Lessing digital: Studien für eine historisch-kritische Neuedition 9783110770148, 9783110765229

The ten essays in this volume and the systematic introduction that precedes them provide preliminary considerations on a

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German Pages 179 [180] Year 2022

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Table of contents :
Inhalt
Lessing digital
I. Aktuelle Tendenzen der Editionsphilologie
Analytische Druckforschung in der germanistischen Editorik
II. Lessings Schriften und Werke als editionsphilologische Herausforderung
Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)
Die Erzählungen
Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische
Eine Revision der Lessing-Handschriften und -Drucke als Voraussetzung einer digitalen Neuedition
Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition
III. Lessing-Editorik im Kontext aktueller Forschungstendenzen
Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?
Laokoon-Lektüren im Hinblick auf editorische Praktiken
Hybrid-Werkstätten „[z]ur Geschichte und Litteratur“
Der gelehrte Geist
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Lessing digital: Studien für eine historisch-kritische Neuedition
 9783110770148, 9783110765229

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B E I H E F T E

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Herausgegeben von Winfried Woesler

Band 52

Lessing digital Studien für eine historisch-kritische Neuedition Herausgegeben von Cord-Friedrich Berghahn, Kai Bremer und Peter Burschel

De Gruyter

ISBN 978-3-11-076522-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077014-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077028-5 ISSN 0939-5946 Library of Congress Control Number: 2022942485 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston Satz: Martin Wiegand, Wolfenbüttel Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt

Cord Berghahn, Kai Bremer, Peter Burschel Lessing digital. Überlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe des Vorklassikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Aktuelle Tendenzen der Editionsphilologie Rüdiger Nutt-Kofoth Analytische Druckforschung in der germanistischen Editorik. Eine Bestandsaufnahme – mit einer Perspektive für eine digitale Lessing-Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 II. Lessings Schriften und Werke als editionsphilologische Herausforderung Janina Reibold Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755) . . . . . . . . 37 Dirk Niefanger Die Erzählungen. Ein vernachlässigtes Feld der Lessing-Editorik . . . . . . . . 55 Michael Multhammer Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung . . . . 65 Winfried Woesler Eine Revision der Lessing-Handschriften und -Drucke als Voraussetzung einer digitalen Neuedition. Erläutert am Beispiel des Entwurfs einer Szene von Lessings Nathan . . . . . . . . . . . . . . .

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Christine Vogl Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition. Mit einer exemplarischen Untersuchung aus seinem Laokoon-Nachlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Lessing-Editorik im Kontext aktueller Forschungstendenzen Nikolas Immer Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“? Überlegungen zu den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750) . . . . . . . . . . . 117 Carolin Bohn Laokoon-Lektüren im Hinblick auf editorische Praktiken. Ein Diskussionsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Franziska Klemstein, Jörg Paulus Hybrid-Werkstätten „[z]ur Geschichte und Litteratur“. Die Medialität von Bild-Text-Relationen in Lessings bibliothekarischer Werkstatt-Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Erika Thomalla Der gelehrte Geist. Praxeologische Perspektiven auf die Lessing-Editorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Cord Berghahn, Kai Bremer, Peter Burschel

Lessing digital Überlegungen zu einer historisch-kritischen Ausgabe des Vorklassikers

1. Wissenschaftsgeschichtlicher Rückblick Die Wissenschaftsgeschichte der Lessing-Editionen zeigt, dass das Werk des Schriftstellers und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing hervorragend geeignet ist, um neue Editionsverfahren und -prinzipien zu erproben. Die zunächst von Karl Lachmann initiierte, in der dritten Auflage von Franz Muncker besorgte, heute allgemein Lachmann/Muncker genannte historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Lessings steht am Beginn der Kanonbildung der neueren deutschen ­Literaturgeschichte, die einen „Wendepunkt in der Geschichte der Lessing-Ausgaben und darüber hinaus der frühen germanistischen Editionswissenschaft bezeichnet.“1 Sie wurde in vielfacher Hinsicht zum Muster einer historisch-kritischen Gesamtausgabe eines schriftstellerischen Werks.2 Allerdings ist es in der Lessing-Forschung seit langer Zeit Konsens, dass sie sowohl im Hinblick auf ihre materielle Basis als auch textkritisch den Anforderungen an moderne Editionen in keiner Weise mehr gerecht wird. Diesen Umstand haben auch jüngere Editionen nicht verbessert. Das ist zunächst dem Umstand geschuldet, dass alle Werkausgaben seit Lachmann/Muncker weitgehend auf dieser historisch-kritischen Ausgabe aufbauen und nur punktuell den Textbestand ergänzen (freilich meist nicht textkritisch zuverlässig). Die während der Weimarer Republik entwickelte, aus einer Auswahlausgabe hervorgegangene Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen ist eine der ersten umfassend kommentierten Gesamtausgaben, die gleichzeitig Leserorientierung durch moderate Modernisierungen anstrebt.3 In textkritischer Hinsicht ähnlich problematisch wie die Ausgabe Petersen/von Olshausen ist die von Wilfried Barner verantwortete Lessing-Ausgabe im Deutschen Klassiker-Verlag.4 Ihre Leistung besteht darin, dass sie zum einen im Hinblick auf die Kommentierung als mustergültig gelten darf und dass sie zum anderen versucht hat, Anliegen der Rezeptionsforschung in die Lessing-Editorik zu integrieren. Das hat sie jedoch u.a. getan, indem sie mit dem in der Editionsphilologie vorherrschenden Prinzip der Ausgabe letzter Hand gebrochen hat – und damit faktisch auch mit der ausschließlichen Konzentra1

2 3 4

Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hrsg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S.  315–327, hier S. 316. Vgl. ebd., S. 318–320. Vgl. ebd., S. 320f. Vgl. ebd., S. 323f.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-001

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tion auf den Autor – und so zu einer literatur- und medienhistorischen Kontextualisierung Lessings beigetragen hat. Zugleich aber gilt sie nicht nur wegen der vom Verlag geforderten Modernisierungen, sondern auch wegen ihres Textfundaments als problematisch. Sie fußt letztlich weiterhin auf der Ausgabe Lachmann/Muncker: Bewährt hat sich die chronologische Bandeinteilung [von Barners DKV-Ausgabe], die die überkommene genretypologische ablöst und immer wieder charakteristische Verflechtungen in Lessings Schaffen erkennbar macht; bewährt hat sich ferner die Entscheidung für frühe, wirkungsgeschichtlich maßgebende Textfassungen und für eine großzügige Einbeziehung ausgewählter Wirkungsdokumente (wobei allerdings zeitgenössische Briefstimmen gegenüber Rezensionen und publizistischen Beiträgen öfter zu kurz kommen) in die auf Sacherläuterungen konzentrierten Kommentarteile. [...] Als problematisch hat sich ferner ein gelegentlicher zu enger Anschluß an veraltete Editionsprinzipien Munckers erwiesen, vor allem bei der Briefabteilung, wo auf eine – neueren Prinzipien gemäße – jedem Brief vorangestellte einheitliche Datenleiste und auf Präzisierung erschlossener Zeiträume verzichtet wurde.5

Was Albrecht hier nur andeutet, ist der Umstand, dass Barner sich kategorisch für den Erstdruck entschieden hat, ohne dabei diesen selbst zugrunde zu legen. Barner bzw. die Herausgeber der Einzelbände haben den Erstdruck vielfach aus den Angaben bei Lachmann/Muncker erschlossen. Dass dieses Verfahren defizitär ist, ist gerade im Hinblick auf die kanonischen Dramen Lessings, allen voran Emilia Galotti und Nathan der Weise, inzwischen wiederholt betont, umfassend dokumentiert und auch ansatzweise schon auf zukünftige editorische Vorhaben perspektiviert worden.6 Jüngere Einzeleditionen dieser Dramen sind deswegen neue Wege bei der Publikation gegangen und haben versucht, einen Ausgleich zwischen autororientierten Prinzipien und Rezeption herbeizuführen, indem der Weg der Druckgeschichte umfassender als bisher dokumentiert und berücksichtigt wurde. Aktuell ist dafür insbesondere die von Elke Bauer besorgte, musterhafte historisch-kritische Edition von Emilia Galotti zu nennen,7 aber auch die von ihr zusammen mit Bodo Plachta besorgte Reclam-Studienausgaben des Trauerspiels8 sowie die Reclam-Studienausgabe von Nathan der Weise.9 Außerdem existiert eine erste digitale Teiledition, nämlich die von der HAB Wolfenbüttel 2011 in Kooperation mit der Lessing-Akademie erarbeitete Ausgabe von Lessings Übersetzungen.10 5

Wolfgang Albrecht [Rez.]: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 3. In: Lessing Yearbook 36 (2004/05), S. 203f., hier S. 204. Dieter Neiteler und Winfried Woesler: Zur Wahl der Textgrundlage einer Neuedition von Lessings Nathan der Weise. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 39–64; Elke Bauer: „Lassen Sie den Grafen diesen Gesandten seyn. So habe ich gewiß nicht geschrieben“. Vom Dilemma des Editors. Textgrundlage versus Autor am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti. In: Thomas Bein, Rüdiger NuttKofoth und Bodo Plachta (Hrsg.): Autor – Autorisation – Authentizität. Tübingen 2004, S. 211–219. 7 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Elke Monika Bauer. Tübingen 2004. 8 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Hrsg. v. Elke Bauer und Bodo Plachta. Stuttgart 2014. 9 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen. Stu­ dienausgabe. Hrsg. v. Kai Bremer und Valerie Hantzsche. Stuttgart 2013. 10 Vgl. Marcus Baumgarten: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zur digitalen Edition sämtlicher Lessing-Übersetzungen und ihrer Vorlagen. In: Gesa Dane, Jörg Jungmayr und Marcus Schotte 6

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Ein Editionsverfahren, das Lessings Publikationsweise gerecht zu werden versucht, wird aber nicht nur Genese, Druckvarianten und ihre Bedeutung im Hinblick auf die Rezeption darstellen müssen. Lessing ist sehr früh ein ausgesprochen werkpolitisch agierender Schriftsteller, der bereits im Alter von 24 Jahren beginnt, mittels der später sechs Bände umfassenden Schrifften11 einen Kern seines Werks materiell darzustellen und der so selbst seine Rezeption steuert und zu beeinflussen versucht. Dirk Niefanger hat überzeugend dargelegt, dass Lessings Schreiben dabei an ‚analogen Anliegen‘ orientiert ist, die von der Forschung bisher „eher stiefmütterlich“ behandelt wurden und die dazu auffordern, Schreibverfahren und inhaltliche Interessen stärker komparativ zu studieren.12 Für derartige Analysen eignen sich analoge Editionen kaum, weil sie sich auf eine Fassung (z.B. Erstausgabe oder Ausgabe letzter Hand) konzentrieren und so bedeutende Zwischenstufen, die für die Werkgenese ebenso wie für die Wahrnehmung des Schriftstellers in der Öffentlichkeit substantiell waren, lediglich im kritischen Apparat und damit tendenziell peripher dokumentieren. Derartige Arbeitsweisen Lessings verweisen auf die Notwendigkeit, die Werke Lessings digital zu edieren, weil nur eine digitale Edition in der Lage ist, solche Publikationsstrategien und Arbeitsweisen sowie die Kontexte von Lessings Werkpolitik in die Edition zu integrieren.

2. Voraussetzungen für und Anforderungen an eine digitale Lessing-Ausgabe Die Voraussetzungen, um über die Möglichkeiten einer historisch-kritischen Edition der Werke Lessings nachzudenken, sind so ideal wie nie. Das ist zunächst dem Umstand geschuldet, dass in den letzten rund zwei Jahrzehnten die Lessing-Forschung alle wesentlichen Lücken ihrer Grundlagenkenntnisse geschlossen hat. Jüngst ist das Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften umfassend ergänzt erschienen, so dass die materielle Basis einer historisch-kritischen Lessing-Ausgabe als vollständig bekannt gelten darf und hierfür keinerlei Vorarbeiten mehr erforderlich sind.13 Es liegen also nicht nur die erwähnten textkritischen Einzeleditionen vor, die exem­ plarisch präzise Auskunft über die Herausforderungen und potentiellen Probleme der Edition von Lessings Werken geben. Zudem existieren editionsphilologische Vorüberlegungen für Lessings Werke.14 Konzepte für die Edition von Lessings Briefen sind publiziert.15 Editionsphilologisch perspektivierte Studien zu Einzel-

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(Hrsg.): Wege zur Weltliteratur. Komparatistische Perspektiven der Editionswissenschaft. Berlin 2015, S. 279–291. Dirk Niefanger: Lessings frühzeitige Werkausgabe. Zur Konzeption und Funktion der Schrifften (1753–55). In: Jan Standke (Hrsg.): Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Heidelberg 2014, S. 344–355; Ders.: Lessings Schrifften (1753–55). Wolfenbüttel 2015. Niefanger: Lessings frühe Werkausgabe (Anm. 11), S. 355. Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Bd. 1 und 2 in einem Band. Hannover 2016. Winfried Woesler und Ute Schönberger: Wie könnte eine neue Lessing-Ausgabe aussehen?. In: Ariana Neuhaus-Koch und Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.): Literarische Fundstücke. Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen. Festschrift für Manfred Windfuhr. Heidelberg 2002, S. 11–31. Winfried Woesler: Brauchen wir eine neue Ausgabe von Lessings Briefwechsel? In: Werner M. Bauer, Johannes John und Wolfgang Wiesmüller (Hrsg.): „Ich an Dich“. Edition, Rezeption und

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Cord Berghahn, Kai Bremer, Peter Burschel

werken Lessings liegen ebenfalls vor.16 Auch sind die materiellen und sozialen Bedingungen seines Schreibens erschlossen.17 Zudem existieren überzeugende Untersuchungen zu Lessings Leseverhalten.18 Schließlich verfügt die Forschung über gleich zwei hervorragende und ausgesprochen zuverlässige aktuelle Biographien des Aufklärers,19 die nicht nur seine anhaltende Popularität dokumentieren, sondern zeigen, wie lebendig weiterhin die Lessing-Forschung ist. Die Lessing-Philologie hat in den letzten Jahrzehnten also umfangreich Fragen der Genese und editorische Perspektiven diskutiert. Es fällt bei dieser Bilanz allerdings auf, dass Kommentierung und die Einbettung von Zeugnissen der Wirkungsgeschichte zuletzt kaum mehr diskutiert wurden. Das dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass in dieser Hinsicht die von Barner verantwortete DKV-Ausgabe insgesamt weiterhin als umfassend und hinreichend wahrgenommen wird, auch wenn selbstverständlich einige neuere kommentierte Einzelausgaben indirekt die Grenzen der DKV-Kommentierung aufgezeigt haben.20 Zwar sind in den Rezensionen und in neueren Forschungen Details kritisiert und korrigiert worden. Insgesamt aber scheint aktuell eher fraglich, ob eine historisch-kritische Edition im Hinblick auf Kommentierung und Präsentation der Rezeptionszeugnisse weitere Erkenntnisse liefern kann oder ob eine zukünftige Edition nicht besser beraten ist, sich ganz auf die Präsentation der Lessing-Texte selbst zu konzentrieren. Das gilt zumal, weil eine grundlegende Edition des kanonischen Autors Lessing, den Wilfried Barner aufgrund seines besonderen Status als ‚Vorklassiker‘ bezeichnet hat,21 ergänzend zu erörtern hat, ob bzw. wie sie neben den Bedürfnissen der Wissenschaft weitere Bedürfnisse etwa von Schulen und Theatern berücksichtigen kann. Eine Lessing-Edition muss dem Umstand Rechnung tragen, dass der Aufklärer weiterhin im Schulunterricht einer der wichtigsten deutschen Autoren ist und auf

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Kommentierung von Briefen. Innsbruck 2001, S. 75–94; Ders.: Die Lachmann-Munckersche Ausgabe des Lessing-Briefwechsels aus heutiger Sicht – Das Problem der verlorenen Briefe. In: LessingYearbook 36 (2004/05), S. 97–107. Vgl. Elisabeth Blakert: Grenzbereiche der Edition: die Paralipomena zu Lessings Laokoon. In: editio 13 (1999), S. 78–97; Christine Vogl: Lessings Laokoon-Nachlass. Mögliche Antworten auf editorische Fragen. In: Jörg Robert und Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin/Boston 2013, S. 41–98. Elke Bauer: „Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript“. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe. In: Jürgen Golz und Manfred Koltes (Hrsg.): Autoren und Redaktoren als Editoren. Tübingen 2008, S.  130–143; Christine Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses von Gotthold Ephraim Lessing. Ein Plädoyer für analytische Handschriftenforschung. In: editio 32 (2018), S. 137–166; Winfried Woesler: Die nachgelassenen Blätter zu Lessings Nathan. In: Lessing-Yearbook 47 (2020), S. 91–98. Friedrich Vollhardt: Lessings Lektüren. Anmerkungen zu den Rettungen, zum Faust-Fragment, zu der Schrift über Leibnitz von den ewigen Strafen und zur Erziehung des Menschengeschlechts. In: Euphorion 100 (2006), S.  359–393; Christine Vogl: Lessing als Leser. Eine Spurensicherung in seinen Handexemplaren und Collectanea. In: Helmut Berthold und Franziska Schlieker (Hrsg.): Von Herkules bis Hollywood. Beiträge zur jüngeren Lessing-Forschung. Wolfenbüttel 2018, S. 49–87. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008; Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012. Wilfried Barner: Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing. In: Ders.: „Laut denken mit einem Freunde“. Lessing-Studien. Hrsg. v. Kai Bremer. Göttingen 2017, S. 225–238.

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deutschsprachigen Bühnen regelmäßig gespielt wird. Angesichts des bevorstehenden Lessing-Jubiläums 2029 wird das Interesse an einer Lessing-Ausgabe deswegen tendenziell außerhalb der Wissenschaft in den nächsten Jahren zunehmen. Welche Fragen das für eine digitale Lessing-Edition aufwirft, sei schlaglichtartig im Spiegel aktueller editionsphilologischer Debatten skizziert: Anke Bosse und Walter Fanta haben im Sammelband zur Textgenese in der digitalen Edition darauf hingewiesen, dass textgenetische Editionen keine Rekonstruktion des Schreibakts bieten.22 Wolfgang Lukas hat diese Feststellung im selben Band präzise und zuverlässig wie immer begründet.23 Bei einem Autor wie Lessing, bei dem zudem die handschriftliche Überlieferungslage ausgesprochen unterschiedlich ist, wird dieser Umstand zu berücksichtigen sein, weil Genese vielfach lediglich im Hinblick auf die Druckgeschichte beschrieben werden kann. Es stellt sich deswegen die Frage, ob aufgrund der uneinheitlichen Überlieferung eine genetische Edition im Falle Lessing sinnvoll ist. Diese Einschätzung stellt sich aus Sicht des Theaters jedoch möglicherweise anders dar. Denn der in der Editionsphilologie etablierte offene, pluralistische Textbegriff, den Bosse und Fanta erneut stärken, ist ausgesprochen anschlussfähig für künstlerische Auseinandersetzungen mit kanonischen Texten im postdramatischen Theater. Vor allem aber – und das mag aus literaturtheoretischer Sicht vielleicht überraschen – ist der postdramatische Theatertext am Autor sehr interessiert.24 Dieses Beispiel soll exemplarisch andeuten, dass eine digitale Edition aufgrund der leichteren Zugänglichkeit eine diversere Nutzung durch ein interessiertes, allerdings nicht primär wissenschaftliches Publikum bei der Konzeption berücksichtigen sollte. Das wirft wiederum auch die Frage nach der medialen Realisation einer zukünftigen Edition auf, konkret die Frage nach einer Hybridedition. Ursula Kocher hat die Frage nach deren Nutzen gestellt und Stereotype der Argumentation für Hybrideditionen untersucht.25 Konkret erörtert hat sie einerseits das Argument, dass in dieser die jeweiligen medialen Vorteile von Print und Digitalisat ideal ausgespielt werden könnten, sowie andererseits die Annahme, dass Print-Ausgaben als besonders leserfreundlich gelten, während Digitalisate für umfangreiche Materialien besonders einschlägig seien. Kocher weist darauf hin, dass diese Behauptungen bisher durch keine empirischen Daten gestützt sind, so dass gar nicht gesichert sei, dass Print-Ausgaben tatsächlich in jedem Rezeptionszusammenhang als leserfreund­ licher wahrgenommen werden. Im Hinblick auf die Nutzung von Editionen durch

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Anke Bosse und Walter Fanta: Vorwort: Wozu Textgenese in der digitalen Edition? Fragestellungen und Lösungsmodelle. In: Dies. (Hrsg.): Textgenese in der digitalen Edition. Berlin/Boston 2019, S. VII–X. 23 Wolfgang Lukas: Archiv – Zeit – Text. Überlegungen zur Modellierung und Visualisierung von Textgenese im analogen und digitalen Medium. In: Bosse/Fanta (Hrsg.): Textgenese in der digitalen Edition (Anm. 22), S. 23–50. 24 Vgl. Kai Bremer: Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956. Bielefeld 2017, S. 101– 104 sowie S. 143–167. 25 Ursula Kocher: Vom Nutzen der Hybridedition. Überlegungen zu einer Editionsform mit besonderen Anforderungen. In: editio 33 (2019), S. 82–93.

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das Theater, also während des Probenprozesses, dürfte beispielsweise längst ein digital verfügbarer Theatertext die bevorzugte Präsentationsform sein.26 Diese Beobachtung wirft wiederum die Frage auf, welcher Text präsentiert wird bzw. ob ggfs. ein konstituierter Text erstellt werden muss. Die digitale Frankfurter www.faustedition.de hat sich entschieden, nicht nur die Genese zu rekonstruieren und alle einschlägigen Textzeugen zu edieren, sondern ergänzend einen konstituierten Text zu erstellen und diesen sowohl online als auch als Buch zu publizieren. Das überzeugt für den konkreten Fall. Für die Edition eines gesamten Werks wie dem Lessings wirft das allerdings die Frage auf, wie und wo konstituierte Texte publiziert werden: Was spricht für eine Printfassung, was spricht für ein gut zugängliches Digitalisat? In welchen Fällen ist ein konstituierter Text überhaupt erforderlich? Bedarf es für die Jugendlustspiele konstituierter Texte oder sind hier kritische Editionen der Erstausgaben hinreichend? Konzentriert man sich bei der Erstellung von konstituierten Texten auf die Dramen, die in Universität, Schule und Theater oft rezipiert werden? Der kanonische Status Lessings macht es erforderlich, sich diesen Fragen zu stellen, wenn eine Lessing-Edition in der breiteren Öffentlichkeit wirksam sein soll. Damit unterliefe eine solche Edition jedoch praktisch wiederum den insbesondere in der textgenetischen Forschung – wie oben erwähnt – zurecht und überzeugend entwickelten offenen und pluralistischen Textbegriff. Wie könnte sich eine LessingEdition aus einem solchen immanenten Widerspruch befreien? Aufbauend auf den vorliegenden, skizzierten Vorarbeiten soll der vorliegende Sammelband einige dieser Fragen erörtern. Er wird allerdings die mittelfristigen Perspektiven (weitere Nutzung etwa durch Schulen und Theater) nicht berücksichtigen, sondern konkrete editionsphilologische Fragen und zentrale Probleme der wissenschaftlichen Lessing-Edition erörtern, um so einen Beitrag zur Vorbereitung einer digitalen Lessing-Edition zu erbringen. Der vorliegende Sammelband geht auf eine wissenschaftliche Tagung zurück, die vom 10.–12. März 2020 in Wolfenbüttel stattgefunden hat.27 Sie war eine Kooperation der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, dem Forschungszentrum Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Osnabrück und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel. Die meisten vorliegenden Beiträge gehen auf Vorträge zurück, die während der Tagung gehalten wurden, einige Artikel sind im Anschluss an die Tagung entstanden. Die Herausgeber danken Winfried Woesler für die Aufnahme der Publikation in die Beihefte zu editio. Der Fritz Thyssen Stiftung danken sie für die großzügige Unterstützung der Tagung und Martin Wiegand für die Erstellung der Druckvorlage. 26

Vgl. Kai Bremer: Endlich im Klassiker-Himmel? Goethes Faust online. In: (24.03.2021). 27 Die Tagung wurde in Fachkreisen breit rezipiert, insgesamt sind vier Tagungsberichte erschienen: editio 34 (2020), S.  239–242 (verfasst von Vincenz Pieper); Zeitschrift für Germanistik 31 (2021), S. 165–167 (verfasst von Janina Reibold); Lessing Yearbook 30 ((2020) verfasst von Magdalena Fricke); H-Germanistik: (verfasst von Franziska-Katharina Schlieker; zuletzt abgerufen am 18.03.2021).

I. Aktuelle Tendenzen der Editionsphilologie

Rüdiger Nutt-Kofoth

Analytische Druckforschung in der germanistischen Editorik Eine Bestandsaufnahme – mit einer Perspektive für eine digitale Lessing-Ausgabe

1. Systematische und historische Aspekte des Verhältnisses von Analytischer Druckforschung und Textkritik „Die Identifizierung, die Klärung der Entstehungsfolge und die Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses aller zeitgenössischen Drucke eines Werkes gehören zu den fundamentalen Erfordernissen jeder textkritischen Arbeit.“1 1977 eröffnete Martin Boghardt das knappe Schlusskapitel „Zur textkritischen Bedeutung von Mehrfachdrucken“ seiner einschlägigen und für den deutschen Sprachraum wegweisenden Monografie Analytische Druckforschung mit diesem dezidierten Hinweis auf die epistemologische Bedeutung der Analytischen Druckforschung für die Textkritik. Damit bildet die Textkritik nicht nur ein wesentliches Ziel der Analytischen Druckforschung, sondern den grundlegenden Zusammenhang beider legt schon der Untertitel von Boghardts Arbeit dar: „Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik“. Im Sammelband Texte und Varianten von 1971, quasi dem Gründungsdokument der neueren deutschsprachigen Editionswissenschaft, war aus der Perspektive der Buchwissenschaft dieser Zusammenhang in aller Nachdrücklichkeit hinsichtlich der Druckvarianzermittlung formuliert worden: „Es gehört weiterhin zu den Ergebnissen der neueren Textforschung, daß Presskorrekturen nicht auf die Epoche der Handpresse beschränkt sind. […] Daraus folgt, daß auch kein Text aus dem Zeitalter der Maschinenpresse als vollgültig ediert gelten kann, wenn er nicht vorher auf interne Varianten geprüft worden ist.“2 Entsprechend lässt sich für die Textkonstitution formulieren: „Bevor für die Edition eines Werkes ein Basistext bestimmt wird, müssen möglichst alle satzinternen Variationen ausgemacht und interpretiert werden. Der Vergleich möglichst vieler Exemplare einer Auflage ist hier unabdingbar.“3 2003 ist die textkritische Aufgabe der Analytischen Druckforschung buchwissenschaftlich lexikalisiert: „In einem weiteren Schritt wird die A[nalytische Druckfor1

Martin Boghardt: Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik. Hamburg 1977, S. 152. – Der vorliegende Beitrag hat profitiert von Bodo Plachtas verschiedenstem Rat, von Anne Bohnenkamps (mit Gerrit Brüning und Dietmar Pravida abgestimmten) Hintergrundinformationen zum Umgang der Digitalen Faust-Edition mit der Druckforschung (s. Anm. 73) sowie von einer Einschätzung Hans Walter Gablers zur jüngsten angloamerikanischen Editorik (s. Schluss von Anm. 13). 2 Bernhard Fabian und Dieter Kranz: Interne Kollation. Eine Einführung in die maschinelle Textvergleichung. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 385–400, hier S. 388f. 3 Susanne Starnes: Digitalisierungstechniken und ihr Einsatz für die buchwissenschaftliche Forschung, insbesondere für die analytische Druckforschung. Erlangen-Nürnberg 2003, S. 21.

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Rüdiger Nutt-Kofoth

schung] mit den Methoden der Textkritik (textual criticsim) verbunden […]. Die A[nalytische Druckforschung] bietet das methodische Instrumentarium zur Ermittlung druckinterner Varianten (Pressvariante) und satzdifferenten Drucks (Doppeldruck, Karton, Mischauflage, Titelauflage, Zwitterdruck).“4 2005 klassifiziert Klaus Hurlebusch deren editionsrelevante Komponente als „analytische Grundlegung einer anspruchsvollen Textkritik“.5 Bodo Plachtas editionswissenschaftliche Einführung hatte der Druckforschung seit 1997 einen festen Platz eingeräumt,6 der sich in seiner rezenten handbuchartigen Darstellung zu einem selbständigen Kapitel ausgewachsen hat.7 Nur folgerichtig hat Gunter Martens in dem ein editionswissenschaftliches Wörterbuch perspektivierenden Sammelband von 2013 nicht nur einen Beitrag zum Forschungsfeld der Analytischen Druckforschung aufgenommen,8 sondern die zusätzliche Erschließung des terminologischen Felds der Analytischen Druckforschung durch Martin Boghardts 48 Artikel (und 39 weitere Verweisartikel)9 als „Muster für die Ausdifferenzierung“ der anzustrebenden Wörterbuchartikelarten verstanden.10 Die Analytische Druckforschung als wohlstrukturiertes editionsrelevantes Sachgebiet erhält damit zugleich Vorbildfunktion für die Editorik. Solche verschiedenartigen, dichten Verschränkungen von Analytischer Druckforschung und Editorik sind außerhalb des deutschsprachigen Raums, nämlich in der angloamerikanischen Textkritik schon wesentlich länger vorgeprägt. Sie bildeten sich dort ab Ende des 19. Jahrhunderts als Fachgebiet der ‚bibliography‘ aus,11 die sich ganz wesentlich aus der Untersuchung der hochproblematischen Überlieferung der zeitgenössischen unautorisierten Shakespeare-Drucke entwickelte, zu denen keine (Autor-)Handschriften erhalten sind. Alfred W. Pollard, Ronald B. McKerrow, Walter W. Greg und später Fredson T. Bowers förderten die Ausbildung einer ‚bibliography‘, die insbesondere als ‚critical bibliography‘ einen direkten Bezug zu 4

Ursula Rautenberg: [Art.] Analytische Druckforschung. In: Reclams Sachlexikon des Buches. Hrsg. von Ursula Rautenberg. 2., verbesserte Aufl. Stuttgart 2003, S. 28f.; lexikoninterne Verweiszeichen sind im Zitat nicht übernommen. 5 Klaus Hurlebusch: Klopstock-Editionen. Annäherungen an einen Autor. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005, S.  285–313, hier S.  307. Vgl. auch Klaus Hurlebusch: Editionsphilologen einmal wieder auf Abwegen? Einblicke in ihre Werkstatt für interessierte Laien aufgrund einer Ausstellung der Hamburger Klopstock-Ausgabe. In: editio 18 (2004), S. 213–238, hier S. 230. Beide Aufsätze sind wiederabgedruckt in Klaus Hurlebusch: Buchstabe und Geist, Geist und Buchstabe. Arbeiten zur Editionsphilologie. Frankfurt a.M. u.a. 2010, S. 254–286 und S. 227–253. 6 Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 61–67 (2., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2006; 3., ergänzte und aktualisierte Aufl. Stuttgart 2013). 7 Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Handbuch zu Geschichte, Methode und Praxis der neugermanistischen Edition. Stuttgart 2020, S. 94–101. 8 Martin Boghardt: Buchdruck und Druckanalyse. Gegenstand, Methode, Begriffe. In: Editorische Begrifflichkeit. Überlegungen und Materialien zu einem „Wörterbuch der Editionsphilologie“. Hrsg. von Gunter Martens. Berlin/Boston 2013, S. 135–143. 9 Martin Boghardt: Begriffe aus der analytischen Druckforschung. In: Ebd., S. 163–192. 10 Gunter Martens: Vorbemerkung des Herausgebers zu den Wörterbuchartikeln. In: Ebd., S. 161f., hier S. 161. 11 Der Zusammenhang findet sich gespiegelt in der Aufeinanderfolge der Abschnitte „Analytical, critical, textual bibliography und Copy-Text“ und „Drucktypen, Druckformen, Druckprozesse“ bei Klaus Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur. Berlin 1991, S. 60–81.

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textkritischen Fragestellungen herstellte. Allerdings differenzierte Bowers zwischen ‚analytical bibliography‘ als eigenständigem Sachgebiet und ‚textual bibliography‘ als dessen Anwendung auf den Bereich der Textkritik.12 Der textkritische Impetus der angloamerikanischen ‚bibliography‘ lässt sich mit der neugermanistischen Editorik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analogisieren, nur dass die ‚biblio­graphy‘, wie der Name schon impliziert, vor allem Drucküberlieferung im Blick hatte,13 während sich die neugermanistische Editorik aufgrund ihrer Editionsobjekte viel intensiver gerade auch mit handschriftlicher Überlieferung beschäftigte (Stichwort: Goethe statt Shakespeare), allerdings keineswegs ausschließlich. Die deutschsprachige Analytische Druckforschung hat sich in ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung aber nicht als editionswissenschaftliches Untergebiet verstanden, sondern sich ausdrücklich als eigenständiges Wissensfeld konturiert, das zugleich noch als materialorientiertes Teilgebiet der Buchwissenschaft begriffen 12

Vgl. Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S.  10 und 12; Boghardt: Buchdruck und Druckanalyse (Anm. 8), S. 135. – Ein jüngerer Überblick über die englischsprachige Forschung zur ‚analytical/descriptive bibliography‘ bei G. Thomas Tanselle: Notes on Recent Work in Descriptive Bibliography. In: Studies in Bibliography 60 (2018), S.  1–93.  – Ein herausragendes Ergebnis der jüngeren angloamerikanischen ‚analytical bibliography‘ ist die detaillierte Beschreibung sämtlicher Exemplare von Shakespeares ‚First Folio‘: The Shakespeare First Folios. A Descriptive Catalogue. Ed. by Eric Rasmussen and Anthony James West with Donald L. Bailey, Mark Farnsworth, Lara Hansen, Trey Jansen, and Sarah Stewart. Basingstoke u.a. 2012; zum Nutzen für die Editorik s. Eric Rasmussen und Anthony James West: Introduction. In: Ebd., S. XI–XIV, hier S. XIIf. 13 Deutschsprachige Überblicke – auch mit Blick auf neuere Entwicklungen nach der Abkehr von der Absolutierung des aus der ‚bibliography‘ entwickelten textkritischen Copy-Text-Verfahrensmusters: Dieter Kranz: ‚Copy-Text‘. Ein Beitrag zur Entwicklung des Begriffs und zu seinen Konsequenzen in Editionstheorie und -praxis. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5 (1975), H. 19/20: Edition und Wirkung. Herausgeber dieses Heftes: Wolfgang Haubrichs, S. 127–141; Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S. 9–15; Gert Vonhoff: ‚Copy-Text Theory‘ Revis­ ited: Die anglo-amerikanische Textkritik. In: Herbert Kraft: Editionsphilologie. Mit Beiträgen von Jürgen Gregolin, Wilhelm Ott und Gert Vonhoff. Unter Mitarbeit von Michael Billmann. Darmstadt 1990, S.  71–88 und 229–242; Helge Nowak: Umbruch-Zeiten. Paradigmenwechsel innerhalb der anglo-amerikanischen Editionswissenschaft. In: editio 10 (1996), S.  1–24; Peter Shillingsburg: Anglo-amerikanische Editionswissenschaft. Ein knapper Überblick. In: Text und Edition. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta, H.T.M. van Vliet und Hermann Zwerschina. Berlin 2000, S.  143–164; Hans Walter Gabler: Buchkunde und Edition: die angloamerikanische Textkritik im 20. Jahrhundert. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Ringvorlesung. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Berlin 2003, S. 233–264; Starnes: Digitalisierungstechniken (Anm. 3), S. 4–19. – Siehe auch verschiedene angloamerikanische Beiträge in: Anglia 119 (2001), H. 3: Themenheft Editionswissenschaft, sowie die Zusammenstellung wegweisender Aufsätze der angloamerikanischen Editionswissenschaft aus der Zeit der konzep­ tionellen Erweiterung in einem ‚special issue‘ von: ecdotica 6 (2009): Anglo-American Scholarly Editing 1980–2005. Ed. by Paul Eggert and Peter Shillingsburg. With the assistance of Kevin Caliendo. – ‚Analytical bibliography‘ und Copy-Text-Verfahren mit der diesem inhärenten starken Autorfunktion stehen in der angloamerikanischen Editionsmethodik des 20. Jahrhunderts in einem engen Zusammenhang; die jüngere kritischere Bewertung des Copy-Text-Verfahrens dürfte auch den Umgang mit der Gewichtung von Ergebnissen der ‚analytical bibliography‘ beeinflussen, ohne dass dies allerdings aufgrund der Sachgegebenheiten der Drucküberlieferung notwendig sein müsste; s. zur Sachlage Hans Walter Gabler: Beyond Author-Centricity in Scholarly Editing. In: Ders.: Text Genetics in Literary Modernism and Other Essays. Cambridge 2018, S. 169–194 (zuerst in: Journal of Early Modern Studies 1 (2012): On Authorship. Ed. by Donatella Pallotti and Paola Pugliatti, S. 15– 35; (17.03.2021); dt. Version als Ders.: Wider die Autorzentriertheit in der Edition. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2012 [2013], S. 316–348).

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werden kann.14 Ihr jüngerer Entstehungszusammenhang war jedoch ein explizit editorischer, nämlich die druckanalytische Vergleichung aller in Europa greifbaren Exemplare von Klopstocks Drucken im Zusammenhang der Erarbeitung der historisch-kritischen Klopstock-Ausgabe (1974ff.),15 der ersten historisch-kritischen Ausgabe im deutschsprachigen Raum, auf die die angloamerikanische ‚analytical bibliogaphy‘ systematisch angewandt wurde.16 Die Ergebnisse sind nicht nur in die Überlieferungsbeschreibungen und in Entscheidungen zu Textkritik und Textkon­ stitution eingegangen, sondern in einem eigenen Band der Ausgabe als ‚deskriptive Bibliographie‘ niedergelegt.17 Auch die vereinzelten älteren druckanalytischen Forschungen stehen vielfach in einem editorischen Horizont. Für diese galt es zunächst, die Phänomene der Drucküberlieferung aus den Herstellungsprozessen von Drucken, insbesondere solchen aus dem Zeitalter der Handpresse, heraus zu verstehen. Das betrifft insbesondere das System des typografischen Kreislaufs,18 aufgrund dessen die druckanalytische Beobachtungseinheit nicht der gesamte Druck, sondern zunächst der Bogen ist, da die Druckform nach dem Bogendruck wieder aufgelöst wurde und die Typen in den Setzkasten abgelegt wurden, bevor neue Druckformen für weitere Bogen gesetzt wurden. Eine erst im Laufe des gesamten Druckvorgangs vorgenommene Auflagenerhöhung führte also notgedrungen zum Neusatz von schon ausgedruckten Bogen. Durch solche zeitgenössisch ganz üblichen Vorgänge entstanden Neusatzvarianten in Exemplaren, die diese neu gesetzten Druckbogen enthalten. Varianten ergaben sich aber auch durch das Korrekturlesen an schon ausgedruckten Bogenexemplaren (Pressvarianten, das sind Presskorrekturen, unter Umständen aber auch Presskorruptelen), die unter Anhalten des Bogendrucks vorgenommen 14

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Vgl. Boghardt: Buchdruck und Druckanalyse (Anm. 8), S.  135f., insbesondere die Explikation ebd., S. 136: Die Analytische Druckforschung ist „keineswegs selbst schon Textkritik, sondern eine eigenständige Grundwissenschaft, welche im Hinblick auf textkritische Erwägungen und editorische Entscheidungen hilfswissenschaftliche Aufgaben erfüllt“. Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Hrsg. von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch. Berlin/New York 1974ff. Vgl. Hurlebusch: Klopstock-Editionen (Anm. 5), S.  307; Hurlebusch: Editionsphilologen einmal wieder auf Abwegen? (Anm. 5), S.  230.  – Aus solchem Zusammenhang ist auch die ursprünglich textkritische Orientierung der deutschsprachigen Analytischen Druckforschung entsprungen; s. die grundlegende Monografie von Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S.  170: „Mit vorliegender Arbeit wird versucht, analog zur ‚critical‘/‚analytical bibliography‘ der Angelsachsen eine deutsche analytische Druckforschung in systematischer Form zu begründen und für Probleme der Textkritik beziehungsweise des historisch-kritischen Edierens fruchtbar zu machen.“ Zum Zusammenhang mit der Hamburger Klopstock-Ausgabe s. ebd., S. 18. Klopstock-HKA (Anm. 15), Abt. Addenda. Bd. III,1 und 2: Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken. Eine deskriptive Bibliographie von Christiane Boghardt, Martin Boghardt und Rainer Schmidt. Berlin/New York 1981. – Zur Reihe der immens positiven Beurteilungen dieser Bibliografie s. die Kurzzitate aus Rezensionen bei: Julie Boghardt im Anschluss an Horst Meyer: Bibliographie Martin Boghardt. In: Martin Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches. Hrsg. von Paul Needham in Verbindung mit Julie Boghardt. Wiesbaden 2008, S. 513–527, hier S. 522f. Siehe die Darstellung von Martin Boghardt: Der Buchdruck und das Prinzip des typographischen Kreislaufs. Modell einer Erfindung. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 50–74; zuerst in: Gutenberg. 550 Jahre Buchdruck in Europa. Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 5. Mai bis 30. August 1990. Ausstellung und Katalog: Paul Raabe. Mit Beiträgen von Martin Boghardt u.a. Weinheim 1990, S. 24–44.

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wurden, wobei die schon ausgedruckten Bogenexemplare aus Kostengründen nicht weggeworfen, sondern ebenfalls für Exemplare des Drucks verwendet wurden, sodass unterschiedliche Druckexemplare aus gleichem Satz, aber mit satzinterner Varianz in den Umlauf kamen. Auch andere Variantenarten wie die Einfügung von Austauschblättern (Kartons) als Neusatzseiten in ansonsten satzidentischen Exemplaren führen zu satzinterner Varianz, wenn sowohl Exemplare mit als auch solche ohne Kartons in die Öffentlichkeit gerieten. Die Aufarbeitungen solcher Druckphänomene durch die Analytische Druckforschung „erweisen die Annahme, daß alle Exemplare einer Ausgabe oder einer Auflage textlich identisch seien, als ahistorische Textüberlieferungsillusion“.19 Weitere Ausprägungen wie die Titelauflage (mit neuer Titelei versehene Exemplare eines älteren Drucks), der Doppeldruck (layoutimitierender, also den Satz eines früheren Drucks bis ins Detail nachahmender, aber auf Neusatz beruhender – und deswegen unvermeidlich Satzvarianten/Setzerfehler enthaltender  – Druck), der Zwitterdruck (mit Druckbogen aus ursprünglichem und solchem auf Neusatz beruhenden – und damit gegenüber dem Originaldruck Varianten enthaltenden – Satz) oder das Mischexemplar (aus Druckbogen unterschiedlicher Drucke zusammengefügtes Exemplar) kommen in nicht geringem Maße vor.20 Aus editorischer Perspektive ist die Kenntnis des historischen Druckprozesses und der Erscheinungsformen historischer Drucke daher von elementarer Bedeutung für die Wahl der Textgrundlage und den textkritischen Umgang mit Einzelstellen, aber auch für die Textüberlieferungsdarstellung und die der Entstehungsgeschichte. Probleme der Drucküberlieferung deutschsprachiger Literatur berücksichtigte nachdrücklich schon Karl Goedeke für seine Schiller-Ausgabe 1867–1876, der ersten, die das Signet ‚Historisch-kritische Ausgabe‘ auf dem Titelblatt trug, und erklärte dabei die kritische Ausgabe zur Voraussetzung der Ermittlung von Doppeldrucken,21 also der Druckforschung. Auch die Goethe-Philologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm Druckfragen in den Blick,22 woraus sich das besondere Augenmerk auf die Ermittlung und Bewertung von Drucken in der

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Hurlebusch: Klopstock-Editionen (Anm. 5), S. 308. Zu allen hier beschriebenen Druckphänomenen s. ausführlicher die lexikonartigen Erläuterungen in Boghardt: Begriffe aus der analytischen Druckforschung (Anm. 9), jeweils unter dem alphabetisch eingeordneten Stichwort. 21 Karl Goedeke: Vorwort. In: Schillers sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe. Im Verein mit A. Ellissen, R. Köhler, W. Müldener, H. Oesterley, H. Sauppe und W. Vollmer von Karl Goedeke. Zweiter Theil: Die Räuber. Wirtembergisches Repertorium. Hrsg. von Wilhelm Vollmer. Stuttgart 1867, S. V–VIII, hier S. VII: „Daß solche etwa vorhandne Doppeldrucke unberücksichtigt geblieben, beruht weder auf einem Mangel an Genauigkeit in der Benutzung des vorhandnen literarischen Materials, noch auf Sorglosigkeit um Vermehrung desselben, sondern darauf, daß ohne eine kritische Ausgabe, wie die gegenwärtige es ist, die Existenz jener Doppeldrucke nur mit Hülfe des Zufalls zu ermitteln war. Die Schillerbibliographen werden fortan eine viel umfangreichere Aufgabe zu lösen haben als bisher, da sie sich um den Inhalt, nicht mehr allein um Titel und Seitenzahlen zu kümmern haben; unsre Arbeit wird Ihnen die Schwierigkeit aber wesentlich erleichtern.“ – Auf den Sachverhalt im Kontext der Geschichte des Doppeldruck-Terminus weist hin Martin Boghardt: Der Begriff des Doppeldruckes. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 133–143, hier S. 133–135; zuerst in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1973, S. 440–457. 22 Siehe etwa Michael Bernays: Über Kritik und Geschichte des Goetheschen Textes. Berlin 1866. 20

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Weimarer Goethe-Ausgabe (1887–1919) entwickelte.23 Erste Spezialuntersuchungen zu druckanalytischen Fragen deutschsprachiger Drucke gab es Ende des 19. Jahrhunderts, so durch die Arbeiten von Gustav Milchsack an der Herzog-AugustBibliothek Wolfenbüttel, die damit eine Traditionslinie bis zu dem ebendort tätigen Martin Boghardt als dem Begründer der systematischen Analytischen Druckforschung im deutschsprachigen Raum ein Dreivierteljahrhundert später aufweist. Milchsacks Untersuchung zu Doppeldrucken 1896 kann jedenfalls als ein solcher Auftakt gelten.24 Wilhelm Kurrelmeyer schloss sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit Doppeldruck-Klassifizierungen zu Drucken von Schiller, Goethe und Wieland an;25 die Arbeit zu Wieland fiel in die Anfangsphase der von Bernhard Seuffert vorbereiteten kritischen Wieland-Ausgabe26 und erschien – wie Seufferts Editionsprolegomena27 – in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde im Kontext der Goethe-Akademie-Ausgabe, die allerdings bis zu ihrem wissenschaftspolitischen Abbruch 1966 fast nur Textbände vorlegte,28 ein auch Beobachtungsbereiche der Analytischen Druckforschung mitberücksichtigendes Goethe-Druckverzeichnis erstellt.29 Hans Werner Seifferts systematisierende Darstellung der editorischen Methodik von 1963 widmete den Fragen der Drucküberlieferung ein viele Einzelheiten und Beispiele vorführendes Kapitel und wies in einem separaten Abschnitt knapp auf die neu entwickelten technischen Untersuchungsverfahren in der angloameri23

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Siehe insbesondere die Überlieferungsbeschreibungen zu den Drucken in den einzelnen Bänden von: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde. in 143. Weimar 1887–1919, insbesondere innerhalb der Abteilung der Werke (Bd. 1–55). Gustav Milchsack: Doppeldrucke. Ein Beitrag zur Geschichte des Verlagsrechts. In: Centralblatt für Bibliothekswesen 13 (1896), S.  537–567, und die Erwiderung auf Robert Voigtländers Kritik eBd. 14 (1897), S. 509–516. – Wissenschaftsbiografische Mitteilungen zu Boghardt finden sich bei Paul Needham: Introduction. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 9–22; Monika Estermann: [Deutsche Fassung der] Einleitung. In: ebd., S. 23–38. W[ilhelm] Kurrelmeyer: Doppeldrucke von Schillers Jungfrau von Orleans. In: Modern Language Notes 25 (1910), S. 97–102 und 131–137; Ders.: Die Doppeldrucke von Goethes Werken, 1806–1808. In: Modern Language Notes 26 (1911), S. 133–137; Ders.: Die Doppeldrucke in ihrer Bedeutung für die Textgeschichte von Wielands Werken. Berlin 1913. Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften [in der Folge Umbenennungen der herausgebenden Institution]. Berlin 1909–1976, abgebrochen. Bernhard Seuffert: Prolegomena zu einer Wieland-Ausgabe. I–IX. Berlin 1904–1941 (Aus [dem Anhang zu] den Abhandlungen der [Königl.] Preußischen Akademie der Wissenschaften [vom Jahre] 1904–1940); die in eckige Klammern gesetzten Bezeichnungen finden sich nicht in allen Teilen auf den Titelblättern. Werke Goethes. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 23 Bde. Berlin 1952–1966, abgebrochen, danach einige weitere Bände als Einzelausgaben. Zuerst innerhalb der Ausgabe: Werke Goethes (Anm. 28) unter Leitung von Ernst Grumach. Ergänzungsband 1: Die Gesamt- und Einzeldrucke von Goethes Werken. Bearbeiter des Bandes: Waltraud Hagen. Berlin 1956, dann separat als: Die Drucke von Goethes Werken. Bearbeiter des Bandes: Waltraud Hagen. Berlin 1971 (Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin); Zweite, durchgesehene Aufl. Weinheim 1983 (Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR). Die wiederholten, erneuerten Auflagen zeugen von der Gewichtung, die der Druckforschung im Kontext der Goethe-Akademie-Ausgabe zugewiesen wurde. Siehe auch die ergänzende umfängliche Dokumentensammlung: Quellen und Zeugnisse zur Druckgeschichte von Goethes Werken. Bearb. von Waltraud Hagen, Inge Jensen, Edith Nahler und Horst Nahler. 4 Bde. Berlin 1966–1986 (Hrsg. vom Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR).

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kanischen Editorik hin (Hinman-Collator).30 Doch hat erst die historisch-kritische Klopstock-Ausgabe den zeitgenössischen Stand der angloamerikanischen ‚analytical bibliography‘ aufgenommen,31 was aufgrund des auf Vollständigkeit in der Ermittlung, der auf Autopsie beruhenden Untersuchung und des auf Beschreibung aller erreichbaren Druckexemplare zielenden Verfahrens „zeitraubende Vorarbeiten“ erforderlich machte.32 Druckanalytische Untersuchungen für die Breite eines Autorgesamtwerks sind zeitintensiv.33

2. Das methodische Verfahren der textkritisch relevanten Druckanalyse und seine Analogie zur neugermanistischen Textfehlerermittlung In ihrer Einleitung zum Druckverzeichnis der historisch-kritischen KlopstockAusgabe haben dessen Herausgeber einen für die üblichen textkritischen Verfahren der Editorik zunächst frappanten Grundsatz aufgestellt: „Wirkliche Sicherheit über die Identität der Drucke gibt […] nicht ein Vergleich der Varianten, sondern nur ein Vergleich der Satzbilder.“34 Der textgenetisch und textkritisch arbeitende, daher grundsätzlich am Variantenvergleich interessierte Editor könnte daher auf den ersten Blick irritiert sein und meinen, hier würde eine Idiosynkrasie einer auf Äußerliches abzielenden etwaigen Bibliophilie gepflegt. Das wäre jedoch ein grundsätzlicher Irrtum. Tatsächlich eröffnet der buchmaterial fokussierte Blick des druckanalytischen Buchwissenschaftlers nämlich sowohl für das Kerninteresse der Analytischen Druckforschung als auch für das der Textkritik im vorgeschlagenen Verfahren eine zusätzliche Absicherung hinsichtlich der Reichweite der aus ihm zu ziehenden Schlussfolgerungen. Boghardt hat die Vorrangigkeit der Materialbefunde vor der Variantenbewertung methodisch eingehend dargelegt: 30 31

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Hans Werner Seiffert: Untersuchungen zur Methode der Herausgabe deutscher Texte. Berlin 1963, S. 17–27 und 69f. Die Arbeiten waren zunächst noch ohne Kenntnis der ‚analytical bibliography‘ begonnen und erst durch Hinweise von Anglisten (Bernhard Fabian u.a.) in die neue Richtung gelenkt worden; vgl. Klopstock-HKA, Abt. Addenda, Bd. III,1, 1981 (Anm. 17), S. XIX. Vgl. Klopstock-HKA, Abt. Addenda, Bd. III,1, 1981 (Anm. 17), S. XI, Zitat S. XIX. Das nicht geringe Zeitbudget für druckanalytische Arbeiten hat unter Editoren auch zu Abwägungsüberlegungen geführt; s. etwa Gabler: Buchkunde und Edition (Anm. 13), S. 246, in Hinblick auf das Phänomen der Pressvarianten: „Festzuhalten bleibt freilich auch, daß der Arbeitsgang der Presskorrektur für die wissenschaftliche Textsicherung eine letztlich periphere Bedeutung hat. Den Ertrag des Aufwandes für die Kollation von Mehrfachexemplaren sollte der Textkritiker und Editor daher von Fall zu Fall abwägen.“ Siehe aber auch deutlich Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie (Anm. 11), S. 76, zum Verhältnis von Aufwand und Ertrag der Druckanalyse für die Textkritik: „Der Gewinn für den Text ist […] meist minimal. Gleichwohl kann auf diese Untersuchungen nicht verzichtet werden, denn es gibt immer wieder Fälle, in denen sie von einem entscheidenden Punkte aus den ‚Kausalnexus‘ zwischen technischer Herstellung und Textgestaltung aufdecken und den Herausgeber vor Fehlentscheidungen bewahren.“ Klopstock-HKA, Abt. Addenda, Bd. III,1, 1981 (Anm. 17), S. XVIII. – Siehe auch die Bewertung der ‚Variantenmethode‘ bei Martin Boghardt: Druckanalyse und Druckbeschreibung. Zur Ermittlung und Bezeichnung von Satzidentität und satzinterner Varianz. In: Ders.: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S.  104–129, hier S.  125 (zuerst in: Gutenberg-Jahrbuch 1995, S.  202–221): „das Verfahren der Variantenverzeichnung mit vorhergehender Maximalerfassung ist also, streng genommen, nur ein Notbehelf mit vermindertem Risiko, wenngleich es in der Praxis erfahrungsgemäß gute Dienste tut“.

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Will man also die textkritische Frage [zur Abhängigkeit zweier Drucke voneinander] beantworten […], so dürfen die Varianten nicht zum Ausgangspunkt, sondern sie müssen zum Ziel der Beweisführung gemacht werden, weil man sonst, von den Varianten auf die Reihenfolge und von der Reihenfolge auf die Varianten der Drucke schließend, in einen Zirkel gerät. Benötigt wird ein methodischer Ansatz, der den Druck nicht als Sinnträger, sondern als typographisches Produkt betrachtet und ihn zunächst unabhängig von dem reproduzierten Text in seinem Entstehungszusammenhang zu erklären sucht.35

Das führt Boghardt zu drei explizit auf textkritische Anschlussforschung ausgerichteten Thesen: 1. Auch und gerade eine textkritisch orientierte Betrachtung von Druckzeugen hat nicht bei inhaltlichen, sondern bei formalen Phänomenen anzusetzen, sie hat zunächst ausschließlich typographische Befunde zu ermitteln. 2. Der Entstehungszusammenhang zwischen diesen Befunden ist so weit wie möglich aus ihnen selbst heraus zu erhellen, wobei natürlich buchkundliche Fakten und zeitgenössische Zeugnisse, die allerdings eindeutig beziehbar sein müssen, zu berücksichtigen sind. 3. Ein derartiges Verfahren, das sich in der englischen und amerikanischen Druckforschung seit Beginn unseres [d.h. des 20.] Jahrhunderts als „critical“ bzw. als „analytical bibliography“ etabliert hat, führt nicht vom Wort des Autors fort, sondern gibt der textkritischen Beurteilung von Druckzeugen eine ebenso unabhängige wie sichere Grundlage.36 Eine aufgrund rein materialer Phänomene vorgenommene Bewertung der jeweiligen Drucke und ihrer Exemplare ist objektivierbarer als eine allein aus der inhaltlichen, folglich stärker interpretativen Qualifizierung von Varianten abgeleitete Schlussfolgerung und daher argumentativ auch tragfähiger. Daher setzt die Analytische Druckforschung explizit auf die „methodische[ ] Trennung zwischen bibliographischem Befund, bibliogenetischer Erklärung und textbezogener Deutung“.37 Dass die Methodik der Druckforschung in solcher Art begründet ist, ist auch deshalb besonders aufschlussreich, weil sie sich damit in eine Analogie zum jüngeren Verfahren der neugermanistischen Textfehlerermittlung stellen lässt. Während im Anschluss an ältere Vorstellungen einer pauschalen Gleichsetzung „Edition ist Interpretation“38 deren Übertragung auf die Textfehlerproblematik gelegentlich noch akzentuiert wurde,39 ist eine wesentliche Richtung der neugermanistischen 35

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Martin Boghardt: Zur Bestimmung des Erstdrucks von Goethes Faustfragment. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 360–374, hier S. 369; zuerst in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1972, S. 36–58. Ebd., S. 374. Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S. 170. Manfred Windfuhr: Die neugermanistische Edition. Zu den Grundsätzen kritischer Gesamtausgaben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957), S. 425–442, hier S. 440 (Zitat im Original gesperrt); wiederabgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth. Tübingen 2005, S. 174–193. Karl Konrad Polheim: Der Textfehler. Begriff und Problem. In: editio 5 (1991), S.  38–54, hier S. 54: „Ohne Interpretation ist keine Textkritik durchführbar. Textkritik und Interpretation bedingen einander.“ Polheims Aufsatz führt allerdings an vielen Beispielen vor, dass er auch materiale Phänomene der Überlieferung intensiv berücksichtigt.

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Editorik für den Umgang mit dem Textfehler eher den Weg eines möglichst interpretationsarmen Verfahrens gegangen. In diesem Sinne hat Hans Zeller zwei Kriterien entwickelt, durch die ein Textfehler nachzuweisen sei, nämlich: 1. durch eine Analyse der physischen Überlieferungsbedingungen (technisch-analytisches oder überlieferungstechnisches Kriterium) und 2. durch eine sprachlich-inhaltliche Analyse der Stelle in ihrem jeweiligen individuellen Kontext (textanalytisches Kriterium). Bedingung für das 2. Kriterium ist, daß die fragliche Lesung der feststellbaren Struktur (der textspezifischen Logik) widerspricht; bis zum 19. Jahrhundert kann man die Bedingung auch so formulieren: Kriterium ist, daß die fragliche Lesung im Zusammenhang ihres weiteren Kontextes keinen Sinn zuläßt. […] Dieses Kriterium beruht also auf der Rezeption der Stelle in ihrem Kontext durch den betr. Herausgeber, nämlich darauf, ob er das Element als systemfremd oder systemzugehörig erkennt. Das subjektive Urteil des Herausgebers als letzte Instanz kommt auch hier zu seinem Recht […]. Weil dieses 2. Kriterium den sozusagen heimtückischen Fall des sinnverändernden sinnvollen Fehlers nicht erfassen kann, soll es nur in Verbindung mit dem 1. Kriterium gelten, und wenn sich beide Kriterien widersprechen, so genügt das 1. Kriterium allein, wenn es einen ganz sicheren Schluß erlaubt, d.h. eine Stelle gilt als fehlerhaft (als nicht autorisiert), wenn der technisch-analytische Nachweis völlig eindeutig ist.40

Der Vorrangigkeit des materialgegründeten technisch-analytischen bzw. überlieferungstechnischen Kriteriums gegenüber dem inhaltsbezogenen textanalytischen Kriterium entsprechend hat Winfried Woesler empfohlen, zunächst immer erst „nach der ‚ratio‘ der Fehlerentstehung“ zu fragen und nahegelegt: „Ehe die schließlich textkritisch relevante Interpretation zum Zuge kommen darf, sollten alle […] vorgenannten Argumentationsmöglichkeiten genutzt werden. Erst an letzter Stelle, d.h. möglichst gar nicht, wiegen ästhetische Argumente.“41 Hinter dieser Gewichtung steht die von Hans Zeller schon vor einem halben Jahrhundert eingeführte systematische Trennung editorischer Operationen in ‚Befund‘ und ‚Deutung‘.42 Daran anschließend ist vorgeschlagen worden, die befunds- bzw. dokumentations­ orientierteren Bestandteile der historisch-kritischen Edition als deren obligatorische Basis, die deutungs- bzw. interpretationshaltigeren als deren fakultative Ergänzungen zu verstehen.43 Die Analogie der Methodik von Analytischer Druckforschung und Textfehlerermittlung macht nun zunächst den Vorzug des materialorientierten druckanalytischen Verfahrens vor demjenigen einer inhaltlichen Variantenbewertung auch aus editorischer Perspektive besonders eindrücklich sichtbar.44 Hinzu kommt noch, dass 40

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Hans Zeller: Struktur und Genese in der Editorik. Zur germanistischen und anglistischen Editionsforschung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 5 (1975), H. 19/20: Edition und Wirkung. Herausgeber dieses Heftes: Wolfgang Haubrichs, S. 105–126, hier S. 118f. Winfried Woesler: Entstehung und Emendation von Textfehlern. In: editio 5 (1991), S.  55–75, hier S. 70 und 75. Hans Zeller: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten (Anm. 2), S. 45–89. Elisabeth Höpker-Herberg und Hans Zeller: Der Kommentar, ein integraler Bestandteil der historisch-kritischen Ausgabe? In: editio 7 (1993), S. 51–61, bes. S. 57–61. Den funktionalen Konnex seines ersten Textfehler-Kriteriums (technisch-analytisches Kriterium) mit der angloamerikanischen ‚analytical bibliography‘ hat Zeller: Struktur und Genese in der Editorik (Anm. 40), S. 119, selbst vermerkt.

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im Sinne einer Abgrenzung von befunds- bzw. dokumentationsorientierteren, also deutungsarmen Bestandteilen der Edition von deutungshaltigeren, interpretativeren die anhand der Materialität der Druck(exemplar)e gewonnenen Ergebnisse der Analytischen Druckforschung wesentliche Elemente der editorischen Überlieferungsbeschreibung einschließlich der genealogisch-genetischen Funktionsbeschreibung (Deszendenz/Aszendenz der Drucke) bilden. Die Überlieferungsdarstellung wiederum gehört in der genannten Differenzierung der Editionsbestandteile zur obligatorischen ‚Basisedition‘.45 Der Analytischen Druckforschung und ihren Ergebnissen ist daher innerhalb des historisch-kritischen Edierens ein methodisch fester Ort zuweisbar.46

3. Beispiele: Materialorientierte Druckanalyse als Voraussetzung textkritischer Entscheidungen Wie erst die konsequente material-, also formanalytische Untersuchung am weitesten absicherbare Erkenntnisse für weitmöglichst objektivierbare textkritische Bewertungen erbringen kann, hat die jüngere Analytische Druckforschung für die deutsche Literatur an wenigen, aber schlagenden Fällen vorgeführt. Sie lassen sich daher als Exempel für den textkritischen Erkenntnisgewinn verstehen. Einige von ihnen seien daher vorgestellt. Beispiel (1): Klopstock: Der Messias47 Nachdem 1748 die ersten drei Gesänge von Klopstocks Epos Der Messias in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes (den sog. Bremer Beyträgen) erschienen waren, gab ein Jahr später der Verleger Carl Herrmann Hemmerde in Halle einen ersten Separatdruck dieser Gesänge heraus und schloss – wohl wegen des guten Absatzes – noch im selben Jahr einen auf Neusatz beruhenden Nachdruck an. Dass nur einer der beiden Drucke bei Hemmerde direkt von dem in den Bremer Beyträgen, der andere aber vom ersten Separatdruck stammt, lässt sich durch gemeinsame Abweichungen der beiden Separatdrucke vom Text in den Bremer Beyträgen sicher nachweisen. Doch unklar war, welcher der beiden Hemmerde-Drucke, die beide die Jahreszahl 1749 tragen, den ersten selbständigen Druck des Messias darstellt. Die beiden 1749-Drucke bei Hemmerde werden durch die Variante des Titels auf dem Titelblatt („Meßias“/„Messias“) mit den Siglen Mß und Mss unterschieden. Der Umgang mit einem in einem späteren Heft der Bremer Beyträge berichtigten Druckfehler und Vermutungen über den in beiden Separatdrucken unterschiedlich 45

Höpker-Herberg/Zeller: Der Kommentar (Anm. 43), S. 57f. Vgl. auch die Charakterisierung der angloamerikanischen ‚bibliography‘ bei Gabler: Buchkunde und Edition (Anm. 13), S. 233: „Die Buchkunde oder bibliography […] versteht sich […] funktional zu Textkritik und Edition. Sie ist […] der Versuch im 20. Jahrhundert innerhalb der Anglistik, die textkritischen Methoden der Editorik material- und objektbezogen zu systematisieren […] und womöglich auf einen Objektivitätsgrad hin zu verwissenschaftlichen“. 47 Die folgende knappe Darlegung ist eine Zusammenfassung der ausführlichen und mit Abbildungen versehenen Erörterung von Martin Boghardt: Der erste Einzeldruck von Klopstocks „Messias“. Zur Prioritätsbestimmung gleichdatierter Drucke. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 376–390; zuerst in: Philobiblon 23 (1979), S. 190–205. 46

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kompressen Satz zur Einsparung von Papier zum Ende des Textes mittels Erhöhung der Zeilenmenge pro Seite gegenüber dem Druck in den Bremer Beyträgen gaben zunächst Anlass, Mss als den ersten Separatdruck anzunehmen. Die genaue druckanalytische Untersuchung führte allerdings zum gegenteiligen Ergebnis und sichert Mß die Priorität und damit die Eigenschaft des ersten selbständigen Messias-Drucks. Drei materiale Phänomene in Mß und Mss erbringen den sicheren Nachweis der Reihenfolge Mß vor Mss: a) In Mß findet sich eine aus dem Bremer-Beyträge-Druck übernommene, innerhalb der anderen Bogenzählung von Mß aber falsche Bogensignatur, die in Mss zur richtigen Zählung für den Separatdruck korrigiert ist. b) An zwei Zeilenenden in Mß findet sich jeweils ein Punkt, der in einigen Exemplaren von Mß nur sehr schwach ausgebildet oder gar nicht mehr sichtbar ist. In Mss findet sich an diesen Stellen kein Punkt. Dem Setzer von Mss lag folglich offensichtlich ein Mß-Exemplar mit der Presskorruptele (aufgrund zunehmenden Verlusts des Punktes durch physische Abnutzung der Type im Verlauf des Druckprozesses von Mß) als Druckvorlage vor. c) Die Titelvignette erscheint in Mß kräftiger und detaillierter als in Mss. Da der mit optischen Geräten vorgenommene Vergleich der Titelvignetten in den Exemplaren beider Drucke deren Deckungsgleichheit ergab, stammen sie von derselben Kupferplatte, die folglich für den Druck von Mss schon abgenutzter war als beim Druck von Mß. Für textkritische Entscheidungen wäre aufgrund dieser druckanalytischen Erkenntnisse nun gesichert, dass Mss als bloßer Nachdruck von Mß zu bewerten ist, was für etwaige Textkonstitutionsfragen zu berücksichtigen wäre. Im vorliegenden Fall kann die genaue Druckchronologie zudem die Funktion der beiden Drucke in der Deszendenz und Aszendenz der Textträger von Klopstocks Messias zeigen, etwa dass der Nachdruck (Mss) eines Nachdrucks (Mß) des unselbständigen Erstdrucks (in den Bremer Beyträgen) Bedeutung für die Textentwicklung zur von Klopstock intensiv vorbereiteten Folgeausgabe der Gesänge I–V beim gleichen Verleger 1751 erhielt.48 Beispiel (2): Goethe: Faust. Ein Fragment49 Vom siebten Band (1790) von Goethes erster Gesamtausgabe (Schriften bei Göschen), der auch den Erstdruck des damals noch unvollendeten Dramas als Faust. Ein Fragment enthält, gibt es zwei Druckversionen, wie seit der frühen zweiten 48

Vgl. Klopstock-HKA (Anm. 15), Abt. Werke. Bd. IV,3: Der Messias. Text/Apparat. Hrsg. von Elisa­ beth Höpker-Herberg. Berlin/New York 1996, S.  414f.; s. auch ebd., S.  193f. und 397. Siehe auch Klopstock-HKA, Abt. Addenda, Bd.  III,2, 1981 (Anm. 17), S.  670f.  – Die Erscheinungsform der Folgeausgabe 1751 ist ebenfalls diffizil; s. dazu Christiane Boghardt und Martin Boghardt: Die Halleschen Messias-Drucke von 1751/1752. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 344–358; zum Einfluss von Mss auf die Textentwicklung durch die Korrektur eines Setzerfehlers für die 1751-Quart- und die 1751-Oktav-Ausgabe ebd., S. 345f.; der Aufsatz zuerst in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1971, S. 1–21. 49 Die folgende knappe Darlegung ist eine Zusammenfassung der ausführlichen und mit Abbildungen versehenen Erörterung bei Boghardt: Erstdruck Faustfragment (Anm. 35).

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Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt war.50 Dabei handelt sich bei einem der beiden Drucke nicht um einen vollständigen Doppeldruck des anderen, denn nur Teile des Bandes stammen von zwei verschiedenen Sätzen, nämlich die Bogen F–T (S.  81–288), ein Wechsel, der mitten im Abdruck des Faust-Fragments (S.  1–168) stattfindet. Ein besonderes Kennzeichen zur Unterscheidung dieser beiden Drucke ist die Doppelung der drei Verse 1834–1836 (= Vers 3531–3533 der späteren vollendeten Fassung von 1808) gegen Ende der Szene „Marthens Garten“ in einem der beiden Drucke (unten auf S. 144 und oben auf S. 145, mit der der neue Bogen J beginnt), während sie im anderen Druck nur einmal vorkommen.51 Die Drucke sind deswegen mit den Siglen Sm (mit Doppelung der drei Verse) und So (ohne Doppelung der drei Verse) bezeichnet worden. Im Laufe der Beschäftigung mit dieser Drucksituation des Faust-Fragments hat die Forschung unterschiedliche Annahmen präsentiert, den einen oder den anderen der beiden Drucke als Erstdruck des Faust-Fragments zu deklarieren. Einerseits wurde die größere Fehlerhaftigkeit von Sm gegenüber So als Indiz dafür angeführt, dass Sm der Erstdruck sei und So angefertigt worden sei, um einen fehlerfreieren Druck zu liefern. Das Phänomen wurde andererseits für die genau gegenteilige Argumentation veranschlagt: Aus der sog. Doppeldruck-Regel, dass Doppeldrucke aufgrund eines raschen und weniger kontrollierten Neusatzes im Allgemeinen mehr Fehler als der Originaldruck aufwiesen, wurde nun abgeleitet, dass es sich bei So um den Erstdruck und Sm um den anschließenden Doppeldruck handle. Immerhin ließ sich über die Ermittlung eines Briefzeugnisses klären, dass der Doppeldruck nicht aus Korrekturgründen, sondern aus terminlichen Gründen zustande kam:52 Der Verleger Göschen produzierte für die Leipziger Ostermesse 1790 wegen Zeitmangels nur eine beschränkte Zahl an Exemplaren und musste anschließend die in Hinblick auf den erwarteten Gesamtabsatz nicht in ausreichender Anzahl gedruckten Bogen neu setzen lassen, weil die Druckformen dieser Bogen aufgrund der Bedingungen des typografischen Kreislaufs schon wieder aufgelöst waren. Gegenüber den aufgrund von Ableitungen aus Generalisierungen und weiteren Kontextbeobachtungen erfolgten schwankenden Bewertungen des Abhängigkeitsverhältnisses von So und Sm sind dann aber erst aus Mitteln der strikten druckanalytischen Materialuntersuchung sichere Nachweise erwachsen.53 Der wichtigste 50

Siehe den Hinweis bei [S[alomon] Hirzel]: Neues Verzeichniß einer Goethe-Bibliothek (1769–1861). Leipzig 1862, S. 29. Wie das Verzeichnis (ebd.) auch schon andeutet, hat sich die Doppeldrucksitua­ tion auf die vom jeweils gleichen Satz erstellten Einzeldrucke des Faust-Fragments übertragen. 51 Eine vor allem diese Differenz in den Blick nehmende Darlegung der Drucksituation findet sich in der Beispielpräsentation bei Kanzog: Einführung in die Editionsphilologie (Anm. 11), S. 76–79. 52 Das Briefzeugnis ist ausgewertet bei Waltraud Hagen: Zur Druckgeschichte von Goethes Werken. In: Beiträge zur Goetheforschung. Hrsg. von Ernst Grumach. Berlin 1959, S. 35–86, im Abschnitt 3 „Der Erstdruck von Goethes Faustfragment“, S. 59–77, hier S. 62f. (Brief Göschens an Goethe vom 20.1.1790). 53 Vgl. die Bewertung von Needham: Introduction (Anm. 24), S. 13, zu Boghardts Analyseverfahren: „The virtue – one can even say, the beauty – of Martin’s analysis is that he brought to light compelling evidence from a hitherto entirely ignored production feature of the books. He was able, in effect, to resolve a generations-long question of textual criticism, without directly using evidence from the texts themselves. Only a scholar with an unusually creative mind could have approached the problem from this standpoint“; s. auch die deutsche Übersetzung von Estermann, ebd., S. 27.

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dieser Nachweise beruht auf einer Untersuchung der Kolumnentitel. Kolumnentitel wurden nämlich im historischen Handsatz für anschließende Bogen häufig nicht neu gesetzt, sondern der Einfachheit halber aus dem Satz eines vorigen Bogens übernommen und in der Druckform für den Satz eines Folgebogens wiederverwendet. Mit einem optischen Vergleichsgerät (Hinman-Collator) konnte ermittelt werden, dass sich die Kolumnentitel der Bogen A–E in Band 7 von Goethes SchriftenAusgabe bei den von Bogen F an in zweifachem Satz vorliegenden Bogen in So auch ab Bogen F wiederholen;54 in Sm stammen sie ab Bogen F dagegen von Neusatz und wiederholen sich nur innerhalb dieser Bogen, nicht aber zu den Bogen A–E. So ließ sich so zweifelsfrei als Erstdruck, Sm im Neusatzteil (Bogen F–T) als dessen Nachdruck klassifizieren. Beispiel (3): Lessing: Minna von Barnhelm55 Lange war nicht in ganzer Komplexität bekannt, wie in welcher Reihenfolge die erste und zweite Lustspielausgabe Lessings von 1767 und 1770 mit dem Lustspiel Minna von Barnhelm sowie die Einzeldrucke der Minna von 1767 (zwei Ausgaben) und 1770 (eine Ausgabe) – alle bei Christian Friederich Voß in Berlin erschienen – entstanden sind. Erst durch druckanalytische Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass die Herstellungsfolge der Drucke so lautet: erste Lustspielausgabe 1767 = L1, erster Einzeldruck 1767 = E1, zweiter Einzeldruck 1767 (als Doppeldruck von E1) = E2, dritter Einzeldruck 1770 = E3, zweite Lustspielausgabe 1770 = L2 (wobei sich für den letzten Bogen die Entstehungsreihenfolge der beiden letzten Drucke zu L2 – E3 umkehrte).56 Die Feinuntersuchung offenbarte zudem das eigent­ liche Problemfeld. Vermutlich war es während des Druckvorgangs von 1767 zu einer sukzessive erfolgten Erhöhung der erwünschten Exemplaranzahl gekommen. Denn die drei 1767-Drucke erwiesen sich in unterschiedlicher Weise als Mischung aus Bogen desselben Satzes und aus Neusatzbogen. Der erste Druckbogen der Minna 1767 wurde dreimal neu gesetzt, nämlich bei L1, E1, E2 (und 1770 noch einmal 54

Feststellbar ist dies z.B. am Wiederauftauchen von Buchstaben mit identischen Druckmängeln, was auf die Beschädigung der verwendeten Letter hinweist und diese damit konkret identifizierbar macht. 55 Alle geschilderten Sachverhalte nach Martin Boghardt: Zur Textgestalt der „Minna von Barnhelm“. In: Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S.  268–284, zuerst in: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd.  2. Wolfenbüttel 1975, S.  200–222.  – Eine Zusammenfassung der Druckgeschichte auch bei Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, oder das Soldatenglück. Studienausgabe. Hrsg. von Bodo Plachta. Stuttgart 2016, S. 137–141. – Die Darstellung der Druckzusammenhänge in der jüngsten Gesamtausgabe, der Studienausgabe Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann. Bd. 6: Werke 1767–1769. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 1985, S. 801, geht dagegen nicht auf die Fragen von Satzidentität und Satzvarianz der Drucke ein und vermittelt nur ein unvollständiges und nicht ganz korrektes Bild der Druckgeschichte nach der älteren Darlegung von Muncker (Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart/Leipzig/Berlin 1886–1924, Bd. 2. Stuttgart 1886, S.  171), während Boghardts neue Erkenntnisse nicht ausgeführt werden, sondern nur vermerkt wird, dass durch sie „die interne Abhängigkeit der Ausgaben voneinander erheblich differenziert“ werden konnte (Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6, 1985, s.o., S. 801). 56 Dass E3 nach E2 und nicht nach L1/E1 gesetzt wurde, weist Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S. 145, durch Beobachtung zweier einschlägiger Stellen nach.

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gemeinsam für E3 und L2, wobei beim aufeinanderfolgenden Druck für E3 und L2 nur die Druckseitenrandbereiche – Kolumnentitel, Paginierung, Bogensignaturen – geändert wurden, der Textblock aber stehenblieb). Für den umfangreichen Mittelteil des Stücks wurde noch während des Drucks der ersten Lustspielausgabe entschieden, dass der Textblock auch für eine erste Einzelausgabe genutzt werden sollte, und im weiteren Druckverlauf wurde der letzte Bogen so umfangreich gedruckt, dass er für die zweite Einzelausgabe, den Doppeldruck E2, noch mitgenutzt werden konnte, für diesen Druck alle früheren Bogen aber neu gesetzt werden mussten, weil deren Druckformen schon wieder aufgelöst waren. Da sich Franz Muncker 1886 im Minna-Band in der von ihm besorgten und immer noch nicht ersetzten historischkritischen Lessing-Ausgabe für die Textkonstitution auf die späten Drucke zu Lessings Lebzeiten beruft,57 konnte unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Hinweise auf eine Mitarbeit Lessings an den dem Erstdruck folgenden Ausgaben fehlen, geschlussfolgert werden: Der Textteil der kritischen Minna-Ausgabe, wie er seit rund neunzig Jahren [von 1975 aus gesehen] gelesen, zitiert und nachgedruckt wird, reproduziert seinem Anspruch nach die Fassung der zweiten Auflage der Lustspielsammlung von 1770 (L2) und folgt somit, wie sich aus den Ausführungen über den typographischen Befund und die Bibliogenese ergibt, am Schluß des Lustspiels einem Nachdruck, im umfangreichen Hauptteil des Dramas dem Nachdruck eines Nachdrucks und am Anfang sogar dem Nachdruck des Nachdrucks eines Nachdrucks.58

Der methodische Dreischritt ‚bibliografischer Befund – bibliogenetische Erklärung – Textbezug‘ ermöglichte es, die genaue Deszendenz der Drucke hinsichtlich ihrer satztechnisch relevanten Einheiten, der Bogen, zu ermitteln und daraus folgend die textkritische Neubewertung mit ihrer Auswirkung auf künftige Entscheidungen bei der Wahl der Textgrundlage vorzunehmen. Beispiel (4): Lessing: Emilia Galotti59 Wie beim Erstdruckprozess der Minna von Barnhelm wurden auch für das erstmalige Erscheinen von Lessings Trauerspiel Emilia Galotti 1772 bei Voß in Berlin parallel eine Sammelausgabe der Trauerspiele, in der Emilia Galotti den letzten 57

58 59

Lessing: Sämtliche Schriften (Anm. 55), Bd. 2, S. 171. Boghardt: Zur Textgestalt der Minna (Anm. 55), S. 280. Die knappe Darstellung beruht auf der hochdetaillierten Aufarbeitung der Herausgeberin in Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Historisch-kritische Ausgabe. Von Elke Monika Bauer. Tübingen 2004 (Gotthold Ephraim Lessing: Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Winfried Woesler [mehr als dieser Band nicht erschienen]), S. 81–152 und 186–193; die Ausgabe folgt in ihrer Darstellungsmethodik dem Verfahren der Analytischen Druckforschung, indem sie – unter reichhaltiger Nutzung von Abbildungen – zunächst ausführliche Textträgerbeschreibungen einschließlich der durch Exemplarvergleiche mit dem Hinman-Collator ermittelten Befunde bietet (S.  81–124), anschließend den aus den Befunden eruierbaren bibliogenetischen Zusammenhang darlegt (S.  124–152) und schließlich die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für die Wahl der Textgrundlage und für die textkritischen Eingriffe mitteilt (S. 153–164). – Eine Zusammenfassung der Druckgeschichte bei Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Studienausgabe. Hrsg. von Elke Bauer und Bodo Plachta. Stuttgart 2014, S. 129–133. – Als Beispiel auch behandelt bei Plachta: Editionswissenschaft (Anm. 7), S. 96–99, mit Abbildungen.

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Text bildet, und eine Einzelausgabe hergestellt. Setzervermerke in Form von Bogen­ wechselkennzeichen in der handschriftlichen Druckvorlage zeigen, dass für den bogenweise nacheinander erfolgenden Druck beider Ausgaben von gleichem Satz zuerst die Druckformen für die Trauerspielausgabe hergestellt und abgedruckt wurden. Allerdings konnte nur portionsweise gedruckt werden, weil Lessing den Text zu Satz- und Druckbeginn noch nicht beendet hatte und neu fertiggewordene Teile sukzessive nach Berlin schickte.60 Dies führte gegen Ende des Druckprozesses und damit auch gegen Ende des Stücks zu einem Wechsel in der Druckreihenfolge, denn bis zum Bogen Aa der Trauerspielausgabe findet sich immer der entsprechende Bogensignaturvermerk auch in der handschriftlichen Druckvorlage, für den anschließenden letzten Bogen aber auch der Bogensignaturvermerk der Einzelausgabe. Der bibliografische Befund und die bibliogenetische Erklärung weisen damit auf einen durch Briefzeugnisse abstützbaren Wechsel im Satz- und Druckvorgang hin. Beide Ausgaben waren bis dahin satz- und auch layoutgleich; nur der Marginaltext (Kolumnentitel, Bogensignatur und Bogennorm) wurde nach Fertigstellung des Drucks eines Bogens der Trauerspielausgabe gegen denjenigen der Emilia-Einzelausgabe getauscht bzw. entfernt, sodass danach vom selben Satz des Dramentexts die Einzelausgabe gedruckt werden konnte. Probleme bereitete der letzte Bogen mit anderen Seitenumbrüchen, der von Muncker innerhalb der historisch-kritischen Lessing-Gesamtausgabe entsprechend als Neusatz bewertet wurde.61 Für die neue historisch-kritische Einzelausgabe der Emilia Galotti von 2004 konnten druckanalytische Untersuchungen allerdings erweisen, dass auch der Satz des letzten Bogens der Trauerspiel- und der Einzelausgabe identisch sind. Aus dem bibliografischen Befund ließ sich nun folgender bibliogenetischer Rückschluss ableiten: Der letzte Bogen wurde für die Einzelausgabe kompresser gesetzt, um Papier zu sparen, weil die übliche Vorabberechnung des letzten Bogens einen halben Bogen plus eine halbe Seite veranschlagte. Die halbe Seite sollte daher eingebracht werden, damit das Drama nach genau der Hälfte des Bogens endete, was für die Einzelausgabe auch gelang. Das war für die Trauerspielausgabe jedoch nicht möglich, weil ein Blatt des vorletzten vollständigen Bogens (Aa) allemal nicht verfügbar war, nämlich abgetrennt wurde, was sich daran zeigt, dass das letzte Blatt des Bogens Aa kein Gegenblatt hat und an ein anderes angeklebt ist. Vermutlich 60

Der Fall zeigt, wie wichtig die genaue Kenntnis der historischen Herstellungsprozesse ist: Nur weil Satz und Druck bogenweise erfolgten, konnte mit dem Druck der ersten Bogen schon begonnen werden, obwohl der Autor seinen Text noch nicht beendet hatte und ihn Stück für Stücke zum Druck einreichte. Für den beschriebenen Fall trat noch das zusätzliche Problem auf, dass der Korrektor, Lessings Bruder Karl Lessing, aufgrund der portionsweise erfolgten Sendung des Manuskripts nur in Teilen von diesem bestimmte Angleichungen vornahm und Wortformen im Druck dadurch uneinheitlich erschienen; vgl. Elke Bauer: „Lassen Sie den Grafen diesen Gesandten seyn. So habe ich ganz gewiß nicht geschrieben“. Vom Dilemma des Editors: Textgrundlage versus Autor am Beispiel von Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Verbindung mit der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen und der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Aachen, 20. bis 23. Februar 2002. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2004, S. 211–219, hier S. 214f. 61 Lessing: Sämtliche Schriften, Hrsg. Lachmann/Muncker (Anm. 55), Bd. 2, S. 377: „Einzelausgabe (Berlin bei C.F. Voß; 152 Seiten 8o), deren 140 erste Seiten von dem gleichen Drucksatz wie die Gesamtausgabe genommen sind“.

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wurde das fehlende Blatt für das Titelblatt der Trauerspielausgabe benötigt. Selbst bei kompresser gesetztem Layout in erhöhter Zeilenzahl wäre folglich für die Trauerspielausgabe das Halbbogenende des letzten Bogens Bb überschritten worden. Daher konnte das Layout der Trauerspielausgabe ohne Zeilenvermehrung auch für die Schlussseiten der Emilia Galotti fortgesetzt werden. Die kompresser gesetzten Textzeilen in der Druckform der Einzelausgabe wurden nach dem Druck dieses letzten Bogens der Einzelausgabe zum Satz für die Trauerspielausgabe in der Druckform umsortiert, ohne dass der Text neugesetzt wurde. Einzelne Varianten in dieser Schlusspartie nach der Änderung der Druckreihenfolge von Trauerspielausgabe und Einzelausgabe beruhen allein auf Presskorrektur, stellen also satzinterne Varianz dar, die – wie die druckanalytische Untersuchung an einer Reihe von Exemplaren mittels des Hinman-Collators ergab – schon während des Drucks der Einzelausgabe erzeugt wurde, diese Varianten also nicht – wie zuvor geschehen – als Differenzmerkmal der beiden Ausgaben betrachtet werden können. Insofern handelt es sich also entgegen dem bis dahin herrschenden Forschungsstand auch für den Schlussteil der Emilia Galotti in der Trauerspielausgabe und in der Einzelausgabe um denselben Satz (wenn auch nicht um das gleiche Layout). Weil beide Drucke der Emilia also satzidentisch sind, sind beide hinsichtlich des Satzes gleichermaßen als Erstdruck zu verstehen.62 Aufgrund des Wechsels der Satz- und Druckreihenfolgen in dem bogenweise erfolgten Druck der beiden Ausgaben ist allerdings der Einzeldruck schließlich zuerst fertiggestellt und ausgeliefert worden, was durch Briefe und andere Dokumente belegt ist. Dass die Sachlage auch textkritisch noch komplexer ist, nämlich dass im selben Jahr noch ein Neusatzdruck der Emilia Galotti bei Voß mit der ersten Einzelausgabe als Druckvorlage erschien und noch ein weiterer auf diesem Druck beruhender Druck mit der Jahreszahl 1772, der möglicherweise aber erst später hergestellt worden ist, auch dass Lessing beim Korrekturlesen zur Vorbereitung der zweiten Einzelausgabe noch Druckfehler gelistet hatte, diese Liste aber nicht mehr rechtzeitig am Druckort eintraf und heute verschollen ist, sei hier nur noch am Rande vermerkt, weil schon allein die druckanalytische Klärung der 62

Explizit so gewertet bei Lessing: Emilia Galotti, Hrsg. Bauer 2004 (Anm. 59), S. 151, und Lessing: Emilia Galotti, Hrsg. Bauer/Plachta 2014 (Anm. 59), S.  131, was zeigt, dass die Ergebnisse der Analytischen Druckforschung geeignet sind, Grundannahmen der Editorik – hier: ‚der Erstdruck ist immer eine einzige Ausgabe‘ – für bestimmte materiale Überlieferungsgegebenheiten zu modifizieren. – Insofern liegt die nach ihrem Erstdruckprinzip die Trauerspielausgabe als Textgrundlage wählende Edition der Emilia Galotti innerhalb der wichtigsten jüngeren Studien-Werkausgabe (Lessing: Werke und Briefe (Anm. 55), Bd. 7: Werke 1770–1773. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 2000, S.  828f., zum Erstdruckprinzip ebd., S.  596) im praktischen Ergebnis nicht gänzlich falsch, auch wenn sie sich auf Munckers unrichtige Ordnung der Drucke mit der Trauerspielausgabe als Erstdruck (Lessing: Sämtliche Schriften, Hrsg. Lachmann/Muncker (Anm. 55), Bd. 2, S. 377) beruft, die durch die HKA von 2004 berichtigt ist (Einzelausgabe Mitte März, Trauerspielausgabe frühestens im April 1772 erschienen; Lessing: Emilia Galotti, Hrsg. Bauer 2004 (Anm. 59), S. 189–191, s. ebd., S. 191, den Hinweis auf eine erste Rezension der Trauerspielausgabe am 25.4.1772; Lessing: Emilia Galotti, Hrsg. Bauer/Plachta 2014 (Anm. 59), S. 114 und 132, verbindet den Erscheinungstermin der Trauerspielausgabe mit der Leipziger Ostermesse, die 1772 am 10. Mai begann). Hinsichtlich der Frage von Satzidentität und Satzdifferenz von Einzeldruck und Trauerspielausgabe musste die Studienausgabe von 2000 (Lessing: Werke und Briefe, Bd. 7, 2000, s.o., S. 828) mangels eigener – von diesem Ausgabentypus auch nicht zu verlangender – Untersuchungen der damals schon weit über 100 Jahre alten unpräzisen Darlegung Munckers von 1886 (s. Anm. 61) folgen.

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Erstdrucksituation die methodische Stärke der Analytischen Druckforschung für die editorische Textkritik vor Augen führen kann.

4. Zum Umgang jüngerer analoger und digitaler Editionen mit der Analytischen Druckforschung Die Breite, in der die Hamburger Klopstock-Ausgabe die Analytische Druckforschung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zur Grundlage der Drucküberlieferungsaufarbeitung mit all ihren Konsequenzen für die Textkritik und Textkon­ stitution gemacht hat, ist von keiner der ihr folgenden Editionen aufgegriffen und fortgeführt worden. Zwei Beispiele sollen die aktuelle editorische Gesamtlage veranschaulichen. Beispiel (1): Buch-Edition von Moritz’ Anton Reiser 2006 Die Ausgabe von Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser von 2006 kann als eine der wenigen Ausnahmen gelten, die immerhin Probleme der Drucküberlieferung intensiver berücksichtigen. Sie erörtert das Verhältnis des Erstdrucks zum jeweils im gleichen Jahr erschienenen Nachdruck von Band 1–3 (1785/86 bei Maurer in Berlin) des vierbändigen Romans und führt die Varianten des Nachdrucks vollständig an. Auch beruft sich die Ausgabe ausdrücklich auf die Analytische Druckforschung als einzige Möglichkeit, die Druckverhältnisse zu klären: „Da nähere Angaben zur Druckgeschichte nicht erhalten sind, kann sich die Identifikation der Editio princeps nur auf die Druckanalyse selbst stützten.“63 Allerdings erfolgt die Aufarbeitung und Bewertung nicht nach der Methodik der Analytischen Druckforschung, von materialen Eigenschaften der Drucke auf deren Verhältnis zueinander zu schließen und von diesem Ergebnis aus die Varianz der Drucke ins Auge zu fassen. Stattdessen stellt die inhaltliche Bewertung der Varianz das alleinige Bewertungskriterium der Drucksituation dar,64 ohne Ergebnisse und Argumente aus einer rein materialanalytischen Betrachtung zugrunde zu legen oder zumindest mit anzuführen. Überhaupt stimmen Terminologie und Phänomenbeschreibung in der Ausgabe nicht mit denjenigen der Analytischen Druckforschung überein. So wird die Drucksituation mit einem Originaldruck und einem Nachdruck hinsichtlich der Wahl der Textgrundlage wie folgt beschrieben: „Von den zwei Doppeldrucken wurde aufgrund bestimmter Indizien eine Fassung als Textgrundlage gewählt.“65 Jedoch gelten nach der Terminologie der Analytischen Druckforschung Originaldruck und Nachdruck nicht jeweils gegeneinander als Doppeldrucke, sondern allein ein bestimmte Phänomene aufweisender Nachdruck gegenüber dem Originaldruck. Nur 63

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Hrsg. von Anneliese Klingenberg, Albert Meier, Conrad Wiedemann und Christof Wingertszahn. Bd.  1: Anton Reiser. Hrsg. von Christof Wingertszahn. Teil II: Kommentar. Tübingen 2006, S. 476. 64 Siehe Moritz: Sämtliche Werke, Bd. 1,II (Anm. 63), S. 476: „Die systematische Kollationierung der Bände ergab bestimmte aussagekräftige Abweichungen, die den Rückschluß auf die Erstausgabe möglich machen.“ Die direkt anschließende Darlegung ebd., S.  477, behandelt ausschließlich die Textvarianz. 65 Ebd., S. 476.

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der Originaldruck, nicht aber der Nachdruck/Doppeldruck würde zudem aus textkritischen Gesichtspunkten zur Textgrundlage gewählt. In diesem Sinne ist im Grundlagenwerk der deutschsprachigen Analytischen Druckforschung von 1977 definiert: „Der Doppeldruck ist ein satzdifferenter, aber titelkopierender und satzimitierender Zweitdruck, der durch die üblichen bibliographischen Angaben von seinem Pendant nicht zu unterscheiden ist.“66 Zudem ist festzustellen, dass es sich bei dem in Rede stehenden Nachdruck der Bände 1–3 von Anton Reiser gar nicht um einen Doppeldruck handelt. Die Beschreibung in der kritischen Anton-Reiser-Ausgabe macht das schon selbst deutlich, denn die beiden „Druckfassungen […], die als solche auf dem Titelblatt nicht ausgewiesen sind“, „unterscheiden sich im Satzspiegel, dem Wortbestand und in Orthographie und Interpunktion“.67 Das wesentliche Differenzierungsmerkmal ist die Zeilenanzahl pro Seite: Der Originaldruck enthält 24 Zeilen, der Nachdruck 23 Zeilen.68 Einmal ganz abgesehen davon, dass – falls die Zuweisung von Originalund Nachdruck richtig ist – es – ohne zusätzliche druckanalytische Stützung – eher ungewöhnlich ist, dass hier nicht der Nachdruck den kompresseren Satz (Zeilenerhöhung pro Seite wegen Papierersparnis) aufweisen soll, sondern der Originaldruck,69 handelt es sich beim Nachdruck gar nicht um einen Doppeldruck, denn allein schon wegen der unterschiedlichen Zeilenzahl pro Seite kommt dem Nachdruck nicht der Charakter der vollständigen Layoutimitation zu, der für einen Doppeldruck konstitutiv ist. Im Ganzen ist also festzustellen, dass der Umgang mit den Drucken in der Anton-Reiser-Ausgabe von 2006 weder konsequent der Methodik der Analytischen Druckforschung (Materialanalyse vorgängig zur Variantenanalyse) noch deren Terminologie und Phänomenbeschreibung folgt. Beispiel (2): Digitale Edition von Goethes Faust 2018/19 Nach einer jüngeren kritischen Buchedition soll noch ein Blick auf eine rezente digitale historisch-kritische Ausgabe geworfen werden, nämlich auf die Ausgabe von Goethes Faust, die – nach mehreren Beta-Versionen – seit 2018 mit der Alpha-Version in der jeweils jüngsten Aktualisierung online steht.70 Die in vielem fulminante und hochinnovative Ausgabe stellt in ihrem archivalischen Teil alle relevanten Drucke in Volltext und Transkription zur Verfügung und versieht sie unter Metadaten mit allen 66

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Boghardt: Analytische Druckforschung (Anm. 1), S.  110. Siehe auch die Definition von ‚Doppeldruck‘ bei Boghardt: Begriffe aus der analytischen Druckforschung (Anm. 9), S. 170: „Seiten- und meist auch zeilengleicher Imitationsdruck, der in den bibliographischen Angaben mit seinem Gegenstück übereinstimmt und somit in Gestalt eines Doppelgängers auftritt, für den das Moment der – beabsichtigten oder unbeabsichtigten – Verwechselbarkeit konstitutiv ist.“ Siehe auch Boghardt: Der Begriff des Doppeldruckes (Anm. 21). Moritz: Sämtliche Werke, Bd. 1,II (Anm. 63), S. 476. Ebd., S. 477; so auch ausgewiesen in der Überlieferungsbeschreibung zu den Drucken der ersten drei Bände ebd., S. 480, 503 und 530. Siehe allerdings den oben geschilderten Fall des Doppeldrucks zum Messias-Erstdruck, der jedoch durch intensive druckanalytische Untersuchungen abgesichert wurde. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Historisch-kritische Edition. Hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis unter Mitarbeit von Gerrit Brüning, Katrin Henzel, Christoph Leijser, Gregor Middell, Dietmar Pravida, Thorsten Vitt und Moritz Wissenbach. [Online:] Version 1.2 RC vom 8.7.2019. Frankfurt a.M./Weimar/Würzburg 2018, (17.03.2021).

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Informationen zum jeweiligen Textträger. Am Erstdruck von Faust. Ein Fragment im siebten Band von Goethes Schriften bei Göschen 1790, der oben ausführlich als ein Musterfall für den Erkenntnisgewinn durch die Analytische Druckforschung vorgestellt wurde, zeigt sich allerdings, dass die neue historisch-kritische Faust-Edition den komplexen Drucksachverhalt nicht darstellt. In den Metadaten zu Digitalisat und Transkript von Band 7 von 1790 findet sich zwar die Angabe des zugrunde gelegten Drucks So einschließlich seiner früheren Siglen und mit dem bibliografischen Verweis auf die einschlägige jüngste Beschreibung der Goethe-Drucke bei Waltraud Hagen,71 doch welche Problemlage sich dahinter verbirgt, wird nicht vermittelt: Weder erfährt der Nutzer etwas über das Vorhandensein des Drucks Sm, noch gibt es einen Hinweis auf die über ein Jahrhundert währende Forschungsdiskussion zu der etwa für eine Textkonstitution wichtigen Erstdruckfrage, deren zweifelsfreie Klärung erst Boghardt gelang.72 Boghardt hat zwar wie Hagen ebenfalls So als Erstdruck identifiziert, kann allerdings gegenüber Hagen die stichhaltigeren Argumente aus der materialanalytischen Druckuntersuchung ableiten (s.o.). Dass es überhaupt einen zweiten Druck Sm gibt, wird auch nicht in der entsprechenden grafischen Darstellung des Makrogenese-Labs der Digitalen Faust-Edition sichtbar.73 Vielleicht liegt das auch an dem Manko, dass es in der Digitalen Faust-Edition zwar eine Zusammenfassung der Überlieferung,74 aber keine ausführliche diskursive Darstellung der Entstehungsgeschichte gibt.75 Da auch Albrecht Schönes hochdetail71

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Ebd.,  (17.03.2021); Hagen: Die Drucke von Goethes Werken, 2. Aufl. (Anm. 29), S.  11f.  – Eine ausführliche Untersuchung der Druckproblematik ist vorgenommen worden von Hagen: Zur Druckgeschichte von Goethes Werken (Anm. 52); sie argumentiert aufgrund der Bewertung der Titelauflagen, der Vorzugsausgabe auf holländischem Papier, der Einzelausgaben, der Goethe’schen Belegexemplare und der Textvarianten, nicht aber aufgrund der der Satzmaterialität von So und Sm, wie es später Boghardt: Erstdruck Faustfragment (Anm. 35) aufgrund der neueren technischen Hilfsmittel (Hinman-Collator) möglich war. In einem Beitrag zur Vorstellung des damals in seinen Anfängen befindlichen Projekts der Digitalen Faust-Edition ist Boghardts Untersuchung (Erstdruck Faustfragment, Anm. 35) in einer Anmerkung zur Nennung des Erstdrucks allerdings bibliografisch verzeichnet; Anne Bohnenkamp, Gerrit Brüning, Silke Henke, Katrin Henzel, Fotis Jannidis, Gregor Middell, Dietmar Pravida und Moritz Wissenbach: Perspektiven auf Goethes ‚Faust‘. Werkstattbericht der historisch-kritischen Hybridedition. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2011 [2012], S. 23–67, hier S. 25, Anm. 7. Digitale Faust-Edition 2018/19 (Anm. 70), (17.03.2021).  – Auch wenn sich die Herausgeber der Digitalen Faust-Edition im Wesentlichen auf die Untersuchung von Hagen: Die Drucke von Goethes Werken, 2. Aufl. (Anm. 29) stützen und darüber hinaus keine eigenen Untersuchungen im Sinne der Analytischen Druckforschung durchgeführt haben, haben sie die Hagen’schen Angaben in Hinblick auf ihre textkritische Relevanz überprüft. Vom genauen Blick der Herausgeber der neuen Ausgabe auf die Drucksituation zeugen zudem Begleitveröffentlichungen zu anderen Fragen der Goethe/Faust-Drucküberlieferung, etwa Dietmar Pravida: Zum Urfaust. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2015, S. 7–79, hier S. 55–79; Ders.: Die Wiener Ausgabe von Goethes Werken (1816–1822) und ihre textkritische Bedeutung. Mit einer Nachbemerkung zum Text von Faust I. In: Euphorion 112 (2018), S.  253–270; Gerrit Brüning: Gültiger Wortlaut und „sinnliche Masse“. Zur Textkonstitution des „Faust II“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 137 (2018), S. 191–221; Ders. und Dietmar Pravida: Dramatische ‚mise en page‘ in Handschrift und Druck. Beobachtungen zu Dramen Goethes in den Schriften (1787–1790), vor allem zu Torquato Tasso. In: editio 34 (2020), S. 123–141. Digitale Faust-Edition 2018/19 (Anm. 70), (17.03.2021), Abschnitt „Überlieferung und Druckgeschichte“. Allerdings sind sämtliche „Dokumente zur Entstehungsgeschichte“ erfasst und abrufbar; Digitale Faust-Edition 2018/19 (Anm. 70), (17.03.2021).

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lierte Studienausgabe des Faust von 1994 (und Folgeauflagen) die Druckproblematik des Faust-Fragment-Erstdrucks nicht erörtert,76 zudem von den Faust-Bänden der Goethe-Akademie-Ausgabe 1954/58 nur Textbände, aber keine Apparatbände erschienen sind,77 bleibt festzustellen, dass von den einschlägigen Editionen neben den knappen Bemerkungen zur Überlieferung des Faust-Fragments in Bd. 3,1 der Münchner Studienausgabe (1990)78 nur der anderthalb Jahrhunderte alte, von Erich Schmidt bearbeitete Band 14 (1887) der Weimarer Goethe-Ausgabe ausführlichere Informationen zur Drucküberlieferung des Erstdrucks und der weiteren abgeleiteten Separatausgaben zur Verfügung stellt.79 Allerdings ging Schmidt gegen die späteren Erkenntnisse der Forschung davon aus, dass der Druck mit der Wiederholung der Verse 3531–3533 der frühere und damit der Erstdruck des Faust-Fragments sei (zur Korrektur s. die Falldarstellung oben). Das heißt aber auch, dass ein an der Überlieferungsproblematik von Goethes erstem Faust-Druck Interessierter ausführliche Informationen allein in einer weit über 100 Jahre alten Ausgabe findet, die dem heutigen Forschungsstand nicht entsprechen, während jüngere historisch-kritische und Studienausgaben die Probleme der Drucküberlieferung, die mithilfe der Analytischen Druckforschung lösbar sind und im Fall des Faust-Fragments auch gelöst worden sind, in der Regel nicht auf der editorischen Agenda haben oder – im Fall der Münchner Goethe-Studienausgabe – die Ergebnisse der materialorientierten Druckanalyse nicht hinreichend in den Blick nehmen. Insofern darf sich der Nutzer an dieser Stelle editorisch alleingelassen fühlen. 76

Siehe die Ausführungen zum Faust-Fragment dort: Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne. 8., revidierte und aktualisierte Aufl. Berlin 2017 (2. Aufl. 2019), S. 67f.; zuerst als Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bde. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. Bd. 7,2: Faust. Kommentare. Von Albrecht Schöne. Frankfurt/Main 1994. 77 Werke Goethes (Anm. 28) [unter Leitung von Ernst Grumach]. Bd.: Faust. 1. Urfaust. – Faust. Ein Fragment. Bearbeiter des Bandes: Ernst Grumach. Berlin 1954; 2. Faust. Der Tragödie Erster Theil. Bearbeiter des Bandes: Ernst Grumach und Inge Jensen. Berlin 1958; Ergänzungsband 3: Urfaust – Faust. Ein Fragment – Faust. Der Tragödie Erster Theil (Paralleldruck). Bearbeiter des Bandes: Ernst Grumach und Inge Jensen. Berlin 1958. 78 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Bd. 3,1: Italien und Weimar. 1786–1790. Hrsg. von Norbert Miller und Hartmut Reinhardt. München 1990, S. 1004f. Die Angaben dort sind ungenau, da Sm pauschal als „ein fehlerhafter Nachdruck von So“ (ebd., S. 1004) bezeichnet wird, ohne dass mitgeteilt wird, dass es sich erstens um eine besondere Form des Nachdrucks, nämlich einen Doppeldruck, handelt, und zweitens diese Sachlage nur für bestimmte Teile des Bandes, insbesondere nur für bestimmte Teile des Faust-FragmentAbdrucks, zutrifft. Auch gilt Hagens Verfahren (Hagen: Die Druckgeschichte von Goethes Werken, Anm. 52) den Herausgebern als ausreichend. Boghardts Untersuchung (Boghardt: Erstdruck Faustfragment, Anm. 35), die erst den unzweifelhaften Nachweis der Druckzusammenhänge aufgrund der materialgestützten Druckanalyse brachte, wird lediglich knapp als „eine spezielle typographische Analyse“, die Hagens „Resultate […] bestätigt“, vermerkt (Goethe: Münchner Ausgabe, Bd.  3,1, 1990, s.o., S. 1005). – Keine Rolle spielen Drucksituation und textkritische Probleme des Faust-Fragment-Erstdrucks in der Studienausgabe Johann Wolfgang Goethe: Faust-Dichtungen. Faust, erster Theil. Faust, zweyter Theil. Frühere Fassung („Urfaust“). Paralipomena. Hrsg. und kommentiert von Ulrich Gaier. Stuttgart 2010, knappe allgemeine Erwähnung des Drucks ebd., S. 1053; s. ebenso die frühere Fassung dieser Edition: Johann Wolfgang Goethe: Faust-Dichtungen. 3 Bde. Stuttgart 1999, Bd.  1: Texte. Hrsg. von Ulrich Gaier, S.  676, und die auf eine ausführliche Fassungskonzeptions­ geschichte zielenden Erläuterungen ebd., Bd. 3: Kommentar II. Von Ulrich Gaier, S. 47 und 97–119. 79 Goethes Werke: Weimarer Ausgabe (Anm. 23), [Abth. I]. Bd. 14. Weimar 1887, S. 249f.

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5. Zur Perspektive der Analytischen Druckforschung in der digitalen historisch-kritischen Edition – mit Überlegungen zu editionswissenschaftlichen Innovationen durch eine digitale Lessing-Edition Wenn es die Aufgabe der Editorik ist, sämtliche zeitgenössischen Überlieferungsträger zu ermitteln und auf ihre Autorisation und damit textkritisch auf ihre Relevanz für die Edition zu prüfen, so sollte die historisch-kritische Edition auch sämtliche entsprechenden Drucke zunächst einmal in ihrer Überlieferungsdarstellung listen und beschreiben. Dazu wären auch die zu zählen, die ursprünglich nicht das Prädikat der Autorisation tragen, aber zu Lebzeiten des Autors erschienen sind und einen Einfluss auf die Folgeentwicklung des Textes durch den Autor – etwa durch dessen Nutzung für eine Textrevision bzw. eine neue Fassung – hatten, dann aber auch solche, die von den autorisierten Drucken nicht leicht zu unterscheiden sind, etwa also Doppeldrucke, Titelauflagen, Zwitterdrucke oder andere entsprechende Formen von Nachdrucken, und schließlich Druck(exemplar)e mit satzinterner Varianz durch Pressvarianten, Kartons o.ä. Für die eigentliche textgenetische Darstellung könnten dann nur die einen Autorisationscharakter tragenden berücksichtigt werden. Wenn also die Überlieferungsdarstellung in der Berücksichtigung der Drucke umfassender als die textgenetische Darstellung ist, wäre der archivalischen Komponente der Edition ganz im Sinne der Aufgabe einer Repräsentation des historischen Befunds zunehmender gedient. Gerade die digitale Edition kann durch die breite Einbindung von Druckdigitalisaten diese Aufgabe besonders gut erfüllen. Insofern spiegelt es die Möglichkeiten der digitalen Edition ausdrücklich, wenn eine Ausgabe wie die Digitale Faust-Edition eine ihrer drei Kernrubriken mit „Archiv“ benennt.80 Eine solche Rubrik könnte dann alle Typen autorisierter oder nicht autorisierter, für die zeitgenössische Rezeption und/oder die Textweiterarbeit des Autors aber relevanter Drucke aufnehmen und in Volldigitalisat und Transkription zur Verfügung stellen, die Transkription auch in einer erweiterten, vom Benutzer durch Filtereinstellungen aufrufbaren Version des Variantenapparats anzeigbar machen. Voraussetzung für valide Ergebnisse zur Drucküberlieferung ist aber die Analytische Druckforschung in ihrer materialorientierten Primäruntersuchung und der daraus ableitbaren Bewertung der Varianz von Drucken. Wesentliche Hilfsmittel der Analytischen Druckforschung waren die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten mechanisch-optischen Vergleichsgeräte, vor allem zunächst der Hinman-Collator, dann der Lindstrand-Comparator und der McLeod Portable Comparator,81 die den gesamten Druck in allen visuell erfassbaren Ausprägungen betrachten und sich so auch gegenüber solchen Verfahren als überlegen erweisen konnten, die nur ausgewählte Elemente des Drucks in den Blick nehmen (Fingerprint-Methode, Signatur-Methode, Variantenmethode).82 Weitere Erleichterungen ergaben sich durch die Entwicklungen in der elektronischen Datenverarbeitung, 80

Siehe die Startseite und weiter (beide gesehen am 17.03.2021). 81 Vgl. Boghardt: Druckanalyse und Druckbeschreibung (Anm. 34), S. 106–111. – Starnes: Digitalisierungstechniken (Anm. 3), S. 32f. 82 Vgl. Boghardt: Druckanalyse und Druckbeschreibung (Anm. 34), S. 117–125.

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sodass zur Jahrtausendwende der Vergleich zweier Druckexemplare auf digitalem Wege möglich wurde.83 Bei der auf Farbkontrastierung beruhenden Methode werden die Bilder der Druckseiten zweier Druckexemplare passgenau übereinanderprojiziert. Differente Satzzustände einer Seite erscheinen in unterschiedlichen Farben (etwa rot vs. grün) und sind so optisch sehr leicht wahrnehmbar. Da sich diese Bilder problemlos aufnehmen lassen, kann die Satzdifferenz nun auch optisch dokumentiert, nämlich gespeichert84 und für den Benutzer einer Edition visualisiert werden. Das Verfahren ist daher in Anklang an die beste der mechanischen Methoden als „elektronische Version des Hinman-Collators“85 bezeichnet worden. Von hier aus wurden nach der Jahrtausendwende Schritte zu einer „Automatisierung des HinmanCollators“ getan, indem Software die Ermittlung bestimmter Letternformen innerhalb eines Drucks (qua Mustererkennung) unterstützt;86 eine Fähigkeit, die z.B. für Fälle wie der Varianz bzw. Identität der Kolumnentitel beim Faust-Fragment (s.o.) als Nachweis für die Deszendenzfolge zweier Drucke nutzbar wäre. Die nachhaltige Förderung druckanalytischer Untersuchungen durch die Digitalisierung und die Ermöglichung der breiten Präsentation ihrer Ergebnisse innerhalb der digitalen historisch-kritischen Ausgabe (oder verwandter digitaler Darbietungsverfahren in Form eines Portals oder einer Plattform o.ä.) würden der Überlieferungsform ‚Druck‘ im editorischen Kontext den notwendigen breiten Raum für die Darbietung der historischen Befunde geben, die der Überlieferungsform ‚Hand83

Eingesetzt wurde das Bildverarbeitungssystem der Soft-Imaging Software GmbH (Münster); vgl. Boghardt: Druckanalyse und Druckbeschreibung (Anm. 34), S. 111–113. – Vgl. auch Starnes: Digitalisierungstechniken (Anm. 3), S. 34f. – Zu allen vorgenannten technischen Geräten und Verfahren s. auch die Erläuterungen in Boghardt: Begriffe aus der analytischen Druckforschung (Anm. 9), jeweils unter dem alphabetisch eingeordneten Stichwort. 84 Siehe beispielhaft die Abbildungen zu verschiedensten Fällen in Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17), S. 51, 58, 62, 65, 72, 118f., 292–294, 306, 308, 480f. 85 Starnes: Digitalisierungstechniken (Anm. 3), S. 35. 86 Ebd., S.  110f., Zitat S.  110; ausführlich vorgestellt am Projekt der Untersuchung von Inkunabeldrucken durch Paul Needham und Blaise Agüera y Arcas ebd., S. 95–111; s. dann Blaise Agüera y Arcas: Temporary Matrices and Elemental Punches in Gutenberg’s DK type. In: Incunabula and Their Readers. Printing, Selling, and Using Books in the Fifteenth Century. Ed. by Kristian Jensen. London 2003, S. 1–12 und 207. – Zu den weiteren Entwicklungen im Digitalen s. z.B. Mari Agata: Stop-Press Variants in the Gutenberg Bible. A dissertation Submitted to the Graduate School of Library and Information Science, Keio University, March 2006, besonders S.  80–87 zu den mechanischen Vergleichsverfahren, S. 88–93 zu digitalen Verfahren und S. 93–99 zur Anwendung von Adobe Photoshop und Macromedia Director MX für statische bzw. dynamische Bildüberlagerung im Gutenberg-Projekt, (17.03.2021); s. zuvor schon Dies.: Stop-Press Variants in the Gutenberg Bible: The First Report of the Collation. In: The Papers of the Bibliographical Society of America 97 (2003), S.  139–165.  – Den Einsatz der Open-sourceSoftware GIMP (GNU Image Manipulation Program) als eines digitalen Ersatzes verschiedener Funktionen mechanischer Vergleichsverfahren für die Untersuchung von Second-Quarto-Exemplaren von Shakespeares Hamlet beschreibt Gabriel Egan: The Editorial Problem of Press Variants: Q2 Hamlet as a Test Case. In: The Papers of the Bibliographical Society of America 106 (2012), S. 311–355, hier S. 312f. und 317, Anm. 16. – Zur digitalen druckanalytischen Untersuchung von Abbildungen, Text und Papier s. Carl G. Stahmer: Digital Analytical Bibliography: Ballad Sheet Forensics, Preservation, and the Digital Archive. In: Huntington Library Quarterly 79 (2016), S. 263–278, zur Mustererkennung individueller Lettern und Identifizierung von Abweichungen auf der Mikroebene des Layouts dort S. 272–276. – Siehe auch die Hinweise bei Tanselle: Notes on Recent Work in Descriptive Bibliography (Anm. 12), S. 57. – Auf Youtube findet sich ein Video zur druckanalytischen Arbeit von Mari Agata an Exemplaren der Gutenberg-Bibel: Analytical bibliography using digital data (29.8.2016), (17.03.2021).

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schrift‘ aufgrund der intensiven Diskussion um textgenetische Darstellungsmodi für Manu- und Typoskripte schon seit fast einem Jahrhundert in zunehmender Intensität zugekommen ist.87 Das Unternehmen einer digitalen Lessing-Ausgabe wäre insofern geeignet, nicht nur die Lessing-Philologie aus dem derzeit immer noch nötigen Bezug auf die einzig existierende mehr als ein Jahrhundert alte Lachmann/ Muncker’sche historisch-kritische Ausgabe88 zu lösen, sondern mit einer innovativen Nutzung und Präsentation der Analytischen Druckforschung einen wichtigen methodischen Impuls zum Umgang der allgemeinen Editorik mit historischen Drucken zu geben, der musterbildend zu werden verspräche.89 Dass sich eine moderne historisch-kritische Lessing-Gesamtausgabe mit der Problematik der Drucküberlieferung allemal systematisch auseinandersetzen müsste, dürften die oben ausgestellten Beispiele zu Minna von Barnhelm und Emilia Galotti gezeigt haben.90 Für letzteres Drama hat die rezente historisch-kritische Einzelausgabe des Textes (2004)91 schon vorgeführt, wie eine Buchausgabe mit ihren Präsentationsmöglichkeiten das Phänomen erfassen, aufarbeiten und darlegen kann. Dass im Bereich der Druckforschung das größte unbearbeitete Feld der Lessing-Philologie liegt, hatte 2005 ein Überblick zu den Lessing-Editionen in Hinblick auf Menge und Art der Überlieferungsträger deutlich gemacht: „Verglichen beispielsweise mit Goethe, Hölderlin oder Wieland, ist Lessing ein relativ einfach zu edierender Au87

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Siehe dazu zuletzt den Sammelband: Textgenese in der digitalen Edition. Hrsg. von Anke Bosse und Walter Fanta. Berlin/Boston 2019.  – Für Handschriftenuntersuchungen werden seit einiger Zeit editorisch relevante digitale Verfahren eingesetzt; s. etwa: Wernfried Hofmeister und Andrea Hofmeister-Winter: Schriftzüge unter der High-Tech-Lupe. Theoretische Grundlagen und erste praktische Ergebnisse des Grazer Pilotprojekts DAmalS („Datenbank zur Authentifizierung mittelalterlicher Schreiberhände“). In: editio 22 (2008), S.  90–117.  – Wernfried Hofmeister, Andrea Hofmeister-Winter, Georg Thallinger: Forschung am Rande des paläographischen Zweifels: Die EDV-basierte Erfassung individueller Schriftzüge im Projekt DAmalS. In: Kodikologie und Paläographie im digitalen Zeitalter. Codicology and Palaeography in the Digital Age. Hrsg. von Malte Rehbein, Patrick Sahle und Torsten Schaßan unter Mitarbeit von Bernhard Assmann, Franz Fischer und Christiane Fritze. Norderstedt 2009, S.  261–292.  – Naturwissenschaftliche Untersuchungsverfahren sind zudem für die Papieruntersuchung von Handschriften eingesetzt worden, s. z.B. Oliver Hahn: Eisengallustinten. Materialanalyse historischer Schreibmaterialien durch zerstörungsfreie naturwissenschaftliche Untersuchung. In: editio 20 (2006), S. 143–157. – Gerrit Brüning und Oliver Hahn: Goethes Helena-Dichtung in ursprünglicher Gestalt. Zum methodischen Verhältnis von Materialanalyse und Textkritik. In: editio 31 (2017), S. 145–172. – Zur Anwendung solcher Verfahren für die Manuskriptüberlieferung s. grundlegend Christine Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses von Gotthold Ephraim Lessing. Ein Plädoyer für analytische Handschriftenforschung. In: editio 32 (2018), S. 137–166. Lessing: Sämtliche Schriften, Hrsg. Lachmann/Muncker 1886–1924 (Anm. 55). Ein Augenmerk der Lessing-Philologie auf die Analytische Druckforschung im Rahmen eines digitalen Ausgabenprojekts wäre zudem die strukturelle Entsprechung zum Projekt einer Analytischen Handschriftenforschung zu Lessing, wie es jüngst bei Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses von G.E. Lessing (Anm. 87) entworfen ist. Schon Milchsack nennt im Rückblick auf seine gegen Ende des 19. Jahrhunderts begonnenen Untersuchungen zu Doppeldrucken en passant eine längere Reihe an Lessing-Werken, zu denen er Doppeldrucke gesehen hat; s. den aus dem Nachlass veröffentlichten Beitrag Gustav Milchsack: Doppeldrucke. In: Gesammelte Aufsätze über Buchkunst und Buchdruck, Doppeldrucke, Faustbuch und Faustsage sowie über neue Handschriften von Tischreden Luthers und Dicta Melanchthonis von Gustav Milchsack. Nach dessen Tode im Druck abgeschlossen von Wilhelm Brandes und Paul Zimmermann. Wolfenbüttel 1922, Sp. 281–302, hier Sp. 281f. Lessing: Emilia Galotti, Hrsg. Bauer 2004 (Anm. 59).

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tor“, „das erst partiell geklärte Problem der Doppeldrucke ausgeklammert“.92 Ganz in diese Richtung argumentiert auch das Lessing-Handbuch von 2016, indem es bei dem Hinweis auf die Desiderata einer modernen historisch-kritischen LessingEdition neben die editorisch auch sonst ganz üblichen Bereiche der Textkonstitution und der Textgenese ausdrücklich die – bis auf Ausnahmen93 – editorisch wenig extensiv berücksichtigte „Bibliogenese (die für die verwickelten Druckprozesse im 18. Jahrhundert besonders wichtig ist […])“ stellt. Zudem weist es auf alle Aspekte der historischen Buchmaterialität hin und bemerkt: „auch diesen Aspekt müsste eine Edition darzustellen wissen“.94 Eine digitale Lessing-Ausgabe könnte nach erfolgten systematischen druckanalytischen Untersuchungen und neben ausführlichen Druckbeschreibungen Verfahren der Visualisierung digitalisierter historischer Lessing-Drucke bzw. ausgewählter Exemplare editorisch neuartig erproben und einführen.95 Dazu könnten Parallelansichten mit Markierungen und Verlinkungen von Satzvarianz und zusätzlich benutzerseitig zuschaltbare Überblendungen von Seiten aus fraglichen Druckexemplaren in Anschluss an das Farbkontrastierungsverfahren geboten werden. Jüngere digitale Software könnte – soweit hilfreich – appliziert werden, oder eine Software könnte (weiter)entwickelt werden, die z.B. das automatisierte Auffinden spezifischer Letternformen eines Drucks zur Eruierung von identischen oder neugesetzten Teilen bei (teilweise) vorliegendem doppelten Satz ermöglichte. Für eine Vermittlung der Bogeneinheiten in Drucken könnte etwa die für die Lagenordnungen von Handschriften in der digitalen Faust-Ausgabe von 2018/19 genutzte interaktive grafische Darstellung adaptiert werden.96 92 93

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Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren (Anm. 5), S. 315–327, hier S. 325. Unter den jüngeren Gesamtausgaben im Wesentlichen nur die Klopstock-HKA (Anm. 15). Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Vierte, aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart 2016, S. 60 (beide Zitate); s. auch ebd. die Einschätzung zur Notwendigkeit grundlegender editorischer Tätigkeit zu Lessing: „Eine neue historisch-kritische Gesamtausgabe gilt heute als eines der dringlichsten Desiderate der Lessing-Forschung“. – Zu Lessings Augenmerk auf die Buchmaterialität und deren Berücksichtigung in der historisch-kritischen Ausgabe s. Elke Bauer: Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe. In: Autoren und Redaktoren als Editoren. Internationale Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition und des Sonderforschungsbereichs 482 ‚Ereignis Weimar  – Jena: Kultur um 1800‘ der Friedrich-SchillerUniversität Jena, veranstaltet von der Klassik Stiftung Weimar. Hrsg. von Jochen Golz und Manfred Koltes. Tübingen 2008, S. 130–143, hier S. 131–133. Für deutschsprachige digitale Editionen wäre das bisher ohne Vorbild. Ansätze existieren auf – vielfältig eher archivalisch orientierten – digitalen Plattformen in der angloamerikanischen Editorik; s. z.B. den Bereich der Shakespeare-Philologie, etwa das Shakespeare Electronic Archive, das für die First-Folio-Ausgabe (1623) innerhalb der Digitalisate aller Seiten der ersten Shakespeare-Ausgaben Seiten mit Pressvarianten anhand von Abbildungen aus verschiedenen Exemplaren nacheinander oder jeweils in einem neuen Fenster aufrufbar macht; Erläuterung des Verfahrens unter (17.03.2021). Digitalisate bietet etwa auch Internet Shakespeare Editions, (17.03.2021). Überlagerungen von Buchseiten-Digitalisaten hat offensichtlich The Shakespeare Quartos Archive angeboten bzw. in größerem Umfang angestrebt, die Website ist jedoch wegen technischer Überalterung jüngst eingestellt worden; s. (17.03.2021). Siehe beispielhaft die Ansicht ‚Metadaten/Lagenstruktur‘ zur Reinschrift (2 H) von Faust II in Digitale Faust-Edition 2018/19 (Anm. 70), (17.03.2021).

Analytische Druckforschung in der germanistischen Editorik

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Durch solche Sichtbarmachtung qua Visualisierung dürften sich Fragestellungen und Problemlagen der Analytischen Druckforschung nicht nur eingängiger an die Editionsnutzer transportieren lassen, sondern so könnte es auch gelingen, ein nachhaltiges Bewusstsein für den Erkenntniswert und die editorische Unabdingbarkeit der Analytischen Druckforschung zu schaffen, die in der Praxis der Editorik bisher noch nicht ausreichend Fuß fassen konnte. Zu hoffen wäre, dass sich damit innerhalb der germanistischen Edition ein Vorgang beschleunigen ließe, der aus buchwissenschaftlicher Perspektive vor zwei Jahrzehnten mit niederländischem Blick hinsichtlich der angloamerikanischen Herkunft der ‚analytical bibliography‘ in folgender Weise beschrieben wurde, ohne dass bis heute eine Änderung zu konstatieren wäre: „Die Bedeutung der analytischen Bibliographie für die Interpretation und Edition von gedruckten Texten setzt sich nur langsam durch, sowohl in geographischer als auch in wissenschaftlicher Hinsicht.“97 Eine Lessing-Edition, die sich auf ein solches Unterfangen mit einlassen würde, wäre dann – im Sinne einer auch mediengeschichtlich orientierten Editorik98 – Partner, Agent und Profiteur einer modernen „Bucharchäologie“,99 indem sie die Notwendigkeiten ihres eigenen editorischen Umgangs mit der Überlieferung in ein Innovationsinstrument für die germanistische und auch die allgemeine Editionswissenschaft im digitalen Zeitalter überführte.

97

Piet Verkruijsse: Schwierig und dogmatisch, aber auch außergewöhnlich reichhaltig. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der analytischen Bibliographie. In: Text und Edition (Anm. 13), S. 369–386, hier S. 370. 98 Siehe Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20 (2006), S. 1–23. 99 Verkruijsse: Schwierig und dogmatisch (Anm. 97), S. 376 (Abschnittstitel). Siehe auch den Titel der gesammelten Aufsätze zur Analytischen Druckforschung von Boghardt: Archäologie des gedruckten Buches (Anm. 17). Boghardt hatte in einem Entwurf der Einleitung zur dann erst postum publizierten Sammlung seiner Aufsätze festgehalten: „Die analytische Druckforschung beschäftigt sich mit dem gedruckten Buch als einem materiellen, handwerklich-technischen Produkt und untersucht dessen Entstehungsweise anhand seines Erscheinungsbildes. Sie ist eine Indizienforschung, eine Archäologie des gedruckten Buches“; zit. nach Needham: Introduction (Anm. 24), S. 20.

II. Lessings Schriften und Werke als editionsphilologische Herausforderung

Janina Reibold

Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)

In seinem Nachruf mit dem lakonischen Titel G. E. Leßing. Gebohren 1729, gestorben 1781. beschreibt Johann Gottfried Herder die sechsbändige Ausgabe der Lessing’schen Schrifften von 1753 bis 1755 als Nucleus von dessen Autorschaft: Sein eigentlicher Name fängt ziemlich mit den sogenannten kleinen Schriften an, die seit 1753. in Berlin erschienen. In ihnen zeigte er sich von allen den mancherley Seiten, von denen er nachher mit den Jahren immer reiffer und glänzender hervortrat. In diesen sechs Bändchen was ein Reichthum an Inhalt und Einkleidung! welche Abwechslung und Gründlichkeit in Materien, die man sonst in Duodezbändchen nicht findet! Lieder und Fabeln, Sinn- und Lehrgedichte, in Poesie und Prose, sogar einige lateinische Verse, treffen hier zusammen. Es folgen Briefe, fast so mancherley Inhalts, als gelehrte Briefe nur seyn können; Kritik und Philosophie, Geschichte und Litteratur, […], ganz auf die Le­ ßing eigne, leichte und glückliche Weise. Hierauf ein Theilchen gelehrter Abhandlungen, Rettungen […], die man schwerlich vor dem, was folgt, seinen Lust- und Trauerspielen, erwartet. Daß dies ungeheure Mancherley, in dem sich Leßing, meistens nur Proben: nur Stückweise, gleich Anfangs zeigte, nicht Eitelkeit, nicht Pralerey war, […], weiset sein ganzes weiteres Leben.1

In diesen wenigen Zeilen gibt Herder eine konzise Zusammenfassung dessen, was Lessings Schrifften auszeichnet: Beginnend mit der publizistischen Ersterwähnung des Autornamens, ihrem kleinen Format und Umfang derselben. Vor allem betont Herder hier aber die sprachliche und Gattungsvielfalt der Schrifften, die von Lyrik zu Prosa, von anakreontischen Liedern, über Fabeln und Epigramme hin zu gelehrten Briefen und wissenschaftlichen Abhandlungen reicht und auch das dramatische Spektrum von Komödie und Trauerspiel nicht auslässt – und sogar lateinische Dichtungen umfasst. Herder spricht von einem „ungeheure[n] Mancherley“ mit dem sich Lessing durch die Publikation der Schrifften selbstbewusst auf der Bühne des Literaturbetriebs vorgestellt hat, indem er ein Tableau literarischer ‚Kostproben‘ anbot, die er in den folgenden 28 literarisch fruchtbaren Jahren reifen und sich vermehren ließ. Im Folgenden möchte ich mich mit Lessings Schrifften und ihrem paratextuellen „Begleitschutz“2 näher beschäftigen. Interessieren werden mich dabei vor allem jene paratextuellen Merkmale, die die sechsbändige Ausgabe zu einem vom Autor 1 2

[Johann Gottfried Herder], G.E. Leßing. Gebohren 1729, gestorben 1781. In: Der Teutsche Merkur 1781. Vj. 4, S. 3–29, hier S. 5f. So bezeichnet Gérard Genette in seiner Einleitung Paratexte, vgl. Ders.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 2001, S. 9.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-003

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bewusst gesetzten und bis ins Detail geplanten einheitlichen Werk machen. In einem zweiten Teil werde ich dann einen Lauf durch die vielfältige Lessing-Editionsgeschichte wagen und die zwei wichtigsten Ausgaben in Bezug auf ihre Edition der Schrifften befragen.

1. Paratextuelle Analyse der Schrifften Anfang der 1980er Jahre führte Gérard Genette den Begriff des Paratextes in die Literaturtheorie ein.3 Die griechische Vorsilbe παρά kann sowohl örtlich als auch zeitlich für bei, neben, während oder gegen stehen und diente Genette zur Bezeichnung all jener „verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen“ wie Autorname, Titel, Untertitel, Vorwort, Nachwort, Marginalie, Motto, Illustration oder Verlagsangabe, die einen literarischen Text begleiten und von denen man nicht immer wisse, „ob man sie dem Text zurechnen soll“.4 Paratext mache nach Genette einen Text überhaupt erst zu einem Buch und ermögliche und bestimme die Rezeption desselben. Dabei handele es sich „weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um die Schwelle […], [die] jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet“.5 Seit Genettes Überlegungen wurde der Begriff des Paratextes in der Intertextualitätsforschung breit diskutiert, bei der Edition und Interpretation eines literarischen Textes spielen paratextuelle Überlegungen hingegen weiterhin nur eine marginale Rolle. 1.1 Lessings Autorname In den Jahren 1753 bis 1755 erschien eine knapp 1.800 Seiten umfassende Werkausgabe Gotthold Ephraim Lessings, deren sechs Bände den Titel Schrifften, Erster bis Sechster Theil tragen.6 Der gerade mal 24jährige Lessing stellte sich mit Erscheinen seiner „frühzeitigen Werkausgabe“, wie Dirk Niefanger passend die Schrifften charakterisiert, selbstbewusst und eigenmächtig der literarischen Öffentlichkeit vor und wurde damit fast über Nacht zum bedeutendsten Autor der literarischen Aufklärung.7 Die Schrifften sind nicht die erste Publikation Lessings, die Kleinigkeiten erschienen etwa bereits 1751.8 Doch handelt es sich bei den Schrifften um die ersten Bogen, die Lessings Namen prominent auf den Titelblättern führen.9 Jürgen Stenzel 3 4 5 6 7

8 9

Zunächst in Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1982, dann v.a. Ders.: Seuills. Paris 1987 bzw. in deutscher Übersetzung: Ders.: Paratexte (Anm. 2). Genette: Paratexte (Anm. 2), S. 9. Ebd., S. 10. So bedeutet auch Genettes Titel Seuills im Deutschen wörtlich: Schwellen. G.E. Leßing: Schrifften. 6 Theile. Berlin 1753–1755. Vgl. Dirk Niefanger: Lessings frühzeitige Werkausgabe. Zur Konzeption und Funktion der Schriften (1753–55). In: Jan Standke (Hrsg.): Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Heidelberg 2014, S. 345–355; Ders.: Lessings Schrifften (1753–55). Wolfenbüttel 2015. [Gotthold Ephraim Lessing]: Kleinigkeiten. Frankfurt und Leipzig 1751. Ausnahmen hiervon bilden das mit Lessings Namen unterzeichnete Vers-Fragment zur Frage: „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind?“ In: Der Naturforscher. 72. Stück (11. November 1748), S. 567–572 (vgl. B 1, S. 115–120) und seine Huarte-Übersetzung: Johann Huarts Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Aus dem Spanischen übersetzt von Gotthold Ephraim Leßing. Zerbst 1752.

Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)

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und Dirk Niefanger haben hierauf bereits hingewiesen.10 In der Vorrede zum ersten Band reflektiert Lessing selbst explizit auf diesen Akt der Autorbenennung: ich wage es, ihnen [d.i. eigentlich den enthaltenen Liedern; JR] vor den Augen der ernsthaften Welt meinen Namen zu geben? Was wird man von mir denken? – – Was man will.11

Niefanger hat die enge Verknüpfung von Lessings Autornamen und dessen Werkpolitik anschaulich hervorgehoben und die Funktion des Paratextes Autorname folgendermaßen beschrieben: Er [d.i. der Autorname; JR] legt fest, welche Texte im zeitgenössichen Diskurs der Literaturkritik von nun an unter seinem Namen firmieren sollen. Mit diesem öffentlichen Akt der Benamsung durch die Publikation seiner Schrifften versucht der junge Lessing selbst zu bestimmen, was fortan als sein bisheriges Werk aufgefasst werden soll und was nicht […].12

1.2 Format der Schrifften Lessings Schrifften sind in einem kleinen Duodezformat mit einer Höhe von ca. 11  cm und einer Breite von ca. 7  cm erschienen (vgl. Abb. 2–7).13 Ihr Satzspiegel misst gerade mal 9 × 5,3 cm. Für Genette ist „[d]er globalste Aspekt bei der Gestaltung eines Buches und damit der Materialisierung eines Textes für das Publikum […] die Wahl des Formats.“14 Für die Rezeption eines Textes macht es einen großen Unterschied, ob dieser in einem großen Folio- oder Quartformat, in einem mittleren Oktavformat oder aber in einem kleinen Duodez- oder gar Sedezformat erscheint. Dabei liegt der Unterschied wortwörtlich in der Hand der Leser:innen. Die Bedeutung eines Autors bzw. eines Textes steht dabei in einem direkten Verhältnis zur Größe und Ausstattung einer Ausgabe. Das Taschenformat Duodez konnte man zwar bequem bei einem Spaziergang in die Tasche stecken, ließ aber auch Rückschlüsse auf das ‚Format‘ des Autors selbst und dessen Rang im Kanon zu. Bei einer Werkausgabe würde man im 18. Jahrhundert gewöhnlich ein repräsentatives Quartoder wenigstens Oktavformat erwarten. Umso auffälliger ist also Lessings kleines Duodezformat, das im deutlichen Kontrast steht zum selbstbewusst-schlichten Titel „Schrifften.“ Ob die Wahl des Formats Lessings eigener Einfall war oder auf seinen auf den Titelblättern genannten Verleger Christian Friedrich Voß zurückgeht, lässt sich nicht rekonstruieren. Voß war jedenfalls zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der

10 11 12

13 14

Vgl. auch Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 15, und Jürgen Stenzel: Schrifften. Erster Teil. Entstehung. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2003 (künftig: B), hier B 2, S. 1179. Stenzel: Schrifften. Erster Teil. Entstehung. In: B 2, S.  1179 und Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 15–17. G.E. Leßing: Schrifften. Erster Theil (Berlin 1753), Vorrede, S. [5] (o.Pag.). Vgl. hierzu auch Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 15f. Ebd., S. 16f. Das Seitenformat variiert je nach Beschnitt von Exemplar zu Exemplar. Aussagekräftiger ist daher die Größe des Satzspiegels. Genette: Paratexte (Anm. 2), S. 23.

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Schrifften noch recht neu auf dem Berliner Buchmarkt und wurde nicht zuletzt durch die Publikationen der Werke Lessings erst zu einem der berühmtesten deutschsprachigen Verleger. Lessing gefiel sich allerdings sehr wohl in der Rolle des publizistischen „Zwerg[s]“, in die er sich auch in einem Brief an Johann Adolf Schlegel am 23. Januar 1753 anlässlich eines Übersetzungsprojekts begab und dem er die „Waffen melde[t], die mein Verleger, der H. Voß hier in Berlin […] brauchen wird“.15 1.3 ‚Publikationsstrategie‘ der Schrifften Da die Publikation der Schrifften nicht am Ende, sondern (wohlgemerkt) am Anfang seines literarischen Oeuvres liegt, finden sich darin nicht – wie gemeinhin zu erwarten wäre – eine Zusammenstellung der zu Lebzeiten verstreut publizierten Werke eines der literarischen Öffentlichkeit wohlbekannten Autors, sondern vornehmlich Erstpublikationen eines bis dahin unbekannten Schriftstellers. Gleichwohl geriert sich Lessing in der Vorrede zu den Teilen 1/2 wie ein erfahrener und berühmter Autor, wenn er die Schrifften als „Sammlung aller meiner Versuche“ bezeichnet, die ansonsten „noch lange zerstreut und verstümmelt in der Irre und im Vergessen geblieben“ wären und nun endlich zusammen rezipiert werden könnten.16 Die primäre Ausrichtung der Ausgabe liegt hingegen auf der Zukunft: In den Vorreden und den die Schrifften begleitenden Epitexten wird Lessing nicht müde zu betonen, dass die enthaltenen Texte „nichts als ein Paar verwegne Kundschafter“ seien, auf die noch mehr folgen werde.17 Tatsächlich scheinen die Schrifften eine vom Verleger und/oder Autor durchdachte Veröffentlichungsstrategie18 verfolgt zu haben.19 Sie erschienen innerhalb von anderthalb Jahren jeweils in Zweier-Pärchen zur Michaelismesse 1753,20 Ostermesse 175421 sowie Ostermesse 1755.22 Ein witziges 15

16 17

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19 20

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22

B 11/1, S. 49. Leßing: Schrifften, Th. I (Anm. 11), Vorrede, S. [9] (o.Pag.). Vgl. zu diesem Punkt auch Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 9f. Leßing: Schrifften, Th. 1 (Anm. 11), Vorrede, S. [10] (o.Pag.). Begleitet wurden die drei Lieferungen jeweils von anonym publizierten Selbstrezensionen Lessings, die in der Voßischen Zeitung (BPZ) erschienen. Zu den „Schriften. Erster und zweyter Theil“ in: Berlinische Privilegirte Staats- und Gelehrte Zeitung, 136. Stück (13. November 1753), vgl. B 2, S. 552. Zu den „Schriften. Dritter und vierter Theil“ in: Berlinische Privilegirte Staats- und Gelehrte Zeitung, 61. Stück (21. Mai 1754), vgl. B 3, S. 44. Zu den „Schriften, fünfter und sechster Theil“ in: Berlinische Privilegirte Staats- und Gelehrte Zeitung, 53. Stück (3. Mai 1755), vgl. B 3, S. 389. Vgl. zu diesem Punkt ausführlich das Kapitel: „Die Schrifften als Medium der Positionierung“ in: Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 8–17. Catalogvs Universalis, Oder Verzeichniß Derer Bücher, Welche in der Franckfurter und Leipziger Michael-Messe 1753. Entweder gantz neu gedruckt, oder sonsten verbessert, wieder aufgeleget worden sind, auch inskünftige noch herauskommen sollen. Leipzig 1753, Rubrik: ‚Folgende Bücher, derer Titel zu spät eingesendet worden, sind bereits fertig‘, S.  440: „Leßings, G. E., Schriften, 2 Theile, 12 Berlin.“ Catalogvs Universalis, Oder Verzeichniß Derer Bücher, Welche in der Franckfurter und Leipziger Oster-Messe 1754. Entweder gantz neu gedruckt, oder sonsten verbessert, wieder aufgeleget worden sind, auch inskünftige noch herauskommen sollen. Leipzig 1754, Rubrik: ‚Libri historici, philosophici et artium humaniorum‘, S.  482: „Leßings, G.E. Schriften 3ter und 4ter Theil, 12 Berlin, bey Chr. Fr. Voß.“ Catalogvs Universalis, Oder Verzeichniß Derer Bücher, Welche in der Franckfurter und Leipziger Oster-Messe 1755. Entweder gantz neu gedruckt, oder sonsten verbessert, wieder aufgeleget worden sind, auch inskünftige noch herauskommen sollen. Leipzig 1755, Rubrik: ‚Libri historici, philoso-

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Detail dabei ist, dass die beiden ersten Teile von Lessings Schrifften wohl zu spät bibliographisch bei der Messe gemeldet wurden und dadurch lediglich im Anhang des Messkatalogs unter den „Bücher[n], derer Titel zu spät eingesendet worden“ zu finden sind (vgl. Abb. 1).23 Sowohl in der Vorrede zu den Teilen 1/2 als auch zu jener zu 3/4 wird durch Ankündigung der noch folgenden Bände ein Spannungsbogen beim Publikum erzeugt.24 Für Niefanger handelt es sich daher zu recht bei Lessings Schrifften „nicht nur um eine Sammlung eigener Dichtungen […], sondern um eine strategische Positionierung im kulturellen Feld.“25

Abb. 1: Ausschnitt aus dem Messkatalog zur Michaelimesse 1753 (vgl. Anm. 20).

1.4 Titelblätter der Schrifften Die sechs Bände der Schrifften sind in Bezug auf die in ihnen enthaltenen Texte höchst divers.26 Zusammengehalten und miteinander in ein Verhältnis gesetzt werden sie durch verschiedene paratextuelle Elemente. An (im vollen Wortsinn) erster Stelle stehen dabei wohl die sechs Titelblätter. Es handelt sich bei ihnen jeweils phici et artium humaniorum‘, S.  582: „Lessings, G.F. Schrifften, 5ter und 6ter Theil, 12 Berl. bey Christ. Fr. Voß, Mit allergn. Privilegio.“ Vgl. Anm. 20. 24 Vgl. Leßing: Schrifften, Th. 1 (Anm. 11), Vorrede, S. [10, 20] (o.Pag.). und Ders.: Schrifften. Dritter Theil (Berlin 1754), Vorrede, S. [18] (o.Pag.). 25 Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 12. 26 Niefanger hat in ebd., S. 18–50 ausführlich Struktur und Inhalt der einzelnen Bände dargestellt. 23

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um illustrierte, im Kupferstich ausgeführte Titelblätter. Diese wurden eigens für die Lessing’sche Ausgabe hergestellt, dabei wurden selbst die Titel- und Verlagsangaben in die Platte graviert bzw. geätzt. Die vor allem im 16. und 17. Jahrhundert verbreiteten Kupfertitel betonen über ihre bildlich-allegorischen Darstellungen die „Portalfunktion des Titelblatts“ und knüpfen Verbindungslinien zum Inhalt des Bandes.27 Die Verwendung von Kupfertiteln ist Mitte des 18. Jahrhunderts bereits nicht mehr sonderlich verbreitet. Im Verlagsprogramm von Voß konnte ich keine weitere Publikation mit Kupfertitel finden; gelegentlich verwendet Voß Frontispize in Kombination mit einem typographischen Titelblatt mit Titelvignette, wie bspw. bei Lessings Fabelbuch von 1759.28 Jedoch werden auch bei keinem weiteren Erstdruck Lessings mehr Kupfertitel verwendet – um so bemerkenswerter sind die barock anmutenden Bildertitel der sechs Bände Schrifften. Nähern wir uns nun den einzelnen Bänden der Schrifften aus der paratextuellen Vogelperspektive: 1.5 Kupfertitel: Schrifften. Erster Theil Der erste Band der Schrifften enthält Lyrik, darunter vor allem in zwei LiederBüchern anakreontische Dichtungen sowie Oden, Fabeln (großteils versifiziert), Epigramme und fragmentarische Lehrgedichte. Der Kupfertitel (vgl. Abb. 2) sowie die zahlreichen Buchschmuckelemente im Innern des Bandes sind auffallend floral gehalten. Dargestellt wird eine (Schäfer)Landschaft mit Bäumen, Wolken und einer personifizierten Sonne. Im Vordergrund sitzen zwei Putten vor einer Palme; die eine lesend mit einem Stapel Manuskripte auf dem Schoß, die andere musizierend mit einer Flöte im Mund. Beides sowie natürlich die Schäferlandschaft insgesamt sind allegorische Anspielungen auf die im Band versammelte Lyrik. Die Palme spielt auf die Fruchtbringende Gesellschaft an.29 Interessant ist darüber hinaus, dass die lesende Putte eine Maske in der Hand hält. Die Maske steht hier für den Aspekt der Nachahmung, der für die in dem Band versammelten Gedichte eine große Rolle spielt, denn sowohl die anakreontischen Gedichte als auch die Fabeln und Epigramme bewegen sich innerhalb eines antiken Bezugsrahmens.30 27

Ursula Rautenberg (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Von der Handschrift zum E-Book. Stuttgart 2015, S. 244f. (‚Kupfertitel‘). 28 Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drey Bücher. Berlin 1759. Vgl. bspw. auch Georg Ludwig von Bar: Poetische Werke. Erster Theil. Berlin 1756, und Johann Jacob Rousseau: Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe, ins Deutsche übersetzt mit einem Schreiben an den Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret. Berlin 1756. 29 Für diesen Hinweis danke ich Bodo Plachta. 30 In der Vorrede betont Lessing, dass er für die Epigramme „keinen anderen Lehrmeister als den Martial“ gehabt habe, und setzt ihnen auch ein Motto nach Mart. VIII Dedic. voraus (Ders.: Schrifften, Th. 1 [Anm. 11], Vorrede, S. [16f.] [o.Pag.] und S. 187). Nicht nur dem Vater gegenüber, sondern ebenfalls in der Vorrede, betont Lessing, dass es sich bei den „nichts, als Wein und Liebe“ behandelnden anakreontischen Gedichten um „freie Nachahmungen des Anakreons“ handele und man nicht glauben müsse, dass Lessings eigene „Empfindungen im geringsten damit harmonieren“ würden, entsprechend kein „Sittenrichter“ daran etwas zu beanstanden hätte (Ebd., Vorrede, S. [5f.] und Brief vom 28. April 1749 an den Vater [B 11/1, S. 23f.]). Fabeln sind per se traditionsverbunden, da sie sich stofflich bzw. vom vorkommenden (tierischen) Inventar her meist auf die antiken Vor-

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Abb. 2: Kupfertitel und Aufbau der Schrifften, Th. 1 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

1.6 Kupfertitel: Schrifften. Zweyter Theil Der zusammen mit dem ersten ausgelieferte zweyte Theil der Schrifften enthält 25 fiktive Briefe an unterschiedliche Adressaten.31 Während sich in Band 1 ein lyrisches Ich verspielt und betont fiktiv dichtend vor allem mit Liebe, Lust und Wein beschäftigt, tritt in Band 2 nun ein kritisch-gelehrter Briefschreiber auf, der sich in Prosa dialogisch auf ein Du bezieht. Die im Kupfertitel als idealisierte Kriegerin dargestellte Athene mit Helm, Medusenschild und Speer verweist auf den kritischgelehrten Kampf um die Wahrheit des Briefschreibers (vgl. Abb. 3). gänger Aesop und Phaedrus beziehen (vgl. zu diesem Punkt vor allem auch Lessings Überlegungen in den Abhandlungen in Ders.: Fabeln. Drey Bücher [Berlin 1759]). Vgl. zum antiken Bezugsrahmen der Schrifften insgesamt: Dirk Niefanger: Topographie der Antike in Lessings Berliner „Schrifften“ (1753–55). In: Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus (Hrsg.): Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung. Bern u.a. 2016, S. 269–282. 31 Vgl. hierzu v.a. Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 19–24 (‚Lessing als gelehrter Briefschreiber‘).

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Abb. 3: Kupfertitel und Aufbau der Schrifften, Th. 2 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

1.7 Kupfertitel: Schrifften. Dritter Theil Eine ähnlich dichotomische Zusammenstellung wie zwischen den Bänden 1 und 2 findet sich auch bei den Teilen 3/4. Der dritte Theil enthält die vier Rettungen Lessings. Diese gelehrt-literarischen Polemiken32 sind der Form nach prosaisch und versuchen mit einem Anspruch auf Wahrheit einen wissenschaftlichen Gegenstand zu verteidigen. Entsprechend finden wir Apollon, den Beschützer der Künste, mit Kithara im Kupfertitel dargestellt (vgl. Abb. 4).

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Vgl. hierzu ausführlich Michael Multhammer: Lessings ‚Rettungen‘. Geschichte eines Denkstils. Berlin/Boston 2013.

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Abb. 4: Kupfertitel und Aufbau der Schrifften, Th. 3 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

1.8 Kupfertitel: Schrifften. Vierter Theil Im vierten Theil wird (im wahrsten Sinne des Wortes) der Theatervorhang gehoben. War in Band 3 gerade noch die Ernsthaftigkeit und Ruhe des Apollon zu finden, so verweisen die auf dem Kupfertitel von Teil 4 tanzenden Satyren auf die in dem Band vereinigten Lustspiele Der junge Gelehrte und Die Juden (vgl. Abb. 5). Als dramatische Texte sind sie per se dialogisch und stehen im Kontrast zu den monologischen Rettungen aus Teil 3. Innerhalb des Bandes sind die beiden Stücke wiederum miteinander verschränkt: Während es sich beim Jungen Gelehrten um eine weitgehend klassische Typenkomödie handelt, sind bei den Juden invers dazu nicht die titelgebenden Juden, sondern die anderen Protagonisten des Stückes Gegenstand des Verlachens. Der auf dem Kupfertitel dargestellte Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, personifiziert den Topos des theatrum mundi: des Welttheaters.

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Abb. 5: Kupfertitel und Aufbau der Schrifften, Th. 4 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

1.9 Kupfertitel: Schrifften. Fünfter Theil In den Bänden 5 und 6 finden sich jeweils verschränkt fünf- und einaktige Dramen. Band 5 umfasst die Komödien Der Freygeist und Der Schatz. Im Gegensatz zu den anderen Bänden greift der Kupfertitel des fünften Theils (vgl. Abb. 6) auf kein mythologisches Bildmaterial zurück. Stattdessen wird der Theatervorhang über einem antik anmutenden Portal mit Freitreppe gelüftet. Vor dem Portal stehen eine Frau und ein Mann in der zeitgenössisch höfischen Mode des Rokoko – mit Reifrock bzw. Kniehose, Rock mit Ärmelaufschlag und Dreispitz. Die beiden grüßend, kommt ein zweiter Mann in bürgerlicher Mode mit kurzer Ärmelweste ohne -aufschlag durch das Portal hindurch auf den Leser zu. Die Flexibilität in der Bewegung und legere Kleidung sowie der deutliche Blick zu der Frau lassen an den Freigeist Adrast und dessen Eifersucht auf Theophan denken.

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Abb. 6: Kupfertitel und Aufbau der Schrifften, Th. 5 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

1.10 Lessings Schrifften. Sechster Theil Band 6 der Schrifften enthält das erste bürgerliche Trauerspiel in deutscher Sprache: Miß Sara Sampson sowie die an Plautus orientierte Komödie Der Misogyne. Im Kupfertitel wird der von Liebe, Eifersucht und Missverständnissen geprägte Mythos von Prokris und Kephalos aufgerufen.33 Dargestellt wird die Sterbeszene Prokris’. Diese hatte sich heimlich in einem Gebüsch versteckt, um ihren Gemahl, der in Begleitung seines Hundes und Speeres34 auf der Jagd war, bei einem möglichen Seitensprung zu erwischen. Kephalus wiederum hielt das Rascheln im Gebüsch für ein Wild und warf den Wurfspieß unwissend nach seiner Frau und tötete sie. Die Statue im Hintergrund stellt wohl die Göttin Aura, die Kephalos nach der Anstren33

Vgl. Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon. Leipzig 1770, Sp. 662–664 (‚Cephalvs‘) und Sp. 2086f. (‚Procris‘). 34 Sowohl Kephalos’ Hund, „dem nichts entlaufen kann“, als auch sein Speer, „mit dem man im Jagen niemals fehlete“, waren ursprünglich Geschenke, die Minos bei einer Affäre Prokris gemacht hatte (vgl. ebd., Sp. 663).

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Abb. 7: Titelkupfer und Aufbau der Schrifften, Th. 6 (Originalgröße; Ex. aus Privatbesitz).

gung der Jagd mit der Bitte nach einer Brise frischen Windes angerufen hatte, dar. Prokris hatte deren Anrufung fälschlicherweise für den Ruf ihres Gemahls nach einer Nymphe namens Aura gehalten, mit der er ein Stelldichein geplant hatte. Der mythologische Stoff von Prokris und Kephalos passt durch das Wechselspiel von Liebe, Eifersucht, Missverständnissen und dem letztlichen Tod des Geliebten gut zu Lessings Miß Sara Sampson. Im Gegensatz zu den ersten vier Bänden gibt Lessing für die letzten beiden Teile keine Vorrede. Den Status eines „auktorialen Epitextes“35 hat hingegen die kurze Selbstrezension des Doppelbandes, die Lessing im Mai 1755 in der Voßischen Zeitung veröffentlichte.36

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Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 19. BPZ, 53. Stück (3. Mai 1755) (Anm. 18), vgl. B 3, S. 389.

Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)

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1.11 Datierungen in den Schrifften Aus einer paratextuellen Perspektive stellt es eine Auffälligkeit der Schrifften dar, dass die meisten der enthaltenen Texte von Lessing mit einer Datumsangabe versehen wurden. So wird in der Vorrede zum ersten Band die Entstehung der anakreontischen Lieder auf drei Jahre vor Veröffentlichung der Kleinigkeiten 1751 datiert.37 Einige Oden enthalten bereits im Titel eine Datierung. Die Briefe aus dem zweiten Band sind großteils am Ende datiert, jedoch auffälligerweise nicht chronologisch angeordnet. Die fünf Lustspiele aus den Bänden 4–6 sind jeweils im Titel mit einem angeblichen Aufführungs- bzw. Verfertigungsjahr versehen. Lediglich die Fabeln, Sinngedichte, Fragmente, Rettungen sowie Miß Sara Sampson sind in den Schrifften nicht datiert. Der Status der einzelnen Datierungen ist dabei divers. Fiktiven Briefen verleiht eine Datumsangabe den Hauch von Authentizität. Bei den Oden ergibt sich die Datierung aus dem Anlass derselben, da es sich um zwei Neujahrsgedichte sowie ein Panegyrikus zum 40. Geburtstag Friedrichs II. handelt. Bei den anakreontischen Liedern ist die Rückdatierung in eine jugendliche Vergangenheit wohl der Versuch, eine auch zeitliche Distanz zwischen dem lyrischen Ich der Gedichte und dem Autor herzustellen, der hier gewissermaßen als eine Art Herausgeber auftritt. Die Datierung der Lustspiele auf teilweise sechs Jahre vor deren Veröffentlichung unterstützt beim Leser den intendierten Eindruck, dass es sich bei der Schrifften tatsächlich um eine Sammlung vergangener literarischer Produktionen im Sinne einer Werkausgabe handelt. Vor allem handelt es sich jedoch bei den Jahresangaben auf den Titelblättern der dramatischen Texte um fiktive werkimmanente Paratexte, die keineswegs leichtfertig auf die reale Schaffensbiographie Lessings übertragen werden können. Elke Bauer hat ausführlich Lessings Arbeitsweise beschrieben, der seine Stücke „nach einem Plan oder Konzept“ ausarbeitete.38 Anhand etlicher Beispiele kann Bauer zeigen, dass teilweise mehrere Jahre zwischen Idee und Entwurf zu einem literarischen Text und Lessings tatsächlicher sprachlicher Ausarbeitung desselben lagen, die meist erst für den Druck erfolgte. Durch mehrere Zeitgenossen ist, so Bauer, überliefert, dass Lessing ein Stück bereits als „fertig“ bezeichnete, sobald er einen Entwurf dazu skizziert hatte.39 Es liegt daher auch im Fall der Lustspiele in den Schrifften nahe, anzunehmen, dass deren Samen womöglich tatsächlich mehrere Jahre vor Publikation der Ausgabe lagen, dieselben aber erst anlässlich des nahenden Drucktermins Akt für Akt ausgearbeitet wurden.40 In der Vorrede zum dritten Band spricht Lessing von einer „Anlegung der letzten Hand“, die für die Publikation der Stücke in den Bänden 5/6 noch ausstehe.41 Eine Ausnahme bot vermutlich Der junge Gelehrte, der bereits im Januar 1748 in Leipzig von der Neuberin uraufgeführt wurde und von dem zumindest eine Bühnenfassung vorgelegen haben musste. Wichtig ist vor allem aber auch die „strategische“ Bedeutung, die 37

Leßing: Schrifften, Th. 1 (Anm. 11), Vorrede, S. [3] (o.Pag.). Elke Bauer: Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historisch-kritische Ausgabe. In: Jochen Golz und Manfred Koltes (Hrsg.): Autoren und Redaktoren als Editoren. Tübingen 2008, S. 130–143, hier S. 133. 39 Ebd. 40 Das vermutet auch Bauer in ebd., S. 135. 41 Leßing: Schrifften, Th. 3 (Anm. 24), Vorrede, S. [19]. 38

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den Datierungen der frühen Lustspiele Lessings zukommt und auf die Niefanger hingewiesen hat.42 So vermutet er, dass Lessing mit dem Zusatz „Verfertiget im Jahr 1749.“ auf dem Titelblatt der Juden auf die auch im Stück explizit erwähnte Explosion des Breslauer Pulverturms am 21. Juni 1749 anspielt, die von vielen Zeitgenossen als „Judenstrafe“ interpretiert wurde.43 Dabei ist es einerlei, ob Lessing biographisch anlässlich dieses Ereignisses die Idee zu einem Stück entwickelte, das die judenfeindliche Vorurteilsstruktur offenlegte und damit zumindest die Anfänge der Juden tatsächlich im Jahr 1749 zu finden sind oder ob er lediglich literarisch auf dieses historische Ereignis anspielt. 1.12 Motti in den Schrifften Fast alle der nicht-dramatischen Texte der Schrifften tragen auf den Zwischentitelblättern Motti.44 Ein Motto ist in der Regel ein Zitat eines anderen Autors, mit dem der folgende Text in ein dialogisches Verhältnis gesetzt wird.45 Das Motto dient dabei häufig nach Genette als ein „Kommentar zum Text“ oder Titel, der die Leser:in zur Interpretation desselben herausfordert.46 Zugleich eröffnet ein Motto bei Namensnennung des Zitierten einen Assoziationsraum, in den hinein sich der Text begibt und mit dem dieser sich zugleich auch „schmückt“.47 Hierzu zwei Beispiele: Das erste Lieder-Buch wird mit einem Motto aus dem zehnten Buch der Epigramme von Martial eröffnet: „Manches Bekannte wirst du darin lesen, doch ist es mit frischer Feile geglättet; / der neue Teil ist größer: Leser, nimm beides mit Wohlwollen auf“.48 Das Motto spielt zunächst darauf an, dass Fassungen einiger der Lieder, Oden und Fabeln anonym zuvor in Zeitungen, Zeitschriften bzw. den bereits erwähnten Kleinigkeiten erschienen waren, vor allem bedient das Motto jedoch gleich am Anfang des ersten Theils der Schrifften die in der rhetorischen Tradition beliebte Captatio Benevolentiae, die Bitte um Nachsicht und freundliche Aufnahme des Folgenden durch die Leser:in. Dem zweiten Theil der Schrifften mit den Briefen setzt Lessing ein Zitat aus einem Brief Symmachus’ zum Voraus: „Offen ist meine Gesinnung, und rein ist der Zweck meiner Arbeiten. Nichts verbirgt sich in meinem Bewußtsein, das ich in meinen Schriften künstlich verstecken müßte.“49 Symmachus (etwa 345–402) galt als einer der bedeutendsten Redner im spätantiken Rom.50 Neben Überresten von acht Reden und einem Schreiben an den Kaiser (rel.) ist von Symmachus vor allem seine umfangreiche Korrespondenz überliefert. Das Zitat unterstützt einerseits die 42 43

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Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 25. Ebd. Vgl. G.E. Leßing: Schrifften. Vierter Theil, S. 236 (Die Juden, 2. Auftritt). Lediglich die Oden und Fabeln sind mottofrei. Genette: Paratexte (Anm. 2), S. 147. Ebd., S. 153. Ebd., S. 154f. Mart. X 2,3f. Übersetzung nach: M. Valerius Martialis: Epigramme. Lateinisch – deutsch. Hrsg. u. übers. von Paul Barié und Winfried Schindler. Berlin 32013, S. 681. Symm. epist. II 12, Übersetzung nach B 2, S. 1280. Vgl.  – auch zum Folgenden  – Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. 2 Bde. München 21994, Bd. II, S. 1145–1149 (‚Symmachus‘).

Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)

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Authentizitätsfiktion der Briefe, andererseits reiht sich Lessing hierdurch in die Reihe der antiken Rhetoriker und Briefschreiber ein.51

2. Editionen der Schrifften Die Forschungsliteratur zu Lessings Schrifften ist schnell überblickt. Bis auf drei sehr aufschlussreiche Aufsätze Dirk Niefangers52 sind mir keine ernsthaften Aus­ einandersetzungen mit Lessings Schrifften bekannt. Im Lessing-Handbuch fehlt gar ein eigener Eintrag zu ihnen53 und in den gängigen Lessing-Biographien wird ihr Erscheinen höchstens kurz erwähnt.54 Diese offensichtliche Forschungslücke resultiert, so meine These, direkt aus der Editionslage der Schrifften. Die zwei wichtigsten Lessing-Editionen55 sind einerseits die ab 1886 herausgegebene 24bändige Ausgabe Karl Lachmanns und Franz Munckers,56 sowie andererseits die ab 1989 von Wilfried Barner u.a. herausgegebene 12bändige Ausgabe beim Deutschen Klassiker Verlag.57 2.1 Edition von Lachmann/Muncker Bei der von Lachmann und Muncker herausgegebenen Ausgabe handelt es sich um die bis heute umfangreichste historisch-kritische Ausgabe der Schriften Lessings. Editorisches Hauptziel der Ausgabe war, „einen bis auf Komma und Punkt correcten und authentischen Text“ der Lessing’schen Schriften zu geben.58 Bei allen durchaus vorhandenen Mängeln der Ausgabe ist ihr dies weitgehend gelungen, so dass sie bis heute den zuverlässigsten Wortlaut bietet. Textgrundlage für die gesamte Ausgabe war jeweils die letzte autorisierte Fassung eines Textes. Für die Edition der Schrifften hat dieses Editionsprinzip schwerwiegende Folgen – denn sie tauchen in der Ausgabe faktisch nicht auf. 51

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Vgl. auch Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 7), S. 19–24. Ebd. und Ders.: Lessings frühzeitige Werkausgabe (Anm. 7) sowie Ders.: Topographie der Antike (Anm. 30). Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 42016. Die Schrifften werden lediglich unter den „Lessing-Ausgaben des 18. Jahrhunderts“ auf S. 56 erwähnt. Insbesondere Dieter Hildebrandt: Lessing. Biographie einer Emanzipation. München/Wien 1979, und Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übers. von Karl S. Guthke. München 2008, sowie Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018. Nisbet widmet der Zusammenfassung der Schrifften immerhin die Seite 212. Zur Lessing-Editionsgeschichte vgl. ausführlich Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta (Hrsg.): Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Tübingen 2005, S.  315–327; Bauer: Lessings Arbeitsweise (Anm. 38); Winfried Woesler und Ute Schönberger: Wie könnte eine neue Lessing-Ausgabe aussehen? In: Ariane Neuhaus-Koch und Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.): Literarische Fundstücke. Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen. Festschrift für Manfred Windfuhr. Heidelberg 2002, S. 11–31. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 24 Bde. Stuttgart u.a 1886–1924 [= LM]. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann. Frankfurt a.M. 1985–2003 [= B]. LM 1, S. VI (Vorrede Munckers).

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Abb. 8: Gegenüberstellung des Aufbaus der Schrifften von 1753–1755 mit der Edition von Lachmann/Muncker (vgl. Anm. 56).

Bei der Erstellung ihrer Ausgabe separierten Lachmann/Muncker die verschiedenen Texte der Schrifften voneinander und edierten sie über drei Bände verteilt. Abbildung 8 versucht die Verteilung der Einzelschriften über die Bände LM schematisch darzustellen. Hauptgrund für die Zerstreuung der Schrifften in LM ist, dass Lessing viele der in den Schrifften publizierten Texte in den darauffolgenden Jahrzehnten erneut überarbeitete und veröffentlichte. Diese späteren Publikationen der Einzeltexte stellten für Lachmann/Muncker in Übereinstimmung mit ihrem erklärten Editionsprinzip die letzte autorisierte Fassung eines Textes dar und dienten der Ausgabe als Textgrundlage. Die Tatsache, dass es eine sechsbändige Publikation Lessings mit dem Titel Schrifften aus den Jahren 1753–55 überhaupt gegeben hat, lässt sich aus der Lachmann/Muncker’schen-Ausgabe nur mit größter Mühe ex negativo aus den Apparateinträgen zu den einzelnen Texten ableiten.59 59

Über die Reihenfolge der Texte innerhalb der Schrifften-Bände lassen sich allerdings keine Informationen finden.

Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755)

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Abb. 9: Gegenüberstellung des Aufbaus der Schrifften von 1753–1755 mit der Edition von Barner u.a. (vgl. Anm. 57).

2.2 Edition von Barner, Stenzel u.a. Die von Wilfried Barner und anderen im Deutschen Klassiker Verlag herausgegebene Ausgabe der Werke und Briefe Lessings unterscheidet sich vor allem in Bezug auf die Wahl der Textgrundlage wesentlich von der Ausgabe Lachmann/Munckers. Nicht die Fassung ‚letzter Hand‘, sondern der jeweilige Erstdruck bot für die Ausgabe die Grundlage ihrer editorischen Tätigkeit.60 Man möchte meinen, keine schlechten Karten für die Schrifften. Und tatsächlich findet sich in der Ausgabe für die meisten Texte der Schrifften (abgesehen von massenhaften Eingriffen in Orthographie und Interpunktion) der Wortlaut von 1753–1755. Nach einem Werkzusammenhang, genannt Schrifften, sucht man hingegen auch in der Barner’schen Ausgabe vergeblich. Grund hierfür ist die Entscheidung der Herausgeber die Bände sowohl nach Gattungen also auch chronologisch aufzubauen 60

Vgl. B 1, S. 1444, hier auch zur Begründung: „Nach ihnen [den Erstdrucken; JR] hat sich bei den Zeitgenossen auch der Haupteindruck des jeweiligen Werks gebildet.“

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(ein an sich schon unmögliches Unterfangen) und – äußerst folgenreich – die in den Schrifften auf den Titelblättern datierten Dramen wie „Die Juden. […] Verfertiget im Jahr 1749.“ zwar nach ihrem Erstdruck von 1754 zu edieren, aber chronologisch ins Jahr 1749 einzuordnen. Die Folge ist ein leider noch größeres Durcheinander als bei der Ausgabe Lachmann/Munckers, wie man an der schematischen Darstellung in Abbildung 9 erkennen kann. Vermutlich ist bereits deutlich geworden, dass, wenn nicht einmal die Schrifften als Werkzusammenhang von den bisherigen Editionen erkannt wurden, auch deren paratextueller „Begleitschutz“, wenn überhaupt, nur marginale editorische Aufmerksamkeit erfahren hat. Beides ist um so bedauerlicher, da die in den Schrifften enthaltenen höchst diversen Einzeltexte von den zeitgenössischen Lesern ausschließlich über und in ihrem Zusammenhang innerhalb des Gesamtwerks Schrifften rezipiert wurden. Die eingangs zitierte Äußerung Herders, der noch knapp 30 Jahre nach Erscheinen der Schrifften diese ins Zentrum des Lessing’schen Schaffens gesetzt hat, steht dabei im radikalen Widerspruch zur Nicht-Beachtung der Schrifften durch über 200 Jahre Forschung. Bei Lessings Schrifften handelt es sich um eine bewusst vom Autor gesetzte Einheit. Die Konstellation der in ihnen versammelten Einzeltexte verdient dabei ebenso große Aufmerksamkeit wie deren Verhältnis zu den sie rahmenden Vorreden, Titelblättern und anderen paratextuellen Elementen. An den Schrifften zeigt sich auf exemplarische Weise, inwiefern Editionen die Interpretation beeinflussen. Die Tatsache, dass die Existenz der Schrifften in beiden Editionen kaum zu finden ist und ein Werkzusammenhang wenn überhaupt nur mühsam rekonstruiert werden kann, hat offenbar direkt Auswirkungen auf die Forschung, die zu dem Thema – bis zur Entdeckung des Forschungsfelds durch Niefanger 2014 – faktisch nicht stattgefunden hat. Lessings Schrifften zu edieren und zu interpretieren stellt, meines Erachtens, ein echtes Desiderat der gegenwärtigen Lessing-Forschung dar.

Dirk Niefanger

Die Erzählungen Ein vernachlässigtes Feld der Lessing-Editorik

Mein kurzer Beitrag soll auf ein Defizit der (kritischen) Lessing-Editorik aufmerksam machen, das auch von der Lessing-Forschung bislang sträflich vernachlässigt wurde; gemeint sind die in der Regel wenig bekannten, aber durchaus lesenswerten Erzählungen Lessings. Wer an den Erzähler Lessing denkt, dem kommen natürlich seine Fabeln und seine Fabeltheorie in den Sinn, denn diese Meisterwerke ihrer Gattung wurden in den bislang erschienenen großen Editionen, den AuswahlAusgaben, den Einzelausgaben bei Reclam, in den Handbüchern, Biographien und Einführungen ausreichend bedacht, interpretiert und kommentiert. Neben den Fabeln hat Lessing zu Beginn der 1750er Jahre aber auch drei Prosaerzählungen übersetzt, überarbeitet bzw. eigenständig verfasst, die an unterschiedlichen Orten erschienen sind, zu Lebzeiten zum Teil nicht mehr veröffentlicht wurden und daher mehr oder minder aus dem Blick gerieten. Ähnliches gilt für die Verserzählungen, die Lessings frühe Schaffensphase prägte, denen er sich aber in den späten 1760er Jahren noch einmal annahm. Nicht selten werden die Verserzählungen – anders als es der erzählende Duktus und die Selbstzuschreibungen einiger Texte eindeutig nahe legen – als „Gedichte“ behandelt.1 Leitkriterium der Zuordnung scheint schlicht die Verwendung des Verses zu sein, so als ob es die Forschungen von Dieter Lamping und anderen nie geben hätte.2 Schwierig begründbar ist, wenn man so argumentiert, dass Lessings „dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen“3 – anders als seine (Vers-)Erzählungen – nicht unter die Gedichte fallen soll. Schließlich nennt Lessing seinen Nathan – anders als die ersten Verserzählungen – ausdrücklich „Gedicht“ und gestaltet ihn in ambitionierten Blankversen. Offenbar gelten Editionsgewohnheiten hier mehr als Gattungsreflexionen oder auktoriale Zuschreibungen. Übrigens geht man in der Regel mit den Fabeln und den Dramen anders um; hier fassen die Lessing-Ausgaben die Vers- und Prosafabeln sowie die Prosa- und Versdramen gewöhnlich in je gemeinsame Einheiten – Fabeln bzw. Dramen und Dramenentwürfe – zusammen.4 1

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Vgl. etwa Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Stuttgart 1987, S. 163–198, oder Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner et al. Frankfurt a.M. 1985–2003. Bd. 3, S. 799–843. Im Folgenden zitiert als ‚WuB‘ für ‚Werke und Briefe‘ mit Band- und Seitenzahl. Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 32000, und Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011. Gotthold Ephraim Lessing: WuB 9, S. 483. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Abhandlung über die Fabel. Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 1992, oder Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert u.a. München 1970–1979, Bd. 1.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-004

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Das erzählerische Werk Lessings wurde meines Wissens noch nie gemeinsam ediert oder monographisch behandelt. Für eine zukünftige Lessing-Ausgabe wäre dies aber eine interessante Option, die man am besten digital, neben anderen Ordnungsmöglichkeiten, aufrufen können sollte. Folgende Texte rechne ich – natürlich neben den Prosa- und Versfabeln – zu den Erzählungen; in Klammern ist der Erstdruck vermerkt: I Frühe Verserzählungen Der Wunsch zu sterben. Eine Erzählung (1747) Die kranke Pulcheria. Freie Übersetzung einer Erzählung aus dem Fontaine (1747) Der Eremit. Eine Erzehlung (1749) Morydan (1751) Das Cruzifix (1753) Das Geheimnis (1753) II Späte Verserzählungen Die Brille (1767) Nix Bodenstrohm / Der Schiffer (1767) Die Teilung (Nachlass, 1782) Der über uns (Nachlass, 1782) III Prosaerzählungen Die väterliche Liebe. Geschichte des Jacob Tomms (Juli 1751) Die Liebe macht edel. Eine Geschichte (Juli 1751) [Lucile und Marianne] Eine Geschichte (August 1751) IV Bukolische Erzählungen Damon und Theodor (1753) Der Schäferstab (Nachlass, 1850) V Versfabeln VI Prosafabeln Die schlechte Editionslage der Erzählungen kann man exemplarisch anhand der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zeigen. Die von Wilfried Barner verantworteten Werke und Briefe orientieren sich an den Schaffensphasen Lessings, die über Erstausgaben und (vermutete) Entstehungszeiten rekonstruiert werden. Neben diesem Ordnungsprinzip gibt es innerhalb der einzelnen Bände eine gewisse Gruppierung nach Gattungen und Veröffentlichungsmedien. Diese drei zum Teil konkurrierenden Ordnungsprinzipien und eine gewisse Nachlässigkeit oder Unge-

Die Erzählungen

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nauigkeit in Bezug auf die Erzählungen, die nicht zuletzt mit ihrer Vernachlässigung in der Forschung und den älteren Werkausgaben zusammenhängt, führt zu einer inkonsequenten und zum Teil anachronistischen Präsentation. Hier seien nur einige Beispiele genannt: Die späten Verserzählungen – drei von ihnen liegen in einer Handschrift vor5  – entstanden zu Beginn der 1760er Jahre. Zwei von ihnen wurden 1767 in Journalen und später in den Vermischten Schriften (1772) unter der Rubrik „Fabeln und Erzählungen“ veröffentlicht.6 Die anderen beiden späten Verserzählungen veröffentlicht Karl Lessing 1782 aus dem Nachlass. Die Entstehungszeit und -umstände erläutert ein Brief Lessings an Karl Wilhelm Ramler vom 20. August 1764, in dem er auch über die Fertigstellung der Minna von Barnhelm berichtet: Vorher aber sagen Sie mir noch ihr Urteil, liebster Freund, von beiliegenden Reimereien. Kaum sollte ich es zwar wagen, Ihnen solche Nichtswürdigkeiten vorzulegen; und ich kann es selbst kaum begreifen, wie ich seit Jahr und Tag wieder in diesen Geschmack gekommen bin. Wenn sie nicht ganz verwerflich sind, und es sich der Mühe verlohnt, daß sie ihre Feile ansetzen, so tun Sie es doch! Nicht sowohl, damit ich öffentlich Gebrauch davon machen kann; als vielmehr, damit mir meine Nachlässigkeiten nur recht deutlich werden, und ich von selbst erraten kann, welchem Kunstrichter ich das übrige Zeug dieser Art zu reinigen und zu läutern geben muß.7

Die Briefstelle macht deutlich, dass Lessing mit den späten Verserzählungen an seine früheren Versuche anknüpft, er vor allem die Form der Texte verbessern möchte, er weitere Produktionen in diesem Genre plant und an eine Veröffentlichung seiner „Nichtswürdigkeiten“ denkt. Mit dieser Briefstelle kann man eine gemeinsame Edition der Verserzählungen also durchaus rechtfertigen. In den Werken und Briefen erscheinen alle vier Verserzählungen der 1760er Jahre in Band 3, der eigentlich der Schaffensperiode 1754–1757 (!) gewidmet ist. Hier gibt es eine anachronistisch angelegte Rubrik „Nachlese zu Lessings Gedichten“,8 in der die vier Erzählungen zusammen mit zwei Odenentwürfen aus Briefen ganz am Ende zu finden sind.9 Man hatte die späten Verserzählungen bei den an sich zuständigen Bänden 5/1 und 5/2 offenbar schlicht vergessen. Die bukolische Liebeserzählung Der Schäferstab ist zu Lessings Lebzeiten nie veröffentlicht worden. Wir wissen nicht, wann sie entstanden ist; aufgrund der Handschrift wird gemutmaßt, der Text könne aus der späten Berliner oder der Breslauer Zeit (1755-65) stammen.10 Allerdings wird er erst 1850 von Theodor Wilhelm Danzel veröffentlicht.11 Die Werke und Briefe bringen in Band 4 Lessings Fabeln; da die Ausgabe aber in keinem Band die Erzählungen vorsieht, wird Der Schäferstab 5

Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann, durchgesehen und vermehrt von Franz Muncker. Stuttgart/Leipzig 1886–1924. Bd. 22, 1, S. 22f. Im Folgenden zitiert als ‚LM‘ für ‚Lachmann/Muncker‘ mit Band- und Seitenzahl. 6 Vgl. Lessing: LM 1, S. 155f. und 177–179. 7 Lessing: WuB 11/1, S. 417f. 8 Lessing: WuB 3, S. 799–846. 9 Vgl. Lessing: WuB 3, S. 838–843. 10 Vgl. Lessing: LM 1, S. 232. 11 Vgl. Th[eodor] W[ilhelm] Danzel: Gotthold Ephraim Lessing, sein Leben und seine Werke. Bd. 1. Leipzig 1850, S. 504–505.

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dort in Anlehnung an Lachmann/Muncker unter der Rubrik „Fabeln, die erst nach Lessings Tode bekannt wurden.“ veröffentlicht.12 Die recht streitbare Zuordnung zur Gattung Fabel wird an keiner Stelle begründet. Eine unübersehbare Ähnlichkeit hat Der Schäferstab mit der gleichfalls meist im Fabelumfeld veröffentlichten kurzen Prosaerzählung Damon und Theodor, die von Lessing indes nur ein einziges Mal, im ersten Teil der Schrifften veröffentlicht wurde. Daher findet sie sich in Band 2 der Werke und Briefe.13 Beide Erzählungen changieren thematisch zwischen Liebe und Freundschaft, erwägen andeutungsweise homoerotische Neigungen und nutzen Motive, die auf männliche Sexualität verweisen (Schäferstab, Schwert). Im Kontext der beiden Schäfererzählungen könnte man auch das Dramenfragment Die beiderseitige Überredung diskutieren, ein unvollendetes Schäferspiel, das nicht nur wie Der Schäferstab in den Breslauer Handschriften zu finden ist, sondern auch thematisch mit der Erzählung verwandt ist. Es ist, da der Herausgeber von einer Entstehungszeit um 1748 ausgeht, in Band 1 der Werke und Briefe zu finden.14 Begründet wird die Datierung mit einem vagen Hinweis auf Muncker, der eine Nähe zu Lessings Vorbild Gellert in der Leipziger Zeit sieht.15 Die drei bukolischen Texte Lessings verteilen sich also auf drei unterschiedliche Bände der Werkausgabe, so dass ein Zusammenhang nur schwer eruierbar ist. Freilich konkurrieren hier unterschiedliche Einordnungsmöglichkeiten wie die mutmaßliche Entstehungszeit und die Gattung. Die sechs frühen Verserzählungen verteilen sich auf die ersten beiden Bände der Werke und Briefe, allerdings im Zusammenhang ganz unterschiedlicher Rubriken, die sich manchmal aus einer vermeintlichen Gattung ableiten – „Verstreut erschienene Gedichte“16 –, sich mal aus dem Veröffentlichungsmedium – dem Periodikum Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts17 oder der Berlinischen Privilegierten Zeitung18 – ergeben oder sich auch aus den von Lessing zusammengestellten Schrifften herleiten.19 Die drei Prosaerzählungen Die väterliche Liebe, Die Geschichte des Jacob Tomms, Die Liebe macht edel. Eine Geschichte und [Lucile und Marianne] Eine Geschichte werden zwar im chronologisch richtigen Band der Werke und Briefe veröffentlicht, doch macht es die Rubrik, der sie in dem Band zugeordnet werden, praktisch unmöglich sie auf Anhieb zu finden: „Rezensionen, Aufsätze und Gedichte des Jahres 1751“ aus unterschiedlichen Periodika.20 Die Gattungsbezeichnungen ‚Geschichten‘ oder ‚Erzählungen‘ werden in der Aufzählung nicht genutzt. Eigenständig tauchen die drei Erzählungen (im vorgeschalteten Inhalt) nicht auf und zu den genannten Textsorten bzw. Gattungen gehören sie eigentlich nicht. Im detaillierten Inhalt wird 12 13

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Lessing: WuB 4, S. 342, die Erzählung findet sich auf den Seiten 342–343. Vgl. Lessing: WuB 2, S. 631. Vgl. Lessing: WuB 1, S. 248–250. Vgl. Lessing: WuB 1, S. 1084. Lessing: WuB 1, S. 36. Lessing: WuB 1, S. 49. Vgl. Lessing: WuB 2, S. 121. Vgl. Lessing: WuB 2, S. 633. Lessing: WuB 2, S. 9

Die Erzählungen

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der erstgenannte Text immerhin „Erzählung“ genannt,21 obwohl Lessing den Text in seiner Einleitung „Geschichte“ nennt,22 während eine solch hilfreiche Zuordnung den beiden anderen Narrationen verwehrt wird – vermutlich, weil sie schon im Titel die Gattungsangabe „Geschichte“ tragen.23 Da die erste Prosaerzählung, Die väterliche Liebe, unter variiertem Titel in Lessings Schrifften erscheint, die anderen aber für diese, die ‚Marke Lessing‘ popularisierende Edition nicht vorgesehen waren, seien hier einige Erläuterung zur Konzeption der frühzeitigen Werkausgabe und zum zugrundeliegenden Autorbewusstsein eingeschoben. Mit den Schrifften von 1753 bis 1755 – könnte man konstatieren – fängt im deutschsprachigen Raum ein spezifisches Autorbewusstsein an. Lessing wollte mit seiner frühen Werkausgabe, um seinen Brief an Johann Adolf Schlegel vom 23. Januar 1753 zu zitieren, vom „Zwerg“ zum „Riesen“ werden, von einem „Mensch der sich der Welt erst zeigen will“ zu einem „Schriftsteller, der sich ihr schon zum öfteren mit Ruhm gezeigt hat“.24 Mit der Edition der Schrifften „wage“ er es nun, sagt Lessing in seiner Vorrede, „vor den Augen der ernsthaften Welt meinen Namen zu geben“.25 Auf diesen selbstbewussten Hinweis bezieht sich noch Herder in seinem Nachruf: Lessings „eigentlicher Name“ beginne „mit den sogenannten kleinen Schrifften“, die „seit 1753. in Berlin erschienen“ seien.26 Insofern zeigen seine Vorreden und die recht eitlen Selbstrezensionen seiner Schrifften tatsächlich so etwas wie ein modernes Autorbewusstsein.27 Hier taucht erstmals aber auch der schöne Ausdruck „Autorstreiche“ auf,28 der deutlich macht, dass nicht alles, was der Autor sagt, auch der Autor meint. Tatsache ist aber, dass er sich in der frühzeitigen Werkausgabe erstmals als Autor bislang anonym veröffentlichter Texte zu erkennen gibt; hier verfolgt er aber auch eine spezifische Werkpolitik,29 bei der er eigene Texte ausgrenzt, andere ambitioniert verändert oder neu schreibt. Dass nicht immer Qualitätsmerkmale für den Abdruck in den Schrifften ausschlaggebend gewesen seien, gibt Lessing in der Vorrede gerne zu: ich bekenne es, daß ich gegen die kleinen Denkmäler meiner Arbeit nicht ganz ohne Zärtlichkeit bin; und daß sich diese Zärtlichkeit doppelt fühlen läßt, wenn ich sie namenlos ein Raub des ersten des besten werden sehe.30

Die Vorrede nennt drei recht unterschiedliche Gründe für eine Aufnahme in die Schrifften: Qualität, ein dokumentarisches Interesse und die Autorisierung anonym veröffentlichter Texte. Trotz der beiden letzten Punkte publiziert Lessing aber nicht 21

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Lessing: WuB 2, S. 1356. Lessing: WuB 2, S. 147. Lessing: WuB 2, S. 1357 und 1358. Lessing: WuB 11/1, S. 48. Lessing: WuB 2, S. 602. [Johann Gottfried Herder]: G.E. Leßing. Gebohren 1729, gestorben 1781. In: Gotthold Ephraim Lessing: WuB 2. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M. 1998, S. 1217. Vgl. Lessing: WuB 2, S. 601–606 und WuB 3, S. 153–157. Lessing: WuB 2, S. 601. Vgl. Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2007. Lessing: WuB 2, S. 602.

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Dirk Niefanger

alle seine Texte. Die einzelnen Bände sind regelrecht komponiert; ausgeschieden wird auch, was nicht in den jeweiligen Zuschnitt der Bände passt: Das betrifft die Reihenfolge und Auswahl der Gedichte, die Briefe, die Rettungen und die einzelnen Dramenbände.31 Gleichzeitig sehen wir in den Schrifften und ihrer spezifischen Gestaltung deutlich Verlagsinteressen und eine Marktgängigkeit berücksichtigt, die sich auch auf die Auswahl und Veränderung der Texte bezieht. Wir sehen an den Schrifften, dass Autorschaft sehr viel mehr mit der Positionierung im kulturellen Feld als mit der einsamen Selbstverwirklichung eines Genies zu tun hat. Die Werkausgabe zeigt einen Verlagsautor in progress, der gerne ökonomischen und distributionslogischen Argumenten folgt. Man kann dies implizit aus seiner ersten Vorrede schließen: Die väterliche Liebe [zu seinen Dichtungen, DN] ward auf einmal bei mir rege, und ich wünschte meine Geburten beisammen zu sehen [die genannte dokumentarische Intention, DN]. Ich weiß nicht[,] was es für ein Geschicke ist, daß solche Wünsche immer am ersten erfüllt werden; das aber weiß ich, daß wir oft durch die Erfüllung unsrer Wünsche gestraft werden. Ob mir es auch so gehen soll, wird die Aufnahme dieser zwei Teile entscheiden, von welchen ich dem Publico ganz im Vertrauen eröffne, daß sie nichts als ein Paar verwegne Kundschafter sind.32

Wenn es gut läuft, folgen weitere Bände. Vom „kleinen“ Beifall33 für die erste Lieferung schreibt prompt die zweite Vorrede zum Doppelband 3/4. Offenbar setzt er die zweite Lieferung der Schrifften unter den gleichen Erfolgsdruck wie den ersten. „Ich nennte es einen zweiten Schritt; aber ich irrte mich: es ist eben sowohl ein erster als jener.“34 Konsequent spricht Lessing dann von „zwei Proben“ seiner Dramen, die, wenn sie gut aufgenommen würden, durch weitere ergänzt werden sollen.35 Er berichtet aber auch von Schwierigkeiten bei früheren Publikationsversuchen seiner Komödien, die ihn offenbar zur Vorsicht gemahnen.36 Wie ediert man unter diesen Voraussetzungen die Schrifften, die einerseits komponiert sind, andererseits aber nicht nur auf Qualität setzen, die sammeln, aber manches ausschließen, auch manches, was wir heute im nämlichen Kontext und mit vergleichbarer Qualität sehen? Kann man die Schrifften überhaupt als ästhetisch gedachte Einheit veröffentlichen? Und – was mich in diesem Kontext besonders interessiert – wie ediert man im Zusammenhang der Schrifften die vermutlich etwa

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Vgl. Dirk Niefanger: Lessings Schrifften (1753–55). Wolfenbüttel 2015; dazu auch: Dirk Niefanger: Lessings frühzeitige Werkausgabe. Zur Konzeption und Funktion der Schriften (1753-55). In: Jan Standke u.a. (Hrsg.): Gebundene Zeit. Zeitlichkeit in Literatur, Philologie und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Wolfgang Adam. Heidelberg 2014, S. 345–355; Dirk Niefanger: Topographie der Antike in Lessings Berliner „Schrifften“ (1753–55). In: Annika Hildebrandt, Charlotte Kurbjuhn und Steffen Martus (Hrsg.). Topographie der Antike in der literarischen Aufklärung. Bern/Berlin u.a. 2016, S. 269–282, sowie Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005, S. 313–343 (zum Henzi-Fragment innerhalb der Briefe). Lessing: WuB 2, S. 603. Lessing: WuB 3, S. 153. Lessing: WuB 3, S. 153. Lessing: WuB 3, S. 157. Vgl. Lessing: WuB 3, S. 155.

Die Erzählungen

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zeitgleich entstehenden Prosaerzählungen? Ich kann hier meine Ideen zu dieser komplexen Editionsfrage nur sehr exemplarisch zeigen.37 Erzählungen finden sich, wenn man allein die Gattungsbezeichnungen der Ausgabe durchgeht in den Schrifften nicht. Gleichwohl verstecken sich zwei der genannten Beispiele in der frühzeitigen Werkausgabe. Es handelt sich um Damon und Theodor im ersten Teil der Schrifften (1753).38 Sie wurde – wie die Prosafabeln Der Riese und Der Falke – nicht in Lessings Drei Bücher Fabeln (1759) aufgenommen und auch später von ihm nicht mehr veröffentlicht. Wir haben es hier also mit einem editorischen Unikat zu tun, das eigentlich nicht zum unmittelbaren Kontext passt, thematisch aber zum Beispiel an die Rettung des Horaz anschließt.39 Gleim hat gegenüber Utz vermerkt, Lessing gehe zu sehr dem „Witz nach“ und falle in seinen Schrifften „oft ins Niedrige, Pöbelhafte“.40 Möglicherweise hat er damit auch die Thematisierung von Homosexualität in beiden, der Form nach sehr unterschied­ lichen Prosatexten, gemeint. Jürgen Stenzel nennt die kleine Erzählung euphemistisch eine „sehr empfindsame Prosa“,41 deren Differenz zu den restlichen, eher auf Esprit setzenden Fabeln er dadurch jedenfalls hervorhebt. Empfindsam wirkt zweifellos die kleine Erzählung Der Triumph der väterlichen Liebe, die Lessing innerhalb der Schrifften als 13. Brief in Band 2 veröffentlicht, im gleichen Jahr also, aber in einem anderen Band. Die kleine Erzählung wurde zunächst 1751 in der Berlinischen Privilegierten Zeitung unter dem Titel Die väterliche Liebe veröffentlicht. Die Variante der Schrifften erscheint als leicht veränderter Zweitdruck. Hier geht es nicht um Homosexualität, sondern um die Familienliebe, die allerdings den gleichen Ausweg wählt wie die freundschaftliche Liebe zweier Männer. Auch der Vater plant einen Freitod aus Liebe – wie in Damon und Theodor – als ernsthafte Möglichkeit ein, wird aber von seiner Frau und einer Nachbarin aus Liebe gerettet. Als bürgerliche Erzählung könnte man den Text als Gattungspendant zu Miß Sara Sampson, dem Schlussstein der Schrifften, lesen. Beide Erzählungen stehen in einem Verweiszusammenhang innerhalb der Werkausgabe, den man über Kommentare in einer (digitalen) Werkedition leicht sichtbar machen könnte. Nicht abgedruckt hat Lessing die beiden anderen oben genannten Prosaerzählungen, die ebenfalls im Jahr 1751 im Neuesten aus dem Reiche des Witzes erschienen sind: Die Liebe macht edel. Eine Geschichte und [Lucile und Marianne] Eine Geschichte. Beide Erzählungen sind weder in den Schrifften noch sonst wo zu Lebzeiten Lessings wiederveröffentlicht worden – auch nicht im digitalen Wolfenbütteler Portal Lessings Übersetzungen.42 Als sicher gilt seit Josef Seemüllers Aufsatz von 1880 eine angeblich anonym erschienene französische Anekdote als 37 38 39

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Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die erhellende Studie Werk, Beiwerk und Edition von Lessings Schrifften (1753–1755) von Janina Reibold in diesem Band. Lessing: WuB 2, S. 631. Hierzu vgl. Niefanger: Topographie der Antike in Lessings Berliner „Schrifften“ (Anm. 31). Lessing: WuB 2, S. 1241. Lessing: WuB 2, S. 1180. Vgl. Lessing-Akademie Wolfenbüttel (Hrsg.): Lessings Übersetzungen. Wolfenbüttel 2011, (06.03.2020).

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Vorlage zu Die Liebe macht edel.43 Nur ist diese 1753, also zwei Jahre nach Lessings Erzählung erschienen und passt auch „an fünf stellen“ nicht recht,44 so dass man bis heute von einer noch älteren Vorlage ausgeht, die bislang nicht bekannt war. Einen Kulturtransfer von Deutschland nach Frankreich halten die Kommentare für wenig wahrscheinlich. Wenn es eine Vorlage für Lessing gab, so heißt es, dann wäre sie zwischen 1745 und 1751 erschienen, denn in der Erzählung wird die Schlacht von Fontenoy im heutigen Belgien (11. Mai 1745) erwähnt. Die französische Armee stand damals unter dem Kommando des Marschalls Moritz Graf von Sachsen; das könnte Lessings Interesse an der Geschichte zusätzlich erklären. Ich konnte jetzt die Vorlage identifizieren; sie stammt von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Die Autorin wurde u.a. durch ihr Magazin für Kinder in Deutschland bekannt, das vom Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe übersetzt wurde.45 Er war Herausgeber der Belustigungen des Verstandes und des Witzes (1741–1745). Die zweite Erzählung um die Liebes- und Heiratsoptionen der beiden Schwestern Lucile und Marianne mit dem schlichten Titel Eine Geschichte geht auf die Histoire toute véritable in den posthum erschienenen Œuvres de Monsieur Riviere Du Frény zurück.46 Autor ist der Journalist sowie Novellen- und Komödiendichter Charles Rivière Dufresny (1657–1724), eine Größe der Pariser Salonkultur. Die Identifikation der Vorlage gelang Paul Albrecht; Erich Schmidt hat den Fund 1901 veröffentlicht.47 Innerhalb der Geschichte gibt es selbstreflexive Hinweise auf die Wirkung von literarischen Liebesgeschichten auf ein junges Lesepublikum. Von Lessings souveränem Umgang mit seiner Vorlage und dem Genre zeugt sein abweichender Schluss; er unterlässt die Übertragung des letzten Absatzes und fügt stattdessen den lapidaren Satz an: „Der Schluß ist wie der Schluß von allen Romanen.“48 Das mag in Bezug auf das erwartbare Liebes-Happy-Ending richtig sein, in Bezug auf die Standesherkunft der beiden Liebenden  – ein (reicher) Kaufmann heiratet eine (verarmte) Adelige – ist der Schluss nicht zwingend und wird in der gesamten Erzählung vorher durch andere Optionen in Frage gestellt. Dass die Zweitgeborene vor ihrer älteren Schwester heiratet, wirkt auch nicht unbedingt notwendig. Lessing interessiert das erzählte Geschehen in der zweiten Geschichte, Die Liebe macht edel, vor allem, weil hier wie bei der Geschichte um die beiden Schwestern eine Liebe zwischen Personen unterschiedlichen Standes durchgespielt wird, die am Ende – wie bei der Minna – nur durch die Verabschiedung aus dem Militär realisiert werden kann. Der Protagonist hatte im Kriegsdienst Zuflucht gesucht, um „durch Vergießung“ seines „Bluts für das Vaterland“49 seinem Liebesproblem

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Vgl. Josef Seemüller: Zu Lessing. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 24 NF 12 (1880), S. 42–45. Ebd., S. 43. Jeanne-Marie Leprince de Beaumont: Magasin des enfans, ou Dialogues d’une sage gouvernante avec ses élèves. London 1756 (deutsch vom Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe). Charles Rivière Dufresny: Histoire toute veritable. In: Œuvres de Monsieur Riviere Du Frény. Bd. 6. Paris 1731, S. 33–58. Vgl. Erich Schmidt: Quellen und Parallelen zu Lessing. In: Euphorion 8 (1901), S. 610–625. Lessing: WuB 2, S. 198. Lessing: WuB 2, S. 162.

Die Erzählungen

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beizukommen. Wie bei Die väterliche Liebe, der „Geschichte des Jacob Tomms“,50 erscheint der Freitod also als relevante Option. Man sieht alle drei Prosaerzählungen sind motivisch miteinander verwoben; alle drei Geschichten handeln von Liebe und Standesgrenzen, von scheinbar ausweglosen Situationen und überraschenden Lösungen. Während in einem Fall die Liebe eines einfachen Ehepaars erzählt wird, dem ein Adeliger aus Nächstenliebe – oder Mitleid – hilft, behandeln die beiden anderen Geschichten die komplexe und durch Eifersucht und Argwohn gestörte, auf eine Ehe zielende Liebe einer Adeligen (oder einer Person, die sich adelig fühlt) zu einer niedrigeren und daher unangemessenen Standesperson. Wie in den Schrifften – besonders bei den anakreontischen Dichtungen, Fabeln und Epigrammen – zeigt sich auch bei den drei Prosaerzählungen ein spielerischer oder unbedarfter Umgang mit seinen Vorlagen und Referenzen, der absichtsvoll die Grenzen zwischen Nachdichtung, Nachahmung (imitatio auctoris) und Übersetzung (bei Verschweigen der Urheberschaft) verwischt.51 Sein ausgesprochen laxes Verhältnis zu seinen Vorlagen und sein minder stark ausgeprägtes Originalitätsbewusstsein haben Lessing zu Beginn der 1750er Jahre eine ungewöhnlich scharfe Kritik eines Anonymus eingebracht, der immerhin damit droht, um den „Schatten Martials […] zu versöhnen“, die Schrifften alljährlich zu verbrennen.52 Man merkt, wir bewegen uns in einer Zeit unterschiedlicher Autorschaftskonzepte. Die fehlenden Angaben zu seinen Vorlagen zeigen bei Lessing – ungeachtet seiner Bemühungen als Autor zu gelten – jedenfalls ein anderes Verständnis von Urheberschaft, als wir es heute pflegen.53 Noch einer der letzten Texte von Lessing überhaupt, den die Werke und Briefe im Band 1760 bis 1766 versteckt,54 die Vorrede des Übersetzers zu dieser zweiten Ausgabe des Diderot von 1781, thematisiert die Urheberschaft bei Übersetzungen. Hier konstatiert Lessing, dass er nur deshalb dem Diderot seinen „Namen“ gebe, weil man ihn dazu ersucht habe, und er bezeichnet sich – ungewöhnlich für unsere heutigen Ohren – ausdrücklich als sein „Verfasser“.55 Dass er in dieser Vorrede vielfache „Mängel“ einräumt,56 zeigt einmal mehr, wie unfertig und korrekturbedürftig Lessing bis buchstäblich zum Ende seines Lebens seine Werke ansah. Was kann unter dieser Voraussetzung ein Autorwille gelten? Doch allerhöchstens den Zustand eines Werkes zu einem bestimmten Zeitpunkt, der – zumindest bei Lessing – oft in kürzester Zeit im Grunde überholt ist. Wie könnte man nun unter solchen Voraussetzungen die Erzählungen der frühen 1750er Jahre sinnvoll edieren? Einerseits hätte man die drei thematisch verwandten Erzählungen gerne in einem Kontext veröffentlich; anderseits stehen sie in ganz unterschiedlichen Werkzusammenhängen (Trilogie [?], Schrifften, Erzählungen und 50 51

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Lessing: WuB 2, S. 147. Vgl. Niefanger: Lessings Schrifften (Anm. 31), S. 49f. Lessing: WuB 2, S. 1213. Vgl. Martha Woodmansee: The Construction of Authorship: Textual Appropriation in Law and Literature. Durham/London 1994, besonders S. 15–28, und Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn 1981. Vgl. Lessing: WuB 5/1, S. 15–17. Lessing: WuB 5/1, S. 15. Lessing: WuB 5/1, S. 16.

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Fabeln, Periodika bzw. Journale). Hinzu kommt, dass Die väterliche Liebe in zwei Versionen mit unterschiedlichen Veröffentlichungskontexten vorliegt. Lessings Liebestrilogie Die väterliche Liebe. Geschichte des Jacob Tomms (Berlinische Privilegierte Zeitung, Juli 1751) [WuB 2, S. 147–150]

Der Triumph der väterlichen Liebe (Briefe, in: Schrifften, Theil 2, 1753)

Die Liebe macht edel. Eine Geschichte (Neuestes aus dem Reiche des Witzes, Juli 1751) [WuB 2, S. 157–166] [Lucile und Marianne] Eine Geschichte (Neuestes aus dem Reiche des Witzes, August 1751) [WuB 2, S. 184–198]

Bei einer Buchedition müsste man sich – allein bei diesen drei Erzählungen – entscheiden, ob man (1) einer Gattungsordnung, (2) der Unterscheidung nach eigenen und übersetzten Texten, (3) einer zeitlichen Ordnung (wie im Prinzip die Barner-Ausgabe) oder (4) einer Ordnung folgt, die mediale Kontexte (Schrifften, Zeitschriften/Zeitungen) bedenkt. Man könnte schließlich (5) auch berücksichtigen, welche Version der Vatererzählung wirkungsmächtiger war. Hinzu kämen noch die Entscheidung ob man (1) Lessings pragmatischer Gattungszuordnung folgen will oder (2) nicht. Damit ergibt sich letztlich natürlich auch keine Präferenz für (1) den Erstdruck oder (2) den Druck letzter Hand. Die beiden ganz unterschied­ lichen Veröffentlichungskontexte von Die väterliche Liebe zeigen nicht zuletzt, wie unsinnig hier eine Frage nach dem Autorwillen ist. Lessing hat selbstverständlich beide Veröffentlichungen – in dem Printmedium und in den Schrifften – ‚gewollt‘. Analoges gilt für andere Mehrfachveröffentlichungen etwa der späten Versdramen, die in unterschiedlichen Journalen und Werkausgaben realisiert wurden. Letztlich gilt dies mutatis mutandis für alle Werke Lessings, die an unterschied­ lichen Orten und in unterschiedlichen Kontexten publiziert wurden. Daher erscheint, ungeachtet grundsätzlicher methodischer Bedenken gegen die Kategorie des Autorwillens, diese für eine Lessing-Gesamtausgabe tatsächlich wenig zielführend. All die Veröffentlichungskontexte wären bei einer digitalen Ausgabe aber, die alle zeitgenössischen, zumindest aber alle autorisierten Drucke berücksichtigen könnte, anwählbar, so dass der Nutzer selbst entscheiden könnte, welches Ordnungssystem er präferiert. Ich würde daher versuchen, alle Lessingdrucke zu Lebzeiten digital zu präsentieren, dafür aber Teile des Apparats (etwa den Vergleich von Fassungen) und vielleicht auch die Kommentare zu reduzieren. Denn diese sind in den vorhandenen Printausgaben in der Regel sehr brauchbar.

Michael Multhammer

Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

Im Zentrum dieses Beitrages stehen einige grundsätzliche Problemkonstellationen, die sich ergeben, wenn man darüber nachdenkt, den sogenannten Briefwechsel über das Trauerspiel im Rahmen einer Lessing-Werkausgabe neu zu edieren.1 Wohlgemerkt, es geht hier tatsächlich in erster Linie einmal um Fallstricke, Ungereimtheiten und editorische Dilemmata, der Weg hin zu einer Lösung selbiger wird nur marginal in den Blick rücken können. Zu viele Faktoren, die eine neue, digitale Werkausgabe Lessings rahmen würden, gelte es vorab zu kennen, um präzise über einen eleganten und der Sache angemessenen Umgang mit diesem Textkorpus und seiner Wirkungsgeschichte zu entscheiden. Denn bei diesem Text handelt es sich editionsphilologisch um vielfach vermintes Terrain, wenngleich die Überlieferungssituation an sich überschaubar ist. Es erscheint sinnvoll, diese Annäherung in zwei getrennten Schritten vorzunehmen. Zunächst sollen einige Punkte zum poetologischen Stellenwert und der damit verbundenen Aufmerksamkeit für den Text im Fach, der bisherigen Editionslage sowie zu Textgestalt und den medialen Besonderheiten angesprochen werden. In einem zweiten Schritt wird versucht, einige Probleme, die sich aus der besonderen Textgestalt ergeben, überhaupt erst einmal als solche zu identifizieren. Wie man diese dann präzise zu lösen hätte, wird gar mehr mein Thema sein. Stattdessen endet dieser Beitrag mit einem Plädoyer, einen neuen Blick auf Lessing zu wagen, indem man die bisher in der Forschung als ‚randständig‘ wahrgenommenen Bereiche seines Werkes deutlicher in den Fokus rückt, was sich auch in einer digitalen Edition abbilden sollte.

1. Autopsie Der erst im frühen 20. Jahrhundert von Robert Petsch so genannte Briefwechsel über das Trauerspiel der drei Freunde Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing2 zählt zweifelsohne zu den gewichtigsten dramentheore1

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Der Vortragscharakter dieses Beitrags wurde absichtlich weitestgehend beibehalten, da es um die Exploration von Fragen und Fragestellungen geht, nicht um deren abgesicherte Beantwortung. Deshalb scheint mir der subjektive Einschlag dieses Beitrages wichtig, um nicht den Eindruck vorschneller Objektivierungen zu provozieren. Der Titel geht zurück auf eine Auswahledition der Briefe, die Robert Petsch verantwortet hat und die titelgebend wurde: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohn herausgegeben und erläutert von Prof. Dr. Robert Petsch. Leipzig 1910.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-005

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Michael Multhammer

tischen Einlassungen des 18. Jahrhunderts und daher – wenig überraschend – auch zu den umfangreich erforschten Diskurskonstellationen der Zeit. Es ist diejenige „Gattungskontroverse, die nach Rang und Spontanität schwerlich ein Pendant in der deutschen Literaturgeschichte hat“,3 wie der Kommentar in der Frankfurter Ausgabe ausweist. Der Briefwechsel, der sich mit einigem Vorlauf über zirka anderthalb Jahre, vom Oktober 1755 bis hinein in den Mai 1757 erstreckt, ist zunächst einmal nicht das herausragende poetologische Konzept als Ergebnis einer Kooperation von drei dichtungs- und philosophieaffinen jungen Männern, sondern schlicht private Korrespondenz, die unter vielem anderen ein Thema über einen längeren Zeitraum hinweg diskutiert. Es sind vorderhand freundschaftliche Briefe, die aktuelle persönliche Belange ebenso berühren wie Fragen der Philosophie und Literatur, insofern sie einen gemeinsamen Interessensgegenstand der drei bilden. Dieser Umstand geht ob des gedanklichen und intellektuellen Gewichts, das die Auseinandersetzung nach und nach annimmt, leicht in Vergessenheit – und doch ist er in editionsphilologischer Sicht wie ich meine zentral. Denn der Großteil der Forschung hat sich daher auch auf die möglichen ideengeschichtlichen Entwicklungslinien kapriziert, ohne freilich hier zu endgültigen und eindeutigen Antworten zu kommen.4 Zum Verständnis der unterschiedlichen Konzeptionen, allen voran zu den Differenzen zwischen Moses Mendelssohn und Lessing, hat das enorm viel Erhellendes beigetragen. Weniger thematisch wurde seit jeher die Form und die mediale Verfasstheit des Diskurses, der meiner Ansicht nach eminent wichtig für die Gesprächsführung und auch das Verständnis der zur Sprache kommenden Positionen ist. Ich würde sogar so weit gehen, dass es sich um gar kein wirkliches Gespräch im Sinne eines Dialogs handelt, sondern – wie so oft bei Lessing – um einen Monolog mit Zuhörern, wenn Sie mir diese Anlehnung an Blumenberg gestatten.5 Fragen der epistolaren Performanz werden indes in den bisherigen Editionen weitestgehend ausgeblendet und schlimmer noch – unkenntlich gemacht. Die Lachmann-Muncker’sche Ausgabe druckt einen separaten Briefwechsel über das Trauerspiel nicht ab, die einzelnen Briefe finden sich im Kontext in den Bänden 17 (Briefe von Lessing) sowie Band 19 (Briefe von Nicolai und Mendelssohn) – eine engere Verbindung wird nicht eigens ausgestellt oder thematisiert.6 Petersen und Olshausen hatten hingegen ganz auf den Abdruck der Briefe Nicolais und Men-

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Kommentar in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985–2003, hier Bd. 3, S. 1377. Ich verzichte hier auf den Einzelnachweis und verweise stattdessen auf den hervorragenden Artikel von Monika Fick im Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4. Aufl. Stuttgart 2016, S. 148–159. Dort findet sich (S. 159) die neueste Literatur zum Thema verzeichnet, die das anhaltende Interesse der Forschung an diesem Briefwechsel dokumentiert. Auffällig ist, dass beinahe alle Beiträge den Briefwechsel in seinem Werkcharakter ernst nehmen. Vgl. zu diesem Komplex ausführlicher Michael Multhammer: Trialog? Dialog? Monolog? Zu Lessings Rolle im sogenannten Briefwechsel über das Trauerspiel. In: Chiara Conterno (Hrsg.): Briefe als Laboratorium der Literatur im deutsch-jüdischen Kontext. Göttingen 2021, S. 15–30. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl., besorgt durch Franz Muncker, Bd. 1–23, Stuttgart, ab Bd. 12: Leipzig; ab Bd. 22: Berlin/Leipzig, 1886–1924, Nachdrucke. Bd. 1–25, Berlin 1968 und Berlin/New York 1979.

Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

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delssohns verzichtet – auch hier kommt es nicht zu einem eigenen ‚Werk‘.7 Ebenso verfährt die Rilla-Ausgabe, die Briefe Lessings finden sich ohne entsprechende Antworten in Band 9.8 Dies ändert sich nun in der ersten umfänglichen westdeutschen Lessing-Werkausgabe der Nachkriegszeit. In der Göpfert-Ausgabe werden die Briefe in Gänze und im Zusammenhang abgedruckt und dabei im Rahmen der ‚Dramaturgische[n] Schriften‘ präsentiert.9 Allerdings zeigt sich schon hier, dass es gar nicht ausgemacht ist, welche Briefe überhaupt zum Korpus gerechnet werden sollen – dazu gleich mehr. Die Frankfurter Ausgabe zieht mehr Briefe heran, allerdings zu dem Preis, dass diese nur in Auszügen abgedruckt werden. Dazu heißt es im Kommentar, sich auf ökonomische Gründe zurückziehend: Leider verbot es der Platzmangel, die einschlägigen Briefe, die neben epistolarischem Rahmen- und Rankenwerk auch andere Mitteilungen enthalten, zur Gänze abzudrucken und damit das unversehrte Schriftbiotop zu erhalten. Im großen und ganzen wurde die Textauswahl so getroffen, daß sie den Trauerspiel-Streit als eine chronologische Kommunikationseinheit abbildet. Das wenige, was darüber hinausgeht, hat ausschließlich den Zweck, das Atmosphärische der freundschaftlich-gelehrten Auseinandersetzung zu illustrieren.10

Zwar können sich die Herausgeber darauf zurückziehen, dass die Briefe in separaten Bänden in Gänze abgedruckt sind, das ändert aber nichts an Texteingriffen, die ja immer auch interpretatorisch ins Gewicht fallen. Ein falscher Eindruck ist schnell entstanden, denn es handelt sich weder um eine „chronologische Kommunikationseinheit“ noch um rein „freundschaftlich-gelehrte“ Briefe.11 Zurückzukommen ist noch einmal auf den einzigartigen Rang und die vermeintliche Spontanität, die dem Briefwechsel attestiert wurde. Während erster über grundlegenden Zweifel erhaben ist, bin ich mir in Sachen Spontanität der in dem Briefwechsel elaborierten Gedanken weitaus weniger sicher. Sowohl was die Frequenz der Briefe als auch die Hinweise auf getätigte oder noch zu tätigende Lektüre anbelangt, legt vielmehr den Schluss nahe, dass es sich um sehr wohl komponierte, eben gerade nicht eilig geschriebene Briefe handelt. Es sind auch nicht nur freundschaftliche Briefe – eine gesellige Plauderei auf hohem Niveau –, dafür ist der Ton bisweilen, allen voran von Seiten Lessings, deutlich zu ruppig. Auch das übersieht man leicht, wenn man die Korrespondenz auf ihren poetologischen Gehalt reduziert. Dabei wird schon an prominentem Ort explizit darauf hingewiesen. Bei aller hagiographischen Verklärung des späten Lessing ist sein Biograph Erich Schmidt zugleich einer der größten Kritiker des jungen Lessing und nicht wenigen seiner Positionen begegnet er mit gesunder Skepsis, die bisweilen – über das Ziel 7

Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen sowie einem Gesamtregister versehen von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen in Verbindung mit Karl Borinski u.a., T. 1–25 [= Bd. 1–20] nebst Ergänzungsband 1–5, Berlin 1925–1935, Nd. Hildesheim/New York 1970. 8 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Paul Rilla. Bd. 1–10. 2. Aufl. Berlin/Weimar 1968. 9 Gotthold Ephraim Lessing: Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl u.a. hrsg. von Herbert Göpfert. Bd. 1–8, München (auch Darmstadt) 1970–1979, hier Bd. 4, S. 153–227. 10 Lessing: Werke und Briefe (Anm. 3), Bd. 3, S. 1377. 11 Ebd.

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hinausschießend – in deutliche Ablehnung der Gedanken des noch jugendlichen Aufklärers umschlagen kann. Auch im Falle des Briefwechsels über das Trauerspiel legt Schmidt den Finger in die Wunde. Denn den allgemein angenommen freundschaftlichen Charakter sieht Schmidt durch Lessing bisweilen deutlich torpediert. Da ist die Rede von den „gefährlichen Haarspaltereien Lessings“,12 die Mendelssohn und Nicolai umgehen müssen. Und Schmidt geht noch härter ins Gericht, wenn er schreibt: „Wie sophistisch deutet oder escamotirt er dies und das, damit nichts seiner ganz bestimmt vorgetragenen Ansicht widerspreche, […]. Auch bei ihm liegt Falsches und Richtiges im Streit.“13 Man muss Schmidt Recht geben, einige der Formulierungen, die Lessing hier gebraucht, sind im persönlichen Gespräch kaum denkbar. Auch die Schärfe der Argumentation – so hat es den Anschein – ist ein Resultat der oder doch zumindest mit bedingt durch die Briefform. Lessing entwickelt seine Gedankengänge wie so oft im Modus der Konfrontation – nicht der Kooperation.14 Es ist also die Briefform, wurzelnd in der biographischen Situation der Protagonisten, die als Bedingung der Möglichkeit dieses produktiven Gespräches selbst angesehen werden muss. Diese medial verfasste Sprechaktsituation durch quantitative und qualitative Auswahl zu beschneiden, verzerrt die Wahrnehmung des Diskurses entscheidend. Die Umstände der Kommunikation haben also nicht bloß akzidentiellen Charakter. Ebenjene biographischen Gegebenheiten, denen sich der Briefwechsel über das Trauerspiel verdankt, sind für Lessings Verhalten nachgerade typisch. Wieder einmal ist eine Art Flucht vorangegangen,15 die die Distanz zu den Freunden erzeugt – diesmal nach Leipzig. Über seine Abreise hat Lessing – wie üblich, kann man hinzufügen – niemanden in Kenntnis gesetzt. Seine Tätigkeit als Redakteur in Berlin war mit diesem Schritt also jäh beendet.16 Aus Lessings Sicht mag es eine gute Chance gewesen sein, sich dem reichen Kaufmannssohn Christian Gottfried Winckler, den er kurz zuvor kennengelernt hatte,17 auf eine weitläufige Reise durch Europa anzuschließen und diesen als Gesellschafter zu begleiten. Ausgangspunkt der Reise war Leipzig, von wo aus die Reisegesellschaft am 10. Mai 1756 Richtung Magdeburg aufbrach.18 Weitere Stationen der Reise waren Braunschweig, Wolfenbüttel, Hannover, Celle und Lüneburg bevor man Hamburg erreichte. Der Weg führte nach Westen über Bremen und Oldenburg nach Emden, um danach die Reise 12

Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. 2 Bde. Zweite veränderte Auflage. Berlin 1899, Bd. 1, S. 335. 13 Ebd. 14 Zu diesem Wesenszug exemplarisch schon Heinrich Mettler: Lessings unabdingbares Bedürfnis, mit Freunden zu disputieren. In: Günter Schulz (Hrsg.): Lessing und der Kreis seiner Freunde. Heidelberg 1985, S. 15–32. 15 Vgl. Wilfried Barner: Lessings Fluchten. In: Jürgen Stenzel (Hrsg.): Lessings Skandale. [Tagung der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel vom September 2004]. Tübingen 2005, S. 69–78. 16 Zu diesem Lebensabschnitt siehe etwa Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 113–155. 17 Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 139–146. 18 Die Reise lässt sich gut nachvollziehen anhand der Dokumentarbände, die Wolfgang Milde herausgegeben hat. Wolfgang Milde: Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. 2 Bde. Kamenz 2003; Ders. (Hrsg.): Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. 2 Bde. Kamenz 2005; Ders. (Hrsg.): Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz 2008.

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Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

weiter in den Niederlanden fortzusetzen; Ende Juli erreicht Lessing Amsterdam. Mitte September erhalten die Reisenden die Nachricht vom Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, was Winckler – und mit ihm Lessing – dazu bewegt nach Leipzig zurückzukehren. Seit seiner überstürzten Abreise im Oktober 1755 ist also ein knappes Jahr vergangen. In diese Zeit fallen insgesamt 17 Briefe der Freunde, Lessing schreibt davon derer sechs. Die Korrespondenz der Freunde ist also keineswegs ungebrochen intensiv, aber man hört voneinander, hält sich auf dem Laufenden. Interessant ist daher ein Blick auf die Frequenz und die Laufzeiten, die zwischen den einzelnen Briefen liegen, denn einerseits gelingt es so, den monolithischen Eindruck zu unterwandern, den der Titel Briefwechsel über das Trauerspiel suggerieren kann. Andererseits ergibt sich dergestalt die Möglichkeit nach der vermeintlichen Spontanität zu fragen, Zeiten für anfallende Lektüren mit einzubeziehen und vielleicht sogar, einen Grad an zunehmendem oder abnehmendem Interesse zu isolieren. Zudem wechseln die Themen der Briefe fortlaufend. Die Abfolge der Briefe – von ersten Erwähnung der Thematik durch Moses Mendelssohn bis hin zur summarischen Aufarbeitung des Diskurses und der Bestimmung fernerhin bestehender Diskussionspunkte und Desiderata durch die Berliner Freunde – gestaltet sich wie folgt:19 Nr.20

Datum und Ort

Empfänger

73.

Berlin, Ende Oktober 1755

MM an GEL

74.

Berlin, 19. November 1755

MM an GEL

77.

Berlin, November oder Anfang Dezember 1755

MM an GEL

78.

Berlin, 7. Dezember 1755

MM an GEL

79.

Leipzig, 8. Dezember 1755

GEL an MM

83.

Berlin, 26. Dezember 1755

MM an GEL

84.

Berlin, 10. Januar 1756

MM an GEL

85.

Leipzig, 21. Januar

GEL an MM

86.

Berlin, Februar oder März 1756

FN an GEL

87.

Berlin, 9. März 1756

MM an GEL

89.

Leipzig, 28. April 1756

GEL an FN

90.

Leipzig, 28. April 1756

GEL an MM

91.

Berlin, Anfang Mai 1756

MM an GEL

93.

Embden, 20. Juli 1756

GEL an FN

19

Ausgaben

SchS21

Liste der Briefkontakte zwischen Lessing (GEL), Nicolai (FN) und Mendelssohn (MM) innerhalb der Zeitspanne, die der sogenannte Briefwechsel über das Trauerspiel für gewöhnlich umfasst. 20 Die Zahl bezieht sich auf die Nummerierung der Briefe in der Frankfurter Ausgabe der Werke und Briefe (FA; Anm. 3). Die Briefe mit den fettgedruckten Nummern haben u.a. das Trauerspiel zum Gegenstand. 21 Die Sigle ‚SchS‘ verweist auf die Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Hrsg. u. komm. v. Jochen Schulte-Sasse. München 1972.

70

Michael Multhammer

94.

Emden, Juli 1756

GEL an MM

95.

Berlin, 2. August 1756

MM an GEL

97.

Berlin, 31. August 1756

FN an GEL

P22, G23, SchS

98.

Leipzig, 1. Oktober 1756

GEL an MM

SchS

99.

Berlin, Oktober 1756

MM an GEL

100.

Leipzig, Oktober 1756

GEL an MM

101.

Berlin, Ende Oktober oder Anfang November

MM an GEL

102.

Berlin, 3. November 1756

FN an GEL in Leipzig

103.

November 1756

GEL an FN

P, G, SchS

104.

13. November 1756

GEL an MM

P, G, SchS

105.

Berlin, 23. November 1756

MM an GEL

P, G, SchS

107.

Leipzig, 28. November 1756

GEL an MM

P, G, SchS

108.

Leipzig, 29. November 1756

GEL an FN

P, G, SchS

109.

Berlin, erste Hälfte Dezember 1756

MM an GEL

P, G, SchS

110.

Leipzig, 18. Dezember 1756

GEL an MM

P, G, SchS

111.

Berlin, 27. Dezember 1756

FN an GEL

SchS

112.

Leipzig, 4. Januar 1757

GEL an FN

SchS

113.

Berlin, Januar 1757

MM und FN an GEL

P, G, SchS

114.

Berlin, Januar 1757

FN an GEL

115.

Leipzig, 2. Februar 1757

GEL an MM

116.

Leipzig, 19. Februar 1757

GEL an FN

117.

Berlin, 2. März 1757

FN an GEL

118.

Berlin, 2. März 1757

MM an GEL

119.

Berlin, 23. März 1757

MM an GEL

120.

Berlin, 23. März 1757

FN an GEL

121.

Leipzig, 29. März 1757

GEL an MM u. FN

P, G, SchS

122.

Leipzig, 2. April 1757

GEL an FN

P, G, SchS

123.

Berlin, erste Hälfte April 1757

FN an GEL

125.

17. April 1757

GEL an FN

22

P, G, SchS

P, G, SchS

Die Sigle ‚P‘ verweist auf die Ausgabe: Lessings Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über das Trauerspiel. Nebst verwandten Schriften Nicolais und Mendelssohn herausgegeben und erläutert von Prof. Dr. Robert Petsch. Leipzig 1910. 23 Die Sigle ‚G‘ verweist auf die Göpfert-Ausgabe der Werke (Anm. 9), Bd. 4, S. 153–227.

71

Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

127.

o.O., o.D. [29.?24 April oder Mai 1757]

MM an GEL

P, SchS

130.

Berlin, 14. Mai 1757

FN an GEL

P, G, SchS

132. und 133.

GEL an MM Ende Mai und Anfang Juni korresMM an GEL pondieren Lessing und Mendelssohn erneut, allerdings ist das Bürgerliche Trauerspiel kein Thema mehr. Lessing übergeht das Angebot einer vorläufigen Synthese der Gedanken mit Schweigen.

Tab. 1: Liste der Briefkontakte zwischen Lessing (GEL), Nicolai (FN) und Mendelssohn (MM).

Diese Aufstellung verdeutlicht in erster Linie einmal, dass der Briefwechsel über das Trauerspiel ein Konstrukt ist, das auf Selektion beruht. Denn die Poetik eines künftigen Bürgerlichen Trauerspiels ist keineswegs durchgängiges Thema der drei Freunde – vieles andere steht zeitgleich auf der Agenda. Zudem ist der Briefwechsel, gerade in der Zeit als Lessing reist, nur sehr eingeschränkt möglich. Erst als Lessing wieder zurück in Leipzig ist, intensiviert sich der Kontakt und manifestiert sich thematisch der um das Trauerspiel kreisende Briefverkehr. Ab November 1756 kommt es zu einem regen Austausch über das Thema, der sicherlich auch durch die Nähe zu Berlin zu erklären ist. Es existieren feste Adressen und die Postverbindung zwischen den beiden Großstädten funktioniert vergleichsweise gut.25 Das sind zunächst einmal ganz realweltliche Faktoren, die man indes nicht außer Acht lassen sollte. Bis Weihnachten 1756 hat der Briefwechsel deutlich an Fahrt aufgenommen, inhaltlich sind die Gebiete abgesteckt und sowohl die drängendsten Fragen als auch erste Antworten formuliert. Als zentralen Angelpunkt der Auseinandersetzung kann man sicherlich Lessings Brief an Mendelssohn vom 18. Dezember nennen – hier sind erstmals alle wichtigen Thesen auf dem Tisch, Lessing in seinem Widerspruch so weit, dass sich seine eigene Position herauskristallisiert. Zu Beginn des neuen Jahres nimmt die Frequenz deutlich ab – Lessing meldet sich erst Anfang Februar wieder zu Wort, was auch darauf hindeutet, dass für ihn der Zenit der Diskussion überschritten ist. Was folgt, könnte man aus Lessings Sicht euphemistisch als ‚Kleinkram‘ bezeichnen. Anfang April meldet sich Lessing ein letztes Mal zu Wort und antwortet eher halbherzig auf einige konkrete Fragen Nicolais seine Abhandlung betreffend. Auf den wohlwollenden und von zwei ausführlichen, die Diskussion summierenden Beilagen begleiteten Brief von Nicolai und Mendelssohn antwortet Lessing gar nicht mehr. In den Folgebriefen ist das Bürgerliche Trauerspiel als Thema nicht mehr existent, ohne dass eine weitere Einlassung oder Begründung für den Abbruch der Diskussion geliefert worden wäre. So viel zu den realen Abläufen, die doch deutlich entfernt sind von dem Eindruck einer in sich geschlossenen poetologischen 24

25

So die Datierung bei SchS, S. 109. Vgl. näherungsweise Neue Sammlung von Post- und Bothen-Charten der vornehmsten Residenzund Handels-Städte in Europa: samt beygefügten Post-Taxen, Reise-Routen, und andern das PostWesen betreffenden Verordnungen, ausgefertiget von Gottlob Friedrich Krebel. Hamburg 1767, S. 362–369.

72

Michael Multhammer

Diskussion in monolithischer Werkform, in der Lessing vermeintlich das letzte Wort behält. Dennoch läuft die Rezeption in vielfacher Hinsicht in genau dieser Richtung. Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt und der Frage, welche editionsphilologischen Fallstricke man vermeiden müsste, um diesen Eindruck zu korrigieren.

2. Fragen ohne Antworten Die ganz basale Frage, die sich stellt, lautet: Haben wir es beim Briefwechsel über das Trauerspiel überhaupt mit einem Werk Lessings zu tun, das in einer Werkausgabe seiner Schriften einen Platz finden sollte? Dabei genügt es schon, einen ganz niederschwellige Explikation des Werkbegriffs anzusetzen, verstanden etwa als das „Ergebnis einer produktiven […] Tätigkeit“,26 um in umfängliche Verlegenheit zu geraten. Was wäre hier als ein solches Ergebnis anzusehen?27 Noch diffiziler wird es, wenn man gar voraussetzen würde, dass ein Werk im Sinne von Aristoteles ein Ganzes vorstellt?28 Was wäre der ‚ganze‘ Briefwechsel über das Trauerspiel – die unterschiedlichen Meinungen zur Korpusbildung darüber finden sich ja in der Übersicht abgebildet? Was gehört dazu, was nicht? Sind die gesamten Briefe als edierenswert anzusehen oder nur die poetologisch relevanten Stellen derselben? Sind die Abhandlungen von Nicolai und Mendelssohn, die ja zirkulierten, integraler Bestandteil des Briefwechsels oder nicht? Wie steht es um diejenigen dramatischen und poetologischen Werke, auf die Bezug genommen wird? Also ganz grundsätzlich: Was wäre hier zu edieren? Und in einem zweiten Schritt: Welche Chancen bietet unter diesen Voraussetzungen eine digitale Edition? Man kann die Frage aber auch substantiell anders stellen. Handelt es sich beim Briefwechsel über das Trauerspiel gar nicht um ein genuines Werk Lessings (in Koautorschaft mit Nicolai und Mendelssohn),29 sondern vielmehr um ein Werk von Robert Petsch, das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen 1910 das Licht der Welt erblickte? Wenige Jahre zuvor war die von ihm verantwortete sechsbändige Lessing-Ausgabe erschienen.30 Sein Erkenntnisinteresse artikuliert Petsch explizit – es geht ihm um eine Vorgeschichte der Ästhetik, wie sie sich um 1800 manifestiert, aufbereitet für didaktische Zwecke des akademischen Unterrichts. Dazu schreibt er im Vorwort: 26

27 28

29

30

So die Explikation im Reallexikon. Horst Thomé: [Art.] Werk. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bde. Hg. v. Jan-Dirk Müller u.a. Berlin/New York 1997-2003, hier Bd.  3, S. 832–834, Zitat S. 832. Die grundlegenden Fragekomplexe schon bei Wolfgang Thierse: Thesen zur Problemgeschichte des Werkbegriffs. In: Zeitschrift für Germanistik 6 (1985), S. 441–449. Siehe hierzu ausführlich Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11 (2007), S. 276–344. Daran anknüpfend Wolfgang Thierse: „Das Ganze aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius und Wolfgang Thierse (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Studien zu einem historischen Wörterbuch. Berlin 1990, S. 378–414. Es ist sehr auffällig, dass das vermeintliche ‚Werk‘ eigentlich alleinig Lessing zugesprochen wird, obwohl er ganz augenfällig nicht der einzige Verfasser der Briefe ist. Das mag mit den poetologisch gewichteten Einlassungen der drei zu tun haben, aber auch hier ist zu beobachten: Philologisch redlich ist das nicht. Lessings sämtliche Werke in sechs Bänden. Hrsg. u. eingeleitet v. Robert Petsch. Berlin/Leipzig 1906.

Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

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Faßt man ferner die Wichtigkeit dieser Erörterungen für die Klärung der deutschen Ästhetik im 18. Jahrhundert überhaupt ins Auge, so scheint ein zusammenfassender Neudruck der bisher in den Briefbänden der großen Lessingausgaben verstreuten Auslassungen, insbesondere im Sinne des akademischen Unterrichts als wünschenswert. Im Hinblick auf dessen Erfordernisse habe ich denn auch die Abhandlung Nicolais mit abgedruckt, woran Lessing anknüpfen, und Mendelssohns Abhandlung, womit er seine Illusionslehre zu stützen suchte; ich habe mit Rücksicht auf den philologischen Leser die Texte unangetastet gelassen, also auch die für das 18. Jahrhundert charakteristische Willkür in den französischen Zitaten gewahrt; nur ein paar Druckfehler habe ich berichtigt, worüber die Anmerkungen zu vergleichen sind.31

Damit wäre der Briefwechsel über das Trauerspiel als Werk Lessings am Ende eine bloße Philologenphantasie, der Versuch dem deutschen Drama eine Geburtsurkunde auszustellen und die voridealistische Ästhetik greifbarer zu machen. Auch das wäre denkbar und ja durchaus legitim. Auffällig ist, dass man in dieser Vorrede ganz deutlich Petschs eigenes Unbehagen spürt, die Absicherung gegenüber dem ‚philologischen Leser‘ ist ebenso eine Schutzmaßnahme wie die Fokussierung auf didaktische Zwecke. Die ‚Erschaffung‘ eines neuen Werkes ist in jedem Falle begründungsbedürftig – auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damit enden die Probleme indes nicht: Denn der Coup ist ja in der Tat der, dass etwas als enorm relevant und wertig gesetzt wird, was über den engen Kreis der drei Freunde hinaus zunächst keine Wirkung entfalten konnte. Problematisch bleibt insofern auch der vielfach betonte Einfluss des Briefwechsels, der am Beginn des Beitrags im Rückgriff auf die Forschung konstatiert wurde. Auch hier stellt sich die Frage: Wer wurde denn eigentlich beeinflusst? Die privaten Briefe Lessings wurden erstmals 1794  – also posthum  – in den Sämmt­ lichen Schriften gedruckt. Zu Lebzeiten war der Briefwechsel kein Teil einer wie auch immer gearteten Werkausgabe.32 Dabei hätte die Möglichkeit der Aufnahme des Briefwechsels in die Ausgabe der sechsbändigen Schrifften ja durchaus bestanden.33 Mehr noch, Lessing hatte dort eigens mit dem Format (fiktionalisierter) Briefe experimentiert und diesem Medium den gesamten zweiten Band gewidmet.34 Der Einfluss beschränkt sich also auf Nicolai, Mendelssohn und Lessings eigenes Nachdenken über die Poetologie des Trauerspiels, das dann in der Hamburgischen Dramaturgie weiter an Gestalt gewinnt. In diesem Sinne wären die Briefe am ehesten als Kontext für selbige zu sehen. Eine separate Ausgabe wäre dann wohl eher überflüssig.

31

Petsch: Briefwechsel (Anm. 2), S. V. Zur Werkausausgabe und deren strategischen und ästhetischen Funktionen siehe die Überlegungen von Steffen Martus: Die Praxis des Werks. In: Lutz Danneberg, Annette Gilbert und Carlos Spoerhase (Hrsg.): Das Werk: Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin/Boston 2019, S. 93–129, hier insbes. S. 118–124. 33 Zu dieser ersten Werkausgabe Lessings siehe grundlegend Dirk Niefanger: Lessings Schrifften (1753–55). Wolfenbüttel 2015. Ich danke Dirk Niefanger für den Hinweis auf die beinahe Gleichzeitigkeit beider Unternehmungen. 34 Siehe hierzu auch Michael Multhammer: Lessings Rettungen. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin/Boston 2013, S. 15–44. 32

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Michael Multhammer

All diese Überlegungen würden zur Folge haben, dass man auf eine Edition des Briefwechsels als gesonderten Briefwechsel über das Trauerspiel eher verzichten würde. Interessant bliebe der Kasus dann in einer fachgeschichtlichen Perspektive. Noch einmal eine ganz eigene Argumentationslinie kommt in der Zusammenstellung von Jochen Schulte-Sasse in den Blick. Auch wenn er – von verlegerischen Interessen flankiert – im Vorwort zur bislang umfangreichsten Ausgabe festhält, dass „eine auf dem neuesten Forschungsstand kommentierte Ausgabe des Briefwechsels insbesondere den Bedürfnissen des Studiums entgegenkommt“,35 bleibt das nicht die einzige Motivation. Vielmehr handelt es sich beim Briefwechsel über das Trauerspiel quasi um eine neuzeitliche Gründungsurkunde: Er ist gleichzeitig eines der eindrucksvollsten Dokumente zur Geschichte der deutschen Ästhetik im 18. Jahrhundert; denn Mendelssohn und Nicolai auf der einen Seite, Lessing auf der anderen Seite bemühen sich in ihm in zwei historisch aktuellen, aber sich teilweise ausschließenden Richtungen um die kunsttheoretische Überwindung der für den modernen Geschmack allzu trockenen, weil vom Rationalen her legitimierten und erlebten künstlerischen Produktionen des frühen 18. Jahrhunderts.36

Man kann insofern die Sichtweise probeweise auch umkehren und den Briefwechsel über das Trauerspiel als den wirkmächtigen Text anerkennen, der er in der LessingForschung seit mehr als einhundert Jahren ist – sowohl im akademischen Ausbildungsbetrieb wie auch in der Fachliteratur.37 Dann gingen die Fragen tatsächlich in die Richtung, wie man diesem sehr eigentümlichen Textkonvolut in editionsphilologischer Hinsicht (digital) gerecht werden könnte. Ein lohnenswerter Zugriff könnte vielleicht tatsächlich über den Werkbegriff erfolgen. Denn Jochen Strobel hat jüngst den besonderen Werkcharakter von Briefen hervorgehoben: „Der Brief ist ein Kommunikationsmedium, nicht ein für sich stehendes Werk, nicht ein Kunstwerk und nicht ausschließlich Text.“38 Das hat unmittelbare Folgen für die editorische Praxis, wie Strobel betont, denn es gelte, eine adäquate Repräsentationsform dieser performativen Aspekte in der Edition zu finden. Im Zentrum steht dann nicht länger der bloße Text, sondern eine Leseszene, wie sie Wolfgang Bunzel für den Brief gefasst hat: „Epistolare Kommunikation ist mithin nichts anderes als der wechselseitige Austausch adressatenspezifischer Schreibszenen“, insofern der Brief „Text-Form und Übertragungs-Medium zugleich ist“.39 Im Gegensatz zu einem literarischen Text kommt zum Sprechakt noch 35

Schulte-Sasse: Briefwechsel (Anm. 21), S. 7. Ebd., S. 168. Unmittelbar anschließend an diese Passage wird zwar konstatiert, dass der Briefwechsel nicht für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen sei, über den praxeologischen Status der Briefe aber nicht weiter nachgedacht. Stattdessen geht es sogleich um die ideengeschichtlichen Filiationen der Positionen. 37 Für letztere sei hier nur exemplarisch ein Text aus der jüngeren Forschung genannt: Marc Sagnol: La correspondence entre G.E. Lessing, F. Nicolai et M. Mendelssohn sur la tragédie. In: Études germaniques 67 (2012), S. 259–284. 38 Jochen Strobel: Performanz in der Briefkommunikation und ihre editorische Repräsentation. In: Editio 33 (2019), H. 1, S. 129–140, hier S. 129. 39 Wolfgang Bunzel: Schreib-/Leseszenen (Kat.Nr. 134–146). In: Anne Bohnenkamp und Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief  – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt/Basel 2008, S. 237. 36

Der Briefwechsel über das Trauerspiel als editorische Herausforderung

75

eine pragmatische Dimension hinzu. Diese gelte es ebenfalls in einer Edition zu adressieren. Die zentrale Frage, auch bezogen auf den Briefwechsel über das Trauerspiel ist demnach: Wie bildet man die Performanz des Briefwechsels ab? Wechselnde Örtlichkeiten, Laufzeiten der Briefe, Abschriften, gemeinsame Lektüren, Frequenz der Briefe, eigentliche Schreibanlässe der Briefe, Aufforderungen und Aufgaben und dergleichen mehr gilt es zu bedenken. Hinzu kommt der gesamte Bereich der Materialität, der für das Medium Brief von grundlegender Bedeutung ist. Zu fragen wäre also auch: Ist der Bogen vollgeschrieben, war noch die berühmte ‚Handbreit‘ Platz oder ging ‚sogleich‘ die Post, wie man das als Leser von Briefen aus dem 18. Jahrhundert kennt. Welche Briefbeilagen begleiteten das Schreiben? Wurden Bücher oder Manuskripte ausgetauscht, in welchem Zustand kamen die Briefe an? Haben sich Briefe überkreuzt – also ging die Abfolge von Brief und Antwortbrief durcheinander? Diese Fragen sind sicherlich nicht von der Korrespondenz zu trennen, weitere mögen sich im Zuge einer digitalen Edition ergeben. Dieser Beitrag will zunächst nicht mehr als einen Finger in die Wunde legen und eine vielleicht für breitere Lesekreise – allen voran freilich Studierende – unangenehme Frage stellen: Ist der Briefwechsel über das Trauerspiel ein Werk Lessings? Für den professionellen Lessing-Philologen stellt sich dieses Problem wahrscheinlich nicht mit der gleichen Dringlichkeit. Wenn man um den Konstruktionscharakter des Briefwechsels weiß, dann lässt sich damit unaufgeregt und in pragmatischer Weise umgehen. Anders sieht es sicherlich aus, wenn man dieses spezifische Wissen nicht mitbringt, das bestimmte Publikationsformate begünstigen. Wie gesagt, das sind zunächst einmal identifizierte Problemlagen, denen man im Zuge einer Neuedition zu begegnen hätte. Sicherlich sind die hier aufgeworfenen Monita am ehesten in einer digitalen Edition zu lösen, dafür existieren ja auch schon einige Beispiele.40

3. Ein Plädoyer für die Ränder des Werks Seit dem mittleren 19. Jahrhundert sind insgesamt fünf umfassende Lessing-Editionen erschienen, die Anspruch auf ein gewisses Maß an Vollständigkeit für sich beanspruchen dürfen. Seit der letzten Werkausgabe – der von Wilfried Barner verantworteten Frankfurter Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag – sind noch einmal einige Manuskriptfunde hinzugekommen, die es selbstredend zu berücksichtigen gelte.41 Ein anderer Punkt indes scheint mir wichtiger, um zu einem ‚neuen LessingBild‘ zu gelangen, das ja auch immer Ziel einer Edition – ganz gleich ob analog oder digital – sein muss. 40

Jüngst etwa Héctor Canal: Briefkonzepte im digitalen Medium. Zur Darstellung komplexer Überlieferung in der der Edition Johann Wolfgang von Goethe. Briefwechsel mit Friedrich Riemer. In: Anke Bosse und Walter Fanta (Hrsg.): Textgenese in der digitalen Edition. Berlin/Boston 2019, S. 153–169. 41 Siehe hierzu: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Band 1 und 2. Bearbeitet von Wolfgang Milde. Herausgegeben von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel. Band 1 (Reprint) Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel / Deutsche Staatsbibliothek Berlin DDR / Biblioteka Uniwersytecka Wrocław; unter Mitarbeit von Christine Hardenberg. Band 2: Amsterdam bis Zürich; unter Mitarbeit von Winfried Woesler, mit Nachträgen von Wolfgang Albrecht, Christine Heinzmann und Christine Vogl. Hannover 2016.

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Michael Multhammer

Sieht man sich die Arbeiten der Lessing-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte an, so fällt auf, dass mehr und mehr die zuvor als marginal und randständig erachteten Bereiche von Lessings Werk in den Blick geraten und Fragen generiert werden, die auch dazu in der Lage sind, unseren Blick auf den vordersten deutschen Aufklärer neu zu konturieren. Zweifelsohne: Es entstehen nach wie vor und völlig zu Recht Arbeiten zu den epochalen Dramen und zur Dramaturgie, allein für eine Edition sollte man überlegen, ob es wirklich Nathan der Weise und Emilia Galotti sein müssen, die den Beginn eines solchen Unterfangens einer digitalen Werkausgabe markieren. Oder ob es nicht sinnvoll wäre, mit den bisher in den Editionen vernachlässigten und bislang deutlich spärlicher kommentierten Texten Lessings zu beginnen. Als Grundprinzip könnte vielleicht gelten, jeglichen Versuch den ‚Dichter Lessing‘ gegen den ‚Gelehrten Lessing‘ auszuspielen, und so zwei der Sache nach gar nicht zu trennende Sphären zu schaffen, zu vermeiden. Das ist sicherlich eine basale Erkenntnis der vergangenen Dekaden,42 die grundlegend auch mit der nach zeitlicher Abfolge der Texte organisierten Barner-Ausgabe maßgeblich zusammenhängen. Insofern wäre eine solche neu angelegte Edition der logisch folgende, nächste Schritt. Mit dieser Fokussierung auf bislang weniger prominent erschlossene Texte zu Beginn verbände sich die Hoffnung, dass sich hier – ganz wie Lessing das selbst getan hat, wenn er vermeintlich Abgelegenes zentral gestellt hat – ganz neue Funken schlagen ließen, die Altbekanntes und scheinbar sicher Gewusstes erneut hinterfragen. Dergestalt würde Lessings Arbeitsweise selbst zum Prinzip einer Edition seiner Werke.

42

Auch hier muss ein Exempel genügen. Die von der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel veranstaltete Reihe ‚Beiträge zur jüngeren Lessing-Forschung‘ versammelt Arbeiten, die allesamt ihren Ausgang von den Rändern her nehmen, bisher kaum wahrgenommenen Frauenfiguren im Umfeld Lessings, den Handexemplaren Lessings mit ihren Marginalien, der späten Zeitschrift ‚Zur Geschichte und Litteratur‘ sowie dem erst posthum veröffentlichten Text ‚Herkules und Omphale‘ (Von Herkules bis Hollywood. Beiträge zur jüngeren Lessingforschung. Im Auftrag der Lessing-Akademie hrsg. v. Helmut Bertold u. Franziska Schlieker. Wolfenbüttel 2018).

Winfried Woesler

Eine Revision der Lessing-Handschriften und -Drucke als Voraussetzung einer digitalen Neuedition Erläutert am Beispiel des Entwurfs einer Szene von Lessings Nathan 1. Die Arbeitspapiere zum Nathan Eine Voraussetzung einer neuen Lessingedition ‒ die nur eine digitale sein kann ‒ ist der Handschriftenkatalog von Wolfgang Milde.1 Gegenstand meines Vortrags ist eines der losen beschriebenen Blätter zum Nathan (H). In der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny bei Genf (Fondation Martin Bodmer, Cologny/Genf) befinden sich die erhaltenen Arbeitshandschriften zum Nathan, sie sind über die Familie Mendelssohn-Bartholdy dorthin gelangt. Es handelt sich einmal um ein Entwurfsheft (E), das zu jedem Aufzug, und zwar auch zu jedem Auftritt, schon in der endgültigen Abfolge bereits die feste Konzeption des Dramas enthält. Die 34 beschriebenen Seiten des Heftes sind grundsätzlich zweispaltig, die inneren Spalten enthalten den Inhalt jeder einzelnen Szene, die äußeren erste Ausführungen der zugehörigen Dialoge. War etwa in der inneren Spalte noch Raum freigeblieben, konnte dieser auch mit Repliken gefüllt werden. Bei dem Entwurfsheft (E) liegen noch einige Blätter (H) heterogenen Inhalts2. Sie gehören zum Nathan, stammen bis auf einen Zettel von Karl Wilhelm Ramler von Lessings Hand. Manche Stellen sind teilweise schwer zu lesen, was einmal an der stark verkürzenden Schreibweise Lessings, dann aber auch an dem gelegentlich neben der Tinte verwendeten, inzwischen stark abgeblätterten Schreibstoff (Rötel) liegt. Ich habe die Seiten provisorisch als S. 38 bis S. 46 durchnummeriert. Heft und Blätter sind – bis auf wenige Ausnahmen ‒ 1910 als Faksimileausgabe publiziert worden.3 Alle sind in Mildes Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften (Band 2, S. 276f.) beschrieben.4 Die Blätter wurden mehrfach ediert, z.B. von Wendelin von Maltzahn im zweiten Band von Karl Lachmann (Hrsg.): Gotthold Ephraim Lessing’s sämmtliche Schriften. Leipzig 1853, S. 600-617. Sie sind bisher am gründlichsten ediert worden von Franz Muncker in Bd. XXII, 1 der Ausgabe von

1

2 3 4

Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften, bearbeitet von Wolfgang Milde. 2 Bde. Bd. 1 unter Mitarbeit von Christine Hardenberg. Bd.  2 unter Mitarbeit von Winfried Woesler, mit Nachträgen von Wolfgang Albrecht, Christine Heitzmann und Christine Vogl. Hannover 2016. Im Einzelnen siehe Winfried Woesler: Die nachgelassene Blätter zu Lessings Nathan. In: Lessing Yearbook 47 (2020), S. 91–98. Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Faksimile-Ausgabe des eigenhändigen Entwurfs Lessings. Berlin 1910. Siehe Mildes Gesamtverzeichnis (Anm. 1).

https://doi.org/10.1515/9783110770148-006

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Winfried Woesler

Lachmann-Muncker (1915, 3. Aufl.).5 Seit 100 Jahren scheint niemand mehr an den Originalen gearbeitet zu haben. Munckers Druckedition der losen Blätter ist mehrfach – meist vereinfacht – nachgedruckt worden, z.B. in der DKV-Ausgabe,6 wobei sich im Laufe der Zeit Fehler eingeschlichen haben. Wenn die Transkription der losen Blätter in der – sonst sehr zuverlässigen – Reclam-Ausgabe 2013 mit „Zweiter Entwurf“ überschrieben werden, ist dies allerdings irreführend; die losen Blätter wurden zunächst vor der Beschriftung des Entwurfsheftes, dann aber auch noch später verwandt.

2. Das Blatt mit der „Scene 1“ Mit einem dieser Blätter (H), das anderthalbseitig beschrieben ist, möchte ich mich hier näher befassen. Die Vorderseite habe ich – wie gesagt vorläufig – S. 43 und die Rückseite S. 44 genannt, die entsprechenden Seiten im Lesartenapparat S. 59 und 60. S. 43 ist überschrieben „Sc. 1.“ und entspricht inhaltlich z.T. heute dem 5. Auftritt im Aufzug I, der die erste Begegnung des von Saladin begnadigten Tempelherrn und des dem Patriarchen zugeordneten Klosterbruders enthält. Vor einer Neuausgabe soll die Einordnung geprüft werden. Und dabei stellt sich heraus: Diese „Scene 1“ ist der früheste Anfang des Dramas gewesen. Die dargestellte Szene und die Motive eignen sich gut für eine Exposition. Die Figuren Tempelherr und Klosterbruder tragen noch die provisorischen Bezeichnungen „A“ und „B“. Nur ganz zu Beginn seines Dramas hat es Lessing in „Akte“ und „Szenen“ eingeteilt, schon in E wird es nur mehr nach „Aufzug“ und „Auftritt“ gegliedert. Ein kleines Motiv in H verdient hier Aufmerksamkeit: Der Tempelherr sagt, er brauche kein Mittagessen, denn er könne ja auch Oliven (Lesarten, 59, Z.  14–16)7 essen. Der Klosterbruder warnt ihn vor deren Genuss. In H ersetzte Lessing dann in einem neuen Ansatz Oliven durch Datteln (Lesetext, 59, Z.  19; hier S. 144), wie es heute auch im Druck (D) steht. Leider ist der Dialog in E nicht an- bzw. ausgeführt; die einfachste Erklärung ist, dass dieser Dialog bei Abfassung von E in H bereits vorlag und in E nicht noch einmal konzipiert werden musste. Wir wissen nicht, was Lessing bewogen hat, dieser Szene mit dem Klosterbruder die vier Szenen in Nathans Haus vorzuschalten. Der heutige Beginn ist aber sicher theaterwirksamer. Auch wenn wir darüber nur spekulieren können, bei den betreffenden Blättern in Cologny, aber auch beim übrigen Lessing-Nachlass ist die Frage nach den Entstehungszusammenhängen heute noch einmal zu stellen – und zwar, bevor man mit der digitalen oder retrodigitalen Edition anfängt. Ich verweise etwa auf die Ergebnisse

5

6

7

Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3., aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 23 Bände. Stuttgart/Leipzig 1886–1924. Abgekürzt: LM. Ebd. XXII, 1, S. 113–119. Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen u.a.. Frankfurt a.M. 1985–2003. Abgekürzt: DKV. Ebd., Bd.  9, hrsg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson, S. 659–664. Siehe S. 146.

Revision der Handschriften und Drucke als Voraussetzung einer digitalen Neuedition

79

der Untersuchungen von Elisabeth Blackert und Christine Vogl zum Laokoon,8 der von Bodo Plachta zur Minna von Barnhelm.

3. Edition im Wandel Der heutige Editor hat viel bessere technische und kommunikative Möglichkeiten als früher. Er ist u.U. nicht mehr darauf angewiesen, dass Manuskripte in fernen Bibliotheken von möglicherweise nicht sehr kompetenten Bibliothekaren autopsiert wurden, wie das für Lessings Nachlass insbesondere bei der Briefedition gelegentlich auch der Fall gewesen zu sein scheint. Ich bin für die Einsichtnahme in Lessings Handschriften z.B. noch nach Brüssel, Kopenhagen und St. Petersburg gefahren. Seit der letzten umfassenden Auswertung der Lessing-Handschriften zum Nathan ist die editorische Arbeit einerseits schwieriger geworden, denn der Alterungsprozess der Handschriften ist erheblich fortgeschritten, insbesondere Schriftzüge, die mit Bleistift oder Rötel gemacht wurden, können durch Abbröckeln schwer lesbar geworden sein (Abb. 1 und 2).9 Auf der Fotografie der „Sc. 1.“ ist etwa die Überschrift „Sc. 1.“ und am Anfang der relativ lesbaren Zeilen die Sprecherbezeichnungen A und B zu erkennen. Der Rest ist teilweise nur mit Mühe oder gar nicht zu entziffern; die Originale sehen kaum besser aus. Andererseits gibt es heute neue Möglichkeiten den Entstehungsprozess von Werken zu erhellen: die analytische Druckforschung, die Papierforschung und die Tintenanalyse. Die Fortschritte, die inzwischen bei Handschriften-Wiedergaben gemacht wurden, sind erstaunlich. Auch können wertvolle Digitalisate und Scans von Handschriften und Drucken leichter und öfter übermittelt werden als Fotokopien oder Fotografien. Digitalisate können auch leichter bearbeitet werden. Außerdem dient z.B eine potentielle Vergrößerung einer besseren Lesbarkeit. In der Tat können mit Hilfe der Digitalisate heute Wissenschaftler trotz der Papieralterung sogar Manches besser lesen als ihre Vorgänger (Abb. 3 und 4); ja, bei entsprechender Einstellung lassen sich sogar leichter Steglinien und Wasserzeichen sichtbar machen. Als ich den früheren Direktor der Bibliotheca Bodmeriana Martin Bircher fragte, ob ich für eine Neuedition die nachgelassenen Nathan-Manuskripte auch reproduzieren dürfe, antwortete er: „Ja, wenn Ihre Faksimilia lesbarer als heute die Originale sind.“ Und das ist heute möglich. Auch auf dem Drucksektor hat der Editor wesentliche Erleichterungen erfahren. Der alte Streit, ob erste oder letzte Fassung, wird ‒ wie Dieter Neiteler und ich an den Nathan-Drucken gezeigt haben ‒ flexibler durch die Entscheidung für die aus Sicht des Autors und/oder des Editors „beste“ Fassung gelöst.10 Er braucht nicht durch die oft mechanische Wahl zugunsten der ersten oder letzten Fassung entschieden werden, zumal das Internet leicht beide Fassungen wiedergeben kann. 8

Elisabeth Blackert: Grenzbereiche der Edition. Die Paralipomena zu Lessings Laokoon. Erschienen in: editio 13 (1999), S. 78–97. Christine Vogls Untersuchung ist noch als Dissertation in Arbeit. 9 Für die Erlaubnis zum Abdruck der Faksimilia (Abb. 1–4) sei der Fondation Martin Bodmer herzlich gedankt. 10 Dieter Neiteler und Winfried Woesler: Zur Wahl der Textgrundlage einer Neuedition von Lessings Nathan der Weise. In: Lessing Yearbook 31 (1999), S. 39–64.

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Abb. 1. Lessing: Nathan-Handschrift, Fondation Martin Bodmer, Cologny (Genf), H S. 43 Fotografie.

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Abb. 2. Lessing: Nathan-Handschrift, Fondation Martin Bodmer, Cologny (Genf), H S. 44 Fotografie.

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Abb. 3. Lessing: Nathan-Handschrift, Fondation Martin Bodmer, Cologny (Genf), H S. 43 Digitalisat.

Revision der Handschriften und Drucke als Voraussetzung einer digitalen Neuedition

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Abb. 4. Lessing: Nathan-Handschrift, Fondation Martin Bodmer, Cologny (Genf), H S. 44 Digitalisat.

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Über weitere Arbeitserleichterungen durch den Computer braucht man eigentlich nicht zu sprechen. Abgesehen von den kleinen Fortschritten, die der Computer gegenüber einer Schreibmaschine hat, z.B. bei der Erstellung von Fußnoten, ist für den Editor hervorzuheben die größere Kapazität, Platzmangel gibt es nicht mehr. Eine vom Editor nicht als Textgrundlage gewählte Fassung braucht nicht mehr in eine Variantenhalde aufgesplittert zu werden, sondern kann ohne Weiteres in einer digitalen Edition parallel lesbar gemacht werden. Und auch künftige Verbesserungen der Editionsarbeit, etwa bei der Entzifferung, können leichter einem digitalen Apparat an- oder eingefügt werden. Ich habe z.B. bisher einen bestimmten Prozentsatz der Wörter der „Scene 1“ nicht bzw. noch nicht mit Sicherheit lesen können. Digitale Editionen laden dazu ein, dass künftige Verbesserungen oder auch nur möglich erscheinende Verbesserungen leichter ergänzt werden können.

4. Erleichterungen bei der Textkonstitution Die digitalen Hilfsmittel können sich im Bereich der Textkonstitution bewähren. Das gilt zunächst bei der Identifizierung von Versehen und Druckfehlern, bei der Frage, ob es sich um ein sehr seltenes oder aber im damaligen Gebrauch durchaus übliches Wort – oder Schreibung – handelt. Wenn ein Wort in den Wörterbüchern nicht zu finden ist, kann es zwar als Hapaxlegomenon bei einem Autor ernst genommen werden; aber es sollte auch ein Versehen des Schreibers oder Druckers in Betracht gezogen werden. Ein Beispiel, auf das ich kürzlich bei Herder stieß; die Frage: ist die bei ihm überlieferte Wortform „Menscharten“ möglich oder dürfte Herder nur „Menschenarten“ gemeint haben? Da die Form „Menscharten“ sonst überhaupt nicht belegt ist, liegt es nahe zu prüfen, ob es sich hier um ein Versehen, einen Schreib- oder Druckfehler handelt.11 Überhaupt muss die traditionelle Wörterbuchrecherche durch die digitale Volltextrecherche heute erweitert werden. Entscheiden lässt sich erst dann z.B., ob ein sonst nicht belegtes Wort ein verbesserungsbedürftiger Fehler oder ein „wertvoller“ Neologismus ist. Burghard Dedner hat in einem in den „Beiheften zu editio“ erschienenen Beitrag 2020 „Die philologische Erkenntnis in Zeiten der Suchmaschinen am Beispiel von Büchner-Texten“ demonstriert.12 Das von Wolfgang Lukas und Elke Richter herausgegebene Beiheft heißt: Annotieren, Kommentieren, Erläutern. Aspekte des Medienwandels. Heute können wir Worthäufigkeiten in bestimmten Zeiträumen nummerisch erfassen und zwar für unsere Zwecke früher mithilfe der CD Von Lessing bis Kafka in der „Digitalen Bibliothek“.13 Die Suchmaschinen haben eine viel breitere Basis als etwa das Grimm’sche Wörterbuch. Und die Möglichkeiten der Volltextsuche werden in Zukunft sicher noch wachsen, z.B. beim Auffinden von wörtlichen oder 11

Ich wollte z. B. wissen, ob das Wort „Menscharten“ statt „Menschenarten“ in Herders Sammelschrift: Von Deutscher Art und Kunst (S. 92, 25) authentisch sei. Google Books weist außer auf diese HerderStelle nur auf eine bei Sebastian Franck „Chronica zeitbuch unnd Geschichtbibel von anbegyn biß in diß gegenwärtige M.D.LV. Jar verlengt“ hin; dabei handelt es sich allerdings bei Google um einen Worttrennungsfehler: Franck schreibt : „[zusam-] / menscharren“, Google liest: „menscharten“, wobei das Rund-r nicht erkannt wurde, sondern als t verlesen wurde. 12 Burghard Dedner: Philologische Erkenntnis im Zeichen der Suchmaschinen. In: Annotieren, Kommentieren, Erläutern: Aspekte des Medienwandels. Hrsg. von Wolfgang Lukas und Elke Richter. Berlin/Boston 2020 (Beihefte zu editio. 47) S. 21-66. 13 Die CD sollte in allen Universitätsbibliotheken vorhanden sein. Im Internet kostet sie z.Zt. 3,- Euro.

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inhaltlichen Parallelstellen bei anderen Autoren. Mit Recht hat Kai Bremer den Kommentar der Lessing-DKV-Ausgabe anerkannt,14 ergänzt werden aber kann er in einer neuen Ausgabe vielleicht noch durch sprachliche Beobachtungen; zumindest textkritische Entscheidungen bedürfen nicht selten eines wortgeschichtlichen Nachweises.

5. Erleichterungen bei der Darstellung der Textgenese Die Darstellung der Textgenese aus Arbeitsmanuskripten ist erst im 20. Jahrhundert ernsthaft in den Blick genommen worden. Während die Ausgabe von LM noch bei der Wiedergabe von Varianten an der Altphilologie orientiert war, ist inzwischen der Entwicklungsgang eines Textes wichtiger geworden. Wir wollen hier nicht die Debatte um die beste Darstellungsform der Varianten, die ja maßgeblich auch von der Arbeitsweise des einzelnen Autors mitbestimmt wird, neu eröffnen. Mir scheint – das wird in diesem Kreise auf Widerspruch stoßen – etwa als Ausgangspunkt das Beißner’sche Stufenmodell gut geeignet,15 wie ich es für die Droste-Ausgabe und als Mitarbeiter von Manfred Windfuhr für die Düsseldorfer Heine-Ausgabe leicht modifiziert habe; aber bei dem vorgelegten Beispiel „Sc. 1“ ist das Modell wegen der vielen verbleibenden Unsicherheiten kaum anwendbar, und dem Editor bleibt oft nur sich auf die gesicherten Details des Handschriftenbefundes zu beschränken und die Unsicherheiten möglichst detailliert anzumerken. Die Digitalisierung eines Lesartenapparates setzt nach wie vor voraus, dass das räumliche Nebeneinander der Varianten in einer Handschrift in ein zeitliches Nacheinander – so weit möglich – aufgelöst wird. Wenn in H (S.  43) z.B., wie zuvor schon erwähnt, nacheinander vor dem Genuss bestimmter unreifer Früchte – erst Oliven, dann Datteln – mit fast gleichen Worten gewarnt wird, dann muss der Editor erkennen – auch wenn die Streichung zweifelhaft ist –, dass die Warnung vor Datteln die Warnung vor Oliven ersetzt. Erst dann wird die digitalisierte Handschriftenwiedergabe sinnvoll. Die neueren Editionsmethoden haben das Erkenntnispotential der Handschriften besser erschlossen, und das muss jede Neuedition nutzen. Während sich aber früher der Benutzer einer Ausgabe bei der Handschriften-Auswertung ganz auf den Editor verlassen musste und sich dabei bevormundet bzw. hilflos vorkommen konnte, ist es heute kein Kostenfaktor mehr, in oder neben der Edition möglichst viele – zumindest die komplizierteren ‒ Handschriften als Faksimile zu bringen und so dem Benutzer eine gewisse Kontrolle des Editors zu erlauben. Da die digitale Edition keinen Platzmangel kennt, kann ich den Apparat wesentlich dadurch entlasten, dass ich neben der Textwiedergabe auch die letzte Fassung eines Arbeitsmanuskriptes als Lesetext separiere und alle Details darauf beziehe. Bei Alternativvarianten bleibt zunächst die älteste nicht gestrichene Version im Lesetext stehen, es kann aber auch sein, dass die jüngste Version schon für den Autor einen eindeutigen Fortschritt darstellte, ohne dass er die erste Version durchstrich – die dann auch nicht mehr im Lesetext, sondern nur in den Lesarten erscheint. Lesetext und Apparat sehen bei „Scene 1“ so aus: 14

Im Einladungsschreiben von Cord-Friedrich Berghahn, Peter Burschel und Kai Bremer zu diesem Arbeitsgespräch. 15 Siehe die große Stuttgarter Hölderlinausgabe: Hölderlin. Sämtliche Werke. Hrsg. von Friedrich Beißner. 8 Bände. Stuttgart 1946–1985.

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Lesetext Entwurfshandschrift, Anhang. [S. 43] Szene 1 Sc. 1. 59,5 A. Ehrwürdiger Vater ‒ B. bin nur ein Layenbruder, zu christlichem Dienste ‒ A. Nun denn, frommer Bruder; warum siehst du mir so nach den Handen? ‒ Aber ich habe nichts. Bey Gott ich habe nichts. B. Geben wollen ist auch geben! ‒ Zu dem erwarte ich von dir 59,10 nichts. Ich bin dir gar nicht nachgeschickt, um dich um etwas an zuflehn. A. Also bist du mir doch nachgeschickt? B. Aus jenem Closter. ‒ A. Wo ich ein kleines Pilgermahl sucht[e die] 59,15 Tisch[e] schon besetzt fand? Es thut nichts B. Sey nur so gut, u. kom mit mir wieder zurück. A. Darum warst du mir nachgeschickt? Nein, guter Bruder, Ich hab ehegestern noch warm gegessen u. die Datteln sind ja 59,20 reif. B. Nim dich nur in Acht, Fremdling! Du mußt diese Frucht nicht zuv[iel] geniessen. Sie verstopft Milz u. Lunge, macht melancholisches Geblüt. A. x-x! ‒ Aber du warst mir doch nicht blos darum nachgeschickt? B. Nein, nicht blos darum. [x-x] 59,25 x-x Ich soll mich erkundigen wer du bist. A. Und wendest dich deßfalls sofort an mich. B. Wozu nicht. A. Und wer ist so neugierig mich zu kennen? B. Niemand geringerer, als der Patriarch. 59,30 A. Der kennt mich schon. Sag ihm nur das. B. Das dünkt ihn auch. Aber er kann sich nicht erinnern wo er dich hin thun soll.

Lesetext

Fortsetzung Szene 1 A. Ich lasse mich von Einem Mann nicht zum zweyten vergessen. 60,5 B. Er wird alt, es kam ihm lange so ein Gesicht nicht vor ‒ aber Er weiß das wieder. Ohne Groll, lieber Fremdling: dein Name. A. Curd von Stauffen! B. Curd von Stauffen? S x-x A. ja! 60,10 B. Der ju[nge] Ritter den Saladin x-x all[ein] begna[digte]. nach der Schlacht A. [Es geht mich nicht] an, weil ich das Gelübde x-x [x-x] x-x B. Nun sehe! So war das Bild dem Patriarchen doch nicht aus

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60,15 der Seele. Ach! gleich wie immer in der meinen! wenn das dein Kopf x-x. Eile ihm nach! Ich muß ihn sprechen ‒ A. Nun so kom. B. Nein, erst in d[er Dunkelheit], soll ich dich zu ihm führen ‒ ‒ A. In der D[unkelheit]? hat er sich nun, oder hab ich ihn so zu scheuen? ‒ 60,20 B. Wohl keins von beyden. Aber du [x-x] Sala[din] [x-x] Aber Saladin laßt auf alles x

Dieser Endstufe des Arbeitsmanuskriptes – also dem Lesetext – habe ich dann im Apparat die Varianten zugeordnet. Noch Eins: Während des Entstehungsprozesses eines Werkes haben sicher nicht sämtliche Gedankengänge des Autors in der Arbeitshandschrift ihren schriftlichen Niederschlag gefunden. In seiner Dokumentation wird darum der Editor diese Lücken in der Regel auch nicht schließen können. Auf dem vorliegenden Blatt (H; S.43, 44) taucht z.  B. das Motiv der schwachen Erinnerungsfähigkeit des Patriarchen auf, er war zunächst hier in Zeile 59, 29 der Transkription genannt, später wurde diese Nennung nach 59, 24 vorgezogen, ohne dass die Zeilen 59, 25-28, die auf die ursprüngliche erste Nennung hinführten, gestrichen wurden. Hiermit bricht an dieser Stelle die Fixierung des Arbeitsprozesses ab – und nur das kann der Editor dokumentieren. Transkription S.59 (hier S. 144), Lesarten Entwurfshandschrift, Anhang [S.43] Szene 1 Der Entwurf zur Sc. 1 ist nur mehr schwer zu lesen, teilweise nicht mit Sicherheit zu entziffern. Lessing schreibt hier oft sehr verkürzt. Ausgelassene Buchstaben zu ergänzen und zu kennzeichnen würde die Transkription fast unleserlich machen. Verbesserungen in der Transkription scheinen möglich zu sein. 59,5-18

(nur A.) sind mit Tinte geschrieben, zwei Verbesserungen mit Rötel vorgenommen worden; zwei weitere längere Varianten stehen am rechten Rand in Rötel. Ab Z. 18 (ab Darum) ist alles mit Rötel geschrieben. Die Schriftzüge in Rötel sind jünger als die in Tinte. Ehrwürdiger Vater ‒ ] (1) [Geistlicher Herr ‒] (2) darüber mit Rötel Ehrwürdiger1 59,5 Vater 1 Ehrwürdiger oder Ehrwürdger H 59,6 Layenbruder] erstes e korrigiert H 59,7 warum] als Kürzel geschrieben H 59,9-11 Geben wollen bis anzuflehn.] (1) Text (2) am Rande in Rötel, teilweise unlesbar: die Gabe macht der Wille. Auch / wart ich dir nicht nachgeschickt1, um etwas mir von dir zu betteln2. 1 nachgeschickt kaum lesbar 2 betteln kaum lesbar H 59,9 Zu dem] (1) [xx] (2) in derselben Zeile Zu dem H 59,10 bin] bin [xx] H betteln] kaum lesbar H nachgeschickt] kaum lesbar H 59,12 (1) Also bist du mir doch nachgeschickt1? 1nachgeschickt kaum lesbar

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(2) Aber1 nachgeschickt bist du mir doch? 1Aber nachgeschickt: über der Zeile, mit einem Bogen eingewiesen H 59,14-16 Wo bis nichts] (1) Wo ich eine Mittagssuppe1 sucht[e]2? ‒ und die Tische schon besetzt fand? ‒ Es thut nichts. ich habe3 noch vorgestern warm gegessen, und die Oliven sind4 reif. (Er langt nach einer auf der Erde u isst sie) 1 eine Mittagssuppe: darüber mit einem Bogen eingewiesen: ein Mittagessen 2 sucht[e]: sucht 3 habe: über der Zeile, mit einem Bogen eingewiesen 4 sind: in korrigiert (2) Text, am Rande in Rötel. Möglicherweise deuten zwei Striche über dem Anfang von 59, 14 an, dass die Zeilen der Textstufe (1) durch folgende am Rande ersetzt werden sollten: Wo ich ein kleines1 Pilgermahl sucht[e die] Tisch[e] schon besetzt fand? Es thut nichts 1 kleines: über der Zeile mit Bogen eingewiesen H 59,18 mir nachgeschickt] Konjektur H 59,19 ehegestern] [x-x] ehegestern H warm] Konjektur, vielleicht eine H 59,21 nur] Konjektur H zuv[iel]] sehr unsicher H 59,23 Aber] [x-x]! - Aber H 59,24 [x-x]] (1) Die erste Fassung ist nicht mehr lesbar, ist gestrichen und von einer zweiten teilweise überschrieben. Die überschriebene zweite passt aber nicht zu 59, 29, dürfte also vermutlich jünger als die folgenden Zeilen sein; (2) Der Patriarch hat dich erblickt, u. H 59,25 Ich] (1) [x-x]1 1zwei vielleicht gestrichene Wörter, die vermutlich zur Fassung (1) von 59, 24 gehören (2) in derselben Zeile: Ich H 59,31 Das dünkt ihm auch.] (1) davor zwei(?) Wörter gestrichen und unleserlich (2) Sofortkorrektur: Text H er kann] unsicher H 59,32 Entzifferung sehr unsicher H

Transkription von S. 60 (hier S. 144f.), L e s a r t e n Entwurfshandschrift Anhang [S.44] Fortsetzung Szene 1 60,4 lasse] (1) [x-x] (2) lasse H von Einem Mann] später hinzugefügt H 60,5 wird] (1) [ist so] (2) wird H ein bis aber] kaum lesbar H 60,9ff. schwer lesbar; Muncker schreibt (Bd. XXII, 1 S. 110): „Diese ganze Rede ist nicht mehr zu entziffern […]“. H 60,10f. Der bis begna[digte]] (1) fast unleserlich B. x-x1 der junge2 Tempelherr, den Saladin x-x3 1 B. x-x: nach B. ein unleserliches Wort, vielleicht Schein korrigiert

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2 junge bis begna[digte]: (a) [, den Saladin x-x begna[digte]] (b) junge Tempelherr

den Saladin begnadigte über der Zeile mehrere unleserliche Wörter, darüber unleserlicher Wortansatz H (2) Text H 60,12 [Es bis x-x]] (1) [Weil ich] (2) Sofortkorrektur: Text Es: E korrigiert H 60,14-16 nur teilweise lesbar; Muncker schreibt: „B. Nun sehe. So war das Bild dem Patriarchen doch nicht gar aus der Seele. Ach gleich wie immer in der meinen [?] wenn das dein Kopf bewirken würde. Eile ihm nach! Ich muß ihn sprechen. ‒ ‟ Zeile 60, 16 ist wohl als Selbstanrede zu verstehen. H 60,14 Nun] N korrigiert H aus] (1) [x-x] (2) aus H 60,15 wenn bis Kopf] kaum leserlich, Konjektur H 60,18 d[er Dunkelheit]] nur ein d oder D sicher zu lesen H soll bis führen ‒ ‒] darüber nahm Er x-x, [x-x] dich finden1 1am Rande steht: so wir finde H 60,19 D[unkelheit]] nur ein d oder D sicher zu lesen H nun] sehr unsicher H 60,20f. Letztes Drittel der Zeile 60,20 und etwas mehr als das erste Drittel der Zeile 60,21 gestrichen, was wohl zusammenhängen dürfte. Der gestrichene Text ist nicht lesbar. H 60,20 B. Wohl bis Sala[din]] B. Wohl keins von beyden. Aber1 du [x-x] Sala[din] 1Aber: A korrigiert H 60,21 [x-x]] Aber Saladin laßt auf alles x H

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Dieser Apparat ist nur ein work in progress, bleibt unvollkommen. Aber das zeigt eins: Die Editionsmethoden und das textkritische Handwerkszeug muss der Editor nach wie vor beherrschen, davon dispensiert ihn auch der Fortschritt in den Medien nicht, ja, sie haben sich in den letzten 100 Jahren teilweise erheblich verfeinert, und m.E. erfordert auch das eine digitale Neuedition von Lessings Werken, Schriften und Briefen.

Christine Vogl

Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition Mit einer exemplarischen Untersuchung aus seinem Laokoon-Nachlass1 Im Vergleich zu der Aufmerksamkeit,1die den Autographen anderer Klassiker der europäischen Literaturgeschichte schon seit geraumer Zeit entgegengebracht wird, haben die Handschriften von Gotthold Ephraim Lessing bislang ein Schattendasein geführt. Dies mag zum einen durch das mangelnde Interesse der Philologie im 19. Jahrhundert zu begründen sein, auf deren editorischen Leistungen die LessingForschung bis heute aufbaut, zum anderen aber durch das ungünstige Schicksal, das seinen Manuskripten widerfahren ist.2 Noch bis vor wenigen Jahren war nicht einmal bekannt, wie viele seiner in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuten Autographen überhaupt erhalten sind. Diesem Missstand konnte das von Wolfang Milde bearbeitete Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften, das seit 2016 vollständig vorliegt,3 endlich abhelfen. Der Katalog setzt einen Meilenstein in der Lessing-Forschung – nicht nur, weil er das bewegte Schicksal der Autographen dokumentiert, die heute auf über 50 Aufbewahrungsorte in 13 Ländern verstreut sind, sondern auch, weil er über den bis dato kaum abzuschätzenden Umfang der erhaltenen Handschriften genaue Auskunft gibt. Wie sich der Dokumentation entnehmen lässt, sind uns immerhin rund 1800 Blatt Werkmanuskripte, Fragmente und Notizen sowie über 380 Briefe, Stammbucheinträge und andere datierte Schriftstücke von Lessings Hand aus den Jahren 1743 bis 1781 überliefert.4 Hinzu kommen 1

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Der vorliegende Artikel ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meines Tagungsbeitrages, der sich als Ergänzung versteht zu den grundsätzlichen Überlegungen in meiner Studie: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses von Gotthold Ephraim Lessing. Ein Plädoyer für analytische Handschriftenforschung. In: editio 32 (2018), S. 137–166. Vgl. dazu ausführlicher Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Bd.  1: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel – Deutsche Staatsbibliothek Berlin DDR – Biblioteka Uniwersytecka Wrocław. Unter Mitarbeit von Christine Hardenberg. Heidelberg 1982 (Bibliothek der Aufklärung 2), S. 18–29; Ders.: Einige Bemerkungen über Lessings gelehrten Nachlaß. In: Lessing in heutiger Sicht. Beiträge zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinatti, Ohio 1976. Hrsg. von Edward P. Harris und Richard E. Schade. Bremen/Wolfenbüttel 1977, S. 211–220; Günter Schulz: Der Familienstreit nach Lessings Tod. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 2 (1975), S. 223–249. Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Hrsg. von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel. Bd. 1 [Reprint der Ausgabe Heidelberg 1982], S. 1–285; Bd. 2: Amsterdam bis Zürich. Unter Mitarbeit von Winfried Woesler mit Nachträgen von Wolfgang Albrecht, Christian Heitzmann und Christine Vogl. Hannover 2016, S. 287–569. Nachweise von Zitaten aus dieser Ausgabe im Folgenden nur mit Seitenzahl ohne Bandangabe. Gezählt werden nur echte Autographen von Lessings Hand, keine fremden Abschriften, fotomechanischen Reproduktionen oder sonstigen Schriftstücke, die bei Milde: Gesamtverzeichnis (Anm.  3) ebenfalls dokumentiert sind. Die genannte Blattzahl umfasst auch leere Seiten, sofern es sich um Papiere von Lessing handelt. Denn insbesondere bei Heften und größeren Konvoluten hat er zwar nicht immer alle Blätter beschrieben, häufig aber paginiert oder anderweitig präpariert, sodass sie für eine Materialanalyse nicht unerheblich sind.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-007

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noch Anmerkungen in verschiedenen Drucken sowie 148 amtliche Schreiben im Namen des Preußischen Generals und Breslauer Gouverneurs Friedrich Bogislaw von Tauentzien (1710–1791), die Lessing zwischen 1760 und 1764 als dessen Sekretär verfasst hat.5 Diese Bestandsaufnahme ist für die moderne Lessing-Philologie Gabe und Aufgabe zugleich, denn nun gilt es, das dokumentierte Korpus entsprechend auszuwerten. Dabei haben sich in den letzten Jahren zwei große Desiderate herauskristallisiert: Einerseits ist ein erneuter, systematischer Vergleich aller erhaltenen Handschriften erforderlich, um Fehllesungen der bisher vorliegenden Ausgaben aufzudecken, unberechtigte Herausgebereingriffe zurückzunehmen und Entstehungsvarianten gemäß heutigen editionswissenschaftlichen Standards vollständig abzubilden.6 Diese Aufgabe erscheint umso dringlicher, als die Textgrundlage für die moderne LessingForschung immer noch die von Karl Lachmann und Franz Muncker besorgten Sämtlichen Schriften bilden, die zwar für das 19. Jahrhundert eine beachtliche Leistung darstellen, aber heutigen Maßstäben nicht mehr genügen können. Sowohl der Beitrag von Winfried Woesler im vorliegenden Band als auch die einschlägigen Untersuchungen von Karl Guthke, Wolfgang Milde, Winfried Woesler und Ute Schönberger belegen,7 dass die nachgewiesenen Mängel dieser Ausgabe nicht nur in den Drucken, sondern auch in den handschriftlich überlieferten Texten auftreten. Dazu gehören Lesefehler und stillschweigende Herausgebereingriffe ebenso wie die unvollständige und undifferenzierte Verzeichnung der Varianten. Angesichts solch gravierender Mängel kann von einem „bis auf Komma und Punkt correcten und authentischen Text“8 keine Rede mehr sein, und die noch von Paul Rilla gehegte Hoffnung, mit den Sämtlichen Schriften die „textkritische Arbeit abgeschlossen zu haben“,9 erweist sich als utopisch. Bedenklich erscheint vor diesem Hintergrund außerdem, dass sämtliche Studienausgaben des 20. Jahrhunderts  – einschließlich

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Siehe Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 3), bes. S. 324–367. Diese und weitere Amtsbriefe Lessings, die heute teilweise als verschollen gelten, sind abgedruckt in LM  18, S.  369–501. Ergänzend dazu die Nachträge von Wolfgang Albrecht: Lessing in persönlichen Kontakten und im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Eine neue Quellenedition. Kamenz 2018 (Begleitbücher zur Dauerausstellung des Lessing-Museums Kamenz), S. 19–23. 6 Vgl. dazu die folgende Anmerkung sowie Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2016, S.  60; Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition. 2), S. 315–327, hier S. 319f. 7 Karl S. Guthke: Aufgaben der Lessing-Forschung heute. Unvorgreifliche Folgerungen aus neueren Interessenrichtungen. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 9 (1981), S. 131–160, bes. S. 133–136; Wolfgang Milde: Textkritische Anmerkungen zu drei Lessingbriefen. Zur Zuverlässigkeit der Textwiedergabe. In: Lessing Yearbook 17 (1985), S.  133–146; Winfried Woesler, Ute Schönberger: Wie könnte eine neue Lessing-Ausgabe aussehen? In: Literarische Fundstücke. Wiederentdeckungen und Neuentdeckungen. Festschrift für Manfred Winterfuhr. Hrsg. von Ariane Neuhaus-Koch und Gertrude Cepl-Kaufmann. Heidelberg 2002, S. 11–31, bes. S. 21–23. 8 Gotthold Ephraim Lessings Sämtliche Schriften. Hrsg. von Karl Lachmann. 3. auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart/Leipzig 1886–1924 (im Folgenden zitiert als LM mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 1, S. VI. 9 Gotthold Ephraim Lessing: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Paul Rilla. Berlin 1954–1958 (im Folgenden zitiert unter der Sigle R mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 1, S. 36.

Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition

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derjenigen von Wilfried Barner10 – ihren Editionen den Text von Lachmann/Muncker beinahe ungeprüft zugrundelegen. Da sie in aller Regel modernisierend in die Orthographie und bisweilen sogar in die Interpunktion der Vorlage eingreifen, entfernen sie sich dadurch noch weiter von der ursprünglichen Textgestalt als die Sämtlichen Schriften. Daher ist den oben zitierten Lessing-Forschern beizupflichten: Ein erneuter, systematischer Vergleich sämtlicher uns heute vorliegender LessingHandschriften gehört zu den dringlichsten Desideraten der Forschung, auf die eine kritische Neuausgabe unter keinen Umständen verzichten kann. Denn nur durch einen solchen Vergleich können einerseits tradierte Textfehler korrigiert und andererseits endlich alle handschriftlichen Varianten vollständig verzeichnet werden. Eine digitale Neuedition hätte darüber hinaus noch den großen Vorteil, dass sie sämtliche Varianten nicht etwa in einen Einzelstellenapparat im Anhang verweisen müsste, sondern dass ihr wesentlich bessere Darstellungsmöglichkeiten zu Gebote stehen. Eine Lösung bestünde etwa darin, Lesarten am Bildschirm per Mouseover direkt an Ort und Stelle oder in einem zweiten Fenster neben dem edierten Text anzuzeigen, wodurch sowohl Korrekturzusammenhänge als auch die Textgenese leichter nachvollziehbar würden. Will man den Maßstäben moderner genetischer Editionen gerecht werden, so würde sich ein mehrstufiges Editionsmodell anbieten, das zumindest für alle handschriftlichen Überlieferungsträger ein Faksimile, eine differenzierte Umschrift und einen edierten bzw. konstituierten Text bietet. Diese unterschiedlichen Präsentationsformen ließen sich in einem dynamischen Edi­ tionsmodell je nach Benutzerinteresse auf dem Bildschirm einzeln oder synoptisch anzeigen. Für die differenzierte Umschrift wären auf graphetischer bzw. graphematischer Ebene außerdem mehrere Darstellungsoptionen denkbar, etwa mit zwei oder drei Formen des „s“, mit originaler oder moderner Umlautschreibung und mit oder ohne Differenzierung der Majuskeln „I“ und „J“. Dass auch dafür eine erneute Entzifferung sämtlicher Überlieferungsträger eine unabdingbare Voraussetzung wäre, liegt auf der Hand. Doch nicht nur in ihrer Funktion als Textzeugen muss Lessings Handschriften eine grundlegende Bedeutung in einer historisch-kritischen Neuedition zukommen, sondern auch in ihrer Eigenschaft als Entstehungsdokumente. Denn jeder handschriftliche Überlieferungsträger ist auf einzigartige Weise Zeuge der empirischen Textgenese und gibt damit zugleich Einblick in den dichterischen Schreibprozess, der sich bei größeren Projekten Lessings nicht selten über Jahrzehnte hinzog und durch wiederholte Neuansätze zu jener komplexen Werkgenese führte, die noch lange nicht hinreichend erforscht ist. Lessings Handschriften als Entstehungsdokumente zu untersuchen, erscheint umso dringlicher, da sie meist die einzigen zuverlässigen Zeugen der Genese eines Textes oder Projektes sind. Denn bis auf einige verstreute Hinweise in seinen Collectanea und die spärlichen Aufzeichnungen in seinem Notiz­ buch der Italienischen Reise ist uns kein Tagebuch überliefert, das uns Aufschluss über sein schriftstellerisches Schaffen geben würde. Auch die Aussagen, die sich in Lessings Briefwechsel finden, sind weder so detailliert noch so belastbar, dass sich 10

Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im Folgenden zitiert unter der Sigle B mit Band- und Seitenzahl).

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daraus die Entstehungsgeschichte seiner Schriften und Projekte zuverlässig rekon­ struieren ließe. Dasselbe gilt für die überlieferten Zeugnisse Dritter, allen voran die von seinem Bruder Karl Gotthelf Lessing verfasste Biographie.11 Angesichts dieser Sachlage kann es nicht verwundern, dass insbesondere bei den Entwürfen und Fragmenten aus Lessings handschriftlichem Nachlass bis heute weitgehende Unklarheit hinsichtlich ihrer Entstehungszeit und -reihenfolge besteht. Dieser Umstand muss jede Neuedition, die sich wie Wilfried Barners zwölfbändige Studienausgabe zum Ziel setzt, Lessings Texte chronologisch nach Schaffensphasen anzuordnen, vor ein unlösbares Dilemma stellen. Daher sah sich Jürgen Stenzel bereits im ersten Band der Frankfurter Ausgabe genötigt, einzugestehen, dass er dem Leser im Folgenden nicht mehr bieten könne als den „Versuch einer, gewiß revisionsbedürftigen, chronologischen Übersicht der Entstehungszeiten“.12 Die angestrebte Anordnung der Texte nach Schaffensphasen erweist sich damit allerdings als ein utopisches Unterfangen. Wenn eine historisch-kritische Neuedition nicht in dasselbe Dilemma geraten will, muss es daher zu ihren vordringlichsten Aufgaben gehören, sämtliche überlieferte Handschriften nicht nur zum Gegenstand einer systematischen Textentzifferung zu machen, sondern sie auch einer umfassenden Materialanalyse zu unterziehen, wie sie Marianne Bockelkamp unter dem Begriff der analytischen Handschriftenforschung vorgeschlagen hat13 und wie sie insbesondere von Vertretern der französischen ‚critique génétique‘ bis heute mit Erfolg betrieben wird.14 Das Innovative an Bockelkamps Methode war es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihres Grundlagenwerkes, dass sie Verfahren, die bislang nur im Zusammenhang mit Überlieferungsträgern aus der Antike, dem Mittelalter oder der Frühen Neuzeit Anwendung gefunden hatten, zum ersten Mal systematisch an literarischen Handschriften der Moderne erprobte. Dazu gehört eine dreistufige Untersuchung der Textträger, der Schreibstoffe und der Schrift, die mit einer akribischen Be11

Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse. Hrsg. von Karl Gotthelf Lessing. 1. Theil. Berlin 1793. Ergänzend und teilweise korrigierend hinzuzuziehen sind die Dokumentationen von Richard Daunicht: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. München 1971, sowie von Wolfgang Albrecht: Lessing. Chronik zu Leben und Werk. Kamenz 2008 (Begleitbücher zur Dauerausstellung des Lessing-Museums Kamenz); Ders.: Lessing. Gespräche, Begegnungen, Lebenszeugnisse. 2 Bde. Kamenz 2005; Ders.: Lessing im Spiegel zeitgenössischer Briefe. Ein kommentiertes Lese- und Studienwerk. 2 Bde. Kamenz 2003. Zu beachten sind ferner die Nachträge zu den Begleitbüchern zur Dauerausstellung des LessingMuseums Kamenz in: Albrecht: Lessing in persönlichen Kontakten (Anm. 5). 12 B 1, S. 1044. 13 Marianne Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Heine-Handschriften der Bibliothèque Nationale Paris. Hamburg 1982. Bei der Bezeichnung ,analytische Handschriftenforschungʻ handelt es sich um eine bewusste Analogiebildung zu der von Martin Boghardt entwickelten analytischen Druckforschung, der Bockelkamps Ansatz grundlegende Impulse verdankt; vgl. ebd., S. 31 und 35, sowie Martin Boghardt: Analytische Druckforschung. Ein methodischer Beitrag zu Buchkunde und Textkritik. Hamburg 1977. 14 Zu Geschichte, Ziel und Methodik der ‚critique génétique‘ vgl. Almuth Grésillon: Erfahrungen mit Textgenese, ‚critique génétique‘ und Interpretation. In: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hrsg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski. Berlin/Boston 2014 (Beihefte zu editio. 37), S. 67–79; dies.: Literarische Handschriften. Einführung in die „critique génétique“. Aus dem Französischen übersetzt von Frauke Rother und Wolfgang Günther, redaktionell überarbeitet von Almuth Grésillon. Bern u.a. 1999.

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schreibung des materialen Befundes beginnt und über einen analytischen Vergleich mit möglichst vielen anderen Handschriften aus dem zu untersuchenden Korpus schließlich zu einer fundierten philologischen Auswertung gelangt.15 Dass sich eine solche systematische Analyse lohnt, ja die unverzichtbare Grundlagenforschung für die Literatur- und Editionswissenschaft leistet, konnten Bockelkamp und ihre Kollegen aus der ‚critique génétique‘ nicht nur für die Handschriften Heinrich Heines eindrucksvoll zeigen, indem es ihnen mit ihrer Methode gelang, bis dato unlösbare Datierungsfragen zu beantworten, unbekannte Entstehungszusammenhänge aufzudecken und die Genese zahlreicher literarischer Texte zu rekonstruieren.16 Auch wenn Bockelkamps Ansatz im deutschen Sprachraum bislang nur auf wenig Echo gestoßen ist, fehlt es doch nicht an vergleichbaren Untersuchungen in anderen Kontexten, wie ich im Rahmen meiner Studie Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses von Gotthold Ephraim Lessing dargelegt habe.17 Auch in der neugermanistischen Editionswissenschaft ist – nicht zuletzt dank der vielfältigen neuen Möglichkeiten im Rahmen digitaler Ausgaben – ein verstärktes Interesse an der Materialität literarischer Handschriften zu beobachten, das bereits mit den genetischen Editionen im 20.  Jahrhundert seinen Anfang nahm.18 Die erste neugermanistische Edition, die zur Rekonstruktion der empirischen Textgenese nicht nur den Papierund Schriftbefund systematisch ausgewertet, sondern auch naturwissenschaftliche Tintenanalysen mit Erfolg zum Einsatz gebracht hat, ist die Marburger Büchner15

Vgl. Bockelkamp: Analytische Forschungen zu Handschriften des 19. Jahrhundert (Anm. 13), bes. S. 32–36 und 39–98. Neben den Autographen Heinrich Heines wurden am damaligen Centre d’Histoire et d’Analyse des Manuscripts Modernes auch literarische Handschriften von Flaubert, Zola, Proust, Valéry, Sartre, Louis Aragon, Elsa Triolet und James Joyce untersucht; vgl. Grésillon: Erfahrungen mit Textgenese (Anm.  14), S.  68. Forschergruppen am heutigen Institut des textes et manuscrits modernes (ITEM) in Paris widmen sich darüber hinaus Rousseau, Voltaire, Renan, Goncourt, Michon, Balzac, Barthes, Celan und Nietzsche. Einen Überblick über die Fülle an Publikationen, die von Vertretern der ‹critique génétique› bislang vorgelegt wurden, bietet das seit 1992 erscheinende internationale Periodikum Genesis des Pariser Instituts. Eine Auswahl der wichtigsten Reihen, Zeitschriften, genetischen Editionen und Forschungsbeiträge findet sich auch in der aktualisierten französischen Ausgabe von Almuth Grésillon: Éléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes. Paris 2016, S. 293–307. 17 Siehe Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses (Anm. 1), S. 142–149. Ergänzend zu der dort gebotenen Auswahl an Spezialliteratur aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen, die sich freilich um ein Vielfaches erweitern ließe, sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass auch im Rahmen praxeologischer Ansätze in den Kulturwissenschaften ein verstärktes Interesse an der Materialität und Medialität kultureller Überlieferung zu beobachten ist. Allerdings konzentrieren sich die häufig an Briefkorpora oder historischem Archivgut durchgeführten Untersuchungen, die mittlerweile in großer Zahl vorliegen, in der Regel auf Schriftträger und Schrift, ohne den Schreibstoff genauer zu analysieren. Stellvertretend für viele weitere sei hier etwa auf das seit 2018 laufende Großprojekt Prize Papers der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen verwiesen (siehe https://www.prizepapers.de/), aus dem bereits zahlreiche Publikationen hervorgegangen sind, u.  a. die Beiträge von Lucas Haasis, die aus praxeologischer Perspektive Papier, Schrift und Schreibpraktiken untersuchen: Papier, das nötigt und Zeit, die [drängt] übereilt. Zur Materialität und Zeitlichkeit von Briefpraxis im 18. Jahrhundert und ihrer Handhabe. In: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure, Handlungen, Artefakte. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 305–319. 18 Bahnbrechend in der Dokumentation und Interpretation des Manuskriptbefundes waren insbesondere die historisch-kritische Conrad Ferdinand Meyer-Edition und die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe: Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Zeller und Alfred Zäch. 15  Bde. Bern 1958–1996; Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. HistorischKritische Ausgabe. Hrsg. von Dietrich E. Sattler. 20 Bde. und 3 Suppl. Frankfurt/Basel 1975–2008. 16

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Ausgabe (2000–2013).19 Ihr folgte die Historisch-kritische Faust-Edition (2018), die ebenfalls Papier, Schrift und Schreibstoffe untersucht hat, um Fragen der Datierung und Textgenese zu beantworten.20 Dass sich vergleichbare Analysen auch für Lessings handschriftlichen Nachlass lohnen und eine unverzichtbare Voraussetzung für eine kritische Neuedition bilden, habe ich bereits in mehreren Studien zu zeigen versucht.21 Am eindrücklichsten lässt sich der Mehrwert solcher Untersuchungen wohl an jenen Notizen, Entwürfen und Vorarbeiten demonstrieren, die im Rahmen von Lessings Laokoon-Projekt entstanden sind. Obwohl nur der Erste Theil unter dem Titel Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie 1766 erscheinen konnte, lässt sich durch eine Analyse der überlieferten Handschriften nachweisen, dass Lessing mehr als zehn Jahre an dem ursprünglich auf drei Teile angelegten kunsttheoretischen Vorhaben gearbeitet hat. Allerdings konnte trotz einer über zweihundertjährigen Forschungs- und Editionsgeschichte bis heute nicht geklärt werden, welche Stücke aus seinem handschriftlichen Nachlass zum Laokoon-Korpus gehören und in welcher Reihenfolge sie entstanden sind. Da sich Lessing mit kunsttheoretischen und antiquarischen Fragestellungen auch in anderen Werkzusammenhängen befasst hat, war eine eindeutige Zuordnung vieler Nachlassstücke aufgrund fehlender Anhaltspunkte bislang nur schwer oder gar nicht möglich, wenngleich die neuere Lessing-Forschung und -Editorik diese Tatsache weitgehend ignoriert. Der vorliegende Beitrag möchte auf diese Problemlage aufmerksam machen und durch die exemplarische Untersuchung eines Notizblattes der Berliner LessingSammlung, das ursprünglich zum Laokoon-Nachlass gehört hatte, zeigen, dass es mit Hilfe der Methoden einer modernen analytischen Handschriftenforschung und philologischer Kriterien sehr wohl möglich ist, die bisher unlösbaren Fragen der Datierung und Zuordnung zu einem Werkkomplex zu beantworten. Dabei werde ich nach einer knappen Darstellung (1.) der Überlieferungs- und Editionsgeschichte (2.) eine 19

Vgl. hierzu den Editionsbericht in Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Burghard Dedner. Mitbegründet von Thomas Michael Mayer. Bd. 7/2: „Woyzeck“. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Hrsg. von Burghard Dedner u. a. Darmstadt 2005, S. 71–247, bes. S. 89–102. 20 In Ergänzung zum edierten Text enthält die digitale Komponente der historisch-kritischen FaustEdition von Anne Bohnenkamp u.a. (http://faustedition.net/) auch ein Archiv der Handschriften und textkritisch relevanten Drucke mit ausführlichen Zeugenbeschreibungen. Neben einer systematischen Erfassung und Reproduktion der Wasserzeichen sind im Rahmen dieser Ausgabe auch Röntgenfluoreszenzanalysen der Tinten erfolgt; vgl. hierzu Gerrit Brüning, Oliver Hahn: Goethes Helena-Dichtung in ursprünglicher Gestalt. Zum methodischen Verhältnis von Materialanalyse und Textkritik. In: editio 31 (2017), S. 145–172, sowie Gerrit Brüning u.a.: Kombination von philologischen und materialanalytischen Verfahren bei der Datierung von Schreibvorgängen. Eine Fallstudie: Ergebnisse der Röntgenfluoreszenzanalyse an „Faust“-Handschriften im Goethe- und SchillerArchiv. In: Archäometrie und Denkmalpflege 2013. Jahrestagung an der Bauhaus-Universität Weimar, 25.–28. September 2013. Hrsg. von Andreas Hauptmann, Oliver Mecking und Michael Prange. Bochum 2013 (Metalla. Sonderheft 6), S. 221–225. 21 Christine Vogl: Lessings Laokoon-Nachlass. Mögliche Antworten auf editorische Fragen. In: Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Hrsg. von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt. Berlin/Boston 2013 (Frühe Neuzeit, 181), S. 41–98; Dies: Lessing als Leser. Eine Spurensicherung in seinen Handexemplaren und Collectanea. In: Von Herkules bis Hollywood. Beiträge zur jüngeren Lessingforschung. Hrsg. von Helmut Berthold und Franziska Schlieker. Wolfenbüttel 2018 (Wolfenbütteler Vortragsmanuskripte 25), S. 49–87; Dies.: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses (Anm. 1).

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vergleichende Papier-, Schrift- und Tintenanalyse durchführen und basierend auf den Untersuchungsergebnissen (3.) eine philologische Einordnung des Nachlassstückes vornehmen, um daraus (4.) Schlussfolgerungen für die Lessing-Editorik zu ziehen.

1. Ein Nachlassstück zwischen zwei Werkkomplexen In der an der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrten Lessing-Sammlung ist uns unter der Nr. 48 ein gelbbräunliches Folioblatt überliefert, dessen Vorderseite mit kleinen, flüchtigen Notizen von Lessings Hand übersät ist (s. Abb. 1).22 Seit Franz Muncker diese Aufzeichnungen im 15. Band seiner überabeiteten Neuauflage der Sämtlichen Schriften im Jahr 1900 als ersten Entwurf zu den Briefen, antiquarischen Inhalts abgedruckt hat,23 folgen alle neueren Lessing-Ausgaben unhinterfragt seiner editorischen Entscheidung,24 obgleich über den Entstehungszusammenhang des Nachlassstückes bis heute ebenso große Unklarheit herrscht wie über die Zeit seiner Abfassung. Nach Munckers Einschätzung könnten die Notizen, die er einerseits als Reaktion auf die Lessing am 11. Oktober 1766 brieflich übersandte LaokoonRezension des Hallenser Professors Christian Adolph Klotz deutet und andererseits als Entwurf zum 35. Antiquarischen Brief betrachtet, „schon um die Mitte des Oktobers 1766 entstanden sein, vielleicht aber auch erst im folgenden Jahre, ja möglicherweise erst im Sommer 1768, als sich Lessing ernstlich zum Kampf gegen Klotz rüstete“.25 Nur wenig bestimmter mutet der Datierungsversuch von Wilfried Barner an, der im Kommentarteil der Frankfurter Ausgabe nach einem knappen Abriss der Vorgeschichte der Korrespondenz mit Klotz urteilt: „Der erste Teil des Entwurfs […] gehört offenkundig zum 35. ,Briefʻ […], der etwa im November 1768 verfaßt sein dürfte. Der Rest stellt sich inhaltlich in der Hauptsache zu Laokoon III.“26 Demnach scheint Barner noch stärker als Muncker für eine Entstehung im Herbst 1768 im Umfeld des 35. Antiquarischen Briefes zu plädieren. Wie zutreffend seine Einschätzung de facto ist, konnte bislang allerdings noch niemand überprüfen. Auch ein Blick in die ältere Überlieferungs- und Editionsgeschichte liefert keine eindeutigen Indizien für die Einordnung des Nachlassstückes. Zum ersten Mal als Manuskript erwähnt und ediert wurde es 1869 im Rahmen von Lessings LaokoonNachlass im 6. Teil der bei Gustav Hempel in Berlin erschienenen Werkausgabe,27 22 23

24

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Einzelheiten bei Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 3), S.  186. Der Eintrag auf der Rückseite des Blattes stammt von Lessings Bruder und Nachlassverwalter Karl Gotthelf (s. ebd.). LM 15, S. 87ff. Siehe B 5/2, S.  585f. und S.  1186ff., sowie Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a. Bd.  6: Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Hrsg. von Albert von Schirnding. München 1974, im Folgenden zitiert unter der Sigle G mit Band- und Seitenzahl, S. 709f. und 1008f. So auch Alfred Schöne in: Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in 25 Teilen. Hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen sowie einem Gesamtregister versehen von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen in Verbindung mit Karl Borinski u.a. Teil 17: Schriften zur antiken Kunstgeschichte. Hrsg. von Alfred Schöne. Berlin u.a. [1925], S. 263f., mit Erläuterungen in Teil 28, S. 733. Paul Rilla folgt bei den Antiquarischen Briefen ebenfalls Munckers Modell, allerdings schlägt er einen gewissen Sonderweg ein (s.u. S. 111 mit Anm. 66). LM 15, S. 87, Anm. 2. B 5/2, S. 1186. Lessing’s Werke. Sechster Theil: Laokoon. Berlin: Gustav Hempel 1869, S. 317f.

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nachdem es der damalige Besitzer Julius Friedländer (1813–1884) zusammen mit den übrigen Lessing-Handschriften seiner Berliner Sammlung dem Herausgeber „zu freier Benutzung“ und einer „genauen Durchsicht“ überlassen hatte.28 Auch wenn sich die Spur des Manuskriptes vor 1869 nur schwer zurückverfolgen lässt, so spricht schon seine damalige Zugehörigkeit zu den Berliner Laokoon-Papieren dafür, dass es bereits seit vielen Jahrzehnten Bestandteil der Friedländerschen Autographensammlung gewesen sein muss, die der gelehrte jüdische Kaufmann Benoni (1773–1858) von seinem Vater David Friedländer (1750–1834) früh übernommen und mit Geschick erweitert hatte, indem er nach dem Erhalt des Originalmanuskripts der Minna von Barnhelm im Jahr 1795 aus dem Besitz von Johann Jacob Engel (1741–1802) die Reinschrift des Laokoon einschließlich aller Entwürfe und Korrekturbögen noch dazu erwarb.29 Unter diesen Entwürfen muss sich auch das vorliegende Manuskript befunden haben, denn andernfalls hätte es der Hempel’sche Herausgeber kaum mit solcher Selbstverständlichkeit als Teil des Berliner Laokoon-Nachlasses ediert. In seiner Ausgabe erscheinen die Notizen nämlich unter der Nr. 23a und 23b der abgedruckten Stücke zu Lessings Laokoon-Projekt, ohne dass sich der Herausgeber genötigt sah, dafür eine besondere Begründung anzuführen. In einer Fußnote findet sich lediglich der Hinweis: Der Inhalt dieses Stückes, welches sich auf Lessing’s Erklärung der Statue des Borghesischen Fechters bezieht (vergl. „Laokoon“ Kap. XXVIII […]) ist größtentheils in den 35sten der „Antiquarischen Briefe“ übergegangen und war durch einen von Klotz gemachten Einwurf veranlaßt.30

Mit diesem konstatierten Bezug der Notizen zu Lessings Laokoon-Abhandlung einerseits und dem 35. Antiquarischen Brief andererseits war bereits im Jahr ihres Erstdruckes die entscheidende Grundlage für die gesamte weitere Überlieferungsund Editionsgeschichte gelegt. Denn auch Carl Robert Lessing (1827–1911), ein Großneffe des Dichters, der die wertvolle Autographensammlung von Julius Friedländer am 28. April 1876 in Berlin erwarb und neu ordnete, reihte das Manuskript unter die Laokoon-Papiere ein, wie nicht zuletzt ein von ihm beschrifteter Papierumschlag (ca. 21,2 x 17,4 cm) belegt, in dem es bis heute ruht.31 Auch die späteren

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Ebd., S. 178. Vgl. Carl Robert Lessings Bücher- und Handschriftensammlung. Hrsg. von ihrem jetzigen Eigentümer Gotthold Lessing. Bd. 1: Die Lessing-Büchersammlung bearbeitet von Arend Buchholtz und Ilse Lessing. Die Lessing-Handschriften- und die Lessing-Bildersammlung von Arend Buchholtz. Berlin 1914, S. If. Zur Bedeutung der Familie Friedländer für die Lessing-Sammlung siehe Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 3), S. 154–157. 30 Lessing’s Werke 1869 (Anm. 27), S. 317, Anm. 1. 31 Die Aufschrift auf der Vorderseite des Umschlages beweist nicht nur sein reges Interesse am Inhalt des Stückes, sondern dokumentiert zugleich den Forschungsstand seiner Zeit: „XXII | Oberhalb des Strichs: Erwiderung auf Klotzʼ | Einwürfe gegen eine Stelle des Laokoon | S. 288 der ersten Ausgabe. Diese Erwiderung | ist nachher zum 35t Briefe antiquarischen | Inhalts benutzt. Vergl. Ausg. v. Lachmann. Band 8 | S. 103. | Unterhalb des Strichs: vergl. Laokoon S. 26-28 | mit den Anmerk. S. 16 der ersten Ausgabe. | (Ein halber Bogen).“ Zur Nummerierung der von Carl Robert Lessing beschrifteten Umschläge der Berliner Sammlung siehe Vogl: Lessings Laokoon-Nachlass (Anm. 21), S. 44ff. 29

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Herausgeber fanden es dort vor, wie sowohl Emil Grosse32 und Hugo Blümner33 als auch Franz Muncker34 bezeugen. Während Blümner die Notizen in seiner großen Laokoon-Edition noch unter die „Materialien und Nachträge zum ersten Theil“ von Lessings kunsttheoretischem Projekt aufnahm,35 entschied sich Muncker jedoch dafür, sie als ersten Entwurf zu den Briefen, antiquarischen Inhalts abzudrucken, zumal sie für das 35. Stück „in gewissem Sinne als Vorlage diente[n]“.36 Damit hat er die Weichen für die Editions- und Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts erfolgreich gestellt, denn seitdem werden die Aufzeichnungen gewissermaßen als Urentwurf zu den Antiquarischen Briefen betrachtet. Nun gilt es allerdings zu klären, wie berechtigt diese Weichenstellung tatsächlich war.

2. Eine Spurensicherung zwischen Papier, Schrift und Tinte Wie in den meisten Fällen aus Lessings handschriftlichem Nachlass, so ist es auch bei den vorliegenden Notizen nicht möglich, die aufgeworfene Frage ausschließlich anhand philologischer und überlieferungsgeschichtlicher Indizien zu klären. Nicht zuletzt deshalb tradieren selbst die neueren Studienausgaben im Grunde immer noch den Forschungsstand des 19. Jahrhunderts. Wer diesen einer längst überfälligen Revision unterziehen möchte, muss darum neue Wege beschreiten. Hierfür bieten sich die Methoden moderner analytischer Handschriftenforschung an, die sich für die Untersuchung von Lessings gesamtem Nachlass hervorragend eignen.37 Auch für das vorliegende Manuskript können sie brauchbare Ergebnisse liefern. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Schriftträger, auf dem Lessings Notizen überliefert sind. Es handelt sich um ein ca. 33,5 x 20,5 cm großes Folioblatt aus mittelstarkem gelbbräunlichem Handpapier, das als Wasserzeichen zwischen der 3. und 7. Kettlinie den schlesischen Adler aufweist. Schon dieser Befund ist nicht unwesentlich, denn das am rechten und unteren Rand beschnittene Konzeptpapier ist in der Berliner Lessing-Sammlung kein Einzelgänger. Auch der sog. Urentwurf zum LaokoonProjekt38 ist auf derselben Sorte überliefert. Ein Vergleich der Kett- und Ripplinien mit dem ersten Blatt dieses Entwurfs spricht sogar dafür, dass hier genau dieselbe, aus der Papiermühle Breslau stammende Variante vorliegt, die in den frühen sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts hergestellt wurde.39 Angesichts der Tatsache, dass 32 33 34

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Vgl. Emil Grosse: Über Lessings Handschrift des Laokoon und den Nachlass zu demselben. In: Archiv für Litteraturgeschichte 9 (1880), S. 144–171, bes. S. 157 und 167. Siehe Lessings Laokoon. Hrsg. und erläutert von Hugo Blümner. 2. verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin 1880, S. XV–XVIII. Vgl. LM 15, S. 87, Anm. 2. Dabei fanden die Notizen seinem besonderen Organisationsprinzip entsprechend, das sich an den inhaltlichen Bezügen der Materialien zur Laokoon-Abhandlung orientiert, in drei verschiedenen Abschnitten unter B. 8, 12 und 40 ihren Platz (Blümner: Lessings Laokoon [Anm. 33], S. 409, 410 und 425ff). Vgl. LM 15, S. 87, Anm. 2. Vgl. dazu Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses (Anm. 1). Lessing-Sammlung Nr. 1; Einzelheiten bei Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 3), S.  172, und Vogl: Lessing Laokoon-Nachlass (Anm. 21), S. 64f. Siehe zu diesem eigentlich dreiteiligen Wasserzeichen mit Elementen aus dem Breslauer Wappen und dem kursiven Schriftzug ,Breslauʻ über der Jahreszahl ,1760ʻ Vogl: Lessings Laokoon-Nachlass

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diese Papiersorte im gesamten untersuchten handschriftlichen Nachlass sonst kein weiteres Mal vorkommt, darf man dem Befund durchaus Bedeutung beimessen, zumal Lessing seine Schriftträger in der Regel mit Bedacht wählte. Möglicherweise hat er also für die Abfassung seiner Notizen bewusst auf dieses Konzeptpapier zurückgegriffen, das er den Restbeständen seiner Laokoon-Papiere entnommen haben dürfte – warum, werden wir noch sehen. Doch sollten wir uns zuerst der Beschriftung zuwenden, um alle materialen Aspekte des Überlieferungsträgers möglichst genau zu untersuchen und daraus Rückschlüsse über seine Entstehung gewinnen zu können. Lessing hat nur die Blattvorderseite mit kleinen, flüchtigen Schriftzügen in 39 dichtgedrängten Zeilen beschrieben, die etwa zwei Drittel der Seite bis zum äußersten Rand füllen. Obwohl die Notizen zahlreiche Sofort- und Baldkorrekturen aufweisen und durch einen langen Querstrich in der unteren Blattmitte in zwei Abschnitte unterteilt sind, spricht der insgesamt relativ flüssige und gleichmäßige Duktus dafür, dass die Aufzeichnungen in einer einzigen Arbeitsphase sukzessive nacheinander ohne lange Vorüberlegungen zu Papier gebracht wurden. Das gesamte Erscheinungsbild des Überlieferungsträgers – die kleinen, bisweilen fast winzigen Schriftzüge, der fehlende Rand, die Korrekturen und das großformatige Konzeptpapier – suggerieren also, dass diese Notizen im Augenblick ihrer Niederschrift nicht als strukturierter Entwurf für eine spätere Weiterverwendung konzipiert waren, sondern vielmehr Lessings flüchtige Gedanken festhalten sollten, wie sie sich etwa im Zuge einer Lektüre bei ihm entwickelten. Da die Farbnuancen der verwendeten Tinte zwischen einem intensiven Kakao- und Dunkelbraun von Absatz zu Absatz leicht variieren, erscheint die Annahme plausibel, dass es sich hier tatsächlich um Lektürenotizen handelt, die Lessing beim Lesen nach und nach festgehalten hat. Vergleicht man diese Aufzeichnungen mit denjenigen, die uns auf den beiden Foliobögen desselben Breslauer Konzeptpapiers als sog. Urentwurf zum Laokoon-Projekt unter der Lessing-Sammlung Nr. 1 überliefert sind, so ist die Ähnlichkeit insbesondere mit den Notizen auf S. 4 des Konvoluts (s. Abb. 2) verblüffend. Hier wie dort begegnet nahezu das gleiche flüchtige braune Schriftbild und hier wie dort sind die Aufzeichnungen durch einen langen Querstrich in zwei Abschnitte unterteilt. Lediglich der Braunton der verwendeten Tinten erscheint bei der Nr. 1 etwas dunkler als bei der Nr. 48. Doch wie lässt sich diese äußere Ähnlichkeit zwischen dem sog. Urentwurf, der den bisherigen Annahmen zufolge 1762 oder 1763 in Breslau entstanden ist,40 und den vorliegenden Notizen erklären, wenn diese erst vier bis sechs Jahre später anzusetzen sind? Wirft eine vergleichende Handschriftenanalyse am Ende mehr Fragen auf, als sie beantworten kann? (Anm. 21), S. 52 mit Abb. auf S. 90. In den Papierhistorischen Sammlungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig ist es unter der Signatur II 489/0/2 belegt als Wasserzeichen der Papiermühle Breslau. 40 Vgl. LM 14, S. 334, Anm. 1; R 5, S. 758; G 6, S. 988; B 5/2, S. 638. Ebenso Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S.  401. Zur empirischen Genese des sog. Urentwurfs und seiner Datierung, die in mehrfacher Hinsicht korrigiert werden muss und zum obigen Befund in keinem Widerspruch steht, siehe Christine Vogl: Der (de)konstruierte Urentwurf. Analytische Handschriftenforschung zu Lessings Laokoon-Projekt (in Vorbereitung).

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Nur wenn wir auch den dritten Aspekt einer modernen Materialanalyse berücksichtigen, lässt sich das scheinbare Rätsel lösen und der Überlieferungsträger datieren. In der obigen Beschreibung des handschriftlichen Befundes war bereits mehrfach davon die Rede, dass Lessing als Schreibstoff Tinte verwendet hat. Schon die durch reine Autopsie feststellbare bräunliche Verfärbung des ursprünglich wohl schwarzen oder schwarzbraunen Schreibstoffes legt die Vermutung nahe, dass Lessing wie für nahezu sämtliche seiner Manuskripte und Briefe auch im vorliegenden Fall Eisengallustinte verwendet hat. Dieser Umstand ist für die moderne Forschung besonders günstig, denn einerseits variieren Eisengallustinten materialtechnologisch wesentlich stärker als andere Schreibstoffe aus dem 18. Jahrhundert und andererseits können sie mit naturwissenschaftlichen Verfahren heute zerstörungsfrei analysiert werden.41 Als beste Methode zur Differenzierung unterschiedlicher Tintenmixturen, die sich im Wesentlichen aus natürlichem Eisenvitriol und organischen Gerbstoffen zusammensetzen, hat sich bislang das von Wolfgang Malzer, Oliver Hahn und Birgit Kanngießer entwickelte Röntgenfluoreszenzverfahren mit Fingerprint-Modell erwiesen, das die elementare Zusammensetzung von Eisengallustinten untersucht.42 Diese innovative Methode macht sich den Umstand zunutze, dass es sich bei den Ausgangsmaterialien überwiegend um natürlich vorkommende Rohstoffe handelt und daher das verwendete Vitriol selten aus reinem Eisensulfat besteht, sondern meist auch Kupfer, Mangan, Kalium, Aluminium und/oder Zink enthält. Zur Differenzierung verschiedener Tinten werden die relativen Konzentrationen der Nebenelemente in Bezug auf die Hauptkomponente gemessen und so bestimmte Fingerprint-Werte für jede einzelne Sorte ermittelt.43 Dieses Verfahren wurde im Rahmen einer von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Tintenanalytischen Untersuchung der Handschriften G.E. Lessings zur Rekonstruktion der Genese seines ‚Laokoon‘-Projekts, eines vom 1. Mai 2016 bis zum 30. April 2017 durchgeführten Pilotunternehmens in der Lessing-Forschung, auch auf 100 Briefe und datierte Schriftstücke aus den Jahren 1758–1781 sowie auf verschiedene Entwürfe, Fragmente und Notizen aus dem Nachlass des Dichters angewandt, die an der Staatsbibliothek zu Berlin und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der Biblioteka Uniwersytecka Wrocław, der Biblioteka Jagiellońska in Krakau sowie der Bibliotheca Bodmeriana in Genf-Cologny aufbewahrt werden. Im Zentrum des Interesses standen dabei Datierungsfragen im Zusammenhang mit Lessings Laokoon-Handschriften, untersucht wurden aber auch seine antiquarischen Notizen, Entwürfe und Fragmente im weiteren Umfeld seines kunsttheoretischen Projekts, 41

Vgl. Oliver Hahn 2006: Eisengallustinten. Materialanalyse historischer Schreibmaterialien durch zerstörungsfreie naturwissenschaftliche Untersuchung. In: editio 20 (2006), S. 143–157, bes. S. 143– 149. 42 Siehe Wolfgang Malzer, Oliver Hahn und Birgit Kanngießer: A fingerprint model for inhomogeneous ink – paper layer systems measured with micro-x-ray fluorescence analysis. In: X-Ray Spectrometry 33 (2004), S. 229–233. 43 Vgl. Oliver Hahn: Zerstörungsfreie naturwissenschaftliche Untersuchung von historischem Schriftgut. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert. Berlin/New York 2010 (Beihefte zu editio 32), S. 15–26, hier S. 17f. Der Fingerprint-Wert ist proportional der Konzentration der einzelnen Elemente.

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darunter u.a. das vorliegende Blatt. Dabei konnte mit Hilfe der Fingerprint-Methode eine erstaunlich große Sortenvielfalt festgestellt werden, die nicht zuletzt auf Lessings häufige Ortswechsel zurückzuführen ist. Weniger überraschend war hingegen die Erkenntnis, dass die meisten Grundtypen in verschiedenen Varianten auftreten. Denn wie bereits der Name verrät, erfolgte die Herstellung von Eisengallustinten in aller Regel mit Hilfe von Gallapfelextrakten, also organischen Materialen, die dem Schimmelbefall ausgesetzt waren. Außerdem konnten sie bei längerer Aufbewahrung eintrocknen oder sich verfärben.44 Der einfachste Weg, um diese Gefahren zu umgehen, war daher ein relativ schneller Verbrauch, sodass Lessing meist schon nach wenigen Wochen eine neue Tinte anrührte oder besorgte, was bei denselben Zutaten am gleichen Ort in der Regel allerdings nur eine andere Variante desselben Grundtyps ergab.45 Vor diesem Hintergrund mögen die Analyseergebnisse für die vorliegende Handschrift auf den ersten Blick umso mehr Rätsel aufgeben. Denn nicht nur Papier und Schriftbild weisen eine verblüffende Ähnlichkeit zum sog. Urentwurf des LaokoonProjekts auf, sondern auch der Schreibstoff. Die Notizen sind nämlich mit einer Variante jenes Berliner Tintentyps verfasst, der sich auch auf S. 1 des Urentwurfs nachweisen lässt und den Lessing zwischen Sommer 1765 und Herbst 1766 mehrfach verwendet hat – allerdings in unterschiedlichen Varianten. Die letzte eindeutig datierbare Verwendung dieser Tinte erfolgte am 31. Oktober 1766, denn von diesem Tag ist uns eine Briefhandschrift überliefert,46 die Lessing mit einer Mixturvariante desselben Typs verfasst hat. Das holländische Papier und die verwendete Feder für diesen Brief sind zwar etwas dünner (s. Abb. 3), doch die Schriftzüge weisen die gleiche Form und Flüchtigkeit auf wie beim vorliegenden Blatt. Die Resultate der vergleichenden Materialanalyse führen also zu der Schlussfolgerung, dass die Notizen zwischen Sommer 1765 und Ende Oktober 1766 entstanden sein müssen. Stellt man dieses Ergebnis nun dem oben zitierten Datierungsversuch von Franz Muncker gegenüber, so ergibt sich als einzige Schnittmenge der in Frage kommenden Entstehungszeiträume der Oktober 1766. Wie plausibel ist diese Datierung? Um ihre Richtigkeit zu überprüfen, sollten wir nun auch philologische Kriterien hinzuziehen und den überlieferten Text genauer beleuchten.

3. Philologische Einordnung und Kontextualisierung der Notizen Die bisherigen Untersuchungen des Überlieferungsträgers haben bereits gezeigt, dass es sich dabei um keinen wohldurchdachten Entwurf handelt, sondern um ein einfaches Notizblatt, auf dem Lessing offensichtlich in relativ kurzer Zeit seine 44

Vgl. Elisabeth Vaupel: 130 Jahre moderne Schreibtinten. Ein Stück Chemiegeschichte im Spiegel eines Kindergedichts. In: Kultur und Technik 10, 1986, S. 153–161, hier S. 157, sowie Eric Le Collen: Feder, Tinte und Papier. Die Geschichte schönen Schreibgeräts. Aus dem Französischen von Cornelia Panzacchi. Hildesheim 1999, S. 32. 45 Zur Unterscheidung von (Grund-)Typen und Varianten siehe Vogl: Zur Materialität des handschriftlichen Nachlasses (Anm. 1), S. 161 mit Anm. 99. 46 Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Lessing-Sammlung Nr. 81 (Lessing an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 31.10.1766). Einzelheiten bei Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 3), S. 194f. Abgedruckt in: LM 17, S. 224f.

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Gedanken in linearer Abfolge festgehalten hat, so wie sie sich bei ihm im Augenblick der Niederschrift entwickelt haben. Auf diese grundsätzlich unstrukturierte Aufzeichnung seiner Einfälle deuten nicht zuletzt die mit Einweisungszeichen versehenen Nachträge zum oberen Abschnitt hin, welche die zuerst formulierten Gedanken wenige Zeilen später noch weiter ausführen oder um bestimmte Aspekte ergänzen. Dabei fällt die dialogische Grundstruktur der Notizen auf, die zwischen kritisch-polemischer Anklage und rhetorisch-argumentativer Selbstverteidigung changieren. Bereits der erste Satz wirkt wie ein als rhetorische Frage formulierter Protest gegen die Behauptung eines nicht näher bestimmten Kontrahenten: „Warum soll man sagen können obnixa frons und nicht obnixum genu?“47 Mit der folgenden Forderung wendet sich Lessing noch unmittelbarer an sein Gegenüber: „Und man zeige mir doch, wie nach der gemeinen Auslegung die Stellung des Chabrias gewesen seyn müße?“48 Im nächsten Absatz sieht sich Lessing hingegen genötigt, seine eigene Position gegenüber einer falschen Vereinnahmung durch seinen impliziten Dialogpartner richtigzustellen: „Obnixo genu sollte so viel seyn, als obnixo gradu? Das ist gar nicht meine Meynung. Sondern ich denke mir, wie gesagt, daß blos die Stellung des linken Knies damit angegeben worden.“49 Schon aus diesen knappen Auszügen, die auf einen gelehrten Disput hindeuten, ist die den Aufzeichnungen zugrundeliegende Konstellation leicht zu erschließen: Der Verfasser der Notizen setzt sich kritisch-polemisch mit einem Prätext B auseinander, dessen Autor Lessings Positionen kritisiert haben muss, die Letzterer in einem diesem vorausgehenden Prätext A vertreten hatte. Inwieweit lassen sich diese beiden Prätexte näher bestimmen? Bereits Muncker und seine Vorgänger haben zur Beantwortung dieser Frage wichtige Hinweise geliefert, wie wir oben sehen konnten. Sind seine Thesen anhand der Aufzeichnungen zu verifizieren? Prätext A können wir durch die erwähnten Bezugnahmen auf kunstgeschichtliche Streitpunkte wie „die Stellung des Borghesischen Fechters“ bzw. „des Chabrias“, den „Ajax des Timomachus“ und die „Küste des Cypselus“50 problemlos als die zur Ostermesse 1766 erschienene Laokoon-Abhandlung identifizieren, mit der sich Lessing nicht nur auf dem Gebiet der kontrastiven Kunsttheorie und Ästhetik, sondern auch in der zum Modefach avancierten Altertumskunde einen Namen zu machen suchte. Die Schrift wurde begeistert aufgenommen und schon bald von zahlreichen Rezensenten besprochen. Zu Letzteren gehörte auch der von Muncker erwähnte Hallenser Ordinarius der Philosophie und Beredsamkeit Christian Adolph Klotz, der sich durch einen kritischen Seitenhieb auf seine Epistolae Homericae (1764) in Laokoon XXIV51 offensichtlich zu einer Reaktion herausgefordert sah,52 sodass er Lessing bereits am 9. Mai 1766 brieflich mitteilte: 47

LM 15, S. 87. Ebd., S. 88. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 87f. Vgl. zu den genannten Punkten Laokoon XXVIII, III und XI (s.u. Anm. 57ff.). 51 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hrsg. von Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012, S. 175. 52 Zu den größeren Zusammenhängen und zur Vorgeschichte des antiquarischen Streits, die eigentlich zur frühen Rezeptionsgeschichte der Laokoon-Abhandlung gehört, siehe neben den einschlägigen Kommentaren der Frankfurter Ausgabe (B 5/2) Wilfried Barner: Autorität und Anmaßung. Über 48

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Wie viel Vergnügen macht mir nicht Ihr Laokoon! […] Ein Mann von Ihrer Denkungsart nimmt mein Geständniß nicht übel, daß ich nicht überall mit Ihren Meinungen zufrieden bin. Ja ich bin so frey zu glauben, daß Sie mir erlauben, wenn ich meinen Zweifeln weiter nachgedacht habe, solche in den Actis litter. Ihnen mitzutheilen.53

Lessing hatte darauf am 9. Juni desselben Jahres in freundschaftlichem Ton geantwortet, er könne sich auf sein „ausführliches Urtheil in den actis litter. nicht anders als freuen“.54 Am 11. Oktober 1766 schließlich übersandte Klotz seinem Korrespondenzpartner die angekündigte Rezension, die soeben in seiner lateinischen Zeitschrift Acta Litteraria erschienen war.55 In dieser ausführlichen Besprechung suchte er nach einer den Autor und sein Werk rühmenden Einleitung56 in erster Linie Lessings Thesen zu verschiedenen kunstgeschichtlichen Detailfragen zu widerlegen, u.a. bei den genannten strittigen Punkten, allerdings in umgekehrter Reihenfolge: Während Klotz – dem Gang der Laokoon-Abhandlung folgend – zuerst auf das antike Gemälde des ,rasendenʻ Ajax von Timomachus,57 dann auf die Kypseloslade im Heratempel von Olympia58 und erst 23 Seiten später auf Lessings Identifikation der antiken Skultpur des sog. Borghesischen Fechters mit dem athenischen Feldherrn Chabrias eingeht,59 befassen sich die vorliegenden Notizen im ersten Abschnitt ausschließlich mit dieser Deutung, wohingegen der Ajax des Timomachus und die „Küste des Cypselus“ erst im zweiten Abschnitt kurz behandelt werden. Auch wenn Klotz und seine Rezension an keiner Stelle explizit Erwähnung finden, so lässt sich seine Besprechung aufgrund der kritischen Bezugnahmen von Lessings Notizen eindeutig als Prätext B identifizieren. Ihr dialogisch-kritischer Duktus und ihre spontan-willkürliche Abfolge stellen die Aufzeichnungen einerseits in eine Reihe mit anderen Lektürenotizen Lessings, etwa seinen Anmerkungen zu Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) und seinen Collectanea;60 die antiquarische Thematik und der polemische Unterton rücken sie andererseits in die Nähe der Briefe, antiquarischen Inhalts (1768/69), die von Klotzens Laokoon-Kritik ihren Ausgang nehmen. Nicht umsonst betrachtet die Forschung daher seit über 120 Jahren die vorliegenden Aufzeichnungen gewissermaßen als Urentwurf zu den Antiquarischen Briefen und

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Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit. In: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hrsg. von Wolfram Mauser und Günter Saße. Tübingen 1993, S. 15–37, bes. S. 16–30, sowie Paweł Zarychta: „Spott und Tadel“. Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit. Frankfurt am Main 2007 (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 18), bes. S. 45ff. LM 19, S. 211. LM 17, S. 223. Christian Adolph Klotz: Laocoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Puncte der alten Kunstgeschichte: von Gotthold Ephraim Lessing. Erster Theil. In: Acta Litteraria 3/3 (1766), S. 283–320. Vgl. hierzu Zarychta: „Spott und Tadel“ (Anm. 52), S. 48. Klotz: Laocoon (Anm. 55), S. 287; vgl. Laokoon III (Vollhardt: Studienausgabe [Anm. 51], S. 28). Klotz: Laocoon (Anm. 55), S. 288f.; vgl. Laokoon XI (Vollhardt: Studienausgabe [Anm. 51], S. 93, Anm. 1). Klotz: Laocoon (Anm. 55), S. 312ff.; vgl. Laokoon XXVIII (Vollhardt: Studienausgabe [Anm. 51], S. 202ff.). Siehe LM 15, S.  7–24 und 125–423; Vgl. dazu den Kommentar in B 5/1, S.  879–897 und B 10, S. 1125–1291 sowie Vogl: Lessing als Leser (Anm. 21), S. 67–78.

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konkret als Vorlage zum 35. Stück. Ist diese Zuschreibung jedoch gerechtfertigt? Vergleicht man den 35. Antiquarischen Brief mit Lessings Notizen, so fallen zunächst eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten ins Auge: Während es sich bei Ersterem um einen zusammenhängenden Text mit methodischer Entwicklung der Argumente und scharfer Polemik handelt, der als Brief an einen fiktiven Adressaten gerichtet ist61 und von „Herr[n] Klotz“62 als dem eigentlichen Kontrahenten nur verächtlich in der dritten Person spricht, wirken Lessings Aufzeichnungen wie spontan aneinandergereihte Lektürenotizen, die das Produkt eines zwar kritischen, aber bedeutend weniger polemisierenden Dialoges mit dem Gelesenen sind; dabei bleiben sowohl der Prätext als auch dessen Verfasser ungenannt. Zudem konzentriert sich der Brief ausschließlich auf Lessings Deutung des Borghesischen Fechters und Klotzens Kritik, während sich die Lektürenotizen im zweiten Abschnitt auch mit anderen Themen befassen, die in den Antiquarischen Briefen keine Erwähnung finden. Dafür existiert zu dem ersten und den zwei letzten Absätzen des Briefes keine Entsprechung in den Notizen. Die Übereinstimmungen hingegen beschränken sich auf wenige thematische Stichworte, die in beiden Stücken begegnen, nämlich der „Borghesische Fechter“, „Chabrias“, „obnixo genu“, „obnixo gradu“, „projecta hasta“ und „Handschriften“.63 Diese Stichworte sind allerdings allesamt auch in Klotzens Laokoon-Rezension zu finden; die entsprechende Passage wird in einer Fußnote des 35. Briefes sogar ausführlich zitiert.64 Syntaktische Übereinstimmungen, ähnliche Formulierungen oder vergleichbare Argumentationsmuster lassen sich für den Brief und die Lektürenotizen hingegen keine nachweisen. Vielmehr sind sämtliche Parallelen auf den gemeinsamen Prätext zurückzuführen, auf den beide Stücke rekurrieren. Demnach lässt sich weder Muncker beipflichten, dass das Blatt „in gewissem Sinn als Vorlage“ für den 35. Antiquarischen Brief gedient habe,65 noch Rilla oder Barner, die es gar als unmittelbaren Entwurf zu diesem Brief betrachten.66 Richtiger sind die Interdependenzen vielmehr so zu beschreiben, dass Klotzens Laokoon-Rezension sowohl für Lessings Lektürenotizen als auch für den 35. Antiquarischen Brief als Vorlage gedient hat, wobei Erstere auf verschiedene Stellen dieser Besprechung spontan und unstrukturiert Bezug nehmen, während Letzterer nur auf einen einzigen Passus in literarisch elaborierter Form antwortet. Der Textvergleich legt also nahe, dass die Notizen weder als Entwurf zu den Antiquarischen Briefen im Allgemeinen noch als Vorlage für den 35. Brief zu klassifizieren sind, sondern vielmehr als spontan entstandene Lesefrüchte, die sich Lessings Lektüre von Klotzens Laokoon61

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Der im ersten Teil der Briefe, antiquarischen Inhalts (1768) noch bisweilen als „Herr“ oder „Freund“ titulierte Korrespondent wird hier lediglich mit einem unbestimmten „Sie“ angesprochen (LM 10, S. 335), denn der eigentliche Adressat ist das Publikum, als dessen „Anwalt“ Lessing auftritt; vgl. Friedrich Vollhardt: Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk. Göttingen 2018, S. 260. LM 10, S. 335ff. mit insgesamt acht namentlichen Erwähnungen. Ebd. und LM 15, S. 87ff. Vgl. Klotz: Laocoon (Anm. 55), S. 313f., und LM 10, S. 337,. LM 15, S. 87, Anm. 2. In seinem „Anhang“ zu den Antiquarischen Briefen überschreibt Paul Rilla den ersten der abgedruckten „Entwürfe“ mit der Angabe „Zum 35. antiquarischen Brief“ (R 5, S. 629). Für Wilfried Barner gehört nur der „erste Teil des Entwurfs […] offenkundig zum 35. ,Briefʻ“ (B 5/2, S. 1186).

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Rezension verdanken. Da der Hallenser Professor seine Rezension am 11. Oktober 1766 an Lessing übersandte, ist anzunehmen, dass der Empfänger sie bereits wenige Tage später gelesen und dabei auch seine Lektürenotizen verfasst hat. Stellt man diese Annahme nun den obigen Resultaten der Materialanalyse und den bisherigen Datierungsvorschlägen gegenüber, so ergibt sich als einzig mögliche Entstehungszeit Mitte Oktober 1766, denn Ende des Monats hat Lessing bereits eine andere Tintenvariante verwendet.67 Zu dieser Zeit aber lag die Idee der Antiquarischen Briefe noch in weiter Ferne. Erst die Lektüre weiterer Publikationen von Klotz, u.a. seiner neuen Abhandlung Ueber den Nutzen und Gebrauch der alten geschnittenen Steine und ihrer Abdrücke (1768), in der die Laokoon-Studie gleich an vier Stellen kritisiert wird,68 lässt Lessing im Juni 1768 an ein derartiges Projekt denken. Wie ein Schreiben an Friedrich Nicolai vom 9. Juni 1768 bezeugt, ist zunächst neben einer eigenen Schrift „Ueber die Ahnenbilder der alten Römer“ nur eine „Kleinigkeit“ gegen Klotz geplant,69 die am 20. und 22. Juni in Briefform in zwei Hamburger Zeitungen erscheint.70 Erst nach dieser „Kriegserklärung gegen Hrn. Klotz“ und ihrer positiven Resonanz in Berlin spricht Lessing am 5. Juli von einem größeren Projekt, das er unter dem Titel „Briefe antiquarischen Inhalts“ drucken lassen wolle, zumal er über dessen „Buche über die geschnittenen Steine […] so viel zu erinnern“ habe, dass er „bereits an dem 25sten Briefe darüber“ schreibe.71 Schließlich erscheinen zur Leipziger Michaelismesse Ende September 1768 bei Nicolai in Berlin 34 Briefe, antiquarischen Inhalts in einem ersten Band.72 Darin findet sich jedoch weder von Klotzens lateinischer Laokoon-Rezension noch von Lessings dazu verfassten Lektürenotizen die geringste Spur. Erst im 35. Antiquarischen Brief, der den im September 1769 folgenden Zweyten Theil eröffnet, kommt Lessing auf Klotzens Besprechung zurück. Der unmittelbare Anlass dafür dürften allerdings weniger die im Zuge seiner Materialsammlung für den zweiten Teil möglicherweise wiederentdeckten Lektürenotizen gewesen sein als vielmehr eine Ende Oktober 1768 in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen erschienene Rezension des ersten Teils der Antiquarischen Briefe,73 mit der sich der Göttinger Philologe und Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne bereits zum zweiten Mal in den antiquarischen Streit einschaltete und dabei erneut Einspruch erhob gegen die Identifikation des 67 68 69

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Insbesondere der Kaliumgehalt der Eisengallusmischung vom 31.10.1766 liegt deutlich über demjenigen, der sich für die Notizen nachweisen lässt. Eine Zusammenstellung der entsprechenden Passagen findet sich in B 5/2, S. 987–996. LM 17, S. 252. Einzelheiten mit einer Dokumentation zur komplexen Entstehungsgeschichte des ersten Teils der Briefe, antiquarischen Inhalts im Kommentarteil der Frankfurter Ausgabe (B 5/2, bes. S. 948–965 und 987–1006). Lessing an Friedrich Nicolai, 5.7.1768. In: LM 17, S. 255. Zur besonderen Druckgeschichte beider Bände der Antiquarischen Briefe, die zwar in der Hamburger Druckerei von Lessing und Johann Joachim Christoph Bode hergestellt, aber von Friedrich Nicolai in Berlin verlegt wurden vgl. Mark-Georg Dehrmann: Die Hamburger Druckerei von Johann Joachim Christoph Bode und Gotthold Ephraim Lessing. Mit einem Verzeichnis der Drucke. Hannover 2020 (Wolfenbütteler Lessing-Studien 1), S. 90–94, 227 und 237f. [Christian Gottlob Heyne:] Rezension der Briefe, antiquarischen Inhalts, Erster Theil. In: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen. Bd.  2, 1768, 130. Stück, S.  1084–1087 (abgedruckt in B 5/2, S. 1023–1026).

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Borghesischen Fechters mit Chabrias, wie Lessing sie im XXVIII. Kapitel seiner Laokoon-Studie dargelegt und im 13. Antiquarischen Brief gegen erste Einwände Heynes verteidigt hatte.74 Bereits am 29. November 1768 erklärte Lessing nach der Lektüre dieser gewichtigen Besprechung, er sei damit „sehr zufrieden“ und „habe vor“, sich „in dem zweyten Theile der antiquarischen Briefe“, mit deren Druck er bereits „anfangen lassen“ wollte, „umständlicher darüber zu erklären“.75 Tatsächlich setzt er sich im 36. und mehr noch im 37. Brief mit dieser Rezension und der Deutung des Borghesischen Fechters ausführlich auseinander. Auf der Suche nach einem publikumswirksamen Einstieg in das Thema fiel Lessings Wahl offensichtlich auf die frühe Rezension seines eigentlichen Kontrahenten Klotz, die ihm möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt wieder in den Sinn kam, da Lessing vom 51. Brief an die Anfänge des antiquarischen Streits noch einmal Revue passieren ließ. Dafür konnte er gegen dessen „kahle“ Kritik76 gleich im ersten Brief des Zweyten Theils umso heftiger polemisieren. Ob Lessing bei der Ausarbeitung dieses Briefes auch seine frühen Lektürenotizen dazu noch einmal hervorholte oder sich vielleicht nur an sie erinnerte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Textvergleich legt allerdings nahe, dass sie nicht als unmittelbare Vorlage für den 35. Antiquarischen Brief gedient haben. Wenn dem aber so ist, in welche Zusammenhänge gehören sie dann bzw. in welchen werkgeschichtlichen Kontext sind sie einzuordnen? Den unmittelbaren Entstehungskontext konnten wir bereits rekonstruieren: Die Notizen sind spontan festgehaltene Lesefrüchte, die Lessings persönliche Reaktion auf seine Lektüre von Klotzens Laokoon-Besprechung dokumentieren. Wie viele seiner Lektürenotizen führen sie einen intensiven Dialog mit dem Gelesenen und nehmen die Gestalt eines meist kritischen Kommentars voll scharfsinniger Argumente an, die jederzeit als Arsenal für die eigene schriftstellerische Arbeit dienen konnten. Trotz ihrer prinzipiell produktionsorientierten Anlage erlauben sie zugleich wertvolle Rückschlüsse auf Lessings Lektürepraxis, deren unmittelbarer Ausfluss sie sind. Ähnlich wie etwa seine Einträge auf dem Vor- und Nachsatz seines Handexemplars von Winckelmanns Kunstgeschichte77 so verraten auch die vorliegenden Notizen eine äußerst sprunghafte und selektive Lektüre, die nicht den gesamten Text systematisch durcharbeitet, sondern sich der gebotenen paratextuellen Orientierungshilfen – im vorliegenden Fall etwa der Seitenangaben der besprochenen Laokoon-Abhandlung in der Marginalspalte – gezielt bedient, um jene Passagen zuerst oder ausschließlich intensiv zu lesen, die Lessing am meisten interessieren. Sein Hauptinteresse galt dabei offensichtlich Klotzens Kritik an seiner Identifikation des Borghesischen Fechters mit der Figur des Chabrias, die sich erst gegen Ende der Rezension in einem Abschnitt befindet, der auf „p. 284.“78 und damit das XXVIII. Kapitel der 74

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Ausführlicher dazu Christine Vogl: „In dem Müntzcabinete des H. General L. v. Schmettau“. Die Münze des Chabrias und ein neuentdecktes Begleitschreiben an Gotthold Ephraim Lessing. In: Aufklärung 25 (2013), S. 305–341, bes. S. 324ff. Lessing an Friedrich Nicolai, 29.11.1768. In: LM 17, S. 274f. LM 10, S. 335. Vgl. hierzu Vogl: Lessings Laokoon-Nachlass (Anm. 21), S. 67–72. Klotz: Laocoon (Anm. 55), S. 312.

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Laokoon-Studie verweist. Auf diese Deutung war Lessing besonders stolz, wie er selbst in eben jenem Kapitel bekennt: „Ich glaube, eine Entdeckung über diese Statue gemacht zu haben, auf die ich mir alles einbilde, was man sich auf dergleichen Entdeckungen nur einbilden kann.“79 Seiner eigenen Einschätzung entspricht auch das frühe Lob, das man ihm in der gelehrten Welt für diese „Entdeckung“ zollte. So etwa ist in einer Rezension der Berlinischen privilegirten Zeitung vom 3. Mai 1766 zu lesen: Das allermerkwürdigste dieser Schrift besteht in einer gemachten Entdeckung, die den bisher sogenannten Borghesischen Fechter betrift, von welchem Herr Leßing darthut, daß er der atheniensische Feldherr Chabrias ist. Wir müssen zu dieser Entdeckung dem Herrn Leßing, und der Kunst selbst, recht sehr viel Glück wünschen.80

Freilich fehlte diesem und vergleichbaren Rezensenten die nötige Fachkompetenz, um über die vermeintliche Entdeckung des Verfassers sachkundig urteilen zu können. Aber genau darauf konnte Lessing bei einer Rezension des Hallenser Universitätsprofessors Klotz, der sowohl auf dem Gebiet der klassischen Philologie als auch der Altertumskunde eine angesehene Größe war,81 im Oktober 1766 endlich hoffen. Daher war er bei der Lektüre von Klotzens Besprechung offensichtlich besonders neugierig auf dessen Meinung zu seiner „Entdeckung“ und sah sich durch die Einwände sogleich veranlasst, darüber genauer nachzudenken. Dass er dafür Feder und Papier zur Hand nahm, war für Lessing durchaus nicht ungewöhnlich, der bei einer anderen Gelegenheit einmal bekannte: […] Nur Schade, daß ich nicht nachdenken kann, ohne mit der Feder in der Hand! Zwar was Schade! Ich denke nur zu meiner eigenen Belehrung. Befriedigen mich meine Gedanken am Ende: so zerreiße ich das Papier. Befriedigen sie mich nicht: so lasse ich es drucken. Wenn ich besser belehrt werde, nehme ich eine kleine Demüthigung schon vorlieb.82

Dass Lessing bei der Niederschrift seiner Gedanken Mitte Oktober 1766 ausgerechnet auf eines seiner Laokoon-Konzeptpapiere zurückgriff und sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in deren Konvolut bis zu seinem Tod aufbewahrte, deutet auf zweierlei hin: Erstens sollte die Wahl des Papiers offensichtlich anzeigen, dass diese Notizen in den Kontext seines Laokoon-Projekts gehören, und zweitens spricht ihre Aufbewahrung dafür, dass Lessing sie zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen eben dieses Projekts noch zu verwenden gedachte. Da sich mit Hilfe einer vergleichenden Analyse der überlieferten Handschriften nachweisen lässt, dass Lessing gerade im Herbst 1766 mehrere Anläufe unternommen hat, an seinem kunsttheoretischen Projekt wei79

Vollhardt: Studienausgabe (Anm. 51), S. 202. [Anonymus.] In: Berlinische privilegirte Zeitung, 3.5.1766 (zit. nach B 5/2, S. 675). 81 Zu den bis heute unterschätzten Leistungen des jungen Hallenser Ordinarius vgl. Zarychta: »Spott und Tadel« (Anm. 52), S. 35–45, und Wolfgang Adam: Christian Adolph Klotz. Un caso di damnatio memoriae nella Repubblica delle lettere. In: L’Accademia degli Agiati nel Settecento europeo. Irradiazioni Culturali. Hrsg. von Giulia Cantarutti und Stefano Ferrari. Mailand 2007, S. 167–181. 82 Gotthold Ephraim Lessing: Ueber eine zeitige Aufgabe. Wird durch die Bemühung kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das, was sie Enthusiasmus und Schwärmerei nennen, mehr Böses als Gutes gestiftet? Und in welchen Schranken müssen sich die Antiplatoniker halten, um nützlich zu seyn? In: LM 16, S. 293–301. Zum Entstehungshintergrund siehe B 10, S. 1109ff. 80

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terzuarbeiten83 – wobei Klotzens Rezension eine entscheidende Rolle gespielt haben dürfte –, ist anzunehmen, dass Lessing seine Lektürenotizen in irgendeiner Form bei der Umarbeitung oder Fortsetzung des Ersten Theils verwerten wollte. Denkbar wäre etwa eine geplante Verwendung in einer überarbeiteten Fassung des XXVIII. Kapitels oder auch in einer neuen Vorrede, in der er sich möglicherweise gegen die bisher vorliegende Kritik verteidigen wollte. In einer solchen Vorrede hätten auch die knapperen Notizen zu anderen, von Klotz vorgebrachten Kritikpunkten im unteren Abschnitt des Blattes ihren Platz finden können. Freilich müssen solche Mutmaßungen angesichts der unterbliebenen Ausführung spekulativ bleiben, aber selbst dann, wenn Lessing im Herbst 1766 noch keine konkrete Verwendung für seine Lektürenotizen im Blick gehabt haben sollte, sind sie aus materialen, inhaltlichen und entstehungsgeschichtlichen Gründen auf jeden Fall in den Kontext seines Laokoon-Projekts einzuordnen.

4. Konsequenzen für die Lessing-Editorik Wenn die Aufzeichnungen de facto zum Laokoon-Nachlass gehören und nicht unter die Entwürfe zu den Antiquarischen Briefen, dann drängt sich nun allerdings die Frage auf, welche Konsequenzen sich daraus für die Lessing-Editorik ergeben. Die Ergebnisse der obigen Untersuchungen sprechen dafür, dass die Lektürenotizen in einer künftigen historisch-kritischen Ausgabe eigentlich unter die Nachlassstücke zu Lessings Laokoon-Projekt aufzunehmen wären. Andererseits lassen sich aber auch die aus dem Rekurs auf den gemeinsamen Prätext resultierenden Parallelen zum 35. Antiquarischen Brief nicht leugnen, wenngleich sich diese auf so wenige Punkte beschränken, dass weder von einer unmittelbaren Vorlage dafür noch von einem frühen Entwurf zu den Antiquarischen Briefen im Allgemeinen die Rede sein kann. Wie also hat die Lessing-Editorik mit diesen Lektürenotizen umzugehen? Der von Franz Muncker und den ihm folgenden Studienausgaben des 20. Jahrhunderts beschrittene Weg, die Aufzeichnungen als ersten Entwurf zu den Briefen, antiquarischen Inhalts bzw. als Konzept zum 35. Brief abzudrucken, erweist sich nach den bisherigen Ausführungen als zu einseitig, da er weder dem Entstehungs- noch dem Überlieferungszusammenhang der Notizen mit Lessings Laokoon-Projekt gerecht wird. In den Ausgaben des 19. Jahrhunderts hingegen, die den Text unter die Nachlassstücke zum Laokoon eingereiht haben, finden wiederum seine Berührungspunkte mit dem 35. Antiquarischen Brief keine angemessene Berücksichtigung. Eine gewisse Kompromisslösung schlägt Paul Rilla vor, indem er einerseits nach Blümners Modell den letzten und vorletzten Absatz der Notizen unter die „Materialien und Nachträge zum Laokoon“ aufnimmt84 und andererseits Muncker folgend das gesamte Nachlassstück als Entwurf Nr. 1 zu den Briefen, antiquarischen Inhalts abdruckt.85 Allerdings wird Rillas Doppelweg, der zwei verschiedene editorische Leitmodelle in ein und demselben Band zu vereinen sucht, dem materialen und textuellen 83

Vgl. dazu eine eigene Studie der Verfasserin zur Genese von Lessings Laokoon-Projekt (in Vorbereitung). 84 R 5, S. 277f. Dabei gibt er den letzten Absatz als Nr. 6 und den vorletzten als Nr. 9 wieder. 85 Ebd., S. 629ff.

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Befund noch weniger gerecht als alle bisherigen Vorschläge. Denn zum einen lässt sich nicht stichhaltig begründen, warum nur die letzten beiden Absätze der Aufzeichnungen Aufnahme finden sollten in die „Materialien und Nachträge“ zu Lessings Abhandlung, nicht aber – wie bei Blümner durchaus – auch der erste Abschnitt, der mit seinen ergänzenden Erläuterungen zum XXVIII. Kapitel geradezu einen idealtypischen Nachtrag zur Laokoon-Studie darstellt; und zum anderen ist angesichts der strengen Selektion im ersten Fall kaum nachzuvollziehen, warum Rilla im Kontext der Briefe, antiquarischen Inhalts das gesamte Nachlassstück unter dem Titel „Zum 35. antiquarischen Brief“ wiedergibt,86 obwohl nur der erste Abschnitt gewisse Parallelen dazu aufweist. Problematisch erscheint zudem der zweifache Textabdruck, der sich aus einem solchen Kompromiss für eine analoge Werkausgabe zwangsläufig ergibt. Diese Schwierigkeit ließe sich in einer Printedition selbst dann kaum umgehen, wenn man sich im Hinblick auf die obigen Untersuchungsergebnisse für eine adäquatere Textbehandlung entscheidet, etwa indem man die gesamten Lektürenotizen als Nachlassstück zum LaokoonProjekt wiedergibt, dabei aber zwischen Abschnitt ‹a› vor und Abschnitt ‹b› nach dem Querstrich differenziert,87 sodass man die Aufzeichnungen zumindest mit einer entsprechenden Sigle auch unter die Materialien zur Vorgeschichte der Briefe, antiquarischen Inhalts aufnehmen und zudem in den Erläuterungen zum 35.  Brief auf Abschnitt ‹a› verweisen könnte, sofern beide Werkkomplexe in einem Band Platz finden. Eine optimale Lösung, die der besonderen Bedeutung der Lektürenotizen im Kontext des Laokoon-Projekts und der Vorgeschichte der Antiquarischen Briefe gerecht wird, kann jedoch nur eine digitale Edition bieten. Denn nur im digitalen Medium ließen sich die Aufzeichnungen mehrdimensional mit beiden Werkkomplexen verknüpfen, ohne dadurch ihren ursprünglichen Entstehungs- und Überlieferungszusammenhang zu zerreißen.88 Dabei würde es sich anbieten, mit dem von Gérard Genette eingeführten Konzept des Epitextes zu operieren,89 denn in diese Kategorie könnte man nicht nur wesentlich mehr Stücke integrieren als die von Barner im Rückgriff auf Muncker vorgeschlagenen 30 Paralipomena, sondern auch jene Antiquarischen Briefe und Notizen, die auf die Laokoon-Abhandlung direkt bzw. indirekt Bezug nehmen oder mit Lessings geplanter Fortsetzung bzw. Umarbeitung in Verbindung stehen.90 Auch die vorliegenden Aufzeichnungen würden in einem 86

Ebd., S. 629. Abschnitt ‹a› entspricht LM 15, S. 87, Z. 3 – S. 88, Z. 29, und Abschnitt ‹b› S. 88, Z. 30 – S. 89, Z. 11. 88 Zu diesen und weiteren Vorteilen einer digitalen Ausgabe vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Handbuch zu Geschichte, Methode und Praxis der neugermanistischen Edition. Stuttgart 2020, S. 218– 224, sowie ausführlicher Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 8), bes. S. 2–17 und 157–208. 89 Gérard Genette bezeichnet bekanntermaßen „jedes paratextuelle Element, das nicht materiell in ein und demselben Band als Anhang zum Text steht“, sondern „irgendwo außerhalb des Buches“ überliefert ist, als Epitext. Dazu zählt er neben Selbstkommentaren, wie sie sich beispielsweise in Briefen, Tagebüchern oder „öffentliche[n] Antworten auf Kritiken“ finden, auch sämtliche „Vortexte“, etwa Quellen, Lesenotizen, Skizzen, Entwürfe, Reinschriften und korrigierte Druckfahnen (Ders.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1989, S. 328–378). 90 Ausführlicher dazu Christine Vogl: Laokoon oder über die Grenzen von Text und Paratext. Prolegomena zu einer digitalen Edition von G. E. Lessings kunsttheoretischem Projekt. In: Werk und Beiwerk. Zur Edition von Paratexten. Hrsg. von Jan Hess und Roland S. Kamzelak (im Druck). 87

Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition

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solchen Epitext-Korpus ihren Platz finden und ließen sich in einem dynamischen Editionsmodell sowohl unter die Dokumente zum Laokoon-Projekt als auch unter die Materialien zur Vorgeschichte der Antiquarischen Briefe einreihen. Zudem wären noch weitere Darstellungsoptionen möglich, die je nach Leserinteressen interaktiv anwählbar sein sollten, etwa die parallele Anzeige der Lektürenotizen, des 35. Antiquarischen Briefes und der Rezension von Klotz oder auch der betreffenden Passagen aus Lessings Laokoon-Abhandlung. Solche vergleichenden Darstellungsmöglichkeiten würden mit Hilfe entsprechender Suchfunktionen nicht nur intertextuelle Bezüge offenlegen, sondern auch Lessings Arbeitsweise von der Lektüre über die kritische Kommentierung bis hin zur eigenen Textproduktion besser nachvollziehbar machen. Außerdem könnte eine digitale Edition den materialen und textuellen Befund weit besser dokumentieren als alle bisherigen Ausgaben, indem sie nicht nur einen kon­ stituierten Text der Lektürenotizen bietet, sondern auch ein Faksimile und eine differenzierte Umschrift, die erstmals alle Entstehungsvarianten vollständig wiedergeben und Lessings Gedanken in der Gestalt bzw. Reihenfolge abbilden würden, in der sie sich bei ihm entwickelt haben. Mit Hilfe einer genetischen Ansicht würde es das mehrstufige Editionsmodell dem Leser also gewissermaßen ermöglichen, Lessing bei seiner Denk- und Schreibarbeit über die Schultern zu sehen. Um die Mikrogenese des jeweiligen Überlieferungsträgers zuverlässig rekonstruieren zu können, ist eine Schrift- und Schreibstoffanalyse allerdings unabdingbare Voraussetzung. Daher sei zusammenfassend festgehalten, dass eine detaillierte Untersuchung und Transkription der Textträger einschließlich aller Überarbeitungsspuren zu den grundlegenden Desideraten der Lessing-Philologie gehört. Aus den obigen Ausführungen dürfte außerdem deutlich geworden sein, welche Bedeutung für die Rekonstruktion der Makrogenese von Lessings Schriften und Projekten einer analytischen Handschriftenforschung zukommt, die sich moderner Untersuchungsverfahren bedient. Würde sein gesamter handschriftlicher Nachlass mit Hilfe naturwissenschaftlicher bzw. computergestützter Methoden einer vergleichenden Analyse im Hinblick auf Papiersorten, Tinten und Schriftbilder unterzogen, so ließe sich dadurch ein Großteil seiner bislang nur vage datierten Entwürfe, Fragmente und Notizen zeitlich sehr genau einordnen und ein völlig neues Licht auf sein schriftstellerisches Schaffen werfen. Außerdem könnte man auf diesem Wege die häufig komplexe Genese seiner Schriften und Projekte zuverlässig rekonstruieren, womit endlich die nötigen Voraussetzungen für eine historisch-kritische Neuedition geschaffen wären, die nicht nur als brauchbare Text- und Arbeitsgrundlage für die Lessing-Philologie fungieren, sondern auch im Bereich der modernen Handschriftenforschung und Editionswissenschaft Maßstäbe setzen würde.

Bildnachweis Abb. 1–3: Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek.

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Abb. 1: Lessing-Sammlung Nr. 48, Bl. 1r (ca. 33,5 x 20,5 cm).

Christine Vogl

Lessings Handschriften als Gabe und Aufgabe für eine digitale Neuedition

Abb. 2: Lessing-Sammlung Nr. 1, Bl. 4v (ca. 34 x 21 cm), untere bzw. rechte Blatthälfte.

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Abb. 3: Lessing-Sammlung Nr. 81, Bl. 1r (ca. 23 x 18,5 cm).

Christine Vogl

III. Lessing-Editorik im Kontext aktueller Forschungstendenzen

Nikolas Immer

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“? Überlegungen zu den Beyträgen zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750)

„Wir wollen einholen, was man versäumet hat. Wir wollen uns bemühen, so viel in unsern Kräften steht, zur Aufnahme des Theaters beyzutragen.“1 Mit diesen programmatischen Worten bewerben Gotthold Ephraim Lessing und Christlob Mylius ihre Zeitschrift Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, die 1750 in vier Stücken erscheint. Wie schon Jürgen Stenzel ausgeführt hat, ist die „Vorgeschichte“ dieses Publikationsprojekts „nicht bekannt“.2 Dafür kann festgehalten werden, dass die Beyträge dem Typus der ‚Gelehrten Zeitschriften‘ angehören und im unmittelbaren Kontext von Gottscheds Beyträgen zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Geselligkeit (1732–1744) stehen. Im Unterschied zu diesem philologisch-kritisch ausgerichteten Periodikum stellen die Beyträge von Lessing und Mylius „die erste Theaterzeitschrift in Deutschland“ dar.3 Als Lessing vier Jahre später seine Theatralische Bibliothek (1754–1758) herauszugeben beginnt, wird er den Gehalt seines früheren Periodikums despektierlich als „theatralischen Mischmasch“ bezeichnen.4 Wie eine Inhaltsübersicht der Beyträge erkennen lässt (Tab. 1), ist die Zusammensetzung der Zeitschrift tatsächlich recht heterogen.5 So finden sich darin unter anderem: eine Übersetzung von drei dramentheoretischen Schriften Pierre Corneilles (A); Lessings translatorische und literaturkritische Arbeiten zu Plautus (B); seine Übersetzung von Francesco Riccobonis L’Art du Théâtre (C); und etwa auch Theaternachrichten aus Paris, Berlin, Dresden und Stuttgart (D). Sollen Lessings Beiträge zu dieser Zeitschrift neu ediert werden, ist zunächst zu fragen, welche der sämtlich anonym publizierten Texte er verfasst hat. Lessing selbst hat dazu in der Vorrede des ersten Bands seiner Theatralischen Bibliothek Auskunft gegeben: „Von mir nemlich schrieb sich nicht nur der gantze Plan jener periodischen Schrift her, so wie er in der Vorrede entworfen wird; sondern auch der größte Teil der darin enthaltenen Aufsätze ist aus meiner Feder geflossen.“6 Trotz ihrer deutlichen Tendenz erlaubt es diese Selbstaussage nicht, die Verfasserschaft einzelner Texte zu klären. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage: Wie ediert man 1 2 3 4 5 6

Gotthold Ephraim Lessing und Christlob Mylius: Vorrede. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750), Erstes Stück, unpaginiert. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden [B]. Hrsg. von Wilfried Barner u.a. Bd. 1: Werke 1743–1750. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M. 1989, S. 1330 (Kommentar). Wilfried Barner u.a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. München 61998, S. 66. B, Bd. 2, S. 262. Vgl. B, Bd. 1, S. 1331–1333. B, Bd. 3, S. 261.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-008

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Nikolas Immer

Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters Erstes Stück

S.  Vorrede.



S.  1–13: Versuch eines Beweises, daß die Schauspielkunst eine freie Kunst sey.

[B] S.  14–52: II. Abhandlung von dem Leben, und den Werken des Marcus Accius Plautus. [A] S. 53–95: III. Abhandlung von dem Nutzen und den Theilen des dramatischen Gedichts. Aus dem Französischen des Peter Corneille übersetzt.

S. 96–109: IV. Des Herrn von Voltaire Gedanken über die Trauer- und Lustspiele der Engländer, aus seinen Briefen über die Engländer übersetzt.

[D] S. 110–122: V. Theatralische Neuigkeiten aus Paris. [D] S. 123–136. VI. Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande des Theaters in Berlin.

Viertes Stück [C] S. 481–544: I. Die Schauspielkunst, an die Madame *** durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngern. Aus dem Französischen übersetzt. [A] S. 545–572: II. Die dritte Abhandlung des Peter Corneille, von den drey Einheiten, der Handlung, der Zeit, und des Orts. [B] S. 573–591: III. Beschluß der Critik über die Gefangenen des Plautus. [D] S. 592–595: IV. Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande des Theaters in Stuttgard.

S.  596–606: V. Nachricht von einem in Freyberg aufgeführten Schulschauspiele.

Tab. 1: Inhaltsübersicht des ersten und vierten Stücks der Beyträge.7

die Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters bzw. wie ediert man diesen „theatralischen Mischmasch“?7 Im Folgenden möchte ich zum einen darauf eingehen, wie die Beyträge in den großen Lessing-Editionen von Karl Lachmann und Franz Muncker (1886–1924; ‚LM‘), von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen (1925–1935; ‚PO‘) und

7

Die Angaben zur Verfasserschaft folgen B, Bd. 1, S. 1331–1333.

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?

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von Wilfried Barner und anderen (1985–2003; ‚B‘) präsentiert werden.8 Zum anderen möchte ich am Beispiel von Lessings Riccoboni-Übersetzung demonstrieren, welche Möglichkeiten eine digitale Edition insbesondere in komparatistischer Hinsicht böte.

1. Die Beyträge in den großen Lessing-Editionen Der vierte Band der Lessing-Edition von Lachmann und Muncker enthält, wie es in der Vorrede heißt, „die ersten prosaischen Arbeiten des jungen Verfassers, vorwiegend Beiträge zu Zeitschriften“.9 Was die Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters betrifft, werden grundsätzlich die Titel aller Texte in der originalen Reihenfolge dargeboten. Jene Beiträge, die sich nachweislich Lessing zuordnen lassen, werden vollständig abgedruckt. Von allen übrigen Texten werden nur die Überschriften präsentiert und – sofern ermittelbar – auch der jeweilige Verfassername. Das heißt wiederum, dass die Entscheidung für den Textabdruck zugleich eine Entscheidung für Lessings Verfasserschaft ist. Die problematischen Konsequenzen dieses Editionsverfahrens zeigen sich zum einen bei der Übersetzung von Corneilles dramentheoretischen Schriften. Am Ende des ersten Stücks wird der originale Vermerk zu dessen Abhandlung von dem Nutzen und den Theilen des dramatischen Gedichts wiedergegeben: »Aus dem Französischen des Peter Corneille übersetzt.«10 Zwar werden keine Erläuterungen zum Urheber der Übersetzung geboten; ihr Nichtabdruck legt jedoch nahe, dass es sich dabei nicht um Lessing handeln kann. Demgegenüber haben John George Robertson, Joan Vasile Pătrăşcanu und – in jüngerer Zeit – Jutta Golawski-Braungart erwogen, dass Lessing diese Übersetzung durchaus verfasst haben könnte.11 Zum anderen ist die Verfasserschaft bei der Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande des Theaters in Berlin zumindest uneindeutig, wie Lachmann und Muncker selbst in einer Anmerkung darlegen: Die Nachrichten über das Berliner Theater erhielt Lessing höchstwahrscheinlich auch schon in der stilistischen Fassung, in der er sie abdruckte, von fremder Hand, wofern nicht Mylius sie geliefert haben sollte. Höchstens könnte Lessing die eine oder andere Zwischenbemerkung darin eingeschaltet haben […].12

Obwohl es nicht ausgeschlossen ist, dass zumindest geringe Teile dieser ‚Theaternachricht‘ von Lessing stammen, ist der Text nicht in die Werkausgabe aufgenom8

Zur Evaluation dieser Editionen vgl. bereits Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005, S. 315–327; zur Edition von Petersen und Olshausen vgl. außerdem Kai Bremer: Arkanisierung des Vorklassikers. Zur Lessing-Ausgabe von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen. In: Kommentar und Säkularisierung in der Moderne. Hrsg. von Yael Almog, Caroline Sauter und Daniel Weidner. Paderborn 2017, S. 95–107. 9 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften [LM]. Hrsg. von Karl Lachmann. 3, aufs neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Bd. 4. Stuttgart 1889, S. V. 10 Ebd., S. 82. 11 Vgl. John George Robertson: Notes on Lessing’s Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. In: The Modern Language Review 9 (1914), S. 213–222, hier S. 215; Joan Vasile Pătrăşcanu: Lessings Übersetzungen aus dem Französischen [Teildruck]. Berlin 1928, S.  20; Jutta Golawski-Braungart: Die Schule der Franzosen. Zur Bedeutung von Lessings Übersetzungen aus dem Französischen für die Theorie und Praxis seines Theaters. Tübingen 2005, S. 65. 12 LM, Bd. 4, S. 82, Anm. 1.

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men worden. Hinzu kommt, dass Lachmann und Muncker an späterer Stelle zwar Lessings Vorrede zu seiner Übersetzung von Riccobonis Schauspielkunst darbieten, auf den Abdruck der Übersetzung selbst jedoch kommentarlos verzichten.13 Im Unterschied zur Ausgabe von Lachmann und Muncker werden die Beyträge in der Lessing-Edition von Petersen und Olshausen umfassender dargeboten. Wie Petersen in der auf den Oktober 1911 datierten „Einleitung des Herausgebers“ schreibt, „scheinen die Vorrede, die Plautus-Arbeiten, die Gregorius-Rezension und die Riccoboni-Übersetzung ein zu kleines Kontingent“ an Texten darzustellen, die Lessing zugeordnet werden können.14 Um diesen Befund zu erweitern, entscheidet sich Petersen, den Umfang der abgedruckten Texte aus den Beyträgen „bewußt auch auf Zweifelhaftes“ auszudehnen.15 Zur Begründung kehrt Petersen das bisherige Exklu­sionsargument in ein Inklusionsargument um: „Solange kritische Fragen noch nicht endgültig gelöst sind, werden künftige Untersuchungen besser durch Vorlegung als durch Ausschluß des zweifelhaften Materials […] gefördert.“16 Die Konsequenz dieser editorischen Überlegung besteht darin, dass in der Ausgabe von Petersen und Olshausen „drei Aufsätze mitgeteilt“ werden können, „die in keiner bisherigen Lessing-Ausgabe stehen“.17 Damit sind der vierte bis sechste Beitrag des ersten Stücks gemeint: Die Übersetzung von Voltaires Gedanken über die Trauer- und Lustspiele der Engländer sowie die Theater-Nachrichten aus Paris und Berlin. Petersen ist sich freilich bewusst, dass diese Texte – und das ist noch immer der Fall – „nicht mit voller Überzeugung Lessing zugesprochen werden“ können.18 Gleichwohl sei zu berücksichtigen, dass „Lessing mindestens als Redaktor an allen drei Beiträgen beteiligt [gewesen] ist“.19 Doch trotz der Aufnahme solcher Texte aus den Beyträgen, bei denen nicht sicher ist, ob Lessing sie verfasst hat, enthält der zwölfte Teil dieser Edition nicht mehr als sechs Texte aus Lessings und Mylius’ Zeitschrift. Die Aussonderung beispielsweise der Vorreden, die im siebenten Teil der Edition geboten werden, begründet Petersen damit, „daß ohnehin nicht die beiden Zeitschriften [d.h. die Beyträge und die Thea­ tralische Bibliothek] als Ganzes wiedergegeben werden konnten“.20 So einsichtig dieses Argument ist, so wenig wurde allerdings versucht, den Aufbau der Beyträge sichtbar zu machen. Auch wenn die chronologische Abfolge beibehalten wird, lässt sich anhand der abgedruckten Auswahl nicht mehr nachvollziehen, von welchen Texten die Beiträge Lessings ursprünglich flankiert wurden. Auch im ersten Band der Lessing-Edition von Barner und anderen werden nur ausgewählte Texte aus den Beyträgen präsentiert. Im Kommentar des ersten Bandes liefert Stenzel zwar eine präzise Inhaltsübersicht, verzichtet jedoch ebenso wie 13

Vgl. ebd., S. 180. Lessings Werke. Vollständige Ausgabe in fünfundzwanzig Teilen [PO]. Hrsg. mit Einleitungen und Anmerkungen sowie einem Gesamtregister versehen von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen in Verbindung mit Karl Borinski u.a. Teil 12: Kleine dramaturgische Schriften. Hrsg. von Julius Petersen. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart [o.J.], S. 13. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 12. 14

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?

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Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters Drittes Stück [B] II. Critik über die Gefangenen des Plautus. […] [E] IV. Samuel Werenfels Rede zu Vertheidigung der Schauspiele. Viertes Stück [C] S. 481–544: I. Die Schauspielkunst, an die Madame *** durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngern. Aus dem Französischen übersetzt. […] [B] S. 573–591: III. Beschluß der Critik über die Gefangenen des Plautus. B, Bd. 1, S. 725–934 [B] S. 734–735: Abhandlung von dem Leben, und den Werken des Marcus Accius Plautus [B] S. 766–820: Die Gefangenen [B] S. 821–864: Critik über die Gefangenen des Plautus [B] S. 865–878: Beschluß der Critik über die Gefangenen des Plautus [E] S. 879–883: Samuel Werenfels Rede zur Verteidigung Schauspiele [C] S. 884–934: Die Schauspielkunst Tab. 2: Die ursprüngliche Anordnung der Beyträge und im ersten Band von B im auszugsweisen Vergleich.

Lachmann und Muncker auf den Abdruck der Corneille-Übersetzungen und der Theaternachrichten, weil „[u]ngeklärt“ sei,21 wer sie veranstaltet bzw. verfasst hat. Auffällig ist darüber hinaus, dass im Kommentar die originale Anordnung der Zeitschriftentexte angezeigt wird, dass aber Lessings Texte in einer leicht veränderten Reihenfolge dargeboten werden (Tab. 2). Diese Verschiebung resultiert aus dem Umstand, dass Stenzel die Plautus-Texte von Lessing (B) als kompakte Einheit präsentieren möchte. Das hat freilich die Konsequenz, dass er Lessings Rezension einer Rede von Samuel Werenfels (E), die im dritten Stück der Beyträge erschienen war, hinter Lessings Beschluß der Critik über die Gefangenen des Plautus anordnen muss, der im vierten Stück der Beyträge erschienen war. Auch wenn die ursprüng21

B, Bd. 1, S. 1335 (Kommentar).

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liche Anlage der Zeitschrift im Kommentarteil sichtbar gemacht wird, ist sie im Textteil aufgehoben. Um die originale Gestalt der Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters zu bewahren, wäre angesichts dieses Befunds dafür zu plädieren, die Zeitschrift in einer integralen Gesamtausgabe neu zu edieren. Im Anschluss an die Argumentationen Petersens würden die Texte daher gerade deswegen ediert, weil Lessing sie verfasst haben könnte – was insbesondere auch die Übersetzung von Corneilles dramentheoretischen Schriften beträfe. Darüber hinaus würde eine Gesamtedition der Beyträge nicht nur die ursprüngliche Reihenfolge der darin enthaltenen Texte, sondern auch das Profil der Zeitschrift und damit den „Wirkungswille[n]“ Lessings sichtbar machen.22 Zudem wäre es auf diese Weise möglich, Korrespondenzen zwischen einzelnen Texten der Beyträge hervorzuheben.23 Am Beispiel von Lessings Riccoboni-Übersetzung, die im vierten Stück der Beyträge erschienen ist, soll im Folgenden erläutert werden, welche Vorteile eine digitale Neuedition böte.

2. Zur Edition von Riccobonis L’Art du Théâtre Antonio Francesco Riccobonis L’Art du Théâtre erscheint 1750 in Paris. Seine Schrift ist in erster Linie der Theaterpraxis verpflichtet und bietet eine Reihe von Hinweisen „zur Atemtechnik, zur Bewegung im Bühnenraum, [sowie] zu Gestik, Mimik, Sprech- und Stimmverhalten“.24 Lessing wird schon frühzeitig auf Riccobonis Schrift aufmerksam und rezensiert sie am 23. Juli 1750 im 88. Stück der Berlinischen Privilegierten Zeitung. Resümierend hält er fest: „Kurz, dieses Buch ist für alle Liebhaber des Theaters so angenehm, als für alle Komödianten nützlich zu lesen.“25 Wie bereits Stenzel festgestellt hat, enthält die Rezension außerdem ein längeres Zitat aus Riccobonis Schrift, das mit Lessings vollständiger Übersetzung wörtlich übereinstimmt, die er im vierten Stück der Beyträge veröffentlichen wird.26 Seiner Übersetzung stellt Lessing einen „Vorbericht“ voran, in dem er betont, dass es Riccobonis Traktat „wegen der vielen vortrefflichen Anmerkungen [verdiene], die es ungeachtet seiner Kürze enthält, […] ganz“ mitgeteilt zu werden.27 Tatsächlich folgt seine Übersetzung diesem Anspruch der ‚Ganzheit‘: Sie enthält Riccobonis Vorrede, seine Widmung, das Inhaltsverzeichnis und die in 30 Kapitel gegliederte Lehre von der 22 23

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25

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Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar 2010, S. 63. Schon ein zeitgenössischer Kritiker, dessen Rezension am 31. Januar 1750 im Hamburgischen unpartheiischen Correspondenten erschienen war, hatte darauf aufmerksam gemacht, dass im Anschluss an die Übersetzung von Voltaires Briefen über die Trauer- und Lustspiele der Engeländer die Theatralischen Neuigkeiten aus Paris präsentiert werden, die wiederum den „lustigkläglichen Brief des Herrn Voltaire an die Königinn von Frankreich“ enthalten, in dem dieser sie darum bittet, „die Vorstellung einer Parodie auf seine Semiramis“ (B, Bd. 1, S. 1337) zu untersagen. Helmut Berthold: Übersetzung Riccobonis Auszug aus Sainte-Albine – Aspekte des Illusionsbegriffs. In: ‚ihrem Originale nachzudenken‘. Zu Lessings Übersetzungen. Hrsg. von Helmut Berthold. Tübingen 2008, S. 129–146, hier S. 131. B, Bd. 1, S. 708. Vgl. B, Bd. 1, S. 1404 (Kommentar). Lessing: Vorbericht des Uebersetzers. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750), Viertes Stück, S. [481].

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?

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Abb. 1: Auszug aus der digitalen Edition der Lessing’schen Übersetzung von Riccobonis L’Art du Théâtre (http://lessing-portal.hab.de/).

Schauspielkunst. Wie aber lässt sich eine solche Übersetzung edieren, wenn zugleich Lessings Abhängigkeit von der französischen Vorlage sichtbar gemacht werden soll? Bereits im elften Band der Hempel’schen Ausgabe von Lessing’s Werken war die Riccoboni-Übersetzung folgendermaßen angekündigt worden: „In unsern Anmerkungen zu diesem Stück theilen wir den Wortlaut einzelner Stellen des Originals mit, wo wir dies sowohl in sprachlicher Beziehung als des besseren Verständnisses halber für zweckmäßig erachten.“28 Tatsächlich finden sich in den fortlaufenden Fußnoten einzelne Hinweise auf den semantisch leicht variierenden Wortlaut des französischen Originals. Allerdings erlauben es die sehr knapp gehaltenen Anmerkungen kaum, genauere Aufschlüsse über Lessings Umgang mit Riccobonis Schrift zu gewinnen. Deutlich umfangreicher und ausführlicher sind dagegen die in der Lessing-Edition von Barner und anderen gebotenen, von Stenzel verfassten Übersetzungskommentare, die „Lessings Übersetzungsmethode […] durch zahlreiche Zitate aus der Vorlage“ illus­ trieren.29 Doch bleibt auch hier festzuhalten, dass der französische Originaltext nur in wenigen Auszügen und außerdem einzig im Stellenkommentar wiedergegeben wird. Um das spezifische Verhältnis von Riccobonis und Lessings Text zu veranschaulichen, wäre im Rahmen einer digitalen Edition für eine synoptische Präsentation von französischem Original und deutscher Übersetzung zu votieren. In diesem Zusammenhang ist auf das DFG-Projekt Digitale Edition sämtlicher Übersetzungen Lessings und ihrer Vorlagen hinzuweisen, dessen Ergebnisse über das ‚LessingPortal‘ nach wie vor greifbar sind, das aber seit dem Oktober 2016 nicht mehr weitergeführt wird.30 Darin ist auch Lessings Riccoboni-Übersetzung zu finden, deren Textdarbietung – bei aller Würdigung für dieses bedeutsame Projekt – allerdings als 28

Lessing’s Werke. Elfter Theil: Kleinere Schriften zur dramatischen Poesie und Fabel. Erste Abtheilung. Berlin [1879], S. 139, Anm. 1. B, Bd. 1, S. 1404 (Kommentar). 30 http://lessing-portal.hab.de/ (26.10.2020). Zu dieser digitalen Edition vgl. Marcus Baumgarten: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zur digitalen Edition sämtlicher Lessing-Übersetzungen und ihrer Vorlagen. In: Wege zur Weltliteratur. Komparatistische Perspektiven der Editionswissenschaft. Hrsg. von Gesa Dane, Jörg Jungmayr und Marcus Schotte. Berlin 2015, S. 279–291. 29

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Nikolas Immer

vorläufig bezeichnet werden muss (Abb. 1). Während die Zwischenüberschriften im Fließtext untergehen (Nr. 1), werden die Kolumnentitel im Fettdruck hervorgehoben (Nr. 3). Darüber hinaus werden originale Worttrennungen in Form von Spatien sichtbar (Nr. 2), was die Lektüre erheblich erschwert. Problematisch ist zudem, dass Original und Übersetzung zwar nebeneinander dargestellt werden, dass aber die implementierten Verlinkungen beider Textteile nicht mehr funktionieren. Folglich ist es dem Benutzer aufgegeben, die Textteile des Originals und der Übersetzung so zu arrangieren, dass sie zueinander passen. Neben dem ‚Lessing-Portal‘ gibt es weitere digitale Darbietungsformen der Beyträge, die hier ebenfalls zu berücksichtigen sind. So ist die Zeitschrift als Digitalisat im Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek verfügbar, jedoch nur als Scan und nicht als digitale Edition.31 Demgegenüber bietet Google Books die Möglichkeit, die Zeitschrift mithilfe der Volltextsuche zu nutzen.32 Doch ein Blick auf die mangelhafte OCR-Qualität lässt erkennen (Abb. 2), dass dieses Digitalisat vielleicht als Hilfsmittel taugen, aber keinesfalls eine kritische Edition ersetzen kann. Im Rahmen einer digitalen Neuedition wäre grundsätzlich eine synoptische Darstellung von französischem Original und deutscher Übersetzung in zeichengetreuer Wiedergabe des Erstdrucks zu favorisieren. Beide Texte müssten zumindest abschnittsweise miteinander verknüpft werden, um die Möglichkeit des Textvergleichs permanent zu gewährleisten. Diese Darbietung würde es beispielsweise erlauben, schon in der Eingangspassage eine kleine, aber möglicherweise für Lessings Übersetzungsverfahren charakteristische Abweichung zu entdecken. Während es bei Riccoboni heißt, dass es der angesprochenen Madame Vergnügen bereite, die Schauspiele auf den ‚öffentlichen Theatern‘ („les Théâtres publics“) zu sehen, heißt es bei Lessing lediglich, dass es ihr Vergnügen bereite, „sie vorstellen zu sehen“.33 Es wäre denkbar, die Tilgung des in diesem Kontext redundanten Aufführungsorts als einen Beleg für Lessings ökonomische Übersetzungspraxis zu werten. Solche Abweichungen könnten dann in einem mitlaufenden Stellenkommentar eigens kenntlich gemacht werden. Darüber hinaus böte eine digitale Neuedition auch die Möglichkeit, weiterführende Übersetzungsvergleiche anzustellen. Soweit ersichtlich, ist in der Forschung bislang noch nicht wahrgenommen worden, dass Riccobonis Schrift nahezu zeitgleich auch von Gottsched rezensiert wird, und zwar in seinem Periodikum Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit.34 Lessings kurz zuvor erschienene Übersetzung wird darin bemerkenswerterweise mit keinem Wort erwähnt. Zu berücksichtigen ist ferner, dass Gottsched nicht nur eine Zusammenfassung des Inhalts liefert, sondern auch zwei Passagen aus Riccobonis Schrift bietet, die er selbst übertragen hat. Das 31

https://reader.digitale-sammlungen.de/resolve/display/bsb10573314.html (26.10.2020). https://books.google.de/books?id=i41QAAAAcAAJ (26.10.2020). 33 [Antoine-]François Riccoboni: L’Art du Théâtre. A Madame ***. Paris MDCCL [1750], S. 2; Lessing: Die Schauspielkunst, an die Madame *** durch den Herrn Franciscus Riccoboni, den jüngern. Aus dem Französischen übersetzt. In: Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters (1750), Viertes Stück, S. 481–544, hier S. 485. 34 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Rez. von: L’Art du Theatre, par Mr. Francesco Riccoboni. Paris 1751. d.i. Die Schauspielkunst, durch Herrn Franz Riccoboni. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (Juli 1751), S. 533–537. 32

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?

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Abb. 2: Auszug aus dem Google-Digitalisat der Lessing’schen Übersetzung von Riccobonis L’Art du Théâtre (Textübernahme aus dem Google-Format).35

erlaubt es wiederum, Lessings und Gottscheds35Übersetzung zumindest punktuell miteinander in Beziehung zu setzen (Tab. 3). In der ersten Passage, die Gottsched übersetzt, bezieht sich Riccoboni auf die schon von Horaz diskutierte Frage, ob der Schauspieler die dargestellten Leidenschaften, selbst empfinden solle oder nicht. Riccoboni bekräftigt seinen Standpunkt, indem er schreibt, die folgende Tatsache sei ihm ‚stets bewiesen erschienen‘ („toujours paru démontré“).36 Während Lessing die Intensität dieser Überzeugung durch die Wendung „allezeit als etwas ganz gewisses“ fast noch steigert, wird sie bei Gottsched durch die Wendung „Ich hergegen glaube“ erkennbar abgeschwächt.37 Eine ähnliche Differenz fällt am Ende der zitierten Passage auf, wo Riccoboni auf das gewissermaßen ‚unnatürliche‘ Tempo („rapidité“) zu sprechen kommt, mit dem die Empfindungen in einem Schauspiel aufeinander folgen.38 Während Lessing adäquat von der „Geschwindigkeit“ spricht, „die gar nicht natürlich ist“, übersetzt Gottsched sinngemäß, aber nicht wörtlich, dass sich die Empfindungen „schnell und plötzlich“ verändern.39 Beide Beispiele lassen erkennen, dass Lessing näher an der französischen Vorlage übersetzt hat als Gottsched. Auch wenn Lessing bei seiner Übersetzung den Anspruch der ‚Ganzheit‘ verfolgt, enthält Riccobonis Schrift zwei Paratexte, die Lessing nicht überträgt. Dazu zählt erstens die „Approbation“ (Abb. 3) und zweitens das „Privileg du Roi“.40 Während es sich im zweiten Fall um das königliche Druckprivileg handelt, geht es im ersten Fall um eine kurze Evaluation von Riccobonis Schrift durch den Dramatiker und Librettisten Louis de Cahusac, der vier Jahre später eine einschlägige Abhandlung über die Geschichte des Tanzes veröffentlichen wird. In der „Approbation“ teilt

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40

https://books.google.de/books?id=i41QAAAAcAAJ&pg=PA486&focus=viewport&dq=Beyträge+ zur+ Historie+und+Aufnahme+des+Theaters&hl=de&output=text (26.10.2020). Riccoboni: L’Art du Théâtre (Anm. 34), S. 37. Lessing: Die Schauspielkunst (Anm. 34), S. 506; Gottsched: Rez. L’Art du Théâtre (Anm. 35), S. 535. Riccoboni: L’Art du Théâtre (Anm. 34), S. 37. Lessing: Die Schauspielkunst (Anm. 34), S. 506; Gottsched: Rez. L’Art du Théâtre (Anm. 35), S. 535. Vgl. Riccoboni: LÀrt du Théâtre (Anm. 34), S. 102–104.

126 Riccobonis Original41 […] Bien loin que je me sois jamais rendu à cet avis, qui est presque généralement réçû, il m’a toujours paru démontré qui si l’on a le malheur de ressentir véritablement ce que l’on doit exprimer, on est hors d‘état de joüer. Les sentimens se succedent dans uns scéne avec une rapidité qui n’est point dans la nature. […]

Nikolas Immer

Lessings Übersetzung42

Gottscheds Übersetzung43

Ich bin niemals dieser Meynung gewesen, ob sie gleich beynahe allgemein ist; ich habe vielmehr allezeit als etwas ganz gewisses angenommen, daß man, wenn man das Unglück hat, das was man ausdrückt, wirklich zu empfinden, außer Stand gesetzt wird zu spielen. Die Empfindungen folgen in einem Auftritte mit einer Geschwindigkeit aufeinander, die gar nicht natürlich ist. […]

[…] Man glaubt gemeiniglich, […]. Ich hergegen glaube, daß, wenn man so unglücklich ist, dasjenige selbst zu empfinden, was man ausdrücken soll, man ganz außer Stand gesetzt sey, zu spielen. Die Empfindungen folgen in einem theatralischen Auftritte, so schnell und plötzlich auf einander, als in der Natur niemals geschieht. […]

Tab. 3: Auszüge aus Riccobonis L’Art du Théâtre in der Übersetzung Lessings und Gottscheds.

er nicht nur mit,41Riccobonis42Schrift43auf Geheiß eines Ministers gelesen zu haben, sondern liefert auch eine knappe Einschätzung ihres Gehalts: „Ich habe festgestellt, dass die Prinzipien gut entwickelt und die Regeln sehr nützlich sind, um diese Kunst [d.h. die Schauspielkunst] zu perfektionieren.“44 Da dieses Urteil möglicherweise Lessings Rezeption beeinflusst haben könnte, wäre dieser Paratext ebenfalls in eine Neuedition aufzunehmen. Darüber hinaus wäre es geboten, auch die frühen Rezeptionszeugnisse zu den Beyträgen möglichst umfassend zusammenzustellen. Im Kommentarteil der Lessing-Edition von Barner und anderen hat Stenzel bereits zehn Dokumente versammelt, die allerdings auf die frühen Stücke der Zeitschrift bezogen sind.45 Ergänzend sei zum einen darauf hingewiesen, dass Gottsched in der vierten Auflage seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst (1751) Riccobonis Schrift über die Schauspielkunst erwähnt und außerdem daran erinnert, dass sie „in der Stutgardischen Monatschrift [d.h. in den Beyträgen] auch deutsch [zu] haben“ sei.46 Zum anderen findet sich in der 1757 publizierten Übersetzung von Peter Franz Tosis Anleitung zur Singkunst eine Anmerkung, in der es deutlich affirmativer heißt: „Wer sich mit 41

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Riccoboni: L’Art du Théâtre (Anm. 34), S. 37. Lessing: Die Schauspielkunst (Anm. 34), S. 506. Gottsched: Rez. LÀrt du Théâtre (Anm. 35), S. 535. Ebd., S. 102; Übersetzung von mir, NI. Das elfte Dokument, ein Sitzungsprotokoll der Schweriner Theaterakademie vom 11. August 1754, ist dagegen als Rezeptionsdokument zu Lessings Riccoboni-Übersetzung anzusehen. Vgl. B, Bd. 1, S. 1345. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst […]. Vierte sehr vermehrte Auflage. Leipzig 1751. Nachdruck Darmstadt 1962, S. 628.

Wie ediert man „theatralischen Mischmasch“?

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Abb. 3: „Approbation“ aus Riccobonis L’Art du Théâtre.47

der Kunst gut zu agiren näher bekannt machen will,47der lese darüber die Schauspielkunst des Hrn. Riccoboni des jüngern, wovon im vierten Stücke der Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters eine schöne deutsche Uebersetzung befindlich ist“.48 Schließlich bliebe zu überlegen, ob unter diese Dokumente auch die Riccoboni-Vorlesung des Schauspielers Friedrich Ludwig Schröder (17. November 1810) aufgenommen werden sollte, die Gerhard Piens 1954 gemeinsam mit Lessings Übersetzung in Form eines Neudrucks herausgegeben hat.49

47 Ebd. 48

Peter Franz Tosi: Anleitung zur Singkunst. Aus dem Italiänischen. Mit Erläuterungen und Zusätzen von Johann Friedrich Agricola. Berlin 1757, S. 216, Anm. c. 49 Vgl. Francesco Riccoboni: Die Schauspielkunst (L’Art du théâtre, 1750). Übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Angefügt: Friedrich Ludwig Schröder: Auszüge aus Franz Riccobonis Vorschriften über die Kunst des Schauspielers mit hinzugefügten Bemerkungen. Hrsg., eingeleitet und mit Anmerkungen von Gerhard Piens. Berlin 1954.

Carolin Bohn

Laokoon-Lektüren im Hinblick auf editorische Praktiken Ein Diskussionsbeitrag

Die folgenden Überlegungen sind nicht dem Experten- und Erfahrungswissen der Editionswissenschaft entsprungen. Dennoch sollen sie als Diskussionsanstoß dienen. Ich stelle drei Laokoon-Lektüren aus den letzten zwei Jahrzehnten vor, die ein medien- und kunsttheoretisches Interesse verfolgen, während ihr Ansatz in der philologischen Praxis wurzelt. Die herangezogenen Beiträge haben weniger im Raum der deutschen oder amerikanischen Lessing-Philologie ihre stärkste Wirkung erzielt. Vielmehr haben sie interdisziplinäre, ästhetische (philosophische) oder kunsthistorische Kontexte beeinflusst; so treffen hier unterschiedliche, untereinander nicht immer leicht zu vermittelnde Diskurse aufeinander. Anhand dieser Ansätze entwickle ich jeweils anschließend einen Fragenkatalog hinsichtlich einer digitalen Lessing-Edition. Er orientiert sich an Interdisziplinarität und an der Ziel- und Zweckorientierung einer digitalen Edition.

1. Der Bochumer Kultur- und Medienwissenschaftler Friedrich Balke widmet sich 2007 in der Zeitschrift für deutsche Philologie einer dem Laokoon impliziten Gattungspolitik.1 Nach Balke handelt der Laokoon von poetischen und kulturellen Formen, die sich innerhalb eines Entstehungsprozesses etablieren können, kurz und wie der Titel schon anklingen lässt: von Gattungen. Dabei wird der Begriff der ‚Gattung‘ über das literarische Feld hinaus in den Diskurs der Kulturanthropologie gewendet. Nach Balke ist es (für Lessing) die Skulpturengruppe, die eine gattungspolitische Überlegung verkörpert. An ihr zeige sich die permanente Gefährdung eines höheren kulturellen Niveaus, in eine vorhergehende, niedrigere Lebensform zurückgerissen zu werden (ablesbar am stehenden Menschen in seiner Vertikale, der der horizontalen Ausrichtung der Schlangen ausgesetzt ist). Es stünden neben dem Konflikt von Mensch und Tier bzw. Natur und Kultur auch der Kampf zwischen Kulturen unterschiedlicher Entwicklungsniveaus zur Debatte. Damit ließe sich Lessing auch als Vordenker hegelianischer Geschichtsphilosophie lesen. Interessant für unseren Diskussionszusammenhang sind hier zwei Dinge: Erstens, dass für einen kulturtheo­retischen und medienästhetischen Diskurs, der auch philosophische Ästhetik und politische Philosophie berücksichtigt, wie Friedrich Balke ihn vertritt, 1

Friedrich Balke: Gattungspolitik. Über das Verhältnis von medienästhetischer Normativität und anthropologischer Differenz in Lessings Laokoon. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 481–507.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-009

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ausgerechnet Lessings Laokoon herangezogen wird. Es lässt erkennen, dass im Laokoon ein theoretisches Fundament vermutet wird, das es weiter zu denken lohnt bzw. an das angeknüpft wird. Die komplex komponierte Schrift lädt dazu ein, provoziert oder verführt – wie Sie wollen – in neuere theoretische Diskussionen aufgenommen zu werden. Wie Balkes Lesart auch diskutiert sein mag: sie aktualisiert Lessings Laokoon in einem zeitgenössischen Diskurs und medienästhetischen Diskussionszusammenhang. Zweitens findet hier eine folgenreiche Konfusion ihren Niederschlag. Während Balke seine Lektüre von Lessings Text durch seinen Blick auf die gleichnamige Skulpturengruppe entwickelt und anhand der Skulptur seine Lesart Lessings veranschaulicht bzw. sie als Argument gebraucht, ist eines keineswegs klar: Hat Lessing selbst jemals diese Skulptur gesehen, die beinah jedes Cover gedruckter Ausgaben des Laokoon ziert? Statt des Kunstwerks liegen Lessing bei der Abfassung seiner Schrift Nachzeichnungen der Skulpturengruppe und Abhandlungen vor, also in den Proportionen verschobene 2-D-Versionen einer 3-D-Skulptur. Selbst als er bei seiner 1775 angetretenen Italien-Reise die Gelegenheit dazu hat, verschmäht er (wahrscheinlich)2 den Anblick der Skulptur. Sie interessiert ihn nicht mehr und vielleicht hat sie, als Kunstwerk und jenseits der gelehrten Schriften darüber, ihn nie sehr brennend interessiert.3 An dieses Beispiel anknüpfend stellt sich nun die Frage, inwieweit es für eine digitale Ausgabe des Laokoons dennoch dienlich wäre, ausgewählte kunsthistorische Zeugnisse und Abzeichnungen zu integrieren, die Lessing – zumindest historisch wahrscheinlich – beim Abfassen seiner Schrift vorlagen. Und: Braucht es auch eine kommentierende Expertise von Seiten der Kunstgeschichte? Wie beeinflusst allgemein die Bebilderung bzw. die Illustration und illustrative Gestaltung – bereits der bisherigen Buchcover, nun einer digitalen Edition – die Rezeption des Textes?

2. 1998 veröffentlicht Inka Mülder-Bach eine Laokoon-Lektüre in einem Kapitel ihres Buches Im Zeichen Pygmalions: Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert.4 Sie arbeitet anhand des „Briefwechsels zum Trauerspiel“ und anderer Briefwechsel zwischen Lessing, Nicolai und Mendelssohn sowie der Vorstudien zum Laokoon ein Begriffsverständnis des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ heraus. Ihre Lesart hebt gerade das eigenständig täuschende Potential 2 3

4

Vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. 3. Auflage. Stuttgart/Weimar 2010, S. 264. Was erneut den Gegensatz zwischen Winckelmann und Lessing hervorheben würde: Winckelmann, Diskursgründer der (deutschsprachigen) Kunstgeschichte, insistiert auf der (sinnlich-realen) Betrachtung des Kunstobjekts; Lessing bleibt lieber bei der Reflexion. Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Text: Erste Auflage Dresden 1764. Zweite Auflage Wien 1776. Hg. von Adolf H. Borbein, Thomas W. Gaehtgens u.a. Mainz 2002. Geschichte der Kunst des Altertums (Vorrede) [1764]. In: Ders.: Kunsttheoretische Schriften. Teil: 5. Faks.-Neudr. der 1. Auflage. Baden-Baden/Strasbourg 1966. Vgl. auch das Digitalisat der Erstausgabe von 1764: (01.04.2021). Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions: Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‚Darstellung‘ im 18. Jahrhundert. München 1998.

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der Malerei hervor: eine Annahme, die die bis zu diesem Zeitpunkt realisierten Laokoon-Lektüren in ihren Kernaussagen umkehrt. Hinsichtlich der Editionspraxis ist an ihrer Analyse interessant, dass Mülder-Bach Lessings Malerei-Verständnis anhand einer extensiven Lektüre rekonstruiert, die sich ihren Weg durch die Paralipomena und Textgenese wie durch die Briefwechsel bahnt und dabei die Ausgabe von Wilfried Barner voll ausschöpft. Damit bietet sie zunächst ein Beispiel dafür, wie eine Edition ausgiebig genutzt wird und welchen Einfluss sie hat, um eine neue Lesart zu entwickeln. Dass Mülder-Bach die Rolle der Malerei bei Lessing hervorkehrt und sie als eigenständige Kunstform darstellt, ermöglicht dem Laokoon eine erneuerte kunsthistorische Rezeption. Um die Wirkung dieser Lesart im Folgenden deutlich zu machen, werde ich etwas theoretisch. Herkömmlich verstand man den Laokoon so, dass nur im kaum erreichbaren Idealfall das Gemälde mit seinen materiellen Zeichen etwas zeigt, das die Phantasie der Rezipient*innen anregt und in Bewegung setzt. Essentiell dafür sei laut Lessing die Wahl des dargestellten Augenblicks – und zwar nach dem Kriterium „fruchtbar“. „[…] nicht fruchtbar genug“5 könne dieser Augenblick gewählt werden und „[d]asjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“6 Nur auf der Grundlage einer bereits bestehenden Erzählung und im Rahmen ihres Story-Verlaufs könne dieser Augenblick gefunden werden. Die materiellen Zeichen der Malerei brauchen also die immateriellen Zeichen der Worte, um die Einbildungskraft zu stimulieren. Ansonsten und ohne fruchtbaren Augenblick wirken die materiellen Zeichen der Kunst, die ja nur zeigen können, was ohnehin zu sehen ist, beschränkend auf die Einbildungskraft. Demgegenüber ist Mülder-Bachs Punkt, dass Lessing der Materialität Potential zuspricht und sie damit elastischer denkt, als bis dato angenommen. Sie arbeitet heraus, dass im Bild selbst das durch die Materialität des Gemäldes zu Sehende mit der aktivierten Einbildungskraft des Rezipienten zusammenfallen. Ursache und Wirkung sind nicht getrennt, vielmehr hat die Struktur der Wirkung Anteil an der Ursache – eine Sichtweise, die an rezeptionsästhetische Konzepte erinnert. Der fruchtbare Augenblick bringt nach Mülder-Bachs Lesart die Einbildungskraft auf eine dem Bild eingezeichnete „Bewegungsspur“7. Während die materiellen Zeichen der Kunst nur bezeichnen können, was sichtbar ist, verweist diese dem materiellen Gemälde inhärente Spur auf das, was das Sichtbare hinzudenken lässt. Auf diese Weise kann und soll (zusätzlich) zu sehen geglaubt werden, was materiell nicht zu sehen ist.8 Entgegen der Annahme, Lessing sage der Malerei selbständige und inspirierende Täuschungsfähigkeit ab und Einengung der Phantasie nach,9 hebt 5

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Hrsg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 2007 (zugl. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd 5/2. Frankfurt a.M. 1990), S. 32. 6 Ebd. 7 Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions (Anm. 4), S. 37. 8 Ebd., S. 45f. 9 Vgl. David Wellbery: Lessing’s Laokoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge 1984, S. 105.

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Mülder-Bach gerade das täuschende Potential der Malerei hervor. Die radikale Trennung von Materialität und reiner Einbildungskraft ebenso wie die ontologisch gebettete Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit werden so „durchkreuzt“.10 Darüberhinaus wird die Hierarchie zwischen den Zeichen (primär – Wort; sekundär – Gemälde) unterlaufen. Mülder-Bachs Ansatz, der Lessings Denken in den Einflussbereich von Spinozas Materialitätsverständnis rücken ließe (was Mülder-Bach nicht expliziert), das Geist und Materie nicht als getrennt postuliert, sondern ihr gegenseitig implizierendes Verhältnis hervorkehrt, hat Folgen (bzw. umgekehrt Voraussetzungen). Eine davon lässt sich verdeutlichen, wenn Inka Mülder-Bachs Lesart zum Beispiel mit der David Wellberys verglichen wird. Seine einflussreiche Analyse des Laokoons basiert auf einer bei Mülder-Bach ausgehebelten Grundannahme: Malerei sei eine „intuition of an object present to mind, but existentially absent“.11 Mit „existentially“ ist eine ontologische Perspektive geöffnet, in ihr sind Wirklichkeit und Malerei gekennzeichnet durch die quasi-natürliche Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit. Mülder-Bach hingegen konzentriert sich allein auf das Anwesende – das materielle Bild – und den Überschuss, der dem präsenten Gemälde und seiner Erscheinung inhärent ist. Diesen Überschuss sehen wir mit den Augen der Phantasie. Was Lessing im Laokoon als „hinzudenken“ bezeichnet, wäre demnach verbunden mit einer Art des Sehens und Wahrnehmens. Was das Gemälde inhaltlich darstellt bzw. dass es konkret ein Abwesendes vor Augen holt, spielt hier keine Rolle. Der kleine Unterschied markiert die jeweilige Sicht der beiden Literaturwissenschaftler*innen auf den philosophischen Begriff der Ontologie. Wellberys Verständnis geht davon aus, dass eine essentielle Wirklichkeit abgebildet bzw. wieder erschaffen wird. Inka Mülder-Bachs Lesart aber weist in eine Richtung, die davon ausgeht, dass die Machart und Wirkweise eines Kunstwerks (egal welches Medium) die Wirklichkeit schafft. „Sein“ wird hier eher verstanden als Werden, als etwas, das dynamisch und wechselhaft ist. Hier wäre die Wirklichkeit das, was (gemacht) wird; nicht das, was da ist. Beide Lesarten gehen davon aus, dass sie die – bewusste oder unbewusste – theoretische Grundbedingung oder gar Weltanschauung bzw. ein Ontologie-Verständnis des Aufklärers rekonstruieren. Einerseits verweisen die widersprüchlichen Auslegungen schlicht darauf, dass die Laokoon-Schrift Mehrdeutigkeit und immer wieder neue Lesarten zulässt. Mülder-Bachs Analyse ist durch den theoretischen Subtext dekonstruktiver, neomaterialistischer Methodik beeinflusst und bietet daher auch ein Beispiel dafür, dass Lessings Laokoon ein gewisses aktuelles bzw. aktualisierbares theoretisches Potential birgt. Er verführt dazu, auch mit zeitgenössischen Diskussionen kurzgeschlossen zu werden. Andererseits ist die Nennung von Mülder-Bachs Analyse relevant, weil sie Einfluss auf benachbarte Disziplinen hatte. So findet der Laokoon in die zeitgenössische ästhetische Philosophie, Kunsttheorie und Theorie der Performanz. Die Philosophin und Kunsttheoretikerin Juliane Rebentisch berücksichtigt zum Beispiel in ihrer 2003 erschienenen Ästhetik der Installation Lessings Zeit- und 10 11

Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions (Anm. 4), S. 46. Wellbery: Lessing’s Laokoon (Anm. 9), S. 105.

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Raumkonzeptionen dezidiert nach der Lesart Mülder-Bachs.12 Mit solchen Voraussetzungen, neben anderen, entwickelt Rebentisch eine Sichtweise, in der theatralische, kinematographische und akustische Installationen durchaus als Werk bzw. einzelne Gattungen zu verstehen sind, die sich durch den Prozess der ästhetischen Erfahrung erst herstellen. Insgesamt denkt Rebentisch in ihrem Ansatz Gattung nicht als statisches Endprodukt, sondern als eine prozessuale Form. Will man den Laokoon als eine Medien- und produktive Gattungstheorie avant la lettre lesen, ist diese kurz skizzierte Rezeptionsgeschichte von Bedeutung. Möglich war sie freilich erst durch die entsprechende editorische Aufbereitung von Lessings Laokoon. Die Frage an das digitale Editionsprojekt, die sich für mich aus diesem Beispiel ergibt, ist, welche Rolle Zielformulierungen spielen. Welchen Zweck verfolgen – neben der Entscheidung für eine beispielsweise chronologische und nicht gattungsorientierte Anordnung – die Darstellung und Präsentation eines Textes, die Erarbeitung eines Kommentars oder des Zusatzmaterials? Kann die Rezeption einer Edition gelenkt werden und muss sie überhaupt bedacht werden? Welches Verhältnis darf/ soll eine Edition mit zeitgenössischen theoretischen Positionen eingehen? Woran erkennt man die Aktualität einer Ausgabe und welche Komponenten führen zu einer möglichst anhaltenden Aktualität, gerade in Zeiten der digitalen Revolution? Inwiefern bergen Editionen einen ideologischen Hintergrund bzw. unausgesprochene theoretische Voraussetzungen oder eröffnen bzw. ermöglichen völlig neue Betrachtungsweisen? Inwieweit und in welcher Form sollten theoretische Überlegungen transparent gemacht bzw. die Auswirkungen technischer oder medialer (digitaler), auch gesellschaftlicher und struktureller Paradigmen/Wechsel reflektiert werden?

3. Als drittes Beispiel für eine Laokoon-Lektüre nenne ich zwei Aufsätze von Rüdiger Campe. 2007 erscheint unter dem Titel Aktualität des Bildes in einem interdiszipli­ när angelegten Band über die Begriffe „Figur“ und „Figuration“ eine rhetorikgeschichtliche Analyse von Lessings Laokoon.13 Die dort entwickelten Überlegungen werden unter dem Titel Lovers’ Daydreams. The Moment of the Image in Lessing’s Laokoon 2009 in einem Band zu Intermedien. Zur kulturellen und artistischen Übertragung weitergedacht.14 Im Folgenden mache ich Rüdiger Campes Lesart des Laokoons ausschnitthaft deutlich und versuche nachvollziehbar zu machen, wie er Lessings Poetik intermedial dreht: Er arbeitet heraus, dass die Funktionsweise der rhetorischen enargeia/energeia nicht auf die Poesie beschränkt ist, und markiert eine Stelle, an der Lessings Laokoon als eine Theorie des Ästhetischen zu lesen ist, wenn darunter eine allgemeinere Theorie der Künste bzw. der Wahrnehmung und 12

Vgl. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt a.M. 2003, S. 146–151. Rüdiger Campe: Aktualität des Bildes. Die Zeit rhetorischer Figuration. In: Gottfried Boehm, Ga­ briele Brandstetter und Achatz von Müller (Hrsg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. München 2007, S. 163–182. 14 Rüdiger Campe: Lover’s daydreams. The Moment of the Image in Lessing’s Laokoon. In: Alexandra Kleihues, Barbara Naumann und Edgar Pankow (Hrsg.): Intermedien. Zur kulturellen und artistischen Übertragung. Zürich 2010, S. 149–166. 13

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Wirkungsweisen der Kunstformen verstanden wird. Campe bezieht sich hier in erster Linie auf das Kapitel XIV im Laokoon, in dem es Lessing bei der Begriffsklärung des „Poetischen Gemäldes“ darum geht, materielle Gemälde nicht mit dem Effekt des „Malerischen“ in der Poesie zu verwechseln. Zunächst erkennt Rüdiger Campe hier die Anlage zu einer Theorie der „Bildlichkeit“. Sie ist verknüpft mit der Nennung des rhetorischen Begriffs „enargeia“ und wirft die Frage nach der medialen Bedingung des Bildlichen auf. Besonders in den Diskussionen der poststrukturalistisch informierten Literaturwissenschaft rückt diese rhetorische Figur und ihr medientheoretisches Potential ins Blickfeld.15 Enargeia,16 auch hypotypose17 oder evidentia, markiert gewissermaßen die andere Seite der von Aristoteles ausgehenden poetologischen Überlegungen zu Metaphern. Die Metapher operiert mit einer ontologischen Rückbindung, mit ihr wird etwas in Erinnerung geholt, was bekannt aus der Wirklichkeit ist (beispielsweise eine Proportion: Der Abend verhält sich zum Tag wie das Alter eines Menschen zum Leben). Die Metapher macht also etwas präsent, was bekanntermaßen existiert und aktuell nicht direkt anwesend ist. Enargeia hingegen bezeichnet den rein artistischen, artifiziellen Visualisierungsvorgang: Was durch rhetorische Kunstfertigkeit und detailreiche Darstellung klar vor Augen steht oder gestellt wird, hat keinen ontologischen Vorlauf; es ist nicht eindeutig, worauf sich das Gesehene bzw. ob sich überhaupt das Gesehene auf etwas Konkretes oder bereits Bekanntes bezieht. Es geht hier nur um die Visualisierung, das ins-Bild-Treten als solches, das eine metaphorische Operation unterstützen kann, aber keine Metapher ist. Beide haben gemein, dass sie durch eine Transferleistung entstehen: die Metapher arbeitet mit Substitution, die enargeia impliziert den Medien-Transfer zwischen Hören/Lesen und Sehen.18 In seinem Aufsatz zur „Aktualität des Bildes“ kehrt Rüdiger Campe detailliert hervor, wie die rhetorische bildgebende Strategie des Vor-Augen-Stellens eine zeitliche Qualität bekommt.19 In Quintilians Institutio oratoria macht er dazu die folgenreiche Verquickung von genannter enargeia (bzw. hypotypose) mit der so ähnlich klingenden energeia aus. Der Begriff der energeia bezeichnet das „Inwirksamkeit- und Inwirklichkeittreten“.20 Philosophisch gesehen ist energeia (Wirklichkeit; Akt) der Gegenpart zu dynamis (Potential, bloße Energie; Potenz); rhetorisch meint das die dramatisierte Erzählung: etwas Potentielles (Nonreales) wird durch dramatisches/darstellerisches (das Handeln imitierendes) Spielen vergegenwärtigt, 15

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Vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Gerhard Neumann (Hrsg.): Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart/ Weimar 1997, S. 208–225. Allgemeiner zu Begriff und Begriffsgeschichte der enargeia: Heinrich F. Plett: Enargeia in Classical Antiquity and the Early Modern Age: The Aesthetics of Evidence (International Studies in the History of Rhetoric. 4). Leiden/Boston 2012. Vgl. dazu Rodolphe Gasché: Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant. In: Christiaan L. Haart-Nibbrig (Hrsg.): Was heißt darstellen? Frankfurt a.M. 1994, S. 152–174. Vgl. Campe: Lover’s daydreams (Anm. 14), S.  151: „[…] the power of making us experience something intuitively as an image while in fact we are reading or hearing […]. In order for us to perceive an image […], a figural act of transfer must precede, allowing us to see something as an image in the first place.“ Vgl. Campe: Aktualität des Bildes (Anm. 13), S. 169f. Ebd., S. 169.

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also in der Gegenwart verkörpert. In den Überlegungen Quintilians kommen zum Effekt und der Technik des „Vor-Augen-Stellens“ noch weitere zeitliche Ebenen hinzu: nicht mehr nur die Vergegenwärtigung von Potentiellem (energeia), sondern auch das Heranholen von Vergangenem (was geschah und hätte geschehen können) und Zukünftigem (was geschehen wird und geschehen könnte). In Lessings Laokoon sieht Campe diese Verquickung realisiert, wenn im Kapitel XIV der Begriff „Enargie“ genannt wird, um das „Malerische“ der Poesie zu erfassen.21 Bekanntermaßen betont Lessing, dass das Malerische der Poesie nicht notwendig ein Bild sei, doch, so Campe über Lessing, es „verbildlicht (…) den sprachlichen Ausdruck“.22 Mehr noch – und hier kommt Campes Clou: es „macht analog dazu auch das faktische Bild selbst erst zum Bild. […] Die hypotypotische Vergegenwärtigung hebt sich von Texten, aber nach ihrem Vorbild auch von visuellen Wahrnehmungen und Bildern als quasi-transzendentale Bedingung von Bildlichkeit ab.“23 Die Geschichte der Rhetorik und Poetik lässt also einen Einblick in die Methode und Struktur eines bildgebenden Verfahrens gewinnen. Doch funktioniert dieser Mechanismus universeller, nämlich auch bei Skulptur und Gemälde, also bei materiell zu sehenden, sichtbaren Gegenständen. Laut Campe entdeckt Lessing eben dieses bildgebende Moment als solches und entwickelt die strukturelle Entsprechung für die Malerei: „Der prägnante Augenblick ist für Bild und Plastik die strukturelle Entsprechung zum evidenziell Bildlichen, das als vom Bild Verschiedenes zunächst eine Figur im Text ist.“24 Der später erschienene Aufsatz Campes,25 der sich insbesondere Lessings Nennung der „Träume der Wachenden“ widmet,26 legt an der schon zitierten Stelle in Kapitel XIV versteckte Bezüge zu Platon frei. Laokoon wird als der Ort gelesen, wo sich dreierlei grundlegende Aspekte der enargeia manifestieren: die Nennung des Begriffs enargeia selbst, rhetorische Technik und Effekt der Figur als bildgebendes Verfahren in ihrer Verflechtung mit energeia sowie – das ist hier neu – ihr metaphysischer Hintergrund. In Lessings Laokoon und speziell im Kapitel XIV, vermutet Campe, „energeia/enargeia becomes the master trope of aesthetics under its own name and after its own logic. If this turns out to be true, however, we can observe one of the rare cases in which poetic translation turns into media-transfer before entering the discourse and terminology of aesthetics proper.“27 Wir hätten es also mit einer eigenständigen/eigenwilligen Theorie des Ästhetischen zu tun, bevor die philosophische Ästhetik, geprägt durch Kant und Hegel, startet und sich durchsetzt. Diese Theorie des Ästhetischen wurzelt in der Rhetorik- und Poetikgeschichte und ist aus dem medientheoretischen Potential der enargeia heraus entwickelt.28 21

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Lessing: Laokoon (Anm. 5), S. 114 (Fußnote). Campe: Aktualität des Bildes (Anm. 13), S. 178 (Hervorhebung von der Verfasserin, C.B.) Ebd., S. 178 (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 180. Vgl. Campe: Lover’s daydreams (Anm. 14), S. 149–166. Lessing: Laokoon (Anm. 5), S. 114 (Fußnote). Campe: Lover’s daydreams (Anm. 14), S. 151. Campe hebt hervor, dass diese Ästhetik sich aus dem rhetorisch-artifiziellen bildgebenden Verfahren entwickelt und nicht aus der Figur der Metapher (poetic translation) entsteht. Vgl. im Vergleich dazu Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs.

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Den metaphysischen Zug, der Lessings Überlegung zum bildgebenden „Malerischen“ von Poesie und eben auch Malerei anhaftet, schält Campe aus der Fußnote zum „Poetischen Gemälde“ heraus: Hier nennt Lessing als Bezugsquelle für den Begriff der „Enargie“ nicht etwa Quintilian oder Aristoteles (und auch nicht die evidentia bei Cicero). Er zitiert Plutarchs neoplatonische Umgestaltung des Symposions, den Dialog über die Liebe.29 So bringt er bei der Frage nach der Bildlichkeit unauffällig die Themen der platonischen Epistemologie und Metaphysik ins Spiel: Beides, sowohl die flüchtige Natur der visuellen Erscheinungen (und der Wirklichkeit) als auch die ewig bestehende/beständige göttliche Idee; letzte zeigt sich gerade den Liebenden beim Blick in die Augen des/der Geliebten und liegt als Urbild allen Gegenständen (Abbildern) zugrunde. Beides – Statik und Dynamik – sind auf dem metaphysischen Grund, der durch das Zitat eingezogen wird, Ingredienzen des „Malerischen“ in Poesie und Malerei. Warum nun diese Laokoon-Lektüre im Kontext der digitalen Edition? Zunächst gilt auch hier, dass Campes raffinierte Lektüre, die ebenso anziehend wirken wie auf (disziplinäres) Unverständnis stoßen kann, Anknüpfungspunkte für kunsttheoretische und auch medientheoretische Diskurse anbietet. Die Entdeckung, enargeia/ energeia beschränke sich als ein allgemein bildgebendes Verfahren nicht auf sprachliche Gebilde, sondern sei auch in der Malerei und Bildhauerei am Werk, findet Anklang in aktuelleren kunsthistorischen Überlegungen, ebenso das hier freigelegte zweispurige platonische Moment.30 Campes Lesart markiert die historische Bedeutung des Laokoon in der Entwicklung des ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert und auch eines philologisch trainierten medientheoretischen Denkens. Der Laokoon wird als der Ort gezeigt, wo sich Rhetorik über den Weg der Medialität in Ästhetik übersetzt. So wird der Aufklärer erneut kanonfähig für den kunsthistorischen und -theoretischen Diskurs und taucht als Inspiration und deutschsprachiger Vordenker ebenfalls in interdisziplinären Diskussionszusammenhängen auf. Dass Lessings Laokoon bedeutsam in der Entwicklung der Ästhetik ist, mag einerseits selbstverständlich klingen, andererseits ist es das nicht für die philosophische Ästhetik, wie sie beispielsweise Christoph Menke vertritt. Durch Campes Ansatz, die Ästhetik aus der Rhetorik zu entwickeln und eben dieses Geschehen bei Lessing nachvollziehbar zu machen, kann die Bedeutung des Laokoon zumindest potentiell auch in diesem Kontext zutage treten.31 Interessant an Campes Lektüre ist auch, dass nachträglich München 2007; Hans Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Frankfurt a.M. 2001. 29 Plutarch: Dialog über die Liebe. Amatorius. Hrsg. v. Herwig Görgemanns u.a. Tübingen 2006. 30 Vgl. z.B. Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild? 3.Aufl. München 2001; Gottfried Boehm: Ikonische Differenz. In: Rheinsprung 11. Zeitschrift für Bildkritik 1 (2011), S. 170–176; Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Berlin 2015; George Didi-Huberman: Wenn die Bilder Position beziehen. Das Auge der Geschichte I. München 2011; Lena Bader, Georges Didi-Huberman und Johannes Grave (Hrsg.): Sprechen über Bilder – Sprechen in Bildern: Studien zum Wechselverhältnis von Bild und Sprache. Berlin/München 2014; Horst Bredekamp: Der Bildakt. Berlin 2015. 31 Vgl. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Berlin 2008, S. 52–53. Menke entwirft eine von Herders Begriff der „Kraft“ ausgehende Genealogie der europäischen Ästhetik. Auf die Frage: „In welchem Verhältnis stehen (ästhetische) Kraft und (rhetorische) Figur?“ ist die „These der ästhetischen Genealogie […]: Die Figur ist ein (Ausdrucks-) Effekt der Kraft“,

Laokoon-Lektüren im Hinblick auf editorische Praktiken

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die Lesart von Mülder-Bach eine rhetorikgeschichtliche Fundierung bekommen kann. Die „Bewegungsspur“ des materiellen Gemäldes scheint als ein Äquivalent zur enargeia gelten zu können. Ausgehend von diesem letzten Beispiel stellt sich mir erneut die Frage, wie eine Laokoon-Edition aussehen kann, die interdisziplinären Ansprüchen genügen will (wenn sie das will) und welche weiteren Expertisen hierzu nützlich sind. Auch stellt sich mir anhand von Campes Lektüre die Frage, wie flexibel eine digitale Edition sein kann: Können beispielsweise Vernetzungen im Gesamtwerk Lessings angezeigt werden, die eine Lesart jeweils begünstigen oder destabilisieren? Inwieweit können und sollen Lessings eigene Zitate – wie beispielsweise das bei Campe als bemerkenswert bewertete Plutarch-Zitat – nachvollzogen und kommentiert werden? Welche Rolle spielen Register in der digitalen Ausgabe, wie können sie programmiert werden, wenn beispielsweise wiederholt zitierte Quellen in ihrer werkinternen Gesamtvernetzung nachweisbar gemacht werden sollen? Hierfür ist auch Lessings eigene Charakterisierung des Laokoons relevant: Lessing bezeichnet seine Schrift selbst als „unordentliche Collectanea“,32 was sich durchaus als Programmatik lesen und ernst nehmen lässt:33 Soll und wie könnte eine digitale Editorik dies auffangen oder zumindest transparent machen? Schließlich, wie kann unter Einbindung neuerer materieller Befunde die Genese eines Werkes digital sichtbar gemacht werden? Zusammengefasst bleiben die grundlegenden Fragen aus meiner Sicht: Welche Ziele verfolgt das digitale Projekt, wer sind die Zielgruppen (Inter-/Disziplinäre Forschungskontexte, Schulkontexte, allgemeine Zugänglichkeit) und wie fließen die Zielkriterien in die (technisch machbare) Darstellungsweise des Materials ein?

S. 141, Fußnote 83. Zu Herders Unterstellung der „Kraft“ bei Lessing siehe seine Laokoon-Rezension: Johann Gottfried Herder: Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Erstes Wäldchen. Herrn Leßings Laokoon gewidmet. In: Ders.: Werke. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur, 1767–1781. Hrsg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt a.M. 1993, S. 57–247, hier S. 196. 32 Lessing: Laokoon (Anm. 5), S. 15. 33 Vgl. Jörg Robert und Friedrich Vollhardt (Hrsg.): Unordentliche Collectanea: Gotthold Ephraim Lessings ‚Laokoon‘ zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin 2013.

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Hybrid-Werkstätten „[z]ur Geschichte und Litteratur“ Die Medialität von Bild-Text-Relationen in Lessings bibliothekarischer Werkstatt-Buchreihe

1. Unter dem seit dem 15. Jahrhundert gebräuchlichen Wort ‚Werkstatt‘ wurden nicht allein die Arbeitsstätten der Handwerker und der bildenden Künstler, sondern – durchaus noch im engeren Sinne des Wortes – auch die der Buchdrucker verstanden.1 Darüber hinaus waren aber mehr oder weniger von Anfang der Begriffsgeschichte des Wortes an auch übertragene Bedeutungen verbreitet.2 Über das Scharnier des Wortes ‚Werkstatt‘ verbindet sich so die ‚tacit dimension‘ des tradierten WerkstattWissens3 mit einer assoziativen Sphäre, die von theologischen, philosophischen und künstlerischen Ideen und Anschauungen – und oft auch deren Mischung – bestimmt ist. So erscheint die ‚Werkstatt der Welt‘ zum Beispiel als eine Art göttliches Diorama im Ackermann aus Böhmen: „In deiner werkstat sahen wir dich ein edel gewant von regenbogen wurken; darein wurden engel, vogel, tier, fische vnd allerlei gestalt – da was auch die eule vnd der affe – […] getragen“.4 Auch für Paracelsus stellt die Natur eine „Werkstatt“ dar, in der, so paraphrasiert Donald Brinkmann, Material und Werkzeug bereit liegen und nur auf den ‚Operateur‘ warten, wobei der operative Gestaltungsspielraum des Menschen dabei nach wie vor an eine Lizenz Gottes geknüpft bleibt: „Was der Mensch schafft, geschieht Deo concedente.“5 Zwei Jahrhunderte später werden die Enzyklopädisten in Frankreich die in sich selbst legitimierten weltlichen Werkstatt-Künste ins Zentrum ihres großangelegten Projekts 1 2 3 4

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Reinhold Reith: Artikel „Werkstatt“. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd.  14. Stuttgart 2011, Sp. 986–989, hier Sp. 986. Vgl. Grimm: DWB, Bd. 29, Sp. 397–399, wo u.a. Werkstätten der Apotheker, Chronisten, Dichter, Schauspieler, der Wissenschaft, Gottes, der Natur, der Geschichte und des Geistes aufgeführt werden. Reinhold Reith: Artikel „Werkstatt“. In Marianne Sommer et al. (Hrsg.): Handbuch Wissenschaftsgeschichte. Berlin 2017, S. 225–234, hier S. 225. Johannes von Saaz: Der Ackermann von Böhmen 18,20; online-Quelle: (20.12.2020). Donald Brinkmann: Paracelsus und die moderne Technik. In: Nova Acta Paracelsica 2 (1944), S. 129– 171, gekürzt erneut abgedruckt in: Frank Geerk (Hrsg.): Paracelsus – Arzt unserer Zeit. Leben, Werk und Wirkungsgeschichte des Theophrastus von Hohenheim. Zürich 1992, S. 368-375, hier S. 373; der zuletzt zitierte Satz, den wir bei Paracelsus so nicht nachweisen konnten, wurde von Hugo Fischer (Vernunft und Zivilisation: die Antipolitik. Stuttgart 1971, S.  239) in fast schon frühneuzeitlicher Manier mit Sätzen Brinkmanns und einer Passage aus der Philosophia sagax des Paracelsus zu einem ‚Zitat‘ kompiliert, womit er eine problematische Verwertungskette auslöste, an deren Ende es vom denkbar größten Fisch geschluckt wurde, dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ (Wilhelm Perpeet: Artikel „Kultur, Kulturphilosophie“. In: HWBdPh. Hrsg. von Joachim Ritter et al. Basel 2007 [CD-Rom-Ausgabe], Bd. 4, Sp. 1321).

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einer umfassenden Repräsentation von Wissenspraktiken in Text und Bild stellen,6 darunter neben den Praktiken und Werkzeugen der Künstlerinnen und Künstler auch die der Buchsetzer und -drucker in ihren Werkstätten sowie diejenigen der Archivare in den Archiven und der Bibliothekare in den Bibliotheken.7 Von prominenter bibliothekarischer Position aus wird dann wiederum Gotthold Ephraim Lessing knapp 30 Jahre später in den von ihm begründeten Werkstattberichten Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel diese Tradition aufnehmen und sie zur Grundlage eines an Praktiken geknüpften Geschichtsdenkens machen: „Ohne Thaten giebt es keine Geschichte“.8 Schon mit dem ersten Beitrag Lessings wird deutlich, dass die „Thaten“, die er untersucht, immer wieder auch in Form von Bild-Text-Relationen und damit in transmedialen Konstellationen zu betrachten sind.9 Zugleich fordert Lessing, die von ihm publik gemachten Funde als Werkstücke in einer vernetzten internen und externen, kollaborativen wissenschaftlichen Praxis zu betrachten: Die historische Wahrheit soll sich zusammenfügen zum einen aus den Beobachtungen von auswärtigen Nutzern, zum anderen aber auch aus Erkenntnissen, zu denen Lessing selbst wiederum bei Gelegenheit von Anfragen auswärtiger Nutzer zu gelangen hofft, indem er sie sich selbst „zu Nutze mach[t]“.10 Schon hier erscheint, wie ein Bibliotheksdirektor unserer Tage mit Verweis auf jene „frühere[n] Zeiten“ proklamiert, „in denen die Gelehrten selbst Teil der Bibliotheken waren“, die Bibliothek als eine „Werkstatt der Wissenschaft“, deren Funktion darin besteht, Infrastrukturen bereitzustellen, um „Wissensbestände jeglicher Natur […] von Sender zu Empfänger zu übertragen“.11

2. Das mit dem Sender-Empfänger-Schema aufgerufene Paradigma steht jedoch – abgesehen davon, dass es seit längerem vielfach in seiner Validität, Stabilität und Direktionalität hinterfragt wird – auch aufgrund seiner Abstraktheit in einer gewissen Spannung zur stets auf Konkretes hin ausgerichteten Werkstattidee.12 Gleichwohl 6

Fritz Schalk: Artikel „Enzyklopädie“. In: HWBdPh, Bd. 2, Sp. 573–575, hier Sp. 573. L’Encyclopédie. Paris 1751-1780. Bd. 1 (1751), S. 619 und Bd. 2 (1751), S. 228–240. Gotthold Ephraim Lessing (Hrsg.): Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzog­ lichen Bibliothek in Wolfenbüttel. Bd.  1. Braunschweig 1773, S.  4; zu Lessings Verhältnis zum Projekt der Encyclopédie vgl. Corrado Rosso: „Aufklärung“ e „Encyclopédie“. Diderot e Lessing. Turin 1955. 9 Ausgangspunkt des exemplarischen bibliothekarischen Räsonnements bildet ein „deutsches Fabelbuch mit Holzschnitten“, das Lessing in seinem Beitrag „Ueber die sogenannten Fabeln aus den Zeiten der Minnesinger“ untersucht (Zur Geschichte und Litteratur 1 [Anm. 8], S. 1–42). 10 Ebd., S. 8–9; zu Lessings „historisch-pragmatische[m]“ Wahrheitsbegriff vgl. Renate Stauf: Lessings Wahrheit. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62.1 (2012), S. 59–72, hier S. 62–63. 11 Wolfram Horstmann: Bibliothek als Werkstatt der Wissenschaft. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 38.3 (2014), S.  503–505; als exemplarische Vertreter der in Bibliotheken tätigen Gelehrten erwähnt Horstmann Jacob und Wilhelm Grimm – dass Lessing hier mit mindestens gleichem Recht genannt werden könnte, versteht sich von selbst. 12 Vgl. exemplarisch: Jens Schröter (Hrsg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart 2014, worin der Werkstattbegriff einzig im Kontext von „Textilen Medien“ (S. 234 und 237) auftaucht; von der textilen Handarbeit aber grenzte die ältere technozentrierte Medienwissenschaft namentlich Friedrich Kittlers die zunehmend körperlose Datenübertragung bis hin zum word processing ja gerade 7

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spielt diese auch in medientheoretischen Diskursen des 20. Jahrhunderts schon früh eine zumindest hintergründige Rolle: Für die Theoretiker der Toronto-School der Medienwissenschaft (Marshall McLuhan, Harold A. Innis, Eric Havellock, Jack Goody und andere) stehen Medienereignisse stets auch im (historischen oder aktuellen) Zusammenhang mit Werkstattereignissen, inspiriert nicht zuletzt auch von der Bauhaus-Idee.13 Andererseits wurde vor allem in der medienwissenschaftlichen Methodenlehre die epistemische Belastbarkeit von übertragenen Bedeutungen und Metaphern von Art der ‚Dichter- und Denker-Werkstatt‘ im Sinne eines solchen Figuren stets vorgängigen technisch-medialen a prioris entschieden in Frage gestellt. Schon Walter Benjamin hatte – mit Blick auf Hölderlin – gegen die „abgenutzte Metapher“ der „Dichterwerkstatt“ einen Werkstattbegriff in Stellung gebracht, der auf die „präzise Technik“ abhob, mit der noch das Unscheinbarste und Alltäglichste ins Verhältnis zur „höchsten Art des Zeichens“ gesetzt wird.14 Dass es in medienwissenschaftlichen Instituten unserer Zeit didaktische Erfahrungs- und Erkundungswerkstätten gibt,15 ist eine mehr oder weniger direkte Folge eines solchen Präzisierungsverlangens, bei dem gleichwohl das Primat der Theorie unangetastet bleibt, wie (im gewählten Beispiel) allein schon die architektonische Situierung („Kellertreppe herunter“) deutlich macht. Gleiches gilt wohl auch für das disziplinäre Paradigma einer Medienphilologie, die den Anspruch erhebt, „Alternativen zum ehrenwerten antiquarischen Interesse an Bestandswahrung“ ausfindig zu machen und in Überschreitung des traditionellen bibliothekarisch-universitären Rahmens „Schnittstellen“ und „Berührungsflächen“ zwischen „Zeichenkörpern (sprachlichen Zeichen ebenso Signalen und Codes)“ und dem Unbezeichneten zu erkunden.16 Auch hierfür ist Benjamin einer der Stichwortgeber, so u.a. mit seinem avantgardistischen Text über den „Verteidigten Bücherrevisor“ aus der Einbahnstraße (1928),17

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dezidiert ab, vgl. Ders.: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 277f. Die Kritik am SenderEmpfänger-Schema wurde schon lange vor der Geburt der Medienwissenschaft und namentlich von Literaten (von Humboldt über Brecht bis zu Enzensberger) formuliert, vgl. ebd., S. 106, sowie Gebhard Rusch: Artikel „Kommunikationsmodelle“. In: Lexikon Medientheorie und Medienwissenschaft, Ansätze, Personen, Grundbegriffe. Hrsg. von Helmut Schanze unter Mitarbeit von Susanne Pütz. Stuttgart 2002, S. 164–166, sowie, aus medienphilosophischer Sicht, Sibylle Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt a.M. 2008. Zur Bauhaustradition der Medienwissenschaften vgl. Henning Schmidgen: Horn oder die Gegenseite der Medien. Berlin 2018. Benjamin: Deutsche Menschen. In: Ders. Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe (im Folgenden: Benjamin, KGA). Bd. 10. Hrsg. von Momme Brodersen. Frankfurt a.M. 2008, S. 38 (Kommentar zum Brief Friedrich Hölderlins an Casimir Ulrich Böhlendorf vom 2. Dezember 1802); die Kritische Benjamin-Ausgabe vermittelt die zusätzliche Einsicht, dass die Parenthese „selten mehr als eine abgenutzte Metapher“ von Benjamin als Textbaustein erst im Zuge einer Revision des Schreibprozesses eingefügt wurde – vgl. ebd., S. 251. „Hinterhof (Kellertreppe herunter, danach links dem Licht folgen)“ HU Web-Site: (20.12.2020). Friedrich Balke und Rupert Gaderer (Hrsg.): Medienphilologie. Konturen eines Paradigmas. Göttingen 2017, S. 15; vgl. hierzu die Stellungnahme zur möglichen disziplinären Situierung einer Medienphilologie innerhalb der Medienwissenschaft, die Harun Maye mit Bezug auf praxisorientierte Positionen von Claus Pias, Siegfried Zielinski, Bernhard Dotzler, Steffen Martus und Carlos Spoerhase vorgeschlagen hat: Braucht die Medienwissenschaft eine Philologie der Medien? In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 12.1 (2015), S. 158–163. Friedrich Balke und Rupert Gaderer: Einleitung. In: Balke/Gaderer: Medienphilologie (Anm. 16), S.  45, vgl. Benjamin, KGA Bd.  8. Hrsg. von Detlev Schöttker unter Mitarbeit von Steffen Haug.

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mit dem Medienphilologie erneut zurückverwiesen wird ins Bauhaus-Jahrzehnt und damit in eine Epoche, die in vieler Hinsicht auch die Editionspraxis in ein ihr eigenes Werkstattumfeld zurückzuführen versuchte.18 Die ‚Dichterwerkstatt‘ in einem medienphilologischen Sinne beim Wort zu nehmen wie es die Kunstgeschichte mit Blick auf die Werkstätten der älteren und neueren Künstler sowie neuerdings auch die Literaturgeschichte mit Blick auf konkret vorzustellende ‚Dichterwerkstätten‘ wie diejenige Goethes tun,19 und darüber hinaus: die Dichter-Edition als praxistheoretische Verfahrensweise des Umgangs mit Bild und Logos zu benennen, ist nun auch das Programm, dem sich die folgenden Ausführungen verpflichtet fühlen und zu dem sie einige Beobachtungen mit Bezug auf Lessing beitragen wollen. Am Anfang steht dabei eine kurze Rekapitulation medienwissenschaftlicher Perspektiven auf die philologische Editorik im Allgemeinen und die Digital Humanities im Besonderen, gefolgt von einigen konkreten Beispielen für denkbare Text-Bild-Referenzketten, die von bibliothekarischen Werkstattpraktiken in Lessings Wolfenbüttel hin zu digitalen Editionswerkstätten unserer Zeit reichen. Unsere Ausführungen verstehen sich dabei ausdrücklich auch als Resonanzen auf jenes Werkstattgespräch, das vor über fünfzehn Jahren in der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel stattfand und in dessen Rahmen als Desiderate einer traditionellen und digitalen Lessing-Philologie unter anderem die (noch von Paul Raabe angeregte) umfassende Erschließung der von Lessing initiierten Schriftenreihe Zur Geschichte und Litteratur ebenso aufgeführt wurde wie die inzwischen abgeschlossene von Lessings Übersetzungen.20

3. Obwohl das philologische Edieren stets auch aus einer Kette von medialen Praktiken besteht, spielte es – von frühen Ausnahmen wie Gerhard Neumann und Wolf Kittler abgesehen21 – in der medienwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft lange Zeit nur eine Nebenrolle. Zuweilen wurde das Edieren sogar explizit als Praxis etikettiert, die sich medienkulturwissenschaftlich nicht oder nur mit Mühe integrieren lasse, so zum Beispiel bei Waltraud ‚Wara‘ Wen-

Berlin 2009, S. 29–31. Vgl. Georg Witkowski: Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke. Ein methodologischer Versuch. Leipzig 1924; vgl. dazu: Jörg Paulus: Gefühlsphänomenologie und Affekthandwerk in philologischen Programmschriften der 1920er Jahre. In: Susanne Knaller und Rita Rieger (Hrsg.): Ästhetische Emotionen. Formen und Figurationen zur Zeit des Umbruchs der Medien und Gattungen (1880-1939). Heidelberg 2016, S. 93–114. 19 Vgl. Rachel Esner, Sandra Kisters und Ann-Sophie Lehmann (Hrsg.): Hiding Making Showing Creation. The Studio from Turner to Tacita Dean. Amsterdam 2013; Natalie Binczek: Gesprächsliteratur. Goethes Diktate. In Gaderer/Balke: Medienphilologie (Anm. 16), S. 225–253. 20 Vgl. Jörg Paulus: Zukunft der Lessing-Forschung. Bericht über das Arbeitsgespräch in Wolfenbüttel. In: Das 18. Jahrhundert 29.1 (2005), S. 10–11. 21 Vgl. Gerhard Neumann: Schrift und Druck. Erwägungen zur Edition von Kafkas Landarzt-Band. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 15–139 (Sonderheft „Probleme neugermanistischer Edition“); Wolf Kittler: Literatur, Edition und Reprographie. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 (1991), S. 205–235. 18

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de.22 Und selbst dort, wo Philologie in ein medienwissenschaftliches Denk- und Handlungsprogramm aufgenommen wurde wie schon 2003 bei Rainer Leschke, ist mit keinem Wort vom Beitrag philologischer Editionen zur in Frage stehenden Hervorbringung und Interpretation von Sinnstrukturen im medienphilologischen Profil die Rede.23 Dennoch sind editorische Praktiken nur von der Oberfläche medienphilologischen und medienkulturwissenschaftlichen Denkens gelöscht. Wie Rüdiger Nutt-Kofoth in einem konzisen Beitrag hervorhebt, war ja auch von AutorInnen wie Wara Wende durchaus implizit zugestanden worden, dass zum Beispiel verlegerische Entscheidungen mit Bezug zur Materialität von Texten und Überlieferungen kultursemiotische und somit auch medienkulturwissenschaftliche Relevanz haben können.24 Aufgrund der Tatsache, dass, wie Nutt-Kofoth nachweist, solche Entscheidungen und Zeichenpraktiken ihrerseits bereits Editionspraktiken sein können, jedenfalls aber editorische Entscheidungen oft unmittelbar von solchen Verlegerentscheidungen abhängig sind, lässt sich das Zugeständnis Wendes sogar als a-fortiori-Argument für eine notwendige Konvergenz von medien­wissenschaftlicher und editorischer Perspektive lesen. Erst durch diese Konvergenz wird es möglich, den Zusammenhang konkret als Werkstattzusammenhang zu verstehen. Edition prozessiert nicht einfach abstrakte Daten, die der ‚Dichterwerkstatt‘ entflogen sind; sie ist vielmehr die konkrete Fortsetzung der Arbeit von AutorInnen und VerlegerInnen mit zwar anderen, gleichwohl aber an jene Arbeiten anknüpfenden Mitteln. Betrachtet man Editionspraxis im Licht einer solchen Konkretion, dann zeichnen sich gleichwohl feine Unterschiede ab. Ausdrücklich plädiert Anke Bosse für eine engere Zusammenarbeit von Editionswissenschaft mit Medien- und Kulturwissenschaft, namentlich auch im Rahmen von hybriden und digitalen Editionsformaten, in denen „schon das paratextuelle, medienspezifische Erscheinungsbild beim Leser kulturspezifische Codierungen abruft“.25 Das zunehmende kulturwissenschaftliche Interesse am kreativen Verfahren, dem ‚Making of‘, nicht nur in der Literatur, sondern auch im Film und in der Kunst, spiegele sich dabei auf Seiten der Wissenschaft im Interesse der Editions- und Schreibforschung an textgenetischen Zusammenhängen als Werkstattprozessen.26 Wo sich für Anke Bosse Edition, Medienwissenschaft und Werkstattbegriff zu einer theoretischen Triangulation philologischer Operationen fügen, da zielt Claus Pias in einem Beitrag zum bereits erwähnten Band Medienphilologie auf performative Grenzüberschreitung. Zurückgehend auf Editionserfahrungen der späten 1980er Jahre legt er die Transformation von philologischen Eigenzeiten dar, wobei Objekte 22 23

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Waltraud ‚Wara‘ Wende: Kultur – Medien – Literatur. Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Würzburg 2004, S. 40–41. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie. München 2003, S. 299–306. Rüdiger Nutt-Kofoth: Editionsphilologie als Mediengeschichte. In: editio 20 (2006), S.  1–23, hier S. 21, vgl. Wende: Kultur – Medien – Literatur (Anm. 22), S. 60. Anke Bosse: Paratextuelle, medienspezifische Lektüresteuerung und Konjektur. In: Anne Bohnenkamp et al: Konjektur und Krux. Zur Medienpolitik der Philologie. Göttingen 2010, S. 233–251, hier S. 236. Vgl. Anke Bosse: The Making of. Blicke in des Autors Werkstatt. Zur Vermittlung von literarischen Arbeitsweisen. In: editio 17 (2003), S. 31–49.

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der Philologie und Medien der Philologie (allen voran der Computer) miteinander wechselwirken, so dass aus einer „digitalisierten Philologie“ eine „digitale Philologie“ und schließlich eine „Philologie des Digitalen“ hervorgeht.27 Wenn Pias dabei allerdings Begriffe wie „Historische Aufführungspraxis“ und „Denkmalpflege“ als Beschreibungsmodi medienphilologischer Praxis verwendet,28 dann wird das Werkstattkonzept erneut in eine Sphäre des ästhetischen Vergleichs verschoben, in der gerade der konkrete Gehalt „investigativer Operationen“ der Philologie (wie zum Beispiel der Konjektur) verloren gehen.29 Die Konzepte der editionsphilologisch ausgerichteten Digital Humanities gründen durchaus auch ihrerseits auf medienwissenschaftlichen Positionen, ohne dabei jedoch dogmatisch dem Primat der Theorie zu folgen. Vielmehr ist der pragmatische Zusammenhang hier maßgeblich. Bereits 2013 hatte Patrick Sahle in seiner dreibändigen Dissertation gezeigt, was es heißt, die Eigenlogik der Edition digital (und das heißt notwendigerweise: von den Werkzeugen her) zu denken, ohne die Materialität aus dem Blick zu verlieren oder lediglich digitalisierte Editionen zu produzieren.30 Vor diesem Hintergrund ist auch heute noch eine Kluft zu konstatieren zwischen einer eher theoriegeleiteten Zugangsweise der Medienwissenschaft und einer eher praxisgeleiteten der Digital Humanities. Die gegenläufigen Perspektiven zeigten sich jüngst noch einmal prägnant, als unter der programmatischen Überschrift „Debatte Digital Humanities“ 2019 ein Dialog über die Rolle des Digitalen und die Bedeutung, die ihr beigemessen werden kann bzw. zugesprochen werden soll, in der Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung publiziert wurde.31 Der dabei von Fotis Janidis (als dem Advokaten der Digital Humanities) vertretenden pragmatischen Position zufolge sind Digital Humanities nicht als Ersetzung, sondern als Ergänzung etablierter Zugangsweisen zu begreifen, wobei „Basteln und Ausprobieren“ noch immer der vorherrschende und keineswegs gering zu schätzende DH-Verfahrensmodus sei.32 Demgegenüber bestimmt der Medienwissenschaftler Markus Krajewski in seiner Gegenschrift die Digital Humanities als Hilfswissenschaft, die letztlich in den Kultur- und Geisteswissenschaften Arbeitsroutinen teilweise oder auch vollständig computergestützt übernehmen könn[t]en, wohingegen im Zentrum geisteswissenschaftlicher Kompetenzen das (wie auch immer definierte) Digitale zu liegen habe. Es seien die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, die unter der Zuhilfenahme der Hilfswissenschaft Digital Humanities 27 28

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Claus Pias: Medienphilologie und ihre Grenzen. In: Balke/Gaderer: Medienphilologie (Anm. 16), S. 365-385, hier S. 370–377. Ebd., S. 374–376. Zur Kritik und Konkretisierung von metaphorischen Digressionen in der medienphilologischen Analyse vgl. Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt a.M. 2004, S. 95–109. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. 3 Bände. Norderstedt 2013. Fotis Janidis: Digitale Geisteswissenschaften. Offene Fragen – Schöne Aussichten. In: Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaft 10.1 (2019), S. 63–70; Markus Krajewski: Hilfe für die digitale Hilfswissenschaft. Eine Positionsbestimmung. In: Ebd., S. 71–80. Janidis: Digitale Geisteswissenschaften (Anm. 31), S. 70.

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neu beobachtet, analysiert und hinterfragt werden müssten, um sich der Digitalkultur annähern zu können.33 Als weitere Position wäre auf Sybille Krämers unter dem Titel „Der Stachel des Digitalen“ erschienenen Beitrag zu verweisen,34 in dem sie sich gegen das Narrativ der Linearität von Schreib- und Leseprozessen ausspricht und betont, dass der „Schriftgebrauch […] mannigfaltige operative Aufgaben“ erfülle und andererseits, dass es sich bei forschendem Lesen grundsätzlich um keinen linearen Prozess handele, da dies immer das Annotieren, Umschreiben und Umformen impliziere.35 Deutlich wird aus Krämers Argumentation, dass sich die Digital Humanities angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb der Geisteswissenschaften zu einer kritischen und kritisch reflektierenden Instanz entwickeln könnten, wodurch eben kein Ende der Schriftkultur konstatiert und der Dualismus zwischen analog und digital überwunden würde. Anschließend an eine solche vermittelnde Position ließe sich dann auch, wie Harun Maye betont hat, grundsätzlich „nach Gebrauchsweisen, Praktiken und Kulturtechniken, mit denen Wissen und Repräsentationsweisen erzeugt werden“ fragen,36 die aber „jederzeit wieder in das Material [,von dem sie ausgegangen sind,] auflösbar sein sollten.37 Medienphilologische Gegenstände hätten in diesem Sinne (und in dem von Michel Serres und Bruno Latour) „keine Ursprünge oder ursprünglichen Orte mehr, sondern sind […] an unterschiedliche Gebrauchsweisen […] gebunden.“38

4. Solche gebrauchsspezifischen Bindungen sollen nun, wie zu Beginn schon angedeutet, am Modell von Text-Bild-Relationen umrissen werden, die in Editionsprozessen medienphilologisch produktiv gemacht werden, insofern sie medienphilologische Vergleichs-Praktiken initiieren, ohne dass dabei Orte der Ursprünglichkeit behauptet werden müssten. Lessings Wolfenbütteler Bibliotheks-Werkstattbuchreihe Zur Geschichte und Litteratur soll dabei als virtuelle Argumentationsumgebung fungieren, die sich für eine solche Fragestellung eignet, und zwar gerade weil darin graphische Elemente nur vereinzelt auftreten – abgesehen von zahlreichen durchaus auffälligen und im Grunde auch berücksichtigenswerten buchgestalterischen Elementen, die wir im Folgenden aber aus Platzgründen übergehen. Unser erstes digitales Werkstück ist das Digitalisat von Zur Geschichte und Litteratur der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt.39 Durch ein 33

Krajewski: Eine Hilfe für die digitale Hlfswissenschaft (Anm. 31), S. 80–81. Sybille Krämer: Der ‚Stachel des Digitalen‘ – Ein Anreiz zur Selbstreflexion in den Geisteswissenschaften? Ein philosophischer Kommentar zu den Digital Humanities in neun Thesen. Köln 2018. (20.12.2020). 35 Ebd. 36 Maye: Braucht die Medienwissenschaft eine Philologie der Medien? (Anm. 16), S. 160. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 (22.12.2020); zu Lessings Werkstatt-Buchreihe vgl. Eleonora Travanti: Lessing und seine Bibliothekszeitschrift „Zur 34

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„Weiterklicken“ wechseln wir von einer Seite zur nächsten und blättern uns auf diese Weise – ohne einen haptischen Bezug zum Buch – durch das Werk. Wir sehen verschiedene Vor- und Rückseiten, können die Größe, den Farbkontrast und einige weitere Parameter anpassen, damit die Betrachtung der Einzelseite unter bestmöglichen Bedingungen erfolgen kann. Die Grenzen bzw. Herausforderungen der Präsentations- und Repräsentationsmöglichkeiten in einer digitalen Umgebung werden jedoch dann ersichtlich, wenn das Medium Buch über sich selbst hinaus weist. Ausklappbare oder faltbare Darstellungen erweitern das ursprüngliche Buchformat und erfordern einen anderen Annäherungs- und Sehprozess. In gefaltetem Zustand passen sich die Darstellungen zwar dem Medium Buch an, ihr Inhalt erschließt sich uns dann jedoch nicht. Erst durch den Prozess des Entfaltens wird ihr Inhalt für uns erfahrbar. Faltbare Darstellungen in Büchern bzw. Drucken sind keine Seltenheit. So sind Landkarten oder Reisedarstellungen aus Pilgerberichten bekannt, wie beispielsweise aus dem Pilgerbericht Bernhard von Breydenbachs von 1485/86, der mit Holzschnitten von Erhard Reuwich illustriert wurde. Diese waren zum Teil in den Text integriert, zum Teil aber auch als textexterne, und damit eigenständige Buchseite, dem Werk hinzugefügt. So handelte es sich bei der berühmten Heilig-Land-Karte des Pilgerberichts um eine textexterne, ausklappbare Falttafel, die als Sachillustration mit Dokumentarcharakter eine Kombination aus dem Stadtbild Jerusalems und einer kartographischen Ansicht darstellte, die den Pilgerreisenden als Orientierungshilfe dienen sollte.40 Auch bei der ausklappbaren Falttafel aus dem Stück „Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau“ in Lessings Zur Geschichte und Litteratur handelt es sich um eine textexterne Abbildung, die sich im Buch ebenso wie in der Folge der Digitalisate zunächst als geometrisches Rätselbild zeigt (Abb. 1) und sich erst durch die Operation des Entfaltens erschließt. Zugleich stellt die Notwendigkeit des Entfaltens, im Hinblick auf die Entschlüsselung des Inhalts, eine Abkehr von der zumeist üblichen Doppelseite des Buches dar. Diese Diskontinuität unterbricht die lineare Lektüre und fordert zu einer anderen Art des Betrachtens und Lesens heraus. Allerdings tritt die ehemalige Glasmalerei in Kloster Hirsau (ehem. Hirschau), der sich Lessing in seinem Beitrag eingehend widmet, auch im entfalteten Zustand auf eine Art und Weise zu Tage, die zwischen Texthaftigkeit und Bildlichkeit diagrammatisch changiert (Abb. 2).

Geschichte und Litteratur“. In: Helmut Berthold und Franziska Schlieker (Hrsg.): Von Herkules zu Hollywood. Beiträge zur jüngeren Lessing-Forschung. Wolfenbüttel 2018, S. 115–138. Sehr herzlich danken wir Leonie Becker für ihre Recherchen im Zusammenhang mit diesen und den nachfolgend erwähnten weiteren digitalen Sammlungen. 40 Vgl. Frederike Timm: Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breydenbach von 1486 und die Holzschnitte Erhard Reuwichs. Stuttgart 2006; zur Mediengeschichte des Faltens und Entfalten vgl. Helga Lutz: Das spätmittelalterliche Stundenbuch als Medium des Entbergens. Topologien des Faltens, Klappens, Knüpfens und Webens im Stundenbuch der Katharina von Kleve. In: Kanon Kunstgeschichte 1–4. Einführung in Werke und Methoden. Bd. 2: Neuzeit. Hrsg. von Kristin Marek und Martin Schulz. München 2015, S. 85–109.

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Abb. 1: Eingefaltete Seite aus Zur Geschichte und Litteratur, Beytrag 2, 10. Stück: „Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau“, Tafel 1, S. 324. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle (Saale), Pon IIa 1128, S. 71, urn:nbn:de:gbv:3:1-268160-p0071-4.

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Abb. 2: Ausgefaltete Seite aus Zur Geschichte und Litteratur, Beytrag 2, 10. Stück: „Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau“, Tafel 1, S. 324.41 Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle (Saale), Pon IIa 1128, S. 72, urn:nbn:de:gbv:3:1268160-p0072-0.

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Die Abbildung ist schematisch, aber in das Buchformat eingepasst und damit etwas gestaucht, wiedergegeben in Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u.a. Frankfurt a.M. 1985-2003. Hier Bd. 7: Werke 1770–1773. Hrsg. von Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 2000, S. 510–511.

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Beginnend mit dem Ausruf „Vitrea fracta!“ – und gegen diesen anschreibend – legt Lessing in seinem Aufsatz die Entstehungsgeschichte der Fenster dar und stellt Bezüge zu den Holzschnitten der Biblia Pauperum her. Schritt für Schritt und unter Bezugnahme auf sprachliche Zeugnisse wie den Thesaurus Rerum Suevicarum des Lindauer Bürgermeisters Johann Reinhard Wegelin schildert Lessing sein Vorgehen, um die Ikonographie der Glasmalereien und ihre mögliche Vorbildwirkung auf die „Druckerkunst, oder vielmehr Formenschneiderey“42 zu erörtern: Eine medienkomparative Verfahrensweise ganz eigener Art, für die die ‚Werkstatt Bibliothek‘ ganz wesentlich ist, denn die Lektüre von Handschriften des Hirsauer Abtes Parsmimonius in der Wolfenbüttler Bibliothek ermöglichen es Lessing, eine Art Rapport über die Zeiten hinweg herzustellen, so als habe der Abt seine Beschreibung „in einem prophetischen Geiste, ausdrücklich für mich zu meinem gegenwärtigen Behufe geschrieben“.43 Die von Lessing ausgewählten zwei Beispiele, die als Falttafeln seinen Ausführungen beigefügt sind, sollen nicht nur seine Ausführungen illustrieren; sie fordern vielmehr zum direkten Vergleich von Fenster und Holzschnitt auf, wobei der Leser bzw. die Leserin zusätzlich auf Darstellungen in anderen, leichter zugänglichen Druckwerken verwiesen werden: Um meinem Lesern [sic] von diesen wörtlichen Handrissen den vollständigsten Begriff zu machen, will ich ihm ein Paar Proben vorlegen, die er selbst mit den alten Holzschnitten vergleichen mag. Weil aber den wenigsten eine so äusserste Seltenheit zur Hand seyn dürfte: so wähle ich dazu zwey Blätter, wovon sich in bekannten Büchern Copien finden.44

Wie wir schon gesehen haben, bietet die gefaltete Darstellung in Lessings Zeitschrift dem Betrachter und der Betrachterin nicht ein Bild des Fensters, sondern eine grafische Darstellung, die die inhaltliche Anordnung der einzelnen Themen, Motive und Elemente veranschaulicht. Diese Schematisierung eines sakralen mittelalterlichen Glasfensters sorgt für einen hohen Abstraktionsgrad, der weniger die ursprüngliche Intention der kirchlichen Glasmalereien oder den künstlerischen Wert zum Ausdruck bringt als vielmehr einen analytischen Anspruch. Nicht die Kunst oder der künstlerische Wert der Glasmalereien stehen so in Lessings Ausführungen im Vordergrund, sondern der Zusammenhang der Abbildungen in ihrer Zusammenstellung. Zentrales Thema sind nicht die Glasfenster des Klosters zu Hirsau, sondern der rekursive Vergleich als Annäherung und wissenschaftliche Methode zwischen den verschiedenen Werken und Medien. Man könnte mit Bruno Latour von „immutable mobiles“ sprechen, unveränderlichen mobilen Elementen, die das Wissen, das in unterschiedlichen Aufzeichnungsoperationen an verstreuten Orten oder in disparaten Medien gewonnen wird, zusammenführen und rekonstruierbar machen.45 42

Gotthold Ephraim Lessing: Ehemalige Fenstergemälde im Kloster Hirschau. In: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zweyter Beytrag. Braunschweig 1773, S. 317–344, hier S. 320. 43 Ebd., S. 323. 44 Ebd., S. 324. 45 Vgl. Bruno Latour: Visualization and Cognition. Drawing Things Together. In: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture and Present 6 (1986), S. 1–40; Ders.: Die Logistik der

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In der virtuellen Werkstattumgebung Lessings kann der Leser oder die Leserin die Bildtafel vor sich entfaltet betrachten und zugleich, seiner Anweisung und dem bibliographischen Hinweis folgend, mit einer weiteren Abbildung in einer anderen Publikation – ebenfalls vor sich liegend – vergleichen. In einer virtuellen Arbeitsumgebung ist diese Vorgehensweise gleichfalls möglich, sofern die entsprechenden Quellen digitalisiert sind. In unserem Falle folgen wir dem Hinweis auf den in Lessings Fußnote zum ersten Beispiel genannten vierten Band von Johann Georg Schelhorns Amoenitates Literariae und halten uns an Lessings Aufforderung, die dort auf Seite 296 zu findende Abbildung dem Schema in seiner Publikation „dagegen zu halten“, beispielsweise mithilfe des Digitalisats der Bayerischen Staatsbibliothek (Abb. 3). Doch obwohl das Vergleichen verschiedener Varianten oder unterschiedlicher Werkstücke auch – und in besonderem Maß – in virtuellen Umgebungen möglich ist bzw. ermöglicht wird, besteht durch den Digitalisierungsprozess die Gefahr einer zunehmenden Verflachung des dreidimensionalen Buches. Der Literaturtheoretiker Carlos Spoerhase mahnte 2016 in seinem Essay „Linie, Fläche, Raum“, dass sich die „theoretische Beschränkung der ästhetischen Beobachtung von Büchern auf die zweidimensionale Doppelseite […] bis in die Gegenwart“ halte und damit zugleich theoretische Diskurse der 1920er Jahre zur Architektur der Typographie (Valéry) und der Dreidimensionalität des Buches (El Lissitzky) aus dem Blickfeld geraten.46 In der Kette der drei Abbildungen (Abb. 1-3) sind unterschiedliche kulturtechnische Operationen festgehalten. Sie reichen von Transformationen im Format und im Modus der Symbolisierung (Abbildung versus Beschreibung) bis hin zu den durch die Faltung entstandenen geometrischen Verwerfungslinien und den Brüchen in der symbolischen Ordnung der Schrift (Abb. 1). Diese Transformationen lassen je eigentümliche Relationen zu den vorzustellenden ‚ursprünglichen‘ Glasfenstern hervortreten: Im Unterschied zum Papier waren diese nicht faltbar, wohl aber konnten sie auch Schriftträger sein; und wie die Schrift umgebrochen, so konnten sie zerbrochen werden. Wenn man indes den philologischen Blick auf Abb. 3 medienphilologisch justiert, so erkennt man, dass sich dort zusätzlich auch das genuine Werkstattobjekt der Bayerischen Staatsbibliothek abbildet, der sogenannte „Münchner Bücherfinger“,47 also jener Plexiglaszeiger, der eigens zum Zweck entwickelt wurde, die Buchseite flach zu halten, und der, anders als andere, auffälligere zu diesem Zweck eingesetzte Medien wie die menschliche Hand, auch medienwissenschaftlich bislang übersehen wurde.48 immutable mobiles. In: Jörg Döring und Christian Thielmann (Hrsg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion. Bielefeld 2009, S. 111–144. 46 Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Göttingen 2016, S. 9 sowie S. 19 und S. 45. 47 (22.12.2020). 48 Ulrike Bergermann: Digitus. Der letzte Finger. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 15 (2016), S. 96-104, sowie Rupert Gaderer: Was ist eine medienphilologische Frage. In: Balke/Gaderer: Medienphilologie (Anm. 16), S. 25–43, konzentrieren sich auf den Beitrag von ‚physiologischen‘ Fingern menschlicher Hände.

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Abb. 3: Johann Georg Schelhorn: Amoenitates Literariae, Bd. 4, Leipzig und Frankfurt 1730, Tafel zu S. 296. Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Lw 2620 -2, S. 9, urn:nbn:de:bvb:12-bsb11267085-6.

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Die Transparenz des Bücherfingers nimmt in diesem Falle die Transparenz der Glasfenster auf, die zuvor im Zuge des Medienwechsels in die stärker opake Qualität des Buchpapiers übergegangen war. Man kann solche Bücherfinger natürlich als schlichte Editionswerkzeuge betrachten, die mit gutem Grund so gebaut sind, dass sie übersehen und mithin auch ‚vergessen‘ werden können, sobald sie ihren Zweck erfüllt haben, der darin besteht, das Objekt angemessen zu präsentieren. Allerdings würde man dabei doch auch medienphilologisch signifikante Objekteigenschaften übergehen. So lässt sich in medienwissenschaftlicher Perspektive das Verhältnis von Grund und Figur umkehren, indem der Bücherfinger als primäres medienphilologisches Objekt in den Abb. 4: Spitze eines „Münchner Bücher­ Blick gerückt wird: als Quasi-Objekt fingers“ (Ausschnitt aus Abb. 3). Staats- und im Sinne von Michel Serres,49 dessen Stadtbibliothek Augsburg, Lw 2620 -2, S. 9, Handlungsmacht mit der des Subjekts urn:nbn:de:bvb:12-bsb11267085-6. (in diesem Falle: der digitalisierenden Person) verschränkt ist. Auf dem Bildschirm hat dieses Quasi-Objekt freilich seine Funktion, widerspenstige Seiten zu bändigen, verloren und ist dem digitalisierenden Subjekt gleichsam aus der Hand genommen. In den Vordergrund tritt dann die Qualität als sich selbst unauffällig machender Zeiger: transparent, damit nichts Wesentliches von ihm verdeckt wird, zugespitzt, damit der Druck der Hand bestmöglich übertragen werden kann. Als Zeiger verweist der Bücherfinger in Abb. 4 auf die Propheten, die in typologischer Funktion das Bild ‚begründen‘. Deren implizite Zeigegeste, durch die der Typus stets auf den Antitypus verweist,50 verschränkt sich mit dem Quasi-Objekt des digitalen Zeitalters; zugleich findet die Zeigegeste des ‚Fingers‘ eine Fortsetzung in den spitzbogigen Rahmungen des fensterartigen Architekturelements, hinter dem die Propheten in Erscheinung treten. Auf der ausfaltbaren diagrammatischen Abbildung in Lessings Beitrag, die mit der Geometrie der architektonischen Bildelemente sehr frei verfährt, entfällt dieser Verschränkungseffekt: Das ausgefaltete Blatt benötigt keine ‚Planierung‘ durch einen Bücherfinger, da sich die inhärente Spannung des gebundenen Buches in der Faltungs- und Entfaltungsoperation nicht auswirkt. Digitale Bilder auf diese Weise zu lesen, stellt innerhalb der Medienwis49

50

Vgl. Michel Serres: Der Parasit. Frankfurt a.M. 1984, S. 344–360. Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang den Kommentar von Klaus Bohnen, in: Lessing: Werke und Briefe 7 (Anm. 41), S. 1107.

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senschaft eine Gegenposition zu derjenigen von Wolfgang Ernst dar, der in einem Aufsatz zu Lessings Laokoon statuiert hat, dass jedes Anknüpfen an Lessing heute unter der Bedingung stattfinden müsse, dass dessen semiotisches Zeichenmodell inzwischen durch das elektronische ersetzt worden sei.51 Diesem reduktionistischen Modell kann man – gerade auch für Editionen – ein plurimodales Modell entgegensetzen, wie es der französische Ästhetiker Etienne Souriau 1943 lanciert hat, und das u.a. von Isabelle Stengers und Bruno Latour wieder aufgenommen wurde.52 Für eine digitale Edition Lessings hat das vielleicht nur marginale Konsequenzen – aber eben doch marginale im strengen Sinne, weil der Rand des Textes ja in der Tat auch der genuine Ort für die Ablage des Bücherfingers ist, ein Bereich instabiler und leicht übersehbarer Existenzformen, zugleich aber ein Element aus dem Werkzeugkasten hybrider Objekte, mit denen die Editionswerkstätten unserer Zeit mit Lessings Werkstattzeitschrift und deren Affiliationen korrespondiert. Umgekehrt sollte aber natürlich auch die digitale Existenzweise nicht ihrerseits marginalisiert werden. Lessings Vorschlag eröffnet, ganz im Sinne ihres Werkstattcharakters, neue Möglichkeiten des Vergleichens und einer anderen Art von Annäherung an das (digitale) Bild aus dem Digitalen heraus. So lassen sich mit verschiedenen Methoden aus dem Bereich der Computer Vision nicht nur Bildvergleiche mit umfangreichen Bildkorpora durchführen, sondern auch gezielte Verfahren zur Objekterkennung anwenden, die, je nach trainiertem Datenset, noch weitere Hinweise zu den historischen Verflechtungen eines Bildmotivs liefern könnten. Ein entsprechender Einsatz flexibler (lernfähiger) Informationsextraktionsverfahren sowie von Text- und Bildanalysetechnologien für verschiedene Text- und Bildkorpora wird derzeit beispielsweise im Rahmen des Projektes „TextBild-Gefüge. Digital Humanities und der Diskurs der Moderne“ an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar erforscht. Methodologisch orientiert sich das Projekt an Foucaults Diskursanalyse und den daran anschließenden Verfahren zur Analyse von Bilddiskursen und -rhetoriken. Die Forschungsumgebung basiert auf dem „Virtuellen Labor“, das als dynamisch wachsende Internetplattform zur Geschichte der experimentellen Lebenswissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert konzipiert wurde und im Rahmen des Projektes eine Erweiterung erfahren wird.53

51

Wolfgang Ernst: Lessing aus medienwissenschaftlicher Sicht: Neueste technische Varianten des Laokoon-Paradigmas. In: Steffen Bogen, Wolfgang Brassat und David Ganz (Hrsg.): Bilder, Räume, Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zum 85. Geburtstag. Berlin 2006, S. 448–461, hier S. 450. 52 Vgl. Isabelle Stengers und Bruno Latour: Die Sphinx des Werkes. In: Etienne Souriau: Die verschiedenen Modi der Existenz. Übersetzt von Thomas Wäckerle. Lüneburg 2015, S. 9–76. 53 Siehe: (22.12.2020).

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5. Im Unterschied zu den Falttafeln aus dem „Zweyten Beytrag“ von Zur Geschichte und Litteratur ist eine weitere Abbildung in Lessings Werkstattzeitschrift, zu finden im 19. Stück des „[d]ritten Beytrags“ unter dem Titel „Ergänzungen des Julius Firmicus“, so formatiert, dass sie sich in das Seitenformat einpasst und in den Textverlauf eingestellt ist.54 Sie zeigt das Idealhoroskop für Ödipus nach der Vorlage des Manutius-Wiegendrucks der astrologischen Schrift des römischen Schriftstellers aus der Mitte des vierten Jahrhunderts Iulius Firmicus Maternus, deren von unbekannter Hand annotiertes Wolfenbütteler Exemplar Lessing in seinem Aufsatz einer kritischen Revision unterzieht. Im vorliegenden Zusammenhang dient das Horoskop als Sachillustration mit Dokumentarcharakter. Im Vergleich mit Lessings Ausführungen zu den Glasfenstern des Klosters Hirsau wird deutlich, dass es sich um eine Wiedergabe des kritischen Textbefundes inklusive der Abbildungen handelt, die Lessing einer größeren Leserschaft erneut in Erinnerung rufen möchte, wie er selbst ausführt, ohne sich den textinternen Illustrationen stärker zuzuwenden.55 Auf welche Art von Abbildungen hier verwiesen wird und welche Bildtraditionen bedient werden, erläutert Lessing nicht. Lediglich die Tradierung des astrologischen Werkes des Firmicus, welches „zuerst 1497 zu Venedig bey Simon Bevilaqua im Druck erschienen“ sei,56 beschreibt Lessing zu Beginn ausführlich. Demzufolge zeigen sich Beobachtungen und wissenschaftliche Vorstellungen nicht nur in Texten, sondern manifestieren sich insbesondere in Bildern und verweisen zugleich auf den gesamtkulturellen Kontext, in den Wissenschaft eingebettet ist.57 So kreuzen sich auch in diesem Falle in der Abbildung verschiedene Referenzketten. Sie führen von Lessing aus gesehen nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft und können im philologischbibliothekarischen Werkstattzusammenhang digital nachverfolgt werden. Aus dem antiken Griechenland sind durchaus Horoskop-Darstellungen und astrologische Diagramme bekannt, wenn auch wenige.58 Die Inkunabel, an der Lessing sich abarbeitete, nimmt diese Überlieferungsspur auf und variiert sie geringfügig, wie ein Nebeneinanderstellen der Abbildungen deutlich macht.59 Seit Lessings Arbeit mit dem Buch hat das Exemplar in Wolfenbüttel sich indessen seinerseits erneut verändert. Ein Vermerk aus dem neunzehnten Jahrhundert bezieht sich auf die Erträge von Lessings antiquarischer Arbeit – auf dem auf die Rückseite des Einbandes eingeklebten Vorsatzblatt lesen wir in deutscher Kurrentschrift: „Vgl. G.E. Lessing, Ergänzungen zu Julius Firmicus. (zur Geschichte u. Litteratur. Beytrag III 1774, S. 227-258)“.60 54

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(22.12.2020). Vgl. Abb. 5. Ergänzungen des Julius Firmicus. In: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Dritter Beytrag. Braunschweig 1774, S. 227–259, hier S. 234. Ebd., S. 229. Vgl. Olaf Breidbach: Bilder des Wissens. Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung. München 2005. Exemplarisch: Otto Neugebauer und Henry Bartlett Van Hoesen: Greek Horoscopes. Philadelphia 1987. Vgl. Abb. 5 und 6. Siehe das Digitalisat der HAB: (22.12.2020).

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Abb. 5: Zur Geschichte und Litteratur, Beytrag 3, XIX: „Ergänzungen des Julius Firmicus“, S. 243. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt Halle (Saale), Pon IIa 1128 (3/4), S. 249, urn:nbn:de:gbv:3:1-268194-p0249-3.

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Abb. 6: „liber sextus“ der acht Bücher zur Astrologie des Firmicus in der 1499 in Venedig erschienenen Manutius-Ausgabe. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel .

Ganz im Sinne des von Lessing statuierten Postulats, Zur Geschichte und Litteratur als work in progress in einer offenen, kollektiven Werkstattarbeit zu begreifen, war die Wirkung des Periodikums mit dessen Publikation also nicht abgeschlossen. Philologisch wird dieser offene Horizont nicht allein in einem nachgelassenen „Ver-

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zeichnis der geplanten Aufsätze“ für das Kompendium fassbar,61 sondern auch in einem Dokument, das sich in Wolfenbüttel erhalten hat und erneut eine medienphilologische Bild-Text-Relationierung einfordert. Im ersten Band („Ersten Beytrag“) von Zur Geschichte und Litteratur findet sich als Nummer IV ein Beitrag Lessings mit der Überschrift „Die Nachtigall“, der ein anonymes Knittelversgedicht gleichen Titels behandelt.62 Auf Lessings Veröffentlichung hin schrieb der Oettingische Hofbibliothekar und -archivar Jakob Paul Lang an Lessing und übermittelte ihm die Abschrift eines anlässlich des Spottgedichtes erlassenen kaiserlichen Mandates über die Einhaltung von Zensurbestimmungen aus dem Jahr 1569.63 Lessing schrieb den Text des Erlasses auf einem gefalteten Blatt in Kleinoktav ab und legte diese Abschrift zusammen mit Langs Brief und der von Lang übermittelten Anlage in jene Handschrift der Herzoglichen Bibliothek ein, die er in seinem Aufsatz zitiert hatte. Die Trias dieser Dokumente wurde 1845 entdeckt, wobei Lessings Abschrift „damals das einzige größere handschriftliche Stück Lessings“ in der vormals von ihm betreuten Bibliothek war.64 Wohl aus diesem Grunde wurde es gerahmt und unter Glas geschützt, aber erst mehr als 100 Jahre später mit einer Signatur versehen (Less. XXXII). Als ein solches Hybrid bildlicher und textueller Formatierungen ist Lessings Abschrift bis heute in der Bibliothek verwahrt und auf Bestellung hin einsehbar.65 Das von Lessing beschriebene und im 19. Jahrhundert gerahmte und verglaste Doppelblatt hat somit eine Transformation vom Manuskript zum ‚Kunstwerk‘ (im Sinne eines Bildes) durchgemacht, zugleich hat es sich von seiner Funktion als Abschrift eines Erlasses, der einst einem spezifischen Adressaten bzw. einer Adressatengruppe zugedacht war, ebenso entfernt wie von einer möglichen Ergänzung zur Sammlung Zur Geschichte und Litteratur, wie sie niemals zustande kam. In Anlehnung an Hans-Georg Gadamer ließe sich hier fragen: Ist Wortkunst gleich Bildkunst? Gadamer verweist in seinen Ausführungen auf das griechische Wort ‚poiesis‘, das zugleich Ausdruck für das Machen als auch für Poesie ist. Damit rückt er das Kunstwerk als solches zunächst in die Nähe des Handwerks, um im Anschluss zwischen Kunstwerk und Werkstück unterscheiden zu können. Die Differenz zwischen Kunstwerk und Werkstück läge – Gadamer folgend – darin begründet, dass „das Kunstwerk im Unterschied zum Werkstück keinen Gebrauchswert“ hat.66 In Bezug auf die gerahmte Handschrift Lessings lässt sich diese Unterscheidung jedoch gerade nicht leicht aufrechterhalten, da weder der kaiserliche Erlass als Textinhalt noch die Lessingʼsche Abschrift ursprünglich als Kunstwerk oder mit künstlerischer Intention gedacht, verfasst und produziert 61 62 63

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LM XIV, 2, vgl. Wolfgang Milde: Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften. Hannover 2016, S. 263–264. Zur Geschichte und Litteratur 1, S. 103–134, vgl. LM XI, 394–416. LM XXI, S. 40. Milde: Gesamtverzeichnis (Anm. 61), S. 46. Für eine ausführliche Analyse dieser Transformation vgl. Andrea Hübener und Jörg Paulus: Alte Wächter in neuen Rahmungen. Lessing als Kopist. In: Michail Chatzidakis et al. (Hrsg.): Con bella maniera: Festgabe für Peter Seiler zum 65. Geburtstag. Heidelberg 2021, S. 357–370. Hans-Georg Gadamer: Bildkunst und Wortkunst. In: Gottfried Boehm (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 2006, S. 90–104, hier S. 93.

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war. Erst durch den Prozess des nachträglichen Beschriftens, Rahmens und (geschützten) ‚Exponierens‘ lässt sich ein Funktionswandel konstatieren, der aus dem Schriftstück mit Gebrauchswert ein Kunstwerk werden ließ; ein Hybrid, das zugleich Text und Bild zu sein scheint und aus der Wortkunst eine Form der Bildkunst entstehen ließ. Dieser Prozess wurde erst durch die Rahmung gegenüber dem Betrachter bzw. der Betrachterin als neue Signalsetzung induziert; aus der Schriftquelle wurde ein Kunstgegenstand. Der Rahmen distanziert das Kunstwerk von seiner jeweiligen Umgebung, damit nach innen ein neuer Kommunikationsspielraum entstehen kann.67 „Er lässt die Differenz vom markierten und unmarkierten Raum innerhalb eines vom Rahmen selbst markierten Spielraums wieder erscheinen und ermöglicht auf diese Weise das reale Entstehen eines imaginären Horizonts von operativen Anschlussmöglichkeiten.“68 So wird aus Lessings Handschrift ein Muster oder Ornament, das das Papierblatt verziert. Nicht der Inhalt als Wortkunst steht länger im Vordergrund, sondern die Schriftkunst Lessings als Bildkunst. In seiner jetzigen Aufbewahrungsform (als archivarisch geschütztes Dokument in einem Schuber) sind diese Bestimmungen zugleich hinfällig geworden, wie sie auch stabilisiert sind. Somit offenbart der nachträgliche Umgang mit Lessings handschriftlichem Erbe auch eine Art von Reliquienkult. Ähnlich einer Berührungsreliquie wird das von Lessings Hand beschriebene Papier inszeniert und gleichsam geschützt. Es zeigt die Bedeutung des Dokuments für den Wirkungsort Lessings, dessen Erbe sich hier nicht in der Form eines Denkmals oder einer Büste versinnbildlichen musste, ehe der konservatorische Gedanke es wieder ins dunkle Schutzmilieu des Magazins verbannte.

6. Kommen wir abschließend noch einmal von Lessing herkommend zur jüngsten medienwissenschaftlichen Theorie/Praxis-Debatte zurück. Auch in dem auf die Gebrauchsgeschichte von Medien konzentrierten Historischen Wörterbuch des Mediengebrauchs wird das Lemma „Edieren“ mit dem „Handwerk“-Charakter des Edierens hinterlegt, wobei auch hier einfache Anführungszeichen die übertragene Verwendung des Wortes markieren: „Das Edieren von Texten ist immer wieder primär als ‚Handwerk‘ verstanden worden […]“.69 Ein besonderes Augenmerk 67

Dass die Bedeutung des Rahmens in der Kunst stetigem Wandel unterlag, verdeutlicht Wilhelm von Bode 1898 in seinem Aufsatz: „Bilderrahmen in alter und neuer Zeit“. Darin erörterte er nicht nur die Funktion des Rahmens in der Kunst, sondern kritisierte u.a. den Umgang zeitgenössischer Künstler im Hinblick auf Rahmengestaltung und Rahmenwahl: „Dadurch liegt freilich die Gefahr nahe, daß der Rahmen zur Fortsetzung statt zum Abschluß des Bildes wird und den Übergang zur Wand nicht zu vermitteln vermag.“ Siehe hierzu: Wilhelm von Bode: Bilderrahmen in alter und neuer Zeit. In: Pan 4 (1898), Heft IV, S. 243–256, hier S. 256. 68 Alberto Cevolini: Der Rahmen der Kunst. In: Christian Filk und Holger Simon (Hrsg.): Kunstkommunikation. Berlin 2010, S. 55–66, hier S. 58. 69 Ulrich Breuer, Christopher Busch und Matthias Emrich: Artikel „Edieren“. In: Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Hrsg. von Heiko Christians, Matthias Bickenbach und Nikolaus Wegmann. Bd. 1. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 179–194, hier S. 179.

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der Verfasser des Artikels gilt dabei den Singularisierungsprozessen, die neben solchen der Vervielfältigung oftmals Voraussetzung und Effekt von editorischen Praktiken sind. Dies wirkt in der Gegenwart auf die Bedingung der Möglichkeit des Edierens, nämlich die Entstehungsbedingung des Schreibens, zurück: „Die Praxis des Edierens sieht sich heute mit dem Umstand konfrontiert, dass jedem beliebigen Schreiber – unabhängig von der Reichweite seines Singularisierungsbegehrens – ein digitaler Editor zur Verfügung steht, der ihn unterstützt. Das führt zu einer fundamentalen Veränderung im Bereich der Editionsszenarien.“70 Die Artikel im Historischen Wörterbuch des Mediengebrauchs sind so angelegt, dass sie immer von einer Anekdote eingeleitet werden. Im Falle des „Edierens“ haben die Verfasser eine Anekdote aus der Geschichte der Lessing-Editionen gewählt. Vorgestellt als Geschichte von Editionsszenen besteht hier der „fruchtbare Moment“ im Zusammentreffen des Lessing-Editionsprojektes von Friedrich Nicolai und Johann Joachim Eschenburg (denen noch der Lessing-Bruder Karl Gotthelf hinzuzurechnen wäre71) auf der einen, von Friedrich Schlegel auf der anderen Seite. Den 30 Bänden der ersten Editorengruppe stellt Schlegel das Konzentrat einer dreibändigen Edition entgegen, eine Singularisierungsstrategie, die den „wahren Lessing“ editorisch hervorzutreiben beansprucht.72 Solche Beispiele zeigen, wie stark Editionen die sich wandelnden Lessing-Bilder prägten und prägen wollen; und sie zeigen des Weiteren, dass ein neuer Lessing für die Medienwissenschaft erst noch zu entdecken wäre bzw. dass die Medienwissenschaft gerade dabei ist, einen Lessing jenseits des Laokoon zu entdecken, auf den sie lange Zeit fixiert war.73 Stellte dieser Standard-Lessing der Medienwissenschaft doch eine doppelte Verkürzung dar: einerseits an sich (weil eben Lessing mehr ist als der Laokoon-Lessing), andererseits weil die Abhandlung in fast allen medienhistorischen Darstellungen an den Anfang einer einsinnigen Referenzkette gestellt wird, die von der Installierung des semiotischen Zeichenbegriffs zu dem des elektronischen Signals führt (in einer kittlerianischen Version) beziehungsweise in unterschiedlichen Versionen der semiotischen Verschiebung oder Interferenz ausläuft.74 Es wäre geboten, solche Einsinnigkeit durch eine stärker rekursive Lesart von Kulturtechniken abzulösen, zu denen dann auch diejenigen der Edition in Beziehung zu setzen wären.75 Die von Markus Krajewski erhobene Einforderung „digitale[r] Mündigkeit“, die es den Geistes- und Kulturwissenschaftlern erlauben würde, die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens auch im digitalen Zeitalter 70 71

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Ebd., S. 190. Vgl. Cord-Friedrich Berghahn: Bibliophilie, Philologie, Freundschaft: Eschenburg und Lessing. In: Cord-Friedrich Berghahn und Till Kinzel (Hrsg.): Johann Joachim Eschenburg und die Künste und Wissenschaften zwischen Aufklärung und Romantik. Netzwerke und Kulturen des Wissens. Heidelberg 2013, S. 311–328, insbes. S. 322–328. Breuer u.a.: Edieren (Anm. 69), S. 179–180. Vgl. die von diesem Punkt ausgehenden, aber weit darüber hinausreichenden Reflexionen in: Michael Franz, Wolfgang Schäffner und Bernhard Siegert (Hrsg.): Electric Laokoon. Zeichen und Medien, von der Lochkarte zur Grammatologie. Berlin 2007. Vgl. u.a. Ernst: Lessing aus medienwissenschaftlicher Sicht (Anm. 51). Vgl. Bernhard Siegert: Cultural Techniques, or, the End of Intellectual Postwar in German Media Theory. In: Ders.: Cultural Techniques. Grids, Filters, Doors, and Other Articulations of the Real. Translated by Geoffrey Winthrop-Young. New York 2015, S. 1–18.

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kritisch hinterfragen zu können, ließe sich gerade in solchen Zusammenhängen unter Beweis stellen. Zugleich ist daran zu erinnern, dass eine solche Mündigkeit durchaus ein genuiner Bestandteil im Diskurs der Digital Humanities ist. Sie ist sogar die Grundvoraussetzung dafür. Denn das Digitale zu nutzen bedeutet auch, es kritisch zu hinterfragen – nicht zuletzt auch, um nicht erneut dem Dualismus von analog versus digital anheim zu fallen.76

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Exemplarisch: Lisa Spiro: „This Is Why We Fight“. Defining Values of the Digital Humanities. In: Debates in the digital humanities 2012, S.  16–34, (22.12.2020) sowie Johanna Drucker: Humanistic Theory and Digital Scholarship. In: Debates in the digital humanities 2012, S.  85–95, (22.12.2020). Im deutschsprachigen Raum wird das kritische Potenzial der Digital Humanities derzeit intensiv in der „AG Theorie“ des Dachverbandes der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (Dhd) diskutiert. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Diskussion im Rahmen des Workshops „Theorytellings“ im Herbst 2020. Siehe hierzu: Franziska Klemstein und Melanie Seltmann: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Theorytellings zwischen data piñata und dem Stachel des Digitalen. In: Digital Humanities Theorie, 15/11/2020, .

Erika Thomalla

Der gelehrte Geist Praxeologische Perspektiven auf die Lessing-Editorik

„Unsere schönen Geister“ schrieb Lessing 1759 in den Briefen, die neueste Litteratur betreffend, „sind selten Gelehrte, und unsere Gelehrte selten schöne Geister. Jene wollen gar nicht lesen, gar nicht nachschlagen, gar nicht sammeln, kurz: gar nicht arbeiten. Und diese wollen nichts als das.“1 Lessing wollte beides. Ein großer Teil seines Werks besteht nicht aus sogenannten „Originalschriften“, sondern aus „Texten der Bibliothek“: aus Herausgeberschaften, Übersetzungen, Glossaren, Kommentaren oder gelehrten Abhandlungen.2 In den meisten Lessing-Editionen seit Karl Lachmann wurden diese gelehrten Schriften als Nebenwerk vom dichterischen Hauptwerk systematisch getrennt. Die beiden Teile des Werks weisen allerdings nicht nur in vielen Fällen inhaltliche Überschneidungen auf, sondern vor allem liegt ihnen eine gemeinsame Arbeitsweise zugrunde: Die Praktiken des Exzerpierens, Sammelns und Annotierens, das Erstellen von Konzepten und Titellisten prägen Lessings schriftstellerische Tätigkeit insgesamt. Lessing war es gewohnt, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten, von denen er manche zur Ausführung brachte, manche aber auch über Jahre hinweg verfolgte und nie beendete.3 Entsprechend vielfältig ist die Anzahl an Nachlassdokumenten, die den Charakter von Vorarbeiten, Lektürenotizen oder unabgeschlossenen Entwürfen haben.4 Das macht Lessing gleichermaßen zu einer Herausforderung für die Editionsphilologie wie auch zu einem besonders interessanten Fall für eine literaturwissenschaftliche Praxeologie. Aus praxeologischer Perspektive bietet der Blick auf Lessings Arbeitspraktiken die Möglichkeit, von der Editorik vernachlässigte Zusammenhänge innerhalb seines Werks herzustellen. Im Folgenden sollen daher zunächst einige Grundannahmen und Fragestellungen der Praxeologie vorgestellt werden, um dann in einem zweiten Schritt mögliche Potenziale für die Lessing-Editorik auszuloten. 1 2 3

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Gotthold Ephraim Lessing: Briefe die neueste Litteratur betreffend, IIIter Theil. Berlin 1759. Zwey und funzigster Brief, den 23. August 1759, S. 113. Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln 2000, S. 246. Vgl. Paul Raabe: Lessing und die Gelehrsamkeit. Bemerkungen zu einem Forschungsthema. In: Lessing aus heutiger Sicht. Beitrage zur Internationalen Lessing-Konferenz Cincinnati, Ohio 1976. Hrsg. v. Edward P. Harris und Richard E. Schade. Bremen/Wolfenbüttel 1977, S. 65–88, hier S. 80. Dies geht hervor aus dem Gesamtverzeichnis der Lessing-Handschriften, bearb. v. Wolfang Milde, hrsg. von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Lessing-Akademie Wolfenbüttel. 2 Bde. Hannover 2016; vgl. auch Wolfgang Milde: Einige Bemerkungen über Lessings gelehrten Nachlaß. In: Edward P. Harris und Richard E. Schade (Hrsg.): Lessing in heutiger Sicht. Bremen/ Wolfenbüttel 1977, S. 211–220.

https://doi.org/10.1515/9783110770148-011

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1. Knowing How. Literaturhistorische Praxeologie Die Praxeologie hat sich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Diszipli­ nen parallel etabliert.5 Das gemeinsame Grundanliegen praxeologischer Ansätze besteht darin, das Verhältnis von Theorie und Praxis neu zu denken. Statt die Praxis lediglich als sekundäre Umsetzung theoretischer Programme zu begreifen, wird in praxeologischen Forschungsarbeiten ihre Eigenlogik in den Blick genommen. Besonders wirkmächtig waren in diesem Zusammenhang Beiträge aus dem Bereich der Science und Laboratory Studies.6 Wissenschaftshistoriker wie Bruno Latour, Hans-Jörg Rheinberger oder Andrew Pickering haben darauf hingewiesen, dass die Praxis der naturwissenschaftlichen Forschung eigenen Regeln folgt. Sie lässt sich weder theoretisch anweisen, noch kann das praktische Wissen gänzlich theoretisch eingeholt werden. Der Grund dafür liegt darin, dass es eine Form der Könnerschaft gibt, die von den beteiligten Akteuren meist implizit ausgeübt wird.7 Die Tätigkeit von Wissenschaftlern, so die Einsicht der Science Studies, besteht nicht einfach in der Überprüfung von zuvor formulierten Hypothesen, sondern ist sehr viel stärker von informellen Verhaltensroutinen geprägt, die kontextabhängig variieren können und somit ein gewisses Maß an Ergebnisoffenheit aufweisen. Das „Knowing How“, die praktische Könnerschaft, wird gegenüber dem „Knowing That“, dem abstrakten und theoretischen Wissen, aufgewertet.8 Man kann theoretisch wissen, wie ein Experiment abzulaufen hat, ohne aber in der Lage zu sein, es praktisch durchzuführen. Denn die Praxis ist einerseits durch Routinen und Fertigkeiten geprägt, die sich nur durch wiederholte Übung aneignen lassen, und sie erfordert andererseits die Fähigkeit, mit unerwarteten Ergebnissen oder neuen Abläufen gekonnt umzugehen.9 Praktiken sind daher gleichermaßen stabil und flexibel: Sie werden zwar beständig wiederholt und sorgen somit für Verlässlichkeit und Kontinuität, müssen aber in gewissem Maß auch situativ anpassungsfähig und umdeutbar sein. Die Kritik an der normativen Hierarchisierung von Theorie und Praxis zielt nicht einfach auf eine Inversion der Wertmaßstäbe. Es geht der Praxeologie weniger darum, die Theorie ab- und die Praxis aufzuwerten, als darum, auf die enge Verknüpfung von Theorie und Praxis aufmerksam zu machen. Das Wissen ist dem Können nicht vorgeschaltet, sondern immer schon mit praktischen Fertigkeiten verbunden, die es ermöglichen und hervorbringen: „Die intelligente Praxis ist nicht

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Vgl. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), S. 282–301. Vgl. dazu u.a. die wegweisenden Studien von Bruno Latour und Steve Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts. Beverly Hills, CA. 1979; Bruno Latour: Science in action. How to follow scientists and engineers through society. Milton Keynes 1987; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas. Frankfurt a.M. 2006; Andrew Pickering: From Science as Knowledge to Science as Practice. In: Science as Practice and Culture. Hrsg. von Andrew Pickering. Chicago 1992, S. 1–26. Vgl. Michael Polanyi: Implizites Wissen. Frankfurt a.M. 1985. Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1949, S. 33. Vgl. Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Cambridge 1984.

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ein Stiefkind der Theorie. Im Gegenteil, Theoretisieren ist eine Praxis unter anderen, und man kann sich dabei dumm oder intelligent anstellen.“10 Auch wenn die Literaturwissenschaften nicht im Labor betrieben werden und eine andere Praxis aufweisen als die Naturwissenschaften, lassen sich für sie parallele Überlegungen anstellen.11 Die Bedeutung der handwerklichen Tätigkeiten, die das Alltagsgeschäft der Disziplin bestimmen, wird auch in den Literaturwissenschaften oft unterschätzt. Die Aneignung von Praktiken des Lesens, Annotierens, Bibliographierens und Exzerpierens, des Diskutierens und der Themenfindung, des Bewertens und Begutachtens läuft in der literaturwissenschaftlichen Ausbildung meist implizit mit.12 Der Fokus der Lehre wie auch der Einführungsliteratur liegt auf dem Erwerb von Sachwissen über Epochen, Autoren, Gattungen oder sprachliche Gestaltungsmittel. Die alltäglichen Arbeitstechniken werden demgegenüber häufig als sekundäre Hilfsmittel behandelt. Dabei ist es gerade dieses Repertoire an elementaren Praktiken, durch das literaturwissenschaftliche Thesen und Inhalte zuallererst kommunizierbar werden.13 Es gibt aus praxeologischer Perspektive kein positives Wissen jenseits der Praktiken, die es hervorbringen. Entscheidend ist dabei erstens, dass die Praktiken der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht vereinzelt auftreten – und damit auch nicht separat erlernt werden können –, sondern stets ein „Bündel von Aktivitäten“ bilden.14 Erst durch die komplexe Art ihrer Koppelung fügen sich einzelne Praktiken zu der Praxis einer Disziplin zusammen. Die Themenfindung für einen Aufsatz ist etwa in der Regel kein einmaliger intellektueller Akt, sondern ein zeitlicher Prozess, der unter anderem Praktiken des Recherchierens, Bibliographierens, Lesens, Annotierens und Exzerpierens einschließt. Diese Praktiken werden immer wieder neu miteinander verknüpft und aneinander angeschlossen: Eine Bibliographie verändert und erweitert sich im Laufe einer Forschungsarbeit aufgrund neuer Lektüren und weiterführender Recherchen beständig, bereits Geschriebenes wird wieder verworfen, Exzerpte oder Entwürfe werden nachträglich in Texte eingefügt, Fußnoten ergänzt oder gelöscht. Mit anderen Worten: Es gibt kein erlernbares Muster, nach dem Praktiken in einer festgelegten zeitlichen Reihenfolge miteinander verbunden werden, sondern Könnerschaft beweist sich gerade in der versierten, teilweise gleichzeitigen Kombination unterschiedlicher Praktiken. Damit ist ein zweiter Aspekt angesprochen, der die Praxis des literaturwissenschaftlichen Arbeitens ausmacht: Praktiken sind „projektförmig“ organisiert und in konkrete Arbeitszusammenhänge eingebettet.15 Lektüren finden in der Regel nicht willkürlich und interesselos, sondern immer im Hinblick auf bestimmte Themen oder Problemstellungen statt. Deshalb reicht es häufig nicht aus, einen Text einmal gelesen und verstanden zu haben. Eine neue 10 11

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Ryle: Der Begriff des Geistes (Anm. 8), S. 28. Vgl. Steffen Martus und Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft. In: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), S. 89–96. Vgl. Steffen Martus und Carlos Spoerhase: Eine praxeolgische Perspektive auf Einführungen. In: Literaturwissenschaftliche Lehrbuchkultur. Zur Geschichte und Gegenwart germanistischer Bildungsmedien. Hrsg. v. Claudia Sittig und Jan Standke. Würzburg 2013, S. 25–39. Vgl. Martus/Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft (Anm. 11), S. 95. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken (Anm. 5), S. 289. Martus/Spoerhase Praxeologie der Literaturwissenschaft (Anm. 11), S. 93.

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Frage erfordert oft eine neue Lektüre – und umgekehrt kann jede Lektüre die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse modifizieren. Drittens haben Praktiken keine rein ideelle, sondern eine materielle Struktur: Sie werden nicht bloß durch die beteiligten Akteure physisch inkorporiert, sondern sind auch mit materiellen Artefakten verknüpft.16 Dinge und Medien sind Bestandteile sozialer Praktiken. Das Schreiben in einer Bibliothek unterscheidet sich etwa von der Arbeit am heimischen Schreibtisch oder in einem geteilten Büro. Und es kann für die Art und Weise, wie man einen Text liest und versteht, was man davon behält und wie man das Gelesene weiterverwertet, einen Unterschied machen, ob man eigene Bücher annotiert oder geliehene Bücher exzerpiert; ob man am Bildschirm liest oder mit Kopien arbeitet. Alle diese Gegenstände und Räume stimulieren jeweils andere Praktiken und ziehen andere Anschlusspraktiken nach sich. Diese Einsichten in die Eigenlogik der Praxis lassen sich nicht nur auf die Literaturwissenschaft selbst, sondern auch auf ihre Gegenstände anwenden. Die Frage, was Autoren tun, wenn sie Texte schreiben, wie sie recherchieren, wo und wie sie lesen, welche Ausgaben sie benutzen, wie sie zitieren oder Exzerpte verarbeiten wird gegenüber der Beschäftigung mit den publizierten Werken immer noch häufig nachrangig behandelt. Die Hinwendung zur praktischen Tätigkeit von Autoren ist dabei mehr als eine bloße Erweiterung der Perspektive. Sie kann vielmehr Einsichten ermöglichen, die einer ausschließlich auf das literarische Endergebnis fokussierten Lektüre verwehrt bleiben. Denn als Könner wissen Autoren selbst nicht immer, was sie tun, wenn sie Texte schreiben. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Praktiken keine individuelle Angelegenheit sind, sondern innerhalb von kollektiven Wissensordnungen geformt und geprägt werden.17 Wer an einer Praxis partizipiert, durchläuft einen längeren Sozialisationsprozess. Die Ausübung einer Praxis kann somit nicht auf einzelne kognitive Akte und bewusste Entscheidungen zurückgeführt werden. Aus praxeologischer Perspektive ist es deshalb ratsam, gerade programmatischen Textgattungen wie Vorreden oder Selbstzeugnissen wie Briefen und Tagebüchern mit einer gewissen Skepsis zu begegnen. Programmatik und Praxis müssen nicht immer im Einklang stehen; sie können voneinander abweichen oder sich sogar im Widerspruch befinden. Mit dieser Skepsis gegenüber den Selbstaussagen von Könnern ist allerdings zugleich ein methodisches Problem verbunden. Schon mit Blick auf den gegenwärtigen Literaturbetrieb fällt es schwer, literarische Praktiken und die an ihnen beteiligten Akteure umfassend zu beobachten.18 Ungleich komplexer ist es, vergangene Praktiken zu rekonstruieren.19 16

Vgl. Steffen Martus: Epistemische Dinge der Literaturwissenschaft? In: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens. Hrsg. v. Andrea Albrecht u.a. Berlin/Boston 2015, S. 23–52. 17 Vgl. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken (Anm. 5), S. 289. 18 Vgl. Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur ‚genetischen Kritik‘ kollektiver Kreativität. In: Kollektive Kreativität. Hrsg. v. Stephan Porombka, Wolfgang Schneider und Volker Wortmann. Tübingen 2006, S. 71–86. 19 Vgl. Steffen Martus und Carlos Spoerhase: Die Quellen der Praxis. Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie. In: Zeitschrift für Germanistik 23/2 (2013), S. 221–225; Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Hrsg. v. Herbert Kalthoff u.a. Frankfurt a.M. 2008,

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Eine literaturhistorische Praxeologie ist daher auf materielle Artefakte angewiesen, in die sich die Tätigkeiten der beteiligten Akteure gleichsam eingeschrieben haben. Das schließt erstens Quellentypen wie Skizzen, Lektürenotizen, Fußnoten oder Kommentare ein, die zum Beiwerk des Buchs zählen.20 Zweitens können sich die Entstehungs- und Produktionsbedingungen von Texten in Dokumenten wie Bibliotheksverzeichnissen, Rechnungen, Bücherscheinen oder Verlagsverträgen niederschlagen. Schließlich lassen sich Praktiken der Textverfertigung an den Varianten und den Überarbeitungsformen eines Werks ablesen – an Korrekturfahnen, unpublizierten oder auch revidierten Fassungen, die erneut veröffentlicht und anders angeordnet wurden. Die Praxeologie ist damit anschlussfähig an eine Editionsphilologie, die mit einem dynamischen Textbegriff arbeitet21 und die bei der Erstellung von Editionsrichtlinien der Arbeitsweise eines Autors Rechnung trägt.22 Aus praxeologischer Sicht ist ein Werk nicht nur die Summe aller seiner Möglichkeiten, Fassungen, Entwürfe, Vorarbeiten und Varianten, sondern es kann vor allem in unterschiedlichen Praxiszusammenhängen ganz unterschiedlich realisiert werden.

2. Projektzusammenhänge. Herausforderungen der Lessing-Editorik Wie komplex solche Praxiszusammenhänge für die Editionsphilologie mitunter sein können, zeigt sich auch und gerade bei einem Autor wie Lessing.23 Eine zentrale Herausforderung der Lessing-Editorik besteht bekanntlich in der Frage, nach welchen Gesichtspunkten das Werk angeordnet und welche Textfassung einer historisch-kritischen Ausgabe zugrunde gelegt werden sollte. Sowohl die einseitige Privilegierung der letzten autorisierten Druckfassung in der Edition von Karl Lachmann, Franz Muncker und deren Nachfolgern als auch die Entscheidung für die Erstdrucke in der von Wilfried Barner verantworteten Frankfurter Ausgabe bringen ihre Probleme mit sich.24 An der Lachmann/Muncker-Edition ist zunächst bemerkenswert, dass sie zahlreiche Dokumente enthält, die nicht zum poetischen Werk im engeren Sinn zählen und für praxeologische Fragestellungen äußerst aufschlussreich sind. So enthält der 22. Band der Edition unter anderem Stammbucheinträge, Quittungen oder

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S.  188–209, hier S.  197f. Reckwitz hält die Rekonstruktion von Praktiken auf der Basis von EgoDokumenten allerdings für weniger problematisch. Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a.M. 2001. Vgl. Gunter Martens: Was ist – aus editorischer Sicht – ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. v. Siegfried Scheibe und Christel Laufer. Berlin 1991, 135–156. Vgl. Siegfried Scheibe: Die Arbeitsweise des Autors als Grundkategorie der editorischen Arbeit. In: editio 12 (1998), S. 18–27. Einige zentrale Herausforderungen benennt Elke Bauer: Der Buchdruckerjunge aber klopfte und verlangte Manuscript. Lessings Arbeitsweise und ihre mögliche Konsequenz für eine historischkritische Ausgabe. In: Autoren und Redaktoren als Editoren. Hrsg. v. Jochen Golz und Manfred Koltes. Tübingen 2008, S. 130–143. Eine Zusammenfassung der größten Desiderate und Mängel bieten Monika Fick: Lessing-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2016, S. 60; Wolfgang Albrecht: Lessing-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. v. Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005, S. 315–327.

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Bücherscheine. Darüber hinaus wurden zahlreiche Entwürfe oder Vorarbeiten zu publizierten und unpublizierten Werken integriert. Allerdings wurden diese Quellentypen systematisch vom publizierten dichterischen Werk getrennt. Das macht es schwer, Zusammenhänge nachzuvollziehen. In der Frankfurter Ausgabe wurde diese Problematik teilweise behoben, indem Exzerpte, Entwürfe und Vorarbeiten – etwa zur Laokoon-Abhandlung – erstmals vollständig in einem Band mit der publizierten Fassung des Werks veröffentlicht wurden.25 Doch auch diese Darstellungsweise wirft Probleme auf. Denn die zeitliche Spanne zwischen einem Exzerpt oder Entwurf und einer späteren Publikation kann relativ groß sein und es lässt sich nicht immer eindeutig feststellen, ob solche Dokumente eher im Zusammenhang mit dem publi­ zierten Werk stehen oder mit anderen Texten, an denen parallel gearbeitet wurde. Ähnlich kompliziert ist die Lage bei Texten, die zu Lessings Lebzeiten mehrfach überarbeitet und publiziert wurden. Ein Gedicht wie Die drey Reiche der Natur, das erstmals 1747 in der Wochenschrift Der Naturforscher als Reaktion auf Mylius’ gleichnamigen Artikel veröffentlicht wurde, erhält beispielsweise durch seine Überarbeitung und Wiederveröffentlichung im Rahmen von Lessings Gedichtsammlung Kleinigkeiten aus dem Jahr 1751 einen völlig neuen Kontext.26 Es erscheint in der Sammlung weniger als Beitrag zu einer naturwissenschaftlichen Debatte, sondern steht in einer Reihe mit anderen anakreontischen Scherzgedichten. Mit der Publikation der Schrifften im Jahr 1753 wurde das Gedicht nochmals überarbeitet und die Ordnung der Sammlung erneut umgestellt.27 In jedem dieser drei Publikationsumfelder verändert sich der Charakter des Gedichts. Das betrifft nicht bloß die inhaltliche, sondern auch die materielle Ebene, auf die Lessing besonders großen Wert gelegt hat: Satzspiegel, Vignetten oder Papierqualität. Eine praxeologisch orientierte Lessing-Edition stünde vor der Aufgabe, den Projektzusammenhang sichtbar zu machen, in denen die unterschiedlichen Fassungen des Textes jeweils stehen. Es erscheint in solchen Fällen nicht sinnvoll, sich auf eine einzige Textgrundlage festzulegen und die anderen Fassungen lediglich als Varianten im Apparat zu verzeichnen. Stattdessen würde sich ein Mehrfachabdruck anbieten, der gerade in einer digitalen Edition gut umzusetzen wäre: In der ersten Fassung könnte das Gedicht gemeinsam mit dem Mylius-Artikel präsentiert werden, in der zweiten und dritten Fassung jeweils im Kontext der vollständigen Gedichtsammlungen. Ideal wäre es darüber hinaus, wenn über die Verknüpfung der einzelnen Fassungen sowie anderer zugehöriger Varianten und Entwürfe je nach Benutzerinteresse die syntagmatische und die paradigmatische Ebene der Textgenese sichtbar gemacht werden könnten. Auf diese Weise könnten abwechselnd textgenetische Zusammenhänge oder entstehungsgeschichtliche Kontexte privilegiert dargestellt werden. 25

Zu den Schwierigkeiten einer Edition der Paralipomena zu Lessings Laokoon siehe Elisabeth Blakert: Grenzbereiche der Edition. Die Paralipomena zu Lessings Laokoon. In: editio 13 (1999), S. 78–97. 26 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Die drey Reiche der Natur. In: Der Naturforscher. Eine physika­ lische Wochenschrift auf die Jahre 1747 und 1748. Leipzig o.J. St. 9 vom 26.8.1747, S. 71f.; Gotthold Ephraim Lessing: Kleinigkeiten. Frankfurt und Leipzig 1751, S. 86f. 27 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: G. E. Leßings Schrifften. Erster Theil. Berlin 1753, S. 93.

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Eine weitere Herausforderung für die Lessing-Editorik liegt im „dialogischen Charakter“ vieler seiner Schriften.28 Das betrifft einerseits Kollektivprojekte wie die Briefe, die neueste Litteratur betreffend, bei denen die editorische Beschränkung auf Lessings Originalbeiträge viele Debattenzusammenhänge zerstört. Andererseits gibt es eine große Zahl von Werken, in denen Lessing die Texte anderer Autoren als Material verwertet hat. In erster Linie wäre dabei an die Übersetzungen zu denken, die bisher in keine gedruckte Edition vollständig aufgenommen wurden,29 aber auch Lessings Herausgeberschaften wurden von den großen Editionen bisher eher vernachlässigt. Von Lessings posthumer Herausgabe der Vermischten Schriften von Christlob Mylius aus dem Jahr 1754 etwa wurde in den einschlägigen Editionen bisher ausschließlich die Vorrede abgedruckt. Dabei weist bereits das Titelblatt der Ausgabe darauf hin, dass Lessings Beitrag sich nicht auf die Vorrede beschränkt hat: Vermischte Schriften des Herrn Christlob Mylius, gesammelt von Gotthold Ephraim Lessing. Lessing zeichnete also sowohl für die Auswahl als auch für die Anordnung der Texte verantwortlich. Er schloss einige Schriften von Mylius – wie etwa das dramatische Frühwerk – bewusst aus der Sammlung aus und verknüpfte die Anordnung der Schriften mit der biographischen Erzählung im Vorwort, in der der Prosaist und Naturforscher deutlich besser wegkommt als der Dichter.30 Damit hat Lessing das posthume Bild von Mylius nachhaltig geprägt. Da die Praktiken des Sammelns und Ordnens allerdings traditionell nicht als schöpferische oder kreative Akte gelten, verstand es sich offenbar von selbst, dass die Inhalte der Edition keinen Teil von Lessings Werk darstellen.

3. Sammeln, Anordnen, Redigieren. Lessing als Herausgeber Eine praxeologisch orientierte Editionsphilologie würde demgegenüber die Bedeutung solcher scheinbar unkreativen und unproduktiven Tätigkeiten aufwerten. Für Editionsphilologen versteht es sich von selbst, dass ein Vorwort oder Kommentar sich nicht von den Tätigkeiten der Auswahl, Konstitution, Betitelung und Anordnung von Texten trennen lassen. Nicht nur wird das, was in den programmatischen Paratexten erläutert und behauptet wird, erst in der Verbindung mit dem edierten Haupttext verständlich. Hinzu kommt, dass diese programmatischen Gattungen nicht immer genau das einlösen, was sie versprechen. Gerade in Fällen, in denen die Textvorlage bedeutend transformiert wurde, kann der einseitige Blick auf Vorreden und andere programmatische Schriften ein falsches Bild von Lessings Textumgangspraktiken vermitteln. Ein Beispiel dafür bietet die Ausgabe der Sinngedichte Friedrich von Logaus aus dem Jahr 1759, die Lessing gemeinsam mit Karl Wilhelm Ramler besorgte. 28

Vgl. Fick: Lessing-Handbuch (Anm. 24), S. 60. Zur Kritik am editorischen Umgang mit den Übersetzungen vgl. Helmut Berthold: Zu Lessings Übersetzungen. In: Ders. (Hrsg.): Lessing und Europa. Wolfenbüttel 2009, S. 7–27. 30 Zu Lessings Mylius-Ausgabe siehe Michael Multhammer: Lessing ‚Rettungen‘. Geschichte und Genese eines Denkstils. Berlin/Boston 2013, S. 289–302. 29

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Im Gegensatz zur Mylius-Ausgabe wurden die Sinngedichte in der Lachmann/ Muncker-Ausgabe noch vollständig abgedruckt. Bei Lessings historischen Edi­ tionsprojekten scheint seine schöpferische Eigenleistung von der Philologie generell stärker anerkannt worden zu sein. Allerdings wird durch das Fehlen eines Kommentars und eines Variantenapparats in keiner Weise deutlich, worin diese Eigenleistung bestand. Muncker begründete die Entscheidung, bei Lessings Textvorlagen auf einen Variantenapparat zu verzichten, damit, dass es ihm nicht darum gehen könne, „einen kritisch gereinigten Text“ von Lessings Vorlagen, sondern nur von dessen Originalschriften zu bieten.31 Im Fall der Logau-Edition ist das insofern besonders problematisch, als Lessing und Ramler teilweise stark in die Epigramme eingegriffen haben.32 In der Lessing-Forschung wurde immer wieder betont, dass die Verantwortung für diese Eingriffe allein bei Ramler liege und dass Lessing deshalb von dem Vorwurf der Verfälschung von Logaus Werk zu entlasten sei.33 Doch dagegen spricht nicht nur, dass Lessing und Ramler die Gedichte Logaus gemeinsam abgeschrieben haben und offenbar einen regen Austausch darüber führten,34 sondern auch, dass die Paratexte Lessings ausdrücklich auf die redaktionelle Bearbeitung der Texte Bezug nehmen und sie billigen. Während er ältere Logau-Editionen, in denen ebenfalls Änderungen am Originaltext vorgenommen wurden, in der Vorrede scharf verurteilt, werden die „wenigen und geringen“ Bearbeitungen der eigenen Ausgabe als unproblematisch abgetan.35 Diese auf den ersten Blick paradoxe Argumentation erschließt sich erst, wenn man sich ansieht, wie genau Lessing und Ramler mit den Sinngedichten verfahren sind. Es ging Lessing nämlich offenbar weniger darum, Bearbeitungen an historischen Texten generell zu kritisieren, sondern er beabsichtigte vielmehr, eine bestimmte Bearbeitungspraxis zu profilieren und sie von einer älteren, ‚rhetorischen‘ Editionspraxis abzugrenzen. Ohne hier detailliert auf die Umschriften der Logau-Herausgeber eingehen zu können, lässt sich allgemein sagen, dass Lessing und Ramler ein Programm der Entrhetorisierung verfolgt haben. Alle Hinweise, die über die pragmatischen oder historischen Entstehungskontexte der Sinngedichte Auskunft gaben, wurden getilgt. Das betrifft etwa Widmungen, Titel und Zuschriften, aber auch konkrete Jahresangaben: Epigramme mit Jahresangaben wie Der unartige Sommer 1637 oder Das Jahr

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Franz Muncker: Vorwort. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Zwölfter Band. Leipzig 1897, S. V–VI, hier S. VI. Für eine ausführliche Darstellung der folgenden Ausführungen vgl. Erika Thomalla: Anwälte des Autors. Zur Geschichte der Herausgeberschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen 2020, S. 83–110. Die Differenzen zwischen Ramler und Lessing betonen u.a. Klaus Bohnen: Vom „eignen Naturelle“. Ramlers „nationalreformerische“ Aufklärungsarbeit. In: Urbanität als Aufklärung. Karl Wilhelm Ramler und die Kultur des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Laurenz Lütteken, Ute Pott und Carsten Zelle. Göttingen 2003, S. 79–93; Angelo George de Capua: Karl Wilhelm Ramler, Anthologist and Editor. In: Journal of English and German Philology 55 /3 (1956), S. 355–372, hier S. 367. Vgl. dazu die Briefe von Ramler an Gleim vom 16.08. und 9.12.1758. Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hrsg. v. Carl Schüddekopf. Bd. 2. Tübingen 1907, S. 334 und S. 342. Gotthold Ephraim Lessing: Vorrede. In: Friedrich von Logau: Sinngedichte. Zwölf Bücher. Mit Anmerkungen über die Sprache des Dichters herausgegeben von E.W. Ramler und G.E. Lessing. Leipzig 1759, S. III–XIV. hier S. XII.

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1642 wurden entweder gar nicht übernommen oder mit neuen Titeln versehen.36 Casualcarmina wie Hochzeitswünsche oder Grabschriften, die spezifische Anlässe hatten, wurden ebenso weggelassen wie Gedichte an Gönner oder namentlich genannte Freunde. Auch inhaltlich spiegelt sich dieses Verfahren der Entrhetorisierung wider. So wurden etwa moralische Lehrsätze gestrichen und mitunter durch Fragen an das Publikum ersetzt, das dadurch aufgerufen ist, sich stärker an der Sinngebung des Gedichts zu beteiligen: Geschmünckte Freundschafft [1645] Hände küssen, Hüte rücken, Knie beugen, Häupter bücken, Worte schrauben, Rede schmücken, Wer, daß diese Gaukeley, Meinet, rechte Freundschafft sey, Kennet nicht Betriegerey.37 Geschminkte Freundschaft [1759] Hände küssen, Hüte rücken, Kniee beugen, Häupter bücken, Worte färben, Rede schmücken, Meynst du, daß dieß Gaukeley, Oder ächte Freundschaft sey?38

Der moralische Gehalt wird in der bearbeiteten Fassung in eine – wenn auch rhetorische – Frage überführt. Die konditionale Form der epigrammatischen Lehre (Wer – der) weicht dem angesprochenen „du“. Zugleich wird die Syntax in der Überarbeitung stark vereinfacht und der umständliche Einschub des Originals („Wer, daß diese Gaukelei, Meynet“) eliminiert. Die bevorzugte Form der Rede ist bei Lessing und Ramler das lyrische Selbstgespräch oder die Apostrophe. Diese Tendenz zur Subjektivierung und die damit verbundene Präferenz für eine bei Logau teilweise bereits angelegte „offene Sinnstruktur“, die „zu erhöhter hermeneutischer Aktivität förmlich zwingt“, zeigt sich auch daran, dass an exponierten Stellen ihrer Ausgabe solche Epigramme stehen, die den Leser unmittelbar adressieren.39 Insgesamt wurden die Epigramme durch Lessing und Ramler tendenziell gekürzt und konziser gemacht. Alle diese Bearbeitungen bleiben in der Lachmann/MunckerAusgabe jedoch unsichtbar, weil sie weder dokumentiert noch kommentiert werden. Dadurch wird es nahezu unmöglich, die programmatischen Erklärungen der Vorrede angemessen einzuordnen. Immerhin aber enthält die Edition von Lachmann und 36

Vgl. Friedrich von Logau: Salomons von Golaw Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend. Breßlaw 1645, I,3,34, S. 58; I,6,58, S. 130. 37 Ebd., I,6,25, S. 123. 38 Logau: Sinngedichte (Anm. 35), S. 57. 39 Frieder von Ammon: „Leser / wie gefall ich dir?“ Zu einer Strukturanalogie der Epigrammatik Friedrich von Logaus und dem aufklärerischen Diskurs. In: Salomo in Schlesien. Beiträge zum 400. Geburtstag Friedrich von Logaus (1605–2005). Hrsg. v. Thomas Althaus und Sabine Seelbach. Amsterdam/New York 2006, S. 379–394, hier S. 382.

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Erika Thomalla

Muncker zumindest noch den vollständigen Text der Logau-Ausgabe. Spätere Lessing-Editionen sind in dieser Hinsicht deutlich selektiver vorgegangen. In der von Julius Petersen und Waldemar von Ohlshausen besorgten Edition sind die Vorreden zu Lessings Editionen beispielsweise in einen eigenen Band eingegangen, die edierten Texte selbst fehlen.40 Ähnlich ist die von Herbert G. Göpfert besorgte Münchener Ausgabe mit Lessings Editionen verfahren: In der Sektion Poetik und Philologie werden in Band fünf der Ausgabe nicht nur die Vorreden zur Logau- oder zur Scultetus-Edition präsentiert, sondern beispielsweise auch die Vorrede zu Lessings Fabeln mitsamt den zugehörigen Abhandlungen.41 Die Fabeln selbst wurden separat in Band 1 veröffentlicht. Sogar bei Lessings eigenen Schriften wurde also hier zwischen dichterischen und prosaischen Texten unterschieden. Der ursprüngliche Publika­ tionszusammenhang ist damit aufgelöst. Auch in der Frankfurter Ausgabe wurde auf einen Abdruck der vollständigen Logau-Edition verzichtet. Die Vorrede ist in Band 4 der Werke unter dem Abschnitt Rezensionen, Vorberichte und Abhandlungen 1758 enthalten, die Sinngedichte fehlen vollständig. Von Lessings „Wörterbuch“ und seinen Anmerkungen zu Logaus Sprache bietet die Edition lediglich eine „Kostprobe“ im Kommentarteil.42 In allen bisherigen Editionen gibt es also die Tendenz, das dichterische vom prosaischen oder gelehrten Werk zu trennen und philologische Arbeiten, die nicht als schöpferische Eigenleistungen gelten, auszuklammern oder in den Anhang zu verbannen. Damit werden nicht nur die Zusammenhänge zwischen Vorreden und Haupttext innerhalb der von Lessing besorgten Editions- oder Übersetzungsarbeiten unsichtbar gemacht, sondern auch der Konnex zwischen Philologie und Dichtung. Im Fall der Logau-Edition betrifft das beispielsweise die Verbindung zwischen Lessings eigener Epigrammatik und seiner Herausgebertätigkeit, aber auch die Zusammenhänge zu anderen Projekten Lessings Ende der 1750er Jahre: So weisen etwa die sprachlichen Eigenheiten Logaus, die Lessing im Wörterbuch herausstellt, überraschende Ähnlichkeiten zu dem Stil von Gleims Kriegsliedern auf, die Lessing ein Jahr zuvor ebenfalls herausgegeben hat. Bis in einzelne Formulierungen gleicht sich die Beschreibungssprache, die Lessing für die Gedichte Logaus und Gleims wählt.43 Derartige Parallelen erschließen sich nur, wenn man poetische und philologische Arbeiten nicht als zwei separate Teile eines Werks begreift. Vor diesem Hintergrund erscheint es ratsam, in einer neuen Lessing-Edition keine Werkeinteilung nach systematischen Gesichtspunkten vorzuehmen, sondern stattdessen zunächst eine chronologische Anordnung zu wählen. Je weniger Vorgaben durch generische Zuordnungen oder den Status von Quellen (veröffentlicht/ 40

Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. v. Julius Petersen und Waldemar von Olshausen. Bd.  6: 6.-8. Teil: Ernst und Falk. Die Erziehung des Menschengeschlechts. Vorreden. Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Briefe (1753). Berlin 1925. 41 Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd.  5: Literaturkritik, Poetik und Philologie. München 1973. 42 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner u.a. Bd. 4: Philotas; Dramenentwürfe; Rezensionen, Vorberichte und Abhandlungen; Fabeln und Fabelabhandlungen; Vermischte Abhandlungen; Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Frankfurt a.M. 1989. 43 Vgl. Thomalla: Anwälte des Autors (Anm. 32), S. 107.

Praxeologische Perspektiven auf die Lessing-Editorik

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nachgelassen, Entwurf/geschlossenes Werk etc.) gemacht werden, desto eher bietet sich die Möglichkeit, ungeahnte Zusammenhänge zwischen zeitgleich entstandenen Dokumenten zu erkennen. Während die bisherigen Print-Editionen schon aus pragmatischen Gründen zwangsläufig eine Auswahl aus Lessings umfangreicher schriftstellerischer Tätigkeit treffen mussten, böte eine digitale Edition die Möglichkeit, auch bisher ausgeschlossene Texte, die nicht als Originalschriften gewertet oder nicht im engeren Sinn zum literarischen Werk gezählt wurden, zu integrieren. Allerdings birgt diese Darstellungsform den Nachteil, dass Werkzusammenhänge verloren gehen könnten – gerade wenn Dokumente, die zu einem Werk gezählt werden, in größerem zeitlichem Abstand entstanden sind oder wenn der Zeitraum zwischen Entstehungszeit und Veröffentlichung relativ groß ist. Um dieses Problem zu umgehen, wäre es ideal, wenn die Anordnung und Präsentation der Texte durch die Interessen und Arbeitsweisen der Leser strukturiert und verändert werden könnten. Denkbar wäre, dass bestimmte Darstellungs- oder Auswahlmöglichkeiten bereits vorgegeben sind – etwa die Sortierung nach Gattungen, nach Werken, nach Publizitätsstatus u.ä. Darüber hinaus könnte eine Suchmaske weitere, selbstgewählte Einschränkungen oder Zugriffsmöglichkeiten bieten. Auch die Option, Faksimiles ausgewählter Textausschnitte anzeigen zu lassen, um auf diese Weise etwa einen Eindruck von der Seitengestaltung zu bekommen, wäre eine wünschenswerte Funktion einer neuen Ausgabe. Auf diese Weise würde die Lessing-Edition eine Vielzahl an Zugriffsformen und ein hohes Maß an Offenheit gegenüber unterschiedlichen Fragestellungen bieten. Damit könnte nicht nur ein neuer Einblick in Lessings Arbeitspraxis eröffnet werden, sondern die Edition würde auch den unterschiedlichen Lektürepraktiken von Wissenschaftlern, Schülern oder interessierten Laien stärker Rechnung tragen.