; von hierher zieht er dann Begriffe wie devotio, defixio und damnatio in die Überlegungen hinein, die er als leges von der Art der lex sacrata, also als leges mit einem über die Kontrahenten hinausreichenden Wirkungskreis faßt. Doch ist die Sacration der lex sacrata nur eine Schutzbestimmung im Interesse der Kontrahenten, die durch sie von der Außenwelt abgeschirmt werden. Wenn aber Patricier sich tatsächlich nach den Vorschriften der leges sacratae gerichtet haben, berührt das die Kontrahenten und den sachlichen Inhalt der lex ebenfalls nicht, weil die Stellung eines Außenstehenden zu der Satzung einer Personengruppe für diese völlig gleichgültig ist. Auch bei der devotio und defixio ist die Person, die von den Kontrahenten (Mensch-Gott) vernichtet werden soll, für die begriffliche Definition der lex und ihres Anwendungsbereichs unerheblich. Die zu vernichtende Person gehört hier zu dem sachlichen Inhalt der lex, d. h. zu den Bedingungen, die die lex setzt. 21

W.Kunkel, Festschr. Koschaker I I 4 Anm. 4; Käser, Privatrecht 25 f. mit weiterer Literatur; Frezza, Lex publica 75 f. hält zumindest die legis actio sacramento für älter als die XII-Tafeln, Gioffredi, Ius 60 ff. glaubt, daß die legis actiones sich zwar gewohnheitsrechtlich entwickelt hätten, aber dann gesetzlich sanctioniert worden wären. - Ob die Zurückführung der legis actiones auf die XII-Tafeln oder Volksgesetze tatsächlich oder durch spätere Fiktion erfolgte, spielt für unseren Zusammenhang keine Rolle; wichtig ist hier allein, daß die legis actiones, seit sie l e g i s actiones heißen, nicht als eine auf Gewohnheitsrecht zurückgehende Prozeßform angesehen worden sind.

66

II. Der Begriff der lex

wirksam im Hinblick auf die Sache, die sie umreißt. Der Begriff der Vereinbarung', der oben zur Erklärung der lex gebraucht wurde, ist in diesem Sinne zu relativieren: Die lex bindet eine bestimmte Sache an Personen, nicht umgekehrt. Die Personen, die sie begründeten, treten daher zurück vor der Sache, die als eine für den Kreis, in dem sie gilt, bindende bleibt. Zur Charakterisierung des Sachbezugs ist weiter hervorzuheben, daß die Sache nicht von der Art ist, daß sie von dem Personenkreis, der ihr zugehört, nur gebilligt oder anerkannt wird. Die Sache erfordert vielmehr direkt ein Tun oder Unterlassen der ihr zugehörigen Personen; die lex erzwingt also eine bestimmte Handlungsweise im Rahmen ihres Bezugsbereichs. Ferner führt der Umstand, daß die der lex zugehörige Sache die ihr zugehörigen sei es gebenden, sei es entgegennehmenden - Personen überdauert, zu einer Lösung der Sache von dem menschlichen Willen, der sie schuf. Die Sache neigt zur Verselbständigung ihrer selbst, zur unpersönlichen Satzung. Da die Sache immer bleibt, die Personen aber wechseln, löst sich die lex vom Personenwillen selbst dann, wenn sie freiwillig übernommen worden war, und erhält den Charakter eines dem Willen unzugänglichen Befehls in bezug auf bestimmte Sachen. Aus den oben entwickelten Gedanken ergibt sich auch bereits, daß die von der lex geregelten Bezüge nicht der Bewältigung einer einmaligen Situation dienen, sondern sie einen bestimmten Sachbezug auf Dauer, nämlich solange die lex gilt, ordnen wollen. Obwohl natürlich die Regelungen der lex durch aktuelle Ereignisse hervorgerufen sind, wollen sie nicht eine, sondern alle künftigen Situationen, die in den abstrakt formulierten Sachbezug fallen, in bestimmter Weise behandeln. Die auf Dauer bindende Verpflichtung gegenüber einer Sache macht es notwendig, die der lex zugrunde liegende Sache noch etwas näher anzuschauen. Da sie verschiedenster (wenn auch jeweils bestimmtester) Art ist, kann für ihre Definition nicht der jeweilige Gegenstand interessieren, sondern nur der gemeinsame Begriff, mit dem alle leges möglicherweise die ihr zugrunde liegende Sache bezeichnen. Da die Sache als eine allgemeine für alle Personen, an die sich die lex wendet, gilt, sie diese Personen auch unmittelbar betrifft, sie sie dauernd (d. h. solange die lex gilt) bindet und sie schließlich immer ein Tun oder Unterlassen fordert, können wir den allen Sachen gemeinsamen Bezug eine N o r m nennen. In den leges fehlt natürlich meist eine generelle Bezeichnung für die Sache, weil nicht sie, sondern die bestimmte Sache interessiert. Die legum dictio nennt die bestimmten Bedingungen, unter denen der Gott antworten soll, die lex templi die bestimmten Gebote und Verbote. Wo die

2. Der Begriff der lex

67

Sache allgemein umschrieben ist, dient daher zunächst der Begriff der lex selbst auch zur generellen Bezeichnung des Inhalts. Hier ist also der Begriff für die Form der Bindung gleichzeitig der für den Inhalt der Bindung. In dieser Wortbedeutung wird lex dann oft im Plural verwendet und bezeichnet damit die Einzelbestimmungen22. Legum dictio ist daher gleichzeitig Ansage der Verpflichtungsform (eigendich: legis dictio) wie Ansage des verpflichtenden Inhalts. Lex nimmt hier die Bedeutung von ,Bedingung' an 2 3 , die den Sachbezug betont. Als genereller Terminus für den Inhalt der lex begegnet auch ins. Er findet sich in leges von Heiligtümern 24 und Domänen 25 , insbesondere aber in Volksgesetzen 26 . Der Bezug von lex und ius ist außer in den Gesetzestexten selbst in juristischen und nichtjuristischen Schriften der späten Repubik dann ganz kommun und bedarf nicht des Beweises 27 . Der Natur der Quellen entsprechend bezieht er sich auch dort, wo es nicht ausdrücklich gesagt ist, meist auf die lex rogata. Vielfach werden lex und ius dabei unterschiedlos verwendet, was die Formel ius lexque besonders deutlich macht 23 . Vgl. den Gebrauch von lex für die XII-Tafeln u. S. 91 Anm. 13 und die lex arae Augusti Narbonensis II (12/13 n.Chr.) Z . 5 . 7 . 2 4 (Bruns 106); lex arae Iovis Salonitanae (137 n. Chr.) Z 6. 8. 9 (Bruns 107). 23 Vgl. Tibiletti, Diz. epigr. IV 702 ff. 2 4 Z. B. lex arae Augusti Narbonensis II (12/13 n. Chr.) Z. 13 (ius fasque esto; Bruns 106). 2 5 Z. B. lex metalli Vipascensis (nachhadrianisch) Z. 36 (Bruns 112) und Z. 11. 20 (Bruns 113). 2 6 Vgl. den XII-Tafelsatz quodcumque postremum populus iussisset, id ius ratumque esset (Liv. 7,17,12; vgl. 9, 33, 9. 34, 6; Cic. Balb. 33); auct. ad Heren. 2,19-.lege ius est id, quod populi iussu sanctum est; invent. 2,162: lege ius est, quod in eo scripto, quod populo expositum est, ut observet, continetur, und an konkreten Beispielen vgl. die lex Papiria de sacramentis (wohl 124 v. Chr.): tresviri ... eodem ... iure sunto, uti ex legibus plebeique scitis ... esseque oportet (Fest. p. 468 L); lex Cornelia de XX quaestoribus (81 v. Chr.) I 39; I I 3. 8. 9.11.12. 26. 27 f. in der Formel ius lexque esto, ius esto licetoque und eo iure ea lege (Bruns 12); lex Antonia de Term. (71 v. Chr.) I I 23 ff.: quodque ... iouris ... fuit, ... ious esto (Bruns 14); lex Kubria X X I Z. 10.14: lex ius, iure lege (Bruns 16); lex Falcidia (40 v. Chr.): ut eam pecuniam easque res quibusque dare legare volet, ius potestasque esto ...; is quantam ... pecuniam iure publico dare legare volet, ius potestasque esto (Paulus Dig. 3 5 , 2 , 1 pr.). 2 ? Als Besonderheit sei angemerkt, daß das Schwanken Ciceros in dem Wortgebraudi von lex und ius in dem naturrechtlichen Exkurs des 1. Buches seiner Schrift de legibus ein besonders starker Beweis für den festen Sinnzusammenhang in der Umgangssprache ist, da das Reflexionsvermögen Ciceros auf den philosophischen Gegenstand an dem lateinischen Wortgebrauch seine unübersteigbare Grenze findet. Eine philosophischere Begabung als Cicero hätte zur Bewältigung des Gegenstandes ein völlig neues Vokabular erfinden müssen. 28 Vgl. die Belege in der Anm. 26 und L. Mitteis, Römisches Privatrecht I, 1908, 30 ff.; G. Broggini, Ius lexque esto, in: Ius et lex. Festschr. für M. Gutzwiller, 1959, 23 ff.; 22

68

II. Der Begriff der lex

Natürlich besagen diese Formel und die anderen Zusammenstellungen von lex und ius nicht immer und nicht einmal in erster Linie, daß ius nur als der Inhalt von lex gedacht werden kann; ius wird vielmehr auch gerade als dasjenige Recht gedacht, das n i c h t durch lex niedergesetzt wurde 29 . Die Formel hat also auch einen Bezug auf den verschiedenen Entstehungsgrund von ius. Aber der Doppelbegriff will doch vor allem besagen, daß sich lex und ius formal nicht voneinander unterscheiden und daß also der Inhalt von lex genauso ius ist wie auch das nicht durch lex begründete ius; somit steckt in dem ius der formelhaften Zusammenstellung auch das ius legis: ius/lex ist hier eben als eine ungeschiedene Einheit gedacht, die auch der mögliche Gedanke an die verschiedene Quelle der Entstehung nicht auseinandernehmen, insbesondere keine Antithese in den Doppelbegriff projizieren kann 30 . Die Definition der lex und des Verhältnisses zu ihrem Inhalt hat gezeigt, daß die lex instrumentalen Charakter hat. Lex ist die Form, die unter ganz bestimmten Bedingungen ein Mittel zur Bindung an eine Sache ist 31 . Da die Sache aber normativer Natur ist, ist die lex ein Instrument für normative Satzung. Instrument (lex) und Inhalt (Regel) sind also begrifflich scharf zu scheiden, obwohl die Römer dazu neigten, beides gleichzusetzen. Diese Tendenz zeigen etwa der gelegentliche Gebrauch von leges für den Inhalt von lex, die Formel ius lexque (s. o. S. 67) und auch weitere, u. S. 393 ff. vorgelegte Beobachtungen über den Sprachgebraudi von ius und lex. So kann lex Tibiletti, Sülle leges romane 599 Anm. 7. - Die Zusammenstellung von ius und lex begegnet schon in der Arrogationsformel: velitis iubeatis, Quirites, uti L. Valerius L. Titio tarn iure legeque filius siet, quam si ex eo patre matreque familias eius natus esset? Ich halte (gegen Käser, Ius 72, vgl. 342) ,lege' für einen späten Einschub, weil hier die Identifikation von Volksbeschluß und lex vorausgesetzt wird. Der comitiale Arrogationsakt war (wie audi das Comitialtestament) aber nicht lex, die ius schafft, sondern die (aus verständlichen Gründen vorgenommene) comitiale Beteiligung an einem Fall der Anwendung von ius: Der comitiale Arrogationsakt setzt nicht (als lex arrogationis) ius arrogationis, sondern er praktiziert es. Das ist besonders deutlich bei der von Cicero häufiger gebrauchten Zusammenstellung von lex und ius civile (de orat. 1 , 1 8 . 4 0 . 1 5 9 . 1 9 3 ; orat. 120; off. 1,51; 3 , 6 9 ; legg. 1,56). 30

Vgl. besonders Gioffredi, Ius 15 ff.

31 Bereits der auctor ad Herrentum hat das Verhältnis von lex und ius ganz klar in diesem Sinne verstanden (2,19): lege ius est id, quod populi iussu satictum est, ebenso Cic. invent. 2,162. - Den instrumentalen Charakter der lex sah schon Mommsen, Staatsr. III 310; ebenso Mitteis a. O . 30 ff., dessen Ausführungen aber an einer unzulässigen Konfundierung älteren und späten Wortgebraudis leiden, und neuerdings Broggini a. O. 23 ff. Diese Definition mußte den Positivisten besonders leicht eingehen, da durch die Gleichsetzung von Instrument (lex) und Sachinhalt (ius) Gesetz und Recht synonyme Begriffe werden.

2. Der Begriff der lex

69

in der Formel ius lexque wie auch allein32 die Norm selbst meinen. Die Erklärung für die Neigung zur Gleichsetzung der beiden Begriffe ist leicht darin zu finden, daß die Form {lex) auf ihren Inhalt in ganz bestimmter Weise wirkt und darum die ,Formalität des Inhalts' auf die Form zurückführt. In strengem Sinne jedoch ist lex nicht Regel, sondern steht für die R e g e l h a f t i g k e i t einer Sache. Der Inhalt der Regeln des Gesetzes ist verschiedenster Art; die Gesetze sind nicht (jedenfalls nicht per definitionem legis, wenn auch bisweilen praktisch) durch eine einheitliche Sachthematik charakterisiert. Das Gemeinsame, das alle Sachen der Gesetze miteinander verbindet, liegt allein in ihrem Charakter als Regel. Auch die Verbindlichkeit der Sache ist durch die Form {lex) immer gegeben, doch ist sie selbstverständlich nur auf die Personen beschränkt, die sich in der lex verpflichtet haben. Die Personenkreise, für die die leges gelten, sind aber so vielfältig wie die leges; z. T. überschneiden sich diese Kreise {lex templi/lex rogata), z. T. auch nicht (das kann zwischen den Personenkreisen der lex templi und der lex collegii der Fall sein). Wie die Gültigkeit der Sachinhalte einer lex nur bestimmte Personenkreise betrifft und nur in ihnen sozusagen ihre Bestimmung findet, hat sie keinen Bezug auf den Sachinhalt einer anderen lex, die andere Personengruppen verpflichtet. Vor allem gibt es keine Über- oder Unterordnung, nicht einmal ein Nebeneinanderstehen der verschiedenen leges: Die Kreise der Geltung sind inkommensurabel. Selbst dann, wenn die Sachinhalte ihrer Thematik nach ähnlich sind, bleibt die Geltung davon unberührt. So entstehen zahllose voneinander unabhängige ,Rechtskreise'. Wir können für die leges der späten Republik und frühen Kaiserzeit, die nicht lex rogata sind, deutlich beobachten, daß man die Terminologie der einzelnen ,Rechtskreise' der verschiedenen leges der des ,öffentlichen' Bereichs anzugleichen suchte33. Das ist natürliche ein Ausdruck dafür, daß den einzelnen Kreisen die spezielle Terminologie mangelte; aber gleichzeitig zeigt diese Beobachtung auch, daß die Gemeinsamkeit aller leges, nämlich die Normativität, stark bewußt war. Wenn aber auch die Tendenz besteht, den Inhalt aller leges generell als ins zu bezeichnen und damit den normativen Charakter aller Satzung durch leges zu kennzeichnen, muß man sich doch immer vergegenwärtigen, daß ius hier nicht Geltung für alle Bürger, sondern Geltung für bestimmte Personenkreise (die auch, wie bei der lex rogata, alle Bürger umfassen kann) hat. 32 Vgl. z. B. Varro ling. 6, 71, wo lex dem aequum gegenübergestellt wird; weitere Belege bei Tibiletti, Sülle leges romane 599 Anm. 7. Vgl. z. B. in der lex des collegium aquae (Bruns 178; 1. Jahrh. n. Chr.) die Verwendung von Ausdrücken wie actio (Z. 12: lege actio esto), multa (Z. 6. 10. 11. 16. 19. 20. 22), iudicium (Z. 17) und iudicare (Z. 20. 22. 23).

70

I I . Der Begriff der lex

I I I . Die Definition der lex als Instrument für normative Bindung sagt über die H e r k u n f t (Willensträger) der lex lediglich, daß Personen an ihr beteiligt sind; bestimmte Personen bzw. Personenkreise oder auch an bestimmte Personen gebundene Rechtsbefugnisse zur Setzung von leges werden in ihr nicht vorausgesetzt. Ob der Vorsteher eines Handwerkervereins allein oder unter Beteiligung der Handwerker und ob der Magistrat allein oder nach Befragung des Volkes leges setzt, ist nach obiger Definition für den allgemeinen Begriff der lex also nicht konstitutiv. Das kann aber nicht heißen, daß nach den Vorstellungen der Menschen nicht für den bestimmten Sachbereich bestimmte Personen mit bestimmten Rechtsbefugnissen für die Setzung von leges kompetent wären. Daß für die lex eines Gutes nur dessen Eigentümer, für die eines Tempels die Stadtgemeinde bzw. deren Magistrate zuständig waren, ist selbstverständlich und tritt oft als besondere Zusatzbestimmung der bestimmten lex hinzu. Lex rogata also bestimmt in ihrem Zusatz die genaue Herkunft34 und gleichzeitig damit den Personenkreis, den sie bindet, nämlich alle B ü r g e r , d. h. die nach Herkommen politsch Berechtigten der römischen res publica nebst deren abhängigen Frauen und Nachkommen (aber nicht die Sklaven und Peregrinen)35; der andere Kontrahent der lex, der Magistrat, gibt mit seinem nomen gentile der jeweils bestimmten lex ihren Namen. Für die lex rogata ist die im Zusatz genannte Herkunft dann natürlich auch ein konstitutives Element. Und es ist auch durchaus möglich, daß in bestimmten Situationen oder Perioden des staatlichen Lebens an der lex rogata weniger die F o r m der Rechtssetzung als die H e r k u n f t des Rechts der entscheidende Aspekt gewesen ist. In den Ständekämpfen, und d. h. zur Zeit der Entstehung des normativen Volksbeschlusses (s. u.) ist ohne Zweifel ein wesentlicher und vielleicht sogar der hervorstechendste Zug an der lex publica der Tatbestand gewesen, daß das V o l k als der Schöpfer von Rechtsvorschriften auftrat. Daher ist das von der lex rogata geschaffene V o l k s recht in dieser Zeit von dem Gewohnheitsrecht und dem Honorarrecht (besonders auch inhaltlich) schärfer geschieden gewesen als später. Erst die Degenerierung der Volksversammlungen hob den instrumentalen Charakter des Gesetzesrechts hervor und machte die Trennung von ius civile (als Gewohnheitsrecht), ius honorarium und leges zu einer akademischen Frage. Ob das Bürgschaftsrecht vom prätorischen Edikt oder vom Volksgesetz geregelt wurde, war dann vornehmlich eine

35

Gai. 1, 3 (lex est, quod populus iubet atque constituit) definiert lediglich diese Zusatzbestimmung (,rogata'). Vgl. die auf die Untersuchungen von J . Rubino fußenden Ausführungen von M. Wlassak, Römische Prozeßgesetze II, 1891, 93 ff.

2. Der Begriff der lex

71

Frage danach, welches Instrument zur Satzung besser geeignet war, und man hat sich für das Volksgesetz als Rechtsquelle vor allem deswegen öfter entschieden, weil es sich für die Darlegung und Durchsetzung komplizierter Sachverhalte besser eignete als das prätorische Formular 36 . Diese Überlegung gehört jedoch nicht zu der begrifflichen Bestimmung von lex schlechthin, sondern in die Erörterung ihrer verschiedenen Anwendungsbereiche.

36 Vgl. Schulz, Prinzipien 6 f.

III. D I E BIS

ENTWICKLUNG ZUM

AUSGANG

DES DES

VOLKSBESCHLUSSES STÄNDEKAMPFES

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit Volksbeschlüsse stellen in späterer Zeit der Republik vielfach N o r m e n auf. D i e B e s i n n u n g auf d e n Begriff der lex hat gezeigt, daß auch die R ö m e r selbst später i n der lex jedenfalls vornehmlich eine Q u e l l e normativen Rechts sahen. P o s i t i v e Satzung u n d Volksgesetz scheinen danach z u s a m m e n zu gehören. E i n Blick auf d e n frühen römischen Volksbeschluß lehrt, d a ß er diese Forderung nicht erfüllt u n d also i n diesem Sinne nicht lex ist. D i e älteste V o l k s v e r s a m m l u n g sind die Curiatcomitien. D i e Thematik ihres Zuständigkeitsbereichs steht deutlich i m Widerspruch zu d e m , w a s nach der o b e n g e g e b e n e n Definition der Begriff der lex verlangt. factio

u n d arrogatio

Testamenti

betrafen den b e s t i m m t e n , individuellen Fall: hier w i r d

nicht Materie geordnet, sondern a n g e w a n d t 1 . E b e n s o war die ,lex' de imperio

curiata

k e i n e normative Bindung, mochte sie n u n das militärische Kom-

m a n d o des Königs b e g r ü n d e n 2 , w i e man h e u t e allgemein annimmt, oder 1

2

Sowohl die Arrogation wie die Einschränkungen der gesetzlichen Erbfolge sind durchaus keine Ausnahmen von der Rechtsordnung, wie Mommsen, Abriß 319 f. konstruiert, um dadurch die comitiale Gesetzgebung (als Ausnahmeregelung) schon in die Frühzeit setzen zu können. Beide Geschäfte sind eine - nur nicht die gewöhnlich angewandte - Form der Annahme an Kindes statt bzw. der Vermögensübergabe von Todes wegen. Wenn nur sie von den Curiatcomitien entschieden wurden (nicht auch die üblichen Geschäftsformen), so nicht darum, weil sie ,Ausnahme' von einer Norm waren (was wohl auch schon ein Bewußtsein davon voraussetzen würde, daß wie über die Ausnahme so über die Norm entschieden werden könnte!), sondern weil nur sie auch politisch relevant waren: Da die res publica als der Zusammentritt einer Anzahl von Geschlechtern entstanden war, gehörten die Veränderungen in dem Bestand der Personen und der Verteilung des Bodens der Geschlechter zu den Grundfragen der politischen Ordnung. So hat nach Botsford 182 ff. die lex curiata de imperio den Charakter einer Wahl, die nach der Kreierung neuer Wahlmechanismen dann zur Formalität herabsank; ebenso De Martino, Costituzione I 129 f. 240 f. - Neben der lex curiata de imperio, die der Magistrat mit Imperium spätestens vor dem Auszug aus der Stadt (in der ausgehenden Republik als reinen Formalakt) zu beantragen hatte, existiert noch eine lex centuriata, die für den Censor beantragt werden mußte; sie scheint ein Analogon zum Curiatgesetz gewesen zu sein: Cic. leg. agr. 2,26: cum centuriata lex censoribus jerebatur, cum curiata ceteris patriciis magistratibus (sc. die Magistrate mit Im-

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit

73

aber nur die bestimmte Kriegserklärung sein, wie ich demnächst zu zeigen hoffe. Die Inauguration der Priester ferner ist eine Bitte an die Götter um Zustimmung zu der für die religiösen Opfer und Zeremonien ausgewählten Person. Auch hier beschließt das Volk nichts, sondern gibt nur durch sein Dabeisein zu erkennen, daß der zu inaugurierende Priester sein religiöses Amt für die gesamte Bürgerschaft ausüben soll. Alle diese Kompetenzen binden zwar die Gesamtbürgerschaft in irgend einer Weise, aber keine stellt Regeln auf und begründet normatives Recht. Die Kriegserklärung z. B. ist eine verpflichtende Bindung aller Bürger, gegen den Feind zusammenzustehen, doch der Krieg selbst, der so geschaffen wird, ist kein ius, sondern eine militärische Aktion. Genauso bindet die Arrogation alle Bürger darin, den Wechsel eines Bürgers in eine andere gens anzuerkennen; aber sie ist kein ius. Das ius, d. h. die Modalitäten, nach denen die Arrogation vollzogen wird, beruht auf Gewohnheit. Der Volksbeschluß bzw. das assistierende Volk anerkennt hier lediglich einen besonderen Fall der Anwendung von

ius3.

perium) . . . Offenbar sind die beiden Beschlüsse zu verschiedenen Zeiten entstanden (und zwar die lex centuriata erst nach der lex curiata), dienten aber dem gleichen Zweck, nämlich der Übertragung von bestimmten - teils älteren (lex curiata), teils jüngeren (lex centuriata) - Zuständigkeiten an die Oberbeamten: Wie dem König bzw. den republikanischen Oberbeamten das militärische Kommando bzw. der bestimmte Krieg durch die lex curiata übertragen wurde, beauftragte man die Censoren mit der bestimmten Schätzung durch eine lex centuriata. Es sind danach also in der älteren Zeit die wichtigsten Geschäfte der obersten Magistratur, nämlich das militärische Kommando und die Schätzung, für jeden besonderen Fall übertragen worden, wobei das Geschäft der Schätzung natürlicherweise nur von der Centurienversammlung beschlossen werden konnte, die seit ihrem Bestehen die Schätzung voraussetzt. Eben deswegen gab es diese lex centuriata de censu auch ohne Zweifel nicht erst seit Schaffung des Censorenamtes, sondern bereits seit es die Schätzung gab, d. h. seit der Schaffung der Centurienverfassung. Mit der Volkswahl der Oberbeamten und später der Censoren fielen diese leges natürlich nicht weg, da sie ja nicht die Wahl, sondern das bestimmte Geschäft behandelten. Aber da die Wahl des Censors doch die Schätzung als dessen Hauptgeschäft präjudizierte, erhielt die lex centuriata dann stärker formalen Charakter. Auch die lex curiata de imperio verlor dadurch an Gewicht, daß der militärische Feldherr/Oberbeamte gewählt (statt vom Vorgänger ernannt) und damit die Leitung des militärischen Kommandos vom Volk präjudiziert wurde; da ferner die Centuriatcomitien die für den militärischen Sektor kompetenten Comitien wurden und sie auch die Oberbeamten wählten (die Curienversammlung hat wohl niemals gewählt), sank der Curienbeschluß in den Augen der Späteren, die den Zusammenhang nicht mehr verstanden, zu einem Beschluß über die Auszugsauspicien herab. ,Leges' im Sinne von generellen Volksbeschlüssen sind diese Beschlüsse natürlich niemals gewesen. Wenn sie später als leges bezeichnet worden sind, so deswegen, weil alle Volksbeschlüsse, die weder Wahl noch Gericht waren, mit diesem Begriff verbunden wurden. 5 Nach Käser, Ius 64 f. sind alle Beschlüsse der Curiatcomitien „echte Gesetze"; sogar die Comitialwahlen und die Volksgerichte möchte er unter diesen Begriff ziehen; daß

74

I I I . Die Entwicklung des Volksbeschlusses

Das Volk beschloß oder bestätigte also in vordecemviraler Zeit, d. h. in der Zeit, als die Curiatcomitien die einzige Volksversammlung waren, niemals Satzung im Sinn von normativer Reglementierung zwischenmenschlichen Lebens. Die Volksbeschlüsse waren, wie man sieht, situationsgebundene Entscheide bzw. Bestätigung zu Fragen von Politik, Religion und Geschlechterrecht, die kein ius schufen, sondern im R a h m e n einer g e g e b e n e n Ordnung einzelne Aktionen begründeten. Der gegebene Rahmen, in dem diese Aktionen verliefen, verstand sich nach Gewohnheit von selbst und war darum selbstverständlich nicht Gegenstand des Beschlusses. Ferner waren diese Volksbeschlüsse ,generell' nur in dem Sinne, daß sie alle Bürger banden, nicht auch in dem Sinne, daß sie alle Bürger oder doch bestimmte Gruppen der Bürgerschaft auch direkt betrafen. Der generelle Bezug auf alle Bürger, durch den alle angesprochen, allen geboten oder verboten wird, läßt sich allenfalls für die Kriegserklärung annehmen; in den anderen Fällen ist der Bezug lediglich indirekter Art, indem die einzelne Aktion, wie z. B. der Wechsel eines Bürgers von einer gens zu einer anderen, alle angeht und interessiert. Die Kompetenz der Volksversammlung umfaßte in vordecemviraler Zeit nur jene nicht-regelsetzende, situationsgebundene Beschlußtätigkeit. Es sei bereits in diesem Zusammenhang festgestellt, daß diese Kompetenz der Volksversammlung nicht etwa nach der Zeit der XII-Tafeln von jener anderen, regelsetzenden Kompetenz im Sinne der normativen lex abgelöst wurde. Denn der Volksbeschluß hat auch in nachdecemviraler Zeit nicht ausschließlich jenen normativen Charakter besessen, sondern betraf ebenso oft die einzelne Aktion. Ein wesentlicher Teil der späteren leges rogatae bezog sich auf Kriegserklärung und Aktionen, die mit Krieg und Außenpolitik im weiteren Sinne zusammenhängen (z. B. Friedensschluß; Besteuerung; Bestrafung und Restituierung von Ausländern bzw. Untertanen; Koloniegründung), ferner auf Privilegien' (im modernen Sinne des Wortes) in großer Zahl und der verschiedensten Art (z. B. Provinztausch zwischen Beamten; Bewilligung des Triumphes; Belohnungen). Vielen dieser Volksentscheide fehlt, wie man sieht, nicht nur der normative Charakter, sondern auch der strenge Bezug auf die Bürger, denn nicht wenige betrafen Ausländer und nur insofern die Bürger, als deren Gesamtheit gegenüber den Ausländern eine Verpflichtung forderte oder übernahm. Der ausschließliche Bezug auf die Bürger fehlt die Römer es nicht taten, führt er darauf zurück, daß zu dem Zeitpunkt, als Wahl und Gericht in die Zuständigkeit der Comitien fielen, „bereits zwischen wirklicher Gesetzgebung (sc. genereller Norm) und diesen auf den Einzelfall beschränkten Akten" unterschieden wurde; ähnlich Botsford 177 ff.

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit

75

auch bei einer großen Anzahl v o n Volksbeschlüssen, die die F o r d e r u n g nach der n o r m a t i v e n Bindung erfüllen (z. B . V e r t r ä g e m i t Bundesgenossen; P r o vinzstatuten). W e n n die E n t w i c k l u n g des Volksbeschlusses in nachdecemviraler Z e i t ausführlicher besprochen w e r d e n wird (u. S. 1 0 0 ff.), w i r d der C h a r a k t e r der verschiedenen Beschlüsse noch genauer e r ö r t e r t w e r d e n . H i e r genügt zunächst die Feststellung, daß bis auf das E n d e d e r Repubik der normative u n d die B ü r g e r betreffende Volksbeschluß (also lex im eigentlichen Sinne) durchaus n u r einen Teil der Tätigkeit der Volksversammlungen umfaßte. D e r die einzelne A k t i o n betreffende Volksbeschluß der älteren Periode setzte sich also in sogar e r w e i t e r t e r und vielfältigerer F o r m auch fort, als der n o r m a t i v e Volksbeschluß {lex)

schon lange selbstverständlich g e w o r d e n w a r .

M a n kann nach einem Überblick über die Volksbeschlüsse des fünften u n d vierten J a h r h u n d e r t s sogar sagen, d a ß der nicht-regelsetzende Volksbeschluß, also die ältere F o r m , bis zur M i t t e des dritten J a h r h u n d e r t s ü b e r w o g 4 . D e r Volksbeschluß als Rechtsquelle (also lex im strengen Sinn) drang nur allmählich durch u n d gewann erst seit dem zweiten J a h r h u n d e r t B e d e u t u n g . 4

Es fehlt eine methodisch einwandfreie Untersuchung über die durch die Annalistik überlieferten älteren Volksbeschlüsse. Rotondi und Botsford, die sich mit der Geschichte der römischen Volksgesetze am intensivsten befaßt haben, gehen ganz offenbar von der Glaubwürdigkeit der annalistischen Berichte über die römische Frühgeschichte aus, und selbst eine so kritische Einstellung wie die von E. Herzog, Über die Glaubwürdigkeit der aus der römischen Republik bis zum Jahre 387 der Stadt überlieferten Gesetze, Dek. Progr. Tübingen 1881; ders. Staatsverfassung X L V I ff. 121 ff. 150 f. ist noch zu optimistisch. Auch J . Binder, Die Plebs, 1909, 464 ff., det die Entstehungsgeschichte unserer Überlieferung noch weit kritischer beurteilt als Herzog, stützt die Erzählungen der Annalisten über das frühe Rom mit der durch nichts anderes als durch die bloße Vermutung gestützten Annahme, daß die uns vorliegenden Annalen bzw. deren Quellen auf eine Chronik hätten zurückgreifen können, die bis an den Anfang der Republik zurückgereicht habe. Eine Besinnung auf die Genesis der Quellen kann jedoch nur zu dem Schluß führen, daß von unserer literarischen Überlieferung über die ältere römische Geschichte für die Rekonstruktion dieser Frühgeschichte nichts bleibt als das, was wir für eine Chronik g e r i n g s t e n f a l l s (nicht etwa bestenfalls) voraussetzen dürfen. Nach allem was wir wissen, beschränkte sich jedoch die Chronik - in Erweiterung der Fasten - zunächst nur darauf, Magistratsnamen und eventuell auch Ereignisse aufzuführen, die für den bestimmten Zweck dieser Chronik (nämlich Erinnerungshilfe für den Bürger bei Abschluß von Privatgeschäften zu sein, für die er zurückliegende Daten benötigte) nützlich waren (also etwa Feldzüge, Eroberungen von Städten, Prodigien etc.). Eine demgegenüber erweiterte Chronik kann frühestens zu einem Zeitpunkt angenommen werden, für den ein neues Interesse an chronistischen Darstellungen sich einstellte. Das einzig sichere Datum, das wir mit einer solchen Veränderung des Chronikstils verbinden dürfen, ist das des Eintritts der Plebejer in das Priesterkollegium, das für die Chronik kompetent war: Für die Plebejer mag ein besonderes Interesse bestanden haben, die plebejische Ziele und die Geschichte der neuen plebejischen Geschlechter in ihnen angemessen erscheinender Weise der Nachwelt zu überliefern. Aber selbst dieses

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III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses Datum gibt noch keine Sicherheit dafür, daß nun die Chronik zu einem h i s t o r i s c h e n Dokument (mit politischer Zielrichtung) wurde, da dieser neue Chronikstil ein Minimum an Fähigkeit zur literarischen Ausprägung des Stoffs voraussetzt, das erst erworben werden mußte. Somit bleibt keine Sicherheit dafür, daß uns eine schriftliche Überlieferung, die älter ist als d. J. 300 oder 325 (wobei die Zeit einer Generation zugegeben ist, die ein Chronist d. J . 300 vielleicht noch hat überblicken können), in der annalistischen Geschichtsschreibung erhalten ist. Für die Rekonstruktion der römischen Frühgeschichte bleiben uns danach (außer archäologischen, sprachwissenschaftlichen und religionswissenschaftlichen Daten sowie einzelnen Hinweisen der griechischen Literatur) nur die Institutionen und Rechtsformeln aus dem privaten, öffentlichen und religiösen Leben, die bis in die späte, im Lichte einer schriftlichen Überlieferung stehende Zeit tradiert wurden und von denen wir auf die ältere Zeit schließen können. Diese Überlegungen sind alle längst im 19. Jahrhundert angestellt worden (man vgl. z. B. die bei A. Rosenberg, Einleitung und Quellenkunde zur römischen Geschichte, 1921, 120 ff. angegebene Literatur), aber selbst diejenigen, die an der quellenkritischen Analyse der Annalistik maßgeblich beteiligt waren, haben nicht immer die vollen Konsequenzen gezogen, und heute ist die neue Position bisweilen wieder die uralte. - Angesichts der methodischen Prämisse können wir aber für die Zeit vor d. J. 300 oder 325 kaum Ereignisse, sondern lediglich Entwicklungsphasen innerhalb einer relativen Chronologie erfassen. Der leider sehr oft ausdrücklich oder öfter stillschweigend gemachte Einwand, daß die Genesis unserer Quellen auch anders als hier angenommen verlaufen sein könnte, trifft nicht, weil wir es nicht damit zu tun haben, wie es ,wirklich', sondern wie es auf Grund unserer Quellen und unserer allgemein anerkannten Methoden gewesen sein könnte. Es zählt darum nur der Einwand, der den Nachweis dafür bringt (der Einwendende ist der Beweispflichtige), daß die erweiterte Chronik älter ist. Luftige Hypothesen aber sind kein Nachweis; niemand möchte die römische Frühgeschichte z.B. auf die berühmt-berüchtigten Geschlechterchroniken aufbauen, von denen wir nichts wissen. Ein Blick auf die ältere Annalistik genügt, um zu zeigen, daß selbst dann, wenn dieser Nachweis gelänge, es ein beinahe aussichtsloses Bemühen ist, einen so angenommenen .wahren* Kern (außerhalb der Institutionen) von dem annalistischen Beiwerk zu befreien. Eine Untersuchung darüber, was von den annalistischen Berichten über die ältere Zeit nach Inhalt, Tendenz, Interesse und Formulierung (was alles voneinander abhängt) der Geschichte des zweiten und ersten Jahrhunderts zuzurechnen ist, von wo es in die Frühzeit übertragen wurde, würde zeigen, daß zu wenig übrig bleibt, um überhaupt eine .Geschichte' damit zusammenstellen zu können. Diese Arbeit ist jedoch noch gar nicht in Angriff genommen (vielmehr ist immer nur die Annalistik für das frühe Rom nach ihrem Wert für eben dieses frühe Rom angesprochen) worden. Daß von der Annalistik über das ältere Rom nach Abzug der nachweislich späten Zusätze kaum etwas übrig bleibt, könnte schon einen Hinweis darauf geben, daß auch nichts vorhanden war. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die römische Geschichte vor - großzügig gesagt - 350 v. Chr. aus den Angaben einer Chronik für gerichtliche Zwecke (möge sie den Gallierbrand, ich weiß nicht wie, überstanden haben!), aus mündlich überlieferten (und damit natürlich veränderten) Geschichten über einzelne Ereignisse und Personen (z. B. Untergang der Fabier am Bache Cremera, Galliersturm, Camillus-Legende), aus Spekulationen über den Ursprung einzelner Institutionen (Volkstribunat, Decemvirat) und Namen sowie aus Angaben griechischer Historiographen zusammengestückt und im übrigen mit der Tendenz, die frühe Zeit im Spiegel der späten zu sehen, durchtränkt worden ist; vgl. o. S. 5 ff. Angesichts dieser methodischen Prämisse ist auch äußerste Zurückhaltung gegenüber den uns überlieferten Volksbeschlüssen für die römische Frühzeit geboten. Schon ein einfacher Überblick über die von Rotondi 189 ff. zusammengestellte Liste

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit

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W i e erklärt sich nun der besondere und beschränkte Zuständigkeitsbereich der ältesten Volksversammlung? Stimmt das, was wir hier über den Umfang und den Charakter der Kompetenz der Curiatcomitien ausgesagt haben, mit dem überein, was wir über den älteren römischen Staat wissen? W e n n der Volksbeschlüsse vor d. J . 287 bringt bezeichnende Ergebnisse. Sieht man einmal davon ab, daß die Quellen, auch wenn wir sie so nehmen, wie sie sind, nicht immer eindeutige Aussagen enthalten, insbesondere wegen der vielfach unklaren Zuteilung der Beschlüsse auf Tribüne oder ordentliche Magistrate Unsicherheit besteht, kann die Liste doch für eine vorläufige grobe Übersicht über die von der Annalistik der älteren Zeit zugeschriebenen Gesetze herangezogen werden. Von den 142 überlieferten Beschlüssen dieses Zeitraums, in die von Rotondi auch die unsicher überlieferten und die von der Forschung rekonstruierten (besser: konstruierten) sowie die nicht Beschluß gewordenen Beschlußanträge (rogationes) einbezogen wurden, sind mindestens 60 Plebiscite und scheiden damit aus der Liste aus, weil sie vor der lex Hortensia (287) keine Volksbeschlüsse sein können (vgl. u. S. 95 Anm. 2 3 ) . Weitere 5 Beschlüsse sind reine Doubletten; 26 gehören eindeutig der mythischen bzw. konstruierenden Geschichtsschreibung an, der wir natürlich auch die meisten Plebiscite und alle Doubletten verdanken. Viele von diesen Beschlüssen sind ganz offensichtlich Übertragungen später politischer Gedanken auf die Frühzeit (darunter mindestens 22 Plebiscite) und sollten von der Geschichtswissenschaft daher als Quelle für die späte anstatt für die frühe Republik benutzt werden. Von den verbleibenden 51 überlieferten Volksbeschlüssen betreffen 17 die Einrichtung neuer Magistraturen (12) und die Positivierung bestehender öffentlich- oder privatredhtlicher Ordnungen ( 5 ) ; es bedarf keines Hinweises, daß die meisten von ihnen, zumindest diejenigen, die vor der Mitte des fünften Jahrhunderts stehen, auch ein Produkt jener späten Geschichtskonstruktion sind, die für die bestehenden Einrichtungen eine Anfangsgeschichte ersann. Weitere 26 jener verbleibenden 51 Volksbeschlüsse betreffen Kriegserklärung, Friedensschluß, Vertragsschluß, Koloniegründung (2) und Bürgerrechtsverleihung (2). Wiewohl viele von ihnen natürlich im Zusammenhang der annalistischen Erzählung konstruierte Beschlüsse sind, spiegelt sich in ihnen eine echte Kompetenz des Volkes (und zwar der Centuriatcomitien) wider. Neben diesen Beschlüssen wahrscheinlich ursprünglicher Kompetenz des Volkes (vgl. o. den Text) verbleiben aus der Liste noch 8 Volksbeschlüsse, von denen zwei gar keine Beschlüsse sind (lex de clavo pangando v. J . 463 und die XII-Tafeln; zu letzteren u. S. 90ff.). Die restlichen 6 Volksbeschlüsse, die in die Zeit nach 342 v. Chr. gehören, sind die einzigen leges mit normativem Inhalt vor d. J . 287, die der Zeit, für die sie überliefert sind, mit großer Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden können, mit Bestimmtheit jedenfalls die lex Publilia Philonis de patrum auetoritate von 339, die lex Valeria de provocatione von 300 und die lex Hortensia von 287 (die anderen sind die leges Valeria militaris von 342; Publilia Philonis de censore plebeio creando von 339; Maenia de die instauraticio von 338 [?]). Ihnen ist vielleicht noch die lex Maenia de patrum auetoritate hinzuzurechnen (Rotondi 248), welche als eines der wichtigen, den Ständekampf abschließenden Gesetze an das Ende des vierten oder den Anfang des dritten Jahrhunderts gehört und dann dem Dictator C. Maenius zuzuschreiben wäre, wie B. G . Niebuhr, Römische Geschichte I I I , 1832, 493 f. glaubt, oder doch zumindest nicht lange nach der lex Hortensia beschlossen wurde, wie Mommsen, Staatsr. I I I 1042 Anm. 3 vermutet. Daß von diesen 6 bzw. 7 Gesetzen 4 bzw. 5 Dictatorengesetze sind, dürfte ein bezeichnendes Licht auf die damalige Ausnahmesituation des normativen Volksgesetzes werfen; vgl. u. S. 94.

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III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses

wir voraussetzen, daß die besprochenen Kompetenzen - Kriegserklärung, arrogatio, testamenti factio und inauguratio — die einzigen oder doch die wesentlichsten Zuständigkeiten des Volkes umreißen, haben wir in ihnen gleichzeitig die Umrisse dessen, was das publicum der ältesten res publica, modern gesprochen: was die Staatlichkeit der frühesten Organisationsform Roms beinhaltete. Konstitutiv war danch für die älteste Organisation der Zusammenschluß der Geschlechter. Darauf deuten, neben der Organisation der Volksversammlung als Versammlung der Geschlechterverbände (Curien) 5 , die Arrogation und die Zustimmung zu Einschränkungen der gesetzlichen Erbfolge, die bei dem gentilizischen Charakter der res publica immer die gesellschaftliche Struktur selbst wesentlich berührten. Als konstitutive Elemente der res publica lassen sidi aus der Volkskompetenz ferner noch die gemeinsame Kommunikation der Geschlechter mit den Göttern, die aus der Inauguration der Priester spricht, und die gemeinsame militärische Aktion ansprechen, auf die der Curiatbeschluß über das Imperium hindeutet. Gemeinsames religiöses Zentrum und gemeinsamer Krieg sind danach die politische, die gentilizische Struktur die gesellschaftliche Grundlage des ältesten Rom gewesen. Man wird noch hinzuhalten dürfen, daß auch die gemeinsame Vertretung gegenüber dem Ausland im Frieden (Vertrag) ursprüngliche Kompetenz der Comitien war, die später auf die Centuriatcomitien übertragen wurde; vielleicht gehörte sie in ältester Zeit aber auch dem Repräsentanten der Organisation, der anfangs wohl nur für den bestimmten Krieg 6 und erst zu einem späteren Zeitpunkt als eine ständige Institution der res publica vorstand. Wenn der Gegenstand des Volksbeschlusses nun ganz eindeutig auf jene politischen Grundlagen der res publica beschränkt war, ist er nichts anderes als eine Willensäußerung im R a h m e n jener politischen Grundlagen. Auch die Kompetenz über die Zusammensetzung der Geschlechter ist nur eine Zuständigkeit innerhalb eines festgelegten Rahmens politischer Organisation; denn es wird die Gesellschaft nicht reglementiert, sondern lediglich die Veränderung eines in seiner Struktur festliegenden Personenverbandes überwacht. Dieser Charakter der Kompetenz der Volksversammlung hat sich augenscheinlich zunächst auch dann nicht geändert, als mit dem Beginn der Republik und den einsetzenden Ständekämpfen sich an der Organisationsform der Volksversammlung und der Exekutive manches gewandelt hat. Die Centuriatcomitien, die jetzt als neue Volksversammlung 5 Zu dem Charakter der Curien als gentilizisdier Einheiten vgl. zuletzt die methodisch einwandfreie Darstellung von A. Momigliano, An Interim Report on the Origins of Rome, JRS 53, 1963, 108 ff. 6 Vgl. Latte, Exkurse.

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit

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hinzutraten 7 , weisen nämlich durch ihre Struktur als Heeresversammlung darauf hin, daß die Wahl des Heerführers und die Kriegserklärung mit den mannigfachen daraus resultierenden Kompetenzen der älteste Aufgabenbereich dieser Versammlung war: Der populus Romanus übertrug hier lediglich einen bereits vorhandenen Kompetenzbereich auf eine neue Organisationsform. Der älteste römische Volksbeschluß ist also eine politische Willenserklärung zu Einzelaktionen im Rahmen einer gegebenen staatlichen Organisationsform und einer gegebenen privaten Rechtsordnung8. Alle Versuche, diesen Volksbeschluß nicht von hierher, sondern von modernen juristischen Überlegungen zu konstruieren, sind daher unstatthaft 9 . Es ist also müßig, zwischen Privilegium und generellem Volksbeschluß zu unterscheiden, wenn die Aktion im Rahmen einer gegebenen Ordnung ursprünglich der entsdieidende Wesenszug in den Gegenständen der Volksbeschlüsse war. Auch die Behauptung, daß das Gewohnheitsrecht über dem Gesetzesrecht stehe (Arangio-Ruiz), ist eine ganz gegenstandslose Charakterisierung der älteren Volksbeschlüsse, da die Curiatcomitien überhaupt keine Normen festsetzten und sie folglich die Gewohnheit in gar keiner Weise berührten. Vollends unsinnig ist ferner die Einteilung des Volksbeschlusses in materielle und formelle Gesetze (Pernice); da der ältere Volksbeschluß nämlich keine Regeln setzte, hätte er lediglich formeller Natur sein können und wäre damit per definitionem seine eigene Ausnahme gewesen. Man kann diese Erklärung auch nicht retten, indem man sagt, daß diese Einteilung erst später, als es das normative Gesetz gab, sinnvoll sei; damit hätte man nämlich schon einen Entwicklungsprozeß des Gesetzesbegriffs zugegeben, den die formaljuristische Analyse, von der diese Einteilung stammt, von vornherein ausschließt. Der ältere Volksbeschluß ist also, wenn wir nun zusammenfassen, seiner F o r m nach gekennzeichnet durch seinen Charakter als W i l l e n s e r k l ä r u n g (iubere), durch den b e s t i m m t e n P e r s o n e n k r e i s der Willensträger (der populus Romanus in seiner gentilizischen, später auch timokratischen und lokalen Organisationsform) und durch seine g e n e r e 1 l e V e r b i n d l i c h k e i t (nicht generellen Bezug) für den in der OrganiDie Etablierung einer neuen Volksversammlung ist ohne eine große innere Unruhe undenkbar; sie gehört daher in die Ständekämpfe, die einzige Unruhe der Frühzeit, die wir kennen, und zwar in die Zeit vor den XII-Tafeln, die schon eine zweite Volksversammlung (comitiatus maximus) voraussetzen (Taf. IX 1 . 2 = Cic. legg. 3, 1 1 . 4 4 ) ; vgl. u. S . 8 4 Anm.2. s Vgl. auch O. Kariowa, Römische RechtsgesAichte I, 1885, 405 f.; Botsford 177 ff. 230; Rotondi 48 ff.; De Martino, Costituzione I 128 ff. ' Vgl. zum Folgenden o. S. 54 ff.

7

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III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses

sationsform zusammengeschlossenen Personenkreis. Seinem I n h a l t nach betrifft er nur die E i n z e l a k t i o n , und zwar alle diejenigen Aktionen, die sich aus dem politischen Zusammenschluß zur res publica ergeben. Materiell ist darum der älteste Volksbeschluß politische Aktion. Ein Wort ist noch zum Verständnis des W i l l e n s der Volksversammlung zu sagen. Bei der Inauguration scheint der Volkswille auf den göttlichen Willen übertragen zu sein, denn hier assistieren die Curien lediglich dem Akt der Einholung der göttlichen Zustimmung zu der für das Priesteramt vorgeschlagenen Person. Tatsächlich ist jedoch der Volkswille nur auf die Götter delegiert und zeigt das Volk durch seine Anwesenheit seine Kompetenz für den Akt, die man als eine Bestätigung der göttlichen Willenserklärung auffassen kann 10 . Während der Volkswille hier in d i r e k t e r Weise durch die göttliche Sphäre eingeschränkt ist, weil das Volk selbst durch die Frage an die Götter seinen Willen dem göttlichen Willen unterstellt (die allen Volksbeschlüssen vorangehende Auspication ist hier ja der Inhalt des Aktes selbst), wird er - nicht nur bei der Inauguration, sondern auch bei den Beschlüssen, über die abgestimmt wird (Arrogation; Einschränkung der gesetzlichen Erbfolge) - durch die göttliche Sphäre i n d i r e k t noch weiter dadurch eingeschränkt, daß der Gott jederzeit ungefragt durch Zeichen von sich aus eingreifen und die beschließende Versammlung aufheben kann. Weiter wird der Willensentscheid der Volksversammlung auch durch die weltliche Sphäre eingeschränkt. Die weltliche Einschränkung liegt in dem Initiativrecht des Königs bzw. der Beamten, insofern nämlich sie allein Vorschläge vor die Volksversammlung bringen können und die besondere Fragestellung wie überhaupt die Entscheidung darüber, ob man das Volk fragen will oder nicht, den Volkswillen von dem Willen des Königs (Beamten) abhängig macht. Der überlegene Wille des Königs (Beamten) ist Ausdruck seiner politischen Macht, die ihrerseits wieder in der besonderen gesellschaftlichen Struktur ruht, durch die der König (Beamte) in den Besitz seiner öffentlichen Stellung gekommen ist. Die oben gegebene Definition des Volksbeschlusses als Wille des in den Curien (Centurien, Tribus) versammelten Volkes ist also an die göttliche Zustimmung und das Initiativrecht 10 Mit dem Schwinden der Religiosität wird der Entscheidungsprozeß dann pervertiert. Denn wenn die göttliche Zustimmung zum Formalakt heruntersinkt, ist das nur zur Teilnahme an der Zeremonie berechtigte Volk lediglich nodi Zuhörer einer Willenserklärung des Versammlungsleiters. Die passive Assistenz des Volkes, die gegenüber den Göttern ihren Sinn hatte (dem göttlichen Willen kann man kein ,nein' entgegensetzen, sondern ihn nur bestätigen), erhält damit audi ,formalen' Charakter, und es ist der ganze Akt dann eine in sinnlose Formalitäten eingekleidete Willenserklärung der Person, die das Recht hat, die Versammlung zu berufen und zu leiten.

1. Der Volksbeschluß der Frühzeit

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des Königs (der Beamten) gebunden, doch stellen diese Bindungen keine bewußten Willensbeschränkungen dar, sondern zeigen lediglich die Bedingungen, unter denen es Volkswille geben kann. Die Untersuchung über Form und Inhalt des ältesten Volksbeschlusses hat ergeben, daß der römische Volksbeschluß von seinem Ursprung her nicht normativen Charakter gehabt hat und daher mit dem o. S. 58 ff. entwickelten lex-Begriff nicht verbunden werden kann. Für die formalrechtliche Regelung innerstaatlicher Ordnung fehlt für die frühe Zeit jeder Hinweis in der Überlieferung. Aber sie ist nicht nur nicht nachweisbar, es ist überhaupt die Annahme merkwürdig, daß eine primitive Geschlechterordnung, in der die staatliche' Gewalt kaum ausgebildet ist, in dem Volk eine Instanz für die Normen des öffentlichen und privaten Lebens gehabt haben soll. Die Ausgestaltung des normativen Rechts verlangt ein großes Reflexionsvermögen auf die Bedingungen des menschlichen Seins, das sich nicht von selbst einstellt, sondern seine Voraussetzungen in den sich wandelnden Verhältnissen hat, unter denen die jeweilige menschliche Organisation steht. Für den sehr lockeren Charakter der frühen römischen res publica, in der die Ordnungsprinzipien mit Ausnahme ganz weniger außerhalb staatlicher' Entscheidungsmöglichkeiten lagen, und bei dem geistigen Entwicklungsstadium der Römer, in dem jeder Versuch einer Reflexion durch die sakral geheiligte Tradition gebremst wurde, konnte es Entscheidungen normativer Natur nicht geben. Der öffentliche Bereich bot hierfür schon wegen der wenig intensiven Organisation des staatlichen Verbandes kaum Ansätze, und der private Bereich war durch die sakral gebundene und durch die gesellschaftliche Struktur festgelegte Gewohnheit bestimmt. Doch nicht nur die Königszeit, auch die frühe Republik enthielt, soweit wir wissen, keinen Ausgangspunkt für normative Volksbeschlüsse im öffentlichen und privaten Bereich. Der Sturz des Königtums, den man als Ansatzpunkt eines Wandels und als Anlaß zu normativer Beschlußfassung nennen könnte, berührte wohl kaum das Verhältnis des in der Volksversammlung zusammengeschlossenen populus Romanus zur res publica, denn die Republik entstand nicht aus einer Volkserhebung, sondern auf Grund einer Aktion der Geschlechterhäupter zwecks Änderung der exekutiven Gewalt. Ob man für diesen Akt die Sanction der Curien eingeholt hat, ist sehr fraglich. Wenn die annalistische Geschichtsschreibung für die Änderung der staatlichen Organisation nach der Vertreibung der letzten Dynastie mit Gesetzen aufwartet, ist angesichts der Genesis jener Historiographie und der Intentionen ihrer Historiographen über die Nichtigkeit dieser Berichte natürlich weiter kein Wort zu verlieren. Wenn aber die Geschlechterhäupter Roms die Vertreibung der Tarquinier und die

82

III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses

Errichtung eines jährlich wechselnden Amtes anstelle des Königtums tatsächlich durch Curiatbeschluß sanctioniert hätten (was keine römische Tradition mehr beweisen, sondern man nur hypostasieren kann), müßte man diesen Entschluß zunächst an der Vergangenheit messen, hätte ihn also nicht von dem normativen Gesetz der Spätzeit, von dem man noch keine Vorstellung haben konnte, sondern von den Volksbeschlüssen der Königszeit her zu interpretieren. Er wäre dann weniger als Ausdruck einer normativen Kompetenz' der Curiatcomitien anzusehen denn als außerordentlicher politischer Akt, der nicht mehr den R a h m e n einer gegebenen politschen Ordnung, die ja gesprengt wurde, betroffen, sondern in einer Art politischen Umbruchs die res publica n e u k o n s t i t u i e r t hätte. Wenn man so einen Volksbeschluß am Anfang der Republik hypostasiert, mag man aber immerhin feststellen, daß die Volksversammlung für ein derartige Neukonstituierung (und damit Normierung) als die geeignete Institution angesehen wurde. Angesichts des Charakters des älteren römischen Volksbeschlusses erscheint mir eine solche Konstruktion jedoch eher den modernen Legalismus zu befriedigen als den Verhältnissen der altrömischen Gesellschaft angemessen zu sein 11 .

2. Ursprung und Ausbildung des normativen Volksbeschlusses

{lex)

Der Typ des Volksbeschlusses, wie er im Vorangehenden vorgestellt wurde, erhielt sich nach Form und Inhalt bis zum Ausgang der Republik. Zwar wird sein Anwendungsbereich, wie noch zu zeigen sein wird, reicher und vielfältiger, doch wandelte sich damit nicht die Grundstruktur des Typs. Allerdings behauptete er sich nun nicht mehr allein, sondern es trat ein seinem Inhalt und seiner Form nach andersartiger Volksbeschluß neben ihn: das normative Volksgesetz. Jene ältere, die Entscheidung politischer Einzelfälle betreffende Beschlußkompetenz wurde nur sehr allmählich durch die neue, für den privaten wie den öffentlichen Bereich normensetzende Zuständigkeit der Volksversammlung ergänzt. Es sollen im folgenden die Umstände, die zu dieser Entwicklung führten, und der besondere Charakter der durch das Volk gesetzten Normen dargelegt werden. Am Anfang der Veränderung menschlicher Lebensformen und der Entdeckung neuer Ordnungsprinzipien stehen immer Unruhen, die durch eine » Vgl. u. S. 89 Anm. 10.

2. Ausbildung des normativen Volksbeschlusses

83

Verelendung oder durch das Erstarken gesellschaftlicher Kräfte verursacht werden; der Zweifel an der Richtigkeit und Gerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse, von dem diese Unruhen fast regelmäßig begleitet werden, führt dann allmählich zu tastenden Versuchen nach neuen Wegen. Die erste nachweisbare große Unruhe, von der die römische res publica erfaßt wurde und von der alle Gruppen der Gesellschaft - nicht nur, wie bei der Beseitigung des Königtums, die Patricier - ergriffen wurden, sind die sogenannten Ständekämpfe. In den etwa 150 Jahren, die sie dauerten, durchliefen sie mehrere Stadien, die aus der konstruierten Geschichte der Annalisten nur in Umrissen noch geahnt und allein über die Rechts- und Religionsaltertümer bzw. über eine Rekonstruktion der Begriffsgeschichte dieser Altertümer etwas genauer bestimmt werden können. Denn die Altertümer, d. h. die religiösen und rechtlichen Institutionen der Frühzeit, die uns aus der späten Überlieferung bekannt sind, haben sich selbst dann wenig gewandelt, wenn die Art und Weise, in der man sie praktizierte, eine andere geworden war: Die ältere Entwicklungsstufe schaut daher aus der späteren meist noch heraus. Die historische Einbettung aller Einrichtungen der res publica, die sowohl selbst als auch in ihrer Funktionsweise das Janusgesicht des historischen und aktuellen Bezuges zugleich in sich tragen, ermöglicht und verlangt somit in stärkerem Maße die Besinnung auf die Entwicklungsgeschichte aller staatlichen Einrichtungen und politischen Begriffe. Zwar will auch die moderne Verfassung auf dem Hintergrund ihrer geistigen Voraussetzungen verstanden sein, doch ist sie auch aus sich selbst heraus - ohne ihre .Geschichte' — erklärbar und muß es sogar sein. Die römische .Verfassung', d.h. was jeweils geltende und praktizierte staatliche Ordnung war, läßt sich n u r aus ihrer Geschichte begreifen. Der Prozeß der historischen Deutung der staatlichen Einrichtungen und Funktionen schafft dabei gleichzeitig Ergebnisse für die historische Entwicklung wie für die jeweilige Geltung einer Sache. Insbesondere dort, wo die Ordnungsprinzipien der res publica sich einem augenfälligeren Verständnis verschließen und die Ungereimtheiten von Institutionen, Funktionen und politisch-soziologischer Begriffswelt eine anfängliche Bewunderung der staatlichen Ordnungsprinzipien Roms in eine Verwunderung darüber umschlagen lassen, daß in diesem Staat überhaupt etwas funktionieren konnte, ist die historische Reflexion unerläßlich. Viele wesentliche Schwierigkeiten, die die spätere staatliche Ordnung Roms uns aufgibt, lösen sich nur durch eine Besinnung auf die Rolle des Ständekampfes in der Entwicklung der res publica auf, der die privaten und öffentlichen Verhältnisse besonders tief aufgewühlt hat und als die letzte wirklich tiefgreifende Änderung der res publica aus den späteren Einrichtungen auch

84

I I I . Die Entwicklung des Volksbeschlusses

noch einigermaßen gut zu rekonstruieren ist. Die scheinbar diffuse Kompetenz der Volksversammlungen z. Zt. Ciceros geht ebenso auf den Ständekampf zurück wie die Zwiegesichtigkeit des Gesetzesbegriffs der späten Zeit. In der Tat dürfte schon bei ganz oberflächlicher Betrachtung der Grundzüge des Ständekampfes klar sein, daß die Unruhen auf Form und Materie der Volksbeschlüsse besonders nachhaltig gewirkt haben müssen. Die Ständekämpfe sind nicht etwa eine, sondern die einzige nachweisbare Periode, in der das Volk sich zum innerstaatlichen Partner der Aristokratie aufschwang bzw. im Kampf den Aristokraten sich als Partner aufzwang 1 . Der Sinn des Kampfes lag aber nicht in der Erringung von Vorteilen, die durch den Augenblick bestimmt waren, sondern in der bleibenden Sicherung oder Umgestaltung zunächst vor allem privatrechtlicher, später auch öffentlichrechtlicher Lebensformen. Erst diese Unruhe, deren Folge der Ruf nach Sicherung bestehender und nach Reform korrekturbedürftiger Traditionen war, konnte überhaupt die Voraussetzung für die Abänderung bzw. auch für die bewußte Fixierung der bestehenden Ordnung liefern. Die Bedingungen für die rechtliche Normierung bestimmter politischer Wünsche und Forderungen liegt also in den Ständekämpfen, als der Streit der Plebejer mit den Patriciern die Volksversammlung zu einer lebendigen Institution auch im i n n e n politischen Kampf machte und die Beilegung des Streits die formalrechtliche, allen sichtbare Festlegung verlangte. Der Ständekampf machte das Volk - vermittels der Institutionen der Plebs, aber auch durch die Centuriatcomitien, die ja ebenfalls in dieser Auseinandersetzung ertrotzt wurden — zu einem politischen Faktor innenpolitischer Reform, und seine Ergebnisse verlangten die Niederlegung der politischen Forderungen in Rechtsvorschriften. Der eigentliche Motor der (normativen) Volksbeschlüsse ist daher auch nicht die alte, von den Geschlechterhäuptern beherrschte Volksversammlung (Curiatcomitien) und nicht einmal die ertrotzte neue Volksversammlung, die sich nicht mehr nach Geschlechterverbänden (Curien), sondern nach Heeresabteilungen (Centurien) organisierte 2 ; der Aus1

2

Diese Partnerschaft war allerdings wohl nur eine scheinbare, der eigentliche Partner der Patricier vielmehr der reiche Plebejer. Die Annalistik hat die Centurienordnung dem König Servius Tullius zugewiesen, und darin folgen ihr zahlreiche Gelehrte bis in die jüngste Zeit hinein (vgl. die bei E. Meyer, Staat 487 f. angegebene Literatur, dazu A. Momigliano, J R S 53, 1963, 119 f.), ohne daß jedoch aus allen Abhandlungen klar würde, ob man Servius Tullius lediglich die nach Centurien gegliederte Heeresordnung oder auch die Einrichtung dieser Versammlung als p o l i t i s c h e Versammlung, die die obersten Magistrate wählte, zu Gericht saß und später auch politische Entscheidungen anderer Art fällte, zuschreiben möchte. Daß aber die politischen Centuriatcomitien das aus rein militärischen Rücksichten nach Centurien gegliederte Heer voraussetzen (und also die Einrieb-

2. Ausbildung des normativen Volksbeschlusses

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gangspunkt aller Bewegungen dieser Zeit ist vielmehr die Versammlung dei Plebejer (concilium plebis),

die als gegen den patricischen Staat gerichtete

revolutionäre Organisation in ihren Beschlüssen, den Plebisciten, die Richtlinien des Kampfes festlegte. Das concilium

plebis war die Einrichtung, in

der die neuen Ideen sozusagen .umgeschlagen' und als Forderung formuliert wurden. Das Plebiscit des Canuleius über die Aufhebung des Verbots z. B. war eine dieser Forderungen,

conubium-

die, jahrelang vorgebracht,

schließlich durchgesetzt wurde. Andere Forderungen stecken in den Plebisciten der Volkstribune C. Licinius Stolo und L . Sextius Lateranus, die —neben manchem uns heute Verdächtigen, das wahrscheinlich als späte Konstruktion anzusehen ist - als glaubhaften Kern der plebiscitaren Aktion sicherlich die Forderung nach der Beteiligung der Plebejer am höchsten Amt enthielten. Natürlich waren diese Plebiscite keine Volksbeschlüsse, denn das concilium

plebis war nicht die Volksversammlung — das waren Curiat- und

Centuriatcomitien - , sondern das Volk in Aufruhr. Diese Versammlung war ja auch nicht zu dem Zwecke errichtet, die ordentlichen Volksversammlungen zu ersetzen; sie sollten die Plebs lediglich zur Verkündung ihrer Forderungen funktionsfähig machen, weil die ordentlichen Versammlungen durch das Initiativrecht der patricischen Versammlungsleiter für Vorschläge der Plebs blockiert waren. Das Plebiscit erzeugte daher kein geltendes Recht; es stand außerhalb der Rechtssphäre, es war politisches Programm. Aber die Pletung eines nach Centurien organisierten Heeres und die der comitia centuriata in einem zeitlichen Abstand erfolgten), ist schon aus der Überlegung völlig klar, daß der soziale Wandel (hier: die Einrichtung der Phalanx und die damit verbundene soziale Hebung des kleinen und mittleren Hofbesitzers) dem Bewußtsein von der politischen Bedeutung dieses Wandels vorausgehen muß. Die durch die neue Kampfestaktik bedingte Gliederung des Heeres nach Centurien kann darum durchaus schon in der Königszeit geschaffen worden sein (und vielleicht die Verknüpfung der Centurienversammlung mit Servius Tullius eine durch die Rechtsinstitutionen vermittelte echte Uberlieferung sein; der Fußsoldat ist im etruskisch-latinischen Raum jedenfalls schon im 6. Jahrhundert nachzuweisen, vgl. F. Altheim, Lex sacrata. Die Anfänge der plebejischen Organisation, Albae Vigiliae 1,1940, 39 ff.), doch verlangt deren Umwandlung in eine politische Versammlung das (erst durch die veränderte Heeresorganisation bedingte) entwickelte Selbstbewußtsein und das daraus resultierende politische Engagement derjenigen Bürger, die in der neuen Heeresordnung die größte Belastung trugen, also der Hopliten (classis). Auf Grund unserer Quellenlage können wir aber einzig die Ständekämpfe als eine Periode nachweisen, in der sich größere Massen von Bürgern politisch engagierten und sich durch den innenpolitischen Kampf das politische Stimmrecht ertrotzten, und folglich gehört die Einrichtung der Centuriatcomitien als p o l i t i s c h e Versammlung in diese Zeit, und zwar vor oder kurz vor die XII-Tafeln, weil diese die Centurienversammlung als eine politische Versammlung bereits voraussetzen (Cic. legg. 3, 11. 44); zur neueren Literatur über die Centurienordnung vgl. W.Kunkel, SZ 72, 1955, 316ff.; Staveley, Voting 125.

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I I I . Die Entwicklung des Volksbeschlusses

biscite haben durch die in ihnen niedergelegten normativen, auf alle Bürger sich beziehenden Forderungen das Bewußtsein geschaffen, daß die Normen der Lebensordnung auch durch Volksbeschluß geändert werden könnten, daß Volksbeschluß auch generelle Norm im staatlichen' Bereich sein könne, und gerade der Umstand, daß solche Forderungen als Resolutionen' dem Kampfe vorangetragen wurden und die Menschen oft über Jahre beschäftigten 3 , wird sowohl die Vorstellung vom Volksbeschluß als normativer Satzung für Bürger gefestigt als auch bewirkt haben, daß der normative Beschluß später (jedenfalls von den Juristen) schließlich als der eigentliche und wervollere Teil der Kompetenz des Volkes angesehen wurde. Das soll natürlich nicht heißen, daß alle Plebiscite der frühen Zeit normativen Charakter gehabt hätten. Es war ja jede Willensäußerung der revolutionären Plebs ein Plebiscit, und sogar die meisten von ihnen werden situationsgebunden gewesen sein, wie etwa die Aburteilung des politischen Gegners (.Lynchjustiz'). Doch gibt es eben auch das normative Plebiscit, und es sind gerade die tragenden Gedanken der Plebs, nämlich ihre programmatischen Forderungen, die in ihnen formuliert wurden. Doch die Schwierigkeiten der Plebejer waren doppelter Natur. Sie mußten einmal ihre Forderungen durchsetzen, zum anderen aber brauchten sie eine Form, in der sie ihre (normativen) Reformen verbindlich machen konnten. Das letztere war alles andere als selbstverständlich, da es Volksbeschlüsse, wie wir sahen, nur als Willenserklärung im Rahmen der gegebenen Ordnung, nicht zur Korrektur der Ordnung gab. Man darf die Macht der Tradition, die jeder Änderung der einmal gegebenen Umstände hemmend im Wege stand, nicht unterschätzen. Wie war bei dem Fehlen jeglichen Denkens, das das Gegebene als etwas Manipulierbares angesehen hätte, die Änderung möglich? Die Menschen hatten nicht das Bewußtsein, daß die Umstände des Lebens unter ihrer Herrschaft stehen könnten, und das Fehlen einer Form, in der man sein Belieben über die gegebenen Verhältnisse hätte zum Ausdruck bringen können, versteht sich so von selbst. Wenn die politische Unruhe nun aus sich heraus den Wunsch nach Veränderung erzeugte, 3 Eine Erinnerung daran, daß das ,normative' Plebiscit kein mit einem bestimmten Zeitpunkt verbundener Beschluß war, wie die das Plebiscit und den Beschluß der Curien, Centurien und Tribus zusammenwerfenden Annalisten uns weismachen wollen, sondern ein sich über Jahre hinziehender politischer Kampfruf, bewahrt die annalistische Tradition in dem Bericht über die Licinisch-Sextischen Plebiscite. Die Volkstribune hatten danach 10 Jahre lang (376-367) als Sprecher der ganzen Plebs die Forderung nach der Wahl eines plebejischen Consuls gestellt; nach der (kaum gesetzlich fixierten) Erfüllung der Forderung wurde dann mit einer gewissen Berechtigung in den Augen der Späteren die Forderung (d. i. das Plebiscit) als die eigentliche Grundlage der Neuordnung angesehen; vgl. den Text.

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wie es in den Ständekämpfen der Fall war, dann war die bloße Willenserklärung, das Plebiscit, noch lange keine Form, zumal die Plebejer nur einen Teil des ganzen populus darstellten. Das Plebiscit war zunächst nur der Wunsch nach verändernder, normativer Gestaltung bestimmter Lebensumstände, ein drängendes Suchen nach Anerkennung, dem die Möglichkeiten einer bindenden Realisierung nicht bewußt waren. Wenn man, wie ich oben dargelegt habe, manche Forderungen der Plebejer, wie z. B. die Aufhebung des Eheverbots zwischen Patriciern und Plebejern, dadurch anerkannte, daß man das neue Recht einfach praktizierte, so ist der Verzicht auf .formelle' Sanktionierung eben auch in dem Fehlen einer Form begründet. Es blieb in der Erinnerung natürlicherweise nur das Plebiscit, das zur Anerkennung führte, wie z. B. das plebiscitum Canuleium, obwohl es damals gar keine Grundlage gesamtstaatlichen Rechts sein konnte. Ebenso verhält es sich mit dem Licinisch-Sextischen Plebiscit über die Wahl eines plebejischen Consuls. Daß hier keine Rechtsvorschrift vorlag, sondern eine praktische Durchführung der plebiscitären Forderung sich allmählich zur gewohnheitsrechtlichen Anerkennung durchrang, erkennt man noch deutlicher daran, daß auch nach 367/66, dem angeblichen Datum des Licinisch-Sextischen Plebiscits (auch nach der annalistischen Tradition aber ist es 10 Jahre älter), in einer Reihe von Jahren beide Consuln Patricier waren 4 . Eine plebejische Forderung führte hier nach einigen Jahren über die grundsätzliche Anerkennung (367/ 366) zum unverrückbaren mos (seit 321) 5 . Die Form für die Erfüllung der Wünsche, die alle Bürger bindende Normen setzte, fand man schließlich in der lex. Doch die volksrechtliche lex ist keineswegs eine ,Erfindung', sondern das Endprodukt einer Entwicklung, die durchaus nicht geradlinig verlief. Bei dem Stand der Überlieferung ist es schwer, eine zeitliche Abfolge zu rekonstruieren, in der diese Entwicklung verlief, und es hat auch wohl kaum deutlich trennbare Entwicklungsstufen gegeben. Aber es läßt sich noch sagen, daß die Plebejer wahrscheinlich den ersten Schritt machten, und zwar unter einem gewissen Zwang. Denn wie sie um Anerkennung ihrer plebiscitären Forderungen rangen und u. U. sogar Jahrzehnte um sie kämpfen und auf ihre Erfüllung warten konnten und • Vgl. H. Siber, Die plebejischen Magistraturen bis zur lex Hortensia, Leipz. rechtswiss. Studien Heft 100, 1936, 50 S.; Bleidcen, Volkstribunat 15 ff. 5 Wenn die annalistische Überlieferung später, als der normative Volksbeschluß selbstverständlich und als das Plebiscit mit dem Beschluß der anderen, ordentlichen Volksversammlungen gleichgesetzt worden war, die Reformen der Ständekämpfe ,gesetzlich' verankerte und das überlieferte Plebiscit dann oft als gesetzliche Grundlage verstand, sagt das natürlich nichts über die frühe Zeit, sondern nur etwas über den Legalismus der Spätzeit aus.

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mußten, so konnten sie auf die V o r a u s s e t z u n g e n für diesen politischen Kampf nicht einen Augenblick warten. Die Voraussetzung des Kampfes war aber die Existenz einer Gemeinschaft aller Plebejer. Jedes Plebiscit, d. h. jede Willenserklärung im politischen Kampf, setzte die plebejische Organisation voraus, sowohl die Versammlung der Plebs (concilium plebis) wie vor allem die Sprecher und Versammlungsleiter der Plebs {tribuni plebis); ohne sie gab es keinen Kampf. Diese Einrichtungen mußten daher verbindlich gesichert sein, verbindlich nicht nur gegenüber den Plebejern, sondern auch gegenüber den Patriciern, denen man sich gegenübersah. Und da die Verbindlichkeit und Sicherheit der Einrichtungen eben nicht von Rechts wegen zu erreichen war, weil die Plebs ja das aufrührerische, gegen den patricischen Staat sich auflehnende Volk war, schuf der revolutionäre Elan sich die unabdingbare Voraussetzung für den Kampf in einer außerordentlichen Form, nämlich in den leges sacratae. Die lex sacrata ist eine durch Sacration an bestimmte Gottheiten gesicherte Verpflichtung. Sie enthält normative Gebote oder Verbote, die entweder, sofern der Gegenstand der Verpflichtung seiner Natur nach von unbestimmter Dauer ist, für immer oder, sofern der Gegenstand seiner Natur nach einen zeitlich bestimmten Endpunkt hat, für die Dauer des Sachbezugs gelten 6 . Die letztere Form der lex sacrata kennen wir nur aus dem außerrömischen Italien, wo sie eine Verpflichtung von Soldaten ist, in einem bevorstehenden Krieg bestimmte militärische Disziplin zu wahren 7 . Diese Normen, die für die verschiedenen Völker und Kriege in ihren Grundzügen vielleicht ähnlich gewesen sind, stellen also eine frühe Form der soldatischen Dienstverpflichtung dar, die wegen des Mangels festerer Staatlichkeit und damit verbundener fester Formen soldatischen Verhaltens die extrem scharfe Sicherung durch die Sacration verlangte. Ob auch die Römer jemals diese Form der militärischen Verpflichtung gekannt haben, wissen wir nicht. In der frühen Geschichte Roms bzw. der Latiner, als die res publica in etwa jene lockere Form gehabt haben mag wie die der italischen Völker der Zeit, für die uns leges sacratae überliefert sind, scheint nach dem Ausweis der Quellen die militärische Verpflichtung zum Gehorsam nicht die lex sacrata, sondern die coniuratio ohne Sacration gewesen zu sein, die wir in Ausnahmefällen noch in historischer Zeit finden8; später, als die Zugehörigkeit zum 6 Vgl. Altheim a. O. 36 f. 7 Sie findet sich bei den Samniten (Liv. 9, 4 0 , 9 [ 3 1 0 v. Chr.]; 1 0 , 3 8 [293 v. Chr.]), Äquern, Volskem (Liv. 4 , 2 6 , 3 [431 v. Chr.]'), Etruskern (Liv. 9, 3 9 , 5 [310 v. Chr.]) und Ligurern (Liv. 36, 3 8 , 1 [191 v. Chr.]). 8 Vgl. Latte, Exkurse; J . Bleicken, Coniuratio. Die Schwurzsenen auf Münzen und Gemmen der römischen Republik, Jahrb. f. Numismatik u. Geldgesch. 1 3 , 1 9 6 3 , 5 1 ff.

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Bürgerverband die Verpflichtung zum Militärdienst einschloß, ist sie dann dem sacramentum

gewichen.

In Rom kennen wir die lex sacrata nur als eine Verpflichtung gegenüber einer Sache, die praktisch von unbestimmter Dauer ist. Sie betrifft hier ausschließlich den Schutz plebejischer Einrichtungen gegen patricische Übergriffe, gehört also in den Ständekampf. Ob diese leges sacratae der Plebejer wie bei den Italikern auf einen s o l d a t i s c h e n

Verpflichtungsakt zurück-

gehen, der wie die italische lex sacrata durch Sacration gesichert war, ist aus den oben angegebenen Erwägungen sehr ungewiß oder gar unwahrscheinlich; deswegen besteht dieselbe Ungewißheit auch darüber, ob das Volkstribunat ursprünglich militärischen Charakter gehabt h a t 9 . Doch wie dem auch sei, es steht jedenfalls nach den Aussagen der Quellen fest, daß die römischen leges sacratae alle im Zusammenhang mit den Ständekämpfen stehen: Sie sind alle zum Schutze plebejischer Einrichtungen geschaffen word e n 1 0 , und auch die Römer selbst haben später mit dem Begriff der lex 9 Altheim a. O. führt die lex sacrata der Plebejer auf die samnitische lex sacrata zurück, die ihrerseits in dem „Ständekampf" zwischen den Samniten und Etruskern Capuas sich entwickelt haben soll (19 ff.). Jener „Ständekampf" ist jedoch das Produkt reiner Kombinatorik und überhaupt der Terminus für die Kämpfe zwischen Samniten und Etruskern unangebracht. Von den Thesen Altheims bleibt allenfalls als vage Vermutung, daß die römische lex sacrata auf die italische zurückgehe und also - jedenfalls anfangs - militärischen Charakter gehabt habe (30 ff.). 10 Sie betreffen vor allem den Schutz des Tribunats (Cic. Sest. 79; Liv. 2, 33, 2 f.; 3, 55, 6 ff.; Dion. 6, 89, 3). Auch die lex sacrata de Aventino publicando v. J. 451 der Tradition wurde als ein den Plebejern zugehöriges Gesetz empfunden (Liv. 3,32,7: lex Icilia . . . aliaeque sacratae leges), was damit zusammenpaßt, daß der Aventin als Reservat der Plebejer angesehen wurde. Doch ist die "Überlieferung des Gesetzes dunkel, denn sein Status wird nicht ganz klar (es stellt sich als Plebiscit vor und wird nur Liv. a. O., nicht aber Liv. 3, 31,1 lex sacrata genannt; vgl. Frezza, Lex publica 65), und der Sinn ist rätselhaft. - Wenn der von den Tribunen angeregte Beschluß v. J. 357 v. Chr., ne quis .. . populum sevocaret, der eine Kapitalsanction enthielt (Liv. 7,16, 8), eine lex sacrata war, wie Mommsen, Strafr. 552 Anm. 5 vermutet, gehört auch er eindeutig zu den Schutzbestimmungen der plebejischen Organisation. Das Privilegienverbot war hingegen keine lex sacrata, wie Mommsen a. O. glaubt. Denn die beiden Belege, die dafür angeführt werden können, Cic. dorn. 43 und Sest. 65, nennen beide das Privilegienverbot (und Sest. a. O. auch die Beschränkung des kapitalen Urteils auf die Centuriatcomitien) als Vorschrift der leges sacratae u n d der XII-Tafeln. Da das Privilegienverbot und die Beschränkung der Kapitalstrafe auf die Centuriatcomitien von Cicero, legg. 3, 44 (vgl. 3,11) jedoch den XII-Tafeln allein zugeteilt werden und sie auch allein hier historisch sinnvoll sind (die Sicherung einer bestimmten Kompetenz der Centuriatcomitien durch eine lex sacrata ist geradezu sinnlos), hat Cicero an den angegebenen Stellen den Begriff der lex sacrata nur zur Demonstration des Alters und der Heiligkeit der Vorschrift verwandt. Nach der annalistischen Überlieferung soll auch die Abschaffung des Königtums bzw. die Sicherung und Erhaltung des gewählten Consulats durch eine lex sacrata institutionalisiert worden sein, die also dann nicht eine lex plebis, sondern eine lex

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sacrata in aller Regel die Erinnerung an die plebejische Organisation verbunden n . Offenbar haben die Plebejer den Begriff der lex, den sie als normative Verpflichtung auf anderen Lebensgebieten kannten (s. o. S. 61 ff.), für ihre Gemeinschaft übernommen und diese Verpflichtung, die im staatlichen Bereich wegen ihres revolutionären Charakters den Widerstand der Patricier fand, mit der Sacration als einzig möglichem Schutz versehen: Da die lex im öffentlichen Bereich als Symbol des Aufruhrs geschaffen worden war, konnte sie keinen Schutz aus dem Verpflichtungsakt selbst, der die lex begründete, erhalten, sondern bedurfte der außerordentlichen Sicherung in der religio. Selbstverständlich konnte man nur die Voraussetzung des Kampfes, nicht auch das politische Programm selbst auf diese Weise institutionell begründen und absichern: Hätte man alle politischen Forderungen in der lex sacrata formuliert, hätte man das Wunschbild als Realität konstruiert. Die Kampfinstrumente der Plebs hingegen (Tribunat und concilium plebis) bedurften eines sofortigen Schutzes, der ihre Beseitigung durch die Patricier wirkungsvoll und dauerhaft verhinderte, und sie sind dann auch, wie die Entwicklung zeigt, de facto anerkannt worden. Von der lex sacrata bis zur normativen lex der Gesamtgemeinde aber war noch ein weiter Weg. Es mußte sowohl das Bewußtsein weiter aufgeweckt und ausgebildet werden, daß das Volk die bestehende Ordnung manipulieren konnte, als auch war die Form der lex für diesen Volksentscheid noch nicht selbstverständlich. Die Plebiscite haben, soweit sie normative Forderungen enthielten, das normative Denken zwar immer wachgehalten; doch sind die Forderungen der Plebejer, wie oben bereits angedeutet, wohl kaum durch Beschluß der Centuriatcomitien volksrechtlich legalisiert', sondern eher dadurch erfüllt worden, daß man sie einfach praktizierte. Einen großen Fortschritt in der Entwicklung des normativen Volksbeschlusses brachten dann die XII-Tafeln, die zum ersten Male normative Satzung für die gesamte Bürgerschaft aufstellten. Die XII-Tafeln sind - neben der Einrichtung der Centuriatcomitien als

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publica sacrata gewesen wäre (Liv. 2, 8, 2; Plut. Poplic. 12, 1; 11,3; Dion. 5,19,4. Liv. 2,1, 9 und Plut. Poplic. 2,2 sprechen von einem Eid, den Brutus dem Volk bzw. dem Senat abgenommen haben soll, nicht von einer lex sacrata). Dieses Schutzgesetz für die neue staatliche Ordnung ist jedoch offensichtlich eine späte Imitation der historisch besser begründeten Schutzgesetze für die quasi-staatlidien Einrichtungen der Plebs. Die allgemeine Definition von lex sacrata bei Fest. p. 422 L kennt nur die plebejischen (vgl. auch ders., p. 424 L); dem entspricht der Sprachgebrauch bei Cic. Tull. 47; Sest. 16; prov. 46; legg. 2, 18 (wo sinngemäß nur an die bestimmten leges sacratae zu denken ist); Ascon. in Com. p. 60 St; Liv. 2, 33, 3. 54,9; 3,32,7; 5 , 1 1 , 3 ; 39,5, 2; vgl. Mommsen, Strafr. 552 f.

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Volksversammlung - das erste Ergebnis des Ständekampfes. Sie sind Satzung, die der Bürgerschaft schiedsrichterlich von den Decemvirn auferlegt wurde. Nach der Überlieferung sollen sie durch Centurienbeschluß sanktioniert worden sein n . Das widerspricht aber ganz offensichtlich dem Sinn des Decemvirats, das — in Anlehnung an griechische Gepflogenheiten - gerade ü b e r alle staatlichen Institutionen gestellt worden war, weil die Publikation des geltenden Rechts sowohl durch ihren Umfang wie durch ihre politische Bedeutung dem Entscheidungsprozeß der Bürger entzogen werden sollte. Die Legalisierung der Tafeln durch Volksbeschluß ist daher ohne Zweifel das Werk späterer Historiographen, die sich die Kodifikation nur als Volksbeschluß vorstellen konnten; der spätere Sprachgebrauch von lex als Volksbeschluß hat ihnen dabei die Interpretation der leges XII tabularum als Centuriatgesetz sehr erleichtert. Denn der Begriff der lex gehört gewiß ursprünglich zu den XII-Tafeln, mit denen er ganz allgemein verbunden wird; doch lex ist hier nicht Volksgesetz, sondern Satzung der Decemvirn (ilex data)13. Versteht sich daher schon aus dem Institut des Decemvirats von selbst, daß die leges XII tabularum nicht Volksgesetz waren, so natürlich auch daraus, daß die Reglementierung der Lebensordnung durch die dieser Ordnung angehörigen Personen kein Gedanke war, den man damals fassen konnte. Den Ausweg, zu dem die Notwendigkeit der Aufzeichnung des geltenden Rechts zwang, hatten die Griechen den Römern gewiesen und mit dem Schiedsrichter diejenige Institution gefunden, die die Niederlegung der allgemeinen Ordnungsprinzipien dem Streit der Parteien und damit auch der Abstimmung entzog. Von den Griechen haben die Römer sehr wahrscheinlich auch das geistige Rüstzeug erhalten, das sie überhaupt erst befähigte, die für eine normative Satzung notwendige Verallgemeinerung der Rechtssätze vorzunehmen 14. Auch die Plebiscite haben mit ihren normativen Forderungen 12 Liv. 3,34,6. 13 Die Bezeichnung der XII-Tafeln als lex bzw. leges bedarf nicht des Beweises; vgl. Tibiletti, Sülle leges romane 599. Interessant ist jedoch, daß die XII-Tafeln sowohl als Gesamtwerk leges genannt wurden (z.B. Cic. dorn. 43; rep. 2,61; legg. 2,18; Pompon. Dig. 1,2, 2,4) und man auch von den einzelnen capita der leges sprach (Liv. 3, 34,6), als auch ihre Einzelbestimmung (das itis) lex/leges hieß (z. B. Cic. Tüll. 47; rep. 2,61. 63), während auf der anderen Seite gerade die XII-Tafeln auch den Begriff des ius auf alle ihre Vorschriften und damit auf die gesamte Rechtsordnung erstreckten und also schon sie lex und ius in eine feste Beziehung zueinander brachten; vgl. Käser, Ius 67 ff. 14 Vgl. Wieacker, Lex publica 51 ff.; ders., Die XII Tafeln in ihrem Jahrhundert, in: Entretiens 13 der Fondation Hardt, 1966, 330 ff., wonach die Gesandtschaft nach Athen und die Beteiligung Hermodors an der XII-Tafelredaktion zwar nicht historisch ist, aber das dorische Griechentum Großgriechenlands bzw. ein bereits zu einer kulturellen Koine zusammengewachsenes süditalisches Substrat den Römern die für

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dem Gedanken der Kodifikation den Boden bereitet. Es ist allerdings schwer zu sagen, wieweit die Plebiscite den Gedanken normativer Satzung für die XII-Tafeln vorbereitet haben und wieweit die XII-Tafeln dann ihrerseits wiederum die folgenden Plebiscite in dieser Hinsicht beeinflußten. Man darf bei dem Versuch der Rekonstruktion dieser Entwicklung allerdings nicht vergessen, daß sich die XII-Tafeln und die Plebiscite in der Natur der Materie stark unterschieden. Das Plebiscit war auf Änderung der Ordnung aus, während die XII-Tafeln im allgemeinen das Bestehende fixierten. Wo die XII-Tafeln neue Gedanken aufnahmen (die allerdings ihre Entstehung kaum den Decemvirn verdankten, sondern ihre Geschichte gehabt haben werden), ist bisweilen das Alte und Neue auch einfach nebeneinandergestellt worden 15. Das Neue und Revolutionierende an den XII-Tafeln lag weniger in einzelnen ihrer Bestimmungen als darin, daß es die Tafeln g a b , d.h. daß das bestehende Recht schriftlich fixiert worden war. Wohl gab es Änderungen der bestehenden Rechtsordnung, aber charakteristischerweise betrafen sie meist spezifische Punkte des innenpolitischen Streits. Die Beschränkung der Kapitalprozesse auf die Centuriatcomitien und das Privilegienverbot, das sich gegen die Lynchjustiz der Plebejer richtete (Taf. IX 1-2) 1 6 , gehören hierher. Diese Bestimmungen der XII-Tafeln sind Normen wie die anderen auch, aber sie sind im echten Sinne reformerisch. Bemerkenswerterweise besteht die Reform hier nicht einfach in der Erfüllung plebejischer (durch Plebiscite der Öffentlichkeit vorgestellter) Forderungen, sondern in einem Kompromiß, den die Plebejer und Patricier auf gesamtstaatlicher Ebene geschlossen haben: Damit ist der durch die Plebiscite geförderte Gedanke, die bestehende Ordnung durch Normensetzung abzuändern bzw. zu korrigieren, auf die Ebene des patricisch-plebejischen Gesamtstaates übernommen worden. Als reformerisch kann man auch die Tendenz der Tafeln ansehen, durch Auswahl und Gliederung, auch durch bestimmte Korrekturen, aber vor allem durch die Gliederung des Stoffes sozialpolitisch im Sinne eines Ausgleichs der Gegensätze und einer größeren Gerechtigkeit zu wirken 17 . Das betrifft die Kodifikation notwendige Hilfe geleistet hat. Bei Wieacker auch die Besprechung der älteren Literatur zum griechischen Einfluß auf das Rom der XII-Tafelzeit, insbesondere K. Latte, Heiliges Recht, 1920 und E. Norden, Aus altrömischen Priesterbüchern, 1939, 254 ff. 15 Neben der Gleichvergeltung (Talion) steht die Möglichkeit der gütlichen Einigung auf Zahlung einer Buße (poena; Taf. VIII 2-4). 16 Vgl. Bleicken, Volkstribunat 107 ff.; u. S. 201 ff. 17 Vgl. Wieacker, Lex publica 53 f.; ders., Die X I I Tafeln in ihrem Jahrhundert a. O. 314 ff., wo er seine frühere Auffassung dahingehend abschwächt, daß der Eindruck des ,reformatorischen' Charakters der Tafeln auch durch die spätere Selektion entstanden sein kann, doch berührt dieser Einwand natürlich nur den Gesamtcharakter,

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aber mehr den Tenor des Ganzen als die einzelne Vorschrift. Im allgemeinen wollten die XII-Tafeln das alte Recht nicht abändern, sondern es zum Zwecke der Herstellung von Rechtssicherheit lediglich publizieren 18 . Wenn auch das XII-Tafelrecht nicht durch Volksbeschluß ins Leben trat und ebenso keine Reform des Rechts bedeutete, so war es doch normative Satzung für große Bereiche der bestehenden Lebensordnung 19 . Allein der Tatbestand der Aufzeichnung und Sichtbarkeit des Rechts regte zur Beschäftigung mit ihm an und erweckte die Reflexion. Insofern ist die Wirkung der XII-Tafeln ungeheuer, sowohl für die römische Rechtsentwicklung allgemein wie für die Entwicklung des Volksbeschlusses im besonderen. Zwar zeigte sich der Einfluß auf den Volksbeschluß nicht sofort, denn Volksbeschlüsse nach Art der Satzungen der XII-Tafeln kennen wir erst aus sehr viel späterer Zeit. Der Motor für den normierenden Volksbeschluß war und blieb zunächst weiterhin das Plebiscit, das sich, wie wir sahen, durch die politische Programmatik und durch die in ihr enthaltene reformerische Idee sehr wesentlich von dem XII-Tafelrecht unterschied. Wichtig aber war für die Entwicklung, daß sich durch die XII-Tafeln der Gedanke der normativen Satzung auf der (gesamt)staatlichen Ebene durchsetzte. Lex sacrata20, Plebiscit und XII-Tafeln sind die Quellen, aus denen die normative lex publica entstand. Wann und wo zum ersten Male der populus eine lex beschloß, ist bei dem Stand der Überlieferung, deren echte Partien durch die konstruierende Geschichtsschreibung verwischt sind, kaum zu sagen. Daß man den normativen Volksbeschluß dann lex genannt hat, dürfte nach den obigen Ausführungen sicher sein, und der Begriff dürfte von der plebejischen lex sacrata und wahrscheinlich auch von den XII-Tafeln, die nicht auch einzelne Bestimmungen der Tafeln, deren sozialpolitischer Bezug feststeht. 18 Die Wirkungsgeschichte der XII-Tafeln ist dann eine andere Sache, die in diesem Zusammenhang nicht interessiert. 19 F. Wieacker, Die X I I Tafeln in ihrem Jahrhundert a. O. 320 ff. sieht das Neue der XII-Tafeln vor allem darin, daß „das Gesetz als . . . Mittel der Ordnung" (S. 330) entdeckt wurde, und er demonstriert das an dem Unterschied von Kultgebot und profanem Rechtssatz der XII-Tafeln. 20 Auch Frezza, Lex publica 54 ff., bes. 69, sieht die entscheidende Entwicklungsstufe in der Entstehung der .modernen' lex rogata in den Ständekämpfen, und auch er mißt der lex sacrata in diesem Prozeß eine wichtige Bedeutung zu. Doch glaubt er, daß das ,moderne' Gesetz bereits in der Gesetzgebung der Decemviralzeit (lex Valeria Horatia etc.), die er mit unbegreiflichem Vertrauen zur annalistischen Uberlieferung für historisch zu halten scheint, entstanden ist und führt seine Argumentation zudem ausschließlich von der Interpretation der Sanctionen her (Entwicklung vom ius iurandumtsacramentum des Kollektivs in der Frühzeit zur Abstimmung nach Mehrheitsprinzip mit Sanction gegen den Übertreter seit der Mitte des fünften Jahrhunderts).

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auch lex im echten Sinne waren, übernommen worden sein. Bei der Neuheit der Materie dürften die ersten normativen leges publicae viel weniger planvoller Akt als Produkt einer zufälligen Situation gewesen sein und darum auch ihrem Inhalt nach uns heute - im Hinblick auf die großen Ziele des Kampfes - unbedeutend, wiewohl den damaligen Akteuren in der Hitze des Kampfes wichtig dünken. Auch müssen wir am Anfang mit Mischformen rechnen, die von einem tastenden Suchen zeugen. Deswegen verdient die lex Valeria militaris v. J. 342 Glauben, die wegen der zeitlichen Nähe zu dem Einsetzen ordentlicher Aufzeichnungen in der Chronik eine richtige Erinnerung sein kann und auch gerade wegen ihrer in das glatte Geschichtsbild der Annalisten nicht passenden Ungereimtheiten Beachtung verdient. Diese lex wurde von einem Dictator, nämlich M. Valerius Maximus Corvus, in den Centuriatcomitien beantragt und soll eine lex sacrata gewesen sein 21 . Die Sacration des Gesetzes ist hier, bei einer lex publica, ganz unbegründet, da der Beschluß der Centuriatcomitien - anders als der der Plebs - keines außerordentlichen Schutzes bedurfte. Die lex sacrata versteht sich aber gut, wenn man die plebejischen leges sacratae als eine Quelle der normativen lex publica begreift und ferner bedenkt, daß die Atmosphäre des Mißtrauens beim Abschluß der Ständekämpfe noch eine starke Betonung der Sicherheitsbestimmungen erzwungen haben mochte. Die Neuheit und Außerordentlichkeit der Situationen, in denen die ersten normativen leges publicae geschaffen wurden, zeigt auch der Umstand, daß uns bisweilen Dictatoren als rogatores der frühen leges publicae überliefert sind, wie bei der lex Valeria so auch i. J. 339 Q. Publilius Philo und i. J. 287 Q. Hortensius. Die normative lex setzte sich gewiß nur langsam durch, und es waren vor allem die plebejischen Forderungen, die in ihnen nun ihren Niederschlag fanden, wie in der lex Publilia Philonis de patrum auctoritate v . J . 339 1 1 , Liv. 7,41, 3 (nach der Empörung des Heeres): dictator ... tulit ad populum in luco Petelino, ne cui militum fraudi secessio esset. . . . § 4. lex quoque sacrata militaris lata est, ne cuius militis scripti nomen nisi ipso volente deleretur; additumque legi, ne quis, tibi ordinum ductor fuisset, postea tribunus militum esset. Da hier die lex sacrata als Teil der Beilegung eines politischen Streits erscheint, die der Dictator herbeigeführt hat, dürfte auch sie von dem Dictator veranlaßt worden sein. Jedenfalls kann sie kein Plebiscit sein, wie Weißenborn/Müller zu der Stelle meinen, da die plebiscitäre lex sacrata voraussetzt, daß der in ihr ausgesprochene Inhalt von den Patriciern bestritten wird. Wenn diese lex sacrata doch ein Plebiscit gewesen sein sollte, bleibt einzig die Annahme übrig, daß sie in einer Periode des Kampfes (nicht des Ausgleichs) mit den Patriciern geschaffen und von den Annalisten, die die Zusammenhänge nicht mehr begriffen, zu Unrecht mit der Geschichte vom versöhnenden Dictator verbunden wurde. 22 Vielleicht gehört auch die lex de censore plebeio creando desselben Rogators hierher, doch könnte man den ersten plebejischen Censor audi dadurch anerkannt haben, 21

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der lex Valeria de provocatione v. J. 300 und der lex Hortensia v. J. 287 2 i . Auch die lex Poetelia Papiria de nexis v. J. 326 gehört wohl in diese Gruppe; denn wenn sie auch nach ihrer Thematik ganz in der Tradition der XIIdaß man ihn einfach wählte und die Wahl von den Patriciern dann nicht moniert wurde. 23 Die Annalistik liefert zwei Gesetze, die lex Valeria Horatia v. J . 449 (Liv. 3,55, 3) und lex Publilia Philonis de plebiscitis v. J . 339 (Liv. 8,12,15), mit einem der lex Hortensia gleichlautenden Inhalt (ut eo iure, quod plebs statuisset, omnes Quirites tenerentur, Gell. 15,27,4 für die lex Hortensia, vgl. Gai. 1, 3; Plin. n. h. 16,15, 37; Pompon. Dig. 1,2,2, 8). Die Forschung hat die verschiedensten Versuche gemacht, diese drei Gesetze miteinander zu harmonisieren. Im allgemeinen wird angenommen, daß die Plebiscite durch die beiden älteren Gesetze eine in irgend einer Weise beschränkte ,Gültigkeit' erhalten hätten, etwa dadurch, daß ihre Anerkennung von dem Vorliegen der patrum auctoritas bzw. (nach 367/366) eines Beschlusses der patricisch-plebejischen Gesamtsenats oder von dem nachfolgenden Beschluß der Centuriatcomitien abhängig gemacht wurde; vgl. von den zahlreichen Rekonstruktionsversuchen, die die Historizität der drei gleichlautenden Gesetze voraussetzen, Herzog, Staatsverfassung I 190 ff. 254 ff. 282 ff.; O, Kariowa, Römische Rechtsgeschichte, I, 1885, 118 ff.; Botsford 274 ff. 300 ff. 312 ff.; A.Guarino, L „exaequatio legibus" dei „plebiscita", Festschr. F. Schulz, 1951, 458 ff.; A. Biscardi, Auctoritas patrum, Bull, dell' ist. di dir. rom. N. S. 7, 1941, 464 ff.; De Martino, Costituzione I 257. 315 ff. 332 ff. I I 132 ff. (der allerdings die lex Valeria Horatia für eine Antizipation hält) und die demgegenüber sehr zurückhaltenden, aber in ihrer Ratlosigkeit charakteristischen Bemerkungen von Mommsen, Staatsr. I I I 156 f., der die Problematik schärfer sah als andere, ohne jedoch aus ihr die vollen Konsequenzen zu ziehen. Auf Grund der hier vertretenen methodischen Prämisse, nach der nicht die Erzählung der Annalisten, sondern lediglich die noch in der Spätzeit bekannten und benutzten Institutionen als Basis der Rekonstruktion der Frühzeit verwendet werden dürfen (vgl. o. S. 5 ff.), kann jedoch ein Rechtssatz, der von den Annalisten drei verschiedenen Gesetzen der Frühzeit gleichzeitig zugeschrieben wird, einzig mit dem letzten Gesetz, für das mit einiger Sicherheit eine Überlieferung vermutet werden darf, verbunden und müssen die anderen Gesetze als Konstruktionen beiseite gelegt werden; vgl. auch H. Siber, Die plebejischen Magistraturen bis zur lex Hortensia, Leipziger rechtswiss. Studien, Heft 100, 1936, 39 ff.; ders., R E X X I , 1951, 58 ff. - Von den beiden Quellen, die oft zur Stützung der These herangezogen werden, daß die lex Hortensia nur die auctoritas patrum für die Plebiscite aufgehoben habe und also frühere Gesetze die bedingte Gültigkeit der Plebiscite beschlossen hätten, bezieht sich App. b. c. 1,59,266 nicht auf eine alte auctoritas patrum, die Sulla i. J. 88 zwecks Einschränkung der tribunizischen Gesetzesinitiative wieder eingeführt hätte, weil Sulla i. J . 88, als er dem Senat die Kontrolle der Gesetzgebung wieder beschaffen wollte, natürlich nicht an eine alte, kaum noch bewußte Einrichtung, sondern nur an diejenige Einrichtung, die die Volkstribune seit Ti. Gracchus beseitigt hatten, anknüpfen konnte, also an die auctoritas senatus, die vor d. J . 133 für alle Gesetze (natürlich nicht rechtlich, aber eben doch gemäß .Verfassung') erforderlich gewesen war. Gai. 1,3 ferner (plebs autem a populo eo distat, quod populi appellatione universi cives significantur, connumeratis et patriciis; plebis autem appellatione sine patriciis ceteri cives significantur; unde olim patricii dicebant plebiscitis se non teneri, quae sine auctoritate eorum facta essent; sed postea lex Hortensia lata est, qua cautum est, ut plebiscita universum populum tenerent: itaque eo modo legibus exaequata sunt) kann nach dem Tenor des Gedenkens lediglich meinen, daß die Plebiscite die Patricier

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III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses

Tafeln steht, verfolgte sie mit ihrer Milderung der Personalexekution gewiß gleichzeitig plebejische Tendenzen und ist darum denjenigen Vorschriften der XII-Tafeln nebenzuordnen, die nicht nur bestehendes Recht fixierten, sondern gleichzeitig auch sozialpolitisch wirken wollten. Außer diesen leges publicae dürfen wir für die letzten 80 Jahre des Ständekampfes kaum ein überliefertes normatives Gesetz für historisch halten 24 , vielleicht allenfalls noch die lex Maenia v. J. 338 (?), die den ludi circenses einen Tag hinzufügte 2 5 . Die Thematik der normativen lex war ja durch ihre Entstehungsgeschichte zunächst auch festgelegt. Mit der lex Hortensia, die nach dem Erlösdien des Kampfes die plebejischen Einrichtungen anerkannte, konnte dann auch das Plebiscit die Funktionen des ordentlichen Volksbeschlusses und damit der lex publica übernehmen. Seitdem war das plebiscitum auch lex (per conventionem), und man begann die Vereinheitlichung der Begriffe in der Wendung lex plebeive scitum vorzunehmen. Wenn plebiscitum nun auch den Begriff der lex erfüllte, obwohl die in der lex steckende Normativität doch an den Begriff gebunden ist, war das jedenfalls von der Entwicklung der lex publica her gesehen nicht unberechtigt: Die Normativität des römischen Volksbeschlusses war ja plebiscitärer Herkunft. Es ist bisher noch nicht von einem Typ von leges gesprochen worden, der vielleicht auch auf die Ausbildung der normativen lex gewirkt haben könnte. Das soll hier kurz nachgeholt werden. Es handelt sich um die leges regiae26. Es ist allerdings ganz unwahrscheinlich, daß sie neben den leges sacratae, dem Plebiscit und den XII-Tafeln einen Einfluß auf die Entwicklung der lex publica gehabt haben. Sie enthalten ,Gesetze' der Könige, die mit viel (und damit den Gesamtstaat) v o r der lex Hortensia nicht gebunden hatten, weil sie an ihrem Zustandekommen nicht beteiligt gewesen waren (nicht etwa, daß vor der lex Hortensia Plebiscite mit auctoritas patrum gültig gewesen waren), hingegen n a c h der lex Hortensia (sed postea) auch die Patticier (universum populum) durch Plebiscite verpflichtet worden waren. 24 S. o. S. 75 Anm. 4. 25 Rotondi 228. Die Gesetze über die Volkswahl der Militärtribune - auf Grund einer lex v. J. 362 sollen 6 (Liv. 7, 5 , 9 ) , seit einem Plebiscit der Tribüne L. Atilius und C. Marcius v. J. 311 dann 16 (Liv. 9, 30, 3) Militärtribune durch Volkswahl bestellt worden sein - sind kaum echt, wie schon das zweite Gesetz, ein Plebiscit, zeigt, sondern annalistische Konstruktion. Der spätere Legalismus setzt die normative Idee voraus und kann sich weder die Neuschaffung noch die Änderung eines Amtes anders vorstellen als durch Volksgesetz. Dieser Legalismus ergriff auch die modernen Historiker, die nach Gesetzen suchen, für die selbst die Annalisten keine erfanden. So wird z. B. die Erhöhung der gewählten Militärtribune auf 24 von Rotondi 260 u. a. als Gesetz konstruiert, wofür es keinen Beleg gibt. 26

Zu ihnen vgl. Mommsen, Staatsr. I P 41 ff.; Käser, lus 43 f. 65 f. (mit Literatur auf S. 65 Anm. 12); L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, Denkschr. d. österr. Akad. d. Wiss. Bd. 2, 1953, 353 ff. und E. Gabba, Athenaeum 38, 1960, 198 ff.

2. Ausbildung des normativen Volksbesdilusses

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spätem Rechtsgut bzw. später Interpretation durchsetzt sind, tradieren aber ohne Zweifel auch frühes Rechtsgut, das allerdings nach Abzug der späten Schichtungen ausschließlich sakrale Satzungen umschließt27. Die eindeutig jungen Partien in ihnen erwecken den Verdacht, daß es sich um eine späte Sammlung handelt, die mehr antiquarischem als praktischem Interesse gedient haben dürfte; schon die äußere Einteilung der leges regiae setzt die annalistische Geschichtsschreibung mit ihrem Schematismus der Königszeit ja voraus. Selbst dann, wenn die vorliegende Sammlung bzw. eine ältere Fassung derselben einmal praktische Bedeutung gehabt haben sollte, ist sie als eine Sammlung im Anschluß oder in der Tradition der XII-Tafelgesetzgebung anzusehen, d. h. nicht als eine Rechtsquelle, die durch ihre Art und Form selbständig auf die Entwicklung eingewirkt hat. Da die leges regiae auch nach der Überlieferung keine Volksgesetze, sondern Satzungen der Könige, tatsächlich aber wohl solche der Pontifices sind, liegt die Annahme am nächsten, daß die schriftliche Fixierung des Rechts durch die XII-Tafeln die Pontifices zu ähnlichen Aktionen veranlaßt hat. Der normative Volksbeschluß, der alle Bürger bindet und alle betrifft (lex publica), steht uns also erst am Ende des Ständekampfes gegenüber. Es bleibt noch zu fragen, wie die älteren, nicht-regelsetzenden Volksbeschlüsse, die natürlich auch nach Ausbildung der normativen lex weiter bestanden, vor der Entstehung der lex publica genannt wurden. Leges können sie nach den obigen Ausführungen nicht geheißen haben. Von der Definition des älteren Volksbeschlusses her bieten sich zwei Möglichkeiten an. Denn wenn der ältere Volksbeschluß seiner Form nach als W i l l e des V o l k e s und seinem Inhalt nach als A k t i o n im Rahmen g e g e b e n e r Normen bestimmt ist (vgl. o. S. 74 f.), kann man ihn sowohl von seiner Form als auch von seinem Inhalt her benennen. Bestimmt man ihn nach seiner Form, bietet sich iussutn populi oder ein ähnlicher Ausdruck an, ist der Inhalt für die Bestimmung maßgebend, muß die jeweilige bestimmte Aktion in der Titulatur erscheinen (z.B. arrogatio Lucii Valerii). Die Möglichkeiten schließen sich auch durchaus nicht gegenseitig aus. Welche der genannten Möglichkeiten in der Titulatur tatsächlich vorgeherrscht hat, können wir jedoch heute nicht mehr entscheiden. Die weitere Entwicklung des Volksbeschlusses, insbesondere die weitere Ausbildung des normativen Gesetzes und die Übertragung des /ex-Begriffs auf alle Volksbeschlüsse, die nicht Wahl oder Gericht waren, soll den nächsten Kapiteln vorbehalten bleiben. Hier sei am Schluß nur noch auf eine 27 Vgl. Käser, Ius 65 f.; Gabba a. 0 . 2 0 1 ff.

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III. Die Entwicklung des Volksbeschlusses

Konsequenz des normativen Volksgesetzes hingewiesen. Die Möglichkeit der normativen Satzung durch das Volk bedeutete nämlich eine außergewöhnliche Verdichtung der Staatlichkeit'. War Volksbeschluß bisher nur als Willenserklärung im Rahmen des Gegebenen möglich gewesen, konnte die lex publica nun die gewachsene Ordnung der res publica korrigieren und dabei den gegebenen Rahmen verändern oder ausfüllen. Selbst dann, wenn man nur das Gegebene zum Gesetz erhob, war mit dem Akt der Fixierung eine Bewußtmachung verbunden, die zur Korrektur führen mochte. Auch der Akt der ,Verbindlichmachung' selbst bedeutete bei einer normativen Beschlußtätigkeit des Volkes schon eine Intensivierung der res publica, da die Verbindlichkeit der lex gegenüber der Gewohnheit - mochte sie nun dem sacrum, dem privatum oder dem publicum zuzurechnen sein - die rein öffentlichrechtliche Herkunft genau bezeichnete, nämlich die Gemeinschaft der Bürger als den Träger der Ordnung auswies. Die normative lex publica erscheint so als Ausdruck s t a a t l i c h e n Seins. Mit dem normativen Gesetz wird auch der Rahmen der Politik ein anderer. War Politik früher Aktion innerhalb der gegebenen Ordnung gewesen, konnte es jetzt auch Politik zur Änderung der Ordnung geben. Gelegentlich wird auch schon früher Politik in diesem erweiterten Sinne getrieben worden sein, wie z. B. die Vertreibung der Könige ja ein Akt zur Reform der staatlichen Organisation gewesen war. Aber die Vertreibung der Könige war doch ein Gewaltakt, da die Ordnung nicht anders als durch Gewalt geändert werden konnte 28 . Die Plebejer waren mit ihrer reformerischen Initiative, die zur lex führte, ja auch noch auf die Gewalt angewiesen gewesen, sie ebenso wie die patricische Gegenaktion, die z. B. die Ausbildung des totalen Imperiums nicht iure, sondern vi betrieben hatte 29 . Hier, in den Ständekämpfen, waren die neuen Bereiche staatlichen Seins noch durch Gewaltakte erschlossen worden, die erst in den Phasen des Ausgleichs der Stände durch das aus dem Kampf der Stände selbst geborene normative Gesetz geordnet wurden. In der Zukunft ermöglichte die normative lex publica nun die Neuerung durch die bloße Abstimmung der Bürger. Selbstverständlich stand die Tradition nach wie vor allen Veränderungen der Ordnung hemmend im Wege, und die Römer waren keine Athener. Aber die Möglichkeit zur Reform auf der Basis politischer Aktivität war da, es fragte sich nur, inwieweit sie genutzt wurde. Wenn tatsächlich die reformerische lex plebiscitärer Provenienz dann abstarb und der eigentliche Charakter des späteren normativen 28 Zur angeblichen

lex sacrata zum Schutze des Consulats s. o. S. 89 Anm. 10.

29 Vgl. A. Heuß, SZ 64, 1944,57 ff.

2. Ausbildung des normativen Volksbeschlusses

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Gesetzes bewahrender Natur war, liegt das daran, daß mit dem Erlöschen des Ständekampfes die Reform ihre Basis verloren hatte. Die Anerkennung des Plebiscits war ja auch nur deswegen erfolgt, weil es seinen revolutionären Sprengstoff (die Reform) verloren hatte.

IV. S Y S T E M A T I S C H E Ü B E R S I C H T Ü B E R D I E M A T E R I E DER GESETZE VOM DRITTEN JAHRHUND E R T B I S ZUM AUSGANG D E R R E P U B L I K Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die Beschlußtätigkeit der Volksversammlungen vom Ende des Ständekampfes bis zum Ausgang der Republik. Das Material wird nach inhaltlichen Gesichtspunkten gegliedert und innerhalb dieser Gliederung nach charakteristischen Entwicklungstendenzen befragt. Die Übersicht behandelt nach einigen Vorbemerkungen (1) das ,situationsgebundene' (2) und das ,normative' (3) Gesetz dieses Zeitraums getrennt.

1. Vorbemerkungen a) Für die Übersicht dieses Kapitels ist vor allem die Gesetzessammlung von G. Rotondi herangezogen worden. Das erfolgte mit aller Behutsamkeit, da die Sammlung nicht nur für die älteren Gesetze (s. o. S. 75 Anm. 4), sondern auch für die der Zeit zwischen dem Abschluß der Ständekämpfe und dem Ende der Repubik nicht immer eine ausreichende Grundlage bildet. Insbesondere ist das von Rotondi 73 ff. vorgeschlagene Einteilungsprinzip unbrauchbar. Aber auch die Liste der Gesetze selbst enthält neben zahlreichen Irrtümern und Lücken eine große Anzahl von leges, die entweder überhaupt nicht lex oder doch nicht lex rogata sind. Ich habe mich daher darauf beschränkt, nur dort, wo mir der von Rotondi gegebene Text richtig oder zumindest für den Rahmen dieser Untersuchung wenig problematisch erschien, statt der Quellenangaben zu einem Gesetz die Seitenzahl bei Rotondi zu zitieren; überall sonst sind die Quellen angegeben. Das ist auch dann geschehen, wenn der Text bei Rotondi m. W. keine Fehler enthielt, mir es jedoch nicht auf das gesamte zu einem Gesetz gehörende Zitatennest, sondern auf eine prägnante, die These dieser Untersuchung enger berührende Quellenstelle besonders ankam. b) Die Darstellung der Gesetze zwischen dem Ende des Ständekampfes und dem Ausgang der Republik erstrebt dort eine vollständige Erfassung des Materials, wo es für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung wichtig

1. Vorbemerkungen

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erschien. Gesetze gleichen Charakters, die häufig wiederkehren, wie z. B. Gesetze über Koloniegründungen, Siedlungsgesetze und Kriegserklärungen, sind nur in charakteristischen Beispielen angeführt und nur dann in größerer Zahl oder auch vollständig herangezogen, wenn die Quellen diese Untersuchung interessierende charakteristische Einzelheiten bringen. - Die herangezogenen Gesetze gehen in aller Regel nicht über das Jahr 49 hinaus, weil die Zeit der Alleinherrschaft Caesars die Initiative für Gesetzesanträge praktisch auf die Person des Dictators beschränkte und damit neue Bedingungen schuf, die u. U. auf den Umfang und den Charakter der herkömmlichen Gesetzzesmaterie nicht ohne Einfluß geblieben sind. c) In den folgenden Überlegungen zur Entwicklung der Kompetenz der Volksversammlung nach d. J . 287 wird kein Unterschied zwischen den verschiedenen Arten der Versammlungen gemacht; es werden daher alle Volksbeschlüsse, soweit,sie nicht Wahl oder Gerichtsurteil sind, unterschiedslos lex genannt, wie denn auch in der antiken Terminologie lex und plebiscitum, populus und plebs, comitia und concilium durchweg synonym gebraucht werden1. Centuriatcomitien und plebejische bzw. patricisch-plebejische2 Tributcomitien - die Curiatcomitien treten als aktive Versammlung ja vollkommen zurück — werden also für die Darstellung als Einheit behandelt. Obwohl zunächst noch bei einzelnen Aufgabenbereichen sich der Vorrang des Versammlungstyps beobachten läßt, der die Aufgabe ursprünglich hatte - es ist hier besonders an die Kriegserklärung zu erinnern, die meist noch von den Centuriatcomitien als der nach militärischen Prinzipien organisierten Volksversammlung vorgenommen wurde3 - , und auch gelegentlich auf diese Verhältnisse eingegangen werden muß, ist doch nach der lex Hortensia die Vermischung der Aufgabenbereiche so schnell eingetreten, daß der Versuch einer Aufteilung der Kompetenzen auf die einzelnen Volksversammlungen 1 Belege bei A. Biscardi, Auctoritas patrum, Bull, dell ist. di dir. rom. N. S. 7 , 1 9 4 1 , 491 f. und De Martino, Costituzione I I 155 Anm. 92. 2 Zur Problematik der Existenz dieser Versammlung vgl. Rotondi 36 ff.; De Martino, Costituzione I I 154 ff. Die Trennung von concilium plebis und den patrizisch-plebejischen comitia tributa muß, so wenig scharf sie auch ist, gegen Biscardi a. O. 4 8 9 ff., nachdem diese Versammlungen sich nach der lex Hortensia nur noch durch den Vorsitzenden Magistrat unterschieden, grundsätzlich aufrecht erhalten werden, da die römischen Juristen an der Unterscheidung festhielten (Gell. 1 0 , 2 0 , 5 f.; 15, 2 7 , 4 ; Gai. 1 , 3 ; Fest. p. 372 L ; Pompon. Dig. 1, 2 , 2 , 1 2 ) , ferner die Volkstribune weiterhin als für die convocatio der Patricier nicht kompetent angesehen (Gell. 15, 2 7 , 4 ) und schließlich für die Berufung des concilium plebis keine impetrativen Auspicien angestellt wurden, die für die Wahl der magistratus minores in den comitia tributa erforderlich waren (Gell. 1 3 , 1 5 , 4 ) . 3 Das ist für die Kriegsbeschlüsse gegen Philipp i. J. 2 0 0 (Liv. 3 1 , 6 , 3. 7 , 1 ) und Perseus (Liv. 42, 30, 10) ausdrücklich überliefert.

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IV. Die Materie der Gesetze vom 3. Jh. bis 49 v. Chr.

nicht sinnvoll ist. Friedensschlüsse, Bürgerrechtsverleihungen und Schöpfung von militärischen Gewalten mit Imperium etwa sind in dem hier interessierenden Zeitraum von den Tributcomitien - meist vom concilium

plebis —

mindestens ebenso häufig wie von den Centuriatcomitien 4 vorgenommen worden, und für das ,normative' Gesetz läßt sich ebensowenig eine Aufteilung auf einzelne Versammlungen durchführen. In der späten Republik zeigt sich die Unterschiedslosigkeit von Versammlungstyp bzw. Antragsteller für das Gesetz deutlich darin, daß der Senat, wenn er ein Gesetz anregte, in stereotyper Formel Consuln, Praetoren und Volkstribune gemeinsam zur Antragstellung aufforderte 5 . Die Ursache dieser Verhältnisse liegt auf der Hand. Denn wenn auch die einzelnen Versammlungstypen im Ständekampf getrennte Rollen gespielt hatten, waren doch oft die gleichen Gegenstände in verschiedenen Versammlungen behandelt worden. Die Centuriatcomitien z. B. waren seit der XII-Tafelzeit für Kapitelprozesse im Bereiche domi zuständig, das concilium

plebis hatte sich aber in Krisenzeiten stets dasselbe

Recht angemaßt (die sogenannte Lynchjustiz). Vor allem aber schwand nach dem Ausgleich des Ständekampfes jeglicher Anlaß zu der Berücksichtigung Das concilium plebis beschloß den Frieden mit Karthago i. J. 201 (Liv. 30,40,14. 43,2), mit Philipp i. J. 195 (Liv. 33,25,6 f.); der Friede mit Philipp i. J . 204 wurde ebenfalls in den Tributcomitien beschlossen (Liv. 29,12,16), vielleicht waren es auch die plebejischen. - Bürgerrechtsverleihungen beantragten Volkstribune i. J . 210 (für einen Karthager; Rotondi 257), 188 (lex Valeria de civitate cum sufragio Tormianis, Fundanis et Arpinatibus danda-, Rotondi 274 f.) und später noch oft. Die ältesten Übertragungen von Amtsgewalten mit Imperium an bestimmte Personen durch das concilium plebis sind die lex Metilia v. J. 217, die dem magister equitum M. Minudus Rufus dilatorisches Imperium gab (Liv. 22,25,10), und die Plebiscite über die proconsularischen Imperiumsträger in Spanien v. J . 201 (Liv. 30,41,4) und 200 (Liv. 31,50,10 f.), wahrscheinlich auch schon v. J. 204 (hier sind nur die Tribus als beschließende Versammlung bezeugt, nicht auch der Volkstribun als Antragsteller; Liv. 29,13,7). Auch schon für d. J . 211 berichtet Livius (26,2,5) von einer Aufforderung des Senats an die Tribüne, einen Feldherrn cum imperio für Spanien von dem concilium plebis ernennen zu lassen; obwohl die Tribüne einen entsprechenden Antrag auch promulgierten, wählten nach Liv. 26,18,9 dann schließlich die Centimen den Beamten. 5 Vgl. Prob, de litt. sing. 3, 24 K: si quid mce (sie!) de ea re ad populum ple[bemve lato] opus est, cos. praetores tribuni plebis qui nunc sunt, quod [