203 48 183MB
German Pages 668 Year 1906
Lesebuch Zur
Geschichte Bayerns Bearbeitet
von
Dr. Otto Kronseder Gymnasialprofessor am K. Ludwigs-Gymnasium zu München
Mit 58 Abbildungen
München Druck und Verlag von R. Oldenbourg 1906
Vorwort. ieses Lesebuch zur Geschichte Bayerns ist entstanden
im Auftrag des
K. Bayerischen Staatsministeriums des Innern für Kirchen- und Schul
angelegenheiten.
Die hohe Unterrichtsverwaltung war hiebei von dem Wunsche
geleitet, es möchte künftighin an den Mittel- und Volksschulen der Unterricht in der Geschichte unseres engeren Vaterlandes „in einer anregenderen, die Herzen der Jugend erwärmenderen und so für das spätere Leben nachhaltigere Eindrücke
hinterlassenden Weise erteilt werden;
die lehrreichsten, rühmlichsten und so
wissenswürdigsten Partien der Geschichte Bayerns sollten in faßlicher, an ziehender Darstellung ohne alles gelehrte Beiwerk zur Veranschaulichung ge bracht werden".
Kirchengeschichtliches als speziell dem Religionsunterricht zu
gehörig war von der Aufnahme überhaupt auszuscheiden; dagegen glaubte der
Verfasser dem Kulturgeschichtlichen einen breiten Platz einräumen zu müssen, zumal heute die allgemeine Forderung dahin geht, daß nicht bloß Kriegs- und
Waffen taten den Gegenstand des Geschichtsunterrichtes bilden sollen, sondern daß
auch die Entwicklung des inneren Volkslebens, aus der heraus erst die Gesamt zustände einerZeit richtig erfaßt werden können, zu anschaulicherDarstellung gelange.
Der Charakter
des Lesebuches
schlossener Einzeldarstellungen.
bedingte die Aufnahme möglichst ge
Sie sind in erster Linie gedacht für den un
mittelbaren Gebrauch beim Unterricht, also für die Hand des Lehrers.
Wer
Erweiterung der in den Lehrbüchern weniger ausführlich behandelten Gebiete für angezeigt hält, möge in vorliegender Sammlung Stoff und Anregung finden.
Zwischen den hier gebotenen kulturgeschichtlichen Ausführungen und
dem Lehrgang der politischen Geschichte den harmonischen Zusammenhang her zustellen dürfte nicht schwer fallen. Wer etwa in bestimmten Schulen für einfachere Verhältnisse anszuscheiden
entbehren
läßt.
Wer
tiefer
dringende
hat, wird leicht ersehen, was sich
Belehrung
sucht,
dem
wird
die
vom Herausgeber benutzte und zuverlässig zitierte Literatur eine willkommene
IV
Borwort.
Fundstätte sein; insbesondere sei auf die anziehenden Werke unserer namhafteste» vaterländischen
Geschichtsforscher
M. Doeberl,
Karl Theodor von Heigel,
Wilhelm Heinrich Riehl, Siegmund von Riezler hingewiesen. Neben dieser ersten
und
vornehmlichen Bestimmung möchte das Buch
auch der Privatlektüre im weitesten Sinne dienen.
In der Hand teilnehmender,
fortgeschrittener Schüler unserer Mittel- und Fortbildungsschulen sowie im
Besitze von Geschichtsfreunden möchte es zur Steigerung des Interesses an
den Schicksalen unseres Volkes und zum Verständnis der Gesamtentwicklung
unseres Vaterlandes beitragen. Um eine derartige Sammlung loser und doch des inneren Zusammen hanges nicht entbehrender Abhandlungen, Bilder, Charakteristiken bieten zu
können war einerseits die vorhandene Literatur durchzuprüfen, anderseits, be sonders für das kulturgeschichtliche Gebiet, die Unterstützung berufener Fach männer zu gewinnen.
Hier nun erfüllt der Herausgeber die angenehme Pflicht
allen denen, die aufs bereitwilligste seiner Bitte entgegenkamen und im Inter esse einer gemeinnützigen Sache die erbetenen wissenschaftlichen Beiträge für die ausschließliche Drucklegung in diesem Buche ausarbeiteten, auch an dieser
Stelle den geziemenden Dank zu erstatten.
Es sind dies die Herren Dr. Theodor
Bitterauf, Privatdozent an der Universität, Dr. Anton von Braunmühl, Prof,
an der Technischen Hochschule, Univers.-Prof. Dr. M. Doeberl, Dr. Max Fastlinger, erzbischöflicher Bibliothekar, Dr. Ernst Freys, Kustos an der Staats
bibliothek, Dr. Christian Gruber, f Professor an der städtischen Handelsschule, Sr. Exzellenz Generalleutnant z. D. Karl Ritter von Landmann, Dr. Georg Leidinger, Sekretär an der Staatsbibliothek, Dr. Rudolf Louis, Toukünstler und Musikschriftsteller, Dr. Siegfried Graf Pückler-Limpurg, Privatdozent an
der Technischen Hochschule und Konservator an der K. graphischen Sammlung, Univers.-Prof. Dr. Henry Simonsfeld, Gymn.-Prof. und Privatdozent an der
Technischen Hochschule Dr. Hermann Stadler,
Gymn.-Prof. Dr. Thomas Stettner, Konrektor Dr. Hermann Stöckel, Kunstschriftsteller Dr. Karl Traut mann und Dr. Hermann Uhde-Bernays, Dr. Karl Voll, Univers.-Prof. und Konservator an der alten Pinakothek, Oberamtsrichter a. D. Dr. Franz Weber
und Gymn.-Lehrer Dr. Joseph Widemann, sämtliche in München; ferner Prof. Dr. Alois Geistbeck in Kitzingen, Gymn.-Prof. Hans Probst in Bamberg und
Univers.-Prof. Dr. Theodor Henner in Würzburg.
Durch solche weitgehende
Unterstützung war es möglich den Ausschnitten aus den Werken unserer nam haftesten bayerischen Historiker Originalbeiträge dieser fachwissenschaftlichen Autoren anzureihen und so eine Art literarisches Bayern zusammenzustellen. Zugleich ließ sich durch die Verschiedenartigkeit der schriftstellerischen Persönlich keiten ein vorteilhafter Wechsel in Auffassung, Stil und Darstellung erzielen,
ein Gesichtspunkt, der mitbestimmend war bei Anlage dieses Buches. Daß der Darstellung der neueren Zeit, insbesondere dem letzten Jahr
hundert,
ein breiterer Raum überlassen wurde
und daß hauptsächlich das
V
Vorwort.
jüngste große Ereignis, der Deutsch-Französische Krieg, eine vielseitige Beleuchtung erfuhr, wird Billigung finden. Den deutsch-nationalen Standpunkt des Buches
erklärt und begründet das Wort unseres edlen Königs Maximilian II. „Wir
wollen gute Deutsche sein und treue Bayern bleiben!"
Mit den wenigen, an passenden Stellen eingestreuten Gedichten sollte nicht etwa Neues und Unbekanntes gebracht, sondern gewissen bedeutungs
vollen Persönlichkeiten, Tatsachen, Stimmungen eine höhere Weihe gegeben werden. Die Verlagsbuchhandlung glaubt durch gediegene Gesamtausstattung und einen verhältnismäßig billigen Preis olles getan zu haben um dem Buche freundliche Aufnahme zu sichern; die wenigen, sorgfältig ausgeführten
Abbildungen wollte sie nicht als bloße Schmuckstücke, sondern als wesentlichen
und wertvollen Bestandteil dem Ganzen beigeben. Zum Schlüsse spricht der Herausgeber Sr. Exzellenz dem K. Staats minister des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten, Herrn Dr. Ritter
von Wchncr, für die Gewährung eines achtmonatigen Diensturlaubs behufs Bearbeitung vorliegenden Buches den ehrerbietigsten Dank aus.
Zu innigstem
Dank fühlt er sich verpflichtet seinem hochverehrten Lehrer, Herrn Geheimrat Dr. Karl Theodor von Heigel, Präsidenten der Akademie der Wissenschaften in München, der
ihn durch vielfache Anregung und wertvolle Winke gefördert
hat, ferner gegenüber denjenigen Herren, die ihm bei der Durchsicht der Druckbogen ihre freundliche Unterstützung angedeihen ließen. Es sind dies
die Herren: Oberstudienrat Dr. Wolfgang von Markhauser, Gymnasialrektor Dr. Georg Gött, Gymnasialprofessor Josef Flierle und Reallehrcr Dr. Hans
Tempel.
Herzlicher Dank sei ferner
ausgesprochen
der Direktion und den
Beamten der Münchener Staatsbibliothek, die mit liebenswürdigstem Entgegen
kommen dem Verfasser reiche Bücherschätze zugänglich gemacht haben. Garmisch im September 1906.
Dr. Otto Kronseder.
A. Verzeichnis des Inhalts * bezeichnet Originalartilel.
Überschrift
Nr.
1 9
3 4 5 6 7 8
9 10
11 12
13 14 15 16 17 18
19
20 21 22 23 24 25 26 27 28
29 30 31
Bayernlied Wohnsitze, Namen und Sprache, Herkunft des Bayernvolkes * Die vorgeschichtliche Zeit des Landes * Das Land im Dämmerlichte der Geschichte ?(uf dem Kastrum zu Pfünz (ad pontes) bei Eichstätt, Gedicht Das Land unter der Herrschaft der Römer Die Römerstrahe, Gedicht Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen, Grundlegung der bayerischen KirchenVerfassung * Der Sturz Tassilos Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit des bayerischen Stammes, insbesondere auf dem Nordgau * Kloster Tegernsee Die Ungarnschlacht an der Ennsburg (am 5. Juli 907), Gedicht Markgraf Luitpolds Heldentod in der Unqarnschlacht (907) Die Ahnherrn des Wittelsbacher Fürstengeschlechts Die Gründung des Bistums Bamberg * Der Bamberger Dom * Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum Bayerische Stammesangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils * Der Regensburger Dom (deutsche Gotik) LN'L}
Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel Kaiser Ludwigs Ende, Gedicht * Die Residenzen der bayerischen Herzoge Die Anfänge der Ludwig-MaximilianS-Universität in Ingolstadt * Die Einführung und Entwicklung der Buchdrucker kunst in Bayern bis zum Jahre 1500 Eine Festschule der Meistersinger Ritter, Tod und Teufel (Kupferstich von Albrecht Dürer), Gedicht * Albrecht Dürer
Zur Geburtsfeier Albrecht Dürers (21. Mai 1471), Gedicht ♦ Nürnberg und seine Kunst
Seite
Verfasser
Alois Dreyer .... Siegmund von Niezler.
1 1
Franz Weber .... Franz Weber ... Karl Zettel ....
5 15 23
Siegmund von Riezler. Hermann Lingg . . Joseph Schlecht . . .
23 27 27
Michael Doeberl . Michael Doeberl .
. .
33 40
Max Fastlinger . Friedrich Beck ....
43 49
Hugo Arnold ...
50
Karl Stieler .... Wilhelm von Giesebrecht Hans Probst .... Hermann Stöckel . . . Andreas von Regens burg, Aventtn u. a. . Siegfried Graf PücklerLimpurg .... Hermann Lingg . . {
53 56 61 70
Karl Trautmann . Franz Graf Pocci Joseph Widemann Max Haushofer .
Ernst Freys
. .
.
.
. .
. .
76 81 89 90 90 99 100 106
.... 113
August Sach .... Franz Gras Pocci . .
127 135
Siegfried Graf PücklerLimpurg..................... 137 Martin Greif .... 152
Hermann Uhde-Bernays 152
VIII
Nr.
32 33 34 35 36
A. Verzeichnis des Inhalts.
Überschrift
• Die K. Hof- und Staatsbibliothek in München Der Trifels * Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund AugSburger Studien • Anteil bedeutender Bayern an der Begründung der moberncn naturwissenschaftlichen Forschungs methode im 17. Jahrhundert 37 Der Winterkönig, Gedicht 38 Tillys letzte Tage 39 Ein bayerischer Reitergeneral im 30 jährigen Kriege 40 Die Schlacht bei Alerheim an der Wörnitz gegen das französisch-weimarisch-hessische Heer (1645) 41 * Was uns die Residenzfassade Kurfürst Maxi milians I. sagt 42 Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I. 43 • Kurfürst Maximilian I. als Dürersammler 44 Karl Ludwigs Rückkehr in die Pfalz (2. Oktober 1649); Wiederherstellung der Pfalz 45 * Der Bucintoro auf dem Starnberger See 46 Der bayerische Hof im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus 47 Schloß Schleißheim, Gedicht 48 • Kurfürst Max Emanuel im Türkenkriege 1683—88 49 j Elisabeth Charlotte und das Heidelberger Schloß 50 Träume sind Schäume 51 Kurfürst Max Emanuel am Scheidewege 52 * Der Beginn des Spanischen Erbfolgetrieges 53 Das Gsangl von Anno 1705 54 Die Sendlinger Bauernschlacht, Ballade 55 Eine Szene aus der Sendlinger Bauernschlacht 56 • Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main 57 • Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuviMs der Allere 58 Gründung der Akademie der Wisienschaften zu München 59 Kulturelle Zustände in Bayern während der Re gierung des Kurfürsten Max III. Joseph 60 • Herzogin Maria Anna von Bayern 61 • Die Austrocknung und Besiedelung des Donau moores unter dem Kurfürsten Karl Theodor 62 Die letzten Jahrzehnte der Ludwig-MaximiliansUniversität in Ingolstadt. Ihre Übersiedelung nach Landshut. 63 Ein Urteil über den bayerischen Bolkscharakter 64 Eine Jugenderinnerung an Westenrieder 65 Eine..geistliche Stadt Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern 66 an das Haus Pfalz-Zweibrücken 67 ♦ Johann Konrad Grübet als Chronist des Lüneviller Friedens 68 Napoleon bei Abensberq und Regensburg (am 20. und 23. April 1809) 69 • Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812 Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. 0stöber 70 1813 71 Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik 72 * Die Isar als Berkehrsstraße einst und jetzt 73 Ein Königsidyll vom Tegernsee
Berfasser
Seite
Georg Leidinger . . . August Becker . . Karl Trautmann . . . Wilhelm Heinrich Riehl Anton von Braunmühl .
163 168 173 190 202
Hermann Lingg . . . Hugo Arnold .... Johann Heilmann . . Siegmund von Riezler.
207 208 211 214
Karl Trautmann .
.
218
Siegmund von Riezler. Karl Boll..................... Ludwig Häusser . . .
224 234 240
.
. .
244 250
Hermann Lingg . . . Karl von Landmann Ernst von Wildenbruch. Alfons Steinberger . . Michael Doeberl . . . Karl von Landmann Karl von Heigel . . . Hans Hopfen .... Anton Hoffmann. . . Theodor Henner . . . Karl Trautmann . . .
254 255 259 269 273 277 283 283 286 291 301
Henry Simonsfeld Michael Doeberl .
. .
Karl von Spruner
.
.
311
Wilhelm Schreiber
.
.
314
Theodor Bitterauf Christian Gruber.
.
.
319 327
.
.
.
332
Lorenz von Westenrieder Franz Graf Pocci . . Wilhelm Heinrich Riehl Karl Theodor von Heigel
335 338 340 349
....
356
Max Haushofer
Hans Probst
.
.
359
Karl von Landmans Johann Heilmann .
.
362 372
Paul von Lossow.
.
380
Christian Gruber. . . Karl Stieler ....
389 398
Albrecht Adam.
.
.
IX
A. Verzeichnis des Anhalts.
Nr.
Überschrift
Verfasser
Seite
74
Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik Ode an König Ludwig I. König Ludwigs I. Jugendzeit, und Lehrjahre Ein Brief an Kaiser Franz I. von Österreich (1815) Nachklage (1816), Gedicht An Herrn Mac Jver, meines Erstgebornen Er ziehen Unterrichtsinstruktion vom Jahre 1817 Die hohle Weide, (Herbst 1832) Gedicht Die Walhalla Walhalla, Gedicht • Gedanken Jean Pauls über seine Zeit • Ludwig I. und Goethe Der bayerische Sprachforscher Johann Andreas Schmellör in Tölz Christoph Schmid unter den Kindern * Goldbergwerke und Goldwäschereien in Bayern • Die Perlfischerei in Bayern * Das Münchener Künstlerfest von 1840 Thorwaldsen im Knorrkeller, München, 20. Juli 1841 Des Kronprinzen Maximilian Hochzeit im Oktober 1842 An die Kronprinzessin Marie von Bayern, geb. Prinzessin von Preußen, Gedicht Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Volkes Ludwig I. und die Kunststadt München An München, in das Goldene Buch der Stadt geschrieben Vor fünfundzwanzig Jahren (Februar 1893) Bor dem Königssarge in der Münchener Basilika, Gedicht Ludwigslied zur hundertjährigen Geburisfeier König Ludwigs I. von Bayern (1887) Festgedicht zur Zentenarfeier König Ludwigs I. von Bayern (1888) Burg Hohenschwangau Der Schatz auf Hohenschwangau, Gedicht König Maximilian II. von Bayern. (Aus der Erinnerung gezeichnet) Eine Fußreise mit König Max II. Ein Erinnerungsblatt an König Maximilian II. König Maximilian II. von Bayern und die Wissen schaft, Gedächtnisrede Am Ostersamstag (10. März 1864), Gedicht Mit einem Königsherzen An König Ludwig II. von Bayern, Ode Richard Wagners Berufung durch König Lud wig II von Bayern Der Feldzug vom Jahre 1866 in Süddeutschland Eint. Reise König Ludwigs II. Prinz Karl von Bayern (f 16. August 1875) Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Einleitung Hurra, Germania! Gedicht Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, Feldzugsplan, Aufmarsch Die ersten Siege (Weißenburg und Wörth) Die Schlacht von Beaumont (30. August)
Karl Theodor von Heigel
401
August Graf von Platen Karl Theodor von Heigel Kronprinz Ludwig . .
410 413 419
Kronprinz Ludwig Kronprinz Ludwig
. .'
420 420
Friedrich Rückert . . . Karl Theodor von Heigel Martin Greif .... Hans Probst .... Thomas Stettner. . . Johann Nepomuk Sepp
422 422 426 426 432 437
Alexander Schöppner Alois Geistbeck Herrmann Stadler . Thomas Stettner. . Ludwig Steub. . .
. . .
439 441 444 447 450
.
.
453
.
.
457
Karl Theodor von Heigel Siegmund von Riezler. Martin Greis ....
458 469 471
Karl Theodor von Heigel Karl Zettel.....................
471 476
Martin Greif ....
477
.
478
Karl Stieler .... Friedrich Beck .... Wilhelm Heinrich Riehl
478 481 482
Wilhelm Heinrich Riehl Franz von Kobell« . . Ignaz von Döllinger
488 496 500
Emanuel Geibel . . . Oskar von Redwitz . . Martin Greif .... Sebastian Röckl . . .
512 514 523 524
Heinrich Friedjung . . Friedrich Lampert . . Karl Stieler .... Graf Helmut von Moltke Ferdinand Freiligrath . M. Moser.....................
528 532 537 542 543 544
Georg Bleysteiner . . Karl Tanera ....
550 559
75 76 77
78 79 80 81 82 83 84 85
86 87 88 89 90 91
92 93 94 95
96 97 98 99
100 101 102 103 104 105 106 107 108 109
110 111 112 113 114 115 116 117
Ludwig Steub
.
Franz Graf Pocci
Hermann Lingg
.
. .
.
X
Nr.
118 119 120 121 122
123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134
135 136 137 138 139 140 141 142 143 144
A. Verzeichnis deS Inhalts.
Überschrift
Die Schlacht bei Sedan (1. September) Der Straßenkamps in Bazeilles Sedan, Gedicht Die Waffenstreckung bei Sedan; Zusammenkunft der Generale zu DonchLry Moltke (zum 90. Geburtstage, 26. Oft. 1890), Gedicht Ein SiegeSgruß aus den bayerischen Bergen Der Volkskrieg an der Loire — ein neuer, zweiter Krieg Vormarsch gegen die Loire, Einnahme von Orltans (11. Oktober), der Tag von Coulmiers (9. No vember) Eine gefährliche Eisenbahnfahrt Ergebnisse der Schlacht von Orleans am 3. und 4. Dezember Das Ende der dreitägigen Schlacht bei BeaugencyCravant (8.—10. Dezember); Rückkehr der Bayern nach Orleans Das Lied vom „von der Tann" Die Bayern an der Loire Deutschlands Frauen 1870/71, Gedicht Aus Vorposten vor Paris Wir bleiben Aus dem Briefwechsel zwischen König Ludwig II. von Bayern und Graf Otto von Bismarck Die feierliche Verkündigung des Deutschen Kaiser reiches am 18. Januar 1871 zu Versailles An Deutschland (Januar 1871), Gedicht Einzug der bayerischen Truppen in München Gruß an das Heer, Gedicht Schloß Neuschwanstein • Bayreuth König Ludwigs II. Persönlichkeit Unser Prinzregent Luitpold, Festrede An Prinz Luitpold, Regenten von Bayern (zum 12. März 1905) An das Bayerland, Gedicht
Berfafier
Seite
Hugo Arnold .... Karl Bleibtreu. . . . Karl Gero!..................... Wilhelm Onken . . .
566 573 577 578
Ernst von Wildenbruch.
590
.... ....
590 593
Karl Stteler Fritz Hönig
Theodor Lindner.
.
. 695
Adolf von Erhard . . Hermann Kunz . . . • Karl Tanera ....
601 605
Franz Trauttnann . . Karl Bleibtreu . . . Alois Dreyer .... Karl Stteler .... Adolf von Erhard . .
610 611 613 614 616 617
.
619
Emanuel Geibel . . . Hugo Arnold .... Wilhelm Hertz.... Karl von Heigel . . . Rudolf Louis .... Theodor Bitterauf . . Karl Theodor von Heigel Paul Heyse.....................
624 625 629 630 632 642 646 655
Martin Greif ....
656
Georg Bleysteiner
.
606
B. Verzeichnis der Abbildungen
Nr. des Lesestücke-
16
19 24 26
28 29 31
34 35 41
43
Der Bamberger Dom, Gesamtansicht Der Georgenchor im Bamberger Dom Das Fürstenportal am Bamberger Dom Grundriß des Regensburger Domes Inneres des Regensburger Domes Westansicht deS Regensburger Domes Der Alte Hof in München Druckprobe von Albrecht Pfister in Bamberg (um 1460) Druckprobe von Anton Koberger in Nürnberg (1493) aus Hartmann ........................................... Schedels Wellchronik Schlußschrift des ersten Münchener Druckes von Hans Schauer (1482) . Ritter, Tod und Teufel, Kupferstich von Albrecht Dürer Ruhe auf der Flucht, aus dem Marienleben von Albrecht Dürer . . . Nürnberg mit der Burg, Südansicht vom Turm der Lorenzerkirche aus . St. Lorenz, Westansicht Das Sakramentshäuschen in St. Lorenz von Adam Kraft Das Sebaldusgrab im Ostchor von St. Sebald von Peter Bischer . . Die St. Michaelskirche in München, Außenansicht von Südwest . - . Innere- der St. Michaelskirche in München Der Grottenhof in der Münchener Residenz Der Augustusbrunnen in Augsburg von Hubert Gerhard Die Fassade der Münchener Residenz im Jahre 1700 nach einem Kupfer stich von Michael Wening Ausschnitt aus Jakob Sandtners Holzmodell der Stadt München 1571 . Das Nordportal der Residenz zu München Die Patrona Bavariae an der Residenz zu München von Hans Krümper Die Stifter des Paumgartner Altares von Albrecht Dürer {
I 45 46 47 49
51 55
56
Seite
Abbildungen
»•» »"»•* »«'- ■ ■ (
Der Bucintoro auf dem Starnberger See Schloß Nymphenburg, Stadtseite; nach einem Sttche von M. Disel . . Schloß Schleißheim, Westseite Die Heidelberger Schloßruine von Nordost gesehen Das Heidelberger Schloß nach Merian (1645) Josef Ferdinand, Prinz von Asturien, nach dem Gemälde v. Jos. Vivien Jsarwinkler'Schütze ' 1 blSendlingerschlacht,Federzeichn.v.Ant.Hoffmann Letzte Szene des Kampfes am Kirchhof von Sendling Würzburg mit dem Marienberg von Nordwesten gesehen Das Grabmal des Abtes Trithemius im Neumünster zu Würzburg von Tilman Riemenschneider DaS Würzburger Schloß von Nordwest Eisengitter am Würzburger Hofgartentor von I. G. Oegg Die Amalienburg im Nymphenburger Schloßgarten (Außenansicht) . . Die Amalienburg (Grundriß)
63 66 68 82 83 85 103 114 121 125 136 137 153 155 158 159 179 181 183 191 218 219 221 223 236 237 238 239 247 251 254 261 268 275 286 287 290 291
295 298 299 307 308
xn
B. Verzeichnis der Abbildungen.
Rr. de» LeseftückeS
57 64 72 74 87 116
117
118 121 125
128 132
Abbildungen
Seite
Partie aus dem gelben Kabinett der Amalienburg........................................ Lorenz von Westenrieder, Federzeichnung von Franz Graf Pocci. . . Das WirtShausIzum grünen Baum in München nach einem Stich von Jungwirth........................................................................................................... Denkmünze vom Jahre 1806 aus die Annahme der Königswürde. . . Flußdukaten »ex auro Isarae« vom Jahre 1830 ........................................ Turko in voller Ausrüstung, Federzeichnung von Christian Speyer . . Französische Artillerie auf den Höhen hinter Wörth, Federzeichnung von Christian Speyer................................................................................................ Bayerische Jäger im Laufschritt während der Schlacht bei Beaumont, Feder zeichnung von Anton Hoffmann.............................................................. Französische Batterien auf der Flucht (in der Schlacht von Beaumont), Federzeichnung von Christian Speyer......................................................... Bayerische Infanterie in der Plänklerlinie, Federzeichnung von Anton Hoffmann........................................................................................................... Leichenfeld auf den Höhen vor Jlly | Federzeichnung vvn Frontmarsch der Bayern von Arlenay nach Orleans J Christian Speyer Bayerische Artillerie im Kampfe bei Coulmiers, Federzeichnung v. Anton Hoffmann........................................................................................................... Auf der Rückkehr nach Orleans 1 q, c Bayerische Batterie im Süden vor Paris f Federzeichnung v. Chr. Speyer
309 338
Druckberichtigungen. S.
17 Z.
S.
66 Z.
20v. o. lie- ornamentiertes statt ornamentierte. 6v. o. lies HerimanS statt HermanS.
6.199 Z. 15 v. u. lies HauSfreSken statt HauSfreSken.
S. 256 Z. E. 370 Z. S. 530 Z.
3v. u. lies seiner statt einer.
16v. u. lies General (I abgebrochen). 8 v. u. lies Österreicher statt Österreicher.
S. 583 Z. 10 v. o. lies Waffen statt Waffen.
S. 594 Z. 14 v. o. s heruntergerutscht.
397 407 444 551 554 563
565 567 579 597 599 609 615
1. Bayernlied. Don Mois Dreyer?)
Gut und Leben Iaht uns weihen Unserm deutschen Vaterland, Daß es möge froh gedeihen, Daß kein Feind mit frevler Hand, Neidend Deutschlands Ruhm, bedräue Seinen festgefügten Bau! Aber schwört auch inn'ge Treue Unsrer Heimat weiß und blau! Mächt'ge Ströme, klare Seen Grützen sie im Silberglanz. Dort begrünte, sanfte Höhen, Hier von Feld und Wald ein Kranz! Stolze Städte seh' ich blühen, Dörfchen schmuck birgt jeder GauDarum unsre Herzen glühen Für die Heimat weitz und blau.
Und das Volk in seiner Mitte Hat stets unentwegt bewahrt Gottesfurcht und schlichte Sitte Und der Väter deutsche Art.
Fleitz ziert es und Herzensgüte, Scheint sein Wesen oft auch rauh; Reich an jeder Tugend Blüte Ist die Heimat weitz und blau.
Bayerns Ruhm und Wohlfahrt heben Will sein Fürst, wie er versprach,Darum sind wir treu ergeben Unserm Hause Wittelsbach. Huldigend nah'n wir dem Throne, Unsre Liebe neu zu weih'n: Sie ist in der Fürstenkrone Wohl der schönste Edelstein.
Nie im Glück und in Gefahren Löst der Eintracht festes Band! Laßt uns Treue auch bewahren Dem geliebten Bayerland! Latzt die Hände ftoh uns falten: „Guter Gott, vom Himmel schau, Gnädig wollest du erhalten Unsre Heimat weitz und blau!"
2. Wohnsitze, Namen und Sprache, Herkunst des Bayernvolkes. Don^Siegmund von Riezler?)
Von allen deutschen Stämmen
Staate den Namen,
der wenigstens
gibt heute der bayerische allein einem den Kern der alten Stammlande zum
größeren Teile umschließt und in dessen Bevölkerungszahl der namengebende Stamm das Übergewicht hat. *) Auf lichten Höhen, S. 23. Dresden-Leipzig, 1897, E. Pierson. •) Geschichte Bayerns, I. Band, S. 4 ff. Gotha, 1878, A. Perthes. Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
2. Wohnsitze, Namen und Sprach«, Herkunft des Bayernvolkes.
2
Der bayerische Stamm, wiewohl unter zwei Staaten zersplittert, bildet noch heute eine durch Sprache und Art seiner Angehörigen unverkennbare
Einheit. Ihm gehören vollständig an vom Königreiche Bayern die Provinzen Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und Regensburg und von der öster reichisch-ungarischen Monarchie die Erzherzogtümer Österreich ob und unter der
Enns und das Herzogtum Salzburg. Was von nichtbayerischem Volke in diesen Provinzen saß, ist sehr gering und frühzeitig bajuwarisiert worden.
Weit mehr von nichtbayerischen Elementen, insbesondere Slaven, haben die Bayern im Lande unter der Enns in sich aufgesogen. Von der bayerischen Provinz Schwaben und Neuburg sind die Bewohner des letzteren Gebietes
Bayern. In Oberfranken ist die Bevölkerung um das Fichtelgebirge, in Mittel franken, dessen Name den ethnologischen Verhältnissen nicht entspricht, die der südlichen und östlichen Teile, ungefähr ein Drittel bis zur Hälfte des Ganzen
von bayerischer Abkunft, reiner im Eichstättischen, mehr mit Franken gemischt
im Nürnbergischen; immerhin ist der Nürnberger Dialekt bayerisch, nur frän Nur auf Verkennung dieser Tatsachen beruht die zuweilen ausgesprochene Behauptung, daß im Königreiche Bayern mehr Franken als Bayern sitzen. Von Steiermark, Kärnten und Tirol ge
kisch angehaucht, nicht etwa umgekehrt.
hört dem bayerischen Stamme die gesamte deutsche Bevölkerung an. Aber in ganz Deutschttrol — mit Ausnahme wahrscheinlich des nördlichsten Unterinntales und seiner Seitentäler — haben die Bayern nicht nur wie 'anderwärts ver
einzelte Nichtgermanen sondern eine starke räto-romanische Bevölkerung baiuwarisiert. Endlich gehören dem bayerischen Dialekte und größtenteils wohl auch
dem Ursprünge nach dem bayerischen Stamme an die Deutschen in Ungarn und die im Egerlande, an den böhmischen Abhängen des Böhmerwaldes und an der Thaya. Die Seelenzahl des bayerischen Stammes wird man heute in
runder Schätzung etwa auf 9—10 Millionen anschlagen dürfen, von denen über 2^/2 Millionen im Königreiche Bayern, alle Ädrigen in der österreichisch ungarischen Monarchie leben. Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und Regensburg, Neuburg, die bayerischen Teile von Mittelftanken, Österreich ob der Enns, Salzburg und Deutschttrol bilden die alten Stammlande, in denen sich die Bayern im Laufe
des 6. Jahrhunderts festgesetzt haben. lich weiter nach Osten aus.
Von dort aus breiteten sie sich allmäh
In das 8. Jahrhundert fällt in der Hauptsache
die Besiedlung von Kärnten und Steiermark,
in
das 9. und 10. die der
Ostmark, in das 11. und 12. vornehmlich, wie es scheint, die Einwanderungen in
Ungarn
und
Böhmen.
Mit
der
Kolonisierung
des
Egerlandes,
die
wahrscheinlich am Schlüsse des 11. und in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts erfolgte, hat die räumliche Ausbreitung des Stammes
ihren Höhepunkt und Stillstand erreicht^, und kaum ist dies geschehen, so nimmt seine schon vorher beginnende politische Zersplitterung 'größere Aus
dehnung an.
2. Wohnsitze, Namen und Sprache, Herkunft des Bayernvolkes.
seine
3
Zuletzt unter den vier großen deutschen Stämmen hat der bayerische heutigen Wohnsitze gewonnen und diese Tatsache bestimmt bereits ein
gutes Stück seiner Geschichte.
Schon beginnen sich die Wogen der Völker
wanderung zu glätten, schon hat im ganzen Westen und Nordwesten von Deutschland die bleibende Bevölkerung sich niedergelassen und Franken, Sachsen, Schwaben haben bereits eine Geschichte hinter sich, als die Bayern zuerst in
ihren heutigen Wohnsitzen erscheinen. Etwa um 520 nennt den Baioarier die sogenannte fränkische Völkertafel, ein kahles Verzeichnis von Volksnamen, dem
jedoch außer der ersten Nennung der Bayern auch der Umstand besonderen Wert verleiht, daß hier des Tacitus Scheidung der Germanen in Jngävonen,
Jstävonen und Herminonen, genauer Erminonen, noch einmal wiederkehrt.
Im
Jahre 565 sodann spricht der Dichter Venantius Fortunatus von dem Lande Baioarien, das er, von Italien zum fränkischen Könige Sigibert reisend, zwischen Inn und Lech durchwandert habe.
Als eines Volkes, das zwischen
Augsburg, dem Inn und den Alpen sitzt, erwähnt derselbe Venantius auch der Baioarier in seinem Lobgedichte auf den heiligen Martinus.
Die ältesten Namensformen, die bei Schriftstellern und in Urkunden, seit
dem 8. Jahrhundert auch in einheimischen Denkmälern auftreten, sind: Baioarii, Baiovarii, Baiuwarii, Baiuvarii, auch schon gekürzt: Bawarii und Bawari. In deutscher Sprache erscheinen zuerst in einer Wessobrunner Handschrift und
in den romanisch-deutschen Kasseler Glossen, beide aus dem 8. Jahrhundert, die Namen Peigira und Peigirolant, wie denn im Munde der alten Bayern jedes b im Anlaut zu p verhärtet wurde. Über die Bedeutung dieses Namens kann kein Zweifel obwalten, wenn
man sich der analog gebildeten Stammnamen Amsiwarii, Chatwarii, Ripuarii
erinnert. Baiuwarii sind die Bewohner des Landes Baia oder Baias. Baias nennt der Geograph von Ravenna einen Teil des ausgedehnten
Gebietes, das er nach seinem Hauptstrome als das Elbeland bezeichnet.
ist dasselbe Land, das dem Tacitus Boihemum heißt.
Es
Seine ältesten Be
wohner in historischer Zeit waren die Bojer, ein keltischer Stamm.
Als sie
durch die Markomannen verdrängt wurden, gaben diese dem neugewonnenen Lande den Namen:
das Heim der Bojer, Boioheim, Böheim, Böhmen, der
noch heute sowohl am Lande als an seinen jetzigen Bewohnern hastet. Die Volksnamen Bayern und Böhmen haben also ursprünglich dieselbe Bedeutung: Bewohner von Böhmen.
in Böhmen.
Noch im 5. Jahrhundert saßen die Markomannen
Im siebten zuerst begegnen dort die slavischen Czechen, die aber
wahrscheinlich schon
früher, gleich nach dem Abzüge der Markomannen, ein
gedrungen sind; wenigstens läßt sich zwischen den letzteren und ihnen kein
anderes Volk dort nachweisen. Die Bayern führen bei ihrem ersten Auftreten in der Geschichte rein
deutsche Personennamen und ^rein deutsch sind ebenso die Ortsnamen, die sie
ihren neuen Niederlassungen beilegen.
Nur in Zeiten,
denen das Licht der
1«
4
2. Wohnsitze, Namen und Sprache, Herkunft des Bayernvolkes.
Sprachforschung noch nicht einmal dämmerte, war es möglich, die Bedeutung
solcher Tatsachen zu übersehen und diese Wolftregil und Poapo, Eigil und
Wazaman,
die Gründer von Feldmoching und Holzhausen,
Hessellohe und
Ebersberg für Nachkommen der keltischen Bojer zu erklären.
Indem man
richtig eine etymologische Verwandtschaft der beiden Namensvettern folgerte, übersah man doch, einmal, daß dieselbe noch keine leibliche in sich schließt,
und weiter, daß auch die etymologische erst durch den dazwischen liegenden Namen des böhmischen Landes vermittelt wird.
Schon im 7. Jahrhundert
hatte der Mönch Jonas von Bobbio Bayern und Bojer verwechselt.
Wie der Irrtum hier und in verwandten Heiligenleben nur beiläufig ausgesprochen
ward, hatte er auch keine weiteren Folgen. Seine Einführung in die bayerische Literatur rührt erst von der übelberatenen Gelehrsamkeit der Landeschronisten
des 15. und 16. Jahrhunderts, zuerst von Veit Arnpeck her. Am meisten zu seiner Einbürgerung hat dann Aventin beigetragen und länger als sonst wohl wahrscheinlich gewesen ward der falschen Hypothese dadurch das Leben gefristet, daß undeutsche Gesinnung in den Tagen des Rheinbundes sie begünstigte und politisch verwertete.
Können wir nur in einem germanischen Stamme, der einige Zeit in Böhmen den dauernden Wohnsitz hatte, die Ahnen unserer Bayern suchen, so
werden wir schon hierdurch zu dem Schlüsse gedrängt, daß die Bayern mit den Markomannen zusammenhängen. Dieses Ergebnis wird befestigt, wenn
wir jenem Führer folgen,
an den man sich in ethnologischen Fragen stets
zuerst zu wenden hat. Die Sprache der Bayern schließt nicht nur die keltische Abkunft des Stammes aus sondern zeigt auch, welcher Platz demselben innerhalb der germanischen Nation anzuweisen ist. Der bayerische Dialekt ist mit keinem anderen näher verwandt als mit dem schwäbischen. Mit diesem zu sammen bildet das Bayerische einen deutschen Hauptdialekt, das sogenannte
Oberdeutsche.
Die Schwaben oder Alamannen, was gleichbedeutend, gehören
zur suevischen Völkergruppe und haben deren Namen int verengerten Sinne bis heute erhalten; ihren Kern bildeten höchstwahrscheinlich die alten Semnonen.
Auch die Bayern müssen also der suevisch-erminonischen Gruppe zugewicsen werden.
Als Suevenstämme nennt Tacitus, der hier durch alle
sonstigen
Zeugnisse nur Bestätigung findet, außer den Semnonen die Langobarden, Hermunduren, Narisker, Markomannen, Quaden und die kleinen Völker der Marsinger und Burer. Von diesen sind die Langobarden nach Italien gewandert, die Hermunduren die Ahnen unserer Thüringer. Der kleine Stamm der Narisker
saß in der heutigen Oberpfalz, im Westen der Markomannen, von denen er- von die Ouaden, fast stets mit den Markomannen zusammen genannt, wohnten in deren Osten, im heutigen Mähren, Anfang an wohl nur einen Ableger bildete;
die Marsinger und Burer in deren Rücken, etwa um das Riesengebirge. Nehmen wir also Namen und Sprache des Volkes zusammen, so bleiben für die Frage nach seiner Herkunft nur zwei Antworten offen:
die Bayern
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes. sind
entweder
5
kein anderes Volk als die Markomannen
oder sie sind aus
einer Vereinigung suevischer Stämme erwachsen, in der die Markomannen den Kern bildeten, wozu überdies die Quaden, vielleicht auch Narisker und kleinere suevische Stämme stießen.
verwandten Stämme
Auf solchem Wege, durch die Verbindung mehrerer
sich sehr wahrscheinlich die drei anderen großen
haben
deutschen Stämme des Mittelalters, Franken, Sachsen und Schwaben gebildet.
Auch für die Bayern wird man geneigt sein, der Annahme einer Vereinigung,
aus Markomannen und einigen nahe verwandten und benachbarten Suevenstämmen, insbesondere Quaden, den Vorzug zu geben, wenn man die Analogie der
allgemeinen Entwicklung
besetzten Gebietes,
die Größe des von den Bayern
berücksichtigt,
die namhafte Schwächung,
welche die Markomannen und
ihre suevischen Nachbarn in den Romer-, wohl auch Hunnenkriegen erfuhren,
endlich den Umstand, daß gleichzeitig mit dem Markomannennamcn auch jener der Quaden verschwindet.
3. Die vorgeschichtliche geil des Landes. Von Franz Weber.* Die
des Menschen
Spuren
reichen
hinüber in vergangene Erdperioden.
wir gegenwärtig leben,
weit
über
geschichtliche Zeit
alle
Dem geologischen Abschnitt, in welchem
dem Alluvium,
ging eine lange Erdperiode voraus,
das Diluvium, deren Dauer von den Geologen auf 100000 Jahre berechnet
wird,
und dieser wieder eine andere, die Tertiärzeit.
Bis jetzt sind sichere
Spuren des Menschen im Tertiär nirgends gefunden worden, die Möglich
keit seines Vorhandenseins auch in dieser frühen Periode ist aber keineswegs
ausgeschlossen.
gewiesen.
Dagegen
Tertiär und begann
in
ist seine Existenz
Während dieser
Erdperiode
sicher nach
der Diluvialzeit
änderte
eine allmähliche Erkältung,
sich
das
Klima
milde
des
welche zur Vereisung eines
großen Teils des Kontinents führte, der sogenannten Eiszeit.
Man unter
scheidet mehrere Eisperioden mit dazwischenliegenden eisfreien Unterbrechungen, den Zwischeneiszeiten, in denen die Vergletscherung etwas zurückging und Land
striche eisfrei wurden, die beim Wiedervorrücken der Gletscher sich neuerdings mit Eis bedeckten.
In diesen Zwischeneiszeiten von sehr langer Dauer war die
Möglichkeit menschlichen Lebens auch in diesen Landstrichen gegeben, wie sie
in den
vom Eise nie erreichten Gebieten
Eiszeit immer vorhanden war.
wurden
denn
auch die
schon
sicheren Spuren des Menschen zuerst
Spuren, die über die Eiszeit,
dem Alluvium angesetzt wird, ves Bereichs
von Mitteleuropa
vor der
Hier, in Frankreich, Belgien, Mitteldeutschland,
nachgewiesen,
deren Beginn auf 15000—20000 Jahre vor
hinaufgehen.
Aber auch
in dem
der Gletscher gelegenen Gebiete Europas hat man
innerhalb
menschliche
Spuren gefunden, die auf seine Anwesenheit daselbst in einer Zwischeneiszeit,
jedenfalls in der postglazialen Zeit, Hinweisen.
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
6
Unser engeres Heimatland Bayern war znm Teil im Bereich der voll ständigen Vereisung ,'zum Teil außerhalb dieser. Von den Alpen im Süden gingen die Gletscher bis an die Donau hinaus. Jenseits dieser aber blieb das Land vom Eise frei. Es haben sich denn auch in den Höhlen an der Donau und im schwäbischen Ries wie in dem Fränkischen Juragebiet Reste des
Diluvialmenschen gefunden, am unzweifelhaftesten in den ungestörten Schichten in der Ofnethöhle und im Hohlenfels im Ries, während sich südlich der Donau bis jetzt dessen Spuren aus dem Diluvium nicht nachweisen ließen.
Die Reste des Menschen aus diesen ftühen Zeiten sind sehr spärlich und unscheinbar. Grauenhaft und schrecklich, von unserem Kulturstandpunkt zurück
gesehen, muß sich das Leben in Mitte einer noch unwirtlichen Natur, in der Umgebung der gewaltigen und unheimlichen Tierreihen des Diluviums ab gewickelt haben.
In den Fundschichten dieser Periode zeigen sich weder Kohle
und Asche noch Scherben von Tongefäßen; der Mensch kannte noch nicht das Feuer, noch'nicht die roheste Töpferei. Unter den Knochen der Tiere in den
Höhlenschichten finden sich nur solche wilder Tiere; der Mensch hatte noch kein Haustier gezähmt. Er genoß das Fleisch der erlegten Tiere roh, trank deren
Blut und sog das Mark aus den aufgeschlagenen Knochen, die zahlreich mit den Spuren der Öffnung in den Fundschichten vorkommen. Als Waffe und Geräte dienten ihm nur der Baumast und der Stein, den er durch Behauen in verschiedene Formen brachte, so daß er ihn als Beil, Meißel, Messer und
Schaber verwenden konnte. konnte, den Feuerstein,
Er wählte
zur Bearbeitung.
das härteste Gestein,
das er finden
Auch die Kiefer der großen Tiere
benutzte er als Hiebwaffe, wie er die Schädel kleinerer als Trinkgeschirr gebrauchte. So armselig war der Hausrat des Menschen, der meist in natür
lichen Höhlen Unterkunft suchte und fand, um deren Besitz er oft genug mit den Tieren
kämpfen mußte.
Und doch finden sich schon aus dieser frühen
Zeit, da der Mensch noch als völlig „Wilder" in die Erscheinung tritt, zwar
nicht bei uns, aber in Frankreich und in Italien, in den Wohnhöhlen Spuren
einer überraschenden naturalistischen Kunstübung in eingeritzten und mit Farben umrissenen Darstellungen von Tieren, wie sich auch in Schweizer Höhlen
plastische,
aus
Bein und Knochen
geformte Tiergebilde
von erstaunlicher
Natürlichkeit gefunden haben. In unseren Höhlen fanden sich wenigstens Rötelbrocken, von denen man annimmt, daß sie der Höhlenmensch zur Be malung des Körpers verwendete, sowie durchbohrte Tierzähne zum An hängen, womit also auch das Bedürfnis des Körperschmucks schon zum Aus
druck kam. Von der Verwendung
des Gesteins zum Gebrauche als Waffe und
Werkzeug, deren Formen aber nur durch rohes Behauen der natürlichen Knollen hervorgebracht sind, nennt man diese erste nachweisbare Periode des
Menschen die „ältere Steinzeit" im Gegensatz zu einer nun folgenden vor
geschrittenen Kulturperiode, der sogenannten „jüngeren Steinzeit".
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Lande-.
7
Keine bisher erkennbar überbrückte Kluft führt von dem „Wilden" der älteren Steinzeit zu dem mit einem Schlage schon von einer gewissermaßen
hohen Kultur umgebenen Menschen
der jüngeren Steinzeit.
Wie nach dem
Zurückweichen der Eismassen und dem Verlaufen der Wasserfluten auf den
Moränen und den Schlammniederschlägen sich allmählich ein freundliches Landschaftsbild mit grünen Matten, blauen Seen und lichten Flußarmen ent
wickelte; wie die Tierwelt nach dem Untergang und der Auswanderung der ungeheuerlichen Typen der Diluvialzeit eine unserer jetzigen sich annähernde Gestaltung annahm, so hatte sicher auch das Äußere des Alluvialmenschen
nicht mehr Form und Gestalt des Wilden der älteren Steinzeit. Nach den körperlichen Überresten, die sich aus der jüngeren Steinperiode des Menschen
erhalten haben, glich dieser in Bau und Erscheinung schon vollkommen dem späteren Menschen und war der direkte Ahnherr des jetzt lebenden Geschlechts; von ihm reicht bis in unsere Tage der Faden
der Kulturentwicklung
ohne
Unterbrechung herab. Die Dauer der Alluvialperiode, in der wir gegenwärtig leben, und damit der Beginn der menschlichen Kultur der jüngeren Steinzeit
wird von den Geologen auf 7000—10000 Jahre geschätzt. Auch jetzt war der Mensch noch ohne jede Kenntnis der Metalle und ihrer Verwendbarkeit. Er schuf sich alle Waffen und Geräte, soweit nicht Holz oder Knochen hierzu Verwendung fanden, aus Stein.
Aber nicht mehr durch
bloßes rohes Behauen wußte er diesen zu formen; er hatte jetzt gelernt den Stein zu schleifen und zu glätten und gab seinen Bedarfsgeräten allmählich nicht nur äußerst praktische sondern auch gefällige Formen.
Es heißt daher
diese Periode die „jüngere Steinzeit" oder die Periode des geschliffenen Steines. Was aber diese int Vergleich zu der älteren charakterisiert, ist nicht bloß eine größere Fertigkeit in der Behandlung und Ausnutzung der Gesteinsarten, son
dern eine auf ganz anderer Grundlage beruhende Lebensführung überhaupt. Wir kennen eine Menge Niederlassungen aus dieser Periode mit dem gesamten Hansinventar
der Menschen in den Pfahlbauten der Voralpenseen
ivie in zahlreichen Landansiedelungen ; speziell bei uns in Bayern sind solche in dem Pfahlbau an der Insel des Würmsees, der sogenannten Roseninsel, in den Landansiedclungen auf dem Atlhögl bei Hammerau (Bezirksamt Laufen), in den Ebenen bei Inzkofen (Bezirksamt Freising), bei Regensburg unb Strau bing, in den Höhlen des Fränkischen Jura und der Fränkischen Schweiz wie
in den zahlreichen Wohngrubenresten des Spessarts bekannt. Aus diesen reichlichen Überresten entrollt sich ein vollständiges Bild der Kulturstufe jener Periode.
Der Mensch lebte nicht mehr bloß in Familien
wie der der älteren Steinzeit, sondern hatte sich in dorfartigen Siedelungen
er hatte fast alle Haustiere, die wir er trieb Ackerbau und baute verschiedene Getreidearten;
zu Sippenverbänden zusammengetan; jetzt noch verwenden;
er verstand zu weben, flechten und spinnen;
die Töpferei war allgemein
Hausbetrieb wie die Verfertigung der Stein- und Knochcngeräte, Fischfang •
8
3. Die vorgeschichtliche Zeit deS Landes.
und Jagd wurden eifrig
gepflegt.
Außer dieser durch
die Notdurft des
Lebens gebotenen Tätigkeit hat sich aber auch das Bedürfnis wie der Sinn für eine Verfeinerung der Lebensführung
entwickelt: reichlicher Schmuck in
allen möglichen Formen aus Bein und Stein war in Verwendung, die Töpfer geschirre wurden mit von Geweben entlehnten Motiven in mannigfaltigster Weise verziert, die Formen der Waffen und Geräte nahmen künstlerische Ge
stalt an, man begnügt sich nicht mehr den Stein nur zu schleifen, man bringt auch hier Verzierung durch eingeschliffene Linien und Kanten an.
Dagegen
fehlt jede Spur der vom Menschen der älteren Steinzeit geübten naturalistischen Kunst, deren Kenntnis wieder verloren gegangen zu sein scheint. Auch in dem psychischen Leben ging eine gewaltige Veränderung vor sich, wenn sich auch naturgemäß hiervon nicht so deutliche Spuren erhalten haben
wie vom mechanischen Leben. Während der „Wilde" der älteren Steinzeit seine Toten noch ohne Grauen in seiner Wohnhöhle unter seiner Lagerstätte
verscharrte, hatte der Mensch der jüngeren Steinzeit schon gesonderte Begräb nisplätze, in denen er seine verstorbenen Sippen mit gewissen Gebräuchen und unter Beigabe von Geschenken, von Schmuck, von Gefäßen mit Lebensmitteln
bestattete und so den Beweis dunkler Vorstellungen von einem Leben nach dein Tode gab. In der Hauptsache sehen wir also schon jetzt die Kultur der Vorzeit in
ihren Grundzügen ausgeprägt. Der Gesamteindruck, den die Ansiedelungen der jüngeren Steinzeit machen, ist ein freundliches, arbeitsfreudiges Lebensbild reger
Schaffenslust nach allen Richtungen mit hellen Lichtblicken in die sich hieraus entwickelnde Zukunft der Menschen.
Es steht somit nach den Funden unumstößlich fest, daß es einst eine reine Steinzeit in Bayern wie in ganz Mitteleuropa gegeben hat. Diese umfaßte einen sehr langen, über mehrere Jahrtausende reichenden Zeitraum und
es lassen sich verschiedene Zeitabschnitte in anffteigender Entwicklung unter scheiden. Aber irgend einen Anhalt für die ethnologische Feststellung der Stein zeitleute geben deren Überreste, wie sie bisher auf uns gekommen, nicht. Eine
gewisse allgemeine Verwandtschaft aber muß wenigstens in Bayern bei der
steinzeitlichxn Bevölkerung geherrscht haben. Die wenigen somatischen sowie die zahlreichen mechanischen Überreste weisen auf ein körperlich mäßig ent
wickeltes Volk, von dem wir nicht wissen, ob es auf dem Boden des von ihm bewohnten Landes einheimisch oder dort eingewandert war.
Auf die jüngere Steinzeit folgt bei uns wie in den Nachbarländern die sogenannte Metallzeit und zwar als deren erste deutlich abgegrenzte Stufe die Eine eigentliche Kupferperiode, die der Bronzezeit vorangegangen läßt sich für Bayern wenigstens an der Hand der Funde nicht nach
Bronzezeit.
wäre,
weisen, obwohl man nach der natürlichen Entwicklung eher annehmen müßte, daß Kupfer, der Hauptbestandteil der Bronze, ursprünglich allein verarbeitet wurde, ehe man auf die Legierung dieses Metalls mit Zinn und damit auf
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
die Herstellung der Bronze geriet.
9
Wie die Erdperioden reißen auch die
Kulturperioden nicht plötzlich und mit einemmale ab, sondern gehen langsam
ineinander über.
Schon
am Ende der jüngeren Steinzeit treten vereinzelt
Schmucksachen und Geräte von Bronze auf. In der Ansiedlung am Auhögl wurde Bronze verarbeitet, wie Reste von Gußklumpen und Tropfen, von
Schmelztiegeln mit anhaftender Bronzemasse, von Gußformen und einige wenige offenbar an Ort und Stelle gegossene Schmuckstücke (Spiralen und Nadeln) sowie Geräte beweisen. Das Haupterzeugnis der jüngeren Steinzeit war das Steinbeil, erst als Keil in Schuhlcistenform, später mit durchgebohrtem Loch
zum Anstecken eines Holzstiels, noch später zum förmlichen Steinhammer aus gebildet; außerdem kommen Pfeilspitzen und Dolche vor. Alle diese Gegen
stände werden nun in anfänglich gleichen Formen in Bronze nachgebildet. Wie die Kenntnis der Bronze ins Land kam, vermögen wir vorerst noch nicht nach zuweisen, wahrscheinlich wurde sie schon als Rohmaterial eingeführt und dann
im Lande verarbeitet; denn man findet namentlich in Südbayern große Mengen rohgearbeiteter Bronzebarren in Ring- und Spangenform und erklärt sich diese Funde als Handelsware.
im Lande selbst
bereitet wurde,
Es wäre aber auch möglich, daß das Erz denn sowohl Kupfer als Zinn kommt in
Bayern vor, ersteres in den Gebirgen im Süden, letzteres im Fichtelgebirge.
Auch fertige Ware kam durch den Handel ins Land. Noch vor dem Jahre 2000 v. Chr. beginnt die Bronzezeit bei uns, auf deren frühester Stufe gleichzeitig noch Stein in Verwendung kam,
bald von dem neuen Material verdrängt wurde.
der aber
Auf dieser ältesten Stufe
der Bronzezeit fehlt von den Waffen noch das Schwert und die Lanze, obwohl man letztere schon in der Steinzeit kannte. Überhaupt wird das glänzende neue Material vor allen« zum Schmuck verwertet. Schon in dieser frühen Zeit lernte man nicht nur Bronze gieße«« sondern auch als Draht ziehen und zu Blech
aushämmern.
In Gräberfunde«« des südlichen Bayerns und zwar
sowohl im östlichen Teil an der Salzach wie nördlich
und
westlich an der
Donau treten übereinstimmend als Schmuckstücke auf: lange, dünne Blech röhren, deren mehrere untereinander in horizontalen Reihen auf beide«« Seiten der Brust am Kleide befestigt waren; ferner ziemlich große Spiralen aus Bronzedraht in Schneckenform aufgerollt, die als Kopfputz oder Haarschmuck
verwendet wurden.
Die Gleichmäßigkeit dieser Schmucka««sstattung im Osten
und Westen von Südbayern läßt auf eine gewisse Verwandtschaft der Be
wohner schließen. Denn wenn auch die Bronzekultur im allgemeinen über ganz Europa verbreitet war und schon aus diesem Grunde nicht ein einziges
Volk als Träger dieser Kultur angenommen werden darf,
so
können
doch
lokale Eigentümlichkeiten für ein begrenztes Gebiet hervortreten, die für dieses
Gebiet auf einen einheitlichen Volksstamm Hinweisen. Noch deutlicher macht sich eine solche Verschiedenheit in der nachfolgenden Stufe der älteren Bronzezeit
bemerkbar,
insoferne hier nördlich der Donau mehrfach Formen des Bronze-
10
3. Dir vorgeschichtliche Zeit des Landes.
schmucks auftreten, die südlich dieser fehlen, wie z. B. die Kleidernadeln mir Radscheibenkopf, die herzförmigen Halsschmuckgarnituren u. a. Es gewinnt dadurch
die Annahme einen gewissen Halt, daß in Bayern in dieser Zeit nördlich der Donau ein anderer Volksstamm saß wie südlich.
In dieser zweiten Ent
wicklungsstufe der älteren Bronzezeit sehen wir Technik und Stil auf einem
Höhepunkt, der später nur noch an Mannigfaltigkeit der Formen, nicht mehr
an Stilgehalt und Feinheit des Geschmacks übertroffen wird.
In den Hügel
gräbern dieser Zeit, in denen nun im Gegensatz zu den Flachgräbern der Stein-
und ältesten Bronzezeit statt der Skelette Leichenbraud, wenn auch nicht aus schließlich, auftritt» findet man als Ausrüstung der Männerleichen wiederholt gleiche Waffengarnituren, bestehend in Schwert, Dolch und Beil von Bronze, neben ebenfalls typischer Schmuckausstattung mit einem Handreis und einer langen Nadel, die Mantel oder Gewand zusammenhielt; in den Frauengräbern
meist ein Paar solcher Nadeln und mehrere Arm- und Handgclenkringe von breiten Bronzebändern oder gewundenem Bronzestab; an Stelle der horizontal gelegten Bronzeröhren treten als Kleiderbesatz nun Zierbuckel in größerer oder kleinerer Form aus dünnem Bronzeblech, oft mit getriebenen, perlenförmigen
Punkten verziert, bis zu 50 Stück und mehr, auf; statt der Schneckenspiralen werden trichterförmige Hohlbleche im Haare getragen. Auch diese Ausstattung zieht sich in Südbayern von Osten bis zum Bodensee gleichmäßig durch. Als
Schmuckstücke treten jetzt auch Spiralen und Ringe von Gold, Perlen von Bern stein und blauem Glas auf, die jedenfalls durch einen ausgedehnteren Handels
verkehr aus Norden und Süden ins Land kamen.
Der hochentwickelte Formen
sinn der Zeit tritt ebenso in der Schönheit und Eleganz der Waffen hervor
wie in der Zierlichkeit der Schmucksachen, von denen namentlich die Finger ringe mit Spiralwindungen, der Halsschmuck von feinem gerollten Bronzedraht
mit im Kreise herabhängenden feinen Spiralscheibchen einen außerordentlich zierlichen Eindruck machen und fern von jeder Überladung sind. Auch die
Mannigfaltigkeit der Nadeln und des Arnischmucks weicht nie von einer gewissen einfachen Vornehmheit der Form ab.
Auf den beiden folgenden Stufen der
jüngeren Bronzezeit treten Zahlreiche neue Einzelheiten bei Waffen und Schmuck auf, im großen und ganzen bleiben aber die typischen Formen bestehen.
Die Keramik der Bronzezeit hat nicht mehr die reiche Verzierung der steinzeitlichen Gefäße, dafür hat sich aber deren Gestalt wesentlich stilvoller und schöner entwickelt.
Charakteristisch bleibt auch für die Bronzezeit wie für
die vorhergehende Steinzeit das Fehlen jeder Motive aus der Pflanzen- und Tierwelt bei der Verzierungsweise; auch keine Spur einer plastischen oder bildlichen Darstellung des Menschen ist bis jetzt bei uns gefunden. Es läßt sich vielleicht hieraus der Schluß ziehen, daß der Mensch der Bronzezeit sich
noch nicht zur Vorstellung persönlicher Götter erhob, die man allenfalls in menschlichen Gestalten nachgebildet hätte.
11
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
Unzweifelhaft
ist
in
unserem Lande
von der jüngeren Steinzeit ein
ununterbrochener Fortschritt der Entwicklung bis auf die Höhe der Bronze zeit zu erkennen. Wenn man die Überreste dieser beiden Perioden aufmerksam
verfolgt, sgewinnt man den Eindruck, daß hier ein und derselbe Bolksstamm sich zu einer ihm erreichbaren Kulturhöhe entwickelt hat.
Auch die wenigen
bisher gefundenen Wohnstätten mit ihrem Inventar deuten darauf hin, daß die Leute der jüngeren Stein- und der Bronzezeit in ununterbrochener Geschlechterreihe aufeinanderfolgten, daß kein Bevölkerungswechsel während dieser
Wie sich in den steinzeitlichen Niederlassungen auf dem Auhögl
Perioden eintrat.
und auf der Insel im Würmsee die ersten Spuren der Metallverwendung zeigen, so treten in der bisher einzigen im südlichen Bayern gefundenen bronzezeit lichen Niederlassung unter der Burgruine in Karl st ein bei Reichenhall die letzten Spuren der Verwendung von Steinmaterial neben der schon
herrschenden Bronze zutage.
Diese kleine, in entlegener Gebirgsgegend befind
liche Ansiedlung gibt in ihren Resten nur das Bild von ärmlichen Behau sungen, nicht von der Höhe der bronzezeitlichen Kultur. Immerhin aber
gewährt sie einen Einblick in das Leben und Treiben ihrer Bewohner.
Am
Fuße des steilen Bergkegels und terrassenförmig am Berghang
übereinander
am Berg in der Weise in den Hang
eingeschnitten
lagen die Hütten,
die
waren, daß der natürliche Felsen die Rückwand bildete und der Aushub nach
vorn abgelagert wurde gestampft und Spuren
umRaum zu gewinnen. Der ebene Boden war fest vonPfostenlöchern lassen annehmen, daß Vorder- und
Seitenwände aus Holzstämmen zusammengefügt waren. Das Dach ruhte schräg auf dem Felsen der Rückwand und den Stämmen der Vorderwand. Eine oder auch zwei Feuerstellen waren im Hüttenraum aus großen Steinen halbkreisförmig angebracht.
Das Hausinventar bestand aus großen Tonkufen
für Wasservorrat, aus Mahlsteinen und Reibern von Granit, mit denen von
den Weibern jdas Getreide gemahlen wurde; viele Nähnadeln von Bronze, Spinnwirtel und Webstuhlgewichte von Ton deuten darauf hin, daß hier von ihnen gesponnen, gewoben und die Kleidung bereitet sowie Netze gestrickt wurden.
Denn die Männer oblagen dem Fischfang (Funde von Angeln aus
Bronze, vieler Netzsenkcr) und der Jagd (Pfeilspitzen von Feuerstein und Bronze); sie beschäftigten sich mit Bronzegießen (Gußklumpen, Gußform, Schmelztiegel
reste, neue Stücke mit Gußnaht).
Viele vorkommende kleine Bronzepunzen
oder Stichel (wie sie auch in den Schweizer Pfahlbauten zahlreich auftreten)
dienten zu irgend einem hier betriebenen Handwerk. Am natürlichen Felsboden der Hütten und ihrer Umgebung fanden sich abgesprungene Schneiden von Bronzebeilen, ein Beweis, daß die Männer hier den Felsboden zur Herstellung der Hütten nnd das Holz der Stämme bearbeitet hatten. Außerordentlich
häufig waren die Scherben der Töpfe, die ebenfalls hier von den Weibern hergestellt wurden. Selbst ganz kleine Geschirrchen, offenbar Kinderspielzeug, fanden sich vor.
Zerbrochene oder verlorene Schmucksachen von Bronze ließen
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
12
erkennen, daß die Ansiedlung von der frühesten Bronzezeit bis an deren Ende
bewohnt war.
Auch Grabstätten dieser Zeit wurden in der Nähe unter dem
Schutt einer späteren römischen Niederlassung gefunden.
Ein anderes charakteristisches Kulturbild der Zeit geben die an vielen Orten Bayerns aufgefundenen Gießstätten und Vorräte neuer; fertiger Waren wie angesammelte zerbrochene Geräte und Schmucksachen, die wegen des kost baren Materials zum Einschmelzen bestimmt waren. Diese Funde deuten auf seßhafte oder herumziehende Bronzeschmiede, von deren Kunst die Sagen der
späteren Zeit berichten.
Wir lernen aus diesen wie aus den Massenfunden
der Rohmaterialien die Verkehrswege kennen, die durch das Land führten, und
die Richtung, die der Handel und die Einfuhr nahmen.
Diese Entwicklung
des Verkehrs deutet wieder auf eine lange, friedliche Periode, die auch die hohe Vollendung des Kunstgewerbes der Bronzezeit ermöglichte.
Diese tritt
namentlich in den Beigaben der in den Grabhügeln dieser Zeit Bestatteten hervor. Wie bei den Griechen wurden auch bei uns nur den Angesehenen des Volkes und ihren Frauen Hügel aufgerichtet und eine reiche Ausstattung mit ins Grab gegeben.
Die Bronzezeit des westlichen Europa entspricht über
haupt zeitlich der im östlichen Teile herrschenden sogenannten mykenischen Periode und füllt ebenfalls in mehrfachen Abstufungen das zweite vorchristliche Jahr
tausend aus, wenn sie auch nur ein schwacher Abglanz des reichen Kulturbildes
der letzteren in materieller und künstlerischer Hinsicht ist. Die Bronzezeit hat bei uns weit über ein Jahrtausend gedauert.
Über
die ethnologische Zugehörigkeit des Bronzezeitvolkes in unserem Lande sind wir noch ebenso ohne jede Kenntnis wie hinsichtlich der Steinzeitleute. Aber die somatischen Überreste nicht minder wie Waffen, Geräte und Schmucksachen
setzen einen schlanken und eher kleinen Menschenschlag voraus wie in der vor hergehenden Periode, so daß auch in dieser Richtung einer Kontinuität der Bevölkerung der Stein- und Bronzezeit nicht widersprochen wäre. Als ein wichtiges Kulturereignis in der Vorgeschichte ist das Auftreten
und die Verwendung
des Eisens zu bettachten.
Mit dem neuen Metall
entwickelte sich bald auch ein neuer Formenkreis, der sich ganz Mitteleuropa von den östlichen (nicht klassischen) Ländern bis an die Westküste Frankreichs eroberte.
Schon viel früher hatten die klassischen Länder des Mittelmeer
gebietes Eisen kennen gelernt und anfangs als kostbares Metall nur zu kleineren Schmuckstücken oder als Einlage auf Bronze verwendet. Der Beginn der Eisenzeit ist daher für die europäischen Länder zeitlich ganz verschieden und'
so wenig wir die Bevölkerung, welche die Bronzekultur ausgenommen hat, als eine einheitliche, als ein Volk annehmen können, so wenig ist das für
den Kreis der Eisenkultur vorauszusetzen. Man hat in Deutschland und Österreich diese alte Eisenkultur nach dem ersten größeren Fundgebiet, wo sie deutlich als etwas Neues erkennbar auftrat, nach dem durch seinen Bergbau
auf Salz bekannten Gebirgsort Hallstatt im Salzkammergut, die Hall-
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
IS
stattperiode genannt und dieser Name ist ihr denn auch seither bei uns
geblieben. Man wird also das Auftreten der Hallstattperiode oder älteren Eisenzeit für jedes Land besonders erforschen müssen, da sie nicht auf einmal und gleichmäßig in den mitteleuropäischen Ländern sich verbreitet hat. In Bayern,
namentlich im Süden der Donau, macht sich schon gegen
das Ende der reinen Bronzezeit einer, gewisse Unruhe durch das Erscheinen mannigfacher neuer Formen und Typen bemerkbar,
die zwar noch sämtlich
aus Bronze hergestellt sind, aber in den früheren Abschnitten nicht auftreten. Alle diese neuen Erscheinungen kommen über die Alpen aus dem Süden, mit
dem schon während der Bronzezeit nachweisbar ein reger Verkehr stattfand. Es sind dies neue Schwerttypen, Messer von Bronze, geschweifte Messer mit dünnen, flachen Klingen und durchbrochenen Stielen, die man für Bartmesser hält, Nadeln mit verschiedenen neuen Kopfformen und als besonders wichtig die Sicherheitsnadeln (Fibeln). Diese Typen sind in Oberitalien zugleich mit
den ersten Eisenerzeugnissen gefunden worden und gehören dort schon dem neuen Kulturkreis an. Bei uns fanden sich mit diesen Typen noch keine Eisensachen,
insoweit das Eisen nicht als Einlagemetall z. B. an Schwert
griffen erscheint. Man hat das Auftreten dieser noch ausschließlich aus Bronze bestehenden Typen bei uns als den ältesten Abschnitt der Hallstatt-Kultur be zeichnet, obwohl es kaum einem Zweifel unterliegt, daß es bei uns noch die bisherige bronzezeitliche Bevölkerung war, die diese neuen Formen bei sich aufnahm und einbürgerte. Dieser Abschnitt, den man als das letzte Aus
klingen der Bronzezeit oder als das Aufdämmern einer neuen Kultur betrachten kann, umspannt etwa ein paar Jahrhunderte des 1. Jahrtausends vor unserer
Zeitrechnung.
Dann aber beginnt mit einemmale etwas Fremdartiges in
den Hügelgräbern unseres Gebietes aufzutreten.
Das Eisen,
bisher kaum
merklich vorhanden, ist jetzt bereits das herrschende Metall, Bronze tritt mehr und mehr in den Hintergrund. Auch Formen, Stil und Größenverhältnisse der
jetzt im Grabinventar erscheinenden Gegenstände ändern sich.
Lange Eisen
schwerter mit mächtigen Griffen von Bein und Horn, oft mit Goldblech über zogen, lange spitze Eisenlanzen, große Beile mit breiten und langen Lappen,
meist noch von Bronze,
aber auch schon von Eisen,
große Eisendolche mit
Bronzegriffen mit hörnerartig aufgebogenen Enden treten auf; die Bestatteten haben
breite
Bronzeblech,
Gürtel breite,
und
große
tonnenförmige Armreife von Fibeln mit Vogelgestalten
halbmondförmige
dünnem an den
Enden und herabhängenden Klapperblechen, ineinandergegossene Ringe von Bronze und sonstiges Gehänge an den Gürteln. Dieses so ausgestattete Volk liebte offenbar (das Glitzernde, Lärmende, Prunkvolle und die massigen und
breiten Formen setzen einen entsprechenden großen Körperwuchs voraus.
Als
ganz neues Element tritt jetzt auch das Figurale in Verzierungsmotiven auf: auf den Gürtelblechen wie auf Bronzegesäßen, ebenfalls eine neue Er scheinung im Grabinventar, sind Tiere (Vögel, Pferde, Hirsche rc.) dargestellt.
14
3. Die vorgeschichtliche Zeit des Landes.
auch Menschen
Ebenso ist die Keramik
in verschiedenen Körperstellungen.
eine andere als die der Bronzezeit, außerordentlich reichhaltig in den Formen,
unter
denen
namentlich
die
birnförmige
oft
Vase
in
sehr
großen
Ver
hältnissen erscheint, und mit schönen Mustern teils in vertieften Eindrücken, teils in bunten Farben rot, weiß und schwarz bemalt. Zum erstenmal er scheinen jetzt auch Pferdegeschirre und Wagenreste in den Grabhügeln. Betrachtet man dieses auf drei Abschnitte der Hallstattperiode sich ver
teilende Material, das mit dem einfachen, zierlichen Inventar der Bronzezeit
in auffallendem Gegensatz steht, so erscheint es innerlich unmöglich, daß beide Kulturarten einem und demselben Volk bei uns angehört haben. Nach Art wie Form der Typen ist man gezwungen an einen Bevölkerungswechsel zu denken.
Da zugleich in den Gräbern der reinen Hallstattzeit eine sehr kriegerische Aus stattung mit vielen Schwertern, Dolchen, Lanzen, Beilen, Streitwagen und
Pferdeausrüstung auftritt und die Hügel mit dem früheren Bronzeinventar
jetzt auch ganz verschwinden, wird man wohl an eine kriegerische Invasion eines fremden Volkes und an eine Unterwerfung der bisherigen bronzezeitlichen Bevölkerung zu denken haben. Die ganze neue Kulturwelt erscheint im klassischen Sinne als eine barbarische und da ihr Zusammenhang nach Osten weist, hat man an eine von thrakisch-illyrischen Stämmen ausgehende Wanderung nach Westen gedacht, die zur Überflutung des westlichen
Mitteleuropas führte.
Wie in den österreichischen Alpenländern hat sich auch
bei uns, wenn auch nicht annähernd so reich und prunkvoll wie dort, der Hallstattkulturkreis nördlich und südlich der Donau durch alle Phasen hindurch, bisher aber nur in Gräbern, nachweisen lassen. Wohnstätten der reinen Hall stattzeit sind bei uns noch nicht gefunden. Nur in Karlstein wurden aus der ersten Phase einige wenige Wohnstätten mit einem kleinen Begräbnisplatz auf
gefunden, wobei jedoch noch keine Spur des Eisens zutage kam und deren Überreste offenbar noch demselben bronzezeitlichen Stamme angehören, der
dort seine Spuren aus der älteren Zeit zurückgelassen hat.
Man kann daher
die häusliche Kultur der Hallstattleute bisher nicht so erkennen wie die der
Stein- und Bronzezeit, eine besondere Industrie, eine Erweiterung des Kultur
lebens läßt sich nicht aus den Funden entnehmen.
Daß auch jetzt der Handels
verkehr nicht stillgestanden, ergibt sich aus dem Vorkommen von Gold- und Bernsteinschmuck und von Glasperlen wie bisher,
wogegen auch jetzt noch
Silber ganz fehlt. Die Gefäße werden noch nicht auf der Drehscheibe, sondern
aus freier Hand geformt. Der Grabritus wie die Form der Gräber scheinen keine Änderung erlitten zu haben. Von der Religionsanschauung und -Äußerung
dieser Zeit wissen wir so wenig wie von denen der früheren Perioden. Die als kriegerisches Herrenvolk auftretende Hallstattbevölkerung scheint
nach nicht sehr langer Zeit degeneriert zu sein.
Im jüngsten Abschnitt, etwa
dem 6. Jahrhundert v. Chr., werden die Grabhügel bei uns arm an Waffen und Schmuck, dagegen häufen sich die keramischen Beigaben, jedoch meist in
4. Das Land im Dämmerlicht« der Geschichte.
15
ärmlicher Ausstattung. Die Blütezeit der Kultur hat bei uns nur ein paar Jahrhunderte, etwa durch das 8. und 7. Jahrhundert v. Chr., gedauert. Über die ethnologische Zugehörigkeit der Hallstattbevölkerung Bayerns herrscht die Bermutung, daß sie illyrische Veneter waren, eine Annahme, die etymologisch
aus einigen Resten von topographischen Namen gestützt wird, wie dem alten Namen des Bodensees — lacus venetus, dem Namen des Venetberges in Tirol, vielleicht auch dem des Venedigers u. a.
Unbegründet und irrig aber ist
die weitverbreitete Bezeichnung der Bevölkerung sowohl der Bronzezeit als der Hallstattleute als „Kelten".
4. Das Land im Dämmerlichte der Geschichte. Don Franz Weber*
Mit dem Anbruch des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung beginnt ein neues Stilelement in den im antiken Sinn barbarischen Ländern Mitteleuropas aufzutreten, das den größten Teil des Kontinents bis auf die klassischen Länder ergreift und auf Jahrhunderte beherrscht. Diese Stilart ist aber nicht wie die früheren von Süd und Ost her von den Mittel meergebieten hereingedrungen, sondern es läßt sich ihr Ursprung mit Sicher heit aus dem westlichen Europa, dem Sitz der keltischen Gallier, nachweisen.
Hier in Frankreich
hatte sich
feit alter Zeit unter dem Einfluß der grie
chischen Küstenstädte ein nationaler Stil gebildet,
erreicht hatte.
der nunmehr seine Blüte Wahrscheinlich im Zusammenhang mit dieser erlangten Kultur
höhe stehen die nach sagenhaften Nachrichten der antiken Schriftsteller um diese Zeit beginnenden Wanderzüge der Kelten, die durch die Vermehrung der
Bevölkerung
und das Bedürfnis nach Ausdehnung veranlaßt worden
sein und halb im Dämmer der Sage, halb im Frühlicht der Geschichte über Mitteleuropa bis Kleinasien und über Italien sich ergossen haben
Auf diesen Wanderzügen
sollen.
soll auch das Land zwischen den Alpen
das heutige Bayern, wie auch Böhmen von keltischen Stämmen dauernd besetzt worden sein und zwar nördlich von Helvetern und Bojern, südlich von Vindelikern und Norikern. Inwieweit zu diesem sagenhaften geschichtlichen Gerippe die archäologischen Überreste und Funde des Landes die und dem Main,
Gewandung abgeben können,
soll
hier
an deren
Hand näher untersucht
werden.
Der La Tenestil,
wie diese neue Periode
allgemein genannt wird,
hat seinen Namen von dem ersten ^größeren Fundort im Kanton Neuenburg in der Schweiz, der diese neue Stilrichtung deutlich erkennen ließ. Auch diese Periode zerfällt in mehrere Abschnitte, von denen die beiden ersten auf eine
ältere Stilart, die das 5. und 4. vorchristliche Jahrhundert ausfüllt, die beiden letzten auf eine jüngere Hinweisen, von denen die eine das 3. und 2., die andere das 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung umfaßt. Die ältere
16
4. DaS Land im Dämmerlichte der Geschichte.
Hälfte der Periode ist bei uns in Hügelgräbern, häufig auch in Nachbestattungen,
in solchen der Hallstattzeit, seltener in Flachgräbern vertreten.
Denn es ist ein
durch die spätere Vorgeschichte gehender allgemeiner Zug, daß man die schon vor handenen Begräbnisplätze immer wieder benutzte, so daß sich in Grabhügel
feldern der Bronzezeit Gräber der Hallstatt- und La Tenezeit, unter Flachgräbern der späteren germanischen Zeit solche der La Tenezeit finden.
Die in den älteren
Gräbern mehr nördlich als südlich der Donau vorkommenden Funde unterscheiden sich vollständig von den Erzeugnissen der Hallstattzeit und haben mit diesen
keine Verwandtschaft. Sie bestehen in Eisenmessern mit geschweiften einschneidigen Klingen mit Holz- und Beingriff, Tierkopffibeln, Fibeln mit Menschenmasken, Gürtelschließen mit Tierköpfen, Kurzschwertern in Bronzescheiden, Metall
gefäßen griechischen Imports (Massilia), geperlten Armreifen von Bronze mit petschaftförmigen Enden, Halsringen von Bronze und Eisen, Fibeln mit breitem Bügel und zurückgeschlagenem Fuß, winkelförmig gebogenen Arm- und Fuß
ringen aus rundem Bronzestab, Gehängen von Glas- und Bernsteinperlen u. a.
Im allgemeinen ist aber, soweit sich dies jetzt schon erkennen läßt, die Verbreitung
des La Tenestils in dieser älteren Hälfte bei uns in Bayern nicht so durchgreifend, daß man an eine Einwanderung einer zahlreichen Volksmenge denken könnte, und jedenfalls sind die Überreste viel weniger reichhaltig und kostbar wie in den Gallien näher liegenden Rheinlanden.
Wohnstätten aus dieser Zeit sind bei
uns bis jetzt nicht aufgedeckt worden. Diese Verhältnisse ändern sich jedoch vollkommen in der zweiten Hälfte der La Teneperiode und deren beiden letzten Abschnitten vom 3. Jahrhundert n. Chr. abwärts.
Südlich der Donau
tritt jetzt
von der Ost- bis zur
Westgrenze Bayerns eine Anzahl von Begräbnisplätzen mit tiefeingeschnittenen Reihengräbern auf, in denen ein kriegerisches Volk in einer bisher unbe
kannten Waffenrüstung und Frauen in vielfach neuen Schmucktypen ruhen.
Die nahezu gleiche Ausstattung der Männer mit zweischneidigen Kurzund Langschwertern mit dünnen, flachen Klingen in Eisenscheiden, Lanzen
mit breitem und langem Blatt und einem Eisenfuß
des langen Schafts,
großen ovalen Holzschilden mit breit geflügeltem Eisenbuckel in der Mitte, großen
Eisenfibeln und eisernen Armreifen, schweren Gürtelketten von Eisen
oder Ledergurten mit Eisenschließen; die mehr verschiedene der Frauen mit Bronze- und Eisenfibeln, großen Hohlbuckelarmreifen mit Scharnierverschluß,
geschlossenen Armreifen aus Lignit und weißem und blauem Glas mit gelber
Schmelzeinlage, Halsgehängen von kleinen kobaltblauen Glas- und von Bernsteinperlen, Gürtelketten von Bronze und von Eisen mit Tierkopfhaken, Email perlen u. a. deutet unzweifelhaft das Auftreten eines neuen VolksstammcS an.
Dazu kommen Tongefäße von ganz anderen Formen, ohne die bisherige
Berzierungsweise mit geometrischen Figuren, auf der Drehscheibe geformt und hart und klingend gebrannt. Das gleiche Grabinventar findet sich auch in
den übrigen Ländern, wo keltische Stämme saßen, so im Westen in Baden und
4. Das Land im Dämmerlichte der Geschichte.
der Schweiz, im Osten in Böhmen.
17
Die in Südbayern gefundenen zahl
reichen Flachgräber gleicher Ausstattung gehören unzweifelhaft den Vindelikern und Norikern an, von denen wir aus den Zeugnissen der alten Schriftsteller
wissen, daß sie keltischer Abkunft waren und in unserem heutigen Bayern süd lich der Donau bis an den Fuß der Alpen ihre Wohnsitze hatten. Sind wir für die vorletzte Stufe der La Tenezeit in Bayern nur auf Gräberfunde angewiesen, so kommen für die letzte Stufe nunmehr auch Wohn
stättenfunde in Betracht. An zwei Orten Südbayerns sind, soweit bekannt, bisher solche zutage gekommen, in Manching, Bezirksamt Ingolstadt, und in Karl stein bei Reichenhall. sich
In Manching, woselbst eine ausgedehnte Umwallung
befindet, wurde innerhalb dieser ein großer Fund von Geräten und
Schmucksachen gemacht, der unzweifelhaft auf eine Wohnstätte deutet. Es befanden sich darunter Bestandteile von Wagenbeschlägen, Rädern, Pferde geschirr, Bruchstücke von Luxusgeräten, große Glasringe, Fibeln, Tierfiguren von Bronze u. a. In Karlstein stieß man auf die Wohnstätten selbst, die sich als viereckige Blockhäuser, aus Balken gezimmert, mit Türen und Fenstern, Feuerstellen und Vorplatz erwiesen. Die gefundenen vielen Eisennägel und Klammern rührten von der Befestigung und Verbindung der Balken, die
Eisenblechbeschläge von Türbändern und Schlössern her, zu
denen auch die
Schlüssel von Eisen vorhanden waren. Ein reich ornamentierte viereckiges Eisengitter mag zu einer Fenster- oder Türöffnung gehört haben und setzt die Verwendung von Glas voraus. In der Kulturschicht der Wohnstätten kamen zutage ninbc Mühlsteine von Handmühlen, große Wasserkufen von Ton, Eisengeräte aller Art, darunter Sensen und Ketten, Spinnwirtel, Netz senker von Ton, Nähnadeln von Eisen und Bronze; an Schmuck Bruchstücke von blauen Glasarmreifen mit gelber Schmelzunterlage,
vergoldete Bronze
blechbeschläge von Gürteln, Fingerringe von Bronze und Eisen,
eine Menge
Bronzezieraten, zum Teil mit Blutemail, au Waffen lediglich Pfeilspitzen von Eisen, ferner eine Menge Tongefäßreste,
hart gebrannt.
auf der Drehscheibe geformt und
Als besonders wichtig aber ist der Fund von Silbermünzen
keltischen Gepräges und der einer ägyptischen Bronzemünze von einem der drei ersten Ptolemäer zu verzeichnen, welche den regen Handelsverkehr der Zeit bis in das entlegene Gebirgsdorf andeuten.
den außerdem viele Eisenschlacken
Hier wie in Manching wur
gefunden, welche auf Verschmiedung von
Eisen an Ort und Stelle Hinweisen. Neben diesen Wohnstättenfunden spielen jetzt auch die zahlreichen Funde
von goldenen Münzen, sogenannten Regenbogenschüsselchen, eine wichtige Rolle. Solche Funde wurden in Südbayern bis zur Donau zahlreich gemacht, darunter zwei große Schatzfunde, von denen jeder über 1000 Stück enthielt.
Eine solche
Menge Münzen kann nur da zum Vorschein kommen, wo diese als Zahl- und Verkehrsmittel umlaufen und geprägt werden. Auch diese gehören den beiden letzten Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung an. KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bauern-.
2
18
4. DaS Land im Dämmerlichte der Geschichte.
Gräberfunde aus diesem letzten Abschnitt der La Teuezeit sind bisher wenige bekannt.
Diese schließen sich mit ihrem Inventar vollkommen an
die Wohnstättenfunde an. Auch hier kommen massive Gürtelbeschläge mit Blutemail, auf der Drehscheibe geformte Gefäße, Fibeln von Eisen und Bronze, blaue Glasperlen, Armreife und Fingerringe von Bronzedraht vor. Alle diese Funde werfen zusammen ein Helles Licht auf die Kulturstufe der
Vindeliker und Noriker in unserem Lande, die sicher seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert, vielleicht schon früher hier saßen, Die Überreste dieser Bewohner
beweisen, daß ihre Kultur schon eine hohe Rangordnung einnahm und sich von der späteren provinzialrömischen, auf die sich vieles von ihr fortpflanzte, nicht bedeutend unterschied, daß es also durchaus nicht die Römer waren, die
hier erst die Kultur ins Land brachten. Diese Überreste ergänzen und erläutern auch, was die antiken Schrift steller über die gallisch-keltischen Stämme berichten. Schon Cäsar erwähnt die soziale Gliederung des Volkes in drei Klassen, in Priester, Ritter und das
Arbeitsvolk.
In den Gräbern von Manching u. a. O. haben wir ohne Zweifel
den Ritterstand, den Adel des Stammes vor uns, darauf deuten die Reiter waffen und die kriegerische Ausrüstung. Die in La Tene-Wohnstätten gefun denen Eisenschlacken deuten auf die ebenfalls aus den Schriftstellern bekannte
Geschicklichkeit des Volkes in der Bearbeitung des Eisens. Auch die in Südbayern
in Wäldern und auf Heiden erhalten gebliebenen Hochäcker sind aller Wahr scheinlichkeit nach auf dieses Volk zurückzuführen. Sie setzen einen Großgrund
besitz und ein höriges Arbeitervolk voraus, wie es Cäsar bei den Galliern schildert. Über den Götterkult sind wir durch die römischen Schriftsteller und die erhalten gebliebenen Altarsteine aus römischer Zeit einigermaßen unterrichtet, da die Römer diese Gottheiten unter die ihrigen aufnahmen. Es kommen
Lokalgottheiten wie Bedaius, Grannus, die Alounae u. a.
auf Inschriften
vor; es wurden also schon personifizierte Gottheiten verehrt. Handel und Verkehr sind durch die Funde der Münzen wie durch solche von Roheisen
barren, Bernstein, Glasperlen und Bronzegefäße nachgewiesen. Sicher waren auch Straßenzüge vorhanden, die die Grundlage der späteren Römerstraßen
bildeten.
Es ist kein Zufall, daß die späteren großen Heerstraßen von Süd
und Ost ursprünglich auf Kempten — Cambodunum — gerichtet waren und erst später ihren Lauf nach Augsburg — Augusta Vindelicorum — erhielten;
ersteres war eben eine vindelikische Stadt, auf welche die alten Straßenzüge zu liefen, während letzteres eine römische Neugründung war.
Aus den Schrift
stellern erfahren wir, daß die Kelten in Städten und Dörfern wohnten.
Tatsächlich
haben
sich in Vindelikien« und Norikum solche Ortsnamen
in
der römischen Periode erhalten, wie Cambodunum, Abodiäcum (Epfach), Iuvavum u. a., Orte, in denen überall vorrömische Funde zutage kamen, ferner viele Namen von keltischen Orten, die ihrer Lage nach noch nicht sicher
bekannt sind, wie Damasia, Urusa, Artobriga u. a.
Auch
viele Fluß-
19
4. Das Land im Dämmerlichte der Geschichte.
und Bergnamen
weisen auf die einstigen keltischen Bewohner des Landes
zurück, wie die der Isar, des Lechs, Inns u. a. Die Erhaltung aller dieser Namen beweist auch, daß die keltische Bevölkerung keineswegs von den Römern
ausgerottet wurde, wie man früher vielfach annahm, sondern daß sie unter römischer Herrschaft im Lande wie bisher fortlebte. Die Zivilisation des Volkes war eine augenscheinlich sehr entwickelte, die Wohnstättenfunde lassen auf eine gewisse Behaglichkeit der Wohnungen und auf deren Ausstattung mit vielem Luxusgeräte, wie Spiegeln, Bronzefiguren, Glasgefäßen, Zierat aller Art schließen; die Körperpflege wird durch die in Grabfunden vorkommenden Bartmesser, Haarscheren, Züngelchen u. a. als eine schon verfeinerte erwiesen. Gewebespuren an den Eisen- und Holzresten der Gräberfunde sowie die vielen Fibeln deuten auf das Tragen von Leib
röcken und Mänteln, von langen Frauenkleidern und Kopsschleiern rc. hin. Der reiche Frauenschmnck steht dem der provinzial-römischen Zeit nicht nach. Auch die von Cäsar geschilderten gallischen Verteidigungsanlagen und Zufluchtsstätten (oppida) finden wir in unserem Lande. Der große Ringwall von Manching ist solch eine Volksberge in Kriegsnöten, wie ähnliche in Baden (Zarten) und Böhmen (Stradonitz) bekannt sind. Auch die eigentlichen Be
festigungen an Flüssen,
wie z. B.
an der Isar,
der Mangfall, dem Lech,
welche unter dem Namen Bürgen, Burgen im Volke bekannt sind, rühren aller Wahrscheinlichkeit nach von den Vindeliker» her und stammen vielleicht aus deren letzten blutigen Kämpfen mit den Römern um ihre Unabhängigkeit.
Wir finden also unmittelbar vor der römischen Eroberung des Landes das Volk auf einer hochentwickelten, national eigentümlichen Kulturstufe, mehr oder
minder zivilisiert, in festem staatlichen Gefüge, mit gegliederten sozialen Ständen, einem entwickelten Industrie- und Handwerksbetrieb, einem eigentümlichen, ausgebildeten Ackerbau, in Städten und Dörfern wohnend, mit Verteidigungs anlagen und Volksburgen.
Zum erstenmal ist der Schleier, der über den Völkern der Vorgeschichte lagert, etwas gelüftet. Wir kennen die Stammeszugehörigkeit und den Namen des Volkes und vieler seiner Städte. Weit abgerückt ist seine Kultur von den uns mythologisch anmutenden dunklen Lebensverhältnissen der vorgeschicht
lichen namenlosen Völker, die auf unserem Boden vorher wohnten. Diesen keltischen Stämmen der Vindeliker und Noriker, die ihre Wohnsitze noch behauptet hatten, als ihre nördlich angesessenen Stammverwandten, die Helveter und Bojer, schon dem Ansturm der Germanen weichen mußten, war es beschieden, daß sie mit den erprobten, festgefügten Legionen und der überlegenen Staatskunst Roms den Kampf aufnehmen mußten. Der Ausgang war schon mit Rücksicht aus die beiderseitigen Machtverhältnisse nicht zweifelhaft, auch wenn die
keltischen Stämme nicht, wie wir dies von den Galliern durch Cäsar bezeugt wissen, an steter Uneinigkeit gelitten hätten und politisch in fester Hand zu sammengehalten gewesen wären.
Die Vindeliker erlagen im Jahre 15 v. Chr. 2*
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4. Da- Land im Dämmerlichte der Geschichte.
in vereinzeltem Kampf dem römischen Schwert, die Noriker, wie es scheint, der römischen Politik ohne Kampf.
Das Ende beider Volksstämme war ihr Unter
gehen im römischen Reichs- und Staatsbürgertnm mit seinem kosmopolitischen internationalen Gepräge, in dem die Besonderheiten jedes selbständigen Volks
tums verschwinden mußten. Sprache, Kult, Staatseinrichtungen, Lebensführung, Tracht und Sitte waren schließlich die des Reiches. Nur soweit sich Kunst und Handwerk des La Tene in dem provinzial-römischen Stis erhalten haben, geben sie auch in dieser Zeit noch Kunde von dem einstigen selbständigen,
künstlerischen Empfinden und technischen Geschick des Volkes. Meisterhaft verstand sich Rom auf die Durchführung der politischen Ziele wie auf nivellierende Kulturbeeinflussung. Es kam in den eroberten Provinzen zu keiner nationalen Erhebung mehr während der römischen Weltherrschaft.
Die politische Geschichte der Provinzen Norikum und Rätien (dem Vindelikien
angegliedert war) bietet, soweit wir sie aus den Schriftstellern kennen, nichts von Belang. Die Kulturgeschichte aber weist viele interessante Einzelheiten des provinzial-römischen Lebens während seiner fast 500jährigen Dauer auf. Man richtete sich alsbald nach der Unterwerfung des Gebietes auf die Dauer darin ein. Die Grenze bildete erst die Donau, später der sogenannte Limes, eine markierte Zoll- und Reichsgrenze gegen die Germanen, die an strategisch wichtigen
Punkten durch dahinter liegende Kastelle ihrem ganzen Lauf entlang ge sichert war. Im Binnenlande waren Befestigungen nicht nötig, wie hier auch ständige Garnisonen außer kleinen Wach- und Etappenposten nicht vorhanden waren. Das Militär lag in den Grenzkastellen. Ein Hauptaugenmerk war
dem Straßennetz gewidmet, dessen Grundlagen die vorrömischen Verkehrswege bildeten, soweit nicht militärische und politische Gründe eine Änderung ver langten. Das gleiche war mit den bisherigen Städten der Fall, die fortbe wohnt wurden; Neugründungen von Städten, die sich durch ihre römischen
Namen sofort kennzeichnen, wie z. B. Augusta Vindelicorum, Castra Regina u. s. tu., waren aus politischen und sttategischen Gründen veranlaßt. Man lebte unter den Juliern und Flaviern bis in die Zeit Mark Aurels in tiefem Frieden; man fühlte sich vor den Germanen jenseits der Grenze so sicher, daß z. B. hart am Limes ein reich ausgestattetes, mit Kunstwerken geschmücktes Wohnhaus sich befand (Westerhofen b. Ingolstadt). Überreste von Staatsge bäuden, Tempeln, Foren wurden in größeren Orten gefunden, wie in Augs
burg, Regensburg, Kempten,
Salzburg, Epfach rc.
Im ganzen
römischen
Teile unseres Landes wurden große Meierhöfe mit vielen Funden von land
wirtschaftlichen Geräten und Gebrauchsgegenständen aufgedeckt. Von allen römischen Bauwerken aber hat sich über dem Boden außer der eingebauten Porta praetoria in Regensburg und der (vielleicht römischen) Heidenmauer in Lindau nichts im Lande erhalten. Was noch an römischem Mauerwerk vor handen ist, steckt unter dem Boden und muß erst ausgegraben werden, wie
z. B. die Grundmauern der Limeskastelle uttb ihrer Gebäulichkeiten.
4. DaS Land im Dämmerlichte der Geschichte.
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Auch von Kunstwerken, mit denen sich der reiche und gebildete Römer
gern umgab und wovon gewiß auch in die Grenzprovinz manches gelangte, haben sich nur wpiige Bruchstücke erhalten (Statuenreste, Skulpturen, Bronzen), die jetzt in den Museen aufbewahrt sind. Überhaupt ist von italischem Import wenig zum Vorschein gekommen; die meisten Überreste gehören einheimischen provinzialen Erzeugnissen an. Die gewöhnlichen Wohnhäuser waren nicht hoch, wahrscheinlich kaum mit einem Obergeschoß versehen. Jedes hatte aber mindestens ein heizbares Ge mach, dessen'Erwärmung aber nicht oberirdisch durch Öfen, sondern durch
Leitung der Wärme in die Seitenwände und den Fußboden von unten geschah (Hypokaustensystem). Die Wände waren zu diesem Behufe mit hohlen Kacheln verkleidet, über welche erst der Verputz kam. Die Zimmer waren mit Wand
malereien (Arabesken, selten Figuren) geschmückt, der Fußboden, meist Estrich, war manchmal auch mit Mosaiken geziert.
Die Zimmer hatten Fenster mit
Glastafeln in Eisenrahmen. Man hatte keine großen Wohnräume, schon wegen der Schwierigkeit der Beheizung. Die Türen waren von Holz mit eisernem Beschläge; Schlösser und Schlüssel sind vielfach erhalten. Die Häuser selbst waren nicht aus gebrannten Ziegelsteinen, sondern aus Feld- und Bruchsteinen
in reicher Mörtelbettung gebaut.
Ziegel verwendete man nur zum Bodenbelag,
zu den Hypokausten und als Platten zum Dacheindecken.
Bei dem Wohnhaus
war meist getrennt von diesem ein Baderanm. Zahlreich sind im Schutt der Wohnhäuser die Überreste der häuslichen Gkbrauchsgcgcnstände aller Art, besonders von Keller-, Küchen- und Tafel geschirr, letzteres die sogenannten Sigillaten, hartgebranntes, rotes, mit Firnis
überzogenes Tongcschirr in Becher-, Schalen- und Tellcrform. Jedes Haus hatte davon einen großen Vorrat. In einer Abfallgrube eines römischen Hauses
bei Friedberg am Lechrain konnten Reste von 168 verschiedenen Gefäßen erhoben werden.
Außer Küchengeschirr aller Art, großen Vorratsbehältern für Flüssig
keiten kamen Reste feinen Tafelgeschirrs von roter und schwarzer Farbe mit Bildwerk und von niedlichen Toilettegefäßchen in allen Farben vor. Auch Glas
gefäße waren in Gebrauch. Aus Bronze und Eisen wurden Lampen, Glycken,
Schlüssel,
Messer,
Gabeln,
Seiher,
Gefäßhenkel,
Schnellwagen,
Gewichte,
Schreibgriffel, Scheren, Handwerkszeug aller Art, Garteninstrumente, Nadeln zum Netzstricken u. s. w. fast bei jedem Wohnhaus gefunden. An landwirtschaft
lichem Inventar fanden sich in ausgegrabenen Meierhöfen: Wagenbestandteile und Pferdegeschirr aller Art, Ketten, Pflugeisen u. s. w.
Sensen und Sicheln, Kuhglocken, Radschuhe,
Die römischen Muster vieler dieser Gegenstände
blieben für das Mittelalter und selbst für unsere Zeit vorbildlich. Allch an Körperschmuck ergaben die Hausfunde reicheres Material als die Gräberfunde.
Es sind bei uns zwar keine so kostbaren Schmucksachen
zutage gekommen wie vielfach in Gallien und am Rhein,
immerhin legen
auch bei uns einzelne Funde von Fibeln, Armreifen, Nadeln, Fingerringen
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4. DaS Land im Dämmerlichte der Geschichte.
aus Gold und Silber Zeugnis ab von dem einstigen Luxus im Römerreich.
Gewöhnlicher Schmuck aus Bronze kam überall massenhaft zum Vorschein. Ganz spärlich dagegen sind die Waffenfunde aus dem Innern des Landes,
abgefehen von den Grenzkastellen, von denen namentlich Eining (Abuaina, am Beginn des Limes an der Donau) einen Reichtum an Waffen aller Art geliefert hat. In den Hansfunden gehören sie zu den größten Seltenheiten, mit Ausnahme der kleineren Jagdwaffen; in den Gräbern verschwinden sie ganz.
Ersteres beweist den geordneten und langen Friedenszustand des Reiches, in dem nur der Berufssoldat Waffen trug; letzteres die geänderte Anschauung
gegenüber der vorrömischen Zeit. Weit verbreitet sind im ganzen südlichen Bayern die Münzfunde. Man darf die wieder ans Tageslicht gezogenen römischen Münzen sicher auf Hundert tausende schätzen. Natürlich hat sich davon nur der kleinere Teil in den
öffentlichen Sammlungen erhalten, der größere ist in Privatsammlungen und im Antiquitätenhandel wieder verschollen, ohne daß selbst nur die Fundorte bekannt wurden. Die erhaltenen Münzen reichen von Augustus bis an den Schluß der Kaiserzeit. Münzen der Republik und des oströmischen Reiches sind selten. Auch nach dem Ende der römischen Herrschaft zirkulierten diese Münzen noch als Geld in Bayern bis in die Tage der Karolinger. Größere,
einst vergrabene Schatzfunde beweisen die später zunehmende Unsicherheit in folge der Einfälle der Germanen. Nach den Geprägen dieser Funde läßt sich vielfach die Zeit dieser Einfälle annähernd feststellen.
Auf diese Weise tragen
auch sie zur Aufhellung der Lokalgeschichte bei. Der Grabritus der römischen Zeit ist ein ganz anderer als der der vor römischen.
Er wird nicht mehr von dem Gedanken eines Fortlebens in bis
heriger Lebensweise bestimmt, so daß der Tote mit allem ausgestattet werden muß, wessen er im Leben bedurfte, sondern der Totenkult ist nur eine höherer geistiger Kultur entsprechende Erinnerungsfeier.
Der Tote bekommt noch Liebesgaben
mit, aber nur als Angedenken seiner Angehörigen. Die Leiche wird in der vorkonstantinischen Zeit verbrannt und die Asche in einem Gefäß beigesetzt, später womöglich in einem Steinsarkophag, einer Steinkiste oder wenigstens in einem Plattenbehältnis bestattet. Die antike Sitte, Denkmäler über dem Grab zu errichten, hat uns eine 'stattliche Zahl von Jnschriftsteinen, oft mit
figürlichen Darstellungen, erhalten, wenn diese auch nicht annähernd die Fülle
und Schönheit der rheinischen erreichen. Wir sehen also das bürgerliche Leben namentlich in der Blüte der Kaiserzeit bis zu Mark Aurel in hoher Kultur, auf der es sich noch bis in
die konstantinische Zeit trotz der schon beginnenden Zuckungen der sogenannten Völkerwanderungsperiode im allgemeinen erhält. Aber allmählich kommt die Gefahr näher; die harmotiische, geordnete Lebensführung hört auf, man muß
sich auf plötzliches Verlassen einrichten; Neues wird jetzt kaum mehr entstanden sein.
Erst muß die Grenze verlegt, das nördlich der Donau liegende Land
6. DaS Land unter der Herrschaft der Römer.
23
Dann bröckelt im Osten und im Westen immer mehr
preisgegeben werden.
Gebiet ab, Regensburg geht verloren, die Grenzen bilden jetzt schon im Osten Vallatum (bei Manching) und im Westen die Jllerlinie; schließlich können nur noch die mauerumgebenen Städte behauptet werden und am Ende zieht die
offizielle und besitzende Klasse mit dem Rest der Garnisonen über die Alpen
Rorikum und Rätien mit allen Städten, Staats gebäuden, Kunstschätzen, Staatseinrichtungen und allen Errungenschaften eines
nach Italien zurück (488).
fast 500jährigen zivilisatorischen Wirkens werden aufgegeben und sinken zu
einem guten Teil in Trümmer, bis neues Leben aus'^den Ruinen erblüht.
5. Auf dem Kastrum zur Pfünz (ad pontes) bei Eichstätt Don Karl Zettel?)
Wo die Spuren trotz'ger Quadermauer Unter Gras und Ginster liegen, Lenkt die Pflugschar jetzt der Ackerbauer Und es weiden einsam Ziegen; Wo die Tuba schmetternd weckte Ehedem die Lagerreih'n,
Bläst der in das Moos gestreckte Hirte klagende Schalmeien. Zittergras und Herbstzeitlosen Blüh'n um einen Weihestein Und ein Kranz von wilden Rosen Rahmt der Inschrift Zeichen ein.
6. Das Land unter der Herrschaft der Römer. Von Siegmund von Riezler.')
Mit der Eroberung durch die Römer beginnt die historische Periode für
das
Die Ausdehnung der römischen Herrschaft über die
bayerische Land.
Donaulandschaften war durch die Eroberung Galliens bedingt, dessen weit noch
Norden vorgeschobene Grenze eines Schutzes bedurfte. Im Jahre 15 v. Chr. bezwangen Tiberius und Drusus, die Stief
söhne des Augustus, nach erbittertem Kampfe die Völkerschaften im heutigen
Tirol, in der Ostschweiz und auf der Schwäbisch-Bayerischen Hochebene westlich vom Inn.
Die unterworfenen Länder wurden von den Römern als zwei
Provinzen eingerichtet: Rätia und Norikum. Die erstere begriff auch Vindelikien und zeitweilig das obere Rhonetal, reichte westlich bis Pfyn (Fines) im Thurgau und in' das Gebiet der Donauquellen, östlich bis zum Inn, süd lich bis in die Gegend von Klausen und Meran. Bei Partschins und Seben standen Zollstätten.
Als glänzendste Kolonie Rätiens erhob sich Augsburg,
Augusta Vindelicorum.
Auf bayerischem Boden aber befand sich in Rätien
keine bedeutende Stadt und überhaupt war Rätien, wie es scheint, weniger
bevölkert als Norikum.
Schuld daran trug wohl nicht nur die höhere, also
auch rauhere Lage, sondern vielleicht auch der Umstand, daß die Bevölkerung *) Dichtungen, S. 130. Eichstätt und Stuttgart, 1874, Krüll. •) Geschichte Bayerns, I. Band, S. 34 ff.
24
6. DaS Land unter der Herrschaft der Römer.
hier durch einen nach Römerart grausam geführten Krieg unterworfen und
zum Teil ausgerottet worden war.
Unter Domitian ward, zugleich als Landesgrenze und Landeswehr zwischen Germanien und Rätien, der Grenzwall (limes) vorgeschoben und die Gegend zwischen ihm und der Donau bis zur Alb mit Rätien verbunden.
Eben dort hat sich im „Ries" der Name der römischen Provinz bis heute erhalten, nachdem er noch im 16. Jahrhundert einen größeren,' auch Augsburg umfassenden Bezirk bezeichnete. Seinen vollen Wert für die Verteidigung der Provinz erhielt der Grenzwall erst durch die dahinter liegende dichte Reihe von Kastellen. Er ging bei Eining von der Donau ab, setzte bei Kipfenberg
über die Altmühl und bei Ellingen über die Schwäbische Rezat. Das Volk nennt seine stellenweise noch sichtbaren Überreste die Teufelsmauer, wie es überhaupt Dinge, die ihm unerklärlich sind, gern mit dem Teufel in Verbindung bringt. Norikum ward westlich, wenigstens von der Gegend bei Rosenheim an,
vom Inn, nördlich von der Donau, östlich vom Ostabhange der Alpen be grenzt. Zollstätten begegnen in Boiodorum (Innstadt von Passau), in Trojana
(Atrans bei St. Oswald in Krain) und
in
der statio Escensis (Ischl?).
Ihrer vertragsmäßigen Unterwerfung verdankte diese Provinz eine glücklichere Lage als der westliche Nachbar, sie hatte zahlreichere Städte und nahm früher die lateinische
Sprache und italienische Kultur an.
Auch unter römischer
Herrschaft ward sie wohl noch als Königreich bezeichnet.
Beide Provinzen
aber blieben wie eine Hausmacht in der Hand des Kaisers, der sie durch einen Hausbeamten unter dem Titel Prokurator verwalten ließ. Der von Rätien
führte den Titel: Procurator et pro legato provinciae Raetiae et Vindeliciae et vallis Poeninae. So lange dieses Verhältnis währte, standen in beiden Provinzen nur Hilfstruppen, die, von den Untertanen gestellt, nach
heimischer Sitte unter den Waffen dienten. Aus den Rättern wurden mindestens acht, aus den Vindelikern vier Kohorten ausgehoben, die zu den geschätztesten Truppen des Reiches gehörten, während die Noriker weniger Mannschaft stellten.
An Stelle der bisherigen Organisation nach Völkerschaften oder Gauen trat nun in römischer Weise die nach Städten mit eigener Ver
waltung, denen das umliegende Landgebiet „kontribuiert" war.
Kastelle und
Standlager, Schanzen und Warttürme, die sich nahe genug standen, um ihre
Signale vom einen zum andern tragen zu können, deckten die Straßen, be
sonders aber die Donaulinie und den Grenzwall. Bedeutsamen Aufschwung nahmen Handel und Gewerbe, deren Ver treter man oft zu Genossenschaften verbunden findet.
Auch von dem Kun st
ieben der Provinzen sind manche Zeugnisse, vornehmlich Skulpturen und Mosaiken, bewahrt; Schönheit und gute Erhaltung zeichnen besonders einen
in Westerhofen bei Ingolstadt gefundenen Fußboden aus. Vor allen Schöpfungen der römischen Herrschaft aber beansprucht das Straßennetz unsere Aufmerksamkeit, weil auf ihm sicher noch in der bayerischen
25
6. DaS Land unter der Herrschaft der Römer.
Zeit zuerst die germanischen Eroberer, dann die christlichen Sendboten vorge
drungen sind.
Indem wir die Hauptstraßen verfolgen, werden wir auch zu den
wichtigeren Niederlassungen geführt, deren Lage ebenfalls zum großen Teil für die Entstehung der Städte in der bayerischen Periode bereits entscheidend war. Über den Brenner als niedrigsten Paß der Tauernkette, den nur mit Saumtieren vorher die Händler überschritten hatten, zog die Hauptstraße von Italien nach Rätien, die schon unter Drusus ausgesteckt, unter dessen Sohne,
dem Kaiser Klaudius, vollendet und nach ihm Claudia Augusta benannt Sie führte von Trient über Endidae (Egna, Neumarkt), Pons Drusi
ward.
(bei Bozen), Sublavio (Seben), Vipitenum (Sterzing), wovon das Wipptal den Namen trägt, Matreium (Matrei) nach Veldidena (Wilten, Vorstadt von Innsbruck), einem Verkehrsknotenpunkte von nicht geringerer Wichtigkeit als
Denn westlich ging hier die Straße nach Bregenz (Brigantium) ab,
heute.
nicht über den Arlberg, sondern über Lermoos, Reutte,
dann in nicht
nachzuweisender Richtung über Jmmeiistadt. Nordwestlich gelangte man nach Augsburg über Scarbia (wahrscheinlich Scharnitz), Partanum (Partenkirchen), und weiter auf doppeltem Wege, östlich über die Stationen: ad pontes Tessenios oder Tesseninos (nach der Meilenzahl in der Gegend von Spatzen
hausen beim Staffelsee zu suchen), und Ambra (wahrscheinlich Schöngeising bei Bruck an der Amper), wo die Augsburg-Salzburger Straße kreuzte; west lich über das unbekannte Coveliacae, Abudiacum (Epfach), wo die Straße
von Pons Aeni nach Cambodunum (Kempten) kreuzte, und ad Novas (un bekannt).
Eine dritte Hauptstraße führte von Veldidena aus,
dem Laufe
des Inns folgend, nach Pons Aeni, dessen Name in Pfunzen fortlebt (Langen pfunzen am Inn, nordöstlich von Rosenheim), über die Zwischenstationen Masciacum (Matzen) und Albianum. Auch der Vinstgau hatte seine Straße, die über Töll, Rabland und Teriolis (Burg Tirol) zog. Durch das Puster
tal führte die Straße, die Vipitenum mit Julium Carnicum (Zuglio) ver band, über Sebatum (St. Lorenz), Littamum (Jnnichen), Aguontum (bei
Lienz) und Loncium (bei Mauthen). In Pons Aeni kreuzte die Straße von Augsburg nach Salzburg, die sich großenteils noch heute verfolgen läßt, zuerst zwischen Althegnenberg und Jesenwang, dann über Gauting, Buchendorf, durch den Forstenrieder Forst, bei Baierbrünn über die Isar, durch den Grünwalder und Deisenhofer Forst
und über Hofolding. Die Stationen bis zum Inn sind: Ambra, Bratanianum (wahrscheinlich am rechten Jsarufer, südlich von Grünwald), Isunisca (bei Helfendorf). Nach Pons Aeni folgen Bedaium (Seebruck oder in dessen
Nähe)
und Ariobriga
(zwischen Teisendorf
und
Traunstein).
Juvavum
(Salzburg) ward gleich den meisten norischen Städten unter Klaudius zur Stadt
erhoben und hieß daher J. Claudium. Bei Helfendorf zweigte, wie man noch heute erkennt, eine Straße von Pons Aeni nach Regensburg ab, Erding, Moosburg und Gammelsdorf be-
6. Das Land unter der Herrschaft der Römer.
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rührend, während ein anderer Straßcnzug, der von Pons Aeni über Turum
ünd Jovisura nach Castra (wahrscheinlicher Regensburg als Passau) führte, sich nicht bestimmen läßt. Reginum, Castra Regina wird auch einfach als legio oder castra bezeichnet; neben diesen lateinischen aber muß auch der keltische Name des Ortes, Radasbona, Ratispona, fortgelebt haben, da ihn
noch die mittelalterlichen Schriftsteller gebrauchen. Seit Mark Aurel war Regensburg das Standquartier einer Legion und der Hauptwaffen
platz im bayerischen Rätien.
Von Regensburg zog eine Straße über Abusina, Vallatum (wohl Oberstimm bei Manching), Summontorium nach Augsburg und weiter über Guntia (Günzburg) und Celio Monte nach Cambodunum (Kempten). Abusina lag sicher bei Eining, wo das Lager jetzt aufgedeckt ist.
zweigte die Straße ab,
In Abusina
die zwischen dem Grenzwall und der Donau nach
Westen führte, über Celeusum (wahrscheinlich Pföring), wo man noch eine
römische Befestigung sieht, Germanicum, Vetoniana (wahrscheinlich Nassen fels), Biriciana (Weißenburg i. B., wo ebenfalls jetzt das Lager aufgedeckt ist), Iciniacum (Jtzing, nördlich der Lechmündung).
Römische Inschriften finden
sich in dieser Gegend ebenso wie um den Chiemsee und im Salzburgischen
ziemlich zahlreich, während das Gebiet zwischen Inn und Lech an solchen arm ist. Donauabwärts führte die Straße von Regensburg über Augusta, das
wenig oberhalb, und Sorviodurum (oder Serviodurum?), das bei Straubing zu suchen ist; ferner über Quintana (Künzing mit Lager) und Pons Rensibus am Vilsübergang bei Vilshofen nach Casteilum Boiodurum, der Innstadt bei Passau. Der Ort hieß auch Batavis nach einer hier liegenden Kohorte
der Bataver und daraus ist Passau entstanden.
Von Boiodurum
folgte
die Straße
dem Laufe
der Donau
über
Stanagum oder Stanacum, das bei Engelhardszell, und Joviacum, das bei Schlügen unweit Haibach gesucht werden muß. Über das Kastell Lentia
(Linz) erreichte sie dann Lauriacum (Lorch bei Enns), einen bedeutenden Platz, wiewohl er sich gleich Regensburg wahrscheinlich nie zur Stadt anfschwang. Südwestlich von Lauriacum lag an der Traun die Colonia Aurelia Antoni-
niana Ovilava (das heutige Wels).
Bon dort nach Juvavum war die
Straße geführt wie heute und berührte die Stationen Tergolape (vielleicht
Schwanstadt),
Laciaca
(Frankenmarkt)
und
Tarnanto,
weni'g
unterhalb
Neumarkt beim Wallersee. Sehr bevölkert war das Salzkammergut. Neben diesen Hauptstraßen fehlte es nicht an Verbindungen von mehr
örtlicher Bedeutung, wie denn von dem Municipium Teurnia oder Tibumia aus (St. Peter im Holz) sogar über die Krontauern ein Weg nach Gastein
führte, von dem man noch heute in einer „Heidenstraße" bei Malnitz un zweideutige Spsren erkennt.
Unter Mark Aurel trat in der Verwaltung beider Provinzen eine Änderung ein: jede erhielt nun eine Legion, Rätien die dritte, Concordia
27
8. Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen.
oder Italien, Norikum
die zweite, Italien, die vorher Pin hieß, und deren
Befehlshaber, die Legaten, vereinigten mit der militärischen auch die oberste
Zivilgewalt, führten daher den Titel Legatus pro praetore.
Diese Um
wandlung konnte nur dazu beitragen, den Gang der Romanisierung der Bevölkerung zu beschleunigen, sie bildete den wirksamsten Hebel hiezu.
7. Die Römerstratze. Don Hermann Lingg.O
1. Man spricht im Dorf noch oft von ihr, Der alten braus) int tiefen Walde, Sie zeige sich noch dort und hier, Am Feldweg und am Saum der Halde.
6. Mir ist, Kohorten schreiten dort Gepanzert nach dem Lagerwalle, (Es tönt der Kriegstribunen Wort Dom Turm her zu der Tuba Schalle.
2. Sie zieht herauf und steigt hinab, (Es weidet über ihr die Herde; An ihrer Seite manches Grab: So liegt sie drunten in der Erde.
7. Und eine Villa glänzt am Strom, Wo Kähne landen, Sklaven lärmen; Der Herr des Hauses seufzt nach Rom, Nach Tibur und nach Bajäs Thermen.
3. (Es führt ob ihr dahin der Steg: Der Pflüger mit dem Jochgespanne Geht über ihren Grund hinweg Und Wurzeln schlägt auf ihr die Tanne.
8. Mit Das Der
4. Der Römer hat sie einst gebaut Und ihr den Ruhm, die Pflicht, die Trauer, Der Gräber Urnen anvertraut Und seines Namens ew'ge Dauer.
9. Der Prätor naht, vom Volk umringt, Liktoren zieh'n, behelmte Reiter Und wie sich Bild mit Bild verschlingt, Am Tag traumwandelnd schreit' ich weiter.
5. Und heut', aus ferner Zeiten Nacht Bewegt es mich wie nahes Wehen, Ein Lichtstrahl, wie von selbst erwacht, Ein Augenblick wie Geistersehen.
10. Da plötzlich ruft ein Laut mich wach, Ein Erdgedröhn auf nahen Gleisen: Ich steh' am Kreuzweg; hier durchbrach Den Römerpfad der Pfad von Eisen.
Zur Grustkapelle draußen wallt, Trauerspenden ihrem Sohne Grab zu schmücken, die Gestalt tiefverschleierten Matrone.
11. Und donnernd rollt der Wagenzug Dorbei den alten Meilensteinen Wie Blitz des Jeus und Geisterflug, Der Erde Völker zu vereinen.
8. Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen,
Grundlegung der bayerischen Kirchenverfassung. Don Joseph Schlecht.')
Das Blut der heiligen Märtyrer hat Bayerns Boden befeuchtet, bevor ihn eines Bayern Fuß betrat. Die Basilika der hl. Afra in Augsburg, die *) Gedichte, 3. Band, S. 372 ff. Stuttgart 1869. I. G. Cotta. ') „Bayerns Kirchen-Provinzen", S. 1 ff. München 1902. Allgem. Verl.-Ges.
8. Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen.
28
Martyrergräber in Regensburg, die Verehrung des hl. Maximilian und Florian, die Bischofssitze zu Seben und Chur, die ja im 7. Jahrhunderte in baye
rischen Landen lagen, weisen in die Zeiten Diokletians zurück. Ist die Annahme richtig, daß die Bayern die Stammesbrüder der Markomannen sind — und sie findet kaum mehr einen Widerspruch — so lagen ihre ersten Siedelungen dicht
an den Grenzen
des Römerreiches mitten in jenem an grünen Tälern so
reichen Waldgebirge, das sich von der Donau zu den Quellbächen des Mains erstreckt und gegen die Elbe hin in fiuchtbaren Geländen absällt. Dann blühte aber auch des christlichen Glaubens zarte Blume schon zu Ende des vierten
Jahrhunderts im dunklen Hochwald, vom sonnigen Süden in Königin Fritigils Sie schickte ihre Gesandtschaft zu Mailands großem
Garten herüberverpflanzt.
Bischöfe, zum hl. Ambrosius, und bat ihn um schriftliche Unterweisung in der
christlichen Religion.
Und als sie seinen Brief, der einen förmlichen Kate
chismus in sich schloß, erhalten hatte, eilte sie selbst nach Mailand; aber welcher Schmerz ergriff sie, als sie dort hörte, daß der Gottcsmann inzwischen aus
dem Leben geschieden seil Auch vom Westen durch das völlig christliche Pannonien und aus Norikum, wo der hl. Severin machtvoll wirkte, empfing das jugendkräftige Volk des Christen
tums Samen. Der Name für den grundlegenden Religionsbegriff — Kirche — stammt aus dem Griechischen und die hellenische Bezeichnung für den
fünften Wochentag mußte Donars Herrlichkeit verdrängen.
Der Arianismus,
von dem ein Teil des Volkes angesteckt erscheint und gegen welchen noch die fränkischen Mönche Eustasius (gest. 625) und Agilus (gest. 636) zu kämpfen
hatten, mag auf diesem Wege und durch der Goten Nachbarschaft nach Bayern getragen worden sein.
Aber die Dynastie, abhängig vom Frankenreiche, war
katholisch und wie eine Lichtgestalt tritt uns aus des jungen Reiches Frührot das berühmte Königskind Theudelinde entgegen, Garibalds Tochter und seit 589 die Gemahlin des Langobardenkönigs Autharis, verständig, kunstsinnig
und fromm, im brieflichen Verkehr mit Papst Gregor dem Großen, der sie hoch schätzte und ihre Bemühungen die Langobarden vom Arianismus zur Kirche
zurückzuführen unterstützte.
Dann kam die Zeit, wo der hl. Valentin unter
den Bayern wirkte, die jetzt über Donau und Inn in die Gebirgstäler der
Alpen vorgedrungen waren, nicht die Römer vor sich hertreibend, wie ein Jahr hundert vorher Odoaker es getan, sondern im Frieden mit und neben ihnen wohnend. Heute noch erinnern die nach den Siedelungen der Welschen be
nannten Seen und Ortschaften, die sich von Traunwalchen und Straßwalchen
bis nach Wahl bei Mittenwald erstrecken, an den geschlossenen Frieden.
Seit
der
Mitte
des
7. Jahrhunderts
unter
fränkischer
Oberherr
schaft, wurde die Masse des bayerischen Volkes christlich, wenn auch wider strebend, so doch nicht aus Zwang; und obwohl der Merowingerkönig Dagobert (629—634) geboten hatte, daß jeder in seinem Reiche sich taufen lassen müsse, stehen doch immer noch unfern den Zellen der Mönche
und
8. Ausbreitung deS Christentums in den bayerischen Landen.
29
den Holzkirchen der Priester die unvergessenen Opfersteine der alten Götter
und das Hauptfest des Christentums muß sich nach der Frühlingsgottheit Ostara benennen lassen.
Damals reichten des Landes Grenzen vom Lech bis zur Enns, von den Kuppen des Bayerischen Waldes bis an die italienischen Seen; noch int Jahre
680 hält der bayerische Graf in Bozen Gericht. Die jetzige Rheinpfalz, die übrigens damals nicht zll Bayern gehörte, war längst völlig christlich. Aus
dem ehrwürdigen Wornis kam um 695 Bischof Ruprecht, ward von Herzog Theodo in Regensburg festgehalten, predigte, taufte, weihte Priester und
gründete dann auf den Ruinen der ausgedehnten Römerstadt Juvavia bei der Zelle des hl. Maximus die Abtei St. Peter und das Bistum Salzburg,
von nun an „eine Hauptburg des Christentums in bayerischen Auf ihn folgen andere Glaubensboten aus dem Frankenreiche:
Landen".
der Missionsbischof St. Erhard, dem in Regensburg die älteste christliche Kult stätte geweiht ist, St. Emmeram, „demütig gegen die Niedrigen, gegen die
Mächtigen aber mit Löwenmut sich aufrichtend", und zuletzt, ein Opfer seines hl. Berufes, St. Korbinian, nicht minder energisch im steten Kampfe gegen die
das Christentum befleckenden heidnischen Unsitten, der Begründer Freisings. So ward
an
den Hauptplätzen
des Landes,
wo
die
Herzoge Hof
hielten, das religiöse Leben erweckt und gepflegt, außen int „saatgrünen Lande"
aber erhoben sich bereits Kirchen und Pfarreien, waren klösterliche Nieder lassungen und einzelne größere Abteien gegründet, die Frucht der emsigen Arbeit
angelsächsischer Mönche, die beim Volke wegen ihrer milden, oft nur allzu nach sichtigen Lehre großer Beliebtheit sich erfreuten, manchmal aber auch, wie Kilian und seine Gefährten, wie Marin und Annian, ihren Opfermut mit dem Blute
besiegelten. Aber immer noch fehlte dieser Kirche die geschlossene Einheit, die feste Organisation.
Darum machte sich im Jahre 716 Herzog Theodo selber auf
den Weg nach dem Mittelpunkte der Christenheit, um mit dem eifrigen Papste
Gregor II. die notwendigen Schritte zu beraten, welche der Kirche seines Landes ein festeres Gefüge und damit zugleich seiner Herrschaft kräftige Unter lage und Stütze bieten sollten. Mit großen Ehren empfing Rom den bayerischen Herrscher; war er doch der erste seines Geschlechtes, welcher die Schwellen der
Apostclfürsten verehrend aufsuchte.
Zwei Jahre später sandte derselbe Papst
den großen angelsächsischen Mönch Wynfrith in das Frankenreich, der wie kein
anderer die Gabe besaß die Geister zu lenken und die edlen und rauhen Herzen
der Deutschen für des Glaubens Lehre und Gottes Gebot empfänglich zu machen. Aber es vergehen noch zwei Jahrzehnte, bis Bonifatius die Pläne jenes edlen bayerischen Fürsten ausführen kann. — Ihn umgibt ein Kranz wahrhaft schöner Seelen, seine Helfer und Mitarbeiter, Burchhard in Würzburg, Willi
bald in Eichstätt, Wynnebald in Thüringen, sein Schüler Sturmi, eines bayeri schen Grafen Sohn, sowie die frommen Frauen Lioba in
Tauberbischofs-
8. Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen.
30
heim, Walburga in Heidenheim, Thekla in Kitzingen; sie alle wetteifern nicht
nur die Lehren des Evangeliums sondern auch die Segnungen der christlichen Kultur in Bayerns fruchtbaren Gefilden zu verbreiten. Die Herzoge Theodebert und Hugibert nehmen die Mönche und Nonnen dankbar auf und über lassen ihnen Grund und Boden; die Grafen des Landes machen ihre Stiftungen zu der friedlichen Stätte, wo Aus. den Tannenwipfeln ragte Eines Türmleins spitzer Kegel, First und Giebel eines Klosters Nach Sankt Denediktus' Regel.
($. Weber.)
Der stolze, kühne Herzog Oatilo, ein entschlossener Gegner der Franken, ein Mann des Schwertes und des Rates, förderte das Werk der Glaubens boten:
„Er begann die Kirchen Gottes zu bauen und zu bereichern und die
Diener des höchsten Herrn zu lieben."
Für das innerlich religiöse, jugendfrische Volk gibt es aber kein höheres Fest, als wenn wieder ein neues Gotteshaus
mit weißem Giebel in die Lande winkt und der Bischof kommt es einzuweihen. Da erscheint im Jahre 739 Bonifatius als päpstlicher Legat, durchreist die
Gaue, grenzt die Kirchensprengel ab und gibt ihnen würdige Vorsteher:
in
Freising wird Korbinians Bruder Erimbert, in Regensburg Gaubald, in Salz
burg der Angelsachse Johannes eingesetzt. Vivilo von Lorch verlegt seinen Sitz nach dem sicheren Passau; wenige Jahre später kann der Legat seinen Freund Burchhard für Würzburg und seinen Verwandten Willibald für Eich stätt aufftellen, beide längst mit der bischöflichen Würde bekleidet. So hatte Bonifatius die Grundlegung
der
bayerischen Kirchenverfassung
im engsten
Anschlüsse an Rom durchgeführt, die apostolische Nachfolge der Bischöfe gesichert. — Das ist sein und Herzog Oatilos Verdienst. Im Jahre 747 wurde Bonifatius Erzbischof von Mainz und das von ihm bebaute Missionsgebiet in Alamannien und Bayern samt den alten Diö
zesen Augsburg und Chur, die einst zu Aquileja und zu Mailand gehört hatten, in den Verband dieser großen, die gesamten Rheinlande bis gegen
Tongern umfassenden Kirchenprovinz ausgenommen. Es begann der Berzweiflungskampf der Agilolfinger gegen die fränkische Oberherrschaft, aber die Kirche war geborgen. Nach der Absetzung des „Königs" Tassilo III., für dessen Seelenruhe heute noch in manchen der vielen von ihm gestifteten Klöster
gebetet wird,
konnte Karl
der Große einen
festeren Zusammenschluß
der
bayerischen Kirche ins Auge fassen und 798, zehn Jahre nach Tassilos Sturz, errichtete Papst Leo III. im Einverständnisse
mit dem siegreichen Herrscher
die neue Kirchenprovinz mit dem Sitze in Salzburg, welches durch
den eifrigen hl. Virgil und durch die Missionierung der Donau- und Alpen länder Pannonien und Karantanien große Bedeutung erlangt hatte; dem Erz bischof Arn und seinen Nachfolgern wurden die Sprengel von Regensburg, Freising, Passau und ©eben, das früher ebenfalls zu Aquileja gehört hatte.
8. Ausbreitung des Christentums in den bayerischen Landen.
31
unterstellt sowie das Bistum Neuburg a. D., das jedoch von nur kurzer Dauer war und bald wieder zu Augsburg und damit zur Mainzer Kirchen
provinz kam. Die neuen Kirchen und Abteien in Ungarn und Karantanien gehen
zumeist von Salzburg aus. Die letzten Karolinger residieren am liebsten in der alten Donaustadt Reganesburg; Karlmann nennt sich mit Vorliebe «König der Bayern" und haust in der Pfalz zu Ötting am Inn neben dem von ihm gestifteten Benediktinerkloster des Apostels Philippus, das durch die Kapelle der hl. Mutter Gottes eine so große Berühmtheit erlangt hat. Die Selbständigkeit Bayerns
ist untergegangen und die Versuche sie
wieder zu erringen, welche der sächsische Lehensherzog Heinrich der Zänker im Verein mit Bischof Abraham von Freising unternahm, scheiterten. Die Ungarn hatten inzwischen das Land mit den Trümmern der auf ihren Raubzügen zerstörten Kirchen und Klöster bedeckt und der edle Markgraf Luitpold war
mit den Besten des Landes im Kampfe gegen sie gefallen. Aber die Bistümer haben diesen und andere Stürme überlebt. Die Klöster blühten wieder empor
und es ist zum ehrenvollen Ruhmestitel der einheimischen Schyrenfürsten ge
worden, daß sie fromme, eifrige Gönner und Beschützer, keine habgierigen Minderer des Kirchengutes waren. Schenkten sie doch ihr Stammschloß zu Scheyern den Söhnen des hl. Benediktus zum Preise der hl. Jungfrau Maria, die in der Burgkapelle verehrt wurde, in welcher des „Zänkers" tugendreiches Töchterlein Gisela dem Könige und Apostel der Ungarn die Hand zum Ehe
bunde gereicht hatte.
Als ihr gleich frommer Bruder, Heinrich der Heilige, noch ein weiteres Bistum gründete, ward es keinem von den bestehenden Verbänden angegliedert, sondern dem hl. Stuhle unmittelbar untergeben. Als Abzeichen dieser Aus
nahme erhielt der Bischof von Bamberg das Pallium und der römische Stuhl behielt sich das Recht vor ihm Bestätigung und bischöfliche Weihe zu erteilen. Unter Kaiser Heinrich III. erlebte dann die bayerische Kirche ihre ruhm
reichsten Tage; denn aus ihrem Schoße bestiegen drei hochangesehene Bischöfe den Stuhl des hl. Petrus: Suidger von Bamberg nannte sich Klemens II. (1046—1047), Poppo von Brixen (natione Bojus) Damasus II. (1047—1048),
Gebhard von Eichstätt Viktor II. (1054—1057).
Der Mittelpunkt des geistigen
Lebens blieb Regensburg, wo der Eifer des großen Bischofs St. Wolfgang, der einst das Evangelium über Böhmen hinaus bis nach Ungarn getragen,
noch lange nachwirkte, wo von Geistlichen und Mönchen alle schönen Künste gepflegt wurden, so daß ein Zeitgenosse diese Stadt „das zweite Athen" nennt. Zur geistlichen Macht gesellt sich aber auch die weltliche; seit dem Ende des zehnten Jahrhunderts entwickelt sich schrittweise die politische Unabhängigkeit und Landeshoheit der Bischöfe, die ihren gesetzlichen Ausdruck findet in dem großen Frankfurter Privilegium des Kaisers Friedrich II. vom Jahre 1228.
Seitdem
erscheint das Schwert neben dem Krummstabe über dem bischöflichen Wappen.
8. Ausbreitung des Christentum- in den bayerischen Landen.
32
Die Regierungszeit der Welfen, von deren Freigebigkeit zahlreiche Stif tungen in Ottobeuren, Raittenbuch, Steingaden Zeugnis geben, bedeutet die Reform der bayerischen Kirche, deren Ruhm die Namen frommer, gelehrter,
tatkräftiger Männer wie Eberhard von Salzburg, f 1164, Hartmann von Brixen, t 1164, Otto von Freising, f 1158 zu Morimond, Geroch von Reichersberg, f 1169, verkünden. Ist doch auch der größte deutsche Epiker
des Mittelalters, der Sänger des heiligen Grals, bayerischen Stammes! Noch 1608 sah man in der Liebfrauenkirche zu Eschenbach im Bistum Eich stätt das Grabmal des sinnigen Ritters, der von heiligen Dingen so schön
gesungen, „daz leien mimt nie baz gesprach". Zu gleicher Zeit steht an der Spitze der Mainzer und zeitweilig auch der Salzburger Kirchenprovinz der große Staatsmann Erzbischof Konrad von Wittelsbach, der als Legat die
Sprengel des Landes in der Treue zum hl. Stuhl erhält, während sein Bruder Otto I. durch die Belehnung Barbarossas i. I. 1180 die Herrschaft
der neuen, jetzt noch grünenden Dynastie begründet. Freilich war das neue Herzogtum an Gebiet bedeutend geschmälert, seit Kaiser Friedrich I. die Ostmark als selbständiges Herzogtum an die Baben berger übergeben hatte. Aber auch die Kirchenprovinz Salzburg hatte sich Einschränkungen gefallen lassen müssen, indem Böhmen schon im Jahre
973 von Regensburg losgettennt und ein eigenes Bistum Prag
worden
war,
das
an Mainz
angeschlossen wurde.
errichtet
Ebenso löste König
Stephan I. von Ungarn im Einverständnisse mit Papst Sylvester II. da» durch, daß er die Hierarchie in Ungarn mit dem Mittelpunkte in Gran auftichtete, die Tochter von der bayerischen Mutterkirche und machte sie selb
ständig. Immerhin war das Gebiet des Erzbischofs von Salzburg auch jetzt noch viel zu groß, als daß er es selbst hätte gebührend verwalten können.
Schon 1072 hatte deshalb Gebhard der Heilige, unterstützt von der seligen
Gräfin Hemma und mit Genehmigung des Papstes Alexander II.,
für die
Gebirgslande der südlichen Steiermark und Kärntens ein eigenes Bistum mit
dem Sitze in Gurk errichtet, dessen Besetzung er sich und seinen Nachfolgern vorbehielt. In ähnlicher Weise erfolgte nun durch den frommen Eberhard II. die Gründung der drei weiteren Bistümer Chiemsee (1216), Seckau (1218)
und Lavant (1228).
Vom hl. Stuhle wurden diese Stiftungen gutgeheißen
und Eberhard dafür mit der Würde eines ständigen Legaten und dem Vorrechte den Purpur zu trogen ausgezeichnet (1232),
ein Privileg, dessen sich
seine Nachfolger heute noch erfreuen. Von den neuen Sprengeln lag nur das Bistum Chiemsee zwar nicht
ganz, aber doch zumeist auf bayerischem Boden. Auf den durch die weite, abgrundtiefe Wasserfläche gegen feindliche Überfälle so gut gesicherten Inseln hatten schon unter den Agilolfingern zwei Klöster geblüht und in dem einen, für Männer, des hl. Virgil von Salzburg gelehrter Freund, der Schotte
9. Der Sturz Tassilos.
33
Dobda, als Abt Wissenschaft und fromme Zucht gelehrt, während in dem der Nonnen, einer Stiftung Tassilos III., die büßende Jrmingard, die Tochter Ludwigs des Deutschen, als Vorsteherin gepriesen und als Selige verehrt
Indessen war hier im Jahre 1215 die alte Zucht verfallen und der
wird.
Erzbischof dachte das Frauenstift aufzulösen und dessen Besitz zur Gründung
eines Hilfsbistums zu verwenden, aber der Papst bestimmte Herrenwörth, seit 1130 ein Chorherrenstift, zum Mittelpunkt des kleinen Sprengels, der nur
zehn, allerdings ausgedehnte und ins Gebirge tief hineinreichende Pfarreien umfaßte, und ernannte den jeweiligen Propst zum Bischof. Da er aber vom Erzbischof von Salzburg eingesetzt und belehnt wurde, erlangte er nie die Stellung eines Reichsfürsten.
auch
Um dieselbe Zeit hat Kaiser Friedrich II. dem Hause Wittelsbach die schöne, fruchtbare Rheinpfalz als erbliches Lehen verliehen und
seit 1214 herrscht nun auch der Bischof von Speyer über bayerisches ^Gebiet gleich dem von Eichstätt, während jene von Würzburg und Bamberg mehr als Grenznachbarn, Lehensherren und Schutzvögte in Bettacht kommen. In dessen wird auch der Bamberger noch bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zu den Landtagen der Herzoge von Bayern
fürsten von Salzburg, Regensburg, Freising,
entboten,
gleich den Kirchen
Eichstätt, Augsburg, Passau
und Brixen, welche diesem Rufe bis 1244 Folge leisten, ein Zeichen, die völlige politische Unabhängigkeit von der herzoglichen
daß
Gewalt erst jetzt
errungen wurde.
9. Der Sturz Tassilos. Don M. Doeberl*
Um die Wende des 5. und 6. Jahrhunderts begegnen uns die Bayern in ihren neuen Wohnsitzen südlich der Donau. Ihr Gebiet erstreckte sich damals
zwischen Lech und Enns, Alpen und Donau. Bald nach ihrer Einwanderung er scheinen sie in- politischer Abhängigkeit vom merowingischen Frankenreich. Wann und wie diese Abhängigkeit begann, erzählt keine Quelle; sicher aber ist, daß schon der Frankenkönig Theudebert (534—48) eine Art Oberherrschaft über sie
ausübte Der bayerische Stammes st aat erscheint seit seinem Auftreten in der Geschichte unter Herzogen aus dem Hause der Agilolfinger. Die ge schichtlich sicher beglaubigten Herzoge aus diesem Geschlechte sind: in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts Garibald I. und Tassilo I.; in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts Garibald II.; um das Jahr 700 Herzog Theodo mit seinen Söhnen Theobald, Theodebert und Grimoald und (dem Sohne oder Enkel) Tassilo II.; in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts Hugibert und Oatilo, endlich von 748—88 Tassilo III.
') Dgl. „Entwicklungsgeschichte Bayern-" I. S. 67 ff. München 1906. Oldenbourg. Kronseder, Lesebuch zur Geschickte Bauern«.
Z
9. Der Sturz Tassilos.
34
Der letzte Agilolfinger, Tassilo III., verließ auf dem vierten Feldzuge gegen den Herzog Waifar von Aquitanien daS Heer des Frankenkönigs Pippin und regierte seitdem wie ein völlig selbständiger Fürst. Aber unter dem Sohne Pippins, Karl
dem Großen, brach die Katastrophe über ihn herein: er und sein Haus wurden entsetzt, Bayern wurde eine fränkische Provinz.
„Die Katastrophe Tassilos ist keine Tragödie.
Nie ist eine Empörung so
töricht und knabenhaft geplant und ins Werk gesetzt worden als die seine; er
verstand nicht den rechten Augenblick zu ergreifen, in dem sein Abfall Aussicht auf Erfolg gehabt hätte; er verstand ebensowenig im ungünstigen Augenblick den Erfolg zu erzwingen, indem er alles aufs Spiel setzte. Wo er hätte
handeln sollen, zögerte er und als seine Sache bereits verloren war, handelte er." „Das schlimmste Urteil über ihn ist seine Begnadigung; denn sie beweist, daß ihn Karl aufs äußerste gering schätzte."
So lautet das strengste Verdikt, das über Tassilo III. und seine Regierung
gefällt worden ist. Sehen wir zu, ob das Urteil über die Schuld Tassilos an seinem Verhängnis ein gerechtes ist. Die oberste Pflicht des Geschicht schreibers ist nicht anzuklagen, sondern zu verstehen. Seit dem Jahre 763 war der Bayernherzog Tassilo tatsächlich unab hängig.
Aber diese Unabhängigkeit war auf keiner festen Grundlage aufgebaut.
Bayern war zu klein, um aus eigenen Mitteln innerhalb des europäischen Staatensystems seine Selbständigkeit auftechtzuerhalten, namentlich einer zu
greifenden Nachbarmacht gegenüber — wenn man den Franken zum Nachbarn, aber nicht zum Freunde hatte.
Tassilo dankte nur einer besonders günstigen
Konstellatton der auswärtigen Verhältnisse die lange Auftechterhaltung seiner Unabhängigkeit.
Der Aufftand Aquitaniens gegen das Frankenreich, der Zwist im karolin gischen Königshause zwischen den Brüdern Karl (dem Großen) und Karlmann, der Rückhalt an dem Papste und dem verwandten Langobardenkönige waren,
ich möchte sagen, die Lebensbedingungen der bayerischen Selbständigkeit. Den Traditionen des karolingischen Hauses entsprach aber das Verhältnis Bayerns zum Frankenreiche keineswegs. Die Karolinger arbeiteten von Anfang
an, seit Pippin dem Mittleren und Karl Martell, bewußt auf das Ziel hin,
die westgermanischen Stämme, die von Chlodwig und dessen Söhnen in die Unterordnung unter das Frankenreich gebracht worden waren, in das alte,
wenn möglich in ein noch sttafferes Abhängigkeitsverhältnis zurückzusühren. Karl der Große ist den alten Traditionen seines Hauses nicht bloß treu ge blieben, in ihm hat — modern ausgedrückt — der karolingische Imperialismus seinen festesten und folgerichtigsten Vertteter gefunden. Es ist zu erwarten, daß er zu diesen Traditionen auch Bayern gegenüber zurückkehren werde von
dem Augenblicke an, da er sich der Fesseln entledigt, die ihm Tassilo gegen über die Hände gebunden haben. Hat doch Karl der Große später, nach der Einverleibung Bayerns ins Frankenreich, ausdrücklich erklärt, er habe nur zu-
9. Der Sturz Tassilos.
35
rückgewonnen, was die bösen Menschen Oatilo und Tassilo dem Reiche der Franken zeitweise entfremdet hätten.
Bereits ist der Widerstand Aquitaniens endgültig gebrochen. Karlmann ist gestorben und damit in der Person Karls des Großen die Einheit des
fränkischen Reiches wieder hergestellt.
Bereits ist auch das Langobardenreich
der Frankenherrschaft einverleibt und die römische Kurie in das engste Ver hältnis zu Karl dem Großen getreten. Selbst der Widerstand der bisher freien Sachsen ist so weit zurückgedämmt, daß man an die Einteilung des Landes in Missionsbezirke wie an die Einführung der ftänkischen Grafschafts verfassung denken kann.
Nunmehr erachtet Karl den Zeitpunkt gekommen um
Damit war dem baye rischen Herzogtum das Schicksal gesprochen, der Herzog konnte es durch sein Verhalten wohl beschleunigen, aber — bei der größten Befähigung — nicht
an die Lösung der bayerischen Frage heranzutteten.
aufhalten. Ostern 781 weilte Karl am päpstlichen Hofe. Eben hatte er dem langobardischen Reiche in seinem Sohne Pippin einen König gegeben und er suchte diese Neuordnung zu sichern gegen Angriffe im Norden wie im Süden. Das Ergebnis der in Rom zwischen König und Papst gepflogenen Verhandlungen
war die Abordnung einer gemeinsamen Gesandtschaft an Tassilo, um den Herzog an den Eid zu erinnern, den er Pippin, dessen Söhnen und den Franken
im Jahre 757 zu Compiegne geschworen habe. Völlig isoliert, jedes Rückhalts beraubt, kann Tassilo gegenüber dem päpstlich-fränkischen Bündnis an einen bewaffneten Widerstand nicht denken; hatte er ja wenige Jahre vorher den stärkeren Langobarden dieser Koalition
erliegen sehen. Wohl aber fordert der Herzog, dem schon damals das Schicksal seines langvbardischen Schwiegervaters vorschweben mochte, Geiseln
für seine persönliche Sicherheit.
Er erscheint dann auf einer Reichsversammlung
zu Worms, erneuert hier den Vasalleneid und stellt zwölf auserlesene Geiseln als Unterpfand dafür, „daß er alles halte, was er dem König Pippin eidlich gelobt, in Sachen des Königs Karl und seiner Getreuen".
„Getreuen"
des
Frankenkönigs
sind
Mit den
die königlichen Vasallen in Bayern
gemeint, die eine dem Herzogtum gefährliche Zwitterstellung einnahmen; trotz der Selbständigkeit Tassilos hatten noch 778 königliche Vasallen aus Bayern
am ftänkischen Feldzug teilgenommen. In Bayern herrschte nach dem Tage von Worms Stille; es war die Stille vor dem Gewttter.
Einzelne Vorgänge zeugten von der zunehmenden
Spannung. 785 kam es im Süden, bei Bozen, zu einem blutigen Zusam menstoß zwischen Bayern und Franken. Es findet sich kein Beleg, daß den
Herzog eine Schuld traf; es hat eher den Anschein, daß der Befehlshaber der Franken, Hrodbert, den Kampf auf eigene Faust unternahm. Ebenso wenig findet sich ein Beleg, daß der Herzog der Auflehnung seines Schwagers Arichs von Benevent gegen den Frankenkönig näherstand;
jedenfalls hat er
3*
36
V. Der Sturz Tassilos.
ihm gegen Karl keine Hilfe geschickt.
Sicher beglaubigt aber sind die Reibe
reien zwischen dem herzoglichen Hofe und den fränkisch gesinnten Mitgliedern
des höheren Klerus, namentlich dem Bischof Arbeo von Freising. Sein Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl von Freising hat später nach der Katastrophe von 788 den Schleier etwas gelüftet: „Tassilo und seine Gemahlin Liutbirga
hätten der Freisinger Kirche viele Gotteshäuser
entzogen aus Unwillen über den Bischof Arbeo, den sie beschuldigten, daß er
dem König Karl und den Franken treuer sei als ihnen." tiefer.
Der Grund lag
Als Ausfluß des germanischen Begriffes vom Eigentum an Grund
und Boden hatte sich in Bayern das Eigenkirchensystem, das Eigentum des Grundherrn an den von ihm gegründeten Kirchen, herausgebildet und im
Zusammenhang damit das Recht den Vorstand der Kirche zu bestellen.
Bischof
Arbeo von Freising suchte dieses Eigenkirchensystem zu zerstören und der alten kirchenrechtlichen Anschauung, daß die Bischöfe Eigentümer des gesamten Kirchenvermögens ihrer Diözese seien, Geltung zu verschaffen. Der Bischof
zwang die Eigenkirchenpriester die Kirchen an die Kathedralkirche zu übertragen. Auch die Grundherren selbst wurden veranlaßt ihre Eigenkirchen an die Kathedralkirche zu schenken. In vielen Fällen wurde das Ziel erreicht. Schwieriger war der Kampf gegen die Klöster. Die Bischöfe forderten Übergabe auch der klösterlichen Eigenkirchen in das bischöfliche Eigentum.
Sie forderten von den Mönchen namentlich Herausgabe der öffentlichen Kirchen und Einstellung ihrer Seelsorgetätigkeit. Die Bischöfe suchten und
sanden in dem Streite eine Stütze im Frankenreich, die Klöster suchten und fanden einen Rückhalt an der heimischen Dynastie.
Darüber kam es bei der
politischen Spannung zu einem schweren Konflikt. Die bischöfliche Partei beschuldigte den Herzog, namentlich aber die Herzogin Liutbirga der Feind
seligkeit gegen die Bischöfe, der Begünstigung der Klöster. Dos herzogliche Haus beschuldigte den Bischof von Freising fränkischer Gesinnung. Es kam ebenso zu Reibereien zwischen dem Herzog und den ins ftänkische Interesse gezogenen, dem Herzog zu Aufsehern gegebenen königlichen Vasallen in Bayern. Das ist nicht bloß zu schließen aus der warmen Fürsorge, mit
der Karl deren Interesse gegen das Herzogtum im Jahre 781 vertrat, sondern auch aus den späteren Ereignissen des Jahres 788. Vermutlich strebten diese Vasallen eine Stellung außer oder über der bayerischen Stammesverfassung
an und wurden in diesem Bestreben von den Franken ermuntert, die sichtlich ihre Aufgabe nicht in einer Versöhnung, sondern
in einer Verschärfung der
Gegensätze erblickten. Zugleich scheint die Forderung unbedingter Heeresfolge auf den Wider
stand des Herzogs gestoßen zu sein,
dessen Interessen wie früher so auch
damals auf dem avarisch-slavischen Kriegsschauplätze im Südostcn lagen. Unter diesen Verhältnissen ist es begreiflich, daß sich Tassilo zu Äußerungen hinreißen ließ: selbst wenn er zehn Söhne hätte, würde er sie lieber opfern
9. Der Sturz Tassilos.
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als die beschworenen Verträge fortbestehen lassen, lieber sterben als ein solches Leben führen. Doch in seiner Bedrängnis, unmittelbar vor der hereinbrechenden Kata
strophe ruft der Herzog
durch eine Gesandtschaft noch einmal die päpstliche
Der Augenblick schien günstig gewählt; eben damals (787)
Vermittelung an.
weilte Karl auf der Rückkehr vom Feldzug
gegen Benevent neuerdings in
Wirklich schien der Papst anfänglich entgegenzukommen.
Rom.
Doch Karl
hintertrieb das päpstliche Friedenswerk. In Anwesenheit des Papstes verlangte er von den Gesandten Übernahme gewisser Verpflichtungen. Die Erklärung
der Gesandten,
eine solche Bindung ginge über die ihnen erteilte Vollmacht
hinaus, gab dem Frankenkönig Gelegenheit den Bayernherzog als Störenfried hinzustellen. Nunmehr erklärte sich der Papst entschieden für das Recht des Frankenkönigs, ließ den Herzog Tassilo ermahnen dem König Karl und dem
Volke der Franken in allem gehorsam zu sein, damit es zu keinem Blut vergießen und zu keiner Verletzung seines Landes komme, bedrohte den Herzog mit dem Banne, wenn er die Pippin und Karl geschworenen Eide nicht halte, und machte ihn verantwortlich für all das Unglück, das er damit über Bayern
bringe; Karl aber und seine Franken sollten in ihrem Gewissen
von jeder
Schuld frei sein. Nach der Rückkehr ins Frankenreich ordnete Karl eine Gesandtschaft an Tassilo ab mit der Aufforderung dem Befehl des Papstes und seiner be schworenen Pflicht nachzukommen und sich vor dem König zu stellen. Tassilo,
der dem König nicht mehr traute, weigerte sich vor demselben zu erscheinen. Als aber Karl von drei Seiten her, von Süden, Westen und Norden, den
fränkischen Heerbann gegen Bayern fränkisch
aufmarschieren ließ, als nicht bloß
gesinnte Teil des Klerus und die
fränkisch
gesinnten
Lehensleute gegen den Herzog Partei ergriffen, als die Drohung päpstlichen Bann
auch unter der übrigen Bevölkerung zu
der
königlichen mit dem
wirken begann,
noch einmal sein Heil in einer vollständigen Unter werfung unter den Frankenkönig. Am 3. Oktober 787 stellte er sich im Lager suchte
der Herzog
Karls auf dem Lechfelde. Er mußte sich in allem schuldig bekennen und sein Herzogtum als verwirkt dem Frankenkönig symbolisch (unter Überreichung eines Stabes) auflassen.
Eide zurück.
Als Lehen erhielt er es nach Erneuerung der früheren
Fortan ist nicht bloß der Herzog Vasall, auch sein Herzogtum
ist ein Lehen des Frankenkönigs.
Bereits tritt Karl in unmittelbare Verbin
dung mit den Untertanen des Herzogs; das gesamte Volk der bayerischen Lande muß dem Frankenkönig den Treueid leisten. Zugleich wurde dem
Herzog die Stellung weiterer zwölf Geiseln auferlegt,
darunter des eigenen
Sohnes, den er bereits zum Mitregenten angenommen hatte. Oktober des Jahres 787.
Das war im
Im Sommer des folgenden Jahres fand ein Reichstag zu Ingelheim statt.
Wie die anderen königlichen Vasallen findet sich auch der Bayernherzog
9. Der Sturz Tassilos.
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ein.
In offener Versammlung wird er entwaffnet und festgenommen. Königs
boten eilen nach Bayern und schleppen die Gattin, die Söhne, die Töchter, das zahlreiche Gesinde samt dem herzoglichen Schatze nach Ingelheim. Der Herzog, so lautete die Anklage, habe mit den Avaren verräterische Verbin dungen angeknüpst, er habe des Königs Vasallen zu verderben
gesucht, er
habe seine Untertanen ermahnt dem Frankenkönig den Treueid nur mit einem hinterlistigen Vorbehalt zu schwören, er habe hochverräterische Reden geführt. Als Ankläger bezeichnet der offizielle Berichterstatter „dem König getreue
Bajuwaren". Es sind zweifellos die ins fränkische Interesse gezogenen könig lichen Vasallen in Bayern; die Anklage stammt also aus dem Munde der
seit Jahren erbitterten Gegner des Herzogs. Anklage und Verfahren erregen die schwersten Bedenken. Nicht der Herzog erscheint als der Dränger, der d»rch sein Verhalten die Katastrophe heraufbeschwört, sondern der König, der
den Herzog beseitigen will; die königlichen Vasallen in Bayern sind die Werkzeuge in fränkischen Diensten. Der Eindruck der Mache wird noch erhöht durch das Urteil selbst. Um verurteilen zu können, greift man zurück auf das Vergehen Tassilos gegen König Pippin, erinnert man sich noch zu guter
Stunde,
daß sich Tassilo vor 25 (!) Jahren gegen Pippin
der Harisliz
(Desertion) schuldig gemacht habe. Und auf Grund dieser längst verjährten und vergessenen Schuld wird er wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Doch die „Gnade" des Frankenkönigs verwandelt die Todesstrafe in lebens
längliche
Einschließung in ein Kloster.
Mit Mühe ringt der unglückliche
Herzog dem Frankenkönig die weitere Gnade ab, daß er nicht schon in Ingel heim vor versammeltem Hof, sondern erst in St. Goar am Rhein zum Mönche geschoren wird, um dann im Kloster Jumieges (an der Mündung der
Seine), später int Kloster Lorsch (bei Worms) interniert
gleiche Schicksal traf die Familie des Herzogs.
zu werden.
Das
Die Söhne wurden geschoren,
Gemahlin und Töchter gezwungen den Schleier zu nehmen;
getrennt von
einander endeten sie hinter der Klostermauer. Die Bayern aber — nach offiziellem Berichte seien es wenige gewesen — die sich nicht ruhig in die neue Ordnung fügen konnten, wurden „ins Elend geschickt".
Bayern scheint aber trotzdem nicht sobald zur Ruhe gekommen zu sein.
Die Regensburger Verschwörung von 792 scheint unter ihren Mitgliedern auch altergebene Anhänger des agilolfingischen Hauses gezählt zu haben. So wird denn, um die Gemüter zu beruhigen und dem Verfahren von 788 den Schein der Gerechtigkeit zu geben, Tassilo noch einmal aus der Enge der Klosterzelle hervorgeholt und muß auf einer der glänzendsten Versammlungen, die unter Karl dem Großen gehalten wurden, auf der Reichsversammlung zu Frank
furt 794, um Verzeihung bitten für all das, was er unter Pippin und Karl gegen den König und das Volk der Franken verbrochen, und erklären, daß er
allen Groll wegen des Geschehenen aufgebe, endlich für sich und seine Kinder Drei Exemplare
allen Ansprüchen auf das Herzogtum endgültig entsagen.
9. Der Sturz Tassilos.
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wurden von der Abdikationsurkunde ausgefertigt, eines für den König, eines für das Kloster des Herzogs, eines wird in der Kapelle des Palastes, im
Noch empfiehlt der unglückliche Herzog seine Kinder
Reichsarchiv, hinterlegt.
der Gnade des Siegers, seitdem ist er und seine ganze Familie für uns ver schollen; wir kennen nur seinen Sterbetag (11. Dezember), nicht sein Todesjahr,
nicht einmal mit Bestimmtheit den Sterbeort. gefunden wie Paulus Diaconus,
Bayern hat keinen Geschichtschreiber
der den Griffel aus der Hand legte, als er den Untergang des langobardischen Königshauses schildern sollte.
an
der Vernichtung
In Bayern haben sich sogar die eigenen Großen
des agilolfingischen Herzogs beteiligt.
wurde der letzte Agilolfinger nicht.
und
im Volke.
Dort
beging
Doch vergessen
Das Andenken lebte fort in den Klöstern
man jährlich den Sterbetag des freigebigen
Stifters, hier ließ man den letzten Agilolfinger in blutiger Feldschlacht erliegen. Auf Befehl des Siegers wird er nach der Sage geblendet, auf Bitten der Fürsten aber begnadigt und ihm die Freiheit zurückgegebcn.
er nach dem Kloster Lorsch.
Unerkannt kommt
Hier sieht der Frankenkönig während einer nächt
lichen Andacht in der Kirche, wie der unbekannte Blinde von der Hand eines Engels von Altar zu Altar geleitet wird.
Erst im Todesfieber enthüllt Tassilo
seine Herkunft.
Tassilo verdient nicht weniger unsere Achtung als der Sachse Widukind.
Der Unbestand, den er vielleicht zuletzt zeigte, ist nicht einem schwankenden
Charakter zuzuschreibcn, sondern einer unseligen Verkettung der Verhältnisse. Die Verurteilung, die Tassilo in der Geschichte erfahren, geht auf den Bericht der annales Laurissenses maiores zurück und doch ergibt eine Prüfung der Annalen, daß sie von Anfang bis zu Ende die Tendenz verfolgen die Handlungs-
weise des Frankenkönigs zu rechtfertigen.
Je niehr Worte der fränkische Be
richterstatter macht, desto mehr verrät sich das böse Gewissen, die Schwäche
der zu verteidigenden Sache; der Bericht macht den Eindruck einer bestellten Arbeit.
Unter diesem Gesichtspunkt ist auch das angebliche Geständnis Tassilos
zu würdigen.
Der Bayernherzog wird nicht frei von Schuld gewesen sein;
aber der letzte Grund seines Verhängnisses lag nicht in seiner Schuld, sondern in dem Bestand des bayerischen Herzogtums.
In seinem Schicksal liegt
eine Tragödie.
Tassilo ist nicht dem Mangel an Herrscherbefähigung erlegen — die innere Verwaltung Bayerns beweist das
Gegenteil — vielmehr den Mitteln eines
überlegenen Weltreiches, dem Willen einer alle Zeitgenossen überragenden und
erdrückenden Persönlichkeit. „Tassilo wurde später vor den König geladen und ihm nicht erlaubt
zurückzukehren."
Das sind die einzigen Worte, mit denen Einhard der für
Bayern wie für das Frankenreich so folgenschweren Ereignisse des Jahres 788 gedenkt.
Dieses Schweigen ist nicht minder vielsagend wie die Beredsamkeit
der Annalen.
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10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit drS bayerischen Stammes.
Karls Regierung ist reich an Gewalttaten.
Wie sehr man seinen schöpfe
rischen Geist, seine Willenskraft, seinen Unternehmungssinn bewundern mag, in einzelnen seiner politischen Maßregeln verrät er noch die Spuren altgermanischer
Barbarei. „Verschwunden hinter der Klostermauer" kehrt fast wie ein regel mäßiger Refrain in der Geschichte Karls des Großen wieder.
10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit des bayerischen Stammes, insbesondere aus dem Nordgau. Von M. Doeberl.')
Wie das Leben des einzelnen erst dann einen höheren Wert erlangt,
wenn er heraustritt aus dem engen und beengenden Kreise jener Tätigkeit,
die lediglich seiner Selbsterhaltung gewidmet ist, und sich in den Dienst einer größeren Gemeinschaft, in den Dienst einer höheren sittlichen Aufgabe stellt, so ist es auch mit dem Leben eines Volkes.
Eine höhere Mission erfüllt
ein Volk, wenn es entweder produktiv weiterarbeitet an der kulturellen Ent
wicklung der Menschheit, oder wenn es seine Nationalität und die über kommene Gesittung schützt gegen den Ansturm barbarischer Völker, noch mehr, wenn es ihm gelingt diese Kultur und diese Nationalität hinauszutragen
in
barbarische oder halbbarbarische Nachbarländer und zugleich Raum zu ge winnen für nachkommende Generationen. Eine Kulturaufgabe nach beiden
letztgenannten Richtungen hin ist vornehmlich zwei deutschen Stämmen zuge fallen, die an der Ostmark des Reiches saßen und so manche Charaktereigenschaft miteinander teilten, dem sächsischen und dem bayerischen, jenem im Nordosten, diesem im Südosten. Man hat mit Recht diese Kolonisation des
Ostens die größte Tat des deutschen Volkes genannt; mehr als die Hälfte des heute von Deutschen bewohnten Gebietes ist so gewonnen worden, die Wiege unserer beiden deutschen Großmächte stand nicht innerhalb der alten Gebiete des Reiches, sondern auf einem Felde, das erst bayerische
und sächsische Kulturarbeit erschlossen.
Der Sieg des Deutschtums auf dem ungeheuren Gebiete von der Elbe bis zum Peipussee in Rußland, auf der noch heute sogenannten „wendischen Ebene", ist das Werk der nordöstlichen Kolonisation. Aber diese Ausbreitung des
Deutschtums erfolgte erst im 12. und
13. Jahrhundert.
Damals, als im
Nordosten der deutsche Ritter und der deutsche Bauer, wie der deutsche Mönch
über die Elbe drangen,
klangen bereits vom bayerischen Kolonisationsgebiete,
vom Hofe der Babenberger Markgrafen, in die deutschen Lande
herüber die
Lieder und Weisen eines Ritters von Kürenberg, eines Reinmar des Alten, eines Walter von der Vogelweide.
Der bayerische Stamm ist eben am ftühesten
•) Vgl. Beilage der Allgem. Zeitung, München 1904, Nr. 141 und 142, und M. Doeberl „Entwicklungsgeschichte Bayerns" I. S. 123, 132 ff.
10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit des bayerischen Stammes.
41
vor die Losung seiner Kulturarbeit gestellt worden, schon im 8. Jahrhundert, als die Sachsen ihre heidnischen Götter noch gegen fränkisches Christentum verteidigten. Diese Kulturarbeit des bayerischen Stammes erstreckte sich über ein weites, wcchselreiches Gebiet: im Norden bis zu den dunkelbewaldeten Granit
massen des Fichtelgebirges, im Osten zu den weichen Wassern des Plattensees, im Süden, vorbei an hochragenden Firnen und tiefgründigen Schluchten, einer
seits zu den Steinwüsten des Karst, anderseits zu den Pforten des Landes, „wo die Zitrone blüht und das blaue Gewässer dämmert unter der Sonne Homers". Das Arbeitsfeld liegt vornehmlich in den heutigen deutsch-öster reichischen Ostalpenländern oder Jnnerösterreich,
in den Landen an der
mittleren Donau oder Niedcrö st erreich, in den Landen nördlich der oberen Donau entlang dem Böhmcrwalde, ans dem sogenannten Nordgau.
Das Ergebnis dieser mehrhundertjährigen Tätigkeit war die vorherrschende Geltung
des Deutschtums in Steiermark, Kärnten und Krain, die ausschließliche Herr schaft des Deutschtums in Niederösterreich, in der heutigen Oberpfalz, in Teilen von Mittel- und Oberfranken und im Egerlande.
nisation
griff aber
auch
über
Die bayerische Kolo
die politischen Grenzen deutscher Herrschaft
hinaus und gewann ausgedehnte Gebiete im nordöstlichen Italien, im west
lichen Ungarn, im südlichen Mähren, im südlichen und westlichen Böhmen.
*
*
*
Die zukunftsreichsten Markenländer, Niederösterreich und Jnnerösterreich,
sind dem bayerischen Staate verloren gegangen. Der Nordgau ist zum größeren Teile bei Bayern verblieben. Hier, auf dem Nordgau, begann die Kolonisation schon in der Zeit der letzten Agilolfinger: in der Gegend von Cham hatten die Mönche von St. Emmeram schon im 8. Jahrhundert großen Besitz, schon damals erstand hier die „cella apud Cliambe“ (Chammünster). Indes systematisch wurde die Kolonisation erst betrieben seit der markgräflichen Organi sierung des Landes durch Karl den Großen.
Bei ihrer Einwanderung hatten die Bayern von dem nördlich der Donau
gelegenen Lande nur ein südwestliches Stück in Besitz genommen.
Noch bedeckte
weitaus den größeren Teil des späteren Nordgaus Urwald, vom Bayerischen Wald im Südosten bis zur Pegnitz im Nordwesten, vom Fichtelgebirge im
Norden bis tief herab ins Nabtal.
Es genügt hinzuweisen auf die zahlreichen
späteren Ortsnamen auf reut, schwand, brand, hau, gesell, loh, Wald, sowie auf die Ausdehnung, welche die Urkunden dem Nordwald geben, und auf die örtliche Lage einzelner Rodklöster.
Innerhalb dieses Waldlandes saßen zerstreut Slaven, sowohl Sorbenwenden, die von Norden und Westen her vordrangen, als auch Tschechen, die von Osten her einwanderten, ganz besonders in den Flußtälern der Eger,
Wondreb und Nab.
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10. Kolonisierende und germanisierende Tätigkeit des bayerischen Stammes. Von Norden her waren die Slaven bis in die Gegend von Eichstätt einer
seits, von Premberg (B-A. Burglengenfeld) anderseits vorgedrungen. Von Osten her hatten sie zum mindesten den mittleren Regen erreicht; noch in der Karolingerzeit begegnen Slaven in der Gegend von Pösing bei Cham.
Hier nun setzt die bayerische Kolonisation ein und dringt Schritt für Schritt nach dem Norden vor, indem man teils die slavischen Siedelungen besetzt teils auf neugerodetem Boden deutsche Kolonistendörfer anlegt. Noch
in dem Kapitulare von 805 erscheint das uralte Premberg als Grenzpunkt deutschen Lebens. Gerade ein Jahrhundert später, 905, ist man über Nabburg hinaus bis an die Luhe vorgerückt; ein Vasall des Markgrafen Luitpold erhält hier eine Hufe, die vordem ein Slave besessen. Um die
Wende des 10. und 11. Jahrhunderts erreicht man die Waldnaab, einen der Quellflüsse der Nab; hier, in der Gegend von Falkenberg, Altneuhaus
und Schwarzenschwal, scheint die deutsche Vorwärtsbewegung einige Zeit halt
gemacht zu haben.
Aber noch in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts ge
winnt man dem Urwalde und der slavischen Rasse eines der schönsten deutschen
Länder ab, das zwischen dem Böhmerwalde, Fichtelgebirge und Erzgebirge hinziehende Egerland; bereits in einer Königsurkunde von 1061 erhalten Kunde nicht bloß von der Existenz der Stadt Eger sondern auch von Reichsstraße, die Eger mit Nürnberg verbindet. Am Schlüsse des 11.,
sich wir der am
Anfänge des 12. Jahrhunderts ist man bis zur Grenze des Schönbacher Ländchens (int heutigen Vogtland), bis zum Fleissenbache vorgerückt. Ja be reits
greift
die
Kolonisation
nach
dem
sogenannten
Regnitzlande
bei
Hof über. Es war ein gewaltiges Resultat bajuwarischer Kulturarbeit; von Premberg bis zur Waldfleinkette und bis in das Vogtland bei Aadors hinein erinnern heutzutage nur mehr slavische Orts- und Flußnamen daran, daß hier ehemals
Diese nationale Verschiebung vollzog sich teils durch deutsche Einwanderung teils durch Entnationalisierung der Slaven, nicht aber durch Slaven gesessen.
Vernichtung derselben. Daß in dem heutigen Sprachgebiet auch nach der bajuwarischen Einwanderung eine nicht unbedeutende slavische Bevölkerung zu
rückblieb, das beweist das Auftreten slavischer Personennamen in den Urkunden
noch des 13. und 14. Jahrhunderts und die Menge der slavischen Ortsnamen vorbajuwarischer Entstehung. Aber die Geschlossenheit der Ansiedelungen hält
die bajuwarische Kraft zusammen; nicht der Bayer wird zuletzt von dem Slaven assimiliert, sondern der Slave von dem Bayern. Auch hier geht wie in Inner- und in Niederösterreich die Kolonisation vom Großgrundbesitz aus. Bis an die Wende des 11. und 12. Jahr
hunderts sind die Führer vorwiegend Laiengewalten: die Krone, die Mark grafen, namentlich die babenbergischen, ferner die gräflichen und freiherrlichen
Geschlechter, wie die Sulzbacher, Leuchtenberger, die Herren von Velburg, Alten
dorf und Laber, endlich ganz besonders die zahlreichen Ministerialengeschlechter.
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11. Kloster Tegernsee.
Hat sich schon bisher auch die Kirche an dieser Kulturarbeit beteiligt, die bischöfliche Kirche von Regensburg mit den Mönchen von St. Emmeram in der Gegend von Cham, die bischöfliche Kirche von Eichstätt zwischen Altmühl
und Pegnitz, die bischöfliche Kirche von Bamberg seit den Schenkungen Hein richs des Heiligen zwischen Pegnitz, Regnitz und Vils: so bekommt das Koloni
sationswerk von geistlicher Seite her, während die Laienkräfte immer mehr auf den italienischen Boden abgezogen werden, neue Impulse durch die Klostergründungen der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Ensdorf, Michelfeld, Reichenbach, Speinshart, ganz besonders durch die Niederlassung der Zister
zienser zu Waldfassen. Gerade die Ordensvorschrift fern von den Wohn stätten weltlicher Personen ihren Sitz aufzuschlagen ließ sie mit Vorliebe Sumpfund Waldgegenden für ihre Siedelungen wählen.
Solche fanden sie vereinzelt in
Jnnerdeutschland, überreich aber waren an solchen die dünn bevölkerten slavische^ Lande. Waldsassen ist für den Nordgau dasselbe geworden, was das Zisterzienser kloster Marienzelle für Meißen, Dobrilugk für die Niederlausitz, Lehnin und Zinna für die Mark Brandenburg, Doberan für Mecklenburg, Leubus für Schlesien ge wesen ist.
Waldsassen bringt nicht bloß neues Leben in die innere Koloni
sation, in den Ausbau des dem Deutschtum bereits gewonnenen Bodens, es greift von Anfang an über die von der deutschen Kolonisation hier erreichte Siedlungsgrenze hinaus und gewinnt ausgedehnte slavische Gebiete dauernd
für deutschen Anbau und deutsche Kultur: im nordöstlichen Winkel der heutigen
Oberpfalz das Mähringer Ländchen, zwischen Erzgebirge und Egertal drei um
fangreiche Gebiete, das Schönbacher Ländchen, einen Distrikt um Chodau und Ellenbogen, endlich einen noch größeren zwischen Erzgeb.rge, Kaaden und Saaz; das hier von Waldsassener Mönchen angelegte Neudorf ist der erste deutsche
Dorfname in Böhmen. Hieran stößt das Arbeitsfeld des in einem Ausbau des Erzgebirges gegründeten und noch heute bestehenden Waldsassener Tochter klosters Ossegg, das seine Besitzungen bis Leitmeritz erstreckte. So hat Waldsassen mit seiner Ossegger Kolonie zwischen den Hängen
des Erzgebirges und dem Tal der Eger ein deutsches Siedlungs- und Sprach gebiet geschaffen.
11. Kloster Tegernsee. Don Max Fastlinger. ♦
Um das Jahr 500 n. Chr. sind die Bajuwaren aus Böhmen in das heutige Altbayern eingewandert. Sie ließen sich zuerst auf dem von Kelten
und Romanen angebauten, damals bereits verlassenen Boden nieder.
Weite
Gaue des Landes aber, jetzt größtenteils Eigentum der bayerischen Herzoge und Adeligen, lagen noch wüst und mit Urwald bedeckt da. Einmal seßhaft geworden
vermehrte sich die bayerische Bevölkerung sehr rasch.
Zu ihrer Ernährung war
neues Ackerland nötig, das nun aus den Sümpfen und Urwäldern gewonnen tverden mußte.
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11. Kloster Tegernsee.
Einer so schwierigen und umfangreichen Kulturarbeit jedoch waren die einzelnen Grundbesitzer nicht gewachsen.
Mit Aussicht auf raschen Erfolg konnte
damals nur eine im Mönchtum einheitlich geordnete und zahlreiche Arbeiterschaft
den Anbau ganzer Länderstriche wagen. Die Stiftung eines Klosters kam in jenen Zeiten einer wahren Großtat gleich; denn jedes Kloster bedeutete für seinen
weiten Umkreis einen Brennpunkt für das wirtschaftliche wie für das geistige
Leben.
Oatilo und Tassilo, die letzten bayerischen Herzoge aus dem Geschlechte der Agilolfinger, hatten ihr Land mit einem Netz von Klöstern überzogen. Mit ihnen wetteiferten die Edlinge, allen voran jene aus der Sippe der Housi, die so güterreich waren, daß man nach ihnen einen eigenen Gau, den Housigau, benannte.
Die Klöster Altomünster, Ilmmünster, Schlehdorf und Benedikt
beuern, im Housigau gelegen, sind Stiftungen dieser reichen bayerischen Adels sippe. Doch auch im Sundergau, im Gebiete der Mangfall, besaßen die Housi
nicht wenige Ländereien. Und gerade hier sollte durch ihren praktischen, religiösen Sinn ein Kloster erstehen, das an äußerem Glanz und geistigem Streben nicht bloß alle anderen Housiklöster übertraf sondern sogar manches herzogliche Kloster gleich von Anfang an in den Schatten stellte, das Kloster Tegernsee. Vor fast 1200 Jahren gehörten der Tegernsee und seine weitere Umgebung
zwei Brüdern aus der Housisippe, namens Adalbert und Otkar.
Der Welt
entsagend hatten die beiden beschlossen sich selbst samt ihrem Eigentum Gott zu weihen. Dicht am östlichen Seeufer erhoben sich. ihrem Willen
gemäß bald ein Kloster nach der Regel des hl. Benediktus und eine Kirche,
die später einen kostbaren Schatz, den aus Rom feierlich übertragenen Leib
des hl. Märtyrers Quirinus, bergen sollte. Als erstes Weihtum wurden St. Quirins Mönchen der fischreiche See, die Berge, Wälder und Sümpfe ringsum und der benachbarte fruchtbare Warngau überlassen; ferner erhielten sie Salzquellen zu Reichenhall und Weinberge bei Bozen. Mit dem Weihtum hatten die Tegernseer die übliche Verpflichtung über
nommen Sümpfe auszutrocknen und den Urwald zu roden. Am Nordufer des Sees breitete sich ein weites Moor aus. Da konnte man alsbald sehen, wie die Mönche das Gestrüpp ausbrannten, Gräben zogen um das Wasser abzuleiten, die Torfschollen zerstießen und umlegten und wie allmählich unter ihren nie rastenden Händen fette Wiesen und Weiden und die sogenannten Riederhöfe, dann Kailsried und Georgenried, Ortschaften bei Gmund gelegen, entstanden. Der nahe „Finsterwald", der schon durch den Namen seine frühere Wildnis
verrät, erdröhnte unter den Axthieben der Mönche. Erschien ihnen das Dickicht allzu groß, dann legten sie Feuer an und der Brand mußte die Arbeit der Menschenhände verrichten. Dicke Feuersäulen 'loderten zum Himmel empor, um dem Sonnenlicht den Zugang in die Waldesnacht zu bahnen und Platz für neue Siedelungen zu schaffen. Immer lichter wurde es im „Finster wald". Aus den Lichtungen aber schauten später Äcker und Wiesen, Gärten
4»
11. Kloster Tegernsee.
und Gehöfte
hervor, die
an Klosterhörige gegen Reichung eines jährlichen
am St. Quirinstag fälligen Zinses verpachtet wurden.
Einige vordem wilde
Bergbäche flössen jetzt zahm und gehorsam in künstlich hergestellten Rinnsalen und waren gezwungen Mühlen zu treiben. Durch das ganze der Kultur neu erschlossene Land zogen sich Straßen und Wege, Brücken und Stege.
Von den Höhen herunter grüßte da und dort eine Kirche oder Kapelle, er baut zur Ehre Gottes und jener Heiligen, unter deren Schutz die Mönche
ihre Kulturarbeiten gestellt hatten. Als Schützer solcher Kulturarbeiten aber wurden mit Vorliebe Heilige gewählt, denen die altchristliche Kunst das Bild
des Drachen garet.
beigegeben hat, wie St. Georg, St. Michael oder St. Mar
Der. Drache veranschaulicht
Satan, den Urheber alles Bösen, aller
Unfruchtbarkeit und aller Wildnis. Dumpffeuchte Moore und finstere Wälder
galten unseren Vorfahren als Wohnstätten Satans; hier hausten der Sage nach auch die Drachen, in deren Vernichtung der Hörnene Siegftied seine junge Kraft stählte.
ried
Nicht zufällig finden wir darum die Kirche in Georgen-
bei Gmund dem heiligen Georg,
die Kirche in Wald
bei Finsterwald
der heiligen Margaret geweiht; beide Ortschaften und Kirchen verdanken nämlich dem Kulturfleiß der Tegernseer Mönche ihre Entstehung. In Georgenried hatten sie also gleichsam den Moordrachen, in Wald den Walddrachen erlegt.
Zu dem so mühsam aus Moor und Urwald gewonnenen Neuland ge
sellten sich im Laufe der Zeit Ländereien, geschenkt aus Liebe zum Kloster
patron St. Quirinus und zwar so zahlreich,
daß bereits zu
Beginn
des
9. Jahrhunderts Tegernsee zu jenen Abteien des ftänkischen Reiches zählte,
die dem Kaiser außer Geschenken auch Kriegsdienste zu leisten hatten.
Die
Kriegsbereitschaft setzt für unser Kloster ein hochentwickeltes Handwerk voraus.
Ausdrücklich erwähnt denn auch die Klosterchronik Werkstätten und namentlich Schmiede und Drechsler. Für den tegernseeischen Salztransport aus Reichen
hall, für den Weintransport aus Tirol war eine Brücke und Lände am Inn
von größter Wichtigkeit. Schon im Jahre 795 sehen wir die alte Römer siedlung Pfunzen (— pons) bei Rosenheim im Besitze des Klosters. Noch in unseren Tagen heißt dort ein Platz die „Weinländ"; die Straße aber, die
von Rosenheim am Fuß des Irschenberg vorüber nach Tegernsee zieht, die Scheiblerstraße.
heißt
Ihren Namen trägt sie von den Scheiblern, d. h. von
den Fuhrleuten, welche zu Klosters Zeiten von Reichcnhall her über Pfunzen
kommend das in Scheiben gepreßte Salz nach Tegernsee führten. zum
Dank dem wirtschaftlichen Geschick der Quirinusmönche hatte sich bis 13. Jahrhundert das tegernseeische Klostergebiet zu zehn großen Wirt
schaftsämtern ausgegliedert. Warngau, der Hauptort des gleichnamigen Gaues, nahm als Stapelplatz die tegernseeischen Bodenerzeugnisse auf. Was
Kloster und klösterliche Meiereien davon entbehren konnten, wanderte zum Austausch oder Verkauf nach Holzkirchen auf den Kl ost er markt.
11. Kloster Tegernsee.
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Tegernsees Grundbesitz und Handel stellte im südlichen Bayern eine wirtschaftliche Großmacht dar. Wie eine agrarische Katastrophe mag es darum
gewirkt haben, als der Bayernherzog Arnulf zu Beginn des 10. Jahrhunderts
das tegernseeische Klostergut an sich zog, um mit demselben den kostspieligen Reiterdienst zu entschädigen, den seine Vasallen im Kriege gegen die Hunnen zu leisten hatten.
Nur 114 Hufen Landes waren den Mönchen verblieben.
Alsbald zerfiel auch des Klosters innere Ordnung. In die von den Mönchen verlassenen Zellen drangen die herzoglichen Jäger ein; das Münster des heiligen Quirinus widerhallte vom Gebelle der Jagdhunde. Zuletzt zerstörte
eine mächtige Feuersbrunst Kirche und Kloster.
Adalberts und Otkars herr
liche Stiftung lag in Trümmern. Ein Brennpunkt für die wirtschaftliche Kultur des südlichen Bayerlandes war erloschen, ein mächtiger wirtschaftlicher
Organismus war zerstört, doch nicht für immer.
Nach 70 Jahren gänzlicher
Verödung sollte neues Leben aus den Ruinen sproßen und Tegernsee zu einer zweiten und um so höheren Blüte gelangen, je mehr sich jetzt das geistige Leben in den Vordergrund drängte. Es war am 10. Juli 979, als Kaiser Otto IT. auf Bitten des Bayern
herzogs Otto die Wiederherstellung des Klosters und die Rückgabe der meisten früheren Klostergüter anordnete. Auch Ottos unmittelbare Nachfolger wendeten dem Kloster Tegernsee ihre königliche Gunst zu. Besonders gut bedachte es
Kaiser Heinrich II., indem er dem heiligen Quirinus unter anderm im handels reichen Regensburg eine Hofstatt und in der Ostmark kostbare Weinberge überließ. Heinrichs Gemahlin aber, die Kaiserin Kunigunde, spendete dem
Quirinusmünster ihr Brautkleid.
Das
daraus gefertigte Meßgewand pflegte
man alljährlich am Kunigundentag (3. März) beim feierlichen Gottesdienste zu
gebrauchen.
Die Kaiser Friedrich I. und Heinrich VI. hinwiederum statteten
das Kloster mit umfassenden Vorrechten aus, während ihm Papst Urban HI. (1185—1187) den Besitz mehrerer Gotteshäuser bestätigte.
So ward der feste, materielle Boden gewonnen, auf dem Wissenschaften
und Künste gedeihen konnten. Den Reigen jener Äbte, die sich um Förderung des geistigen Lebens im neu erstandenen Kloster am angelegentlichsten bemühten, eröffnet Abt Gozbert
(982—1001). Er war von St. Emmeram in Regensburg nach Tegernsee berufen worden um hier das Studium der klassischen Literatur wieder in Schwung zu bringen. Mit Vorliebe lasen damals die Tegernseer Klosterschüler Horatius,
Persius, Cicero, Boethius und Priscianus. Abt Beringer (1004—1012), wirkte an
Unter Gozberts Nachfolger, dem
der Klosterschule als Lehrer der
klassischen Literatur der Dichter Froumund, dem einige auch die Dichtung „Ruodlieb" zuschreiben. Mit Froumund blühte in Tegernsee Hrotroh, der
Philosoph. Voll innigen Dankes spricht um das Jahr 1067 der berühmte Mönch und "Mystiker Otloh über Tegernsee als den Ort, wo er sich die ersten Kenntnisse der Klassiker erworben habe. Zehn Lehrer wirkten zu Otlohs
11. Kloster Tegernsee.
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Zeiten in Tegernsee für den Unterricht der Jugend.
Unter Abt Rupert
(1155—1186) besingt der Dichter Metellus in klassischen Versen die Wunder des hl. Quirinus, Priester Werinher beglückt die fromme Welt mit einem anmutigen
Marienleben, geschrieben in deutscher Sprache.
Sein Buch schmückte Werinher
mit kostbarer Kleinmalerei, eine Kunstübung, die schon vor ihm Abt Ellinger
in dem berühmten Tegernseer Salbuch zu herrlicher Geltung gebracht hatte. In der Kunst der Glasmalerei behauptete Tegernsee, wenn diese Kunst
auch nicht bort erfunden ward, frühestens einen hervorragenden Platz. Ist doch von Abt Gozbert bekannt, daß er die bis dahin mit groben Tüchern verhängten
Kirchenfenster durch buntfarbige Glasgemälde ersetzen ließ.
Um das Jahr 1090
war das Kloster durch eine Feuersbrunst zerstört worden.
Münster fertigte
ein
anderer Werinher fünf Glasgemälde.
Für das neue
Der nämliche
Werinher war auch in der Goldschmiedekunst und Bildhauerei wohl bewandert
und darin den Spuren des Klerikers Adalrich, des ersten deutschen Glocken gießers, gefolgt, der seinerzeit im Auftrage des Abtes Gozbert die Ouirinnsglocke gegossen hatte. In Kunst und Wissenschaft, in strenger Selbstzucht und ernster Frömmig
keit war Kloster Tegernsee vom 10. bis zum 13. Jahrhundert gleicherweise ausgezeichnet und sein Ruhm in aller Munde. Kein Wunder, wenn sich
ftemde Klöster gerade aus Tegernsee Mönche als Lehrer und Reformatoren des geistigen und geistlichen Lebens erbaten, wie das (1015) neu errichtete Kloster St. Ulrich in Augsburg, Kloster Feuchtwangen (1000), das verfallene Stift Benediktbeuern (1032).
Der Reformeifer der Tegernseer Mönche war
in dieser Periode vielfach zum Sauerteig geworden für das religiöse Leben und Stteben im südlichen Deutschland. Tegernsee hatte damit den Glanzpunft
seiner zweiten Blüte erreicht. Die nun folgenden zwei Jahrhunderte haben in der Geschichte des Klosters wenige Spuren hinterlassen. Im ganzen genommen war es jedoch eine Zeit des inneren und äußeren Verfalles.
Wiederholt geriet Tegernsee
in Streit mit den Mächtigen und war darob mit Brand und Plünderungen heimgesucht worden. Die Äbte umgaben sich mit fürstlichen Ehren und Ab
zeichen und stürzten das Kloster in Schulden. Tegernsee die klösterliche Disziplin
gelockert.
Der Weltsinn hatte auch in Doch ftüher als in anderen
Klöstern setzte in unserm Kloster die Reform ein, hauptsächlich durch die
Tättgkeit des Abtes Aindorfer (1426—1461), Blüteperiode bezeichnet.
In
die den Beginn einer dritten
kurzer Zeit befreite er das Kloster von einer
drückenden Schuldenlast, brachte die herabgekommenen Gebäude in neuen Stand, verbesserte die lockere Disziplin und zog eine Reihe ausgezeichneter Ordensleute heran, die nachher als Äbte die Klöster Andechs, Benediktbeuern, Scheyern und Oberaltaich zu leiten berufen waren.
Aindorfers Nachfolger in
der Abtwürde, Ayrnschmalz (1461—1492), setzte das so glücklich begonnene Reformwerk fort, erbaute 1471 die Stiftskirche von Grund auf, schmückte sie
II. Kloster Tegernsee.
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mit herrlichen Gemälden und bereicherte die Stistsbibliothek mit 450 wertvollen
Handschriften.
Ein wichtiges literarisches Ereignis bildete die Einrichtung einer
Buchdruckerei durch Abt Quirin II. (1568—1594).
Eine Menge meist asketische,
aber auch geschichtliche Werke gingen aus dieser Druckerei hervor. Für den wissenschaftlichen Geist, der im 17. und 18. Jahrhundert noch immer das Kloster Tegernsee beherrschte, zeugen die Lehrer und Professoren, die, Tegernsee ent stammend, uns fast überall an den bayerischen Gymnasien und hohen Schulen begegnen, während es selbst wiederum fremden Schülern und Gelehrten jeder zeit edle Gastfreundschaft gewährte und ihnen seine literarischen Schätze zur
Verfügung stellte, wie z. B. (1683) dem berühmten Geschichtschreiber Mabillon oder (1717) dem gelehrten Bernhard Pez. Man braucht nicht lange zu fragen,
ob wohl ein für Wissenschaft so
hochbcgeistertes Kloster wie Tegernsee auch der Bildung des Volkes durch
Errichtung und Unterhalt von Volksschulen Rechnung getragen hat.
In Holz
kirchen treffen wir bereits 1433 einen Jörg Rautter als „Schulmeister", 1494 einen solchen namens Pierochs, 1460 in Tegernsee selbst den „Schulmeister"
Wilhelm Schwalb; 1500 finden wir eine Schule in Egern, 1514 eine Schule
in Kreuth, 1520 eine solche in Gmund bezeugt. Holzkirchen, Egern, Kreuth, Gmund waren Tegernseeische Kirchorte; das Kloster unterhielt dort nicht nur
die Schulhäuser und Lehrer, sondern kam auch noch größtenteils für den Be darf an Lehrmitteln auf.
Am 17. Oktober 1753 beging Tegernsee das tausendjährige Jubiläum seiner Stiftung. Es sollte das letzte Jubiläum sein, das dort gefeiert wurde.
Der Geist der Aufklärung, der in Frankreich zur Revolution und zum Königs mord getrieben, hatte auch in Bayern seinen Einzug gehalten. Im Frühjahr 1803 teilte das Kloster Tegernsee mit den übrigen bayerischen Klöstern das Schicksal der Aufhebung und ward mit all seinen Besitzungen zum Staats
eigentum erklärt.
Die Gebäude wurden teils abgetragen teils mit den übrigen
Habseligkeiten versteigert. Die Klosterbibliothek, welche damals 60000 Bände, darunter allein 2500 Handschriften und Erstlingsdrucke zählte, wurde aufgelöst. Wichtigere Bestandteile derselben kamen nach München und Landshut.
Die
Mönche zerstreuten sich um in der Welt draußen teils als Lehrer teils als Seelsorger einen Wirkungskreis zu finden. So ward der Stiftung Otkars und Adalberts nach einer
ruhmvollen Vergangenheit
ein
tragisches
Ende
bereitet.
Nur St. Quirins Münster war der Zerstörung entronnen.
Inmitten
eines weltlich-bunten Treibens, das sich heute an Tegernsees Ufern abspielt, blieben seine Türme fast die einzigen hochragenden Zeugen einer tausendjährigen Kultur, welche hier für einen weiten Gau unseres Vaterlandes ihren wirt
schaftlichen und geistigen Mittelpunkt gefunden hatte und deren Geschichte aufs engste verknüpft ist mit der Geschichte der bayerischen Klöster nicht bloß sondern auch mit der Geschichte unseres ganzen altbayerischen Landes.
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12. Die Ungarnschlacht an der Ennsburg.
12. Die Ungarnschlacht an der Ennsburg (am 5. Juli 907). Don Friedrich Beck. ■)
1. Die Völker des Ostens, sie bringen heran, Sie zeichnen mit Flammen und Blut die Dahn, Sie brausen einher wie Sturmeswind — Weh Deutschland dir, dich leitet ein Kind! 2. Und Ludwig bebt: „Wer schützt mir die Mark? Auf, Bayerns Herzog, so kühn und stark!Der spricht: „Ich wahre dir treuen Sinn, Und willst du mein Leben, ich geb' es dir hin!" 3. Sie rüsten die Waffen, die spiegelnde Wehr, An der (Ennsburg schart sich der Deutschen Heer. Wo die Donau strömet vorbei mit Macht, Da lagern im Feld sie bei dunkler Nacht.
4. Ermattet vom Zuge, wie schlafen sie tief! Doch warnend die Stimme des Wächters rief: „Die Feinde stürmen!" Er rief es in Eil'; Schon stürzt er, getroffen vom Todespfeil. 5. Und im Flusse, so schaurig, da rauscht es und schäumt, Erwacht, ihr Getreuen! Nicht länger gesäumt! Dort schwimmt es und klimmt es am Uferrand; Schnell greifet zum Schwerte, zum Eisengewand!
6. Unholden vergleichbar im nächtlichen Traum Umschwammen die Heiden des Lagers Naum. Mit funkelndem Blick in die Christenschar Stürzt gierig des Mordes der wilde Magyar. 7. Rings schallt es von Hieben, Geschrei und Stotz, Aus tiefen Wunden das Blut entflotz. Und wie sich die Ebne vom Morgen erhellt, Deckt manche Leiche das Würgefeld. 8. Und als sich nun Freund und Feind erkannt, Ist heller am Tage ihr Zorn entbrannt. Sie ringen in grauset Dertilgungsschlacht Da dunkelt aufs neue hernieder die Nacht. 9. Doch stündlich mehrt sich des Feindes Wut Und Hord' um Horde, sie lechzt nach Blut. Nicht wanken die Deutschen am zweiten Tag; Am dritten endlich die Kraft erlag. •) Gedichte, S- 189 ff.
München 1844.
KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
Lit. art. Anstalt.
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13. Markgraf Luitpolds Heldentod in der Ungarnschlacht.
10. Da stürzt entseelt manch tapfrer Abt, Manch Bischof, edel und mutbegabt. Der Markgraf teilte der Seinen Not Und sank mit ihnen im Heldentod. 11. Herr Luitpold war es, der Schyren Ahn, Der erste auf Wittelsbachs Ehrenbahn. Er gab sein Leben dem Vaterland; Drum bleibe sein Name mit Preis genannt!
13. Markgraf Luitpolds Heldentod in der Ungarnschlacht (907). Don Hugo Arnold.')
Schlimme Tage sah Deutschland zu Beginn des 10. Jahrhunderts; denn
sein Szepter führten die schwachen Hände eines 13 jährigen Knaben und im Osten und Westen an seinen Grenzen erhoben sich mächtige Feinde, deren Ansturm die Schöpfung des großen Karl mit schweren Gefahren bedrohte. Mit festen Bollwerken hatte dieser das Reich gegen Osten gesichert, ein
die böhmische Mark im bayerischen Nordgau, die Ostmark im Lande von der Enns bis zum Wienerwalde nebst Ober- und
Gürtel von Marken schirmte es:
Unterpannonien bis zur Drau in dem Gebiete, welches den wilden Avaren in drei Kriegen abgenommen worden »var, und Kärnten nebst seinen Neben
ländern.
Die Avaren zwar waren seitdem verschwunden, aber statt ihrer
waren in den ungarischen Tiefebenen die Magyaren oder Ungarn erschienen, ein Volk finnisch-uralischen Stammes,
welches die Petschenegen aus ihren
Siedelungen zwischen den Mündungen der Donau und des Dniepr -verdrängt
hatten.
Sie suchten neue Wohnsitze im Westen.
Das erstemal erschienen
sie im Jahre 862 an den deutschen Grenzen, 894 fielen sie in die pannonische Mark ein und richteten große Verheerungen an. Sechs Jahre später erfolgte ihr erster Einbruch in Bayern, wobei sie einen Landstrich von zehn Meilen in der Länge und Breite mit Feuer und Schwert verwüsteten. Auf die Nachricht
davon wurde der bayerische Heerbann aufgeboten, aber vor seinem Eintreffen
war bereits das ungarische Hauptheer mit seiner Beute heimgekehrt und nur eine Seitenkolonne wurde auf dem linken Donauufer von den Bayern eingeholt
und in einem glänzenden Kampfe vernichtet. Zum Schutze der Grenze erbauten dann die Sieger eine starke Feste, die Ennsburg, wozu sie die Bausteine aus
den Trümmern der alten, in Ruinen liegenden Römerbefestigung Lauriacum (b. h. Lorch) herbeiholten. Luitpold hieß der glückliche Feldherr der Bayern.
Karolingern nahe verwandt,
wahrscheinlich
durch
Er war mit den Kaiser Arnulfs Mutter
Liutswinde, und nahm unter den bayerischen Großen durch seine Macht die
erste Stelle ein;
denn er war Graf im Donaugau und hatte von Kaiser
•) Vgl „Das Bayerland", 3. Jahrgang, 1892, Nr. 5, S. 51 ff.
13. Markgraf Luitpolds Heldentod in der Ungarnschlacht.
51
Arnulf dazu noch die böhmische Mark, die kärntnische Mark und Ober pannonien verliehen erhalten. Welchem Geschlechte er angehörte, läßt sich mit vollkommener Sicherheit nicht angeben, aber unser vortrefflicher Geschichffchreiber
Siegmund von Riezler*) hat mit triftigen Gründen die hohe Wahrscheinlich
keit nachgewiesen, daß er von den Housiern abstammt, von jener Familie des alten bayerischen Hochadels, welche nach dem Herzogshause der Agilolfinger
die mächtigste und vornehmste war.
Und Luitpold selbst wurde der Vater
eines ruhmvollen Geschlechts, das die Forscher mit seinem Namen verknüpfen und von dem sie wiederum mit nahezu völliger Bestimmtheit die Grafen von Scheyern, die Vorfahren der erlauchten Grafen von Wittelsbach ableiten, so daß er mit Fug und Recht als der Ahnherr unseres Königshauses gilt. Schlimm stand es damals um Deutschland.
Während im Westen die
Normannen die Küsten und die Uferlande plündetten, wüteten verheerende Fehden im Innern des Reiches, namentlich der blutige Zwist zwischen den Babenbergern und den Saliern, so daß die Ungarn ihre Einfälle in die bayerischen Grenzlande alljährlich wiederholen konnten. Genauere Nachrichten darüber sind uns nicht überliefert; aber wir wissen, daß sie in den Jahren 901, 902, 903
Niederlagen erlitten, daß 904 ihr Anführer Chussal von den Bayern zum
Gastmahle geladen und hier samt seinem Gefolge erschlagen wurde. Wie einst die Hunnen, die ebenfalls in den Pußten Ungarns hausten,
waren sie gefürchtete Feinde.
Ihr stürmischer Angriff war unwiderstehlich,
ihre Todesverachtung im Kampfe war unerschütterlich, die Schnelligkeit ihrer Pferde entzog sie den Verfolgern, gestattete aber ihnen selbst eine unablässige
Verfolgung.
Religiöser Fanatismus
trieb die wilden Heiden an; denn sie
glaubten, daß sie einst im Jenseits so viele Leibeigene zur Bedienung haben würden, als sie Feinde erlegten. Dabei beseelte sie ein derartiger Blutdurst, daß sie auf den Leichen der Erschlagenen wie auf Tischen schmausten und tranken; die gefangenen Weiber und Mädchen banden sie mit deren Haar
zöpfen zusammen und trieben sie nach Ungarn.
Wo sie hinkamen, zerstörten
sie alles, sengten, brannten und vernichteten, was sie nicht mit sich schleppen konnten. Dieser Blutdurst, die unmenschliche Behandlung der Wehrlosen, die Zerstörungswut, dazu die häßliche Erscheinung der kleinen Gestalten mit gelben, breitknochigen Gesichtern und geschlitzten Augen, ließ sie den Deutschen wie höllische Unholde erscheinen und die Schnelligkeit, mit der sie — allerorten
den roten Hahn auf die Dächer setzend und das Land in eine Wüstenei ver
wandelnd — plötzlich mitten im Lande erschienen und hinter den Rauchwolken
der niedergebrannten Gebäude mit ihrem Raube wieder verschwanden, trug nicht wenig dazu bei den von ihnen ausgehenden Schreckensbann zu vermehren. Im Jahre 906 hatten die Ungarn einen bedeutenden Erfolg errungen,
unter ihren wiederholten Angriffen war das große Reich der slavischen Mähren l) Geschichte Bayerns, I, 245 ff.
13. Markgraf Luitpolds Heldentod in der Ungarnschlacht.
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zusammengebrochen, mit welchem die Deutschen zwar ebenfalls viele blutige Kriege geführt hatten, das ihnen aber doch als Vormauer gegen Osten gedient hatte. Noch im nämlichen Jahre dehnten die Ungarn ihre Stteifzüge bis in das Herz
Sachsens aus.
Die Bayern sahen sich somit bereits aus ihrer ganzen Ostfront
hinauf bis nach Nordosten von dem gefährlichen Feinde umfaßt. Diese drohende Lage, die fortwährenden Verwüstungen ihres Landes 'scheinen sie zu dem Entschlüsse gebracht zu haben mit dem gefürchteten heid
nischen Feinde einmal gründlich abzurechnen; vielleicht trugen dazu auch die inneren Verhältnisse Ungarns bei.
Denn just war der große König Arpad au-
dem Leben geschieden, er, dessen kräftiger Arm den Magyaren ihr Reich erstritten hatte; sein Sohn Zoltan aber war noch minderjährig und mehrere Parteien standen sich mißgünstig gegenüber.
Im Juni 907 sammelte sich der gesamte bayerische Heerbann in der Ostmark, bei ihm befand sich der junge König Ludwig, genannt das Kind, den Oberbefehl führte der Ungarnsieger, Markgraf Luitpold. In der Ennsburg blieb der König mit seinem Hofe zurück, das bayerische Heer rückte den Feinden entgegen und am 5. Juli kam es zur Schlacht, deren Ausgang entscheidend für das Geschick des bayerischen Stammes wurde. Aventin gibt einen sehr
umständlichen, aber durchaus unglaubwürdigen Bericht über sie; allein wir
erfahren weder durch ihn noch durch einen der Chronisten weder etwas über den Ort, an dem sie vorfiel, noch die Ursache, warum gerade diese Haupt schlacht mit der gänzlichen Niederlage der Bayern endete, während sonst stets beim Zusammenstoß der Heere die Magyaren den kürzeren zogen.
Von den Bayern war die ganze waffenfähige Mannschaft, das Aufgebot
des Heerbannes, ins Feld gerückt und das ganze Heer, die Blüte des Stammes, blieb im Blute liegen auf der schrecklichen Walstatt.
„Der bayerische Stamm
ist nahezu aufgerieben", schrieb ein gleichzeitiger Chronist; mit dessen Söhnen fiel der Führer des Heeres, der erste Fürst im Bayernlande, der tapfere Mark
graf Luitpold, es fielen mit ihm der erste kirchliche Würdenträger, der Erz bischof Theotmar von Salzburg, die Bischöfe von Freising und Seben, Udo und Zacharias, und zahlreiche Grafen, Äbte und edle Herren; Aventin nennt die Namen von
19 Grafen.
Vom König Ludwig erzählt er, daß er mit
genauer Not nach Passau entkommen sei. Die Folgen der Niederlage waren entsetzlich.
Zunächst fielen die Ungarn
sofort in Bayern ein, überschritten den Inn und verwüsteten das Land. Aventin nennt als Klöster, welche damals eingeäschert wurden: St. Pölten, St. Florian, Matsee, Otting, Chiemsee, Tegernsee, Schliersee, Schäftlarn, Benediktbeuern, Schledorf, Staffelsee, Polling, Dießen, Wessobrunn, Sandau, Siverstatt, Thier
haupten, Ilmmünster, Münchsmünster, Oberaltaich, Niederaltaich.
flüchtete in die Rheinlande. Schlimmer noch wogen die politischen Einbußen.
Der König
Wie zu den Zeiten
der ersten Einwanderung der Bajuwaren ward die Enns wieder zur Ostgrenze,
14. Die Ahnherrn des Wittelsbacher FürstengeschlechtS.j
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alles Gebiet östlich davon, das Karl der Große den Avaren mit dem Schwerte
abgenommen und der deutschen Kultur zugeeignet hatte, Pannonien und die Ostmark gingen verloren; wo der bayerische Kolonist den Pflug über die
gesegnete Flur geführt hatte, tummelte der Magyar sein Roß, nur das gebirgige Kärnten wurde gegen die ungarischen Reiterscharen behauptet. größeres Unglück den bayerischen Stamm getroffen.
Katastrophe ein Unglück,
nicht wiederholt hat.
Niemals hat ein S. v. Riezler nennt diese
wie es sich im Verlauf der bayerischen Geschichte
Mit einem Schlage gab sie die Errungenschaften vieler
Menschenalter der Vernichtung preis, entschied über den Verlust zweier herr licher Marken, knickte die Blüte, hemmte für lange Zeit die Entwicklung der Hauptlande und drängte für immer Bayern aus der bevorzugten Stellung, welche es zuletzt unter den deutschen Stämmen eingenommen hatte. Jahr um Jahr wiederholten sich von nun an die Einfälle der Ungarn,
welche die Gebiete der einzelnen Stämme verheerten, der Schwaben, der Franken,
der Sachsen. Vereinzelt sank die Kraft dieser Stämme dahin, da der männliche König fehlte, der sie geeinigt hätte. Erst die glorreiche Schlacht auf dem Lech felde (955), welche die um das kaiserliche Banner gescharten einigen deutschen Stämme schlugen, warf die Magyaren für immer in ihre Pußten zurück.
14. Die Ahnherrn des Mttelsbacher Fürstengefchlechts. Don Karl Stieler.T)
Es liegt eine herbe Kraft im Worte Bayern und doch zugleich ein Zauber, wie ihn nur jemals herrliche Landschaft, kerniges Volkstum und ur
alte Geschichte bot.
Die blauen Berge dieses Landes sind das Wanderziel für
Tausende und in seinen Gauen herrschte schon zur Karolingerzeit eine mäch tige Kultur, wenn wir nur jene Klöster nennen, wie Benediktbeuern, Wesso
brunn und Tegernsee, die Kunst und Wissenschaft in Tagen pflegten, da der
deutsche Norden fast noch eine Wildnis war. Fester in sich geschlossen als die Mehrzahl der deutschen Stämme ging dos bayerische Volk die Wege eigener Entwicklung und von allen Stämmen, die das neue Reich umfaßt, ist es der einzige, der noch auf den alten Wohn stätten unter den alten angestammten Fürsten erhalten blieb, wie ihn einst das Reich der großen deutschen Kaiser gesehen. Es gibt kein Franken und kein Schwaben mehr im alten Sinne, das heutige Sachsen ist etwas anderes als
das alte sächsische Stammland, nur in Bayern trifft noch Stamm und Staat
zusammen. Vor nahezu einem Jahrtausend bestiegen die ersten Schyren den Thron, den sie nun seit siebenhundert Jahren ununterbrochen besitzen. Zu den ver schiedensten Kronen der Welt, von Schweden bis nach Ungarn und Hellas, *) „Aus Fremde und Heimat", S. 201 ff.
Stuttgart 1886.
A. Bonz.
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14. Die Ahnherrn des Wittelsbacher Fürstengeschlechts,
wurden ihre Söhne und Töchter berufen und selbst der deutsche Kaiserstuhl
trug dreimal einen Wittelsbacher Fürsten. Viel Glück und Not, viel Freud' und Leid liegt in der langen Frist
dieser Jahrhunderte und fester, als es wohl sonst geschehen mag, verwuchs
Man hat dies oft zur Unzeit „Partikularismus" genannt, aber man vergißt dabei, daß man die Treue zuerst im dabei das Volk mit seinen Herrschern.
eigenen Hause lernt und daß es dem Ganzen nur zustatten kommt, je inniger
sich dies Gefühl historisch entwickelt. Den besonderen Vorzug aber, den die eigenartige Gestaltung Deutschlands darbot, indem sie eine Mehrheit geistiger Mittelpunkte schuf, zeigt gerade Bayern in der glänzendsten Weise; trotz der
Abgeschlossenheit, der es bisweilen anheimfiel, trotz der schweren Prüfungen, die auf dem langen Wege vom Herzogtum zum Königreiche lagen, hat es doch zum Heile des Ganzen Unendliches geleistet. Nicht wir allein, ganz Deutsch land ist stolz auf eine Stadt wie München.
Mit den Tagen der Not, der Mutter alles Großen, beginnt auch die Geschichte des Wittelsbachischen Fürstenhauses. Es war um das Jahr 900, als das Karolingerreich schon sank und die wilden Horden der Ungarn über
die deutsche Grenzmark brachen; da stand unter den Tapfern, die ihnen ent« gegentraten, der Markgraf Luitpold auf. Er ist der Ahnherr der heutigen Wittelsbacher, und als er am 5. Juli 907 in blutiger Schlacht gefallen, er
hielt sein Sohn, der Markgraf Arnulf, die bayerische Herzogswürde. Bis an die Adria und bis an den Wienerwald reichte damals der Name Bayern, wie ja auch heute noch der Stamm der Bayern weit über die Grenzen
ihres Landes hinausreicht und ganz Deutschösterreich, Salzkammergut und Tirol umfaßt.
Die Luitpoldinger, die mit Arnulf den Thron erlangt, den sie freilich zunächst nur kurze Zeit behaupteten, bilden gleichsam den „Prolog der Wittels bachischen Geschichte", wie Theodor Heigel, der geistvolle Historiker, sich aus-
drückti
Ihre Abstammung scheint nicht gesichert, aber aller Wahrscheinlichkeit nach
berühtt sich dieselbe mit dem Geschlechte der Karolinger, die in ihren Urkunden
auch den Markgrafen Luitpold stets „ihren lieben Verwandten" nennen; nach
anderer Meinung hängen sie mit den uralten Housiern zusammen, einem jener mächtigen Adelsgeschlechter,
die schon
im 6. Jahrhundert in Bayern auf«
traten. Da sie indessen mit der Reichsgewalt nur allzubald in Fehde kamen, gab Otto I. das bayerische Herzogtum an einen Angehörigen seines Geschlechtes und
die Luitpoldinger traten einstweilen wieder zurück, bis der ©taufe Barbarossa sie von neuem und nun für immer auf den bayerischen Thron berief.
Nach
der Burg zu Scheyern, die wohl schon Arnulf zu bauen begann, wurden sie auch die Schyren genannt; nach einer zweiten Burg, die am „Witilines-
bach" bei Aichach stand, heißen sie seit 1113 die Grafen von Wittelsbach.
14. Die Ahnherrn des WittelSbacher Fürstengeschlechts.
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Unter diesem Namen tritt das Geschlecht von nun ab in die deutsche Geschichte ein, die damals — die Weltgeschichte war. Fast zweihundert Jahre waren seitdem vergangen, zwei große Kaiserdynastien, die Sachsen und die
Salier, waren ins Grab gesunken und in Friedrich Barbarossa hatte eben eine dritte, die der Staufen, ihren Höhepunkt erreicht. Die Zeit war reich an Streit und Leidenschaft; der Gegensatz zwischen Deutschland und Welschland, zwischen Reich und Rom erfüllte alle Gemüter, es gab in diesen Fragen nur Liebe und
Haß, nur Freund und Feind. Da tritt uns aus dieser sturmbewcgten Zeit die Gestalt des Pfalzgrafen Otto von Wittelsbach entgegen — eine Säule im Bau des Reiches; er ist der große Markstein in der Geschichte Bayerns. Feurige Kühn
heit und weise Besonnenheit waren in seinem Sinne seltsam gepaart; als Krieger
wie als Staatsmann war er gleich stark und mit schrankenloser Treue hing er an dem Kaiser, der aus seinem Herrn sein Freund geworden. Die größte Tat seines Lebens aber, die stets in den Annalen der Geschichte prangen wird, das ist sein Heldenwerk in der Veroneserklause. Es war im Herbst 1155, Barbarossa war auf der Heimkehr von Italien, wohin
ihn der Pfalzgraf von Wittelsbach als Bannerträger des Reiches begleitet hatte, als ihm die Tücke der Welschen noch an der Heimatschwelle Verderben sann. Der Weg geht durch schmale Felsenpässe, senkrecht steigen die steinernen Wände empor, unten drängt sich der flutende Strom, so daß dem Heere kaum eine schmale Straße bleibt. Dort zog das Kriegsvolk des Kaisers, als man mit
einemmal auf allen Höhen Gewappnete gewahrte, die den Durchzug versperrten.
Unerbittlich, aber auch unerfüllbar waren die Bedingungen, die sie stellten;
denn sämtliche Ritter sollten ihnen Pferd und Harnisch überliefern und über
dies ein hohes Lösegeld entrichten; dann mochten sie nach Hause ziehen ohne Ehre, ohne Habe, ohne Wehr. Es war unmöglich dies anzunehmen und doch nicht minder unmöglich schien ein Entrinnen — da ward in dieser Stunde höchster Gefahr der Pfalzgraf Otto von Wittelsbach zum Retter. Seinem Mute war auch das Schwerste nicht zu schwer; in seinem Gefolge standen die
bergkühnen Söhne des bayerischen Hochlandes und zwischen den Felswänden emporklimmend, einer auf des anderen Schulter gestützt, erkletterten sie die
Höhen und fielen mit Jubelruf den Welschen in den Rücken, daß nicht ein einziger derselben entkam.
Die Ehre des Kaisers, die Ehre Deutschlands war
gerettet und diese Tat vor allem war es, die Barbarossa nie vergaß, die er belohnen wollte, als er nach der Empörung Heinrichs des Löwen die bayerische Herzogs
würde an Otto von Wittelsbach verlieh. So steht eine Tat voll kühner Treue an der Wiege des Wittelsbachischen Geschlechtes, die Wiege seiner Macht aber steht in den Felsen der Veroneserklause.
Am 16. September 1180 erfolgte in Altenburg die feierliche Belehnung Ottos mit Bayern.
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15. Die Gründung des Bistum- Bamberg.
15. Die Gründung des Bistums Bamberg. Don Wilhelm v. Giesebrecht.') Mit seltener Beständigkeit hatte bisher das Glück den jungen König Heinrich II. auf seinen gefahrvollen Pfaden begleitet, über all seine inneren
und äußeren Feinde hatte er gesiegt und seine Stellung nach allen Seiten
befestigt.
Ein bleibendes Denkmal dieser Siege ist das BistumBamberg,
dessen Errichtung nicht minder folgenreich gewesen ist als die Begründung der wendischen Bistümer durch Otto den Großen. Denn nicht so sehr darin
liegt die Bedeutung dieser Stiftung, daß sie noch einmal einen tiefen Einschnitt in die schon durch einen mehr als hundertjährigen Bestand geheiligte Diözesan einteilung Deutschlands machte; ihr wesentliches Interesse beruht vielmehr in dem, was sie für die Verbreitung deutschen Lebens, deutscher Sitte
und Sprache nach dem Osten leistete. Vor der Gründung des Bistums lagen die Gegenden am oberen Main und der Regnitz zum größten Teil verödet.
Die fränkischen Kolonisten und
nordalbingischen Sachsen, die einst dort angesiedelt waren, hatten die Stürme
des zehnten Jahrhunderts großenteils wieder verdrängt; nur eine dünne Be
völkerung, meist slavischen Stammes, hatte sich in dem unsicheren und wenig ergiebigen Lande erhalten. Die Fichtenwaldnngen waren nur an wenigen
Stellen gelichtet, nur hier und da ragten kleine Burgen aus ihnen hervor, fast sämtlich den Babenbergischen Grafen gehörig und teils zur Verteidigung der Böhmengrenze teils zur Zwängung der slavischen Bauern im Lande bestimmt.
Wie anders nachher! Das Bamberger Land erblühte zu einer dicht bevölkerten Landschaft, in der die deutsche Art allmählich vollständig die Oberhand gewann. Der ausdauernde Fleiß deutscher Bauern, welche die Kirche in das Land zog, schuf es zu einem gesegneten Erntefelde um.
leben gedieh hier,
Und nicht allein äußeres Wohl
auch geistige Früchte reiften.
Bamberg wurde für den
Klerus alsbald eine der ersten Schulen, die Kunst und Wissenschaft nach allen
Richtungen förderte.
Indem ein kräftiger Stamm echtdeutschen Kernes hier angepflanzt wurde, trieb er weithin seine Wurzeln und Äste und raubte dem andersartigen Ge sträuch, das bisher aufgeschossen war, die nährenden Säfte. Überall in den Landesstrichen zwischen dem Main, der Altmühl und dem Böhmerwalde starben
die Reste slavischen Wesens dahin, so daß vollkräftiges deutsches Leben Platz gewann.
Damals wird zuerst Fürth,
ein Menschenalter nach Bambergs
Gründung zuerst Nürnberg genannt. Nach und nach verschwanden auch im Würzburger Lande die slavischen Kolonisten. Im Osten von Bamberg
drangen selbst über die Grenze, die der Kamm des Gebirges zieht, deutsche
Sprache und Sitte in Böhmen ein. Denn auch das Egerland wurde jetzt von Deutschen angebaut. Und um ein Jahrhundert später zog ein Bam*) „Geschichte der deutschen Kaiserzeit", II. Band, S. 52 ff. Braunschweig 1875.
15. Die Gründung des Bistums Bamberg.
berget Bischof an
die Gestade
der Ostsee
57
um den entlegensten Stämmen
der Wenden das Christentum zu predigen und dadurch auch ihre Germanisierung vorzubereiten.
Man hat oft in der Gründung Bambergs nichts anderes
sehen wollen als das Werk frömmelnder Laune eines bigotten Fürsten; aber sicherlich war es ein Werk, auf welches der Himmel seinen Segen gelegt hat. Die Stiftung eines Bistums war im Deutschen Reiche keine geringe Sache. Welche Mühen hatte nicht der große Otto in aller seiner Kaisermacht zu be stehen um das Erzbistum Magdeburg ins Leben zu rufen und einige Teile
der Halberstädter Diözese für dasselbe zu gewinnen!
Wenn nun Heinrich int
fünften Jahre seiner Regierung angriff, was der gewaltige Kaiser kaum in zwanzigjährigen Anstrengungen erreichte, so zeugt dies vorweg für einen Mut,
der vor keiner Schwierigkeit zurückbebte, wie nicht minder für ein starkes Be
wußtsein seiner gesicherten Macht.
Die Wege, die er zum Ziele einschlug, ent
hüllen uns das innerste Wesen des eigentümlichen Fürsten. Nach dem gewaltsamen Sturze der Babenberger unter Ludwig dem Kinde war ein Teil ihrer Burgen und Güter nicht wieder zu Lehen ausgetan sondern
bei der Krone verblieben.
Zu ihnen gehörten die Burgen Babenberg und
Aurach im Gau Volkfeld, die Otto II. mit allen zugehörigen Ländereien im Jahre 973 an den Vater Heinrichs zu freiem Eigentum schenkte. Vom Vater gingen sie auf den Sohn über, der sich von ftüher Jugend an gern zu Bam berg aufhielt und für die Verschönerung der Burg keinen Aufwand scheute.
Bei seiner Vermähluyg mit Kunigunde verschrieb er sie als Leibgedinge seiner Gemahlin und fuhr auch als König fort das ihm liebe Besitztum auf alle
Weise zu verbessern.
Als ihm dann die Hoffnung Leibeserben von Kunigunden
zu erhalten zu schwinden anfing, erwuchs in ihm der Gedanke Bamberg dem
Dienste der Kirche zu widmen und ein Bistum daselbst zu begründen.
Längere
Zeit trug er nach seiner Sitte den Plan schweigend mit sich umher, bereitete indessen alles zu seiner Verwirklichung vor. Er begann den Bau eines großen
Domes mit zwei Unterkirchen und beschaffte alle Bedürfnisse einer bischöflichen Kirche mit emsiger Sorgfalt.
Vor allem aber bedurfte er um dem neuen Bistum einen genügenden Sprengel zuweisen zu können von den Bischöfen
von Würzburg und Eichstätt der Abtretung eines Teiles ihrer Diözesen im Volkfeld und Radenzgau. Im Jahre 1007 trat der König endlich mit seiner Absicht offen hervor.
Am 6. Mai, seinem Geburtstage, schenkte er seine Eigengüter im Volkfeld und
im Radenzgau an die Bamberger Kirche und berief auf Pfingsten eine Synode nach Mainz, auf der er seinen Plan durchzusetzen erwartete. Vier Erz
bischöfe und dreizehn Bischöfe waren erschienen, unter ihnen auch der Bischof von Würzburg, während der Eichstätter ausgeblieben war.
Mit jenem trat
der König nun zunächst in geheime Verhandlungen und wußte ihn in der Tat zu den gewünschten Abtretungen zu bewegen, indem er ihm dafür sowohl 150 Hufen Landes in der Meinunger-Mark überließ wie auch die Erhebung
15. Di« Gründung des Bistum- Bamberg.
58
seines Bistums zu einem Erzbistum, dem Bamberg untergeordnet werden sollte, in Aussicht stellte. So ließ sich der Bischof bestimmen den beanspruchten Parochien zu entsagen und übergab zum Unterpfand dessen seinen Stab in die
Hände des Königs.
Die Entsagung des Bischofs wurde sofort der Synode
mitgeteilt, welche darauf in die Absichten des Königs einging und darin willigte,
daß zwei Kapellane desselben nach Rom gesandt würden um die Einwilligung des Papstes zur Stiftung des neuen Bistums und der dadurch bedingten Ver
änderung der Diözesangruppen zu erlangen. Der Würzburger selbst unterstützte das Gesuch der Synode durch ein Schreiben und Papst Johann XVIII. nahm
keinen Anstand die Stiftung Kölüg Heinrichs anzuerkennen.
Im Juni brachte
der Papst auf einer Synode in der Peterskirche die Sache zur Verhandlung. Die Gründung des neuen Bistums wurde hier nicht allein genehmigt sondern dasselbe durch eine päpstliche Bulle auch in den besonderen Schutz des Stuhles Petri genommen. Der Bischof von Bamberg sollte seinem Metropolitanen, dem Erzbischof von Mainz, untergeben sein; die Hoffnungen des Würzburger
Bischofs auf eine Erhöhung seiner Kirche erfüllten sich also nicht. In der Tat hatte Heinrich nie ernstlich daran denken können Würzburg
zu einem Erzbistum zu erheben.
Es wäre dies ein tiefer Eingriff in die Rechte
des Mainzer Erzbischofs gewesen und nimmermehr hätte ein Mann wie Willigis, dem der König überdies seine Krone dankte, einen solchen ungestraft hingehen lassen. Des Königs Versprechen war nur ein Köder gewesen um den Würzburger desto sicherer in die Falle zu locken. Sobald der König die päpstliche Bulle in Händen hatte, eilte er das neue Bistum ins Leben zu rufen.
Jedes Bedenken, welches die Stiftung ge
fährden könnte, suchte er jedoch vorsichtig zuvor zu beseitigen.
Er gewann die
Einwilligung seines Bruders Brun, den er vor kurzem zum Bischof von Augs
burg erhoben hatte; er erlangte die Zustimmung der Herzoge und Grafen des Reiches; er versammelte endlich die stattlichste Synode, die noch jemals in
Deutschland gehalten war, um so den Anfängen seiner Stiftung eine ganz be sondere Weihe zu geben.
Am 1. November 1007 trat die Synode in Frankfurt zusammen.
Nicht nur die Anwesenheit aller deutschen Bischöfe hatte der König in Anspruch
genommen, auch aus Italien, aus dem burgundischen Reiche, das er schon als sein Erbe ansah, hatte er die geistlichen Würdenträger beschieden und selbst bis nach Ungarn, dem Reiche seines Schwagers, war der Ruf zur Synode erschollen.
So waren denn in Frankfurt vier deutsche, zwei burgundische Erz
bischöfe und der Erzbischof von Ungarn erschienen; außerdem hatte eine große Zahl von deutschen, burgundischen und italienischen Bischöfen sich eingestellt.
Auch Bischof Brun von Augsburg, der Bruder des Königs, war unter den Anwesenden wie der Bischof von Eichstätt, obgleich dieser sich zu der Abtretung
des beanspruchten Teiles seiner Diözese auf keine Weise hatte bewegen lassen, so daß der König 'am Ende davon Abstand nahm. Dagegen fehlte in der
15. Die Gründung des BiStums Bamberg.
Versammlung der Würzburger Bischof.
59
Der Betrogene sann auf Rache: mit
einem Schlage wollte er die Hoffnungen des Königs im Augenblick ihrer
Erfüllung vernichten.
Er schickte deshalb seinen Kapellan Berengar zu
der
Synode mit der Weisung ab gegen die Errichtung des neuen Bistums ent
schiedene Einsprache zu erheben. Der König sah sich inmitten der glänzenden Versammlung, die er zur Verherrlichung seiner Stiftung berufen hatte, so nahe dem gehofften Ziele,
plötzlich in die peinlichste Lage versetzt.
Die Einsprache des Würzburger
Bischofs konnte die Begründung des Bistums, wenn auch nicht völlig vereiteln,
doch gefährden oder auf ungewisse Zeit verschieben; alles mußte ihm daran liegen die Synode so für sich zu gewinnen, daß er mit der Wucht ihres Ansehens die vereinzelte Einsprache des Würzburgers niederzudrücken vermochte. Nur durch untrügliche Zeichen der tiefsten Ergebenheit konnte er hoffen die
versammelten Bischöfe ganz für sich und seine Absichten zu stimmen.
Kaum
war daher die Synode eröffnet, so warf er sich vor der Versammlung zum Staunen aller wie ein Schutzflehender zur Erde nieder. Seine Demütigung
gewann ihm die heiligen Väter der Kirche; nur so konnte er erreichen, was er bezweckte. Als der Erzbischof Willigis von Mainz schließlich die Versammlung um ihre Willensmeinung befragte, erklärte zuerst der Erzbischof von Magdeburg, es stehe nach den Worten des Königs der Errichtung eines neuen Bistums kein Hindernis mehr im Wege, und alle Anwesenden pflichteten dieser Mei
nung bei.
Die ganze Versammlung gab endlich schriftlich ihre Zustimmung
zu dem Privilegium des Papstes für Bamberg und unterzeichnete die Verhand
lungen der Synode. Später gab auch der Würzburger Bischof seinen Widerstand auf.
Er
schickte sich in den Willen des Königs und dieser nahm ihn wieder zu Gnaden
an. Am 7. Mai des Jahres 1008 trat Bischof Heinrich urkundlich mit Zu stimmung des Klerus, der Dienstmannen und des gesamten Volkes seiner Kirche die beanspruchten Teile seines Sprengels für ewige Zeiten ab;
da
gegen stellte ihm der König gleichzeitig nicht nur über die früher in Tausch gegebenen Güter eine Urkunde aus sondern fügte auch eine neue Schenkung hinzu.
Obgleich der Bau des Bamberger Domes noch nicht vollendet war, trat doch sofort das neue Bistum ins Leben.
Als der erste Bischof wurde Eber
hard, ein Verwandter des Königs, der ihm bis dahin als Kanzler treu gedient hatte, eingesetzt und noch am Tage jener Synode von Willigis geweiht. Zu gleich stellte der König 29 Urkunden aus, durch welche er dem Bistum sechs Abteien unterwarf und zahlreiche Schenkungen machte, sowohl in unmittelbarer Nähe Bambergs wie in weiterer Ferne, in Schwaben, im Elsaß, in Bayern
und Kärnten.
Der Bau des Bamberger Domes wurde im Jahre 1012 voll endet.
Der König hatte seinen vierzigsten Geburtstag zur Einweihung
15. Die Gründung des BiStumS Bamberg.
60
bestimmt und lange vorher alle Vorbereitungen zu derselben getroffen. 45 Erz
bischöfe und Bischöfe versammelten sich in Bamberg; alle Großen des Reiches stellten sich ein. Die kaiserlichen Schwestern Ottos III., Sophie und Adelheid, erschienen und selbst Gesandte des Papstes kamen aus Rom.
In Gegenwart
dieser stattlichen Versammlung fand am 6. Mai die feierliche Weihe statt. Den westlichen und Hauptaltar weihte Bischof Eberhard selbst, die übrigen
Altäre wurden von den Erzbischöfen von Köln und Trier, Mainz, Salzburg,
Magdeburg und Ungarn geweiht. Eine zahllose Menge von Reliquien, auch Gebeine des heiligen Adalbett, wurden in den Altären niedergelegt. Kirche und Bistum wurden der Jungfrau Maria, den Aposteln Petrus und Paulus und den Heiligen Georg und Kilian gewidmet. Ein stattliches Kloster durfte dem neuen Bistum nicht fehlen und auch
hierfür trug Heinrich Sorge.
Es wurde auf einer Höhe bei Bamberg der
Bau eines Klosters begonnen, sollte.
das dem Erzengel Michael geweiht werden
Das Michaelskloster auf dem Engelsberg,
wie man es zuerst
nannte, wurde im Anfänge mit 15 Höfen ausgestattet, welche der König zum Teil im Jahre 1015 von den Klöstern Hersfeld und Fulda eintauschte. Die Urkunde, welche den Güterbestand des neuen Klosters verbriefte, ist am 8. Mai 1017 zu Frankfurt ausgestellt worden. Den Bau der Klosterkirche vollendete man erst im Jahre 1021, als die Einweihung durch die Erzbischöfe
von Mainz und Köln erfolgte.
Und nicht minder war der König auf die geistige Blüte und geistliche Belebung dieser Stiftung bedacht. Er wollte, Bambergs Klerus solle mit der Sittensttenge Hildesheims die gelehrte Bildung Lüttichs vereinen.
In
hohem Maße ließ er es sich angelegen sein eine reiche Bibliothek zu gründen. Die wertvollen Handschriften, welche Bamberg nach der Wegführung seiner Kleinode nach München geblieben sind, verdankt es großenteils Heinrich. Nicht
wenige Bücher hat er selbst für Bamberg schreiben und mit wahrhaft könig licher Pracht ausstatten lassen; alles, was die alternde Kunst von Byzanz noch leisten, was der in den Windeln liegende deutsche Kunstfleiß erreichen konnte, wurde an ihnen aufgewendet.
Andere Bücher wußte er aus älteren berühmten
Bibliotheken für Bamberg zu gewinnen; selbst aus weiter Ferne ward manches
durch ihn herbeigeschafft. Nicht ohne Verwunderung findet man jetzt dort Handschriften vereinigt, die ursprünglich St. Gallen, Lobbes, Stablo,
Piacenza, der
Reims oder einem normannischen Kloster angehört haben.
Bibliothek
kam
die
Stiftsschule
empor
und
gewann
alsbald
Mit
einen
bedeutenden Ruf.
Bald bildete sich um die bischöfliche Kirche eine umfängliche, ziemlich
bevölkerte Stadt.
Im Jahre 1020 war sie bereits umwallt, eine Brücke
führte über die Rcgnitz.
ES war damals, daß ein Papst durch das Stadttor einzog und ihm zu Ehren Feste gefeiert wurden, die alles an Glanz Über boten, was jene Zeit kannte.
Der Name Bambergs, noch vor einem Menschen-
61
16. Der Bamberger Dom.
alter kaum gekannt, erfüllte das ganze Abendland. Dieser entlegene Ort an den Grenzen der Slaven kam durch Heinrich ebenso schnell zu Bedeutung wie
einst Magdeburg durch Otto den Großen. In allem, was Heinrich für Bamberg tat, stand ihm seine Gemahlin hilfreich zur Seite. Hier, wie in allen Dingen, waren sie beide ein Herz
und eine Seele.
Kaiserin Kunigunde hat verdient, daß ihr Name mit dem
ihres Gatten unzertrennlich verbunden wurde, daß Bamberg ihrer mit gleicher Pietät wie Heinrichs gedenkt. In dem harmonischen Geläute, welches all abendlich
in den Straßen und Gärten Bambergs widertönt und
Seelen zum Gebete einladet, hallt beider Name und Andenken
fromme
noch heute
fort und wird zu den spätesten Nachkommen gelangen.*)
16. Der Bamberger Dom. Don Hans Probst.*
Bevor der Steigerwald mit der Regnitz sich westlich ins Maintal wendet, teilt er sich durch gleichmäßige Taleinschnitte in schmale Ausläufer, die sich erst sanft zur halben Tiefe senken um dann steiler bis an das Regnitzufer
abzufallen. Vorhiigel. Einst
Von unten aus scheinen diese Ausläufer eine Reihe selbständiger Einer der mittleren trug schon in alter Zeit einen fürstlichen Hof.
der Sitz der tapferen Babenberger war er kaiserliches Krongut,
ihn Otto II.
seinem Vetter Heinrich
dem Zänker
als Geschenk
bis
überließ.
Von da an weilte dieser Bayernherzog oft hier mit seinem Erstgebornen Heinrich, auf dessen Haupt dereinst die Krone der Ottonen übergehen sollte.
Diesem war so der Ort teuer durch Erinnerungen der Kindheit. Ost mochten hier den jagdfrohen Jüngling die nahen Wälder locken. Von hier sah er hinab ins breite Regnitztal, das ihn mit dem Süden, mit seinem bayerischen
Herzogtum verband, und ins Maintal, das ihm nach Norden wie nach Westen den Weg in die deutschen Lande öffnete. Hier, im Mittelpunkte seines kaiser lichen Machtbereiches, fand er auch Ruhe und heitere Sammlung in dem
freien Ausblick;
war er doch
ein Freund landschaftlicher Schönheit.
Die
Fluren Italiens zwar fesselten ihn niemals lange; dagegen versichert sein Chronist Thietmar, daß ihn unsere Gefilde, sobald er sie wieder sah, so heiter
anlachten. Wie sollten ihn da nicht vor allem die fränkischen Bergzüge an heimeln? Im Osten die lieblich geschwungenen Jurahöhen, nördlich die Aus läufer des Thüringerwaldes und der Haßberge? Nicht kühn und gewaltig sind sie, sondern überall freundlich und ebenmäßig; sie umgrenzen das Gesichts
feld wohltuend, weder beengend noch ins Weite verschwimmend. Zum Erben dieses Lieblingsortes bestimmte der fromme, kinderlose Fürst frühe
schon
die Kirche
und
mit
königlicher Freigebigkeit
förderte
*) Die beiden großen Domglocken sind Heinrich und Kunigunde getauft.
er
die
62
16. Der Bamberger Dom
Gründung des neuen bischöflichen Sitzes.
Auf dem Burghügel erstand seit 1004
auf sein Geheiß ein Dom und wenige Jahre nachher stiftete er nördlich auf dem benachbarten Michelsberg ein Kloster, seine Gemahlin Kunigunde südlich
auf dem Stephansberg die Kirche.
Wer sich nun Bamberg vom Regnitztale
nähert, den grüßt als stolzes Wahrzeichen der Kranz von Kirchen und wie in der Mitte eines Ehrengeleites thronend der viertürmige Dom. Wie Burgen heben sich die Bauten ab und Bollwerke, Vorwerke des Deutschtums und Christentums sollten sie auch sein in dem damals von Slaven besiedelten Gau. Doch überragen sie nicht den abschließenden Höhenkreis, sondern indem sie auf
den Vorhöhen ruhen, bildet ihnen die Linie des Steigerwaldes den anmutigen Hintergrund. Nicht zum Himmel kühn anstreben wollte diese Bauweise, son dern sich in die Gegend gleichgestimmt einstigen.
Es ist eine wohlerwogene,
mit feinem Sinn durchdachte Gründung. Den Fuß des Domberges umschließen mächtige Strebemauern und Ge
bäude.
Auf Herder machten, als er 1788 Bamberg besah, diese Domherrnhöfe
und die bischöfliche Residenz den Eindruck von Festungsmauern; ja noch heute sondert sich der ehemalige Fürstensitz rings von der übrigen Stadt wie eine
Akropolis ab.
Freilich dürfen wir nicht erwarten jene erste Schöpfung Hein
richs selbst noch vorzufinden. Namentlich über den Dom berichten Chroniken und Urkunden allerlei Unglück; er wurde zweimal, nämlich 1081 und 1185, durch Feuersbrunst beschädigt oder großenteils zerstört und jüngere Geschlechter mit neuen Kunstformen nahmen den Bau wieder auf; 1237 fand eine feier
liche Einweihung statt, 1274 wurde noch zur Förderung des Werkes ein Ablaß
gewährt. Der leicht gewundene Weg öffnet sich plötzlich zum weiten, steigenden Domplatz.
Der Dom wendet
uns seine
sanft an östliche Schmalseite zu
zwischen zwei grauen Türmen, die mit den spitzen, lichtgrünen Kupferdächern eine Höhe von 78 Meter erreichen und den Beschauer mit Ehrfurcht erfüllen. Dann an der nördlichen Langseite hinblickend sehen wir das Querschiff vor
treten und über die Satteldächer die Westtürme aufstreben.
Nach dem ersten überraschenden Anblick schweift das Auge seitlich weiter über den freien Platz. Die alte und die neue Residenz umrahmen vornehm die drei übrigen Seiten
des Viereckes.
Wenig deutsche Städte gibt es, die sich eines Platzes von so
feierlicher Schönheit rühmen können.
Die Größe, die einheitliche Anlage, der
übereinstimmende Ton des Bausteines,
die selten gestörte Stille geben ihm
einen würdigen Ernst. Wir durchschreiten ihn bis zur Mitte und hier, von der Welt abgeschlossen und doch nicht durch den Abschluß beengt, können wir uns mit ruhiger Sammlung in den Aufbau des Domes vertiefen. Jetzt, in richtigem Abstand, erscheinen die zwei Turmpaare einheitlich und gleichmäßig;
sie fügen sich ruhig und schön in das Gesamtbild, starke Eck
pfeiler, die den Hauptbau stützen und seine Endpunkte herausheben. Dieser selbst dehnt sich mit seinem Satteldach in ungeschmälerter Größe von Ost nach
16. Der Bamberger Dom.
63
West; denn die Aufgabe einen großen umschlossenen Raum für die Gemeinde zu schaffen wird im romanischen Baustil vornehmlich noch durch die Längs
richtung erstrebt.
Das Querschiff betont, indem es mit gleichhohem Sattel
dach das Hauptschiff durchschneidet, ein Wachsen ins Breite. Da es nicht an die Stirnseite, sondern nach Westen verlegt ist, so läßt es die Längsrichtung
des Hauptbaues frei und unverdeckt und gibt zugleich einen abschließenden Hintergrund. Als zweites Mittel den Jnnenraum zu verbreitern zieht sich das Seitenschiff längs des Hauptschiffes in halber Höhe hin, mit pultartigem
Der Vamberger Dom.
Dach angelehnt und zwischen Ostturm und Ouerschiff eingelagert.
Der gelbe,
vom Alter grau getönte Sandstein der großen Mauerflächen, die von rund bogigen Fenstern
durchbrochen sind, hebt sich ruhig ab vom schwarzblauen
Schiefer der Pult- und Satteldächer. Unter jeder Dachlinie läuft ein Gesims mit Rundbogenfries, das heißt einem Schmuckstreifen aus kleinen, aneinander gereihten Rundbögen, die auch mit den Giebellinien an den Schmalseiten des Haupt- und Querschiffes auf und ab steigen.
Dieses vornehmste Kennzeichen
romanischen Stiles betont deutlich die oberen Abschlüsse der Bauteile und ver stärkt ebenso wie der unten um den Bau führende Sockelsims den vorherr
schenden Eindruck wagrechter Ausdehnung. Die flachen, bandartigen Streifen, die zwischen den Fenstern des Seitenschiffes emporführen, die sogenannten
Lisenen, schwächen diese Wirkung keineswegs ab, sondern verbinden nur die
64
16. Der Bamberger Dom.
Gesimse des Sockels und des Pultdaches und gliedern die lange Wand in Felder.
Der Bau ordnet sich also deutlich und übersichtlich; nirgends ist ver deckendes Scheinwerk, überwuchernder oder irreführender Schmuck.
Kraftvoll
in stolzer Einfachheit hebt sich der Hauptraum, die zwei hohen, sich durch schneidenden Hallen;
wohltuend ordnen sich die Seitenhallen unter.
Das
überall waltende strenge Ebenmaß, das weithin schon die paarweise ange ordneten Türme verkündeten, läßt uns sogar ergänzen, was dem Überblick nicht
offen daliegt. Da nämlich ein Mittelschiff auf der Seite, wo es von einem Querschiff durchschnitten wird, in einen Altarraum endigen muß, so haben wir
hier, der Apsis zwischen den zwei Osttürmen entsprechend, auch eine zwischen den zwei Westtürmen zu vermuten. Der romanische Stil in Deutschland liebt doppelchörige Kirchen. Er verzichtet allerdings damit auf einen großen Vor
teil, nämlich auf ein Mittelportal an einer Schmalseite, von wo aus der Ein tretende sofort den ganzen Jnnenraum überschaut. Frei könnte alsdann das Auge die Haupthalle nnd die Decke entlang wandern, gegenüber an der Apsis
ruhen und seitlich durch die Arkaden in die Nebenschiffe schweifen. Unser Dom gestattet uns keinen so raschen und einheitlichen Überblick. Die Ostseite hat nur Türen im Untergeschoß der Türme, links die Adamspforte, rechts die Gnaden
pforte ; jede führt zunächst in ein Seitenschiff, ebenso nördlich an der Langseite das Fürstenportal, an der Giebelseite des Querschiffes das Veitstor.
Wir
durchschreiten das Seitenschiff und wenden uns gegen die Mitte des Haupt
schiffes, wo der hohe Sarkophag des Stifterpaares Heinrich und Kunigunde
steht, ein figurenreiches Meisterwerk Riemenschneiders aus Solnhofer Kalkstein. Dieser Standort ermöglicht uns eine gleichmäßige Umschau.
Die Höhe ist nicht mit einer flachen Holzdecke geschlossen, wie es im 11. Jahrhundert, zur Zeit des Stifters, noch üblich war; man hat, wohl durch die wiederholten Brände gewarnt, eine Wölbung mit Stein durchgeführt und
zwar offenbart sich bereits ein neues Kunstgesetz: den Halbkreisbogen verdrängte
der Spitzbogen.
Schon die starken Pfeiler,
die das Mittelschiff von den
Seitenschiffen trennen und die hohen Wände tragen, sind mit Spitzbögen zu Arkaden verbunden. Wohl sucht über den Arkaden ein wagrechtes Gesims
noch wie in alter Zeit unseren Blick zur Altarnische zu lenken; aber vom Pfeilergrund laufen vorgelegte Pilaster als kräftige Streifen aufwärts, durch brechen die horizontale Linie, setzen sich bis zum Gewölbe fort und vereinigen sich mit den entsprechenden Streifen der gegenüberstehenden Pfeiler zu spitz bogigen Gewölbegurten.
Doch nicht von allen Pfeilern der Arkadenreihe führen
Tragbänder empor; nur jedes zweite Pfeilerpaar bildet ein solches Joch.
Auch
seitlich schwingt sich in der Höhe des Gewölbeansatzes von Jochpfeiler zu Joch pfeiler ein schmaler Längsgurt und schließt die Wand über den rundbogigen Fenstern spitzbogig ab. Durch die Haupt- und Seitengurte ist nun das Ge
wölbe in gleiche Felder mit quadratischem Grundriß geteilt; von Eck zu Eck
16. Der Bamberger Dom.
65
aber, als Diagonalen, steigen noch Rippen empor und treffen sich am Scheitel in einem Schlußstein.
Diese Gurte und Kreuzrippen tragen gemeinsam die
leichteren, dazwischen eingespannten Gewölbekappen.
Ein besonders großer
Schlußstein vereinigt die Rippen jenes Gewölbefeldes, das entsteht, indem sich Haupt- und Ouerschiff durchschneiden, die sogenannte Vierung.
Sie bildet
das Richtmaß, woran sich folgerichtig die übrigen Felder gliedern: je eines nach Westen, Norden und Süden und fünf nach Osten. An die beiden Enden Neben den fünf östlichen
der Längsrichtung schließen sich die Altarnischen.
Quadraten ziehen sich die Seitenschiffe hin, nur halb so breit und hoch.
Hier
führt von jedem Arkadenpfeiler ein Gurtpilaster empor, so daß die Wölbung
zehn quadratische Felder zeigt, doppelt soviel wie das Mittelschiff. Der Spitzbogen und das Kreuzgewölbe mit Rippen, die wesentlichen Merkmale der Gotik, sind demnach im Inneren schon durchweg angewandt. Von Ost nach West können wir am Gewölbe entlang den Fortschritt verfolgen.
Nur das Halbrund der Ostapsis ist noch mit einer glatten Halbkuppel überwölbt. Im vollsten Gegensatz weist die fünfeckige Westapsis in eine spätere Zeit; vor
gelegte Halbsäulen führen in den Ecken als Rippen zu einem gemeinsamen Schlußstein empor. Ähnlich ist das davorliegende Gewölbeqnadrat, zwischen Apsis und Vierung, in zwei durchkreuzte Rechtecke zerlegt, ebenso die Flügel
des Querschiffes; das Gewölbe scheint zusammengeschoben; das reichere Rippen netz macht die Decke leichter; statt der Pilaster tragen Halbsäulen die Gurt
bögen, setzen sogar erst in der Höhe auf Konsolen an. Doch stört dieser all mähliche Wandel vom Ostchor zum Westchor nicht den einheitlichen Eindruck. Die auf Ludwigs I. Befehl von 1828 bis 1837 vorgenommene Erneuerung hat zwar mit dem Verputz und Beiwerk späterer Zeiten auch die alte Bemalung ohne Gnade entfernt, so daß nun der Zauber der Farbe fehlt; die lichtgraue
Steinfarbe verstärkt den Eindruck schmuckloser Einfachheit.
Dafür wirkt aber
der wuchtige Aufbau zu einer Höhe von 25 Metern um so unmittelbarer; die auf wärtsstrebenden Träger mit den Gurten und Rippen verkörpern abgewogene Kraft; der Verzicht auf alles spielende Beiwerk verleiht dem Jnnenraum eine
vornehme, ernste Würde.
Die beiden Chöre rücken von der Apsis um zwei Quadratfelder in das Mittelschiff vor; der Boden ist um mehr als ein Dutzend Stufen erhöht, da
sich eine gewölbte Gruftkapelle darunter befindet.
Gegen die Seitenschiffe sind
sie noch mit aufgesetzten Steinschranken abgeschlossen.
man reich mit plastischem Schmuck.
Die Chöre allein bedachte
Teils zieht sich an der Innenwand der teils ist die Außenfläche der
Apsis unter den Fenstern eine Bogenreihe hin
Seitenschranken mit Blendarkaden und bedeutenden Figuren ausgezeichnet. Un vergeßlich bleibt jedem das Reiterbild Konrads III., der im Dom begraben liegt. Am Pfeiler links von den Stufen des Ostchores blickt er mit frei erhobenem Antlitz in den Kirchenraum; mit leichter Sicherheit sitzt er im Sattel.
Der
Ostchor führt den Namen Georgenchor; denn schon bevor das Bistum gegründet Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
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wurde, waren die sogenannten Georgenbrüder auf diesem Grunde angesiedelt. Sie hatten also ältere Rechte; ihre Körperschaft bildete später das Domkapitel. Der Westchor entstand für den Bischof und wnrde dem Apostelfürsten geweiht, weshalb er Peterschor heißt. In seiner Mitte steht der Sarkophag Snidgers. Dieser, nach der Chronik Hermans von Reichenau ein Sachse, „der nach dem ersten Eberhard als der zweite die Babenberger Kirche schon im
Der Georgenchor Im Bamberger Dom.
sechsten Jahre leitete, wnrde, obwohl er sich sehr sträubte, zum obersten Bischof der römischen Kirche gewählt und mit einem neuen Namen Klemens II. genannt (1047). Eben dieser erhob an demselben Tage den König Heinrich III. durch die Einsegnung zum Kaiser. Er endigte im römischen Lande im neunten Monate nach seiner Erhebung sein Leben, wurde nach seinem Bistum Baben berg gebracht und dort beerdigt." Wenden wir uns wieder der Außenseite des Domes zu um sie genauer zu betrachten, als es beim ersten Überblick hatte geschehen können. Die Süd seite kommt nicht in Betracht, denn sie ist durch das anstoßende Domkapitel haus verdeckt. Die Ostseite bestätigt uns wieder, daß man den Chor mit
67
16. Der Bamberger Dom.
besonderer Vorliebe schmückte.
Die eingeschrägten Rahmen oder Leibungen
der Rundbogenfenster sind mit Halbkugeln, sogenannten Diamanten, belebt. Vom Fußgesims der Apsis, dessen niedrige Bogenöffnungen Licht in die Gruft
kapelle einlassen, führen vorgelegte Säulen zwischen den Fenstern empor und geben dem eigentlich halbrunden Nischenbau äußerlich die Form eines Vieleckes.
Zwischen diesen Ecksäulen nun zieht sich unter den Fenstern ein außerordentlich
reiches Schmuckband
hin: zu oberst ein Schachbrettfries, dann ein Zahn
schnitt und ein Rautenfries, dann wieder ein Zahnschnitt und schließlich ein Rundbogenfries.
Ebenso zieht oberhalb der Fensterreihe ein reicher, mit
Blattwerk verzierter Rundbogenfries herum.
Den oberen Abschluß bildet eine herrliche Triforiengalerie, aus je drei Rundbögen auf Zwergsäulen bestehend.
Nicht minder kunstreich sind die Eingänge. Sie sind die eigentlichen Prachtstücke der Außenseite romanischer Bauten. Sie verengern sich in stufen-
attigen Absätzen bis zur Mitte des Mauerdurchmessers, so daß es aussieht, als stünden viele Tore hintereinander, immer eines kleiner als das andere, mit der eigentlichen Türe als Abschluß. Allerlei Schmuckwerk macht diese
Gliederung noch lebendiger: am linken Ostportal Zackenlinien; in den Ecken der Mauerabstufungen stehen Säulen; deren obere Hälfte wird von lebens großen Gestalten verdeckt; sie stehen auf Konsolen und haben zu Häupten
Baldachine: links Heinrich, Kunigunde und Stephanus, rechts Petrus, Adam Edle Haltung, schöner Faltenwurf, ausdrucksvolle Köpfe zeichnen
und Eva.
die Figuren der Adamspforte aus. Da sie erst im Laufe des 13. Jahrhunderts der Leibung eingefügt wurden, kann die Darstellung des Kaiserpaares nicht
als geschichtlich treu gelten.
Die Gnadenpforte, rechts der Apsis, führt den
Säulenschmuck schon reicher aus, verzichtet aber noch auf seitlichen Figuren
schmuck.
Damit sich die Säulen voneinander abheben, ist ihre Oberfläche
abwechselnd gestaltet, entweder glatt oder kanneliert oder wie mit einem Riemengeflecht überkleidet. Ähnlich sind die auf den phantastischen Kapitellen ruhenden Bögen unterschieden; einige sind, als wären gebogene Stäbe mit dicken Nägeln befestigt, mit „Diamanten" besetzt.
Das Bogenfeld über dem
Türsturz ist mit einem Steinrelief, Tympanon oder Lünette genannt, sinnig ausgefüllt:
es zeigt die Madonna, der sich rechts das Stisterpaar, links die
Heiligen Petrus und Georg huldigend nahen. Noch prächtiger ist das Fürstenportal am nördlichen Seitenschiffe. Tympanon stellt das Jüngste Gericht dar.
Das
Die Pforte tritt aus der Mauer
heraus um eine reichere Vertiefung zu ermöglichen; die Säulen sind zahlreicher und zeigen in der Oberfläche noch größere Mannigfaltigkeit als die der Gnaden pforte.
In der Mitte des Schaftes tragen sie einen Ring oder Wirtel.
Die
Figuren stehen zwischen den Säulen, immer zwei übereinander, eine auf den Schultern der anderen, eine Anordnung, die sinnbildlich Propheten und Apostel in ihrem Verhältnis andeutet.
Einige Figürchen links oben an der Wölbung
zeigen, wie unbefangen der Künstler, was die Lünette nicht zu fassen vermochte,
5*
68
16. Der Bamberger Dom.
ergänzend noch außerhalb des Reliefs fortsetzte.
An den Seiten des Portals
ist noch je eine Säule vorgelegt mit einer allegorischen Figur auf dem Kapitell:
links die Kirche, rechts die Synagoge, zwar nicht frei von archaischem Lächeln, aber mit Anmut behandelt; schön fließen die Falten des zarten, angeschmiegten Gewandes, die Ähnlichkeit mit den gleichen Gestalten am Straßburger Münster
ist unverkennbar.
Das Fürstenportal am Bamberger Dom.
Ein so reicher Schmuck wie am Fürstenportal konnte nicht mehr Über boten werden ohne zu verwirren;
man schlug neue Pfade ein.
Formen der
Gotik schmücken das nächste Portal an der Nordseite des Querschiffes.
Das Veitstor unter dem schönen Rundfenster des Giebels ist ein gedrückter Spitz
bogen, seitlich durch schöne Blendarkaden mit Kleeblattbögen geschmückt.
Den
schlanken Säulenschaft umschließt in der Mitte ein Wirtel, das Kapitell zeigt
statt der Würfelform oder phantastischer Bänder und Tiere einen zierlichen Kelchknauf, ein Knospenkapitell. Ein Gesims über diesem jüngsten Portal hat statt des Rundbogenfrieses ein Konsolenfries wie die Zisterzienserkirche im
benachbarten Ebrach.
Der ausblühende Zisterzicnserorden, der vor Mitte des
69
16. Der Bamberger Dom.
12. Jahrhunderts auch Deutschland schon besiedelte, war von Frankreich aus
gegangen und hatte die neue Bogen- und Wölbeform, woraus sich die gotische Bauweise entwickelte, bei seinen Kirchenbauten verwendet. 1200 wurde mit
dem Bau der Ebracher Klosterkirche begonnen.
Dazu kam noch, daß Bischof
Ekbert, der eifrigste Förderer des Dombaues in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts, Beziehungen zum westlichen Nachbarlande hatte; denn seine
Brüder waren Pfalzgrafen von Burgund. der gotischen Formen
nach Bamberg
Damit sind für die Vermittelung
wichtige Fingerzeige
gegeben.
Wir
beobachteten schon im Inneren, je mehr wir uns dem Westchore näherten, um so bestimmter die Formen des Übergangsstiles. So sehen wir auch an der Außenseite der Westapsis spitzbogige, große Fenster;
das Mauerwerk bildet
nicht mehr die großen Flächen; die aufstrebenden Stützen treten bewußter hervor; man bildete nicht mehr mit der alten Liebe und Sorgfalt die wagrechten roma nischen Zierstreisen. Überhaupt läßt sich die westliche Apsis an Schmuckwerk
nicht mit der östlichen vergleichen. Nur in den Türmen vermochte man noch die Vorgänger zu überbieten. Man hatte damals Freude an Türmen, das beweist ihre Zahl. Man ver zichtete zwar auf den Kuppelturm über der Vierung, wie ihn der Wormser Dom zeigt; dafür gestaltete man die Ecktürme um so kunstreicher.
Osttürme sind voll Schönheit.
Schon die
Sieben würfelförmige Stockwerke sind seitlich
mit Lisenen, wagerecht mit Gesimsen aus Zahnschnitt und Rundbogen umrahmt und abgetcilt; dem achten Stockwerk sind die Seitenkanten abgeschnitten, die
so verengerten Seitenflächen, in Giebel ausmündend, tragen das schlanke Dach. Die Stockwerke sind, je höher, mit desto lichteren Fensteröffnungen durch brochen. So wird das Mauerwerk immer leichter und macht den Eindruck lebendigen Aufstrebens.
Dies Mittel die Wände zu durchbrechen ist an den
Westtürmen mit überraschender Schönheit weitergebildet. ist noch wuchtig;
Der Unterbau zwar
aber sobald er über die Vierung emporschaut,
wird
die
Grundform achtseitig; an Stelle der bisherigen Kanten sind erkerartige Lauben
vorgebaut; mit schlanken Säulen steigen sie übereinander aus; die dazwischen liegenden, verschmälerten Seiten sind mit schlanken Spitzbogenöffnungen durch
brochen; diese und die Ecklauben lassen die Türme von allen Seiten durch sichtig und außerordentlich zierlich erscheinen. Sie sind die Krönung des
Werkes; sie sind das Vorbild für die Domtürme in Naumburg, wie sie ihrer
seits Nachahmungen der Kathedralkirche von Laon sind. Wie liebgewordene Freunde grüßen sie den Scheidenden noch weithin. Auch wir nehmen hiermit Abschied vom Bamberger Dom. Er bleibt uns un vergeßlich als einer der herrlichsten Vertreter des Übergangsstiles in Deutschland;
denn er hat noch teil an der reichen Fülle des ausgebildeten Rundbogenstiles
und vereinigt damit in stufenmäßigem Fortschritt die Anfänge der Spitzbogen architektur;
er bietet uns die reifen Früchte der romanischen Bauweise und
die ersten Blüten der Gotik.
70
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
17. Der Bayernstamm im alldeutschen Schrifttum. Don Hermann Stöckel.*
Jedem,
der die Geschichte des
drängt sich von Anfang
auf,
die sich
aus
an
deutschen
Volkes
aufmerksam verfolgt,
eine gewisse Mannigfaltigkeit der Erscheinungen
der Verschiedenheit
der
Stämme unserer Nation ergibt.
Können sie auch alle — der schweigsame Friese wie der ernste Sachse, der
bewegliche Franke
wie der frohsinnige Thüringer,
der tüchtige Schwabe wie
der treuherzige Bayer — als Söhne eines und desselben Hauses die Gemein
samkeit der Abstammung nicht verleugnen, so zeigt doch auch jeder von ihnen
eine so
ausgeprägte Sonderart,
die er von jeher in einem kräftigen Eigen
leben betätigte, daß darin ein Hauptreiz der Beschäftigung mit der Geschichte
des deutschen Volkes liegt.
Und wie die natürliche Veranlagung der Brüder
verschieden ist, so auch das, was jeder von ihnen zur Ausgestaltung der Grund
züge des gemeinsamen deutschen Wesens beigesteuert hat.
Wenn vom wetter
festen Friesen, dem äußersten Hüter deutscher Erde gen Nordwesten, der von
jeher den „goldenen Gürtel" seiner Deiche gegen das beutelüsterne Meer zu schützen hatte, ein alter Spruch sagt: „Krisis non cantat“, so bewies der
südöstlichste der deutschen Stämme, der um die stolze Donau und im erhabenen Alpengebirg seine Heimat gefunden, von Anfang an eine ausgesprochene Nei gung und Befähigung zum Singen und Sagen.
Und so ist dieser Stamm
der Bajuwaren, wenn er auch als letzter in die Geschichte eingetreten,
doch
nicht der letzte an geistiger Begabung und an Betätigung dieser seiner Geistes
gaben in dem friedlichen Wettkampf, in dem die Söhne Germanias die Jahr hunderte deutscher Geschichte hindurch ihre Kräfte maßen.
„Tole sint uualhä, spähe sint peigirä; luzic ist spähe in uualhum,
inera hapent tolaheiti denne
späht“,
toll (unklug) sind (die)
Molchen
(Welschen), spähe (klug) sind (die) Bayern; wenig ist Spähe (Klugheit) in (den)
Walchen,
mehr
haben (sie) Tollheit (Unklugheit)
denn
uns
ringen
befremdenden
Selbstgefühls,
das
sich
dem
Spähe (Klugheit) —
überlieferten Bekenntnis nicht ge
mit diesem in den Kasseler Glossenx)
Gebaren
einer anderen
Volksart gegenüber in naivem Selbstlob äußert, tritt der Bayernstamm in das deutsche Schrifttum ein.
Bald aber beansprucht er nicht nur sondern beweist er auch geistige Reg
samkeit, indem er teilnimmt an der Entwickelung der althochdeutschen Dichtung. „Das hort' ich unter den Lebenden als bas höchste der Wunder, Daß Erde nicht war noch Überhimmel, Noch Daum (nicht stund) noch Derg nicht war, Nicht (der Sterne) einer noch Sonne nicht schien, Noch Mond nicht leuchtete noch die mächtige See.
') Eines der sachlich angeordnetcn Wörterbücher der Karolingerzeit, das in bayerischer Mundart abgefaßt, in einer Handschrift aus dem Kloster Fulda auf uns gekommen und nach seinem Aufbewahrungsort benannt ist.
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
71
Als da nichts nicht war der Enden und Wenden, Und da war der eine allmächtige Gott, Der Manner mildester, und da waren auch manche mit ihm Gute Geister." . . .
Diese neuen Eingangsverse eines stabreimenden Gedichtes über den Anfang aller Dinge, mögen sie nun altsächsischen Ursprungs sein oder nicht, fanden
jedenfalls in Bayern, vielleicht zu St. Emmeram in Regensburg,
ihre Auf
zeichnung und wurden in dem bayerischen Kloster Wessobrunn auf die Nachwelt gebracht. Aber auch eine zweifellos selbständige Leistung steuert der
Bayernstamm in so früher Zeit zu dem Schatze der deutschen Dichtung
bei,
das in den kraftvollen Klängen der altbayerischen Mundart gehaltene, in mar
kiger Schilderung sich ergehende prophetische Gedicht vom Ende aller Dinge,
Muspilli, das zu Regensburg, dem Sitze Ludwigs des Deutschen, in der nächsten Umgebung des Königs, vielleicht gar von ihm selbst niedergeschrieben ist. Und nicht nur die alte Römerstadt, der Fürstensitz der Arnulfinge und der Kar
linge, war Mittelpunkt literarischer Bestrebungen, auch eine der kirchlichen Zentralen des Bayerlandes entfaltete nachweisbar eine nicht unwichtige schrift stellerische Tätigkeit.
Im Freisinger Petruslied, um minder Bedeutendes
beiseite zu lassen,
ist uns das älteste Beispiel geistlichen Volksgesanges auf
deutschem Boden erhalten, eine Art Wallfahrtslied oder ein Bittgesang den heiligen Petrus, dessen Fürsprache bei Gott erfleht wird.
an
Als weiterer Beleg für die schriftstellerische Betätigung des geistlichen Standes in Bayern sei die Übersetzung des Hohenliedes durch den ge
wandten, ehrgeizigen und weltlich gesinnten AbtWilliram von Ebers berg
genannt, der dem großen Schulleiter von Sankt Gallen, Notker dem Deutschen, noch am nächsten kommt ohne ihn übrigens zu erreichen.
Inzwischen hatte sich neben der geistlichen auch eine ausgesprochen welt Ihr gehört
liche Richtung im Schrifttum unseres Volkes Bahn gebrochen.
an „der älteste erfundene Roman der europäischen Literatur, der erste Ritter roman der Weltliteratur", wie Wilhelm Scherer das Gedicht bezeichnet, das um
1024
in
dem bayerischen Kloster Tegernsee in lateinischen Hexametern
verfaßte Epos Rnoblieb, das uns die früheste Ankündigung des erwachenden Minnesangs in dem lateinisch-deutschen Liebesgruß überliefert hat: „Melde ihm, Bote, von mir aus treu ergebenem Herzen Soviel Liebes (liebes) als nun auf Bäumen sprosset des Laubes (loubes), Soviel als Liederwonn« (wunna) der Bögel, künde ihm Minne (minna), Soviel als Gras und Blumen ersprießen, entbiet ihm der Ehren!"
Und wie beim Ruodlieb ein geistlicher Verfasser sich einen weltlichen Stoff gewählt hat, so überttug wiederum ein Geistlicher das nationale Helden gedicht der Franzosen ins Deutsche und zwar war es wieder ein bayerischer Dichter,
der pfaffe Kuonrät, der am Hofe Heinrichs des Stolzen (1126—1138) zu Regens burg das deutsche Rolandslied schuf. Derselbe Konrad scheint auch der
72
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
Verfasser der Kaiserchronik gewesen zu sein, der ersten der im Mittelalter
-so beliebt gewordenen Reimchroniken. Sicher ist sie aus dem Kreise der Re gensburger Geistlichkeit hervorgegangen, wie sie denn besonders bayerische Über lieferungen mit sichtlicher Vorliebe behandelt, so eine Erinnerung an die Besitz
ergreifung des Etschlandes durch den bayerischen Stamm, die Sage vom Herzog Adelger, dem Kaiser Severus Haar und Gewand zum Schimpfe
kürzen läßt, worauf das treue Bayernvolk dadurch die Schmach von seinem Herrn wendet, daß es die dem Herzog zur Demütigung aufgezwungene Tracht
zur allgemeinen
erhebt
tapferem Kampfe auf
und unter seiner Führung
den Angriff Severs in
dem Felde zu Brixen zurückweist, wo Severus Sieg
und Leben verliert, Herzog Adelger aber seinen Speer am Haselbrunnen in die Erde stößt mit den Worten: „Das Land hab' ich gewonnen den Bayern
zur Ehre, die Mark soll ihnen fortan dienen immer mehre." Hatten die zuletzt genannten Dichtungen trotz ihres weltlichen Inhaltes
noch Geistliche zu Verfassern, so ttat in den nun folgenden Spielmanns epen das Laientum in Stoff wie Verfasserschaft immer stärker hervor.
auch dabei zeigte sich Bayern als ein Land des Gesanges.
Und Hier dichtete um
1150 ein aus den Rheinlanden stammender Spielmann das Lied von der Königs- und Mannentteue, das Heldengedicht vom König Rother; hier fand
auch die Sage von der Freundestreue im Lied vom Herzog Ernst gleichfalls
durch einen rheinischen Spielmann um 1175 ihre erste künstlerische Fassung. Und die Vagantenpoesie, diese reizvolle Frühblüte mittelalterlicher Lyrik, die im Archipoeta am Hofe Friedrich Rotbarts ihren glänzendsten Vertreter
gefunden, sie scheint in Bayern besonders beliebt gewesen zu sein; wenigstens
hat ein Kloster dieses Landes, Benediktbeuern, die wichtigste Sammlung dieser eigenartigen lateinisch-deutschen Mischdichtung, bie Carmina Burana, auf uns gebracht. Aber auch der deutsche Minnesang ließ gerade im bayerisch-öster reichischen Stammesgebiet seine frühesten und seine frischesten Weisen erklingen.
Der ersten, schüchternen Knospe, die uns Ruodlieb in jenem lateinisch-deutschen
Liebesgruß geboten, reiht sich in den Briefen Wernhers von Tegernsee die zarte Erstlingsblüle an:
„Dü bist mln, ich bin din, Des soll dü gewis sin. Dü bist beslozzen In minem herzen; Verlorn ist daz slüzzelin: Dü muost immer drinne sin.“ Und der Kürenberger sowie Dietmar von Aist, deren schlichte Herzens töne noch heute nach siebenhundert Jahren ihres Eindruckes nicht verfehlen, sind sie nicht als Oberösterreicher bayerischen Stammes? Aber auch im eigent lichen Bayern erklang die Ritterharfe hell und wohltönend genug. So in
den Liedern des Burggrafen von Regensburg
und des von Rieten-
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
73
bürg, die wohl beide einem Geschlechte angehörten, wie es scheint, demselben, an dessen Hof auch Herger, der älteste uns bekannte Spruchdichter, gast
freundliche Aufnahme fand, und in den mannhafte Gesinnung atmenden Weisen des bayerischen Ritters Albrecht von Johannsdorf.
Und wie schon „Minnesangs Frühling" auf bayerischem Boden manch
herzerquickende Blüte getrieben, so erschloß sich auch die ganze Sommerpracht ritterlicher Liebesdichtung in
der kurzen ersten Blütezeit des deutschen Schrift
tums gerade im bayerisch-österreichischen Sprachgebiet zu herrlichster Entfaltung. Dem bayerisch-österreichischen Stamme gehörte wahrscheinlich schon von Geburt,
sicher seinem Bildungsgänge nach der glänzendste Vertreter der gesamten Lieder und Spruchdichtung unseres Mittelalters an, der Sänger der süßen Minne
wie der deutschen Zucht und Sitte, der furchtlose Verfechter deutscher Kaiser
herrlichkeit,
der
treue Mahner
der Bogelweide.
Wenn
und Warner seines Volkes, Walter
wir
auch
hier
von
von
einer eingehenden Wür
digung dieses größten deutschen Lyrikers vor Goethe Abstand nehmen, da wir uns auf Bayern im engeren Sinne beschränken wollen, so bleibt uns doch noch derjenige
unter den ritterlichen Dichtern unseres Volkes, der neben Walter
der größte gewesen, Wolfram von Eschenbach.
Im Grenzgebiet der Bayern und Ostfranken, zu Wildenberg (jetzt Wehlen berg) bei Gunzenhausen beheimatet, nach Eschenbach bei Ansbach benannt, rechnet sich Wolfram selbst den Bayern zu:
Ein pris, den wir Beier tragen, muoz ich von Wäleisen sagen: di sint törscher denne beiersch her unt doch bi manlicher wer. swer in den zwein landen wirt, gefuoge ein wunder an im birt. Wenn irgend etwas, müßte die schalkhafte Laune, die aus diesen Versen
spricht, für die Zugehörigkeit Wolframs zu dem Stamme zeugen, dem er sich
selbst zuzählt. Volksart,
Der unverwüstliche Humor, dies köstliche Erbteil der bayerischen
für deren Fähigkeit zu harmloser Selbstironisierung wir Goethes
Wort in Anspruch nehmen möchten:
„Wer sich nicht selbst zum besten haben
kann, der ist gewiß nicht von den Besten", dieser goldene Humor war es denn
auch, der dem wenig begüterten Ritter hinweghalf über die Unzulänglichkeiten des Lebens, der ihn befähigte über die Schwächen anderer wie seiner selbst zu
lachen, der ihn überall als den überlegenen Geist sich bewähren läßt, der über
den Dingen steht, Mitgefühls.
aber nicht kalt und teilnahmslos, sondern voll warmen
Gerade die angeführte Probe gutmütiger Selbstverspottung,
die
einen so auffallenden Gegensatz zu dem naiven Selbstlob der Kasseler Glossen l) Ein Lob, das sonst wir Bayern tragen, Muß ich von den Waleisen sagen: Die sind noch dümmer gar als wir,
Doch mannhaft, voller Kampfbegier. Ist einem von uns Witz verliehn, Der wird als Wunderkind beschrien. (W. Hertz.)
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17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
bildet, zeigt die Überlegenheit dieses größten dichterischen Vertreters des ganzen
Bayernstammes am schlagendsten:
was
mißgünstige Nachbarn den Bayem
nachsagen mochten, eine gewisse Unbeholfenheit im Auftreten, gerade das benutzt der Dichter um die Tapferkeit seines Stammes in Helles Licht zu rücken.
Aber
auch sonst vergoldet ihm die menschenfreundlich-heitere Grundstimmung seines Wesens
das ganze Leben
und
verleiht seiner Darstellungsweise wie seiner
Sprache einen eigenen Reiz, eine Frische, eine Ursprünglichkeit und Anschaulich keit, durch die sie hoch über der gedankenblassen Ausdrucksweise anderer höfischer
Dichter steht. genug
Es kam Wolfram zugute, daß seine bayerische Heimat weit
von Frankreich,
und
der Wiege
dem Musterland höfischen Wesens,
ablag um nicht so stark von dorther beeinflußt werden zu können wie das Rheinland und Alamannien.
Mochten die Alamannen immerhin den Bayern
vorwerfen, daß ihren Dichtungen der Stempel höfischer Vollkommenheit fehle,
mochte Gottfried von Straßburg
über
den
großen Ungenannten, der nur
Wolfram sein kann, als über einen „viudaere wilder maere,
der maere
wilderaere“J) den Stab brechen: wir freuen uns, daß sich Wolfram gerade die Eigenschaft unverkümmert erhielt, die auch heute noch das beste Erbteil
des bayerisch-österreichischen Stammes in seiner Unverbrauchtheit ist, naturftische Ursprünglichkeit.
Von ihr beseelt und durchdrungen verzichtet Wolftam gern
auf erkünstelten Ernst und erzwungene Würde, von ihr geleitet tritt er herz
haft an die Dinge heran, sieht und schildert er sie, wie sie sind: je bezeichnender
der Ausdruck, je anschaulicher das Bild, desto lieber ist es ihm.
Wohl streift
er dabei gelegentlich die Grenze des ästhetisch Zulässigen, ja er überschreitet
sie auch ab und zu, aber immer ist es frisch pulsierendes Leben, das er uns
bietet, nichts Totes, Erstarrtes, nichts Ausgeklügeltes, nur Erdachtes.
Aber derselbe Dichter, der so trefflich zu schildern versteht, er haftet nicht an der Außenseite der Dinge;
derselbe Mensch, der so herzlich lachen
kann, ist auch des tiefsten Ernstes fähig.
Schon die Wahl des Stoffes zu
seinem Hauptwerk Parzival, mehr noch dessen Ausführung zeigt, daß Wolftam
eine religiöse Natur im besten Sinne des Wortes, d. h. ein Mensch durch drungen vom Walten einer höheren Macht, aber frei von jeder ungesunden Welt- und Lebensflucht und fern von jeder kaltherzigen Verfolgungssucht war. Auch darin scheint uns der liebenswürdige Dichter ein echter Sohn des Bayern
stammes zu sein, der sich durch die Jahrhunderte seiner Geschichte in menschlich
schöner Weise freigehalten hat von jeder Art von Zelotismus, aber stets ein tiefes Bedürfnis bekundete
zu stehen.
zu seinem Gott
in einem herzlichen Verhältnis
Darum konnte auch Wolftam die vielfach äußerlichen Geschehnisse
seiner Vorlage in tiefere innere Beziehung zueinander setzen, das Ganze aus der Fülle seines Innenlebens bereichern und ihm eine Seele einflößen, so daß
Wilhelm Scherer ihm gar wohl nachrühmen durfte:
„Ein schriftunkundiger
*) „Ein Erfinder befremdlicher Abenteuer, ein Geschichtenjäger.
17. Der Bayernstamm im altdeutschen Schrifttum.
75
Deutscher hat den tiefsten Gehalt des europäischen Rittertums künstlerisch verewigt."
Aber auch Wolframs Zeitgenossen und die nach ihm Kommenden
hatten eine Ahnung von dieser Tiefe seines Wesens, so besonders sein Lands
mann Wirnt von Gravenberg, wenn er von dem „wisen man von Eschen bach“ sagt:
„Sin herze ist ganzes Sinnes dach: Leien munt nie baz gesprach.“ ')
Kann demnach der bayerische Stamm stolz darauf sein den tiefsinnigsten
und größten jener Epiker sein eigen zu nennen, die sich bemühten die wirren
Mären der Bretonen zu sinnvollen Taten zu läutern und die nationalen Vor kämpfer der Kelten zu Spiegelbildern reinsten Rittertums umzuformen, so ging aus ihm auch, die größte aller zeit- und sittenschildernden Dichtungen unseres
Mittelalters, der Meier Helmbrecht von Wernher dem Gartenäre, hervor, jenes vorzügliche Zeitgemälde, das uns die Übeltaten eines dem Raub wesen verfallenen Adels und die verderbliche Überhebung seiner bäuerlichen
Spießgesellen in Bildern von überzeugender Lebenstreue vor Augen stellt. Aber noch einen anderen Beweis seiner Begabung für kraftvolle Wirklich
keitsschilderung hat der bayerische Stamm erbracht. Wir meinen die höfische Dorfpoesie, die wie mit dem Pinsel eines Niederländer Meisters die derben Sommer- und Wintervergnügungen eines kraftstrotzenden, selbstbewußten Bauern
geschlechtes uns vergegenwärtigt.
Ein bayerischer Ritter, Neidhart von
Neuental, war es, der diese neue Richtung aufbrachte, die einzige wirklich
neue, die nach Walter von der Vogelweide in der höfischen Lyrik noch aufkam. Bringen wir außer dem bisher Betrachteten noch in Anschlag, daß das mehrmals erwähnte Kloster Tegernsee uns im Antichristspiel das groß artigste Drama,
das im Mittelalter auf deutschem Boden entstanden, auf
bewahrt hat; berücksichtigen wir, daß die N i b e l u n g e n s a g e um 990 zu Passau auf Geheiß des Bischofs Piligrim zunächst in lateinischer Sprache ausgezeichnet wurde, um 1200 aber ebenso wie die Gudrunsage im bayerisch-österreichischen
Stammesgebiet ihre herrlichste Ausgestaltung in deutscher Sprache erfuhr; be
denken wir, daß Bayern den gewaltigsten Prediger des ganzen deutschen Mittelalters, Bertold von Regensburg, hervorgebracht hat, dessen erschütternden Worten Tausende auf freiem Feld in Zerknirschung lauschten; ziehen wir in Rechnung,
daß Bayern
auf der Höhe des Mittelalters den
großen Geschichtschreiber
Otto von Freising, zu Ende dieses Zeittaumes den trefflichen Aventin uns geschenkt hat, so kann kein Zweifel über die Tatsache herrschen, daß der bayerisch-österreichische Volksstamm während des Mittelalters in der Pflege des
heimischen Schrifttums hinter keinem deutschen Stamme zurückstand, ja, was Zeit und Wert der Leistungen anbelangt, vielen mit rühmlichem Beispiel voran schritt.
Um so auffallender muß die andere Tatsache des fast gänzlichen Ver*) „Sein Inneres birgt lauterste Weisheit; Laienmund hat nie besser gesprochen."
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18. Bayerische Stammesangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils,
stummens eines so reich begabten Volksschlages in der Folgezeit, insbesondere in der zweiten Blütezeit der deutschen Dichtung, genannt werden.
Die Ursache
dieser betrübenden Erscheinung ist in der gewaltsamen Absperrung des Bayern
stammes vom Geistesleben der deutschen Nation zu erkennen, einer Maßregel, die keine andere Folge haben konnte als geistige Unfruchtbarkeit.
Erst das
freisinnige Walten des letzten Sprossen aus Kaiser Ludwigs Stamm, Max III.
Josephs, hat die Eisdecke des langen Winters gebrochen und die einsichtige Fürsorge
des Hauses Zweibrücken hat dem lang erstarrten Boden wieder Blüten und
Früchte entlockt, durch die Bayern wieder geworden, was es einstens war: eine Heimstatt der Kunst, eine Pflegestätte der Wissenschaft.
18. Bayerische Stammesangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chroniftensttls. a) Andreas von Regensburg?) Don Herczog Stephan Ingelstat.
Herczog Stephan von Bahren Jngelstat, herczog Ludweigs und frawen Elyzabeth, künigin zu Frankchreich, Vater, ist gewesen klayner und durchgeadelter
Person.
Er ist gein mäniklich ein freymilder Herr gewesen.
Darumb het in
auch mäniklich lyeb. Er was eines tags zu Mayland bei seinem swecher?),
Herren Galiacz,
und da sh nach fürstenlicher gwonhait heten ir chürczweil von irem tuen und vermögen mit Worten gegen einander und sh auch also prüften dH groß huet^), *) Aus „Andreas von Regensburg, sämtl. Werke", herausgegeben von Georg Leidinger, S. 653. München, M. Rieger, 1903. — Andreas, Chorherr im Augustinerstift zu St. Mang in Stadtamhof 1400 bis etwa 1440, von den Regens burger Bürgern der bayerische Livius genannt, auch von Aventin hochgeschätzt und als Hauptquelle benutzt, schrieb Werke, die nicht nur für die Geschichte Bayerns sondern auch für die deutsche Reichsgeschichte von unvergänglichem Werte sind. In erster Beziehung sind zu nennen zwei Chroniken über die bayerischen Fürsten (eine lateinische und eine deutsche); zu diesem ersten bayerischen Geschichtswerk war die Anregung von einem Wittelsbacher Fürsten (Herzog Ludwig von Bayern-Ingolstadt) ausgegangen und der fürstliche Auftraggeber hatte den rechten Mann gefunden. In zweiter Hinsicht sind erwähnenswert seine allgemeine Chronik, seine Chronik des Konstanzer Konzils, sein Tage buch und seine Hussitenchronik. 2) swecher — Schwiegervater, sagt Andreas irrtümlich; Herzog Galeazzo Biskonti von Mailand war der Schwager des Bayernherzogs, denn Thaddäa Diskonti, die Tochter des Herzogs Barnabas Biskonti und seit 1364 die Gemahlin des Ingolstädters, war die Schwester Galeazzos. Aber trotz dieses Irrtums verdient die Tatsache, daß ungefähr em Jahrhundert, bevor der Württembergische Herzog Eberhard im Barte auf jenem Reichs tag 1495 „einst zu Worms im Kaisersaal" sich als „reichster Fürst" pries, ein Wittelsbach er Fürst (etwa 1390) jenes stolze Wort von der Liebe und Anhänglichkeit seines Volkes gesprochen hat, besondere Beachtung. 3) Leibwache.
18. Bayerisch« Stammesangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils.
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dy der von Moyland het, und dy forcht der sehnen gegen im, da ward erweget herczog Stephan von trawens wegen, das er het zu den sehnen, und
sprach: Wir haben zu den unsern in unserm lannde ein solichs trawen, das
feiner ist, wir walten ein nacht an sorg in seiner schoße slaffen.
Dicz wart
schäczt gar hoch der von Mayland. Er ist abgangen von todes wegen umb dy zeit, als man zalt 1414 und
ligt im frawenchloster zu Schönfeld.
b) Hans Cbran von Wildenberg?) Von Ludwig des Bayern Kaiserwahl; Schlacht bei Mühldorf.
Ludbig, fürst von Beim, ward erhielt zu einem römischen konig von
dem bischof zu Maintz und von dem bischof zu Triels und von dem marggrafen von Brandenburg und von dem konig zu Beheim, und ward wider
in erwelt hertzog Friderich von Österreich von den andem drei kurfürsten. Das geschach nach der menschberdung Cristi 1315 jare?) und nach der wal zügen die zwen erhielten konig züfeld mit großer macht für die stat zü Frankfurt,
und die stat was mit konig Subbigen,
so lag der von Österreich zü der
andern feiten mit seinem Here, und das wasser, genant der Männ, was zwischen ir, das sie nit züsamen mochten, darnach kamen die zwen fürsten züsamen
in Swabenland bei der stat Eslingen und stritten daselbs miteinander, das auf beben feiten vil volcks erschlagen ward, und rawmbten beb teil die Walstatt, also das man nicht west, wer den sig behalten hett. darnach zoch hertzog Friderich heim gern Österreich und warb sich bei dem konig von Hungern und bischof zü Saltzburg. der konig von Hungern schickt im zü lieb 2200 glasen4l )** *und 4000 pogenschützn.
so sambt er aus
seinen Landen und mit dem bischof zü Saltzburg 1800 glasen und 24000 man züfüssen und er zoch mit der großen macht herauf in Beim. , hie enzwischen sambt sich konig Ludbig auch mit einem großen Here,
wann6)* der konig von Beheim, der bischof von Triel und der burgkgraf von Nürmberg und ein graf von Hennenberg, die Herren all, schickten konig Ludbig
1900 glasen und 18000 man züfüssen.
die zwen obgedachten erwelten konig
kamen züsamen mit großer macht nachend bei Müldorf und stritten do mit einander einen Herten streit an sand Michelstag, und konig Ludbig behüb den l) „Quellen unb Erörterungen zur bayerischen und deutschen Ge schichte." Neue Folge, II. Band, 1. Abteilung. „Des Ritters Hans Ebran von Wildenberg Chronik von den Fürsten aus Bayern." Herausgegeben von Friedrich Roth. München 1905. S. 113 ff. — HanS Ebran von Wildenberg, etwa um 1430 geboren, gestorben vor 1503, Hofmeister am Landshuter Hof, ward von feinem Fürsten Ludwig dem Reichen zum Geschichtschreiber begeistert, „sollt' des Lob, ritter liche und streitbare Händel nicht in zukünftigen Zeiten gedacht werden, kränkets mein Gemüt." 8) Trier. — 8) Ein Irrtum des Chronisten; die Wahl fand am 20. Oktober 1314 statt. — 4) Lanzenreiter. — 8) denn.
78
18. Bayerische StammeSangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils,
fig, und der hertzog von Österreich ward gefangen und groß ritterschast mit im, auch wurden ir vil erschlagen. Do nu der streit geendet ward, do wurden die ritter und knecht aus Peheim, Beirn und Franckhen vast kriegn1), dann jeder wolt den freidigen
hertzog von Österreich gefangen haben,
do sprach der surft: „des kriegs will
ich euch wol bescheiden; tragt mir für ein jeder seinen Wappen rock und die flcinot*3),4 *die 6 er auf dem hawpt gefurt hat, so wil ich den zeigen, dem ich vancknuß gelobt hab", und do nu die kleinat für den surften von Österreich gebracht wurden, do klopft er auf ein kuemawl und sprach: „das kuemawl kund ich hewt weder mit stechen noch schlahen von mir bringen; dem hab ich
gelobt."
Das was ein beirischer edelman, genant Ringsmawl.8)
c) Beit Arnpeck?) Des römischen Königs Maximilian I. Besuch in Landshut, Freising und München.
Anno 1491 am smalzigen sambstag8) kam der römisch küng gen Landshut. do das erhört sein swager Herzog Albrecht, am gaylmontag8) von München
für er ab auf der User gen Landshut.
darnach am aschermitbochen kam der
küng mit 700 pfarden gen Freising, der bischof, weichpischof, abt von Beichenstefen, all drei in iren infelen, der brobst von der Neuenstift mit seinem stab, thumherren, korherren und alle briesterschaft in korkappen mit dem heiltum
und die hantberchzünst mit irn gemalten und vergülten kerzen giengen im engegen aus dem thum herab in di stat mit der Proceß bis zu dem heiligen geist. do wartet man sein lang, es was im aber nit gemaint.7) er schicket
wol etlich fürsten vor.
darnach schuf man die Proceß ab.
er rait nachet
sam bei der nacht ein und was über nacht in dem geschloß in der neuen turnij8) und kamer.
der bischof antbortt9) ihm die schlüssel zu dem geschloß.
Herzog Albrecht was in des bischofs stuben und kamer und der bischof in der alten turniz und silbcrkamer und hielt den küng und alle, di mit im da waren,
frey aus mit essen und trinken und fuetter. am pfinztag10) im chor sungen sein finger11) ain ambt von sand Sigmund, und der Weichbischof sang das ambt, und zwen tumherren dienten im, und das heiltum stund als auf dem altare.
auch hett man amen tisch beraitt vor dem sacramentgeheus. darauf las meß am ersten ain reichspfründener und darnach des küngs caplan. dem küng ») = gerieten fast in Zank. — *) Helmzierden. — s) Albrecht von Rindsmaul, Pfleger zu Neustadt an der Donau. 4) AuS seiner bayerischen Chronik, cod. germ. Nr. 2817, fol. 414 b—417 a. — Beit Arnpeck, Pfarrer zu Landshut, lebte um 1440—1495. Seine Werke sind in chronologischer Ordnung: 1.' eine österreichische Chronik (lateinisch), 2. eine bayerische Chronik (lateinisch), 3. eine deutsche Umarbeitung der letzteren, 4. eine lateinische Chronik der Bischöfe von Freising. 6) auch feister Samstag genannt, d. i. Sonnabend vorEstomihi — Fastnachtssonntag. — •) Fastnachtsmontag, Montag nach Estomihi. — 7) es war ihm nicht gefällig, lieb. — ®) Gaststube in Höfen und Schlössern — Dürniz. — •) überantwortet. — 10) Donnerstag. ") seine Sängerkapelle.
18. Bayerische Stammesangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils.
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hett man aufgelegt ain guldeins tuch und ain seideins küß. in dem ersten stand'), do man herauf get bei dem sagran, do stund der tüng, nach im Herzog Albrecht, darnach ain Herzog von Braunsweig, darnach ain landgraf
von Hessen, darnach bischof Sixt, darnach über zwen ständ2) des türkischen kaisers bruder.3) do man das ewangelium gelesen hett, gieng der bischof hinauf und nam das Puch von des küngs caplan und kredenzt das mit ainem roten seyden tüchlein und gab das dem küng alain zu küssen, also tet er auch mit dem agnus, nam er di Paten mit der credenz und gab das dem küng zu küssen, do das gotlich ambt volbracht ward, gieng der küng auf gen sand Sigmund und darnach in di burk.
er schiket etlichs Volk gen Augspurk.
do
nun der bischof all fürsten und ir Volk wol gespeist hett, rait der küng mit den fürsten obgenant auf gen München,
der bischof gab im das gelait, so
weit sein land weret. Zu München ward der küng gar frolich von seiner sbesteren empfangen, man machet im zu lieb di selb nacht amen tanz, er tanzet zwir') mit seiner sbester.
d) Johannes Turmair, genannt Aoentinus?) Beschreibung des Baierlands in der gemein auf das Kürzest.
Das ganz land in der gemain ist vast3) fruchtpar, reich an salz traid Viech vischen Holz Waid wildprät und kurz alles, so zu der schnabelwaid7) dient,
ist allda übrigs genueg. Viech salz traid wird in ander lant getriben, gestiert und verkauft. Wein pringt man aus andern landen auf land und wasser, nemlich ab dem Rein, Neckar, auß dem Elsaß, welschen landen, Chrain, Histerreich3), Veltliner tal, Tramm, Franken und Österreich. Und, als das gemain geruech, niendert lebt und ligt man Paß?)
stund, der kürzest bei acht stunden lang.
Der lengst tag ist über sechzehen
Oster- u. Westerwind, den man ober
und nider nent, wäen dick'") und oft und gegen denen pflegt man nit zu pauen; der oberwind pringt gern regen und ungewitter, der ander schoen und
staet Wetter. Beschreibung der fisten des lands auf das Kürzest und in der gemain.
Das baierisch Volk (gemainlich davon zu reden) ist geistlich, schlecht und
gerecht, get, läuft gern kirchferten"), hat auch vil kirchfart; legt sich mer auf
•) Kirchenstuhl. — ’) d. h. zwei Kirchenstühle hinterhalb. — •) Prinz Dschem, Bruder des türkischen Sultans Bajazeth, der von den Johannitern gefangen und von dem König von Frankreich an König Maximilian alS Gefangener ausgcliefert worden war. — *)**)zweimal. •) „Sämtliche Werke", auf Veranlassung Sr. Majestät deS Königs von Bayern herauSgegeben von der Kgl. Akademie der Wissenschaften, IV. Band, bayerische Chronik, herausgegeben von Matthias Lexcr, München 1883, S. 41 ff. •) sehr, oft. — ’) Speise. — 8 Istrien. — •) wohnt man besser. — 10) wehen häufig. **) Wallfahrten
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18. Bayerische StammeSangehörige als Vertreter des mittelalterlichen Chronistenstils,
den ackerpau und das viech dan auf die krieg, denen es nit vast nachläuft; pleibt gern dahaim, raist nit vast auß in frembde land;
trinkt ser,
hat vil
linder; ist etwas unfreuntlicher und ainmüetiger *) als die nit vil auß kommen, gern anhaims eralten2), wenig Hantierung treiben, fremde lender und gegent haimsuechen; achten nit der kaufmannschast, hinten auch die kaufleut nit vast zu inen. Und im ganzen Baierland sein dreierlai ständ, die da zu eren und Ver
waltung laut und leut geproucht werden. Der gemain man, so auf dem gä8) und land sitzt, gibt sich auf den ackerpau und das viech, ligt demselbigen allain ob, darf sich nichts ongeschast der öbrikait understen, wird auch
in kamen rat genomen oder landschaft ervodert; doch ist er fünft frei, mag auch frei ledig aigen guet haben, dient seinem Herren, der sunst kam gewalt über in hat, jerliche güld4) zins und scharwerk8), tuet sunst was er will, sitzt tag und nacht bei dem wein, schreit singt tanzt kart spilt; mag wer8) tragen,
schweinsspieß und lange messer.
Große und überflüssige Hochzeit, totenmal
und kirchtag haben ist erlich2) und unsträflich, raicht kainem zu nachtail, kumpt kainem zu übel.
In nidern Baiern, so sich des rechtpuechs nit braucht, sitzen
sie auch an der landschrannen8) und müessen nrtail schepfen, auch über das Pluet richten. Die von den ständen sein prelaten, adl, purger.
Prelaten haben
große mechtige reiche gotsheuser, sotten tag und nacht zu bestirnter zeit des gotsdienst mitsambt irrn geistlichen brüedern außwarten, got und seine heiligen
loben, danken und für die fürsten (so solche clöster, pfrüend und stiften gestift haben) pitten. Man will sprechen, sie sein reicher und vermögen mcr dan die andern zwen stend, man gibt in mer gelts und guets dan den andern zwaien
stenden mitsambt den fürsten und Helts für mechtiger. Der adl wont auf dem land außerhalb der stet, vertreibt sein zeit mit
Hetzen paißen8) jagen; reiten nit zu Hof dan wer dienst und sold hat. Die burger regieren ir stet und markt selbs, sein handwerchsleut Wirt paurn, etlich kramer ftagner oder fürkeufl10), die armen tagwerker und taglöner. Ganz wenig haben am auskommen von iren gülden und zinsen und jerlichem
einkommen oder aufhcben und werden „die von dem geschlecht" genant.
Es
sein auch wenig kaufleut, die großen Handl füeren.
Die fürsten haben vollen gewalt von allen andern dingen, so land und leut antrist, zu handeln, und alle treffenlich fachen werden dergleichen zu
Hof vor den fürsten außgericht, es sei dan fach"), das man kriegen22) müeß oder steuer und dergleichen anlegen sol oder zwitracht und Uneinigkeit zwischen den Herrn erwachsen und erstanden ist. Wo dergleichen groß seltsam ungewönlich *) eigensinniger. — ’) daheim altern. — 8) Gau. — 4) Entgelt. — *6) Fronarbeit. —
6) Wehr. — 7) ansehnlich. — 8) Landgericht. — •) baizen. — 10) Fürkäufler — Kleinkrämer. — n) es sei denn der Fall. — 1S) Krieg führen.
81
19. Der Regensburger Dom.
fachen fürfallen, werden die stend alle drei an ein bestimbt ort auf ain außgeschribnen tag in ein landschast zam gevodert, ein jetlicher von den prelaten
und dem adl erscheint für sich selbs, die burger und stet schicken einen oder
zwen auß inen; alda wird ein ausschus gemacht und erwelt, der macht und gewalt hat zu handeln.
So vil sei nun,
als
geschicht eraischen,
gschaffen
die notturft und
gesagt von
der
brauch
der
wärhaftigen
sitten,
landschast,
recht-
breuchen
der
Baiern.
19. Der Regensburger Dom. (Deutsche Gotik.)
Don Siegfried Graf Pückler-Limpurg. * Wenn wir von deutscher Baukunst des Mittelalters sprechen, dann denken wir zuerst an unsere gotischen Dome.
Seit die Romantik unsere Blicke wieder
dem Mittelalter zugewandt und unser Verständnis für seine Schöpfungen neu
geweckt hat,
erfreuen vor allen anderen Bauwerken diese sich der Liebe und
Bewunderung des deutschen Volkes.
und
noch
Boden: der Dom von Regensburg.
Münstern
nicht
messen,
Nur einer von den ganz großen Domen,
einfachste von ihnen,
dazu der kleinste und
steht auf bayerischem
Aber kann er sich auch mit den rheinischen
so überragt er doch an Größe und Schönheit die
übrigen gotischen Kirchen des Landes und gibt einen guten Begriff von dem,
was die Gotik in ihrer höchsten Entfaltung geleistet hat. Betrachten wir zuerst das Innere des Domes;
alles
durch den inneren Raum bedingt,
Bedürfnis des Baues.
denn bei der Gotik ist
die Außenseite ergibt sich aus dem
Eine mächtige dreischiffige, spitzbogig überwölbte Halle
umfängt uns; das Hauptschiff, in dem wir stehen, ist breiter und höher als die beiden Seitenschiffe.
Alle drei münden in ein Querschiff von der Höhe des
Hauptschiffes; von gleicher Höhe ist der Chor mit vieleckigem Abschluß, der jenseits
des Querschiffes das Ende des Raumes bildet.
Das alles ist nichts Neues für
den, der romanische Dome kennt; aber die technischen und künstlerischen Mittel, mit denen der Bau durchgeführt ist, sind völlig verschiedene.
Was den roma
nischen Domen das ernste und schwere Aussehen gibt, die großen Wandflächen,
das fehlt hier ganz.
sondern
Die Höhe der Seitenschiffe ist nicht mehr ein Dritteil,
zwei Dritteile
des Hauptschiffes.
Die Pfeiler steigen
brechung bis zum Gewölbeansatz des Hauptschiffes an;
ohne Unter
zwischen ihnen,
über
den Scheidbögen des Seitenschiffes, öffnen sich große Fenster, von den darunter liegenden Bogenscheiteln durch eine zierliche Bogenreihe, die Triforiumsgalerie, getrennt.
an
Die Pfeiler selber tragen keine Bögen, sie sind ungegliederte Masse;
sie angelegt
und mit ihnen verbunden sind schlanke, kleine Säulen mit
Kapitellen, die Dienste.
Längsrichtung
Von jedem Dienst geht eine Rippe aus, welche in der
die Scheidbögen,
senkrecht zu
KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-.
diesen die Gnrtbögen und in 6
82
19. Der Regensburger Dom.
diagonaler
Richtung
die
Gewölberippen
bilden.
Diese Rippen
sind
das
wichtigste Kennzeichen der Gotik; man baut nicht mehr wie in romanischer
Zeit schwere massige Gewölbe, sondern konstruiert diese Rippen und setzt zwischen dieselben leichte Gewölbekappen ein. Hier in Regensburg ist noch
die Form des Kreuzgewölbes beibehalten; später hat man die willkürlichsten Gewölbeformen erfunden, die soge nannten Netzgewölbe. Dort, wo
die Rippen sich im Gewölbescheitel treffen, ist der ost reich verzierte Schlußstein.
Durch diese Rippenkonstruktion und in Verbindung mit ihr durch den Spitzbogen ist eine ganz neue Anordnung der Pfeiler entstan
den. Der romanische Baumeister konnte nur Bögen gleicher Spann weite zu einem Kreuzgewölbe tier einigen, war also an den quadra tischen Grundriß gebunden.
Der
Gotiker wählt den Grundriß recht eckig, so daß die Breite des Haupt schiffes viel größer ist als die der
Scheidbögen.
Ebenso
wird
der
Gewölbegrundriß im Seitenschiffe
rechteckig gewählt; das Breitenverhältnis beider
strenge
Schiffe
von zwei zu eins ist nicht mehr nötig, der Zwischenpfeiler zwischen
den Haupffchiffspfeilern, den der unbedingt brauchte,
Romaniker
kommt in Wegfall. Grundriß des Regensburger Domes.
a Ouerschiff; b nördlicher Turm.
Endlich läßt
sich auch das Querschiff beliebig verkürzen; so kommt es, daß hier
in Regensburg seine Schmalwand
in gleicher Linie mit den Außenwänden der Seitenschiffe liegt. An der Außen wand der Seitenschiffe setzt sich diese ganze Konstruktion fort. Es ist eigentlich nur eine weitere Pfeilerreihe von gleicher Anlage wie die innere Reihe, deren Bögen ausgefüllt sind von einer niedrigen Mauer und großen Fenstern. Auf der andern Seite des Querschiffes bildet der Chor den Abschluß der Kirche.
Anlagen mit doppeltem Chore an beiden Enden des Langschiffes,
wie wir sie bei vielen romanischen Domen finden, kennt die reine Gotik nicht. Hier in Regensburg entspricht jedem der drei Langschiffe ein eigener Chor,
83
19. Der Regensburger Dom.
jeder in den
bildet.
andern.
gleichen Maßverhältnissen wie das Schiff,
Der Chor
dessen Abschluß es
des Hauptschiffes ist fast doppelt so lang als die beiden
An Stelle der halbrunden Apsis im romanischen Stile ist hier ein
eckiger Abschluß
getreten,
dessen Grundriß
von
fünf Seiten eines Achtecks
Inneres des Regensburger Domes.
gebildet wird.
zu anderen
Die Form des Regensburger Chores ist einfach im Vergleich
gotischen Domen;
bei den meisten derselben wird,
den Seiten
schiffen entsprechend, ein Umgang um den Chor des Hauptschiffes geführt, bei den
größten und prächtigsten diesem Umgang noch ein Kranz von Kapellen
angefügt, deren Grundriß im kleinen den des Hauptchores wiederholt. Treten wir nun heraus und betrachten das Äußere, so werden wir finden, daß es den inneren Aufbau getreulich widerspiegelt.
Die Pfeiler der Längs-
wand sind mit Streben verstärkt, die nach unten staffelweise sich verbreitern;
6»
19. Der Regensburger Dom.
84
die Bekrönung eines jeden derselben bildet eine kleine turmartige Spitze, die
Fiale.
Hinter der Fiale spannt sich ein Halbbogen nach dem überragenden
Pfeiler des Hauptschiffs.
Dieser „Strebebogen" hat seinen besonderen Zweck.
Durch die Rippenkonstruktion lastet die ganze Schwere des Gewölbes auf den
Pfeilern; um sie nun zu entlasten ist dieser Halbbogen angefügt,
der den
Druck auf die Außenpfeiler des Seitenschiffes überträgt; hier nehmen ihn wieder die Streben auf und leiten ihn auf ihren breiten Unterbau herab. So bildet von den ungefügen Gründmauern der Streben bis zum Schlußstein
der Rippen alles ein einziges wohldurchdachtes System, in dem auch dem
kleinsten Teil seine bestimmte Funktion zugewiesen ist. Das ist der Kernpunkt des gotischen Kirchenbaues, dieser genialsten Schöpfung, die jemals die Bau kunst hervorgebracht hat. Das eigentliche Schmuckstück der Außenseite ist in Regensburg wie an den meisten gotischen Domen die Fassade an der Schmalseite, die hier zwei türmig angelegt ist. Sie zeigt in wagrechter wie in senkrechter Richtung die klassische Dreiteilung, freilich nicht in jener Vollendung wie das Straßburger
Münster.
Vier mächtige Pfeiler teilen die ganze Fläche in die Stirnseite des
Hauptschiffs und den vor den Seitenschiffen liegenden Unterbau der Türme. Eine auch um die Pfeiler herumlaufende Galerie trennt das Unter- und
Mittelgeschoß,
ein Ornamentstreifen
zwischen den Pfeilern das Mittel- und
Obergeschoß. Die ganze Fassade steht auf einer Untermauerung, zu der breite Freitreppen hinaufführen. In der Mitte des Untergeschosses liegt das Haupt portal, durch
einen Mittelpfeiler in zwei Türen
getrennt;
sein besonderer
Schmuck ist eine zierliche Vorhalle von dreieckiger Grundform. Zu beiden Seiten entsprechen ihm kleine Türen und über diesen große Fenster. Im
Innern ist dies Untergeschoß der Türme mit in den Kirchenraum hineingezogen, aber durch stärkere Pfeiler und andere Gewölbestellung von den Seitenschiffen geschieden. In das Mittelfeld des Mittelgeschoffes gehört bei der edelsten Gotik die Rose, ein großes, reich verziertes Rundfenster. Das unerreichte
Vorbild hierfür ist das Straßburger Münster; aber auch in Bayern haben wir ein schönes Beispiel davon an der Fassade der Lorenzkirche in Nürnberg.
Dem Regensburger Dome fehlt dieser Schmuck aus später anzuführenden Gründen; wir sehen an seiner Stelle zwei Fenster, darüber ein kleines Rund fenster und ein Kreuz. Das Obergeschoß ist hier nicht mehr einheitlich durch geführt.
In der Mitte steht der Hauptgiebel, bekrönt von einem in späterer
Zeit stilwidrig ausgebauten Türmchen; zu beiden Seiten erheben sich völlig losgelöst die Turmgeschosse mit großen Fenstern. Bis hierher war der Bau gediehen, als er zu Ende des Mittelalters eingestellt wurde; die Vollendung
erfolgte erst int 19. Jahrhundert und zwar, da kein Riß aus dem Mittelalter
sich erhalten hat, nach einem fremden Vorbild: dem Kölner Dome. Wie dort, wurde auch hier das vierte Turmgeschoß aus dem viereckigen Grundriß in den achteckigen überführt und mit einem durchbrochenen Helme gedeckt.
An Höhe
85
19. Der Regensburger Dom.
und Reichtum der Ausführung steht der Regensburger Bau freilich weit hinter seinem Vorbild zurück.
Bei
keinem anderen Stile
Konstruktion
verbunden
wie
bei
sind der
die Schmuckformen Gotik;
sie
haben
so
eng
vielfach
mit der
eine
ganz
Westansicht des Regensburger Domes.
besondere Bedeutung bei der Ausgestaltung des Baues. Die Fialen sind oben schon erwähnt; sie haben die Gestalt kleiner massiger Türme. Über der Außenseite der
Wimperge. gesims.
Fenster
sitzen
Um das Dach
Giebel,
läuft
die
den
Spitzbogen
überdachen,
ein reichgegliedertes Gesimse,
die
das Kranz
Unter dem Kranzgesims ragen Fratzen in Menschen- oder Tierform
mit geöffnetem Maule vor, bestimmt das Regenwasser weit hinaus ablaufen
19. Der Regensburger Dom.
86 zu
lassen, die Wasserspeier.
Auf allen Giebelschenkeln sitzen
gebogene, dem Kohlblatt ähnliche Blätter, die Krabben.
krause,
auf
Die Bekrönung der
Türme, Fialen und Wimperge bilden die Kreuzblumen, ein vieleckiger Schaft,
an dem in halber Höhe vier nach allen Seiten wagrecht ausladende Krabben sitzen.
Weniger regelmäßig ist das Pflanzenornament.
Meist sind es bestimmte
Pflanzen von allegorischer Bedeutung, wie der Weinstock (Christus), die Rose (Maria), der Efeu (Treue), die hier verwendet werden.
Es werden Kapitelle,
Friese unter Gesimsen, auch wohl Flächenfüllungen daraus gebildet. Solche Formen gehören meist der Frühzeit der Gotik an, am Regensburger Dome
beginnen sie schon spärlich zu werden. Ungleich wichtiger ist das Hauptornament der entwickelten Gotik,
das
Maßwerk. Es sind dies geometrische Formen, die aus gebogenen Stäben ge bildet werden. Sie dienen zur Füllung des oberen Teiles überhöhter Flächen,
so der Fenster, der einzelnen Abschnitte der Triforiumsgalerie und des Kranz gesimses, auch der Vorderseite der Streben; der Bestimmung entsprechend sind sie bald
durchbrochen
bald reliefartig
auf geschlossener Grundfläche.
Die
wichtigsten Formen sind: ein durch einspringende Zacken, „Nasen", dreifach
geteilter Bogen, der „Kleeblattbogen"; ein Kreis, an dessen innerem Rande
durch Nasen mehrere Kreissegmente gebildet werden, nach der Zahl der Seg mente „Dreipaß", Vierpaß" usw. genannt; die „Fischblase", ein Kleeblattbogen,
dessen Schenkel zu einem spitzen Winkel zusammenlaufen. Die Kleeblattbögen bilden stets die Grundlage des Maßwerks, ihre herablaufenden Schenkel teilen pfeilerartig den größeren unteren Teil des zu füllenden Raumes; über ihnen werden die anderen Formen eingefügt.
Bei den Rosen der Fassaden laufen
die Schenkel konzentrisch nach dem Mittelpunkte zusammen.
In der ältesten
Zeit wurden diese Formen möglichst rein nebeneinander gestellt, keine durfte
in die andere übergehen, ja nicht einmal die andere an mehr als einem Punkte berühren. Gerade für diese Gattung des Maßwerks bieten die Chorfenster des
Regensburger Domes prächtige Beispiele.
Später tritt das Bestreben hervor
die große Fläche durch enges Aneinanderdrängen lückenlos zu füllen, einstweilen
noch ohne die Reinheit der Einzelform aufzugeben. Erst in der spätesten Zeit der Gotik unterliegen all diese Schmuckformen merkwürdigen Veränderungen, bei denen die Willkür an die Stelle der Gesetz mäßigkeit tritt. An der Fassade des Regensburger Domes, besonders den Obergeschossen derselben, tritt uns diese Änderung deutlich vor Augen. Der Giebel über den Fenstern ist oft ersetzt, durch eine konstruktiv unmögliche Zier form, den „Kielbogen" oder „Eselsrücken", der etwa einer geschweiften Klam
mer zu vergleichen ist.
Im Maßwerk verdrängt die Fischblase alle anderen
Formen; sie läßt sich durch Biegung und Zerrung in jeden Raum hinein drängen, so daß die Umrisse sich enge aneinander schmiegen und miteinander verschmelzen.
Die Füllung wird dadurch phantastisch, oft bizarr, verliert aber
87
19. Der Regensburger Dom.
Am Untergeschoß des linken Turmes sehen wir sogar
ihre strenge Schönheit.
einen Fries aus Giebeln, die ohne Stützen zackenartig in der Luft hängen — eine völlig sinnwidrige Verwendung des Giebels. Ebenso eng wie der ornamentale ist auch der figürliche Schmuck mit dem gotischen Stile verbunden.
Auch er gehorcht bestimmten Gesetzen in Bezug
auf die Art und den Ort der Verwendung. Hier kommt zunächst das Portal in Betracht. An den abgeschrägten Wänden desselben, den „Leibungen", stehen zwischen den Diensten, welche den Bogen tragen, Statuen. In der Füllung des Bogens über der Türe, dem „Tympanon", sind Reliefs eingelassen, die meist in zusammenhängender Folge die Kindheitsgeschichte Christi, die Passion
oder, wie hier in Regensburg, den Tod und die Krönung Mariä darstellen. Auch der Pfeiler der dreieckigen Vorhalle des Regensburger Portales ist mit Im Innern sind Standbilder an bestimmte Plätze
Standbildern ausgestattet.
gebunden; sie stehen hier an der Innenseite der Hauptschiffspfeiler, etwa in halber Höhe des Seitenschiffs. Überall sind sie entweder auf Pfeiler gestellt,
die mit Maßwerk geschmückt sind, oder auf Konsole, die aus Laubornamenten
oder Figuren gebildet sind; über ihrem Haupte ist ein „Baldachin", ein aus der Wand vorspringendes Dach, das von einer Fiale gekrönt wird. Durch den beschränkten Platz, in den sich die Standbilder hineinpassen müssen, ist ihr Stil an besondere Eigenart gezwungen worden.
Sie sind nicht völlig
frei gearbeitet, sondern schließen sich rückwärts an die Wand oder den Pfeiler
Verwickelte Stellungen und ausladende lebhafte Bewegung sind unmög lich. Dem Bildner ist ruhige, feierliche Haltung für seine Werke aufgenötigt. Die besten Standbilder dieser Art, zu denen wir getrost auch die am Regens an.
burger Domportal rechnen können, machen dadurch einen ernsten, großartigen Eindruck; die große Menge freilich blieb steif und unbeholfen. Einen Versuch
stärkerer Belebung hat der gotische Bildhauer doch gemacht,
die sogenannte
gotische Biegung. Es liegt ihr der Gedanke an Standbein und Spielbein zu grunde; aber der Bildhauer hatte noch nicht Kenntnisse genug dies richtig durchzuführeu.
die Hüfte
nach
Er der
schiebt
einfach
Bein
anderen Seite vor.
Frauen, verleiht dies anmutigen Reiz;
und
Schulter
nach
Manchen Gestalten,
der
einen,
besonders
meist jedoch wirkt es gesucht und
unnatürlich. Neben dem plastischen Schmuck tritt der malerische stark zurück. Die die sich zur Bemalung eignen. Nur bei
Dome haben keine Wandflächen,
kleineren Kirchen, namentlich denen der Bettelorden, treten bemalte Wände an
Stelle der Außenpfeiler.
Reiche Verwendung findet die Malerei nur in einer
Form, der Glasmalerei.
Alle die großen Fenster der gotischen Dome waren
ursprünglich mit farbigen Darstellungen geschmückt, die leider nur zu einem kleinen Teil erhalten sind. Da damals die eigentliche Glasmalerei noch auf
sehr niedriger Stufe stand,
wurden
diese Fenster meist aus Stücken farbig
gegossenen Glases zusammengesetzt und mit Blei verbunden.
Daher haben die
19. Der Regensburger Dom.
88
Farben jener alten Fenster den eigenartig tiefen, für die Glasmalerei uner reichbaren Glanz.
Schon der Rundgang hat uns deutlich gezeigt, daß der Regensburger Dom nicht das Werk eines einzigen Meisters, sondern das Ergebnis einer
langen Bauzeit war.
Gleich seinem wenig älteren Gefährten, dem Kölner
Dom, erlebte er eine Arbeitszeit von fast 250 Jahren und blieb dann noch
unvollendet stehen; erst die ueueste Zeit brachte ihm die Vollendung.
1275 wurde der Grundstein gelegt.
Im Jahre
Wer der erste Baumeister war, wissen
wir nicht; sicher ist nur, daß er in Frankreich gelernt haben muß.
Der Volksglaube betrachtet gewöhnlich die Gotik als den ursprünglichsten
deutschen Stil., Tatsächlich ist sie nicht in Deutschland, sondern in Frankreich entstanden. Wohl haben wir in Deutschland einen Übergangsstil, der die Romanik durch Einfügen des Spitzbogens der Gotik annähert; Bewegung blieb ohne Ergebnis.
allein diese
Die wirkliche Gotik ist nicht daraus hervor
gegangen, sondern fertig aus Frankreich übernommen worden. Das Straß burger Münster, das Langhaus des Freiburger Münsters und der Chor des Kölner Domes beruhen auf französischen Vorbildern. Damit ist aber nicht
gesagt, daß die Gotik immer französisch blieb.
Gerade am Kölner Dom hat
sie im Laufe des Baues deutsche Eigenart angenommen, durch Vereinfachung und Vergrößerung der Formen, Weglassung unnötigen Zierates, vor allem durch Unterdrückung aller wagrechten Gliederung; die Fassade des Kölner
Domes ist das beste Beispiel rein deutscher Gotik.
In Regensburg hat sich
das französische Element lange gehalten. Französisch ist die Triforiumsgalerie, ist die Dreiteilung der Fassade. Sogar die Rose nach französischem Vorbild
war ursprünglich geplant; wir haben unausgeführte Aufrisse aus dem 14. Jahr hundert, welche eine Rose über dem Hauptportal aufweisen. Bis jene Teile zur wirklichen Ausführung kamen, war aber schon das 15. Jahrhundert angebrochen. Um die Zeit kam die Bauleitung in die Hände einer Baumeisterfamilie, die ihr durch vier Generationen Vorstand und die mehr deutsche Beziehungen pflegte, die Roritzer.
Damals wurde an Stelle der
Rose das Doppelfenster eingefügt; damals auch die dreieckige Vorhalle und
der Turm auf dem Giebel entworfen, die beide ihr Vorbild an der Frauen kirche zu Nürnberg haben.
Als der Nachfolger des letzten Roritzer, Erhard
Heydenreich, 1524 starb, erstarb mit ihm auch die Bautätigkeit am Dome.
Der Dom von Regensburg bietet uns ein Beispiel jener großen gotischen Bauten, die als Dome und Münster bezeichnet werden.
Die kleineren Stadt
pfarrkirchen haben zum Teil diese Bauten in verkürztem Maßstab nachgeahmt, zum Teil aber einen eigenen vereinfachten und deshalb passenderen Typ ge schaffen, den Hallenbau. Das Wesentliche an diesem ist, daß die Seitenschiffe gleiche Höhe haben wie das Mittelschiff. Das verwickelte Strebesystem wird
dadurch sehr vereinfacht, von seinen äußeren Merkmalen bleiben nur die Strebe pfeiler übrig.
Das Querschiff kommt in Wegfall.
Auch die Gliederung des
89
20. Die Versöhnten.
Baues wird einfacher und weniger fein, ein großer Teil der Fialen, Wimperge,
Galerien und Gesimse findet keinen Platz mehr. Die spätere Zeit hat diesen Typ sogar für Bauten größter Art verwendet: die Stephanskirche in Wien und das Ulmer Münster sind beide Hallenkirchen. Alle gotischen Formen sind auf den Bau mit Hausteinen berechnet. Nur zwei Gebiete haben, aus Mangel an guten Steinbrüchen, gotische Kirchen in
Backsteinen gebaut: das norddeutsche Tiefland und die bayerische Hochebene. Im ersten Gebiet hat sich dieser Backsteinbau in eigener Weise sehr reich ent wickelt. In Bayern blieb er auf sehr einfacher Stufe; man betrachtete den Backstein hier nur als Notbehelf und versuchte gar nicht, etwas Besonderes aus
ihm zu machen.
Das beste Beispiel hierfür und zugleich für den Hallenbau
ist die Frauenkirche zu München. Zwei Umstände haben hier also zusammen gewirkt um diesen Bau zu einer der schmucklosesten gotischen Kirchen zu Massig, ungegliedert steigen die Außenwände auf; die Pfeiler im Innern sind dick und schwer; sie haben achteckige Form ohne Dienste, die Rippen setzen unter dem Gewölbe auf Konsolen an. Deshalb geben sie dem Raume ein düsteres Aussehen. Wo Schmuckformen angebracht sind, da ist machen.
Haustein zu Hilfe genommen;
das Formen des Maßwerks aus Backstein wie
im Norden war in Bayern unbekannt.
Die Münchener Frauenkirche ist so das genaue Gegenteil des reich gegliederten Regensburger Domes. Von außen würde man beide wohl kaum demselben Stile zuteilen wollen. Aber hier können wir am besten beobachten, was schon zu Anfang gesagt wurde: der ganze Bau der gotischen Kirche ist stets
aus dem Jnnenraum heraus entwickelt.
Das Innere aber verbindet trotz aller
Unterschiede wieder den Bau an der Isar mit dem an der Donau: bei beiden trotz aller Unterschiede derselbe konstruktive Plan, derselbe in Pfeiler aufgelöste Raum, dasselbe Emporstreben aller Linien und Formen. Darin liegt der große Zauber der Gotik, der noch in den kleinsten und einfachsten Bauten fortwirkt und
den gotischen Kirchen ihre unerreichbare Stellung in der Baugeschichte verleiht.
20. Die Versöhnten. Don Hermann Lingg.l)
Noch hing der Schnee am Berge, Der Himmel wurde blau, Man sah schon sanft sich schmücken Mit Blumen Wald und Au.
(Es kam der Kaiser Ludwig Jur Trausnitz angeritten; Da trat er zum Gefang'nen Und sprach: „Ich komm' mit Bitten!
(Es sollte Frühling werden Und Friede auch zugleich Und wieder sollte blühen Eintracht im deutschen Reich.
„Verheert vom langen Kriege Ist unser beider Land, Ich biete zur Versöhnung, Ium Frieden dir die Hand."
*) „Vaterländische Balladen und Gesänge." S. 102.
München 1869. I. I. Lentner.
22. Kloster Ettal und der Pfasfenwinkel.
90
Sein kummervolles Antlitz Hob Friederich empor, (Er sprach: „Ich bin es, Detter, Der Land und Leut' verlor.
Ludwig der Bayer reichte Ihm froh die Rechte dar, Die Hostien dann nahmen Sie beide am Altar.
„Ich will vor meine Treuen, Wo meine Banner weh'n, Hintreten und sie mahnen Dom Kampfe abzusteh'n.
Umarmten sich und schwuren Den Treu- und Friedensbund Im Angesicht des Himmels Und froh mit Herz und Mund.
„Sieh mich bereit dem Szepter Des Reiches zu entsagen, Soll mir noch einmal Freiheit Rach Nacht und Kerker tagen."
Und frei und ohne Lösgeld Zog Friedrich aus der Haft, Beteuernd, sein Gelöbnis Zu halten auch in Kraft.
21. Deutsche Treue. Von Hermann ßingg. *)
(Es waren kaum vier Monde Verflossen seit dem Tag, Ans Tor der Burg zu München Geschah ein starker Schlag; Der Pförtner hob die Fackel, (Ein Ritter stieg vom Roß Und ging mit raschen Schritten Die Trepp' hinan im Schloß. Und vor den Hocherstaunten, Den Kaiser Ludwig, trat Der Herzog Friedrich sprechend: „Mein Wort ist worden Tat; Den Frieden dir zu bringen Dermocht' ich nicht derzeit, Aufs neu' erglühte wieder Der alte, bitt're Streit. Ich konnte nicht gebieten Dem Sturm, so will ich dein, Wie ich gelobt, auch wieder Als dein Gefang'ner sein."
Da legt ihm auf die Schulter Der König sanft die Hand: „Nein, nicht als mein Gefang'ner, Doch bleib bei mir als Pfand, Als Pfand der Lieb' und Treue, Die zwischen uns besteh'n Und nimmermehr soll wanken Und nimmer untergeh'n." An einem Tisch nun saßen Fortan bei jedem Mahl Die Könige und ttanken Aus einem Goldpokal. (Es stund in jedes Siegel Des andern Name vor; Die Welt, verwundert, blickte Zu solcher Treu' empor. Jahrhunderte verflossen Der Fürsten Biederkeit Erhebt noch aller Herzen Und sttahlt in alle Zeit.
22. Kloster Ettal und der Pfasfenwinkel. Don Carl Trautmann.8)
Wir sitzen in der traulichen, holzgetäfelten Gaststube des Klosterwirts
hauses.
Spät
am Nachmittage,
als die Sonne bereits hinter den grauem
*) Ebenda S. 105. s) Aus „Oberammergau und sein Passionsspiel", Bayerische Bibliothek, 15. Band.. S. 1 ff. Bamberg 1890. C. Buchner.
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
91
Schroffen des Wettersteines hinabsank, sind wir noch den Saumpfad herauf gezogen, der sich so steil den Ettaler Berg entlang windet, und noch zittert in
uns jene wundersam wohlige Stimmung nach, welche den Städter überkommt, wenn die bergfrische Einsamkeit ihm entgegengrüßt, wenn er neben sich den schäumenden Gießbach in seinem felsigen Gelände rauschen hört und zum ersten Male wieder nach langer Zeit würziger, moosdurchfeuchteter Waldgeruch die Brust schwellt. In der überfüllten Stube geht's gar lustig her; es ist ja heute Samstag und der Bauer, der die Woche über schweigend seiner einförmigen Arbeit
nachgeht, liebt es am Feierabende der Rede freien, lauten Lauf zu lassen. Jetzt gerade hat der eifrige Disput seinen Höhepunkt erreicht, und wer von
draußen den Lärm hört, der durch die niederen Fenster in die Dämmerung hallt, könnte wohl glauben, daß ein heller Streit im Anzuge sei. Da läutet man in der Klosterkirche drüben zum Abendsegen. Alsbald verstummt das Johlen, andächtig falten die Männer ihre lvetterharten Hände und das Flüstern der betenden Lippen zieht allein noch durch die regungslose Stille. Leise ver
klingen die letzten Glockentöne, die Anwesenden machen das Zeichen des Krenzes und mit einem behäbigen „Guten Abend" nimmt der Wirt die unterbrochene Unterhaltung wieder auf. In solchen Augenblicken erfährt es der Fremde, daß noch die uralten
Gepflogenheiten streng kirchlicher Frömmigkeit im Bolle sich erhalten haben. Auch die Straße, die er gegangen ist, hat ihn darüber belehren können. Am blühenden Rain und unter den weitschattenden Bäumen stehen die rohgezimmerten
Wegkreuze mit dem Bilde des Erlösers; die sogenannten Marterln haben ihn mit schlichten Worten aufgefordert ein Vaterunser für jene zu beten, welche jählings hier aus dem Leben geschieden sind, und tritt er von der Straße ins
Wirtshaus, so leuchten ihm an der Türe die Anfangsbuchstaben der Namen der heiligen drei Könige, mit Kreide angeschrieben, entgegen, denen die Macht innewohnt die bösen Geister von der Schwelle zu bannen, während in der Stube zuerst sein Blick auf den geschnitzten Herrgott mit dem geweihten Palm zweiglein fällt, der zwischen den Fenstern seinen Platz gefunden hat. Denn mag auch die Zeit sich gewandelt haben, mag modernes Leben und städtische
Anschauungsweise
übermächtig
in diese weltverlorenen Hochlandsdörfer ge
drungen sein, etwas vom ehemaligen Klosteruntertanen steckt noch in jedem Bewohner des Ammergaues.
Und geistliches Gebiet ist ja der Gau gewesen seit urvordenklichen Zeiten. Das langgestreckte, von der grünen Ammer durchflossene Gebirgstal, das sich vom einsamen Plansee an Ettal vorüber bis zum Passionsdorfe Oberammergau hinzieht, bildete einst einen Teil des Pfaffenwinkels, wie der Bolksmund jene weitgedehnten Gebiete nannte, welche eine festgefügte Kette stattlicher Klöster gegen die Hochebene hin abschloß, und von denen es hieß,
daß man vierzehn Tage darin herumreisen und alle Mittage und Abende auf
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
92
einer andern Prälatur oder Abtei speisen und schlafen konnte.
Von Füssen
drüben, wo das Stift des heiligen Magnus auf die schäumenden Wellen des
Lech herniederschaut, reichte diese Kette in weitem Bogen bis an den Fuß der Benediktenwand.
Da war Steingaden, die alte Welfenstiftung, und das
Augustinerkloster Rottenbuch, da waren Wessobrunn und Polling, Diessen und Bernried, Schlehdorf und Benediktbeuern und als äußerste Hochwart in das Flachland vorgeschoben ragte auf dem „Heiligen
Berge" das gnadenreiche Andechs empor über den blauen Fluten des Ammer sees. Jeder dieser Namen bedeutet einen Markstein in der Geistesgeschichte unseres Altbayernlandes, denn nichts lag den Bewohnern dieser stillen Mauern ferner als ihre fromme Weltflucht bis zur Kulturfeindlichkeit zu steigern. Seit
den Tagen, da die ersten Glaubensboten mit wuchtigen Axthieben die einsame Wildnis rodeten um ihren Siedel zu erbauen, bis zur Klosteraufhebung im Jahre 1803 haben geistiges Schaffen und künstlerisches Tun hier eine alle zeit gastliche Heimstätte gefunden. Allezeit sagen wir und nicht bloß, wie es ja männiglich bekannt ist, nur während des Mittelalters. Gerade in dem Zeitabschnitte der Gegenreformation, der den katholischen Süden im Gegen
satze zum Norden Deutschlands auf so eigenartige, mit romanischen Elementen durchsetzte Kulturbahnen wies,
als die Kunst des Barock und des Rokoko
ihren Hauptsitz in Altbayern aufgeschlagen hatte, erleben diese Klöster eine prächtige Nachblüte. Damals entstanden jene herrlichen, mit allen Mitteln sinnberückender Kunst ausgestatteten Kirchenbauten und Prälaturen, die noch
heute
gleich Fürstenschlössern
die Landschaft beherrschen und die in ihren
geräumigen, wohlgeordneten und planvoll vermehrten Büchereien so reiches
Rüstzeug für die gelehrten Forscher aller Nationen bargen. Man braucht nur die alten Reiseberichte zu durchblättern um zu ersehen, welch großsinnige Gast
freundschaft, welch reges, feinfühliges Interesse hier für alles vorhanden war, was der menschliche Geist in Kunst und Wissenschaft Hervorragendes zeitigte. Dieser ganze Gau führt uns „ein Bild warmherzigen Schaffenseifers süd
deutscher Architekten" vor, dem erst die kunsthistorische Forschung der jüngsten Tage wieder gerecht zu werden beginnt. Hier wurden, wie unser Westenrieder im'Jahre 1788 hervorhebt, „unzählige Jünglinge, an welchen man die Spuren
guter Köpfe bemerkt, von Klöstern und Pfarrern gleichsam an Kindesstatt an genommen, unentgeltlich erzogen und in den Anfangsgründen der Wissenschaften unterrichtet". Als am 22. Oktober 1758 in dem alten gotischen HauseT) an der Burg gasse in München jene Gemeinde hochstrebender Männer sich zusammenfand,
aus welcher die bayerische Akademie der Wissenschaften hervorgehen sollte, da war es ein Kind des Pfaffenwinkels, der treffliche Lori, der, wie
er jederzeit gerührt anerkannte, „vom Kloster Steingaden herausgehoben und x) Heute noch unverändert erhalten, Haus Nr. 5.
22. Kloster Ettal und der Pfaffcnwinkel.
93
verpflegt worden,"
welcher die Ziele der gemeinsamen geistigen Arbeit in
feurige Worte faßte.
Und wackere Kämpen der Aufklärung haben diese Klöster
selbst, zuvörderst Stift Polling, der neuen Akademie gestellt. Da waren, um nur zwei zu erwähnen, der bescheidene Dechant Eusebius Amort, ein Kind des Jsarwinkels, und der gelehrte Pater Gerhof Steigenberger, der sich zum Leiter der kurfürstlichen Bibliothek in München emporrang, ein armer
Häuslerssohn aus der Gegend von Peißenberg, „von geringen, aber gar ehr lichen und frommen Eltern geboren," dem das Kloster „auf eigene Hauskosten"
zu seiner Ausbildung in Paris und Rom die Mittel bot. Wohin auch der Lebenspfad solcher Männer sich wenden mochte, die An
hänglichkeit an das Mutterkloster ist ihnen geblieben, es zog sie immer wieder zurück nach den stillen Räumen, wo sie die schönsten Jahre verlebt und an die ihre Jugenderinnerungen sich knüpften. Wohl mochte auch unserem Steigen berger das Herz höher schlagen, wenn er in späteren Jahren bei einem Be suche Pollings den hallenden Korridor hinabwandelte und die Bibliothek be
trat, in welcher über achtzigtausend Bände der seltensten und kostbarsten Art aufgespeichert waren, wenn ihn dort sein Lehrer, der ehrwürdige Prälat
Franziskus, der vortreffliche Bücherkenner, inmitten der Folianten begrüßte, die er mit selbstloser Aufopferung Jahrzehnte hindurch in aller Herren Länder,
hinab bis Spanien und Portugal, hatte sammeln lassen. Und wenn die beiden dann ihre gelehrten Gespräche unterbrachen um an das geöffnete Fenster zu
treten und ihr sinnender Blick über die wunderstille Gottesnatur schweifte zu den blauenden Bergen, an deren Abhängen der Staffelsee emporglänzte, da empfanden sie wohl mit inniger Befriedigung, daß auch sie nach tausend Jahren den gleichen Bestrebungen treu geblieben waren, welche auf der idyllischen Insel drüben bereits in den Tagen der Karolinger hochgehalten wurden, in dem wasserumspülten Benediktinerklösterlein Staffelsee, das vor seiner Zer störung durch die räuberischen Ungarnhorden neben einem Reichtume kostbarer Kirchengeräte auch einen namhaften Schatz von Büchern barg. Die Klöster des Pfaffenwinkels sind durch die Jahrhunderte unentwegt die Träger des Kulturfortschrittes gewesen;
an ihre Schulen,
Seminarien,
Büchereien und Meierhöfe knüpft sich in jenen Zeiten des erschwerten Verkehres die Entwickelung des Gaues.
Die wirtschaftliche Entwickelung nicht minder wie
die intellektuelle; und wenn der Abt von Wessobrunn in den ersten Jahrzehntert des 16. Jahrhunderts eine eigene Klosterdruckerei errichtete, so oblagen die Prälaten von Benediktbeuern mit gleichem Eifer der Fischzucht und jeder, der
einmal zu Andechs oder sonst in einem kühlen Klosterbräustüblein einen frohen Nachmittag vertrank, hat es an sich selbst erfahren, daß die frommen Jünger des heiligen Benedikt, getreu ihrer Ordensregel, welche nicht nur ernstes
Studium und die Anlegung von Bibliotheken vorschrieb sondern auch Hand
arbeit, die für Bayerns wirtschaftliches Wohlergehen so bedeutsame Fähigkeit
einen trefflichen Tropfen zu brauen bis in unsere Tage herübergerettet haben.
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
94
Vom Kloster aus spannen sich diese Fertigkeiten hinüber nach den Hütten der Bauern, nach den Häusern der Bürger in den Märkten und erweckten dort
regen Sinn und kräftige Betriebsamkeit.
Aus dem Kloster Rottenbuch, wo
schon um das Jahr 1111 die Holzschnitzerei heimisch war, ist diese Kunst nach
Oberammergau
verpflanzt worden;
Wessobrunn
in
während
erblühte
des
18. Jahrhunderts ein Stamm trefflicher Stukkaturarbeiter**), nach den napoleoni schen Kriegen noch über 100 Mann zählend, der seine Angehörigen bis nach Frankreich und Rußland sandte und dessen geradezu virtuose Leistungen in der
Kirche zu Ettal ungeteilte Bewunderung erregen. In solchen
Streiflichtern auf die Kulturgeschichte
des Pfaffenwinkels
erging sich das Gespräch, als wir am schweren Holzüsche des Wirtshauses das schäumende Bier von Ettal uns ttefflich munden ließen.
Spät nachts bin ich dann noch hinaus ins Freie getreten.
Mir gegen
über stiegen die mächtigen Mauern des ehemaligen Klosters schweigend empor,
mildträumerisches Mondlicht umspielte die feinen Umrisse der hochgewölbten Kirchenkuppel und zitterte auf den glänzenden Flächen der Kupferbedachung, in dunklem Zuge griffen die finstern Tannenwälder hinan von der Bergeslehne. Ein unbeschreiblicher
und unergründlicher Friede waltete über dem
weltver
gessenen Landschaftsbilde, ein wundersamer Reiz, der die Gedanken mit leisem
Zuge zurückträgt
in längst vergangene Zeiten.
sagenumflüstert wie Ettal ist sicherlich
Und so erinnerungsreich, so
kein zweiter Fleck int weiten Umkreise
unserer bayerischen Berge, es ist eine vielhundertjährige Geschichte, welche an diesen Mauern und an diesen Wäldern haftet.
Eine trotzige Gestalt steht zuerst vor uns, wenn wir Kunde geben von diesen Geschehnissen.
stolze Geschlecht
Es ist
der Welfe
Ethiko.
Weithin
auf seinen freieigenen Gütern im Gaue,
herrschte
dieses
es war den Karo
lingern verschwägert, seit Ludwig der Fromme im Jahre 819 die schöne Jutta, die kunst- und wissensfreudige Welfentochter, sich zur Gattin genommen.
Da
ließ sich Ethikos Sohn Heinrich um die Besitzungen des Hauses zu mehren herbei
dem Kaiser zu Lehen zu gehen.
In tiefstem Herzen ergrimmt,
daß
einer der Seinen zum Vasallen sich erniedrigt, zog sich der alte Welfe in die schauerlich einsamen Öden dieses Tales zurück und lebte hier mit zwölf seiner Genossen in klösterlicher Gemeinschaft.
palissadenumftiedeter,
Von diesem Sitze, der wohl noch ein
nach altgermanischer Weise
gefügter Holzbau
soll das ganze Tal seinen Namen erhalten haben — Ethikos
gewesen,
Tal, das im
') Die Bedeutung Wessobrunns als Sitz einer hervorragenden Bildhauer und Stukkatorschule ist erst durch neuere Forschungen erhellt worden. Mit reich lichen Aufträgen versehen waren diese geschickten Leute allenthalben in Süddeutschland wie auch in der Schweiz und in Österreich viel beschäftigt und es fällt die Blütezeit
dieses Kunstzentrums mit der des Rokoko zusammen. Friedr. v. Thiersch, „Die Baugeschichte des Klosters Ettal." 1899. *) Andere geben andere Deutungen: Bon Ödtal — Tal in der Einöde, £tal =
Stätte des Gelöbnisses.
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
Dort bestatteten ihn seine Gefährten,
Laufe der Jahre in Ettal sich gewandelt.
das Jahr 910 aus
als er um
Rodungen
wieder
zu
Leben
Dann
die
verwuchsen
in welchem
ihre Fährte zogen
schweigend
ihr lichtscheues Wesen trieben.
Raubgesellen
schied.
undurchdringlichem Urwalde,
grimmige Bär
Elch und der
dem
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der schlanke und
ungefüge
Jahrhunderte vergingen.
Von
den Welfen waren die Siedelungen der Gegend durch Kauf an die Hohen
staufen, gekommen, von diesen hatten sie die Wittelsbacher ererbt, als der letzte jenes Stammes,
der junge Konradin,
hatte lassen
Leben
müssen.
auf dem Blutgerüste in Neapel
sein
Kaiser Ludwig
der
Ein Wittelsbacher —
Bayer — ist es gewesen, der durch eine Klostergründung gar eigener Art
neues Leben in das öde Tal brachte. Es waren schwere und doch auch ruhmvolle Zeiten damals für Bayern.
Am 20. Oktober 1314 hatte man in der Kirche des heiligen Bartholomäus an
der
alten Wahlstätte zu Frankfurt
dem
32 jährigen Bayernfürsten als
deutschem Könige gehuldigt, am 28. September 1322 war in hartem Strauße
auf der Ebene von Mühldorf sein Gegenkönig Friedrich der Schöne von Österreich geschlagen und gefangen worden und in der rückhaltslosen Aus
söhnung mit seinem Gegner hatte Ludwig seinen milden, edlen Sinn betätigt. Dann war er nach Wclschland gezogen.» In Rom hatte er am 17. Januar
1328 die Kaiserkrone empfangen, doch nicht aus des Papstes Händen, der damals in Avignon weilte und in heftigem Streit schweren Kirchenbann über
ihn verhängte.
Vergeblich
hatte Ludwig
versucht des Reiches Ansehen
in
dem zerrissenen Italien herzustellen; schwer enttäuscht ob des nutzlosen Kampfes war er in den ersten Wochen des Jahres 1330 nach Bayern zurückgekehrt. An der Stelle, wo er zuerst wieder nach Überschreitung des damals noch freisingischen Gebietes um Partenkirchen den
heimischen Boden betreten, hat
der Fürst das Kloster „ze unser Frawen Etal" gegründet „unserm Herrn Got ze Lob und unser frawen ze Ern", damit „unserm Herren als löblich und als andechtichlich darinne gedient werde, das wir und alle unser Vorder» und
Nachkommen
und
alle Kristenheit
an Seel und an Leib
gen Got
getröstet
werden", und hat am Montage nach Mariä Himmelfahrt 1332 die seltsame
Regel gefestet, der zu Willen die geistlichen und weltlichen Insassen des Stiftes fürder leben sollten.
Denn
nicht allein ein Kloster
sollte
hier erstehen
sondern auch ein
Pfründehaus für ritterbürtige Genossen, welche dem Kaiser in seinen Kriegen gute Dienste geleistet.
Den 20 Mönchen nach Sankt Benedikts Regel waren
13 Ritter mit ihren Frauen beigegeben und sollen, besagt der herzige Stif tungsbrief, „die Munich iren Orden und die Ritter und Frauen ir Ee recht
und redlich halten".
Einer von den Rittern stand der Gemeinde als Meister
vor, auf daß er „des Chlosters pfleg mit allen Sachen", Geistliche und Laien aber umschlang das gemeinsame Band der Gottesverehrung, und wenn auch die Ritter mit des Meisters Erlaubnis standesgemäße Kurzweil mit Armbrust-
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22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
schießen, Birschen, Beizen und Jagen üben dursten, so waren sie nicht minder geistlicher Zucht unterworfen. Jeglicher hatte die Pflicht bei der Frühmette und bei allen Tageszeiten des Chores in der Kirche zu erscheinen und fünfmal im Jahre „unsers Herrn Leichnamen" zu empfangen. Kein Glücksspiel war erlaubt, „weder Wurfzabel noch khein ander Spiel umb Gelt". Trunkenheit
und wüstes Leben waren höchlich verpönt, bei Tische herrschte lautlose Stille, die nur des Vorlesers Stimme unterbrach, der in deutscher Sprache etwas berichten mußte „daz gütlich sei".
Die Kinder, welche auf der Hofstatt geboren
wurden, durften nur 3 Jahre bei ihren Eltern weilen, „nit länger", dann mußten sie auswärts in Pflege kommen. Die Ritter verpflichteten sich in ihrer Kleidung keine anderen Farben zu tragen denn blau und grau, die Frauen nur blau. Also war des Stiftes Leben geordnet bis zum kleinsten herab. Welchen Idealen wollte der Kaiser in dieser eigenartigen Stiftung feste
Gestaltung verleihen?
War es wirklich seine Absicht in der einsamen Berges
wildnis einen Gralstempel erstehen zu lassen? Sicherlich lebte noch in Ludwigs Brust die Erinnerung fort an den „Parzival" des Dichters Wolstam von Eschenbach,
der ja selbst ein Ritter aus Bayerland gewesen, wohl mag auch
er, gleich seinen Zeitgenossen, dieser hohe Lied des Rittertums wertgehalten haben, dessen bestrickender mystischer Zauber uns . modernen Menschen durch
die Werke des tongewaltigen Meisters von Bayreuth, durch „Lohengrin" und „Parsival" wieder so nahe gerückt worden ist und dessen geistigen Mittelpunkt der Gral und der Berg der Erlösung Munsalväsche^) bilden. Der Gral, jene wundersame Schüssel,
welche Christi Hand beim Abendmahle berührte,
in der Joseph von Arimathäa das Blut des Erlösers aufgefangen und zu der alljährlich vom Himmel eine Taube herniederstieg um ihre Wunderkraft neu zu stärken, die hochragende Heilsburg Munsalväsche mit ihrem weithin leuchtenden Tempel, wo die Templeisen des heiligen Hortes warten, ein aus erwählter Kreis von geistlichen Rittern, welche aller weltlichen Minne entsagt haben und
denen in keuscher Gemeinschaft eine Schar von edlen Jungstauen
und von Priestern zugesellt ist.
Unwillkürlich schweifen unsere Gedanken in
*) „Man darf mit Sicherheit annehmen, daß der Gedanke ein »Monsalwatsch* zu gründen schon in der Jugendzeit des hochgemuten Kaisers entstand, als ihn die Kenntnis nahme von Parzival und der Gralsage begeistert hatte, daß aber die poetische Idee erst auf seinem Römerzuge zur Reife gedieh, als er unter vielen anderen Baptisterialbauten namentlich die glänzenden Bauschöpfungen der Ghibellinenstadt Pisa kennen lernte. Die näheren Umstände der Gründung sind legendarisch, geradezu rührend aber ist die Sage, wonach der gebannte Kaiser das marmorne Weihebild, wohl ein pisanisches Werk, auf dem Sattelbogen durch Oberitalien und Tirol herausbrachte und auf dem langen Wege den Plan der zwölfeckigen Rotunde ersann. Er scheint sich demnach, wie fünf' Jahrhunderte später Kronprinz Ludwig in Tilsit, auch in schwerbedrängter Zeit mit Fragen der Kunst beschäftigt zu haben." Franz v. Reber, „Die Anfänge der Kunstpflege des Wittelsbachischen Hauses." 1901.
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
97
jüngst vergangene Tage zu einem andern Wittelsbacher, dem hochsinnig an gelegten König Ludwig II. In ihm waren die Ideale der höfischen Epik
des Mittelalters durch das Medium von Richard Wagners Tonschöpfungen in bewußter und nachweisbarer Gestalt zur Tat geworden.
den Gralsritter Lohengrin
schuf
er das
Anknüpfend an
herrliche Neuschwanstein, welches
jedem, der es vom bergumfriedeten Alpsee aus in blendender Weiße über dem
düstern Tannicht erschaut hat, den Wunderanblick der Gralsburg am See Brnmbane vor die Seele zaubert; Wolframs Parzival hielt des Königs Sinn gefangen, seiner Verherrlichung sind die farbenstrahlenden Bilderreihen an den Wänden des mit märchenhafter Pracht gezierten Sängersaales gewidmet und
nicht genug damit sollte dem Gral zur Ehre auf der schwindelnden Felskuppe ein in den feierlich-ernsten
des Falkensteiu im Schwangaue
Schmuck von
Mosaiken gekleidetes Monsalvat gefügt werden, wie man ein solches niemals
gesehen in deutschen noch in welschen Landen. Ihn, der nach den höchsten Zielen der Menschheit strebte, den vom göttlichen Ursprünge seines Amtes zu tiefst durchdrungenen,
mit schwerem geistigem Siechtume ringenden Herrscher,
dessen Nachen in mondhellen Nächten die melancholischen Gewässer einsamer
Hochlandsseen durchfurchte, können wir uns wohl als einen andern „roi pecheur"
denken, als ein Spiegelbild des wunden Gralskönigs Amfortas, der so gerne
auf den Fluten von Brumbane weilt, wo die Süße und Linde der Luft sein Leiden kühlt. Ob aber solche Stimmungen
in seinem Ahnherrn, dem
heiteren Kaiser
Ludwig, gelebt und ob auch er sie baulich verkörpern wollte,
wer vermag
das heute noch zu ergründen und zu erweisen? Was wir von ihm, dem glaubensfrommen, aber durchaus nicht in idealem Schwünge das Leben er
fassenden und ausgestaltenden Fürsten wissen, zu solcher Auslegung seiner Persönlichkeit.
gibt uns historisch
Freilich
kein Recht
klingt mancher Zug in
der Ordensregel von Ettal an die Gemeinde der Templeisen an, die zum Schutze des Grales bestimmt waren, aber gerade das, wie mir dünkt, bestim
mende
ideale Moment .des jeglicher
Frauenminne abschwörenden,
chelosen
Standes der Ritter suchen wir vergeblich, und ohne dieses bleibt Ettal doch mehr ein nach dem Sinne der Zeit klösterlich geordnetes Pfründehaus. Un umstößlich aber dürfen wir in der Stiftung des Kaisers den Ausdruck seines menschenfreundlichen Wollens erblicken,
seiner tiefen, durch zahllose Guttaten
an die Kirche bezeugten Glaubenstreue und sonderlich jener von den Wittels
bachern allezeit gehegten herzinnigen Verehrung der Gottesmutter, der ja seine
letzten Worte galten: „Süße Königin unser Fraue, bis bei meiner Schidung,"
als er
am
11. Oktober 1347
auf
der Waldwiese
bei Kloster Fürstenfeld
entseelt vom Pferde sank.
Aber mag dem sein wie da wolle, der Zauber des Eigenartigen, des welcher schon die erste Herrschergestalt in diesem Tale, den
Geheimnisvollen,
greisen Welsen Ethiko, in mystisches Dunkel RronSeber, Lesebuch zur Geschichte Bauerns.
hüllt, waltet auch
über dem 7
22. Kloster Ettal und der Pfaffenwinkel.
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kaiserlichen Wittelsbacher und über seinem Stifte Ettal, und wo die geschicht lichen Quellen spärlich fließen, da rankt um so üppiger die Sage. Mit ihrem verklärenden Schimmer hat sie die Gründung des Klosters umwoben. Sie
führt uns nach Italien, wo der Kaiser aus seiner Romfahrt eines Tages in brünsügem Gebete in seiner Zelle kniete um von der Gottesmutter die Wendung seines widrigen Geschickes zu erflehen. Da ging zn ihm „durch
verschlossene Thür", so berichtet eine alte Inkunabel aus Kloster Wessobrunn, „ein alter eyß grober münch yn schwarzer Klaydung vnndt tröstet den Kayser
in seinem laydt."
Alles würde
„ein Fürgang erlangen", wenn er
„seiner
liebsten muter Marien" zu Gefallen an einem Orte in Bayern, genannt Ampftang, den Jüngern des heiligen Benedikt ein Kloster baue. Zum Pfande
zog der Alte aus seiner Kutte „ein weyß Marien pildt vnnd gabs dem Kayser jm von got gesanndt." Wie der Mönch gesagt, so ging es in Erfüllung, und als Herr Ludwig zurückkam in deutsche Lande, da fragte er in Partenkirchen einen Jäger aus
Ammergau nach dem Orte, wo er seines Gelübdes ledig werden sollte. Und man wies ihm den Pfad, „vnnd so der Kayser kam auff den Ampffrang, da fach er nichts dan eine große wiltnuß vnd gar am dicken waldt, darein in der jeger
thet fueren vnnd kämmen zu ainer große Dannen daruor des Kaysers pferdt zu drey mal nieder fiel auff die fordem knye. Unndt wolt nit weytter gehen. Das ward ein merklichs zaychen. Das daselbs das Kloster gepawn
soll werden."
Und
der Kaiser
ließ
den
ganzen
Wald
niederlegcn
und
das Kloster bauen mitsamt der lichten Kirche und reichlich begabte er das
Sttst mit Gütern und mit Gülten.
Und auf den Hochaltar setzte er das
Liebftauenbild, das er mitgebracht aus Welschland, und verordnete dazu, daß, wenn er von hinnen scheide, man seinen Leib beisetzen möge im Chor
des Münsters. Sein Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen.
Jm Dom zu Unser
Lieben Frauen in München harrt sein irdisch Teil ftoher Urständ entgegen; dort hat ihm sein Nachkomme, Herzog Albrecht III., um das Jahr 1438 jenen herrlichen Grabstein gesetzt, auf dem, von Hannsen des Steinmeißels kunstvoller Hand geformt, die milden Züge des Kaisers so lebenswahr und lebensfrisch
uns anblicken. Nach Ludwig des Bayern Tod zerfiel das Ritterstift, das Benediktiner
kloster aber erhielt sich und ist bis zu seiner Auflösung geistig wie religiös der ideale Mittelpunkt des Gaues geblieben.
Die Geschichte Ettals weiß vieles
zu berichten von den guten und schlimmen Zeiten, die das Kloster mit dem Lande
Bayern geteilt,
von der übermächtigen Wallfahrt, die nun anhub zu dem
wundettätigen Gnadenbilde, von den Drangsalen, die Ettal zu erdulden gehabt, als die Scharen des Kurfürsten Moritz von Sachsen anno 1552 hier brand schatzten und achtzig Jahre später der Schreckensruf „der Schwede kommt"
die Mönche zur Flucht in die Berge trieb, und dann hinwieder von geistigem
23. Kaiser Ludwigs Ende.
99
Schaffen, von den trefflichen Gelehrten, die sich unter den Konventualen her vorgetan, von der Ritterakademie für Söhne vornehmer Geschlechter, welche
der seit dem Jahre 1709 als Abt so segensreich waltende Plazidus Seitzx) ins Leben gerufen
hatte und die bald die Blüte des süddeutschen Adels in
ihren Hörsälen vereinte, von den bedeutenden Männern,
die hier zu Gaste
geweilt, oder, wie der gottbegnadete Sänger Jakobus Balde im Jahre 1640, die steile Straße zogen an Ettals Mauern vorüber, „die Gehölz umgrünt
und geweihte Schatten lockig umwehen", von dem furchtbaren Brande, der
am Abend von Peter und Paul 1744 die Stiftung Ludwigs des Bayern innerhalb weniger Stunden in Asche legte, von dem prächttgen Wiederaufbau in der indes im Ammergaue heimisch gewordenen Stilweise des Barock — kurz die Kunde all der Wandlungen, die das Kloster durchgemacht im Laufe von nahezu fünf Jahrhunderten.
Im Jahre 1803 fiel das herrliche Kloster Ettal dem ttagischen Geschicke der Säkularisation anheim. Die ausgedehnten Baulichkeiten und die reichen Be sitzungen wurden an Private veräußert, die Mönche erhielten einen Gnaden
gehalt und lebten damit, zumeist an der ihnen liebgewordenen Stätte oder in den Gebirgsdörfern der Nachbarschaft, ein bescheidenes Dasein weiter. Nur einer nicht, der letzte Abt, Pater Alfons Hafner. Im Innersten hatte den Sechzigjährigen das gewalttätige Ende seines Stiftes erschüttert. Gebrochen an Leib und Seele entfloh er nach Venedig, wo er auf der Insel San Giorgio
Maggiore ein jAsyl fand in den ernsten,
schweigsamen Klostermauern.
Dort
siechte er dahin mit der zehrenden Erinnerung im Herzen an das sonnige Idyll im walddurchrauschten Bergestale, bis er am 7. Mai
1807
aus dem
Leben schied.
23. Kaiser Ludwigs Ende. Don Franz Graf Pocci. ’)
Zu Fürstenfeld im Bayerland Das Hifthorn ftoh erschallt, Es reitet Kaiser Ludwig dort 3m grünen Tannenwald.
Hallo, hallo! ein wilder Bär Trabt über jenen Plan, Der edle Held verfolget ihn Auf seiner Fährte Bahn.
*) „Dieser vielseitige, kunstsinnige Abt hatte einen fast vollständigen Neubau des Klosters und eine wesentliche Umgestaltung der Kirche vornehmen lassen nach dem Ent wurf des Münchener Hofarchitetten Enrico Züccali, des Erbauer- des Schleißheimer Schlosses und der Theatinerkirche zu München. An der Ritterakademie entfaltete sich ein reges geistiges Leben. Sogar die Kriegskunst wurde gepflegt. Die jährlich abgehaltenen Manöver wurden in Kupfer gestochen. So berichtet Westenrieder in seinen Beiträgen über eine im September 1734 abgehaltene Lust-Attacke und eine um aufgeworfenen Preis vorgenommene Artillerie-Exercice, was sehr ergötzlich zu lesen ist." Thiersch a. a. O. •) Dichtungen, S. 22, Schaffhausen 1843, Hurter.
100
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge.
Der Rüden Meute jagt und bellt, Es stürmt der Reiter Troß In froher Weidlust jubelnd nach Dem Kaiser hoch zu Roß.
„Was ich gefehlt, vergib, o Herr! Bin ich von Schuld nicht rein, War treu mein Glaube, treu das Herz, Nimm auf die Seele mein!"
Wie plötzlich aber ist die Lust In Trauer umgestimmt, Es jammert eines Hornes Schall, Den man weithin vernimmt.
So endigte des gähen Tods Ludwig elendiglich, Die Kaiserwiese heißt der Ort, Wo er so schnell erblich.
Der Bayer-Kaiser stürzt vom Roß, Ihn hat der Tod erjagt; Den Sterbenden umsteht 's (Befolg, Das weinend um ihn klagt.
Sein Prunkbett war ein Wiesenfleck, Das Laub sein Baldachin, Der Krone Gold ein Sonnenstrahl, Der ihm das Haupt beschien.
Sein Leichenstein wird in dem Dom Jur Lieben Frau geschaut, Den Herzog Sigismundus hat Zu München auferbaut.
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge. Von Joseph Widemann.*
Als um das Jahr 500 die Bajuwaren in das nach ihnen benannte Land
zwischen Donau und Alpen einwanderten, gab es hier bereits eine beträchtliche Anzahl fester Städte. Wie in allen Provinzen, so hatten die Römer anch in Vindelizien und Norikum an geeigneten Punkten Standlager errichtet, die sich zu mehr oder minder ansehnlichen Städten entwickelten.
Die bedeutendste der
selben war Castra Regina, Regensburg. Schon die Kelten, die ältesten bekannten Bewohner des Landes, hatten
hier am Eintritt der Donau in die weite niederbayerische Ebene, nahe der Mündung zweier nicht unbedeutender Nebenflüsse, eine Ansiedlnng gegründet,
wie der alte Name der Stadt, Ratisbona, beweist.
Regensburg wurde denn
auch die Residenz der bajuwarischen Herzoge aus dem Agilolfiugergeschlecht. Hierher kam der heilige Emmeram an den Hof des Herzogs Theodo; hier besuchte Bischof Rupert von Worms, der Gründer des Bistums Salzburg, den Bajuwarenherzog und predigte seinem Volke. Nach dem Sturze Tassilos kam Bayern an die Karolinger.
Auch jetzt
behauptete Regensburg seinen Rang als erste Stadt des Landes. Hier rüstete
Karl der Große 791 zum Heereszug gegen die Avaren; int nächsten
Jahre
versammelte er hier eine Synode, auf der die Lehren des Bischofs Felix von Urgel und der Adoptianer verdammt wurden.
Lndwig der Deutsche und der
tatkräftige Arnulf wählten Regensburg mit Vorliebe zu ihrer Residenz. Unter der Regierung des schwachen letzten Karolingers, Ludwigs des Kindes, kam das Volksherzogtum in Bayern wieder empor.
Hinter Regens-
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge.
101
burgs Mauern leistete Herzog Arnulf den Königen Konrad I. und Heinrich I. Mit der Erstarkung der Macht des deutschen Königtums ver
Widerstand.
schwindet wie in den übrigen deutschen Herzogtümern auch in Bayern das Fürsten aus sächsischem und fränkischem Geschlecht, meist
Volksherzogtum.
nahe Verwandte des jeweiligen Königs, zum Teil dessen Söhne, werden mit
Bayern belehnt.
Sie stehen dem Volke, über das sie gesetzt sind, mehr oder
weniger als Fremde gegenüber; über ihre Tätigkeit in und für Bayern haben sich denn auch sehr wenige Nachrichten erhalten.
Mit den Welfen erhält 1070
wieder ein süddeutsches, wenn auch nicht einheimisches Geschlecht die Herr schaft über Bayern, die sie mit einer kurzen Unterbrechung über ein Jahr hundert innehaben.
Heinrich
der Stolze erbaut zu Regensburg die berühmte
Eben dieser Herzog wird aber von Kaiser Lothar auch mit
steinerne Brücke.
dem Herzogtum Sachsen belehnt und sein Sohn Heinrich der Löwe widmet seine Sorgfalt vorzugsweise diesem Herzogtum, während er in Bayern nur
vorübergehend sich aufhält. Im Jahre 1180 kam endlich wieder ein ein heimisches Herrschergeschlecht zur Regierung, die Wittelsbacher, die Nachkommen
der alten Volksherzoge. Regensburg war damals durch seinen Handel und seine Gewerbtätigkeit
nicht bloß
die erste Stadt Bayerns sondern
ganz Deutschlands.
eine
der bedeutendsten Städte
Im Bewußtsein ihres Ansehens und Reichtums strebten
die Bürger der Stadt mehr und mehr nach Selbständigkeit; es beginnt die allmähliche Entwicklung Regensburgs zur reichsunmittelbaren Stadt. Die ersten Freiheiten scheint die Stadt von Kaiser Friedrich Barbarossa erhalten zu haben. Die Urkunde hierüber ist nicht mehr erhalten, doch nimmt das Privileg König
Philipps vom Jahre 1207 darauf Bezug.
Die Bürger erhalten das Recht
der Selbstverwaltung und Selbstbcstenerung.
Allerdings besaßen
bayerischen Herzoge noch verschiedene Rechte in
der Stadt:
auch
die oberste
die Ge
richtsbarkeit, Münze, Zölle gehörten ihnen; sie hatten dort auch ihren eigenen Hof. Daneben machte aber auch der Bischof von Regensburg manche Rechte
geltend.
Zwischen ihm und dem zweiten wittelsbachischen Herzog, Ludwig I.
(dem Kelheimer),
kam es sogar zum Krieg; in den Friedensverträgen von
1205 und 1213 wurde unter anderm bestimmt, daß Bischof und Herzog ver
schiedene Rechte in Regensburg gemeinsam ausüben sollten. In der Folgezeit aber wußten die Bürger Regensburgs mit kluger Benützung der Geldverlegen heiten der Herzoge und Bischöfe immer mehr Rechte, der Verpfändung, an sich zu bringen.
meist auf dem Wege
Außerdem begünstigten die deutschen
Kaiser, besonders Friedrich II. und später Ludwig der Bayer, die aufstrebende
Stadt und erteilten ihr wichtige Privilege. So erscheint denn im 14. Jahr hundert die Entwicklung Regensburgs zur freien Reichsstadt bereits vollendet.
Nur vorübergehend (von 1486 bis 1492) stellte sich die Stadt freiwillig noch mals unter die Regierung Herzog Albrechts IV. von Bayern, in der Erwar tung
hierdurch
einen
neuen Aufschwung
ihres
damals
darniederliegenden
102
24. Dir Residenzen der bayerischen Herzoge.
Handels herbcizuführen.
Erst am Anfang des 19. Jahrhunderts bei der Neu
gestaltung der politischen Verhältnisse Deutschlands ward Regensburg wieder dauernd mit dem neuen Königreich Bayern vereinigt, aber nicht mehr als Hauptstadt; von seiner früheren Größe und Bedeutung hatte es beträchtlich cingebüßt. Zur Zeit der ersten wittelsbachischen Herzoge kann von einer eigent
lichen Landeshauptstadt, d. h. von einem ständigen Regierungssitze des Landes fürsten. kaum die Rede sein. Regensburg war wohl die bedeutendste Stadt
des Landes, aber die herzogliche Macht war dort schon sehr beschränkt.
Die
Herzoge erscheinen, soweit sie nicht am Hof des Kaisers weilen, bald da bald dort im Lande, Recht sprechend und die Angelegenheiten ihrer Untertanen ordnend. Bald erheischte die Belehnung mit der rheinischen Pfalzgrafenwürde (1214) auch ihre häufige Anwesenheit am Rhein.
Gründung verschiedener Ludwig I. auf dem
bayerischer Landstädte.
In jene Zeit fällt die
Im Jahre 1204 erbaute
das östliche Ufer der Isar begleitenden Höhenzuge die
Burg Trausnitz und zu deren Füßen die Stadt Landshut.
1218 legte er
die neue Stadt Straubing an westlich von der alten Ansiedlung, die sich an
das einstige Römerkastell angeschlossen hatte.
1220 folgte die Gründung von
Abbach, 1224 die von Landau an der Isar. Landshut scheint der bevorzugte Aufenthaltsort Ludwigs!, und seiner
Nachfolger geworden zu sein. In dem großen Stadtrechtsprivileg vom Jahre 1279 hebt Herzog Heinrich XIII. ausdrücklich hervor, daß Landshut der häufigste Wohnsitz seines Großvaters (Ludwig) und Vaters (Otto) gewesen sei, daß er selbst hier auferzogen wurde und hier auch begraben zu werden wünsche. Im nahen Kloster Seligental, das nach der Ermordung Ludwigs I.
(1231) von dessen Witwe Ludmilla (gestiftet wurde,
fanden viele Mitglieder
des wittelsbachischen Hauses ihre letzte Ruhestätte. Neben Landshut erscheinen jedoch den Urkunden der Herzoge zufolge noch viele andere bayerische Städte als deren Aufenthaltsort; besonders häufig
werden München, Sttaubing, Ingolstadt, Burghausen genannt.
Burghausen
war nach dem Aussterben des nach dieser Burg benannten Grafengeschlechtes am Ende des 12. Jahrhunderts an Bayern gekommen.
Ebenso fiel um die
Mitte des 13. Jahrhunderts Wasserburg nach dem Aussterben der dortigen Grafen den Wittelsbachern zu fund wurde von den Herzogen in der Folge gerne als Aufenthaltsort gewählt.
Im Jahre 1255 teilten die herzoglichen Brüder Ludwig II. und Heinrich XIII. ihre Länder. Ludwig erhielt Oberbayern und die Pfalz. Unter ihm und seinen Nachfolgern wurde München zur Hauptstadt Ober
bayerns.
Ursprünglich Tegernseer Klosterbesitz ((daher der Name
„zu den
des Löwen, der hier eine Brücke, Münz- und Zollstätte errichtete, rasch empor Mönchen") war dieser Ort besonders seit den Zeiten Herzog Heinrichs
geblüht. Ludwig soll hier die erste herzogliche Burg, den jetzigen „alten Hof",
103
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge.
erbaut haben; er hielt sich jedoch nur zeitweise in München auf, weilte viel
mehr abwechselnd in den verschiedenen bayerischen und pfälzischen Städten oder
auch am königlichen Hofe.
Von seinen Söhnen und Nachfolgern,
besonders
von Kaiser Ludwig dem Bayern, erhielt München viele wichtige Privilege.
In Niederbayern regierten Heinrich und seine Nachkommen. blieb wohl die erste Stadt des Landes,
Herzogs zu sein.
ohne jedoch
Landshut
ständige Residenz des
Eine Hoford
nung vom Jahre 1293 bestimmt, daß der Herzog mit seinem Hofe „allermeist zu Landshut, Strau bing und Burghausen wohnen soll". Indes wurde diese Ver ordnung
keineswegs
streng
be
obachtet. Die Herzoge — damals regierten die Söhne Heinrichs, Otto, Ludwig und Stephan ge meinsam — weilten mit ihrem Hofe nach wie vor hier und dort
im Lande auf längere oder kürzere Nicht selten wurden auch
Zeit.
die Klöster mit einem Besuche be dacht. Vom Kloster Aldersbach
bei Vilshofen ist noch ein Rech-
nungsbuch vom Ende des 13. und
Anfang des 14. Jahrhunderts erhalten, worin wiederholt Ein träge über die Anwesenheit des herzoglichen Hofes und die dem
Kloster dadurch erwachsenen Un
kosten
sich
finden.
Mitunter
scheinen diese Besuche sehr unerwartet gekommen
einmal berichtet,
daß Herzog Stephan,
zu sein.
So wird
uns
der seiner Gemahlin Juta zu Ehren
einen großen Jagdzug veranstaltete, am 14. September 1300 während des Hauptgottesdicnstes unverhofft ins Kloster kam und mit seinem zahlreichen
Gefolge, Männern und Frauen, die ganze Kirche bis zum Hochaltar vor er füllte.
Entrüstet unterbrach der zelebrierende Priester,
der eben mit dem
Gloria begonnen hatte, die Messe; die Mönche löschten alle Lichter aus und entblößten die Altäre. Der Herzog, darüber aufgebracht, verließ mit den Seinen die Kirche; doch gelang es später dem Abt, der zur Zeit des Vor falles abwesend war, und einigen Edlen ihn wieder zu versöhnen. Übrigens
erwiesen sich die bayerischen Herzoge gegen die Klöster auch erkenntlich; Güter schenkungen und Verleihung von Privilegien, besonders Zollfreihcit für die
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge.
104
Durchfuhr von Salz und anderen Lebensmitteln, bildeten die Entlohnung für die oft erwiesene Gastfreundschaft.
Es darf jedoch hier nicht unerwähnt bleiben, daß die Beherbergung des Herzogs, seiner Amtsleute und Diener eine
Pflicht der Klöster war dafür, daß der Herzog als Vogt sie in ihren Rechten schützte.
Freilich wurde diese Herbergspflicht späterhin namentlich von den
herzoglichen Jägern und Falknern arg mißbraucht, so daß die Klöster sich
schließlich gezwungen sahen mit großen Opfern sich von diesem drückenden Dienste loszukaufen.
Im Jahre 1340 erlosch mit dem Tode des noch unmündigen Herzogs Johann die Nachkommenschaft Heinrichs von Niederbayern. Ober- und Nieder bayern wurden auf kurze Zeit wieder vereinigt. Doch schon unter den Söhnen Kaiser Ludwigs des Bayern kam es in den Jahren 1349—1353 wiederholt zu Landesteilungen.
Der älteste, Ludwig der Brandenburger, erhielt Ober
bayern mit München als Residenz.
Da er als Gemahl der Margareta Maul
tasch die Grafschaft Tirol besaß, weilte er sehr häufig auch in diesem Lande, wo Innsbruck, Bozen und Schloß Tirol seine gewöhnlichen Aufenthaltsorte bildeten. Die Markgrafschaft Brandenburg, die er außerdem noch inne hatte, trat er 1351 endgültig seinen jüngeren Brüdern Ludwig dem Römer und Otto ab.
Stephan, der zweitälteste, übernahm die Regierung Niederbayerns und
wählte Landshut zum dauernden Wohnsitz. Ein Teil Niederbayerns mit Vilshofen, Deggendorf, Straubing, Cham, Kelheim, Landau und anderen Städten fiel bei der Teilung vom Jahre 1353 an Wilhelm und Albrecht, die
dazu noch Holland und Hennegau erhielten. Albrecht, der bald die Regentschaft für seinen geisteskranken Bruder Wilhelm übernahm, wählte, soweit er in Bayern sich aufhielt, Straubing
zur Residenz;
er erbaute hier um das Jahr
herzogliche Burg.
1356 die jetzt noch stehende
Nach dem Tode seines jüngsten
Sohnes Johann 1425
wurde das Straubinger Erbe unter den damaligen bayerischen Herzogen auf geteilt. Die Stadt Straubing selbst fiel an Herzog Ernst von München.
Dieser sowohl
wie sein Sohn Albrecht III. und sein
weilten hier sehr häufig.
Enkel Albrecht IV.
Hier wurde Agnes Bernauer, die unglückliche Ge
mahlin Albrechts III., 1435 in der Donau erttänkt.
Als Ludwig der Brandenburger 1361
starb und schon zwei Jahre
später ihm sein jugendlicher Sohn Meinhard ins Grab nachfolgte, übernahm Stephan mit seinen Söhnen die Regierung Oberbayerns, während Tirol da mals an Österreich verloren ging. Der Regierungssitz wechselte nun zwischen Landshut und München, doch scheint, nach den Urkunden der Herzoge zu schließen, München den Vorzug erhalten zu haben. Hier teilten auch Stephans Söhne 1392 nochmals ihr Erbland.
Niederbayern (mit Ausnahme des Strau
binger Gebietes) erhielt Friedrich, der zweitälteste der drei Brüder.
Seine
und seiner Nachkommen Hauptstadt wurde wieder Lanhshut. Doch behauptete daneben Burghausen gewissermaßen den Rang einer zweiten Hauptstadt. Die
24. Die Residenzen der bayerischen Herzoge.
Herzoge hielten dort sehr häufig Hof.
105
Auf dem dortigen Schlosse speicherte
Heinrich, der Sohn Friedrichs, seine Schätze auf; hier verlebte Heinrichs Sohn, Ludwig, eine freudlose Jugend, hier verbrachte Georgs des Reichen Gemahlin, Hedwig von Polen, ihr einsames Leben.
Die beiden andern Brüder Friedrichs, Stephan und Johann, teilten Oberbayern unter sich; Stephan wählte Ingolstadt zur Residenz, Johann
behielt München.
1395 vereinigten beide Herzoge nochmal ihre Länder und
Stephan weilte nun wieder meist in München.
Nach Johanns Tod (1397)
aber verlangte dessen Sohn Ernst sein väterliches Erbe.
Es
kam zwischen
ihm und seinem Oheim Stephan zu einer langwierigen Fehde. Nach deren Ausgang (1403) nahm Stephan wieder seinen früheren Wohnsitz in Ingolstadt ein, während München seinen Neffen Ernst und Wilhelm verblieb.
Stephan
und sein Sohn Ludwig der Gebartete erweiterten Ingolstadt und verliehen der Stadt viele Privilegien; Ludwig schmückte sie besonders durch die Frauen kirche, eine der schönsten gotischen Kirchen in Bayern. Als der unglückliche Ludwig in der Gefangenschaft seines Vetters Heinrich zu Burghausen 1447 starb ohne einen Leibeserben zu hinterlassen, nahm Heinrich das Ingolstädter Herzogtum in Besitz.
stadt.
Ingolstadt verlor wieder seinen Rang
als Residenz
Gewissermaßen zum Ersatz dafür stiftete dort Heinrichs Sohn, Ludwig
der Reiche, 1472 die bayerische Landesuniversität. Doch auch der Landshuter Linie war keine lange Dauer beschieden.
1503 starb
Georg der Reiche ohne männlichen Erben.
Albrecht IV. von
München vereinigte nun wieder, freilich erst nach schwerem, blutigem Kampfe, die gesamten bayerischen Lande unter seiner Regierung. Seine Hauptstadt München wurde jetzt die Hauptstadt von ganz Bayern.
Es erübrigt noch einige Bemerkungen über die Residenzen der
pfäl
zischen Wittelsbacher anzufügen.
Schon die ersten Wittelsbacher, welche die rheinische Pfalzgrafenwürde bekleideten, bevorzugten, wenn sie am Rheine weilten, vor allen anderen Städten Heidelberg.
Im Vertrag
von Pavia 1329
trat Kaiser Ludwig
der Bayer den Söhnen seines verstorbenen Bruders Rudolf die Rheinlande nebst einigen Gebieten im bayerischen Nordgau ab, die in der Folge den Namen Oberpfalz erhielten. Residenz der Pfalzgrafen, denen durch die goldene Bulle Kaiser Karls IV. auch die Kurwürde zugesichert wurde, blieb Heidel
berg.
Hier gründete 1386 Pfalzgraf Ruprecht I. die Universität, eine der
ältesten Deutschlands. *) Bald kam es auch in der Pfalz zu wiederholten Landesteilungen. 1410 teilten die Söhne Kaiser Ruprechts: Ludwig, der älteste, behielt die Kurwürde
und Heidelberg als Residenz;
seine
drei jüngeren Brüder
teile mit den Hauptorten Neumarkt, Simmern und Mosbach. l) Die dritte nach Prag und Wien.
bekamen Landes Von der Linie
106
25. Dir Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt.
Simmern zweigte später die Linie Zweibrücken ob, die ihrerseits wieder in
verschiedene Teillinien zerfiel. Auf diese Weise gelangten viele kleinere Städte
wie Zweibrücken, Veldenz, Neumarkt, Neuburg, Sulzbach u. a., zum Range von Residenzstädten. Die Pfalzgrafen der oberpfälzischen Linien weilten sehr häufig
auch in Amberg, das übrigens schon im 13. Jahrhundert nicht selten als Aufenthaltsort der bayerischen Herzoge erscheint. Doch kam all diesen Rest« denzstädten nur eine untergeordnete Bedeutung zu im Vergleich zu Heidelberg,
der Residenz des Kurfürsten. Die Verhältnisse liegen also wesentlich anderals in Bayern, wo die Hauptstädte der einzelnen Teilherzogtümer, Landshut, München, Ingolstadt, Straubing, einander an Rang gleichstehen, bis endlich
München als alleinige Hauptstadt übrig bleibt lediglich dadurch, daß die dort regierenden Herzoge die anderen Linien überleben. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts blieb Heidelberg ausschließlich die Residenz der pfälzischen Kurfürsten.
Nach der barbarischen Zerstörung der
Stadt durch die Franzosen im Jahre 1689 machten ihr andere Städte den Rang streitig. Kurfürst Johann Wilhelm residierte gewöhnlich in Düssel-
dorf, wo er die berühmte Gemäldegalerie gründete; sein Bruder und Nach folger Karl Philipp erhob Mannheim zur Residenz. Hier regierte auch dessen Nachfolger Karl Theodor bis zum Jahre 1777.
In diesem Jahre er
losch mit dem Tode Maximilians III. Joseph die bayerische Linie des Hauses Wittelsbach. Karl Theodor übernahm den wittelsbachischen Hausverträgen zufolge neben der pfälzischen Regierung auch die von Bayern, mußte aber eben diesen Verträgen gemäß seine Residenz nach München verlegen. So wurde München die Hauptstadt von Kur-Pfalz-Bayern und bald darauf die
des neuen Königreichs.
25. Die Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt. Von Max Haushofer.')
Ludwig den Reichen nennt die Geschichte jenen bayerischen Herzog, welchem die ehrwürdige Münchener Universität ihre Entstehung verdankt. Wenn auch seine Zeitgenossen, als sie ihm jenes Prädikat erteilten, dabei seinen
Reichtum an irdischen Schätzen im Auge hatten, so weiß doch die Geschicht schreibung, daß Ludwig auch reich war an allen edlen Eigenschaften des Geistes und des Herzens, die einem Fürsten zur Zierde gereichen können. Reich war aber auch jene Zeit an großen Menschen und an großen Ereignissen. War's doch um dieselbe Zeit, als der Portugiese Bartholomäus Diaz das Kap der guten Hoffnung entdeckte;
um die Zeit, als Christoph
Kolumbus auf der Universität Pavia über seinen Plänen brütete.
Und wohin
x) Akademische Monatshefte, VI, Jahrgang, Heft 1, München 1890, Mühlthaler.
25. Die Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt.
107
man blickt im Rundkreis der damals bekannten Welt, überall sieht das Auge
des Geschichtschreibers große und glänzende Gestalten auftauchen. Frisch und begeisternd wehte durch die Völker Europas jener Strom geistigen Lebens, der aus dem wiedererschlossenen Gedankenschatze des Altertums entsprang. Tausend Jahre hindurch war die Wissenschaft im Alleinbesitze des
Klerus gewesen — nun ward sie wieder weltlich. Wie eine mächtige Strömung kam es in das Bewußtsein der Völker, daß Wissenschaft und Kunst große und
heilige Aufgaben des Menschengeschlechtes seien und daß man auf den Resten der antiken Kultur weiterbauen müsse. Das Wiederaufleben der Wissenschaft hatte zuerst die italienischen Univer
sitäten und die Pariser Hochschule, im Deutschen Reiche die Hochschulen zu Prag, Wien und Heidelberg zu jenen Stätten gemacht, wo deutsche Jünglinge
ihrem Bildungsstreben genügen konnten.
In Deutschland waren zunächst Köln
und Erfurt, Leipzig, Rostock und Freiburg gefolgt.
Jeder patriotische Fürst
konnte in jener Zeit den lebhaften Wunsch empfinden, daß die Jünglinge seiner Nation nicht bloß durch die Vermittlung ausländischer Universitäten an dem machtvoll zunehmenden Bildungsschatze der Welt Anteil erhalten möchten. Dieser Wunsch war nicht bloß durch die Freude an der Wissenschaft selbst sondern auch durch staatsmännische Erwägungen gerechtfertigt. In jener Zeit galt die Anschauung, daß der römische Papst nicht allein
in geistlichen sondern auch in wissenschaftlichen Dingen die höchste Autorität sei. Als daher Herzog Ludwig den Plan faßte eine Universität in seinen Landen zu gründen, wandte er sich an den damaligen Papst Pins II. (Enea Silvio) um diesem obersten geistlichen Lehnsherrn seinen Wunsch vorzutragen.
Der Papst antwortete hieraus zustimmend. Diese Erlaubnis des geistlichen Oberherrn war in finanzieller Hinsicht von Wichtigkeit. Denn zur Aus stattung neu entstehender Universitäten war es damals sehr wertvoll,
wenn
die Mittel geistlicher Pfründen und Kanonikate der Sache gewidmet werden durften. Die Universität sollte ihren Sitz in Ingolstadt haben.
Aber zwischen
den ersten Plan des Herzogs und die Ausführung drängten sich politische Hindernisse, ein Krieg gegen Albrecht von Brandenburg und Kaiser Friedrich III. Erst nach dem Siege bei Giengen (1462) konnte Herzog Ludwig den Plan
wieder aufnehmen. Es dienten ihm dabei teils vorhandene verfügbare Stiftungs mittel teils die achtungswerte Bereitwilligkeit des Klerus die neue Universität mit Geldmitteln auszustatten. Den Hauptbestandteil dieser Geldmittel bildete eine Pftündnerstistung, welche nach dem Willen des Stiftüngsbriefes auch
einem „besseren und heilsameren Zwecke" zugewandt werden durfte. Die Summe der für die Universität verfügbaren Mittel belief sich auf eine Jahres rente von rund 2500 Gulden, eine Summe, welche für die damaligen Ver
hältnisse einen Wert hatte, wie ihn heutzutage 80000 Mark repräsentiert.
etwa ein Einkommen
von
108
von
25. Die Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt.
Ingolstadt selbst, der Sitz der neuen Universität, war an sich kein Crt sonderlicher Berühmtheit. Die Meinungen der Zeitgenossen gehen in
Lob und Tadel weit auseinander.
Der Stadt fehlte es ohne Zweifel an
landschaftlichen Reizen, wie sie unter den damaligen Universitäten Heidelberg
und Freiburg besaßen;
sie hatte auch nicht den Reiz einer großen geschicht
lichen Vergangenheit und einer reichen Bevölkerung,
wie Prag, Wien und
Köln; aber es mochte wohl leidlich billig daselbst zu leben sein.
Die Eröffnung der Universität erfolgte im März 1472. Das schon im Januar erlassene Eröffnungspatent machte bekannt, daß die Lehrer und Studenten
dieselben Privilegien und Ehren genießen sollten, wie einst zu
Athen und dazumal zu Wien und Bologna, daß für erprobte Doktoren und Magister gesorgt sei und daß nur Gerechtes,
Vernünftiges, Anständiges und
Nützliches gelehrt werden solle. Der Herzog ernannte als ersten Vizercstor den Professor Dr. Kyrmann aus Donauwörth, welcher bis zum 25. Juli desselben Jahres 489 akademische Bürger immatrikulierte.
Diesem hoffnungs vollen Anfänge der jungen Hochschule tat es kaum Eintrag, daß schon im Juni sechs Studenten exkludiert werden mußten; einer davon wegen Schmäh schriften wider Herzog Ludwig. Die feierliche Einweihung der Universität fand am 26. Juni statt; ihn feiert heute noch die Münchener Hochschule als ihren
Stiftungstag.
Der Herzog wohnte mit feinem siebzehnjährigen Sohne Georg
und einer Reihe erlauchter Festgäste der Feier bei;
die Festrede hielt der
herzogliche Rat Martin Mair. Die erste Promotion fand im folgenden Jahre statt, bei welcher Gelegenheit Herzog Ludwig ein glänzendes Festmahl gab. Die Professorengehalte beliefen sich auf 80—125 Gulden. Die Universität gliederte sich in vier Fakultäten: die theologische, juristische, medizinische und artistische (philosophische).
Die Studenten unterlagen nach dem Universitätsstatut der Gerichtsbar
keit des Rektors.
Es war ihnen verboten nach Gebetläuten ohne Licht aus
zugehen, auf den Straßen zu schreien oder unanständige Lieder zu singen, sich zu Würfel- und Kartenspiel in Wirtshäuser zu setzen, Verbal- oder Real
injurien zu begehen. Da der Herr Rektor den vierten Teil der Strafgelder erhielt, konnte er übrigens nur wohlgefällig schmunzeln, wenn die Studenten recht oft in Strafe verfielen.
Betrachten wir uns die einzelnen Fakultäten genauer. Bei den Studenten der Theologie ward ganz besonders auf Sittenrein heit und religiösen Wandel gesehen; sie mußten auch stets in einer cappa Die Vorlesungen währten für die
(einem langen, dunklen Rocke) erscheinen.
Theologen ein ganzes Jahr; Ferien gab es von Peter und Paul (29. Juni) bis Bartholomäus (24. August).
Das ganze Studium repräsentierte eine
Stufenreihe verschiedener Promotionen; der Student wurde zuerst zum Cursor (Baccalaureus), dann zum sententiarius, zum licentiatus und endlich zum magister resumptus promoviert. In der theologischen Fakultät konnte
25. Die Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt.
109
man aber nur promoviert werden, wenn man schon Doktor oder Lizentiat
einer anderen Fakultät war oder eine ähnliche Würde bereits erlangt hatte. Überhaupt erscheinen die Anforderungen, die an die Theologiestudierenden
streng und ganz
gestellt wurden,
dazu angetan unlautere Elemente
fern
zuhalten. Über die besonderen Einrichtungen der juristischen Fakultät ist aus der Gründungszeit der Universität nichts 'mehr bekannt.
Erst die später (1524)
erlassenen revidierten Statuten dieser Fakultät werfen einiges Licht auf ihre
Einrichtungen. Darnach durften sich die Studenten der Juristenfakultät weit freier bewegen als die der theologischen. Studenten unter 17 Jahren mußten
einen Präzeptor haben; auch ältere durften nur mit besonderer Erlaubnis des Rektors für sich allein wohnen. Als fleißig galt jener Student, der in zwei aufeinanderfolgenden Monaten wöchentlich wenigstens vier Vorlesungen hei jedem seiner Professoren gehört. Die Fleißzeugnisse wurden in jedem
Semester von
der Fakultät beraten.
Baccalaureus der Rechte konnte man
nach zweijährigem Studium werden; dazu mußte man in einem Examen einen
Paragraphen der Institutionen erklären. Die Gebühr für das Baccalaureat beider Rechte betrug acht Gulden, dazu „einige Becher Wein" und dem Pedell einen halben Gulden. Wer aber Lizentiat beider Rechte werden wollte, mußte sieben Jahre lang Vorlesungen gehört, rigorose Prüfungen gemacht und einen mündlichen Vortrag über gegebene Aufgaben nebst anschließender Disputation gehalten haben. Die Würde des Doktorgrades war nach dem Lizentiaten examen nur an eine äußere Formalität und an Gebührenzahlungen geknüpft.
Die medizinische Fakultät bestand anfangs bloß aus drei Professoren. Das Studienjahr
der Mediziner
zerfiel von Anbeginn in zwei Semester;
Hundstagsferien währten vom 20. Juli bis 24. August; außerdem konnte der Dekan Ruhetage ansagen. Um Baccalaureus der Medizin zu werden mußte
man 3 Jahre studiert haben und ein Examen bestehen, welches sich aber auf das Hersagen einiger von der Fakultät bestimmter Punkte aus den Werken des Hippokrates und Avicenna beschränkte. Auch mußte man geloben sich an die bestehende Kleiderordnung zu halten, sich nicht als Doktor zu gerieren u. a. mehr. Zur Erlangung des Doktorgrades waren zwei weitere Studien jahre erforderlich, während welcher der Kandidat fleißig disputieren, selbst Vorlesungen halten und schließlich ein Tentamen bestehen mußte, welches
aber nur der Vorläufer war für ein Examen rigorosum aus dem Gesamt gebiete der Medizin. Der medizinische Doktorgrad wurde noch besonders erschwert durch die Verpflichtung, daß der angehende Doktor jedem Mitgliede
der medizinischen, theologischen und juristischen Fakultät ein Barett, jedem Universitätslehrer überhaupt ein Paar Handschuhe verehren mußte. Dafür war der Doktor der Medizin zur ärztlichen Praxis berechtigt, wobei ihm jedoch wechselseitige Liebe gegenüber seinen Kollegen anbefohlen und die Gemeinschaft
mit Pfuschern (emperici) untersagt ward.
110
25. Die Anfänge der Ludwig-MaximilianS-Universität in Ingolstadt.
Die vierte Fakultät war die der Artisten oder philosophische.
Sie hatte
in der ersten Zeit der Ingolstädter Universität die größte Bedeutung unter allen Fakultäten.
Ihre Statuten waren ziemlich genau denen der Wiener
Universität nachgebildet. Damals trat in den philosophischen Fakultäten aller Hochschulen ein eigentümlicher Gegensatz zweier Richtungen auf, die „via antiqua“ und die „via modema“.
Dieser Gegensatz fand auch in Ingolstadt seinen
Ausdruck, indem die Artistenfakultät hier wieder in zwei Fakultäten zerfiel, deren jede ihren Dekan und ihr Konsilium hatte.
Auch in dieser Fakultät war das Ziel alles Studiums die Promotion. wissenschaftlicher Hinsicht wurde die Fakultät völlig vom Geiste des Aristoteles beherrscht. Wer Baccalaureus werden wollte, mußte Grammatik, In
Rhetorik, Logik, Astronomie (Sphaera materialis), Arithmetik und die ersten Bücher des Euklid studiert haben.
Zum Magisterexamen aber waren noch
eingehendere Studien über die Werke des Aristoteles erforderlich sowie Meta physik, Ethik und die Theorie der Planeten. Die Artistenfakultäten jener Zeit sahen eben ihren Gegenstand immer noch in den uralten sieben freien Künsten (artes liberales seu ingenuae). Als solche galten: Grammatik, Arithmetik,
Geometrie, Musik, Astronomie, Dialektik und Rhetorik.
Die Mitglieder der Artistenfakultät wohnten in sogenannten Bursen
beisammen. Es wurde überhaupt kein Student zu einer Promotion zugelassen, der nicht entweder im Kollegium oder in einer autorisierten Burse wohnte. Ausgenommen von diesem Zwange waren
bloß die Reichen,
die sich einen
eigenen Magister halten konnten, sodann jene armen Studenten, die bei einem
andern Studenten
als
dessen Diener
wohnten,
endlich
die Ingolstädter
Bürgerssöhne. Die Bursen standen unter der Oberaufsicht der Fakultät; jede Burse hatte zum Vorstande einen ehrenwerten Magister, welcher als
Honorar Wohnung und Kost in der Burse, außerdem wöchentlich Geldzahlungen, Repetitionsgelder und Geschenke erhielt.
Er präsidierte bei Tisch, visitierte
die Zimmer der Mitglieder, beobachtete ihre Besuche und schloß die Burse im Sommer bei Sonnenuntergang, im Winter um 6 Uhr abends. Wer bei Torschluß noch außen war, mußte dem Dekan angezeigt werden. Nächtliches Aussteigen war verpönt (dürfte aber trotzdem eine sehr beliebte Turnübung
bei Strafe waren auch verboten: Poltern und Schreien vor
gewesen sein);
den Türen des Hauses, unschickliches Musizieren, Spiel um Geld, Schimpf worte und Prügel sowie das Tragen von Waffen. Die in der Burse wohnen den Studenten dursten unter sich nur lateinisch sprechen.
So waren die wichtigsten Einrichtungen der vier Fakultäten.
Einrichtungen
und einer durchschnittlichen Zahl von 5—600
Bürgern trat die Ingolstädter Hochschule
Mit diesen
akademischen
vollberechtigt in den Kreis ihrer
Schon in den ersten zwei Jahren zählte sie unter ihren Studenten junge Leute aus Württemberg, aus der Schweiz, aus Hessen, Thüringen, Sachsen, Österreich und sogar aus Paris. Bald fanden sich auch Schwestern ein.
25. Die Anfänge der Ludwig-MaximilianS-Universität in Ingolstadt.
Polen,
Schweden, Ungarn und Italiener ein.
111
Bon Anbeginn aber scheint
die Lebenslust der Studenten, was ihnen auch keineswegs zu verargen, sich gegen die Statuten aufgebäumt zu haben. Denn kaum bestand die Universität einige Monate, so sah man sich schon veranlaßt, die Bursenvorstände daran zu erinnern, daß die Studenten keine Waffen tragen dursten; und schon 1474 wurde die Kleiderordnung verschärft und den Studenten verboten Mummerei zu treiben, Tanzböden zu besuchen und bei Hochzeitsfesten Skandal zu machen.
Dafür mußte aber auch 1477 den Herren Professoren verboten werden in den Sitzungen Injurien gegen ihre Kollegen zu verüben; und im Jahre 1488
erhielt die Universitätsverwaltung sogar eine recht ansehnliche Nase vonseiten der herzoglichen Regierung, weil mancherlei Übelstände eingerissen waren.
Insbesondere mußte auf Einhaltung der Kleiderordnung gedrungen werden, da die Studenten in eitler Pracht es dem weiblichen Geschlechte gleich tun wollten.
Die Namen der Lehrer, welche in der Jugendzeit der Ingolstädter Hoch an ihr wirkten, sind urkundlich aufbewahrt. Der hervorragendste Mediziner jener Erstlingszeit, I. Parreut, schrieb über aristotelische Logik schule
statt über Medizin. Reiche Anregung verbreitete der Dichter und Philosoph Konrad Celtes, welcher in den Jahren 1492—1497 zu Ingolstadt dozierte.
Für Süddeutschland war er der erste, der den frischen Geist der Renaissance
in der Poesie vertrat.
Der Student von damals bedeutete mehr als heutzutage. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daß einmal ein Student Rektor werden konnte. Auch konnten 1478 die Studierenden des kanonischen Rechtes eine Bitte um
Anstellung eines Professors direkt an den Herzog richten, ohne daß ihnen das
als eine Anmaßung ausgelegt worden wäre.
Die persönliche Freiheit der
Studenten aber, ihre individuelle Entwicklung war durch die starre Disziplin, namentlich in den Bursen, äußerst beschränkt.
Und doch muß man zugestehen,
daß ohne diese Disziplin das Studententum der damaligen Zeit allzuleicht in Büberei und Roheit versunken wäre. Eine charakteristische Sitte jener Zeit war, wie auch an anderen Hochschulen, die „depositio“, eine Zeremonie,
durch welche die neueintretenden Studenten, die „beani“, zu Studenten geweiht wurden und wobei es an Bexationen und Mißhandlungen der Ankömmlinge
nicht fehlte.
erhalten.
Eine Erinnerung an diese depositio hat sich im Fuchsenbrennen
Die „fontonia“
waren Massenausflüge in die Nachbarschaft der
Universitätsstadt, wobei wohl Mutwillen genug vorkam, da man sich genötigt sah, diese Spaziergänge auf bestimmte Tage im Jahre zu beschränken. In die Erstlingszeit der Universität fällt noch eine zweite, verwandte
Stiftung, die des „Collegium Georgianum“. Dasselbe wurde von Herzog Georg dem Reichen, dem Sohne des Stifters der Universität, im Jahre 1494 gegründet und mit den nötigen Gebäuden, Grundstücken und Renten aus
gestattet.
Es sollte eine Heimstätte für arme Studenten sein, eng verbunden
mit der Universität, eine Art Burse.
Dabei war vom Stifter zwar beabsichtigt,
112
25. Die Anfänge der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt.
daß die in dieses Stift aufgenommenen Studenten zuerst ein
paar Jahre
Philosophie, hernach Theologie studieren sollten; doch gingen sie keine bindende Verpflichtung ein wirklich Theologen zu werden.
Die Stiftung war anfangs
für einen Magister als Regens und 11 Studenten berechnet und 11 baye rische Städte hatten das Recht je einen Studenten für einen solchen Freiplatz
in Vorschlag zu bringen. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte vermehrten sich die Mittel dieser Stiftung durch freiwillige Geschenke sehr ansehnlich und sie wurde schließlich zu einem heute noch bestehenden Priesterseminar, dessen
schöne, geräumige Baulichkeiten zu München dem gegenwärtigen Universitäts gebäude gegenüber in der Ludwigsstraße stehen. Nachdem die erste Generation der Ingolstädter Professoren im Grabe Ruhe von ihrer Lehrtätigkeit gefunden, zeichnete sich unter den Nachfolgern
besonders Johann v. Eck aus, welcher 1510 von Freiburg nach Ingolstadt übersiedelte, um durch eine Reihe von Jahren als geistige Macht zu dominieren;
als anregender Theologe wirkte er hier bis zu seinem Tode (1543); auch der später als Historiker berühmt gewordene Wigulejus Hund lehrte an der Juristen
fakultät drei Jahre (1537—1540). Als Mathematiker wirkt? einer der hervor ragendsten Gelehrten seiner Zeit, Petrus Apianus, von 1527—1552, fruchtbar als Lehrer wie als Forscher.
Erbitterte Streitigkeiten innerhalb des Schoßes
der Artistenfakultät störten am Anfänge des Jahrhunderts den Frieden unter den Ingolstädter Gelehrten. In welchem Tone dazumal Gelehrte gegeneinander schrieben, mag aus einer Streitschrift des nach Freiburg abgegangenen Ingol
städter Professors Jakob Locher, genannt Philomusus, wider seinen vormaligen In dieser Streitschrift nannte Locher den Zingl
Kollegen Zingl hervorgehen.
„versipellem acheronticum atque delirium senein, colubrem venenatissimum, viperam stridentem, cornutam et vitatam bestiam, crimen saeculi“:c. Übrigens ward Locher, ein geistreicher und anregender Philologe und lateinischer
Dichter, nachträglich wieder nach Ingolstadt zurückberufen, wo er als beliebter
Lehrer und hochgeachteter philologischer Schriftsteller bis 1528 wirkte.
Auch der Geschichtschreiber
Johannes Turmair,
genannt Aven-
tinus, Erzieher der herzoglichen Prinzen Ludwig und Ernst, der jüngeren
Brüder Herzog Wilhelms IV., hielt eine zeitlang (1507) Vorlesungen zu Ingolstadt und gründete daselbst unter Mitwirkung seines fürstlichen Zöglings,
des Prinzen Ernst,
auch eine
gelehrte Gesellschaft,
die
„societas literaria
Angilostadensis“, deren Protektorat zuerst Herzog Ernst und später der berühmte bayerische Kanzler Leonhard von Eck übernahm. Einen unvergäng licheren Namen
fteilich verschaffte sich Aventin durch seine historischen Werke,
die Annalen („Annales Boiorum“ 1521) und die deutsche Bearbeitung der selben, die „Bayerische Chronik" (1533), beide im Auftrag seiner Gönner, der Obgleich
er nicht förmlich als
erscheint seine Einwirkung
auf die Ingolstädter
Herzoge Wilhelm und Ludwig, Professor angestellt war,
entstanden.
Universität als eine sehr glückliche.
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
113
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern bis zum Jahre 1500. Don Ernst Freys./
Schon vor der am 28. Oktober 1462 erfolgten Eroberung der Stadt Mainz durch Adolf von Nassau, welche als der Hauptanlaß zur raschen Ver
breitung der Erfindung Gutenbergs angesehen wird, hatte die letztere in zwei
Städten Deutschlands ihren Einzug gehalten, nämlich in Straßburg und Bamberg, wo bereits 1460 Typographen nachweislich tätig sind. In dem Bayern der Jetztzeit nimmt sonach Bamberg den Ruhm für
sich in Anspruch die älteste Druckstadt zu sein und Albrecht Pfister war es,
der hier die erste Presse errichtete.
Woher er stammte und wie sein
Lebensgang war, darüber ist so gut wie nichts bekannt; ebensowenig hat man
bis jetzt Sicheres über seine Beziehungen zu Gutenbergs typographischen Unter nehmungen,
besonders zur sogenannten 36zeitigen Bibel, feststellen können.
Doch ist die Annahme berechtigt, daß Pfister,
1420 angesehen
wird,
während
er
gegen
als dessen Geburtsjahr etwa
gestorben
1470
Buchdruckerkunst bei dem Erfinder selbst erlernte und
Bamberg übersiedelte.
sein
soll,
die
1457 von dort nach
Ursprünglich mag er das Geschäft eines Holzschneiders
betrieben haben, denn er ist der erste Drucker, der es unternahm seine Bücher
mit Illustrationen auszuschmücken.
Zu den ftühesten der von ihm hergestellten
Druckerzeugnisse, deren Mehrzahl in deutscher Sprache abgefaßt ist, dürften
wohl die beiden kleinen, mit Metallschnitten versehenen Schriften „Die sieben Freuden Mariens" und „Die Leidensgeschichte Jesu" zu rechnen sein,
die um
1460 entstanden sind und sich nur in einem einzigen, in der Hof- und Staats
bibliothek zu München befindlichen Exemplare erhallen haben.
Nach einer da
mals nicht selten geübten Sitte enthalten sie weder das Jahr des Erscheinens noch auch den Namen und Wohnort des Druckers; erst in der 1461 erschienenen
Fabelsammlung des Berner Dominikaners Ulrich Boner, welche den Namen
„Edelstein" trägt, wird Bamberg zum ersten Male als Druckort und in dem „Buche der vier Historien von Joseph, Daniel, Judith und Esther", einem
Auszuge aus der Biblischen Geschichte, von 1462,
erschienenen Werke des Jakobus
de Theramo
sowie in dem ohne Jahr
„Belial
oder der Trost
der
Die Behauptung, daß er
Sünder" Pfister ausdrücklich als Drucker genannt.
auch der erste gewesen, der überhaupt in deutscher Sprache druckte, ist nach dem Auffinden älterer
stammen, nicht mehr wesen,
deutscher Druckfragmente, aufrechtzuerhalten.
Lange
die
ist
er
sicher
von Gutenberg
indes nicht tätig ge
denn seit 1463 ist er verschollen und eine ganze Reihe von Jahren
hindurch in Bamberg, dem die inneren Bedingungen für eine gedeihliche Ent wicklung der Kunst fehlten, keine Presse mehr vorhanden, bis Johann Sensenschmidt, ein geborener Egerer, aus Nürnberg, wo er seine Tätigkeit begonnen,
dorthin kam und seit 1481 teils allein teils zusammen KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
mit Heinrich Petzen-
8
114
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Sagent.
steiner, der aus Nürnberg stammte, bis Anfang 1491 druckte.
Sie leisteten
Hervorragendes in der Herstellung liturgischer Werke, von denen das Meßbuch für den Benediktinerorden von 1481 und das Freisinger Brevier von 1482 die frühesten sind.
Nach dem Tode Joh. Sensenschmidts trat an seine Stelle
ein Bamberger Bürger, Johann Pfeil, der 1491 und 1492 im Verein mit Petzensteiner und Lorenz Sensenschmidt, dem Sohne des Johann, druckte, dann
aber allein bis ins 16. Jahrhundert hinein mit Erfolg chpographisch tätig
ÖJ Ueber harcheül mitt als vübrekUklKtutzen ptft erstatt ben an arm Dritten tag mm drmtoüemtbptlterlchmeu dem« beben muttrimv tnana warte auch den anton demen heben üingtrn und [y ttfrtiotlt als Du lprachlt Lerbchlepvne^uchÄls bch tr hm las mich auch also rrktewet tntrDtn an Dem iün Osten tag vnD grb uns nach Diltmlrttnin Deines uater mchdas noig leben amen Aus „Leidensgeschichte Jesu", gedruckt um 1460 von Albrecht Pfister in Bamberg.
war. Außer liturgischen Werken gingen, besonders im 16. Jahrhundert, ver schiedene Staatsschristen aus seiner Presse hervor, von welchen die 1507 auf
Veranlassung des Bamberger Fürstbischofs Georg III. erschienene Halsgerichts ordnung, die Grundlage der nachmaligen peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., die historisch merkwürdigste ist.
Neben diesen größeren Druckereien
waren auch einige kleinere vorübergehend in Betrieb, so seit 1487 die des Hans
Sporer, ebenfalls eines Nürnbergers, der kleinere Volksbücher und Lieder in deutscher Sprache herausgab, weil er aber ein Spottlied auf den Herzog Albrecht von Sachsen gedruckt hatte, gezwungen ward Bamberg zu verlassen, und die
des Markus Ayrer, eines wandernden Buchdruckers, der 1492 und 1493, teilweise mit Hans Bernecker zusammen, gleichfalls kleinere deutsche Schriften veröffentlichte.
26. Die Einführung und Entwicklung der Buckdruckerkunst in Bayern.
115
Zu weit höherer Blüte und viel größerer Bedeutung für ihre Gesamt
entwicklung überhaupt gelangte die Buchdruckerkunst in den beiden Städten,
welche damals die Hauptzentren des Handels uub der Kunst waren, Augs burg und Nürnberg.
In der alten Augusta Vindelicorum ward sie ein
geführt durch Günther Zainer von Reutlingen,
der in Straßburg wohl
bei Johann Mentelin, dem frühesten Drucker dieser Stadt, sich mit der Erfin dung Gutenbergs vertraut gemacht hatte. Spätestens 1467 dürfte er Straß
burg verlassen haben, denn schon am 12. März 1468 ging das erste datierte (b. i. mit der Angabe des Druckers, Druckortes und Jahres versehene) Werk aus seiner Presse hervor, die von nun an bis zu seinem am 13. April 1478 erfolgten Tode ununterbrochen tätig war und ganz bedeutende Leistungen zu verzeichnen hatte. Von den zirka 80 bis 90 Drucken, die aus derselben stammen und von denen die Mehrzahl in lateinischer Sprache abgefaßt ist, gehört ein
großer Teil der Theologie und Erbauungsliteratur an; daneben sind aber
auch Erzichungs- und Arzneibücher, Schriften erzählenden Inhalts u. a. ver treten. So entstanden in Zainers Werkstätte neben dem ersten datierten Werke Augsburgs, den „Betrachtungen über das Leben unseres Herrn Jesu Christi" von Bonaventilra, gegen 1473 bzw. 1477 zwei Ausgaben der deutschen Bibel,
die schon durch ihr Format alle anderen überragen. bzw.
sechsten Platz ein
in der Reihe
Sie nehmen den vierten
der 14 hochdeutschen Bibelausgaben,
die vor Luther erschienen sind; ferner die erste lateinische Ausgabe jenes Buches, das nächst der Bibel die weiteste Verbreitung auf der Erde gefunden hat, der Nachfolge Christi des Thomas a Kempis, weiter ein Neudruck der unter dem
Namen Catholicon bekannten Realenzyklopädie des Dominikaners Johannes Balbus von Genua, die an Schönheit des Druckes wie an Seltenheit dem
berühmten, von Gutenberg selbst gedruckten Originale nicht viel nachsteht, die erste Ausgabe des Schwabenspiegels u. s. w.
Nicht zu
vergessen zahlreicher
auf Folioblätter gedruckter Kalender, deren ältester, ein deutscher auf das Jahr 1470, einer der frühesten Kalender dieser Art überhaupt ist. Nicht lange ist Zainer der einzige Typograph Augsburgs geblieben; denn schon 1470 erscheint ein weiterer dort tätig, Johannes Schüßler, der aber nur kurze Zeit
Es sind verhältnismäßig wenige, aber sehr gut ausgeführte und den
druckte.
tüchtigen Meister kennzeichnende Werke, die seiner Presse entstammen; das erste, das dieselbe am 28. Juni 1470 verließ, ist die älteste Übersetzung des jüdischen
Geschichtschreibers Flavius Josephus, der sich das früheste wissenschaftliche Buch
über Landwirtschaft u. a. anschließen.
Das letzte Buch, das seinen Namen
trägt, ist vom 2. Juli 1472. Noch in demselben Jahre verkaufte er fünf Druckpressen nebst Zubehör an das Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra, dessen gelehrter und auf die Pflege der Wissenschaften sorgsam bedachter Abt Melchior
von Stamham
die
hohe Bedeutung
der Erfindung
Gutenbergs
richtig erkannte und sie für die Zwecke seines Klosters dienstbar zu machen
suchte.
Die Werkstätte,
in welcher die sämtlichen Verrichtungen wie Setzen, 8»
116
26. Di« Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
Drucken, Rubrizieren und Binden, von Klosterangehörigen verrichtet wurden,
ward noch vor Ablauf des Jahres vollendet und in Gebrauch genommen. Sehr groß war die Zahl der aus ihr hervorgegangenen Werke, die vorzüglich der Theologie und Geschichte angehören, allerdings nicht, da nach dem Tode des Abtes Melchior (1474) von dessen Nachfolgern die Pressen nicht weiter scheinen in Anspruch genommen worden zu sein. Fast gleichzeitig mit dieser Klosterdruckerei,
die eine der frühesten in
Deutschland war, trat eine neue Offizin ins Leben, welche an Zahl und Be
deutung ihrer Erzeugnisse die beiden letztgenannten weitaus übertraf, die des
Johann Bämler aus Augsburg. Das früheste Buch, das seinen Namen nennt, verließ 1472 die Presse, aus der dann in einem Zeitraume von mehr als 20 Jahren eine große Menge von Drucken hervorging, die ihn als einen sehr
fleißigen Typographen erkennen lassen. Die meisten dieser Werke, welche zum Teil der populären theologischen und juristischen, in der Mehrzahl aber der schönwissenschaftlichen und gemeinnützigen Literatur angehören, sind in deutscher Sprache geschrieben, so daß ihm zusammen mit dem später zu nennenden Anton Sorg das Verdienst gebührt die erste deutsche Volksliteratur auf den
Markt gebracht zu haben. So erschienen bei ihm z. B. neben den „Statuten der Rosenkranz-Bruderschaft" und der „Auslegung der hl. Messe" die Histo
rien „Von den sieben weisen Meistern", „Von der Zerstörung Trojas", „Von der schönen Melusine", „Von der Kreuzfahrt Gottfrieds von Bouillon" u. a., von denen viele mit Holzschnitten entsprechend ausgeschmückt sind. datierte Druck ist ein Augsburger Brevier von 1495.
Der letzte
Im Gegensatze zu Bämlers Werkstatt steht die eines Zeitgenossen, die nur ganz wenige Drucke veröffentlicht hat, aber dadurch wichtig ist, weil sie
sich rühmen kann, daß aus ihr nicht nur die früheste Bibel Augsburgs son dern auch die erste illustrierte deutsche Bibel überhaupt, welche in der Reihe der vorlutherischen hochdeutschen Bibelausgaben den dritten Platz ein
nimmt, hervorgegangen ist. Es ist dies die Presse des Jodokus Pflanzmann, der das Amt eines „Prokurators und Fürsprechs am Hofe zu Augsburg" be kleidete und von 1470—1490 daselbst wohnte. Seine Tätigkeit als Drucker hat nicht lange gewährt, denn außer der genannten Bibel, einem hervorragenden
Druckwerke aus zwei Bänden, das um 1473 entstanden ist, sind nur noch zwei
minder umfangreiche Schriften, deren eine das Datum des Jahres 1475 trägt, von ihm bekannt. Einen wesentlich anderen Charakter hatte die Tätigkeit Anton Sorgs
aus Augsburg, der wohl als der produktivste der dortigen Trucker anzusehcn ist. Er wirkte von 1475—1493 und überragte nicht allein durch die große Zahl seiner Erzeugnisse alle seine Vorgänger sondern brachte auch eine Menge neuer Werke auf den Markt, die geeignet waren das Interesse weitester Kreise Wie Bämler legte auch er großes Gewicht darauf Bücher in
zu wecken.
deutscher Sprache zu veröffentlichen und teilt sich deshalb mit jenem in den
117
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
Ruhm an der Verbreitung deutscher Schriften im 15. Jahrhundert
hervor
ragenden Anteil zu haben. Unter den zahlreichen Werken seiner Presse, zu denen u. a. eine Ausgabe des wichtigsten deutschen Rechtsbuches des Mittel alters, des Sachsenspiegels, die früheste deutsche Übersetzung der Nachfolge Christi und der erste deutsche Briefsteller gehören, verdienen vorzüglich
die
beiden Ausgaben der deutschen Bibel von 1477 bzw. 1480 Erwähnung, von denen die erstgenannte die älteste deutsche Bibel ist,
welche volle Datierung
hat. Auch für die illustrative Ausschmückung seiner Drucke entfaltete Sorg eine rege Tätigkeit, als deren Hauptwerk das berühmte Konstanzer Konziliums
buch des Domherrn Ulrich von Reichcnthal zu nennen ist, welches neben der wörtlichen und bildlichen Darstellung des Verlaufs dieser Kirchenversaminlung nicht weniger als 1156 Wappen aller damals in Konstanz anwesenden vor nehmen Männer der ganzen Christenheit enthält. Eine Leistung, die vorher
noch von keiner Seite versucht worden war und die dem Buche selbst mit Recht die Bezeichnung des ältesten gedruckten Wappenbuches eingetragen hat.
Die lange Reihe seiner Drucke schloß Sorg 1493 mit einer deutschen
Ausgabe der Evangelien und Episteln; bald darauf scheint er auch gestorben zu sein. Ein neuer Meister trat mit Johann Schönsperger dem Älteren
auf, der durch die reiche bildliche und typographische Ausstattung, die er seinen
Werken zuteil werden ließ, sich einen hervorragenden Namen erwarb.
Seine
Tätigkeit begann 1481 und dauerte bis weit in das erste Viertel des 16. Jahr
hunderts hinein. Bis zum Jahre 1500 erstreckte sie sich nicht so sehr auf die Herstellung neuer, bisher noch nicht gedruckter Bücher als vielmehr auf den
Nachdruck solcher, die zu jener Zeit oft begehrt waren und unter denen neben einer Reihe von Ausgaben der deutschen Evangelien und Episteln, der Heiligen leben u. a. sich wieder zwei deutsche Bibeln von 1487 und 1490 mit hübschen, der sog. Kölner Bibel entnommenen Holzschnitten befinden.
er indessen
erst,
der Zahl nach war,
seine
Hauptbedeutung
nm dies kurz zu erwähnen, im 16. Jahrhundert,
So produktiv
erlangte er doch
als er von Kaiser
Maximilian zum kaiserlichen „Diener und Buchdrucker" ernannt wurde und
nun im Auftrage seines Herr» jene typographischen Meisterwerke schuf,
die
seinen Namen mit der Geschichte der Buchdruckerkunst für immer verbinden: jenes herrliche, nur in zehn Exemplaren auf Pergament gedruckte Gebetbuch
des Kaisers von 1514, von dem die Hof- und Staatsbibliothek in München ein mit eigenhändigen Randzeichnungen Albrecht Dürers versehenes Fragment als einen ihrer kostbarsten Schätze verwahrt, und den mit Recht als Meister
werk der Typographie gepriesenen „Theuerdank" von 1517 und 1519, der in
poetischer Form die Brautfahrt Maximilians schildert und von Schäufelein, Burgkmair, Beck u. a. künstlerisch ausgeschmückt ist. Nicht nur völlig ebenbürtig sondern in vieler Beziehung Schönsperger noch überragend reiht sich ihm Erhard Ratdolt an, einer der bedeutendsten
18
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
Typographen seiner Zeit und unbestritten der hervorragendste Augsburgs, der
lange, bevor er hier selbständig tätig war, schon jenseits der Alpen durch seine Geschicklichkeit und seine Erfolge auf dem Gebiete der Kunst Gutenbergs dem Ruhmeskranze seiner Vaterstadt ein neues, unverwelkliches Blatt eingefügt hatte.
Aus einer Augsburger Künstlerfamilie stammend wandte er sich 1475, um in der „schwarzen Kunst", die er in seiner Heimat erlernt, weitere Ausbildung
äic genießen, nach Italien und errichtete im Verein mit seinem Landsmanne Bernhard Maler oder Pictor aus Augsburg und Peter Löslein aus Langen zenn bei Nürnberg in Venedig eine Presse, aus der schon 1476 das erste Werk hervorging.
Zwei Jahre hindurch dauerte diese Gemeinschaft,
der wir eine
Reihe schöner Werke verdanken; im Jahre 1478 trennte sich Ratdolt von den Genossen und war in der Lagunenstadt acht Jahre lang in eigener Offizin
tätig. Selbst in Kunst und Literatur wohl erfahren legte er nicht nur auf die äußere Ausstattung seiner Preßerzeugnisse hohen Wert sondern war auch darauf bedacht vorzüglich solche Werke zu veröffentlichen, die der Förderung und Verbreitung der Wissenschaften dienten. Wie er einerseits seine Drucke
durch prächtige Anfangsbuchstaben und Randleisten schmückte und
auch
der
erste war, der künstlerisch gestaltete Titelblätter in der heute üblichen Weise gebrauchte, so wendete er anderseits sein Hauptaugenmerk auf mathematische
und astronomische Werke und ist als
der Drucker zu rühmen,
welcher das
früheste Buch mit eingedruckten mathematischen Figuren, die Geometrie des
Euklid von 1482, veröffentlichte. Daneben entstammen seiner Venediger Presse auch Drucke anderen Inhalts, die sämtlich den Ruhm ihres Verfettigers nicht
bloß in Italien sondern auch diesseits der Alpen verbreiteten.
Es ist begreif
lich, daß unter solchen Verhältnissen die Bischöfe von Augsburg, zumal nach dem Ratdolt ein Brevier für seine Heimatdiözese hergestellt hatte, die Rückkehr
des geschickten Meisters in seine Vaterstadt dringend wünschten. äußerten Wünschen leistete dieser endlich Folge und
Den oft ge
siedelte zu Beginn des
Jahres 1486 nach Augsburg über, wo er nun 30 Jahre hindurch ununter brochen mit nicht minderem Erfolge tätig war. Das erste Stück, welches hier am 1. April des genannten Jahres seine Presse verließ, war ein Folioblatt, das Probedrucke in nicht weniger als 14 Schriftarten enthält und ein anschau liches Bild von der Reichhaltigkeit des Typenmaterials der Ratdoltschen Offizin gibt.
Das Blatt, das sich in einem einzigen Exemplare in der Mün
chener Staatsbibliothek erhalten hat, ist ein vorzüglich schöner Druck, der auch einer modernen Presse Ehre machen würde. Als erstes von Ratdolt in Augs
burg gedrucktes Buch erschien dann am 1. Februar 1487 ein Rituale Augsburger Bistums,
des
dem sich neben anderen Werken hauptsächlich Bücher
liturgischen Inhalts anschlossen, da die Ausstattung, die solchen zuteil wurde, auch andere Diözesen veranlaßte, die für den kirchlichen Gebrauch nötigen Bücher bei dem Augsburger Meister herstellen zu lassen.
So entstanden z. B.
in Ratdolts Werkstätte neben den vier für Augsburg gedruckten Meßbüchern
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
119
deren drei für Freising, fünf für Passau, drei für Konstanz und je eins für
Brixen, Aquileja und Chur. Als sein letzter Druck gilt das Konstanzer Brevier
von 1516; nach demselben scheint er bis zu seinem Tode (1527 oder 1528)
typographisch nicht mehr tätig gewesen zu sein. Wie schon anfangs neben Bämler und Sorg, so wirkte auch am Ende
des 15. Jahrhunderts neben Schönsperger und Ratdolt eine Anzahl kleinerer selbständiger Drucker, deren Pressen aber nur kürzere Zeit arbeiteten und deren Erzeugnisse weder der Ausstattung noch dem Inhalte nach wesentliche Bedeu
tung erlangt haben; unter ihnen auch Johann Schobser (1485—1498) und Johann Schauer (1491—1500), die um deswillen erwähnenswert sind, weil sie sich um die Einführung des Buchdrucks in München verdient gemacht
haben. Würdig an Augsburg schließt sich das heute noch im Glanze zahlreicher Denkmäler mittelalterlicher Kunst und Kultur strahlende Nürnberg an, wo der schon genannte, später in Bamberg wirkende Johann Sensenschmidt aus Eger 1470 die erste Druckerei begründete. Anfangs allein tätig verband er
sich 1473 mit Heinrich Kefer aus Mainz, einem der beiden Gehilfen Guten bergs,
die aus dessen Prozeß mit Fust urkundlich nachweisbar sind.
Das
älteste Buch, das Nürnbergs Namen trägt, ist das theologisch-moralische Werk
des Dominikaners und Wiener Professors Franciscus de Retza „Comestorium vitiorum“ von 1470, während das Hauptwerk Sensenschmidts und Kefers die „Pantheologia" des Rainerus de Pisis, ein alphabetisch geordnetes Kom pendium der gesamten Theologie, vom 8. April 1473 ist, welches zugleich in
hervorragender Weise die Leistungsfähigkeit der ersten Nürnberger Presse doku mentiert.
In demselben Jahre noch verschwindet Heinrich Kefer und an seine
Stelle tritt Andreas Frisner von Wunsiedel, mit dem zusammen Sensenschmidt
bis 1478 eine beträchtliche Anzahl Werke herausgab, unter denen die zweite illustrierte deutsche Bibel sowie eine lateinische Bibel von 1475 hervorgehoben zu werden verdienen. Nach 1478 verließen Sensenschmidt sowohl wie Frisner Nürnberg, der eine um nach Bamberg, der andere um nach Leipzig über
zusiedeln.
Zu diesem Schritte mag sie wohl die steigende Bedeutung des
Mannes bewogen haben, dem allein Nürnberg seine hervorragende Stellung in der Geschichte der Typographie verdankt und der auch heute noch als der
größte Buchdrucker und Buchhändler seiner Zeit angesehen wird.
Anton Koberger, der als Sproß eines angesehenen und wohlhabenden Nürnberger Bürgergeschlechts gegen 1440 das Licht der Welt erblickte, muß bald nach Sensenschmidt seine Druckerei begründet haben, denn schon 1472 erschienen mehrere Schriften, die sicher aus derselben stammen, während das früheste Buch,
das seinen Namen
trägt, das Hauptwerk des Philosophen
Bokthius „de cousolatione philosophiae“ mit dem Kommentar des heiligen Thomas von Aquin, am 24. Juli 1473 ausgegeben ward. In der ersten Zeit war Kobergers Produktivität nicht groß, seit dem Ende der siebziger Jahre
120
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
aber nahm sie so zu,
daß bis 1500 schon über 200 Werke,
ganze Reihe mehrbändiger, von ihm gedruckt waren.
darunter eine
In seiner Werkstätte
arbeiteten täglich 24 Pressen und über 100 Gesellen, die nicht bloß das Setzen, Drucken und Korrigieren sondern auch das Illuminieren und Binden der Bücher
besorgten.
Doch reichten auch diese nicht aus allen Anforderungen zu ge
nügen und so sah sich Koberger genötigt noch im Auslande, so z. B. in Basel und Lyon, fremde Pressen für sich drucken zu lassen. Neben der Her
stellung der Bücher selbst verwandte er ein ganz besonderes Interesse auf deren Vertrieb und sein zielbewußtes, tatkräftiges Vorgehen in dieser Richtung, das
ihm nach und nach in allen Handelsplätzen des In- und Auslandes Nieder lagen seiner Druckwerke sicherte, bewirkte eine Ausdehnung seines Geschäftes, wie sie bis dahin gänzlich unbekannt gewesen war. Alle von ihm hergestellten
Werke zeichnen sich durch fehlerlosen Druck, durch Schönheit der Typen, durch
scharfe Ausprägung der Buchstaben und dlirch kunstfertigen Satz aus.
Ihrem
Inhalte nach gehören sie vorzugsweise der Theologie, Philosophie und Juris
prudenz an und zählen unter sich verhältnismäßig wenige, die Sprache abgefaßt sind. Am meisten gedruckt wurde die Bibel,
in deutscher von welcher
Koberger bis zum Ende des 15. Jahrhunderts allein 15 Ausgaben veran
staltete. Unter ihnen befindet sich nicht nur die früheste in Nürnberg her gestellte sondern auch die erste lateinische, welche mit Illustrationen versehen ist; ferner eine deutsche von 1483, welche, gleichfalls mit Holzschnitten geziert, als eine der schönsten deutschen überhaupt angesehen wird.
Sie ist wohl die
erste Frucht der Bestrebungen Kobergers den Ruf seiner Preßerzeugnisse durch
illustrative Ausschmückung noch zu erhöhen, Bestrebungen, die durch die Verbindung mit Michael Wohlgemuth, dem Lehrer Albrecht Dürers, in einem solchen Maße verwirklicht wurden, daß Nürnberg auf dem Gebiete der Buchillustration alle anderen Städte weit überragte. Das früheste Werk, das aus dieser Gemeinschaft hervorging, ist der „Schatzbehalter oder Schrein
der wahren Reichtümer des Heils" von 1491, ein volkstümliches Andachts und Betrachtungsbuch, das nicht weniger als 96 blattgroße Holzschnitte von der Hand des Künstlers enthält. Übertroffen wird dasselbe noch durch die 1493 in lateinischer und deutscher Ausgabe erschienene Weltchronik des
Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel,
die mit ihren weit über 2000 Holzschnitten sich als das größte illustrierte Werk des
15. Jahrhunderts darstellt. Der Bilderschmuck, bei dessen Herstellung Wohlgemuth von seinem Stiefsohne Wilhelm Pleydenwurff unterstützt wurde,
dient zur Erläuterung der biblischen und weltlichen Historien und bringt von
der Schöpfung der Welt an die bekanntesten Begebenheiten, Personen, Länder und Städte, darunter manche der letzteren mit historischer Treue, zur Darstellung. Mit der Wende des Jahrhunderts ließ die Drucktätigkeit Kobergers, die in den neunziger Jahren noch sehr groß war, allmählich nach,
bis am 17. Juni 1504 als letztes Erzeugnis der eigenen Presse der
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern. Schlußband einer Ausgabe des Corpus iuris civilis erschien;
von
121
ab
da
beschäftigte er nur noch die Werkstätten anderer Trucker und war selbst bloß als Verleger bis zu seinem am 3. Oktober 1513 erfolgten Tode tätig.
seine Vaterstadt, zu deren Ruhm er so viel beigetragen,
Wie
schon zu seinen Leb
zeiten ihn dadurch ehrte, daß sie ihn in den Rat der Stadt berief, so ist auch heute noch sein Andenken dortselbst nicht erloschen; an seinem Hause prangt seit 1880 eine von den deutschen Buchhändlern gestiftete Gedenktafel und eine Straße unterhalb der Burg trägt seit 1882 seinen Namen.
Nürnberg nach H. Schedels Weltchronik, gedruckt von Anton Koberger in Nürnberg 1493; verkleinert.
Neben einem so einzigartigen Geschäftsbetriebe war cs anderen Drucke reien, die nicht mit ähnlichen Mitteln arbeiten konnten, natürlich sehr schwer festen Fuß zu fassen.
Es ist daher erklärlich, daß die meisten der damals in
Nürnberg entstandenen Pressen an Bedeutung und an Dauer ihrer Wirksam keit hinter jener Kobergers zurückbleiben mußten.
Zeitlich und auch ihrer
Leistungsfähigkeit nach am nächsten stehend war die des Fri cdrich Creußner, der wohl aus Nürnberg selbst stammte und seit 1472 fünfundzwanzig Jahre
lang dort tätig war.
In der nicht unbeträchtlichen Reihe seiner Drucke, die sich
durch saubere Ausführung lote schöne Lettern auszcichneten, erschien als erster
datierter 1472 das sog. Ehestandsbüchlcin des Eichstätter Domherrn Albrecht von Eyb, während
der inhaltlich interessanteste die früheste deutsche Ausgabe
der Reisebeschreibung Marco Polos, des ersten Asienforschers, von 1477 war; der letzte verließ 1497 die Presse. Über die Persönlichkeit Creußners wissen
wir nichts Näheres; um so bekannter ist das Leben des Typographen, der
gleichzeitig neben ihm arbeitete, Johannes Regiomontanus, eigentlich
122
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
Johann Müller aus Königsberg in Franken.
Dieser berühmte Astronom und
Mathematiker, der am 6. Juni 1436 geboren ward und bei Georg von Peur-
bach in Wien studierte, war nach mehrjährigem Aufenthalte in Italien 1469 an den Hof des Königs von Ungarn, Matthias Corvinns, gekommen. 1471 siedelte er von Ofen nach Nürnberg über, um daselbst seinen Studien zu leben und die Veröffentlichung der zahlreichen aus Italien mitgebrachten Hand
schriften vorzubereiten. Unterstützt von seinem Freunde Bernhard Walther er richtete er dortselbst nicht nur eine Sternwarte und eine mechanische Wcrfftätte sondern auch, da die sonstigen Pressen den Satz der griechischen Lettern und der mathematischen Zeichen nicht ausführen konnten, eine eigene Druckerei. Die Erzeugnisse derselben waren Kalender und sonstige astronomische und mathe matische Werke, unter welchen die „Ephemeriden", die für jeden Tag die Kon stellation der Gestirne von 1475 bis 1506 vorausberechneten, die erste Stelle
einnehmen. Die Ernennung des Gelehrten zum Bischof von Regensburg und die gleichzeitige Berufung desselben nach Rom (1475) zur Teilnahme an der von Papst Sixtus IV. beabsichtigten Kalenderreform bereiteten den wissen schaftlichen Plänen wie der typographischen Tätigkeit Regiomontans ein vor
zeitiges Ende. Ebenfalls nur für eigene Zwecke bestimmt war die Presse des als Meister sänger nicht unbekannten Hans Folz aus Worms, der das Geschäft eines Stadtwundarztes versah und seine volkstümlichen, mit Holzschnitten versehenen
Gedichte 1479 und 1480 selbst druckte.
Zur gleichen Zeit trat 1479 in dem
Kloster der Augustiner-Eremiten, dessen Räume jetzt zum Germanischen Museum gehören, eine Werkstätte ins Leben, die bis 1491 arbeitete, von der aber außer etwa einem Dutzend Drucke weitere Erzeugnisse nicht bekannt sind.
Ihr
schlossen sich an die Druckereien des Konrad Zeninger (1479 bis 1489) und des Peter Wagner (1483—1500), von denen die erste meist kleinere Sachen, darunter auch ein mehrmals aufgelegtes lateinisch-deutsches Wörterbuch, er
scheinen ließ, während die zweite sich besonders um die Herausgabe von Volks und Schulschriften verdient machte. Aus der Reihe der weiteren Drucker, die von jetzt an bis 1500 in Nürn
berg sich noch niederließen und unter denen Hans Mair und Peter Vischer
nur um deswillen zu erwähnen sind, weil ihnen Würzburg, Nürnberg und Bamberg die frühesten Ausgaben ihrer sog. Heiligtumsbüchlein (d. s. Beschrei bungen der daselbst aufbewahrten Reliquien) verdanken, hat es eigentlich nur Georg Stuchs aus Sulzbach in der Oberpfalz zu einer hervorragenden
Bedeutung gebracht. Das erste von ihm gedruckte Werk, ein Meßbuch von 1484, war in so mustergültiger Weise ausgeführt, daß er bald von den ver schiedensten Diözesen und Verlegern Aufträge zur Herstellung liturgischer Bücher erhielt;
in der großen Zahl der von ihm bis zum Jahre 1517 gelieferten
Druckwerke, deren letztes gleichfalls wieder ein Missale war, finden sich nur wenige, die einem anderen Gebiete angehören. Wie kein zweiter Drucker jener
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
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Zeit pflegte er diesen Zweig der Literatur und nicht bloß der Süden, auch
der Norden und Osten Deutschlands bezogen die verschiedenen, zum kirchlichen
Gebrauche nötigen Bücher von dem Nürnberger Meister. ihm
nahestehende
Hieronymus Holzel
Der an Bedeutung
von Traunstein
begann zwar
schon 1496 zu drucken, entfaltete seine Haupttätigkeit aber erst im 16. Jahr hundert. Nach Nürnberg trat Speyer in die Reihe der druckenden Städte ein. Von wem lind in welchem Jahre hier die erste Presse gegründet wurde, ist unbekannt. Das erste Werk, das Speyer als Druckort bezeichnet, die „Postilla super Apocalypsin et Cantica Canticorum“ ist 1471 gedruckt und gibt
ebensowenig wie eine Reihe anderer hierher gehöriger Schriften den Namen
des Typographen an. Der früheste, der als solcher namhaft gemacht wird, ist Peter D r a ch, der Sproß einer angesehenen Speyerer Familie. Als erster datierter Druck verließ 1477 ein Vocabularius iuris utriusque seine Werk
stätte, die unter ihm und seinem gleichnamigen Sohn und Enkel bis ins 2. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts blühte und eines so großen Ansehens sich erfreute, daß ihr auch Druckaufträge aus solchen Städten zuteil wurden, die selbst angesehene Druckereien besaßen, wie das von ihr im Jahre 1497 im
Auftrage des Erzbischofs Berthold von Henneberg gedruckte Meßbuch für Mainz beweist. Schon 12 Jahre nach dem Drucke des ersten Speyerer Buches entstand neben der Drachschen Presse eine zweite, die von den Brüdern Johann und Konrad Hist ins Leben gerufen ward und an Zahl wie an Ausstattung ihrer
Drucke sich mit der ersteren wohl messen konnte, ja in letzterer Hinsicht sie noch übertraf. Sie war von 1483—1515 tätig. Über die Herkunft und die
Persönlichkeit der beiden Drucker ist nichts bekannt; der eine von ihnen scheint früh gestorben zu sein, denn von 1492 an wird nur Konrad Hist als Typo
graph genannt. Auf die alte Reichsstadt folgte 1473 der Geburtsort des Albertus Magnus,
das kleine Städtchen Lauingen, dem damit die Ehre zufällt, der älteste Druckort des damaligen Herzogtums Bayern zu sein. Es ist ein Folioband von 106 Seiten, die Schrift des hl. Augustinus de consensu Evangelistarum, der 1473 dortselbst erschienen ist. Über den, der ihn gedruckt, ist nichts bekannt,
wie auch unter den sämtlichen Werken des 15. Jahrhunderts sich kein zweites findet, das dort hergestellt ist. An Lauingen schließt sich Würzburg, die Hauptstadt des Franken
landes, an, wohin Fürstbischof Rudolf von Scherenberg die „erfahrenen Meister der Buchdruckerkunst" Stephan Dold, Georg Rehs er und Johann Beckenhub berief, um die für den kirchlichen Bedarf nötigen Bücher zu drucken und so
den Geistlichen des Bistums einheitliche liturgische Texte zu verschaffen. Die einzige Leistung dieser Druckergemeinschaft war ein Brevier vom 20. Septem ber 1479, welches auch um deswillen Beachtung verdient, weil es das erste in Deutschland erschienene Buch ist, das einen Kupferstich enthält. Bald
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26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
nach seiner Herstellung verließen Dold und Beckenhub Würzburg und Reyser, der anscheinend von Anfang an der eigentliche Typograph gewesen war, führte die Druckerei allein fort. Die Erzeugnisse derselben, zu deren Herstellung er
sich eigenartiger, nach ihm benannter Typen bediente, sind in der Hauptsache liturgische Bücher und Kalender und vorzugsweise für die Zwecke des Würz burger Hochstifts bestimmt. Was sie für die Geschichte der Buchdruckerkunst bedeutungsvoll macht, ist der Umstand, daß in ihnen, speziell in dem Missale von 1481, sich sehr frühe, wenn nicht die frühesten mit beweglichen Typen gedruckten Musiknoten gotischer Form vorfinden, so daß Georg Reyser als einer der ersten Musiknotendrücker überhaupt anzusehen ist.
Derselbe, der auch bei dem folgenden Fürstbischöfe, Lorenz von Bibra, in hohem Ansehen stand
druckte zuletzt 1503 und muß bald darauf gestorben sein, da im Oktober 1504 das Druckprivilegium einem anderen, Martin Schubart nämlich, erteilt
wurde. Bald nach Würzburg begann Memmingen zu drucken, wo Albrecht Kunne von Duderstadt, der schon im Jahre 1473 zu Trient als Typograph tätig gewesen war, die Druckkunst einführte.
Da er seiner Herkunft nach ein
Mainzer Untertan war, ist es möglich, daß er auch in Mainz selbst die Kunst erlernte. In Memmingen fing er etwa 1480 an zu wirken; sein erstes datiertes Werk indes, eine Ausgabe des damals außerordentlich verbreiteten und oft
gedruckten Handbuches der Weltgeschichte des Karthäusers Werner Rolevink, das den Titel Fasciculus temporum trügt, erschien erst 1482. Bis zum Jahre 1519 war seine Presse tätig, aus der allein bis zum Jahre 1500 weit
über 60 Werke hervorgingen. Geringere Bedeutung erlangte die Buchdruckerkunst in Passau,
wo
Benedikt Mayr, zuerst mit Konrad und Nikolaus Stahel, dann mit Johann
Alakraw, arbeitete und 1482 als erster datierter Druck „Eusebius, epistola de
morte Hieronymi“ erschien. Die Genannten gehörten wohl alle zu den sog. wandernden Typographen, da ihre Tätigkeit in Passau nicht lange dauerte
und sie selbst, abgesehen von Nikolaus Stahel, von dem weiteres nicht bekannt ist, bald darauf an anderen Orten nachweisbar sind. Seßhafter war ihr Nachfolger Johann Petri, aus dessen Presse in der Zeit von 1485—1493 eine ganze Reihe von Drucken, darunter einige gut ausgeführte Meßbücher,
erschienen. Erst an neunter Stelle int jetzigen Bayern ist München zu nennen; doch genießt es den Vorzug, daß sein erster Typograph der älteste bekannte Drucker
des damaligen Herzogtums ist.
Hans Schauer war es, in dessen Offizin
das erste in Bayerns Hauptstadt gedruckte Buch „am St. Peter- und Pauls-
Abend"
1482 fertiggestellt wurde.
Das Schriftchen, eine deutsche Ausgabe
der „Mirabilia urbis Romae“, ist nur in einem einzigen aus dem Kloster Tegernsee stammenden Exemplare bekannt und zählt zu den Kostbarkeiten der Münchener Staatsbibliothek.
Es ist ein Führer für die Rompilger, der das
26. Die Einführung und Entwicklung der Buchdruckerkunst in Bayern.
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Wissenswerteste über die ewige Stadt, ihre Geschichte und Kirchen enthält.
Schauers Presse muß nicht bedeutend gewesen sein; nur ganz wenige Produkte sind aus ihr bekannt und schon 1485 wurde er selbst vom Rate der Stadt
nach Augsburg geschickt, um dort den Druck von 600 Schützenbriefen für das große Schießen, welches die Stadt München im Jahre 1486 veranstaltete, zu
bestellen.
Bielleicht lernte er bei dieser Gelegenheit den blühenden Stand
des Augsburger Druckgewerbes genauer kennen und wurde dadurch bewogen dorthin überzusiedeln, wo er von 1491—1500 druckte. Einen Nachfolger fand er in Benedikt Buchbinder, von dem nur drei kleine im Jahre 1488 hergestellte
(DMb bat vH pücblein ain env • Jhcsun vn SPa tia vnsern kumerwenv €>ttnuiht Vnb vol rne vet von ’lOans lcbawer;u Vmcben ♦ Onno hommi V» ccccdjqcjcq- iatan sant Peter vnö pnc Pauls abent. Schlußschrift des ersten Münchener Druckes „von der Stadt Rom", gedruckt von Hans Schauer 1482.
deutsche Schriftchen, darunter zwei Unika in der Kgl. Bibliothek Bamberg, be kannt sind.
Wesentlich erfolgreicher war die Wirksamkeit des dritten Münchener
Druckers, Johann Schobser.
Schon von 1488—1498 in Augsburg tätig
wurde er gegen 1499 als herzoglicher Buchdrucker nach München berufen, wo bald darauf als sein erstes Werk das Predigtbuch des Passauer Theologie professors und Domprcdigers Paulus Wann erschien, dem dann bis tief ins 16. Jahrhundert hinein zahlreiche andere, unter ihnen auch die erste Samm lung deutscher Reichsgesetze von 1501, folgten.
In Eichstätt, das sich zeitlich an München anschließt, erschien 1484 versehene Werk. Es enthält die Synodalstatuten der Eichstätter Diözese und ist von Michael Reyser, wohl
das erste mit Datum und Druckernamen
einem Berivandtc» des Würzburger Prototypographcn, gedruckt, der von dem Bischof Wilhelm von Reichenau dorthin berufen anscheinend schon 1482 daselbst
tätig war.
Aus seiner Werkstätte ging bis zum Jahre 1494, in welchem Jahre
dieselbe zum letzten Male arbeitete, eine größere Anzahl schön ausgeführter Werke hervor, von denen die meisten liturgischer Art waren.
Regensburg, wo 1485 die Buchdruckerkunst ihren Einzug hielt, scheint im 15. Jahrhundert eine ständige Presse nicht besessen zu haben. Wenn auch
Johann Sensenschmidt und Johann Beckenhub, die uns schon in Bamberg begegnet sind, im genannten Jahre auf Veranlassung des Bischofs
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Heinrich dortselbst ein Meßbuch für die Regensburger Diözese herstellten, so
haben sie die Stadt doch unmittelbar nachher wieder verlassen. Ebenso kurz war die Drucktätigkeit des Dombaumeisters Matthäus Roritzer, der 1486 zwei kleine Büchlein hier druckte, und die des uns ebenfalls schon bekannten Markus Ayrer, der für 1491 und 1492 je einen Kalender in der alten Reichs
stadt erscheinen ließ.
Von größerer Bedeutung war Ingolstadt, das seit 1472 eine Hoch schule in seinen Mauern sah. Wer hier die Druckkunst einführte, ist nicht
bekannt; man weiß nur, daß 1487 das erste Werk, das Ingolstadts Namen trägt, eine Rhetorik des dortigen Hochschullehrers Paul Lescher, erschienen ist. Ihm folgte eine Reihe anderer, die aber gleichfalls den Typographen nicht angeben.
Nur von zwei Pressen des 15. Jahrhunderts sind die Namen der
Druckherren bekannt; die eine ist die des Johann Kachelofen, der von 1492—1499 tätig war, während die zweite von Georg Wirffel in Ver bindung mit Markus Ayrer 1496 und 1497 betrieben wurde. hundert sah Gutenbergs Kunst hier in vollster Blüte.
Erst das 16. Jahr
Den Beschluß der bayerischen Frühdruckstädte machen Zweibrücken, das in einem 1492 von Georg Geßler, einem sonst unbekannten Typographen,
hergestellten Buche als Druckort genannt wird, und Freising, wo Johannes Schäffler, der schon vorher und dann wieder von 1497 an in Ulm druckte, 1495 ein lateinisches Schulbuch erscheinen ließ, ohne daß ihm weitere Nach
folger entstanden wären.
Damit schließt die Reihe der Städte und der Männer, die während des 15. Jahrhunderts in dem jetzigen Bayern für die Verbreitung der „schwarzen
Kunst" gewirkt haben.
Nur einen Zeitraum von rund 40 Jahren umfaßt
ihre Tätigkeit und schon sind es in diesem verhältnismäßig kleinen Teile unseres deutschen Vaterlandes nicht weniger als 14 Orte, in denen Gutenbergs Er
findung Eingang gefunden und zumeist auch festen Fuß für immer gefaßt hat. Über 70 Jünger des Altmeisters haben hier von 1460—1500 dessen Kunst
geübt und was sie in dieser Zeit geleistet, war von so hervorragender Be deutung, daß die Namen dreier bayerischer Städte mit der Geschichte der Buch druckerkunst aufs innigste verbunden sind: Bamberg, aus dessen Mauern
die ältesten illustrierten Bücher hervorgegangen sind, Augsburg, das mehr als jede andere Stadt Deutschlands für die Verbreitung der deutschen Bibel wie der deutschen Sprache und Literatur überhaupt gewirkt hat, und endlich Nürnberg, das die eigentliche künstlerische Ausschmückung des Buches be gründet hat und in technischer Hinsicht sowohl für den Buchdruck wie für den
Buchhandel allen anderen Städten ein leuchtendes Vorbild gewesen ist.
27. Eine Festschule der Meistersinger.
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27. Eine Festschule der Meistersinger. Don August Sach?)
Wer um das Jahr 1550 nach Nürnberg kam, konnte um die $ fingst* zeit ein Seil von St. Sebaldus nach dem Rathause gezogen erblicken, woran
in der Mitte ein bemaltes Schild hing.
Jedes Nürnberger Kind wußte, daß
die wohllöblichen Meistersinger wieder eine Festschule in der St. Katharinen kirche veranstalten wollten und durch das Schild jeden, der daran teilzunehmen
gedachte, dazu laden ließen.
Auch aus weiterer Ferne waren diesmal manche
Genossen herbeigekommen, um sich an dem Hauptsingen berühmter Meister
und an ihren neuen Tönen zu ergötzen. Denn in Nürnberg ward seit langen Zeiten die holdselige Kunst besser gepflegt als sonst in deutschen Landen. Wie vor Jahren hier der Barbier Hans Foltz und der Briefmaler Hans Rosen
blüt sich einen Namen gemacht, so war jetzt Hans Sachs, der Schuster und Schüler des Leinwebers Nunnenpek, schon seit einem Menschenalter und länger das Haupt und das leuchtende Vorbild aller kunstreichen Meister. Überall,
wo die Singerschulen blühten, in allen süddeutschen Reichsstädten, in Mainz und Straßburg, in Kalmar und Frankfurt, in Augsburg und Regensburg,
in Ulm, München und Würzburg, ja in Prag, Breslau und in dem nordischen Danzig pries man seinen Namen und dichtete man in seinen Tönen. Selbst aus sächsischen Landen, wo außer in Zwickau keine Schulen blühten, hatten sich Liebhaber des Sanges eingestellt, deren Väter einst auf der Wanderung
durch Süddeutschland Mitglieder einer Singschule geworden waren und auch
nach der Rückkehr in die Heimat die in der Fremde gelernte Weise noch fort geübt hatten. Schon war ihnen daheim manche Belehrung über die löbliche Kunst ge worden, die nicht allein zur Freude und Ergötzung der Menschen sondern
auch zur Erinnerung göttlicher Wohltaten und zur Andacht des Herzens dienen sollte; hier aber in Nürnberg fand jedermann reiche Gelegenheit die Weise
nnd die Ordnungen der berühmten Meister genauer kennen zu lernen und sich in der Kunst weiter zu bilden. Wer ihrer noch unkundig war, ließ sich wohl zunächst die Bedeutung der Tafel mit ihren Figuren erklären, die frei in der
Luft auf dem Seile schwebte. Oben sah man einen gevierten Schild, der in zwei Feldern den Reichs
adler und in der Mitte die Königskrone trug; das war der Meistersinger Wappen, darunter waren zwölf Männer sichtbar, wie sie einen Garten be stellten, aber dabei von einem wilden Tiere gestört wurden. Sie stellten die
zwölf berühmten Sänger dar, welche die erste Singschule eingerichtet, und das wilde Tier war der Neid, der von außen her, und die Zwietracht, die von innen her ihrem Gedeihen schade. Wer aber nach den Namen dieser zwölf Wundermänner fragte, erhielt von einem kundigen Meister zur Antwort, was *) „Deutsches Leben in der Vergangenheit", II. Band, S. 277 ff. Halle a. S. 1891.
27. Eine Festichule der Meistersinger,
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die sagenhafte Überlieferung ohne sich um geschichtliche Widersprüche zu kümmern
weiter berichtete. „Es waren teils Gelehrte teils Ritter und Bürger.
Einer war ein
Glasbrenner, einer ein Schmied, einer ein Musikant, einer ein Fischer, einer
ein Seiler; aber von diesen ist nichts weiter zu erzählen, desto mehr aber von dem Ritter Wolftam von Eschenbach, von Nikolaus Klingsor, der freien Künste Magister, von Walter von der Vogelweide, von Heinrich von Ofterdingen
aus Eisenach und von Heinrich Frauenlob aus Meißen, der heiligen Schrift Doktor zu Mainz. Dieser erhob mit unsterblichen Gesängen der Frauen Schön
heit und Sittigkeit und zum Dank trugen ihn dieselben in Mainz zu Grabe, denn nicht dem Lebenden allein sondern auch dem Toten sollte ihre Tugend offenbar werden. Im Dom zeigt man noch seinen Leichenstein, den die Frauen mit Tränen und Wein benetzten. Von ihm leiten wir unsere Kunst her; denn
er stiftete einen Verein von Dichtern und Freunden des Singens, unter richtete Schüler und die Schüler wurden wieder Meister und so bis aus den
heutigen Tag." „Ja, so ist es," fuhr wohl ein anderer fort; „wir find Bürger und Handwerker und treiben nebenbei die Kunst; zu Singergesellschaften vereinigt haben wir unsere Regeln und richten uns nach den Vorschriften unserer löb lichen Zunft.
Wer die Kunst erlernen will, der geht zu einem Meister, der
wenigstens einmal in der Singschule den Preis gewann, und dieser unterweist ihn unentgeltlich.
Er lehrt, was es heißt zur Ehre der Religion singen, und
weiht ihn ein in die Geheimnisse der Tabulatur, wie wir die Gesetze unserer Singkunst nennen. Hat er sich wohlgehalten, die Lehrsätze und eine ziem
liche Anzahl von Tönen, insonderheit die vier gekrönten, begriffen, so wird er auf der Zech oder in dem Wirtshaus, wo die gewöhnlichen Zusammenkünfte
geschehen, gemeinlich am St. Thomastage, der Gesellschaft durch den Lehr meister vorgestellt mit der Bitte ihn aufzunehmen. Darauf stellen die „Merker"
eine Prüfung mit ihm an und erforschen, ob er ehelicher Geburt, stillen und
ehrbaren Wandels sei und die Singschule stets besucht habe; sie machen eine Probe mit ihm, ob er die Kunst genugsam gelernt und wisse, was es mit den Reimen nach Zahl, Maß und Bindung für eine Beschaffenheit habe, ob er mit der gehörigen Zahl von Tönen bekannt sei und im Notfälle ein Lied
„merken" könne. Man gibt ihm dabei im Singen sieben Silben vor; wenn er darüber verfingt, kann er nicht ausgenommen werden, gelingt ihm aber die Probe, so wird sein Wunsch gewährt. Feierlich gelobt er der Kunst stets
treu zu sein, die Ehre der Gesellschaft wahrzunehmen, sich stets friedlich zu betragen und kein Meisterlied durch Absingen auf der Gaffe zu entweihen. Dann zahlt er das Einschreibegeld und gibt zwei Maß Wein zum besten. Hat
er sich eine Zeitlang auf den Schulen zur Zuftiedenheit der Meister hören lassen und auch sonst untadelhaft verhalten, kann er um die Freiung auf den
Stuhl anhalten, daß er auf offener Singschule fteigesprochen und für einen
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27. Eine Festschule der Meistersinger.
Meister erklärt werde.
Mit einem Gruße stellt er sein Begehren und der
Meister begrüßt ihn wieder mit einem Gruße und Gesang und legt ihm dann Fragen vor über den Ursprung der Kunst und ihre Gesetze.
Hat er hierauf
genügend geantwortet, so singen ihm die Meister zu, daß er zu ihnen eintrete
um die Meisterschaft und den Kranz zu empfangen."
„Wie nun die Bräuche der Meister sind, sollt ihr bei der Singschule
erfahren;
da geht es anders her als bei den gewöhnlichen Zusammenkünften,
wenn wir uns in den Schenken versammelt haben; da könnt ihr auch manch herrliches Lied hören; aber in den Festschulen werden nur Gedichte vorge
tragen, deren Inhalt aus der Bibel oder aus den heiligen Sagen geschöpft ist. Wer am fehlerfreiesten singt, wird mit einer goldenen Kette geschmückt, wer nach ihm am besten besteht, erhält einen Kranz zum Lohn; wem aber
grobe Fehler nachgewiesen werden, der muß es mit Strafgeld büßen. So fließt das Leben der Meistersinger unter erbaulichen Gesängen hin, und wenn einer aus dem frohen Kreise abberufen wird, so versammeln sich seine Genossen um sein Grab und singen ihm das letzte Lied." Der Nachmittag des Pfingsttages rief alles zur Festschule zusammen; die Meistersinger, ehrwürdige alte Herren, junge Schüler, welche die Tabulatur
noch studierten, Schulfreunde, welche die Poetik und Metrik der Meister schon inne hatten, Singer, die bereits einige fremde Gesänge schulgerecht vortragen konnten. Dichter, die nach den Tönen der Meister einen eigenen Gesang zu
dichten verstanden, zogen festlich geschmückt der Katharinenkirche zu.
Am Ein
gänge derselben hielt der Kirchner zu einem Trinkgelde die Mütze hin, um das
Gesindel. abzuhalten, das ehrbare Leute in der Erbauung stören könnte. Die Kirche war im Innern schön aufgeputzt und vom Chore, wo die Vornehmen Platz fanden, hingen kostbare Decken herab.
Gar feierlich nahm
sich der Verein der edlen Meister aus, die umher auf den Bänken saßen, teils
langbärtige Greise teils jugendliche Männer, alle so still und ernst, als wenn sie zu den Weisen Griechenlands gehörten.
Sie prangten in Seidengewändern,
grün, blau und schwarz, mit zierlich gefalteten Spitzkragen.
Unter ihnen fehlte
auch nicht der ehrwürdige Hans Sachs, noch immer in jugendlicher Rüstigkeit. Neben der Kanzel war der Singstuhl errichtet, nur kleiner, sonst wie
die Kanzel selbst und heute mit einem bunten Teppich geschmückt. Vorn im Chor sah man ein niedriges, mit schwarzen Vorhängen umzogenes Gerüst auf geschlagen, worauf ein Tisch mit Pult stand; eine Kette mit vielen Schau
stücken und ein Kranz aus seidenen Blumen hingen an der Seite desselben. Das war das Gemerke, wo diejenigen Platz fanden, welche die Fehler der Sänger gegen die Gesetze der Tabulatur anmerken mußten. Ihrer waren vier. Der älteste hatte die Bibel vor sich auf dem Pulte liegen, um die von dem
Singer angegebene Stelle, woraus sein Lied genommen, aufzuschlagen und
fleißig aufzumerken, ob dasselbe mit dem Inhalte der Schrift übereinstimme, der zweite, der dem ersten gegenübersaß, hatte auf die Gesetze der Tabulatur zu Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns. 9
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27. Eine Festschule der Meistersinger.
achten und die Fehler wie die Strafen, deren Höhe in Silben angeschlagen
wurde,
auf
dem Pulte mit einer Kreide anzuschreiben.
Der dritte sollte
eines jeden Verses und Reimes Endsilbe merken und die Verstöße gegen den
Reim notieren, der vierte wegen des Tones Sorge tragen, damit man den
recht halte und nicht verfälsche, auch, ob in allen Strophen, die jedesmal den Text zu zwei sich wiederholenden und einem dritten selbständigen musikalischen
Satze bildeten, immer die beiden Stollen und der Abgesang die Gleichheit be wahrten. Die Merker sollten treu und fleißig nach Inhalt der Kunst und nicht nach Gunst merken einem wie dem andern, je nachdem ein jeder sang, nicht anders, als ob sie dazu vereidigt wären, ob man zwar darüber nicht
schwören sollte noch konnte. Wenn eines Merkers Vater, Sohn, Bruder, Better oder Schwager sang, hatte er sein Amt, so lange jener sang, einzu stellen und ein anderer Gesellschafter an seine Stelle zu treten.
Fehler konnten
dem Singer nach dem Gutachten der Merker entweder sogleich nach dem Singen
oder erst nach gehaltener Schule, besonders damit ihn andere nicht verhöhnten, angezeigt werden. Neben den Merkern saß ein Meister, der in der vorigen Singschule den Preis davongettagen, um sie zu erinnern, wenn sie etwas überhört, und bei allen Stteitigkeiten sein Urteil abzugeben. Als alles geordnet war und die Genossen still und geräuschlos dasaßen,
erhob sich ein ftemder Gesell,
der aus Straßburg herübergekommen war,
setzte sich fein züchtig auf den Singstuhl, zog sein Barett ab und begann nach
einer kurzen Pause zu singen ein schönes Lied „von dem Streite gegen die Türken, den Feind der Christenheit"; gar zierlich setzte er seine Weise und ohne Tadel nach der „Hammerweise" Lienhart Nunnenpeks mit siebenund
zwanzig Reimen.
Die Merker horchten auf, bemerkten aber nichts, denn bei
dem „Freisingen" konnte man außer dem Ruhm nichts gewinnen, man machte es auch noch so gut.
Ihm folgten noch mehrere andere nach; der eine sang
„ein schön Lied von dem Pfarrer im Federfaß" im grünen Ton, ein anderer „ein schön Lied von den drei löblichen Bäuerinnen" int Rosenton, ein vierter
ein „neu Lied wider das große Fluchen und Gotteslästern, so jetzund in deutschen
Landen gemein ist," in des Frauenlob blühendem Ton.
Damit schloß das Freisingen; alsbald begann einer der Meister ein Lied, in das alle anderen einsttmmten, um den Beginn des eigentlichen Hauptsingens anzukündigen. • Ein greiser Meister betrat den Singstuhl
und nach kurzer
Pause erscholl vom Gemerke der Ruf: „Fanget an!" Es war Konrad Nachtigall, ein Schlosser, der so sehnsüchtig und klagend sang, daß er seinen Namen wohl
mit Recht führte. Von dem himmlischen Jerusalem und von der Gründung des neuen sagte er viel Schönes in gar künstlichen Reimen und Redensarten. Jedesmal, wenn er einen Abgesang vollendet, hielt er inne, bis der Merker wieder rief: „Fahret fort!" Nach ihm kam die Reihe an einen jungen Meister, Fritz Kothner, einen Glockengießer; der hatte die Schöpfungsgeschichte zum Gegenstände seines Gesanges gewählt. Aber hier hieß es nicht: „und Gott
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27. Eine Festschule der Meistersinger.
sah, daß alles gut war".
Der Arme war verlegen, er stockte und eifrig sah
man die Merker Striche machen; er hatte Silben versungen und mußte zu letzt auf Geheiß des Merkers den Stuhl verlassen. In der „Hageblüten Weise" ließ sich dann vom Singstuhl herab vernehmen der würdige Hans Sachs; sein
Kopf war schon glatt und nur das Kinn schmückte ein voller Bart.
Alles
horchte voll Andacht auf, als er in einem neuen Tone gemäß der Offenbarung den Herrn beschrieb, an dessen Stuhl der Löwe, der Stier, der Adler und
ein Engel Preis, Ehre und Dank sangen. Als er geendet, da waren alle voll Entzücken und kaum konnte noch nach ihm ein junger Meister Niklas Vogel von schwäbischer Herkunft, der im Hoftone des Schillers „ein neu Lied von
dem verlorenen Sohn" anstimmte, die Aufmerksamkeit der Zuhörer fesseln. Auch bei ihm sah man eifrig die Merker ihre Striche machen und die Silben
zählen, die er versungen. Als er sein Gedicht beendet, verließen die Merker ihren Sitz um zu Rate zu gehen, wie ein jeder bestanden. Die beiden jungen Meister hatten manche Fehler gegen die Tabulatur begangen; der eine hatte eine „blinde Meinung"
verbrochen und war durch Auslassung von Worten unverständlich geworden. So viel Worte blind d. h. ausgelassen waren, für so viel Silben sollte er
bestraft werden; ein Merker warf ihm auch „Laster" vor, d. h. unreine Vokal reime, vor allem aber wurde dem einen der „Stutz" schlimm angerechnet, weil er stillgehalten, wo er nicht anhalten durfte. Niklas Vogel hatte seine schwä
bische Aussprache noch nicht ganz abgelegt, aber doch die Reinheit der Vokale beobachtet; schlimm aber war es, daß er sich der „Klebsilben" nicht enthalten, „keim" für „keinem", „im" für „in dem",
auch „Milben" gebraucht und statt
„vom" für „von dem" gesungen,
„singen" „singe" gesagt um auf „Dinge"
zu reimen. Am Ton war weniger zu tadeln; keiner hatte denselben durch und durch anders gesungen,, als ihn der Meister gedichtet. Sonder Zweifel hätte
Nachtigall den Preis gewonnen, wenn nicht nach ihm Hans Sachs gesungen;
nur einmal wollte der Merker eine „falsche Blume" gehört haben, wodurch an einer Stelle der Ton unkenntlich geworden sei. So trat denn der erste Merker an Hans Sachs heran und hing ihm eine lange silberne Kette von großen, breiten, mit den Namen der Geber be
zeichneten Gliedern um, woran eine Menge von Pfennigen verschiedener Art gebunden war.
Konrad Nachtigall ward der zweite Preis zuteil, ein von
seidenen Blumen verfertigter Kranz, den ihm der andere Merker aufs Haupt setzte.
Es war Brauch, daß die Meistersinger, insonderheit die jüngeren, sich
nach der Festschule in eine nahegelegene Schenke begaben, wo in demselben Grade ftohe Ungebundenheit herrschte als in der Kirche heiliger Ernst. Hier sollte ehrbare, ehrliche, friedliche Zech gehalten nnd ein Zechkranz zum besten
gegeben werden, damit, wer wolle, darum singen möge.
Alles Spielen, un
nützes Gespräch und überflüssiges Trinken, alle Strafer und Reizer (Strafund Reizlieder), woraus Uneinigkeit entstehen könnte, waren untersagt; keiner
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27. Eine Festschule der Meistersinger.
durste auch den andern auffordern um Geld oder Geldeswert zu singen. Der
den Kranz gewonnen hatte, mußte aufwarten und fürtragen; konnte er es allein nicht bestreiten, so hatte ihm der, so auf vorhergegangener Schule den Kranz davongetragen, dabei zu helfen. Wer die Kette oder den Kranz ge
wonnen oder glatt gesungen, erhielt zwanzig Groschen, ein Merker zwanzig Kreuzer. Die Zeche ward von dem Gelde bezahlt, das man auf der Schule erhoben; war nicht genug zusammengekommen, so ward das fehlende aus der gemeinen Büchse entnommen.
Die Meistersinger, mehr als zwanzig an der Zahl, gingen über die Gasse
paarweise hintereinander von der Kirche bis zur Trinkstube. Der bekränzte Konrad Nachtigall eröffnete den Zug, hinter ihm her schritt würdig Hans Sachs, mit der Kette geziert.
Die geputzten Gäste stachen sonderbar genug
von der Stube ab, die von außen und innen gleich beräuchert erschien. In dem langen Zimmer standen hölzerne Tische und Bänke, einige mit geschnitzten
Tierköpfen versehen.
An den Wänden war Getäfel angebracht; auch fehlten
daran nicht allerlei Sprüche, die auf die Kunst der Genossen Bezug hatten. Tisch an Tisch ward zusammengeschoben, das „Gewehr" der Sitte gemäß zur
Seite gelegt und zu beiden Seiten setzten sich die Singer; nur die Merker hielten sich gesondert, damit sie nicht gestört würden. Niemand durfte sich unaufgefordert an ihren Tisch setzen.
Oben nahm Hans Sachs Platz.
sah er aus in seiner festlichen Tracht.
Würdig
Die Jacke war von meergrünem Zeuge
mit mehreren Schlitzen auf der Brust, durch die das Hemd hindurchschimmerte, dessen faltiger Kragen den Hals scheibenförmig umschloß. Die Ärmel, mit
Fischbeinstäbchen gesteift und von schwarzem Atlas, tooryt zackige Einschnitte in bestimmten Linien künstlich eingesetzt waren, ließen überall das helle Unter zeug hindurchblicken. Mitten auf der Tafel stand ein Weinfäßchen unh einer der Meister hatte
das Geschäft des Zapfens. Als alle Becher gefüllt waren, erhob Hans Sachs die Frage, wer außer ihm singen wolle. Zwei Meister reckten die Hand empor; es waren Georg Wachler, ein Zimmermann, und Ludwig Binder, ein Stein metz, die nach der Ehre strebten mit dem Altmeister der Kunst zu wetteifern. Hans Sachs sollte eine Streitfrage aufwerfen und hob an: Ihr Freunde, saget mir, wenn ihr wißt, Wer wohl der künstlichst« Werkmann ist?
Zuerst erwiderte Georg Wachler: Das ist fürwahr der Zimmermann; Wer hat es ihm jemals gleichgetan? Durch Schnur und Richtscheit ward ihm kund Die höchste Zinn' und der tiefste Grund; Ihn loben stattliche Lustgemächer, Hoch strebet sein Ruhm wie seine Dächer. Reich an Erfindungen ist sein Geist,
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27. Eine Festschule der Meistersinger.
Mühlwerk und Wasserwerk ihn preist; Er schützet durch Bollwerk Deich und Schanz, Die heilige Schrift weiht ihm den Kranz; Er zimmerte die starke Arch', Drin Noah war, der Patriarch; Wie rings auch kräusele die Flut, Er ruhte in ihr in sicherer Hut; Mit den Seinen er gerettet ward, Mit allen Tieren jeder Art. Er zimmerte nach weisem Rat Jerusalem, die Gottesstadt, Des weisen Salomo Königshaus, Das führte er mächttg und prächtig aus. Denkt an das Labyrinth zum Schluß: Wer ist geschickt wie Dädalus?
Als er geendet, sah man den zweiten Merker mit einer Kreide einen großen Strich wegen der Klebsilbe auf den Tisch malen.
Dann begann so
gleich Ludwig Binder folgenden Spruch zur Erwiderung: Das Holz verfault, der Stein bleibt Stein; Der Steinmetz muß der erste sein. Ringmauern baut er, kühne Türme, Basteien auch zu Schutz und Schirme, Gewölbe pflanzet er, die sich kühn Aufrankend in die Lüfte zieh'n, Schwindliche Gänge, durchsichtig und fest, Mit Säulen und Bildwerk geschmücket aufs best'. Den schiefen Turm von Pisa schaut, Den Wilhelm von Nürnberg hat erbaut; Iu Jerusalem den hohen Tempel, Der trug der höchsten Vollendung Stempel; Der himmelhohe Turm zu Babel, Das Grab des Mausolus ist keine Fabel, Die Pyramiden, die künstlichen Berg', Sie überragen weit alle Werk'.
Er bekam einen Strich von dem zweiten Merker wegen der Klebsilbe
und von dem dritten wegen zweier unreiner Reime zwei.
Alles war gespannt
auf Hans Sachsens Erwiderung, als er sich zu folgendem Spruch erhob: Vermag auch Beil und Meißel viel, Schwach sind sie gegen den Pinselkiel. Er bringt nicht nur Häuser und Städte hervor, Türmt Schlöfler und schwindlichte Watten empor Nein, was zu Anfang Gott erschuf Durch seines göttlichen Wottes Ruf, Das schaffet der Maler zu aller Zeit: Gras, Laubwerk, Blumen auf Feld und Heid', Den Vogel, wie in der Lust er schwebt, Des Menschen Antlitz, als ob er lebt,
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27. Eine Festschule der Meistersinger. Die Elemente beherrschet er all', Des Feuers Wut, des Meeres Schwall. Den Teufel malt er, die Höll' und den Tod, Das Paradies, die Engel und selbst Gott, Das macht er durch Farben dunkel und klar Mit geheimen Künsten euch offenbar. Das hebet sich mächttg durch die Schattierung Nach schön entworfener Visierung. Er kann euch alles vor Augen bringen, Nicht schöner möget ihr je es singen. Wie mutz er sinnen Tag und Nacht! 3n Traumgebilden sein Geist stets wacht. Er ist an Phantasien reich Und fast dem kühnen Dichter gleich; Um alle Dinge weiß er wohl, Wie er sie alle bilden soll: Wer zu allen Dingen hat Schöpferkraft, Den rühmet die höchste Meisterschaft.
Trotz des Beifalls, den Hans Sachs von den Genossen davontrug, gab sich der Steinmetz noch nicht verloren; er begann wieder: Du lobst den Maler mir zu sehr, Der Steinmetz bringt uns Nutzen mehr. Des Malers können wir enttaten, Er schafft von jedem Ding nur Schatten: Sein gemaltes Feuer wärmt uns nicht, Seine Sonne spendet nicht Schein noch Licht, Sein Obst hat weder Schmack noch Saft, Seine Kräuter nicht Duft und Heilungskrast, Seine Tiere haben nicht Fleisch noch Blut, Sein Wein verleiht nicht Freud' und Mut.
Wie er geendet, erhob sich Hans Sachs noch einmal leuchtenden Auges
zur Lobpreisung der Malerei und eines längst dahingeschiedenen Freundes: Das Sprichwort immerdar noch gilt, Daß, wer die Kunst nicht hat, sie schilt. Wie nützlich auch ist die Malerei, So nenn' ich euch jetzt nur der Dinge drei: Was bewahrt die Geschichte als teures Vermächtnis, Das prägt sie uns ein in unser Gedächtnis: Wie der Nürnberger Heer unter Schweppermann glänzte, Wie den Dichter hier Kaiser Friedrich bekränzte. Wer sich auch nicht auf die Schrift versteht, Des Malers Schrift ihm nicht entgeht; Er lehret, wie Bosheit uns Mißgeschick, Wie Frömmigkeit bringet Ehr' und Glück. Was verscheuchet mehr denn die Malerei Uns der Einsamkeit Tochter, die Melancholei? Sie lichtet der düsteren Schwermut Schmerz,
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28. - Ritter, Tod und Teufel. Verkläret das Auge durch Lust und Scherz. Zuletzt doch jegliche Kunst erkennt 3n des Malers Kunst ihr Fundament: Der Steinmetz, Goldschmied und der Schreiner, Hornschneider, Weber, der Werkmeister, keiner Entbehret sie je, weshalb die Alten Sie für die herrlichste Kunst gehalten. Wie strahlte der Griechen Namen hell, Ieuxis, Protogenes, Apell! Gott hat zu Heil dem deutschen Land Der Künstler manchen mit hohem Verstand Wie Albrecht Dürer uns gegeben, Des Kunst verschönernd schmückte das Leben. Was er mit Fleiß gesäet, wachs' Dem Volk zu reichem Segen, fleht Hans Sachs.
So sang der Poet und die Gegner schwiegen.
Alle zollten ihm reichen
Beisall und Ludwig Binder war nicht der letzte. Auch Konrad Nachtigall begrüßte herzlich seinen alten Freund, nahm sich den Kranz ab und setzte ihn
Hans Sachsen aufs Haupt, Nürnbergs kunstreichem Schuster.
28. Ritter, Tod und Teufel (Kupferstich von A. Dürer). Von Franz Graf Pocci.')
1. Durch dunkle Waldesnacht Und wilde Felsenschluchten Jur Burg, der lang gesuchten, Lenkt seines Rosses Schritt 2. Ein Ritter und es folgt Der Spur des schnellen Hufes Der treue Hund, des Rufes Gewärtig seines Herrn. 3. Es glänzt der blanke Helm, Das scharfe Schwert zur Seite, Die Lanze, und ins Weite Der Eisenharnisch tönt.
4. Der Zur Und
Erblickt wohl etwa nicht wack're, kühne Reiter Rechten den Begleiter jenen, der ihm folgt?
5. Ins Antlitz grinst der Tod, Auf einer Mähre reitend; •) „Dichtungen", S. 87.
Auf raschen Füßen schreitend Eilt Satan hinterdrein. 6. Nichts ficht den Ritter an; Er ziehet seiner Wege Durch dunkles Waldgehege Mit festem, frommem Sinn.
7. So zieht der wahre Christ, Das Bild soll dies wohl sagen, Willst nach dem Sinn du fragen, Durch diese wüste Welt. 8. Der treue Hund, der wacht, Ist wohl ein gut Bewifien, Er wird es nicht vermissen, Es mahnet Tag und Nacht.
9. Der schöne Waffenschmuck, Schwert, Speer und Pickelhaube Und Harnisch sind der Glaube, Des edlen Streiters Schutz.
Schaffhausen 1843.
Hurter.
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28. Ritter, Tod und Teufel.
Ritter, Tod und Teufel, nach einem Kupferstich von Albrecht Dürer, 3/5 verkleinert.
10. Wer kennt wohl so die Furcht, Wer sollte da wohl fliehen, Will er zur Heimat ziehen, Jur hohen, festen Burg?
11. Auf! Rüstet ungesäumt Euch! Seid mit Mut bereitet! Es droht, was euch begleitet, Der Satan und der Tod!
29. Albrecht Dürer.
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.Die Ruhe aus der Flucht, nach einem Holzschnitt aus dem Marienleben von Albrecht Dürer, >/, verkleinert.
29. Albrecht Dürer. Don Siegfried Graf Pückler-Limpurg.*
Es ist ein Holzschnitt von Albrecht Dürer, den wir hier vor uns haben — von Albrecht Dürer, den Deutschland als den berühmtesten Maler seiner
Worzeit feiert und dessen Name bei uns volkstümlich geworden ist wie kein z',weiter Künstlername.
Ein Holzschnitt ist es und zwar aus einer Folge —
29. Albrecht Dürer.
138
sagen wir: ans einem Bilderbuche —, worin das Leben der Jungfrau Maria dargestellt wird. Über solche Holzschnitte und Bilderbücher soll später Genauere-
gesagt werden.
Einstweilen betrachten wir einmal den, der vor uns liegt.
Er stellt die heilige Familie in ihrer häuslichen Beschäftigung dar: Joseph, der
Zimmermann, geht seiner Arbeit nach, während Maria neben ihm am Spinn rocken sitzt und das Christkind wiegt. Ein religiöses Bild also, eine Szene aus dem Neuen Testament.
Allein
wollte man sie in irgend einem Evangelium aufsuchen, man würde sie nirgends finden. Das ist von Wichtigkeit. Dürer ist kein Illustrator, d. h. kein Künstler, der irgend eine in einem Buche geschilderte Szene genau in der Zeichnung darzustellen sucht; er erfindet vielmehr aus dem Geiste der Schilderung heraus ganze Szenen oder wenigstens Einzelheiten, die nirgends, beschrieben sind.
Er
steht unabhängig neben seinem textlichen Vorbilde. Nun könnte es freilich noch eine andere Art Vorbild für ihn geben. Für eine Reihe biblischer Szenen
hat sich in den Wandmalereien und den Bildern in Handschriften (beit „Minia turen") ein Herkommen gebildet, das festsetzte, welche Szene dargestellt werden sollte und in welcher Weise — in der Hauptsache
zufassen sei.
wenigstens — sie auf
Allein auch solche Vorbilder existieren für diese Szene nicht, sie
ist Dürers eigene Erfindung und gerade deshalb sehr bezeichnend für seine persönliche Kunstweise. Dürer war in erster Linie religiöser Maler.
Er selber sagt einmal in
einer uns erhaltenen Handschrift: „Dann durch Malen mag angezeigt werden das Leiden Christi und würd gebraucht im Dienst der Kirchen. das Gemäl die Gestalt der Menschen nach ihrm Sterben."
Auch behält
Damit umschreibt
er selbst seine Haupttätigkeit, zumal in seinen Bildern; nur in einigen Kupfer stichen und Zeichnungen greift er über diese Grenzen hinaus. Und innerhalb derselben beschäftigt ihn tatsächlich das am meisten, was er in jenen Worten voranstellt: das Leiden Christi, das Leben Christi überhaupt, während er die vor ihm so beliebte Heiligenlegende selten behandelt; das liegt übrigens im
Zuge seiner Zeit, die mehr und mehr durch die deutschen Bibeln angeregt wurde, schon lange vor der Reformation. Eine häufig wiederkehrende Darstellung bleibt auch bei ihm wie bei seinen Vorgängern das Christkind im Arme seiner Mutter, die ja auch auf unserem Bilde die Hauptperson ist. Wer an das Marienideal der italienischen Hochrenaissance gewöhnt ist — ein jeder hat doch zu Hause eine der berühmten Madonnen Rafaels ge
sehen —,
der ist wohl von
dieser Maria enttäuscht.
Es ist ein herbes
Gesicht, das nichts vom weichen Linienfluß jener Italiener zeigt.
Wer sich
aber mehr mit diesem Gesichte beschäftigt, wird bald finden, daß es manche fein beobachtete persönliche Züge aufweist, die den Italienern ja so häufig
fehlen.
Wenn diese am Spinnrocken sitzende Maria manchem etwas hausbacken
vorkommt, so mag er dazu bedenken, daß in Deutschland zu jener Zeit nicht jener äußerliche Glanz und Prunk herrschte wie in den viel reicheren Städten
29. Albrecht Dürer. Italiens.
139
Noch etwas ist für Dürer wie für jeden selbständig vorgehenden
Künstler maßgebend: sein Verhältnis zu seinen Vorgängern. vor ihm
Das Jahrhundert
hatte für die Mutter Gottes ein bestimmtes Schönheitsideal:
ein
eirundlängliches Gesicht mit sehr hoher Stirne, schmalen Augen, gerader Nase und kleinem Untergesicht. Es ist ein Teil bewußter Auflehnung gegen dies
zum Schema gewordene Ideal in Dürers Marienköpfen: auf unserem Bilde sehen wir ein rundes Gesicht mit leicht gebogener Nase, lebhaften runden Augen, vollen Lippen und kräftig abgesetztem Kinn — lauter Züge, die Dürer durch eigene Beobachtung gefunden hat. Suchte er so durch lebhaftere Betonung persönlicher Züge die Madonna
uns menschlich näher -zu bringen, so bleibt ihm doch jenes Streben der Italiener nach völliger Vermenschlichung fremd;
Maria wird niemals, wie bei jenen,
einfach die liebenswürdig-schöne junge Mutter mit einem spielenden Kinde. Auf unserem Bilde sehen wir hinter der Wiege vier anbetende Engel stehen, das dienende Gefolge des menschgewordenen Himmelskönigs. Oben aus den Wolken aber blicken Gott Vater und der Heilige Geist wachend und segnend hernieder.
Damit ist die an sich so einfache Gruppe dem Gewöhnlichen und
Alltäglichen entrückt, sie erhält einen Zug feierlichen, weihevollen Ernstes. Nicht nur in den Bildern stillen Daseins, auch in der Darstellung des höchsten Schmerzes bleibt Dürer diesem feierlichen Ernste treu.
In der ge
nannten Folge „Marienleben" ist ein anderes Bild, der Abschied Christi von seiner Mutter. Da ist die inzwischen stark gealterte Maria in den Armen
einer anderen Frau
zusammengebrochen, Christus
tung, halb schon zum Abschied gewendet, hier an ein Bild gleichen Gegenstandes
steht in einfacher Hal
segnend vor ihr. Ich denke von dem Venezianer Maler
Lorenzo Lotto; da sind alle Beteiligten aufgelöst vor Schmerz, Christus kniet
mit gekreuzten Armen, seiner kaum noch mächtig, Maria ist aufschreiend hin gesunken. Einer solchen äußersten Steigerung rein menschlichen Schmerz empfindens war Dürer niemals fähig, er vergißt niemals den höheren leitenden Gedanken.
Seine Maria kämpft willensstark gegen ihre Trauer, ein leises
Stöhnen, nicht ein würdeloser Aufschrei, öffnet ihre Lippen, nur das brechende Auge zeigt ihren Seelenzustand.
Auch das Gesicht Christi ist schmerzvoll ver
zogen, zumal in den Augen erkennt man die tiefe Ergriffenheit, aber seine Haltung ist ruhig und gefaßt, fest schreitet er dem Unabwendbaren entgegen.
Dieser oft bis zum tiefsten Schmerz gebeugte, aber nie gebrochene, immer von seinem erhabenen Beruf aufrechterhaltene Christus,
wie ihn Dürer in seinen
Passionsbildern geschaffen, ist eine der ergreifendsten und herrlichsten Gestalten,
die jemals die Kunst hervorgebracht hat. Doch nun zurück zu unserem Bilde; es gibt noch vieles daran zu sehen! Neben der sitzenden Maria steht Joseph, der Zimmermann, eben in eifriger Arbeit; anscheinend ist es ein Türstock, den er behaut.
Eine Schar lustiger
Engelknaben hilft ihm die Späne in einen Korb zusammenzutragen und treibt
29. Albrecht Dürer.
140
dabei allerhand muntere Spiele. als Genrekünstler.
Dürer zeigt sich hier von einer neuen Seite:
Das Genre, die einfache Darstellung irgend einer beschei
denen Einzelheit aus dem täglichen Leben, ist im Norden entstanden und hat erst in Deutschland seine künstlerische Weihe empfangen. Wohl hat schon lange vor Dürer die französische Kunst ähnliche Darstellungen gekannt, allein
sie beziehen sich ausschließlich auf die Minnedichtung und den Ritterroman.
Die niederländische Malerei hat dann einzelne derartige Züge auf Legenden bildern angebracht, aber nur schüchtern an untergeordneter Stelle. Erst deutsche Kupferstecher, insonderheit Dürers großer Vorgänger Martin Schon
gauer zu Kalmar, geben Szenen aus dem täglichen Leben als selbständige
Kunstwerke wieder.
An diese knüpft Dürer an; unter seinen Kupferstichen und
Holzschnitten finden sich mancherlei Darstellungen aus diesem Gebiete.
Bald
gestaltet er, wie hier, einen religiösen Stoff zu einem Genrebilde um, bald gibt er ein solches selbständig wieder:
ein paar Landsknechte
Ritter oder Edeldamen auf der Reise,
Bürger beim Spaziergang auf dem
oder jagende
Lande oder ftänkische Bauern, wie sie nach Nürnberg auf den Markt kamen. Für den Kulturhistoriker sind das Dokumente. Das Beil, das Joseph führt,
der Rechen, mit dem der eine der Engel arbeitet,
und der Hut, den dieser
trägt, das sind Wiedergaben von urkundlicher Genauigkeit, die jene ganze Zeit vor unseren Augen lebendig werden lassen. Nun wird aber mancher erstaunt fragen:
„Wie kommt ein Zimmerplatz Solche Frage wird gern
aus Dürers Zeit in die Kindheitsgeschichte Christi?" leichthin beantwortet,
das komme von der Naivität der ftüheren Zeit, die
kulturhistorische Studien noch nicht gekannt habe.
Nun, letzteres ist richtig;
aber man würde Dürer doch etwas zu viel „Naivität" zumuten, wollte man
bei ihm den Glauben voraussetzen, daß sich die Leute zu Christi Zeiten ebenso getragen
hätten wie zu seiner eigenen.
Da ist schon eines
beachtenswert:
Christus selbst und die Apostel erscheinen bei ihm stets in einer Tracht, die
noch deutlich an die antike (Tunika und Toga) erinnert. Bei Maria schlägt er einen Mittelweg ein: auf unserem Bilde trägt sie einen Ausputz an Hals und Schultern, der den damaligen Schmuckformen entspricht, dazu aber einen Mantel halbantiker Art. Nur Joseph ist völlig in Zeittracht dargestellt. Wir können verfolgen, wie dies enfftanden ist. Die oben beschriebene Tracht Christi war im frühen Mittelalter jene, in der alle Personen biblischer Vorgänge dar gestellt wurden; sie war eine Überlieferung aus altchristlicher Zeit. Erst später
wandte man Zeittracht an, zuerst bei den Henkersknechten der Passion, nach
und nach bei allen Personen mit Ausnahme der erwähnten.
Nicht naive Un
wissenheit ist also der Grund, sondern das Bestreben die Vorgänge lebendiger und volkstümlicher zu gestalten, der Mitwelt näher zu rücken und des Fremd
artigen zu entkleiden. Dem gleichen Zwecke dient auch das Häuschen auf unserem Bilde links im Hintergründe.
Mit dem weidengeflochtenen Zaune und der überdachten
141
29. Albrecht Dürer.
Holztüre ist es das getreue Abbild eines fränkischen Bauernhofes der damaligen Zeit, wie ihn Dürer und manche seiner Zeitgenossen oft dargestellt haben.
Damit stehen wir bei einem anderen Punkte seines Schaffens: bei der Land schaft. Auch hier fußt Dürer auf seinen Vorgängern. Schon hundertfünfzig
Jahre vor ihm brachte man, vor allem in Frankreich, Andeutungen einer Land schaft, wie einen Baum, einen Hügel, auf Heiligenbildern an.
Achtzig Jahre vor
ihm schufen dann Niederländer, wie Jan van Eyk, aber
auch Deutsche auf
ihren Bildern große landschaftliche Hintergründe. Aber allen bis zu Dürers Vorläufern herab fehlt die Einheit zwischen dem szenischen Vorgang und dem
Hintergründe; das Bild zerfällt in zwei Teile: die Figuren im Vordergründe und die Wiesen, Berge und Städte in der Ferne. Der Übergang zwischen
beiden, der „Mittelgrund", ist mehr oder weniger geschickt verdeckt oder mit kulissenartigen Bauten verstellt. Erst Dürer gelingt es die Landschaft von
vorne bis zum Horizont ununterbrochen durchzuführen. Folgen wir ihm ein wenig auf unserem Bilde! Da ist vorne hinter dem niederen Gemäuer ein Hof, in dem ein Faß und unbehauenes Holz liegt und Hühner picken. Dann kommt die vielgestaltige Ruine mit der vorgebauten Treppe, dem Brunnen,
dem Holzgang und dem noch bewohnten Anbau.
Daran schließt sich der er
wähnte Bauernhof und weiter ein zerfallenes Tor. Und noch hinter diesem Tore, zum Teil durch dasselbe, sehen wir den Felskopf mit der Burg, ein Tal und fernes Gebirge.
So zwingt uns der Künstler, an hundert kleinen Zügen
nach und nach die ganze Weite des Raumes bis zum Horizont zu durchmessen. Ausfallen mag, aus welchen Teilen Dürer seine Landschaft zusammen
setzt; besonders die in ihren Einzelheiten so reizvoll phantastische Ruine wird
wenn sie auch anderseits an moderne Romantik erinnert. Gerade in ihr liegt aber ein echt deutscher Zug. Die Ruinenromantik war Erstaunen erregen,
den Deutschen und Niederländern schon lange eigen und lieb geworden, be sonders bei Darstellungen aus der Kindheit Christi; der Stall in Bethlehem
ist fast immer in eine Ruine verwandelt. entspringt derselben Gefühlsrichtung.
Auch die Burg im Hintergründe
Während
der Italiener gerne einen
Phantasiebau in strengen, vollendeten Renaissanceformen auf seinen Bildern
anbringt, liegt es dem Deutschen viel näher den melancholischen Reiz zer fallenden Gemäuers oder die Vielgestaltigkeit seiner heimischen Burgen zu schildern.
Betrachten wir nun noch die Mittel, dieser Raumweite erreicht.
mit denen Dürer den Eindruck
Ich muß hier kurz von Perspektive reden, wenigstens
von einem Hauptgrundsatz derselben. Parallele Linien, die vom Beschauer wegführen, scheinen zu konvergieren und würden sich, in ihrem scheinbaren Verlaufe bis außerhalb der Sehweite verlängert, alle in einem Punkte schneiden. Dieser auf der Zeichnung konstruierbare Punkt heißt der Augenpunkt.
Be
obachten wir nun Dürers Landschaft nach dieser Richtung! Da sehen wir auf der linken Bildseite eine Menge solcher Linien: die wagrechten Fugen der
142
29. Albrecht Dürer.
Mauer und der Holzwand, die Dächer, die Tür- und Fensterstürze, sie laufen
alle unter sich parallel und scheinen daher zu konvergieren.
Legen wir ein
Lineal an, so finden wir auch, daß sie sich schneiden würden in einem Punkte,
der etwa im unteren Drittel der Toröffnung im Hintergründe liegt- Die Höhe dieses Augenpunktes im Bilde ist abhängig vom Standpunkt des Be
schauers; je weiter dieser in der Wirklichkeit von der Linie entfernt ist, die der Künstler als vorderen Bildrand bestimmt hat, desto niederer liegt er.
In
unserem Falle stehen wir also ziemlich nah. Daher kommt es auch, daß wir z. B. in die Wiege hineinschauen, daß wir die Oberseite von Josephs Beil er
blicken und auf die Engelkinder von oben herabsehen.
Für Dürer lag eine so starke Betonung der perspektivischen Mittel sehr nahe.
Nicht immer waren sie nämlich bekannt.
nur eine schwache Ahnung von ihnen.
Dürers Vorgänger hatten
Dagegen hatten die Italiener, gestützt
auf ihre mathematischen Studien, sie schon hundert Jahre früher gefunden und gerade diese Kenntnis hatte der italienischen Kunst ihre große Überlegen
heit über die des Nordens verliehen.
Dürer nun hatte die Kenntnis der
Perspettive von italienischen Künstlern und Theoretikern erlernt und sie zuerst in das deutsche Kunstleben eingeführt. Kein Wunder, daß er sich nun dieses neuen Könnens besonders freut
und
es dem Beschauer recht deutlich vor
Augen führen will. Da sind wir nun bei einem wichtigen entwicklungsgeschichtlichen Moment
angelangt, bei der Raumgestaltung Dürers. Denn hierin liegt die Stellung des einzelnen Künstlers zum Fortschritt der Gesamtkunst. Auffassung, Ge danken, Kraft der Darstellung wechseln nach Persönlichkeiten und Zeiteinflüssen; die Raumgestaltung aber schreitet ununterbrochen fort, von den ersten Anfängen
der mittelalterlichen Malerei, wo einzelne Heiligengestalten als körperlose Fläche auf teppichartigem Grunde gezeichnet worden, bis zu den Deckenmalereien
des Barock, die in unermeßlichen Weiten schwelgen.
Bei Dürer sehen wir
einen wichtigen Abschnitt vollendet: die Linearperspektive. Dürer ist imstande jeden Raum vollkommen einwandfrei zu zeichnen und die einzelnen Gegen stände und Personen in beliebiger Entfernung vom vorderen Bildrande richtig
anzubringen.
In diesem Punkte war über ihn hinaus kein Fortschritt mehr
möglich. In anderer Hinsicht aber ist Dürer noch unfertig, in der Luft perspektive. Durch die Brechung der Luft nämlich verschwimmen die Farben
in einer gewissen Entfernung vom Beschauer und zwar manche früher als andere. Die Reihenfolge, nach der dies geschieht, entspricht genau der Farben folge des Sonnenspekttums: die roten Töne verschwimmen zuerst, die blauen
zuletzt. Dies Gesetz ahnten wohl die Maler schon vor Dürer; sie malen die Berge des Horizontes blau und dämpfen lichte Töne, je weiter sie vom Vordergmnd entfernt sind. Richtig erforscht wurde das Zusammenwirken der Farbe jedoch erst nach Dürers Zeit und deshalb muten uns seine Bilder viel alter
tümlicher an als alle seine schwarz-weißen Werke.
143
29. Albrecht Dürer.
Hand in Hand mit der Entwicklung der Raumdarstellung ging auch der
Fortschritt in der Anatomie. Auch hier finden wir bei Dürer im Vergleich zu seinen Vorläufern den Übergang vom unsicheren Tasten zum bewußten Können. Dürer war der erste deutsche Künstler, der sich — wieder an der Hand italie
nischer Lehrer — eingehend mit dem Bau des menschlichen Körpers beschäftigt
und hierzu eine Reihe von Studien gezeichnet hat. So gut wie der Körper selbst beschäftigte ihn auch die Kleidung, wie uns ebenfalls eine große Zahl von
Zeichnungen beweist.
So war er von allen deutschen Künstlern zuerst imstande
eine Figur richtig darzustellen, wenigstens so lange es sich um einfache, ruhige Stellungen handelte. Allzu erregte und verwickelte Bewegungen, wie sie spätere Virtuosen liebten, hätte er wohl noch nicht zuwege gebracht. Allein von
diesen hielt ihn schon seine ganze Kunstweise fern. Überhaupt ist die Bewegung ein Gebiet, das besonders besprochen sein
will; es fällt durchaus nicht immer mit der Anatomie zusammen. Hundert fünfzig Jahre vor Dürer zeichneten französische Miniatoren die überzierlichen, gesuchten Modebewegungen der damaligen Stutzer und Damen mit fabelhaftem Geschick ohne jede Kenntnis der Anatomie. Die Art, wie ein Bein über das andere geschlagen, ein Handgelenk abgebogen, ein Finger ausgespreizt wird, ist charakteristisch wiedergegeben, das Bein aber oder die Hand selbst sehr oft ver
zeichnet. Später strebte man mehr nach richtiger Form, die Feinheit der Be wegung wurde darüber vergessen. So ist es auch bei Dürer: ich muß hier
gerade auf den schwächsten Punkt unseres Künstlers Hinweisen. Feinheiten der Bewegung konnte Dürer nie beobachten. Sehen wir die Hände Josephs an! Wohl sind sie trefflich gezeichnet, aber kein Zug deutet uns an, ob die Axt eben gehoben werden soll oder der Schlag gerade zu Ende ist; man glaubt,
sie verharrten ruhig in dieser Stellung.
Auch von den Händen Marias mit
Faden und Spindel gilt dasselbe. Trefflich in dieser Hinsicht sind nur die Engel im Vordergründe, namentlich jener, der eben Holzabfälle am Boden
zusammcnrecht.
Der Mangel in
der Bewegung
bei Dürer ist
gerade die
Ursache, warum so vielen seine Figuren steif und hölzern erscheinen. Wollen wir einen Künstler kennen lernen, so müssen wir auch seine Fehler erkennen. Sind wir uns aber über dieselben einmal klar geworden, dann können wir über sie hinwegsehen, wir können dann hier trotz der mißlungenen Bewegungen die kraftvolle Zeichnung und den wundervollen Ausdruck der Gestalten vollauf würdigen und genießen.
Zum Schluß muß ich noch ein Gebiet in Dürers Kunst erwähnen, ohne
das ihr Bild nicht vollständig wäre: die Ornamentik.
Denn auch hier war
Dürer in gewissem Sinne ein Bahnbrecher; er war einer der ersten, der das Ornament der italienischen Renaissance in Deutschland eingeführt hat. Freilich hat er sich nie so eingehend
damit beschäftigt
wie seine Augsburger Zeit
genossen oder seine Nachfolger in Nürnberg. Es interessierte ihn nur gelegent lich zur Ausschmückung seiner Darstellungen, vor allem der Gebäude; nur in
144
29. Albrecht Dürer.
Holzschnitten und Zeichnungen, die er im Auftrage Kaiser Maximilians machte, spielt das Ornament eine größere Rolle und ist dementsprechend reicher.
Auf
unserem Bilde sind nur zwei Spuren zu finden, die allerdings manches Lehr reiche sagen. Die eine ist das Doppelfenster im Innern der Ruine, zwei Bögen, die auf einer Säule mit kelchartigem Kapitell ruhen. Nichts wird auf den ersten Blick an die der Renaissance zugrunde liegenden antiken Formen
erinnern; in der Tat haben diese auch eine zweimalige Umformung durchmachen müssen.
Die erste schon in Italien und zwar in Norditalien.
Hier wurden
die in Toskana wiedererstandenen antiken Formen der bisherigen gotischen Bauweise mehr oder minder geschickt eingepaßt und so ein Mittelding zwischen beiden Stilen geschaffen, welches mehr malerisch als dem Geiste der verwendeten
Formen entsprechend war. Solche Vorbilder kannte Dürer und suchte sie in freier Weise nachzubilden. Da wird nun aus der oberitalienischen Loggia ein halbromanisches Doppelfenster, aus dem dorischen ein Kelchkapitell.
Nicht
minder bezeichnend ist weiter der Koller des einen Engelknaben, der ohne jede sachliche Genauigkeit einen antiken Harnisch nachahmt. In jenen Arbeiten für Kaiser Maximilian finden wir solche Umbildungen in reicher Anzahl. Korin thische Kapitelle werden mit allen möglichen Blättern geschmückt', der Schaft wird mit Pflanzenornamenten überzogen und oft flaschenartig gebaucht, im Rankenornament mischt sich der antike Akanthus mit der gotischen Phantasieblnme und naturalistischen Zweigen und Blüten. Was Dürer hier gab, war
erst eine Anregung, zwar bunt und mannigfaltig, aber nicht einheitlich genug um selbständig fortzuwirken. Es bedurfte der Säuberung durch seine Nach folger, um aus diesem Gewirre einen wirklichen Stil zu formen. So hätten wir die Darstellung unseres Bildes völlig erschöpft; es bleibt noch ein Wort über die Technik zu sagen. Unser Blatt ist ein Holzschnitt, also ein Druck, der von einer Holzplatte („Holzstock") gemacht wurde. Ich
erwähnte, daß Dürer auch Kupferstiche gemacht hat, und will deshalb den Unterschied beider Druckarten kurz erklären. Beim Kupferstich wird die Linie, die gedruckt werden soll,
in die Metallplatte vertieft;
durch eine bestimmte
Art der Einfärbung bleibt die Druckerschwärze nur in diesen Vertiefungen haften und nur diese drucken sich auf das Papier ab. Beim Holzschnitt da gegen wird aus dem sorgfältig geglätteten Holzstock'alles herausgeschnitten, was weiß bleiben soll, die stehen gebliebenen Teile der Oberfläche drucken sich dann
Bemerkt sei hier jedoch, daß der Holzschnitt, obwohl schon sehr alt, doch von Hause aus nichts mit dem Buch druck zu tun hat, sondern erst dreißig Jahre nach dessen Erfindung zur Illu stration von Büchern herangezogen wurde. Auch in der Holzschnittechnik war Dürer ein Bahnbrecher; zwar hat ebenso ab wie ein Satz in Buchdrucklettern.
er, wie wir aus manchen Umständen sehen, nie selbst in Holz geschnitten.
Er
zeichnete npr auf den Holzstock; allein die ausführenden Holzschneider arbeiteten nach seinen Angaben und er wirkte auf sie schon durch die Art seiner Vor-
145
29. Albrecht Dürer.
Zeichnung. Die älteren Holzschnitte sind durchweg mehr oder minder rohe Handwerkerarbeiten. Erst einmal hatte ein bekannter Maler für den Holz schnitt gezeichnet: Dürers Lehrer, der Nürnberger Michel Wohlgemuth.
Allein
seine Zeichnungen wurden von den ungeübten Holzschneidern gänzlich verdorben, vielleicht schon deshalb, weil sie sich der Technik zu wenig anpaßten. nun verfolgte von Anfang an — einige unbedeutende Jugendarbeiten
Dürer aus
genommen — den Grundsatz alles in einfachen, klaren Strichlagen vorzu zeichnen. Im Anfang fielen diese, dem geringen Können der Holzschneider ent sprechend, ziemlich derb aus, nach und nach wurden sie immer feiner. Er legte diese Strichlagen dann so, daß schon durch ihren Verlauf Rundung und Form der Körper hervorgehoben wurde.
Blatte sehr deutlich.
Wir sehen dies Verfahren an unserem
Hier ist von der Kunst des Holzschneiders schon viel
vorausgesetzt, vor allem beruht hier ein gut Teil der Wirkung darauf, daß
der Verlauf der Linie, die größere oder geringere Entfernung der Schatten
striche voneinander genau eingehalten sind. Damals hatte Dürer schon Holz schneider herangebildet, denen er jede Schwierigkeit zumuten konnte. Nun wird wohl mancher fragen, wer eigentlich der Mann war, von dessen Kunst wir so viel gesprochen, was er alles leistete und wie sein Leben
verlief. Das ist freilich schwer in Kürze zu berichten. Wie Dürers Kunst so ist auch sein Leben unendlich reich und vielseitig, seine Besttebungen sind weit ausgreifend wie bei keinem anderen deutschen Künstler und sein Werk ist
bunt) seinen unermüdlichen Fleiß und seine wunderbare Schaffenskraft stattlich
und umfangreich. Albrecht Dürer war der Sohn eines aus Ungarn nach Nürnberg ge kommenen Goldschmiedes und war ant 21. Mai 1471 geboren.
kam er
als Lehrling
in die Werkstatt seines Vaters.
Etwa IZjährig
Goldschmiede waren
damals in enger Beziehung mit Malerei und Plastik, manch tüchtiger Künstler
war aus diesem Gewerbe hervorgegangen, vor allem war die Kupferstichkunst
bis auf Dürer meist von den im Gravieren erfahrenen Goldschmieden ausgeübt worden. Am 30. November 1486 trat der junge Dürer als Lehrling auf drei Jahre bei dem Maler Michel Wohlgemuth in Nürnberg ein.
„In der
Zeit", schreibt er später, „verliehe mir Gott Fleiß, daß ich wol lernete. ich viel von seinen Knechten mich leiden mußte."
Aber
So eine Malerwerkstatt sah
damals ganz anders ans als ein heutiges Atelier; denn der Maler war damals Handwerker, genau so wie der Schreiner
oder
der Bäcker.
Da waren je
nach dem Rufe des Meisters wenige oder viele Gesellen und Lehrlinge, denen
die gewöhnlichen und schlecht bezahlten Arbeiten und die Vorbereitungen über, lassen blieben — besonders auf Wohlgemuth trifft dies zu. Denn damals gab es noch keine grundierten Malbretter und fertigen Farben zu kaufen. mußte in der Werkstatt gemacht werden.
Alles
Da wurden die Bretter geglättet
und mit einer Schicht geschlemmter Kreide überzogen; diese wurde meist ver goldet, auch bann, wenn die Darstellung nicht auf Goldgrund, sondern vor Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
10
29. Albrecht Dürer.
146
einer Landschaft
oder einem bunten Teppich stehen sollte.
Erst zu Dürers
Zeiten fing man an, den Goldgrund durch farbige Untermalung zu ersetzen. Dann wurden die rohen Farben gerieben und mit dem Malmittel vermischt. Im 15. Jahrhundert diente als solches eine ölhaltige Mischung („Ölemulsion"), welche gestattete die Farbe dünnflüssig ähnlich der Wasserfarbe aufzutragen, aber dauerhafter war als diese. Die zähe, dicke Ölfarbe von heute wurde erst später bekannt. All diese Handwerksgriffe mußte der Lehrling damals durch die Übung lernen, denn Lehrbücher und akademische Vorträge darüber gab es
noch nicht. Nach Ablauf der Lehrzeit, um Ostern 1490, zog Dürer nach damaligem Handwerksbrauch
vier Jahre auf die Wanderschaft.
Wohin ihn sein Weg
führte, wissen wir nicht, nur das eine ist sicher, daß er Kalmar und Basel aufsuchte. Pfingsten 1494 war er wieder in Nürnberg; dort heiratete er bald
darauf Agnes Frey und ließ sich als selbständiger Meister nieder.
Zu tun
gab es zunächst noch nicht viel für ihn; ein paar Bildnisse mögen schon in jener Frühzeit entstanden sein. Um so eifriger arbeitete er als Zeichner und Kupferstecher, manches zum Broterwerb, mehr noch zur eigenen Übung. So
reiste denn langsam das Werk heran, das ihn zuerst bekannt machte: eine
Holzschnittfolge, die Bilder zur „Heimlichen Offenbarung" oder Apokalypse Johannis, deren erste Ausgabe 1498 erschien.
Es ist noch manches hart und
unausgeglichen darin, die Linienführung ist sehr derb und die Bewegung der Figuren ungeschickt; trotzdem ergreift das Werk durch seine Größe der Auf
fassung und die Kraft des Ausdruckes.
Die starke Wirkung auf die Mitwelt
erkennt man am besten daraus, daß das Buch im Jahre 1511 schon seine dritte Auflage erlebte und auf Jahrzehnte hinaus für die Art die Apokalypse zu illustrieren vorbildlich blieb.
Zwei Jahre später soll ein Werk entstanden sein, das so volkstümlich ist wie kein zweites unseres Meisters: das Selbstbildnis in der Alten Pina
kothek zu München, das die Jahreszahl 1500 trägt.
Wenn wir uns heute
die Züge Dürers vorstellen wollen, so tritt uns immer dies Bild vor Augen;
eine Menge von Vervielfältigungen hat
gemacht.
es in ganz Deutschland
bekannt
Freilich hat die neuere Forschung es als wahrscheinlich erwiesen, daß
das Bild im Jahre 1500 nur entworfen, dagegen erst viel später fertig gemalt wurde. Damals trat Dürer auch in Beziehungen zu den Humanisten seiner
Zeit, vor allem zu den Nürnbergern Willibald Pirkheimer und Lazarus Spengler, dann auch zu den meistens in Wien lebenden Gelehrten Konrad Celtes und Johann Stabius.
malige Zeit.
Das war etwas Außergewöhnliches für die da
Wie schon gesagt, galt die Malerei damals als Handwerk, nicht
als >ars liberalis«,
als freier Beruf eines gebildeten Mannes,
und keiner
von Dürers Nürnberger Zeitgenossen konnte sich einer gleichen Auszeichnung rühmen. Die Tatsache ist fteilich durch den Humanismus erklärlich: die Männer,
die in den griechischen Klassikern so viel vom Ruhme des Zeuxis
29. Albrecht Dürer.
147
und Apelles lasen, fühlten das Bedürfnis auch der Malerei ihrer Zeit näher zutreten. Daß sie aber gerade Dürer zum Umgang wählten, zeigt, daß sie
an ihm nicht nur das große Talent sondern auch
das rastlose geistige Vor
wärtsstreben und die menschliche Liebenswürdigkeit zu schätzen wußten, während
sie von anderen Künstlern der Mangel gelehrter Bildung fernehielt. Aus jener Zeit stammt auch Dürers Bekanntschaft mit einem seltsamen Manne, dem italienischen Maler Jacopo de' Barbari, der damals unter dem Namen Jakob Walch (= der Welsche) in Deutschland lebte und namentlich
an verschiedenen Fürstenhöfen als Porträtmaler herumzog. Dürer bewunderte anfänglich die überlegene Schulung des an sich recht unbedeutenden Mannes und suchte namentlich von dessen Kenntnis in der Proportion des Menschen etwas zu lernen; aber der andere wollte es ihm „nit klerlich weisen", wie er selbst erzählt. So griff er auf die Quelle zurück, aus der auch der Italiener
sein erstes Wissen geschöpft, auf den römischen Architekten Vitruv, den ihm sein Freund Pirkheimcr übersetzen mußte. Das Studium der Proportionslehre blieb von nun an eine Lieblingsbeschäftigung Dürers und brachte ihm trotz vieler Irrtümer auch manche förderliche Erkenntnis.
Auf Jacopo aber war
er später nicht mehr gut zu sprechen, als er wirklich große italienische Meister kennen gelernt und dadurch den Unwert jenes unstet herumziehenden Malers erkannt hatte. Um jene Zeit flössen Dürer die Aufträge auf Altarwerke und Bildnisse
in reichem Maße zu.
Er hatte damals mehrere Gesellen in seiner Werkstatt,
denen er manchmal, wenn auch selten, Teile seiner Altäre zur Ausführung überließ. Daneben schritten seine Arbeiten in Kupferstich und für Holzschnitt
werke rüstig fort.
Es entstand in jenen Jahren der größte Teil einer Holz
schnittfolge, die das Leiden Christi schildert und ihres Formates wegen meist „die große Passion" genannt wird. Auch das Marienleben, dem unser Bild entnommen ist, wurde damals begonnen.
Beide Bücher erlebten erst viel später
ihre Vollendung. Die Arbeiten wurden unterbrochen durch einen Ruf, der den ersten großen Triumph Dürerscher Kunst und in gewissem Sinne den größten seines Lebens
bedeutet: im Jahre 1505 erhielt Dürer den Auftrag für die Kapelle in dem neuerbauten Hofe der deutschen Kaufleute in Venedig (fondaco dei tedeschi) das Altarwerk zu malen. Ende des Jahres traf er in der Lagunenstadt ein.
Wir sind über sein Tun wohlunterrichtet durch eine Reihe von Briefen, die
er von dort an Pirkheimer schrieb
und die noch erhalten sind.
Da hören
wir, daß er vom Neide der Venezianer Maler mancherlei zu leiden hatte; aber der größte unter ihnen, der alte Giovanni Bellini, kam ihm wohlwollend ent
gegen. Das großartige Leben der Seestadt, besonders die freiere Stellung der dortigen Künstler, macht ihm tiefen Eindruck. „Wie wird mich nach der
Sunden frieren", ruft er beim Abschied aus, „hie bin ich ein Herr, doheim ein Schmarotzer." Auf das Bild selbst verwendet er unendlichen Fleiß; erst nach 10*
29. Albrecht Dürer.
148
sieben Monaten ist es vollendet. Es stellt Maria und den heiligen Dominikus dar, die an Vertreter aller Stände, voran den Kaiser und den Papst, Rosen
kränze verteilen; im Hintergründe stehen Dürer und Pirkheimer.
Der Doge
und der Patriarch von Venedig kamen in die Werkstatt des Künstlers zur Besichtigung. Und Dürer selbst schreibt darüber: (Die Künstler) „sagen, daß
sie ein erhaben leblicher Gemäl nie gesehen haben".
Lob zu berichten.
Er hatte wohl recht dies
Noch lange wurde das Bild allgemein bewundert und ein
eifriger Dürersammler, Kaiser Rudolf II.,
kaufte es um eine hohe Summe
für seine Galerie. Später fteilich ward es nicht immer so in Ehren ge halten und so ist es nur in arg verdorbenem Zustand aus uns gekommen, beschmutzt und teilweise übermalt, so daß nur wenige Züge von seiner alten Schönheit reden. Es wird im Kloster Strahow zu Prag verwahrt. Nach Erledigung einiger anderer Aufträge zu Venedig zog Dürer noch
weiter nach Italien hinein.
Er schreibt,
er wolle in Bologna jemanden auf
suchen, der ihm Unterricht in der Perspektive geben könne. Wir wissen nichts Näheres hierüber; nur das eine ist bekannt, daß ihm die Künstler von Ferrara
ein Festbankett gaben. Dürers Ruhm aber drang noch weiter nach Italien Rafael selbst ließ ihn um eines seiner vielgerühmten Aquarelle bitten
vor.
und Dürer schickte ihm ein Selbstbildnis in dieser Malweise; leider ist es uns nicht erhalten. Ein Gehilfe Rafaels aber, der Kupferstecher Marc-Anton Raimondi, studierte nicht nur eifrig Dürers technische Fortschritte sondern er
kopierte auch vielfach Dürersche Stiche und tat damit dem Meister manchen Schaden. Erst zu Anfang des Jahres 1507 kehrte Dürer nach Nürnberg zurück. In der folgenden Zeit entstanden mehrere große Altäre, vor allem einer, der
unter dem Namen „der Hellersche Altar" berühmt ist; er wurde im Jahre 1509 von einem Kaufmann Heller für die Dominikanerkftche in Frankfurt
bestellt.
Auch hier besitzen wir wieder Briefe von Dürer, die uns zeigen, mit
welch liebevoller Sorgfalt er dies Werk ausführte und wie stolz er auf seine
Leider hat hier das Schicksal noch schlimmer gespielt. Das Mittelbild, eine Himmelfahrt Mariä, wurde vom Kurfürsten Maximilian I. Vollendung war.
von Bayern für seine Sammlung erworben und
ging bei einem Brande der
Münchener Residenz im Jahre 1729 zugrunde; die erhaltenen Flügel aber, die in Frankfurt blieben, sind nur Gesellenarbeit.
Im vollen Glanze sttahlt
aber noch heute ein anderes Werk, das Allerheiligenbild aus dem Jahre 1511, das jetzt die Wiener Galerie schmückt; der wohl nach Dürers Entwürfen reich
geschnitzte Rahmen ist in Nürnberg geblieben. Daneben ruhte auch die graphische Arbeit Dürers nicht.
1510 erschien
eine neue Holzschnittfolge zum Leiden Christi, die „Kleine Passion".
Dann
wurden die Große Passion und das Marienleben vollendet und 1511 heraus gegeben. 1512—1513 schuf er noch eine dritte Pafsionsfolge, diesmal in Kupferstich. Man könnte meinen, diese oftmalige Behandlung desselben Themas
29. Albrecht Dürer.
149
müßte eintönig wirken; allein jede dieser Folgen zeigt neue Gedanken, birgt
eigene Reize und spätere Zeichnungen beweisen, daß Dürers Ideenreichtum noch lange nicht erschöpft war. Seit dem Jahre 1512 tritt in Dürers Schaffen eine Wandlung ein. Er wendet sich von der Malerei immer mehr ab, theoretische Studien be
schäftigen ihn hauptsächlich.
Nur der Stift des Zeichners und der Griffel
des Kupferstechers ruhen nimmer.
Da
sei zunächst Dürers Teilnahme an
einem großen Unternehmen genannt, vielleicht dem größten Druckunternehmen, das je begonnen wurde und das trotz seiner Nichtvollendung ein stolzes Denk
mal deutscher Kunst bildet.
Kaiser Maximilian I. wollte gleich auswärtigen
Fürsten seiner Zeit ein Gedenkzeichen seiner Taten errichten; und würdig des Herrschers in dem Lande, das den Buchdruck erfunden,
sollte dasselbe nicht
aus einem Prunkbau, sondern aus Meisterwerken der Druckkunst bestehen. An den beiden Hauptwerken, der Ritterdichtung „Teuerdank" und dem historisch
politischen Roman „Weißkunig", war Dürer nicht beteiligt.
Ihm fiel die dritt
größte Aufgabe zu, die „Ehrenpforte". Es war ein etwas seltsamer Gedanke: in Holzschnitt ausgeführt die Abbildung eines großen (nie wirklich erbauten) das mit Standbildern von
Tores nach dem Vorbild antiker Triumphbögen,
Ahnen des Kaisers und Szenen aus seinem Leben geschmückt ist; es ist in reichen,
phantastischen Renaissanceformen gehalten
und
hat zusammengesetzt mehrere
Natürlich konnte es nicht auf einem Holzstocke Platz finden, es waren deren 92 nötig; ein Teil derselben ist von Gehilfen gezeichnet. Im
Meter Höhe.
Jahre 1515 war die Zeichnung vollendet, die Fertigstellung des Holzschnittes
erlebte der Kaiser nicht mehr; der erste vollständige Abdruck aller Stöcke wurde erst im 18. Jahrhundert, der beste sogar erst 1886 veranstaltet. Die Holzstöcke sämtlicher Werke sind in Wien erhalten. Nur einzelne Teile entwarf Dürer zu einem vierten Werke des Kaisers,
dem „Triumphzug", der in einem — nur erdachten — Aufzuge die Taten
des Kaisers allegorisch darstellt.
Dürers Hauptwerk darin ist der Triumph
wagen des Kaisers selbst. Auch die Vollendung dieses Werkes erlebte der Kaiser nicht, ein Teil desselben kam überhaupt nicht zur Ausführung. In
Zusammenhang mit diesen Ärbeiten stehen zwei Holzschnittbildnisse Maximilians, von denen eines, in reichem Renaissancerahmen, erst nach des Kaisers Tode erschien.
Zugrunde gelegt ist beiden eine Zeichnung nach dem Leben,
auf
der Dürer den Kaiser „zu Augspurg hoch oben auf der Pfalz in seinem kleinen
Stüble kunterfet, do man zahlt 1518 am Montag nach Johannis Täufer" (28. Juni). Das Köstlichste aber, was Dürer für seinen kaiserlichen Herrn geschaffen,
ist das „Gebetbuch" oder richtiger die Randzeichnungen zu einem Teile des
selben.
Maximilian hatte sich ein Brevier in besonders schönen Lettern, mit
breitem Rand, in acht Exemplaren drucken lassen.
Eines davon gab er ver
schiedenen Künstlern, damit sie den Rand mit Zeichnungen schmückten.
Zwei
29. Albrecht Dürer.
150
Bruchstücke davon sind erhalten, eines in München und eines in Besancon; in dem Münchener Teile sind 45 Blätter von Dürer verziert. Es ist das Phantasiereichste, was der Meister geschaffen hat; in einer Fülle von Ranken
werk erscheinen Gebilde der verschiedensten Art, bald reine Schmuckformen, bald der Gekreuzigte und Heilige, dann aber auch profane Gestalten, Landsknechte,
Bauern, Tiere.
Alles ist mit der Feder gezeichnet, ohne eine Korrektur, mit
einer Klarheit und Sicherheit, die ihresgleichen nur schwer findet. In den Jahren 1513 und 1514, mitten zwischen diesen großen Arbeiten,
entstanden auch drei Kupfersüche, die gewöhnlich zusammen genannt werden, obwohl sie von Haus aus keinen Zusammenhang haben, und die mit Recht als die edelsten Perlen Dürerscher Kunst gelten: es sind dies „Ritter, Tod und
Teufel", „Hieronymus im Gehäuse" und die „Melancholie".
Das erste Blatt
stellt einen Ritter dar, der ruhig durch eine wilde Schlucht reitet, unbekümmert darum, daß ihn der Tod auf gefährlichen Pfaden begleitet und der Teufel
hinter ihm steht — der Typus des unerschrockenen, unerschütterlichen Mannes der Tat. Hieronymus ist eigentlich nicht der Kirchenvater, sondern der deutsche Gelehrte; über die Arbeit gebeugt sitzt er in seinem traulichen, vom Sonnen
licht durchsttahlten Stübchen, vor dem Tische liegt, gleich einem Hunde, der zahme Löwe der Legende. Am schwersten verständlich ist das dritte Blatt wegen des vielen allegorischen Beiwerks.
Die Hauptfigur, eine sitzende, in
Nachdenken versunkene Frauengestalt, bedeutet jedenfalls das rastlose, stets un
zufriedene und nie beglückende Grübeln.
Einen Fingerzeig gibt eine an der
Wand hängende kabbalistische Zahlentafel, die sich in das Todesdatum von Dürers Mutter (17. Mai 1514) auflösen läßt. Wir wissen aus Auszeichnungen
des Künstlers, wie nahe ihm dieser Tod gegangen ist; in dieser Schmerzens stimmung ist auch die düstere „Melancholie" entstanden. Kaiser Maximilians Tod im Jahre 1519 ward mittelbar die Veranlassung zu einem für Dürer bedeutsamen Ereignis. Der Kaiser hatte dem Künstler ein Jahrgeld („Leibgedinge") von 100 Gulden (536 Mark heutige Währung,
allein etwa gleich 2000 Mark nach heutigen Preisverhältnissen) ausgesetzt.
Um
sich vom neuen Kaiser, Karl V., die Bestätigung dieser Rente zu erbitten, reiste Dürer im Sommer 1520 nach den Niederlanden. Ein sorgfältig geführtes Tagebuch gibt uns über diese Fahrt Auffchluß; es erzählt uns von Kreuz-
und Querzügen, von Menschen, die Dürer kennen lernte, von interessanten Ereignissen, die er miterlebte; auch seine Ausgaben und der Vertrieb seiner Bücher und Einzeldrucke sind sorgsam ausgezeichnet. Erst nach langem Warten
erreichte er seinen Zweck und kehrte Ende Juli 1521 nach Nürnberg zurück. Die Berührung mit der niederländischen Kunst führte Dürer, der in den letzten Jahren kaum gemalt hatte, wieder zur Malerei zurück. Schon während seines Aufenthaltes in den Niederlanden hatte er einige Bilder, meist Porträts, gemalt; auch eine Reihe von Entwürfen entstand dort, die später unverwertet blieben.
Aus der folgenden Zeit, nämlich aus dem Jahre 1526, stammen die
151
29. Albrecht Dürer.
beiden reifsten und abgeklärtesten Bilder des Meisters: das Porträt des Hiero nymus Holzschuher und die vier Apostel. Mit vollem Rechte gilt das Bildnis
deutscher Porträtkunst.
des Holzschuher als eine Perle
Beachtenswert ist hier, daß nicht eine berühmte Persön
lichkeit uns fesselt — wir wissen von dem alten Herrn nicht viel mehr als seine äußeren Lebensumstände — sondern daß der Künstler einen Unbekannten
uns so nahe zu bringen weiß. Es ist kein Repräsentationsbild, wie es die Italiener malten, auch kein Bild von so wunderbarer malerischer Weichheit wie die Bildnisse Holbeins.
wiedergegeben, scharf betont,
Aber hier ist jede Einzelheit getreu und schlicht
die charakteristischen Züge,
die sich sofort einprägen,
aber keine gesuchte Einseitigkeit,
Ausdruck stört die strenge sachliche Einfachheit.
sind
keine Pose in Haltung und In dieser Art der Porträtkunst
ist Dürer unerreicht und sein Holzschuher das unübertroffene Meisterwerk. Die vier Apostel — besser vier Temperamente
Künstlers Testament an seine Vaterstadt Nürnberg.
genannt — sind
des
Hier hat er sein ganzes
Können auf vier stehende Gestalten zusammengefaßt,
die Apostel Johannes,
Petrus und Paulus und den Evangelisten Markus, die gleichzeitig die Typen der vier Temperamente darstellen sollen. Bei einem solchen Vorwurf können
Bewegung und Anordnung nichts mehr geben, alles liegt in dem wunderbaren Ausdruck der Köpfe und der einfachen, monumentalen Ruhe der Haltung.
Ein
Werk von solcher verinnerlichter Größe konnte nur ein Künstler schaffen, der ein reiches Leben voll Arbeit und Erfahrung hinter sich hatte. Ein Jahr
hundert hat seine Vaterstadt das Werk hoch in Ehren gehalten.
Dann aber
verkaufte sie es, zum Teil aus politischen Rücksichten, an Maximilian I. von
Bayern und heute bildet es ein Kleinod der Alten Pinakothek zu München?) Die Bilder des Jahres 1526 waren Dürers letzte künstlerische Tätigkeit; Schon 1525 erschien
von nun an widmete er alle Zeit theoretischen Studien.
die „Unterweisung in der Messung mit Richtscheit und Zirkel", eine Belehrung über Perspektive, Konstruktion und Ähnliches. 1527 folgte der „Unterricht zur Befestigung der Stett". bnch der Malerei werden.
Sein Hauptwerk aber sollte ein vierbändiges Lehr-
Schon lag der — später auch in Druck erschienene
— erste Baud, die „Menschliche Proportion", fertig vor ihm, da nahm der Tod dem rastlosen Manne die Feder aus der Hand. Auf seiner niederlän dischen Reise hatte er sich ein Leiden zngezogen, von dem er sich nie mehr
ganz erholte; am 26. April 1528 erlag er dieser Krankheit.
Sein Tod tonrbe damals allenthalben beklagt und die Wertschätzung seiner Werke stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Zu Anfang des 17. Jahrhnnderts suchten drei hochgestellte Sammler alles zu erlangen, was verkäuflich war: Kaiser Rudolf II., Herzog (später Kurfürst) Maximilian I. von Bayern und der englische Graf von Aruudel.
Ihre Sammlungen bilden den Anfang
r) Über die Erwerbung dieses und anderer Gemälde Durers vgl. Nr. 43, S. 234 ff.
152
31. Nürnberg und seine Kunst.
der Dürerschätze, die heute in Wien, München und London verwahrt werden. In der Zeit völligen Niederganges des deutschen Wesens nach dem Dreißig jährigen Kriege blieb Dürers Name neben dem Holbeins der einzige geachtete
aus der deutschen Vergangenheit. Goethe spricht trotz seiner Vorliebe für die Antike mit größter Bewunderung von ihm. Und als im 19. Jahrhundert die Liebe zur deutschen Kunst neu erwachte, da ward bald Dürer der ausge
sprochene Liebling des deutschen Volkes. Und das mit Recht. Wohl mag es größere Künstler und geschicktere Maler gegeben haben; allein es gab keinen anderen, der hohe, ernste Kunst mit schlichter Volkstümlichkeit zu verbinden wußte so wie er, keinen zweiten, der sich von jeder Pose so ferne hielt, der nie für Feinschmecker arbeitete, sondern nur zur einfachen, wahren Empfindung sprechen wollte. Das ist echt deutsche Art, die stete Liebe und Bewunderung
verdient.
30. Jur Geburtsfeier Albrecht Dürers. Don Martin Greif?)
Deutscher Kunst erhab'ner Meister, Dein Vermächtnis wird nicht alt, Noch bewegst du alle Geister Wie mit Jugend-Allgewalt. Deines Volkes Wunderleben Quoll aus deiner Hand hervor, Durch dein grenzenloses Streben Stieg es höher noch empor.
Aber all dein sich'res Können Hat dir nie die Glut geraubt, Denn der Deutsche will bekennen, Was er fühlt und was er glaubt. Mit dem Pinsel, mit der Feder Gleich vertraut und gleich geschickt, Hat doch deiner Tage jeder Dich urmächtig neu erblickt.
Ohne Schmuck und fremde Zierde Gibst du ganz das Eigne nur Und mit fröhlicher Begierde Endlich selber die Natur. Wie »sie sich dir offenbaren, Stellst du alle Dinge dar: Engel- oder Teufelscharen, Alle malst du treu und wahr.
Deiner Arbeit war kein Ende, Wie du dir das Ziel gestellt, Und die Werke deiner Hände Sind bestaunt in aller Welt. Schon das hohe Künstlerzeichen Weckt uns Stolz und Rührung auf Keiner wagt dich zu erreichen Jemals in der Zeiten Lauf.
31. Nürnberg und feine Kunst?) Don Hermann Uhde-Bernays.*
Mit dem Namen Nürnbergs, der alten Reichsstadt, eint sich untrennbar
die Erinnerung an die Herrlichkeit und Größe alten deutschen Wesens und alter deutscher Macht.
Was „deutsch ist und echt", hat hier den Ausdruck
*) „Gesammelte Werke", 1, 313. Leipzig 1895, Amelang. *) Da der Kunstweise Albrecht Dürers ein besonderer Abschnitt gewidmet wurde, ist dieser Meister hier nur soweit berücksichtigt, als er im Rahmen der Gesamtdarstellung nicht übergangen werden konnte.
31. Nürnberg und seine Kunst.
153
der edelsten, reichsten, weil auf einheitlicher Bahn durchgeführten Vollendung gefunden.
Wie auf den Fingerzeig einer gütigen Gottheit gelangten
hoch
begnadete Meister in dem Augenblick zur Entfaltung ihres segensreichen Wirkens, als ihre Vaterstadt gerade ihrer Vermittlung bedurfte. Durch ihre
sich ergänzende Tätigkeit erhob sie sich auf eine ungewöhnliche Höhe künst lerischen und wissenschaftlichen Gestaltungsvermögens. Als dieser Augenblick eintrat — um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert — begann zugleich jene PalaS.
Linwellturm.
Kaiserstallung
Luginsland.
Nürnberg mit der Burg, Südansicht vom Turm der Lorenzerkirche aus. . (Nach Steinhausen, Kulturgeschichte. Bibl. Institut, Leipzig.)
auf die vorbildlichen Arbeiten der Nürnberger Künstler fast allein begründete Epoche der deutschen Kunstentwicklung, welche wir „deutsche Renaissance"
nennen uns gewöhnt haben.
zu
Aber kaum länger als ein Menschenalter erhielt
sich Nürnberg in seiner führenden Stellung.
Mit dem Aufsteigen einer neuen
Zeit ging sein Niedergang Hand in Hand. Wie ganz Deutschland brach es unter dem Dreißigjährigen Krieg zusammen um sich nicht mehr zu erholen. Der Nachwelt bleibt neben den herrlichen Zeugnissen einstmaligen Ruhmes die Freude an den Bauwerken der Stadt, welche den Forderungen der Gegenwart zum Trotz
ihren mittelalterlichen Charakter so treu wie möglich zu wahren bestrebt ist.
Weit hinaus in die fränkischen Laude leuchtet das helle Not der Ziegel, die Nürnbergs Burg decken. Dem breiten Gebäude stehen in künstlerischer Unregelmäßigkeit schlanke Wachttürme zur Seite. Nordwärts zeugt der Graben
von der vormaligen Notwendigkeit ernster Verteidigung, südlich umschließt als
31. Nürnberg und seine Kunst.
154
stimmungsvoller Übergang zu der Stadt selbst ein unentwirrbarer Kranz alter Häuser die Abhänge des Burgberges.
auf dem Burgfelsen
Obwohl in mehreren Jahrhunderten gebaut wurde und obwohl verschiedene Herrscher dort
oben gewohnt haben, macht das Bild doch einen einheitlichen Eindruck.
Von der Wohnung, in welcher die Burggrafen von Nürnberg aus dem
Hause Hohenzollern einst walteten, ist wenig mehr zu sehen. Mit der eigent lichen Kaiserburg, die von Kaiser Friedrich Barbarossa angelegt wurde, aber l'tändig bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts und dann sogar in der neuesten
Zeit Veränderungen erfuhr, haben sie, bereit Aufgabe es war als Amtmänner im Namen des Kaisers die Oberaufsicht über die Stadt zu führen, nichts zu tun gehabt.
Ein Zeuge der vielen Streitigkeiten zwischen ihnen und Nürn
bergs Kriegern steht heute noch. Es ist der östliche Wachtturm, der Lugins land, der nur zu Beobachtungszwecken erbaut worden ist. An diesen stößt die Kaiserstallung,
wie der Name
deutet,
der Aufenthaltsort des kaiserlichen
Marstalles auf die Dauer des Hoflagers, ein ehemaliges Heumagazin. Daneben ragt das älteste Baudenkmal Nürnbergs, der fünfeckige Turm, ein Weinlaubund efeuumrankter, an tausend Jahre alter Geselle, über dessen Errichtung keine Chronik berichtet. Dafür hat sich die Sage seiner bemächtigt; sie läßt
ihn gar in der Römerzeit, unter Neros Herrschaft sNeroberg —Nürnberg) gebaut sein.
Sie behauptet weiter, daß hier von dem freien Platz aus der fränkische
Raubritter Eppelein von Gailingen
mit kühnem Sprung über Mauer und
Graben gesetzt sei. Wahrscheinlicher klingt die Erzählung, nach welcher die nunmehr verdorrte Linde im Burghofe von Kunigunde, der Gattin Kaiser Heinrichs des Heiligen, gepflanzt worden ist.
Genaueste Aufzeichnungen setzen
für die Vollendung des Sinwellturmes, der vor dem Eingang in die eigentliche Burg als schlanker Rundbau kühn in die Höhe strebt, das Jahr 1561 an. In den nächsten, den Margareten- oder Heidenturm, sind
die übereinander
gelegenen Burgkapellen eingebaut. Gleichwie die Burg ständigen baulichen Veränderungen unterworfen war, als deren Folge die Zerstörung der meisten aus der ersten Epoche der Bau arbeit stammenden Reste zu betrachten ist, so wurde, veranlaßt durch die Ver
größerung der Stadt, auch ihr Mauergürtel mehrfach verlegt und erweitert. Von den Befestigungen der ältesten Zeit ist nur wenig mehr zu sehen.
Dagegen blieb die zweite Anlage, aufgeführt am Beginne des 14. Jahrhunderts, fast ganz erhalten. Bei den Wanderungen in der Innenstadt gibt gerade sie, welche bei dem Henkersteg und dem anstoßenden Weinstadel zu einer künstlerisch einheitlichen, oftmals abgebildeten Gruppe sich zusammenschließt, die getreulichste Anschauung alter Zeiten. Der dritte, äußerste, doppelt aufgeführte Mauerkranz mit seinen Gängen und Türmchen, mit so vielen malerischen Einzelheiten und Unregelmäßigkeiten,
vier Diese
wurde einst durch vier mächtige Haupttürme neben den
Stadttoren (Frauentor, wuchtig
drohenden,
Spittlertor, Laufertor,
kunstlosen
Kraftgestalten,
Neues Tor) die
als
geschützt.
Wahrzeichen
31. Nürnberg und seine Kunst.
155
Nürnbergs dem eintretenden Wanderer die richtige Stimmung mit auf den Weg geben, schaffen in der Phantasie ein gutes Abbild von der einstigen Kraft der alten Reichsstadt, deren Bewohner gegen ernste Kriegsnot sich wohlbedacht
sichern mußten.
Auch in der inneren Stadt erzählt noch manches Haus von
St. Lorenz, Westansicht.
der Wehrhaftigkeit seiner vormaligen Besitzer, der Lorenzkirche.
wie das Nassauerhaus
nächst
Die Notwendigkeit die Stadt so stark zu befestigen ward hervorgcrnfcn durch ihren mehr und mehr steigenden Reichtum. Was die große Republik Venedig für den Suden bedeutete, einen Mittelpunkt, welchen wichtige Handels beziehungen mit den fernsten Ländern verbanden, das wurde Nürnberg für
31. Nürnberg und seine Kunst.
156
den Norden. Es trat in Verbindung mit den großen Hansastädten und sandte in Martin Behaim, dem Verfertiger des ersten Globus, einen der berühm
testen Seefahrer aller Zeiten auf das Meer.
Aber nicht allein nach äußeren,
materiellen Vorteilen trachtete Nürnberg, sondern es strebte mit dem gleichen Eifer nach dem Ruhme, den höchste Bildung allein verleiht. Die Wissenschaften, befördert durch humanistische Bestrebungen, die schönen Künste kamen zur Blüte,
die deutsche Dichtung fand in dem Meistersinger Hans Sachs, die deutsche
Malerei in Albrecht Dürer die edelsten Vertreter. Der künstlerische Sinn der Bevölkerung betätigte sich zunächst bei der Erbauung der beiden Kirchen St. Sebald und St. Lorenz.
Im Jahre 1274
wurde ein Teil der Sebalduskirche geweiht (der Chor der Löffelholzkapelle), im gleichen Jahre begann der Bau der Lorenzerkirche. Deutlich ist in der westlichen Hälfte der ersteren der romanische Stil zu erkennen, demzufolge die Gesamtansicht der Kirche ein sehr bemerkenswertes Beispiel der Übergangs zeit zur Gotik bildet.
St. Lorenz zeigt den gotischen Stil im schönsten und
reinsten Gepräge. So stellt es sich den erhabenen Bauten in Straßburg und Köln würdig an die Seite. Neben diesen beiden Hauptkirchen kann die große Zahl der übrigen Gotteshäuser nur einen bescheidenen Platz beanspruchen, obwohl es keine unter
ihnen gibt,
die nicht irgend etwas Sehenswertes erfthielte.
Bei weitem die
größte Aufmerksamkeit gebührt der Frauenkirche mit ihrer schönen Vorhalle und dem künstlichen Uhrwerk, einem Gegenstand besonderer Neugierde für alle diejenigen, welche zur Mittagszeit auf dem Hauptmarkte sich einfinden. Zur
Erinnerung an den Erlaß der goldenen Bulle durch Kaiser Karl IV. wurde
des Kaisers Abbild hoch oben über dem Chor angebracht, von Posaunenbläsern Mit dem Schlag 12 Uhr schreiten die sieben Kurfürsten um den
umgeben.
Herrscher, verneigen sich und nehmen eine gnädige Handbewegung entgegen, während die Bläser die Posaunen zum Munde führen.
Auf dem Hauptmarkte selbst befindet sich der „schöne Brunnen", der als Beweis dafür anzusehen ist, daß die spätere gotische Kunst auf jede Festigkeit
verzichtete, um sich ganz der Ausschmückung zu überlassen.
In Form eines
Achtecks steigt er gegen 20 m hoch aus dem Wasserbehälter. Oben spitzt er sich zu einer Pyramide zu. Er ist reich verziert, farbig bemalt und in den
unteren beiden Abteilungen von Statuen umgeben.
Er ist der einzige größere
Brunnen in Nürnberg, der aus früherer Zeit stammt. • Der Tugendbrunnen
Benedikt Wurzelbauers
neben
der Lorenzkirche
wurde 1590,
der kürzlich
erneuerte Neptunbrunnen auf der Südseite des Hauptmarktes, ein Werk des
Bildhauers Schweigger, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts aufgestellt. Damals stand noch die alte Egidienkirche. Der jetzige Barockbau wurde nach dem großen Brande von 1698 aufgeführt, der erfreulicherweise die angebauten
drei Kapellen verschont hat. Diese sind romanischen und gotischen Ursprungs. Das Äußere der Jakobskirche und der Spitalkirche wirkt unbedeutend.
31. Nürnberg und seine Kunst.
157
Was nun die begeisterte Freude an dem Anblick des schönen Brunnens
und noch mehr der St. Sebalduskirche so berechtigt erscheinen läßt, das ist das
Vorhandensein einer unendlichen Fülle des Reichtums, der die Ausschmückung so künstlerisch abwechslungsreich gestaltet hat. Kaum ist es möglich einen Platz zu finden, welcher eine genaue Betrachtung des bei aller Verwirrung doch
so
einheitlich
ausgeführten
Ostchores
der
Sebalduskirche
gestattet.
Schlanke viereckige Pfeiler mit Baldachinen, unter welchen Heilige stehen, ragen
über die Galerie des Dachrandes. Die Umrahmung der zwischenliegenden Fenster spitzt sich zu Kreuzblumen zu, die ebenfalls über das Dach hinaus streben.
Kleine heitere Szenen aus dem Leben einzelner Heiligen sind, derb
und wahr, verwendet.
da und dort eingelassen, die Ornamente als Tiere und Blumen Ernster stimmt der Anblick der Lorenzerkirche. Über dem großen
Portal ist ähnlich wie auf dem Straßburger Münster die Rosette angebracht, deren meisterhafte Ausführung besonders von einiger Entfernung in abendlicher Beleuchtung gesehen zur Geltung kommt. Das berühmte Portal unter der Rosette, vollendet schon in der Mitte des 14. Jahrhunderts, erfordert ein
genaues Studium.
Die Darstellung der Kindheit des Herrn, der Passion
und des Jüngsten Gerichts, nach der Sitte jener Zeit eng zusammengeschlossen und von zwei Reihen von Heiligen und Propheten, Adam und Eva umgeben, ist edler und einfacher, aber nicht so dekorativ wirksam wie die ganz ähnliche
oben genannte schöne Vorhalle der Frauenkirche.
Der Reichtum der Stadt, der die Möglichkeit der Erbauung von zwei so überaus prächtigen Kirchen gewährte, sorgte zugleich in verschwenderischer
Weise für ihren inneren Schmuck.
Mit besonderer Genugtuung kann Nürnberg
sich rühmen, daß alle die großen Meister, welche hieran mitgearbeitet haben, innerhalb seiner Mauern geboren worden sind. Freilich hat die Nürnberger Bildniskunst nicht gleich die stolze Höhe erreicht, auf der sie zur Zeit der
Vollendung der Lorenzerkirche (1477) und in den nächsten Jahrzehnten stand. Aber auch ihre Anfänge sind beachtenswert. Das Chörlein (d. h. der nischen artige, meist außen mit Reliefs verzierte und mit kunstvoller Steinmetzarbeit nach oben abgeschlossene Erker) des Nassauer Hauses, vor allem ein gleiches
am Sebalder Pfarrhofe sprechen für die früh erworbene hohe Fertigkeit mit dem Meißel umzugehen.
Ist auch die Ausführung manchmal noch roh und
unbeholfen, so entschädigt dafür der kindliche Sinn, der aus allen Darstellungen spricht und der bereits die erste Stufe auf dem Wege zur Vollendung bedeutet.
Die Namen der ehrsamen Handwerker sind uns nicht überliefert, wir kennen nicht einmal den Schöpfer des eigenartigen Grabdenkmals, das in der Spital kirche über den Gebeinen ihres Stifters Konrad Groß errichtet ist. Der älteste Meister, von dem die Geschichte erzählt, ist Hans Decker,
der hochbegabte Künstler, der in seiner in der Wolfgangskapelle neben der Egidienkirche befindlichen, durch die vollendete Wiedergabe des auf den
Gesichtern
lagernden
Schmerzes
ausgezeichneten
Grablegung
Christi
ein
158
31. Nürnberg und seine Kunst.
wirkliches Meisterwerk
geschaffen
hat.
Decker
war der unmittelbare Vorgänger des ältesten der drei gleichwertigen Großen unter Nürnbergs plastischen Bildnern, A d a m K r a f t s. St. Lorenz
besitzt in dem weltberühmten Sakramentshäuschen (b. i. der vormalige Wandschrank zur Bewahrung der Monstranz, der zuerst nur mit einfachen Ver
zierungen umgeben und nach und nach zu der Form eines eigenen selbständigen Häuschens ge
langt war) das kostbare Zeugnis für den erstaun lichen Fleiß und die vielseitige Begabung, die Adam Kraft zu eigen war. Die Elemente der spätgotischen Kunst zu einer letzten Verklärung
zusammenzufassen ist seinem künstlerischen Genius gelungen.
Wenn wir die Kirche betreten, ergreift
uns die grandiose Höhe, über welcher die Decke
des Mittelschiffes sich ausbreitet, die regelmäßige Gliederung der Pfeiler und der hallenartige Charakter des Chores. Die bunten Glasmalereien der Fenster, die zahlreichen Wappenschilder der vornehmen Geschlechter bringen freundliche Ab
wechslung in den Ernst dieses Eindrucks.
Auf
der linken Seite des Chores nächst dem Altar steht, auf schmaler Grundlage sich erhebend und
die Spitze noch unter der Wucht der Decke ein
ziehend, das Sakramentshäuschen Krafts. endlich viel ist auf ihm zu sehen.
Un
Gott Vater
mit zahlreichen Heiligen, Bilder aus der Passion, ganz oben der Heiland am Kreuz — Gestalten,
die gekrönt und umgeben sind von einem kunst reichen Gewirr von Blumen und Ranken, von Türmen und Säulchen.
Unfaßlich erscheint es,
daß ein einziger Künstler diese Riesenarbeit be
wältigte, und die Sage wird verständlich, die Adam Kraft der zauberischen Fähigkeit bezichtigte
des Steines Härte mit beschwörenden Sprüchen mildern zu können. Außer dem Sakraments häuschen stammen aus seiner Werkstatt das Schreyerschc Grabdenkmal am Ostchor der Sebalduskirche, zwei große Grabdenkmäler in der Das Sakramentshauschen in St. Lorenz von Adam Kraft.
Frauenkirche und die Leidensstationen, welche einst den Weg zum Johannesfriedhof geschmückt haben,
159
31. Nürnberg und seine Kunst.
aber nunmehr aus Rücksicht auf ihren baulichen Verfall dorthin gelangten, wo sämtliche Reliquien Altnürnberger Kunst bewahrt sind, in das Germanische Nationalmuseum. Daß Meister Adam Kraft einen liebenswürdigen Humor besaß, davon erzählt das erheiternde Relief an der Stadtwage.
Das Sebaldusgrab im Ostchor von St. Sebald von Peter Vischer.
Neben dem Sakramentshällschen Adam Krafts birgt St. Lorenz eine der schönsten Schnitzereien, die Veit Stoß, der Steinschneider und Holz schnitzer,
gefertigt hat, den Englischen Gruß.
der Kirche ist die lebensvolle Gruppe
Durch
sichtbar.
das ganze Mittelschiff
Liebliche Engel halten das
Gewand der heiligen Jungfrau, die von der göttlichen Gnade überwältigt das Haupt senkt. Von oben blickt Gott Vater herab, unten, an dem mit Medaillons
verzierten Rosenkranz, hängt die Schlange mit dem Apfel des Paradieses. Veit Stoß hat längere Zeit in Krakau zugebracht und erst spät ist er wieder
31. Nürnberg und seine Kunst.
160
Daher muß eine Reihe seiner Hauptwerke
in seine Vaterstadt zurückgekehrt.
916er der Englische Gruß in seiner hoheitsvollen
in Krakau gesucht werden.
Ruhe, mehr noch die höchst realistische Darstellung des Jüngsten Gerichts (an
der Osttür der Südseite der Sebalduskirche), dann die lebendigen drei Stein reliefs im Innern der Sebalduskirche, das Abendmahl mit den Bildnissen der damaligen Ratsherren, Christus am Ölberg und der Judaskuß, endlich der Rahmen zu Dürers Allerheiligenbild geben eine deutliche Vorstellung von den künstlerischen Absichten, die Veit Stoß hegte.
getreue Wiedergabe
dieser Bestrebung ist er aber allein geblieben.
wieder
Sein Ziel war die möglichst
In
ohne Rücksicht auf ästhetische Bedenken.
der Natur
die vollendeten Formen
zu erreichen.
Spätere Holzschnitzer suchten Am
besten
gelang dies einem
Unbekannten, dem sogenannten Meister der Nürnberger Madonna, deren liebliche Sie hat
Erscheinung an die schönsten Statuen italienischer Kunst erinnert.
eine ebenbürtige Genossin in der tiefempfundenen Madonna der Pietä in der Jakobskirche.
Wenn
überhaupt
einem Nürnberger Meister Einfluß
Frauengestalten zugeschrieben
werden darf,
auf
diese beiden
so ist es Peter Vischer,
der
Das Grab des heiligen Sebald, das in der Mitte
hervorragende Erzgießer.
der lichten Sebalduskirche steht, hat er unter Mithilfe seiner fünf Söhne in 13 Jahren ausgeführt. Werken
Während Veit Stoß und Adam Kraft dem von den
der italienischen Renaissancekunst
ausgehenden Einfluß
sich
fernzu
halten suchten, hat Peter Vischer sich der neuen Bewegung begeistert zugewandt. Das fremde Element mit dem deutschen zu einem neuen Stil zusammenzu
schließen war sein erfolgreiches Bemühen. Sebaldusgrab zu betrachten.
In diesem Sinne haben wir das
Auf verziertem Sockel ruht der silberne Sarg,
neben dem sich aus einer gemeinsam von Schnecken getragenen Grundlage das
Gehäuse erhebt.
Dieses
besteht
unter der dreifachen Kuppel.
Gestalten als Sinnbilder
aus acht Pfeilern
und
ebensoviel Säulen
Acht Apostel stehen an den Pfeilern, mythologische der Kraft,
antike Gottheiten
sind
an der unteren
Hälfte des Gehäuses angebracht, daneben vier prächtige Leuchter. oberen Rand
knäblein.
umgeben zahlreiche
als Jünger gedachte Figuren
Auf dem das Jesus-
Ruhelos wandert das Auge von der Sebaldusstatue der Westnische,
von dem Selbstbildnis Peter Vischers an der Ostseite zu ihm hinauf.
Trotz
all diesem Einzelschmuck dient jeder Teil dem Ganzen, dem Schrein, der die
Reliquien des Heiligen umschließt.
Besonders freut man sich der überall herum
spielenden, mit heiterer Lebensfreude und köstlicher Naivität ausgeführten Englein.
Unter den späteren Werken Peter Vischers und seiner Söhne nimmt der Apollobrunnen mit dem bogenschießenden Apoll im inneren Hofe des Rathauses
den ersten Platz ein.
Zu seinem Lobe kann nichts Höheres gesagt werden, als
wenn man rühmt, daß diese Figur zu den wenigen Werken der neueren Kunst
gehört, welche wirklich mit den Wundern der Antike in gleichem Atem genannt werden dürfen.
31. Nürnberg und sein« Kunst.
161
Als Peter Vischer im Jahre 1529, ein Jahr nach Dürer, gestorben war,
verlor mit dem Hinscheiden dieser beiden Gewaltigen Nürnberg in künstlerischer Beziehung nach und nach an Bedeutung und Ansehen.
Wohl blieb die Stadt
verschont von den Schrecken des Bauernkrieges und der Bilderstürmer, aber
konnte auf den Gebieten,
dennoch
die jene beiden großen Meister beherrscht
hatten, ein rechter Schwung nicht mehr aufkommen.
Ein Künstler war freilich
als der trefflichsten einer wenige Jahre zuvor in Nürnberg eingewandert, Peter Flötner. Er, der feine und vornehme Erbauer des Hirschvogelsaales,
steht den Italienern vielleicht am nächsten.
Wundersam vereinigt er romanische
Schmiegsamkeit und deutschen Ernst in den Friesen und Reliefdarstellungen des Tucherhauses und des Hirschvogelsaales. Und während er als Modelleur von Goldschmiedearbeiten und als Verfertiger von Plaketten bescheidene Auf
gaben löste, welche bedauern lassen, daß er kein im großen Stil gearbeitetes plastisches Werk hinterlassen hat, bewies Pankraz Labcnwolf außer durch
ein kleines Brünnlein im Rathause durch sein „Nürnberger Gänsemännchen", daß er die Vischersche Überlieferung hochzuhalten gewillt sei. Eine Reihe bedeutender Männer, die in verschiedenartiger Weise tätig gewesen sind, muß hier eingeschaltet werden, damit die historische Übersicht
halbwegs gewahrt bleibe. Die Glasmalerei, wie die bunten Fenster der Lorenzkirche beweisen, und die kunstreiche Behandlung der Ofenkacheln wurde
durch
die Familie Hirschvogel
druckerkunst
besonders
nutzte Anton Koberger als
gefördert.
Die Erfolge
der Buch
großer Buchhändler und Verleger
wirksam aus; cs sei nur an eines der berühmtesten Bücher jener Zeit, an die Weltchronik des gelehrten Humanisten Hartmann Schedel erinnert. Zugleich
betätigte sich die Miniaturmalerei und Schreibkunst, erstere durch Glockendon, letztere gegen
durch Neudörfer, das Ende
Wenzel Jamnitzer,
des
den Begründer
16. Jahrhunderts,
der
heutigen
feierte
der Kupferstich in Virgil Solis
Schrift.
Später,
die Goldschmiedekunst
die
höchsten
in
Triumphe
deutschen Kunstfleißes. Die alte Nürnberger Malerschule hatte schon in den Meistern des Jmhoffschen Altares (Lorenzkirche), des Tucheraltares (Frauen kirche) und des Löffelholzaltares (Sebalduskirche) sehr bemerkenswerte Ansätze selbständigen künstlerischen Denkens gezeigt, welche dann bei Pleydenwurff und weiter bei dem Lehrer Dürers, Michel Wohlgemuth, zu einer festen und sicheren
Grundlage sich bildeten. Auf dieser konnte Albrecht Dürer die höchsten Äußerungen deutscher Kunst schaffend gestalten. Unter Dürers Schülern und Nachfolgern haben die Brüder Beham, Hans von Kulmbach und Georg Pencz
eine reiche Wirksamkeit entfaltet.
Es ist begreiflich, daß diese vielen bedeutenden Männer, die zur gleichen
Zeit
gelebt haben,
durch
ihren wechselseitigen Verkehr
sich anregten
und
Nach des Tages Müh und Arbeit fand man sich zusammen in den Keinen Wirtsstuben, von denen das Bratwurstglöcklein noch heute seine
ergänzten.
Anziehungskraft bewährt.
Eine
herzliche,
Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
gut deutsche Gastlichkeit 11
waltete
31. Nürnberg und seine Kunst.
162
in den geräumigen Häusern der Nürnberger Handelsherren. Haus etwa zur Mitte des
Wie ein solches
16. Jahrhunderts ausgesehen hat, verrät das
Tucherhaus .in der Hirschelgasse.
Es spricht von einem biederen,
schlichten
Sinn, der für die innere Ausschmückung der Wohnung ebenso wie für schone Bauart der Höfe bedacht war. Neuen, anerkennenswerten Anregungen gegen über wohlgesinnt und freidenkend griff der Nürnberger Patrizier gegen Abend
zu einem Folianten
und bemühte sich
die
ernsten Worte
der Lutherschen
Bibelübersetzung, die Schriften Melanchthons und Huttens zu studieren.
Die
Reformationsbewegung fand in Nürnberg eifrige Unterstützung und starken Rückhalt. Mit begeisterten Worten sang Hans Sachs, der teure Meister, von der wittenbergischen Nachtigall. Seine Dichtungen, so frei und derb sie auch
den heutigen Leser anmuten, übertreffen doch die aller gleichzeitigen anderen deutschen Poeten. Wenn seine Vorgänger, die ehrsamen Meistersinger,
mechanisch und trocken gereimt hatten, schrieb er mit innerer Freude, in kraft voller Sprache seine Schauspiele nieder. Dem Volke entstammt, dem Volke gern angehörend darf Hans Sachs den Ruhm des größten deutschen Volks dichters für sich ansprechen. Seine Nachfolger suchten sich eng an seine Spuren zu halten, um alsobald in einen öden Nachahmerton zu verfallen.
An Stelle der dichtenden Angehörigen des Volkes trat der Dilettantismus der Vornehmen. Unterdessen waren mehrere große Neubauten im Stil der deutschen Hoch
renaissance entstanden.
Das stattliche Haus des reichen Martin Peller am
Egidienplatz erweckt mit seiner wohlerhaltenen Fassade und dem stimmungs vollen Hofe die Erinnerung an die Jahre vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Man glaubt die rauschenden Gewänder vornehmer Patrizierinnen,
den schweren Schritt würdevoller Kaufleute und Ratsherren zu
vernehmen.
Damals empfing auch die Westftont des Nürnberger Rathauses seine jetzige
äußere Gestalt. Während vier verschiedener Epochen wurde daran gearbeitet. Zu bewundern bleibt, daß trotz der Enge der umgebenden Gassen und Häuser,
obwohl schon zu Baumeister Behetms Zeiten von einem Flickwerk gesprochen
zweckdienlicher Gebäudekomplex entstanden ist. Die erwähnte Westftont, ganz im Stil der italienischen Spätrenaissance, haben die Brüder Wolf hergestellt, während Jamnitzer und Kern die Verzierungen in Auftrag ein
wurde,
erhielten.
Leider konnte infolge der schlechten Finanzlage der Stadt der Plan
auch die Ost- und Südseite einheitlich anzuschließen nicht ausgeführt werden. Die Bedürfnisse der Neuzeit haben weitere Umbauten in den Jahren 1888/89 und die Aufführung eines monumentalen Neubaues veranlaßt.
Im Erdgeschoß
liegt der große Rathaussaal, mit Reliefs und Fresken geschmückt, welch letztere nach Dürers Angabe von mehreren Schülern gemalt wurden. Saal,
Der ehrwürdige
in welchem die kampffrohe Jugend sogar Turniere veranstaltete, hat
manche bedeuffame Feier gesehen. Aber nur wenige konnten wohl an Pracht und Aufwand dem Festmahl sich vergleichen, welches nach Beendigung des
32. Di« K. Hof- und Staatsbibliothek in München.
163
Dreißigjährigen Krieges den Gesandten anläßlich des Abschlusses des Westfälischen Friedens am 25. September 1649 gegeben worden ist.
Die Wunden, welche der lange Krieg geschlagen, verheilten nicht. Der Wohlstand der schwer geschädigten Stadt sank mehr und mehr. Die Sorge
um den Verdienst hinderte hier wie überall in deutschen Landen das Aufbrechen einer verheißungsvollen Blüte neuer Kultur und neuer Kunst. Vereinzelte Ausnahmen blieben ohne Einfluß auf die Gesamtheit.
Die Gelehrsamkeit zog
sich auf die Hochschulen nach Altdorf und später nach Erlangen zurück, wo sie im Staub dogmatischer Lehren ein pedantisches Dasein führte. Im Laufe
des ganzen 18. Jahrhunderts ging Nürnberg langsam einem völligen Verfall entgegen.
Im Jahre 1806 verlor die Stadt auch ihre politische Selbständig
keit ; sie gelangte unter die Herrschaft des neugeschaffenen bayerischen Königreichs.
Seitdem hat die Entwicklung der Stadt andere Bahnen eingeschlagen als ein halbes Jahrtausend zuvor. Wohl sucht ein kleiner Kreis alteingesessener Familien das Möglichste zu tun um den künstlerischen Lorbeer der Vergangenheit wieder zu gewinnen. Die Gründung des Germanischen National museums im Jahre 1852, vor allem die Errichtung des Bayerischen
Gewerbemuseums sollten Marksteine
bilden für eine künftige Besserung,
deren schwache, aber lediglich durch ftemdes Verdienst und die begeisterte Initiative weniger Männer hervorgerufene Anzeichen nunmehr deutlich zu
verspüren sind.
Weit wichtiger war freilich die Eröffnung der ersten deutschen
Eisenbahn, der Ludwigsbahn von Nürnberg nach Fürth (1835).
Sie bedeutete
ein glückliches Vorzeichen für die neuen Ziele, denen das Nürnberg des 19. Jahrhunderts erfolgreich zugestrebt hat. Aus der großen Kunststadt ist
die große Industriestadt geworden.
32. Die K. Hof- und Staatsbibliothek in München. Don Georg Leidinger.*)
Unter die bleibenden Verdienste, die sich Herzog Albrecht V. von Bayern
um sein Land und seine Residenzstadt erworben hat, gehört die Gründung der unschätzbaren Büchersammlung
zählt.
die heute unter dem Namen wichtigsten Bibliotheken der Welt
in München,
„K. Hof- und Staatsbibliothek" zu
den
In ihr besitzt der kleine Staat Bayern eine Sammlung, auf die er
onderen, größeren Staaten gegenüber,
deren Büchersammlungen nicht an die
seinige hinreichen, mit vollem Recht stolz sein kann. Don Tausenden das geistige Vermächtnis An Schätzen aller Art, Cs liegt da aufbewahrt Ium Frommen uns, den Gebern zum Gedächtnis.
Man ist darin einig, daß Albrecht V. durch seine Kunstsammlungen den
ersten Grund zu Münchens Bedeutung als Kunststadt gelegt hat; ebenso sicher 11»
164
32. Die K. Hos- und Staatsbibliothek in München.
ist es, daß seine Büchersammlung für Münchens Stellung in Wissenschaft und Literatur von ausschlaggebendem Einfluß geworden ist.
Hatte sich in der Minchener Residenz wohl schon von ftühen Zeiten her ein ansehnlicher Vorrat von Büchern angesammelt, so wurde die eigent
liche Gründung der Bibliothek von Herzog Albrecht V. durch den Erwerb
dreier großartiger Einzelbüchersammlungen vollzogen. Der Nürnberger Arzt und Geschichtschreiber Hartmann Schedel, eine echte Sammlernatur, hatte von Jugend an in Deutschland und Italien Bücher und Handschriften gesammelt, selbst geschrieben und illuminiert, schön binden
lassen und zu eigenen Werken, von denen das berühmteste seine 1493 von Koberger in Nürnberg gedruckte, von Michael Wohlgemuth mit Holzschnitten geschmückte Weltchronik ist, fleißig benützt. Als er 1514 starb, hinterließ er
einen wahren Schatz von Büchern, hauptsächlich an lateinischen Handschriften historischen und philologischen Inhalts und an wertvollen Wiegendrucken. Diese Bibliothek erwarb Herzog Albrecht. Kaum ein Band ist darunter, der nicht durch schriftliche Einttäge oder durch Ausschmückung mit eingeklebten Minia turen, Kupferstichen oder Holzschnitten die Liebe des Nürnberger Humanisten zu den Büchern offenbart, und in vielen Bänden grüßt der fteundliche Bücher spruch: Lege feliciter, von Hartmann Schedels Hand geschrieben, über die Jahrhunderte herüber den modernen Benützer.
Die zweite Einzelbibliothek, welche der Münchener Sammlung einverleibt
wurde, war die des Staatsmannes und Humanisten Johann Albrecht Widmanstetter oder, wie der Name latinisiert gebraucht wurde, Widmestadius. Geboren um das Jahr 1506 in dem zum Gebiet der Reichsstadt Ulm gehörigen Dorf Nellingen war der an deutschen Hochschulen gebildete Gelehne in jungen Jahren
nach Italien gekommen und hatte sich dort im Umgang mit den gelehrtesten Männern der Zeit bald so außerordentliche Kenntnisse besonders in den orien
talischen Sprachen erworben, daß ein Zeitgenosse von ihm sagte, seit Johannes
dem Täufer sei kein Mann von gleich umfassender Sprachkenntnis erstanden. Griechisch, hebräisch, arabisch, syrisch sprach er mit gleicher Gewandtheit und seine Vertrautheit mit den Literaturen dieser Sprachen war eine so hervor ragende, daß er eine syrische sowie eine arabische Grammatik, eine lateinische Übersetzung des Koran, ein arabisch-syrisches und ein kabbalistisches Wörterbuch neben anderen Werken verfassen konnte.
In die deutsche Heimat zurückgekehrt
wurde Widmanstetter Rat des Herzogs Ludwig von Bayern, Wilhelms IV. Bruder, nach Ludwigs Tode bei Erzbischof Ernst von Salzburg, dem dritten Bruder der Herzoge Wilhelm und Ludwig, danach Kanzler des Augsburger Bischofs, des Kardinals Otto Truchseß von Waldburg, schließlich in Diensten König
Ferdinands Kanzler für die österreichischen Länder.
Widmanstetter hatte sich
im Laufe seines Lebens eine außerordentlich umfangreiche und wertvolle Biblio thek gesammelt, welche das Staunen und die Bewunderung seiner gelehrten Zeitgenossen erweckte.
Kostbare orientalische wie auch abendländische Hand-
32. Die K. Hof- und Staatsbibliothek in München.
schriften waren darin mit seltenen Drucken aller Literaturen vereinigt.
165 Diese
literarischen Schätze kamen nach Widmanstetters Tod in den Besitz des kaiser
lichen Rates Georg Siegmund Seld, dann aber erwarb sie Herzog Albrecht V.
von Bayern für seine Büchersammlung. Ein Glanzstück darunter war die berühmte Papyrushandschrift des Codex traditionum' ecclesiae Ravenua-
tensis.
Aber auch sonst enthielt Widmanstetters Bibliothek zahlreiche auser
lesene Stücke, und wer bei seinen Studien in der K. Hof- und Staatsbibliothek
heutzutage einen jener Bände zur Hand bekommt, in welche fast sämtlich Widmanstetter mit eleganten Zügen seinen Namen eingeschrieben hat, wird dem
geläuterten Sammeleifer des Gelehrten frohen Dank wissen, nicht minder aber dem herzoglichen Bücherfteund, der jene Schätze vor der Zerstreuung bewahrte, Anerkennung zollen. Auch des Johann Jakob Fugger hervorragende Büchersammlung wanderte in des Herzogs Bibliothek. Zuerst kaiserlicher Rat, später Herzog Albrechts Hofratspräsident hatte Fugger zahlreiche seltene und kostbare Handschriften, zumeist griechische, zusammengekauft. Gewandte Altertumskenner und erfahrene Bibliothekare waren für ihn tätig gewesen und hatten besonders aus Italien oft um hohe Summen wertvolle Stücke für ihn erworben. Bor seinem Tode bot er seine Sammlungen Herzog Albrecht an und so wurden auch diese
literarischen Schätze der bayerischen Hofbibliothek einverleibt. Ein ehernes Stand
bild Fuggers zu Augsburg, welches König Ludwig I. errichten ließ, ehrt den
hochsinnigen Sammler. Aber nicht bloß ganze Bibliotheken fügte Herzog Albrecht seiner Samm lung an sondern auch dem Erwerb einzelner Werke wendete er in eigener Person den größten Eifer zu und die noch vorhandenen Hofzahlamtsrechnungen
berichten von vielen interessanten Fällen dieser Art.
Den glänzendsten Aus
druck gab er seiner Bücherliebhaberei, als er die Bußpsalmen seines Hofkapell meisters Orlando di Lasso und die Motetten des Cyprian de Rore in riesigen Pergament-Prachtfolianten aufs kunstvollste schreiben und von dem MalerHans Müelich mit den köstlichsten Miniaturmalereien verziereir ließ. 416 Minia
turen, Kunstleistungen ersten Ranges von unerschöpflichem Reichtum der Er findung und meisterhafter Farbengebung, schmücken die zwei silberbeschlageneu Saffianbände der Bußpsalmcn Orlando di Lassos, 83 ähnliche Kunstwerke
den Band der Motetten Rores. In der Neuen Feste zu München erstand auf Herzog Albrechts Geheiß für seine Bibliothek und Antiquitätensammlung „eine neue Behausung", jener
Bau, der — im Laufe der Zeit allerdings vielfach umgeändert — heute noch den Namen Antiquarium trägt.
Es dauerte nicht lange, so hatte sich der Ruf
der Münchener Bibliothek weit verbreitet und die Zeitgenossen verkündeten laut den Ruhm Herzog Albrechts als ihres Gründers. Der Humanist Jakobus
Strada z. B. schrieb in der Vorrede seiner Caesar-Ausgabe, welche er dem Herzog widmete, „Albrecht könne sich rühmen, daß es keinen Fürsten auf dem
166
32. Die K. Hof- und Staatsbibliothek in München.
gallzen Erdenrund gebe, der einen so unglaublichen Bücherschatz besitze; wollte ihm jemand die berühmten Bibliotheken Italiens, Frankreichs, Spaniens, Deutsch
lands und anderer Länder dagegen vorhalten, der möge [mit ihm jene Mün chener beschauen und er werde dann ohne Widerrede dieser die Palme und
den ersten Rang zuerkennen".
Schon durften auch hervorragende Gelehrte
die Schätze der Büchersammlung benützen und sogar nach auswärts fanden einzelne Entleihungen statt.
Auch Albrechts Nachfolger, Herzog Wilhelm V., zeigte persönlich viel Verständnis für die Bibliothek und förderte nach Kräften ihr Wachstum. Wieder
stossen bedeutende Einzelsammlungen ihr zu: es wurde vom Herzog die Biblio thek des Augsburger Ratsherrn Johann Heinrich Hörwart, die besonders an musikalischen Werken reich war, käuflich erworben, ebenso jene des Augsburger
Domherrn Johann Georg von Werdenstein, eine umfangreiche. Sammlung von auserlesenen Stücken. Zur Ordnung, Katalogisierung und Verwaltung der herzoglichen Bibliothek waren von Anfang an Bibliothekare angestellt worden. Schon als Prinz und in noch erhöhtem Maße als Herzog und Kurfürst
wendete Maximilian I. dem Wachstum und Gedeihen der Hosbibliothek die größte Aufmerksamkeit zu, wie er denn in alle Zweige der Staatsverwaltung persönlich den genauesten Einblick hatte. Wie gut er die Bibliothek kannte, zeigt die Tatsache, daß er anzukaufende Werke oft selbst bezeichnete und daß
er häufig im einzelnen bestimmte, welche Werke den in seinem Auftrag literarisch tätigen Gelehrten aus der Hosbibliothek zugestellt werden sollten. Eine allge meine Instruktion für die Verwaltung der Bibliothek stattete er mit eigen händigen, sachverständigen Randbemerkungen aus. Um eine Übersicht der in den Klosterbibliotheken seines Landes vorhandenen Handschristenschätze zu ge
winnen verordnete er, daß aus allen Klöstern Verzeichnisse der dort vorhan denen Handschriften an ihn eingeliefert würden.
Diese Verzeichnisse sind in
der Bibliothek heute noch vorhanden und bilden wertvolle literargeschichtliche
Hilfsmittel.
Von den Katalogen der Hofbibliothek wurde jener über die grie
chischen Handschriften 1602 sogar im Druck veröffentlicht.
Die Bibliothek war
unterdes aus den Räumen der Neuen Feste in den Alten Hof übertragen worden. Trotz der Kriegslasten des Dreißigjährigen Krieges wurden namhafte Summen aus ihre Vermehrung verwendet. Als nach der Erstürmung Heidelbergs durch die ligistische Armee 1622 Tilly die berühmte dortige Bibliothek, die Palatina, als Kriegsbeute für Maxi-
niilian wegführen lassen konnte, hätte letzterer Gelegenheit gehabt sie mit seiner Hofbibliothek zu vereinigen. Allein Gründe, die uns zum Teil unbekannt sind,
veranlaßten ihn zu der bekannten, in Deutschland viel beklagten Schenkung der Palatina an den Vatikan in Rom.
Bald aber geriet seine eigene Biblio
thek in die höchste Gefahr. Als die Schweden 1632 siegreich in Bayern ein drangen, mußten auf Maximilians Befehl die wichtigsten Schätze der Bibliothek in Fässer verpackt und in die Feste Burghausen gebracht werden. Am 17. Mai 1632
32. Die K. Hos- und Staatsbibliothek in München.
167
hielt König Gustav Adolf von Schweden seinen Einzug in München.
Die
Bürgerschaft hatte gegen eine hohe Summe Sicherheit des Eigentums sich er kauft, welche auch gut gehalten wurde. Aber dennoch fanden u. a. in der
kurfürstlichen Kunstkammer und Bibliothek Plünderungen und Beschädigungen statt, über deren Umfang jedoch die Berichte zu verschieden lauten, als daß
bisher eine sichere Feststellung möglich gewesen wäre. Als zwei Jahre später, nach der Schlacht bei Nördlingen, Tübingen mit der in dem dortigen Schlosse
gesammelten Bibliothek in die Hände der Liga fiel, nahm Maximilian diese Bibliothek für sich in Anspruch und ließ sie nach München überführen, um dadurch die durch die Schweden in seinen Bibliothekbeständen erlittenen Ver luste auszugleichen, „die Scharte auszuwetzen", wie er schrieb.
Bei jener Ge
legenheit kam insbesondere eine prächtige Wittenberger Bibel mit den von Lukas
Cranach d. I. gemalten Bildnissen des Kurfürsten August von Sachsen, Luthers
und Melanchthons nach München. Dank der Maximilianischen Instruktion für die Verwaltung der Bibliothek
nahm letztere in der Folgezeit unter Maximilians Nachfolgern, von meist tüch tigen Bibliothekaren geleitet, eine stetige gute Entwicklung, wenn auch in Kriegs zeiten oft manches Förderliche unterbleiben mußte. Wichtig für die Sammlung der einheimischen Literatur war die 1663 erlassene Verordnung des Kurfürsten Ferdinand Maria, daß von allen im Lande gedruckten Büchern ein Pflichtexemplar
unentgeltlich an die kurfürstliche Bibliothek eingeschickt werden müsse, ein Gesetz,
welches mit gewissen Erweiterungen heute noch gilt. Unter den Bibliothekaren
des 18. Jahrhunderts ragt Andreas Felix von Oefele hervor, der sich durch die
Geschichtsquellen (Rerum boicarum scriptores) einen berühmten Namen gemacht hat.
Erforschung und Herausgabe der vaterländischen
Reichen, außerordentlichen Zuwachs erfuhr die Bibliothek unter Kurfürst Karl Theodor, der auch ihre Übertragung in bessere Räume, nach dem Akademiegebäude, vornehmen ließ.
Karl Theodor hatte als pfälzischer Kur
fürst seine kurfürstliche Bibliothek zu Mannheim aus persönlichem, regem Interesse für literarische Schätze besonders an Handschriften namhaft vermehrt. Gelehrte waren für ihn in Italien und Frankreich zwecks Erwerbung wert
voller Bücher tätig.
Für die Münchener Hofbibliothek wurde unter ihm die
berühmte Bibliothek des italienischen Philologen Petrus Victorius, eines der
größten Gelehrten seiner Zeit, angekauft.
sie in die bayerische Hauptstadt.
Zum Verdrusse der Römer wanderte
Für die Mannheimer Hofbibliothck war 1766
u. a. die Handschriftensammlung des Freiherrn von Redinghoven worden,
eine wichtige Fundgrube für
erworben
die Geschichte von Westfalen, Jülich,
Kleve, Berg und den Rhein landen. 1769 folgte die Erwerbung der großartigen handschriftlichen Sammlung der vier Gelehrten Camerarius, einer unerschöpf
lichen Quelle zur politischen und literarischen Geschichte des 16. und 17. Jahr hunderts.
Alle jene Mannheimer Schätze wurden bald nach Karl Theodors
Tode nach München übertragen und der Hofbibliothek einverleibt.
33. Der Trifels.
168
Die große Säkularisation brachte auch den Übergang der Klosterbibliotheken
an den Staat mit sich und die Handschriften» und Bücherschätze der in den altbayerischen Gebieten gelegenen Klöster wanderten in die kurfürstliche Hof bibliothek. Mag man über die Säkularisierung denken, wie man will, sicher ist, daß durch die Zentralisierung der alten Bücherschätze des Landes der Wissenschaft ein unschätzbarer Gewinn erwuchs und die Münchener Bibliothek
damit zu der ersten Bibliothek Deutschlands wurde.
Und wie um die Zentra
lisierung zu rechtfertigen machten in der Folge die gelehrten Bibliothekare der
Hofbibliothek bei der Ordnung der neu zugeströmten Bestände eine wichtige literarische Entdeckung um die andere. Unsterblich glänzt in der Geschichte der Bibliothek der Name des Bibliothekars Johann Andreas Schweller.
Die
Kataloge, die er über die gewaltigen Handschriftenbestände mit staunenswerter Gelehrsamkeit und unerreichtem Fleiß angelegt hat, verkünden wie die gelehrten
Werke, die er herausgab, seinen Ruhm.
Auf sein Bayerisches Wörterbuch darf
das Gesamtvaterland stolz sein. Längst reichten für die Massenbestände der Büchersammlung die alten
Räume nicht mehr aus.
Da erstand auf König Ludwigs I. Geheiß, von
Meister Friedrich Gärtner in florentinischem Stil entworfen, in den Jahren 1834—1842 der prächtige Palast in der Ludwigstraße, der heute die K. Hosund Staatsbibliothek birgt. Ein herrliches Stiegenhaus führt zu den Räumen der Bibliothek, welche sich heute noch rühmen darf die reichste und erste Deutsch lands zu sein und welche ihrem alten Inhalt nach immer die erste bleiben wird, auch wenn die eine oder andere moderne Bibliothek mit reicheren Geld mitteln sie an Bändezahl überholen sollte. Sie ist und bleibt eine wahrhaft
königliche Bibliothek.
Und in der Gegenwart sucht die Bibliotbeca regia
emsig mitzugehen im allgemeinen Fortschritt, und im elektrischen Licht erglänzen an den Winterabenden die Räume, in denen Hunderte Wissensbelehrung suchen und in denen gar manches für Jahrhunderte wichtige Werk Fortgang und
Förderung fand und findet.
33. Der Trifels. Don August Becker.')
Vor uns liegt wie Dom Himmel gefallen der Trifels in seiner ruinösen
Herrlichkeit auf drei hintereinander liegenden, dunkel bewaldeten Fels pyramiden, zu seinen Füßen eine tiefe Talschlucht, in der sich das Dörflei»
Bindersbach versteckt und weiter hinaus ein von der Sonne und dem Sand stein rot gefärbtes Stück des Annweiler Tales mit den Häusern des Städt chens Annweiler.
Die Bergmasse des Rehberges, hinter ihm der Asenstein
und drüben der Adlersberg fassen das prachtvolle Bild ein, so recht ein „histo
risches Landschaftsbild" sondergleichen. ') „Die Pfalz und die Pfälzer," S. 513 ff.
Obgleich wir den Trifels schon Leipzig 1858, I. I. Weber.
33. Der Trifels.
169
mehrmals aus der Ferne gesehen, ist doch der Eindruck seiner großartigen Erscheinung an dieser Stelle ein überwältigender, welcher von den historischen
Erinnerungen, die sich an die alte Kaiscrburg knüpfen, nur noch geheiligt und gehoben wird. Hochberühmt war er von alters her und schon Rudolf von Ems, ein Zeitgenosse der letzten hohenstaufischen Kaiser, singt in seiner Welt
chronik: „Och sollt ir vil wol wissen daz, Da zwischent Strasburg, als ich las, Ust Spire lit brüte berc, Als uns seit der warheit werc; Davon er drioels ist genant, In allen landen wol bekant."
Der Trifels ist die Perle in der Krone von all den Burgen des Mittel alters, welche Deutschlands und Europas Berge krönen.
Die Wartburg nicht
ausgenommen hat kein anderes Bcrgschloß diese große Geschichte; es ist ja die Geschichte des Deutschen Reiches selber, der untergegangenen Größe und Macht unseres Volkes, das wenig mehr von seiner einstigen Herrlichkeit hat wie der Trifels, der in Trümmern liegt.
Doch es sind gewaltige Trümmer
und Ehrfurcht erweckend noch in ihrem Fall und aus dem Schutt erhebt sich die Poesie unb der Geist der alten Zeit und wir lullen uns ein in die Träume von der großen Vergangenheit und von der schönen Zukunft, die kommen
wird, wenn der alte Barbarossa im unterirdischen Gewölbe der Burg erwacht aus seinem langen Zauberschlas. Dann wird sein Volk wieder einig und stark
werden vor den Völkern der Erde und das Reich wird mächtig sein wie da mals, da der Kaiser hier aus seiner Lieblingsburg wohnte und Europa sich vor ihm beugte. des Erwachens?
Aber wann wird das sein? Wann kommt die rechte Stunde
Lage, Geschichte und Sage vereinigen sich um für den Trifels das Interesse zu erregen, das er vor allen anderen Burgen der Pfalz für sich in
Anspruch nimmt.
Kühn streben diese Bergkegel aus dem Tale der Queich
empor, der schönste Buchenwald umfaßt ihre Hänge und die Spitzen krönen die gewaltigen Türme und festen Mauern auf noch gewaltigeren Fclsenlagcrn. Die uns zunächstliegende der drei Burgen heißt im Volksmunde „die Münz'",
in den Chroniken jedoch Scharfenberg. Ein schöner Waldweg führt an dem Abhange des Berges, von welchem
der hohe Turm der „Münze" finster heruntcrblickt, und weiter an dem zweiten Burgberg hin, der die noch mehr zerfallene Mittelburg Anebos trägt; ihre Trümmer bieten noch mehr ein Bild des Zerfalles und wilder Verwüstung. Rur hohe Felsengrate ragen aus dem Walde über den wilden Bergrücken; die Spuren einer Ringmauer sowie die in einen breiten Felsspalt eingehauene Treppe, welche in ein tiefes Gewölbe führte, lohnen nicht der Mühe des Er
steigens.
33. Der Trifels.
170
Wir haben jetzt den Kegel, auf welchem die Haupt bürg, dereigent-
liche Trifels, thront, erreicht; eine Talschlucht trennt ihn von den beiden andern Bergspitzen und alle drei ruhen auf der gewaltigen Masse des Sonnen berges oder des Haags, wie der dreifältige Berg auch genannt wird. Ein freier, geebneter Rasenplatz breitet sich hier in beschränkter Runde aus, der Tanzplatz. Über ihm steigt ein ungeheurer, überhängender Felsen empor,
der sich düster über den Buchenwald neigt und uns jetzt die ganze Burg mit ihren Türmen verdeckt. Schon dieser Anblick macht einen gewaltigen Eindruck
und wir staunen über die große Vergangenheit, welche auf diesen Fels hinauf ihre Paläste gebaut. Der Weg fängt an zu steigen und windet sich rund um den Berg durch
den tiefsten Schatten des Buchenwaldes. Endlich stehen wir vor Quader mauern, zur Rechten ein hoher, massiver Brunnenturm, von dem ein kühn gesprengter Bogen sich zu gegenüberstehendcn Mauern wölbt. Unter diesem Bogen hindurch gelangen wir zur Burgtreppe, die uns zum Hauptturm und
auf den Burghof führt, der die ganze obere Fläche des mächtig sich senkenden Felsens cinnimmt. Dieser freie Platz scheint wie eine Scheibe in der Luft zu schweben, und wenn wir an den Rand hintreten, erfaßt uns Schauder und Schwindel.
Wir blicken über die Felsenplatte hinunter, tief unten rauscht und
flüstert es in den Wipfeln der hohen Buchen und dort am südöstlichen Rande gegen die beiden Nebenburgen hin klafft ein fürchterlicher Riß.
Der Fernblick ist schön und weit.
Die starre, abenteuerliche Felsenwelt
der Pfälzischen Schweiz, dazwischen die Dörfer des Gossersweiler Tales, das
Annweiler Tal, das sich vor unserem Auge ins Innere des alten Vogesus zieht, tief unten das Städtchen selbst, der Blick in die tiefe Waldespracht der inneren Haqxdt, aus welcher die grauen Mauern von Ramberg, Scharfeneck
und Meisterseele schauen, und dann über Anebos und Scharfenberg hinaus durch die Schluchten des Hohenbergs und Rotenbergs und die Öffnung des Queichtales einige herrliche Perspektiven auf die Ebene — dies Rundgemälde
hat so wechselnde und mannigfaltige Reize, daß schon ihretwegen der Trifels sich den sehenswertesten Burgen anreiht.
Jedoch nun vollends die Treppe hinauf nach dem schönen Hauptturm, der heute noch eine Höhe von 50 Fuß erreicht und zum Schutze vor zer
störendem Wetter wieder überdacht ist. Die Festigkeit des Turmes, seine schönen
Formen im romanischen Stil, die Durchführung der Altanfenster und Pforten, des Sockels und der Gesimse, sowie die Gewölbe im Innern selber geben dem Turme Interesse für den Kunstfreund. Aus dem unteren Saale führen zwei verschiedene Treppen in die Burgkapellc hinauf, deren Kreuzgewölbe und Nischen zu den schönsten Überresten der romanischen Baukunst gehören. Hier wurden
die Insignien des Reiches verwahrt, deren Besitz das Anrecht des ersten Thrones der Christenheit gewährte: Krone, Szepter, Reichsapfel, Mantel, Gürtel, goldner Rock, das dalmatische Kleid Karls des Großen, die mit Edelsteinen geschmückten
33. Der Trifels.
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goldenen Handschuhe, das Schwert des großen Karl, die Albe von weißem Samt, die heilige Lanze und Dornenkrone des Herrn und andere Kleinodien
und Reliquien mehr, welche einige hier wohnende Mönche des nahen Klosters Eußertal alljährlich dem zuströmenden Volke zeigten. Hier war auch die Schatzkammer der Kaiser, wo der energische Heinrich VI. die sizilianische Erb schaft nach Tankreds Tode niederlegte. Über der Burgkapelle befand sich der prachtvolle Marmorsaal, den
der alte Barbarossa erbauen ließ und bewohnte.
Er ist im Verlaufe der
Zeiten eingestürzt und die von den späteren Herzogen von Zweibrücken aus dem Schutt genommenen Marmorplatten und Säulen wurden teils nach Annweiler teils weiter verschleppt. — Daneben befindet sich der tiefe, feste Brunnen
turm am Burgtor.
Sonst ist wenig mehr übrig als das hinter dem Turme sich in die Felsen senkende Burgverlies, in welches man durch viereckige Öffnungen von oben hinunterschaut. Es erhält sein Licht einzig von oben durch die vier mit Quadern ausgemauerten Löcher — ein schauerlicher Auf enthalt. Mehr als dieses Kerkers bedarf es auch nicht um die Geschichte dieser Kaiserburg in ihrem vollen Glanze vor uns erstehen und die Poesie der alten
Zeit sich über sie breiten zu sehen. Kaiser und Könige haben hier in ihrer Herrlichkeit gethront, Kaiser und Könige ihr Elend beweint und im finstern Kerker geschmachtet. Der alte Heinrich IV. saß auf der festen Burg seiner Väter, als der Bannfluch auf
ihm lastete, die Fürsten des Reiches von ihm abfielen und der eigene Sohn gegen ihn sich erhob.
Niemand war ihm treu geblieben, niemand erbarmte
sich des greisen Herrschers als die Felsen und Mauern des Trifels, welche ihn vor der Wut seiner Feinde schützten, — denn sie war „eine sehr starke
Feste", sagt schon der alte sächsische Chronist. — Adalbert von Saar brücken, Erzbischof von Mainz, büßte hier den Verrat gegen Kaiser und Reich. Auch der Markgraf von der Lausitz, WiPracht von Groitz, der tapfere Waffengefährte des auftührerischen Pfalzgrafen von Orlamünde fühlte hier Kaiser Heinrichs V. Zorn.
Besonders aber bevölkerte des alten Rotbarts Sohn, der energische Hein rich VI., die Verliese des Trifels. König Richard Löwenherz von England wurde von Leopold von Österreich (wegen Beschimpfung seiner Flagge auf den
Wällen von Ptolemais) auf der Heimreise vom Kreuzzuge gefangen genommen und nach Dürrenstein an der Donau gebracht. Doch „nur ein Kaiser darf
einen König gefangen halten", fangenen
auf den Trifels.
sprach Heinrich VI.
und
führte
den Ge
Zehn Monate lang saß hier der löwenherzige
Held, fern seiner Liebe und seinem Volke. Vor eine Reichsversammlung gebracht verteidigte er sich gegen die Beschuldigungen seiner Feinde in einer
Weise, welche einen tiefen Eindruck auf den Kaiser machte, der ihn umarmte, aber — dennoch nur gegen 150000 Mark Silber und gegen Stellung von 60 Geiseln losließ. — Manche Sage weiß noch heute im Volksmunde von
33. Der Trifels.
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dieser Gefangenschaft des Löwenherz zu erzählen.
Einst klang durch des Turmes
Mauern Harfenklang und ein Lied, das nur ihm und dem treuen Blondcl, seinem Sänger, bekannt sein konnte. draußen rief es:
Er sang dazu die zweite Strophe und
„O Richard, o mein König!" Es war Blondel selbst, der
an allen Burgen nach seinem geliebten Herrn gespäht und nun mit 50 Ge
fährten den Trifels gestürmt haben soll. Das Lösegeld Richards
auf Sizilien durchzusetzen.
setzte
Heinrich
zog der Kaiser am 9. Mai 1194 hier ein
beraten.
VI. instand
seine
Ansprüche
Mit 24 Fürsten, Grafen und Edeln seines Reiches um den Angriff aus Italien zu
Konstanzens Erbe ward gewonnen, fürchterliches Strafgericht über
die sizilianischen Großen gehalten, viele derselben wurden auf den Trifels
geschleppt, darunter der kühne Seeheld Margaritone und Graf Richard selbst,
der Kaiserin eigener Vetter, nachdem beide vorher geblendet worden waren. Der Ausspruch des englischen Chronisten, „daß keiner diesen Kerkern mehr ent
ronnen, der einmal hinabgestiegen", rechtfertigte sich jetzt nur zu sehr unter der Regierung eines Herrschers, dessen Leichnam noch nach fünfhundert Jahren
den finstern Ernst und Trotz zeigte, der sich in seinem Leben so gewaltsam aussprach. Unter Philipp von Schwaben seufzte der Erzbischof Bruno von Köln
in den Kerkern des Trifels und als Friedrich II. das Reich zu altem Glanze zu bringen suchte, ließ er seinen Sohn Heinrich als römischen König auf dem
Trifels zurück, wo er in der Burgkapelle dem Vater die Treue schwor, da dieser in den Kampf gegen die Ungläubigen zog.
Doch der irregeleitete Jüng
ling vergaß der Treue, empörte sich, und als der erzürnte Vater in seine Staaten zurückeilte, floh der Sohn auf den Trifels, der jedoch dem Kaiser die Tore öffnete.
Im Gefängnis büßte der Sohn seine Untreue, bis er starb.
Des Kaisers jüngerer Sohn empfing die Feste, deren Besitz über das Schicksal der Krone und des Reiches entschied.
So war sie stets die Lieblingsburg und die Hauptstütze des großen hohenstaufischen Herrscherhauses gewesen und
der romantische Dust, sderj um die
Heldengestalten dieses Geschlechts sich breitet, weht um die einsamen Mauern
und die verfallenen Türme des Trifels mehr als um alle anderen Burgen
Europas. Alle die lieber- und sangesreichen, alle die heldenmütigen, unglücklichen
Stammgenossen dieses Geschlechtes wandeln vor dem träumenden Blicke durch die hohen, zerfallenen Hallen; und er vor allen, der so gerne hier weilte, des
großen Rotbarts großer Enkel, der schöne Sohn der holden Konstanzia, Fried rich der Zweite, der über sein Jahrhundert cmporragt, einsam wie der
Trifels über den dunkeln Wald— strahlend und übergossen von dem ganzen Zauberlichte der Poesie seiner Zeit und in dem Glanze der Geschichte Deutsch
lands, Italiens, Europas — prangend gleich
der Sonne selber.
Aber diese
Sonne an dem hohenstaufischen Sternenhimmel ging unter hinter Firenzuolas
173
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
Mauern, in den welschen Apenninen und der letzte Stern sank blutigen Glanzes auf dem Markte Neapels; — einsam trauerten Deutschland und des Reiches Feste wie die verlassene Braut.
Wilhelm von Holland „erreichte jetzt das Ziel aller seiner Wünsche, den Trifels samt seinen Heiligtümern", wie er hocherfreut seinem Kanzler, dem Bischof von Speyer, schreibt. Im Triumphe zog er ein, seine Gemahlin sollte nochkommen, wurde aber von dem Rietberger samt ihrem Gefolge aufgehoben.
„Die Besitznahme von Trivellis ist eine der ersten Maßnahmen, welche ein römischer Kaiser zu ergreifen hat," schreibt der Papst an Richard von Korn wallis nach dessen Wahl.
Und dies nahm sich der Engländer zur Lehre.
So blieb der Trifels die erste Feste des Reiches und seit Kaiser Hein
richs V. Tod wurden hier die Reichsinsignien nach dessen noch auf dem Toten bette gemachten Verordnungen verwahrt, bis sie Rudolf von Habsburg
nach Kyburg in der Schweiz brachte.
Jedoch Adolf von Nassau brachte sie
wieder hierher. Ludwig der Bayer pflanzte die Rcichsfahne hier auf, aber er verpfändete die Burg samt dem freien Reichsstädtchcn Annweiler an das pfälzische Haus, wodurch beide zuletzt an die Herzoge von Zweibrücken
kamen. Da erblich die Herrlichkeit des Trifels mit der Herrlichkeit des Reiches, als die Fürsten des Reiches sich über die Würde des Kaisers erhoben — die Bauern konnten bereits die alte Kaiserburg plündern — einsam stand der Trifels und gebeugt unter die Gewalt kleiner Herrscher. Da traf ihn der Himmel noch mit seinem Blitzstrahl, wodurch der größte Teil der Burg ab
brannte.
Notdürftig ausgebessert sah die einst so herrliche Burg,
welche
Kaiser und Könige beherbergt hatte, arme flüchtige Landlcute im Dreißigjährigen Kriege in ihren Mauern und wilde Horden aus Spanien, Schweden und
Ungarn, bis die Pest alle ihre Einwohner vollends vertrieb.
Als die Fran
zosen im Reunionskriege auf den Trifels kamen, fanden sie nichts als Ruinen. So ruht nun der Trifels auf seinen gewaltigen Felsen in Schutt und Trümmern, immer noch ein großer, wenn auch trauernder Zeuge einer großen Vergangenheit.
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund. Don Karl Trautmann.*
Wenn einer um das Jahr 1600 nach dem damals noch so weltverlorenen Schleißheim seine Schritte lenkte, um etwa bei einer der traulichen, in Waldes
dümmer versteckten Klausen seine Andacht zu verrichten oder Herz und Auge an all dem Gottessegen zu erlaben, der da draußen, auf Feld und Flur, so
reich sich erschloß,
so konnte er wohl einem ernsten, mildblickenden, alten
Herrn begegnen, der, geistlich gekleidet wie ein Kanonikus, in stille Betrachtung versunken, einsam seines Weges ging. Es war Herzog Wilhelm V., zubenannt der Fromme.
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34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund. Aber nicht mehr der herrschgewaltige Landesfürst von Bayern; es war der
stille Mann, welcher, dem übermächtigen Zuge seiner melancholischen Natur folgend, Abschied genommen hatte von irdischer Macht und Grütze um allein
seinem Seelenheile zu leben und den Werken christlicher Barmherzigkeit.
Ja, er
war nun wirklich zum Klausner geworden in den träumerischen Einsiedeleien mit ihren Quellen und schilfumsäumten Wassern, die er in der Einsamkeit um Schlotz
Schleitzheim sich hatte bauen lassen.
Hier fand seine milde, beschauliche Natur
die Welt, wo ihm so recht glücklich und zufrieden ums Herz war und die er selbst in München in
seiner späteren Residenz — der heutigen Maxburg — Gar anschaulich berichten uns Augenzeugen von
nicht hatte missen wollen.
der Wildnis, die er hier in seinem Garten sich angelegt, wie da alles mit ein
gehauenen Zellen, mit Tannen und wilden Bäumen besetzt sei, wie ein Wässer
lein aus dem Felsen herausquille, das ein Büchlein und Weiherlein mache, darinnen schöne Forellen schwimmen und alles „gar finster, melancholisch, an dächtig, ja forchtsam" aussehe, etwa so, wie in den „gemählen und kupferstuckhen" die Pattes und Eremiten abkonterfeit sind.
Und in der Tat waren die damals in Kupferstichen über die ganze katho lische Welt verbreiteten Szenen aus dem Einsiedlerleben,
welche der nieder
ländische Maler Martin de Vos geschaffen, das Vorbild für Wilhelms Anlagen,
jene liebtrauten Blätter,
die
in Altbayern als Wandschmuck
nicht nur
im
Schlosse zu Schleitzheim und in der Münchener Residenz sondern allüberall in den Bürgerhäusern
wertgehalten
wurden
und die uns die frommen Männer
zeigen, wie sie in Höhlen Hausen oder in einer Klause unter weitschattenden Lindenbäumen, in inbrünstiges Beten versunken, ein heiliges Buch lesend und
ihren hinfälligen Körper kasteiend, Hinwider auch mit emsiger Arbeit in Feld und Garten beschäftigt oder arbeitsmüde, sinnenden Auges hinausblickend in weite,
friedselige Landschaften.
Und
dazu
treten
die
unzerttennlichen
Ge
fährten des Einsiedlers, nickende Blumen und die Geschöpfe des Waldes. Das schlanke Reh, das durch das Dickicht bricht, die emsig schaffenden Bienen, die
im Wasser spielende Forelle, die Vögelein, die in ttaulicher Gemeinschaft bem stillen Manne von alters her zugetan sind und an deren liebevoll beobachtetes Treiben er seine frommen Bettachtungen knüpft über des Schöpfers Allmacht, Güte und Weisheit auf Erden und die er weiterspinnt in wundersam eindrucks
reichen Gleichnissen. Es
ist
eine stumme,
beschauliche Welt voll unendlichen Friedens,
voll
holdseliger Poesie und tiefsten inneren Glücksgefühles, die aus diesen Blättern zu uns spricht — es ist die Welt, die Herzog Wilhelm V. sich geschaffen nach
seiner Thronentsagung
um in frommer Betrachtung nur Gott zu leben und
seiner innern Läuterung. So wie ich es in leichten Strichen angedeutet, lebt sein Bild noch heute in der Erinnerung fort.
Sonst weiß man wenig mehr von ihm zu erzählen.
Höchstens noch, daß er die Münchener Michaelskirche erbaut mit dem Jesuiten-
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
175
kollegium daneben und das alte Schloß in Schleißheim, das durch die Nach barschaft seines glänzenden Rivalen aus der Barockzeit für die große Menge ganz in den Schatten gestellt wird, trotz seiner gewinnenden, liebenswürdigen Schlichtheit.
Und liebenswürdig und herzgewinnend tritt uns bei näherer Betrachtung auch sein Erbauer, Herzog Wilhelm, entgegen, als Mensch nicht minder wie
als Freund und Förderer der Kunst, die ihm von Jugend auf eine treue Lebensgefährtin geworden und eine hoheitsvolle Trösterin in den schweren Stunden innerer Kämpfe, die auch ihm, dem Fürsten, nicht erspart geblieben
sind.
Der warmfühlende Mensch, der feinsinnige Kunstfreund, der Großes ge
wollt, geplant und, wie die gewaltige Kirche von St. Michael beweist,
auch
ausgeführt hat; der Sammler und Kenner, der seinerzeit weithin berühmt ge
wesen in deutschen Landen, hat die Vergessenheit nicht verdient, die ihm ge worden. Es war ein Verhängnis für ihn, daß seine von 1579—1597 währende, Politisch wenig ergebnisreiche und in finanzieller Beziehung für Bayern sogar tieftraurige Regierungszeit zwischen zwei der glänzendsten uni), was nicht ver
gessen werden darf, bereits eingehender durchforschten Perioden Wittelsbacher Kunstpflege füllt. Ihm voran geht sein Vater, Herzog Albrecht V., für dessen
Wirken es genügt an Orlando di Lasso, an Hans Müelich und seine Minia turen, die Goldschmiedearbeiten der Reichen Kapelle
und der Schatzkammer
zu erinnern und an die für Schloß Dachau gefertigte Holzdecke im Stiegen hause unseres Bayerischen Nationalmuseums.
Und was Wilhelms großer Sohn
und Nachfolger, Kurfürst Maximilian I., für die Kunstpflege bedeutet, davon erzählen uns in München die Residenz und ihre meisterhafte Innenausstattung,
die Mariensäule, das Erzdenkmal Kaiser Ludwigs in der Frauenkirche und all die Werke, die uns die Nennung nur der Namen Peter Candid, Angermayr und Hans Krumpper ins Gedächtnis ruft und die im Geiste zurückversetzen in jene trotz der schweren Drangsale des beginnenden Dreißigjährigen Krieges für unser Altbayern so unvergleichlichen Tage, wo die Kunst mit ihrem Zauber
selbst den unscheinbarsten Gegenstand des täglichen Gebrauches adelte.
Aber
gerade die Erinnerung an diese schöne Zeit darf uns nicht vergessen lassen, daß Herzog Wilhelm V. es gewesen, der durch seine stille, unermüdete Anteil nahme für die Kunst jene Keime legte, die unter seinem Sohne zu so herrlicher
Ernte heranreifen sollten. Und nicht zum letzten aus diesem Grunde soll berichtet werden, tvie der Fürst zum Freund und Förderer der Künste geworden und wie er als solcher dachte und handelte.
Schönere Tage hat München wohl kaum mehr gesehen wie damals, als
im Februar 1568 Kronprinz Wilhelm Hochzeit hielt mit Renata von Lothringen. Mit seinen wechselreichen Ringelrennen, Schlittenfahrten, Turnieren, mit den heiteren Komödien und feierlichen Tänzen, in deren Ausstattung alle Künste sich vereinigt hatten um Bilder von geradezu märchenhafter Farbenpracht zu
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34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
schaffen und damit die freudige Stimmung der Teilnehmer aufs höchste zu
steigern war es ein Fest geworden, das noch lange die Einbildungskraft des Volkes, auch außerhalb Bayerns, beschäftigte und das sogar in der Sage von
Doktor Faust fortlebt, die den Erzzauberer auf seinem Mantel eigens nach München fliegen läßt um diese Herrlichkeiten anzusehen.
Es war die glänzende
Ouvertüre zu des Fürsten Lebensgange. Mit seiner Vermählung war Wilhelm selbständig geworden
und der
neunzehnjährige Thronfolger erhielt nunmehr seine eigene, vom Vater unabhängige Hofhaltung. Albrecht V. hatte dem jungen Paare Landshut als Residenz an gewiesen, den ehemaligen Herrschersitz der reichen Herzoge von Niederbayern
und seines Großoheims Herzog Ludwig, eine Stadt, wie sie reizvoller kaum gefunden werden konnte im Bayerland. Georg Huffnagel, ein gewerbekundiger Kaufmann aus Antwerpen, der die kampfdurchwühlten Niederlande verlassen und sich „vnder den schütz vnnd schirm deß friedsamen Fürsten Hertzog Albrechten in Beyern gegeben, bey welchem er dann der Kunst Menig oder Zinnober zu machen fridlich obliget", hat uns aus eben dieser Zeit eine begeisterte Schil derung deS damaligen Landshut hinterlassen.
Gar lieblich und lustsam dünkt
ihm Ort und Gau, „welcher von der natur und mutter aller dinge reichlich begabt ist". Er rühmt die Fruchtbarkeit des Bodens, die wogenden Getreide felder, die grünen, lustigen Wiesen und Weideplätze, die „mancherley baumfrücht
vnd vberanß köstlichen Wein, welcher zugleich Got vnd die Menschen erquicken soll" und meint schließlich, „daß dise gegend billich mit den allerlüstigsten vnnd
fruchtbarsten in gantz Europa kan verglichen werden". Man sieht, dem vielgereisten Manne ist es ordentlich wohl geworden beim Anblick dieser friedlichen Natur und ihres reichen Erntesegens.
Und wie an
mutig ist nicht die Stadt selbst, die „von schönen, lüstigen gebäwen" glänzet, und der wunderliebliche, neue Hofgarten vor der Stadtmauer, welchen Wilhelm
seinem lieben Ehegemahl „durch spitzfündigkeit vnd hülff etlicher Frantzösischer gärtner vor wenig jaren bawen lassen". Huffnagel dessen Reize.
Kein Wunder,
Mit großer Anschaulichkeit rühmt meint er, daß „der durchleuchtigste
Hertzog mit seinem außerwelten gemahel dise stat vornemlich zu seinem Sitz vnnd Hoffhaltung erwehlet, so es doch sonst vil andere stattliche statt in
Beyern hatt".
Bom Hofgarten an der Isar führt uns der Niederländer in seiner Be schreibung hinauf nach der alten Burg Trausnitz, die Kronprinz Wilhelm, der ihm „ein außbund der tugent zu vnserer zeit" dünkt, „welcher sich kurtzweiliger vnd außländischer ding höchlich annimpt" und „darzu ein sonderlich freygebiger
Patton vnnd liebhaber aller sinnreicher leut ist", zu einem Fürstensitze der Renaissance umgestalten läßt. Bereits hat er des Schlosses „vornehme Säl vnd Gemach mit wunderschönen Gemähten, auch alten vnd newen Bildern", malen und zieren lassen, „darinn jm dan nicht allein die sehr schöne gelegen» heit vnd natur deß orts sonder auch der grausam sinn- vnd kunstteiche Meister
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
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Fridrich Sustris, ein geborner Holländer, aber auß Welschland dahin kommen,
behülfflich gewesen, welcher auch noch täglich darmit vmgehet, daß er jn mit seiner täglichen arbeit vnd newen fünden ziere, als mit lustigen Bächlein, die
allenthalben dardurch rauschen, mit lieblichem fliegen und gesang mancherley Gevögels, mit Nymphen oder Junckfrawen Bildern, Gemähten, Kräuterfeldern vnd dergleichen dingen mehr, die zur ergetzlichkeit vnnd Wollust dienlich sind, also, daß beyde, der durchleuchtigste Fürst vnd auch der sinnreiche Meister,
lvelcher wol wehrt ist, daß er vmb einen solchen Fürsten vnnd Patronen sey, höchlich zu loben und zu preisen". Aus diesen Worten Huffnagels erhellt unzweideutig, daß nicht Herzog
Albrecht V., sondern Kronprinz Wilhelm während seines Landshuter Auf enthaltes von 1568—1579 es gewesen ist,
der die alte Trausnitz baulich
und gärtnerisch zu dem gemacht hat, was sie trotz ihres bedauernswerten Verfalles noch heute geblieben ist — ein Schatzkästlein der Renaissance, ein
Heim, wo Natur und Kunst, wo der Zauber der Erinnerung an vergangene Zeiten des altbayerisch gemuteten Besuchers Sinne gar wundersam gefangen nehmen. Von
diesem sonnigen,
gestaltiges Hofleben ab.
kunsterfülltcn Hintergründe hebt sich ein viel
Der Hofstaat ist, wie Herzogin Renata es von ihrer
Heimat Lothringen her gewohnt war, auf großem Fuße eingerichtet.
Außer
den zahlreichen Dienern, Kämmerlingen und Verwaltungsbcamten stehen ita lienische Komödianten und Springer in Diensten, französische Gärtner,
die
herrschenden Moden widerspiegelnd ein deutscher, ein spanischer, ein französischer
Schneider, dazu Mohren, ein Löwenwärter, ein Leopardmeister, Zwerge und viel ander minderes Volk — fürwahr, man glaubt in eines der farbenglühenden Bilder Meister Paolo Veroneses zu schauen.
Vor allem aber hatte der Fürst einen auserlesenen Kreis von Musikern und Sängern um sich versammelt; denn seine frühesten Kunstneigungen galten der Musik und hierin es seinem Vater Albrecht V. gleichzutun bildete seinen ersten Ehrgeiz. Kronprinz Wilhelm selbst war musikalisch hochgebildet. Er spielte die Laute, Zither, Lyra und andere Instrumente und war, wie berichtet wird, ein guter Sänger. Sein Berater in allen musikalischen Fragen ist seines Vaters Kapellmeister Orlando di Lasso, mit dem ihn bald und zeitlebens herzliche
Freundschaft verband.
Gast auf der Trausnitz.
Orlando ist ein häufiger und stets freudig begrüßter Und die zahlreichen, von mehr oder minder gepfeffer
ten Witzen übersprudelnden Briefe, die der Meister an den Kronprinzen richtet,
bleiben ein wertvolles Denkmal dieses Bundes, schon deshalb, weil sie uns lehren, daß der vertraute, niemals den Gebieter zeigende und Vertrauen er weckende persönliche Verkehr mit seinen Künstlern — und nicht allein mit den großen unter ihnen — ein Hauptzug ist in dem liebenswürdigen Bilde Herzog Wilhelms als Kunstfreund. KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-.
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34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
Auch sonst herrschte, der mit Renata eingeführten
Hofsitte entsprechend,
freieren französischen
das heiterste Treiben auf der Trausnitz.
Der junge
Kronprinz war in jenen Jahren wirklich jugendfroh mit den Jungen, ein Mensch mit fröhlichem Sinne und Herzen, den man seiner späteren Entwicklung nach gar nicht in ihm vermuten sollte, und durchaus kein Spielverderber. Fest ließ
er auf Fest folgen.
Da gab es Turniere, Ringelrennen, Kübelstechen; Ball
spiele wechselten mit sog. Bauernhochzeiten, jenen lustigen Mummereien, welche später unter Kurfürst Ferdinand Maria eine Ausgestaltung fanden, die sie geradezu zu einer Spezialität des bayerischen Hofes machten. Zur Winterszeit, wenn die Flocken recht dicht herabwirbelten, wurden umfangreiche Schneeschlösser auf
geführt und von den hohen Herrschaften im Sturm genommen,
woran die
jungen Hofdamen gar wacker sich beteiligten, gehüllt in „Turckisch Klaider vnnd lannge reckh". Hatte man im Freien genug getummelt, so zog man sich zurück in die behaglichen Gemächer zu Musik und Gesang.
Auch hier fehlt es nicht
an Abwechslung. Bald läßt ein „Allgeyerischer Pfeiffer" sich hören oder ein ungarischer Dudelsackblaser, der aus Preßburg berufen worden, bald schenkt
man „zwayen geigern vnnd der leirerin" seine Aufmerksamkeit, der regelmäßigen Vorträge der Hofvirtuosen nicht zu gedenken. Auch am städtischen Theater
leben nimmt man teil und besucht jedesmal die Handwerkerspiele und die all jährlich stattftndenden Komödien des Stadtpoeten und der Pfarrschüler von
St. Martin und St. Jodok. Daß die bildenden Künste zur Verschönerung dieser Feste beigezogen wurden, war selbstverständlich und lag ja im Geiste und in den Gepflogen heiten der färben- und formenfteudigen Renaissance. Aber noch fehlte die achtunggebietende Persönlichkeit von universeller künstlerischer Begabung, die all
dem Zweck und Richtung geben und die mehr als nette Spielereien zu bettachten den Ansätze ausbauen sollte zu einer wirklichen Kunstpflege mit bedeutungs
vollen Zielen und nachhaltigen Ergebnissen. Diese Persönlichkeit erschien in Friedrich Sustris. Es war ein denkwürdiger Tag in Wilhelms Leben, als er im Jahre 1573
zum ersten Male dem Künstler ins Auge blickte und in ihm alsbald den rich tigen Mann erkannte, dem er seine künstlerische Erziehung anvertrauen durste. Denn mochten auch seine Hofkavaliere und die in überschwenglichen Lobes erhebungen sich ergehenden Jtaliani seiner Umgebung
Fürstert bereits als unvergleichlichen,
den zwanzigjährigen als unfehlbaren Mäcen und Kunstkenner
preisen, so hat Wilhelm in seinem bescheidenerr Sinne wohl niemals sich ver hehlt, wie sehr er eines gereisten und ehrlichen künstlerischen Beirates bedürfe um seine noch tastende Schaffenssteudigkeit auf diesem Gebiete in ersprießliche
Bahnen zu lenken.
Und daß dem wirklich so gewesen, beweist nichts schlagen
der als das unbedingte, niemals erschütterte Vertrauen, das Susttis trotz aller
Wandlungen in den Lebensanschauungen seines Gebieters über ein Vierteljahr hundert, bis zu seinem Tode um Pfingsten 1599, genoß und das Georg
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
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Huffnagels schönes Wort wahr gemacht hat, daß der sinnreiche Meister gewiß lich wert gewesen um einen „solchen Fürsten vnnd Patronen" zu weilen. Sustris lohnte seinem Gönner diese Hingabe. Alles, was Herzog Wilhelm Bedeutendes geschaffen, hat dieser Künstler erdacht und ausgeführt, zum letzten nicht die drei Marksteine in des Fürsten Wirken als Bauherr — die Traus nitz, die Michaelskirche und den Grottenhof der Münchener Residenz. Als Maler war Friedrich Sustris im Jahre 1573 nach Landshut ge
kommen. Etwa 30 Jahre alt und angeblich zu Amsterdam ge boren gehört er zu jener großen Schar italienisch gebildeter Nieder länder, die damals — es sei nur
an Giovanni da Bologna, Adriaen de Vries, Peter Candid erinnert — ansingen bedeutsam im Kunstleben Europas neben den reinen Italie
nern hervorzutreten. Zumeist sind es tüchtige Arbeitskräfte von soli dem Können und reicher, freilich
nicht allzu origineller Phantasie, die rasch und ungezwungen
in
das künstlerische Milieu sich ein leben, wohin ihre unstäte Wander
fahrt sie trägt.
So auch Sustris, der in Italien seine Ausbildung sich ge holt, in Florenz unter Basari und später in Venedig gearbeitet hatte. Als Maler in seinen figürlichen
Bildern nicht eben bedeutend ist er
dagegen der geborene Dekorateur und von einer geradezu erstaunlichen Vielseitigkeit, nach dieser Richtung ein
echtes Kind der italienischen Renaissance. Mit spielender Hand zeichnet er Kostüme für den Hofstaat oder für Schauspiele und Festzüge, er fertigt Entwürfe für
Goldschmiede und Plattner, vor allem aber läßt er sich schon damals als Architekt verwenden
und entwickelt sich an dieser Tätigkeit zu dem, was er
später amtlich geworden ist, zu einem geradezu idealen Generaldirektor der
bildenden Künste am bayerischen Hofe, mit dem unvergleichlichen und nicht
allzuhäufigen Talente, die richtigen Leute an richtiger Stelle zu verwenden. Dazu war ihm jene rücksichtslos durchgreifende Energie zu eigen, die für solch
einen Posten unumgänglich notwendig ist und die gerade nicht zu den Eigen schaften seines gütigen Gönners Herzog Wilhelm gehörte.
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
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Freilich fehlte es ihm nicht an Gegnenr und Neidern und jener Zug von Bitterkeit um Mund und Augen, den sein in der Bamberger Galerie befind liches Bildnis zeigt, berichtet genugsam von den Anfeindungen, die er hierzulande
erlitten, wo man ihn von feiten des Hofbauamtes als Baudilettanten behandelte,
als welschen Eindringling und Windbeutel, von dem Augenblicke an, da er Kronprinz Wilhelms Gunst sich errungen. Und da er als echter Künstler weder auf Geld
noch Arbeitszeit Rücksicht nahm, wenn ihn etwas künstlerisch
nicht befriedigte, ließ man nicht ab seine Entlassung zu beantragen. Glücklicherweise stets ohne den geringsten Erfolg, so daß er von dem unentwegten, mächtigen Schutze seines Gönners getragen zunächst auf der
Trausnitz seine reiche Begabung verwerten konnte. Kronprinz Wilhelm hatte mit Vorbedacht die landschaftlich so entzückend über der Stadt Landshut gelegene Burg zum ständigen Aufenthalte gewählt und nicht die von Häusern eingeengte Residenz, die sein Großoheim Herzog
Ludwig erst 30 Jahre vorher als italienischen Palazzo an der Hauptstraße errichtet.
Denn er war ein leidenschaftlicher Freund der Natur und ihres
stillen Webens und seine Wohnsitze mit blühenden Gärten zu schmücken war ihm kaum eine mindere Lust als das Bauen selbst. Und man schätzt Wilhelms V.
Schöpfungen als Kunstwerke nur unvollkommen ein, indem man diese bisher allerdings fast unbekannte Betätigung seiner Kunstpflege außer acht läßt.
Und wie nun Sustris die Aufgabe löst, die Trausnitz gärtnerisch mit ihrer Naturumgebung in Verbindung zu setzen, ist interessant und charakteristisch und kann am besten deutlich gemacht werden durch den Vergleich mit den
gärtnerischen Anlagen eines anderen, gleichfalls wittelsbachischen Fürstenschlosses, das in seiner landschaftlichen Lage eine oftmals schon hervorgehobene Ähnlichkeit mit der Trausnitz besitzt.
Ich meine das Heidelberger Schloß, wo Kurfürst
Friedrich V. seit 1615 durch den französischen Ingenieur Salomon de Caus einen großen Prachtgarten anlegen ließ. Durch ausgedehnte Felssprengungen,
dann durch Aufführen von Mauern
bis zu 80 Fuß Höhe, die gegen den
Erddruck durch Reihen von Pfeilern und Bogen gesichert sind, wird neben dem Schlosse und mitten im Bergeshange jene gewaltige Terrasse geschaffen, deren
Fläche den Gartenkünsten der Renaissance zum Schauplatz dient. Ganz anders verfährt Sustris in Landshut.
Nicht nur baulich, auch
landschaftlich wahrt er den Charakter der alten Burg. Aber wo zwischen den Ringmauern und Türmen ein freies Plätzchen ist, legt er ein Blumenparterre
an, einen Laubengang, ein Lusthaus, einen architektonisch und malerisch aus gestatteten Pavillon für Singvögel oder seltene Tiere und umgibt so, ohne daß es vom Fuße des Berges aus störend auffällt, die ganze Burg mit einem Kranze reizender Gärtchen.
Besonders gepriesen von diesen Schöpfungen,
die alle im Geiste der
italienischen Renaissance regelmäßig angelegt und reich mit Statuen, Gemälden,
Wandbrunnen, Fontänen und Vexierwassern ausgestattet sich zeigten, war der
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
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sogenannte Uraniagarten auf der nach München schauenden Südseite der Burg,
zwischen dem massigen Wittelsbacherturm und dem zu einem Sommerhause mit Belvedere und wahrscheinlich auch astrologischem Observatorium umgestalteten,
Inneres der Michaelskirche in München.
gegen die Stadt hinabblickenden Wasscrturme. Hier war nicht allein die Anlage sondern auch die Vegetation eine ganz südliche. Weinreben rankten an
den Wänden empor und bedeckten die Laubengänge, zu deren Wartung ein
eigener „Weinzierl" angestellt war, die Schloßrechnungen sprechen von „Pomerantzen, Feigen und Lorperpaum", die im Sommer dort zur Aufstellung kamen, ebenso von einem „Wappen" aus Steinchen, das in einem der Parterres
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34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
gelegt lvurde.
Auch ein Labyrinth findet sich in der „Urania" oder, wie der
Volksmund sie nannte, die „Urüni".
Den Bergrücken mit seinen Bäumen läßt der Meister unangetastet.
Er
umfriedet ihn zum sogenannten „Haag", zu einem von Wegen durchschnittenen Naturparke, wo sich 400 zahme Hirsche und Rehe tummeln, und bringt drinnen
die einzelnen Tiergehege unter, welche zu Wilhelms Zeiten eine Sehenswürdigkeit der Trausnitz bildeten, den Kinigl- oder Kaninchengarten, die drei Fasangärten, den Fuchsgarten, Hasengarten, Straußengarten, das Schwanenhaus. Ja, was ließe sich nicht alles von diesen Tierankäufen und
den
Bemühungen des Kronprinzen ihretwegen berichten! Einmal werden in Genua ein paar lebendige Schildkröten „zimelich groß, Ettliche Henne vnnd hen, zwen papegey", ein grauer und ein grüner gekauft,
außerdem für 5 Kronen ein
Affe, Geflügel aus Algier, „Allerley seltzsame Mörvisch".
Ein andermal läßt
Wilhelm ebendort Nachfrage halten nach „allerley seltzsamen vnnd Turggischen Dingen", dann gibt es wieder Anschaffung von babylonischen Hennen oder es wird ein Bär gebracht, ein Löwe, ein Leopard. Anno 1576 erfolgt die Übersendung eines auserlesenen.Papageies und vorsorglicherweise macht der Agent darauf aufmerksam, daß er „In der erst nit gleich wirt anfahen zu
reden, Aber so balt er anfacht, so schwetzt er vil". Über seinen zoologischen Garten, denn das ist es doch gewiß, läßt sich der Herzog, wenn er abwesend ist, von seinem Burgpfleger genau Bericht
erstatten und erfährt dabei einmal, daß Seiner Fürstlichen Gnaden „Thier vnnd gefigl alles frisch vnnd gesundt ist",
ausgenommen die weiße Elster,
„die hatt vrlaub genomen". Was für Erfolge die Kaninchenzucht erziele und wie viele Kaninchen man schon erzogen, fragt Wilhelm an und der Pfleger erwidert alsbald, daß er
„die kuniglen, so heraust im garten sint, nit erzelen, derhalben auch wievil derselben sindt nit wiessen kunne".
Dieser Tiergarten, über 60 Tagwerke groß, breitete sich längs des ganzen Höhenrückens aus. Und wo int Norden der Stadt die duftige Waldesfrische des Buchenhages, gegen die Isar hin sich senkend, ein Ende nimmt und freundliche Wiesengründe sich erstrecken in der Nähe des rasch dahinfließenden,
angenehme Kühlung spendenden Gebirgswassers, erst dort beginnt wieder die
Herrschaft der Kunst und wird der neue Hofgarten angelegt oder, wie er in
den Rechnungen
heißt, der „Neue Lust- vnnd Jhrrgarten".
Es war dies
eine Lösung der gestellten Aufgabe, wie sie gerade im Gegensatze zu Heidelberg,
wo alter Waldbestand
geopfert werden mußte,
um eine große Fläche zu
gewinnen, nicht feinsinniger und glücklicher gedacht werden kann. Huffnagel, der wohl oftmals dort gewandert, weiß das Werk nicht genug zu rühmen, „darin selzame außlendische flücht von köstlichen büwmen, frembde
trauter vnnd gewechß, Blumen auß Welschland, Hispanien und Franckrich herzubracht, mit kleinen feldlein, Irrgarten vnd kamerladen zusehen, die alle
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
183
voll mancherley Humen vnd frucht stehen vnnd wunder künstlich gemacht sind",
dessen „zeun von mancherley kleinen bäumlein oder gestreuchen gemacht, durch einander gezeunt, mit villerley art Humen, wie ein seltzam gewürckter Teppich
gesprenckelt vnnd darneben mit roten äpfflein, als Küttenäpfflen, Wespeln vnd andern außlendischen flüchten mehr beladen", das sogar „hin vnnd wider mit bildern vnnd gemahlen geziert ist" und dessen „vngläubich große tust, zierd
vnd schönheit, ja auch Nutzbarkeit" derart sei, „daß alles vngläubtich scheinet,
was man davon sagt".
Der Grottenhof in der Münchener Residenz
Und heute ? Alle diese Blumenpracht ist spurlos verschwunden und an ihrer Stelle erhebt sich der trostlos nüchterne Kaserncnbau der Schweren Reiter. Auch die Trausnitz ist verödet. Die Gärten sind nicht mehr mit ihren schimmernden Marmorbildern und den plätschernden Brunnen. Verlassen und jedes Schmuckes bar schaut die Urania hernieder und
selbst die lateinische
Inschrift ist erloschen, die über der Pforte verkündete, daß hier der Eingang sei in Wilhelms Gartenlust, den Hain der heiteren, leichtbeschwingten Musen, in fein herzbezwingendes,
leuchtendes Elysium.
Und wenn wir,
etwa wenn
der Abend leise hereinbricht über die unermeßliche Ebene, aus der weithin die Wasser der Isar aufleuchten unter den Strahlen der sinkenden Sonne, dort
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
184
oben die Spuren des Fürsten und seines Meisters aufsuchen, die so oft geweilt
an dieser einst so kunsterfüllten Stätte,
so finden wir nur eines noch, was
geblieben ist, herzerfreuend und erhebend wie vordem, der Blick in das wunder
volle, lachende Altbayernland.
dem,
Was also auf der Trausnitz sich erhielt, ist nur ein kleiner Teil von was Sustris geschaffen. Dazu gehört außer dem im Jahre 1575
begonnenen sogenannten Italienischen Anbau —
einem .dem Schlosse nach
Süden vorgelegten Eckpavillon von vier Fensterbreiten — die architektonische Umgestaltung des alten Burghofes mit der hübschen Frcitteppe und den Arkadengängen, welche unter des Meisters Leitung seit 1579 ins Leben traten,
als die Veränderungen und die dekorative Ausstattung der Repräsentations-
räume und Zimmer des ersten Obergeschosses bereits im Fortschreiten waren. Diese dekorative Ausstattung nun, besonders die entzückenden Grotesken,
gehören wohl zu dem Köstlichsten,
was die Renaissance in Altbayern hinter
lassen. Die Entwürfe hierzu rühren von Sustris her; die Ausführung, wie er selbst berichtet, lag in den Händen seines Schwagers Alessandro Paduano
und des Antonio Ponzano, des Meisters der berühmten Badezimmer im Fuggerhause zu Augsburg, der gleichzeitig mit Carlo Pellago die Stukkaturen besorgte.
Auch der biedere Altbayer Hans Thonauer findet Beschäftigung, wie cs überhaupt nicht zu Sustris' Gepflogenheiten gehörte die Einheimischen zurückzusetzen. den
Im Gegenteil spornt er sie an im Wettbewerb mit den in
neuen Techniken
der
Stuckierung
und Groteskenmalerei
erfahreneren
Italienern und Niederländern ihr Bestes zu geben. Wie später Cuvillies an den Reichen Zimmern der Residenz und der Amalienburg, erzieht Sustris eine
tüchtige Schule einheimischer Meister, und was München hierin ihm zu danken hat, sagt allein schon der Name Hans Krumpper. Als blutjunges Weilheimer Büblein, aus einer dort alteingesessenen, vom
Vater auf den Sohn für den bayerischen Hof arbeitenden Bildschnitzerfamilie stammend, war Krumpper nach München gekommen, wo der gütige Herzog Wilhelm sich seiner annimmt und ihn das „Maler- und Bosirer-Handwerk" lernen läßt. So wächst er allgemach hinein in das großzügige Kunstleben jener Tage.
Er ist beim Grottenhofbau dabei und bei der Michaelskirche
und Sustris, dessen scharfer Blick in dem frischen Gesellen einen jener Aus erwählten erkannt hat, von denen er meint, daß es
fördert ihn in jeglicher Weise.
„gute Leute" werden,
So durfte er 1590 nach Italien ziehen.
Und
als er zurückkehrt, gerecht in aller Arbeit als Maler, Bildhauer und Architekt und seine Begabung immer bedeutsamer sich enttoickelt, da gab's eines Tages ein frohes Fest in Sustris' Hause
an der Herzogspitalgaffe, das wohl die
ruhmreichen Namen alle, die Münchens Kunst damals ihr eigen nannte, an einer Tafel vereinigte: es war das Hochzeitsfest von Meister Friedrichs Tochter Katharina mit Hans Krumpper von Weilheim.
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
185
Und als Sustris nach schwerem körperlichen Leiden und vielen Bitter
nissen in seiner Familie im Jahre 1599 die Augen schloß, da sorgte Wilhelm V.
nicht nur großmütig für die letzten Lebenstage der Witwe, er trat gleichsam auch das künstlerische Vermächtnis des Verstorbenen an und nahm dessen Schwiegersohn in seine persönlichen Dienste. Und des Fürsten Privatarchitekt und Kunstintendant ist Hans Krumpper bis zum Jahre 1609 geblieben, um als Baumeister der Münchener Residenz an
dann bei Herzog Maximilian
erste Stelle zu rücken. Diese treue Anhänglichkeit an jene, die ihm redlich und mit bestem Können gedient, ist der schönste Zug im Bilde Herzog Wilhelms als Kunst freund und
mit das Geheimnis
seines Erfolges.
Wen er einmal ins Herz
geschlossen hatte, an dem hielt er fest und kein noch so scharfer Widerstand seiner Beamten machte ihn mehr wankend in seiner Überzeugung. Seine
Künstler konnten sich auf ihn verlassen wie er auf sie. Auf diesem gegenseitigen Vertrauen beruhte das selten harmonische Zusammenarbeiten dieses Kreises, der in den gleichen künstlerischen Anschau ungen herangewachsen war und dessen geistigen Mittelpunkt eben das Sustris-
haus bildete, wo in herzlicher Freundschaft ebenso Peter Candid verkehrte
wie dessen scharfer Konkurrent bei den Malereien der Michaelskirche und des
Grottenhofes,
der welsche Pittore Antonio Maria Vianino,
der Sustris'
zweite Tochter Livia heimführte und im Jahre 1592 von München aus als oberster Baumeister nach Mantua an den Hof der Gonzaga berufen wurde. Doch auch Wilhelms V. weniger gute Eigenschaften in seiner Kunstpflege dürfen nicht verschwiegen werden. Vor allem, daß er kein Rechner war. Denn unähnlich hierin einem anderen Wittelsbacher, unserem zielbewußten und
sparsamen Könige Ludwig I., der mit Stolz von sich rühmen durste, daß er
nie einen Bau in Angriff genommen ohne für die Zahlung des letzten Steines Sorge getragen zu haben, unähnlich auch seinem eigenen Sohne Kurfürst Maximilian,
der sein Wollen
nur auf das nach
den verfügbaren Mitteln
El-reichbare beschränkt, das Begonnene aber mit unbeugsamer Energie zu Ende führt, schrittweise und wohlbedacht, spielt bei Herzog Wilhelm die Kostenfrage überhaupt keine Rolle. Und noch ein weiterer, für einen Kunstsammler wie für einen Bauherrn höchst bedenklicher Nachteil war ihm eigen: cs fehlte
seinem Beginnen an Planmäßigkeit und Stetigkeit.
Ein Projekt jagte das
andere und nur selten kam etwas zu glücklichem Abschlüsse.
Eine glänzende Ausnahme, wenngleich der Turm nicht vollendet ist, bildet nur die Münchener Michaelskirche mit dem anstoßenden Jesuiten kollegium, doch dürfte das Verdienst hieran zu nicht geringem Teile der Gesellschaft Jesu zufallen.
Und in allem, was er tat und plante, lag bei Wilhelms beschaulicher und grüblerischer Natur stets die Gefahr nahe, daß sein anfangs über schäumender Eifer im Kleinen und Kleinlichen zerflatterte.
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
186
So beschleicht ihn bei Anlage des Gartens der Maxburg in München gar verführerisch der Gedanke, wie erfreulich und nutzbringend es wäre hier
eine Weintraubenkultur anzulegen und echten „Münchener" zu keltern. Was könnte man nicht an Geld ersparen, das jetzt für teuren Wein ins Ausland
gehe. Und so läßt er „mit großen Unkosten" Weinreben „aus Vngern, Oesterreich vnd vom Rhein, Neckhar, Tauber, auß Italia, Frankhreich vnd andern orten" kommen und setzt sie zusammen, „damits ein Heurath abgeben",
und alsbald reiften, sorglich gehegt, die Trauben heran.
Von den 50 Eimern,
die er im Jahre 1610 von diesem Gewächse erzielte, hatte er dem Augsburger Patrizier Philipp Hainhofer bei seinem Besuche in München „zur nachtmalzeit zwo große Flaschen" geschickt, „einen rotten, den Sie Rappes nennen vnd ein schiller, der so schön imm glaß, als wanns ein Carfunkel were", und dieser trank ihn wirklich und gab sein Urteil dahin ab, daß er „kein schönern wein
nie gesehen habe, vnd ist nit nur schön, sondern auch guet darneben". Ein andermal soll er für seine Schwester, die Erzherzogin Maria in
Graz, die Mutter des späteren Kaisers Ferdinand II., ein „Jesukind" kleiden, ihr für die Karwoche ein „heiliges Grab" zusammenstellen, weil er das ja so
meisterhaft
besorgen.
verstehe,
einen
Hinwider
blauen Kachelofen
für
ihr
„Stübl"
fällt seinen ihn vergötternden Neffen und
Oder der alte Herr
Nichtlein in die Hände, die nicht eher Ruhe geben, bis er ihnen einen „Wurz garten" für ihr „Kripperl" einrichtet, und wie hätte er, der große Freund und Förderer dieses liebenswürdigen, besonders in München gepflegten Kunst
zweiges, solch herziger Bitte aus Kindermund widerstehen können? Alle diese Kleinigkeiten wurden von ihm mit gleicher Hingabe wie seine großen Bauten überdacht und ausgeführt, weil ihm eben jede menschliche Fertigkeit als eine Gottesgabe galt, die sorgsam gehegt und gefördert werden müsse.
Im Jahre 1579
starb
Herzog Albrecht
und
Wilhelm
siedelte
als
Herrscher nach München über, wohin Sustris ihm alsbald nachfolgte. Ich habe vielleicht zu lange bei der Kronprinzenzeit Wilhelms V. verweilt. Aber ich tat es mit Absicht, weil mir vor allem daran liegt an der Hand bisher unverwerteten Materials einen Einblick
zu gewähren
nicht
in
die
künstlerische Detailarbeit jener Tage, sondern vornehmlich in die Ideen und
Stimmungen,
aus denen heraus
der Fürst zum Freund und Förderer der
Die 10 Jahre seines Landshuter Wirkens sind auch für den jugendlichen Fürsten die „Epoche seiner Entwickelung" gewesen, jene Zeit
Künste heranreifte.
spanne im Leben, von der einst der greise Goethe meinte, als er Rückschau hielt auf Erstrebtes und Erlebtes, daß eigentlich sie „die bedeutendste Epoche eines Individuums" bilde; was später noch folge, sei „der Konflikt mit der Welt" und „dieser hat nur insofern Interesse, als etwas dabei herauskommt". Was Herzog Wilhelm nunmehr anbahnt in seiner Kunstpflege als
Landesfürst,
also
von 1579
bis zu seiner freiwilligen Thronentsagung
im
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern alL Kunstfreund.
Jahre 1597,
187
und weiter bis zum Abschlüsse seines Lebens in Schleißheim
draußen am 7. Februar 1626, ist die unbeengte Verwertung des Errungenen. In Friedrich Sustris hatte er den hochbegabten, verlässigen und treuen Mitarbeiter zur Durchführung seiner künstlerischen Absichten gewonnen und in den
trüben
Erfahrungen mit den
Beamten Herzog Albrechts, die allen
Plänen des Meisters hemmend und voll Hochmut entgegengetreten waren, die felsenfeste Überzeugung, daß er diese Absichten nach seinem Sinne nur ver wirklichen könne durch einen entschiedenen Bruch mit der bisherigen Bau
bureaukratie des Herzogtums. Nun, da er alleiniger Herr geworden im Bayern lande, sollte auch sein Sustris als wirklicher Künstler schaffen dürfen, frei und
unbeeinflußt. Es erfolgt die Einrichtung eines eigenen Bauamtes, das seine Weisungen unmittelbar und ausschließlich vom Fürsten erhält und an dessen Spitze
Sustris tritt.
Zu seinem Geschäftskreise gehören
lediglich die Bauten, die
der persönlichen Initiative Wilhelms ihre Entstehung verdanken und sozusagen seine Privatunternehmungen sind. Zunächst der „Neue Garttenpaw im Jägergäßl", dessen Überreste den Grottenhof der Residenz umfassen und wo die
Arbeiten bereits im Juli 1581 ihren Anfang nehmen und die Michaelskirche, deren Grundstein der Herzog in feierlicher Weise am 18. April 1583 legt. Das bisherige sogenannte Hofbauamt, dem seit dem Jahre 1587 der aus Augsburg berufene Wendel Dietrich vorsteht, ist hiermit aus dem Kunstbetriebe Herzog
Wilhelms ausgeschaltct. Es bleibt wie bisher der Hofkammer als oberster Baubehörde unterstellt und erledigt die Obliegenheiten des heutigen Land- und Flußbauamtes.
Wenn Wendel Dietrich also am Bau der Münchener Michaelskirche teilnimmt, so tut er es, modern gesprochen, lediglich als der den technischen und administrativen Teil der Bauführung leitende und überwachende Ministerialkommissür. In künstlerischen Fragen lag die Entscheidung bei Sustris.
Um aber auch nach außen hin über die Stellung der beiden Meister
zueinander jeden Zweifel unmöglich zu machen erließ Wilhelm V. unterm 26. Juli 1587, also genau beim Eintritt Dietrichs in bayerische Dienste, ein Dekret, in welchem er ausdrücklich erklärte, daß Sustris „wie bisher, Rechter vund Obrister Paumaister haißen, auch sein vnnd bleiben solle", daß er alle „Intentionen,
vnnd angeben"
disegna vnnd außthailung machen und
„Jme
alle
Maler,
vnnd
Scolptori
alle ding beuelchen
vnnd
Handwerchsleut
gehorsamb sein vnd Jr Jeder sein Arbeit, nach seinem beuelch, angeben vnd haissen" zu verrichten und zu machen habe. Wendel Dietrich ist also zu ganz unverdientem Ansehen gelangt, als man in ihm den langgesuchten Meister der Michaelskirche gesunden zu haben glaubte. Diese Ehre gebührt Friedrich Sustris. Jetzt heben sonnige Tage an für die Münchener Kunst, eine blütenschwere
Zeit beginnt, durch deren freudiges Planen und Schaffen es hindurchzieht wie
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
188
ein Frühlingshauch.
Und daß es in langem gemeinsamen Überlegen aus
gereifte Baugedanken waren, keine Augenblicksschöpfungen, die nunmehr zur Tat werden, beweisen eben die beiden Werke, in welchen die Kunstpflege Wilhelms V. ihren Höhepunkt und ihren vollendetsten Ausdruck findet.
Als Verwirklichung
seines
hochsinnigen Wahlspruches
»Servire Deo
regnare est«, als monumentales Bekenntnis des unbeugsamen Feschaltens als Landesfürst an dem altererbten Väterglauben entsteht die Ordenskirche von St. Michael.
Es lebt eine himmelanstrebende Großzügigkeit in diesem Baue,
die ihn als Raumschöpfung
hoch hinaushebt
über alles,
was damals in
Deutschland ins Leben trat, etwas unendlich Ernstes und Feierliches, das un
willkürlich das Wort zum Flüstertöne dämpft, wenn der Blick die in pracht
vollem Schwünge sich wölbende Halle umfaßt. Nichts kühl Vornehmes, nichts verstandesmäßig Berechnetes. Es ist der Geist tiefsten inneren Empfindens
und Erfassens des Göttlichen, der hier zu uns spricht, der Geist, aus dem heraus Orlando di Lasso seine in mächtig fortreißenden Rhythmen einher rauschenden Tonwerke gedichtet. Und neben diesen Hymnus an den Erlöser tritt einschmeichelnd
und
graziös wie eine italienische Canzonetta das lauschige Idyll des Grottenhofes,
jenes stille, kunstgeweihte Plätzchen voll Blumenduft und Brunnengeplätscher, das Wilhelm inmitten der weitläufigen Hofburg sich eingerichtet und wo er einsam träumen konnte oder in trauter Zwiesprach sich ergehen mit seinen Künstlern und Getreuen. Gewiß nichts erzählt uns eindringlicher von Sustris'
hoher Meisterschaft, als daß es ihm baulich gelungen ist, zwei so ganz ver schieden gearteten Stimmungen gleichzeitig und in gleich vollendeter Weise
gerecht zu werden. Und ehe ich abschließe, will ich noch von einem Unternehmen berichten, das während der letzten Regierungsjahre Wilhelms V. bedeutsam in den Vordergrund tritt und dessen Geschichte getreulich die Wandlung widerspiegelt
im Seelenleben des Fürsten. Das 16. Jahrhundert mit seinem gesteigerten Ruhmbedürfnis ist an fast allen Höfen Europas das Zeitalter der Errichtung der großen Familien grabdenkmale.
Was in Italien die Päpste und die Mediceer gewollt,
uns allein schon der Name Michelangelo.
sagt
In Saint-Denis, der ehrwürdigen
Begräbnisstätte der Könige Frankreichs, planen die Valois eine gewaltige Rundkirche, im Eskorial läßt Philipp II. von Spanien durch Leone und Pompeo Leoni für sich und seinen Vater Karl V. ein kostbares Bronzedenk mal schaffen, die Habsburger fördern das Innsbrucker Werk ihres Kaisers
Maximilian
und selbst kleinere Herren bleiben nicht zurück, wie das Beispiel
des Grafen Ernst von Schaumburg-Holstein beweist, der die Ausführung seines Grabmonumentes in Stadthagen dem gewandten Niederländer Adriaen de Vries, dem Meister des Augsburger Merkur- und Herkulesbrunnens, an
vertraute.
34. Herzog Wilhelm V. von Bayern als Kunstfreund.
189
Da müßte es seltsam zugegangen sein, wenn von unseren Wittelsbachern nicht Ähnliches zu berichten wäre.
Vielleicht gleichzeitig mit der durch den Turmeinsturz veranlaßten Er weiterung des Chores der Michaelskirche im Jahre 1590 faßt Herzog Wil helm den Gedanken, zunächst für sich und seine Gemahlin Renata dortselbst
ein Grabmonument ins Werk zu setzen. Im Laufe der Planungen scheint die Idee dann ins Großartige gesteigert worden zu sein, zu einem Gcsamtdenkmale der Häuser Wittelsbach und Lothringen, das mit der Menge seiner erz gegossenen Statuen das Monument Kaiser Maximilians in der Franziskaner kirche zu Innsbruck an Umfang weit übertroffen hätte.
Die Entwürfe dazu, die natürlich von Sustris stammten und deren Aus erster Linie dem Meister des Augsburger Augustusbrunnens
führung in
Hubert Gerhard anvertraut war, sind leider verloren gegangen, aber noch
erhaltene Aktenstücke und Rechnungen setzen
uns
in
den Stand
die Idee
wenigstens in ihren Hauptzügen festzulcgen. Den Mittelpunkt des Monumentes, den wir uns etwa so zu denken haben wie den Hauptbau des Kaisermausoleums in der Münchener Frauen kirche, bildet ein hochragendes, gegen den Hauptaltar schauendes Kruzifix. Zu beiden Seiten in zwei knienden Gruppen Herzog Wilhelm mit seinen Söhnen und die Töchter mit Renata von Lothringen an der Spitze, ein Motiv, dessen feierliche Würde die Betergruppen des Familiengrabes im Eskorial ahnen
lassen, die an hoheitsvoller Würde kaum ihresgleichen finden dürften. Im Unterbau sind vier Bronzereliefs eingelassen, an den Langseiten die Erweckung des Lazarus und der Tochter des Jairus, an den Schmalseiten
Christi Auferstehung und die Vision des Propheten Ezechiel.
Um das Mauso
leum reihen sich in drei Ordnungen die Fürsten des Hauses Wittelsbach, ob als
Statuen oder nur in Wappenreihen, läßt sich mit Sicherheit nicht bestimmen. An den Ecken knien, wie in der Frauenkirche, vier Standarten haltende Wächter.
Das ganze Monument ist von Schranken umschlossen, auf denen 16 Vor fahren der Herzogin Renata stehen. Ihre Reihenfolge wird in den Mitten der Langseiten durch zwei überhöhte Postamente unterbrochen, welche die
Statuen Albrechts V. und des Herzogs Franz von Lothringen, Renatas Vater, tragen.
Zwei weitere Figuren befinden sich außerhalb der Schranken, der
Stammvater des Geschlechts, Otto von Wittelsbach, und ein dem Langhaus der Kirche zugewendeter Engel mit dem Weihbrunnbecken. Als Ganzes ist das Werk niemals ins Leben getreten und wir haben damit den Verlust eines Kunstwerkes zu beklagen, in dem Sustris gewiß sein
reifstes Können niedergelegt hatte.
Besonders wenn wir auf die Bruchstücke
blicken, die bei Wilhelms Thronentsagung im Jahre 1597 bereits fertig gestellt
waren und die überallhin zerstreut heute noch erhalten sind.
Vor allem der
herrliche, meist fälschlich als Cäcilia angesprochene Weihbrunnengel im Quer schiffe der Michaelskirche, wo an den Wänden die allerdings weniger gelungenen
35. Augsburger Studien.
190
Bronzereliefs zu sehen sind, wahrscheinlich auch die Bronzekandelaber am Chor aufgange und die schildhaltenden Löwen vor den Portalen der Residenz und sicher die vier „Wachter", die in der Frauenkirche Verwendung fanden am
Denkmale Kaiser Ludwigs des Bayern, mit welchem wohl bescheidener aber nicht minder kunstvoll der Sohn zur Tat machte, was der Vater mit seinem Mausoleum des Hauses Wittelsbach erstrebt.
Wilhelms V. eigenes Grabdenkmal ist das große Kruzifix geworden, dessen Fuß in tiefstem Weh die Gestalt der Magdalena umklammert. Und von all dem Totenprunk, der für die majestätischen Hallen von Sankt Michael geplant war, ist schließlich nur die Gestalt des Erlösers übrig geblieben, in ihrer er
greifenden Schlichtheit die wahrste Verkörperung des Fürsten, der den Leitstern seines Erdenwallens in den Worten gefunden hatte: „Auf dich, o Herr, hab ich
gehofft mein Leben lang und mein Vertrauen wird nicht zu Schanden werden."
35. Augsburger Studien. Don Wilhelm Heinrich Riehl.')
Vier Flüsse lassen die alten Augsburger am Augustusbrunnen zu den Füßen des Imperators lagern, der ihre Stadt gegründet. Wer nicht orts kundig ist, der muß eine genaue Spezialkarte zur Hand nehmen um diese
vier Flüsse aufzufinden; er entdeckt dann als dritten und vierten Fluß neben Lech und Wertach die Singold und den Brunnenbach und lächelt darüber. Dieses Lächeln ist aber voreilig. Denn die beiden Bäche repräsentieren nicht bloß ihren eigenen Wasserfaden sondern je einen ganzen Strang von kleinen
Parallelbächen, ein Netz von Quellen, wodurch die Lech- und Wertachauen mit
zahllosen nassen Gräben durchschnitten, die Stadt Augsburg nach außen ver teidigt, nach innen mit dem reichsten Schatze nutzbaren Wassers versehen wird. Keine in der Ebene gelegene deutsche Stadt ist so reich wie Augsburg an trefflichen Brunnen und Quellen und dieser Reichtum hängt mit dem wunderlichen Wassersystem von Singold und Brunnenbach eng zusammen. In den letztvergangenen Jahrhunderten war es der besondere Stolz des Augs burger Bürgers, daß seine Stadt vor allen Städten des Reiches die größte
Fülle von Brunnen besitze und daß in fast jedes reichere Haus fortwährend
reines Wasser zuströme.
Noch jetzt gehören die vielen Prunkhaften,
oft mit
schönen kleinen Metallfiguren geschmückten Brunnen im Innern der Höfe zu den anziehendsten häuslichen Altertümern der Stadt, wie an den großen drei *) „Kulturstudien aus drei Jahrhunderten", S. 26t ff. Stuttgart 1873', Cotta. — Seit Niederlegung der alten Festungswerke haben sich neue, schöne Stadtteile im Westen und Süden Augsburgs entwickelt, im Osten und Norden sind beträchtliche Fabriken erstanden; aber trotzdem und obschon auch das einst so farbenfrohe Straßenbilderbuch stark abgeblaßt, manches von W. RiehlS geistreichen Ausführungen, vor nunmehr 50 Jahren nieder geschrieben, heute nicht mehr allgemein giltig ist, dürste dennoch die Ausnahme dieser meisterhaften kulturgeschichtlichen Studie noch ihre Berechtigung haben.
35. Augsburger Studien.
191
Brunnen der Maximiliansstraße die monumentale Plastik ihr Bestes versucht
und geleistet hat und die kunstreichen Wasserwerke und Brunnentürme als
eine rechte Stadtmerkwürdigkeit noch immer den Fremden gezeigt werden.
^ibtius »td Sirrticb uitni’ dem yertodj
^rüiuviu, aiijf
Der Augustusbrunnen in Augsburg von Hubert Gerhard.
Aber nicht bloß Trinkwasser ergoß sich aus jenen Quellen und Bächen nach Augsburg; im Verein mit den Lech- und Wertachkanälen treiben sie ein vielverzweigtes Aderngeflecht des mächtigsten Gefälles durch die Stadt und deren Bann
und
geben
ihr seit Jahrhunderten den Beruf zum Groß
gewerbe. Friedrich List pflegte zu sagen, die Stadt Augsburg allein habe mehr natürliches Wassergefälle als alle englischen Fabrikbezirke zusammen
genommen.
Als vor etlichen Jahren ein unerhörter Wassermangel die Augs-
35. Augsburger Studien.
192
bürget Fabriken belästigte, ward der Schaden trotz der bei den meisten großen
Werken befindlichen Dampfmaschinen sofort auf
enorme Summen berechnet
und die Leute liefen in echt deutscher Art zum Magistrat und schrien nach Wasser wie der Hirsch im Psalter.
Alle, auch die neuesten Augsburger Fabrikanlagen beschränken sich auf
das Mündungsdreieck von Lech, Wertach, Singold und Brunnenbach.
Obgleich
jetzt keine politische Schranke mehr wehren würde, Fabriken auf dem kaum einen Büchsenschuß entfernten altbayerischen Boden anzulegen, blieb man doch auf dem alten Augsburgischen Gebiete, weil es allein der höchsten Gunst des
Wasserlaufes teilhaftig ist.
So sprechen die vier Flußgötter am Augustus-
brunnen in der Tat auch für unsere Zeit eine tiefe Wahrheit aus: die Wahr heit, daß Augsburg die natürlichste und notwendigste Stadt auf weit und breit für alle Epochen sei. Der Lech hat die Eigenart, daß er, kanalisiert, in und vor den Stadt mauern Augsburgs dem fleißigen Gewerbsmann willig seine Dienste bietet; draußen aber im natürlichen Bett als reißender Hochgebirgsstrom unbändig
die Brücken abwirft, die Ufer scheidet und verheert. Den Bauer schädigt er, den Bürger macht er reich; nach außen wehrt er den Zugang zur Stadt, im Innern öffnet er dem Fleiße des Bürgers tausend Wege, ein Wehrstrom nach außen, ein Nährstrom nach innen. Strecke von Landsberg
Man kann sagen, auf der ganzen weiten
bis zur Mündung ist kein Punkt, wo der Lech dem
Menschen freundlich gesinnt wäre, außer bei Augsburg.
natürliches Privilegium der natürlichen und
Dies ist wiederum ein
gewordenen Stadt,
wertvoller
vielleicht als alle die vielen kaiserlichen Privilegien, womit sie in alten Tagen
so reich begnadet wurde.
Darum besaß der Lech für Augsburg niemals eine
Handelsbedeutung, aber oft eine strategische und immer eine gewerbliche. Nicht einmal die ftüher öfters versuchte freie Holztriftung, die sich auf der Isar bis auf diesen Tag erhalten hat, vermochte auf dem Lech zu bestehen. Doch kann man noch immer in einer für Handwerksburschen und Volksnatursorscher recht empfehlenswerten Weise per Lechfloß in 10 bis 14 Tagen von
Augsburg direkt nach Wien fahren. Ein solches kleines Lechfloß ist das einzige Handelsfahrzeug der Augsburger zu Wasser. Um so tiefer mag man den Hut ziehen vor jenen alten Augsburgischen Kaufleuten,
die im 16. Jahrhundert
Schiffe nach Ostindien rüsteten und dieses Geschäft glorreich zu Ende führten mit 175 Prozent Gewinn. Als vor hundert Jahren Macht und Reichtum der Stadt unaufhaltsam
zerrann, schob man diesen Unstern auf die geographische Lage, die eben keine
rechte Handelslage mehr sei. Denn Städte und Völker wie der einzelne suchen die Ursache ihres Mißgeschickes immer lieber außer sich als in sich. Allein die Handelsbedeutung Augsburgs war immer nur hervorgewachsen aus der gewerb lichen. Der Beweis steht auf der Landkarte geschrieben. Auch in den Ge schichtsbüchern.
Erst als das Augsburgische Gewerbe im 14. Jahrhundert
193
35. Augsburger Studien.
aufblüht, kann sich der Platz neben so viele echte Handelsstädte des Rheinischen
Bundes und der Hansa stellen, deren Handelsmacht bis dahin die )einige weit
übertroffen.
Ebenso gewinnt Augsburg nach dem Dreißigjährigen Kriege noch
einmal eine Nachblüte des Reichtums auf Grund seines Gewerbfleißes;
der
In der alten Augsburger Zunftverfassung nehmen zwar die Kaufleute den ersten bloße Handel würde ihm so wenig wie heutzutage dazu verhalfen haben.
Rang ein, die Weber den zweiten; der Natur der Dinge nach hätten aber die Weber voran gehört, wie auch aus ihrer Zunft das mächtigste Kaufmanns
geschlecht der Reichsstadt und das glänzendste im ganzen Reiche hervorgegangen ist. In der geographischen Lage der Stadt ist ausgesprochen, daß Handels macht möglich war, Gewcrbsblüte aber notwendig. Eine Stadt von natürlichem Beruf zu einem großen historischen Namen
muß so gelegen sein, daß man die Position sofort in wenigen Schlagwörtern nach ihrer vollen Originalität charakterisieren kann. offen,
Augsburg, von Natur so fest abgeschlossen und doch zugleich so verkehrs war durch lange Jahrhunderte der wahre strategische Mittelpunkt des
oberen Donaulandes, die Burg der Lech-Donaulinie. Darum setzten die alten bayerischen Herzoge den Augsburgern die Feste Friedberg vor die Nase, ein
rechtes Trutz-Augsburg und für die Bürger der Reichsstadt nichts weniger als ein Berg des Friedens.
Die kriegerische Geltung Augsburgs war für Römer
zeit und Mittelalter ebenso naturnotwendig wie später seine gewerbliche Größe. Deshalb rühmt sich hier auch die weiland vornehmste Zunft — der Weber —
ebensogut der Großtaten mit dem Schwert als mit dem Webschiff und hat ihr rot und goldenes Wappen auf dem Schlachtfeld gewonnen.
Auf der äußersten Spitze des Lechfeldes gegen die Donauniederung und ihre Hügelzone gelegen
thront Augsburg
wie auf einem Vorgebirg.
Die
ungeheure Geröllflüche des Lechfeldes aber ist zugleich der letzte Ausläufer, der
weithin gestreckte Trümmerschutt des Hochgebirges, die Grenzmark der süd bayerischen Hochflächenzone. So öde und ungesegnet das obere Lechfeld ist,
so kostbar wird seine unterste Spitze für die begünstigte Reichsstadt; es hebt sie über die Sumpfniederung der vielen hier zusammenrinnenden Gewässer, sammelt und entläßt an seinem Rande die reichen Quellen,
die es meilenlang eigens
zum Profit der Augsburger bei sich behalten zu haben scheint, und macht so
die Stadt zur Beherrscherin dieser mannigfaltigen Wasserschätze, während in der ganzen Nachbarschaft umgekehrt das Gestade von dem Wasser beherrscht wird. Die Vorgebirgslage zeichnet in den Grundplan Augsburgs die glückliche
Doppelart einer Hoch- und Tiefftadt, einer patrizisch dominierenden Anapolis
neben gewerbfleißigen, von Kanälen durchschnittenen Vorstädten, und wenn der Augsburgische Pattiot seine Phantasie ein wenig erwärmt, so kann er seine Vaterstadt auf sieben Hügeln über dem Gestade gegründet erkennen wie Rom und Konstantinopel. Das Lechfeld gibt der Umgebung jenes Gepräge der Dürfttgkeit und mäßigen Ackersegens, der fast wie eine Vorbedingung zum Krons eder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns. 13
35. Augsburger Studien.
194
Aufkommen natürlicher Großstädte erscheint.
Große Menschen
wachsen
ja
auch in der Regel nicht in allzu fetter Umgebung. Im fettesten Fruchtboden gibt es viele reiche Dörfer und Kleinstädte, aber weil sie es je für sich allein zu gut haben, so zwingen sie sich nicht zur Sammlung. Auch hierin mag die Kolonialstadt des Augustus, splendidissima Rhaetiae Colonia, sich trösten
mit der Mutterstadt: Rom hat seine Campagna, Augsburg sein Lechfeld. Wir haben also in Augsburg den letzten großen städtischen Vorposten des hochgebirgigen Oberdeutschlands gegen Mitteldeutschland, die Burg der Lech-
Donaulinie, die beherrschende Fabrikmetropole des ganzen oberen Donaulandes, den notwendigen Straßenmittelpunkt zwischen der Donau und den Alpen, so wohl in Zeiten, wo man nach Römerart Straßen anlegte zur Fesselung des Landes, wie in der unsrigen, in der die Straßen das Land frei machen.
Und bei alledem sind diese unvergleichlichen Vorzüge der Lage dem Blick des flüchtigen Reisenden ebenso versteckt als helleuchtend dem schärferen Be obachter, ein Zug, der uns bei unserer schwäbischen Reichsstadt von vornherein recht schwäbisch anmutet; denn die Schwaben sind ja überhaupt in der Regel
viel gescheidter als sie aussehen. Eine Stadt wie Augsburg, die zugleich einen Staat in sich beschloß und zwar einen doppelten, den geistlichen des Bischofs und den weltlichen der bürgerlichen Republik, muß natürlich schon in ihrer äußeren Physiognomie gar eigenartige Linien zeigen. Hier war nicht nur die gesamte Stadt eine kleine Welt für sich, sondern jedes Quartier, jede Straße
verkörpert wiederum eine besondere Phase des Volkslebens. Die stolze Maximilianstraße mit
ihrer Umgebung
führt uns in die
patrizische Welt. Fast alles, was Augsburg an vornehmen Häusern besitzt, lagert sich auf dem Plateau der oberen Stadt. Die Stätte der Römerkolonie, die Altstadt mit dem ehrwürdigen Stammbaum, ist zugleich durch alle Jahr hunderte die adelige Stadt geblieben. Man behauptet sogar, daß die vor nehmsten Gebäude der römischen Augusta den Grundbau zu den meisten der jetzt noch stehenden monumentalen Hauptgebäude dieses Stadtteils hätten ab geben müssen.
Von den Baudenkmalen römischer Macht und Pracht über der
Erde ist freilich nichts mehr sichtbar geblieben und nur das demütigste Römer werk soll sich bis auf unsere Tage erhalten haben — die Kloaken.
Wenig ist mehr von den stolzen Patrizierhäusern des Mittelalters erhalten. Der charakteristischsten eines war das Jmhofsche Haus?) Mit seiner turmartigen Bekrönung und den hohen Zinnen erschien es als eine Burg, an die Stadt burgen der großen Geschlechter Oberitaliens erinnernd, und weislich war die
gut gedeckte, hohe Einfahrt an der Seitenfront angelegt. Die Grundformen des Hauses versetzten uns in die Hohenstaufenzeit zurück und eine graue, abge witterte Farbe breitete sich als der Schleier hohen Altertums über das Ganze. *) Nicht zr;m Vorteil des gesamten Straßenbildes hat dieses ehrwürdige Altertum
einem Neubau Platz machen müssen.
35. Augsburger Studien.
195
Und gerade solche trutzige patrizische Stadtburgen mußten uns bekunden,
daß es die Zünfte doch zuletzt gewonnen haben über die Geschlechter. Denn das Herrenhaus war zum Miethaus geworden und Kaufläden aller Art durchbrachen das einst zur Verteidigung fensterlos abgeschlossene Erdgeschoß.
So steht auch
das wichtigste Zunfthaus, das Weberhaus, bedeutungsvoll in Reih und Glied mit den alten Palasthäusern der Maximilianstraße und das Bäckerzunfthaus
steigt am Perlachberg ganz breit und sicher aus dem eigentlichen Quartier des Handwerks empor und blickt mit der vorderen Schmalseite keck in die Staats straße der vornehmen Häuser. Sonst kann man fast sagen, die Rangabstufung der Gesellschaft lasse sich bei dem alten Augsburg in einem Höhenprofil nach der höheren oder niederen Lage der drei Hauptmassen der Stadt bildlich darstellen. Denn so, wie man
von dem vornehmen Plateau den Perlachberg hinabsteigt, lagern sich am Ab
hange die wichtigsten Gewerbestraßen; auf der Höhe dominierten die Patrizier, an der Höhe die Zünfte, unten in der Talsohle aber liegt die Vorstadt, vor wiegend das Viertel der kleinen Leute und der Proletarier. Oben sind die
Straßen breit und groß und tragen vornehme Namen; am Hügel werden sie enge, aber Wohlstand und Betriebsamkeit blickt auch hier aus den altersgrauen, winkeligen Gebäuden; unten kommen die kleinen Häuschen, die engen Gäßchen, kommt die berühmte Stadt der Armen, die Fuggerei, und schon die oft sehr wunderlichen Namen melden uns, welche Volksschicht hier seit alters vorwiegend,
wenn auch nicht ausschließend, wohnt. Statt der prunkenden öffentlichen Gebäude fanden sich meist solche hier,
deren Nachbarschaft gemieden wird, z. B. das Nothaus am Vogeltor, das Arbeits-, Pulver-, Blatternhaus, das Schneidhaus für chirurgische Kuren. Es ist be
zeichnend für das alte Augsburg, daß mitten unter diesen Häusern auch das
alte Theater (jetzt Lagerraum) steht, in seiner Fassade obendrein fast mehr einem Nothaus als einem Kunsttempel ähnlich. Was das ehemalige Pulver
haus betrifft, so stand es ursprünglich nicht in dieser Vorstadt.
Die Schwaben
sind vorsichtige Leute: weil Pulvermachen eine so gefährliche Sache ist, so ließ man im 15. Jahrhundert zu Augsburg das Pulver im sichersten und festesten Hause der Stadt verfertigen — nämlich im Rathause. Erst später schob man die Pulverfabrikation aus dem Mittelpunkte der vornehmen Welt in das
Viertel der geringeren Leute.
Wie in den Fürstenstädten des 18. Jahrhunderts die Prunkstraßen oft nur auf fürstlichen Befehl und mit gelindem Zwang hergestellt werden konnten, so mußte man vor Zeiten in Augsburg den Ausbau des Quartiers des
„eigentlichen Volkes", der Jakobervorstadt, auf dem Zwangswege betreiben Im 14. Jahrhundert ließ man nur gegen das Versprechen ein Haus bei St. Jakob zu bauen Ankömmlinge zum Bürgerrecht zu.
Es liegt übrigens auf der Hand, daß die standesmäßige Straßengliedc-
rung unserer alten Reichsstadt nicht gar zu buchstäblich verstanden werden 1:;*
196 darf.
35. Augsburger Studien.
Man muß das im großen und ganzen
Bauern.
nehmen
wie der Teufel die
Auch in der Jakobervorstadt stehen vereinzelte Häuser, welche noch
die Trümmerspur von
wahrhaft patrizischem Luxus zeigen,
und gar nicht
weit vom Blatternhaus lagen die Prunkgärten der Fugger im Banne dieses
untersten Viertels. Auch die Hochstadt, das vornehme Plateau, ist nicht durch weg vornehm gewesen: aber das Zentrum war patrizisch, die Achse der Hoch
stadt gehörte entschieden der patrizischen Welt. Geht man von der Maximiliansttaße gegen die oberen Tore, so wird das
Sttaßengepräge immer bürgerlicher, je mehr man sich der Stadtmauer nähert;
an der Mauer selber wird es wohl gar ein bischen proletarisch, ja auf der Mauer standen einst die ganz kleinen Zwingerhäuschen *) der ehemaligen Stadt gardesoldaten.
Nicht in der Peripherie,
wie bei den Millionärsttaßen der
modernen Städte, sondern im Zentrum, im Herzen des pulsierenden Verkehrs, lagen die Paläste der Reichen: dies zeigt an, daß aus dem Herzen des bürger lichen Lebens der Adel der Geschlechter hervorgewachsen ist. Nicht draußen
am Tore in halber Landschaft war der stolzeste Wohnsitz, sondern mitten im Staub und Gewühl des Handels und Wandels, der bürgerlichen Arbeit. Wo das Rathaus steht und das Weberhaus, da war die Palaststraße. Übrigens begreift man erst bei solcher ständisch-organischen, nicht fasten«
haft mathematischen Gliederung der Augsburger Straßen das Geheimnis der
Fuggerei, der traulichen kleinen Stadt der arbeitsamen Armen innerhalb der großen Stadt. Wo der Grundplan der sozialen Gruppen schon in den archi tektonischen Stadtplan
eingezeichnet war,
da
schämte sich auch der fleißige
Arme nicht in einer eigenen Armenstadt zu wohnen. Wollte heute auch ein Menschenfteund so großartig verfahren wie die Brüder Ulrich, Georg und
Jakob Fugger, da sie die Fuggerei erbauten, er fände höchstens noch Gesindel, aber nicht fleißige Arme, die ihm in seine Armenstadt einzögen.
Denn der
moderne arme Arbeiter will lieber für teuer Geld in einem Loche wohnen als
gratis in einem hübschen Häuschen, welches die Touristen angaffen als ein interessantes Armenhaus. Sein Bier würde ihm abends sauer werden bei dem
Gedanken, daß sein Nachbar auf der Bierbank im stillen zu sich spräche: da neben mir sitzt auch einer, der wohnt in der Armenstadt.
Wie von einigen Nürnberger Tortürmen die Sage geht, daß Albrecht
Dürer den Plan gezeichnet, so sind mehrere Augsburger Tore von dem größten Baumeister der Stadt, von Elias Holl, erbaut. Denn das Tor soll nicht bloß verteidigen, es soll auch repräsentieren; es soll dem Fremden schon von
fernher verkünden, was hinter der Stadt steckt.
Darum schmückten die Alt-
*) Heule sind sie alle verschwunden, die letzten erst vor wenigen Jahren am Wertachbrucker- und am Jakobertor. Es waren kleine Wohnhäuschen von je nur einem Geschoß, lauter selbständige Familienwohnungen. Diese „Zwingerhäuschen" waren einstens ein Dorf der kleinen Leute in der Stadt; die Soldaten, auf die Stadtmauer quartiert, mußten mit der Stadt zunächst ihren eigenen Herd verteidigen.
197
35. Augsburger Studien.
vorder« ihre Tore sinnvoll und symbolisch
und eine Stadt ohne Mauer und
Tor war ihnen nicht bloß ein Mann ohne Harnisch sondern auch ein Mann
ohne Rock. So prangt das Bogeltor mit schöner gotischer Steinmetzenarbeit x), am Jakobertor ist das Kaiserbild, ein alter Stadtpyr und ein Römerstein zur
Schau eingemauert, der zerstörte Festungsturm auf dem Luginsland galt für einen der reichsten gotischen Türme der Stadt und unter jedem Torbogen sehen wir eine gemalte Tafel mit der Kreuztragung Christi aufgehangen: das
macht sich alles würdevoll und reichsstädtisch.
Nehmt Augsburg seine male
rischen Tore2) und Mauern und ihr habt den schönsten und eigentümlichsten Zug ausgelöscht, der noch von der äußeren Physiognomie der ehrwürdigen Das fühlten die Nürnberger wohl, als sie
Reichsstadt übrig geblieben ist.
zur Erleichterung des modernen Verkehrs Fahrbahnen zur Rechten und Linken ihrer stolzen Tortürme brachen, die Türme aber selber ungebrochen ließen.
Triviale englische Anlagen kann jede neugebackene Stadt fürs Geld haben, aber so poetische und malerische Wälle und Mauern und Tore und Stadtumgänge, wie die Augsburgs und Nürnbergs, sind gleich dem echten alten Adel: wer sie nicht ererbt hat, der wird sie nimmer gewinnen. Wenn wir uns das Stadtbild Augsburgs recht genau vor Augen rücken, schauen wir zugleich meilentief in die deutsche Kulturgeschichte hinein. Und zwar ist es zunächst die Kulturgeschichte der Renaissance, die vor uns im reichsten
Bilde ausgebreitet liegt. Nicht bloß architektonisch ist Augsburg das deutsche Pompeji der Renaissance. Der Schwerpunkt seiner ganzen Geschichte ruht in der Übergangsperiode vom Mittelalter zur neueren Zeit. Nicht das
Mittelalter, sondern der Bruch mit dem Mittelalter gewann unserer Reichsstadt
die tiefste Originalität. Weil Augsburg alle die bewegenden Ideen der Renaissance
— die großen Erfindungen und Entdeckungen, den Humanismus, die Bezwingung und Verjüngung ausgelebter germanischer Einseitigkeit durch den Romanismus und die Antike, die Reformation — wie in einem Brennpunkt sammelte, festhielt
und im kleinen charaktervoll verkörperte, erhielt es erst die Signatur einer eigenartigen, einer wirklich weltgeschichtlichen Städte
Dies aber unterscheidet
die natürlichen und gewordenen Städte von den gemachten, daß sie solch einen
auszeichnenden Beruf irgend einmal erfaßt und mit der Einseitigkeit und All
seitigkeit eines Genies durchgeführt haben und daß man sagen muß, in einer Epoche wenigstens ist die Stadt um einen Kopf größer gewesen als alle ihre Schwestern, es unterscheidet sie der Adel eines historischen Namens.
Drei große Meister sind es, die uns die ganze Macht, womit die Renaissance
das höhere Geistesleben Augsburgs ergriff, in persönlicher Verkörperung dar-
*) Das längst verschwundene Klinkertor trug kräftigen Freskoschmuck. •) Freilich auch manche der schönen und malerischen Tore Augsburgs sind in zwischen niedergelegt worden, z. B. das Klinkertor, daS Gögginger-, Steffinger- und Fischer lor; doch immer noch bestehen beachtenswerte Reste aus früherer Zeit.
35. Augsburger Studien.
198
stellen: Konrad Peutinger,
der Gelehrte, Hans Holbein, der Maler,
Elias Holl, der Baumeister.
Elias Holl brachte im Anfänge des 17. Jahrhunderts die neue italienische Bauweise aus Venedig nach Augsburg, wo man allerdings schon längere Zeit
eine minder entwickelte Renaissance gekannt hatte. Sein Vater hatte noch gotisch gebaut. Der Einfluß des zur neuen Lehre der Renaissance bekehrten Sohnes aber ist so schlaghast und einzig, daß wir den Mann recht als den kühnsten Revolutionär unter den Architekten anstaunen müssen. Fast genau in
denselben vier Jahren, da Holl das Augsburger Rathaus ausführte, hat Eucharius Holzschuher das neue Rathaus zu Nürnberg errichtet, gleichfalls ein
Renaissancewerk und an Kunstwert dem ersteren wohl ebenbürtig. Aber Nürn
berg blieb trotz dieses Rathauses dieselbe mittelalterliche Stadt, die es gewesen; Holl dagegen baute mit seinem Rathause zugleich ganz Augsburg um. Den
gotischen Türmen nahm er die spitzen Hüte ab und setzte ihnen runde, welsche Kappen auf, so daß in der ganzen Stadt kaum eine einzige gotische Turm pyramide mehr übrig geblieben ist; Zunfthäuser und Kirchen, Paläste und Festungstürme wurden binnen wenigen Jahrzehnten so massenhaft in den Renaissancestil umgeschmolzen, daß die halbe Stadt wie uniformiert erscheint bis auf diesen Tag.
Was Holl selber stehen ließ, das bewältigten rasch seine
Nachfolger; denn in Revolutionszeiten des Geschmacks wie der Politik hat man keinen Pardon für geschichtliche Überlieferungen. Die Volksbauart in den ein
zelnen Quartieren, die vorgedachte gattungsmäßige mittelalterliche Anlage, mußte
erstarren, seit ein solcher Gewaltmeister wie Elias Holl die Architektonik nach akademischen Heften in die Hand nahm. Wie die Volkspoesie gegen die Kunst
poesie, so tritt das alte Augsburg jetzt gegen das neue zurück.
Ich kenne keine
zweite Stadt, wo dieser Umschwung gleich rasch und entschieden erfolgt wäre und so siegesgewaltig durchgefochten durch einen einzigen Mann. Dafür lebt aber auch Elias Holl im Volksmunde seiner Vaterstadt wie wohl selten ein
Baumeister und die malerische Physiognomie Augsburgs erstarrte in den Zügen, die Holl so keck umrissen, daß es heute noch dreinschaut wie aus dem Grabe
des 17. Jahrhunderts erstanden, das deutsche Pompeji der Renaissance. Als aber die Altvordern so viele mittelalterliche Bauten abtrugen um
moderne an ihre Stätte zu setzen, hatten sie wenigstens reichsstädtischen Gemein geist genug die Holzmodelle der alten Werke auf dem Rathause aufzustellen. Diese Modelle lehren uns gleich den noch vorhandenen romanischen und gotischen Denkmalen, daß bei reicher Schönheit im einzelnen dennoch eine epochemachende
und schöpferische Entwickelung der mittelalterlichen Baukunst nicht von Augs
burg ausgegangen ist. Die Kraft sparte sich auf für eine spätere Zeit. Bekanntlich ist aber auch innerhalb der Renaissance die Baukunst nicht die schöpferische Kunst gewesen, sondern vielmehr die Malerei. Der größte Maler aber und zugleich der größte Künstler Augsburgs, HansHolbein, ist es wiederum, der gleich seinem großen Geistesbruder Dürer die Schranken der
199
35. Augsburger Studien.
mittelalterlichen Malerei zerbricht unb, ohne der vaterländischen Tradition untreu zu werden, eine neue Welt des Naturstudiums, der klassischen Formenanmut
und der freien modernen Gedankenfülle für seine Kunst erobert.
Ist Holbeins
äußeres Leben gleich nicht so eng an seine Vaterstadt Augsburg gefesselt wie
das Dürers an Nürnberg, so war doch seine künstlerische Entfaltung eine ebenso charakteristisch altaugsburgische, als er zu den wahren Propheten der Renaissance
im edelsten Sinne zählt.
Doch soll hier nicht die kunstgeschichtliche Bedeutung der Augsburgischen Malerschule verfolgt werden, sondern vielmehr der volkstümliche Einfluß
Kunst, der in Augsburg höher entwickelt ward als irgendwo in Deutschland. Schon die Straßen der Stadt predigen diese Tatsache. Vor
dieser
50 Jahre» noch sollen sie anzuschauen gewesen sein wie ein großes Bilderbuch, dessen Blätter die mit Fresken bedeckten Häuserwände waren.
Jetzt nimmt sich
dieses Buch freilich fast aus wie eine Fibel, die unter die Hände allzu bildungs begieriger Kinder geraten ist; die eine Hälfte der Blätter ist herausgerissen, die andere zerfetzt. Aber trotzdem kann man aus diesen zerstückten Blättern noch immer eine
Bilderchronik des innern Volkslebens der alten Reichsstadt zusammensetzen, die klarer belehrt und anschaulicher als die meisten gedruckten Geschichtswerke. Ich selber habe jahrelang die vielen Straßengemälde betrachtet und wieder be
trachtet und Augsburgische Geschichte daraus gelernt, bevor mir irgend eine andere Chronik der Stadt in die Hand gekommen war. Denn dies ist über haupt eines der wichtigsten Handwerksgeheimnisse des Volksstudiums, daß man die lebendigen und die monumentalen Quellen erforscht, ehe man die geschrie benen auch nur von ferne ansieht. Dadurch lesen wir Neues aus den letz
teren heraus, während wir bei der umgekehrten Methode nur die toten alten Historien in die lebendige Gegenwart hineinbuchstabieren. Die Augsburger Haussresken bekunden zuvorderst eine merkwürdige kunst-
gcschichtliche Tatsache. Ausgezeichnete Meister versuchten sich in ihnen, vor allen: Hans Burkmeyer, Albrecht Altdorfer, Hans Rottenhammer,
Matthias Kager, Johann Holzer, Julius Licinius, genannt der jüngere Pordenone, Antonio Ponzano.
Sie malten aber fast alle diese Fresken
mit weit mehr Genie und Tüchtigkeit als ihre übrigen Bilder, so daß man sagen kann, sie stellten ihre Meisterstücke auf die Gasse zum Schmucke schlichter Bürgerhäuser. Namentlich gilt dies von den fünf Letztgenannten. Der jüngere
Licinius z. B., ein arger Manicrist, würde mit Recht ganz vergessen sein, wenn
er seine Augsburger Fresken nicht gemalt hätte, ein kolossales mythologisch allegorisches Werk an dem Hause des reichen Hieronymus Rehlinger in der Philippine-Welserstraße, ein Rokokostück voll der abenteuerlichsten Phantasie,
dessen Sinn und Verstand gewiß kein Sterblicher mehr enträtseln kann, aber bei aller barocken Manier so übermütig keck und mit so flottem, breitem Pinsel
auf den Kalk geworfen, daß man vor Staunen über des Meisters Mut und
200
35. Augsburger Studien.
Vermessenheit und über manchen wahrhaft pompösen Einzelzug erst nachträglich
dazu kommt sich über die Geschmacklosigkeit des Ganzen zu ärgern. Hätte er viele solcher Bilder gemalt, so würde er als der riesenhafteste Geschmacksver derber unsterblich geworden sein. Ähnlich ergeht es mit Antonio Ponzano, einem sonst kaum genannten Meister.
Seine Fresken in den Jnnenräumcn
der Fuggerhäuser galten lange für Werke Tizians.
Erst in neuester Zeit hat
man durch äußere Beweise dargetan, daß jene höchst geistvollen und lieblichen
Kompositionen, die gar mancher Kenner als Zeugnisse der Anwesenheit des
großen Venezianers in Augsburg gläubig bewunderte, nur von dessen Schüler
Ponzano herrühren.
Matthias Kager hat, als ein echter Bürgermeister der
kunstreichen Reichsstadt, das Rathaus, das Weberhaus, das Stadtgefängnis und zwei Stadttürme mit seinen Fresken geschmückt. Bei ihm wie bei seinem Ruhmesgenossen Holzer staunen wir darüber, daß in der verderbten Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts zwei deutsche Meister noch so tüchtig und in so würdevollem Stile Fresko malen konnten. Wiederum sind Kagers Ölgemälde
ohne allen Vergleich schwächer als seine Fresken, besonders die frisch und un befangen und in großen Zügen gemalten Bilder am Weberhause. So edel stilisierte historische Kompositionen aus der jammervollen Periode des Dreißig
jährigen Krieges gibt es in Deutschland wahrlich nicht viele. Es ist dazu eine originelle Geschichte, daß der Bürgermeister von Augsburg an den Häuser wänden Fresko malte, während draußen schon der Donner des Dreißigjährigen Krieges von ferne heranrollte. Diese ihre Hausfresken hielten die Augsburger so hoch in Ehren, daß
sie manche derselben in Kupfer stechen, von andern auch erklärende Beschrei bungen drucken ließen.
Erst als das reichsstädtische Bürgertum zum tiefsten
Fall gekommen, mißachtete man diese Zeugen vergangenen künstlerischen und politischen Glanzes und schlug viele der besten Bilder ohne Not von den Wänden herunter. In unsern Tagen wird dann wieder geschützt und aus
gebessert, was noch zu retten ist.
Augsburg hatte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts allein unter allen schwäbischen und bayerischen Städten bereits eine wahre Straßenbilder-
galerie von Freskowerken aufzuweisen. Eine ganze Schar kulturgeschichtlicher Motive mußte in einem Zeitpunkte hier Zusammentreffen, damit dies geschehen
Der Zeitpunkt war eben im Durchbruche der Renaissance. Mit Bewußtsein wurden die neuen Ideen in dem durch Kaiser Maximilian
konnte.
damals so hoch gehobenen Augsburg ergriffen; sie finden ihren reichsten künst
lerischen Ausdruck in der Malerei. Konrad Peutinger, Augsburgs größter Staatsmann und Gelehrter, wirkt für die „neurömische Art" in der Kunst. Er gibt selber die Gegenstände an, welche am Rathause und den Fugger häusern gemalt werden sollen: es sind historische Szenen aus der Zeit geschichte, zugleich zur Verherrlichung Kaiser Maximilians. Man hat diesen
„letzten Ritter" unter den Kaisern scherzweise den Bürgermeister von Augs-
35. Augsburger Studien.
201
bürg genannt; wer die Physiognomie Augsburgs zur Zeit der Renaissance zu erkennen weiß, für den beschließt dieses Scherzwort einen tiefen Sinn. Eine solche historische Malerei, wie sie Peutinger als eine Ehrentafel für Maximilian
forderte, bezeichnete schon ganz die neuere Zeit.
So war Peutinger auch anderswo recht im modernen Sinn ein Mann des historischen Geistes. In Italien gebildet verpflanzt er den italienischen Humanismus nach Augsburg. Er sammelt Bücher und Münzen, ein Ahnherr so vieler prunkliebender Sammler unter den spätern Patriziern Augsburgs; er erbittet sich seltene Handschriften als „Beutepfennige" aus Maximilians Kriegen;
er ediert historische Quellenschriftsteller und rettet römische Denksteine; er macht sein Haus zu einem antiquarischen Museum und beginnt die Geschichtsquellen der Vaterstadt zu sammeln.
Dies sind lauter Züge, die uns bezeugen, daß die
Die besten Bürger der Reichs stadt werden von ähnlicher Begeisterung für Kunst und Wissenschaft ergriffen und Sonne des Mittelalters im Niedergänge steht.
die Stadt der Handelsleute rechnet es sich zum höchsten Ruhme eine Kunststadt zu heißen. Als damals (1555) ein Fugger von dem Rate begehrte, er möge ihm ein Haus im St. Annenhofe zu einer Reitschule gewähren, entgegnete der Rat: es schicke sich nicht neben einer Schule der Wissenschaft Pferde abzurichten,
vielmehr sei der Rat gesonnen eine Bibliothek in dieses Haus zu stellen. In monumentaler und künstlerischer Beziehung hatte Augsburg am Aus
gange des Mittelalters manches nachzuholen. In einer bruchsteinlosen Gegend war es mit seinen Bauwerken zurückgeblieben hinter anderen Städten und erst 1385 wurde das Rathaus (vordem das „Dinghaus" genannt) aus einem Holzbau in einen ziemlich unbedeutenden Steinbau verwandelt. Später aber
boten die der Gotik so ungünstigen breiten Wandflächen des Backstcinbaues um so prächtigeren Raum für die Malerei.
Der Einfluß Italiens kam hinzn
und die vorgedachten ideellen Motive trafen wiederum mit allen diesen zu sammen und so ward wie vom Blitz das Opferfeuer einer neuen und eigenen
monumentalen Kunsttätigkeit entzündet. Das Feuer flackerte nicht bloß, es brannte fort, hell und nachhaltig. Denn dies gerade verkündet Augsburgs
Ehren als einer wahren Kunststadt, daß es selbst in den Bedrängnissen des 17. Jahrhunderts die Kunst nicht fallen ließ, daß es seine kolossalsten Bau
werke in einer geldarmen Zeit aufführte, ja den großen Rathausbau mit unter nommen haben soll um armen Leuten Brot zu schaffen, und daß sein Bürger
meister noch Fresken an die Häuser malte, als der Dreißigjährige Krieg schon
vor den Toren donnerte. Darum kehrte in Augsburg aber auch rasch der alte Kunstfleiß zurück, als sich der Pulverdampf dieser Greueljahre verzogen;
in anderen Städten war er verloren für länger als ein Jahrhundert. Und wie die Stadt damals geworden ist, so blieb sie stehen bis auf diesen Tag. Nürnberg teilt den Ruhm der schönsten mittelalterlichen Prospekte mit mehreren deutschen Städten, Augsburg aber steht einzig da in unserm Vaterlande als das Pompeji der Renaissance.
36. Bayerns Anteil an der Naturwissenschaft!. Forschungsmethode im 17. Jahrh.
202
36. Anteil bedeutender Bayern an der Begründung
der modernen naturwissenschaftlichen Forschungsmethode im 17. Jahrhundert. Don Anton von Braunmühl.* Beständige Bewegung, ein ewiges Werden kennzeichnet die Naturwissen schaft.
Methoden, die lange vorzügliche Dienste geleistet haben, müssen durch
neue ersetzt werden, wenn sie den wachsenden Anforderungen nicht mehr ge
nügen, Theorien, die alle bisher bekannten Erscheinungen zu erklären ver mochten, müssen anderen Platz machen, wenn neue Entdeckungen ihnen wider
sprechen, ja selbst Tatsachen, die unabänderlich festzustehen scheinen, werden durch neue verdrängt, die die rastlos fortschreitende Forschung zutage fördert, mit einem Worte, in der Wissenschaft gibt es wie in der Natur kein Stille
stehen: Bewegung allein ist Leben, Ruhe ist ihr Tod. — An der Richtigkeit
dieser Sätze wird heute wohl niemand mehr zweifeln und doch gab es Zeiten,
in
welchen
die
gerade entgegengesetzte Anschauung
und
herrschte,
schwere
Kämpfe kennzeichnen den Durchbruch der neuen Auffassung.
Das System des
großen Aristoteles, das die scholastische Philosophie
des Mittelalters an die Spitze gestellt hatte, beherrschte noch im hundert die ganze Wissenschaft
mit ungebrochener Gewalt.
Nur
16. Jahr
was
die
Schriften dieses Weisen lehrten, oder besser, was die Gelehrten jener Zeit aus ihnen herauslasen oder in sic hinein
Aristoteles
interpretierten,
sollte Geltung haben;
war die einzige Autorität und der blinde Autoritätsglaube ver
hinderte jeden wirklichen Fortschritt wissenschaftlicher Forschung.
Da erschien
ein Mann von ebenso gewaltigem Geiste wie streitbar veranlagt und nahm den Kampf gegen das veraltete System auf, indem er mit genialem Blick er kannte, daß Beobachtung und Experiment an die Spitze der Forschung gestellt
werden müßten, um der Naturwissenschaft neuen Boden zu bereiten.
In rascher
Folge entdeckte Galileo Galilei, der Begründer der modernen Naturforschung,
(1564 in Pisa geboren), die physikalischen Gesetze des freien Falles und der
Bewegung auf der schiefen Ebene sowie die Gesetze der Pendelschwingungen und der schwimmenden Körper und bewies sie durch experimentelle Versuche, die
er seinen zahlreichen Schülern
in Pisa
und Padua vorführte.
Seine
eminente Rednergabe und sein glänzendes Lehrtalent unterstützten ihn hierbei vortrefflich und
sein Name war bald auf den Lippen aller Gebildeten.
Da
kam die Nachricht von der Erfindung des Fernrohres in Holland und Galilei, der sich von dorther einige Glaslinsen zu verschaffen wußte, gelang es alsbald
selbst ein Instrument zusammenzusetzen, dessen Konstruktion heute noch unter
dem Namen des Galileischen Fernrohres bekannt ist.
Dieses stellte er sofort
in den Dienst der Wissenschaft, indem er es gegen den gestirnten Himmel
richtete, und der beispiellose Erfolg, den er damit erzielte, bewies die Richtig-
36. Bayerns Anteil an der naturwissenschastl. Forschungsmethode im 17. Jahrh.
203
feit seines Prinzipes die Beobachtung an die Spitze der Forschung zu stellen. Ungeahnte Wunder enthüllten sich trotz der Mangelhaftigkeit seines Instru
mentes dem sorgfältigen Beobachter.
Er erkannte die gebirgige Oberfläche des
Mondes und gab sofort eine Methode an die Höhe der Mondberge zu messen, die Milchstraße zerlegte sich vor seinen Blicken in unzählige Fixsterne und der
Gürtel wie auch der Nebel des Orion erschienen ihm als Sternhaufen.
Seine
wichtigste Entdeckung aber war der Nachweis, daß der Planet Jupiter das
Bervegungszentrum von vier Monden sei, sowie die etwas später erfolgte Fest
stellung der Phasengestalten des Planeten Venus.
Ob Galilei, wie er später
behauptete, auch damals schon sein Fernrohr nach der Sonne gerichtet und
auf ihr dunkle Flecken erkannt hatte, läßt sich nicht mehr absolut sicherstellen,
jedenfalls aber fand er diese Beobachtung nicht für besonders wichtig, denn in seinem „Nuntius sidereus“, durch den er noch im gleichen Jahre dieser Ent
deckungen (1610) seine Resultate der Gelehrtenwelt bekannt machte, findet sich nichts darüber.
Ungeheuer war das Aufsehen, welches das Erscheinen des „Boten aus
der
Sternenwelt" unter den Astronomen hervorrief.
Wie sollte man
auch
einen Mond, der eine Erde wie die unserige mit Bergen und Tälern ist, wie
die wechselnden Luftgestalten der Venus und wie erst gar ein Weltsystem im Kleinen, wie das des Jupiter, der von vier Planeten umkreist wird, mit den
altehrwürdigen Anschauungen des Aristoteles von der Unveränderlichkeit des
Himmels und mit den astronomischen Lehren eines Ptolemäus, für den es nur ein Bewegungszentrum, die Erde, gab, in Einklang bringen? Darüber zer
brachen sich die Anhänger des Stagiriten vergebens die Köpfe und hätte nicht
Galilei in den Gärten des Kardinals Bandini zu Rom einer großen Gesell schaft berühmter Männer mit seinem Tubus die neuen Wunder gezeigt,
man
würde sie sicher in das Reich der Fabel verwiesen haben. Drüben aber über den Alpen, im fernen Deutschland, fanden sich einige
hellere Köpfe, die, ohne durch den Augenschein überzeugt worden zu sein, den Worten des großen Gelehrten Glauben schenkten und sich sofort an die Arbeit machten seine bereichern.
Entdeckungen zu kontrollieren und womöglich durch neue zu
Zu diesen Männern gehörten drei, deren Wiege in dem heutigen
Königreich Bayern stand; in erster Linie der berühmte Johann Kepler, der
Astronom Simon Mayr (Marius) aus Gunzenhausen, der sogar die Jupiters trabanten vor Galilei entdeckt haben wollte, und der Jesuitenpater Christoph Scheiner,
der damals als Professor der Mathematik und Astronomie an der
Hochschule in Ingolstadt lehrte. als rechnender Astronom
Kepler war weniger als beobachtender denn
hervorragend und seine geniale Entdeckung der Ge
setze der Planetenbewegung hat ihm, wie weltbekannt, den Lorbeer der Un
sterblichkeit auf die Stirne gedrückt.
Simon Mayr ist in der Folgezeit wenig
mehr hervorgetreten, dagegen sind Christoph Scheiners Verdienste namentlich in der beobachtenden Astronomie, also auf den von Galilei eingeschlagenen Wegen,
204
36. Bayerns Anteil an der naturwissenschastl. Forschungsmelhode im 17. Jahrh,
so bedeutend und mit jenen des großen italienischen Naturforschers so eng verbunden, daß sie unser ganzes Interesse in Anspruch nehmen. Christoph Scheiner, in dem Dorfe Wald bei Mindelheim in Schwaben 1573 geboren, war frühzeitig in den Jesuitenorden eingetreten und hatte sich zu einem tüchtigen Mathematiker und Astronomen ausgebildet. Auch war sein Name schon durch die Erfindung des sogenannten Pantographen oder Storch schnabels bekannt geworden, eines noch heute in Verbesserter Form vielfach ver
wendeten Instrumentes zur proportionalen Vergrößerung oder Verkleinerung von Zeichnungen.
Er hatte kaum von Galileis Entdeckungen Nachricht er
halten, als er sich sofort in den Besitz mehrerer der damals noch sehr seltenen
Fernrohre zu setzen wußte und die Sonnenscheibe zu betrachten begann. Zu seiner großen Überraschung nahm er, wie er erzählte, im März des Jahres 1611 auf derselben dunkle Flecken wahr und bestätigte diese Entdeckung durch
wiederholte Beobachtungen, bei denen ihn sein Schüler und Freund, der Schweizer Johann Cysat, unterstützte. Diese Entdeckung mußte ihm, einem Anhänger der Aristotelischen Philosophie,
der Scheiner seiner Erziehung gemäß war,
geradezu unbegreiflich erscheinen; denn nach jener Lehre konnte die Sonne als das Weltauge nur von absoluter Reinheit sein. Nur zaghaft legte er daher eine Reihe seiner zwischen dem 26. Oktober und dem 14. Dezember 1611 auf das genaueste angestellten Beobachtungen mit 40 Abbildungen versehen in drei
Briefen nieder, die er an den Augsburger Patrizier Markus Welser, seinen hochmögenden Gönner, richtete. Dieser übergab sie nach Scheiners Wunsch unter dem Pseudonym „Apelles latens post tabulam“ am 5. Januar 1612 dem Drucke und sandte zugleich Galilei und Kepler je ein Exemplar
davon, um die Ansicht der beiden berühmten Männer über die neue Erschei nung zu vernehmen.
Schon im Mai des folgenden Jahres beantwortete
Galilei Scheiners Briefe, indem er, wie schon erwähnt, die Priorität der Ent
deckung für sich in Anspruch nahm, obwohl seine erste wissenschaftliche Beobach
tung erst vom 5. April 1612 datierte. Zugleich gab er eine mit unseren heutigen Anschauungen in der Hauptsache übereinstimmende Erklärung der Sonnenflecken; er bezeichnete sie nämlich als wolkenartige Gebilde einer die Sonne umgeben
den Hülle, während Scheiner damals noch der Ansicht war, dieselben seien dunkle Gestirne, welche die Sonnenkugel gleich Monden umkreisten. Diese Ansicht gab er jedoch, durch weitere Beobachtungen eines Besseren belehrt, sehr
bald auf und pflichtete trotz Aristoteles Galileis Anschauung bei.
In drei
weiteren Schreiben aus demselben Jahre, die „Apelles" noch durch Welser in Druck geben ließ, vervollständigte er seine Beobachtungen und wies namentlich auf eine merkwürdige Erscheinung hin, welche heute unter dem Namen der Eigenbewegung der Sonnenflecken bekannt ist. Dieselbe besteht darin, daß
diejenigen Flecken, welche weiter vom Sonnenäquator abliegen, sich langsamer
um die Sonne bewegen als jene, welche sich in seiner Nähe befinden.
In
späteren Antwortschreiben, die schon einen ziemlich gereizten Ton zeigen, ob-
36. Bayerns Anteil an der Naturwissenschaft!. Forschungsmethode im 17. Jahrh.
205
wohl Scheine! dazu nicht die mindeste Veranlassung gegeben hatte, griff Galilei
namentlich diese Behauptung
des Apelles auf das schärfste an, während sich
ihre Richtigkeit in der Folgezeit glänzend bestätigte. erfahren zu haben,
Galilei scheint erst 1614
wer jener Apelles eigentlich war, mit dem er wiederholt
Briefe gewechselt hatte, und es ist nicht unmöglich, daß die Zugehörigkeit des letzteren zum Jesuitenorden,
unter dessen Mitgliedern
der berühmte Natur
forscher mit Recht seine gefürchtetsten Gegner vermutete, den Umschwung seiner anfangs freundlichen Gesinnung gegen Scheiner verursachte.
Jedenfalls reizte
er diesen, indem er ihn 1623 in einer Streitschrift, die gegen ein Werk des Jesuiten Grassi gerichtet war, in der ungerechtesten Weise des Plagiates an
seinen Briefen bezichtigte, obwohl die Daten derselben die Unmöglichkeit eines
solchen beweisen.
Nun erst nahm Scheiner den Kampf mit ihm auf, suchte
sich in einem großen Werke, das er erscheinen liefe, von dem Vorwurfe des Plagiates durch eine langatmige Verteidigung zu reinigen, beanspruchte für sich direkt die Priorität der Entdeckung und ärgerte Galilei noch außerdem
dadurch, daß er daselbst einige allerdings nicht unerhebliche Irrtümer desselben
aus jenen Briefen aufzählte.
Das Widerlichste aber an dem nun in
Hellen
Flammen auslodernden Prioritätsstreite der beiden so bedeutenden Männer ist
die Tatsache, daß sie beide (wider besseres Wissen, wie die neueste Forschung unwiderlegbar
nachgewiesen
hat)
den
des
Namen
wirklichen
ersten
Ent
deckers und Beobachters der Sonnenflecken, des jungen friesischen Astronomen
Johann Fabricius einfach totschwiegen,
obwohl derselbe bereits zur Leipziger
Herbstmesse 1611 ein kleines Büchlein hatte erscheinen lassen, in dem er seine Entdeckung vom 9. März desselben Jahres mitteilte und sogar aus der Um
laufszeit der beobachteten Flecken bereits auf eine Rotation des Sonnenkörpers
Nur Simon Mayr und der große Kepler traten für Fabricius ein
schloß.
ohne sich jedoch weiter an dem Gezänke der beiden Gegner zn beteiligen. Wenn der letzterwähnte Umstand uns den Charakter unseres Landsmannes keineswegs sympathisch zu machen vermag, so können wir doch seinem ausge
zeichneten Beobachtungstalent, das ihn für alle Zeiten in die Reihe der ersten
beobachtenden Astronomen stellt, unsere Bewunderung nicht versagen.
Denn
mit erstaunlichem Eifer setzte Scheiner sowohl in Ingolstadt wie in Rom, wo
hin ihn sein Orden im Jahre 1624 schickte, seine Sonnenfleckenbeobachtungen fort und
häufte ein gewaltiges Material an,
testen und wichtigsten Schlüsse
zu
aus
ziehen wußte.
dem
So
er
die
interessan
fand
er
außer der
schon erwähnten merkwürdigen Eigenbewegung der Flecken, daß dieselben aus einem tiefliegenden dunklen Kern bestehen, der von einem Hellen Rande, der Pänumbra, wie er ihn nannte, umgeben ist, verfolgte die Veränderung und
Zerteilung, die die größeren Flecken bei ihrer Wanderung über die Sonnen scheibe oftmals zeigen, entdeckte zuerst die sogenannten Sonnenfackeln, das sind Gruppen besonders hell leuchtender Stellen, in die sich zuweilen die Flecken
auftösen, und berechnete aus der Umlaufszeit besonders charakteristischer Sonnen-
206
36. Bayerns Anteil an der Naturwissenschaft!. Forschungsmethode int 17. Jahrh,
flecken die Rotationsdauer der Sonne zu 25,33 Tagen, während die voll kommeneren Beobachtungsmittel der Neuzeit 25,234 Tage ergeben, gewiß eine sehr bemerkenswerte Übereinstimmung. Vielleicht die wichtigste seiner Ent deckungen aber war, daß die Bahn der Flecken und damit die Drehungsachse der Sonne gegen die Ekliptik oder Sonnenbahn geneigt ist, eine Neigung, für die er als Mittel aus unzähligen Beobachtungen 7° 30' erhielt, während
sie in neuerer Zeit auf 7° 15' bestimmt wurde.
Diesen Umstand namentlich
hatte Galilei übersehen und daraus stammten jene oben erwähnten Irrtümer, die ihm Scheiner in seinem großen Werke, das er im Jahre 1630 veröffent
lichte, zum Vorwurf machte. Dieses Werk, welches während seines Aufenthaltes in Rom erschien, führt den merkwürdigen Titel Rosa Ursina. Ein Geschichtschreiber der Mathematik
aus dem 18. Jahrhundert, A. G. Kästner, erklärt diesen Titel in launiger Weise, wie folgt: „Weil der damalige Herzog von Bracciano aus der Familie der Ursi (Orsini) war und weil die liebe Sonne nichts dagegen hat, wenn
man sie mit einer Rose vergleicht, so heißt das Buch von der Sonne, dem Herzog dediziert, Rosa Ursina". Wegen dieses Titels und des noch weit alberneren Titelblattes mit seinen Rosenstöcken und den drei in Höhlen sitzenden
Bären, von denen der eine das Sonnenbild aufhängt, der andere seine Jungen
beleckt und der dritte an den Tatzen saugt, wurde Scheiner von seinen Gegnern vielfach verspottet. Doch hätten dem Buche diese Äußerlichkeiten schließlich wenig geschadet, wenn es nicht mit so unglaublicher Weitschweifigkeit geschrieben wäre. Ja schon seine Dickleibigkeit allein und die Breittretung der Priori
tätsfrage, welche auf 66 Folioseiten abgehandelt wird, mußten von seiner
Lektüre abschrecken.
So werden denn die meisten Leser nur die 70 schönen
Sonnenbilder angesehen haben, die einen Teil von Scheiners Originalbeobach tungen wiedergeben, während der Text wohl wenig Beachtung fand. Diese
Sonnenbilder hat Scheiner in der Weise erhalten, daß er die Strahlen durch
ein Fernrohr mit konvexem Objektiv und Okular in ein dunkles Zimmer eintreten ließ und dann das Okular soweit herauszog, bis auf einem dem letz
teren gegenüberstehenden weißen Schirme ein scharfes Sonnenbild entstand, in dem die Flecken, die Fackeln, die Helligkeitsunterschiede der Sonnenscheibe usw.
deutlich beobachtet werden konnten. Diese Methode Scheiners sand später allgemeinen Eingang und nur der Formlosigkeit seines Buches hatte er es zu verdanken, daß viele seiner schönen Entdeckungen unbekannt blieben und in unseren Tagen wieder neu aufgefunden werden mußten.
Aber nicht nur als beobachtender Astronom hat Scheiner Bedeutendes geleistet, auch in dem mit der Asttonomie so eng verbundenen Gebiete der
Optik wird sein Name mit Ehren genannt; und wie er dort der gewissenhaften
Beobachtung seine Entdeckungen verdankte, so war es hier das Experiment, das ihn zu neuen Resultaten führte. Ihm verdanken wir z. B. den ersten experimentellen Beweis dafür, daß die Netzhaut des Auges das eigentliche Organ
37. Der Winterkönig.
207
«es Sehens ist; er erbrachte denselben dadurch, daß er an Ochsen- und Schafaugen und später in Rom sogar an einem Menschenauge in die obere Wand (sclerotica) derselben eine Öffnung einschnitt, wodurch es möglich wurde die Bilder leuchtender Objekte auf der Netzhaut wirklich wahrzunehmen. Außer
dem hat er, um den Gang der Sehstrahlen im Auge zu verfolgen, eine Reihe höchst sinnreicher Versuche angestellt, die noch heute in der Physik seinen Namen führen; auch fand die damals allerdings schon bekannte Akkomodationsfähig
keit des Auges durch ihn zum erstenmal einen experimentellen Nachweis. So hat denn unser Landsmann dadurch, daß er sich die Methoden seines Gegners zu eigen machte, ein gut Teil zu dem Aufschwung der naturwissen
schaftlichen Forschung im 17. Jahrhundert beigctragen und durch die geachtete Stellung, die er bei seinen Ordensgenossen cinnahm, auch in ihrem Kreise der
neuen Richtung Bahn gebrochen.
Besaß er auch nicht den beweglichen Geist
und den allumfassenden Genius seines weltberühmten Gegners, so ließen ihn doch seine echt deutsche Gründlichkeit und sein eiserner Fleiß Erfolge erzielen, die seinen Namen mit Recht der Nachwelt erhalten haben.
37. Der Winterkönig. Don Hermann Lingg?)
Der Winterkönig! Da denkst du vielleicht, Das ist ein grauer Geselle, Dem weißer Bart bis zum Gürtel reicht, Der gehüllt ist in BärenfelleAls furchtbaren Herrscher denkst du dir ihn, Sein Szepter von Gis, die Krone Das Nordlicht und die Flammen darin Don Sternen der eisigen gone.
Rein, Kind! Der Winterkönig, der lacht! Don lieblichen Lautenklängen Erschallt es um ihn und mild ist die Nacht Und belebt von Liebesgesängen. Ein Mundschenk füllt den Goldpokal Mit herrlichen südlichen Weinen, Und neben ihm thront sein hold Gemahl 3m Schimmer von Edelsteinen. Wohl wogt ein schneeiger Hermelin Um seine Schultern, wohl knistert Das Feuer im schöngeschnitzten Kamin Und es rauscht umher und flüstert-
Hoffräulein schweben vorüber im Tanz Und Masken hin und wieder, Es flattern Scherz und Mummenschanz Im Prunksaal auf und nieder. -
Was donnert draußen, was klirrt so schwer? Auf fliegen die Doppeltüren, Lin Reiter tritt ein, man sieht es woher, Man kann den Blutgeruch spüren; Sein Blick noch stiert vom Wüten der Schlacht, Die Stimm' ist heiser geschrien. „Wir sind geschlagen," ruft er, „macht Luch schleunig bereit zu fliehen!" Auf springt der Winterkönig bleich, Lr sucht sich vergebens zu fassen, Verstummt ist die Musik sogleich, Der Saal verödet, verlassen. Wie wurden zusammengerafft und gepackt Die Silbergeschirre, die Decken! Die Maske fiel und kahl und nackt Steht da der grinsende Schrecken.
l) Vaterländische Balladen und Gesänge, S. 125.
38. TillyS letzte Tage.
208
Das war am Tage der Schlacht bei Prag, Das war der König von Böhmen; Er hatte gesessen beim Festgelag' Und draußen floß Blut in Strömen. -
Horch, wie es brauset und heult und klirrt Und weiße Flocken stieben! Der flüchtige Winterkönig irrt Aus seinem Reiche vertrieben.
38. Tillys letzte Tage. Don Hugo Arnold.') Die Schlacht bei Breitenfeld am 17. September 1631, seit jener am
Weißen Berge bei Prag der wichtigste Entscheidung-kampf, hat den Nimbus der Unbesiegbarkeit, der bisher Tillys Haupt umstrahlte, zerstört.
Von diesem
Tage an hat das Glück dem fast 73 jährigen, unermüdlichen und bis dahin
unbesiegten Heerführer den Rücken gelvandt.
Aber Tilly blieb, wie er allezeit
gewesen, gefaßt, unverzagt, ergeben, ohne Bitterkeit gegen diejenigen,
die zu
Mit Wunden bedeckt und von seinen treuen
nächst das Unglück verschuldet.
Wallonen aus dem Getümmel der Schlacht geführt schreibt er einen Brief,
den
selbst
einer' seiner
eifervollsten Ankläger,
der
englische Geistliche
und
Geschichtschreiber Harte, ein Muster christlicher Gelassenheit an einem großen,
sieggewohnten Heerführer nennt. „Es ist Gottes Ratschluß gewesen" — sagt Tilly in dem Schreiben —
„unseren Sachen ein anderes Ansehen zu geben und uns endlich mit einer augenscheinlichen Züchtigung heimzusuchen. . . .
Dieses kann
mit Recht der
Umsturz unseres Glückes genannt werden, nach welchem wir uns, statt unsere
Absichten mutig durchzusetzen, den Schlummer erlaubten.
Gott, der uns viel
leicht aufzuwecken und durch dies Unglück zu ermuntern gedenkt, kräftige uns inskünftige mit einer doppelten Aufmerksamkeit und doppeltem Eifer." Aber es kamen wettere Prüfungen.
Der Verrat umlauert ihn.
Bei
Gunzenhausen legte ein von den Schweden bestochener Konstabler Feuer unter
ein Pulverfaß und der ganze Pulvervorrat von 125 Zentnern Luft mit unsäglicher Verwüstung.
flog in die
In schmerzlichem Gram rief der alte Feld
herr aus: „Ich sehe, daß das Glück mir nimmer wohl will!" Die Entscheidung rückt näher und Tilly bedarf vor allem Hilfstruppen. Jeder Kränkung uneingedenk wendet er sich an Wallenstein mit herzlich ein
dringlichen Bitten,
„jetzt
in
der Stunde
der Not
operieren, ihm Hilfe aus Böhmen zuzuschicken".
gemeinsam
mit ihm zu
Aber der arglose Mann muß
das Bittere über sich ergehen lassen, von dem tückischen Wallenstein, dem gegen über er sich jederzeit edelsinnig, willfährig, opferwillig wie ein ganzer Ehren mann gezeigt hatte, mit schönen Worten hingehalten, getäuscht, hilflos ver lassen, verraten zu werden.
Er ertrug es klaglos.
x) Vgl. „Das Bayerland", 3. Jahrg. 1892, Nr. 3, S. 31 ff. München, R. Oldenbourg.
38. Tillys letzte Tage.
209
Der Augenblick, da es den Schutz des bedrängten Vaterlandes galt, traf das bayerische Heer in einer so mangelhaften Verfassung wie nie vorher während
des langen Krieges. Es kam die Kanonade bei Rain (15. April 1632), wo Tilly dem Schwedenkönig den Übergang über den Lech streitig machen wollte. Doch Gustav Adolf führte hier eines der kühnsten Wagnisse aus, indem er angesichts
des feindlichen Heeres den wenn auch nicht sehr breiten, doch reißenden und auf der bayerischen Seite vom Ufer überhöhten Lech überschritt und, den Fluß im Rücken, den Gegner zum Weichen brachte. Die Generale Aldringen und Cronberg wurden verwundet und kampfunfähig und bald nachher ward Tilly
selbst von einer Falkonetkugel das rechte Schenkelbein zerschmettert. Fall entmutigte den anwesenden Kurfürsten wie die Truppen.
des
15. April ward
der Rückzug
Sein
In der Nacht
donauabwärts gegen Ingolstadt an
getreten. Dorthin wurde auch Tilly verbracht. Doch der Schwerverwundete ver gaß auch unter den Schmerzen und der tödlichen.Erschöpfung nicht des Amtes, das er für des Reiches Ehre und Einheit so lange verwaltet, und die letzten Tage des alten Helden spiegeln seine ganze Laufbahn wieder. Er läßt sich immerfort noch von seinen Obersten Bericht erstatten; er läßt seine Sekretäre
fortwährend in seinem Zimmer arbeiten und erteilt mit der alten Geistes gegenwart seine Befehle. Noch am 25. April 1632, wenige Tage vor seinem Verscheiden, protestierte er in einem Schreiben an den schwedischen Feldmarschall
Horn nachdrücklich gegen eine von den Schweden zu Augsburg ausgeübte Ver letzung des Völkerrechtes. Es ist das letzte Schreiben von seiner Hand, zugleich ein letzter Beweis seiner warmen Fürsorge für den geringsten seiner Soldaten. Von da ab schwanden seine Kräfte. Eine Anzahl Knochensplitter mußten aus
der Wunde des zerschmetterten Beines gezogen werden. Klage, kein Ruf des Schmerzes kam über seine Lippen.
voll patriotischer Sorge.
Aber kein Laut der Er litt, die Seele
Wenn sein bekümmerter Kurfürst zu ihm kam um
in den letzten Stunden seinen treuen Diener zu trösten, so richtete sich Tilly
immer wieder zu der Meinung auf: „Regensburg, vor allem hütet Regens burg!" Denn hier lag das Bollwerk Süddeutschlands, der wichtigste Knoten punkt zwischen Bayern und Österreich; hier, meinte er, stehe die Kaiserkrone mit dem bayerischen Kurhute auf dem Spiele. — Kurfürst Maximilian hat
auch die treue Mahnung wohl beherzigt; von dem alten Feldherrn konnte er nicht anders scheiden als mit Tränen und Bewunderung. In dem Hause des Universitätsprofessors Dr. Arnold Rath zu Ingolstadt
des Feldherrn.
war das Sterbelager
Da lag der würdige Greis, der sieggekrönte Heerführer und
Soldatenvater, klagelos, auch von Verrat und Unglück ungebeugt. Wohl, er konnte mit freier Seele auf seine Laufbahn zurückblicken, die reich war an Taten und Mühen. Viel Kummer und Mühsal lag hinter ihm,
aber kein verdienter Fluch, keine Träne belastete sein Gewissen. KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-.
Was mensch14
38. Tillys letzte Tage.
210
lichc Kraft nach Maßgabe der Umstände zur Linderung der unsäglichen Not
der Zeit vermochte, das
hatte er geleistet
und der Umschwung der Dinge
konnte einen Mann nicht unvorbereitet treffen, den keiner seiner Siege über
mütig gemacht. Er ordnete seine irdischen Dinge um mit der Welt abzuschließen.
Über
seine älteren Besitztümer hatte er schon einige Jahre zuvor die letztwillige Zu seinen Erben setzte er die Kinder seines Bruders
Verfügung getroffen.
Jakob, vorzugsweise den Grafen Werner v. Tilly ein.
Das Besitztum Tillys
war gering. Der Uneigennützige hatte nie danach getrachtet, und was er etwa erworben, gern verschenkt. Namentlich sein Lieblingsort Altötting, seine nunmehrige Ruhestätte, wurde zu verschiedenen Malen bedacht. Die Infantin
Isabella hatte ihm einst eine kostbare Halskette mit prachtvollen Diamanten übersendet; alsbald weihte er sie der Heiligen Jungstau zu Altötting, der „Freude meines Herzens, meiner lieben Frau und Gebieterin". Die Stadt Hamburg
hatte ihm einmal
unerwartet ein Geschenk von
1000 Rosenobel (engt. Goldmünze) verehrt; er bestimmte sie zu einer täglichen Messe in Altötting. Endlich erwähnen mehrere Geschichtschreiber noch einer Summe von 60000 Reichstalern, welche Tilly sterbend seinen Wallonen ver macht habe, die ihn, „ihren Vater Johann", in der Schlacht bei Breitenfeld mit ihren eigenen Leibern gedeckt hatten. Während der greise Held ergeben seinem Ende entgegenharrte, draußen vor den Mauern der Stadt der Schwede.
tobte
Gustav Adolf war vor
Ingolstadt erschienen und hatte die Laufgräben zum Sturme eröffnet.
Aber
noch vom Sterbebette aus wirkte der Geist des alten Heerführers auf seine Truppen und sein Neffe, Werner Tilly, entflammte mit eigenem Beispiele den
Mut der Soldaten.
In der letzten Nacht, welche Tilly auf dieser Erde ver
brachte, liefen die Schweden zweimal Sturm gegen die Stadt.
Während dieser
schreckensvollen Stunden hörte der Sterbende nicht auf, die Offiziere, welche ihn umgaben, zur Pflichterfüllung aufzumuntern;
er schickte sie bis auf den
letzten nach den Wällen und schien noch einmal aufzuleben um am Kampfe teilzunehmen. Seine Worte riefen, als sie den Soldaten hinterbracht wurden, die lebhafteste Begeisterung hervor. Die Schweden wurden mit ungeheuren
Verlusten zurückgeschlagen und noch einmal schien dem großen Manne der Sieg lächeln zu wollen, der ihn so lange begleitet hatte. So kam der 30. April herauf, der seinem Leben die Marke setzte.
Sein
Beichtvater war beständig um ihn, nach dem eigenen.Willen des Feldherrn.
Gegen die Abenddämmerung gab Tilly, indem er das Kreuz machte, ein Zeichen, daß die Todesstunde näher rücke. In diesem Augenblicke ließ er seinen Neffen Werner an sein Bett treten, segnete ihn.
reichte ihm zum letzten Male die Rechte und
Seine alten Freunde Witzleben und Ruepp ließen sich, mit Tränen
in den Augen, jetzt auf die Kniee nieder und baten gleichfalls um seinen Segen. Er erteilte ihn und empfahl Ruepp, dem Generalkommissar, der ihn seit langen
39. Ein bayerischer Reitergenrral im Dreißigjährigen Kriege.
Jahren auf allen Fahrten begleitet, sein Hausgesinde.
211
Dann legte er sich
zurück und sammelte sich im Gebete. Eine Stunde später bemerkte der Beicht vater, daß Tilly seine Augen mit einem gewissen Ausdruck des Bangens nach seiner Seite hin wende. Alsobald rief der Ordensmann: „In te, Domine,
speraVi, non confundar in aeternum.“ — „Auf dich, o Herr, habe ich ge hofft; in Ewigkeit werde ich nicht zu Schanden werden!" Es waren die Worte des königlichen Sängers, welche Tilly selbst von seinem Beichtvater in der Sterbestunde sich zugcrufen wünschte. Als er sie
jetzt vernahm, schien er erquickt und gehoben und seine Gesichtszüge erheiterten sich. Er warf einen letzten Blick voll Liebe auf das Bild des Heilands und gab dann seine Seele Gott zurück.
39. Ein bayerischer Reitergeneral im Dreißigjährigen Kriege. Don Johann Heilmann?)
Nach der Schlacht bei Nördlingen hielt der französische Hof es an der Zeit, die Feinde Deutschlands, die Dänen und Schweden, nicht bloß durch
reiche Hilfsgelder zu unterstützen, damit das verderbliche Kriegsfeuer nicht er lösche, sondern mit eigenen Heeren auf der großen Kampfesbühne zu erscheinen. Der Kaiser sollte um jeden Preis matt gesetzt werden; dann konnte Frankreich endlich seinen Teil an deutscher Beute einstreichen und den weltbeherrschenden Platz einnehmen, welchen Deutschland bisher behauptet hatte. Neben Öster
reich war es vor allem Bayern, welches den harten Kampf mit so vielen Feinden weiterführte.
Der unternehmendste bayerische Reiterführer. dieser Zeit,
der
durch kühne Streifzüge den Schrecken vor den wilden bayerischen Reitern bis in die Hauptstadt Paris verbreitete, war der Feldmarschallcutnant Johann von Wert h?) l) Die Bayern int Kriege, S. 78 ff. München 1864, Lentner-Stahl. s) „Johann von Werth, zu Büttgen im Jülichschen geboren, entstammte einer Familie des unbemittelten Landadels. Er selbst nannte sich, wohl mit absichtlicher Über
treibung, einen Bauernsohn, richtig aber einen Gesellen der Fortuna, der seinem Degen alles verdanke. Als gemeiner Reiter unter Spinola in spanische Dienste getreten, war er gleich Tilly aus der Schule des spanisch-niederländischen Krieges hervorgegangen, aber der bedächtigen Schwerfälligkeit, die ein Hauptkennzeichen dieser Schule war, stand niemand ferner als er. Sein Element war der frische Reiterangriff, rastlose Beunruhigung des Feindes, Überfälle im Quartier oder auf dem Marsche — um den Feind nicht aufmerksam zu machen, marschierte er stets ohne Trommelschlag und Trompetenschall — und in der ganzen Kriegsgeschichte ist vielleicht kein Gerwral zu nennen, der mit kühnem Wagemut in Überraschung des Gegners so Großes geleistet hätte wie Werth. Seit 1630 im baye
rischen Dienste war er seit Februar 1634 Generalwachtmeister und befehligte im Sommer dieses Jahres zwei Regimenter z. Pf. und ein Dragonerregiment. An dem Siege bei Nördlingen gebührt ihm ein Hauptverdienst. Der Kaiser dankte ihm durch Erhebung in den Freiherrnstand, sein Kurfürst durch die Beförderung zum Feldmarschallcutnant." Siegm. v. Riezler, Gesch. Bayerns V, S. 508 ff.
212
39. Ein bayerischer Reitergeneral im Dreißigjährigen Kriege.
Mit Glück versuchte sich Werth gegen den neuen Feind.
Anfangs Februar
1635 geht er über den gefrorenen Rhein, „über die von Gott dem Allmäch tigen verlehnte Brücke", und nimmt Speyer.
Dann rückt er auf Fürweiler,
das von etlichen Kompagnien französischer Reiter besetzt war, wo er sich „mit diesem neuen Feind einmal versucht, welches auch gottlob wohl abgangen, mehrerteil allesamt niedergemacht worden, 3 Standarten erobert, und es soll
des Königs aus Frankreich Leibgarde, so neuerlicher Tage von Paris kommen,
dabei gewesen sein, viele französische Edelleute geblieben; haben also unsere Soldaten das französische Blut einmal versucht". So berichtet er in einem Schreiben an seinen Kurfürsten, Am 12. Juli meldet Werth seinem Herrn, daß er seit seiner Vereinigung mit dem Herzog von Lothringen, Ende Juni, einige Male gegen die Franzosen ausgerittcn sei und 37 Fähnleins und Kornels erobert habe, „und solche Konfussion hinter sie gebracht, daß sic sich nicht mehr logieren dürfen, sondern
schon etliche Städte in Lothringen derentwillen quittiert; verhoffe, es werde bald zu einem Treffen geraten und mit der Gotteshülf eine glückliche Viktoria erlangen". In den verschiedenen „Rencontres", die Werth mit den Franzosen hatte,
eroberte er bis zum 1. Oktober 50 Fahnen und Standarten. Am 16. September ritt er mit 60 Pferden aus um den Feind zu rekogno szieren. Er stieß auf 200 Pferde unter dem Obersten Sosoncour, rieb die
selben ganz auf und machte den Oberst und mehrere Offiziere zu Gefangenen. Bald darauf vernichtete er drei Kompagnien französischen Fußvolkes, welche die Stadt Char besetzen wollten. Anfangs Oktober rückte Werth mit 600 Pferden gegen Nancy „in Meinung
die wiederum nach Hause ziehende französische Noblesse zu ertappen und ihnen
einen Streich zu geben". Während Werth vergeblich auf die „Noblesse" wartet, verläßt eine Proviantkolonne von 1500 Wagen unter Bedeckung von 2 Fuß regimentern und 5 Reiterkompagnien Nancy um ins Lager zu ziehen. Werth fällt über die Kolonne her, jagt die Reiterei in die Flucht, haut 1200 Fuß
knechte nieder, nimmt viele Offiziere gefangen, erobert 22 Fahnen und erbeutet alle Wagen, „welches blutige Scharmützel durch ganz Frankreich erschollen und den Franzosen das Herz ziemlich benommen".
Werths Verlust bestand
nur in 12 Mann, „dann, obwohl die Franzosen zwei Salven unter ihm gegeben, sind doch beide ganz zu hoch gangen". Hierauf stößt er auf die 200 Pferde starke „Noblesse" und jagt sie in die Mosel, wo sie fast alle ertranken. Es war keine Übertreibung, wenn nun der bayerische General-Kommis-
sarius Schäffer, der sich im Hauptquartier des Herzogs von Lothringen be fand, am 11. Oktober an Kurfürst Maximilian schrieb: „Er hat bisher
dem Feind mehr Abbruch getan als die ganze Gallassche Armee, welche vier mal stärker als der Feind".
39. Ein bayerischer Reitergeneral im Dreißigjährigen Kriege.
213
Im folgenden Jahre (1636) stieß Werth mit 11 bayerischen Regimentern — 5 zu Fuß, 5 zu Pferd und 1 Dragonerregiment — zu dem Kardinalinfanten Thomas von Savoyen um von den Niederlanden aus einen Vorstoß ins Herz von Frankreich zu machen.
Bei Capelle vereinigen sich
Werth, Piccolomini und der Herzog Franz von Lothringen mit dem Kardinalinfanten, der mit spanischen Truppen diese Stadt belagerte. Capelle kapitu Auf die Nachricht, daß der Graf von Soissons mit 8000 Mann und 5 Geschützen in La Fere liege, rückte Werth mit 3000 Pferden an Guise lierte.
vorüber um den Grafen zu überfallen.
Werth hatte schon mit seinen Dra
gonern einen „Paß" geöffnet, als die spanische Reiterei plötzlich „tornetetta" machte. Hierdurch war sein Anschlag vereitelt. Werth erobert hierauf
Ribemont,
rückt wieder bei der Armee ein und wohnt der Eroberung von
Catelet bei. Nachdem er den Übergang über die Somme zwischen Bray und Corbie forciert halte, vernichtete er das Regiment Raymond. Dann verfolgte er die Franzosen mit einigen tausend Pferden, ereilte ihre Nachhut bei Noyon, hieb
150 Mann nieder, eroberte 2 Standarten und machte viele Gefangene. Feind zog nach Compiegne, wo er sich verschanzte.
Der
Am 1. September vernichtete Werth das Regiment Plancy zwischen Compiegne und Montdidier und am 2. eine Kompagnie Kürassiere, „so sich zip Paris von des Königs Gesindlein zusammengeschlagen".
Werths Name verbreitete solchen Schrecken, daß sich ein großer Teil der Bewohner von Paris nur hinter der Loire sicher glaubte und aus der Haupt
stadt flöt,.1) Paris wäre mit leichter Mühe erobert worden, wenn der Kardinalinfant dem Rate Werths gefolgt und statt sich vor Corbie aufzuhalten den Schrecken in Paris benutzt hätte. Als aber Richelieu sah, daß die Gefahr, welche Paris bedrohte, nur vou einigen tausend Reitern, die sich in der Umgebung *) „Vorläufer des „Marschall Vorwärts" schlug er dem Kardinalinfantcn vor stracks auf Paris loszugehen und ans dem Louvre den kaiserlichen Doppeladler auszu pflanzen. Schon verbreitete sich der Schrecken vor den wilden bayerischen Reitern bis in die Hauptstadt und die von Paris nach Süden und Westen führenden Landstraßen be deckten sich mit Fliehenden. In dem Volksliede:
»Petita enfants, qui pleurera ? Voici Jean de Vert, qui a'avance l< lebt noch heute in Frankreich das Andenken des schrecklichen Reitergencrals fori: »Jean de Vert dtant un brutal,
Qui fit pieurer le roi de France, Jean de Vert ötant gdndral A fait trembler le Cardinal.« Den Ruhm, der 1870 den kühn vorausschwärmendcn Ulanen in denselben Gegen den zu teil ward, haben in diesem pikardischen Feldzuge von 1636 die bayerischen Reiter geerntet." Siegm. v. Riezler, Gesch. Bayerns V, S. 515.
214
40. Die Schlacht bei Alerheim 1645.
Herumgetrieben, verursacht worden war, ermannte er sich und bewaffnete die
Bürgerschaft zum Widerstand.
Mit 50000 Mann rückte der König nach
Compiegne und statt des Marsches auf Paris mußten nun die Verbündeten
bald den Rückzug antreten.
Doch noch in der Nacht des 4. Oktober zwischen 11 und 12 Uhr über fiel Werth mit der bayerischen Reiterei in Montigny sechs feindliche Regimenter, erbeutete 5 Standarten, über 1000 Pferde und alles Gepäck.
Der Graf von
Degenfeld, der junge Prinz von Württemberg samt andern Offizieren „haben
sich in den Kirchhof salvo honore in der Schlafhosen und Pantoffel salviert,
die übrigen aber sind teils niedergemacht teils in dem Dorfe neben den andern Kornels verbrannt worden". Indem der Kommissarius Forstenhauser dem Kurfürsten diese Tat Werths
meldet, fügt er bei: „Kann demnach Euer Kurfürstliche Durchlaucht gnädigst
abnehmen und erachten, daß allhiesige Truppen nicht allein nicht feiern, sondern diejenigen sind, welche allein dem Feinde Abbruch tun und denselben Tag und Nacht strapazieren, denn ich mich nach der Zeit, als ich bei der Armada mich befinde, nicht erinnern kann, daß solcher Einfall oder anderer Abbruch dem Feind von den Kaiserlichen oder Spanischen wäre ins Werk gesetzt worden." Nach diesem Übersoll räumte Werth das französische Gebiet, wo sein
Name noch lange nachher mit Schrecken genannt wurde.
40. Die Schlacht bei Alerheim an der Wörnitz gegen das
französisch-weimarisch-hessische Heer 1645. Don Siegmund von Riezler?)
Am Jahrestage der ersten Freiburger Schlacht, 3. August, ward bei
Alerheim, nahe dem Schlachtfelde von Nördlingen, die Entscheidungsschlacht dieses Kriegsjahres geschlagen. Dort, am rechten Ufer der Wörnitz, hatte der General Franz von Mercy, seit Tilly das größte strategische Talent unter
den bayerischen Heerführern, vom Wenneberg über das Dorf Alerheim bis zum gleichnamigen Schlosse eine von Natur feste Stellung besetzt, deren Front
und Flanken er durch Schanzen noch verstärkte. Mit den Kaiserlichen etwa 15000—16000 Mann stark mit 28 Geschützen stand er etwa 6000 Franzosen, 5000 Weimarern und 6000 Hessen, also 17 000 Mann mit 27 Geschützen,
unter dem gemeinsamen Oberbefehl des Herzogs von Enghien?) und des Marschalls Turenne gegenüber. Die Schlacht begann erst zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags mit dem Angriffe des Herzogs von Enghien auf das langgestreckte Dorf Alerheim im ’) Geschichte Bayerns, V. Band, S. 584 ff. Gotha 1903, Perthes. ’) Ludwig II. von Bourbon, Prinz von Conds, der große Conds genannt, einer der größten Feldherrn seines Jahrhunderts.
40. Die Schlacht bei Alerheim 1645.
Zentrum.
215
Wie bei Freiburg packte Enghien den Stier bei den Hörnern und
wie dort mußte er seine Kühnheit mit furchtbaren Verlusten bezahle». Der Kampf um den Besitz des Dorfes gehört zu den blutigsten des großen Krieges
— ein Dorfgefecht, das an Bazeilles erinnert — inmitten brennender Häuser, welche die Angreifer angezündet hatten. Hier fiel der Marschall Graf Marfin, Enghien selbst, tapfer wie immer, ward zweimal verwundet, fast alle Offiziere
seines Gefolges getötet oder schwer verwundet.
Mercy den Platz hinter dem Dorfe,
Etwa gegen 6 Uhr verließ
von wo er bisher den Kampf geleitet
hatte, um seine Leute im Dorfe persönlich anzufeuern. Da traf ihn eine feindliche Musketenkugel, auf der Stelle tödlich, in den Kopf und entschied
über das Schicksal des Tages. In Alerheim jedoch konnten die Franzosen auch nachher keine Fortschritte machen, ja zuletzt ward, was von ihrem Fußvolk hier noch am Leben war, von den Bayern unter Ruischenbergs Führung aus dem Dorfe hinausgeworfen und irrte in völliger Auflösung in der Ebene umher.
Ungefähr um dieselbe Zeit, da Mercy fiel und, wie es scheint, ohne davon zu wissen brach Werth mit der bayerischen Reiterei des linken Flügels zum Angrifi hervor, an einer Stelle, die eine französische Offizierspatrouille vorher als für Reiterei ungangbar bezeichnet hatte.
Der Feind versah sich datier hier keines Angriffes, und als die bayerischen Reiter hcransprcngtcn, stob
die ganze, an Zahl weit überlegene Reitermasse des französischen rechten Flügels in wilder Flucht davon — ein Vorgang, sagt der französische Marschall Gramont, wie er sich vielleicht nie wiederholen wird.
Auf ihrer Flucht riß
diese Kavallerie auch 4 Bataillone hessischen Fußvolkes mit sich fort.
Auch
die französische Reserve dieses Flügels wurde geschlagen und in die allgemeine Flucht verwickelt. 70 Fahnen und Standarten und 8 Geschütze wurden hier von den Bayern erobert. Nur die Regimenter Fabert und die Irländer Walls hielten eine Zeitlang stand. In diesem Kampfe wurde der Führer des
rechten französischen Flügels, Marschall Gramont, von dem Rittmeister Sponheim des bayerischen Kürassierregiments Lapierre gefangen genommen,
sein ihn mit Aufopferung verteidigendes Gefolge größtenteils getötet. Zug, der Mercys Leiche
seiner Witwe zuführte,
brachte den
Derselbe gefangenen
Gramont nach Ingolstadt. Zwei Regimenter Werths setzten die Verfolgung der aufgelösten französi schen Reiterei zwei Stunden weit fort und drangen in das Gepäck des Feindes, ohne daß das zu seiner Bedeckung aufgestellte Regiment es hindern konnte.
Als endlich der linke französische Flügel unter Turenne zum Angriff
gegen den Wenneberg schritt, standen die Dinge für die Franzosen so schlimm als möglich. Auch Turenne geriet anfangs hart ins Gedränge, bis die Reserve der Hessen und Weimarer, die Reiterei unter Geiso, Oehm und dem Land grafen Ernst von Hessen, das Fußvolk unter Uffeln eingriff.
Dann erst
wurde der durch Abordnungen in das Dorf Alerheim sehr geschwächte rechte bayerische Flügel, wo auch die Kaiserlichen standen, durchbrochen, sein Befehls-
40. Die Schlacht bei Alerheim 1645.
216
Haber Geleen, die kaiserlichen Obersten Graf Holstein und Hiller, die bayerischen
Royer, Stahl, Cobb gefangen. Ein Teil der Reiterei dieses Flügels floh bis Donauwörth zurück, so daß später auf Befehl des Kurfürsten über zwei Ritt meister das Kriegsrecht gehalten wurde.
Alle Geschütze auf diesem Flügel
gingen verloren, auch die vom siegreichen linken Flügel eroberten Stücke sielen — freilich unbrauchbar gemacht — in die Hand des Feindes zurück, da die Fuhrknechte mit den Pferden und Protzen durchgingen. Als Werth mit dem größeren Teile seiner Reiterei von seinem Sieges ritte gegen Alerheim zurückkehrte, senkte sich schon die Nacht auf das Schlacht feld. Turenne urteilt, daß die siegreiche hessisch-weimarische Reiterei nicht
imstande gewesen wäre einem Angriffe Werths in ihrem Rücken zu widerstehen
und auf diesem Ausspruche fußend hat Napoleon Werth getadelt, daß er nicht
in der Diagonale umkehrte?) Aber Werth wußte nicht, wie die Dinge auf dem rechten Flügel standen. Hier machte sich eben der Fall Mercys fühlbar, der Mangel eines Oberleiters, der die allgemeine Lage
überschaut und den
Unterführern die entsprechenden Weisungen gegeben hätte. Zunächst blieben die zwei siegreichen Flügel, der linke bayerische und der linke französische, in Schlachtordnung voreinander stehen. Da aber die feindliche Reiterei etwas über das Dorf Alerheim vorgedrungen war, ergaben sich die Kompagnien des Regimentes Gil de Hasi,
an Turenne
die den Kirchhof und die Kirche verteidigt hatten,
ohne zu wissen,
daß ihre Landsleute ganz nahestanden.
Wie
diese Ergebung so war es wahrscheinlich auch voreilig, daß die Bayern in der zweiten Hälfte der Nacht — in guter Ordnung — den Rückzug nach
Donauwörth antraten. Nach Werth war der Mangel an Munition dafür bestim mend. Nach Turennes Ansicht hatten die Bayern, abgesehen vom Verluste ihres Oberfeldherrn, nicht mehr Grund das Schlachtfeld zu räumen als die Franzosen.
Die ungeheueren Verluste der Franzosen, nächsten Tagen
nicht
mehr
als
von deren Fußvolk in den
12000—15000 Mann zusammengebracht
werden konnten, stempelten ihren taktischen Erfolg zu einem Pyrrhussieg. Drastisch zeichnet die Lage die Äußerung der Madame de Montpensier, als sie in Paris zum Tedeum ging: es wäre besser ein De profundis anzustim men. Der altbewährten Tapferkeit der bayerischen Regimenter hat König Ludwig von Frankreich ein beredtes Zeugnis ausgestellt, wenn er in einem Briefe an die Landgräfin von Hessen von der „furchtbaren und ruhmbedeckten bayerischen Armada" spricht, die nun geschlagen sei. Die Kraft der Franzosen aber war durch ihre schweren Verluste zu sehr erschüttert, als daß der Sieg,
den sie allein ihren deutschen Verbündeten verdankten, strategische Folgen haben *) „Statt auf den bedrängten rechten Flügel zu eilen zog er sich in seine alte Stellung zurück. Durch dieses Benehmen verlor Werth, der tapferste Soldat des bayerischen Heeres, den Ruhm eines umsichtigen Feld Herrn." Heilmann.
40. Die Schlacht bei Alerheim 1645.
217
konnte. Daß sich die Stadt Nördlingen am 9. August den Franzosen ergab, die jedoch nach den Übergabebedingungen keine Besatzung in die Stadt legen
durften, ward mehr durch die von der Bürgerschaft eingenommene Haltung als durch die Alerheimer Schlacht herbeigeführt.
Am 24. August besetzten
die Franzosen auch Dinkelsbühl. Aber zum Angriff auf Bayern, wo bereits Bußübungen und Gebete zur Abwendung der Gefahr angeordnet wurden, und zu neuem Kampfe mit dem bayerischen Heere fehlten
ihnen Mut und
Vielmehr wandte sich Turenne — Enghien war erkrankt nach Frank
Kraft.
reich zurückgekehrt — zur Belagerung Heilbronns, dessen Besatzung Maximilian, die strategische Bedeutung der Stadt richtig würdigend, schon vor der Schlacht auf 1200 Mann unter Fugger verstärkt hatte. Der gefangene Geleen (Gott fried Graf Huyn von Geleen), der im Beginne des Krieges in bayerischem,
seit 1636 aber in kaiserlichem Dienste stand, war gegen Gramont ausgewechselt und vom Kurfürsten (28. Sept.) als Feldmarschall an die Spitze des bayeri schen Heeres gestellt worden. Werth, seit 31. Mai 1643 General der Kavallerie, der nach Mercys Fall als der dienstälteste General den Befehl übernommen
hatte, ward übergangen. Die Feldzüge der Bayern unter Mercy
gegen
die Franzosen
in den
Jahren 1643—1645 gehören zu den bedeutendsten militärischen Leistungen
des großen Krieges. Dank seinem genialen Führer errang das bayerische Heer in diesen Jahren nochmals die hervorragende Tüchtigkeit und annähernd ebenso glänzende, wenn auch nicht so wirksame Erfolge wie in dem ersten Jahrzehnt des Krieges unter Tilly — Erfolge, die dem Feldherrn um so
höher anzurechnen sind, als er durch die Notlage und immer wiederholte Befehle seines Fürsten auf die größte Schonung seiner Truppen angewiesen war.
Welche Beliebtheit sich dieser Fremdling in Bayern errungen hatte,
ward dem Marschall Gramont klar, als seine Leiches nach Ingolstadt gebracht
wurde.
Als Stratege unübertroffen, als Taktiker mit allen Fortschritten der
Kriegskunst vertraut, Meister in der Ausnutzung
des Geländes,
bei
aller
Strenge doch ein Vater seiner Soldaten, für deren Verpflegung er einsichtsvoll
sorgte,
ein
lauterer und
uneigennütziger Charakter,
würde Mercy
in
den
Blättern der Kriegsgeschichte wohl einen ebenso klangvollen Namen besitzen wie Tilly, hätte nicht die feindliche Kugel in Alerheim seinem Leben ein vor
zeitiges Ende bereitet?)
T) Beigesetzt in der Michaelskapelle der St. Moritzkirche ebendort. — Mercy ent stammte einem lothringischen Adelsgeschlechte.
a) Der Herzog von Enghien, Mercys begabtester Gegner, hat dessen Feldherrn befähigung anerkannt. Auf der Stelle, wo er gefallen, ließ er einen Denkstein setzen mit der Inschrift: „Sta viator, herocm calcas!“ — Adlzreiter nennt ihn „Ducem vinci ncscium“. Seine Büste ist in der bayerischen Rnhmeshalle ausgestellt.
218
41. Was uns die Residenzfassade Kurfürst Maximilians I. sagt.
Die Restdenzfafsade im Jahre 1700 nach einem Kupferstiche von Michael Wening.
41. Was uns die Residenzfasfade Kurfürst Maximilians I. sagt. Don Karl Trautmann.*
Wohl kaum ein Bau neben den hochragenden Kuppeltürmen der Frauen kirche ist dem Münchener so sehr ans Herz gewachsen wie die Residenz und lieb und traut von Kindheit an bleibt ihm das Bild ihrer altersgrauen Fassade
mit den feierlich prächtigen Marmorportalen, den grimmen Wappenlöwen und
der Madonna, zu deren Füßen, wie an einem schlichten Bürgerhause, in röt lichem Scheine das „ewige Licht" glimmt, das Kurfürst Maximilian I. gestiftet. Für uns ist eben der Bau, vor dem einst in den Maitagen des Jahres 1632 der Schwedenkönig Gustav Adolf sein Pferd anhielt und in bewundernden Worten seines großen Gegners Schöpfung anerkannte, nicht nur die Verkörperung der seit Jahrhunderten wirkenden, zum Herzensbedürfnis gewordenen Kunst
pflege der Wittelsbacher, die bevorzugte Stätte, wo so überraschend zutage tritt, was jeder von ihnen in künstlerischen Dingen gefühlt und erstrebt, er ist,
wie der Münchener vordem das Vaterhaus nannte, die liebe, alte „Heimat" unseres aus dem Bayernstamme hervorgegangenen Herrschergeschlechtes, der
Bau, dessen Mauern gleichsam zum Träger der Erinnerung geworden sind an all die glücklichen und schweren Zeiten, die Fürst und Volk gemeinsam durch lebt in unentwegter Zusammengehörigkeit.
Ringsum freilich hat alles sich gewandelt.
Aus der engen Schwabinger
gasse von ehedem ist ein von den mächtigen Gebäuden der Feldherrnhalle und
der Theatinerkirche begrenzter Platz geworden mit dem Ausblick in eine impo sante, kilometerlangc Prachtstraße, und wer heute die ursprüngliche Umgebung sich vor Augen führen will, muß in unser Bayerisches Nationalmuseum gehen
und des kunstfertigen Drechslers Jakob Sandtner Holzmodell betrachten, das uns mit so unvergleichlicher Anschaulichkeit zurückversetzt in das München
des 16. Jahrhunderts. Dann aber wird ihm klar werden, was mit dieser Fassade gewollt war. Unmittelbar an der Straßenlinie, nicht etwa durch Graben und Mauern von dem Getriebe des Alltagslebens geschieden, steigt der Bau hoch empor über dem trauten Gewirre der Giebel, der Erker und der Türmchen gegenüber. Aber gerade hier, wo jedes der schmalen, bescheidenen Bürgerhäuser sein eigen artiges Gesicht zeigte, muß die Residenz in ihrer selbstbewußten Größe und
41. WaS uns die Residenzfasjade Kurfürst Maximilians I. sagt.
219
herben Geschlossenheit um so hoheitsvoller gewirkt haben. Nicht ein Fürstensitz der
deutschen Renaissance tritt uns entgegen mit reichbewegter Umrißlinie, malerisch empfunden und durchgeführt, sondern eine Monumentalität, die in italienischer
Schulung gereist, ihr Rüstzeug in den Wirkungen der einheitlichen Massen und der wagrechten Linien findet, eine Weiterentwickclnng jener Baugedanken, die mit den beiden unmittelbar vorhergehenden Schöpfungen des Herrscherhauses, dem
Die Umgebung der Residenz im Jahre 1571 nach Jakob Sandtners Holzmodell. (Die Residenz ist späterer Zusatz.)
Jesuitenkollegium an der Neuhausergasse, dem heutigen Akademiegebäude, und
der Herzogmaxburg im Münchener Stadtbilde bereits zu Wort gekommen waren.
Aber um wieviel strenger, durchgeistigter als dort erscheint alles an der Residenz Kurfürst Maximilians in Anlage wie in Durchführung — ein wahres
Abbild des großen Bauherrn, der das Werk in ernster Zeit, unmittelbar vor dem Ausbruche des großen Krieges, entstehen ließ und der, wie es in seiner herrsch gewaltigen Natur lag, das Schaffen seines Künstlerkreises wohl tiefer beeinflußt haben mag als man bisher annahm. Es ist sein Wesen, das hier waltet, wie wir es aus den Schilderungen jener kennen, die ihm einst im Leben
nahestanden, und wie es uns die Bildnisse zeigen: die unter schweren Sorgen
220
41. Was uns die Residenzfassade Kurfürst Maximilians I. sagt.
frühgealtcrten Züge, tiefernst und stahlhart und von
wie sein Wollen und Vollbringen,
unbeugsamer Energie
das scharfe, durchdringende Auge,
das
schneidende Metall der Stimme, vor deren Anrede selbst die kampfgcwohnten Feldobersten erzitterten, jeder Zoll ein Fürst, zu tiefst durchdrungen von der göttlichen Würde, noch mehr aber von den Pflichten des Herrschcrtumes, in
deren Dienst er in geradezu idealer Hingebung sein ganzes Leben stellte.
Ein solcher Fürst läßt sich sein Heim wohl anders bauen als ein sorg loses, fcstesfreudiges Wcltkind. Auch anders wie sein Vater Herzog Wilhelm V.,
dessen milde, beschauliche Natur in den träumerischen Einsiedeleien, die er um Schloß Schleißheim hatte bauen lassen, die Welt fand, wo cs ihm so recht glücklich ums Herz war und als dessen Wohnstätte in der Münchener Residenz der Bau am Grottenhof sich erhob, jenes lauschige Idyll voll Blumenduft und Brunnengeplätscher. Was Maximilian schuf, trägt andere Züge.
Es ist die ernste Hoheit der
Kaisertreppe, von deren Wänden die Ahnen der Wittelsbacher herniederschauen, die weiträumigen, lichtdurchflutetcn Korridore, die gemessene Pracht der Stein zimmer — eine wunderbar feierliche und großzügige Architektur, wie kein gleich
zeitiger Bau in Deutschland sie ausweist.
Und dazu als Bilderschmuck nicht
etwa ein heiteres Spiel mit antiken Göttersagen, sondern die Verkörperung dessen, was seines Lebens Richtschnur und Inhalt gewesen: Gottesfurcht und Herrschertugend. Was dem Innern des Baues seine Signatur gibt, das spricht schon die Fassade aus. Ihre gewaltige, durch keine Gliederung unterbrochene Länge veranlaßt den Meister in weisem Maßhaltcn dazu, die Hauptwirkung auf drei Punkte zu sammeln, auf die beiden Portale und die zwischen ihnen liegende Madonnennischc, nur diese plastisch zu gestalten, das weitere aber der Malerei zu überlassen.
Wie bekannt, war München schon während des Mittelalters ein bevorzugter Sitz dieser Schmuckart und in den Tagen der ausgehenden Renaissance weit berühmt wegen der farbigen Zier seiner Behausungen. Als die Residenz Maximilians entstand, besaß die Fassadenmalcrei längst Hcimatrecht auf alt
bayerischem Boden;
hervorragende Künstler wie Hans Müelich, Bocks
berger, Christoph Schwarz hatten in unserer Stadt Reizvolles auf diesem Gebiete geschaffen und mit Recht sang bereits Anno 1577 ein fahrender Poet
von den Wohnstätten der hiesigen Bürger: Die Heisser sein gmallt, sollt glauben mir,
Don anten Historien und Geschichten.
Mich wundertt, wie manss Khan erdichten,
Don den Schlachten, di« man hatt gethan,
Dass mass als schön gemalt daran.
Wie hübsch das aussah, zeigen uns erhaltene Aquarelle und Kupferstiche,
in denen die nunmehr kahlen Häuserflächcn unserer Altstadt zum Leben er-
41. Was uns die Residcnzfassade Kurfürst Maximilians I. sagt.
wachen und wieder zur kunsterfülltcn, farbenfrohen,
im Stadtbilde so bedeut
sam mitsprechenden Bilderchronik werden, die sie ehedem gewesen. alte Art,
die
ihre
buntbewegten Schlachtenszcnen,
221 Es ist die
ihre Wappen, Allegorien,
Fürstenbilder und Grotesken mehr lustig und genial als
organisch über die
Das Nordportal der Residenz in München.
ganze Fläche verstreut, und gerade im Anblicke solcher Werke, die ja ihre täg liche Umgebung bildeten, mußte in den Meistern der Residenz wohl die Über
zeugung sich befestigen, daß jede freiere Gestaltung, jede vielfarbige Wirkung der Malerei den
getragenen Ernst ihrer für damalige Verhältnisse riesigen
Front unbedingt zerstören müßte.
Und so entstand im bewußten Gegensatze zu
der Hellen Freude an bunter Zier, wie er dem Altbayernstamme im Blute liegt
und noch jetzt an den Bauernhäusern unseres Hochlandes uns entgegen jubelt,
jenes fast alles ornamentale Beiwerk verschmähende Architekturgerüste, das gewiß eine der strengsten Fassadenmalcreien darstcllt, die jemals geschaffen wurden.
222
41. WaS uns die Residenzfassade Kurfürst Maximilians I. sagt.
Es war eine hochglückliche Lösung, fast möchte man sagen die mit Natur notwendigkeit sich ergebende. Neben der Wucht der Portale kann und will
die Malerei nicht selbständig wirken und sie ist mit ihren durchgehenden Pilaster ordnungen in der Tat nichts weiter als das ruhige Ausklingen der dort angeschlagenen Stimmung über die ganze Fassade hin, gleichsam der sanfte, ebenmäßige Wellenzug auf einer im leichten Windhauch bewegten stillen Seeflächc. -
Daß nicht mehr gewollt war, beweist auch die Farbenstimmung der Be malung: ein gebrochenes Steingrau mit einem grünlichen Anfluge, der sich, wie bei den Bronzen des Portalschmuckes, einem Edelröste gleich über die Mauern legte und in der Ausführung die auf den Kupferstichen der Fassade
so hart und steif wirkenden Architekturglieder nur wie leicht verschleiert zlir Geltung kommen ließ. Nicht wie ein farbensattes Bild, an welchem jede Einzel
heit greifbar lebendig sich abhebt, sollte diese Malerei wirken, nur wie ein ver blaßter Wandteppich, der den sanft getönten, stimmungsvollen Hintergrund bildet für die herrlichen Kunstwerke in Erz und Marmor. Der architektonische Schwerpunkt aber liegt in den beiden triumphbogen artig gestalteten Portalen, welche die Fassade vollauf beherrschen und die allein genügen würden um den Charakter des Baues als Fürstensitz zum Aus druck zu bringen. Es sind strenge Gebilde von hoher Monumentalität, und wiewohl sie kräftig genug sich profilieren um für sich zu wirken, sind sie mit
ihrer in dem ruhigen, erlesenen Material des roten Marmors und der Bronze durchgeführten Pilasterarchitektur doch wieder so fein gehalten, daß sie nicht aus der Fassadenmalerei herausficlen noch durch barocke Säulenhäufungen und Ausladungen die schlichten, niederen Häuser gegenüber erdrückten. Es zeigt
sich eben auch hier, wie später bei den Münchener Palästen des 18. Jahr hunderts, daß diese sinnigen Meister nicht in selbstsüchtiger, nur das eigene Werk im Auge habender Weise schufen, sondern mit steter Rücksicht auf die örtliche Umgebung, mit richtigem Empfinden für den aus Klima, Material und
Arbeitstradition heraus erwachsenen Baucharakter des Stadtbildes. Und darum fügte sich die Residenz trotz ihrer mächtigen Abmessungen der alten Schwabinger gasse ebenso ungezwungen ein wie etwa Cuvillies' reich und doch so zart ge
haltene Stuckfassaden in die einst so fein gestimmten, jetzt aber als Gesamt kunstwerke leider ihrem Untergange unrettbar zueilenden Straßenbilder der Theatiner- und Promenadestraße. Und dazu tritt nun der Figurenschmuck der Portale: die mit den Giebel
stücken wie verwachsenen Verkörperungen der Regententugenden, die ehrfurcht
gebietenden, meisterhaft ausgeführten Fraucngestalten der Weisheit und Gerech tigkeit, der Stärke und Mäßigung. In ihnen werden schon am Äußeren des Baues die ersten ergreifenden Akkorde jenes so tief durchdachten und volltönend dahinrauschenden Hymnus auf die Ideale des Herrschertums angeschlagen, in welchem vordem die ganze malerische und plastische Ausstattung der Residenz Kurfürst Maximilians zusammenklang.
41. Was uns die Residenzfassade Kurfürst Maximilians I. sagt. Aber der Herrscher,
223
der sich dieses Heim erbaut hatte, war ein katho
lischer Fürst, der mutige, aufopferungsvolle Vorkämpfer in bett 30 Kriegsjahren für den alten Väterglauben, den
er mit un
erbittlicher Strenge seinem Volke erhalten wissen
wollte — ein katholischer und ein altbayerischer Fürst. Darum thront als geistiger Mittelpunkt
der Fassade an der Stelle, wo der welsche „Principe" wohl stolz das Wappenschild seines Geschlechtes eingefügt hätte, in anmutiger Würde das
Standbild
der Himmelskönigin
mit
dem
Jesukindlein und als leiser, holder Beiklang die
aus einem Engelreigen so entzückend
sich ent
wickelnde Laterne für das „ewige Licht". Und über der Statue, dem ersten Denkmale jener
zartsinnigen Madonnenverehrung, der Maxi milian später noch in der Münchener Mariensäule einen so volkstümlichen Ausdruck gab, zwei Himmelsknaben den in seinem demütigen Gottvertrauen für den kampferprobten Fürsten so bezeichnenden Hausspruch: Sub turnn
halten
praesidium confugimus, sub quo secure laetique degimus, oder wie es der ehrenfeste
Jurist Johannes
Schmid
im Jahre 1685 in
deutschen Verslein wiedergab:
Die sich dir ergeben, In Sicherheit leben.1) Es ist der uralte, so rührend-schlichte Brauch des „Hausbildes", der uns hier ent gegentritt, des geschnitzten oder gemalten „Haus
patrones", dem man Schutz und Wohlergehen der Heimstätte anvertraut, und es mutet wirklich
Die Patrona Bavariae.
herzerwärmend an in monumentaler Steigerung an dem Fürstenschlosse wiederzufinden, was selbst heute noch der bescheidensten Svldnerhütte nicht fehlen darf, die vom einsamen Waldessäume unseres Alpen vorlandes hinausblickt in die schweigende Bergeswelt. Das ist der altbayerische Zug an unserer Residenzfassade.
*) Vgl. Jakobus Balde carin. lyr. IV, 43: Qui Palatinae tua signa moli, Wer an seines Schlosses Portal dein Bildnis, Virgo, praefixit, colit eminentem Jungfrau, aufstellt, ehrt dich als seine Herrin Non foris tantum sed et intus ipso in Nicht nach außen nur, nein, er trägt dich lies im Pectore gestat. Innersten Herzen!
224
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I. Don Siegmund von Riezler.')
Maximilian ist der einzige unter den deutschen Fürsten, der Beginn und Ende des Dreißigjährigen Krieges erlebte, der einzige, der in allen Phasen des Kampfes mit im Vordergründe steht. Und in seiner Politik im Kriege spiegelt sich getreu der Charakter des großen deutschen Bürgerkrieges: hier wie dort vermengen
sich die religiösen Triebfedern mit Besitz- und Machtfragen, hier wie dort geben die ersteren den Anstoß zum Kampfe und behalten während des Kampfes das Übergewicht. Als treuer und gehorsamer Sohn seiner Kirche ist Maximilian trotz seiner Friedensliebe einer von jenen geworden, welche die Fackel zuni
Brande des großen Krieges anlegten. Selbst seine anfängliche Zurückhaltung in den konfessionellen Streitigkeiten im Reiche ist zum guten Teil durch das religiöse Motiv zu erklären, daß ihm die Abwehr der mohammedanischen Türken
noch wichtiger und vordringlicher erscheint als die der Protestanten.
Dann
aber gibt er durch sein Eingreifen zum Schutze der katholischen Einrichtung der Prozessionen in Donauwörth das Signal zum Zusammenschlüsse der Pro
testanten in einem Bündnisse.
Der katholische Gegenbund, der dessen natür Er rät dem
liche Wirkung ist, wird von ihm ins Leben gerufen und geleitet.
Kaiser Matthias davon ab in Böhmen religiöse Zugeständnisse zu machen, zu denen sich dieser in seiner Notlage einen Augenblick fast gezwungen sieht und die den Ausbruch des Krieges wahrscheinlich verhindert hätten. Er selbst, der jede Einmischung in die inneren Wirren Österreichs vordem so entschieden ab
lehnte, hätte dann in den böhmischen Krieg nicht eingegriffen, hätte es nicht gegolten dem gut katholischen Kaiser zu helfen, den kalvinischen Fürsten zu vertreiben, der Gefahr einer protestantischen Mehrheit im Kurfürstenrate und damit der Möglichkeit einer protestantischen Kaiserwahl für die Zukunft vor
zubeugen. Auch die ehrgeizigen Ziele, die er dabei sogleich ins Auge faßt, sind nicht frei von religiöser Färbung: die Kur und die pfälzischen Lande als Preise davonzutragen erscheint als Gewissenspflicht, da die katholische Mehrheit im Kurfürstenrate gesichert und die pfälzische Bevölkerung dem Katholizismus zurückgewonnen werden soll. Als endlich die Ohnmacht der besiegten Prote stanten dem Kriege ein Ende zu bereiten scheint, dringt Maximilian darauf, daß als Siegespreis die Zurückstellung der säkularisierten Stifter und Güter an die katholische Kirche gefordert und durchgeführt werde — und sieht sich
nun gezwungen auch den Kampf mit Gustav Adolf aufzunehmen, der nicht nur als politischer Rivale Habsburgs um die Ostseeherrschaft sondern auch als Schirmer und Befreier seiner bedrängten Glaubensfreunde in Deutschland landet.
Da die Religion unvergleichlich
höher steht als die Nationalität,
9 Geschichte Bayerns, V. Band, S. 673 ff. Gotha 1903, A. Perthes.
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
225
wenden sich die Protestanten zu ihrem Schutze gegen andersgläubige Volks
genossen unbedenklich an den fremden Glaubensgenossen. Zu spät entschließt sich der Bayernfürst zu gewissen Zugeständnissen — der schwere Fehler, der in der Überspannung der Ansprüche nach dem Siege lag, ist nicht wieder gut zumachen. Gegenüber der neuen politischen Gestaltung versagt der französische Rückhalt, den er sich vorsorglich für Notfälle sichern wollte: Richelieu wie seinem Nachfolger Mazarin liegt die Schädigung Habsburgs noch mehr am
Herzen als der Schutz der katholischen Sache.
Bayerns Ringen mit Frank
reich ist der einzige Abschnitt des großen Krieges, in dem das religiöse Motiv nicht direkt wirksam war. Vorher aber war dem Kampfe in keinem Lager der Charakter als Religionskrieg so stark ausgeprägt wie int bayerischen.
Maximilians Hauptziele in der inneren Politik waren Erhaltung der Glaubenseinheit wenigstens in seinem eigenen Lande, da sie im Reiche nicht mehr möglich war, und eine religiös-sittliche Erziehung der Untertanen,
wie sie den Geboten seiner Religion entsprach; im Reiche: die Erhaltung der geistlichen Fürstentümer und ihres Besitzstandes und Sicherung des katho
lischen Charakters des Kaisertums auch für die Zukunft.
Diese Ziele wurden
nur teilweise erreicht und nur um den Preis eines mörderischen Bruderkrieges, der das eigene Land wie die ganze Nation dem tiefsten Elende preisgab. Und
auf die Dauer ließ sich das Errungene doch nicht festhalten: mit ehernem Fuße über alles, was Maximilian ansttebte, hinwegschreitend hat die Zeit seine kon fessionelle Politik als unfruchtbar verurteilt.
Wie sein Anteil am Kriege überwiegend durch religiöse Gründe bestimmt ist, so wurzelt in seiner Religiosität auch seine Treue und ehrerbietige Unter
ordnung gegen das Reichsoberhaupt. Gewiß war er gut deutsch gesinnt — oft genug hat er seiner Abneigung gegen das Vordringen des ausländischen, besonders spanischen Wesens in Deutschland lebhaften Ausdruck gegeben; ent scheidender aber als seine nationale Gesinnung ward für sein Verhältnis zu
Kaiser und Reich, daß ihm Gehorsam und Treue gegen diese von Gott ge
setzten Ordnungen als religiöse Pflicht erschien.
Der heilige Charakter des
Reiches war es, was den sonst so klar Blickenden noch in den Zeiten des tiefsten
Verfalles von dem „herrlichen Korpus des Römischen Reiches" sprechen ließ. Neben aller Ergebenheit gegen das katholische Reichsoberhaupt machten sich doch in seinem Verhältnis zu diesem auch sein starkes,
leicht verletztes
Selbstgefühl und seine hohe Auffassung von den Rechten der deutschen Fürsten nachdrücklich geltend. Johann von Werth hat an ihm außer seiner hohen Klugheit und anderen großen Tugenden gerühmt, daß er der einzige sei, der
die Hoheit und Autorität eines deutschen Fürsten gegen den Kaiser wie gegen männiglich zn „manutenieren" wisse.
In seinem Widerwillen gegen die habs
burgische Unersättlichkeit und in seiner starken Betonung des fürstenaristokra tischen Charakters
des Reiches
berührte sich der Retter
der habsburgischen
Monarchie sogar einigermaßen mit dem habsburgfeindlichsten Publizisten, dem KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
15
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
226
schwedischen Hauptmann und Historiographen Hippolitus a Lapide von 1640, wiewohl er, fern von dessen Leidenschaftlichkeit, da- deutsche Königtum nicht zur Ohnmacht herabgedrückt und nicht die habsburgische Dynastie, sondern die
fremden Nationen vom deutschen Boden verdrängt sehen will.
Wie sehr doch,
trotz aller Verstimmungen, besonders seit seiner zweiten Heirat die Neigung zu Habsburg überwog, lehrt uns sein Testament von 1641, worin er seinem Sohne empfahl besonders mit dem löblichen Hause Österreich gute Freund schaft zu halten.
In allen Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten möge er
zum Kaiser nicht nur als seinem Oberhaupte sondern auch als nächstem Vetter seine Zuflucht nehmen, nicht anders wie zu seinem Herrn Vater. Daß Maxftnilian die ftanzösischen Forderungen zum Schaden des Reiches beim Friedenskongresse unterstützte, geschah weit mehr in der klaren Einsicht,
daß ohne dieses Opfer der Friede nie erzielt würde, als in selbstsüchtigem Interesse.
Durch die entsetzlichen Leiden des Krieges gebeugt und vom Kaiser
selbst bedroht hat er freilich gegen das Ende des furchtbaren Kampfes Frank reich schutzflehend und unterwürfig umworben, aber auch damals seine Pflicht gegen Kaiser und Reich sich vorbehalten und eben durch diese Gewissenhaftig
keit selbst nicht am wenigsten zum Scheitern seines französischen Bundesplanes beigetragen. Über ein Jahrzehnt aber brachte kein deutscher Fürst größere Opfer um die Fortschritte der Franzosen aufzuhalten und ihre Forderungen unmöglich zu machen.
Der Kaiser hat am Rhein seine eigenen Lande, Maxi
milian hat dort aufopfernd das Reich verteidigt.
Seine Persönlichkeit
hinterläßt
der
geschichtlichen Betrachtung
nichts
Zweifelhaftes oder Unerklärtes. Der religiöse Glaube ist an erster Stelle das Prinzip, aus dem sein Tun und Lassen entspringt. Auf ihm beruht sein strenges Pflichtgefühl und die imponierende Selbstzucht, mit der er seine
Leidenschaften gebändigt, ja die Sinnlichkeit nach Jesuitenmuster ertötet hat. Auf ihm beruht seine Arbeitsamkeit, die unablässige Sorge für alles, was nach seiner Anschauung sein und seiner Untertanen Seelenheil befördern kann, die stets opferwillige Freigebigkeit für kirchliche Zwecke. Auf ihm beruhen int Grunde auch die wichtigsten Handlungen seiner äußeren Politik, nur daß hier
die Wirklichkeit der starren Durchführung des Prinzips noch engere Schranken setzt als im Innern und daß die Verbindung von nüchternem Verstände und festem Willen, die ihn auszeichnet, ihn in ter Politik fast stets nur das Er reichbare, dieses aber mit äußerster Konsequenz und Ausdauer anstteben läßt.
Auf diesem Gebiete ist er, dank seinen natürlichen Anlagen, fast immer be sonnen und überlegt, umsichtig und maßvoll.
Wo er hier Fehler begeht, liegt
die Schuld daran, daß er in dem gehobenen Machtgefühle des Siegers seiner
natürlichen konfessionellen Neigung freien Lauf läßt.
Doch die Politik hat
ihr eigenes Leben — so weit erstreckt sich die Macht seiner religiösen Gesin nung nicht, daß sie aus seiner Staatskunst alle der christlichen Moral wider sprechenden Mittel verbannt, daß sie ihm verwehrt hätte Gegner oder auch
227
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
Verbündete durch Mangel an Aufrichtigkeit und Wahrheit zu überlisten. gerade in diesem Punkte durchaus
kompetenten Beurteiler,
Einem
dem Kardinal
Mazarin, erschien er listig und verschlagen im höchsten Grade, ein Mann, dem
zu mißtrauen man allen Grund habe und der nichts so sehr liebe wie sein eigenes Interesse.
Aber der Gedanke, daß sein persönliches Interesse irgendwo
vor dem religiösen sich geltend machen dürfe, kommt bei ihm gar nicht in Betracht, nur Friedensliebe und die Forderungen der Realpolitik vermögen
ihm Zugeständnisse in religiös-politischen Fragen abzuringen.
Auch sein unge
mein starkes Standes- und Selbstgefühl fügt sich ungezwungen seiner religiösen Weltanschauung ein: Gott ist es, der ihm diesen erlauchten Posten als Fürst
und Kurfürst des Reiches angewiesen hat.
Wie Loyola bleibt er trotz aller
Aszese und Frömmigkeit eine ganz auf Handeln und Herrschen angelegte Natur. Mit der christlichen Demut aber verträgt sich in seiner Seele das stärkste fürstliche Selbstbewußtsein. Und indem dieser Zug mit der Tradition zusammenwirkt, die am Münchener Hofe und unter den bayerischen Beamten schon ausgebildet war, wird Maximilian zum kraftvollen Vertreter der landes fürstlichen Kirchen hoheitsrechte und der Selbständigkeit des Staates gegenüber
der Kirche. Vergleicht man ihn mit dem jugendlichen Großvater und Urgroßvater,
so springt in die Augen, in welchem Maße die streng religiöse Richtung des Zeitgeistes die menschliche nnd fürstliche Persönlichkeit veredeln konnte.
Das
herzogliche Ehepaar, berichtete der niederländische Arzt Thomas Fyens aus München an Justus Lipsius, ist außerordentlich fromm, gütig und klug, der
Herzog selbst in jeder Art des Wissens bewandert, des Lateinischen, Italieni schen, Französischen völlig mächtig, in den Sitten bescheiden,
von reifem Ver
stand, in Mienen und Benehmen Ernst mit einem gewissen Wohlwollen ver
bindend. Vierziger.
Wiewohl kaum neunundzwanzig Jahre alt sieht er aus wie ein Ein schöner Mann von mittlerer Größe, in der Gesichtsbildung
mehr einem Niederländer oder Italiener gleichend.
Die trunksüchtigen, leicht
fertigen, trägen Menschen haßt und verachtet er; an seinem Hofe ist alles auf
Tugend, Bescheidenheit, Frömmigkeit gestellt, jedes Laster verbannt, alle Adeligen bescheiden, wohlgesittet und ehrlich. Auch Ägidius Albertinus *) hebt die Ein
gezogenheit, die gute Ordnung und Rechtspflege am Münchener Hofe hervor
und nennt es schon 1599 als allgemein bekannt, welch gelehrter, sinnreicher, mäßiger, nüchterner, eingezogener, gottesfürchtiger,
milder, gerechter, eifriger
und sorgfältiger Regent dort walte. Die vornehme Feinheit seiner Umgangs formen erregte die Bewunderung eines französischen Hofherrn, des Marschalls v. Gramont; diesem erschien er als der höflichste und feinste aller Fürsten.
*) Herzoglicher Bibliothekar und seit 1618 Ratssekretarius. Seine überaus zahl reichen Schriften sind zu München erschienen, bestimmt der allgemeinen Bildung oder der Erziehung einzelner Stände zu dienen.
228
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian 1.
Maximilians Arbeitsamkeit suchte ihresgleichen. Jeden Morgen um 4 Uhr begann er sein Tagewerk, in dem die Arbeit mehr mit Gebet und An dachtsübungen als mit Zerstreuungen wechselte.
Der Fürst ist eine riesige
Arbeitskraft, sagte Jocher 1619 zu Plessen, über alles muß ihm referiert werden, kurze und seltene Spazierfahrten, im Frühjahr etwa einmal die Reiher beize, sind fast seine einzige Erholung. Soweit wir die Reihe der bayerischen Fürsten zurückverfolgen können, sind er und sein Vater die ersten, die — aus Pflichtgefühl, nicht aus Mangel an Neigung — der Jagd nicht leidenschaftlich
frönten. Die größte Rekreation dieses Fürsten, sagt Hainhoferx), sind schöne Pferde und Gestüte, Reiher- und Falkenbeize, „Gioie" oder Kleinodien, Kunst
und Malerei und das Drehwerk, wie er denn selbst gar schöne Sachen dreht. „Überflüssigem Essen und Trinken, Spielen, zu vielem Jagen, Ritterspielen und
anderen Vanitäten fragen Ihre Durchlaucht nit nach, halten ein gutes Regi ment, überlesen die Supplikationes und andere Schriften zum Unterschreiben selbst, korrigieren selbst, dekretieren oft selbst und hör ich Ihrer Durchlaucht
hohen Verstand und Indizium von Räten und anderen sehr rühmen."
An
diesem Hofe, schildert der nämliche scharfe Beobachter, ist treffliche, gute Ord nung in allen Sachen, schleunige Bezahlung, ein nüchternes, stilles und fried liches Leben.
Der regierende Herr macht sich von all seinen Räten fürchten
und lieben, „gibt guet Filz aus" (Verweise), belohnts auch reichlich, machts hurtig und fleißig, ist früh und spät in der Arbeit, hört alle Morgen seine Meß, und wenn er dazu oder davon geht, nimmt er von den armen Unter
tanen die Supplikationes an.
Die Arbeit zu lieben, den Müßiggang als Brunnquell aller Laster zu Behaglich
fliehen hat Max auch den Sohn in seinem Testamente gemahnt.
hatte der Großvater im Kreise seiner Musiker und Künstler, Spaßmacher und
Jagdfreunde das Leben genossen.
Daneben waren in ihren Amtsstuben die
Minister und Räte gesessen, deren Aufgabe es war Zustände, Wünsche und Bedürfnisse des Volkes zu erforschen.
Kreisen war gering,
Die Fühlung zwischen diesen beiden
sie hatten sich eher gegenseitig abgestoßen.
Jetzt aber,
welcher Wechsel!
Maximilian war der Gegensatz eines Fürsten, der herrscht
und nicht regiert.
Seine ganze Regierungsweise, dieses System zahlloser, bis
in die kleinsten Einzelheiten eindringenden Vorschriften und, was man bisher weniger gewohnt war als diese, die unablässige und persönliche Überwachung
des Vollzugs hat die gewissenhafteste Ausnutzung der Zeit zur Voraussetzung. Keine Kleinigkeit erschien dem Regenten zu geringfügig für seine Sorge; er kümmerte sich um Dinge wie um die Zahl der in der Hofkammer zu heizenden Zimmer.
Was Ranke von Joseph II. sagt, gilt auch von ihm: ein geborener
*) Augsburger Ratsherr; als Gesandter in diplomatischer Beziehung vielfach ver wendet; wertvoll als zuverlässige Quellen sind die Briefe und Tagebücher deS schreib frohen Mannes.
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
Bureaukrat, tätig im kleinsten!
229
Seine häufigen Randglossen zu den ein
gelaufenen Berichten und Konzepten erinnern in ihrer Prägnanz und Derb heit zuweilen an die Art Friedrichs des Großen. „Den Regensburgern werden die Hosen zittern," schrieb er auf den Bericht, worin Aldringen das Anrücken „Wollt' nur gern wissen,
einer spanischen Kompagnie gegen Schärding meldet.
wer der Sprachmeister, so täglich was Neues aufbringt!" — „Man muß nit zweimal schreiben, was zu rechter Zeit auf einmal geschehen kann." — „Ist ein großer Unterschied zwischen dem Blei und Papier" saus Anlaß eines nicht ernsthaft geführten Krieges). Von den Äpfeln der Freia hatte er nicht gegessen. Einen „lieben, herzigen Mann" nennt ihn zwar die Erzherzogin Cäcilie Renata und bereit
Schwester Maria Anna (noch ehe sie ahnen kann, daß es sich um ihren künf tigen Gemahl handle) erklärt das Urteil, daß Maximilian nie lache und böse aussehe, als unzutreffend.
Indessen scheint unbestreitbar, daß schon in dem
Jüngling etwas Griesgrämiges lag. „Etlichermaßen melancholici humoris" schildert ihn sein Rat Jocher 1619. In den Akten begegnet man häufig
mürrischen Randbemerkungen von seiner Hand: „An wemb lauth das Schreiben? Man kanns nit schmöckhen!" „Es ist zum Erbarmen, daß so wenig Hirn in
so dicken Köpfen!" u. a. ähnlicher Art.
Als dann
gar,
vereint mit dem
Alter, Leiden und Mißerfolge des Krieges auf ihn einstürmten, bekamen Beamte
und Generale die Bitterkeit seiner Gemütsstimmung oft schwer zu empfinden,
wenn auch sein christliches Pflichtgefühl zu gut geschult war, als daß eine Aufwallung der Laune ihn leicht zu übereilten oder ungerechten Handlungen
hingerissen hätte. Seine Intelligenz war von jener Art, die aufs engste mit Fleiß und Arbeit zusammenhängt. Der Bann des zeitgenössischen kirchlichen Aberglaubens, den doch viele geschichtlich hervorragende Geister schon durchbrachen, hielt ihn fest umfangen. Nicht neue, schöpferische Gedanken zeichneten ihn aus, aber
ein klarer und durchdringender Verstand, soweit dieser nicht durch die Art seiner religiösen Erziehung in Fesseln geschlagen war, eine vollständige Be herrschung des Tatsächlichen
in den Geschäften.
Jede Regicrungshandlung
wurde vorher auf das sorgfältigste überlegt und nach allen Seiten geprüft. Kein Fürst war in seinem Entschlüsse selbständiger — keiner hat die Ansichten und Ratschläge seiner Umgebung und Beamten in ausgedehnterem Umfang eingeholt und aufmerksamer gewürdigt. In der Ausführung einer so wohl
vorbereiteten Sache machte sich dann die unerschütterliche Festigkeit seines Willens geltend. Zu der weichen, bestimmbaren, schwankenden Natur seines kaiserlichen Ahnherrn Ludwig bildet er den ausgeprägten Gegensatz.
dem
kleinlichen Ehrgeiz,
der darauf
ausgeht
bewundert
Frei von
und beneidet zu
werden, war er voll von dem hohen, seinen Willen und seine Zwecke durchznsetzen. Dieser Fürst fängt nichts an, was er nicht ausführt, urteilt ein Zeitgenosse.
230
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
Für seine Familie und Untertanen hatte er ein warmes Herz, doch war als sein Verstand und weit
sein Gemütslcben entschieden weniger entwickelt
öfter als Liebesbeweise bekommen die Untertanen seine Sttenge und die drücken den Folgen seiner Polittk zu spüren. Wo ein religiöser Grund wirksam war,
konnte die Sttenge sogar in grausame Härte ausarten. Als ein Jngolstädttr Bürger von dem ordentlichen Gericht wegen Gotteslästerung zur Stadtver weisung verurteilt wurde, setzte er an Stelle dieser Sttafe den Tod. Seine Religiosität hatte eine so ausgeprägt konfessionelle Färbung wie nur möglich. Darum hatten es Konvettiten, wie man an Wallenstein, Pappen heim u. a. gewahrt, immer leicht seine Gunst zu erwerben. Er verordnete, daß jeder seiner Untertanen einen Rosenttanz besitzen müsse; er hielt seine
Beamten bei Geldsttafe zur Teilnahme an den wöchentlichen Prozessionen an;
er selbst konnte sich in Prozessionen und Wallfahrten kaum genug tun. In seiner Verehrung der heiligen Jungfrau lag ein schwärmerischer Zug, der bei seinem nüchternen Wesen um so auffallender ist. In Altötting ließ er — „Peccatorum Coryphaeus“ — eine mit seinem Blute geschriebene Widmung
an sie hinterlegen. Wichtige Aktionen verlegte er, wenn es anging, auf einen Marienfesttag, so den Aufbruch des Heeres gegen Donauwörth 1607 auf Mariä Empfängnis, seine Vereinigung mit Bucquoy 1620, den Einmarsch in
die Oberpfalz 1621, seinen Einzug in Regensburg zu Ferdinands III. Königs wahl auf Mariä Geburt. In der Schlacht auf dem Weißen Berge bestimmte er seinen Truppen den Namen der heiligen Jungfrau als Feldgeschrei. Und während er den Bischöfen von Freising und Regensburg wegen der großen Zahl der bestehenden Feiettage die Einführung des Korbinians- und Wolfgangs
tages als Feiertage abschlug, bewog er 1638 den Episkopat seines Landes zu den zahlreichen Frauenfesttagen zwei weitere festzusetzen: Mariens Besuch und ihre Darbringung im Tempel.
Täglich, sagt der Stifter der Mariensäule in der
Jnsttuttion für die Erziehung seines Erstgebornen, erfahre ich, daß nach Gott die Mutter des Erlösers unsere größte Beschützerin und Patronin ist. Er machte es seinem Sohne zur Pflicht außer einem Sonn- oder Feiertage jedes
Monats auch an allen Marienfesttagen zur Beichte zu gehen. Er gab diesem Sohne, was gegen alle Gewohnheit war, neben dem Namen seines mütter lichen Großvaters auch den Namen Maria und bürgerte damit in Bayern die Sitte ein, daß dieser Vorname auch von Männern an zweiter Stelle ge
führt wird. In den Jesuiten bewunderte und verehrte er die Männer, die nach seiner Überzeugung dem Reiche Gottes auf Erden die besten Dienste leisteten, und ihre Mitwirkung bei den Aufgaben eines gottesfürchtigen Fürsten schien ihm unerläßlich. Darum scheute er keine Opfer für sie, empfahl auch dem Nach folger in seinem Testament sie gegen männiglich zu schützen, zu lieben, zu ehren und in besonderer Affettion zu halten,
legte ihm ihre Kollegien zu
München, Ingolstadt, Regensburg, Landsberg, ihre Niederlassung in Altötting
42 Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
231
und was er selbst mit Stiftung des Collegium anglicanum in Lüttich und in Burghausen und Mindelheim für sie getan, auch die Kollegien zu Landshut
und Straubing, denen er landesherrlichen Konsens und Förderung erteilt habe,
ans Herz. Warme Unterstützung fanden bei ihm die Jesuitenmissionen in Ost asien, deren Fortschritte er mit Freuden verfolgte. Durch den gelehrten Astro nomen des Ordens, den Jesuiten Adam Schall aus Köln, ließ er dem Kaiser von China eine in Wachs modellierte Darstellung der Heiligen drei Könige vor dem Christkind überreichen. Für die Kanonisation Loyolas hat er in Rom seine Fürsprache eingelegt.
Eine Anzahl der von Tilly eroberten Fahnen und
Standarten ließ er in der Münchener Jesuitenkirche aufstellen. Folgte er aber in der Hauptrichtung seines Tuns und Lassens den von den Jesuiten gewiesenen Bahnen, so dürfte man doch nicht sagen, daß er zu einem Werkzeuge des Ordens herabgesunken wäre. Überhaupt war sein Urteil zu selbständig, sein Wille zu fest, sein fürstliches Selbstgefühl zu ausgeprägt, als daß er Übergriffe des Klerus in seine fürstlichen Rechte geduldet hätte.
Selbst dem Papste gegenüber verstand er die Person
scheiden.
wohl vom Amte zu
Wenn er 1647 durch seine Gesandten am französischen Hofe sich
gegen die Ausfassung verwahrte, als ob er den Jesuiten Einfluß auf die äußere
Politik gestatte,
war dies im großen und ganzen nicht unberechtigt.
wenn er in solchen politischen Fragen,
Auch
bei welchen ein kirchliches Interesse
hereinspielte — was allerdings wohl bei der Mehrzahl zutraf — die Stimme
seiner jesuitischen Berater einholte, behielt er sich doch stets die Entscheidung
darüber vor, ob es zweckmäßig sei von den rein kirchlichen Gesichtspunkten
sich leiten zu lassen.
Wenigen Fürsten schwebte ein so hohes Ideal ihres Berufes vor und keiner ist wohl in seinem Wirken dem eigenen Ideal so nahe gekommen wie er.
Tugend — so lautete einer seiner Aussprüche — ist eine Zierde aller
Menschen; vor allen anderen aber muß durch sie glänzen der Fürst, den der Titel des „Durchlauchtigsten" auszeichnet. Und in seinem Testament gab er seinem Sohne zu bedenken, daß der wahre Glaube ohne Gottesfurcht und tugendsamen Wandel wenig nütze.
Das Leben des Fürsten, sagt er hier, ist
die beste Lehre für Beamte und Untertanen und eifert mehr zur Tugend an
als viele Mandate und Strafen. Berühmt sind die Monita paterna, die 1639 für den Kurprinzen Ferdinand Maria verfaßt, die Pflichten eines Fürsten gegen Gott, gegen sich selbst und die Untertanen schildern.
Sie zeichnen das
Idealbild eines katholischen Fürsten im Sinne der Gegenreformation und der
Jesuiten und widerlegen aufs wirksamste jeden, der den gewaltigen sittlichen Ernst dieser Richtung unterschätzen wollte.
Vergleicht man diese und die anderen
von Maximilian für seinen Sohn hinterlassenen Vorschriften mit der Schilde rung Albrechts V. durch seine Räte, dann hinwiederum mit dem Charakter bilde des Enkels, des ffivolen Max Emanuel, so springt das große historische
Gesetz der sich ablösenden Gegensätze rein wie selten in die Augen.
Die Monita
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
232
paterna wurden zuerst von Maximilians Beichtvater, P. Vervaux, veröffentlicht und dieser Jesuit, nicht der Kurfürst, wird als ihr Verfasser zu betrachten
sein.
Wie sie aber in Maximilians Auftrag entstanden, entsprechen sie auch
vollständig seinen eigenen Anschauungen — ohne dies hätte er sich nicht ge fallen lassen, daß sie ihm in den Mund gelegt wurden.
Maximilians eigenes Werk sind dagegen zweifellos die 1650 für den Kurprinzen ausgezeichneten „Treuherzigen väterlichen Lehrstücke, Erinnerungen
und Ermahnungen", neben dem theoretischen System der Monita paterna
mehr Anweisungen zu praktischer Politik. Die Höhe, Verantwortlichkeit, Pflichten fülle des Fürstenberuses wird in beiden Aufzeichnungen auf das Stärkste be tont.
Lange vor Friedrich dem Großen, der den Fürsten als ersten Diener
des Staates bezeichnet, schrieb.Maximilian: „Eifrige, arbeiffame Potentaten und Fürsten sind den brennenden Kerzen zu vergleichen, welche sagen könnten: „Aliis lucendo consumorl“
Für Maximilians Charakterbild sind alle hier
erteilten Lehren überaus wichtig, weil sie genau dem entsprechen, was er täglich und stündlich ausübte. Dies gilt von den Mahnungen zu eingezogener Ökonomie und Mäßigkeit wie von jenen zu fleißigem Nachfragen über die Haltung der Gebote und Verordnungen, gilt von der Weisung die Landschaft streng in
ihren Schranken zu halten wie von jener auf sorgsame Erhaltung der Autorität, aber deren richtige Temperierung durch Freundlichkeit, Sanftmut und Demut. Die sorgfältige Auswahl und Überwachung der Beamten, die Scheu vor Günst
lingen und Schmeichlern, die Warnung vor neuer, ungewohnter, „alamodischer" Kleidung, die Geheimhaltung der Geschäfte, die Vermeidung unnützer Worte,
die Regel nur langsam, verständig und mit gutem Bedacht zu reden, die Weisung, daß der Fürst zwar jedermann Gehör schenken, aber sich nicht gleich ex tempore, ohne vorhergehende Information, Rat und Berichtseinholung
entschließen, etwas abschlagen oder versprechen soll — alles dies sind Grund
sätze, die in Maximilians Tätigkeit fort und fort verwirklicht wurden.
Nur
die Mahnung sich möglichst der fremden, ausländischen, besonders welschen ^italienischen) Offiziere und Diener zu enthalten, welche meistens nur Dienste
suchen um
sich zu bereichern, scheint erst aus üblen Erfahrungen während
der eigenen Regierung entsprungen zu sein. Von Annahme hoher Orden (besonders des goldenen Vließes) rät Maximilian ab, da dieselben nach und
nach zu gemein gemacht worden seien.
Die äußere Politik berührt er nur in
einem Satze: wo er in seinen Ermahnungen Anlaß hatte gegen das Haus Österreich Warnung und Erinnerung zu tun, seien nicht die Herren selbst als
ihres Hauses nächste Blutsverwandte, sondern die widrigen, passionierten und übel affekttonierten Minister und Räte gemeint. In der inneren Regierung war Maximilian ausgesprochener Autokrat, der sich leichten Herzens über die verbrieften Rechte der Landschaft hinweg
setzte.
Ist auch unter Maximilians Nachfolger noch einmal ein Landtag ;u-
sammengetteten, so muß doch er als der Fürst bezeichnet werden, der dem
42. Charakterbild des Kurfürsten Maximilian I.
233
freilich schon vorher sehr geschwächten altlandständischen Wesen in Bayern den
Todesstoß gab. Was er für das Heerwesen geleistet, zeigte der Sieg, der über ein Jahr zehnt den bayerischen Fahnen als treuer Genosse folgte.
Vielleicht das Beste
tat hier die Menschenkenntnis und die sorgfältige Prüfung bei der Auswahl seiner Generale. Seine unverdrossenen Bemühungen für die Landwehr aller dings erwiesen sich im Ernstfälle ziemlich fruchtlos; bei der ersten Überflutung durch die Schweden hat die Landwehr sehr wenig für die Verteidigung des
Landes geleistet.
Wie ließ sich aber voraussehen, daß man je mit einem so
zahlreichen, wohlgeübten und gefährlichen Feinde zu kämpfen haben werde! Im letzten Feldzuge war auch die Beihilfe der Landwehr nicht zu unterschätzen,
und wenn Bayern in der zweiten Hälfte des Krieges durch Werbungen, die jetzt zum größten Teil nur mehr im eigenen Lande angestellt werden konnten,
noch so treffliche Heere aufbrachte, wäre dies ohne den im Volke neu belebten kriegerischen Geist wohl nicht möglich gewesen. Als Oberbefehlshaber verfolgte er von Tag zu Tag mit schärfster Auf
merksamkeit alle Vorgänge beim Heere und überwachte, unterstützt von den fortlaufenden Berichten seiner Kriegskommissäre, die Anordnungen der Gene
rale ebenso sorgfältig wie er dies gegenüber der Amtsführung seiner Beamten gewohnt war. Der Prätensionen und Insolenz der höheren Offiziere, wie sie bei solchem Übergewicht des Kriegswesens üppig emporschießen, verstand er sich
energisch zu erwehren. In seinem Dienste hätte ein Wallenstein nicht auf kommen können. Keine Kleinigkeit entging seinem Späherblick; er wies Tilly
an sich mehr auf Feldbefestigungen zu werfen, er kannte und kritisierte die Menge der verschossenen Munition, die Zahl der abgängigen Pferde. In keinem Punkte war der Kontrast dieser Regierung zu der der Vor
gänger so grell wie in den Finanzen. Während es vorher auch die spar samsten Fürsten nicht bis zur Ansammlung eines Kriegsschatzes gebracht hatten,
trat er mit wohlgefüllten Kassen in den großen Krieg ein und die ans Un erschöpfliche grenzende Nachhaltigkeit seiner Geldmittel gab den Zeitgenossen stets neuen Stoff zur Bewunderung. In der Tat lag hierin ein guter Teil
von dem Geheimnis seiner Erfolge begründet. Sehr bezeichnend für seine politische Auffassung beginnt er die seiner Gemahlin und den Erben hinter lassenen Mahnungen mit dem Kapitel der Finanzen. Er stellt den Grundsatz an die Spitze, daß an einer verständigen, klugen Ökonomie und „Wohlhausen" hauptsächlich Reputatton und Wohlstand des Landessürsten und der Unter
tanen gelegen sei, und schließt mit dem Urteil: Das gute Vermögen ist nervus
rerum agendarum et conservandarum. In der Form von Lehren für seine Nachfolger hat er auch hier sein eigenes Verfahren besser geschildert, als ein dritter es schildern könnte.
Zu wohlbestellten Finanzen, sagt er, braucht
man treue und verständige, fleißige, eingezogene und erfahrene Räte, deren nützlichen Ratschlägen man folgen soll. Man muß oft nachfragen, wie den
234
43. Kurfürst Maximilian I. als Dürersammler.
aufgestellten Instruktionen und Ordnungen nachgelebt wird, muß die Räte so
viel als möglich, zumal selbst, visitieren, muß sich über den Stand des Kammer
wesens und das Verhalten der Beamten Bericht erstatten lassen.
Die gute
Wirtschaft besteht in Vermehrung der Einnahmen und Sparsamkeit im Aus geben. Er zitiert den alten deutschen Spruch: In jeder Hauswirtschaft muß man einen Zehrpfennig, Ehrpfennig und Sparpfennig haben.
Freigebigkeit ist
zwar eine Tugend der Fürsten, muß aber chre Schranken haben.
Man muß
oft bilanzieren, erwägen, ob man vor sich oder zurückhaust, nach den Ursachen
forschen und, wo es möglich ist, zur rechten Zeit abhelfen. Dadurch werden auch die Diener in guter Sorge und Aufmerksamkeit erhalten. Besonders die Ämter des Salz- und Brauwesens sind jährlich zu revidieren und die Kassen zu visitieren.
Er selbst forderte von seinem Hofzahlamte jeden Monat einen
Auszug von allen Einnahmen und Ausgaben ein. langte er dieselbe peinliche Sparsamkeit,
Von seinen Beamten ver
die er sich selbst zur Pflicht ge
macht hatte. Im Guten wie im Schlimmen spiegelt sich in Kurfürst Maximilian die Weltanschauung des dogmatischen Zeitalters der Gegenreformation und der
Jesuiten mit unübertrefflicher Schärfe. Weitere Züge zur Abrundung seines Charakterbildes liefern seine Kunst liebe und sein feines Kunstverständnis.
43. Kurfürst Maximilian I. als Dürersammler. Von Karl Doll.*
Albrecht Dürer hat schon zu seinen Lebzeiten viele Förderung von den deutschen Fürsten erfahren und unter diesen hat ihn Kaiser Maximilian vor allen anderen Meistern ausgezeichnet. Der ritterliche Kaiser hatte nun eine Nichte namens Susanna, die in erster Ehe an den Markgrafen von Brandenburg,
später aber an den Pfalzgrafen Otto Heinrich von Neuburg verheiratet war
und wie ihr Onkel in guten Beziehungen zu dem großen Nürnberger Maler stand. Sie ist die erste aus dem Hause der Wittelsbacher, die Dürers Bedeutung zu fassen wußte, und seit ihrer Zeit ist das Interesse an ihm bei
den Wittelsbachern immer lebhafter geworden. In der Münchener Residenz vereinigten sich im Laufe der Jahrhunderte die besten Werke Dürers, so daß sie an ihnen reicher war als Nürnberg selbst,
und noch heute kann in Bezug auf Dürer sich keine Galerie
der Münchener Pinakothek,
an die diese Kostbarkeiten
der Welt mit
abgetreten wurden,
messen. Derjenige, dem Bayern in dieser Hinsicht am meisten dankt, ist Kurfürst Maximilian I., der einer der umsichtigsten und glücklichsten Kunstsammler
gewesen ist, von denen die neuere Geschichte zu melden weiß. Seine Regierung fällt in ihrem späteren Verlauf mit dem Dreißigjährigen Krieg zusammen und
43. Kurfürst Maximilian I. alS Dürersammler.
235
es ist aus der politischen Geschichte bekannt genug, wie eng des Kurfürsten
Tätigkeit mit dem großen Krieg verbunden war;
weniger allgemein bekannt
aber ist, daß er trotz aller Aufregungen der Diplomatie als ein rechter Lieb haber der schönen Künste Muße und inneres Gleichgewicht der Stimmung fand, um die schon damals berühmten Wittelsbacher Sammlungen aus
zubauen. Wir sind heute gewohnt die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Geschichte der deutschen Kultur als eine unglückliche und wenig rühmliche
Zeit zu bettachten;
aber in
der Wirksamkeit dieses
großen Kunstfreundes
offenbart sich doch ganz klar, daß die Lehren der Renaissance auch in Deutsch land, vor allem in Süddeuffchland, selbst in jenen unruhigen Zeiten noch
immer nicht vergessen waren, daß auch damals sich noch immer ein künstlerisch
fein geschultes Geschlecht um die Weiterentwicklung der Kunst kümmerte; von da aus erst lernen wir verstehen, warum München von dem letzten Viertel
des 17. Jahrhunderts bis auf den heutigen Tag eine solch bedeutende Rolle in der allgemeinen Kunstgeschichte hot spielen können. Aus einem um das Jahr 1628 angelegten Inventar der Kunstsammlungen Maximilians erfahren wir, daß er nicht weniger als 14 Werke von Albrecht Dürer besaß, von denen er nur eines, die heute in der Alten Pinakothek befindliche Lukrezia, von seinen Vorfahren ererbt hatte. Alle übrigen hat er selbst erworben und zwar lehren uns die Urkunden, daß er bei seinen An
käufen nicht nur mit großer Umsicht sondern auch mit feinem, sicherem Geschmack verfahren ist. Die Art, wie er seine umfangreiche Dürerkollektion zusammenbrachte, deren Reste noch heute die stattlichste existierende Vereinigung
von Hauptwerken des großen Nürnberger Meisters bilden, soll im nach folgenden an einigen besonders interessanten Fällen geschildert werden, weil diese für die damalige Kulturgeschichte ein immerhin recht wichtiges Material liefern. Maximilian hatte, wie alle Fürsten der früheren Zeit, die Kunstwerke
sammeln wollten, in den verschiedenen Ländern und Städten sachverständige
Agenten, die ihm Kundschaft geben mußten, wo immer sie Gelegenheit zur Erwerbung eines in seine Sammlung passenden Gemäldes erfuhren. So hatte er auch in Nürnberg seine Vertrauten, die ihm behilflich waren von den Werken Albrecht Dürers so viele zu erwerben wie nur möglich war. Aber obwohl Nürnberg nicht wenige Arbeiten seines kunstfertigen Mitbürgers besaß,
so war es doch sehr schwer von der Stadt' auch nur ein einziges zu erlangen. Der Rat der Stadt war stolz auf das Erbe der Vergangenheit und schlug
immer wieder die Bitten auch der erlauchtesten Kunstfreunde ab, wenn diese ein im öffentlichen Besitz befindliches Werk Dürers begehrten. Selbst Kaiser Rudolf II., der vor Maximilian der bedeutendste und erfolgreichste Dürersammler gewesen war, konnte es nicht erreichen, daß ihm die Stadt die von ihm ge
wünschten Gemälde alle überließ.
43. Kurfürst Maximilian I. als Dürersammler.
236
Eines dieser Bilder war der schon in alter Zeit hochberühmte „Paum-
gartneraltar" in der Katharinenkirche, der in den Beschreibungen von Nürn bergs Sehenswürdigkeiten immer in erster Reihe genannt wurde.
Aus diesen
hatte nun Maximilian, ungeachtet der ihm wohlbekannten Schwierigkeiten, sein Augenmerk gerichtet und im Jahre 1612
ließ er den Rat der Stadt in einem sehr freundlichen Schreiben um die Überlassung des kostbaren Altares ersuchen.
Für die
Stadträte von Nürnberg war damit eine schwierige Lage geschaffen.
Der Kurfürst
war ein mächtiger Herrscher, dessen Gebiet
das
an sehr
viel
grenzte und dessen Gunst
ihre
sie
für
Aber sie
bedeutete.
hatten als Vertreter des auf seine künst lerische Bedeutung
so
wesens doch
ein
auch
stolzen sehr
Gemein
bestimmtes
Gefühl dafür, daß sie den nachfolgenden Geschlechtern den Schatz erhalten müßten.
So standen politische Klugheit und Pietät einander
gegenüber.
Sie versuchten es
zunächst mit Bitten, die uns auch heute noch,
wir sie in den
wenn
vergilbten
Ratsprotokollen lesen, rühren und bewegen. Als aber die Bitten
nichts
halfen, so
dachten sie dem Kurfürsten das kostbare
Werk zu verleiden, indem sie die Altar
flügel, die noch
heute der schönste
und
stattlichste Teil des Ganzen sind, in ihrem
Wert herabsetzten und sie als Kopien be zeichneten.
Maximilian
war jedoch
zu
genau über den wahren Sachverhalt unter
richtet und ließ sich durch keine Gegenrede
täuschen. So überlieferte ihm endlich 1613 Lukas Paumgartner,
die Stadt den Altar in allen seinen Teilen.
Stifter de» Paumgartneraltars, Gemälde von Albrecht Dürer, 1llt verkleinert. (Nach einer Photographie von Frz. Hanfstängl, München.)
war,
der Zukunft gedacht und
gartneraltar nicht wahr
das
letzte
und fand
Die
Nürnberger
diesem Handel, der
hatten
dem Kurfürsten geschrieben,
Werk Dürers
innerhalb
bei
daß der Paum-
der Stadt sei.
auch in München keinen Glauben.
nun
ihnen sehr ärgerlich
Das war
Allgemein wußte
man ja, daß der große Meister kurz vor seinem Tode dem Rate der Stadt zum
ewigen Gedächtnis
an
ihn
das
letzte große Hauptwerk seiner Hand
geschenkt hatte, die berühmten vier Apostel, die heute unter die wichtigsten
43. Kurfürst Maximilian I. als Dürersammler.
237
Im Jahre 1627
ließ der Kurfürst
Gemälde der Alten Pinakothek gehören.
nach offenbar sehr vorsichtigen und langwierigen Vorbereitungen offiziell die Stadt um diese zwei Tafeln angehen. Der Verdruß und die Verlegenheit waren in Nürnberg größer als jemals; denn nun ging es wirklich an das letzte Haupfftück von Dürers Kunst, das
sich noch
in seiner Vaterstadt
befand.
Wenn ihr dieses auch entführt wurde,
dann blieben ihr nur mehr Werke zweiten Ranges und so setzten sich die Stadtväter
hartnäckig zur Wehr.
Sie griffen endlich,
als keine Ausrede verfangen wollte, zu der damals sehr aussichtsreichen List dem Kur
fürsten zu schreiben, daß ihm ausgezeichnete Kopien nach den vier Aposteln zur Ver
fügung ständen; von den Originalen selbst müßten sie ihm abraten, da sie sich für den katholischen Münchener Hof nicht eig neten : Dürer habe Unterschriften von aus gesprochen protestantischer Tendenz unter
sie gesetzt. Es schien auch wirklich, als ob
dieser Einwand, der in alten Zeiten ja viel zu bedeuten hatte, stark genug wäre um den Kurfürsten von seinem Plan abzu
bringen ; aber bald genug fand Maximilian
einen Ausweg. Nicht ohne Humor schlug
er den Nürnbergern vor, daß sie die Ko pien, wenn diese doch so ausgezeichnet wären,
behalten,
ihm
aber die Origi
nale geben möchten. Was die Unter schriften anlange, so hätte der Rat aller
dings recht und so wäre es das beste sie von den Bildern abzusägen. Der Kur fürst lege ohnehin nur Wert auf den Besitz der Gemälde.
Und so geschah es
denn, daß die Stadt Nürnberg sich mit den Kopien bescheiden
ihr von Dürers schriften blieben.
mußte und daß
Stephan Paumgartner, Stifter de- PaumgartneraltarS, Gemälde von Albrecht Dürer, Vn verkleinert. (Nach einer Photographie von Frz. Hanfstängl, München.)
hochherzigem Geschenk nur der Rahmen und
die Unter-
Auch in Frankfurt a. M. befand sich ein Werk von Albrecht Dürer, die Himmelfahrt Mariä, die der Kaufmann Jakob Heller in das Dominikaner
kloster gestiftet hatte. An keine andere Arbeit hatte der Meister nach seinem eigenen Zeugnis so viele Mühe verwendet und die noch vorhandenen Studien
238
43. Kurfürst Maximilian I. alS Durersammlcr.
bestätigen diese Aussage.
Um den stolzen Altar hatte sich schon mancher
Sammler, darunter auch Kaiser Rudolf II., vergeblich bemüht; erst dem Kur
fürsten Maximilian gelang es das kostbare Werk dem Kloster zu entführen. Noch ist das Schreiben vorhanden, worin ihm gemeldet wird, daß das Kapitel ihm
den Altar verehren wolle; wirkliches
Geschenk
hat
aber um ein
es
sich
dabei
doch nicht gehandelt. Der Kurfürst mußte
sich und sein Haus für ewige Zeiten ver pflichten dem Kloster jährlich 400 Gulden zu zahlen.
Diese schwere Verpflichtung
wurde auch bis 1777 eingehalten. Altar war sogar
im Jahre 1729
Der
bei
einem Umbau der Münchener Residenz verbrannt und noch immer erhielt das Kloster diese Jahresrente. Erst als Kur fürst Karl Theodor zur Regierung kam,
wurde die Zahlung eingestellt. Das Kloster begann wohl einen Prozeß, dieser wurde aber in den Wirren der
flanzösischen Revolutionskriege niederge schlagen.
Unter den sonstigen Werken von Albrecht Dürer, die Maximilian in München vereinigte, sei noch zum Schluß das berühmte Gebetbuch Kaiser Maximi
lians I. erwähnt, dessen erster und wich
tigster Teil, die prachtvollen und launigen Randzeichnungen, auf eine bis heute un
erklärte Weise aus dem Buche getrennt wurden und dann in den Besitz des Kurfürsten gelangten.
Durch diese Arbeit,
die einen Stolz der Hof- und Staats bibliothek bildet, hat München, das sonst an Zeichnungen von Dürer sehr arm ist, Evangelist Johannes und Apostel Petrus,
Gemälde von Albrecht Dürer, XIX6 verkleinert.
einen herrlichen Schatz auch
Gebiet, dem keine oder Bibliothek etwas Ähnliches zur Seite stellen kann.
andere
auf diesem Sammlung
Was nun Maximilian I. an Werken des Albrecht Dürer zusammengebracht
hatte, war auf einem wichtigen Gebiete doch recht arm.
Wenn man von den
als Heilige dargestellten Stiftern des Paumgartneraltars absieht, hat er keine
Porträts von Dürers Hand besessen.
Diese waren ihm offenbar nicht an-
43. Kurfürst Maximilian L als Dürersammler.
239
genehm und er hat deswegen auch auf verschiedenen Bildem die kleinen Donatorenfiguren zumalen lassen: so die auf dem Mittelstück des Paumgartner-
altars, die erst in neuerer Zeit wieder freigelegt wurden, und die der Beweinung Christi, die noch unter der Übermalung verborgen sind.
Und doch sind die von
Dürer gemalten Bildnisse, die heute mit Recht so hochgeschätzt werden, unter
das Beste von allem zu
rechnen, was uns der große Meister hinterlassen hat. Maximilian hat eben als echter Ver treter des prunkliebenden Barocks,
das
die reich ausgeschmückten Repräsentations bildnisse liebte, an den so ganz schlichten, äußerlich unscheinbaren Bildnissen der gut bürgerlich gesinnten Zeitgenossen und Freunde Dürers kein Wohlgefallen gehabt.
Das war eine durch den Geschmack seiner Zeil zu erklärende und zu entschuldigende
Einseitigkeit. Die Privatsammlung des Kur fürsten hat darunter gelitten. Die Samm lungen der Wittelsbacher haben jedoch als Ganzes nicht dadurch zu leiden gehabt;
denn im 19. Jahrhundert haben die Nachfolger Maximilians, König Max I.
Josef und besonders Ludwig I., der ihm als Kunstfreund geistig so nahe verwandt war, die Lücke ergänzt. Sie haben die großartige Kollektion der Porträts von
Dürers Hand angelegt, unter denen das berühmte Selbstbildnis des Meisters das bedeutendste
ist.
Diese alle
aber
hat
Ludwig I. mit der Maximilianischen Dürer sammlung vereinigt und ihr so den wür digen
Abschluß
gegeben.
Sie hängen
nun mit den stolzen Resten des Schatzes, den Maximilian I. erworben hat, in der Alten Pinakothek.
So ist das,
Apostel Paulus und Evangelist Markus,
Gemälde von Albrecht Dürer, */ib verkleinert.
was
wir heute in der schönen Galerie scheinbar zusammenhanglos in den verschiedenen Sälen verstreut finden, in der Tat ein organisch gewachsenes Ganzes. In einer durch die Jahrhunderte gehenden Tradition hat die Ver
gangenheit daran gearbeitet; baren Sinne genießen!
möge es die Gegenwart im rechten und dank
240
44 Karl Ludwigs Rückkehr in die Pfalz.
44. Karl Ludwigs Rückkehr in die Pfalz (2. Oktober 1649). Wiederherstellung der Pfalz. Don Ludwig Häufler.')
Als Kind hatte Karl Ludwig seine Heimat verlassen, damals, wie „die
Pfalz nach Böhmen gezogen" war, jetzt kehrte er dorthin zurück, 32 Jahre alt. Welche überwältigende Last von Leiden, Entbehrungen, Unfällen und schmerzlichen Erinnerungen lag zwischen diesen
beiden Zeitpunkten! Seines Sieges beinahe sicher war damals (1619) der unglückliche Vater mit knaben
haftem Leichtsinn seinem Verhängnisse zugeeilt, hinter sich ein blühendes, reiches Land und eine Bevölkerung, die seit sechzig Jahren, seit dem Erheben der
simmerischen Linie, wenig Ursache gehabt über ihre Fürsten zu klagen. Und jetzt kam der Sohn zurück, beinahe um ein Jahrzehnt älter, als der Vater damals die Stammburg verlassen,
arm in ein verarmtes Land;
aus
dem
prangenden Garten war eine Wüste geworden; die Bevölkerung war auf ein Fünfzigteil herabgesunken und aus den Mienen der Zurückgebliebenen sprachen
Hunger und Elend einer dreißigjährigen Kriegszeit. Es war ein Moment schmerzlicher Freude, als der angestammte Fürst, der Friedensbringer, den pfäl
zischen Boden wieder betrat.
Selbst aus dem Kummer und dem Drucke der
Vergangenheit trug sich aber in den Herzen der Untertanen noch ein reiches Pfund treuer Anhänglichkeit und ftoher Hoffnung ihm entgegen, auf dem die große Verantwortung lag dies edle Kapital nicht zu vergeuden.
Wie mußte
beiden zumute sein, dem Fürsten und dem Volke, als Karl Ludwig in die erste pfälzische Stadt, Mosbach, einzog und den ersten Gottesdienst wieder auf
heimischem Boden feierte! Die ganze Bürgerschaft empfing den Fürsten mit Jubel; es war ein echtes Volksfest.
Eine Anzahl Knäblein von sechs bis zwölf
Jahren zogen mit der Bürgerschaft ihm entgegen und es preßte manche Träne
aus, wie die junge Generation dem Bringer des Glückes und Friedens in harm
loser Freude entgegenjubelte.
Am 7. Oktober zog Karl Ludwig iy Heidelberg wieder ein, nachdem zwei Tage vorher die bayerischen Soldaten die Unterpfalz geräumt und den hessischen Exekutionstruppen Platz gemacht hatten,
am 14. zedierte Bayern
förmlich seine bisherige Besitznahme und die vom Kaiser beauftragten Kommis sorien übertrugen dem Kurfürsten das ganze unterpfälzische Land „mit allen geistlichen und weltlichen Gütern, Rechten und Zubehör, welche vor der böhmischen
Unruhe die Kurfürsten von der Pfalz im Besitze gehabt".
Aber in welchem
Zustande fand er das Erbteil seiner Vorfahren! Der blühende Landstrich, der
sich im Neckartal und an den beiden Rheinufern, von Boxberg, Mosbach an stromabwärts bis gegen Oppenheim, Alzey und Bacharach hin ausdehnte, der, von der Bergstraße und dem Hardtgebirge eingeschlossen, jene üppige Ebene *) Geschichte der rheinischen Pfalz, II. Band, S. 682 ff. Heidelberg 1845, B. Mohr.
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umfaßt, die selbst im fruchtbarsten Süden Deutschlands wie ein prangender Garten hervorstrahlt, war eine Einöde; die Felder toarc« mit Dorngestrüpp umzogen, die Weinberge lagen wüst da und statt reicher, dichtgesäter Ortschaften
stieß man nur auf ärmliche Hütten, in denen Armut und Elend, oft Raub und Verbrechen ihre Zuflucht fanden.
Vor dem unseligen Kriege hatten die
Städte mächtiger geblüht als jemals in der pfälzischen Zeit: Frankenthal hatte
1800 Bürger, Oppenheim 800, Kreuznach 2000 Familien gezählt; Mannheim, Heidelberg, Neustadt und die andern Amtsstädte fanden sich in gleich blühen
dem Zustand. Jetzt rechnete man, daß noch der fünfzigste Teil der ganzen Bevölkerung übrig sei und auch der war durch Krieg, Raub, Anarchie und
mehrfache Konfessionswechsel so verwildert, daß er das Gedeihen des Ganzen mehr hemmte als förderte. Heidelberg lag zum Teil in Trümmern; das alte Stammschloß der pfälzischen Wittelsbacher, das vor Friedrichs V. Wegzug mit seinen Prachtgebäuden, zierlichen Gärten, Wasserkünsten und Statuen als be
wunderter Lustort mit allen Höfen Europas rivalisierte, war jetzt in so trau rigem Zustande, daß Karl Ludwig nicht einmal eine anständige Wohnung für sich dort finden konnte.
Hier galt es zu handeln.
Der Unterschied zwischen dem traurigen An
blicke, den die Gegenwart bot, und den reizenden Schilderungen, welche die alten pfälzischen Beamten entwarfen, war zu grell, als daß nicht Karl Ludwig angespornt worden wäre hier ein Wiederhersteller zu werden. Der Eindruck
so schmerzlicher Zustände konnte auch ein ganz leichtfertiges Gemüt ernster stimmen; Karl Ludwig aber hatte in dem schweren Druck der letzten zehn Jahre die wüsten Freuden seines Jünglingslebens wohl vergessen und das Unglück hatte ihn rasch zum Manne groß gezogen.
Mit allem Ernst und
Eifer nahm er sich jetzt seines unglücklichen Landes an. Was mit Gesetzen und fürstlichen Befehlen für Zurückführung der Ord nung geschehen konnte, geschah; der Rest der Bevölkerung ward allmählich
wieder an Gehorsam und Ordnung gewöhnt; Sicherheit und ein behagliches Gefühl des Schutzes von oben, das man in den letzten drei Jahrzehnten nicht
mehr gekannt hatte, kehrten zurück. Um den armen Bewohnern aufzuhelfen ward die Steuer so weit verringert, als es die Deckung der notwendigsten Bedürfnisse erlaubte, und der Kurfürst selbst, so genußsüchtig er sonst war, versagte sich jede unnütze Ausgabe zum Wohle seiner bedrängten Untertanen. Sie vor Erpressung zu schützen verbot er den Beamten streng irgend eine
außerordentliche Geldumlage, heiße sie wie sie wolle, ohne kurfürstlichen Befehl zu erlassen oder auch nur Ursache und Anlaß dazu zu geben. Das menschen leere Land mit neuen Bewohnern zu beleben und den wüsten Boden zu kulti vieren wurden die ausgewanderten Pfälzer zur Rückkehr in die Heimat ein
geladen; und nicht etwa nur unbebautes, ödes Besitztum erhielten sie ange wiesen, sondern die Bedingungen waren so günstig, daß bei einem so reich gesegneten Boden, wie der pfälzische war, bald die traurigen Spuren der Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
Iß
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dreißigjährigen Verwüstung schwinden mußten.
Wer alte Häuser ausbessere,
heißt es in einer Verordnung vom 7. Mai 1650, solle auf zwei Jahre, und wer neue baue, auf drei Jahre von jeder Häusersteuer frei sein; wüste Felder
anzubauen machte ein Jahr frei von Abgaben; wer ganz verwilderte Plätze anbaute, war auf drei Jahre, wer Weinberge wieder anpflanzte, auf sechs Jahre von jeder Auflage durchaus entbunden. Nicht nur die verjagten Pfälzer kamen wieder, auch Kolonisten aus fremden
Ländern, aus der Schweiz, aus Holland, Frankreich, England sammelten sich. Eine kleine Schar von friedlichen Bewohnern des Luzernertales in Piemont
siedelte sich noch spät (1665) im Amt Germersheim an und erhielt außer der Steuer-, Gewerbe- und Abzugsfreiheit ihre eigene Gemeindeverwaltung und ihre selbstgewählten Geistlichen.
Die Städte erhielten ihre munizipalen Freiheiten
bestätigt oder sie wurden mit neuen bereichert und in wenigen Jahren waren die Ruinen wieder in Sitze bürgerlichen Fleißes umgewandelt. Der Kurfürst selbst munterte auf, wo er konnte, und half auch mit Geld, obwohl seine eigenen Mittel so beschränkt waren, daß er zur Reise auf den Reichstag (1652)
von einzelnen Städten als Vorschuß auf die Steuern sich 50 Taler borgen mußte. So lebendig man bemüht war das materielle Wohl zu heben und so
glücklichen Erfolg die Gunst der Natur jenen Bemühungen zu teil werden ließ,
so hatte doch an dem neu aufkeimenden Wohlstände des Landes jener edle und freie Sinn einen großen Anteil, womit religiöse Formen jeder Art ge duldet und geschützt wurden. Karl Ludwig, in der Welt und im Leben viel herumgetrieben und mit einer reichen Bildung ausgestattet, dachte über die kirchlichen Formen viel freier als seine calvinisch strengen Vorfahren jemals
sich gestattet hätten.
Von jener naiven Glaubenseinfalt seines Ahnen Fried
rich III., dem calvinisch warmen Eifer seiner Vorfahren Johann Kasimir und Friedrich IV. oder der ängstlich kirchlichen Befangenheit seines Vaters war in
dem mehr nach außen gerichteten, weltmännisch gebildeten Karl Ludwig nichts zu finden: in jenem Augenblicke ein großes Glück für Land und Untertanen.
Es wurde nicht noch der Form des Bekenntnisses und den kirchlichen Zeremonien
gefragt, wenn man fleißige und brauchbare Bürger suchte, und Karl Ludwig ward einer der ersten deutschen Fürsten, der durch die Tat jenes unselige Vorurteil widerlegte, man müsse um gut regieren zu können Untertanen einerlei
Bekenntnisses haben. Die auswärtigen Verhältnisse hatten indessen den Kurfürsten viel be schäftigt, namentlich die vollständige Durchführung des Westfälischen Friedens. Noch wurden der Pfalz verschiedene Hoheitsrechte entzogen, ein großer Teil von Ortschaften und Ämtern vorenthalten. Was aber den Kurfürsten am
meisten beschäftigte, war das Schicksal des getreuen Frankenthal, das die spanische Besatzung nicht mehr räumen zu wollen schien. Die Truppen der Spanier, Schweden und Franzosen hausten, wo sie noch als Besatzung lagen, trotz des Friedens wie in der Kriegszeit; in Alzey ward, während sich der
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Kurfürst huldigen ließ, von der französischen Besatzung aus der Feste geschossen,
die Spanier in Frankenthal trieben am Rheine offen das Raubsystem und das speyerische Bruchsal ward von den Franzosen noch vor dem Abzüge (1651)
geplündert. In dem Nürnberger Exekutionsrezeß, wo Karl Gustav die pfäl zische Sache kräftig vertrat, hatte man nach vielen vergeblichen Bemühungen
Frankenthal frei zu machen (es war sogar von einer Belagerung durch Reichs truppen gesprocherl worden) endlich sich dahin verglichen (Juni 1650), der Kurfürst solle monatlich 3000 Taler Entschädigung und als Pfand die Reichs
stadt Heilbronn erhalten, wo eine ihm allein verpflichtete Besatzung mit 8000 Talern monatlich auf Reichskosten sollte bezahlt werden.
Frankenthal selbst
sollte in seinen städtischen Verhältnissen ungestört, die pfälzische Bevölkemng von jedeni Beitrage zum Unterhalte der dortigen Besatzung befreit sein. Zu solchen Mitteln mußte man greifen, weil Reich und Kaiser zu ohnmächtig
waren ihre eigenen Verpflichtungen zu erfüllen. So blieb denn auch Frankenthal, das schwergeprüfte, in den Händen der spanischen Truppen: denn diese fanden es sehr bequem sich auf Reichs kosten im Besitze der besten pfälzischen Festung behaupten zn können. Karl Ludwig bot aber alles auf und seine Vorstellungen beim Kaiser, bei der kur
rheinischen Versammlung zu Frankfurt (1651), seine Erklärung, auch seiner
seits die noch übrigen Verpflichtungen nicht erfüllen zu wollen, wenn man das
ihm Versprochene länger vorenthalte, bewirkten wenigstens, daß die Sache nicht einschlief; auch ließ sich nicht verkennen, welche Mühe sich der Kaiser gab seine Verpflichtung zu erfüllen; aber er war über die Truppen seiner eigenen Verbündeten nicht Herr.
Als endlich noch vielen mühseligen Verhandlungen zwischen den Höfen zu Wien und Heidelberg der Auszug auf den 26. April 1652. festgesetzt war
und der Kurfürst Karl Ludwig mit seinem ganzen Hofstaate und einem Heer haufen von 1800 Mann vor der Festung erschien, wußte der spanische Komman
dant Frangipani abermals mit Vorwänden den erwarteten Abzug zu verzögern;
wirklich war auch Troß und Gepäck so massenhaft, daß cs einiger Vorbereitung bedurfte zu einem vollständigen Abzüge. Bis zum 1. Mai ward der Kurfürst zu Worms hingehalten, dann versprach man ihm, der Auszug werde bestimmt
am andern Tage stattfinden; er kam mit seinen Truppen nach Frankenthal und — abermals bat der Gouverneur um Frist; die Truppen, hieß es, hätten
heute ihren Sold empfangen, seien jetzt in trunkenem Zustande und bei einem Auszuge müsse man Exzesse besorgen. Run bestimmte Karl Ludwig den Aus
zug auf den folgenden Morgen (3. Mai); da zog denn die Besatzung von 1000 Mann hinaus, und obwohl die Hälfte zu Land ihren Marsch antrat, bedurfte man doch 28 Schiffe, um den Rest samt dem Trosse und den Vor
räten fortzubringen. Wie diese „Verbündeten" des Kaisers in dem ihrem Schutze befohlenen Reiche seit den dreißig Jahren ihrer Anwesenheit gehaust haben mochten, läßt 16»
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
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dieser Auszug einigermaßen vermuten.
Hundertundfünfzig Wagen mußten zwei
mal den Weg von Frankenthal an den Rhein machen um die Beute fortzu
schleppen ; an Vorräten allein waren es 300 Achtel Haber, 400 Malter Mehl, 300 Malter Korn und über 70 Fässer Wein! Kein Wunder, daß die spanischen
Hungerleider mit Wehmut eine Stadt verließen, die sie seit 30 Jahren in
solch ungeheurem Maße ausgebeutet hatten; kein Wunder, daß der Komman dant beim Herausziehen die liebe Erde küßte und segnete, die so ergiebig ein ganzes Menschenalter die Taschen der Fremden gefüllt hatte! Wie er aber den Frankenthalern noch unter bittersüßem Abschied und glatten, entschuldigenden Versicherungen das freche Witzwort hinwarf: sie glaubten doch an kein Fegfeuer, drum hätte Gott ihn zur Strafe geschickt, und die Bürger ihm nach
riefen: ja, eine Zuchtrute sei er für ihre Sünden geworden, aber sie hofften auch, Gott werde einst die Rute ins Feuer werfen, — da ritt der spanische Hidalgo seiner Wege ohne Erwiderung.
Der Kurfürst war erst jetzt seines
vollen Besitzes recht froh; er beschenkte die fremden Offiziere noch reichlich, er
stellt genug, daß sie dem Lande endlich den Rücken wandten. Bald war aus dem jammervollen Zustande der Pfalz ein behaglicher,
aus der soldatischen Anarchie wieder ein gesetzliches Verhältnis geworden, die lange gestörten Beziehungen zu den Nachbarn waren wieder angeknüpst, der Kaiser versöhnt und die Pfalz wieder in den Kreis der geregelten Entwicklung zurückgekehrt. Karl Ludwig — denn seiner Fürsorge gebührt der wesentlichste Ruhm — hatte angesangen die Schuld seines Vaters an dem ererbten Lande abzutragen.
In kurzem blühte das pfälzische Land wieder empor; Städte und Dörfer
erstanden neu und der reiche Segen der Natur kam dem Fleiße der Menschen
hände aufs glücklichste zu Hilfe.
Wie überraschend der Gegensatz war, erzählt
uns der stanzösische Feldmarschall Gramont,
der 1646
mit seinem Heere
durch das verwüstete und verwilderte Land gekommen war und es 12 Jahre
später auf einer diplomatischen Reise wieder berührte. Wie war der Franzose erstaunt, als er das Land wieder in austeimendem Wohlstände sah, die Dörfer neu aufgebaut, das kurfürstliche Schloß hergestellt und innen schön geschmückt, Heidelberg und das ganze Land so bevölkert, „als wenn niemals Krieg geführt
worden wäre".
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See. Don H. Simonsfeld.*')
Die Regierung Ferdinand Marias (1651—1679), des Sohnes des ersten bayerischen Kurfürsten Maximilian I., ist in mehrfacher Beziehung eine der wichtigsten Perioden unserer bayerischen Geschichte. Ist es doch die Zeit, wo auch in Bayern wie anderwärts der Übergang zur neueren und neuesten *) Vgl „Jahrbuch für Münchener Geschichte", Band IV, S. 175 ff. Bamberg 1890. Buchner.
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
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Geschichte sich vorbereitet, wo auch hier wie anderswo vor allem die ernstesten Versuche gemacht werden die schweren Schäden des unheilvollen Dreißig jährigen Krieges wieder gutzumachen, die Ordnung wieder herzustellen, tfen tief darniedcrliegenden Wohlstand des Volkes wieder aufzurichten, den zerrüt
teten Finanzen des Landes auf die verschiedenste Weise wieder aufzuhelfen. Wenn dieses am besten wohl der große Kurfürst Friedrich Wilhelm von
Brandenburg und Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz verstanden haben, so dürfen neben diesen doch auch andere deutsche Fürsten, wie Ernst der Fromme von Gotha, Georg II. von Hessen und besonders unser Kurfürst Ferdinand Maria hier gleichfalls rühmlich erwähnt werden;
denn sie alle waren in gleicher Weise
auf das Eifrigste um das Wohl ihrer Untertanen bemüht. Wie sehr man auch die auswärtige Politik Ferdinand Marias beklagen mag, welche unter dem Einflüsse von dessen ehrgeiziger Gemahlin Adelheid,
der französisch erzogenen Prinzessin von Savoyen, die verhängnisvolle Schwenkung zu Frankreich einleitete — jedenfalls unbestreitbar sind die Ver dienste, welche Ferdinand Maria und seine Gemahlin sich um die wirtschaftliche, geistige und kulturelle Hebung Bayerns erworben haben. Die geistvolle,
lebenslustige Kurfürstin, begeistert für das Schöne, voll Sinn und Verständnis für alle Künste, in welchen, besonders in der Literatur, sie sich auch selbständig versuchte,
hat nicht bloß das damalige Hofleben
in französisch-italienischem
Geiste umgestaltet sondern auch in mannigfachster Beziehung durch die Fremden, welche mit ihr und durch sic nach München kamen, durch industrielle und wirtschaftliche Unternehmungen,
die
sie begünstigte,
durch Bauten
wie
die
Thcatinerkirche und Schloß Nymphenburg, auf die ganze Bevölkerung
und auf lange Zeit hinaus im Vereine mit ihrem Gemahl befruchtend und
segensreich gewirkt. Ferdinand Maria und Adelheid liebten den Glanz und den Prunk; und
wenn auch diese Prachtliebe ein Ausfluß ihres absolutistischen Selbstherrlich keitsgefühles war, so galt sie ihnen doch zugleich als Mittel zum Zweck: sie wollten auch hierdurch dazu beitragen den Wohlstand ihres Volkes zu erhöhen So fällt ein Abglanz der mit großer Verschwendung gefeierten Feste auf die
Zeit ihrer Regierung
selbst,
nach deren
fast 28 jähriger Dauer Ferdinand
Maria feinem Sohne Mäx Emanuel eine gefüllte Schatzkammer, eine stattliche Armee von 20000 Mann und ein aufblühendes Land hinterlassen konnte. Eine Zeit, in welcher bayerische Truppen in Ungarn und in venezianischen
Diensten auf
der Insel Kandia
gegen
die
Türken
gekämpft
haben,
wo
man an die Gründung einer bayerischen Kolonie in Südamerika dachte, in der in München eine Seidenmanufaktur und in Schleißheim eine Acker
bauschule
errichtet
wurde,
die
hier
in München
ein
italienisches
Opern
haus und auf dem Starnberger See eine Nachbildung des venezianischen Bucintoro erstehen sah, bietet gewiß des Interessanten und Wissenswerten eine
reiche Fülle.
45. Der Bucintoro aus dem Starnberger See.
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Auf alles dies sei hier nicht näher eingegangen, sondern nur kurz hin
gewiesen, dagegen soll etwas mehr von dem Bucintoro erzählt werden. Wer hätte/ wenn von der einzigartigen Lagunenstadt, dem unvergleichlich schönen Venedig die Rede war, nicht auch von dem goldstrotzenden Bucintoro
Jenem glänzenden Prachtschiffe, das bei den meisten Festlichkeiten der
gehört?
Republik Venedig verwendet wurde: beim Empfang fremder Fürstlichkeiten, z. B. König Heinrichs III. von Frankreich, ebenso wie bei der Rückkehr der Königin
Katharina Kornaro nach ihrem erzwungenen Verzicht auf die Insel Cypern.
Auf dem Bucintoro fuhr alljährlich am Himmelfahrtstage der Doge, umgeben von den höchsten Würdenträgern und Beamten und Ratsherren der Republik, unter dem Donner der Kanonen, dem Geläute der Glocken und dem Schmettern
der Trompeten, umringt von einer ganzen Flotille festlich geschmückter Fahr zeuge, hinaus in das Adriatische Meer, um die symbolische Vermählung der
Republik mit dem Meere, der Adria, zu feiern.
Die Pracht und der Luxus,
womit dies prunkvolle Staatsschiff ausgestaltet war, hat nicht verfehlen können auf alle Fremden, welche die stolze Königin der Adria besuchten, einen tiefen So wird es als eine der Sehenswürdigkeiten Venedigs in den meisten Reisebeschreibungen erwähnt, welche die nach dem Heiligen
Eindruck zu machen.
Land reisenden, in Venedig sich einschiffenden Pilger uns hinterlassen haben.
Die Kunde davon war natürlich auch nach Bayern, nach München gedrungen. Es ist irrig, wenn man gesagt hat, erst nach dem Besuche des Kurfürsten
Ferdinand Maria und seiner Gemahlin in Venedig im Jahre 1667 sei der bayerische Bucintoro entstanden — derselbe war vielmehr bereits im Jahre 1663 vollendet?) Übrigens hatten die bayerischen Herzoge schon immer zu ihren Lustfahrten
auf dem Starnberger See ihre eigenen Schiffe.
Herzog Albrecht V. „belebte
den See mit einer Luftflotte, darunter eine königliche Fregatte,
drei Schiffe
von Lärchenholz mit eichenen Säulen darauf, Gondeln nach Vene di scher Art, alles zierlich geschnitzt, bemalt und vergoldet." Wann freilich Ferdinand Maria oder seine Gemahlin zuerst den Ge
danken gefaßt den Bucintoro selbst nachzubilden ist unbekannt;
unsicher auch,
wen er zuerst aus Venedig zur Leitung des Baues berufen hat. Es werden die italienischen Zimmermeister Anastasio Margiolo und Francesco Zanti als
diejenigen haben,
genannt,
welche den Bau im Jahre 1661 oder 1662 begonnen
Francesco Santurini und Francesco Mauro
Baues bezeichnet.
als die Vollender des
Im Jahre 1664 ist noch ein venezianischer Arsenalarbeiter,
namens Nicolo, aus Venedig gekommen um das neue Schiff „auszutaakeln
und in Trimm zu bringen". l) Was die Etymologie des Wortes Bucintoro anlangt, so-scheint es am richtigsten von dem lateinischen buceus, bussius, bucia, buccia, bussa, buza abzuleiten zu sein, welches ein größeres Fahrzeug bedeutet und italienisch „buzo“ lautet; Bucintoro wäre dann ein buzo d’oro oder buzin d’oro.
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
247
Als Vorbild diente der venezianische Bucintoro, welcher im Jahre 1605
hergestellt worden war. Man ahmte ihn jedoch nicht sklavisch nach, sondern es ward in einem wesentlichen Punkte eine Änderung vorgenommen. Der venezianische Bucintoro
das eine unten,
hatte immer nur zwei Stockwerke:
in welchem sich die Ruderer befanden, und das obere für den Dogen, sein Gefolge, die Gäste. Der Bucintoro auf dem Starnberger See aber hatte
drei Stockwerke oder Etagen, von denen die erste für die Matrosen, die zweite für den Hof und die höchsten Herrschaften, die dritte für die Musiker usw.
Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
bestimmt war. Schon dadurch wie durch die prächtigere Ausschmückung muß der bayerische Bucintoro dem damaligen venezianischen gegenüber einen groß
artigeren Eindruck gemacht haben. Die Länge des unseren betrug 100 (110), die Breite 25 (30), die Höhe (ohne
die oberste Galerie) 17 Fuß.
Die Hauptfarben von außen waren blau und Gleich vom Wasser
rot und die Schnitzwerke waren mit gutem Gold gefaßt.
auf erblickte man rings
um das Schiff einen Tanz der Sirenen, Najaden
und Tritonen, von Johann Spilberger in München gemalt.
die Ruderstangen
und Kanonen
Mannschaft sich befand.
hervor aus Öffnungen,
Darüber sahen hinter denen die
Rings um die Mitte des Schiffes erhob sich darüber
als zweite Etage eine Galerie, von geschnittenen und durcheinander geflochtenen Fischen und gedrehten Säulen gezogen, zu welcher am Hinterteile des Schiffes zwei Treppen führten,
bildeten.
die den Hauptzugang zu den beiden oberen Etagen
Die Galerie hatte die Form
eines Balkons;
am Ende derselben.
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
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auf dem Vorderteile des Schiffes stand Neptun auf einem Delphin mit der Flagge statt des Dreizackes in der Hand. Hinter dieser Galerie befanden sich in der nämlichen zweiten Etage ein großer Saal und zwei Kabinette, nach außen durch runde Scheibcnfenster verschlossen, die auf der Außenseite durch weibliche Karyatiden abgcteilt waren, die hinwiederum das Gesimse der dritten Etage trugen. Der Saal befand sich auf dem Vorder-, die beiden Kabinette
auf dem Hinterteile des Schiffes; dazwischen war ein Borraum oder ein Vor
zimmer.
Unter dem Eingang zum großen Saale war das bayerische und das
savoyische Wappen abgcbildct mit einer entsprechenden vergoldeten Inschrift
darunter und der Jahreszahl 1663. Der Saal war 45 Schuh lang und 9 Schuh hoch.
Beim Einttitt, wo
der erste Mastbaum angebracht war, stand die ©Iahte des Herkules und in der Mitte des Saales, auf einem Delphin reitend, Neptun in einer großen, von vier Najaden getragenen Muschel. Der Gott goß mit der hocherhobenen Linken aus einem Krug Wasser in eine mit der gesenkten Rechten gehaltene Schale; aus dieser floß plätschernd das Naß in die große Muschel. Dieser
eigenartige Springbrunnen wurde in späterer Zeit vom Kurfürsten benutzt,
um daraus alle diejenigen, welche den Bucintoro zum ersten Male betraten, mit Wasser zu bespritzen.
Saal und Vorzimmer und
beide Kabinette, von
denen jedes 15 Schuh, das Vorzimmer 20 Schuh lang war, waren mit kunstvollen Malereien von Spilberger und Kaspar Amort reich und prächtig verziert. Von dieser zweiten Etage führten zwei Stiegen, die sich am Vorderteile des Schiffes befanden, nach der obersten Galerie oder dem dritten Verdecke,
welches offen, unbedeckt, aber von einer Balustrade eingefaßt war, an welcher man Wasserspeier für das ablaufende Wasser angebracht hatte. Sie war rings mit kleinen Laternen und kleinen Fahnen geschmückt, während die beiden
Mastbäume, an deren Wipfeln ebenfalls die bayerischen Fahnen lustig in den Lüsten flatterten, mit den daran befindlichen Segeln sich darüber stolz erhoben.
Die Galerie war vorzugsweise für die Trompeter und Pauker und andere
Musici besttmmt. Außerdem hatte hier der Steuermann seinen Platz, der von da aus das mächtige, vergoldete Steuerruder ant Hinterteil des Schiffes leiten mußte.
Die dritte Etage, speziell das Hinterteil des Schiffes, krönte
ein giebelförmiger Aufbau,
an
dessen
Spitze sich
zwei vergoldete Löwen
befanden, welche eine große, aber dabei sehr zierliche, vergoldete Laterne trugen. Oben beim Schnabel des Schiffes standen vier Kanonen und deren
zwölf weitere befanden sich im untersten Verdeck — nicht bloß zur Zierde und zu anderen Zwecken sondern besonders auch um dem Schiffe das nötige Schwergewicht zu verleihen. Sie schauten aus Öffnungen dicht über dem Wasserspiegel hervor.
Hier im untersten Verdeck befand sich ferner die Rudermannschast, welche wie bei dem venezianischen Bucintoro nicht sichtbar war.
An den vergoldeten
45. Der Bucintoro auf dem Starnberger See.
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und bemalten großen Rudern arbeiteten paarweise, in die bayerischen National
farben gekleidet, 68 Mann, an den kleineren 32 Mann.
Acht Mann waren zum
Anker, der am Vorderteile des Schiffes herabhing, und zwei Mann zum Aus
pumpen bestimmt; somit hatten im untersten Verdecke 110 Arbeiter ihre Stelle. Überhaupt waren oft bei 500 Personen auf dem Schiffe. Dennoch erreichte
dessen Senkung unter den Wasserspiegel niemals ganz die Tiefe von drei Schuh
und es blieb daher immer gefährlich, bei heftigem Wind zu fahren oder sich der Segel zu bedienen.
Es begreift sich, daß bei so reicher Ausschmückung der Bucintoro einer
seits als ein Wunderwerk gepriesen wurde, anderseits aber auch die Herstellungs kosten desselben nicht geringe gewesen sind.
Sie mögen sich auf die Summe
von etwa 20000 Gulden belaufen haben. Wenn der Bucintoro „in See stach", war er immer von einer Anzahl welche zum Teil nach der äußeren Farbe benannt
anderer Schiffe umgeben,
waren und zusammen mit dem prächtigen Bucintoro, angefüllt mit einer heiteren,
gekleideten
festlich
Menge,
einen
überaus
malerischen,
entzückenden
Anblick
gewährt haben müssen.
Die Geschichte des Bucintoro auf dem Starnberger See ist wesentlich
eine Geschichte der Festlichkeiten, die mit demselben und auf demselben gefeiert
wurden, sei es daß fremde Gäste zum Besuche des bayerischen Hofes kamen, wie z. B. 1671 der Erzbischof Maximilian Gandolf von Salzburg, oder aus
wie im Jahre 1722 gelegentlich der Vermählung
besonderen Anlässen,
des
Kurprinzen Karl Albrecht mit der österreichischen Kaisertochtcr Maria Amalia. Eine der häufigsten und beliebtesten Festivitäten war eine Hirsch-Seejagd, wie
eine solche sehen ist.
auf einem Gemälde
im neuen Nationalmuseum
zu München zu
Man jagte den Hirsch durch eine Waldeslücke an den Ufern in den
See, ihm nach stürzten unzählige Jagdhunde; alle Fahrzeuge eilten dem schwim menden Hirsch
nach, umzingelten das geängstigte Tier, dessen Leben endlich
ein Stoß mit einer gewichtigen Partisane inmitten des Sees endigte. Kurfürst Karl Albrecht war der letzte Herrscher Bayerns, der sich auf
dem Bucintoro vergnügte.
Im Jahre 1741 oder 1745 mußte das Pracht
schiff ans Land gebracht werden,
Ausbesserung bedurfte.
wären,
nahm man
von
weil
es schadhaft
geworden war
und der
Da aber die Kosten hierfür nicht unerhebliche gewesen
einer solchen Abstand.
In den Jahren 1753 und
1757 wurde der Gedanke einer völligen Wiederherstellung oder Neuerrichtung
des Bucintoro mehrmals erwogen, aber schließlich ebenfalls wegen der Höhe der hierzu nötigen Summe aufgegeben, vielmehr (12. Januar 1758) beschlossen
den Bucintoro ganz abzubrechen, was dann auch alsbald ausgeführt wurde. Von dem ganzen Prachtbau ist heutigentags nichts mehr vorhanden als die
oben
erwähnte Statue
der Pallas,
welche das bayerische Nationalmuseum
1862 als Geschenk erhielt, und ein paar Laternen, die sich im Privatbesitze
befinden.
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46. Der bayerische Hos im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus.
Aber auch der historisch ungleich bedeutungsvollere venezianische Bruder des Bucintoro hat ein ähnliches unrühmliches Ende gefunden. Im Jahre 1727 prächtiger als je neu erbaut fiel er der französischen Revolution, welche 1797
der Republik Venedig selbst den Todesstoß versetzte, zum Opfer.
deten Teile
Die vergol
desselben wurden auf dem freien Platze der Insel S. Giorgio
von einer fanatischen, demokratisierenden Menge am Morgen des 9. Januar
1798 verbrannt; der Rumpf des Schiffes wurde in eine Batterie verwandelt
und diente einige Zeit zur Verteidigung der Lagune, dann als Strafgaleere, bis er 1824 vernichtet wurde.
Heutzutage ist nur mehr ein Modell von dem
berühmten Bucintoro im Arsenal zu Venedig zu sehen.
46. Der bayerische Hof im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus. Don M. DoebcrL1)
„Der allmächtige Erschaffer der Erde, welcher von sich selbst und durch
seine einzige Hand nach seinem Gefallen könnte die Welt regieren, hat jedoch solche Gewalt den Fürsten mitgeteilt, die er gleichsam als Verweser seiner Macht und Herrlichkeit aufgestellt.
Die Liebe, die er zu den Menschen trägt,
hat ihn vermocht auch seine Autorität mit denselben zu teilen. Gleichwie er in dem Himmel und am Firmament erschafft und gesetzt die Engel, welche
man inteiligentias nennt, um vorzustehen der Bewegung derselben: also hat seine göttliche Weisheit für gut angesehen dergleichen Kreaturen auch auf Erden zu bestätigen, welche das Amt trügen die Fürstentümer zu regieren." So urteilte man in höfischen Kreisen Bayerns über das absolute Fürsten tum des 17. und 18. Jahrhunderts. Man wird gemahnt an die überschweng lichen Worte, mit denen in Frankreich die Berechtigung des absoluten König
tums von den juristischen Hofpublizisten aus dem römischen Rechte, von den geistlichen aus der Bibel bewiesen wurde. Der Verherrlichung des absoluten Fürstentums diente die Prachtent
faltung des kurfürstlichen Hofes.
Wie am stanzösischen Hofe zu Versailles
reihte sich in München und Nymphenburg, in Schleißheim und in den übrigen kurfürstlichen Schlössern Fest an Fest: Opern, Ballette, Schauspiele, Komö dien, Schäferspiele, Wirtschaften, Maskenfeste, Feuerwerke, Tänze, Kopfrennen,
Turniere, Hirschfaiste, Schweinehatzen, Wasserjagden, Wasserfahrten auf dem Starnberger See, „inter blanditias zephyrorum et nympharum, in ter fides et tubas et in cymbalis bene sonantibus“. Der Grundsatz „le roi s’amuse“ begann am bayerischen Hofe heimisch zu werden.
Allen voran die
Kurfürstin Adelheid, die an Vielseitigkeit alles überbot, jagte, tanzte, schau
spielerte, musizierte, sang, dichtete, komponierte, malte und — wallfahrtete. ’) Aus „Innere Regierung Bayerns nach dem Dreißigjährigen Kriege", Forschungen zur Geschichte Bayerns, Band XU, S. 32. München 1904, R. Oldenbourg.
46. Ter bayerische Hof im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus.
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Der Verherrlichung des absoluten Fürstentums diente die Muse der Hofdichter: eines Maccioni, des Dichters der „Ardelia", eines Bissari, des Dichters des „L'Erinto", eines Marchese Pallavicino, des Dichters der „Antiope",
eines Domenico Gisberti, des Prototyps eines höfischen Gelegenheitsdichters. Nicht innerem Drange, sondern höfischen Festlichkeiten entstammten ihre Dich tungen, dem Kaiserbesuch 1658, der Geburt der Kurprinzessin Marianne Chri stine, des Kurprinzen Max Emanuel: es waren höfische Gelegenheitsdichtungen. Nicht Verherrlichung sittlicher Ideen, die Apotheose des kurfürstlichen Hauses war ihr Ziel; der ganze Olymp vereinigte sich in Lobpreisungen des neu
Schloß Nymphenburg, Stadtseite; nach einem Stiche von M. Disel. (Nach „Die Baukunst". W. Spemanu, Berlin.)
geborenen Thronfolgers und seiner erlauchten Eltern. Dem Milieu des Hofes war die Sprache, war die Gedankenwelt, waren die Motive angepaßt; höfischen Charakters ist die Vorliebe für die Allegorie, für die verkttnstelte Welt der französischen Preziösen. Für „Ardelia", für „L'Erinto" gab die Kurfttrftin
den Dichtern die Grundidee: „Die Blüten sammelte Adelaide". Damals ge hörte es zum Glaüze eines fürstlichen Hofes, nicht bloß eigene darstellende sondern auch eigene schaffende Künstler zu haben. Damals wollte man nicht bloß Opern und Schauspiele geben, sondern jeder Hof wollte seine eigene Oper, sein eigenes Schauspiel bringen, womöglich nach den Ideen einer leitenden Persönlichkeit.
Der Verherrlichung des absoluten Fürstentums diente die musikalische Kunst der Leiter der Hofkapelle: eines Giacoppo Porro, eines Johann
Kaspar Kerll, eines Ercole Bernabei.
Ihre Leistungen waren notwendige Bei
gaben zu höfischen Festlichkeiten und Festspielen, die anspruchsloseren deutschen
Musiker mußten entweder zurücktreten oder sich in die fremde höfische Art einleben.
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46. Der bayerische Hos im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus.
Der Verherrlichung des absoluten Fürstentums dienten die bildenden Künste, namentlich die Architektur, die sich besonderer Bevorzugung erfreute,
weil hier die Auftraggeber weniger hinter den Künstler zurücktraten; ihr diente
ein Agostino Barelli, ein Amort, ein Triva, ein Sandrart. Die Theatinerkirche und das Theatinerkloster entstanden nicht allein wegen des Gelübdes der kurfürstlichen Eltern, das fürstliche Selbstgefühl wollte eine zweite S. Andrea
della Valle schaffen, wie gleichzeitig mit Nymphenburg eine Kopie Venerias, des Lustschlosses Herzog Karl Eugens von Savoyen. Der höfische Charakter, chie höfische Fesfftimmung, die höfische Neigung zur Prachtentfaltung, zu über ladener Dekoration durchzieht selbst das Innere der Theatinerkirche, verrät sich
in den üppigen Formen der Stuckornamentik. Die treibende Kraft für alle diese künstlerischen Bestrebungen war nicht innerer Drang, nicht tieferes Verständnis für das wahre Wesen der Kunst, nicht beim Kurfürsten, vielleicht nicht einmal immer bei der Kurfürstin, so sehr auch höfische Schriftsteller der Zeit ihren Geist feiern mögen, so sehr sie auch gewisse künstlerische Allüren und Freude an verfeinerter Geselligkeit besaß. Es war aber auch nicht bloß das unruhige Temperament, die Eitelkeit und Mode sucht der Kurfürstin, die Fügsamkeit des Kurfürsten.
Wie Ludwig XIV., wie
jenes repräsentative Zeitalter überhaupt, so erblickte auch der bayerische Hof in der Entfaltung fürstlicher Pracht ein Herrschermittel, weniger um das
Volk zu künstlerischem Verständnis als vielmehr zur Bewunderung zu er ziehen; die Bewunderung erleichtere den Menschen die volle Hingabe an das
absolute Fürstentum, ein Fürst müsse, wie Napoleon später äußerte, in allein seinen Tun und Reden auf die Phantasie der Menschen zu wirken suchen. „Die Magnifizenz und die Pracht verleiht die höchste Zierde der Herrlichkeit
einem fürstlichen Hofe und ist diese das einzige Mittel, welches die Fürsten
berühmt macht und ihnen auch größeren Gehorsam und Respekt bei den Unter
tanen verursacht," äußert ein bayerischer Zeitgenosse unter ausdrücklichem Hin
weis auf das Beispiel Ludwigs XIV.
Gerade dieses Moment hat auf Ferdi
nand Maria mehr als alle anderen eingewirkt, seine Abneigung gegen die
repräsentativen Pflichten, gegen die Ruhelosigkeit des Hoflebens, gegen die hohen finanziellen Ansprüche etwas beschwichtigt. Weil es zu den Gepflogenheiten
des damaligen Hoflebens gehörte, ließ der Kurfürst die Mitglieder des kur fürstlichen Hauses in der Oper, in dem Ballette, im Schauspiele persönlich
mitwirken, übernahm er selbst in der „Antiope" die Rolle des Königs Solon, der für die von Theseus beleidigte Antiope eintritt. Die Bewunderung des Auslandes war ein anderes Ziel des da
maligen absoluten Fürstentums, auch Ferdinand Marias. Bayern hat zu den verschiedensten Zeiten der Pflege fremder Kultur eine Heimstätte bereitet. Da mals hatte das nicht bloß seinen Grund in der Vorliebe Adelheids für Frank reich und für das Land ihrer Väter, die sie bestimmte, Künstler und Künstle rinnen aus ihrer Heimat zu berufen, man strebte den Ruf eines fürstlichen
46. Der bayerische Hof im Zeitalter des fürstlichen Absolutismus.
253
Daher erklärt es sich, wenn zuerst italienische, seit dem Anschluß Bayerns an Frankreich auch französische Künstler gastliche Mäzenatentums im Auslande an.
Aufnahme am bayerischen Hofe fanden, wenn nicht bloß Meister wie Mignard
sondern selbst Künstler und Dichterlinge dritten Grades sich der liebenswürdigsten Auszeichnungen erfreuten. „Es geziemt sich, wenn ein Fürst seine Glorie und Herrlichkeit auch außer Landes verkündigen will, daß er sich gegen die Benach
barten und Ausländer ein großer Herr zu sein bezeige.
Die Ehre, welche er
ihnen antut, ist ein Sonnenstrahl seiner Majestät, welcher sich durch die Reflexion wiederum in seine Person ergießt, indem durch Empfang von der
gleichen Ehrenbezeugungen den Fremden und Ausländern dagegen obgelegen
ist sich allerorten in dessen Lobsprechung herauszulassen". Und die fremden Künstler erwiesen sich wirklich dankbar: sie feierten Bayern als „das achte Wunder im Reiche der Welt", als das „Apulien Deutschlands", die Haupt stadt München als „eine der lieblichsten, bestgebauten und hervorragendsten
Städte der Welt". Ferdinand Maria fügte sich oft nur gezwungen und widerwillig dem
von seiner Gemahlin eingeführten italienisch-französischen Zuschnitt des Hofes.
Mit ganzer Seele lebten in dieser neuen höfischen Welt der Sohn und der Enkel der savoyischen Prinzessin, Max Emanuel und Karl Albert. Was damals höfische Prachtentfaltung, höfisches Vergnügen, höfische Kunst zu leisten vermochte, das zeigte dem staunenden Auge die Vermählungsfeier des Kur prinzen Karl Albert mit der Kaisertochter Marie Amalie: selbst die verwöhnte Tochter des Kaiserhauses war überrascht; „der Münchener Hof ist einer der glänzendsten in Europa, die Vergnügungen überstürzen sich," schließt ein Zeit genosse die farbige Schilderung dieser Festlichkeiten. Noch heute sind lebendige Zeugen dieser Periode die reichen Zimmer der Münchener Residenz, die neuen Schloßbauten zu Schleißheim und Nymphenburg (wenn sie auch Fragmente
geblieben sind wie die weltumspannenden Pläne der Kurfürsten), die Bauten
im Nymphenburger Parke mit der Perle der Rokokoschlösser, der duftigen Amalienburg, die unter dem Einfluß der kurfürstlichen Kunstschöpfungen ent standenen Bauten der weltlichen und der geistlichen Aristokratie innerhalb wie außerhalb Münchens.
Der üppige Hofhalt verschlang Summen, die zu den Einkünften in keinem Verhältnis standen, und entzog die wirklichen Mittel dringenderen Lebens aufgaben des Staates, doppelt verhängnisvoll in einer Zeit folgenschwerer Entscheidungen. Unter dem äußeren Firnis barg sich oft Frivolität und Un sittlichkeit; die Überhebung der höfischen Gesellschaft erweiterte die Kluft zwischen den höheren Kreisen und dem gemeinen Mann. höfischen Zeitalters bedeutete doch einen
Aber die Kultur des fürstlich
Fortschritt im Vergleich zu dem
„grobianischen" Wesen und den Trinkfreuden des 16. Jahrhunderts: sie schuf unter französischer Führung eine neue gesellschaftliche Bildung bis herab zu
den heutigen Tischsitten, sie weckte in den höheren Gesellschaftskreisen den Sinn
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47. Lchleißheim.
für geistige Interessen, sie half die Pedanterie der Gelehrten wie die Unduld samkeit der Theologen überwinden, sic modernisierte den deutschen Menschen. Sie brachte zwar nicht wie in Frankreich auf dem Gebiete der Literatur, aber
doch auf dem der bildenden Künste Werke von dauerndem Wert hervor.
Schlotz Schleitzheim, Westfront.
47. Schleitzheim. Don Hermann ßingg.1)
Es ragt ein Königsschlotz, umgeben Don Wald und düst'rer Einsamkeit, Bewohnt nur von dem Geisterleben Gewaltiger Vergangenheit.
Und Don Don Don
Da glüh'n im Abendsonnenscheine Die hohen Fenster zauberhaft Und etwas blitzt um diese Steine Wie Stolz und wilde Leidenschaft.
Einst rauschten hier die Marmortreppen, Wenn aus den Sälen trat ein Kranz Don schönen Frau'n in seid'nen Schleppen An Festen voller Pracht und Glanz.
Und wie von Tränen, längst geweinten, Wo schon erblichen Gold und Erz, Aus all dem Prunke, dem versteinten, Spricht's still: Hier schlug ein tapfres Herz. Und wenn von jenen Föhrenhainen Heraufzieht die Gewitternacht, Dann ist's, als seh' ich ihn erscheinen, Den „blauen König", in der Schlacht.
In jeder Säule tritt ein Mahnen An Größe würdevoll hervor, Aus jedem Bild der Fürstenahnen Im goldgeschmückten Korridor.
Es blitzt sein breiter Ungarsäbel Im Kampf, ein Engel Azrael Steigt auf aus dunklem Pulvernebel, Der Kurfürst Max Emanuel.
reiche Schlachtgemälde melden weltberühmter Tapferkeit, Sobieskis Ruhm, des Helden, all den Tapfern seiner Zeit.
9 „Vaterländische Balladen und Gesänge", S. 140.
München 1869, I. I. Lentner.
48. Kurfürst Max Emanuel im Türlenkriege 1683—1688.
Dor seinen muterfüllten Truppen Erstürmt er kühn die Türkenschanz' Und über der Moscheen Kuppen Erbleicht des Halbmonds Siegesglanz.
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Die Schar Seldschuken und Arnauten Entflieht und sinkt im blut'gen Fall, Im Feld der weiß und blauen Rauten Trotzt Bayerns Leu von Belgrads Wall.
48. Kurfürst Max Emanuel im Türkenkriege 1683—1688. Don Karl v. Landmann.*
Als Kurfürst Max Emanuel am 11. Juli 1680 im Alter von 18 Jahren die selbständige Regierung Bayerns antrat, befand sich das Deutsche Reich in äußerst bedenklicher Lage. Von Westen her drängten die Franzosen, die unter ihrem ländergierigen König ein Stück nach dem andern von Deutschland ab rissen. Im Osten standen drohend die Türken, die bereits im Besitz der
Königsstadt Ofen und
des
größeren Teiles von Ungarn waren und ihre
Macht auch auf deutsches Gebiet auszudchncn trachteten. In diesem Kampfe um den Fortbestand des Deutschen Reiches wollte der junge Kurfürst nicht den Zuschauer spielen. Im Gegensatze zu seinem
Vater, dem Kurfürsten Ferdinand Maria, der den Frieden geliebt und in vor sichtiger Neutralität nur an die Erhaltung seines Besitzstandes gedacht hatte, brannte Max Emanuel vor Ehrgeiz sich unsterblichen Kriegsruhm zu erwerben und sein Land Bayern größer und mächtiger zu machen. Glaubte er diesen Zielen im treuen Festhalten an Kaiser und Reich näherzukommen, so war
er sich zugleich klar, daß hierzu vor allem ein schlagfertiges Heer notwendig sei. Zunächst gewann er in Hannibal Freiherrn von Degenfeld, der als Feldmarschalleutnant aus dänischem in bayerischen Dienst übertrat, einen erprobten Kricgsmann als militärischen Berater. Unter dessen Leitung wurde alsdann
aus den 35 einzelnen, dem Hofkriegsrat unmittelbar unterstellten Kompagnien,
welche die ganze damalige Kriegsmacht Knrbayerns bildeten, ein neues Heer von 7 Infanterie- und 4 Kavallerie - Regimentern,
entsprechender Artillerie geschaffen.
4 Dragonerkompagnien
und
Vier von den damals errichteten Regi
mentern bestehen als 2. und 10. Infanterie-, 1. und 2. Chevaulegersregiment noch heute. Der Abschluß der Neuaufstellung des Heeres fand seinen Ausdruck in der im Herbst 1682 erfolgten Anordnung eines Übungslagers bei Schwabing
unmittelbar nördlich von München. Die unter Degenfelds Leitung stattfindenden Übungen dauerten vom 12.—24. Oktober und bestanden in Manövern in zwei Parteien gegeneinander, in einem Manöver des ganzen Korps ohne Gegner
und in einer Belagerungsübung. Kaum war das neue kurbayerische Heer gebildet, so fand es auch Gelegenheit sich im Kriege zu bewähren. Am 2. Januar 1683 erklärte Sultan Mohammed den Krieg an Kaiser Leopold und alsbald erging der Ruf um Hilfe an das Reich und nach auswärts. Der erste, der dem Kaiser seinen Beistand im Kampfe gegen die Ungläubigen zusagte, indem er mit
48. Kurfürst Max Emanuel im Türkenkriege 1683—1688.
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Vertrag vom 26. Januar 1683 8200 Mann zu stellen versprach, war Kur fürst Max Emanuel.
Er war auch der erste, der mit seinem Hilfskorps, der
Infanterie mit den Regimentsgeschützen zu Wasser auf der Donau, der Kaval
lerie auf dem Landwege, in der Versammlung bei Krems eintraf, bis wohin die
kaiserliche Armee unter Karl von Lothringen
Türkenheere zurückgegangen war.
vor dem übermächtigen
Nachdem die übrigen Reichskontingente und
König Sobieski mit den Polen eingetroffen waren, fand am 12. September
die große Schlacht am Kahlenberg statt,
deren siegreicher Ausgang die von
Starhemberg mutvoll verteidigte Kaiserstadt Wien rettete und unberechenbares
Unglück von Deutschland abwendete.
Hier erhielt Max Emanuel mit seiner
jungen Armee die Feuertaufe. Nach dem Abzüge des geschlagenen türkischen Heeres nahm Max Emanuel noch an der Belagerung von Gran teil.
Um die Rückeroberung von Ungarn durchzuführen begann der Herzog von Lothringen im Jahre 1684 mit dem deutschen Heere die Belagerung der stark befestigten Hauptstadt Ofen,- unter ihm befehligte Max Emanuel den Angriff auf die Südseite des Schlosses. Ungünstige Umstände verschiedener Art und der tapfere Widerstand der Verteidiger ließen jedoch das ganze Unter
nehmen scheitern.
Es gelang zwar einen Entsatzversuch erfolgreich abzuschlagen,
aber der Besatzung von Ofen vermochte man nichts anzuhaben.
Im Juni 1685 feierte Max Einanuel seine Vermählung
mit Maria
Antonia, der Tochter Kaiser Leopolds I., durch welche Verbindung sich ihm
die Aussicht auf den einstigen Besitz der spanischen Niederlande eröffnete. Die Rücksicht auf seine persönlichen Verhältnisse hielt ihn aber nicht ab sich noch am Feldzuge dieses Jahres zu beteiligen, für den sich der Herzog von Lothringen die Eroberung der Grenzfestung Neuhäusel zur Aufgabe gestellt
hatte.
Während die Belagerung sich bereits dem erfolgreichen Abschluß näherte,
brach ein türkisches Heer über Ofen auf Gran vor und begann diesen erst vor zwei Jahren von den Deutschen zurückeroberten Platz zu belagern. Unter Zurücklassung der erforderlichen Truppen vor Neuhäusel rückte der Herzog
von Lothringen zum Entsatz heran und brachte am 16. August in der Schlacht
bei Gran, in der Max Emanuel
den linken Flügel des deutschen Heeres
kommandierte, den Türken eine vollständige Niederlage bei.
Drei Tage nachher
fiel Neuhäusel durch Sturm in die Hände der Deutschen.
Im Jahre 1686 erlaubten die der Armee in Ungarn zugeführten Ver stärkungen, insbesondere auch von Brandenburgern unter Schöning, die Be
lagerung von Ofen erneut zu unternehmen.
Dem Wunsche Max Emanuels
entsprechend, ein ständiges Kommando zu haben, war die Einteilung der Armee
derart getroffen worden, daß ihm 20000 Mann, davon 8000 Bayern, unter
stellt waren,
während
der Herzog
von Lothringen etwa 40000 Mann zu
einer unmittelbaren Verfügung hatte. Die starke Besatzung der Festung ver teidigte sich mit äußerster Tapferkeit unter wiederholten Ausfällen und unter häufiger Anwendung von Minen.
Trotzdem gelang es dem todesmutigen Wett-
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48. Kurfürst Max Emanuel im Türkenkriege 1683—1688.
eifer
aller beteiligten Führer
und
Truppen
diesesmal
nach
wiederholten
Stürmen und Abweisung eines Entsatzversuches der feindlichen Feldarmee das stärkste Bollwerk osmanischer Herrschaft in tember).
Ungarn zu erobern
(2. Sep
Der Halbmond, der 145 Jahre lang auf der Hauptkirche von Ofen
geglänzt hatte, mußte dem Kreuze wieder weichen. einer Schlacht ausweichend
Da die türkische Armee
donauabwärts zurückging,
wurde in der Folge
noch das ganze Gebiet bis Esseg und Szegedin besetzt. Für den Feldzug 1687 stellte der Kaiser wie im Vorjahre ein Heer von 40000 Mann unter dem Herzog von Lothringen und ein zweites von 20000 Mann unter Kurfürst Max Emanuel auf. Am 15. Juli fand die Vereinigung beider Heere bei Valpovo auf dem südlichen. Drauufer statt;
weiter südöstlich bei Esseg stand in verschanzter Stellung unter dem Groß wesir Suleiman das etwa gleichstarke türkische Heer. Nachdem der Versuch die türkische Stellung anzugreifen wieder aufgegeben worden war, ging der
Herzog von Lothringen über die Drau zurück und ihm folgte alsbald der Großwesir. Nach Ausführung von Märschen und Gegenmärschen, deren
eigentlicher Zweck sich nicht sicher feststellen läßt, kam es am 12. August am Berge Harsan (zwischen Mohacz und Siklos) zur entscheidenden Schlacht. Durch waldiges Gelände begünstigt griff der Großwesir
die den deutschen
linken Flügel bildende Armee des Kurfürsten überraschend gerade zu dem Zeitpunkte an, als wegen der Geländeverhältnisse die in einer Seitwärts
bewegung begriffene Armee des Herzogs von Lothringen nicht sofort eingreifen
konnte. Max Emanuel wies jedoch den Stoß erfolgreich ab und ging sodann unterstützt durch einige Regimenter des rechten Flügels selbst zum Angriff
über. Die Türken wurden vollständig geschlagen und bis zur einbrechenden Nacht von der deutschen Kavallerie unter dem damaligen kaiserlichen General feldwachtmeister Prinz Eugen von Savoyen verfolgt.
Max Emanuel hatte
an diesem Tage raschen Blick, Entschlußfähigkeit und Tatkraft, notwendige Eigenschaften eines Heerführers, in ganz hervorragendem Grade gezeigt. Er verließ jedoch am 3. September die Armee, da sich für ihn keine weitere Gelegenheit zu selbständiger Kommandoführung ergab. Da die Widerstands
kraft der türkischen Feldarmee durch die erlittene Niederlage gebrochen war, so gelang es im Laufe des Feldzuges noch Siebenbürgen und Slawonien der kaiserlichen Gewalt zu unterwerfen.
Im Jahre 1688 erfüllte Kaiser Leopold den heißesten Wunsch des nach kriegerischem Lorbeer strebenden Kurfürsten: er übertrug ihm an Stelle des erkrankten Herzogs von Lothringen den Oberbefehl über das in Ungarn ver einigte Heer. Als Hauptaufgabe für den Feldzug konnte die Belagerung des wichtigen Platzes Belgrad um so mehr in Aussicht genommen werden, als
man mit dem Erscheinen größerer türkischer Streitkräfte kaum zu rechnen hatte; im türkischen Heere war unter der Nachwirkung der erlittenen Niederlage Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
17
258
48. Kurfürst Max Emanuel im Türkenkrieg« 1683—1688.
eine Empörung ausgebrochen, die in Konstantinopel einen Thronwechsel und
andauernde Wirren zur Folge hatte.
Am 28. Juli traf Max Emanuel bei der um Peterwardein an der Donau versammelten Armee ein und ließ sofort die Operationen beginnen.
An der Einmündung der Save in die Donau gelegen war Belgrad im Westen, Norden und Osten durch breite Wasserläufe geschützt. Ein Angriff war daher nur von Süden her möglich und hierzu mußte die Save überschritten werden. Da das jenseitige Ufer von türkischen Truppen besetzt war, hatte der Kriegsrat gegen einen Übergang Bedenken, aber Max Emanuel wollte keine Zeit verlieren
und beschloß den Übergang zu wagen.
Hiezu wurden Schiffe aus der Donau
auf Geschützlafetten verladen und auf dem Landwege an die von Max Emanuel ausersehene Übergangsstelle geschafft. Am 8. August um 1 Uhr nachts begann
das Übersetzen über den einige hundert Meter breiten Fluß und um Tages anbruch waren bereits 4000 Mann jenseits angelangt. Da die Türken den Übergang anderswo vermutet hatten, waren nur Vorposten zu überwältigen gewesen, und als stärkere türkische Abteilungen herankamen, hatte der Kurfürst schon soviel Truppen übergesetzt, daß alle Angriffe abgewiesen werden konnten.
Unter dem Schutze dieser Avantgarde begann sodann die Herstellung der Schiff brücke. Diese war am 8. August abends vollendet und nun konnte der Übergang
des Hauptteils der Armee vor sich gehen, der die ganze Nacht und den folgen den Tag hindurch fortdauerte. Bor den 40000 Mann, die nun auf dem süd lichen Saveufer versammelt waren, zog das etwa 10000 Mann starke türkische Beobachtungskorps, von den bayerischen Husaren verfolgt, in Richtung auf
Semendria ab. Sofort traf nun Max Emanuel die erforderlichen Anordnungen zur Belagerung von Belgrad; zunächst erging Befehl das in Ofen bereitgestellte Belagerungsgeschütz auf der Donau bis Semlin heranzuschaffen.
Schon in
der Nacht vom 12. zum 13. August wurden die Laufgräben vor der Festung eröffnet und am 17. August konnte die Beschießung der feindlichen Festungs
werke aus den bei der Armee schon befindlichen schweren Geschützen beginnen. Am 24. August langte die Belagerungsartillerie aus Ofen an und nun begann
der Bau einer größeren Zahl von Angriffsbatterien und sodann eine kräftige Beschießung der Festung. -Max Emanuel trieb rastlos vorwärts; unbekümmert
um das feindliche Feuer weilte er Tag und Nacht in den Laufgräben.
Am
2. September .erhielt an seiner Seite der kaiserliche Feldmarschalleutnant Prinz
Eugen von Savoyen eine schwere Schußwunde am Knie, die ihn für längere Zeit dienstunfähig machte.
Um diese Zeit war bereits in die innere Graben
wand Bresche geschossen, und nachdem sodann die äußere Gräbenwand mittels Sprengung durch Minen eingeworfen war, konnte Max Emanuel den Befehl
zum Sturm geben. Dieser erfolgte am 6. September zugleich an fünf Stellen und wurde von Max Emanuel persönlich geleitet. Als infolge des verzweifelten Widerstands der Türken der Angriff zum Stocken kam, zog der Kurfürst selbst
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49. Elisabeth Charlotte.
den Degen und brachte die Wankenden zu erneutem Sturme vorwärts.
Nach
vierstündigem Kampfe war Belgrad genommen. Am 8. September ließ Max Emanuel einen feierlichen Dankgottesdienst
abhalten und nachher empfing er im Schlosse von Belgrad eine türkische Ge sandtschaft, die die Thronbesteigung des neuen Sultans anzeigen und sich zu
gleichem Zwecke wie zur Einleitung von Friedensunterhandlungen nach Wien begeben wollte. Vielleicht war es bei dieser Gelegenheit, daß der Kurfürst
den Beinamen erfuhr, König"
den ihm die Türken gegeben hatten.
nannten sie ihn, denn blaue Röcke trug sein
Den „Blauen
tapferes Fußvolk und
als ein König zeigte er sich im Kampfe. Durch den Übergang über die Save und die Eroberung von Belgrad
rechtfertigte Max Emanuel das Vertrauen seines kaiserlichen Schwiegervaters so glänzend wie nur möglich; in der ganzen Christenheit wurde sein Name
mit freudiger Anerkennung genannt.
Noch heute erinnert eine in der Frauen
kirche zu München aufgehängte türkische Fahne an den 6. September 1688.
49. Elisabeth Charlotte und das Heidelberger Schloß. Von Ernst von Wildenbruch. •)
Wir stehen auf dem Philosophenweg zu Heidelberg und steigen hinunter zum Ufer des Neckar und auf Karl Theodors steinbogengeschwungener Brücke schreiten wir den Neckar hinüber und gehen hindurch durch die Stadt, denn
von den Höhen über ihr kommt es wie ein Rufen, wie ein leiser, lockender Ton. Wir horchen darauf hin und nun vernehmen wir aus dem Getöne ein Wort.
Dieses Wort ist ein Name und „Liselotte" klingelt es uns zu den
Ohren, „Liselotte".
Von droben kommt es, allem Anschein nach von da, wo
der rotbraune Trümmerpalast sich erhebt.
Wohlan denn, hinauf auf einem
der vielen Wege, die zu ihm emporführen! Und jetzt — in den Büschen dort über uns knickt es und knackt es und jetzt kommt etwas, aus Büschen und Sträuchern bricht es heraus und auf dem Wege da vor uns bleibt es aufatmend stehen. Ist das ein Hirsch? Ist das
ein Reh?
Ein Tier des Waldes überhaupt? — Von all dem nichts, es ist
ein Mensch, ein junger Mensch, ein ganz junger sogar, ein Mägdlein, eigent lich noch ein Kind; nicht so gekleidet, wie heute Mädchen es sind, sondern so,
wie sie vor zweihundertfünfzig Jahren sich trugen: ein Barettlein auf dem braunblonden Haupt, einen Jagdspieß in der Hand, das einfache Gewand eng flatternd um junge, magere, eckige Glieder.
So steht es da, das geheimnis
volle Geschöpf, um sich blickend mit zwei Augen, leuchtend blau, aus denen das Leben hervorschießt wie ein Strahl, ein verkörperter Sonnenstrahl das *) „Aus Liselottes Heimat, ein Wort zur Heidelberger Schloßfrage", von Ernst von Wildenbruch. Berlin 1904, G. Grote. 17*
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49. Elisabeth Charlotte.
ganze Ding, dessen junges Herz man lachen und jauchzen hört unter dem
wogenden Mieder, nicht mehr gehörig zu unseren Tagen und der äußeren Er scheinung unserer Welt und doch so zugehörig zu unserem Sein und Wesen,
zu unseres Wesens innerstem Teil, daß wir es in die Arme fassen, an uns drücken und sagen möchten: „Du bist unser, du bist unser."
Und jetzt, aus
den Büschen, durch die es herabgebrochen ist, das wilde Ding, kommt ein klagendes, schier verzweifeltes Rufen: „Liselotte, wo seid Ihr? Liselotte, wo steckt Ihr?"' Und da öffnet sich in dem lachenden Gesicht der Mund, was man
so Mund nennt, obschon es eigentlich zwei aufeinander gepreßte, süßrote Kirschen sind, und „hier ist die Liselotte" ruft es in die Gesträuche hinauf, „komme sie nur, Jungfer Kolb, der Weg zu mir daher ist gar annehmlich und bequem". Zappend und schnappend nach Luft, die Kleider sehr »en ddsordre« von Sträuchern und Dornen, kommt sie denn nun des Wegs daher, die arme
Jungfer Kolb, der die Aufficht anvertraut ist über die durchgängerische Liselotte und: „Ach, was Ihr einen rauschenbeuttelichen Kopf habt, Liselotte", fängt sie vorwurfsvoll an, „wahrlich, wahrlich, Jhro Gnaden, der Kurfürst, Euer Herr
Vater, wenn er Euch Rauschenblattenknechtlein genannt, er hat Recht".
Weiter
aber kommt Jungfer Kolb mit ihrem Strafsermone nicht, denn schon wie ein Bienchen, das sich auf eine Blume stürzt, hat sich die Liselotte an sie ge
hängt, beide Arme um ihren Hals und „filze Sie mich nicht, Jungfer Kolb," ruft sie, „ich gebe Ihr auch Kirschen zu essen, so viel als Sie haben will."
Und damit sitzen sie schon beide nebeneinander auf einem und demselben Wurzel
knorren und in die Tasche greift die Liselotte und holt Kirschen daraus her vor und aus der anderen Tasche einen Knust schwarzen Brots, da beißt sie
hinein mit Zähnen, weiß wie Milch, wie Marmor stark und: „Sieht sie, Jungfer Kolb", sagt sie, „wie ich für sie sorge? Frühmorgens heute um fünf bin ich ins Kirschenstück gegangen am Burgwall, habe mir die Taschen brav
vollgestopft, daß ich zu essen hätte nachher und
die Jungfer Kolb mit mir".
Aber die Jungfer Kolb, die sagt schon kein Wort mehr, keinen Tadel, keinen
Vorwurf; schweigend ißt sie die Kirschen, die Liselottes kleine Hand ihr in den Mund stopft, lautlos blickt sie es an, das holde, holdselige, liebenswürdige Geschöpf an ihrer Seite, blickt es mit Augen an, die in Liebe schwimmen, wie die Augen aller, die auf der Liselotte ruhen. Und um sie her die Bäume, die heute so alt sind, damals aber noch jung waren, stecken die Köpfe zusammen, rücken dichter aneinander, als wollten sie einen Wall um sie bauen, damit er nicht
fort von ihnen könne, ihr Liebling, ihr „Rauschenblattenknechtlein".
Denn die
Bäume sind klug, klüger als Menschen, darum ahnt ihnen, daß das heut so
glückliche deutsche Kind einstmals eine Frau sein wird, eine unglückliche Frau
im fremden Land, daß es sich heimsehnen wird nach der Heimat am Neckar, nach dem rotbraun getürmten Schloß, und daß es die Heimat nie wieder sehen wird, trotz Sehnen und Tränen nie wieder, nie mehr.
49. Elisabeth Charlotte.
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Wir aber, die wir noch immer lautlos gefangen stehen und das lebendig
gewordene Stückchen alter Zeit noch immer staunend betrachten, „wer ist es denn nun eigentlich", fragen wir uns, „dieses wundersame Geschöpf? diese Liselotte? dieses Rauschenblattenknechtlein?"
Und als hätte sie unsere stumme Frage verstanden, erhebt sie sich von
ihrem Sitze; Jungfer Kolb hat ihr zugeflüstert, daß es Zeit sei ins Schloß
zurückzukehren, wo Fräulein von Uffeln ihrer wartet, die Erzieherin, und Herr Ezechiel Spanheim, der hochgelahrte Präzeptor. Den Weg hinunter, der zum
Die Heidelberger Schlohruine von Nordost gesehen.
rotbraun getürmten Schlosse führt, schreitet sie dahin, wir folgen ihr nach.
Und während wir hinter ihr drein gehen, wird die lebensprühende Gestalt zum Schatten, der Schatten zum Schemen, das Märchen weicht der Wirklichkeit, und indem sie jetzt wie ein verwehender Hauch in der Pforte des Otto-Hein-
rich-Baues verschwindet, ist plötzlich zwanzigstes Jahrhundert wieder da; nicht mehr der Otto-Heinrich-Bau in seiner einstigen, prunkenden Pracht, nur eine vermorschte Ruine steht vor uns, durch deren leere Fensterhöhlcn der Himmel blickt, in deren ausgebrannte Gemächer der Regen herabträuft ivie in eine
Zisterne. Wir aber, von der Begierde getrieben jedem Schritte zu folgen, den ihre schlanken Füße gegangen, steigen ihr nach in das verödete Haus. Da
entdecken wir in der unwirtlichen, steinernen Höhle ein paar Zimmer, nicht
bewohnbar und auch nicht zum Wohnen eingerichtet, aber durch eine Bedachung vor dem Herabströmen des Regenwassers gesichert und zur Aufnahme von Sammlungen instand gesetzt: ein Museum. Ziemlich durcheinander gewürfelt
49. Elisabeth Charlotte.
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ist der Inhalt, der es erfüllt, das Wichtigste darin eine Galerie von Porträts
und unter diesen ist eines, darauf steuern wir zu: ein kleines Mädchen mit
vollwangigem Gesicht; aus diesem Gesicht herausblickend zwei Augen, leuchtend blau, aus denen das Leben hervorschießt wie ein Strahl — wahrhaftig — das Abbild des wundersamen Geschöpfes, das wir droben im Walde soeben
gesehen. Name:
Und wenn noch ein Zweifel bliebe — unter dem Bilde steht ja der
„Liselotte".
Liselotte, weiter nichts.
Mehr braucht es auch nicht.
Denn indem wir das Bild betrachten, fühlen wir, daß wir einem Stückchen
Menschheit gegenüberstehen, das nicht erst durch Abstammung, Familie und Verhältnisse etwas wird und ist, nein, sondern einem Wesen, das ganz nur aus sich selbst, durch sich selbst ist, so nur lebend und webend in Fülle und Saft der eigenen Persönlichkeit, so umwittert vom Erdgeruch des Bodens, aus dem es stammt, daß es wie ein Erzeugnis dieses Bodens, ein Gewächs daraus,
eine Blume, ein Baum erscheint.
Ein Vollblutmensch — diese Empfindung
springt uns geradezu an — eine Persönlichkeit, die nie und unter keinen Um
ständen anders wird sein können als so, wie die Natur sie geprägt hat, eine
geniale.
Um sie her und über ihr die Bilder ihrer Angehörigen: dort neben
ihr der Bruder Karl, dessen verträumt-vergrämtes Gesicht so aussieht, als ahnte
der Knabe schon, daß er dereinst der letzte Mann seines Stammes, der letzte
Kurfürst aus dem Hause Pfalz-Simmern sein und daß sein Hingang das Signal zu unermeßlichem Greuel werden wird. Über ihr das Bild ihres Paters, Karl Ludwigs des Kurfürsten.
Neben diesem das Bild ihrer Mutter, Char
lotte von Hessen, und neben dieser wieder die schöne Luise von Degenfeld, die ihr Vater zur Frau nahm, nachdem er sich von der Charlotte hatte scheiden
lassen.
Haupt!
So viel häuslicher Schatten über dem jungen, vom Licht umflossenen
Und dort zur Seite ein noch finsterer Schatten: die Bilder dort ihres
Großvaters und ihrer Großmutter, der beiden Schicksalsmenschen, des Kur
fürsten Friedrich V., des Winterkönigs, und seiner Gemahlin Elisabeth, der
Tochter König Jakobs I. von England.
Der Kurfürst in goldstrotzendem Pracht
gewand, die Frau neben ihm von prachtvoller, kalter, furchtbarer Schönheit; zwei Augen
in ihrem Kopfe, groß, rund wie Kugeln, aus denen der unsäg
liche, verachtungsvolle Hochmut blickt,
mit
dem
die Engländerin auf alles
Deutsche sieht, Augen, von denen man die Empfindung bekommt, als hätte
der schwächliche Mann an ihrer Seite zerknicken müssen, wenn sie sich mit dumpfer Frage auf ihn wälzten:
wollen?
„Was?
Nicht König von Böhmen werden
Zu feige dazu, Euer Liebden?" — Und nachdem wir so ihre Verwandt
schaft durchmustert, kehren wir zurück zu der, auf die allein es uns ankommt,
bei der wir bleiben, zu der Elisabeth Charlotte, genannt Liselotte, zu dem Maienkinde Heidelbergs, das hier im Schlosse, vielleicht im Otto-Heinrich-Ban,
vielleicht in dem Zimmer, wo heut ihr Bild hängt, das aber damals freilich anders aussah, am 27. Mai 1652 geboren wurde.
Kehren zurück zu ihrem
Bilde und sagen uns, daß es gemalt worden ist in der Zeit, von der sie
49. Elisabeth Charlotte.
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später, viele Jahre später einmal aus dem kalten Versailles schreiben sollte:
„damals war ich lustiger als jetzt". Arme kleine Liselotte, was hat man dir getan, daß du später nicht mehr lustig sein konntest? Ein Blick aus die gegenüberliegende Wand sagt es
uns; denn an dieser Wand hängt wieder ein Bild von ihr, aber da ist sie kein Kind mehr, sondern eine Frau, nicht mehr rotwangig, sondern blaß und
über den blassen Zügen liegt die Müdigkeit, die sich auf menschlichen Gesich tern lagert, wenn der Gram zu Besuch kommt und seinen Besuch ungebühr lich ausdehnt und nimmer, nimmer wieder davon geht. Und dieser Gram
— woher? Wir brauchen nur zur Seite zu sehen, nach dem Bilde des Mannes, das dort neben dem ihrigen hängt, des widerwärtig, süßlich lächelnden Mannes,
der so recht wie das aussieht, was man einen „ekligen Kerl" nennt.
Dieser
Mann nämlich, das ist der „Monsieur" von Frankreich, Herzog Philipp von Orleans, der Bruder Ludwigs XIV., dem die Liselotte mit neunzehn Jahren
zur Frau gegeben wurde und dreißig Jahre lang, bis zu seinem Tode, Frau bleiben mußte und Frau blieb, treue, ehrliche, rechtschaffene Frau, obgleich das Sumpfgezücht, in dessen Mitte sie zu leben verdammt war, alles daransetzte sie zu einer untreuen Frau zu mache», und als ihm das nicht gelang, alles daransetzte ihren Gatten, den „Monsieur", glauben zu machen, sie wäre eine solche. Das ist ihr Gatte, ihr Herr und Gemahl, von dem sie am 7. März 1696 nach fünfundzwanzig Jahren ehelichen Lebens an ihre Tante, die Kur
fürstin Sophie in Hannover, schreibt: „Der hat nichts in der Welt im Kopf als seine jungen Kerls, um da und gibt ihnen unerhörte Summen
ganze Nächte mit zu fressen, zu saufen,
Geld.
Nichts kost' ihn noch ist's zu teuer für die Bursch'.
seine Kinder und ich kaum, was uns nötig ist.
Unterdessen haben
Wenn ich Hemder und Lein
tücher vonnöten habe, muß Jahr uud Tag drum gebettelt werden und in derselben Zeit gibt er 10000 Taler an den La Carte, um sein Weißzeug in Flandern zu kaufen. Alles Silberzeug, so aus der Pfalz kommen, hat
Monsieur verschmelzt und verkauft und alles den Buben geben. Alle seine Juwelen werden verkauft und versetzt, Geld drauf gelehnt und den jungen
Leuten geben, also daß, da Gott vor sei, wenn Monsieur heute zum Sterben kommen sollte, muß ich morgen bloß von des Königs Gnaden leben und werde das Brot nicht finden." Arme kleine Liselotte, reiner, junger Quell, in was für einen Morast hat man dich geleitet!
Schöne, frische Knospe aus dem deutschen Walde, was
für schlimme Hände haben dich zwischen die Finger genommen! Und daß es der leibliche Vater sein mußte, der die schnöde Hantierung begann und das holde Geschöpf, das ihm Gott zur Tochter gegeben hatte, verkaufte um ein politisches Geschäft mit ihr zu machen! Diesem Karl Ludwig nämlich, ihrem
Vater, dessen ganze Lebenstätigkeit eigentlich darin bestand die Groschen Stück
nach Stück wieder zu sammeln, die Papa und Mama Winterkönig mit einem
49. Elisabeth Charlotte.
264
„Hui" aus dem Fenster geworfen hatten, muß dieser lebenslange Umgang mit
der Sorge allmählich in Blut und Seele gegangen sein.
Darum fürchtete er
sich so entsetzlich, fürchtete sich vor dem unheimlichen „großen Mann" jenseit»
des Rheins, jbent Sonnenkönig Frankreichs, Ludwig XIV., den er im Geiste fortwährend auf dem Sprunge sah über seine Pfalz herzufallen und sie ein
zusacken.
Etwas ganz besonders Gescheites glaubte er darum zu tun, wenn
er sich mit den Bourbonen verschwägerte, und so mußte sein Töchterchen dem „Monsieur", dem Witwer^ als zweite Gattin die Hand reichen. Unseliger Rechenkünstler, der Schwager werden wollte und Vasall wurde! Liselotte war der Heine Finger, den er dem Teufel hinreichte — noch mit eigenen Augen
sollte er es erleben, wie dieser nach der ganzen Hand griff. Als Karl Ludwig im Kriege Frankreichs gegen die große Koalition neutral zu bleiben wagte,
schickte ihm der freundliche Schwager den Turenne und den Vaubrun über den Hals, die ihm die Pfalz mit Feuer und Schwert verwüsteten. Den Nach folger und Überbieter Turennes, den fürchterlichen Melac, der sein Heidelberg zerstören und das Schloß seiner Väter in Trümmer legen sollte, den noch zu erleben, davor bewahrte ihn das Schicksal, das ihn 1680 sterben ließ.
Wie aber Liselotte als Tochter und Weib gelitten, wie sie das brutale Spiel empfunden hat, das mit ihr gespielt wurde, das erfahren wir, wenn wir ihre Briefe aus Frankreich lesen und darin Worte finden wie diese:
„Hätte mich mein Herr Vater so sehr geliebt
als ich Jhro Gnaden,
hätten Sie mich nicht in ein so gefährliches Land geschickt wie dieses und wohin ich wider Willen, aus purem Gehorsam, gegangen bin." Und Worte wie die, richtet:
die sie an die Tante Kurfürstin in Hannover
„Papa hatte mich auf dem Hals, war bang, ich möchte ein alt Jüng-
ferchen werden, hat mich also fortgeschafft, so geschwind er's gekonnt hat." Fast durch alle Briefe Liselottes, auch die traurigsten, klingelt ja, wenn
auch verhalten, das sonnige Lachen hindurch, das sie von ihrer sonnigen Heimat, der Pfalz, überkommen hatte, der göttliche Humor, der sie instand gesetzt hatte, 50 Jahre lang das kluge Köpfchen emporzuttagen, daß es von
dem schwarzen Wasser nicht verschluckt wurde, das um sie her war. In Worten, wie die eben angeführten, klingt das Lachen denn aber doch etwas bitter; und noch etwas machte diese Worte charakteristisch: so wie sie hier schreibt, könnte füglich jedes kleine Bürgermädchen schreiben, das vom Vater
zu einer unliebsamen Heirat genötigt wird.
Davon, daß sie wie ein Börsen
papier verkauft wurde, daß die ganze Heirat eine politische Spekulation war, scheint sie keine Ahnung gehabt zu haben.
Wäre Liselotte dumm gewesen, so
wäre ja kein Wort darüber zu verlieren; aber sie war keineswegs dumm, im Gegenteil, wenn sie von den Menschen ihrer Umgebung spricht, zeigt sie einen durchdringenden Blick, in der Beurteilung der gesellschaftlichen und kulturellen Zustände, in deren Mitte sie lebt, ist sie geradezu überlegen. Hier also
49. Elisabeth Charlotte.
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kommen wir an die Schranke dieser Natur: Nur das absolut Menschliche ist
für ihren Gesichtskreis vorhanden.
Sobald etwas abstrakt wird — und alle
Weltpolitik ist doch schließlich ein kombinatorisches Spiel mit abstrakten Größen — ist es für die Liselotte einfach
nicht mehr da.
Daher dann durch den
ganzen Verlauf ihrer zahllosen Briefe hindurch die merkwürdige Erscheinung, daß diese von einem leidenschaftlichen, beinahe elementaren Gefühl für ihre
deutsche Heimat erfüllte Frau für Deutschland
als politischen Begriff keine
Spur von Verständnis zeigt. Heimat fühlt man — Vaterland muß man denken können, und was Liselotte nicht fühlt, kann sie auch nicht denken.
Wenn sie Nachrichten bekommt über die Verwüstung der Pfalz, die Zerstörung
Heidelbergs,
wacht sie zur Nacht
im Bette vom Schlafe
auf und kann
vor Weinen nicht wieder einschlafen — wenn sie von den Kriegen Frank
reichs mit dem Deutschen Reich,
vom
Raube Straßburgs hört,
steht sie
wie eine unbeteiligte Zuschauerin zur Seite. Ist das ein Mangel? Jeden falls ist es deutsch, typisch deutsch, und dies eben, daß uns die Eigen schaften der deutschen Art in dieser Tochter ihres Landes mit einer Unmittel barkeit, Naivität und Handgreiflichkeit entgegentreten, daß man von ihr wie
von einem aufgeschlagenen Buche alle Vorzüge und alle Mängel der deutschen Natur ablesen kann, das macht uns Deutschen die Gestalt dieser unserer Elisabeth Charlotte, genannt Liselotte, zu einem bleibenden Wertstück für alle Zeiten.
Und einer solchen Frau mußte es beschieden sein, daß eine Ehe, in die sie „wider Willen
und aus purem Gehorsam"
gegangen war, dazu benutzt
wurde, ihre unschuldsvolle Person zur Brandfackel zu machen, mit der man ihre Heimat und das Haus, in dem sie geboren war, in Asche legte; denn
von Pfalz-Simmern 1685 erlosch und die Linie Pfalz-Neuburg die Herrschaft über die Pfalz antrat,
als mit Karl Ludwigs Sohne Karl der Mannesstamm
benutzte Ludwig XIV., der inzwischen die Politik der Reunionskammern begonnen hatte, die von ihm behaupteten, in Wahrheit gar nicht vorhandenen Erbau sprüche seiner Schwägerin Elisabeth Charlotte um seinerseits Rechte auf die
Pfalz geltend zu machen. daran denke
Tränen und Beteuerungen Liselottes, daß sie nicht
Ansprüche zu erheben,
gingen natürlich an den Ohren eines
Louvois, der die Seele all dieser Dinge war, wie ein Vogelgezwitscher vorüber.
Karl Ludwig aber, ihr Vater, der über die oben erwähnten Plünderungen Turennes.so außer sich geraten war, daß er an diesen geschrieben und ihn,
„weil er ohne ebenbürtiges Heer kein anderes Mittel der Rache oder Genug tuung durch eigene Hand habe", persönlich zum Zweikampfe gefordert hatte,
legte sich mit dem verzweifelten Gefühl, daß seine Lebensarbeit und die Auf opferung seines Kindes eine vergebliche gewesen, am 28. August 1680 zum Sterben. Das Haus Karl Ludwigs aber, das Haus,
worden war, was wurde aus ihm?
in dem Liselotte geboren
49. Elisabeth Charlotte.
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In dem Zimmer des Museums im Otto-Heinrich-Bau,
in dem wir
Liselottes Bild gefunden, hängt an einem Pfeiler, abgesondert, als sollte es mit keinem andern in Berührung kommen, das Porträt eines Mannes mit
einem Banditengesicht; das ist der Gras Melac, der Mann vom 2. Mürz 1689; Held kann man nicht sagen, denn Gott weiß es, das, was er an dem Tage getan hat, war kein Heldenstück. Im September 1688 hatte Ludwig XIV. sein Manifest erlassen: „Daß weil der römische Kaiser mit verschiedenen Teutschen und
„anderen Höfen heimliche Abrede und Anschläge gemacht, seine siegreiche
„Waffen nach einem nun bald zu schließenden Frieden mit den Türken an
„den Rhein und gegen Frankreich zu wenden, der König in Frankreich „sich gemüßiget sähe, sich aller der Orte am Rhein und Neckar zu versichern,
„woraus ihm Schaden entstehen könne, bis der Madame von Orleans wegen
„ihrer Erbschaft die Gnüge an Geld, der ihr angestorbenen Väter- und „Brüderlicher Allodial-Güter und Fahrnuß geschehen rc. rc. ?c." Am 27. September wurde dieses Manifest übergeben, schon vorher aber, am 15. September, waren Bouflers und La Breteche mit dem sianzösischen
Heer vor Kaiserslautern erschienen, hatten die ganze Pfalz weggenommen, auch Speyer, Oppenheim, Worms und Mainz. Der Dauphin kam hinterdrein und nahm Philippsburg und am 24. Oktober kapitulierte Heidelberg vor dem
Marschall Durras. In der von dem Daupyin ratifizierten Kapitulationsurkunde hieß es: „Daß alle Mobilien im Schlosse unangetastet beibehalten, nichts am Schlosse veräußert, daß an allen Gebäuden in und vor der Stadt nichts ver
äußert, die Bürgerschaft mit Plünderung, Brandschatzung oder anderer Be
schädigung verschonet bleibe." Kommandant von Heidelberg wurde der General Graf Melac. Am 14. Februar 1689 — o der sausenden Geschwindigkeit — wurde
darauf zu Regensburg das Reichsgutachten abgefaßt:
„Daß die allen Glauben vergessende Cron Frankreich wegen der vielen friedbrüchigen Tätlichkeiten und Eingriffe in die Teutschen Lande, Rechte u. a. m.
als ein Reichsfeind zu erklären und alle Reichsgliedcr gegen dieselbe mit zu gehen verbunden sein sollen."
Daraus, wie der alte Meister Gottsried in seiner „fortgesetzten historischen
Chronik" berichtet, „zog der Gras Melac, als er von der Annäherung der Reichstruppen gehört, mit einiger Reuterey von Heidelberg aus, steckte Rohr bach, Laimen, Nußloch, Wiesloch, Kirchheim, Bruchhausen, Eppelheim, Neckar
hausen, Nenenheim und Handschuchsheim in Brand."
Und als es nun kein
Halten mehr in Heidelberg gab, beschloß er in einer Weise Abschied von der Stadt zu nehmen, daß seines' „Daseins Spur" für immer sichtbar bleiben sollte.
Schon seit einigen Tagen
hatte man französische Minierer beschäftigt
gesehen in Mauern und Türme des Schlosses Bohrlöcher zu treiben und sie mit Pulver zu laden. Am 2. März 1689, frühmorgens um 5 Uhr, stand
49. Elisabeth Charlotte.
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alsdann die französische Besatzung des Schlosses marschfertig auf dem Schloß hof. Zwei Signalschüsse ertönten, der Artilleriekommandant erschien, ließ seine Leute Pechkränze und Fackeln aufnehmen und Feuer in die Paläste werfen. Nach einer halben Stunde stand alles in Flammen und als die Dachgiebel niederkrachten, zog die Besatzung über Altan und Burgweg eilend
davon.
Einige Minierer blieben zurück,
die den
„Dicken Turm"
und den
„Krautturm" in Stücke sprengten. „Solcher Gestalt ist das uralte, magnisique, in und außer Deutschland berühmte kurfürstliche Residenz-Schloß innerhalb eines Vormittags mit allem, sv noch hin
und wieder in den Gemächern
bis auf die unteren
befunden,
Gewölbe und Keller abgebrannt und Steinhaufen geworden."
großenteils
So lautete der Kurfürsten.
der kurfürstlichen Beamten an den
offizielle Bericht
zu
einem Aschen- und
Doch nehmen wir Abschied von der altehrwürdigen Stätte, Abschied von Liselotte und kehren wir zurück in ihren Heidelberger Wald! Den Weg, den wir gekommen sind, steigen wir wieder hinunter, vom Bergwalde zur Stadt. Wieder überschreiten wir den Neckar, abermals stehen wir auf dem Philosophen
wege und noch einmal geht unser Blick zu dem rotbraunen Trümmerpalaste hinüber, der sich über der grauen Stadt erhebt. Wie schön er ist!
Mit seinen zerfetzten Mauern,
seinen
enthaupteten
und zersprengten Türmen, seinen ausgeweideten Palästen, wie schön! Wie ein in Stein gehauener Klagegesang, der jeden Morgen von neuem anhebt und mit dumpfer Mahnung hinuntertönt in die lachende Landschaft: „Vergeßt nicht, daß alles Schönste und Größte dem Menschen
nur so lange gehört,
als die Größe in seiner Seele im Verhältnis bleibt zu dem, was er besitzt!"
Die Heidelberger Schloßruine in ihrer gegenwärtigen Gestalt ist etwas in der Welt absolut Einziges. geschaut, wer gesehen hat,
Wer sie auch nur ein einziges Mal mit Augen an wie sich das rot-braune Getrümmer in die Arme
der umgebenden Waldungen einbettet und einschmiegt, wie das Grün
der
Bäume aus dem Tale heraufsteigt und das Grün des Efeus an den Mauern
emporklimmt, als wollte es all die alten, immer noch schmerzenden Wunden und Spalten mit tröstender, kühlender Hand verhüllen und bedecken, der weiß,
daß durch das Zusammenwirken geschichtlicher Ereignisse und nie aufhörender, triebkräftiger Natur ein Schönheitsbild entstanden ist, wie es eigenartiger nicht gedacht, geschweige denn nachgeschaffen werden könnte. Es muß einmal ausgesprochen werden, was gar nicht allgemein genug
bekannt ist, daß die jetzige Schloßruine zehntausendmal schöner ist als es das alte, nicht zerstörte Schloß war. Wer diesem Worte nicht glaubt, der sehe sich den Merianschen Stich aus dem 17. Jahrhundert an, wo das alte Schloß klassisch treu in seiner unangerührten Gestalt dargestellt ist. Alles, was heute
in den freistehenden Mauern wundervoll
lustig
und leicht emporsteigt,
war
49. Elisabeth Charlotte.
268
damals ein Gebäudekomplex von erdrückender Schwere.
Nicht nur ein schwerer
sondern zugleich ein abenteuerlicher Komplex, weil er zur Hälfte Prunkbau, zur andern Festung, regelrechte, enorme Festung war. Die jetzt enthaupteten und zerborstenen Türme, die, wie namentlich der Dicke Turm und der Kraut
turm, gerade dadurch so malerisch wirken,
daß sie uns in ihre aufgerissenen
Eingeweide hineinsehen lassen, waren plumpe, runde, mit unschönen Helmen geschlossene, von schmalen Fenstern und Schießscharten durchbrochene, an Elefantenbeine erinnernde Kolosse. Und vor allem der Otto-Heinrich-Bau mit
Das Heidelberger Schloß nach Merians Topographia Palatinatus Rheni (1645).
seiner heute frei aufsteigenden, italienischen Renaissancefassade, dieser in seiner heutigen Zerstörtheit geradezu geheimnisvoll schöne Bau, wie sah er damals aus? Auf den Renaissanceunterbau waren in unbegreiflicher architektonischer Verfehlung
niederländische Giebel als Bedachung aufgesetzt, so daß das ganze Gebäude um seine ursprünglich gewollte Schönheit gewissermaßen betrogen wurde. Indem Melac Feuerbrand und Pulverminen an das alte Schloß legte,
hat er uns, sicherlich ganz gegen sein Wollen, an Stelle des Zerstörten etwas unendlich viel Schöneres hinterlassen.
Zwei Jahrhunderte sind verflossen, seitdem das Heidelberger Schloß zur Ruine wurde. In diesen zwei Jahrhunderten ist die Ruine zu einem Gebäude mit selbständigem Leben, zu einem historischen, im eminentesten Sinne histo
rischen Bau geworden, weil die Hände der Weltgeschichte selbst sie zu dem geformt haben, was sie jetzt ist. Darum hat sie die Pietät zu fordern, die jedem historischen Bau zusteht. Pietät aber heißt einem historischen Bauwerk gegenüber „nicht anrühren".
50. Träume sind Schäume-
269
Und wenn auch dermalen einst der Otto-Heinrich-Bau in sich zusammen sinken wird, so wird das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von heute zu morgen, es wird langsam, im Laufe der Jahrzehnte, vielleicht der Jahrhunderte, vor sich gehen; die allmählich sich auflösende Ruine wird in ihrem langsamen
Sterben immer schön, vielleicht sogar noch schöner sein als gegenwärtig, und jahrzehnte-, vielleicht jahrhundertelang wird sie den Augen entzückter Beschauer
das Bild gewähren, das immer und ewig am tiefsten auf die Menschenseele wirken wird, den feierlichen Anblick der großen Tragödie.
50. Träume sind Schäume. Don Alfons Steinberger?)
Schon neigte sich das Jahr 1698 seinem Ende zu, als durch den Ärmel kanal eine herrliche Flotte, die schwellenden Segel vom Winde gebläht, gegen
Osten steuerte.
Sie kam von
den fernen Gestaden
des
südlichen Spaniens
und war bestimmt den Prinzen von Asturien wie int Triumphe uach seinem zukünftigen Weltreiche zu bringen. Wer aber war der Prinz von Asturien? — Kein anderer als der kleine, noch nicht 7jährige Joseph Ferdinand, der Sohn
Max Emanuels, des Kurfürsten von Bayern und Statthalters der Niederlande! Die Rücksichtslosigkeit, mit welcher die Höfe in Versailles und Wien die spanische Erbschaftsstage zu lösen suchten, indem sie noch bei Lebzeiten des
Königs Karl eine förmliche Teilung der Weltmonarchic verabredeten, den sterbenskranken König aufs äußerste erbittert.
hatte
Mit raschem Entschlüsse
durchkreuzte er die Pläne jener habgierigen Mächte, setzte
den
bayerischen
Prinzen Joseph Ferdinand zum Universalerben der spanischen Monarchie ein
und ernannte ihn sofort zum Prinzen von Asturien. Ebenso groß als der Jubel über diese unerwartete Erhöhung des wittelsbachischen Hauses in Bayern war auch die Überraschung und Entrüstung der
jenigen Mächte, die das unermeßliche Erbe schon in Händen zu haben glaubten. Der glücklichste der Menschen tvar aber in diesen Zeiten Max Emanuel. Wie mit einem Zauberschlag sah er nun seine kühnsten Träume verwirklicht, ja übertroffen.
Erdkreises!
Sein Sohn der alleinige Erbe der größten Monarchie des
Welche Aussichten eröffneten sich nun dem Hause Wittelsbach!
Max Ematiuel war wie trunken vor Freude und Glück. Mittett im Winter hatte er sein Söhnchen aus München zu sich nach Brüssel kommen lassen; an der Seite des künftigen Königs eines Weltreiches wollte er die
langweiligste aller Jahreszeiten unter glänzenden Hoffesten verleben. kleine Joseph,
sein,
Der
jetzt der Inbegriff all seines Glückes, mußte in seiner Nähe
dann erst wollte er sich den Freuden und Lustbarkeiten des Winters
widmen. *) Aus Bayerns Vergangenheit, 3. Bd., S- 65 ff. Regensburg 1894.
G. Manz.
50. Träume sind Schäume.
270
Antonia, des Erbprinzen Mutter, lag in ihrer Väter Gruft zu Wien
begraben, in München war der künftige König Spaniens zumeist von fremden
Menschen umgeben,
besser also,
wenn er vor der Abreise in fein Königreich
noch an der Seite des Vaters in Brüssel lebte.
*
-!-
*
Das Ballfest im Palaste des Statthalters der Niederlande versprach einen glänzenden Verlauf zu nehmen.
Die Botschafter und Gesandten der
fremden Mächte sowie die Aristokratie der Hauptstadt hatten sich, sttahlend von Gold und edlem Gesteine, in den Prachtsälen des hohen Gastgebers ein
gefunden um sich wieder einmal dem ganzen Zauber des Prunkes und Glanzes hinzugeben, wie er am Hofe des glücklichen Bayernherrschers in fast unerschöpf licher Fülle geboten wurde.
Und glücklich war ja Max Emanuel, glücklich, wie nur ein Sterblicher sein konnte. Herrscher über ein Volk, auf dessen Liebe und Treue er bauen konnte, Statthalter in einem Land, dessen Reichtum groß und dessen Handel
und Gewerbe blühend war, und Vater eines Sohnes, der zum Erben eines
Weltreiches bestimmt wurde, in der Tat, die Götter, hätten sie noch wie ehedem die Welt regiert, mußten auf das Glück dieses Mannes neiderfüllte
Blicke werfen! Jetzt ließen sich in dem von vielen hundert Wachskerzen taghell erleuch teten Festsaal schmetternde Fanfaren vernehmen; sie verkündeten das Erscheinen des königlichen Statthalters und mit ihm den Beginn der Festlichkeiten.
Die Brust von blitzenden Ordenssternen
bedeckt und am rotseidenen
Bande das goldene Vließ, so zeigte sich die hohe und schlanke Gestalt des bayerischen
Kurfürsten
am
Eingänge
des
Saales.
Eine Reihe
prächtig
gekleideter Edelknaben, in der Rechten eine brennende Wachsfackel, schritt dem
Statthalter mit seinem Gefolge voraus, eine andere schloß den glanzvollen Zug.
Neuerdings ertönten
die rauschenden Klänge der Festmusik.
An die
effektvolle Polonaise, bei der die Paare langsamen Schrittes den Saal durch
maßen, reihte sich erst eine gravitätische Sarabande, dann eine bewegte, heitere Gigue, ein zierliches Menuett.
Zuletzt erklangen die gemessenen Töne einer
Marche und der Oberstzeremonienmeister bat den Statthalter unter tiefer Ver
beugung um die Erlaubnis das Zeichen zum Beginne eines „Festspieles" geben zu dürfen. „Was für Überraschungen!"
rief Max Emanuel heiter lächelnd, indem
er mit leichtem Kopfnicken die nachgesuchte Erlaubnis erteilte.
Kaum hatte
er den ihm bestimmten Ehrenplatz eingenommen, da teilte sich im Hintergründe des großen Saales ein Vorhang und die einzelnen Gruppen des Festzuges begannen sich unter den Klängen eines Kriegsmarsches zu entwickeln und
langsamen Schrittes vor den Augen vorüberzuwandeln.
des Gefeierten und der Gäste desselben
50. Träume sind Schäume
271
Dem Ganzen lag die Idee einer Huldigung zugrunde, welche die ver schiedenen Volksstämine der spanischen Monarchie dem Herzoge von Asturien,
ihrem zukünftigen Könige, darbrachten.
Da sah man in den farbenprächtigsten
Trachten Spanier, Italiener, Niederländer, jede Nation wieder nach einzelnen
Stämmen, Ständen und Gewerben gesonderte Gruppen bildend.
Den meisten
Beifall erregten die Indianer, mit Perlen und Federn geschmückt, schwere Goldringe in den Ohren tragend. Als der ganze Zug an dem über die sinnige Überraschung hocherfreuten
Fürsten vorübergekommen war, formierte er sich int Hintergründe zu einer großartigen Gesamtgruppe. Plötzlich teilte sich aufs neue der Vorhang und
von blendendem Lichtglanze umstrahlt zeigte sich ein ergreifendes Bild: auf sonnigem Hügel, fast ganz von Blumen bedeckt, schlummerte ein reizender Knabe. Beim ersten Blick erkannte man in ihm den künftigen Herrscher Spaniens, Max Emanuels Sohn, Joseph Ferdinand. Die leise Melodie der Musik, die bisher den Schlummernden in liebliche Träume gewiegt hatte, ging allmählich in lebhaftere Weisen über, der Knabe erwachte, richtete sich auf und int selben Augenblicke senkte sich, indes die Musik einen Siegesmarsch ertönen ließ, von oben auf rosafarbenen Wolken eine liebliche Erscheinung hernieder, die Glücks
göttin Fortuna. Die herrliche Gestalt in wallende Schleier gehüllt schwebte auf einer goldenen Kugel; in der Linken trug sie eine schimmernde Königs krone
und
mit holdem Lächeln
Haupte des Knaben.
hielt sie dieselbe
über dem blondgelockten
Die Rechte aber führte ein wallendes Banner mit dem
Wappen des Hauses Wittelsbach. Der Eindruck, den dieses Bild auf alle, insbesondere auf den Kurfürsten machte, war ein ergreifender und lauter Beifall ertönte; die huldigenden Gruppen aber beugten unter stürmischen Jubelrufen ihre Kniee und begrüßend
streckten sie die Arme zu dent neuen Herrscher empor. Beim Souper, das gegen Mitternacht eingenommen wurde, wollten einige Gäste, die in der Nähe des Statthalters saßen, die Wahrnehmung
machen, daß sich in den Zügen des Herrschers eine gewisse Unruhe zeigte.
Die
Bemerkung schien nicht ohne Grund zu sein, denn kurz nach Beendigung des Mahles verließ zu nicht geringer Überraschung der Gäste Max Emanuel das
Fest; hastigen Schrittes suchte er dem rauschenden Treiben zu enteilen. Während aber das Fest nach dem Wunsche des Statthalters seinen un gestörten Fortgang nahm, begab sich dieser, nur von einem Kammerherrn
gefolgt, in die Gemächer eines entlegenen Flügels des Palastes, die der junge
Herzog von Asturien
bewohnte.
Auf der Schwelle eines hell erleuchteten
Vorzimmers trat dem Kurfürsten ein Kammerherr leisen Schrittes entgegen.
„Ich bitte Euer Durchlaucht, keine unnötige Erregung!
des gnädigsten Prinzen hat sich etwas verschlimmert." „Verschlimmert!
Und das sagt Ihr mir erst jetzt?"
Das Befinden
272
50. Träume sind Schäume.
Ohne die weiteren Entschuldigungen des Hofmannes anzuhören
sich Max Emanuel, von einer schrecklichen Angst ergriffen, Herzogs begeben.
hatte
ins Gemach des
Kaum aber war der Kurfürst dort angelangt, als die Kunde von der ernstlichen Wendung, welche das vermeintliche Unwohlsein des künftigen Königs
von Spanien zu nehmen drohte, gleich einem Blitzstrahl in das ftöhliche Treiben der Gäste drang. An Stelle des sorglosen Lächelns und der ftöhlichen Festlaune war jetzt auf einmal Angst und Bestürzung auf allen Gesichtern zu lesen. In kurzer Frist waren die Festsäle, in denen soeben noch bei Kerzen glanz und Blumendust und den lockenden Klängen der Musik die Sinne sich
gesättigt hatten, verödet.
Wie wenn der rauhe Herbstwind über die blumen
geschmückten Fluren streicht und mit eisigem Hauche Dust und Farbe tötet, also war auch in den Palast des glücklichsten Mannes statt der alles belebenden Freude auf einmal die bleiche Sorge eingezogen.
*
*
*
Noch lag starre Finsternis über der Erde — man stand in den ersten Tagen des Februar — als in dem Palaste des königlichen Statthalters der
Niederlande sich ein wahrhaft herzerschütterndes Ereignis vollzog. Der bayerische Erbprinz und künftige König Spaniens lag im Todes kampfe. Während ein ganzes Kollegium von Ärzten in den Nebenzimmern mit dem Aufgebote aller Kunst, die Wissenschaft und Erfahrung bot, dem Tode die vornehme Beute abzuringen bemüht war, kniete Max Emanuel am Bette
des geliebten Kindes und mit tränenleeren Augen flehte er zu demjenigen um Erbarmen, der hier allein noch zu helfen vermochte.
War es denn Wirklichkeit, was er da alles erlebte, oder hielt ein böser,
entsetzlicher Traum die gemarterte Seele umfangen? Aber, bei Gottes Barmherzigkeit, es war kein Traum, es war grauen volle Wirklichkeit. Fest hielt er die erkaltende Hand seines kleinen Lieblings
in der seinigen.
War denn all die Liebe seines väterlichen Herzens, das heiße,
brennende Verlangen der sehnenden Brust nicht imstande den erbarmungslosen Tod von der Schwelle dieses Gemaches hinwegzubannen? „Mein Gott, mein Gott," rief der geängstete Vater aus und preßte die
Hände an die beiden Schläfen, als fürchtete er ein Zerspringen des im Fieber glühenden Hauptes, „nimm mich von dieser Welt hinweg, aber laß dies Kind, unschuldsvoll wie deine Engel, am Leben und nimm mich dafür zum Opfer hin!" Aber die Bitte fand keine Erhörung. Seit einer Stunde war Joseph Ferdinand, der bayerische Kurprinz und Herzog von Asturien, tot. Aber Max
Emanuel wollte nicht daran glauben. Wie geistesabwesend saß er noch in derselben Haltung am Bette. Keiner der Höflinge wagte es, dem ungeheuren
Schmerze dieses Mannes durch ein Wort des Trostes entgegenzutreten; heilige Scheu hatte alles vor der Größe eines derartigen Schicksalsschlages.
so
51. Kurfürst Max Emanuel am Scheidewege.
Endlich näherte sich
273
ein greiser Priester dem Verzweifelnden, und als
es ihm gelungen war dessen Blicke auf sich zu lenken, wies er schweigend, aber voll milden Ernstes auf das Gemälde über dem Haupte des entschlafenen Kindes. Ein sanfter Lichtstrahl der soeben erwachten Morgensonne glitt über dasselbe hinweg: Christus auf dem Ölberge lag von tiefster Seelenangst durchschüttert halb zu Boden, betend: „Vater, nimm diesen Kelch hinweg von mir! Doch nicht, was ich will, geschehe, sondern was du willst!"
Ein schwerer Seufzer entrang sich beim Anblick dieses Bildes der Brust Max Emanuels. Dann erhob er sich, allein, ohne Beihilfe und schritt einen
letzten Blick auf sein zerschelltes Glück werfend von der Stätte des Todes
hinweg.
Es war, als ob er mit einem Male Trost gefunden hätte.
51. Kurfürst Max Emanuel am Scheidewege. Don M. Doeberl.
Es war am Morgen des 6. Februar 1699.
In dem königlichen Schlosse
zu Brüssel bot sich dem Auge ein erschütterndes Schauspiel. Vor dem Leichnam eines sechsjährigen Kindes, das noch vor kurzem in königlicher Pracht dem
Pinsel des Malers gesessen war, an dessen Zukunft sich weltumspannende Hoffnungen geknüpft hatten, ein vor Schmerz und Verzweiflung Her Ohn macht verfallener Vater. Das Kind, Kurprinz Joseph Ferdinand von Bayern, war am 28. November 1698 zum Erben des Reiches Karls V.
eingesetzt worden.
Ein grausames Geschick, eine Krankheit von wenigen Tagen,
hatte alle die glänzenden Pläne des Vaters, des Kurfürsten Max Emanuel, zerstört: das Phantom eines wittelsbachischen Königtums in Spanien verflog in die Lüfte.
Im folgenden Jahre, am 1. November 1700, trat ein Ereignis ein, mit dem sich die Diplomaten und die diplomatischen Aktenstücke seit Jahrzehnten beschäftigt, mit dem auch die bayerisch-französische Allianz von 1670 gerechnet
hatte: Karl II., der letzte vom spanisch-habsburgischen Mannesstamme, hauchte sein sieches Leben aus. Über sein Erbe entbrannte ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Leopold I., dem Haupte des deutsch-habsburgischen Hauses, und zwischen Ludwig XIV. Karl II. hatte in zwölfter Stunde den zweiten Enkel
des Franzosenkönigs, Philipp, zum Universalerben bestellt. Es war der letzte Sonnenblick in dem verdüsterten Lebensabend Ludwigs XIV., der sich freilich nur zu bald als das Moment der letzten Spannung vor der Katastrophe ent
hüllen sollte.
Ludwig XIV. opferte mit der Anerkennung des Testamentes
Karls II. das Interesse seines Staates dem Interesse seines Hauses, lenkte
von der Politik Richelieus und Mazarins, von der Politik der Grenzberichtigung
und Arrondierung, in die Bahnen der Familienpolitik des habsburgischen Hauses *) Aus „Bayern und Frankreich", Seite 557 ff. München, 1900. C. Haushalter. KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
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51. Kurfürst Max Emanuel am Scheidewege.
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ein. Der Waffengang zwischen den beiden Mächten, die seit Generationen die Welt in zwei feindliche Lager schieden, zog Europa in Mitleidenschaft. „Zahlte uns die Krone Spanien die in die Niederlande gesteckten Millionen, wollten wir alsdann wohl wieder den Rückweg nach Bayern finden!"
Diese
Worte eines bayerischen Staatsmannes sind der Ausdruck der ersten Stimmung, die sich des Kurfürsten von Bayern und seiner Umgebung nach der Katastrophe
vom 6. Februar bemächtigt hatte. Doch diese Resignation, wenn sie über haupt jemals ernstlich existiert hat, war und mußte von kurzer Dauer sein. Bayern in die Mitte zwischen die beiden ringenden Weltmächte gestellt konnte jetzt ebensowenig wie früher eine wirkliche Neutralität aus eigenen Kräften auftechterhalten; Bayern von dem umklammernden Österreich in seiner Existenz stetig beengt durfte nicht mit gefalteten Händen der Möglichkeit in das Auge sehen, daß der durch die Angliederung Ungarns zu einer Großmacht empor gewachsene habsburgische Nachbar sich neuerdings einseitig stärke; Bayern mußte
im Interesse der eigenen Lebensfähigkeit die Gelegenheit zu einer Mehrung seiner Macht ebenso benutzen, wie es andere deutsche Reichsstände, wie es Hannover, Preußen, Sachsen taten.
Das konnte nur geschehen in mehr oder minder
offenem Anschluß an eine der beiden ringenden Großmächte.
mußte nach
den von den Vorfahren,
nach
den auch
Den Ausschlag
von Max Emanuel
gemachten Erfahrungen nicht die Treue gegen das Haus Habsburg, sondern die größere oder geringere Aussicht auf Gewinn geben. Seit Dezember 1700 verhandelte ein Vertrauter Max Emanuels, Graf
Monasterol, in Versailles, seit Anfang des Jahres 1701 ein Vertreter Frankreichs am Hofe des Kurfürsten. Am 9. März 1701 führten diese Verhandlungen
zu einem Vertrage zwischen Bayern und Frankreich.
Gegen monatliche Subsidien-
gelder von 30000 Talern, gegen Garantierung der zu Gunsten der spanischen Niederlande verwandten bayerischen Gelder, gegen Eröffnung von Aussichten auf Erwerbung der römischen Kaiser- und Königswürde versprach der Kurfürst Aufrechthaltung einer Frankreich wohlwollenden Neutralität, Aufftellung einer
Observationsarmee von 10000 Mann um den kaiserlichen Völkern den Durch zug zu verwehren, Werbung der südwestdeutschen Kreise für dieselbe bewaffnete
Neutralität. Der Kurfürst hielt sich daneben den Weg zu einer Verständigung mit dem Kaiser noch immer offen. Im Frühjahr 1701 machte der Wiener Hof durch Sendung des Grafen Schlick den
zum Anschluß an den Kaiser zu gewinnen.
ersten Versuch Max Emanuel
Anfangs Juni 1702 erschien Graf
Schlick zum zweiten Male in Bayern. Er schied mit Worten, die einen günstigen
kaiserlichen Bescheid in kürzester Frist erhoffen ließen. Damals führte aber auch Frankreich mit dem Vertreter Max Emanuels in Versailles energische Verhandlungen, um den Kurfürsten über die Neutralität
hinaus zum Waffenbündnis zu bringen. Gerade die Verhandlungen Bayerns mit Österreich und die Nähe der militärischen Entscheidung bewirkten, daß man
ftanzösischerseits um den
letzten Bundesgenossen zu erhalten,
immer
51. Kurfürst Mar Emanuel am Scheidewege.
weiter cntgegenkam.
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Man bewilligte die Erhöhung der monatlichen Subsidien-
gelder um 26000 Taler, man sicherte dem Kurfürsten die Erwerbung der Rheinpfalz und Pfalz-Neuburgs mit der Königswürde zu oder die erbliche Statthalterschaft der Niederlande mit dem Eigentumsrecht an den Provinzen
Joseph Ferdinand, Prinz von Asturien. (Nach dem Gemälde von Jos. Bivien au- der Galerie Lchleißheim.)
Geldern und Simburg.
Aus dieser Grundlage unterzeichnete Monasterol am
17. Juni 1702 einen neuen Vertrag. Max Emanuel schob die Ratifikation hinaus, erhob immer neue Schwierig-
Ikeiten und Forderungen, bangte förmlich vor einer raschen Erfüllung der letzteren. Wie ernst es ihm damals mit den Verhandlungen mit Österreich war, wie
glaubwürdig seine spätere Beteuerung, daß er bei größerem Entgegenkommen
18*
51. Kurfürst Max Emanuel am Scheidewege.
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des Kaisers Anschluß an Österreich gesucht hätte, bezeugt seine Korrespondenz mit dem bayerischen Residenten (Gesandten) am Wiener Hofe und mit dem
Grafen Schlick. Aber Woche um Woche verstrich, der kaiserliche Bescheid blieb aus. Zuletzt stellte der Kurfürst ein Ultimatum. Am 5. August wurde endlich am Kaiserhofe das Aktenstück unterzeichnet, das über das Schicksal Bayerns im Spanischen Erbfolgekriege entscheiden sollte.
Am 12. August brach Graf Schlick zum dritten Male nach München auf.
Am 17. August 1702 fand in dem Neubau zu Schleißheim die denklvürdige Unterredung zwischen Max Emanuel und dem Grafen Schlick statt.
Der Kurfürst beklagte sich über die Langsamkeit des Kaiserhofes, schilderte ihm die Verlegenheit, in welche ihn die großen Anerbietungen Frankreichs, dos
Zögern des Wiener Hofes gebracht hätten, er sei aber entschlossen mit seinen Soldaten für Kaiser und Vaterland ins Feld zu ziehen.
Nun ergreift Schlick
das Wort um mit einem Aufgebot diplomatischer Beredsamkeit die kaiserlichen Anerbietungen zu entwickeln. Zwei Stunden waren bereits verflossen, als Max Emanuel, längst unruhig geworden, mit fieberhafter Spannung nach den
territorialen Anerbietungen fragt. Schlick erwidert mit dem Hinweis auf die Gebietes welche die Flotten Englands und Hollands in Spanien und in Indien erobern würden, welche unter
dem Szepter des bayerischen Kurfürsten zu
glänzendstem Wohlstand aufblühen könnten.
Max Emanuel unterbricht ihn,
in völlig geändertem Ton erhebt er sich zu einer energischen Anklage gegen die Wiener Regierung und gegen Schlick, der sich zu einer solchen Rolle hergegeben: Das sei die Antwort, auf die man ihn neun volle Wochen habe warten lassen, dafür habe er 23 Millionen Gulden und 42000 Mann Soldaten Österreich geopfert.
Man biete ihm weniger, als Schlick bereits bei seiner ersten Gesandt
schaft in Aussicht gestellt.
Man biete ihm Subsidien, die keinen Wert hätten
ohne die Garantie Englands und Hollands, man biete ihm Territorien, die sich die Spanier nie entreißen lassen würden, die nur mit großen Flotten be
hauptet werden könnten.
Frankreich dagegen habe ihm alles bewilligt, was
er gefordert, er habe sich Bedenkzeit ausbedungen bis zum 22. August, morgen müsse der Kurier, wenn der Termin eingehalten werden solle, mit dem Be scheide expediert werden. *Sn diesem Augenblicke wurde die Unterredung durch das Eintreffen eines Hofbeamten unterbrochen. Am Nachmittag fand eine zweite Konferenz statt. Schlick bat um acht Tage Frist um eine neue Instruktion
cinzuholen.
„Es ist zu spät!" war das letzte Wort des Kurfürsten.
Am 19. August 1702 verständigte Max Emanuel den Grafen Monasterol, daß er den Vertrag mit Frankreich ratifiziere, am 21. August ging ein Kurier mit der Ratifikationsurkunde nach Frankreich ab.
Unmittelbar darauf bricht
Max Emanuel auf und bringt noch im September die Reichsstädte Ulm und Memmingen in seine Gewalt um sich die Verbindung mit den durch die Schwarz waldpässe heranrückenden Franzosen zu sichern.
52. Ter Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges.
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52. Der Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges. Don Karl v. Landmann.*
Am 1. November 1700 starb Karl II., der letzte König aus der spani
schen Linie des Hauses Habsburg, nachdem er letztwillig seinen Neffen Philipp von Anjou, den zweiten Enkel Ludwigs XIV. von Frankreich, als Nachfolger
eingesetzt hatte.
Kaiser Leopold I. als Haupt der deutschen Linie des Hauses
Habsburg forderte dagegen die spanische Monarchie für seinen zweiten Sohn Karl und entschloß sich zum Kampfe gegen Ludwig XIV., der die angeblichen In dem nun beginnenden Kriege handelte es sich somit zunächst nur um einen Erbstreit zwischen den Häusern Habsburg und
Rechte Philipps vertrat.
Bourbon und nicht etwa um eine deutsche Angelegenheit. Hatte das deutsche Volk keinen Vorteil davon gehabt, daß Spanien bisher von Habsburgern regiert wurde, so konnte es ihm auch gleichgültig sein, ob in Zukunft ein Habsburger oder ein Bourbon auf dem Königsthron von Spanien saß. Diesem Gesichtspunkte entsprach es, wenn Kurfürst Max Emanuel vorerst versuchte eine
neutrale Haltung einzunehmen.
Nachdem sich dies als unmöglich erwies und
eine bestimmte Partei gewählt werden mußte, wäre es der Eigenschaft eines
deutschen Reichsfürsten angemessen gewesen, daß auch Max Emanuel sich auf die Seite des Kaisers stellte. Nun wollte aber Leopold I. für den Beistand Max Emanuels, der sich bereits im Türkenkrieg 1683—1688 und im Krieg gegen
die Franzosen 1689—1697 unleugbare Verdienste um Kaiser und Reich er worben hatte, keinerlei Vorteile in Aussicht stellen, wogegen Ludwig XIV.
den hochstrebenden Wünschen des Kurfürsten in verführerischer Weise entgegen kam. Der König von Frankreich versprach seine Hilfe zur künftigen Erwerbung der Rheinpfalz und Pfalz-Neuburgs nebst der Königswürde (Vertrag vom 17. Juni 1702) und Max Emanuel ergriff nach langen, vergeblichen Unter handlungen mit dem Kaiser die Partei Frankreichs.
Durch das Bündnis mit Frankreich brachte sich Max Emanuel vorerst in
eine äußerst ungünstige militärische Lage.
Das kleine, annähernd das heutige
Ober- und Niederbayern und die Oberpfalz umfassende Kurfürstentum war von allen Seiten von feindlichen Gebieten umschlossen und hatte eine für die Ver teidigung höchst unvorteilhafte Gestaltung seiner Grenzen. Allerdings hatte
das mächtige Frankreich seine Hilfe zugesagt, die Verbindung mit dem Burldes-
genossen führte aber über
den vom Gegner
besetzten Schwarzwald,
Name damals noch einen unheimlichen Klang hatte.
Landesherr
bei Beginn eines Krieges in ungünstigerer Lage
damals Kurfürst Max Emanuel.
dessen
Nicht leicht hat sich ein
befunden
als
Es gehörte das durch reiche Kriegserfahrung
gesteigerte Selbstvertrauen und der ganze Wagemut des Eroberers von Belgrad dazu um unter solchen Verhältnissen überhaupt einen Krieg zu beginnen. Vor allem war Max Emanuel darauf Bedacht, die Verbindung mit der
ihm von Ludwig XIV. in Aussicht gestellten französischen Hilfsarmee, welche
52. Der Beginn des Spanischen Erbsolgetrieges.
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unter Marschall Billars Möglichkeit herzustellen.
bei Hüningen über den Rhein
gehen sollte, nach Rasch entschlossen setzte er sich daher noch im Sep
tember 1702 gewaltsamcrweise in den Besitz der freien Reichsstädte Ulm und Memmingen. Ulm ließ er von dem Oberstleutnant v. Pechmann durch Über fall nehmen und Memmingen ergab sich ihm selbst nach kurzer Beschießung
durch Artillerie Nicht minder wichtig schien ihm die Besetzung der pfalz-neuburgischen Hauptstadt Neuburg a. D., wo vor kurzem einige Bataillone und Eskadrons Reichstrnppen eingerückt waren.
Ende Januar 1703 traf er mit 8000 Mann
vor der Stadt ein, nahm sie nach kurzer Beschießung durch Artillerie mit Sturm und richtete dort eine bayerische Besatzung ein. Inzwischen waren immer bedrohlichere Nachrichten von der Ansammlung feindlicher Truppen an den Grenzen Bayerns eingelaufen. In Oberösterreich
wurde ein gegen 20000 Mann starkes Korps unter dem kaiserlichen Feldmarschallcutnant Graf Schlick zusammengezogen, an der Westgrenze der Ober
pfalz ein etwa halb so starkes Korps unter dem kaiserlichen Feldmarschall Graf Limburg-Styrum; beide hatten angenscheinlich die Aufgabe in Bayern einzurücken. Max Emanuel erkannte sofort die Gefahr, die ihm drohte, wenn die beiden Gegner sich zu erdrückender Überlegenheit vereinigen würden, und
beschloß daher ihnen zuvorznkommen.
In möglichster Eile versammelte er
die verfügbaren Truppen in der Stärke von 9000 Mann am Inn; in der Nacht zum 11. März 1703 ging er sodann mit dem ganzen Korps bei
Schärding über den Fluß um den Feind in seinen im Innviertel bezogenen Quartieren zu überfallen.
In Schardenberg gelang es ihm die dort liegende Kavallerie vollständig zu überraschen
lind zu zersprengen,
bei Eisenbirn warf er die zum Gefecht
aufgestellten Truppen nach hitzigem Kampfe zurück.
Konnte Max Emanuel
hoffen, durch diesen Erfolg das Schlicksche Korps, das mit dem Hauptteil der Infanterie bei Passau stand, für einige Zeit eingeschüchtcrt zu haben, so ließ
anderseits die eingetroffcne Meldung über den Vormarsch überlegener feind licher Kräfte in der Oberpfalz seine Anwesenheit dort dringend notwendig erscheinen. Mit Zurücklassung von 5000 Mann unter Generalwachtmeister v. Lützclburg gegenüber Schlick marschierte er daher mit den übrigen Truppen
zur Unterstützung des in der Oberpfalz kommandierenden Feldmarschalleutnants
v. Weickcl eiligst ab. Bei Schmidtmühlen an der Vils traf er auf Truppen des Styrumschen Korps und schlug diese am 28. März so nachdrücklich, daß Styrum den Rückzug antrat und die Oberpfalz wieder räumte.
Max Emanuel wollte nun seinen Truppen einige Tage Ruhe gönnen und dann Styrum folgen, aber die Nachricht von einem Vormärsche Schlicks aus Passau veranlaßte ihn sich alsbald wieder gegen diesen Gegner zu wenden.
Da er fürchtete, Schlick habe es auf die Reichsstadt Regensburg abgesehen, beschloß er sich selbst in den Besitz der Stadt zu setzen. Nachdem er den
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Generalwachtmeister Graf Tattenbach mit Infanterie und Artillerie über Kel
heim auf das füdliche Donauufer entsandt hatte, schloß er am 8. April die Stadt auf beiden Ufern ein.
Die Drohung mit einer Beschießung bewog den
Stadtrat an Max Emanuel die Donaubrücke zu überlassen und eine bayerische
Brückenbesatzung aufzunehmen.
Der Kurfürst rückte
hierauf in Eilmärschen
nach Vilshofen, bis wohin Schlick inzwischen vorgedrungen war, aber dieser trat auf die Nachricht von dem Anmarsche des Kurfürsten sofort wieder den Rückzug nach Passau an.
Max Emanuel war eben im Begriff die Verteidigungsanstalten an der Ostgrenze neu einzurichten, als ihm die Mitteilung zukam, daß Marschall Villars den Rhein überschritten habe um den geplanten Vormarsch über den
Schwarzwald nun wirklich anzutreten.
Zugleich war das Verlangen gestellt,
der Kurfürst solle mit seiner Armee bis Tuttlingen entgegenrücken und so den Franzosen den Übergang über das Waldgebirge erleichtern. Max Emanuel beschloß daher sich an der Ostgrenze verteidigungswcisc zu verhalten und in möglichster Stärke in den Schwarzwald zu marschieren. In aller Stille ließ
er vom 12. April an die an der Ostgrenze entbehrlichen Truppen teils auf dem Landwege teils auf der Donau die Richtung auf Ulm nehmen und zog im Vormärsche alle sonst noch verfügbaren Truppen heran. Von Ulm ab
wurde der Marsch donauaufwärts fortgesetzt und bereits am 6. Mai fand bei Tuttlingen die erste Begegnung der Bayern und Franzosen statt. Max Emanuel sah sich jetzt an der Spitze einer aus 30000 Franzosen und 14000 Bayern bestehenden Armee und seine Absicht war, mit dieser an sehnlichen Streitmacht alsbald gegen das Korps Styrum zu rücken, das in zwischen über Nördlingen herangekommen war und aus dem bisherigen Korps Schlick beträchtliche Verstärkungen
erhalten
hatte.
Villars erklärte jedoch,
seine Truppen seien der Ruhe bedürftig und müßten für einige Wochen in Erholungsquartiere gelegt werden, und schloß damit jede entscheidende Unter nehmung von vornherein aus, dagegen gestand er die sofortige Abstellung einer französischen Jnfanteriebrigade für den Fall zu, daß der Kurfürst mit seinen
eigenen Truppen etwas zu unternehmen beabsichtige.
Maßgebend
für das
eigentümliche Verhalten des Marschalls war der Umstand, daß vertragsgemäß dem Kurfürsten, wenn er sich bei der französischen Armee befand, der Oberbefehl
zukam, weshalb Villars von Anfang an bestrebt war Max Emanuel möglichst
fernzuhalten.
Nebenbei ergab sich für Villars Gelegenheit sich durch Kontri
butionen im reichen Schwabenlande persönlich zu bereichern. War durch die Weigerung des Marschalls der Vorteil der ftanzösischen Hilfe zum Teil schon verloren, so wollte doch Max Emanuel selbst die Lage möglichst ausnützen.
Nachdem er den Plan sich Passaus zu bemächtigen auf
Grund ungünstiger Nachrichten aus der Oberpfalz während der Ausführung
wieder aufgegeben hatte, wollte er gegen Nürnberg ziehen um diese Reichsstadt zu besetzen, die mit ihrem Kontingent die Unternehmungen gegen die Oberpfalz
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52. Der Beginn des Spanischen Erbfolgekrieges.
unterstützt hatte. Schon waren alle Vorbereitungen, darunter auch die Bereit stellung von schwerem Geschütz in Ingolstadt, getroffen, als er sich durch den französischen Gesandten und einen
von Villars eigens abgesandten General
überreden ließ diesen Plan wieder aufzugeben und dafür die Eroberung von
Tirol in Aussicht zu nehmen.
Der Besitz von Tirol war immerhin nicht nur
für das Zusammenwirken der französischen Heere in Deutschland und Italien von Vorteil sondern auch im Sinne einer allenfallsigen Gebietserweiterung für Bayern anstrebenswert.
Mit dem gewohnten Feuereifer ging Max Emanuel an die Ausführung des neuen Planes, wozu er über etwa 12000 Mann, darunter 2500 Franzosen, verfügte.
Am 20. Juni wurde Kufftein durch einen kühnen Handstreich ge
nommen, am 23. Juni fiel die Feste Rattenberg und am 4. Juli nahmen die Vortruppen die Verschanzungen auf der Höhe des Brenner. Der Verabredung
gemäß hätte nun Marschall Vendöme, der in Oberitalien nur eine schwache
kaiserliche Armee gegen sich batte,
in entsprechender Stärke von Süden her
vorrücken sollen und Tirol wäre.behauptet worden. Vergeblich wartete aber der Kurfürst über zwei Wochen am Brenner und Vendöme kam nicht. Statt dessen trafen auf gegnerischer Seite zur Verteidigung des Landes beträchtliche
Verstärkungen aus Oberösterreich durch das Pustertal ein, während die Gebirgs
bevölkerung sich zu entschlossenem Kampfe ermannte und allenthalben die baye
rischen Postierungen mit überlegenen Kräften anfiel. Von vorne und im Rücken angegriffen befand sich Max Emanuel plötzlich in einer äußerst gefähr lichen Lage, aus der ihn nur ein rascher Entschluß retten konnte, und der hieß: schleuniger Abmarsch.
Am 22. Juli nachts um 2 Uhr begann er mit
dem Hauptteil des Jnvasionskorps den Rückzug und marschierte in einem Zuge nur mit den notwendigsten Rasten bis Innsbruck; tags darauf ließ er die Stellung der Tiroler bei Zirl stürmen und dadurch die direkte Straße nach Bayern wieder freimachen. Es war an diesem Tage, daß Max Emanuel
durch einen Zufall dem Tode entging, indem ein feindlicher Schütze den kur fürstlichen Kammerherrn Graf Arco,
den er für den Kurfürsten hielt, aus
sicherem Versteck niederschoß. Nachdem der Rückzug aus Tirol, wenngleich unter namhaften Verlusten, glücklich gelungen war, mußte der Kurfürst neue Truppenentsendungen vor nehmen um die abermals bedrohte Ostgrenze zu schützen. Mit dem ihm noch
verbleibenden geringen Rest an Truppen beschloß er dann zu Villars zu stoßen
und den Oberbefehl über die französische Armee wieder zu übernehmen. Villars war inzwischen in aller Ruhe an der Donau gestanden ohne etwas gegen das an Zahl schwächere Korps Styrum zu unternehmen. Als nachher der
Reichsfeldmarschall Markgraf Ludwig von Baden mit einem Teil der Armee,
die bisher am Rhein dem französischen Marschall Tallard gegenüber gestanden war, herangezogen kam um sich mit Styrum zu vereinigen, war die beste Gelegenheit zum Schlagen versäumt; Villars mußte sich damit begnügen sich
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in einer Stellung zwischen Lauingen und Dillingen so zu verschanzen, daß ihn
Markgras Ludwig nicht anzugreisen wagte. Bereits zwei Monate stand Villars im Lager bei Dillingen untätig, als Max Emanuel am 1. September dort eintraf. Er fand den Marschall in großer Aufregung, weil Markgraf Ludwig mit dem größeren Teil seiner Armee donauaufwärts marschiert war und man sich den Zweck dieses Marsches nicht
erklären konnte. Das Nächstliegende wäre nun wohl gewesen, über den unter Styrum zurückgebliebenen Teil der Reichsarmee, der, allerdings in verschanzter Stellung, bei Haunsheim gegenüberstand, mit allen Kräften herzufallen. Aber Villars war zu sehr daraus bedacht, sich vor allem die bedrohte Verbindung mit Frankreich zu sichern, und das Ergebnis eines erregten Kriegsrates war eine Teilung: am 2. September rückten Max Emanuel und Villars mit
20000 Mann in Staffeln auf der Straße nach Ulm vor, während im Lager von Dillingen Generalleutnant Usson mit 14000 Mann zurückblieb.
Da kam
noch am gleichen Tage abends die überraschende Meldung, daß Markgraf Ludwig nach Umgehung von Ulm in vollem Marsche über Memmingen auf Augsburg sei.
Nun wurde wieder umgekehrt, aber zu spät, und mit einem
kleinen Vorsprunge kam der Gegner vor der freien Reichsstadt an, die ihm nach kurzem Zögern ihre Tore öffnete.
Der Vorschlag des Kurfürsten den Markgrafen Ludwig in seiner Stellung bei Augsburg anzugreifen fand bei Villars keine Zustimmung und es war
daher notwendig weitere Maßnahmen zu treffen.
Diese ergaben sich erst aus
einem Ausgleich zwischen den auseinandergehenden Wünschen der beiden Heer führer. Villars, dem die Lage seit geraumer Zeit etwas unheimlich geworden
ivar, drängte nach Westen und schlug vor nach Ulm zu rücken; der Kurfürst dagegen wollte seiner durch die feindliche Armee ständig bedrohten Hauptstadt näher bleiben. Schließlich einigten sie sich dahin, daß die Armee nördlich von Augsburg beiderseits des Lech, verbunden durch eine bei Thierhaupten geschlagene
Brücke, mit dem Hauptquartier in Nordendorf postiert werde.
Von da schreibt
am 17. September der junge Generaladjutant Graf Törring an seine Mutter: „Gestert hat der Maröchal de Villars und schier alle französischen Generalle in des Feldmarschalls Arco Lager gespeist", was darauf schließen läßt, daß
die berechtigte Unzufriedenheit Max Emanuels mit dem Verhalten des Villars der bayerischen Gastfreundschaft keinen Eintrag tat. Aus der ihm aufgezwungenen Lage wurde Max Emanuel unerwarteter
Weise durch den Gegner befreit.
Am 18. September verließ Graf Styrum,
der von Markgraf Ludwig den Befehl erhalten hatte sich Donauwörths zu bemächtigen, seine feste Stellung bei Haunsheim und marschierte flußabwärts.
Villars, der gerade in Dillingen anwesend war, brachte diese Nachricht sofort nach Nordendorf. Die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges über Styrum war so offen liegend, daß Villars dieses Mal dem Kurfürsten keine Schwierigkeiten machte,
sondern ganz damit einverstanden war dem Gegner eine Schlacht zu liefern.
52. Ter Beginn des Spanischen Erbsolgetrieges.
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Indem der Kurfürst mit dem Hauptteil der Armee mittels eines Nacht
marsches über Donauwörth von Osten her und Usson aus Dillingen von Westen her gegen das Korps Styrum vorrückten, brachten sie dieses am 20. Septem ber bei Höchstädt zwischen zwei Feuer; nur der festen Haltung der Nachhut
unter Fürst Leopold
von Anhalt-Dessau hatte der Gegner es zu danken,
daß ihm der Rückzug nach Nördlingen noch gelang. In der richtigen Erwägung, daß der errungene Sieg nur dann seine
volle Bedeutung gewinne, wenn der durch ihn erzielte moralische Eindruck wie die erlangte numerische Überlegenheit sofort zu einem Schlage gegen den noch bei Augsburg stehenden Markgrafen Ludwig ausgenutzt würden,
sah Max
Emanuel von weiterer Verfolgung Styrums ab und wendete sich sofort gegen Augsburg. „Nun geht es auf den Prinz Louis los," schrieb am 21. Septem
ber der die Avantgarde
führende Feldmarschall Graf Arco,
„und wollen
wir ihm auch den Weg aus Bayern und dem Schwabenland weisen."
Als
aber die Armee bei Augsburg angelangt war, weigerte sich Billars die franzö
sischen Truppen verwenden zu lassen, weil des Gegners Stellung zu stark sei, und der von Max Emanuel geplante Angriff mußte unterbleiben. Von neuem drängte Villars nach Westen, und da er dieses Mal geltend machen konnte, daß Verstärkung durch französische Truppen unter Tallard
zugesagt sei, ließ sich Max Emanuel überreden mit der französischen Armee nach Ulm zu marschieren,
während Feldmarschall Arco mit den bayerischen
Truppen zur Deckung von München an der Augsburg-Münchener
zurückblieb.
Straße
Diese Operation hatte die unerwartete Wirkung, daß Markgraf
Ludwig unter Zurücklassung einer starken Besatzung Augsburg Mitte Oktober verließ und südlich ausbiegend über Kempten nach Westen abzog. Max Emanuel folgte anfangs nach und
besetzte bei dieser Gelegenheit
die Reichsstadt Kempten, ließ aber dann den Markgrafen ruhig in die Winter quartiere abziehen, indem er seinen Vorteil wohl erkannte.
Die um diese Zeit
seinen Antrag erfolgte Abberufung des Marschalls Villars und dessen Ersetzung durch den gefügigeren Marschall Marsin gab ihm ohnehin mehr freie
auf
Hand über die französischen Truppen zu verfügen und so beschloß er trotz der vorgerückten Jahreszeit sich noch der Reichsstadt Augsburg zu bemächtigen. Nachdem Generalwachtmeister Marquis Maffei das erforderliche Belagerungs geschütz von München und Ingolstadt herangeschafft hatte, begann am 8. De
zember die Beschießung der Festungswerke aus 4 Kanonen- und 5 Mörser batterien. Die Besatzung ließ es jedoch nicht zum Sturme kommen und bereits
am 14. Dezember gelangten die Verhandlungen zum Abschluß, die die alte Reichsstadt in Max Emanuels Besitz brachten.
An der Süd-, Ost- und Nordgrenze Bayerns hatten inzwischen die Waffen auch nicht geruht. Im Süden hielt Kufstein unter Graf Törring der an dauernden Belagerung durch kaiserliche Truppen stand, so daß es Max Emanuel möglich war die Festung entsetzen zu lassen. Im Osten hielt sich in gleicher
54. Die Sendlinger Bauernschlacht (1705).
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Weise die Feste Schärding, doch blieb das Innviertel von Kaiserlichen besetzt. Auch
der nördliche Teil der Oberpfalz
war in den Händen des Gegners
geblieben, nachdem die Feste Rothenberg und die Städte Amberg und Cham
noch mutvoller Verteidigung kapituliert hatten. Trotzdem konnte Max Emanuel mit höchster Befriedigung auf den bis herigen Verlauf des Krieges zurückblicken. Nachdem er im Kampfe mit dem Gegner wiederholt siegreich geblieben, hielt er nun das ganze Land zwischen
Lech und Iller,
die freien Reichsstädte Regensburg,
Ulm, Augsburg, Mem
mingen und Kempten, das Herzogtum Neuburg und in Tirol das feste Kufstein
besetzt und war imstande seine Bundesgenossen
auf erobertem Gebiet in die
Winterquartiere zu legen. Hätten es die Verhältnisse Max Emanuel gestattet, den Krieg mit gleichem Erfolge im Jahre 1704 fortzusetzen, so würde das Haus Wittelsbach wohl
schon damals den Kurhut mit der Königskrone vertauscht haben. Aber nun betrat mit Prinz Eugen von Savoyen auf gegnerischer Seile ein größerer Feldherr den deutschen Kriegsschauplatz und von da an vermochte Max Emanuel nicht mehr zu siegen.
53. Das G'sangl von Anno 1705. Don Karl v. Heigel.*)
Max Emanuel ist verbannt!
Weihnacht ist da; es läuft zur Metten, Wir aber wollen die Kinder2) retten, Erretten aus fremder Hand Die Kinder! Bauer oder Knecht, Heut' sind wir gleich und sind im Recht, Wir kämpfen für das Bayerland!
Ts ist für uns kein ander Heil, Die Flint' zur Hand und Sens' und Beil! Max Emanuel ist verbannt! Wir raufen, Einer gegen gehn, Doch die Büchsen treffen, die Sensen mäh'n, Wir Kämpfen für das Bayerland!
Die Kinder retten! Schlagt zu, schlagt tot! Die weißblaue Fahn' mutz werden rot, Der Ehristbaum steh' in Brand! Wir raufen heute nicht um Klein's, Und fallen wir, ist alles eins Dreimal Hoch das Bayerland!"
„Weih' unser Schwert du, der uns kennt, Das Feuer weih', das in uns brennt, Wir kämpfen für das Bayerland! Kaiserlich Bolk knecht't unsern Leib, Raubt unser Kind, schänd't unser Weib,
54. Die Sendlinger Bauernschlacht (1705). Don Hans Hopfen.') Run wollen wir aber heben an Don einer Ehristnacht melden:
Aus den Bergen zieh'n gen München heran
Fünftausend männliche Helden.
I Der Gemsbart und der Spielhahnschweif I Sind drohend gerückt nach vorne, An ihren Bärten klirrt der Reif,
Ihr Auge glüht von Zorne.
*) „Im Isartal", eine Erzählung von K. v. Heigel, S. 87. Dresden 1902, E. Pierson. 2) Die gefangenen Prinzen. 5) Gedichte, S. 47 ff. Berlin 1883, 91. Hofmann & Co.
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54. Die Sendlinger Bauernschlacht (1705\
Sie schwenken die Sense, die Keule, das Schwert, Fünfhundert sind mit Büchsen bewehrt, Und wie die Schneelahn wächst die Schar Don den Bergen rollend im Monde klar. Ein Fähnlein himmelblau und weiß Trägt vor dem Zug ein riesiger Greis; Das ist der stärkste Mann des Lands, Der Schmied von Kochel, der Meier Hans ; Don seinen Söhnen sieben Ist keiner zu Haus geblieben.
„0 Kurfürst Max Emanuel, Wir müssen's bitter klagen, Daß du für Habsburg Leib und Seel' So oft zu Markt getragen! Du Delgradstürmer, du Mohrentod, Du mußtest ins Elend wandern Und brichst französisch Gnadenbrot Zu Brüssel jetzt in Flandern. Es irrt dein Weib auf der Landesflucht, Deine Waisen weinen in Feindes Jucht, Gebrandschatzt darben die reichen Gau'n, Man sengt die Fluren, man schändet die Frau'n, Man rädert die Männer um leisen Ver dacht, Man reißt die Söhne vom Stroh zu Nacht Sie nach Ungarn zu trommeln ins heiße Blei Das Maß ist voll, es birst entzwei; Drum lieber bayrisch sterben Als kaiserlich verderben! Auch hat die Münchner Bürgerschaft Uns einen Brief geschrieben, Daß sie mit ungebrochner Kraft In Treue fest geblieben. Wenn wir den roten Isarturm Nach Mitternacht berennten, Erhöben drinnen sich zum Sturm Die Bürger und Studenten. Denn wie den letzten, teuersten Schatz Vergruben sie am geheimsten Platz, Was ihnen geblieben an Waffen und Wehr.
Sie sprechen am Tage sich nimmermehr, Doch tief in den Kellern bei Fackelbrand Reicht sich die ganze Stadt die Hand; Allnächtens zieht von Haus zu Haus Ein unterirdisches Gebraus, Ein: Lieber bayrisch sterben Als kaiserlich verderben! Wir klopfen ans Tor, nun laßt uns ein!" — Da geht von den Wällen ein Blitzen Und feurigen Tod zum Willkomm spei'n Gutkaiserliche Haubitzen; Und Straßen aus und Straßen ab Musketen und Granaten Wer hat die Landsleut' an das Grab, An Österreich verraten? Der Pfleger von Starnberg war der Wicht! Mein Lied nenn' seinen Namen nicht, Berdammnis und Vergessenheit Begrab' ihn heut' und allezeit; Sein Kleid sei gelb, sein Haar sei rot, Sein Stammbaum des Ischariot! In Tränen flucht die Bürgerschaft, Ihr blieb keine Klinge, kein Rohr, kein Schaft; Sie ward in wenig Stunden Entwaffnet und gebunden.
Doch spie' die Höll' aus dem roten Turm: Der Landsturm von den Bergen, Er nimmt die Münchner Stadt mit Sturm Trotz Kaiser Iosephi Schergen! Die Brücke dröhnt, die Nacht wird hell, Hie Wirbeln, Schreien, Knallen, Dom „Hurra, Max Emanuel!" Die Gassen widerhallen. Schon rief der Feldmarschall von Wendt: „Die Sache nimmt ein schlimmes End'; Wo bleibt des Kriechbaum Reiterei? Ich rief sie doch im Flug herbei!" Da rasselten über den Brückenkopf Mit rotem Mantel und doppeltem Zopf Die fremden Schwadronen die Kreuz und die Quer.
54. Die Sendlinger Bauernschlacht (1705).
Don den Wällen schlugen die Bomben
schwer. Die Landsleut' in der Mitten, Die haben viel hart gestritten.
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Daß die Dreihundert, die wir noch sind, Heimziehen dürfen zu Weib und Kind - “ Drauf ist unter Blitz und Knallen Der Sprecher vom Stein gefallen.
Sie flohen über die Heide breit Durch tief verschneite Fluren, 3m Rücken und an jeder Seit'
Da schlossen ums flammende Gotteshaus Die Landsleut' eine Kette Und knallten und schrien in die Nacht
Kroaten und Panduren. Dort sind wohl ihrer tausend und meh
hinaus Eine furchtbare Weihnachtmette. Als der Hahn im Dorfe zu krähen begann, War all ihr Blei verschossen, Sie hingen würgend Mann an Mann Auf den schäumenden Ungarrossen. Und als an die Glocken der Frühwind fuhr, Da stand von den Bauern ein einziger nur. Das war der stärtzste Mann des Lands, Der Schmied von Kochel, der Meier Hans; Mit einer Keule von Eisenguß Drasch er sie nieder zu Pferd und Fuß. Doch als die Sonne zur Erde sah, Seine sieben Söhne lagen da Ums Fähnlein, das zerfetzteDer Dater war der letzte.
Unter Rosseshufe gesunken Und haben den blutigen Weihnachtschnee Als Wegzehrung getrunken. Ein Friedhof steht am Hügelrand Den erklommen die Bauern mit Knie und Hand, Auf dem Glatteis ringend im Einzelkampf Unter Kolbenstößen im Pulverdampf, Bis von dem Rest der treuen Schar Der steile Hof erklettert war. Da stieß in ein verschneites Grab Der greise Schmied den Fahnenstab:
„Hie lieber bayrisch sterben Als kaiserlich verderben!"
Heiß kochte der Schnee, die Nacht war lang, Durchs Knattern der Musketen Zog sich's wie Orgel- und Glockenklang,
Wie fernher wanderndes Beten. Und ein Bauer ein weißes Tuch aufband, Er tat's an der Sense schwenken, Er mußte des Jammers im bergigen Land,
Der Witwen und Waisen gedenken. - „ Bon der Iugspitz bis zum Wendelstein Nur Sturmgeläut' und Feuerschein, Derweil zwischen Hufschlag, Schnee und Blei Wir fruchtlos fallen vor Hahnenschrei. Wir haben's verspielt ohne Nutz und Lohn, Drum, feindlicher Obrist, gib uns Par don,
Nun tröst' euch Gott im Himmelreich, 3hr abgeschiednen Seelen! Es wird von solchem Bauernstteich Noch Kindeskind erzählen. Wohl manch ein Mann, wohl manch ein Held Geht um in deutschen Weisen, Wir wollen den, der Treue hält, Dor allen andern preisen, Der ttotz Derrat und Hochgericht Don seinem Wort kein Jota bricht. Jetzt aber sagt, wo kehren wir ein? Ich denk', heut' soll's in Sendling sein. Dorbei am Friedhof führt die Sttaß', Da grüßen wir unters verschneite Gras: „Hie lieber bayrisch sterben Als kaiserlich verderben!"
55. Eine Szene aus der Sendlinger Bauernschlacht.
286
55. (Eine Szene aus der Sendlinger Vauernschlacht. Don Anton Hoffmann.')
Die bange Nacht ist um — blaugrau schleicht der zagende Tag ins Schneefeld. Aus mattroter Sonnenscheibe fällt glanzlos durch den Dunst ein fahler
Schein über die Ebene, von deren kalten, westlichen Schatten sich eine frostige Schneewand emporringt, aurorafarbige Flatterwölkchen voraussendend, die im grüngelben Licht des östlichen Horizontes untertauchen. Drüben im Feld unterhalb Sendling ist die Arbeit getan, aus vielen Hunderten zerfleischter Leiber dampft das Blut zum Himmel. Kaiserliche Husaren und Grenzvölker, venvilderte, im lebenslangen Krieg
gegen den Erbfeind
der Christenheit erbarmungslos
gewordene Räuber, schweifen zwischen den zuckenden
Haufen umher, gewohnt in der armseligen Habe der Unterlegenen Ersatz für seltene Löhnung zu finden,
plündernd und letztes, flackerndes Leben mordend, im mildesten Falle die bis aufs Hemd Ausgeplünderten
im Schnee ihrem Schicksal überlassend. Bis
zur
schmerzhaften
Kapelle
am
Kirchhof
St. Stephan können wir den Leidensweg verfolgen an den dunklen Silhouetten Gefallener; noch folgen verspätet einzelne Reiterschwärme, denen der Gefechts
lärm neue Arbeit und neue Beute verspricht
Dort in den Auen längs der Stadtmauer zwischen Isar- und Angertor, zwischen Jsararmen, Mühlen und Bleichen verröchelten heute in früher Morgenstunde
schon Hunderte, die die erste wilde Jagd niederstreckte. Stumm und regungslos liegt die turmreiche Stadt im Morgenlicht, winken
von den Höhen jenseits der Isar die Vorstädte Giesing, Au und Haidhausen;
da lauschen Tausende banger Menschen beklommenen Herzens dem Kampflärm vor den Mauern, dem Laufschritt durch die Straßen, eilenden Fußvolkes, dem Huffchlag vorbeitrabender Geschwader. Als die Musketensalven unten im Feld in die ungeordneten Haufen schmetterten, die Husaren ihre unbändigen Mähren in das wirre Gedränge
hetzten,
da brach der letzte geschlossene Widerstand der Landesverteidiger.?)
*) „Führer durch das Kolossal-Rundgemälde, ausgestellt auf der Theresienhöhe 2a bei München." Selbstverlag, 1905 München.
*) Die gesamte Streitmacht der „churbayrischen Oberlandesdefension", ca. 5000 Mann stark, war gegen München herangezogen, entschlossen mit Hilfe der Bürgerschaft die Landeshauptstadt der schwachen kaiserlichen Besatzung zu entreißen, die Wegführung
55 Eine Szene aus der Sendlinger Bauernschlacht.
Nun galt's nicht Kamps mehr um Sieg und Freiheit,
287
jetzt ging es ums
arme Leben.
Der Rücken war noch frei bis zur nahen Dorfumfassung; dort in Zäunen und Hecken gab es noch Hindernisse für die Verfolger, in Häusern, Scheunen, Ställen noch Deckung gegen das mörderische Blei, auf Straße und Feldweg vielleicht noch ein Entkommen.
Was noch stand, wirbelte in Haufen die Hänge
und die hohle Straße am Kirchhof hinauf. Hier hetzt der kaiserliche General Kriechbaum selbst sein Fußvolk den Fliehenden aus den Nacken.
In dichten Massen schieben sich die Kolonnen den Berg heran, inmitten der Kommandant des Entsatzkorps mit seinem Gefolge, Grenadiere voraus, die den vom freien Feld sich Zurückziehenden auf dem Fuße folgen. Schonungs
los wird hier
das Dolchbajonett gebraucht, die
neue Waffe des Fußvolks, welche, mit dem Holz heft in die Mündung gepflanzt, die Muskete zum wuchtigen Spieß machte. Was nützt dagegen die dünne Sensenklinge, was Gabel, Sichel und Knüppel!
Nur der wuchtige Morgenstern, von ner vigem Arm geschwungen, die schneidende Axt und
die altertümliche Hellebarde mag dagegen bestehen. „Zum Freithof" brüllt da oben der Sensenmann
an der Mauer und durch die enge Pforte schiebt sich das hastige Getümmel um Schutz bei Altar und geweihtem Boden zu finden.
Jsarwinkler Schütze.
Das Spundbajonett im Lauf der Infanterie muskete hindert den Schuß, aber oben von der Mauer blitzt es, pafft und knallt es wie beim Scheibenschießen. Hier halten noch Jsarwinkler im grünen Rock mit dem kurzen gezogenen Radschloßstutzen stand gegen den geschlossenen Ansturm des kaiserlichen Fußvolkes.
Wohl werden auch hier schon die Grabhügel zum harten, kalten Sterbe bett derer, die aus dem Gemetzel im Wiesengrund hierher sich noch schleppend verbluteten, und die alte Kirche aus ferner, eisenharter Zeit sah nie noch solch Getümmel um ihre altersgrauen Mauern, wo das Blut der Gemordeten, das über die Altarstufen rieselte und an die kalten Wände spritzend verrauchte, dem Ort des Friedens und ewiger Ruhe selbst die Weihe nahm. der kurfürstlichen Prinzen zu hindern und, einmal im Besitz der Hauptstadt, von hier aus der österreichischen Herrschaft ein Ende zu machen. Hauptsächlich waren es wehr hafte Männer vom Oberlauf der Isar und dem Land zwischen Loisach und Mangfall -- Jsarwinkler — die selbstbewußt, trotzend auf eigene Kraft, den blutigen Strauß tvagten.
55. Eine Szene aus der Sendlinger Bauernschlacht.
288
Des Verhaus knorriges Astwirrsal vermochte den Stürmern nicht halt zu gebieten, nicht Schutz den Verteidigern zu geben, denn schlecht taugt zum
Nahkampf das zum Streitgerät geformte Ackerwerkzeug, nutzlos ist es auf die Ferne. Man ballt sich zu Knäueln zusammen die Wehr vorstreckend; so lehrten es die kriegserfahrenen Offiziere und Soldaten, die aus dem Verbände der auf
gelösten kurbayerischen Regimenter in die Reihen der Landesverteidiger traten — „lieber dem Teufel zu dienen denn dem Kaiser". Der Leiter des gesamten Aufstandes, der Jägerwirt von Tölz, auf schnau bendem Schecken reitend, starrt trüb und unschlüssig die Straße hinab, wo es in erdrückenden Massen heraufzieht. — „Alles verloren!" — „Wenn's schon zum Sterben ist, dann drauf!" „Lieber bayrisch sterben als kaiserlich verderben!" Da werfen die Verzweifelnden und Zagenden sich den Grenadieren des Regiments „Bischof von Osnabrück" entgegen, die das Dorf umgehend durch die Gasse einbrechen. Der kleine Tambour schaut zaghaft ins Getümmel: das ist anders, als
wenn man sich daheim im Dorfwirtshaus an die Gurgel fuhr oder mit dem Schlagring die Köpfe zerbeulte, das ist bitteres Sterben in einem erbarmungs
losen Ringen. Da „scheppert" die dünne Sensenklinge gegen den starren Gewehrlauf, die Axt gegen die Partisane, hier würgt das Messer gegen den
Degen, da prasselt tödliches Blei in die Leiber. Doch auch durch die Dorfgasse wälzt sich im Laufschritt von Neuhofen
und Thalkirchen
herüber
fränkisches Fußvolk vom Regiment „Jahnus von
Eberstätt". Es soll der Arbeit nicht viel mehr finden.
In dichtem Knäuel bahnt
hauend, stechend und schießend der Haufe der Jsarwinller sich eine Gasse ins Freie, mit ihnen der französische Gardekapitän Gauthier, einer ihrer Führer. Ihr sicheres Blei hält die Verfolger in Achtung und wenn auch viele stürzend
den Weg zeichnen zur Heimat, die Braven erreichen fechtend den schützenden Wald.
Den breiten „crabatischen" Krnmmsäbel oder die lange Radschloßpistole in der Faust jagen über den Heil. Geisthof die Cusanihusaren herein von de Wendt, dem Kommandanten der kaiserlichen Besatzung Münchens, selbst geführt.
Mit Roß und Waffen wohl versehen boten diese Reiter von den Ufern der Drau, Sau und östlichen Donau als leichte, flüchtige Scharen dem ihre
Dienste, der ihnen Sold und Beute versprach. Schrecken und Furcht, aber auch Haß und bitteres Rachegefühl erweckten überall ihre barbarischen Gepflogenheiten. Hoch in den Bocksätteln mit auf gezogenen Knieen sitzend neigen sich die Vordersten zu wahllosem Hieb und Schuß in die dichte Masse der Sensenmänner, die die Wucht des Galopp sprunges hinwegsegt. Manch nervige Bauernfaust klammert sich
da in die Zügel
oder die
haarige Roßschnauze, daß das Tier scheuend auffährt oder vorprellend den
55. Eine Zzene aus der Zendlinger Bauernjchlacht.
Widerstand zu Boden reißt.
289
Mancher Gaul, in dessen Brust die Sense zischend
sich vergraben, kollert mit plumpem Fall hauend und schlagend in den Schnee, aber
brutale Hiebe lösen
die knochigen Hände von
den Zügeln
und der
brausende Reitersturm rächt den Fall des Kameraden. In den Haufen verstreut erkennt man an den Uniformen
Soldaten
aufgelöster bayerischer Regimenter, die hier mit ihren bäuerlichen Kriegsgenossen die Mannentreue zu ihrem Fahneneid mit dem Leben bezahlen. Schon klimmen am Hang beim Wimbauernhof auch grauröckige Mus ketiere herauf. Noch schwanken die Vordersten vor der entschlossenen Haltung eines verzweifelten Häufleins; da duckt sich ein herkulisch gebauter, waffenloser
Knecht zum Sprung gegen den zaudernd das Gewehr vorstreckcnden Musketier,
doch die Chargierten treiben die Zaghaften an zum Vollzug des Mordwerks. Da hieben die Zimmerleute von der Au, die sich den Aufständische» ange
schlossen hatten, ihre letzten Späne, da schlugen die Schmiede vom Oberland ihre letzten nervigen Schlüge, der Letzten einer jener heldenhafte Schmied Balthes, von dem kein Dokument zu berichten weiß, den aber treues Volks
gedenken überliefernd aufstellte als das Urbild starren, zähen Mutes und nimmer wankender Treue zur Fahne seines Landes. Mit der Linken das Symbol kriegerischer Treue ans Herz drückend, mit
der hammergewohnten Rechten den schmetternden Morgenstern regierend, stier
nackig dem Feinde Trotz bietend und nicht achtend des ihn umtobenden Ver derbens sei er uns durch alle Zeiten die Jdealgestalt bayerischen Löwenmutes und bayerischer Treufestigkeit. Das Feld war geräumt, der Sieg erfochten; aus den Leichenhaufcn, aus den Häusern, Ställen und Scheunen sollte die blutgesättigtc Soldateska sich
jetzt ihren Lohn holen.
Beutegierig brachen Husaren, Panduren und Kroaten
in die Höfe, die Türen krachten und von neuem verrichteten Natagan, Säbel
und Faustrohr entsetzliche Arbeit. Inmitten des über sie zusammenschlagendcn Verderbens verkrochen sich die geängstigten Bewohner hilflos in ihren Hütten, retteten zwar das Leben,
ihre Habe aber fiel der Plünderung zum Opfer. Die Bauern Artillerie, kleine, wirkungslose Stücke, die sonst in den Klöstern zu Tegernsee und Benediktbeuern friedliche Dienste zum „Antlaß-
schießen" taten, fallen neben sechs Fahnen und einigem Fuhrwerk als Tro phäen den Siegern in die Hände, mit ihnen die Führer: die Leutnants Clanze und Aberle und als letzter der kurfürstliche Hauptmann Mayer, der, nach dem Widerstand nutzlos, um dem überlebenden Rest der Landesverteidiger das Leben zu erwirken, selbst seine Person einsetzte. Über das Feld aber, gegen
den Forstenrieder Wald tobt die Verfolgung. Ring
Längst schon ist der Ort eingekreist durch zahlreiche Reiterei, die den immer enger schließend jeden der Fliehenden wie parforce gejagtes
Wild hetzt. KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
290
55. Eine Szene aus der Sendlinger Bauernschlacht.
Viele durchbrechen den Ring; mancher bahnt sich durch einen glücklichen Schuß eine Lücke, so der Student Passauer, der Freund des Jägerwirts, welcher, verfolgt durch Husaren, im kritischen Moment, da sein Bauernroß das Hindernis verweigert, einen Verfolger vom Pferde schoß und durch Kreuz- und Querhiebe mit dem Degen sich die Meute vom Leibe haltend glücklich entkommt.
Zwischen 10 und 11 Uhr des Christtags war alles vorüber, verstummt Vom
das prasselnde Gewehrfeuer, erloschen das Geschrei der Kämpfenden.
Letzte Szene des Kampfes am Kirchhof von Sendlings
weiten Leichenfeld nur scholl noch das Röcheln Sterbender und das Jammer geschrei Verwundeter oder das Wehklagen der Ortsbewohner, denen das Vieh
aus den Ställen getrieben wird. In der Ferne, den blauen Bergen zu, verhallt der Lärm der Verfolgirng und über die Dachfirste springt der rote Hahn eine braune Rauchwolke über das Dorf wälzend und das Bild von Mord, Brand und Plünderung vollendend. —
Wo in breiten Blutlachen sterbende Landeskinder einst verscheidend sich
wälzten den Rosenkranz um die kalten, zitternden Finger geschlungen, wo ein letztes Vaterunser im stockenden Atem verhauchte und nackte Verwundete in Ecken und Winkeln vor dem Wintcrfrost zitternd sich verkrochen, wo der Hufschlag der Rosse und der Feldschritt stürmender Bataillone einst den Zornesausbruch
eines zerschlagenen Volkes zermalmend
rollt jetzt der brausende Verkehr der Großstadt.
zu Boden trat,
da
291
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Mai».
Wie mancher mag im Drange des alltäglichen Treibens und Hastens achtlos an St. Äkargareta, dem bescheidenen Kirchlein von Sendling, vorbei
gehen nicht denkend, daß sein Fuß denselben Staub tritt, den eines Helden
volkes vergeblich vergossenes Blut netzte. Vergeblich — aber nicht nutzlos, wenn zur Weihnachtszeit uns die Glocken des alten Kirchleins in der Christmette die Worte läuten: „Vergeßt der treuen Toten nicht"
todes, ihres Bayerneid:
und wir im Gedächtnis der Großtat ihres Opfer
hehren Beispiels,
Nacheiferung
uns geloben
mit dem alten
„3n Treue fest!»
Würzburg mit dem Marienberg von Nordwesten gesehen.
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main. Don Theodor Henner.*
Von den Höhen des Fichtelgebirges kommend bewegt sich der Main in stattlicher Längenausdehnung von Osten nach Westen durch jene Lande, denen dauernd der Name Franken verblieben ist; nicht etwa die Urheimat des Frankenstammes, sondern ein Gebiet, in das sich vorher alamannische und
thüringische Bewohner geteilt hatten, bis durch große geschichtliche Wandlungen am Übergang vom 5. zum 6. Jahrhundert das fränkische Element hier schließlich zum herrschenden geworden ist. Nicht ohne Grund hat der Begriff „Main linie» eine namhafte Bedeutung in der inneren Entwicklung Deutschlands gewonnen; in diesem Flußgebiet scheidet sich gewissermaßen der eigentliche Süden von dem mittleren und nördlichen Deutschland. Nicht in einheitlich
gestrecktem Laufe verfolgt der Main seine Richtung, sondern vielinehr in wieder
holten starken Ausbiegungen nach Süden und Norden, und an einer derselben, ungefähr in der Mitte des ganzen Flußlaufes, liegt Würzburg, eine Nieder lassung, deren erste Anfänge wohl in graue Vorzeit zurückgehen, in jene
Zeiten, da keltische Völkerschaften als Vorläufer der Germanen das mittlere und südliche Deutschland bewohnten. Allein sein eigentliches Licht und Leben bekam der Ort doch erst unter dem Einfluß der stänkischen Herrschaft.
292
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
Zu beiden Seiten des Mains baut sich Würzburg auf und da ragt
am linken Ufer auf steil ansteigender Felsenhöhe, dem Marienberg, jene alte Feste „Unser lieben Frauen Berg" empor, welche den ganzen Talkessel, in den die Stadt gebettet liegt, beherrscht.
Sie gibt dem ganzen Städtebild
seinen eigenartigen, romantischen Reiz, sein charakteristisches Gepräge und steht andern Bergschlössern, an die man sich unwillkürlich erinnert fühlen mag,
wie Hohensalzburg, der Willibaldsburg bei Eichstätt, in keiner Weise nach. Deshalb sei dieser auch für die ganze geschichtliche Entwicklung der Stadt so bedeutsame Marienberg hier im Bilde wiedergegeben.
Dort auf jener Burg
herrschten
bis zu Beginn
des 8. Jahrhunderts
die unter der Oberhoheit der Frankenkönige stehenden fränkisch-thüringischen Volksherzoge über ein weites Gebiet insbesondere gegen Norden hin. Unter ihnen fand als neue Botschaft von folgenreichster Wirkung auch für
die gesamte Kultur der Mainlande das Christentum seinen Eingang, Auch hier waren es britische Mönche, St. Kilian und seine Gefährten, denen das mühevolle Werk gelang; für alle Folgezeit sind sie die gefeierten, volkstümlichen Apostel Frankens geblieben. Durch den kulturverbreitenden Eifer der Mönche, die sich dann bald dort niederließen, begann jedenfalls schon in sehr früher Zeit der Weinbau, der bis heute Frankens Reichtum und Stolz geblieben ist;
gerade an den Abhängen des Marienbergs wächst eine der edelsten Arten.
Von entscheidender Bedeutung für Würzburgs Zukunft wurde aber die mit Hilfe der Karolinger bewirkte Gründung eines Bischofssitzes durch den
großen Organisator der Kirche des Frankenreiches, Bonifatius, im Jahre 741. Durch diese bischöfliche Kirche und das, was sich in ihrer Umgebung sammelte,
erwuchs recht eigentlich die spätere Stadt und zwar so, daß nun auch auf dem
rechten Flußufer eine wohl schon früher vorhandene Ansiedelung rasch sich ausdehnte und dann bald zum Schwerpunkte des Ganzen geworden ist.
Groß
war
das
geistliche
Machtbereich
dieser
Spessart und Fichtelgebirge bildeten die Grenzen
nördlich
reichte es
Württemberg.
weit nach Thüringen
hinein,
Würzburger
Bischöfe;
gegen Westen und Osten,
südlich
bis
ins
heutige
Aber auch die weltliche Ausstattung des Bischofsstuhles war
gleich von Anfang an eine wahrhaft glänzende und die folgenden Jahrhunderte
vermehrten sie dann immer noch weiter mit Gütern, mit ganzen Grafschaften
und Gerechtsamen verschiedenster Art. Der Bischof von Würzburg war schließlich der reichste und mächtigste Herr und Fürst in Franken; in jenem Titel eines Herzogs von Ostftanken, der vom 15. Jahrhundert an regelmäßig von ihm geführt wurde, der aber schon älteren Ursprungs ist, hat diese ganze
Stellung ihren beredten Ausdruck gefunden. Der eigentliche Lebensnerv dieses ganzen Gebietes war aber der Flußlauf
des Mains, sein Mittelpunkt Würzburg.
Und dieses Würzburg konnte, als
man später aus wohlerwogenen Gründen weiter mainaufwärts an die Gründung eines neuen Bistums in Bamberg ging und als anderseits das später so
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
293
glänzende Nürnberg eben erst deutlicher hervorzutreten begann, bereits auf
eine mchrhundertjährige bedeutsame Geschichte zurückschauen. In der Zeit vom 8. bis zum 11. Jahrhundert begann Würzburg allntählich in seinem Äußeren städtisches Aussehen zu gewinnen. Zu einer erst
maligen Ummauerung kam es wohl durch die lange, schwere Ungarnnot, die
als schreckliche Geißel ein halbes Jahrhundert hindurch die deutschen Lande heimgesucht hatte, und diese Eigenschaft einer befestigten Stadt hat es dann durch alle weitere Folge behalten, zuletzt ausgestaltct zu einer starken Festung nach Vaubanschem System.
Erst in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahr
hunderts wurde im Zusammenhang mit den großen Umwälzungen im Bcsestigungswescn, die unterdessen eingetreten waren, zuerst für die Stadt und dann auch für den Marienberg die Festungseigenschast völlig aufgehoben.
Innerhalb jener alten ersten Mauern hatte sich vor allem der Dom erhoben, ursprünglich nur ein Holzbau, dann aber nach wiederholter Zerstörung durch Feuer als Steinbau. In der Zeit zwischen dem 11.—13. Jahrhundert gewann er in der Hauptsache die Gestalt, die er heute noch zeigt, eine vier türmige Pfeilerbasilika, die durch ihre mächtigen Verhältnisse, vor allem in
der Längenausdehnung zu den ansehnlichsten deutschen Kathedralen romani
schen Stils gehört. In der gleichen Stilart erstanden dann noch andere kirchliche Bauwerke, die heute noch als bedeutsame Denkmäler dieser Epoche
vor uns stehen;
so das stattliche Neumünster, dessen westliche Krypta durch
St. Kilians Grab zum Nationalheiligtum der Franken wurde; sodann die zu
Ehren St. Burkards, des ersten Würzburger Bischofs, errichtete Kirche im Mainviertel mit ihrem schönen Paradies; die Kirche der Schottenmönche usw.,
während die uralte Rundkirche auf dem Marienberg damals auch ihre jetzige Gestalt gewann. Mit diesem baulichen Heranwachsen hielt aber die politische Bedeutung
der Bischossstadt gleichen Schritt.
Häufig schlugen hier unsere Kaiser ihre stets
wandernde Hofhaltung auf und hielten wichtige Reichstage ab und wiederholt wurden kaiserliche Kanzler auf diesen Bischofsstuhl erhoben.
Ihren Höhepunkt
fand diese bevorzugte Stellung Würzburgs in der Zeit der staufischen Kaiser. Gern und oft hielten sich die Staufer in dem ihnen gehörigen, leider jetzt völlig verschwundenen Hof zum Katzenwicker auf und es war ein Moment höchsten Sonnenglanzes in der Geschichte Würzburgs, als in seinen Mauern Kaiser
Friedrich Rotbart
im Jahre 1157
die Hochzeit
mit Beatrix
von Burgund feierte, ein Vorgang, den später Tiepolos Meisterhand in leuchtendem Farbenglanz in den Räumen der Residenz künstlerisch verherrlichte. Würzburg galt damals nach den Erzbistümern als das erste und vornehmste unter den Bistümern des Reiches; hätte doch Kaiser Friedrich einen seiner
eigenen Söhne, Philipp von Schwaben, ursprünglich dort zum Bischof wählen lassen. Auch von einem gewissen poetischen Zauber erscheint Würzburg gerade in diesem Zeitalter verklärt: nach einer allerdings erst späteren Über-
294
56. Würzburg, dir alte Bischofsstadt am Main.
lieferung hat Walther von der Vogelweide hier den Abend seines vielbewegten Sängerlebens verbracht und sein Grab im Kreuzgang von Neumünster
gefunden. Mit all diesem Glanz nach außen ging eine bedeutsame innere Ent wicklung Hand in Hand. Unter den schützenden und fördernden Einwirkungen
kaiserlicher Privilegien wie auch des
bischöflichen Stadtregiments reiste all
mählich ein kraftvoll selbstbewußtes städtisches Bürgertum heran.
Aber wie
es mehr oder weniger überall in diesen Bischofsstädten zu gehen pflegte, kam auch hier bald die Zeit, da die Interessen und Ansprüche des bischöflichen Stadtherrn und der emporstrebenden Bürgerschaft auseinandergingen und in feindlichen Gegensatz zueinander gerieten, zum erstenmal unter dem gewaltigen Bischof Hermann I. von Lobdeburg im Jahre 1254. Seitdem zogen sich die Bischöfe auf ihr Bergschloß, die Marienburg, zurück um von dort aus
den Trotz bürgerlicher Selbstherrlichkeit leichter bändigen zu können und nur
allzuoft waren die beiden gegenüberliegenden Stadtseiten wie feindliche Heerlager geschieden, wobei die Bürgerschaft dann gerne bei den Kaisern Anlehnung und Rückhalt suchte. Mit wechselvollem Erfolg hin und her wogend zogen sich
diese Kämpfe bis zum Jahre 1400 hin, wo es der fürstbischöflichen Streitmacht schließlich gelang in der Schlacht bei Bergtheim einen entscheidenden Sieg über
die Bürgerschaft zu erringen.
Zertrümmert lagen
damit
nun die lange
genährten Hoffnungen auf reichsfreie Stellung und Selbstherrlichkeit zu Boden
und mehrfach entschlossen sich bürgerliche Geschlechter zur Auswanderung, wovon besonders Nürnberg Vorteil gezogen haben soll.
Die Herrschaft des Bischofs
war damit für die weitere Folge besiegelt und Würzburg zu einer landsässigen Stadt geworden.
Trotz dieser vielfach so sturmbewegten Zeitläufte nahm das Wachstum und die Verschönerung der Stadt doch ungestörten Fortgang. Auch das Zeitalter der Gotik hat hier hochbedeutende Denkmäler geschaffen; so die
Kirche der Minoriten in den herben, strengen Formen der Frühgotik; dann die wundervolle, leider jetzt so ruinenhaft gewordene Kirche der Deutschherren,
vor allem aber die dem Würzburger tief ins Herz gewachsene Marienkapelle
am Markt, eine Dichtung in Steinen im schönsten Sinne des Wortes;
bald
nach einer grausamen Judenverfolgung hatte man sie auf dem früheren Judenplatz gewissermaßen zur Sühne dafür erstehen lassen. Dazu dann die stattlichen Kurien der Domherren mit ihren weiten Hofräumen und zierlichen
Kapellen, deren noch erhaltene Reste vielfach von so malerischer Wirkung sind. Allerdings ist vieles davon späteren Umgestaltungen, besonders im vorigen Jahrhundert, zum Opfer gefallen. In Bamberg blieb weit mehr von solchen
alten Höfen erhalten. Auch in der Plastik hatte man sich in Würzburg allmählich zu achtungs werter Höhe emporgearbeitet. Sprechende Belege dafür sind die zahlreichen
Grabdenkmäler der Bischöfe im Dom seit Ende des 12. Jahrhunderts;
wie
56. Würzburg, di« alte Bischofsstadt am Main.
eine steinerne Chronik des Hochstists muten sie den Beschauer an.
295 Und da
trat dann gegen Ende des 15. Jahrhunderts jener Meister auf, der Würzburgs Namen in der deutschen Kunstgeschichte wie wenige verewigt hat, Tilman
Riemen schneide r.
Seiner Geburt nach
ein Westfale war er in früher Jugend
nach
der
kommen ,
stänkischen die
ihm
Bischofsstadt
zur zweiten
ge
Heimat
werden sollte; in ihren Mauern entwickelte sich sein ganzes künstlerisches Wirken und
sie darf ihn darum mit Recht den Ihrigen nennen. Es sind meistens Gegenstände aus dem Bereich religiöser Darstellung, in denen sich sein Schaffen bewegt; ergreifende Darstellungen des gekreuzigten Heilands, liebliche Madonnen- und Heiligengestalten verschiedenster Art; sodann die meister haften Grabdenkmäler der Bischöfe Rudolf
von Scherenberg und Lorenz von Bibra im Dom und des Schottenabtes Johannes Trithemius und vor allem sein eigentliches Meisterwerk,
das
Grabmal des Kaiser
paares Heinrich und Kunigunde im Bam berger Dom. Jenes tiefinnerliche religiöse Gefühl, wie es sich in engem Zusammen hang mit der Literatur der Mystiker gerade in Deutschland in so hervorragender Weise herausgebildet hatte, fand in diesem frän kischen Meister einen seiner sinnigsten Ver
treter im Reiche der Kunst; eine Stim mung, die sich vor allem in der edlen, zarten Gesichtsbildung und den zierlichen Händen verkörpert zeigt, und dabei noch
als eigenartiges Merkmal ein Zug sinnen der Wehmut. Riemenschneiders Formen welt ist noch ganz die der ausklingenden Gotik; allein er gehört doch auch wieder
zu jenen Meistern,
die unwillkürlich auch
Das Grabmal des Abtes Trithemius
im Neumünster zu Würzburg.
von einem mächtigen neuen Zuge ergriffen wurden und in einzelnen Werken sich schon als Jünger der beginnenden Renaissance zeigen.. 1531 ist er gestorben. Unbedenklich kann man ihn den
großen Nürnberger Meistern, einem Adam Kraft und Beit Stoß an die Seite stellen.
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
296
Aber nicht nur in der Kunst sondern auch auf den wichtigsten anderen Gebieten äußerten in jener Zeit des Übergangs vom 15. zum 16. Jahrhundert
neue Strömungen und Kräfte ihre Rückwirkung auf Würzburg.
Jener über
spannte kommunistische Schwärmer und Prediger Hans Böhm, genannt der
„Pseiferhans", der in Niklashausen im Taubergrund eine so mächtige Bewegung zu entfesseln vermochte, hatte schließlich auf dem Richtplatz in Würzburg int
Jahre 1476 sein tragisches Ende gefunden.
Er war einer von jenen Bor
läufern der gewaltigen Sturmflut gewesen, die ein halbes Jahrhundert nachher
über Deutschland hereinbrach, jener aus agrarischen, politischen und religiösen
Momenten hervorgewachsenen Revolution, die gemeinhin mit dem Namen Bauernkrieg bezeichnet wird. Von Schwaben ausgehend hat diese Bewe gung in gewissem Sinn ihren Höhepunkt in den fränkischen Landen erreicht.
Bereits war die Stadt Würzburg auf der Seite der Aufftändischen; die noch einmal wach gewordene Hoffnung die früher vergeblich angestrebte Reichs unmittelbarkeit jetzt erlangen zu können hatte die Bürgerschaft dazu gedrängt. Nur noch der Marienberg, verteidigt von dem tapferen, gelehrten fürstbischöf lichen Hofmeister Sebastian von Rotenhan und einer kleinen, heldenmütigen
Schar ragte wild umtost von den feindlichen Haufen wie ein einsames, letztes Bollwerk der konservativen Sache empor, die freilich nicht ohne eigene schwere
Schuld in eine solche verzweifelte Lage gekommen war; nie zu einer andern Zeit ist die Bedeutung dieses Bergschlosses größer gewesen. Und der Entsatz, der dann in der letzten Stunde endlich herankam, bildete den Wendepunkt der ganzen Bewegung, die gewissermaßen in ihrem eigenen Blute erstickte.
Mancherlei andere Gärung und Bewegung hat dieses inhaltschwere Jahrhundert auch in seinem weiteren Verlaufe noch über Würzburg gebracht, bis gegen Ende desselben
hier eine Herrschergestalt auftrat,
geistesstark uud
willensmächtig genug um der weiteren Entwicklung aller Verhältnisse in der
Stadt und im Hochstift ihre festen Bahnen zu weisen, der Fürslbischof Julius
Echter von Mespelbrunn. Sein mehr als vier Jahrzehnte währendes Regiment bedeutete eine umfassende, durchgreifende Restauration nach den verschiedensten Seiten hin. Einem Zustand von Unklarheit und Schwanken auf religiösem Gebiet, wie er seit Beginn der religiösen Neuerungen gerade
auch in den fränkischen Landen eingetreten war, machte er mit unerbittlicher Strenge im Geiste der sogenannten katholischen Gegenreformation ein Ende; mit Maximilian I. von Bayern gehörte er zu den Begründern der Liga.
für seine Politik
nach dieser Richtung hin
einen
Um
enffprechenden geistigen
er 1582 die Würzburger Universität. Schon zu einer sehr frühen Zeit, im Jahre 1402, war durch Fürstbischof
Rückhalt zu
gewinnen gründete
Johann v. Egloffstein eine solche Hochschule dort ins Leben gerufen worden. Allein diese erste Gründung hatte nicht recht Wurzel fassen können, sie welkte
früh dahin.
Um so dauerhafter und lebenskräftiger erwies sich dann diese Neu
gründung Julins Echters.
Zur Unterstützung der leidenden Menschheit rief
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
297
er seine großartige, heute noch blühende Hospitalstiftung ins Leben mit reicher materieller Ausstattung. Bei all diesen Aufwendungen fand er durch seine
hervorragende Finanzkunst noch die Mittel in seiner Hauptstadt wie in den Stiftslanden als ein baulustiger Herr aufzutreten, wie das in der ganzen Geschichte Würzburgs einzig dasteht. Schon längere Zeit war in der Baukunst die Renaissance zur Herrschaft gelangt, wovon in Würzburg sich noch schöne In diesem Stil ließ Julius weiterbauen, aber mit nochmaliger starker Beimischung gotischer Motive, wie das am merkwürdigsten
Proben erhalten haben.
in der Neubaukirche in Würzburg und in der Wallfahrtskirche 511 Dettelbach zum Ausdruck kommt, eine Mischung, die übrigens in dieser Zeit auch noch
anderwärts versucht wurde. So nach allen Seiten hin neu gefestigt vermochte Würzburg dann auch die schwere Zeit des Dreißigjährigen Krieges, obwohl sie die Schrecken einer Erstürmung
des Marienberges
und eine mehrjährige schwedisch-weimarische
Zwischenregierung mit sich brachte, glücklich zu überdauern. Eben auf diese Er fahrungen hin gingen seitdem die Fürstbischöfe, zuerst Johann Philipp v. Schönborn, zugleich Kurfürst von Mainz, mit allem Eifer daran Würzburg zu einer starken Festung neuen Stils umzugestalten. Allein im großen und ganzen hatte doch die jetzt folgende Zeit bis zu den französischen Kriegen am Ende des 18. Jahrhunderts für Würzburg einen friedlichen und glücklichen Charakter.
Die damaligen Fürstbischöfe waren feingebildete und viel
fach prachtliebende Herren, aber dabei auch eifrige, tüchtige Regenten.
So kam
dann auch das Kunstleben besonders im 18. Jahrhundert nochmals zu hoher Blüte. In der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert war zunächst der Barockstil herrschend; in einer Reihe bedeutender Bauwerke kam er in Würz burg zur Anwendung, insbesondere durch den welschen Baumeister Antonio Petrini, dessen pompöser Neubau der Kirche von Stift Haug mit der kühn
geführten Kuppel sowie auch des rückwärtigen Teiles des Juliusspitals diese Kunstform in achtungswerter Weise vertreten. Als das glänzendste Gestirn leuchtete aber bald darauf der aus Eger stammende Balthasar Neumann, den man unbedenklich als einen der genialsten Architekten des kunstfrohen 18. Jahrhunderts bezeichnen darf. Die zwei weiteren Fürstbischöfe, die Würz
burg aus der Familie Schönborn erhalten hat, sind es gewesen, die dieses Talent erkannten und ihm die richtige Lust, zu seiner vollkommenen Entfaltung
verschafften.
Es ist die unterdessen aus Frankreich herübergekommene neue
Stilrichtung des Rokoko, die dieser Meister gerade hier in Würzburg mit dem unerschöpflichen Reichtum seiner künstlerischen Phantasie und mit höchster tech
nischer Virtuosität in ihrer ganzen entzückenden Feinheit anzuwenden wußte. Sein Wirken blieb keineswegs auf Würzburg beschränkt, aber immerhin hat es hier seinen Schwerpunkt gefunden. Hatten ihm doch seine Schönbornschen Mäzenaten jenen Auftrag gegeben, durch dessen Ausführung er seinen Namen unsterblich machte, nämlich zum Bau einer neuen fürstbischöflichen Residenz
298
56. Würzburg, die alte Bischossstadt am Main.
unten in der Stadt, ein Kunstwerk, in mehr als einer Hinsicht epochemachend für die Entwicklung Würzburgs. Dabei ist zu bedenken, wie unterdessen die Zeit eine
andere geworden,
war; mit anderen Augen sah man gewisse Dinge an. Vorüber war die Zeit, in der man noch ein Gefühl für die Romantik der Bergschlösser besaß; das
Sinnen und Trachten der fürstlichen Herren war jetzt anders geartet.
Man
stieg herab von den alten Burgen in die Ebene um sich da neue, glänzende
Schlösser, vielfach von grandiosem Umfang, zu bauen und man schuf sich künstlich eine neue, eigenartige Natur in den mächtigen Schloßgärten mit ihren architektonisch streng gezogenen Baumlinien; allem zwang man gewissermaßen
den Willen der absolut gewordeuen Fürstenherrlichkeit aus, die damit sich selbst
Das Würzburger Schloß von Nordwest. (Nach „Die Baukunst". W. Spemann, Berlin.)
verherrlichen wollte. So kehrten die Pfalzgrafen am Rhein der alten Heidel berger Romantik den Rücken um sich in Mannheim und Schwetzingen ein
neues, glänzendes Heim zu schaffen und ebenso
stieg auch der Fürstbischof
von Eichstätt von seiner Willibaldsburg hinunter in die Stadt, wo dann um das neue Fürstenschloß sich eine neue Ansiedelung in diesem Stil bildete. So war es eben auch hier in Würzburg;
seit Beginn des 18. Jahrhunderts
wurde der Marienberg als Fürstensitz verlassen. Was da nun Neumann binnen kurzer Zeit als neue, eines Fürsten würdige Wohnung hervorzauberte,
ist weltbekannt und hat kaum seinesgleichen; das wär der richtige Auftrag um seine ganze künstlerische Kraft und Leistungsfähigkeit zu erproben. Wie es
dann in solchen Fällen zu gehen pflegt, schlossen sich an dieses gewaltige Werk noch andere Kunstleistungen in ebenbürtiger Weise an. Für dieses neue Fürstenschloß schuf der Venetianer Tiepolo seine berühmten Fresken, einzig
artig in der Kühnheit des Entwurfs bei den gewaltigsten Raumverhältnissen
wie auch in der Leuchtkraft des Kolorits. Hier fertigte der aus Tirol her berufene Kunstschlosser Oegg jene eisengetriebenen Tore, noch heute vielbe wunderte Muster dieser Kunstfertigkeit, während für den plastischen Schmuck,
299
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
besonders auch
in
dem daranstoßenden
reizenden Hofgarten,
Bildhauer van der Auvera und Wagner sorgten. seiner Art
ganz einzig dastehendes Kunstleben,
wie
die
tüchtigen
In der Tat ein in
es sich
damals
in der
(Bitter am Würzburger Hofgartentor von 3. G. Oegg.
fränkischen Bischofsstadt entwickelt "hat, so daß diese Erscheinung auch in der allgemeinen Kunstgeschichte einen bedeutsamen Platz beanspruchen darf. Abgesehen
von diesem großartigen Hauptwerk hat Neumann auch auf das gesamte Bau wesen in Würzburg umgestaltend und verbessernd eingewirkt.
gehört
die zeitgemäße llmgestaltung zahlreicher Kirchen an,
Diesem Zeitraum ein Eingreifen,
das man ja vom kunstgeschichtlichen Standpunkt aus nur beklagen kann, das
56. Würzburg, die alte Bischofsstadt am Main.
300
aber doch wieder ein Beweis dafür ist, daß man die Kraft und den Trieb zu
origineller Neugestaltung in sich fühlte. Unter dem feingebildcten Fürstbischof Adam Friedrich v. Seinsheim fanden die jene Zeit mehr und mehr beherrschenden Ideen der Aufklärung
auch hier Aufnahme und Verbreitung; insbesondere wurde das Volksschulwesen
durch Gründung eines Schullehrerseminars gefördert.
Nicht minder traf aber
auch für zeitgemäße Hebung und Förderung der Universität verständnisvolle Fürsorge Seinsheims Nachfolger Franz Ludwig v. Erthal, unter dem mit
großer Prachtentfaltung ihre zweite Säkularfeier begangen wurde. Die hohe Blüte des Medizinstudiums, die ja später als ein charakteristisches Merkmal dieser Hochschule erscheint, geht in ihren Anfängen bis in diese Zeit zurück. Da begannen u. a. die Gelehrtenfamilien der Siebold und Heine ihr gefeiertes Wirken; Philipp Franz v. Siebold, der nachherige berühmte Japan
forscher erblickte hier 1796 das Licht der Welt; Johann Georg Heine bekam
einen Weltruf als Begründer der Orthopädie. Franz Ludwig von Erthal, unter dem zum letztenmal die Herrschaft über die beiden Nachbarbistümer Würzburg und Bamberg in einer Hand vereinigt
war — sechsmal ist es im ganzen der Fall gewesen —, zählte zu den treff lichsten Fürsten in jenen letzten Zeiten des alten Deutschen Reiches, ein wahres Muster eines erleuchteten und gewissenhaften Regenten. Aber die vom westlichen
Nachbarlande heranziehenden Stürme brachten dann im Verlauf weniger Jahre die
schwersten
Ordnung.
Erschütterungen und den Zusammenbruch
der ganzen
Nur von vorübergehender Wirkung war der ganz
in
alten
der Nähe
von Würzburg erfochtene glorreiche Sieg der deutschen Waffen unter Erz
herzog Karl im Jahre 1796 gewesen; bereits 6 Jahre später sah sich Fürstbischof Georg Karl v. Fechenbach durch den allgemeinen Umschwung, wie ihn
der Friede von Luneville zur Folge hatte, veranlaßt in einer er
greifenden Proklamation
von seinen Untertanen Abschied
zu nehmen.
Die
geistlichen Staaten, diese eigentümlichen Gebilde des alten Deutschen Reiches, hatten aufgehört zu sein und damit kam nun auch für Würzburg eine ganz neue Zeit.
Zuerst griff die Herrschaft des pfalzbayerischen Kurhauses in den beiden ftänkischen Nachbarhochstiftern Platz; aber während Bamberg nun dauernd in diesem Verhältnis verblieb, wurde Würzburg vorübergehend noch einmal zum Mittelpunkt eines eigenen Staatswesens, das man für den früheren Groß
herzog vonToskana neu gebildet hätte, das Großherzogtum Würzburg, eines jener ephemeren staatlichen Gebilde' der Rheinbundszeit, dessen Dasein darum auch mit der Macht des Protektors Napoleon stand und fiel. Darauf
trat zum zweitenmal und dauernd die Herrschaft Bayerns ein und 7 Jahre nach diesem für die ganze weitere Entwicklung Würzburgs so bedeutsamen Ereignis wurde hier in den Räumen der herrlichen Residenz im Jahre 1821 der Wittelsbacher geboren, in dessen Händen gegenwärtig die Leitung Bayerns
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuviMs der Ältere.
301
liegt, unser Prinzregent Luitpold, ein Umstand, der nur dazu beitragen
konnte, unsere fränkischen Lande und ihre alte Hauptstadt noch enger mit Bayerns edlem, erlauchtem Herrscherhausc zu verbinden.
57. Der kurfürstliche Hofbaumeister Franz Luvillies der Allere. Don Karl Trautmann.*
Der 13. August des Jahres 1704 war ein Unglückstag für unser Bayerland. Seit der Morgenfrühe standen bei Höchstädt die Österreicher und Engländer in heftigem Kampfe den Heerhaufen der verbündeten Bayern und
Franzosen gegenüber.
Der Augenblick war gekommen, der über die Vorherr
schaft in Deutschland zwischen Habsburg und Wittelsbach entscheiden sollte. Mit einer selbst von seinen Feinden bewunderten, sieghaften Todes verachtung warf sich Max Emanuel den in endlosen Scharen anstürmenden Panzerreitern entgegen und brachte sie in stundenlangem, gewaltigem Ringen
dreimal zum Weichen.
Doch alle seine Tapferkeit war umsonst.
Das über
legene Feldherrntalent seines großen Gegners, des Prinzen Eugen, obsiegte, und als die Sonne hinabsank hinter den bewaldeten Donauhöhen, da war die
Niederlage der Bayern und Franzosen entschieden, eine der blutigsten Schlachten war geschlagen und Bayeni auf Jahre hinaus dem Feinde preisgegeben. Drei Tage später schrieb Max Emanuel im Angesichte von Ulm jenen Brief an Ludwig XIV., in welchem er seinem Bundesgenossen Kunde gab,
daß das Kriegsglück gegen ihn entschieden habe. Damit begann für den hochstrebenden Fürsten fernab von Bayern ein unstätes Wanderleben, das ihn auf ein Jahrzehnt nach Paris und in die Nieder
lande führte, deren Besitz ihm von Frankreich zugcsichert war.
Am 1. Oktober
hielt er seinen Einzug in Brüssel. Zu
seinem
Soignies an
neuen
Herrschergebietc
gehörte
auch
das
Landstädtchen
der großen Heerstraße, die von Brüssel über Mons, der
Heimat unseres gewaltigen Tondichters Orlando di Lasso, nach der französischen
Grenze führt.
Es ist ein stiller, gartenreicher Ort, der sich um den alten
Zisterzienserbau seines Kollegiatstiftes lagert und dessen fleißige Bevölkerung ihren Erwerb
aus
den
Granitbrüchen
zieht,
die
unweit
des
Städtchens
zutage treten. In Soignies nun war es, wo am 23. Oktober 1695 der Mann geboren
wurde, dem es auf seinem Lebensgange beschieden war der Münchener Kunst des 18. Jahrhunderts den Stempel seines Geistes tiefer einzuprägen,
als irgend einer seiner altbayerischen Zeitgenossen es vermochte,
und dessen
Name an erster Stelle genannt werden muß, wenn von dem Schaffen jener Tage die Rede ist — Franz Cuvillies der Ältere, der Schöpfer der
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz Cuvillies der Ältere.
302
Amalienburg,
der Reichen Zimmer, des Residenztheaters und so vieler hervor
ragender Privatbauten Münchens, der Meister und Bahnbrecher des Rokoko
inAltbahern.
Die Cuvillies,
heute nur noch
die
schlichte Handwerker
als
belgischen Städtchen leben, waren vordem angesehen in Soignies.
in
dem
Sie gehörten
zum Amtsadel und sind wohl hierdurch bald zu ihrem neuen Landesherrn in
Wie dem auch sei, so viel steht fest, daß Max Emanuel
Beziehungen getreten.
in
Jahr 1706
den
damals
aufnahm und zwar,
wie
der Sohn des Meisters erzählt,
um
das
Doch die Akten berichten anders.
11 jährigen
Cuvillies
seinen Hofstaat als Edelknaben.
Aus ihnen ergibt sich, daß der geniale
Künstler an Körperbau ein Zwerg gewesen ist und daß wahrscheinlich dieser
Umstand allein den Kurfürsten veranlaßte dem Knaben seine Aufmerksamkeit
zuzuwenden. Es ist ein weiter Weg vom Hofzwergen bis zum Schöpfer der Amalien Und daß
burg.
es gewesen,
die kunstsinnigen Wittelsbacher
Weg geebnet,
die ihm
Verhältnissen
erspart
das mühsame Emporringen
und
hinausgehoben
ihn
die ihm diesen
aus kleinlichen,
unfreien
zu menschenwürdigem Dasein
und freier Künstlerschaft, das hat er ihnen nie vergessen.
Jahrzehnte später,
als er der weithin gefeierte Meister geworden und mehrere deutsche Fürsten
ihm
das Vierfache
dessen boten,
was er in Bayern
als Besoldung
genoß,
wenn er sich entschließen würde München zu verlassen, da wies er alle diese glänzenden Anerbietungen als bescheiden waren.
zurück,
In dem
trotzdem
seine Vermögensverhältnisse mehr
kleinen Manne
großdenkende Seele gewohnt zu haben,
scheint
der die Pflicht
eben
eine
das, was ihm sein Gönner Gutes erwiesen, die erste Pflicht war.
widmete er unter
drei Regenten
sein reiches Können
vornehme,
der Dankbarkeit
für
Und so
unserem Fürstenhause,
für das er seine herrlichsten Werke geschaffen hat. Kurfürst Max Emanuel war ein väterlicher Beschützer für den jungen
Cuvillies, dessen hervorragende geistige Begabung er bald erkannte. ihm
eine glänzende Erziehung
Jngenieüroffizier werden sollte,
angedeihen
und
zum Fähnrich
ernannte ihn,
Er ließ
da er zuerst
im Leibregimente.
Als aber
der Kommandeur gegen diese Verwendung mit dem Bedeuten Protest einlegte,
daß Cuvillies als Zwerg würde,
diesem Elitekorps
zu
geringem Ansehen gereichen
da war der Kurfürst rasch entschlossen und sandte seinen Schützling
nach Paris um ihn in der königlichen Bauakademie zum Architekten ausbilden zu lassen.
Damit hat zwar das Leibregiment einen Leutnant verloren, München
aber einen Cuvillies gewonnen.
Als Cuvillies 1720 nach der französischen Hauptstadt kam, war er 24 Jahre
alt.
Es ist das Paris der Regencezeit,
in das er versetzt wird, die Stadt
mit ihrem tollen, lustigen Leben, ihren feinen, anmutigen Gesellschaften, den Börsenspekulationen, die das Geld in Menge auf den Markt werfen, das Paris, das vom Banne der würdevollen Etikette Ludwigs XI V. befreit auf allen Gebieten
57 Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz Cuvillies der Ältere.
des Schaffens nach neuen Gestaltungen ringt.
303
Bei den intimen politischen
Beziehungen, die zwischen Versailles und München bestanden, waren die jungen
Bayern, die zu ihrer künstlerischen Ausbildung nach Paris kamen, und dank der Freigebigkeit Max Emanuels waren es ihrer viele, gern gesehene Gäste in der französischen Hauptstadt. Und da der Name unseres Kurfürsten einen
guten Klang hatte in den dortigen Künstlerkreisen, so fehlte es dem jungen Cuvillies gewiß nicht an Anschluß und Anregung. Ein glänzendes, temperamentvolles Kunstleben umwogt den Lernbegierigen,
ein Kunstleben, imponierend durch das prächtige Zusammenwirken auf allen Gebieten, anregend und belehrend anderseits durch die Kontroversen, die in
geistvoller Polemik die gegensätzlichen Anschauungen in künstlerischen Fragen zum Ausdruck bringen. Überall sprüht und gärt es. Man hat sich von der schweren Pracht der Versailler Schule losgemacht, die in dem italienischen Barockstil wurzelt; man drängt in architektonischen und ornamentalen Dingen einer neuen Entwicklung entgegen, die bestrebt ist den veränderten Lebens- und Gesellschaftsformen gerecht zu werden.
Der Hauptzug dieser Entwicklung geht auf die Bequemlichkeit, die Ein
fachheit und die Leichtigkeit.
Man verlangt bequeme und künstlerisch durch
dachte Anordnung des Grundrisses, an den Einfachheit die Hauptsache, jede Überladung
Fassyden ist Klarheit mit Architekturgliedern
und und
Skulpturenschmuck wird strenge verpönt und für die Ausstattung der Innen
räume gilt fortan ein Prinzip, das in den Worten gleicht und licht" am besten seinen Ausdruck findet.
Die Frage,
die damals
die Architektenwelt
der französischen Landes
hauptstadt am lebhaftesten beschäftigte, war die vollendete Gestaltung des Privatbaues, des Adelspalastes sowohl wie des Bürgerhauses. In jenen Tagen wurde ihr Typus sestgelcgt und in dem gewaltigen Aufschwünge der
Pariser Bautätigkeit in allen seinen Variationen mustergültig zum Ausdruck
gebracht.
Daß Cuvillies
während
seines Aufenthaltes diese Bewegung
offenen
Auges verfolgte und aus ihr gewinnbringende Belehrung zog, beweisen seine
Münchener Palastbauten, die wohl mit zu dem Besten gehören, was im Deutschland des 18. Jahrhunderts auf diesem Gebiete geleistet wurde. Cuvillies
hat die Wandlung der Kunstweisc des Zeitalters Ludwigs XIV. zum Rokoko an der Geburtsstättc des Stiles miterlebt und er ist in München der Ver künder der neuen Richtung geworden.
Mit der Anstellung als Kurfürstlicher Hofbaumeister, welche am > 5. Sep tember 1725, also 6 Monate vor dem Ableben seines Gönners Max Emanuel, erfolgt und Cuvillies, vorerst mit einem Jahresgehalte von 600 Gulden,
dauernd an Altbayern fesselt, nehmen seine Wanderjahre ein Ende und ein Schaffen beginnt nunmehr, das ihn bis zu seinem Tode am 14. April 1768 zum Mittelpunkte des Münchener Kunstlebens machen sollte.
304
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz Cuvillies der Ältere.
Als Max Emanuel im Jahre 1680 als selbständiger Gebieter die Regierung übernahm, herrschte in Stadt und Land noch der italienische
Barockstil, der besonders durch den Einfluß der Mutter des Kurfürsten, Adelaide von Savoyen,
in
ganz Altbayern festen Fuß gefaßt hatte.
Italienische Architekten sind es, welche nach München kommen um die Bauten zu entwerfen und auszuführen, die dieser Kurfürstin ihre Entstehung verdanken.
14. April 1663 trifft der Bolognese Agostino Barelli ein um die Theatinerkirche zu errichten; der gleiche Meister plant das alte Schloß in
Am
Nymphenburg, den jetzigen, allerdings stark veränderten Mittelbau.
Wiederum
beginnt eine Invasion von Italienern, die mächtigste, die Altbayern seit Herzog Wilhelms V. Tagen gesehen. Und zwar zogen jetzt nicht mehr
einzelne Meister über die Alpen, sondern ganze Familien von Künstlern und Handwerkern. Damals setzten sich bei uns die Mscardi fest, die Perti, Andreota, Riva, Porta, die Sciassa, Appiani und wie die Welschen alle heißen,
die in der Folge an den Bauunternehmungen des Hofes
und
nicht minder
beim Kirchen- und Prälaturenbau unseres Alpenvorlandes eine
so hervor
ragende Rolle spielten. Und damals war auch der Meister nach München gekommen, welcher dem ersten Baugedanken des jungen Fürsten, dem neuen Schlosse in Schleißheim, feste Form gab und der, wenigstens bis zum Jahre
1704, den maßgebenden Einfluß in allen Unternehmungen des Hofes ausübte — der Graubündner Enrico Zuccali.
Ein erstklassiger Künstler ist Zuccali nicht gewesen, aber ein tüchtiger, formensicherer Architekt, der es allezeit trefflich verstand den vielseitigen Wünschen seines Auftraggebers sich anzupassen und der auch im Kirchenbau seinen Mann stellte.
Seit 1675 liegt die Vollendung
der Theatinerkirche in seiner Hand
und später leitet er in Kloster Ettal jenen Chorbau, durch dessen Ausführung
Max Emanuel das Andenken seines kaiserlichen Ahnherrn ehrte. Und noch im Austrage des Kurfürsten Ferdinand Maria entwirft er für den Gnadenort Altötting die Pläne zu einer mächtigen, die Heilige Kapelle als Rotunde über wölbenden Wallfahrtskirche, die freilich schon in den Anfängen liegen blieb.
Vor allem aber widmet er sich Jahre hindurch dem Schloßbau in Schleißheim, der in seinen fortgesetzt wechselnden Projektierungen so recht ein Spiegelbild von Max Emanuels unstätem Wollen und Charakter geworden ist. Was Zuccali und seine Heimatgenossen Bayern vermittelten, war eigentlich Kunst von gestern, etwas bereits Veraltetes und Überholtes, das bald von dem mächtigen Einfluß Frankreichs in den Hintergrund gedrängt wurde
Nicht die imponierende Herrschergestalt Ludwigs XIV. allein wirkte damals so blendend auf ganz Europa, nicht sein kriegerischer Erfolg, es war dastehende und durch den Gegensatz mit dem Elend des Dreißigjährigen Krieges noch mehr gehobene Aufschwung auf wirtschaftlichem, der ohnegleichen
literarischem und künstlerischem Gebiete, der die Kulturländer in den Bann Frankreichs zwang, zum letzten nicht unser Bayern, das seit langem schon den
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz Cuvillies der Ältere.
305
Mittelpunkt der französischen Politik bildete. Auch Max Emanuel strebte nach einer solchen Kunstblüte, die zugleich der Verherrlichung des Fürsten und dem Volkswohlstände diente, und hat sie, besonders nach seiner Rückkehr aus der
Verbannung im Jahre 1715, nach seinem Sinne zu verwirklichen versucht durch intensive Ausbildung der einheimischen Kräfte in den Werkstätten der tonangebenden Pariser Meister der Kunst und des Kunstgewerbes.
Gewann zwar damit die französische Kunstweise bei uns immer mehr an Boden, so ist es zu einer Berufung ausländischer Architekten doch nicht mehr gekommen.
Denn auch Cuvillies war für Max Emanuel kein Fremder, er
galt ihm als Landeskind jenes Großbayern,
das die spanischen Niederlande
umfaßte und von dem der Fürst in hochfliegendcr Hoffnung so oft geträumt am verglimmenden Wachtfeuer, in einsamen Lagerstunden, als er noch auf sein
stolzes Heer blickte, vor der Höchstädter Niederlage. An Stelle Zuccalis tritt ja in der obersten Leitung des Hofbauamtes der urwüchsige Dachauer Gärtnersohn Joseph Effner, der Begabtesten einer aus jenem so mächtig und schaffensfroh Heranwachsenden Kreise junger, einheimischer Meister, die nunmehr zu Worte kommen und den Ruhm der bodenständig alt»
Jene schlichten, uns schier sagenhaft gewordenen Männer: der geniale Johann Michael Fischer, die bayerischen Knnst hinaustragen sollten in alle Welt.
Gebrüder As am und so viele andere, die ihre begeisterten und opferfreudigen Auftraggeber in den großsinnigen, aus unserem kernigen Bauern- und Bürgertum hervorgegangenen Prälaten fanden, die in Monumentalität der Baugesinnung es Fürsten gleichtaten. Und jubelnd drängen sich uns die Namen der stolzen Kirchen und Klöster auf die Lippen, die draußen Wache halten vor unseren Bergen: Rott am Inn, Diessen, das hochragende Andechs, Ettal, Berg am Laim
— ein Hohelied der Schönheit, dem das Altbayern des 18. Jahrhunderts mitverdankt, daß es selbstbewußt und ebenbürtig treten kann neben die gleich
zeitigen
Werke anderer
Geisteskultur.
deutscher Stämme
auf
anderen
Gebieten unserer
Nicht Lessings Nathan der Weise allein, auch Glucks Iphigenie
und Mozarts Schöpfungen, auch Effners wunderbarer Dom zu Ottobeuern, jene Raumdichtung sondergleichen, bedeuten Großtaten deutschen Geistes, Geistestaten des katholischen Bayernstammes.
Der ganze Umfang von Cuvillies' Wirken ist von der Forschung noch lange nicht klargelegt; nur was mit urkundlicher Sicherheit ihm zugehört, mag Zunächst in München der Palast des Grafen Piosasque de Non (Theatinerstraße Nr. 16) und das jetzige erzbischöfliche Palais an der erwähnt werden.
Promenadestraße, zwei Bauten von eigenartig vornehmem und von dem Pariser Typus stark abweichendem Gepräge, die für den jugendlichen Künstler einen vollen Erfolg bedeuteten. Denn trotzdem Effner gleichzeitig in dem Palaste des Grafen Preysing (der jetzigen Hypothekenbank neben der Feldherrn
halle) auf gleichem Gebiete eine Meisterleistung schuf, KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
blieb Cuvillies fortan 20
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuvillitS der Ältere.
306
für die Bedürfnisse der vornehmen Kreise die maßgebende Persönlichkeit und errichtete, wie uns sein Sohn erzählt, „eine große Anzahl Häuser". Zum ersten Male ganz selbständig am kurbayerischen Hofe arbeitend, tritt er uns in dem Neubau und der inneren Ausstattung der sogenannten
Reichen Zimmer entgegen.
Wohl jedem Besucher der Münchener Residenz
bleibt der lauschige Grottenhof unvergeßlich, jenes grünende Idyll mit seiner kühlen Muschelhalle, dem plätschernden Brunnen und dem zierlichen Bilder schmuck.
In den Räumen, welche diesen reizenden Fleck Erde umgeben, hatte
schon der Erbauer der Residenz, Kurfürst Maximilian I., seinen Wohnsitz auf geschlagen und zwar gerade da, wo die Reichen Zimmer sich befinden, in jenem Südflügel, dessen Fenster diesseits in den Grottenhof hinabgingen,
auf der anderen Seite aber den Ausblick gewährten über den bis an das ehemalige Franziskanerkloster sich hinziehenden, sogenannten Schönen Garten und seine Laubengänge und Wasserwerke.
Auch Max Emanuel war diesen
Räumen treu geblieben und hatte sie zweimal seinem wechselnden Geschmacke folgend ausstatten lassen, zuerst 1680—1704 durch Zuccali italienisch und später dann kurz vor seinem Tode französisch durch Effner.
Ein Brand, der
am 22. Dezember 1729 diese Zimmer zerstörte, war die Veranlassung zu ihrer
Neugestaltung durch Cuvillies. Die Aufgabe, welche der Meister zu ausgedehnte.
lösen hatte, war räumlich keine An Stelle der vernichteten Gelasse sollten sogenannte „Chambres
de parade“ treten, also eine Zimmerflucht, die in erster Linie der Repräsen
tation bei Empfängen zu dienen hatte. Erweitert war das alte Programm durch einen neu zu erbauenden Flügel für einen großen Festsaal, der zugleich
Gemäldegalerie ist,
und für eine Prachtstiege, welche den direkten Zugang
zu letzterer vermittelte. Die Bauzeit dauerte sieben Jahre. Am 4. No vember 1737, am Namenstage des Kurfürsten Karl Albert, öffneten sich die
von 2000 Wachskerzen feenhaft erleuchteten Räume den zum Feste geladenen
Gästen. Hier hat Cuvillies ohne irgend welches Raffinement in der Grundriß
bildung aus einer Flucht rechteckiger und quadratischer Räume Interieurs geschaffen von einem Reichtum und einer Vornehmheit, wie sie sonst in Deutsch land sich nirgends wiederfinden.
Und doch war des Meisters Begabung noch einer Steigerung fähig. Cuvillies' Entwürfe für die Reichen Zimmer befriedigten Karl Albert in hohem Maße.
Nun endlich hatte die leidenschaftliche, so ganz lyrische Natur
des sensiblen Fürsten den Genius gefunden, der sein Schönheitsideal — die Vereinigung von höchster Pracht mit vollendeter künstlerischer Eleganz nicht
in mächtigen Hallen und weiten Sälen, sondern im kleinsten Raume — zu verkörpern verstand.
Und als er kurze Zeit später, im Jahre 1734, zu Ehren
seiner Gemahlin, der Kaisertochter Maria Amalia, ein Lusthaus für Garten feste und Konzerte in linden Sommernächten plante, das in seiner Silber-
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuvillUs der Ältere.
307
dekoration etwas ganz Neues werden sollte, da war es wieder sein Lieblings architekt,
der einen Bau schuf,
der des Meisters Ruhm im Volke lebendig
erhielt.
Wenn heute der Name Cuvillies genannt wird, so denken wir Münchener zunächst an die Amalienburg, die für uns gleichsam untrennbar verbunden ist
mit der Erinnerung an die fröhliche, selige Kinderzeit, da wir hinausgewandert mit Eltern und Geschwistern in den Nymphenburger Park,
zu dem in lau
schigem Waldesgrün so versteckten, geheimnisvollen „Silberschlößchen". Dorthin lenke deine Schritte, etwa im Spätherbst, wenn die letzten Strahlen der
Die Amalienburg im Nymphenburger Schlohgarten. (Nach „Die Baukunst"'. W. Spemann, Berlin.)
sinkenden Sonne durch das Gewirre der Stämme glühen und nichts die Stille
ringsum unterbricht als der leise, melancholische Zug der fallenden Blätter,
und versenke dich in ihren Anblick. Es ist nur eine einfache Fassade, die sich vor dir erhebt,
ausgestattet
mit den bescheidensten Mitteln, und die manchem vielleicht nichts weiter ist als
ein Wechsel von Fenstern und Mauerflächen. Und doch, welch holder Rhythmus in dieser Schöpfung! Es liegt etwas wie Musik in ihr, das uns des Meisters innerstes Wesen erschließt: jenes entzückende Maßhalten bei aller überquellenden
Gestaltungsfülle, jenes vollendete Gleichgewicht zwischen architektonischer Glie derung
und leichtbeschwingtem Ornament, welches
Reichtum in vollendete Harmonien löst. Diener
selbst den verwirrendsten
Und nun öffnet uns der freundliche
die Flügeltüren und schauend und bewundernd
treten wir
in das
Innere.
Ein Gleißen und Schillern und Flimmern ringsum nimmt uns gefangen, ein zuckendes Aufleuchten von Silberblitzen auf dem gelben Grunde der Gemächer und den in Kristallspiegeln sich auflösenden Wänden des Kuppel-
20*
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuvillitS der Ältere.
308
saales, eine traumselige Stimmung, die am Tage schon uns ahnen läßt, welch
Bild von märchenhaftem Zauber
erwachen
Strahlen der Lüster und Girandolen.
Silber,
die uns umschmeichelt,
wird
unter den
tausendfältigen
Es ist eine berückende Symphonie in
das Höchste,
dessen die Kunst des Rokoko
überhaupt fähig war. Und dieser Zauber ist dem Werke des unscheinbaren Zwergleins geblieben
bis heute.
Selbst in jenen Tagen, als der pietätlose Bildersturm anhob in
was das kunstfteudige Jahrhundert des Barock
Wort und Tat gegen alles,
da ist keiner aufgestanden zum Kämpft
und Rokoko in Altbayern geschaffen,
Grundriß der Amalienburg. A. Spiegelsaal, B. Gelbe- Kabinett, C. Blaue- Kabinett, D. Rettrade, E. Hundezimmcr,
F. Borplatz,
G. Jagdzimmer, H. Indianische- Kabinett, J. Küche.
(Nach „Die Baukunst".
gegen
die Amalienburg.
Sie
alle,
Romantiker, haben instinktiv gefühlt,
W. Spemann, Berlin.)
mochten
sie
nun
Klassizisten
sein
oder
was unser für die Denkmale bayerischer
Vergangenheit so warmempfindender König Ludwig I. durch seine Vorliebe für den Bau zum Ausdruck brachte — daß das Meisterwerk Cuvillies'
zu jenen
Schöpfungen gehört, die man weder ändern noch bessern, die man in ihrer
unvergleichlichen Eigenart eben nur genießen kann.
Wie ist's so still und feierlich da draußen im Schatten der alten, würzigen Fichten, unter denen wohl schon der Meister geträumt von neuen Werken oder
von den Schicksalen und Sorgen seines Lebens.
Aber wer vermag noch zu
ergründen, was sein Innerstes bewegte in jenen Stunden, da er in sinnendem Ausruhen Stimmung suchte und frische Kraft zu weiterem Schaffen?
nur von dem Künstler wissen wir, nicht von dem Menschen.
Denn
Wir besitzen
keine Zeile, die uns Einblick tun ließe in sein Denken und Fühlen, ja nicht einmal die Züge seines Angesichtes sind uns bekannt, nur die Schilderung,
die eine französische Landsmännin eUtwarf, die mit ihm am Hofe zu Kassel
67. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz Cuvillies der Ältere.
im Jahre 1749 zusammentraf und die berichtet:
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„Er ist sehr klein, aber in
guten Verhältnissen gebaut; er ist weder schön noch häßlich, aber sehr mager und scheint keine gute Gesundheit zu haben.
Er spricht nicht viel, was er
Partie aus dem Gelben Kabinett der Amalienburg. (Nach „Tie Baukunst".
aber spricht,
ist wohlgesagt.
W. Spemann, Berlin.)
Sein Wissen kann ich nicht beurteilen, aber es
scheint mir nicht, als ob er prahle.
Ich finde sein Wesen sehr sanft nnd
gesetzt." Also
Berus
ein stiller,
hastig
und
bescheidener,
rücksichtslos
kränklicher Mann,
vordrängender
Streber.
kein in Leben
Das
und
Erdenwallen
310
57. Der Kurfürstliche Hofbaumeister Franz CuviMs der Ältere.
solcher Charaktere ist äußerlich meist schlicht und ereignislos. Und so wäre nur zu berichten, daß trotz allen bureaukratischen Übelwollens, das auch ihm
nicht erspart blieb, die Wittelsbacher des hochbegabten Mannes Wert stets zu schätzen wußten und welch aufrichtiger Achtung er sich erfreute in Altbayerns
warmherzigen Künstler- und Handwerkerkreisen.
Auch von seiner Anhänglichkeit
an unser München wäre zu erzählen, das zu verlassen er nimtner sich ent schließen konnte und wo er, in der engen Wohnung in der Burggasse, dem Hause gegenüber, in dem sein unsterblicher Geistesverwandter Mozart den
Jdomeneo vollendet, im Kreise seiner Familie ein Dasein führte, das einzig
und allein der Arbeit gewidmet war. Denn auch auswärts ist Cuvillies ein vielbegehrter Meister. Er schafft in den Rheinlanden, zu Kassel, Würzburg, Wien und entwirft für Dresden
den Plan zu einer Stadterweiterung und einem neuen Residenzschlosse.
Dazu
treten Arbeiten in den altbayerischen Klöstern, wie der Hochaltar der herr lichen Kirche in Diessen am Ammersee oder der Bau des Münsters von
Schäftlarn, und endlich jene Hunderte von Kupferstichen, die Bruchstücke einer groß angelegten Veröffentlichung über die Zivilarchitektur, die uns den tiefsten Blick tun lassen in die Welt, die seine schönheitstrunkene Seele erfüllte. In München wieder hat er die drei Werke ausgeführt, welche die bedeut samen Marksteine seiner späteren Kunstweise geworden sind: das nunmehr
leider abgebrochene Cottahaus in der Theatinerstraße, das Residenztheater und
die mächtige Front der Hostirche von St. Kajetan — also einen Palast, der
bereits hinüberleitet zur Einfachheit und Strenge des wiedererwachenden Klassizismus, ein in dem Farbendreiklang weiß, gold, purpur entzückend gehaltenes Rokokointerieur und
eine Fassade, deren vornehme Würde und
reizvolle Grazie gewiß nicht ahnen läßt,
daß ein mit schwerem Siechtum
ringender, siebzigjähriger Greis sie erdachte. Alle diese Werke bedeuten Höhepunkte des Kunstschaffens in Altbayern,
mögen es auch keine altbayerischen Kunstwerke sein. Denn ein altbayerischer Ehrlich und aufrichtig, wie er war, hat
Meister ist Cuvillies nicht gewesen.
er auch fern
von
seiner Heimat
künstlerisch allezeit
seine
Muttersprache
geredet und die war französisch. Er hat stolze Paläste gebaut, reizende Schlößchen im Waldesgrün, Opernhäuser und Prunkgemächer von hinreißender
Pracht, was die altbayerische Seele erfüllt,
hat er nicht verkörpert.
Die
trauliche, zu Herzen dringende Gemütlichkeit spricht nicht zu uns aus den Reichen Zimmern der Residenz und nicht aus der Amalienburg, die lebt in
ihrer ganzen seelenvollen Wärme in dem, was unsere wackeren, freilich von
Cuvillies vielfach angeregten, geschulten und geförderten einheimischen Meister gebildet in Stadt und Land, in Bürgerhaus und Prälatur und Kirche. Das Ideal Cuvillies' war das Ideal der vornehmen Kreise, jene damals
international gewordene ftanzösische Kunst des Rokoko, die Friedrich den Großen nicht minder in ihren Bannkreis zog wie unsern Kurfürsten Karl
58. Gründung der Akademie der Wissenschaften zu München 1759.
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Albert, und daß er diesem Ideal als großer Meister Leben gab, wird niemand bestreiten, der seinen Schöpfungen unbefangen gegenübertritt. Und als großen Meister, als der Herrlichsten einen, die in Altbayern gewirkt, wollen wir ihn
in Ehren halten und dauernd uns an dem erfreuen, was er geschaffen.
58. Gründung der Akademie der Wissenschaften zu München 1759. Von Karl von Spruner.1)
Ein frischer Luftzug, wie er sich oft als Vorbote eines bereits im Osten dämmernden Morgenrotes erhebt, strich nach dem Beginn der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts über Deutschland hin und begann die schweren Dünste zu verjagen, welche sich während des traurigen Dreißigjährigen Krieges und
besonders seit dem Ende desselben vorzüglich über den südlichen Teil unseres Vaterlandes gelagert hatten. Auch für Bayern war diese vielverheißende Morgenröte mit dem Regierungsantritte des Kurfürsten Maximilian III.
heraufgestiegen. Der Friede zu Füssen am 22. April 1745,
den
der junge Kurfürst
widerwillig und nur dem Andringen seiner Mutter und der österreichischen Partei am Hofe nachgebend unter stetem Abmahncn der jungen, geistvollen und tatkräftigen Maria Anna, der Gemahlin seines Vetters Klemens, geschlossen hatte, gewährte dem Lande eine lange Reihe voll Friedensjahren, obschon seine Krieger erst im österreichischen Solde und dann als Reichskontingent
nicht unrühmlich vor Schweidnitz, bei Breslau, Freiberg und Leuthen gegen Friedrich von Preußen gestritten. Sie, vereint mit den Zweibrückern, deckten den Rückzug bei Roßbach und tapfer schützten bayerische Grenadiere die Flücht
linge gegen die versolgenden preußischen Husaren.
Hat auch die Philosophie des 18. Jahrhunderts gar manchen eitlen und hohlen Wortkram zutage gefördert, ja selbst an den Grundpfeilern des Christentums zu rütteln gewagt, das alles liegt vergessen hinter uns, wogegen
ihr ideales Streben und ihre reichen Schöpfungen alle hochsinnigen Gemüter für wahre Geistessreiheit, für eine edlere, ethische Auffassung der Lehren unseres Heilandes, für eine daraus hervorgehende höhere Würdigung der Persönlichkeit
des Menschen selbst geweckt und die Herzen durch den lebenswarmen Strahl wahrer Humanität entzündet haben.
Reben ihnen liefen dann freilich,
wie
das unvermeidliche Schattenbild neben jedem edlen Streben, der Mißbrauch und die Karikatur, als Unglaube, lächerliche Empfindelei und falsche Philan
thropie her. Leibniz und Wolf verdrängten den scholastischen Wust aus den Schulen und mit der in den höheren Ständen herrschenden Sprache Frank*) „Die Wandbilder des Bayer. Nationalmuseums, historisch erläutert." München 1868, I. Albert.
S. 210 ff.
312
58. Gründung bet Akademie der Wissenschaften zu München 1759.
reichs drang auch die Literatur jenes Landes über den Rhein.
Statt der
liederlichen und obszönen lyrischen Dichtungen und unflätigen Possen, statt der geschmacklosen, furchtbar langweiligen Romane und halbverrückten drama
tischen Staatsaktionen eines Lohenstein, Hoffmannswaldau oder Ziegler, statt
der „christlichen Handpistolen" und dem „geistlichen, Leib und Seele zusam menhaltenden Hosenträger" wurden Bossuet und Fenelon, Racine und Moliere, freilich auch Voltaire und die Enzyklopädisten, immer eifriger gelesen. Der
Geschmack an den Werken der neuerwachten deutschen Geistesbildung fand immer größere Verbreitung; aus Klopstocks Messias,
aus Höltys und der
Stolberge Schriften erkannte man hehren christlichen Sinn, glühenden Patrio
tismus. Lessings Minna von Barnhelm und Emilia Galotti erklärte der Kurfürst als seine Lieblingsstücke und seine Gemahlin hatte nicht verschmäht
selbst als deutsche Schriftstellerin aufzutteten. So vereinte sich alles um den Bemühungen jener Männer den Boden zu bereiten, deren Namen als die der Pioniere der neuerwachten Bildung in unserem Vaterlande in ewigem dankbaren Andenken bleiben werden. Der Bergrat Georg Lori, eines Bauern Sohn von Gründ! bei Steingaden,
ein Schüler des hochverdienten Jckstatt,
der auch
des Kurfürsten Lehrer
gewesen, und der Münzrat Dominik Limbrun, dessen Vater Landgerichts schreiber zu Viechtach war, sind die beiden, welche für den Ruhm glühten
die Leuchte der Wissenschaft, die einst so hell in ihrem Vaterlande gelodert, wieder neu zu entzünden. Sie faßten den Entschluß gleichstrebende Geister
ihrer Heimat zu einem gelehrten Vereine zu verbinden. Am 12. Oktober des Jahres 1758 traten mit ihnen zuerst der Hoftat der Lehrer Stigler vom Kadettenkorps,
Stubenrauch, Advokat Bergmann, Ministerialsekretär
Lipowsky,
dann
die Benedikttner Döpsel,
Amort
und
Goldhofer von Polling, Propst Innozenz und Leeb von Schlehdorf, Kennedy von den Regensburger Schotten, Pfarrer Miedamer,
die Augustiner Meyer und Manz, der Theologieprofessor Huber und Wagenecker, des Herzogs
Klemens Hofkaplan, zu jenen Zwecken zusammen. Der Bergwerkspräsident GrafSiegmundvon Haimhausen wurde zum ersten Präsidenten erwählt, der Minister Graf Törring und
der Kanzler Kreittmayr für die edle Sache
gewonnen. Am 28. März 1759, seinem Geburtstage, unterzeichnete Max fteudig
bewegt die Stiftungsurkunde und Statuten für die neue Akademie der Wissen schaften, die sich in zwei Klassen, eine historische und philosophische, teilte. Er
verlieh ihr ein eigenes Siegel mit der Umschrift „Tendit ad aequum“ und die Sclbstzensur für die Arbeiten ihrer Mitglieder, deren die junge Gesellschaft schon nach einem Jahre 96 zählte.
Durch die
öffentlich
ausgesprochenen
Worte: „Ohne Vaterlandsgeschichte keine Vaterlandsliebe", ermunterte er besonders das Wirken der historischen Klasse. Kennedy, Braun, Osterwald
und der Protestant Lambert wurden als Professoren an die neue Anstalt
58. Gründung der Akademie der Wissenschaften zu München 1759.
berufen, welche schon im Jahre 1763 ihre eigene Buchdruckerei erhielt.
313
Auch
das astronomische Observatorium auf dem Gasteig entstand und wurde von
dem geistlichen Ratsdirektor Osterwald geleitet, dem ein Fräulein von Schnee
weiß als gelehrter Gehilfe zur Seite stand.
Unter den Mitgliedern prangen in überraschender Zahl die Namen der ersten Adelsgeschlechter des Landes; das Wirken der neuen Gesellschaft war
über die Mauern der Klöster, besonders der Benediktiner, der anderthalbtausend jährigen Pfleger der Wissenschaften, gedrungen und ihre Edelsten zierten die Reihen der Akademiker. Geistliche und Weltliche, Adelige und Bürgerliche beeiferten sich in diesen Blütetagcn des Instituts mit edlem Freimut der Wahrheit zu dienen.
Ein frisches, wissenschaftlich aufklärendes Streben
ging damals durch alle Gauen Süddeutschlands, Ständen Liebe und Begeisterung für das Edle kümmert
Schlechte
es entfachte in allen und Schöne. Unbe
Genossenschaft oder Personen ward alles Verrottete und schonungslos aufgedeckt und verfolgt. Ohne alle Selbstsucht
um
eiferten aufgeklärte Geistliche gegen jahrhundertelang gehegten Aberglauben. Der edle Graf Savioli, selbst Besitzer großer Güter, spricht goldene Worte
für den bisher tief verachteten Landmann und fordert energisch zu dessen Ent lastung von drückenden grundherrlichen Fronden und bureaukratischer Willkür
auf.
Graf Haslang schildert in feierlicher Sitzung schonungslos die sozialen
und politischen Gebrechen Bayerns und gießt über das verrottete Zunftwesen den bittersten Spott. „Der Zunftzwang", sagte er, „versagt dem geschicktesten Arbeiter, wenn er arm ist, den ihm von der Natur verliehenen freien Gebrauch
seines Kopfes und seiner Hände und verdammt ihn zu lebenslänglicher Dienst
barkeit.
Meister werden nur Meistersöhne oder solche, die sich entschließen
können mit irgend einer zahnlosen Meisterswitwe oder einer buckligen Meisters
tochter vor den Altar zu treten.
Das hält uns im alten Schlendrian fest,
macht uns zum Spotte der Nachbarn und entvölkert das Land, dessen tüch tigste Söhne ihr Glück auswärts suchen." Er eifert für volle Freiheit des Handels und erklärt, daß jenes Land das reichste sei, welches die größte
Bevölkerung zähle und die ausgebreitetste Industrie besitze, kurz der hellsehende Patriot sprach bereits 1772 Worte, die heute jedem Fortschrittsmanne Ehre machen würden. Und so blieb unter der segensvollen Regierung Maximilians III. trotz
manchem inneren bald wieder beigelegten Zerwürfnis die Akademie im schönsten Aufblühen. Ihre ferneren Schicksale unter den nachfolgenden Herrschern zu verfolgen ist hier nicht am Platze, das eine aber möge noch erwähnt werden, daß sie mit würdiger Feier und Pracht, unter Teilnahme des für Förderung
alles Edlen und Nützlichen begeisterten Königs Maximilian II. und einer Menge aus weiter Ferne herbeigeeilter Festgäste int Herbst des Jahres 1859
ihr erstes Jubiläum beging.
314
59. Kulturelle Zustände während der Regierung des Kurfürsten Max III. Joseph.
59. Kulturelle Zustande in Bayern während der Regierung des Kurfürsten Max III. Joseph. Don Wilhelm Schreiber.')
Anfänglich hatten die bayerischen Akademiker wegen ihrer wissenschaft lichen Leistungen mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil unrichtige An schauungen von der Natur und ihren Kräften und allgemein angenommene
Man hielt die Akademie
Irrtümer tiefe Wurzeln im Volke geschlagen hatten.
für einen Verein von Freigeistern, welcher die Religion unterdrücke.
Unwissende
oder falsch berichtete Leute bekreuzten sich beim Erblicken eines Akademikers und schrieben jede mißliebige Regierungshandlung und alle elementaren Unglücks fälle den Freidenkern zu.
Allmählich jedoch verschwanden die Vorurteile gegen sie und ihre Schriften erweckten in immer größeren Kreisen eine strebsame Liebe für das Edle und Schöne.
Ihre wissenschaftlichen Arbeiten suchten sie dadurch zum Gemeingut
zu machen, daß sie Zeitschriften über alle Fächer der Wissenschaft veröffent
lichten. Die beliebtesten Blätter wurden „Der Patriot in Bayern", das „Jntelligenzblatt" und das „Münchener Wochenblatt". Die einzigen politischen Zeitschriften „Münchener Bote" unh „Münchener Zeitung" waren wie in allen deutschen Ländern einer strengen Zensur unterworfen.
Von der Münchener Akademie trennte sich die Naturwissenschaft
und der Rektor des Gymnasiums und Lyzeums in Burghausen, Dr. Franz v. Hoppenbichl, Mitglied zahlreicher Gesellschaften, stiftete in Verbindung mit mehreren Geistlichen, Jesuiten, Beamten und Offtzieren (1759) in Altötting eine
landwirtschaftliche Akademie.
Der ursprüngliche Zweck des neuen Vereins war
Verbesserung der deutschen Sprache und Förderung moralischer Wissenschaften und des Haushalts; nach kurzem Bestände dehnte sich seine Tätigkeit auf die Landwirtschaft und die einschlägigen Naturwissenschaften aus. Max III. bestätigte diese Akademie unter dem Namen
„Kurbayerische Landesökonomie-
Gesellschast" mit dem Rechte ihre Verhandlungen durch
den Druck zu ver
öffentlichen. Als 1772 die landwirtschaftliche Akademie nach Burghausen, dem Sitze eines Rentamts- und Regierungsbezirkes, mit einem Gymnasium und
Lyzeum, vielen Beamten und Professoren, verlegt wurde, hielt der Präsident derselben, Freiherr von Hartmann, in der ersten öffentlichen Sitzung (28. März) eine Rede über die Beschaffenheit und Verbesserung der Erdarten, deren Ver öffentlichung ihn auch im Auslande bekannt machte; König Gustav Wasa von Schweden verlieh ihm den Wasaorden. Die Burghausener Akademie machte sich um die Landwirtschaft sehr verdient; sie lehrte lange vor dem Nationalöko nomen Thaer die Wechselwirtschast und verurteilte die Abtreibung der Wal
dungen und die Zertrümmerung der Landgüter. ’) „Geschichte Bayerns," II. Band, S. 170 ff.
Aus ihrer Mitte
Freiburg 1891, Herder.
gingen
59. Kulturelle Zustände während der Regierung des Kurfürsten Max III. Joseph.
315
treffliche Abhandlungen hervor über die Brache, den Hopfen-, Reps-, Mais und Rübenbau, über Stallfütterung und Viehzucht, Wiesenbau, Gipsdün
gung rc.
Zur Pflege und Verbreitung der Bienenzucht wurden Bienenmeister
angestellt und Schriften über Bienenzucht herausgegebe».
Die von der Aka
demie gestellten Preisfragen über den Getreidehandel, Vorsorge gegen Teuerung lind die beste Obstbaumzucht wurden zur allgemeinen Befriedigung gelöst.
Den Abhandlungen war auch ein belehrender Kalender über alle in der Land wirtschaft auf jeden Monat treffenden Verrichtungen beigefügt und in der akademischen Zeitschrift „Bayerisch-ökonomischer Hausvater" auf wichtige wissen
schaftliche Arbeiten des Auslandes und landwirtschaftliche Erfindungen, nament lich die neuen, verbesserten Ackerbaugeräte'und Maschinen, aufmerksam gemacht.
Die Burghausener Akademie erstellte sich besonders der Gunst des Konferenz ministers Grafen von Berchem, der sie über die Münchener Akademie stellte,
weil sie, wie er in einem Briefe an Freiherrn v. Hartmann bemerkte, dem Lande zu größerem Nutzen gereiche. Während der napoleonischen Kriegszeit mußte der Verein (1802) seine ersprießliche Tätigkeit aussetzen, unter König Max I. gingen (1810) aus demselben die landwirtschaftlichen Vereine hervor.
Während die Naturwissenschaften mit immer größerem Eifer und Erfolge
gepflegt wurden, beherrschte die deutsche Literatur mit wachsender Macht das geistige Leben. Wie in Frankreich unter Ludwig XV. und in England unter Karl II. der Widerstand des Bürgertums gegen die Despotie der Regierung und die privilegierten Klassen und die Anhänglichkeit an das häus
liche und familiäre Leben in der Literatur lebhaften Ausdruck fand, so nahm
auch die deutsche Literatur zu gleicher Zeit eine neue Richtung, welche in der Leipziger und Hallenser Dichterschule durch Rabener, Gellert, Gleim, Uz, Kleist und Klopstock vertreten war.
Rabener sprach in seinen vertrauten Briefen
mit Hohn und Schmerz von der Verschwendung der Höfe, dem Steuerdruck
und Elend der Untertanen.
Mit seinen eifrig gelesenen und in viele Sprachen
übersetzten Satiren regte er bei den Deutschen das Selbstbewußtsein und die Erkenntnis des eigenen Wertes an und geißelte die Ungerechtigkeit im Handel und Wandel und im Richteramte.
Auch Gellert begann seine schriftstellerische
Tätigkeit mit der Satire, indem er in seinen „Fabeln"
und
„Erzählungen"
die Gebrechen der Gesellschaft und die Mißstände des öffentlichen Lebens schilderte. Als Lehrer an der Universität Leipzig (1744—1769) wirkte er auf
das sittliche Gefühl und die Erhöhung der Frömmigkeit besonders unter den bürgerlichen Klassen.
Seine geistlichen Lieder wurden in die lutherischen und
reformierten Gesangbücher ausgenommen und selbst in katholischen Ländern mit Beifall gelesen. Auch in den Kirchen Bayerns fand (1772) der Volks
gesang allmählich Eingang; doch ward er vom Landesherrn nicht begünstigt; Kurfürsten Max III. gab der figurierten Musik den Vorzug mit der Er klärung, die Figuralmusik stimme auch zur Andacht und durch den allgemeinen Gesang verlerne das Volk das Beten. Durch Gellerts vielseitige Wirksamkeit
316
59. Kulturelle Zustände während der Regierung des Kurfürsten Max III. Joseph,
blieb Leipzig die Hauptstadt der deutschen Literatur und in derselben vereinigte sich die vornehme und wohlhabende Jugend aus Deutschland und den fremden
Staaten um neben den ernsten Studien die feinen Sitten einer größeren Stadt kennen zu lernen und zu üben.
Eine Zierde der Leipziger Schule war der Bayer Michael Huber, der (1727) in Frontenhausen in Niederbayern geboren und von unbekannter, vor nehmer Abkunft war.
Nach Vollendung der höheren Studien begab sich
Huber (1754) nach Paris,
wo er mit seltener Gewandtheit- und Meisterschaft
deutsche Gedichte ins Französische übersetzte um die deutsche Literatur auch in Frankreich zu verbreiten und den Franzosen Achtung vor deutscher Bildung einzuflößen. Seine ersten Übersetzungen wurden in Frankreich beifällig gelesen
und erwarben ihm die Verehrung aller seiner Zeitgenossen.
Seinen Ruhm
erhöhte er (1766) durch Veröffentlichung einer auserlesenen Sammlung deutscher Dichtungen nebst einer vorzüglichen Übersicht der Geschichte der deutschen Dicht
kunst. Dieses in einem fließenden Französisch geschriebene Werk widmete er dem Kurfürsten von Bayern in der Absicht, daß er von ihm in sein Vater land auf einen Lehrstuhl gerufen werde; allein sein Wunsch wurde nicht berücksichtigt. Durch Vermittlung seiner Freunde in Deutschland und der
sächsischen Kurfürstin-Witwe Marie Antonie, einer bayerischen Prinzessin, wurde Huber (1767) an die Universität Leipzig berufen um den erledigten Lehrstuhl
der ftanzösischen Sprache und Literatur zu übernehmen.
Durch seine geistvollen
Vorträge über die ftanzösische Literatur und durch seine unübertroffenen Übersetzungen der klassischen Werke der Deutschen erhöhte er den Ruhm der
Leipziger Schule.
Durch Hubers umfassende und gründliche Kenntnisse in
der Kunst wurde sein Haus in Leipzig der Mittelpunkt aller Künstler und Kunstfteunde in und außer Deutschland,
namentlich zur Zeit der Leipziger
Messen. Alle ausgezeichneten Staatsmänner und Dichter, unter ihnen v. Gagern und Schiller, wurden von ihm und seiner Familie gastlich ausgenommen und lernten bei ihr Übung in der ftanzösischen Sprache und eine vornehme
Gesittung; auch Fürsten und Grafen, unter ihnen der preußische Staatskanzler Fürst von Hardenberg, besuchten ihn wiederholt und erfreuten sich an dem
Reichtume seiner Kenntnisse und der Feinheit seiner Bildung. Die literarische Bewegung in Norddeutschland drang in Bayern um so
leichter ein, als die Münchener und Burghausener Akademie in allen Schichten der Bevölkerung ein aufblühendes geistiges Leben angefacht hatten.
Seit Max
Emanuel beherrschte in München die ftanzösische Dichtung das ganze Gebiet
der Literatur und des Schauspiels und an der Hofbühne kamen nur noch Dramen von Corneille, Racine, Moliere, Merville rc. zur Aufführung. In den größeren Städten veranstalteten die Jesuiten mit ihren Zöglingen lateinische
Schauspiele, Tragödien und Opern, die an festlichen Tagen mit bewunderter Gewandtheit und Prachtentfaltung gegeben wurden.
Zahllose Komödienttuppen
durchwanderten das Land und verdarben mit dem Inhalte ihrer Produktionen
59. Kulturelle Zustände während der Regierung des Kurfürsten Max III. Joseph.
317
und ihrer rohen Darstellungsweisc die Sitte und den Kunstsinn des Volkes. Während der Fastenzeit wurden in den Städten und Märkten Passionsspiele
in so ärgerlicher Weise von unfähigen, nichtswürdigen Personen aufgeführt, daß die heiligsten Religionsgeheimnisse geschändet wurden.
Kurfürst Max III.,
ein Freund der deutschen Dichtung und Kunst, ernannte (1753) den Grafen Joseph von Seeau,
einen entschiedenen Gegner alles Franzosentums,
zum
Hvftheater- und Hofmusikintendanten mit dem Auftrage das ganze Schau spielwesen umzuschaffen. Die große Aufgabe löste Seeau dadurch, daß er
die französischen Komödianten von der Hofbühne entfernte und in München
eine Schule zur Heranbildung befähigter Schauspieler und Schauspielerinnen errichtete. Nur jene, welche in der dramatischen Schule zu München unter richtet worden waren, erhielten die Erlaubnis in den Städten und auf dem Lande solche Schauspiele aufzuführcn, welche den Sinn des Volkes für die
Kunst besserten
und die Sittlichkeit hoben.
Der Rechtspraktikant Johann
Nieser bildete mit großem Geschick eine Schauspiclertruppe, über die er selbst die Oberleitung übernahm. Im Faberbräuhause in München eröffnete er (1771) in Anwesenheit der kurfürstlichen Familie und der höchsten Hofbeamten
sein neu errichtetes deutsches Theater mit dem Schauspiele
„Der Tambour
bezahlt alles"; diesem folgten „Minna von Barnhelm" und „Emilia Galotti". Als Lessing (1775) mit dem Prinzen Leopold von Braunschweig durch München
reiste und der Aufführung seiner Dramen
int Faberbräuhause
beiwohnte,
spendete er dem Direktor Nieser ehrendes Lob und die Akademie der Wissen schaften in München zeichnete ihn durch eine goldene Medaille mit einem Preis diplom aus?)
An jedem Gymnasium wurde das Schuljahr mit einem Schauspiele oder einer Oper geschlossen, welche die Schüler der Rhetorik (oberste Gymnasial
klasse) aufführten
und meist selbst verfaßt hatten;
namentlich taten sich die
Kandidaten am Freisinger Lyzeum durch rühmliche Leistungen hervor.
Alle
gebildeten Stünde wurden von einem unwiderstehlichen Triebe ergriffen zu dichten und Theaterstücke zu schreiben. Diese poetischen Erzeugnisse, welche
zumeist dem historischen Gebiete angehörten, waren zwar von einer poetischen Vollendung weit entfernt, aber von deutschem Geiste durchhaucht und von deutscher Sitte getragen.
Max III. begünstigte das eifrige Streben nach deutscher Schauspielkunst, wandte sich jedoch mit Vorliebe der Tonkunst zu. In seiner frühesten Jugend hatte er sich mit großer Begabung musikalischen Studien gewidmet ') Auf dieser Bühne, die als ein echtes und richtiges Volkstheater zu gelten hat, wurden zwei Jahre nach der Premiere des Stückes in Mannheim (Januar 1782) Schillers „Räuber" aufgeführt „mit gnädigster Bewilligung", nämlich am 26. Januar und 2. Februar 1784; „Kabale und Liebe" und „Don Carlos" folgten alsbald (1788 und 1789). Vgl. Karl Trautmann, „Sieben Theaterzettel", Festgabe zur Münchener Schillerfcier 1905.
318
59. Kulturelle Zustände während der Regierung deS Kurfürsten Max III. Joseph,
und auf dem Klavier, der Violine, dem Violoncell und der Gambe (eine Art
Violoncell) eine meisterliche Fertigkeit erreicht.
Noch als Kurfürst ließ er sich
von dem Kompositeur Bernasconi im Kontrapunkt unterrichten und komponierte
mehrere kirchliche Stücke, darunter ein lobwürdiges „Stabat Mater".
Bei Hof
konzerten glänzte Max Joseph als Solist auf dem Violoncell. Mit ihm wett eiferte seine Schwester Marie Antonie, die spätere Kurfürstin von Sachsen,
welche in der lateinischen und den modernen Sprachen wie in der Malerei
trefflich unterrichtet war und sich zu einer gefeierten Sängerin und Pianistin Marie Antonie komponierte mehrere Kantaten und Opern und
ausbildete.
dichtete selbst den Text in lateinischer und französischer Sprache.
Die musi
kalische Akademie in Rom ernannte sie zu ihrem Ehrenmitgliede.
Bei der Aufführung ihrer Oper „Talestri“ in Dresden sang sie selbst die „Talestri“ und wurde als Sängerin und Komponistin allgemein angestaunt.
Max
Joseph
erbaute
nach
dem Plane
des
Architekten
Ihr Bruder
Franz
Cuvillies
(1752—1760) neben der Residenz ein neues Opernhaus, eines der damals schönsten Theater in Deutschland, mit einem Kostenauswande von 170000 Gulden und befahl,
daß an jedem Montag freier Eintritt sei.
Die italienische und
französische Musik, die vorzüglich am Münchener Hoftheater gepflegt wurde, ward allmählich von den großen Tondichtern Händel und Bach verdrängt
und durch ihre meisterhaften Schöpfungen der deutschen Tonkunst der Weg gebahnt.
Der Begründer der modernen Musik wurde Christoph Gluck,
der (1714) in Weidenwang in der Oberpfalz geboren den ersten musikalischen Unterricht in Böhmen, wo sein Vater auf den Gütern des Fürsten Kaunitz
im Dienste stand, unter steter Rot und Arbeit erhalten hatte.
Rach einer
Reise durch Italien und England begab sich Gluck nach Wien, wo er zum
Kapellmeister der Oper ernannt wurde.
Seine Kompositionen zeichnen sich
durch altklassische Einfachheit und natürliche Wahrheit aus; seine Musik gibt den Gedanken des Textes wieder. Am neuen Residenztheater in München
wurde (1773) die erste Oper von Gluck „Orfeo ed Euridice“ gegeben und
nach zwei Jahren folgte Mozarts Oper „La finta giardiniera“, bei deren Ausführung der geniale Komponist selbst zugegen war. Der junge Mozart verweilte einige Zeit in München und reichte (1777) beim Kurfürsten ein Bittgesuch um Aufnahme in die bayerische Hofmusikkapelle ein; allein damals herrschte noch die italienische Musik vor und Max gab dem deutschen Ton
dichter den Rat, er solle vorher nach Italien reisen und sich berühmt machen. Hierüber bemerkte Mozart in einem Briefe an seinen Vater: „Da haben wir's; die meisten großen Herrn haben einen entsetzlichen Welschlandsparoxysmus."
Das neue Leben auf dem Gebiete der Literatur und Musik drang auch
in die bildenden Künste. Die christliche Malerkunst war längst unter gegangen und man wandte sich im 18. Jahrhundert vorzugsweise der Land schaft, dem Genre, der Mythologie und zum Teil der Geschichte zu.
Max III.
stiftete (1770) eine Akademie der bildenden Künste unter dem Namen „Die
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
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neue Maler- und Bildhauer-Akademie; er ließ begabte Jünglinge
im Auslande auf seine Kosten
unterrichten und ernannte die tüchtigsten zu
Professoren der Akademie um einheimische Talente für die bildenden Künste zu wecken. Die neue Anstalt leistete für Verbesserung des allgemeinen Geschmackes
durch Anleitung der Talente und Hinweisung auf das antike Schöne Ver dienstliches. Es entstanden mehrere schöne Privatbauten, wie das nach dem Plane Cuvillies gebaute Cotta-Haus in bet Theatinerstraße, das zur Unter
bringung der kurfürstlichen Bibliothek bestimmt war, die Paläste des Grafen Törring (jetzt Hauptpostgebäude) und des Grafen von Preysing (Bankhaus),
welche von Cuvillies und Effner im französisch-italienischen Stile erbaut wurden. Die beiden Künstler und Brüder Ägid und Kosmas Asam erbauten auf eigene Kosten und nach eigenem Entwürfe die St. Johanniskirche in der Sendlingerstraße. Max Joseph hatte als sechsjähriger Knabe (16. Mai 1733)
den Grundstein zu dieser Kirche gelegt, welche (1746) im reichen französisch italienischen Prunkstile ausgeführt wurde. Auch der Kurfürst ließ neue Bauten aufführen, soweit es die mißliche Finanzlage gestattete.
Nach Vollendung des Residenztheaters erbaute er die „Jsarkaserne" und ersetzte (1759—1765) die zwei über die Isar führenden hölzernen Brücken nach der Vorstadt Au durch steinerne, weil der Verkehr durch das Anwachsen der Münchener Bevölkerung
immer stärker wurde. Zugleich legte er den Grundstein zu einem Militärlazarett, das 1777 eröffnet und nach 110 Jahren in das Luitpoldgymnasium umgeändert wurde. Zur Heranbildung brauchbarer Offiziere stiftete Max (1756) eine Militärschule (Kadettenkorps) und verlegte sie in das von Herzog Klemens
erbaute Schloß außerhalb des Karlstores. der Kaiserin Amalie,
die
Nach dem Beispiele seiner Mutter,
(1754—1760) das St. Elisabethspital gegründet
hatte, ließ er den Barmherzigen Brüdern und Schwestern außerhalb des Sendlinger Tores Kloster nebst Kirche bauen, aus denen später das allgemeine Krankenhaus hervorging. Das Waisenhaus, welches der Faßbinder Poppel
von der Vorstadt Au, ein geist- und gefühlvoller Bürger, nach dem österreichi schen Erbfolgekriege gestiftet hatte, unterstützte der Kurfürst im geheimen mit bedeutenden Geldsummen.
60. Herzogin Maria Anna von Bayern. Don Theodor Bitterauf*
Politisierende Frauen scheinen vielen ein Unding zu sein, weil durch sie
weder die Interessen der Politik noch das Wesen der Weiblichkeit gewinnen könne. Und doch hat Fürst Bismarck einmal bedauert, daß den Frauen bei
uns nicht mehr Einfluß auf die politischen Verhältnisse gestattet ist: „Halten die Frauen fest zur Politik, so halte ich die Politik für gesichert. . . In der Hauptsache möchte ich sagen: das, was den Unfug verhindert, zu dem die Männer geneigt sein könnten, das ist hauptsächlich die Aufgabe der Damen."
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
320
Dieser Aufgabe ist vor mehr als 100 Jahren eine bayerische Fürstin in geradezu einzigartiger Weise gerecht geworden, indem sie mehr als ein halbes Jahrhundert unermüdlich für das Wohl Bayerns, für das Aufblühen
Deutschlands unter Preußens Führung tätig war und sich den Ruhm erwarb eine erste Vorkämpferin des Gedankens gewesen zu sein, der uns Deutsche seit 1870 mit gerechtem Stolze erfüllt;
ihrer Tatkraft verdankt Bayern seine
Existenz.
Herzogin Maria Anna Josepha Charlotte von Bayern, der so große Aufgaben zu erfüllen Vorbehalten waren, wurde geboren zu Schwetzingen am 22. Juni 1722 als zweite Tochter des Pfalzgrafen Joseph Karl Emanuel von
Sulzbach und seiner Gattin
Elisabeth Auguste von Neuburg.
Nach
dem
stützen Tode ihrer Eltern kam die Siebenjährige mit ihrer älteren Schwester an den Hof des Kurfürsten Karl Philipp von der Pfalz nach Mannheim.
Hier fand am 17. Januar 1742 eine Doppelhochzeit statt. Maria Annas ältere Schwester Elisabeth Augusta vermählte sich mit dem Herzog Karl Theodor von Sulzbach, ihrem Vetter, dem späteren Kurfürsten von Kurpfalz
und (seit 1777) auch von Bayern;
Maria Anna selbst folgte dem Herzog
Klemens Franz von Paula, dem Sohne des Herzogs Ferdinand Maria von Bayern, nach München. Eine dritte Schwester, Maria Franziska Dorothea, wurde
durch ihre Ehe mit Friedrich Michael von Zweibrücken (1746) die Mutter unseres ersten Königs Maximilian Joseph. Als Maria Anna nach München kam, war eben Kurfürst Karl Albert in Frankfurt zum Kaiser gekrönt worden als Karl VII.; er sollte seine Residenz erst wieder als ein Sterbender betreten;
auch die junge Herzogin
Klemens mußte mit ihrem Gemahl nach Augsburg flüchten und erst nach dem Frieden von Füssen schienen wiederzukehren.
für sie die Tage der Ruhe und des Glückes
Bei den Hoffestlichkeiten war die Dreiundzwanzigjährige wegen
ihres leichten, rheinischen Blutes und ihres Frohsinns gern gesehen; der Kurfürst selbst, der erst 1747 eine sächsische Prinzessin heiratete, fand viel
Gefallen an ihr. Ihre Briefe, besonders an ihren „eher Papa“ Herzog Christian von Zweibrücken, schäumen oft über von jugendlichem Übermut; ihr
geistreicher Spott wirkt manchmal sehr scharf.
An englischen Hunden
und
schnellen Pferden, aber auch an französischen Komödien und italienischen Opern, an Maskeraden und Mummereien fand sie ihre helle Freude; ein Bild in Schleiß heim stellt sie dar mit einer Larve in der Hand. Ihr Gemahl war selbst ein vortrefflicher Sänger und unterhielt eine ausgezeichnete Hosmusik, die sich
bei festlichen Gelegenheiten hören ließ. Er besaß eine erlesene Gemäldesamm lung und eine stattliche Bibliothek; gerne verkehrte er mit Gelehrten und Künstlern.
Sein Sekretär war der spätere Hofbibliothekar Andreas v. Oefele,
der vor der Gründung
der Akademie
vielleicht
der gelehrteste Mann in
München war. Auch Johann Georg v. Lori, der um die Gründung dieses wissenschaftlichen Instituts in München sich besonders verdient machte, und
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
321
noch viele andere Gelehrte unterhielten Beziehungen zu dem Hause des Herzogs Klemens. Das Lieblingsstudium dieses Fürsten bildete die Chemie und die Alchimie; in dem Streben nach Bestiedigung dieser wissenschaftlichen Neigung
hatte er das Unglück bei einem Experiment sein Augenlicht beinahe völlig einznbüßen.
Das Jahrhundert der Freimaurer und Jlluminaten, des Wilhelm Meister und der Zauberflöte schuf sich auch am Hofe Max III. Josephs von Bayern ein Organ, in welchem die Bedürfnisse eines gesteigerten Gefühlslebens und die Neigung zu geheimnisvollen allegorischen und symbolischen Spielereien ihre
Befriedigung fanden.
Des Kurfürsten Schwester Maria Antonia, die Friedrich
der Große die Blüte der deutschen Prinzessinnen nennt, gründete die Gesellschaft der Inkas, deren Mitglieder hervorragende Beweise abgelegt haben mußten, daß sie einer wahrhaften Freundschaft fähig seien.
In diesem Kreise begegnet
uns auch Maria Anna wieder mit dem bezeichnenden Beinamen „Constante“, während ihr Gemahl als Ordensmitglied „Timide“ heißt. Doch die Zeiten waren zu ernst und der Sinn der Herzogin stand nach Höherem, als daß sie in solchen Tändeleien sich ganz verloren hätte. Sie empfand den Füssener Frieden, der Bayern nötigte allen Ansprüchen auf österreichischen Besitz zu entsagen, als eine Schmach und darum suchte sic
ihren Gemahl zu einem förmlichen Proteste dagegen zu bestimmen oder wenigstens seinen Beitritt zu diesem Verzicht zu hintertreiben. Die Kühnheit dieses Planes,
dem in seiner abgeschwächten Form auch der Herzog von Zweibrücken bcitrat, zu ermessen muß man sich gegenwärtig halten, daß Herzog Klemens von seiner Großmutter her die Herrschaft Reichsstadt und andere Güter in Böhmen
besaß und daß daher der kaiserliche Hof die gewünschte Beitrittserklärung zu den Präliminarien durch Repressalien an diesem Besitz erzwinge» konnte. Zur Abwendung dieser Gefahr trat Herzog Klemens schon am 10. Mai 1745 seine Rechte an seinen Schwager Karl Theodor von Kurpfalz ab, und als man
sich im Herbste dieses Jahres alle Mühe gab ihn zur Teilnahme an einer Reise des Kurfürsten zu
bewegen, die dieser zu einer Begegnung mit dem
Kaiserpaar unternahm, war es wiederum Maria Anna, die ihren Gemahl trotz aller Gegenvorstellungen in München zurückhielt, in der richtigen Voraus setzung, man wolle ihm nur bei dieser Gelegenheit den Verzicht auf seine Ansprüche entlocken.
Noch bedeutender aber war der Einfluß, den die Herzogin auf den Kurfürsten selbst ausübte. Im 18. Jahrhundert pflegten die kleineren deutschen Fürsten um Geld anderen Staaten ihre Truppen zu überlassen.
Wohl ver
dammten unsere Lessing, Schiller, Seume mit beredten Worten solchen Menschen
handel; wohl schreibt auch Friedrich der Große mit Entrüstung über einen bayerischen Subsidientraktat: „Sollte die Freiheit, dieses kostbare Vorrecht, im 18. Jahrhundert den Fürsten weniger teuer sein, als sie es den Patriziern
im alten Rom gewesen ist?"
Aber die Landstände bezeichneten dieses System
Kronseder, Lesebuch zur Geschickte Bayerns.
21
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
322
selbst gelegentlich als wünschenswert und eine von moralischen Gesichtspunkten getragene Opposition gegen diesen Seelenverkauf wurde vor dem Siebenjährigen Krieg nicht laut.
Nach dem Frieden von Füssen handelte es sich nun für
Maria Theresia um nichts anderes, als die bayerischen Truppen auf solchem
Wege zum Kampf gegen Friedrich II. von Preußen zu gewinnen, der doch im Österreichischen Erbfolgekriege Bayerns Bundesgenosse gewesen war. Wenn es dazu nicht kam, so war das lediglich das Verdienst der Herzogin, die in
diesem Fall den Münchener Hof zu verlassen drohte.
Ihre Gegner, die öfter*
reichische Partei am Hofe, hätten sie deshalb gerne zu ihren rheinischen Ver wandten geschickt um ihren Einfluß bei Max Joseph zu brechen.
Sie aber
ging darauf nicht ein und wünschte nun erst recht das Ohr ihres Vetters z»
besitzen um ihn von seinen bösen Ratgebern zu befreien.
„Sie können nicht
glauben, wie man ihn täuscht und peinigt," schreibt sie an den Herzog von
Zweibrücken; verderben.
„er muß sogar zum Werkzeug dienen die redlich Denkenden zu
Kurz, er ist zu beklagen und ohne schuldig zu sein ist er daS
Opfer fremder Interessen. . .
Was mich betrifft, die kein Interesse als das
ihres Hauses kennt, so sehe ich darüber hinweg, daß man es vielleicht lächerlich finden wird, wenn eine Frau sich mit solchen Dingen beschäftigt; ich spreche davon und setze Himmel und Erde in Bewegung, daß jeder redliche Mensch
dem Kurfürsten von einem ähnlichen Entschluß abrät."
„Ich spreche freimütig
zum Kurfürsten," bekennt sie ein andermal, „und das entzückt mich um so mehr, da der Nutzen unseres Gesamthauses das Ziel aller meiner Worte ist.
Man beurteilt mich hier sehr verschieden und hält mich für unwürdig genug
der französischen Partei anzugehören, in einer Zeit, wo ich nur den Interessen des Hauses dienen will und dienen werde. Daraus kann man sehen, daß sie
die anderen nur nach sich selbst beurteilen. anderen als seinem Herrn anzuhängen."
Denn es ist schimpflich einem
Ein andermal wies sie das unwürdige
Ansinnen eines Diplomaten mit den stolzen Worten zurück, durch mehrfache Bande an das Haus Wittelsbach geknüpft wolle sie an dessen Vergrößerung
arbeiten, so lange sie könne. Ihr Lehrmeister in der Politik war kein anderer als der preußische Gesandte Klinggräffen, der den Leistungen seiner Schülerin alle Anerkennung zollt; er war es auch, der der Herzogin durch den ftanzösischen Gesandten Chavigny von König Ludwig XV. ein Geschenk von 1500 Dukaten erwirkte. Man hat sie darum als undeutsch verurteilt; aber man übersieht, daß solche
Geschenke und Pensionen damals die Stelle unserer Ordensauszeichnungen vertraten,
daß nicht nur die bayerischen Staatsmänner solche „Handsalben"
nicht verschmähten sondern auch die Minister Maria Theresias für ihre Zwecke ähnlicher Mittel sich bedienten. Und wie verwendete Maria Anna dieses Geld?
Getteu ihrer Devise lediglich im Interesse des Gesamthauses Wittels
bach, indem sie auf einer Reise nach Mannheim und nach Bonn, der Residenz des Kurfürsten Klemens August von Köln, sich bemühte die drei Höfe enger
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
1746/47 ist im wesent
Die wittelsbachische Hausunion von
zu verknüpfen.
323
lichen ihr Werk.
Durch ihren Gemahl, der die Stellung eines Hofkriegsratspräsidenten bekleidete, ward sie auf die Bedeutung einer tüchtigen Heeresmacht aufmerksam
und darum wurde sie nie müde dem Kurfürsten, der nicht zum Soldaten
geboren schien,
die Notwendigkeit einer solchen vor Augen zu stellen.
Als
der Finanzminister Berchem aus Sparsamkeitsrücksichten die Röcke der Soldaten
für überflüssig erklärte und sie auch für den Winter in schlechte Lcinenkittcl stecken
ließ, schrieb Maria Anna
dem Kurfürsten,
wenn er seine Soldaten
nicht mehr kleiden könne, wolle sie selbst die Sorge dafür übernehmen; denn so sei es eine Schande für die bayerische Nation. Als im Jahre 1778 der neue Kurfürst Karl Theodor die von seinem Vorgänger gegründete Kadetten anstalt aufhob und der bisherige Vorstand derselben, Oberst Ancillon, sich in seiner Bekümmernis an die Herzogin Klemens wandte, tröstete sie ihn: „Sei
er unbekümmert, lieber Oberst; ich werde mir's von meinem Schwager zur Gnade ausbitten, daß ich Mutter dieser Verlassenen sein darf." Auf ihr Geheiß fertigte der Oberst eine Zeichnung, die sie darstellt, wie sie die zu ihr
flüchtenden Eleven unter ihren schützenden Mantel nimmt.
Diese Zeichnung
überreichte sie dem Kurfürsten und volle elf Jahre bestritt sie die Kosten für
die Herzogliche Marianische Landesakademie, bis diese mit der neuen Militär akademie verschmolzen wurde. Schon beim Ausbruche des Siebenjährigen Krieges, in welchem Bayern
der Kaiserin Maria Theresia Heeresfolge leistete, offen auf die Seite des Königs von Preußen.
stellte sich Maria Anna Sie wußte mit seinem
Minister in Regensburg, dem Freiherrn von Plotho, und mit dem hannove
rischen Gesandten
daselbst Beziehungen
anzuknüpfen.
Nach der Niederlage
bei Hochkirch und dem Tode von Friedrichs Lieblingsschwester, der Markgrüfin von Bayreuth, sandte Plotho seinem Gebieter zum Trost und zur Illustrierung der Tatsache, daß „an Orten, wo es nicht vermutet werden sollte, ein heim liches attachement an ihn vorhanden sei", jenes merkwürdige Schreiben der Herzogin, in dem sie nicht nur der aufrichtigen Teilnahme an dem doppelten
Unglück des Königs sondern auch der Hoffnung auf den endlichen Sieg der
gerechten Sache denkwürdigen Ausdruck verleiht: „Wäre es möglich, daß der Himmel erlaubte, daß der Stolz und die Ungerechtigkeit triumphieren und über das Verdienst den Sieg davon tragen?"
Später fand sie Gelegenheit
auch mit dem Prinzen Heinrich Briefe zu wechseln, der sie jedoch an seinen
königlichen Bruder verwies. so patriotisch
als
Dieser war über den Eifer der „würdigen und
rechtschaffen
gesinneten Prinzessin"
sichtlich
„gerühret".
„Was vor ein Glück würde es vor Teutschland und vor die Erhaltung des
Reichssysteme sein," schreibt er am 18. Januar 1762 an Plotho, „wenn ver schiedene teutsche Prinzen mit solcher Solidite und Penetration auf die wahre
Wohlfahrt des Vaterlandes und dessen Freiheit gedächten und arbeiteten." 21«
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
324
Wacf) der Niederlage von Hochkird) hatte er Plothos Bitte ein Handschreiben an die Herzogin zu richten, welche dann den eifrigsten Minister für den König
abgeben würde, nicht entsprochen;
jetzt schob er auf erneuten Antrag seines
getreuen Edart in Regensburg es nicht länger auf, derselben schriftlich seinen lebhaftesten Dank auszusprechen, daß sie in einer Zeit, in der die ganze Welt
sich gegen ihn erklärte, bei jeder Gelegenheit ihre Anhänglichkeit an seine Interessen bezeugte. In ihrer Antwort vom 2. März dämmte Maria Anna diese Anerkennung, die sie mit der höchsten Freude und der ganzen Genugtuung
erfüllte, „die es gewährt, der Stimme der Billigkeit immer treu geblieben zu
sein", dahin ein, gemein,
die respektvolle Bewunderung Friedrichs sei ihr mit allen der Eigennutz und der Schwindelgeist der Zeit
die die Mißgunst,
nicht dafür
unempsindlid)
gemacht
habe;
in
heißem Gebete wende sie sich
täglich zu Gott, er möge die geheiligte Person des Königs nicht nur erhalten sondern auch ihrer friedlichen Beschäftigung wieder zuführen und ihr solche Siege gewähren, die ohne Blutvergießen
die Herzen
der Gegner gefangen
nehmen. Und als sich am 23. März Friedrich mit ihr in dem Wunsche zusammenfand, die Vorsehung möge bald die Schreden des Krieges ver
schwinden lassen und die Annehmlichkeiten eines guten, soliden Friedens zurückführen, schloß die Herzogin am 5. Juni einstweilen den Brieswechscl aus Rücksicht auf die kostbare Zeit des Königs, die ihm ebenso wertvoll sei, als
sic denen teuer erscheine, die daran Friedrichs Glück und ihr eigenes knüpften.
Es waren im Geiste der Zeit gehaltene Höflichkeitsbezeugungen, in denen sich
die neu begründete Freundschaft der erleuchteten Geister zunäck)st noch bewegte; aber bald sollte zu den graziösen Formen sich ein für beide Teile ersprießlicher Inhalt gesellen. Als kurze Zeit darauf der König den Rcichsständen, die sich von dem „österreichisck)cn" Krieg lossagten, Neutralität anbot, benutzte der Kurfürst die Beziehungen seiner
„lieben
konstante"
mit Preußen
Frieden zu
sck)ließen.
Ein Separatvertrag zwischen beiden Ländern erneuerte nicht nur die Freund schaft unter ihnen, er enthielt auch das Versprechen des Königs nicht zuzugebcn,
daß einige dem Kurhause Bayern nachteilige Absichten zur Ausführung kämen. Kurfürst Maximilian III. Joseph besaß keine Kinder. Von den Nachkommen der Herzogin
verließ keiner lebend das erste Bad:
immer wieder um ihre
Hoffnung betrogen dem Land einen Erben zu schenken klagt sie mit Bitterkeit,
ihr Leben sei nichts als ein Gewirk von Pein, Herzeleid und Ungemach. Nack) dem Hausvertrag von Pavia sollte bei dem Aussterben der Wilhelminischen Linie in München die ältere Nudolfinisck)e Linie Bayern und Pfalz wieder vereinigen. Schon im Siebenjährigen Kriege hatte man Beweise erhalten, daß Österreick) das älteste wittelsbachische Hausgesetz nicht anzuerkennen geneigt sei.
Durch den Anschluß an den preußischen Staat war die frühere bayerische
Gepflogenheit gegen den habsburgischen Vogesen auszuspielen hinfällig geworden.
Kaiser den
Reichsfeind jenseits der
Schon 1761 wagten die Wittels-
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
325
bacher in einer neuen Hausunion Maria Theresia zu trotzen.
den Tod ihres Gemahls (f 6. August 1770) vereinsamt,
Obwohl durch
war Maria Anna
unablässig tätig die sich entgegenstehenden Interessen der einzelnen Wittelsbacher
zu versöhnen und in den bedeutsamen Verträgen von 1766, 1771 und 1774
den
österreichischen Prätensionen
ein rechtliches Fundament entgegenzusetzen,
das für die Erhaltung Bayerns als Einheit nicht zu unterschätzen ist.
Noch
war Max Joseph am Leben, da beabsichtigte die Herzogin persönlich dem großen König ihre Huldigung darzubringen und ihn um seinen Schutz und
die Garantie der Erbverträge anzugehen; aber ihre Gesundheit erlaubte die weite Reise nach Berlin nicht. Max III. starb und sein Nachfolger Karl Theodor war bereit in dem Vertrage vom 3. Januar 1778 die österreichischen Ansprüche zum Teil anzuerkennen. Friedrich sandte jedoch den Grafen
Eustachius von Görtz nach München und dieser hatte im Hause der Herzogin, in der Herzog-Maxburg, wo in ihrem Arbeitszimmer das Bild des Preußen königs hing, mit den Ministern des Herzogs Karl, Hofenfels und Esebeck, geheime Konferenzen. Die Beschlüsse, die damals auf Betreiben der Herzogin gefaßt wurden, führten zur Einmischung Friedrichs in die bayerische Angelegenheit
und so wurde der Bayerische Erbfolgekrieg ohne Teilnahme des bayerischen Militärs zwischen Österreich und Preußen geführt. Mit bewunderungswürdiger Klarheit
überblickte
die Prinzessin
die ganze Situation,
wußte sie alle ihre
Pläne den Gegnern verborgen zu halten.
Die Briefe, die sie mit ihrem „Freund" Friedrich und seinen vertrauten Räten wechselte, verraten eine glühende Vaterlandsliebe und eine männliche Energie. Zeigt auch ihr Bild aus dieser Zeit beinahe männliche Züge, so blieb sie doch
Frau insofern, als sie Gefühls Politik trieb, die Friedrich selber fremd war. „Ach, gnädigste Frau," schreibt ihr der König am 13. Februar 1778, „warum
sind Sic nicht Kurfürst?
Wir würden dann die schimpflichen Ereignisse nicht
haben eintrcten sehen, über die jeder gute Deutsche bis in den Grund seines Herzens erröten muß. Wenigstens wird es Bayern E. Dlt. verdanken, daß das Übel so viel als möglich beseitigt worden ist. . . In welcher
Entfernung ich mich von E. Dlt. befinden mag, stets bin ich einer von Ihren Bewunderern gewesen. Ich habe Ihnen von weitem Beifall gewinkt, wie die Christen die Engel feiern,
deren Wunder
sie verkündigen,
die sie aber
niemals erblicken." „Wenn ich Kurfürst wäre . . . hätten Sie in mir einen sehr treuen Bundesgenossen, der für die Interessen E. M. kämpfen würde", antwortet darauf Maria Anna; „aber leider bin ich nur eine Frau— — —"
„Es wäre schön, eine alternde Pallas an der Spitze der Bayern zu sehen,"
gesteht sie dem Grafen Görtz.
„Ich möchte die Geister meiner Ahnen herbei
rufen um das Vaterland zu retten, so empört fühle ich mich; es gibt selbst Augenblicke, wo ich ehrgeizig genug bin um Wünsche zu hegen und zu bedauern, daß ich nicht Kurfürst bin." Am 8. März scherzt der König:
„Wenn wir Erfolg haben, werde ich ihn dem Verdienst der heiligen Clementine
60. Herzogin Maria Anna von Bayern.
326 zuschreiben,
die uns zu
schützen geruht."
„Retten Sie ein unterdrücktes
Land," lautet die Antwort, „dieser Ruhm ziemt Ihnen, er ist würdig des großen Friedrich; dann wird die heilige Clementine das Wunder vollbringen alle Bayern um Ihre Fahnen zu scharen und mein Neffe wird als der erste
meinen Eifer unterstützen mit den Waffen in der Hand." Nie wird sie müde den Beschützer Bayerns, den Freund Karls VII. und seines Sohnes, zu beschwören ihm alle tapferen Bayern zur Verfügung zu stellen.
„Der König
hat selbst sein teures Leben für Bayern in die Schanze geschlagen;
aber die
geringste Zerstückelung unseres Kurstaates muß eines Tages den Umsturz des Reiches nach sich ziehen." Friedrich antwortet auf alle diese warmherzigen Ergüsse immer höflich,
aber mit der Kälte des Realpolitikers:
„Wenn alle
Vereinbarungen durchaus nur von meinem Willen abhingen! . . . Wenn wir,
ich und meine Bundesgenossen, uns die Feindschaft Rußlands und Frankreichzuziehen wollten, so wäre das nur ein Gewinn für die Sache Österreichs." Der Friede von Teschen,
der von Bayern
das Innviertel abtrennte,
wurde
denn auch von den Patrioten mit geteilten Gefühlen ausgenommen; aber wa-
wäre ohne die patriotische Herzogin, dem Lande geworden?
ohne die Unterstützung Preußens all
Es war Maria Anna nicht mehr vergönnt
„den erstaunlichsten aller
Menschen" von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wie sie mehrfach gewünscht hatte. Auch die Briefe zwischen beiden werden immer seltener. Einmal
kondoliert sie ihm noch zum Tode seiner Schwester und dann,
als neue
Tauschpläne Karl Theodors durch die Gründung des Fürstenbundes vereitelt waren, gesteht sie, ihr Eifer seine Befehle zu erfüllen werde das Verdienst
vertreten bei ihr. „Meine ganze Nation denkt ebenso und bewundert und schätzt Sie, glücklich über den Schutz E. M., die zweimal Bayern gerettet hat;
erfüllt von Dankgefühl für eine so große Wohltat wird sie nie aufhören für die Erhaltung ihres großen Beschützers zu beten."
Daneben war die edle Frau eifrig bemüht den Kurfürsten mit dem Herzog von Zweibrücken zu versöhnen.
Sie demütigte sich vor dem Fürsten
von Bretzenheim und war bereit, wenn sie bei Hofe erschien, sich manche Kränkung gefallen zu lassen. Besonders schmerzlich mußte sie es empfinden, daß der Kurfürst ihre Getreuen auf das härteste verfolgte. Ihr Hausgeistlicher Kirchmair entzog sich nur durch die Flucht der Verhaftung.
Lori starb in der
Verbannung mit dem Trost eines guten Gewissens: „Ist halt doch gut sterben, wenn man ehrlich gelebt hat." Der Geheimrat Obermayr, der das gleiche Schicksal hatte, bekannte, wenn auch sein Haupt unter dem Beil des Henkers fallen sollte, werde er sich dem aus Vaterlandsliebe unterwerfen; aber seine Grundsätze verleugnen werde er nicht. Wie warm sich die energische Frau ihrer Getreuen annahm, beweist die Weigerung Kreittmayrs sich der Papiere
ihres Privatsekretärs Andre zu bemächtigen, da er bei der bekannten Heftigkeit der Herzogin nicht wisse, ob er wieder lebend aus der Herzog Maxburg
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores.
herauskomme.
327
Andre, der zwei Jahre auf dem Rotenberg gefangen gehalten
wurde und München erst nach dem Tode der Herzogin wieder betreten durfte, stand ihrem Herzen besonders nahe, so daß sie sich heimlich mit ihm trauen ließ. Zu all dem Unglück kamen immer wieder Gerüchte über Tauschpläne mit Österreich. Um die Einheit des Landes zu sichern wäre die Herzogin
jetzt sogar bereit gewesen dasselbe bei dem Aussterben der Wittelsbacher an die Welfen zu bringen. So hat sie sich von einer Vorkämpferin für die Interessen ihres Hauses in 50 jährigem Ringen zur Patrona Bavariae
entwickelt, wenn anders es erlaubt ist eine unvollkommene Sterbliche mit dem Nimbus des Heiligen zu umgeben. Der einzige Trost ihrer Witwenjahre war es, daß ihr Gemahl ihr ein Einkommen hinterlassen hatte, groß genug um jederzeit Gutes zu tun. In geradezu mütterlicher Weise nahm sie sich ihrer pfälzischen Verwandten an; die Fortschritte des Herzogs Max verfolgte sie schon mit regem Interesse, als
er noch ein Knabe war. Es war ihr nicht mehr beschicden — sie starb am 25. April 1790 — ihn als Herzog von Zweibrücken, als Kurfürsten und
König von Bayern zu begrüßen.
Aber ihr Geist beseelte die Fürsten aus
dem Hause Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld von der Stunde an, wo Max Joseph seinen Einzug in München hielt, bis zu dem Tage, da Ludwig II. dem Hohenzollern Wilhelm die deutsche Kaiserkrone anbot und jene Freundschaft
zwischen Preußen und Bayern zu einer dauernden machte, für die die mutige
Herzogin zeitlebens gekämpft hatte.
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores
unter dem Kurfürsten Karl Theodor. Don Christian ©ruber. *
Südbayern ist nicht nur das Land schmucker, waldumrahinter Seen sondern auch dasjenige weit ausgespannter, eintöniger Moorflächen. Sie finden sich zwischen den Schutthügeln der Morünenlandschast und rings an den Ge
staden der stehenden Gewässer im Süden, wie auf den breiten Schotterebencn
in der Mitte und längs der Talrinncn des Nordens der Schwäbisch-baye rischen Hochebene. Den bedeutendsten Flußläufen sind auch die größten und
zugleich geschlossensten Moorgebiete eigen. Unter ihnen treten wiederum das von der Isar durchschnittene Doppelmoor in der Münchener Talweite mit über 46 000 und das von Neuburg a. D. gegen die Paar hinstreichende Donaumoor mit rund 17000 Hektar Flächeninhalt besonders hervor. Die Landesfürsten und die Staatsverwaltung haben diesen
kranken
Teilen unserer Heimat und ihrer Urbarmachung von jeher Aufmerksamkeit zu gewendet. Besonders Kurfürst Karl Theodor aber suchte durch die Aus
trocknung des Donaumoores seinen menschenfreundlichen Ruf zu erhöhen, die Zeit seines Regiments mit tiefer Schrift in die Geschichte der Landwirtschaft
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores.
328
in Bayern- einzugraben.
Er hatte eine Kulturtat im Sinne, wie sie Friedrich
dem Großen durch die Urbarmachung der Brüche an Oder, Warthe und Netze
gelungen war. Auch er wollte dem vaterländischen Boden an seinem Haupt strome eine „neue Provinz" in friedlichem Vorgehen abringen. Männer hoch patriotischen Denkens mit Weitblick, technischer Gewandtheit und bewährter Er fahrung standen ihm bei diesem Unternehmen zur Seite. Es mag in unserer Zeit, wo Tausende der einsichtsvollsten Geister die Augen auf das Meer, auf Erwerbung und Ausbeute fremder Küsten richten, wohl angehen an jene
Arbeiten zu erinnern, welche Kolonisation in der eigenen Heimat zum nahe gelegenen Ziele hatten.
An kein staatliches Unternehmen in Bayern wurden während des 18. Jahr hunderts wohl so wenige und zugleich so viele Erwartungen geknüpft als an die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores. Keine ältere Kultivationsarbeit wurde aber auch so widersprechend beurteilt als diese, was sich
großenteils aus der Art und Weise erklärt, wie man die Bodenverbesserungei: selbst vornahm. Letztere wurden durchaus nicht stetig und ununterbrochen auch nur während eines Jahrzehnts durchgeführt, sondern rucklveise und lücken
haft. Hierdurch erhielt das gesamte, so großartig gedachte Werk den Charakter eines mehrfach aufgegriffenen bodenwirtschaftlichen Experiments. Bei deniselben
war man vor allem auf die ausgiebige Beihilfe der Bewohner jener Landschaft angewiesen, in welcher es vor sich ging. Daß man diese Unterstützung er giebiger in Anspruch zu nehmen vergaß, hinderte eine rasche Vollendung der angestrebten Kulturtat in gleicher Weise wie die Naturverhältnisse, des Moores überhaupt, die unzweckmäßige Verteilung des neugewonnenen Bodens und die
geringe wirtschaftliche Befähigung zahlreicher Kolonisten. Als nach dem Tode des vielgeliebten Maximilian III.
die gesamten
wittelsbachischen Besitzungen wieder vereinigt wurden, unterbreitete der damalige Statthalter des Herzogtums Neuburg, Reichsgraf zu Pappenheim, Ende Mai
1777 Karl Theodor den Vorschlag das Donaumoor für die Kultur zu ge winnen.
Sofort ordnete der Kurfürst die Planausnahme des letzteren an.
Sie wurde allerdings in unvollkommener Weise von dem Priester Lanz durch geführt
und
sollte
als Grundlage für
den Austrocknungsentwurf dienen.
Eine eigene Hoskommission leitete die Ausführung des Unternehmens.
Ihr
gehörten unter dem Vorsitze des Staatskanzlers Kreittma yr drei edelgesinnte Männer an: Georg v. Aretin, Adrian v. Riedl und später Stephan von Stengel. Welche Summe von Schwierigkeiten ihrem selbstlosen Eifer entgegentrat und
welchen Ernst es erforderte um dieselben zu überwinden,
schildert Aretin mit folgenden Worten: „Wir hatten, als wir den Auftrag er hielten das Moor trocken zu legen, einen unabsehbaren Sumpf vor uns, von dem, den einzigen Lanzischen Generalplan ausgenommen, alle Nachrichteir tief unter dem Staub der Archive und Registraturen gemodert hatten. Es waren keine Rechte der Einzelbesitzer ausgeschieden, keine Grenzen bestimmt. Wir
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores.
hatten keine Vorgänger in einem ähnlichen Unternehmen.
329
Wir hatten, wenn
wir es nach der Größe des Flächeninhalts messen, kein Beispiel in Deutsch
Wir mußten uns die Grundlagen selbst suchen, auf die wir bauen sollten." Als erste, dringendste Aufgabe galt der Kommission die Entwirrung
land.
der Ansprüche auf Eigentum
und Lehensbesitz im Donaumoore.
Sodann
glaubte sie die Kultivationsarbeiten dadurch rascher fördern zu können, daß sie die Lehensbarkeit der Moorgründe aufhob und diese ihren Besitzern gegen
geringes Entgelt als freies Eigentum überließ.
Um die für die Austrocknungsarbeiten erforderliche Geldsumme aufzu bringen war es notwendig eine Aktiengesellschaft zu gründen. Ihr mußten die am Donaumoor teilhabenden Gemeinden und Einzelbesitzer Stücke ihres Grundes obgebcn und konnten dafür später verbessertes Land in der Nähe ihres Wohnorts beanspruchen. Die Hälfte der dem Ackerbau nutzbar gemachten Flächen aber blieb den Aktionären als Entschädigung für die aufgewandten
Kulturkosten überlassen. Inzwischen vollendete Oberst v. Riedl die Pläne znr Anstrocknung des
Moores. Er hatte bei ihrer Herstellung sowohl die Ableitung des Wasser reichtums im Innern des Moores und jene der Quellergüsse an seiner Um rahmung als auch
die Anlage der nötigen Straßen
und Wegbauten vor
Augen. Karl Theodor genehmigte schon während dieser vorbereitenden Arbeiten 34000 Mark aus seiner Kabinettskasse. Im Frühling 1790 ging man an die Ausführung des Projektes.
Das
rasche und gründliche Vorschreiten der Entwässerung leistete die sichere Gewähr, daß v. Riedl die Ursachen der Moorbildung richtig erkannt hatte und die kürzesten Wege zu ihrer Beseitigung einzuschlagen verstand. Zum Bau der Abzugsgräben für das Wasser zog man anfangs Militär, später gewöhnliche
Akkordarbeiter heran.
Außer ihnen halfen einige hundert Schulkinder der be
nachbarten Ortschaften, ferner gefänglich eingezogcne Landstreicher oder geringere
Verbrecher unter kundiger Aufsicht mit.
Jahre
So war man imstande noch im ersten
2670 Hektar Sumpfland trocken zu
legen.
Im folgenden Winter
wurde der Moorinspektion bereits der Auftrag in den der Aktiengesellschaft zufallenden Anteilen Plätze für Kolonien auszusuchen, welche festen Boden für
die Errichtung von Wohnungen böten und von wo aus die Verteilung der Gründe für jede Familie zwanglos die hinreichende Anzahl von Äckern und
Wiesen ergeben würde. Zu Beginn des Jahres 1791 waren 10 bis 15 Häuser im Entstehen; große Materialmagazine und eine Zicgelhütte mit Torfbrand wurden
errichtet.
Dies * war der Anfang zur ersten Siedelnng im Moor,
Karlskron. Feindlicher jedoch als alle Ungunst der Naturverhültnisse kämpften Neid
und Mißtrauen in diesen Jahren gegen die Bestrebungen zur Bodenverbes serung und Kolonisation im Donaumoore. Der nicht erwartete Fortschritt der Landgewinnnug weckte nnberechtigten Eigenmitz.
Als die Aktiengesellschaft
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores.
330
die ihr gesetzlich zugesprochene Hälfte der 1790 dem Sumpf abgewonnenen Landstriche in Besitz nahm, entstand eine Fülle von Beschwerden. Allenthalben klagte man über Kränkung der Privatrechte. schien ein neuer Prozeß zu erwachsen.
Aus jeder frischgewonnenen Scholle
Parteiische Stimmen erhoben sich über
laut: man hätte das Moor nicht in so starkem Maße austrocknen sollen;
die Kanäle seien Monumente für die Ewigkeit, aber deshalb zu kostspielig; Jagden und Fischereien gingen zu Grunde, geräumige Weideflächen könnten nicht entbehrt werden. So heftig wurde gegen die Kulturkommission angestürmt, daß Stengel und Aretin eine besondere Verteidigungsschrift für nötig hielten,
in welcher sie die Bodenaustrocknung mit schlagenden Beweisen rechtfertigten. Zugleich bat man den Kurfürsten um sein gerechtes Urteil. Er bestimmte, daß ein besonderes Gericht in der Folge alle Gebietsstreitigkeiten zu schlichten hätte. Noch war das Unternehmen kaum zur Hälfte vollendet, eben schnitt die Pflugschar die ersten Furchen in das der Vermoorung entrissene Land, als
die Unruhen der Revolutionskriege eintraten.
Unter ihrem Druck ging die
Austrocknung zwar beschwerlicher, nichtsdestoweniger aber stetig fort. Bald konnten fast 4000 Hektar den Aktienteilhabern für die Gründung von Kolonien überlassen werden. Aretin, Stengel und Riedl Übergaben ihr Werk nach ihren eigenen Worten als ein Denkmal der goldenen Zeiten Karl Theodors der Nachwelt. Im August 1793 bestimmte der Kurfürst vier Gebiete zur Hebung der
Kolonie Karlskron. Bei Anlage derselben waren nach H. v. Pechmann nach stehende Grundsätze maßgebend: Eine Familie, welche ausschließlich vom
Ackerbau leben wollte, erhielt kostenlos 3 Hettar Land und 765 Mark teils bar
teils an Materialien. Nach 15 Jahren sollte mit der ratenweisen Rückzahlung dieser Summe begonnen werden. Außerdem durfte jeder Ansiedler ein Ge
schenk von 51 Mark zum Ankauf von Nutztieren erheben. Handwerker wurden ebenfalls mit 765 Mark bedacht. Hingegen mußten sie das Tagwerk ent wässerten Bodens zu 85 Mark übernehmen und, 5 Jahre nach der Nieder lassung angefangen, innerhalb 15 Jahren bezahlen. Jedem, der im Moor
kolonisierte und ein
Haus erbaute,
gewährte man 30 Jahre Freiheit von
Steuern und Abgaben, von Frondiensten, von Rekrutenaushebung und Ein quartierung. Nur 12 Pfennig (4 Kreuzer) wurden ihm vom Tagwerk seines
Eigentums für die Unterhaltung der Kanäle und Gräben alljährlich abgefordert (der Kanalbatzen). Die Wohnungen errichtete man nach einem gemeinsamen,
rationell erprobten Plan aus Backsteinen. Am Ende des Jahres 1794 standen in den Gemeinden Karlskron, Karlshuld und Fruchtheim bereits 39 Häuser.
Indes so ungewöhnlich freigebig der Staat auch vorging, die erwähnten
Bestimmungen bargen doch eine der tiefgreifendsten Ursachen zur frühen Ver kümmerung der Kolonien in sich. Drei Hektar Land vermögen ihren Besitzer wohl zu ernähren, wenn sie der Feldwirtschaft bereits ausgiebig dienen, nicht
61. Die Austrocknung und Besiedelung des Donaumoores.
aber in unkultiviertem, ärmlich sterilem Zustand.
331
Hauptsächlich der zu kärglich
bemessene Anteil an Boden machte es der Mehrzahl aller Kolonisten unmög
lich jenen Grad von Wohlstand und Zustiedenheit zu erreichen, welcher nach den für die Kultivation des Moores aufgewandten Summen erhofft wurde. Nach Karlskron wurden bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts unter reger Teilnahme von Privaten nachstehende bedeutendere Kolonien im Donau moor gegründet:
Karlsruhe, Josephenburg, Frankmoosen und Wal
ding 1792; Bofzheim und Fruchtheim 1793; Rösing, Stengelheim, Karlshuld, Diebling und Wegscheid 1794; Kochheim und Brautlache 1795; Lichtenheim 1796; Mändelfeld und Grillheim 1798, Grasheim 1800, Sturmfeld 1801. Um Anlage und Gedeihen der jungen Siedelungen zu stützen errichtete der Staat zu Karlskron ein eigenes Moorgericht, das
freilich nach kurzem Bestand wieder aufgehoben wurde. Die Kolonisten waren aus allen Teilen Südbayerns, aus Württemberg, Franken, in besonders auf fallender Zahl aber aus der Rheinpfalz herbeigekommen. Vielen unter ihnen fiel landwirtschaftliche Arbeit und die Behandlung des neugewonnenen Bodens
Hierdurch verzögerte sich der Fortschritt des Anbaues inner oberen Teile des Moores ebenso, als ihn die Vernachlässigung
äußerst schwer.
halb der
der ausgetrockneten Gründe von den anliegenden Gemeinden in den mittleren und unteren Gebieten gefährdete. 1797
befahl Karl Theodor
ihm Hauptvortrag
über
die
vollendete
Trockenlegung des Donaumoores, die Abfertigung der Aktionäre, die Heim zahlung der aufgenommenen Kapitalien und die Übernahme des Moorbezirkes
als Staatseigentum
zu
Die Forderungen
erstatten.
betrugen nahezu 900000 Mark.
der
Aktiengesellschaft
Nun wäre es das Vorteilhafteste gewesen,
wenn man derselben ihre Ausgaben
ersetzt
und die trocken
gelegten Moor
flächen durch den Staat übernommen hätte. Als dieses indessen nicht geschah, verkaufte die Gesellschaft ihre Mooranteile an den westfälischen Kommerzienrat Bresselau.
Dieser sollte allen
Aktionäre bisher zu erfüllen
Kulturforderungen hatten.
Er
nachkommen,
welche
die
kümmerte sich indessen um jene
Verbindlichkeiten nichts, hob lediglich Kulturbeiträge ein, nahm Hypotheken auf und leistete keine Zahlungen an die Aktiengesellschaft. Infolgedessen ging
der Kauf zurück
und der Staat übernahm nun doch das Donaumoor durch
einen Vergleich mit Bresselau. Seine Bestkebungen zur Austrocknung
und Besiedelung des Donau -
moores gereichen Karl Theodor ebenso wie die Anlegung des Englischen
Gartens bei München und die Pflege der Kunst und Wissenschaft besonders in den pfälzischen Landen zu dauerndem Ruhme.
Freilich vermochte er nicht
die gesamte und endgültige Kultivation dieses ehemals so verrufenen und geiniedenen Gebietes zu vollenden. Das geschah erst unter König Max I. Joseph durch Kling, der außer den Kolonien Ober- und Untermaxfeld
noch Neuschwetzingen, Probfeld und Neuhohenried anlegte, und später
332
62. Die Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt und Landshut.
noch unter H. v. Pechmann und durch die gründlichen Arbeiten verschiedener bayerischer Moorkulturkommissionen. Wenn aber gegenwärtig das Donaumoor
großenteils einem lachenden, wertvollen Fruchtlande gleicht, wo Sommer- und Winterkorn, Haber, Kartoffeln, Rüben, Kohl und Reps prächtig gedeihen, wo
an 5000 Menschen in langzeiligen, gartengeschmückten Ortschaften meist behäbig leben, wo von Birken beschattete Landstraßen den Verkehr erleichtern, die Korb flechterei
in Karlshuld
blüht und
eine starke Torfausbeute den Kolonisten
lohnenden Verdienst gibt, so hat dazu Kurfürst Karl Theodor den ersten und umfassendsten Grund gelegt.
62. Die letzten Jahrzehnte der Ludwig-MaximiliansUniverfitat in Ingolstadt. Ihre Übersiedlung nach Landshut. Don Max Haushofer.
Eine Periode glänzenden Aufschwunges begann für das ganze bayerische Bildungswesen mit dem Regierungsantritte des Kurfürsten Max III. Joseph. Für die Universität speziell begann dieser Zeitraum mit dem Eintritte I. A. Jckstatts, des vormaligen Lehrers und Erziehers des Kurfürsten (1746). Wenn es jemals einen Fürsten gab, der alle edlen Eigenschaften im reichsten Maße
besaß und benutzte um wie mit einem Zauberworte sein ganzes Volk auf eine höhere Stufe der Gesittung zu heben, so war dies Max III., wert, daß ihm der Segen der Nation durch alle Jahrhunderte nachklingt. Untrennbar aber mit dem Ruhme des Kurfürsten verbunden ist der seines Lehrers I. A. Jckstatt.
Jckstatt, 1702 zu Vockenhausen bei Frankfurt geboren, hatte zu Mainz, Paris und Marburg studiert, war Soldat in französischen und österreichischen Diensten gewesen, hatte Holland, England, Schottland und Irland durchreist, hernach als Professor zu Würzburg gelehrt und war 1741 Lehrer des Erb prinzen Max Joseph geworden, welcher ihn im Jahre 1746 als Direktor und
als Professor für öffentliches Recht nach Ingolstadt setzte „zur besseren Ein richtung der in große Abnahme versallenen Universität". Seine Aufgabe war
cs zunächst die von den Fakultäten eingelaufene» Verbesserungsvorschlüge zu ordnen und einheitlich zu redigieren, auf die Einhaltung der Vorlesungen zu sehen
und ein gutes Einvernehmen mit dem Statthalter und dem Militär herzustellen.
Als erste glückliche Folge seiner Tätigkeit erscheint cs, daß der Universität,
welcher im Jahre 1676 wegen chaotischer Zustände die gesamte Verwaltung ihres Vermögens abgenommen worden war, nunmehr wieder die „Mitobsorge"
dieser Verwaltung anvertraut wurde (1746) und daß im gleichen Jahre noch der „dumme Unfug" (Jckstatts Worte) der Reposition2) aufgehoben wurde. T) Akademische Monatshefte, VI. Jahrgang, Heft 2. München 1890. Mühlthaler. *) Vgl. das Seite 111 hierüber Gesagte!
62. Die Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt und Landshut.
ZZZ
Im gleichen Jahre erneute der Kurfürst die Verordnung, daß jene Inländer, ivelche nicht in Ingolstadt ihre Studien machen, in Bayern keine Anstellung
zu erwarten hätten. Jckstatt blieb von Anfeindungen nicht verschont. Schon von Anbeginn erschienen seine Werke einzelnen seiner theologischen Kollegen zu freisinnig, Jckstatt selbst als neuerungssüchtiger Despot. Anklagen gegen ihn flogen nach München; der einsichtsvolle Kurfürst aber und seine Regierung entschieden zu Gunsten Jckstatts. Eine Kräftigung seiner Wirksamkeit fand Jckstatt durch die Anstellung des trefflichen Lori.
Die lang im geheimen glimmende Feindseligkeit gegen Jckstatt steigerte sich 1752 zu einem heftigen Sturme gegen dessen ganze Lehrtätigkeit; aber der klare Geist des Kurfürsten rettete
damals die Freiheit der Wissenschaft
und gab ihrem edlen Verfechter Raum für seine Geistestätigkeit.
Und wenn
auch der treffliche Lori, Jckstatts Mitstreiter, aus Ingolstadt entfernt wurde, so kam er nicht in trostlose Verbannung, sondern an einen ehrenvollen und einflußreichen Posten nach München. Auch Jckstatt wurde im Jahre 1763 seiner Professur enthoben, aber nur um in München seine Tätigkeit als Direktor
der Universität fortzusetzen. Im Jahre 1769 tauchte zum ersten Male ganz entschieden der Gedanke
auf, die Universität von Ingolstadt nach München zu verlegen. Dieser Ge danke findet sich in einem Schriftstücke ausgesprochen, tvclches wohl von Jckstatt selbst herrührcn mag. Als Beweggründe zur Verlegung werden darin ange die Nachteile einer Festung als Universitätsstadt, die günstigeren Ver
führt:
hältnisse Münchens, wo sowohl für die Studenten weit mehr Annehmlichkeiten
als auch für die Professoren die Benutzung der Bibliotheken und Archive, für die Juristen der Verkehr mit den Gerichtstcllen, für die Mediziner die
Übung in den Spitälern mannigfache Vorteile boten. Diese Anregung hatte jedoch damals noch keinen Erfolg.
Als Jckstatt, der unablässige Förderer der Universität, im Jahre 1776 starb, trat an seine Stelle eine Universitätskommission, in welcher unter einem
Präsidenten und Vizepräsidenten
die Mitglieder Lori, Wolter, Lippert und
H. Braun die Sachen der juristischen, medizinischen, philosophischen und theo logischen Fakultät zu vertreten hatten.
Die Hauptaufgabe dieser Kommission
war cs Gutachten der Fakultäten cinzuholcn, für tüchtige Besetzung der Lehr stühle und für den nötigen Frieden unter den Professoren zu sorgen. Ein Jahr nach Jckstatt starb Kurfürst Maximilian Joseph (30. Dezember 1777).
Wenn Bayern an ihm einen der edelsten Fürsten, die Universität
einen einsichtsvollen und gütigen Schutzherrn verlor, die segensreichen Folgen seines Wirkens konnten nimmer verloren gehen.
Tic Verlegung der Universität von Ingolstadt lag schon lange in der Luft.
Der Nachfolger Maximilian Josephs, Kurfürst Karl Theodor, beauftragte 1779 seine Obcrlandesregierung einen Bericht über die Möglichkeit einer Ver-
334
62. Die Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt und Landshut.
Man dachte an Lands
legung der Universität nach Landshut zu erstatten.
hut, weil dort wegen Aufhebung der Landshuter Regierung eben Raum ge worden war.
Rücksichten
auf die wissenschaftliche Tätigkeit der Universität
sprachen entschieden für eine Verlegung; einige Professoren, deren Blick in die
Zukunft reichte, waren für eine Verlegung nach München.
Vorläufig aber
scheiterte der Plan der Verlegung an dem Kostenpunkte.
Kaum war nach dem Tode des Kurfürsten Karl Theodor der neue Erbe seines Thrones, Kurfürst Max IV. Joseph, von ganz Bayern jauchzend begrüßt in München eingezogen, da wurden durch die neue Regierung von allen Universitätsprofessoren Berbesserungsvorschläge eingeholt und noch im Jahre 1799 erging eine Verordnung bezüglich der neuen Einrichtung der
Hochschule. Die wichtigsten Punkte dieser neuen Einrichtung aber waren folgende: das Institut der Privatdozenten ward eingeführt; die Professoren wurden zu Staatsdienern; das veraltete und sinnlose Vorrücken in andere Lehrstühle ward
aufgehoben, Vorlesungspflicht und Ferien wurden neu geregelt, die Studienzeit auf vier Semester für den philosophischen Vorkursus, auf sechs Semester für die Fachwissenschaften festgesetzt, zum Übertritt an die Universität das Reifezeugnis
eines Gymnasiums oder Lyzeums für nötig erklärt.
Die wesentlichste Ver
änderung aber lag in der Verlegung der Universität aus Ingolstadt.
Als
im Jahre 1800 wieder einmal die Kriegsgefahr an Ingolstadt heranrückte, wurde (Mai 1800) die kurfürstliche Entschließung erlassen, daß die Universität
provisorisch nach Landshut verlegt werden solle. ins Werk gesetzt.
Nach
Sofort wurde der Umzug
dem Luneviller Frieden erhoben
sich zwar einige
Stimmen für die Rückverlegung nach Ingolstadt, doch vergebens; die Universität blieb vorläufig in Landshut. Nur kurze Zeit, vom Jahre 1800 bis 1826, währte die Landshuter
Periode der Universität. Im Jahre 1802, als die provisorische Verlegung in eine definitive umgewandelt war, erhielt die Hochschule offiziell die Bezeichnung
„Ludwig-Maximilians-Universität".
Allgemein
gab
sich
Freude
kund, daß man nicht wieder auf den „unwirtlichen" Boden Ingolstadts zurück zukehren brauchte.
Als Räumlichkeiten erhielt die Universität das Dominikaner
kloster als Hauptgebäude, die Aula des Jesuitenkollegiums, das Franziskaner kloster für Anatomie und Chemie, ein Nonnenkloster für die Unterbringung
des Georgianums, Grundstücke für einen botanischen Garten u. s. f. Ein Teil der Burg Trausnitz wurde zur Sternwarte; ein Platz im Kapuzinergraben zur Reitbahn. Die Renten zweier Klöster, zusammen im Betrage von 10000 Gulden, gingen an die Universität über, welche somit größtenteils auf dem Besitze untergegangener Klöster installiert ward. Das konnte geschehen, weil zur selben Zeit das Verhältnis von Staat und Kirche in Bayern völlig umgestaltet ward. Unter Max Joseph kam mit dem neuen Jahrhundert die Religions freiheit; sie brachte den Protestanten das Recht zur Ansässigmachung und
63. Ein Urteil über den bayerischen Bolkscharakter.
335
Verehelichung sowie Zulassung zum Staatsdienste und freie Ausübung ihres Gottesdienstes.
Und 1802 begann ier Feldzug gegen die Klöster, deren Güter
infolge der Säkularisation dem Landesherrn zur Verfügung standen.
Somit fehlte es der Universität in ihrer neuen Heimstatt weder an der
nötigen Geistesfreiheit noch an den nötigen irdischen Gütern. Die Frequenz nahm zu Landshut in erfreulicher Weise zu, indem durch schnittlich 220 Studenten jährlich neu immatrikuliert wurden. Zu den Lands
huter Studenten gehörte im Jahre 1803 auch der damalige Kronprinz Ludwig,
später König Ludwig I. Für die Studenten muß schon hinsichtlich ihres Lebens die Übersiedelung
nach Landshut als eine entschiedene Wendung zum Bessern bezeichnet werden. Man kann wohl sagen, daß die ganze Universität einen Wust von häßlicher Erinnerung, von mittelalterlicher Roheit wie ein Gewand von sich streifen konnte, als sie Ingolstadt verließ. Vollständig sollte die Studentenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität freilich erst zum Bewußtsein ihrer hohen Aufgaben kommen, als mit der Übersiedelung nach München auch das gesell
schaftliche Leben für sie einen ganz anderen Charakter annehmen mußte.
63. Tin Urteil über den bayerischen Volkscharakter. Don Lorenz von Westenrieder.')
Wenn das, was bei einzelnen Meitschen unwidersprechlich ihren Charakter
beweist, auch bei ganzen Nationen gilt, so gibt es kein bestimmteres Mittel sie kennen zu lernen, als sie bei den Dingen, wo sie sich selbst über lassen sind, bei den Übungen, die sie zu ihrem Vergnügen sich wäblen, bei den Feierlichkeiten, womit sie ihre wichtigsten Handlungen
begehen,
zu
beobachten. Der Bayer verachtet in der Stunde der Ruhe alles Ausruhen; wenn er sich von seinen Arbeiten erholen will, so muß, was ihn ergötzen soll, wieder eine Arbeit sein. Jene gemeinschaftlichen Freudenfeste und Übungen der Leibes
kräfte, welche von den Alten aus den weisesten Absichten eingeführt und aus
einer unverantwortlichen, nachlässigen Unwissenheit ost so gröblich außer acht gelassen werden, sind steilich gemeiniglich mit vielen Zusätzen und Mißbräuchen, aber in frischem Gedächtnisse vorhanden. Die Pferderennen sind die gemeinsten Belustigungen;
in manchen Orten sind sie gestiftet (so wie jeder Bürger ge
wisse Jahre zum Scheibenschießen angehalten ist) und selten wird ein länd liches Fest oder auch die Hochzeit eines vermöglicheren Landmannes ohne
dieselben gefeiert. Wenn dann nach einem fröhlichen Mahle die Munterkeit allgemein aufgeweckt und die Lust nach den Dingen, worin sie Ehre zu finden ') „Bayerische Beiträge zur schönen und nüplichen Literatur", II. Jahrgang, 2. Band S. 951 ff. München 1780, I. B. Strobl.
336
63. Ein Urteil über den bayerischen Bolkscharatter.
glauben, erweckt wird, dann entstehen Gewette, wer größere Lasten tragen,
geschwinder laufen, einen Stärkeren zu Boden werfen oder sonst etwas, wozu außerordentliche Kräfte erfordert werden, verrichten kann.
So sind alle ihre
Spiele, und sogar ihre Tänze sind äußerst ermüdend und nicht selten der Gesundheit gefährlich. Mit dieser Bestrebung nach mühsamen, kühnen Beschäftigungen verbindet
der Bayer einen Hang nach einer hohen Melancholie. Mit heiliger Ehrfurcht geht er durch grauenvolle Wälder eine alte, finstere Kapelle zu besuchen und
gern setzt er sich manche freie Stunde an einen gräßlichen Wasserfall oder an
einen einsiedlerischen Steg und denkt im einsamen Schatten an die Abwesenheit seiner Väter und an den Lauf, der Zeiten. Dies Gepräge ist an allen seinen wichtigen Handlungen sichtbar und was er in den Fällen tut, wo die Redlich keit und ein deutscher Handschlag Bürge steht, das geschieht mit einem rührenden
Ernste.
Sein Ausdruck und Betragen ist voll feuriger Leidenschaft, wo das
Herz an einer Handlung den größten Teil nimmt, und nichts gleicht dem höchstzärtlichen Lebewohl, womit eine Tochter (indes der Bräutigam mit seinen jungen, berittenen Freunden vor dem Hause wartet) mit feierlichen Formeln
erst in der Stube, dann noch unter dem Türpfosten von allem, was sie im Hause lieb gehabt und endlich und immer und immer wieder von ihren lieben
Eltern, denen sie danket und die Hände drücket und um Segen bittet, Abschied nimmt und sich endlich auf den Wagen heben läßt, der sogleich mit ihr unter Sausen und Jubelrufen davonjagt.
Ich sehe solche Auftritte, die mir der beste Bürge verborgener Fähigkeiten sind, mit vielem Vergnügen, vergesse gerne der harten Reimlein und der Schulsehler im Silbenmaß und weine noch dazu herzlich die süße Betrübnis mit und glaube, es wäre Sünde und Schande, ohne es zu tun, den umstehenden Eltern und Vettern und Basen mit grauen Haaren und den bekränzten
weinenden Jungfräulein in die nassen Augen zu sehen.
Der Bayer spricht gerne von Verstorbenen und pflegt bei einem Feste, das sich jährlich erneuert, immer, wenn er guter Laune wird, sich der Ab wesenden zu erinnern, daß dieser und jener vor einem Jahre auch dagewesen, daß er so und so geredet und daß eine Zeit kommt, wo keiner von ihnen
zugegen sein wird. In dem feierlichen stillen Heranrücken eines Ungewitters befindet er sich (den Kummer für die Feldfrüchte weggenommen) wohl und
besser als das aufmu.nterndste Lustspiel wird ihm Lear und Hamlet bekommen.
Immer glaubt er ächzende Schatten der Abgeschiedenen zu sehen und Rächte durch hängt er an dem Munde derjenigen, welche die Geschichten von Geistern und Gespenstern am besten zu erzählen wissen; und je grauenvoller und schrecklicher einer die gräßlichen Bilder aus den schweigenden Abgründen und Fclsenklüsten zu holen weiß, je lebhafter er seine Geschöpfe in dürre, unab sehbare Heiden oder öde Gebirge, wo sie verlassen und einsam jammern, wo sie nur zuweilen den Wanderer irreführen, zu versetzen weiß, desto besser ist
63. Ein Urteil über den bayerischen Volkscharakter.
die Erzählung.
Das sind
denn
337
aber Schwärmereien, wird mancher kalte
Leser sich denken und ich kenne den gewöhnlichen, oft gefährlichen Einfluß derselben so gut wie jeder, der das mir einwenden kann; aber ich weiß auch, daß zu dieser Schwärmerei eine Stärke der Einbildungskraft und Nerven ge hören, die mancher Nation (man muß auch darun, ihre Nüchternheit nicht eine
geläuterte Denkungsart nennen) versagt worden ist.
Ich für meinen Teil halte
nichts auf den Menschen, der keinen Hang dazu hat, und wer am Abende zittert,
weil er den abgeschiedenen Freund kalt an seiner Seite zu fühlen glaubt, ist mir als Freund, als Gelehrter, als Vater, als Beamter, als Soldat miklionenmal lieber, als wer des Verstorbenen sich erinnern und kaltblütig sprechen kann: hin ist hin! Und tot ist tot!
Und so behandeln die Bayern mit hartnäckiger Leidenschaft jeden wich tigen Gegenstand und wo sie einmal mit ihrer Seele an etwas hängen, davon wird nur der Tod sie entfernen. Mit Enthusiasmus handelt der Bayer beim Aufgebote zum Shriege und beim Rufe des Vaterlandes. Nirgends kann vielleicht ein Fürst besser ver
sichert sein, daß er aufrichtig und inwendig geliebt werde, wie von den Bayern, und in dem allemal unglücklichen Falle, daß er genötigt wird sie ins Feld zu rufen, so rasen sie, ohne, wenn ich so sagen darf, sich um Zelt
und Säbel zu bekümmern, von Norden und Süden und von Osten und Westen auf und glauben den Feind, wenn sie ihn nur einmal sehen sollten, mit den Händen erschlagen zu können.
Eine Beschäftigung, die so wie der
.Krieg unterhält und ermüdet, scheint ihm notwendig zu sein und in Ruhe
und Untätigkeit würde manche Seuche sich ausbreiten. Wenn ein Bayer etwas Vortreffliches zustande bringt, so sehen es die andern an und „es ist schon gut gemacht" sagen sie, gehen davon und lassen sich nicht einfallen aus dem Manne mehr als aus sich selbst zu machen.
Nie
mals wird ein wahrer Bayer sich selbst loben und seine Verdienste heraus streichen. Es gibt keinen auffallenderen Kontrast als etwa einen ausländischen Maler, dessen Hauch aus dem Munde und dessen erstes und letztes Wort eine unsinnige Prahlerei und Erhebung eigene Große verhüllten,
seiner selbst ist,
und einen
schweigenden Bayern zu sehen.
in
seine
Und wenn nicht
Fremde kommen, die den Gelehrten und den Künstler bekannt machen, die In länder werden es der Welt selten sagen, daß er vorhanden sei. Ich finde in diesem Betragen, das den Bayern keineswegs den Mut be
nimmt, sehr viel Großes, zumal da die Menschen, die gar zu gerne viel Rühm liches von sich sprechen hören, nicht allemal viel Rühmliches ausüben. Was bei den Bayern entsteht, das entsteht aus innerem Triebe, entsteht aus Liebe zur Sache.
338
64. Eine Jugenderinnerung an Westenrieder.
64. (Eine Iugenderinnerung an Westenrieder. Don Franz Graf von Pocci ')
Zu dem alten Geheimrat von K . . ., meinem Onkel, in dessen Hause
meine Eltern wohnten, kam ich als Knabe wohl mehr als einmal des Tags, denn er war ein gar leutseliger und wohlwollender Mann;
Fest war mir bei ihm jeder Freitag Nachmittag.
aber ein besonderes Vor dem Sofa, das mit
glänzend grünem Leder überzogen war, stund ein ovaler Tisch. Ein sauberes Tischtüchlein ward einige Minuten vor 3 Uhr darüber gebreitet, zwei Tassen wurden darauf gesetzt und einige treffliche Bretzeln und Eierwecken gaben diesem Still
leben einen mir, dem Knaben, sehr willkom menen Glanzfirnis. Diese Vorbereitungen geschahen aus keinem andern Grunde, als „weil der Herr Kanonikus zum Kaffee kam". Ich, für meine Person, ohnerachtet des Seitenblicks auf gewisse oben
erwähnte Bretzeln und Eierbrote, war schon immer die ganze Woche auf den Freitags
kaffee gespannt gewesen: denn ich hatte den Herrn Kanonikus sehr lieb; und wenn es Punkt 3 Uhr schellte — die beiden alten Herrn hielten etwas auf Pünktlichkeit — so lief ich freudig hinaus um den Gast zu emp Westenrieder, nach einer Federzeichnung von Franz Pocci.
fangen. Der Herr war ein sonderbarer Mann' und wurde von vielen nicht für so gut ge
halten als er wirklich war, da aus dem stechenden Blicke der unter schwarzen, buschigen Brauen liegenden Augen sein wohlwollendes Gemüt nicht immer herausschauen wollte. Ich kannte aber dieses Herz gar gut und sprang immer an dem Herrn Kanonikus, sobald er
durch die Gangtür eingetreten war, hinauf, während er mit einem sanften „Ho, Ho, Männl!" meine etwas ungestümen Liebkosungen abwehrte.
Der Herr Kanonikus trug auf seinem glänzend weißen, sauber gewickelten Haare einen großen, dreigestülpten Hut, den ich ihm abnahm. Die beiden
alten Herren, obschon auf sehr freundschaftlichem Fuße, machten sich immer sehr respektable Kratzfüße, bis die „untertänigen und gehorsamen Diener" sich
jeder in eine Ecke auf das Sofa setzten.
Der Kaffee ward hercingebracht
und ich bekam entweder von meinem Onkel oder vom Herrn Kanonikus meine
Bretzel.
Während des Kaffeetrinkens war das Gespräch ziemlich abgebrochen
und einsilbig, desto lebhafter ging es nachher vonstatten, so daß es zwischen *) „Deutsches Hausbuch", herausgegeben von Guido GörreS. München 1874.
II. Pgnd, S. 86?
64. Einr Jugenderinnerung an Westrnrieder.
339 Ich hörte auf
den beiden Freunden oft zu bedeutenden Diskussionen kam.
merksam zu, guckte aber dabei zum Fenster hinaus in Erwartung, bis auch an
mich ein Wort gerichtet würde. Da rief mich dann meist der Kanonikus zu sich: „He, Männl, wie steht's mit der Jahreszahl? Wann ist Kaiser Ludwig
der Bayer gestorben? Hast du das Zettelchen noch, worauf es steht? — Ich mache es auch nicht anders; wenn ich mir eine Jahreszahl merken will, schreibe ich sie auf ein Zettelchen und stecke es in die Westentasche.
Untertags
ein paarmal angesehen — und sie bleibt mir im Kopfe! Merk dies, Männl!" — Nach solchem Examen trat ich gewöhnlich ab oder lauschte noch etwas den Schlußverhandlungen der beiden Alten, wenn es über die schlechten Zeiten herging. Dabei war aber der Kanonikus größtenteils der Ansicht, daß es doch immer besser gehen werde und daß zwischen altem Plunder und dem guten Alten wohl zu unterscheiden sei. Mein Onkel hielt aber immer fest am Alten. Nachdem man sich doch in der Hauptsache vereinigt hatte, drückte man sich die Hände und schied unter gegenseitigen Respektsbezeugungen. Der Herr Kanoni
kus wandelte die Treppe hinab und nicht selten durfte ich noch ein Stückchen Wegs an seiner Hand auf der Straße gehen, worauf ich mir nicht wenig ein bildete. Im Jahre 1829 hieß es eines Freitags: „Heute kömmt der Herr Kano
nikus nicht zum Kaffee, er ist krank." „Der Herr Kanonikus ist gestorben."
Und ein paar Tage darauf hieß es:
LorenzWestenrieder war tot.
Bei unsäglichen Leiden, die ihm der
Gesichtsschmerz verursachte, erreichte der edle, unvergeßliche Mann ein Alter von 80 Jahren.
Von
Geburt
an
scheinbar
nicht
sehr
begabt ward er
Bayern — ja Deutschland — einer der achtbarsten Geschichtschreiber seiner Zeit und sein durchdringender Geist ermangelte nie der Grundlage der edelsten Herzensgesinnung. Unermüdlich war er in seiner Tätigkeit: um 4 Uhr morgens begann er im Winter und Sommer sein Tagewerk damit, daß er die Messe
las; dann schaffte er ohne Aufhören, bis er sich des Abends frühe zu Bette legte, um in den qualvollsten Schmerzen Jahre hindurch seine Nächte zuzu bringen. Nichts aber hemmte seine Tätigkeit. Wie oft sah ich ihn selbst in
diesen Leiden.
Kein Schmerzenslaut kam über seine Lippen.
Eines Tages
besuchte er wie gewöhnlich meinen Onkel und sagte: „Heute habe ich mir den letzten Zahn ausziehen lassen, aber es hat mir doch nicht geholfen." Nahe an hundert Bände, kleiner oder größer in ihrem Umfange,
sind das Ergebnis des rastlosen Schaffens dieses merkwürdigen Mannes. Seiner rauhen Außenseite wegen oft verkannt betätigte er sein wohl
wollendes inneres Leben wohl am schlagendsten dadurch, daß er — nach einem wahrhaft anachoretisch geführten Leben — an milde Stiftungen die Totalsumme
von 41500 Gulden als Vermächtnis hinterließ.
65. Eine geistliche Stadt.
340
65. Eine geistliche Stabt. Don Wilhelm Heinrich Riehl.')
Eine geistliche Stadt — so nenne ich Freising. Damit ist freilich noch nicht viel Unterscheidendes gesagt; denn es gibt auch außerdem geistliche Städte genug in Deutschland und darunter größere und berühmtere.
Allein
eine geistlichere Stadt unter unseren geistlichen Städten gibt es schwerlich. Darum nehme ich jenes Beiwort hier im engen, gesteigerten Sinne und präge es dadurch zu einem unterscheidenden, für unsere Stadt besonders charakte ristischen Worte.
Was Freising war und teilweise heute noch ist, das wurde es durch den Freising ist berühmt in der deutschen Geschichte, aber nur durch seine
Klerus.
Kirche und Schule, durch seine Bischöfe und geistlichen Gelehrten. Als Hauptstadt der Diözese lag es vortrefflich; als Landeshauptstadt des Hochstiftes höchst ungünstig, am äußersten Nordsaume eines zerstückten, zum Teil weit entfernten Gebietes. Der Bischof konnte bequem seinen Sprengel beherrschen, aber die Stadt beherrschte kein Land. Der Freisinger Domberg ragt, auf viele Meilen
sichtbar,
weit über die endlose Ebene
bis zu
den
fern auf
schimmernden Alpen; die Stadt liegt versteckt hinter dem Berge. Volkreich, politisch groß, selbständig in der Macht des Bürgertums ist sie niemals geworden.
Sie besaß kein reiches Patriziat, keine trutzigen Zünfte, kein eigen
artiges Gewerbe, keinen bedeutenden Handel, keine erhebliche Wehrkraft und die Kriegsgeschichte Freisings ist überwiegend eine Leidensgeschichte.
Freising hat seine eigentümliche Rechtsentwicklung; sie wurde aber nicht wie anderwärts im Kriege gegen die Bischöfe und im Streben nach reichs städtischer
Selbständigkeit
gewonnen,
sondern
auf
friedlichem
Wege
und
großenteils durch die Bischöfe.
Die klerikalen Einflüsse umschlangen und durchdrangen das bürgerliche
Leben Freisings allerorten. Und zwar gilt dies alles nicht bloß vonl Mittelalter sondern auch von den folgenden Jahrhunderten bis zur Säkulari sation.
Ja selbst auf unsere Zeit ist noch ein Schattenbild jener alten Zustände
übergegangen, schattenhaft gegen sonst, aber doch deutlicher als bei fast irgend einer andern modernen, weiland gefftlichen Stadt. Ein Blick auf andere deutsche Bischofsstädte möge zeigen, daß ich nicht indem ich Freising den besonders reinen und ausschließenden Typus der geistlichen Stadt beilege.
zu viel gesagt,
Das heilige Köln war neben seiner Heiligkeit zugleich auch Ouartierstadt
der Hansa, handelsmächtig, und wenn man im Mittelalter von den „Herren
von Köln" sprach, so dachte man dabei nicht an die Geistlichen, sondern an die Kaufleute und Tuchmacher, welche sich wohl auch eines Kampfes mit dem *) Wanderbuch, als zweiter Teil zu „Land und Leute", S. 219 ff. Stuttgart 1869, Cotta.
341
65. Einr geistliche Stadt.
Erzbischof getrauten.
Trier als älteste Stadt Deutschlands blickte fast stolzer
noch aus seine heidnische Urgeschichte als auf den Glanz seiner Bischöfe, es rang mit ihnen um reichsstädtische Freiheit, die es auch durch drei Jahrhunderte
nahezu besessen hat. Das goldene Mainz, das deutsche Rom, ,stand an der Spitze des rheinischen Städtebundes, seine herausfordernd selbständige und lebenslustige Bürgerschaft war zur Zeit des Erzbischofs Siegfried so wenig wie in den Tagen der Klubisten dem Klerus besonders unterwürfig und
auch ohne die Residenz des vornehmsten geistlichen Reichsfürsten würde Mainz doch immer als Rheinfeste und Rheinhafen bedeutend gewesen sein. Andere berühmte deutsche Bischofssitze sind berühmter noch als Kaiser
städte öder sonst hervorragende Schauplätze der Reichsgeschichte wie Speyer,
Paderborn, Magdeburg, Halberstadt, Merseburg, Regensburg, Augsburg, wozu sich meistens dann auch die politische Selbständigkeit der Stadt, Kämpfe der Bürger mit den Bischöfen und eigene, mitunter überwiegende Handels- und
Gewerbemacht gesellen. Und obendrein sind alle die eben genannten Städte schon im 16. Jahrhundert ganz oder teilweise protestantisch geworden. Im deutschen Norden bietet wohl
Parallele zu Freising.
nur
noch Münster
eine
wirkliche
Geistlich schon nach dem Sinne seines Namens trägt
Münster in seiner baulichen Physiognomie wie in seiner Geschichte entschieden das Gepräge der geistlichen Hauptstadt. Allein eben diese Geschichte zeigt zugleich
durch Jahrhunderte das Schauspiel des Ringens der Bürger nach
reichsstädtischen Rechten und nach Abschüttelung der landesherrlichen Gewalt
des Bischofs.
Den endlichen Sieg gewann der Bischof nach dem Siege über
die Wiedertäuferei.
Münster ist zudem nicht
bloß als geistlicher,
überhaupt als städtischer Mittelpunkt Westfalens bedeutend, Sitz des westfälischen Adels, dessen patrizische Häuser mit Gebäuden wetteifern;
inan würde Münster zu wenig tun,
sondern
dann als ein den klerikalen
wollte
man es
schlechtweg eine geistliche Stadt nennen. Im Gegensatze zu den bischöflichen Großstädten, swclche allesamt über
die bloß geistliche Stadt hinausgewachsen sind, und zu den ehemaligen Bischofs sitzen unseres protestantischen Nordens gibt es nun allerdings einige Städte
im katholischen Süd- und Mitteldeutschland, die mit Freising im rein geistlichen Charakter zu wetteifern scheinen:
Salzburg, Passau,
Eichstätt,
Bamberg,
Würzburg, Fulda. Allein Salzburg hatte seine bürgerlichen und seine Reformationskämpfe,
die Freising nicht kennt, Salzburg war als Landeshauptstadt eines Gebietes von 174 Quadratmeilen ein so hervorragendes politisches Zentrum, wie es Freising niemals werden konnte. Passau, das Donau-Koblenz, würde durch
seine handelswichtige Festungslage auch dann einer der notwendigsten Städte punkte Oberdeutschlands gewesen sein, wenn niemals ein Bischof dort gesessen hätte. Ähnlich Bamberg und Würzburg, zwei durch die Natur der Boden
plastik vorgezeichnete Städte,
welchen der Keim selbständiger wirtschaftlicher
65. Eine geistliche Stadt.
342
Entwicklung für alle Zeit schon geographisch verbürgt ist. Fulda rücken dem Charakter Freisings
sehr nahe; wo
Nur Eichstätt und man
sie überhaupt
nennt unter den deutschen Städten, da tut man's wegen ihrer geistlichen Geschichte. Eichstätt ist aber doch nur ein Bischofssitz untergeordnetertn
historischen Ranges und wenn Fulda in ältester Zeit Freising überragt durch seine Nerikale Kulturmacht, so hat es dieselbe doch nicht so lange und andauernd zu steigern und bis nahe zur Gegenwart zu behaupten gewußt. Man sieht aus alledem, daß ich das Beiwort „geistlich" bei Freising schon unterstreichen darf. Das Einzelbild dieser Stadt soll, zum Gattungs bild geworden, als eine Studie zur vergleichenden Kenntnis des deutschen
Städtewesens dienen. Die reiche freisingische Spezialliteratur wird schon in ihren Büchertiteln
und Autornamen zum lebendigen Bilde und versetzt uns unmittelbar auf den geistlichen Boden, der die Stadt und ihre Geschichte trägt.
Fast alle Haupt
autoren, die über Freising geschrieben haben, von der ältesten bis zur neuesten Zeit, sind Geistliche gewesen und der Bibliothekar kann bei den meisten Schriften zur Geschichte Freisings in Verlegenheit geraten, ob er dieselben unter der Rubrik historia ecclesiastica ausscheiden soll. Die um
fassendste oder doch mindestens am sorgsamsten und selbständigsten gepflegte
Sammlung der Frisingensia befindet sich dementsprechend auch in geistlichem Besitze, in der Bibliothek des Domkapitels zu München.
Eine Geschichte der Stadt Freising ist noch nicht geschrieben; um so fleißiger schrieb man die Geschichte der freisingischen Bischöfe. Wie ein Heiliger (Korbinian) das Bistum gründete (724) und ein anderer Heiliger (Bonifatius)
dasselbe zu einem ständigen Bischofssitze erhob (739), so beginnt auch die Spezialliteratur Freisings mit einem Heiligenleben, der Biographie Korbinians von Aribo.
An
dem Faden
Geschichte Freisings weiter wir dann gelegentlich
der Biographie der Bischöfe spinnt sich
und
die
aus der Perspektive des Domberges können
auch die Entwicklung
der Stadt beobachten.
Ganz
ähnlich findet sich's anderwärts bei den echten Residenzstädten weltlicher Fürsten. Nicht bloß die Geschichte, auch die Geschichtschreibung der Stadt wird von der
Fürstcngeschichte aufgesogen;
in den Reichsstädten dagegen ist der fruchtbare
Keimbodcn der bürgerlichen Städtechroniken. Unter den Vertretern der historischen Literatur Freisings erscheinen Bischöfe, Mönche, Domherren, Dompröpste, ein Domdechant, ein Kaplan, geistliche Profes
soren und Priester anderer Grade. Nun wäre es eben nichts Besonderes, wenn im früheren Mittelalter bloß Geistliche über diesen geistlichen Fürstensitz geschrieben hätten;
allein auch zur Zeit der Renaissance
(Veit Arnpeck und Joh. Frei
berger) und im 18. Jahrhundert (Meichelbeck) herrschen die geistlichen Federn. Ja man kann sagen bis zur Säkularisation
ist keine namhafte selbständige
Schrift über Freising erschienen, die nicht entweder einen geistlichen Herrn
zum Verfasser hatte oder in den wenigen Ausnahmefällen mindestens solche
343
65. Eine geistliche Stadt.
Laien, die in Brot und Würden des Bischofs standen.
Auch nach der Säku
larisation bis zur Gegenwart waren es überwiegend Geistliche, welche sich mit selbständigen Beiträgen zur Geschichte Freisings beschäftigten. Die historische Literatur Freisings gliedert sich sehr einfach in drei Perioden. Die erste geht vom 8. bis zum 15. Jahrhundert und umfaßt
lauter Bücher, welche nebenher Beiträge zur Geschichte von Freising liefern, obgleich ihr Hauptinhalt weder auf eine Geschichte der Stadt noch des Bistums
gerichtet ist.
Hierher gehört der Bischof Aribo (764—784) mit dem Leben
des hl. Korbinian; der Mönch Kozroh mit seinem über traditionum antiquus (810—848); Bischof Otto I. (1138—1158) mit seiner Chronik und
dem Buche de gestis Friderici primi; der Domherr Radevich (oder Ragewin) mit
der
Fortsetzung
der
letztgenannten
Schrift;
ein
anderer sreisingischer
Domherr des zwölften Jahrhunderts, Conradus Sacrista, als Verfasser eines weiteren Schenkungsbuches und endlich auch ein Laie, der Notar Ruprecht
mit seinem Stadtrechtsbuch von 1328. Die zweite Periode der freisingischen Geschichtsbeiträge geht vom 15. Jahr
hundert bis zur Säkularisation; sie beginnt mit Veit Arnpcck und gipfelt in
Meichelbeck.
In dieser Zeit herrschen die Chroniken oder Kataloge der Bischöfe
von Freising. Die Lektüre dieser Chroniken mutet uns an wie der Gang durch eine Ahnengalerie; aus den chronologisch zusammengestellten Bildnissen
der einzelnen Bischöfe spricht die Geschichte des Bistums.
chronisten zählt im
Zu diesen Bischofs-
15. Jahrhundert der bischöfliche Kaplan Veit Arnpeck,
im 16. Jahrhundert der Domherr Johannes Freiberger. Solche biographische Verzeichnisse der Bischöfe wurden dann von Geistlichen bis gegen die neueste
Zeit geschrieben.
Auch die Kunst half den Catalogus episcoporum darstellen.
Joachim Haberstock setzte ihn in Verse, ich will nicht sagen in Poesie, und im 18. Jahrhundert wurde die Reihenfolge der Bischöfe für den „Fürstengang"
(zwischen Schloß und Dom) gemalt nebst den Ansichten der wichtigsten Orte des hochstiftischen Landes und kurzen biographischen Aufschriften.
Dieser halb
gemalte, halb geschriebene Katalog reicht bis 1789. Für den letzten, nach der Säkularisation gestorbenen Bischof wäre nur noch notdürftig Platz gewesen,
wenn man die zwei Bilder an der oberen Schmalseite eng zusammengerückt hätte, dann aber für keinen mehr; es waltete also ein ähnliches Spiel des Zufalls wie bei den Kaiserbildern im Römer zu Frankfurt.
Die alten Bio
graphien der Bischöfe sind in Meichelbecks Historia Frisingensis zu einem großen Geschichtswerke eniporgewachsen, welches, reich mit Urkunden belegt, vielfach über die Geschichte des Bistums hinausgreift.
Die dritte Periode freisingischer Geschichtsliteratur (im 19. Jahrhundert) hat viel älteres Material gesichtet, veröffentlicht, vervollständigt, aber auch wesentlich Neues dazu gewonnen. So gab Baumgärtner, ein Geistlicher, den
deutschen Auszug von Meichelbecks Geschichte neu heraus (1854) und führte
die Chronik bis zur Gegenwart.
Hoheneichner (weiland fürstbischöflicher Hofrat
65. Eine geistliche Stadt.
344
und Archivar) sammelte mannigfache monographische Beiträge.
Vor allen aber
machte sich Dompropst Martin v. Deutinger verdient durch den Abdruck so
vieler älteren Quellenwerke in seinen „Beiträgen zur Geschichte u. s. w. des Erzbistums München und Freising" (1850). In diesem reichen Sammel werke gab dann Gentner, ein Geistlicher, die Geschichte des Klosters Weihen-
stephan, welche uns in
immer weiterer geistlicher Perspektive wiederum auf
eine eigene Mönchschroniken-Literatur zurückweist. Nach zwei Seiten hat unsere Zeit ober auch neue Themen freisingischer Spezialforschung angeschlagen: in der Kunst und Rechtsgeschichte, v. Hecken-
staller und Gandershofer erinnerten zuerst wieder in besonderen Schriften an die hohe monumentale Bedeutung des Freisinger Domes.
Was diese beiden
Geistlichen nur erst angeregt, das führte ein dritter, Lyzealprofessor Sighart aus; er gab uns umfassende Kunde von sämtlichen Kunstschätzen Freisings die gebührende Stelle in der bayerischen
und sicherte ihnen
und deutschen
Bei den rechtsgeschichtlichen Studien aus der freisingischen Geschichte treten überwiegend juristische Schriftsteller in den Vordergrund,
Kunstgeschichte.
v. Maurer, Häberlin, Gengler, Foringer u. a.
der in
tische Bearbeitung
Meichelbecks
Allein Häberlins „Systema
historia Frisingensis
enthaltenen
Urkundensammlung" ist wenigstens, wie schon der Titel besagt, durchaus auf das urkundliche Material des gelehrten Benediktiners und freisingisch-geistlichen Rates Meichelbeck gebaut und jene Schriften bieten überhaupt viel mehr Beiträge
zur deutschen Rechtsgeschichte
aus fteisingischen
Quellen
als Beiträge zur
Geschichte Freisings.
Man ersieht aus alledem, der gelehrte Berg von freisingischen Geschichts
büchern ist fast durchaus ein geistlicher Berg, so gut wie der wirkliche „gelehrte Berg", welcher Schloß und Dom trägt, und die Überschau bloßer Büchertitcl wird an sich schon zu einem kulturgeschichtlichen Bilde, darin sich die geistliche
Physiognomie der alten und neuen Stadt in klaren Zügen spiegelt. Das alte Freising liegt hinter dem Domberg und neben dem Kloster berg von Weihenstephan. Es wird im Nordosten und Südwesten von drei Klöstern flankiert: von Neustift, Weihenstephan und St. Veit; gegen Süden liegt ihm der Domberg vor. Nur den Rücken — nordwestlich —
hatte die Stadt frei; Dort öffnet sich
dort grenzt keine dominierende geistliche Besitzung an.
aber auch keine große Verkehrsbahn;
von Südwest nach
Nordost flutete das Leben, nach Nordwest trägt man die Toten schon seit
300 Jahren zur Ruhe.
Hier, an der Rückseite der Stadt, öffnete sich kein
Haupttor, hier drängten sich viele kleine Häuser und unbedeutende Straßen
an die Mauer
und eine lange Zeile neuer Tagelöhnerhäuschen, welche seit
einigen Jahren über den alten Stadtbering hinausgewachsen sind, bezeugt uns,
daß auch heute noch auf dieser Seite die Stadt zum Lande übergeht. Das weithin sichtbare, landschaftliche Wahrzeichen Freisings sind die zwei geistlichen Berge, Weihenstephan und der Domberg. Beide sind sehr mäßig
65. Eine geistliche Stadt.
345
hoch, der eine erhebt sich nur 50, der andere nur 32,5 m über den Isar spiegel, allein beide herrschen, nicht nur weil sie die höchsten Punkte sind, sondern weil sie zugleich mit ihren breiten, langgestreckten Rücken für feste,
abgeschlossene und ausgedehnte Besiedelung Raum boten. Ein jeder der beiden Berge hat seine Vorzüge und beim abwägenden
Vergleichen ihrer Lage tut einem die Wahl wehe.
Doch haben die Bischöfe
klug gewählt, als sie sich auf dem Berge festsetzten, welcher die natürlichen Straßenlinien zu Wasser und zu Land und folglich die Stadt beherrscht, und
die Mönche, als sie die Höhe behielten, welche für Garten und Feld und also auch für die Herrschaft über das umliegende Kulturland den günstigen Raum bot. Die größten und reichsten Erinnerungen der Sage und Geschichte ruhen nicht auf dem Tale, auf der Stadt Freising, sie haften an den beiden Bergen. Dort hinauf blicken wir zuerst beim Aufsuchen von Römerspuren
wie von sagenhaften oder historischen Zügen aus der Zeit des Frankenkönigs Pipin oder der alten bayerischen Herzoge. Das Wirken des hl. Korbinian in Freising bewegt sich wesentlich zwischen den beiden Höhen und der Weg, welchen er zur Gründung des Bischofssitzes genommen, ist auch örtlich bezeichnet durch den Weg, welcher sich-vom östlichen Rücken des Weihenstephaner Berges
hinüber zum Domberge zieht, gleich einer Reihe von Stationen mit Erinne
rungsmalen seines Namens geschmückt.') Seit dem 8. Jahrhundert und dann durchs ganze Mittelalter und herauf bis zur Gegenwart sind die beiden Berge überwiegend die Träger der histo
rischen Bedeutung
Freisings und zwar ging auch
die Geschichte
denselben
Weg wie der hl. Korbinian: sie zog von Weihenstephan mehr und mehr zum Domberge als der geschichtlich steigend wichtigeren Höhe. Wie aber Korbinian
auf jedem der beiden Berge bereits eine Kirche vorfand, so sollen die zwei Berge sogar in germanischer Urzeit schon eine Art geistlicher Berge gewesen sein. Die Südseite des Dombcrgs war früher großenteils ein Weingarten, welcher am Fuße des Abhanges in Obst-, Gemüse- und Blumengärten überging.
Dieser freisingische Weinbau ist bereits vom hl. Korbinian begründet worden
und folglich die Rebenkultur an unseren Jsarhöhen um volle 100 Jahre früher historisch beglaubigt als bei irgend einer der hochberühmten Lagen des Rheingaues. Obgleich nun der Weinberg, auf Merians Bild von 1642 noch sichtbar, längst verschwunden ist,
so breitet sich doch noch immer ein äußerst
fruchtbares Gartenland über einen Teil des Domberges und an den sonnigen Mauern der obersten Terrasse reift neben der Traube sogar die Feige, trotz
der absoluten Höhe von 477 m. Der Domberg überragt aber die zu Füßen
liegende Stadt
und
ihr
Gebiet nicht bloß durch seine Fruchtbarkeit sondern auch durch seine Festigkeit. ') Auch der uralte, ehrwürdige Baum, die Korbinianslinde, an deren Grünen der Volksmund das Gedeihen der Stadt Freising knüpfte, stand auf dem Osthange des Weihenstephaner Berges. Sie brannte im Jahre 1865 vollständig nieder.
65. Eine geistliche Stadt.
346 Er ist ihre Burg,
ihre Zitadelle und eine Zitadelle taugt nach Umständen
bekanntlich eben so gut eine Stadt zu zügeln als sie zu verteidigen. Das alte Freising war nicht besonders fest, Mager und Graben waren
sehr einfach und klein, die fünf Tortürme unbedeutend.
Um so fester stand
der Domberg
über der Stadt. Ringsum steil abfallend war er nur von Osten durch einen Fahrweg zugänglich, von Westen durch einen steilen Reitweg (beide durch stattliche Tortürme auf der Mitte des Berges geschlossen),
tioit
Süden durch einen leicht zu sperrenden Fußsteig. Im Süden bot schon am Fuße die Mosach eine natürliche Deckung, im Osten Mosach und Isar; die
westliche und östliche Höhe des Berges war mit Verteidigungstürmen bekrönt,
von welchen eine hohe Mauer zum Münchener Tore herunterzog, und noch fünf bis sechs andere Mauern stiegen vom Plateau in Querlinien zum Tale nieder.
Die Domherrnhäuscr auf der zur Stadt gekehrten Rückseite sahen im
17. Jahrhundert zum Teile selbst noch festungsartig ins Tal hinab: auf hohen,
fensterlosen Untermauern erhoben sich mehrere derselben am Abhange turmartig aufsteigend und wehrten das Eindringen quer den Berg herauf so gut wie ein
förmliches Verteidigungswerk.
Am südlichen
Rande des Plateaus aber
war' Dom und Schloß durch eine besondere Mauer mit Türmchen gegen einen etwa den Weinberg heranstürmenden Feind geschützt. Der Domberg erscheint demgemäß als eine selbständige Feste, von der Stadt durch Mauern und Tore abgeschlossen, und der Umstand, daß sich auf dem Berge nicht bloß geleitetes
Wasser befand sondern für den Notfall auch eigenes Quellwasser, machte seine Stärke noch unabhängiger.
Wie aber der Domberg gleich einer Burg über der Stadt thronte, so war auf dieser großen Feste eine engere Burg noch einmal besonders befestigt, das Schloß der Fürstbischöfe, durch Mauer und tiefen Graben. Und nicht bloß militärisch war der Domberg von der Stadt abgeschlossen
sondern auch sozial.
Bischof Otto I., der große Geschichtschreiber,
verfügte
bei seiner Erneuerung der Regeln des Domstistes, daß kein Laie innerhalb der beiden Tore des Domberges wohnen solle. Der ummauerte Berg glich also fast einem großen, festen Kloster, wie denn auch zur Zeit des hl. Korbinian ein wirk liches Kloster der älteste Kern seiner weiteren geistlichen Besiedelung gewesen ist. Schon durch diese Eigentümlichkeiten der Lage findet die geistliche Burg
des Domberges in Deutschland schwerlich ihresgleichen.
In andern deutschen
Bischofsstädten hatten zwar auch die geistlichen Herren ihr fest begrenztes Quartier; allein der Bischofssitz als Kristallisationskern der ringsum anschließenden Stadtteile verliert entweder später seine uralte Absonderung oder
der Fürstenhof
des Bischofs
übersiedelt
burglichen Abgeschiedenheit in die Stadt.
wohl
gar aus der früheren
Letzteres geschah z. B. in Würzburg,
dessen Marienberg als Residenz der Bischöfe seit dem 13. Jahrhundert manche Ähnlichkeit mit dem Freisinger Domberge bietet. Der Würzburger Dom aber
liegt unten in der Stadt und im 18. Jahrhundert baute auch der Bischof da
65. Eine geistliche Stadt.
drunten sein neues Schloß.
347
In Freising vermochte sich weder der Domberg
mit der Stadt zu verschmelzen noch konnte die Stadt den Bischofssitz vom
Berge herabziehen. Einziger noch als durch diesen Umstand erscheint uns jedoch die Stätte des Domberges, wenn wir erwägen, was alles innerhalb ihrer zwei Tore lag.
Auch ein Berg (ober eine Stadt) kann seine aerugo nobilis haben, seinen edlen Altersrost, so gut wie ein Erzbild. Diese aerugo ist der tiefe Trümmerschutt, welcher jetzt die oberste Bodendecke des Domberg-Plateaus bildet. Neuere Erdarbeiten zeigten, daß der Schutt stellenweise bis 8 Fuß
hinabsteigt und
in dieser Tiefe fand man römische Münzen; 3 Fuß
unter
dem Boden aber mittelaltrige (brandenburgische und kölnische) Goldmünzen des 15. Jahrhunderts,
Silbermünzen des 16. Jahrhunderts.
Von Münzfunden
in der Stadt ist mir nichts bekannt, dagegen erzählte mir Professor Sighart,
dem ich die vorstehende Notiz verdanke, von einer Menge Spielmarken des Mittelalters, welche dort in alten Häusern gefunden worden seien. Also droben bei den geistlichen Herren die Dukaten, unten bei den Bürgern die Rechenpfennige. Über jenem Schutt, den der zerstörende Gang der Jahrhunderte auf
dem Domberge gehäuft, erhebt sich nun der Dom mit anderen Kirchen, das Schloß, die alten Domherrnhäuser und sonst noch genug Gebäude, alle einstmals den Bedürfnissen der geistlichen Kolonie gewidmet. Am merkwürdigsten ist die Überzahl der Kirchen, wie sie vordem dicht
geschart
der enge Raum umschloß.
Vor der Säkularisation zählte man
nicht weniger als 14 Kirchen und Kapellen da droben: den Dom, St. Benedikt,
St. Johannes, St. Peter, St. Andreas, St. Martin, St. Salvator, dann die bischöfliche Hauskapelle und
die Kapellen in
der Domdechantei, in der
Dompropstci, im Propsteigebäude von St. Andreas, im Lerchenfeldhof, Kolonnahof und Waldkirchhof. Man wird schwerlich einen zweiten Ort in Deutschland finden, wo so viele Kultusstätten auf so kleiner Fläche zusammengedrängt
waren und trotz des Abbruches einzelner Kirchen auch heute noch sind. Auf dem Domberge bestanden vier Kanonikate: beim Dom, bei St. Paul, St. Johannes und St. Andreas. Seltsam genug aber hauste inmitten all des wimmelnden geistlichen Lebens sogar auch ein Einsiedler, ein Seitenstück zu den neun Einsiedlern, die bei Schleißheim je ein paar Büchsenschüsse von einander saßen.
Rechnet man zu den Kirchen des Domberges noch die drei Kirchen von Neustift, dann die sieben Kirchen an und auf der Höhe von Weihenstephan (die Klosterkirche, St. Jakob, St. Veit, die Abteikapelle, die Magdalenenkapelle, die Korbinianskapelle und die Frauenkapelle) und endlich die Kirchen der Stadt
(St. Georg, die Kirche des Franziskanerklosters, des Hl. Geist-Spitals, die Gottesackerkirche, die Münchenerkapelle u. a.) — so kommt über ein Viertel
hundert heraus
und es begreift sich, wie das turmreiche Freising auf alten
65. Eine geistliche Stadt.
348
Bildern so ganz anders drcinschaut als sonst jene mittelalterlichen Städte, bei
welchen die Festnngstürme mit den Kirchtürmen wetteifern, ja sie an Masse überbieten, während Freisings unansehnliche Tor- und Mauertürmchen von der Schar großer und kleiner Kirchturmspitzen tief in Schatten gestellt sind.
Schon von fernher verkündete sich dem Auge die geistliche Stadt. Die Säkularisation von 1803 trachtete bei Freising vor allen Dingen den Charakter der geistlichen Fürstenstadt zu verwischen;
sie wandte darum
ihren Zerstörungseifer besonders scharf gegen die beiden Berge Weihenstephan und den Domberg. Wer es nicht weiß, der sieht dem Berge des hl. Stephan jetzt nicht entfernt mehr an, daß dort einmal zwei Klöster mit so vielen Kirchen und Kapellen gestanden haben; alle Bauwerke von irgend kirchlichem
Charakter sind entweder abgebrochen oder umgebaut.
Auch auf dem Domberge
wurde beträchtlich aufgeräumt. Man nannte ihn damals lieber den „Residenz berg"; Dom klang zu dumpf und dunkel. Wo früher die Andreaskirche
stand, wurde Wäsche getrocknet *), die Stätte der Peterskirche bezeichnete ein Kreuz, die Johannes- und Martinskirche wurden in Magazine verwandelt und auch der Abbruch der altehrwürdigen Domkirche war bereits beantragt wegen vorgeblicher Baufälligkeit. Den ersten Anstoß zu ihrer Rettung gab ein fran
zösischer Dragoneroberst, welcher im Jahre 1805 den längst geschlossenen Dom als den besten Platz erkannte um eine Kirchenparade zum Geburtsfeste des Kaisers Napoleon abzuhalten.
Mit dem Verschwinden des Domes würde die Phy
siognomie von Freising ganz anders, das heißt höchst charakterlos geworden sein.
Nicht dies aber ist zum Verwundern,
daß so viel zerstört wurde auf
dem Domberg, sondern daß man so viel übrig gelassen hat. Obgleich kein Bischof mehr da droben sitzt und keine Domherren, kein geistlicher Hofstaat und kein Einsiedler, obgleich längst schon Laien genug innerhalb der beiden
Tore wohnen, so ist der Domberg doch auch heute noch ein geistlicher Berg. Er beherrscht nicht mehr die Stadt, aber auf seiner Höhe herrschen wenigstens
sozial die Geistlichen
und
durch
den Domberg
entschieden geistlichen Zug, wenn man es auch
behauptet Freising einen
nicht mehr schlechthin eine
noch von dem „gelehrten" Berge sprechen wegen der vielen geistlichen Lehranstalten (Lyzeum, Klerikal
geistliche Stadt nennen kann.
Man darf auch
seminar, Knabenseminar, Gymnasium, Realschule, Schullehrerseminar), die auf seiner engen Fläche vereinigt liegen,
gleichsam
als
die letzten Absenker der
Ist er auch nicht mehr ein gelehrter Berg fürs römische Reich wie zu den Zeiten Ottos2), so ist er doch ein gelehrter Berg für Freising uralten Domschule.
und Altbayern. *) Nunmehr stehl ebenda der imposante Neubau des Klerikalseminars. •) Verfasser meint den Fürstbischof Otto I., den Oheim Kaiser Friedrichs I. Barbarossa, den berühmten Geschichtschreiber, der außer einer Chronik ein weiteres wichtiges Quellen werk „Die Taten des Kaisers Friedrich" hinterlassen hat. Sein würdiges Denkmal von K. Zumbusch ziert seit 1855 den Domplatz.
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-Zweibrücken.
ist seit der Säkularisation
Viel Geistliches
349
wieder restauriert worden
Man hatte zeitweilig Kürassiere hinaufgelegt und das
auf dem Domberge.
Landgericht und das Taubstummeninstitut.
Allein das alles haftete nicht an
dem Berge; die Geistlichen behielten zuletzt doch die Oberhand. Auch die äußerlichen Verwüstungsspuren der Säkularisation wurden möglichst wieder ausgeglättet.
Die Altäre erhielten aufs neue ihren verlorenen Schmuck, die
aus den Kirchen genommenen Reliquien wurden bei einem eigenen „Reliquien fest" 1828 wieder in
den Dom zurückgebracht,
die gotische Johanniskirche,
nachdem sie fast vierzig Jahre als Magazin gedient, sorgsam wiederhergestellt und wenn auch in der Martinskirche kein Gottesdienst mehr gehalten wird, so ist sie dafür seit etlichen Jahren ein Diözesanmuseum kirchlicher Kunst
altertümer geworden, gesammelt von einem Geistlichen (Professor Sighart) und zunächst fruchtbar Berges.
für den
Unterricht der Klerikalalumnen
des
geistlichen
Zu den Männern, welche unersetzliche Kunstaltertümer aus der Sturm flut der Säkularisation retteten, zählt vor allen der Domdechant Heckenstaller
und der Priesterhausdirektor Dr. Zarbl, welcher im Verein mit den Münchener Künstlern Gärtner und Ludwig Schwanthaler die ersten Gedanken und Pläne
zur Restauration des Domes anregte und viele bedeutende Altertümer (z. B. die alten Wandgemälde des Langschiffes, die berühmte hölzerne Monstranz
u. a.) wieder entdeckte,
behütete
und wieder Herstellen ließ.
In ähnlichem
Geiste wirkte nachgehends Professor Sighart; er hat nicht wenige verschüttete Kunstaltertümcr Freisings wieder ans Licht gezogen und geordnet, anderes vor Zerstörung bewahrt. Ohne das treue Walten solcher Kunst- und Geschichtsfrennde vom Dombcrge würde Freising gewiß nicht entfernt mehr jenes charaktervolle Bild der alten
geistlichen Stadt bieten, wodurch es jetzt den Gebildeten fesselt. hier wühlten Leute genug, die,
Denn auch
wie König Ludwig I. vordem so treffend in
Sachen Nürnbergs sprach, nicht eher ruhen wollten, als bis sie alles so glatt gemacht hätten wie ihre eigenen Schädel.
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-gweibrücken. Von Karl Theodor von Heigel. *)
Die Zeit vor hundert Jahren kann der verstockteste laudator temporis acti nicht die „gute, alte Zeit" nennen. Karl Albert von Bayern, als Träger der kaiserlichen Dornenkrone Karl VII., kein Übermensch wie sein Zeitgenosse Friedrich, aber wohlwollend x) Rede, gehalten beim Stiftungsfest der Universität München am 26. Juni 1899. „Neue geschichtliche Essays," S. 51 ff. (gekürzt). München 1902, Oskar Beck.
350
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an daS Haus Pfalz-Zweibrücken,
und volksfreundlich, hatte den kurzen Kaisertraum mit dem Ruin seines Landes
Die dem Deutschen Reiche angegliederten Völker des Ostens hatten Bayern in so furchtbarer Weise verheert, daß man in der deutschen Geschichte
gebüßt.
bis zu den Ungarnzügen des frühen Mittelalters zurückblättcrn muß um ein
Beispiel ähnlicher Kriegführung zu finden.
Auch in Friedenstagen stach gegen
den Glanz des Hofes die Armut des Landes häßlich ab.
Und das Geistes leben, die Volksbildung war in gleichem Maße zurückgegangen wie der Volks wohlstand. König Friedrich nennt Bayern in seinen „Denkwürdigkeiten" ein „von Schweinen bewohntes Paradies." Das grobe Wort war vor allem von Abneigung gegen Rom eingegeben, doch auch Eingeborne wie Westenrieder, der sowohl an seiner Kirche wie an seiner Heimat hing, fanden die Kulturzustände
in Bayern unwürdig und beklagenswert. Was war aus dem Stamme ge worden, dem das deutsche Volk die erste klassische Literaturepoche, das tief sinnigste Kunstepos und herrlichen Minnesang verdankte!
Und kaum daß es
unter Max III. Joseph und seinen treuen Helfern, den Münchener Akademikern, zu dämmern begann und für die Volkswirtschaft wie für die Schule bessere Tage kamen, vernichtete der Tod des beliebten Fürsten die Hoffnungen, wie Meltau eine junge Saat.
Denn der neue Regent brachte dem Volk, in dessen
Mitte er nach den Hausverträgen fortan leben sollte, kein Herz entgegen. Karl Theodor von der Pfalz,
„der erste Kavalier des Heiligen römischen
Reiches," wie er von seinen Höflingen genannt wurde, zog dem vieltürmigen München das „feine" Mannheim und den bayerischen Bergen seinen Schwetzinger Park vor.
Diese Kühle des zur Regierung in Bayern berufenen Fürsten war
in Wien wohl bekannt; darauf stützte sich der Plan Kaiser Josephs II. durch Einverleibung Bayerns um so leichter die Germanisierung der vielsprachigen österreichischen Monarchie durchzusetzen und zugleich dem Erzhause für alle Zeiten die Übermacht in Deutschland zu sichern. Wie der unwürdige Länder
schacher eingefädelt wurde, ist bekannt.
Welche Entrüstung er in Deutschland
hervorrief, bezeugt das zornige Wort Schlözers:
Der Landgraf von Hessen
habe nur ein paar tausend Landeskinder verkauft, der Kurfürst von Bayern aber wolle gleich sein ganzes Land losschlagen und preisgcben. Allerdings nach Amerika sollten die Bayern nicht, aber der Kurfürst wollte aus Bayern!
Es ist klar, daß sich Friedrich II. nicht aus Großmut mit der patriotisch bayerischen Partei, deren Seele die Witwe des Herzogs Klemens, Maria Anna,
war, und mit dem mutmaßlichen Erben von Pfalz-Bayern, Herzog Karl August von Zweibrücken, verbündete. Friedrich hatte die schwer errungene Stellung Preußens in Deutschland und Europa zu verteidigen. Do, ut des! ist die
Seele aller politischen Verträge und Uneigennützigkeit nur eine Privattugend. Wenn Friedrich sich Bayerns annahm, dachte er sicherlich nicht an Bayern, sondern an Preußen. Doch die Beweggründe verbergen sich ftüher oder später,
die Tat und ihre Früchte bleiben.
Tatsache ist, daß nur durch Friedrichs
Hilfe die Selbständigkeit Bayerns gerettet wurde.
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-Zweibrücken. Das wurde damals in Bayern auch willig anerkannt.
351
Der Kabinetts
sekretär Karl Theodors, Karl v. Stengel, erzählt in seinen Denkwürdigkeiten, nicht zur Freude der Psälzer sei der Namenstag Friedrichs in München allent halben mit Beleuchtungen, Gastmählern und Bällen gefeiert worden. Der
Buchhändler Strobl hatte im Ladenfenster das Bildnis des Königs zum Ver kauf ausgestellt; als eines Morgens die Wache vorbeimarschierte, kommandierte der Feldwebel: Halt! Rechtsum! Front! und ließ die Mannschaft vor dem
Bilde das Gewehr präsentieren.
in der Münchener Zeitung
Die liebenswürdigste Huldigung widmete ihm ein nicht berühmt gewordener bayerischer Poet
Franz Xaver Hueber in Versen von schlichter Herzlichkeit: „Der Vater wird es seinem Sohn Und der dem Enkel sagen, Wie gut es war dem Bayerland In König Friedrichs Tagen! Sie werden dann mit Segen noch Sein Angedenken feiern, Der keiner war von Wittelsbach Und doch so gut den Bayern!"
Im Teschener Frieden erlangte Kaiser Joseph ein stattliches Stück baye rischen Landes, das Inn- und Hausruckviertel; im großen und ganzen aber war sein Plan gescheitert. Nicht aufgegeben. Was mit Waffengewalt nicht zu erzwingen war, sollte nun durch Lockmittel aller Art erreicht werden. Fünf Jahre später gab das Wiener Kabinett nach Berlin einen Wink, daß eine neue
Teilung Polens eine schöne Gelegenheit zu freundlicher Einigung wäre; das Erzhaus werde gern die Abtretung von Thorn und Danzig an Preußen begünstigen,
falls der König
den Verhandlungen
des Grafen Lehrbach in
München keinen ernsten Widerstand entgegensetze. Doch König Friedrich war auch dafür nicht zu haben. Er erklärte rundweg seinen Ministern für das Wachstum einer so gefährlichen Macht nicht arbeiten zu wollen. Ein besonderes Verdienst um die Abwehr der Josephinischen Gelüste er
warb sich der zweibrückensche Minister v. Hofenfels. Dieser Staatsmann war es, der zuerst um seinem Herrn die bayerische Erbfolge zu retten einen Bund der deutschen Staaten unter preußischer Führung ins Leben zu rufen
trachtete, während die Projekte anderer süd- und mitteldeutscher Minister nur eine Partikularunion der kleineren Staaten in Vorschlag brachten. Seit Sep
tember 1783 war Hofenfels in Berlin für seinen Plan unermüdlich tätig. Am zweibrückenschen Hofe nahm er mit Entschiedenheit Partei gegen das da und
dort beliebte Buhlen um französischen Schutz. Noch immer habe dieser aus schließlich Frankreich Vorteil gebracht; nur die patriotische Gesinnung des Siegers von Roßbach verbürge den Vollbestand des Deutschen Reiches und der deutschen Rechte.
Mit ausdrücklicher Genehmigung seines Herzogs legte Hofen
fels diese Ansichten in der Denkschrift vom 10. Februar 1784 dar; sie enthält im Keim die deutsche Reichsverfassung von heute.
352
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-Zweibrücken.
Die preußischen Minister, Hertzberg an
der Spitze, zauderten; man
müsse, meinten sie, bis zum Tode des Kurfürsten von Bayern warten, man dürfe Rußland nicht ins österreichische Lager treiben u. s. w. Da war es König Friedrich selbst, der in einem Signat vom 6. März 1784 gegenüber der wachsenden Übermacht und Vergrößerungssucht des Kaiserhauses festes Zusammen
halten der deutschen Fürsten forderte und den „Entwurf eines Bündnisses der deutschen Fürsten nach dem Vorbilde desjenigen von Schmalkalden" niederschrieb. Mit ihrer Ahnung russischer Einmischung hatten Friedrichs Minister recht. Im Januar 1785 erschien Graf Romanzow, russischer Botschafter in Wien, bei Herzog Karl August in Zweibrücken als Versucher. Der Kurfürst sei bereit
Bayern gegen ein Königreich Burgund auszutauschen; der Vertrag zwischen
ihm und dem Kaiser sei dem Abschluß nahe und werde schon demnächst und unwiderruflich in Kraft treten; dennoch wolle man den Herzog für freundliche Zustimmung belohnen.
Eine Million Gulden dem Herzog, eine halbe
seinem Bruder Max Joseph! Karl August war durch seine kostspieligen Schloßbauten tief verschuldet, doch stärker als seine noblen Passionen war sein dynastisches Gewissen.
Ohne
Zögern wies er das lockende Anerbieten zurück und rief den Schutz Preußens an „gegen ein Vorhaben, das die Entfernung des wittelsbachischen Hauses
aus Deutschland bezwecke".
Der Hilferuf fand nicht nur in Berlin Gehör. So beunruhigend wirkten die Umtriebe des kaiserlichen Kabinetts, daß geistliche und weltliche, katholische und evangelische Reichsstände sich zu einem Schutz- und Trutzbündnis, dem Fürstenbund, unter preußischer Führung einigten.
Doch was nützten kluge Pläne und Bündnisse und alle Vorsicht in bent Sturm, der nun von Paris aus über ganz Europa brauste, wie ein richtiges Elementarereignis nichts verschonte und morschen Plunder wie heilige Altäre über den Haufen warf! Auch in Straßburg, wo Max Joseph von Zweibrücken bisher als Oberst des Regiments d'Alsace verweilt hatte, war bald kein Platz mehr für deutsche
Fürsten und königstreue Offiziere.
Max Joseph verließ die ehedem so gastliche,
jetzt von Revolutionären der radikalsten Richtung regierte Stadt und zog nach
Mannheim.
Als der Koalitionskrieg ausbrach, erbot er sich zu Kriegsdiensten
in der preußischen Armee. Max Joseph selbst schrieb an den König (7. Juni 1792): „Das Beispiel, das Ew. Majestät allen Fürsten Europas vor Augen stellen, indem Sie selbst dem unglücklichen König von Frankreich zu Hilfe eilen, muß. alle Herzen entflammen. Ich brenne vor Begierde mich unter Ihrem Ober
befehl zu schlagen und mein Blut zu vergießen für den Ruhm Eurer Majestät
und für die Verteidigung des Deutschen Reichs." Friedrich Wilhelm II. mußte' jedoch das Anerbieten des Prinzen ablehnen, weil nach Vereinbarung mit dem Wiener Kabinett weder bei preußischen noch bei österreichischen Truppen Frei willige ausgenommen werden sollten.
66. Ter Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-Zweibrücken.
353
Durch das unerwartete Ableben seines älteren Bruders (1. April 1795) wurde Max Joseph regierender Herzog von Zweibrücken; doch er war nur
ein Fürst ohne Land, denn die Sansculotten hielten sein ganzes Gebiet besetzt.
Auch das bayerische Erbe war gefährdet. Der französische Emigrant General Heymann, der das besondere Vertrauen des Herzogs genoß und deshalb vom Berliner Kabinett zum Geschäftsträger an dem kleinen Hofe in Mannheim
und Rohrbach ausersehen worden war, berichtet eine Menge von Zügen, die das
eifrige Werben des Wiener Hofes um den Prinzen beweisen.
Schon zwei Tage
nach dem Tode der ersten Gemahlin Max Josephs, Augusta von Hessen, erschien ein höherer österreichischer Offizier um dem Witwer die Hand einer Erzherzogin anzubieten, erntete jedoch für seine Bemühungen keinen Dank.
Für die Erleichterung des Loses seiner in Feindeshand geratenen pfälzi schen Untertanen wie für die Existenz und Unabhängigkeit Pfalz-Bayerns war
der Herzog unermüdlich tätig. Seine stärkste Hoffnung setzte er nach wie vor auf Preußen, doch suchte er sich vorsichtigerweise auch von Frankreich Schutz
seiner Rechte zu sichern. Die unverkennbare Hinneigung Max Josephs zu Frankreich erklärt sich aus seiner früheren Stellung wie aus dem Wunsche mit Hilfe
der Republik für seine elsäßischen Herrschaften ausgiebigen Ersatz
zu gewinnen. Da aber immer deutlicher zutage trat, daß das Berliner Kabinett auf Grund der Abmachungen zu Basel noch weiter mit Frankreich unterhandle, sandte Max Joseph seinen Minister Getto nach Paris um auch für sich die Gunst des Siegers zu erwirken. Als in Rastatt ein Kongreß zur Ordnung
der Reichsangelcgenheiten aus Grund der offenen und geheimen Abmachungen zu Basel und Berlin eröffnet wurde, galt der Herzog von Zweibrücken schon
als Mittelpunkt der Franzosenfreunde in Deutschland. Doch gab er die Fühlung mit Berlin nicht auf. „Der Moment," schrieb er an Graf Haugwitz,
„wo der Rastätter Kongreß zusammentritt um die Dinge Deutschlands zu ordnen, ist auch der Zeitpunkt, wo man offene Farbe bekennen muß, um die französische
Regierung zur Einlösung ihres Versprechens zu veranlassen und die ehrgeizigen Pläne Österreichs zu vereiteln, das fortwährend bereit ist die großen Staaten zu schwächen um so das Corps Germanique zu beherrschen." Im Winter 1798 tauchte das erste Projekt eines Rheinbundes auf
Das preußische Ministerium schrieb am 14. Dezember an Heymann, er werde wohl schon gehört haben, daß deutsche Fürsten ein Bündnis mit Frankreich
zu schließen gedächten um sich willkommene Entschädigungen zu erwirken. „Ein ruchloser Plan, dessen Ausführung schließlich nichts anderes zur Folge haben würde, als daß alle diese Fürsten zu Vasallen herabsinken würden, zu gehorsamen Dienern des französischen Despotismus."
Auf die Anfrage Heymanns
bestätigte Max Joseph, daß ihm das Anerbieten gemacht worden sei an die Spitze des Bundes zu treten; doch — so versicherte er — seine Unterhandlung
mit Frankreich, die er nicht ohne die Zustimmung Preußens angeknüpft habe, KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
23
354
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bayern an das Haus Pfalz-Zweibrücken,
bezwecke nichts als das Los seiner Untertanen zu erleichtern
und auch Frank
reich zum Protest gegen die Auslieferung Bayerns an Österreich zu bewegen. Die Lage Bayerns sei ja so traurig wie denkbar.
„Gänzlich besetzt von öster
reichischen Truppen, die darin Ivie in einer Provinz ihres Staates schalten und walten, die Untertanen erschöpft durch Frondienste und Lieferungen aller Art, entmutigt, beunruhigt, voll Abneigung gegen eine Regierung, gegen die
man sie unablässig gehetzt hat und die sich nicht mehr halten kann." Das ganze Land sei mit kaiserlichen Truppen so übersponnen, daß es, wenn heute der Kurfürst stürbe, ganz ins Belieben der kaiserlichen Befehlshaber gestellt wäre, ob sie den Nachfolger zum Regiment gelangen lassen wollten oder nicht.
Die eigene Regierung ohne Ansehen, der Staatsschatz leer, die Schulden in
keinem Verhältnis zu den Einnahmen, aber alles mit einem dichten Schleier
verhüllt um dem Kurfürsten zu verbergen, wie ein großer Teil der Einnahmen in den Taschen feiler Beamten verschwinde. Die Steuern ungerecht verteilt, fast ausschließlich auf Bürger und Bauersmann lastend. Die Armee schwach, auch mangelhaft verteilt und aller Zucht entwöhnt, das Volk zurückgeblieben unter geistlichem und weltlichem Druck.
„Die Leiden Bayerns," schreibt Heymann am 28. Januar 1799, „wachsen mit jedem Tage; schon int vorigen Monat waren die Ausgaben für die ein
heimischen und fremden Truppen auf 1400000 Gulden gestiegen und die Summen mußten von den Einnahmen für das kommende Jahr vorweggenommen werden" .... „Alle Berichte, die aus dem Lande kommen, sprechen nur vom Verlust des Eigentums, von der Unzufriedenheit des Volkes, vont Ruin, der alles bedroht, wenn es nicht gelingt die Österreicher zur Zurückziehung ihrer
Truppen bei gleichzeitiger Räumung der Rheinuser durch die Franzosen zu bewegen." Der Herzog erwarte Hilfe gegen die einen, wie gegen die anderen nur von Preußen.
„Man
wird mich vermutlich," sagte Max Joseph zu
Heymann, „der Hinneigung zu Frankreich zeihen; ich weiß, daß viele sich diese gewagte Behauptung erlauben, aber man erwäge nur meine Lage und beurteile
dann, ob ich mich geradsinniger und offenherziger verhalten konnte!"
Zu Beginn des Jahres 1799 waren österreichische Truppen über das ganze bayerische Gebiet verteilt, Erzherzog Karl stand an der Grenze. Herzog Wilhelm von Birkenfeld machte seinem Vetter Max Joseph wenig tröstliche
Mitteilungen über eine Unterredung mit dem Führer der österreichischen Truppen. Der Erzherzog sprach ganz offen von einer zwischen den Höfen von Wien und München getroffenen Vereinbarung, wonach 15000 Bayern in die öster reichische Armee eingeteilt werden sollten.
In Bezug auf die Erbfolge äußerte
sich der Erzherzog mit erschreckendem Freimut.
„Es unterliegt keinem Zweifel,"
fährt Herzog Wilhelm fort, „wenn der Wiener Hof beabsichtigt sich Ihrer
Besitzergreifung nach dem Tode des Kurfürsten zu widersetzen und wenn seine Truppen so wie gegenwärtig über das Land verteilt sind, so sehe ich kein
Mittel, das verhindern könnte, daß wir dem Gesetz des Stärkeren uns beugen
66. Der Übergang des Kurfürstentums Pfalz-Bagern an das Haus Pfalz-Zweibrücken.
355
müssen, und das einige Gewähr leisten könnte, daß die Würde lind die Sicher
heit Ihrer Person nicht gefährdet wäre.
Ich hoffe, daß es mir gelingen wird
in die Hauptstadt zu kommen; sich darin zu behaupten scheint mir alles zu sein, was sich tun läßt, und nicht einmal dies wird sich 24 Stunden lang durchführen lassen, wenn man gegen offene Gewalt anzukämpfen haben wird. Ich flehe Sie an, teurer Herr Bruder, mir für diesen Fall bestimmte An
weisung zu geben, wie weit man im Widerstand gehen soll, denn es handelt
sich nicht bloß darum, daß wir nicht als Feiglinge erscheinen, sondern auch daß kein unnützes Blut vergossen wird." Darauf erwiderte Max Joseph, er müsse die Entscheidung dem König von Preußen überlassen; wenn dieser wie sein Vorgänger für Bayerns Rettung eintreten wolle, sei er für seine Person
zu jeglichem Widerstand bereit. Am 3. Februar 1799 gibt der preußische Geschäftsträger am Münchener Hofe die Zahl der in Bayern und - der nächsten llmgebung lagernden öster reichischen Truppen auf 55 Bataillons Fußvolk und 81 Eskadrons Reiterei, im ganzen also etwa 80000 Mann, an. Was von der Zuchtlosigkeit dieser Soldateska erzählt werde, übersteige alles Glaubhafte.
Eben noch hatte die Münchener das Gerücht erregt: „Der Kurfürst ver läßt demnächst die Stadt, flüchtet nach Wien oder Prag, die Hauptstadt Bayerns kommt unter österreichisches Regiment," da verbreitete sich — am 12. Februar — neue Kunde: „Karl Theodor ist vom Schlag gerührt!" Und so war's. Während der Kurfürst mit General v. Hertling L'hvmbre spielte, trat die Katastrophe ein. Die Ärzte gaben keine Hoffnung. Bei Hofe war man ent schlossen den Ernst der Lage so lange wie möglich zu verheimlichen; nur an den Herzog von Zweibrücken ging sofort ein reitender Bote ab. Allein das
Gerücht drang doch auch in das österreichische Hauptquartier und Erzherzog Karl entsandte den Grafen Colloredo nach München.
Als dieser mit dem
österreichischen Botschafter Graf Sailern in der Residenz erschien
und den
Kranken sehen wollte, wurde ihnen der Zutritt von der Kurfürstin verweigert. Sailern beschwor sie die Hilfe des Kaisers anzurufen; sie wies auch diesen Rat zurück. In den Höfen und Empfangszimmern der Residenz sieht man zwar eine Menge Menschen und feierliche Mienen, doch die Kirchen, wo für die Genesung
Karl Theodors Andachtsübungen gehalten werden, bleiben leer. So wenig ist man bei Hofe der Liebe des Volkes sicher, daß an den Herzog Max Joseph
die Bitte gerichtet wird, er möge nachts und heimlich in die Stadt kommen; man ahnte, mit welchem Jubel die Bürgerschaft ihren Liebling begrüßen würde, und wollte diese Kränkung des Landesfürsten, des Sterbenden, vermeiden. Vier Tage lang lag Karl Theodor noch atmend, doch bewußtlos. Am
16. Februar nachmittags 3 Uhr verschied er. Nun kamen die umsichtigen Bestimmungen der Herzogin Maria Anna
und
die
kluge Verteilung der Rollen
doch zur Geltung.
„Alles ging am
°3*
356
67. Johann Konrad Grübel als Chronist deS Lüneviller Friedens.
Schnürchen."
Der Herzog von Birkenfeld ließ unverzüglich alle Hofbeamten,
Minister und Generale dem rechtmäßigen Nachfolger Treue schwören, die Garnison stellte sich auf den Plätzen der Stadt in Reih und Glied und
wurde vereidigt.
Ein Hofbxamter von einer Reitertruppe begleitet fuhr dem
neuen Landesherrn mit der amtlichen Nachricht vom Ableben des Oheims ent gegen. Die Papiere des Grafen Zeschwitz und des Kabinettssekretärs von Lippert, den Westenrieder in seinem Tagebuch mit wunderlicher Übertreibung
den „bayerischen Robespierre" nennt, wurden versiegelt, dem Fürsten von Bretzenheim, Karl Theodors natürlichem Sohn, die Auflösung der bayerischen Ritterloge vom Malteserorden angezeigt. Die Bevölkerung machte Feiertag. Trotz der Februarkälte und dem Schnee auf den Straßen war es allenthalben lebendig. Zahlreiche Flugblätter erschienen,
gedruckt und geschrieben, alle siegesfrohen, aber nicht alle reinlichen Inhalts. Geschmacklose Gesellen begeiferten mit Hohn und Spott den Mann, der doch für
immer die Waffen gestreckt, der München den Englischen Garten geschenkt hatte. Am 20. Februar traf Max Joseph in München ein, vom Herzog von
Birkenfeld und von den städtischen und ständischen Würdenträgern empfangen, mit siohem Zuruf von den dichtgedrängten Massen auf Straßen und Plätzen
und aus den Fenstern der geschmückten Häuser begrüßt.
Der Jubel des Volkes war der Ausdruck seiner zuversichtlichen Erwartung: „es wird jetzt besser werden im Bayernland!"---------
Dankbar bestätigt nach hundert Jahren die Geschichte, daß dieser Hoff nung eine glückliche Erfüllung beschieden war.
67. Johann Konrad Grübe! als Chronist des Lüneviller Friedens. Von Hans Probst.*,
Der ersten Gedichtsammlung, die Johann Konrad Grübet als angehender
Sechziger im Jahre 1798 herausgab, spendete namentlich Goethe freundlichen Beifall;
er hob
hervor, es zeige sich darin „ein Mann von fröhlichem Ge
müt und heiterer Laune, der die Welt mit einem glücklichen, gesunden Auge
sieht."
Als nach einigen Jahren neuerdings Werkchen des Stadtfläschners er
schienen, fand Goethe es besonders merkwürdig, „wie er in schlimmen Tagen sich in gleichem Humor erhielt." In der Tat war es in den schlimmen Tagen,
die es um die Wende des Jahrhunderts wie überall so auch in Nürnberg gab, für den alternden Volksdichter ein Kunststück die gute Laune nicht völlig zu verlieren. Die Drangsale, die seine Vaterstadt vom Dezember 1800 an aus zustehen hatte, schildert er frisch und anschaulich in einer kleinen Reimchronik. Wöi Mancher haut's niht überlebt! Ich bin, Gott Lob! noh bau.
67. Johann Konrad Gcilbel als Chronist des Lüneviller Friedens.
357
Es war gerade um die Zeit des Weihnachtsmarktes, wo die Nachbarschaft auf etliche Stunden im Umkreis nach Nürnberg zu kommen und reichlich ein zukaufen pflegte. Dau haut mer g'sagt, Franzus'n fenn Ner noh a Stund von höi; Dau iß scho Manch'» wur'n nau, Mir ah, ih waß niht wöi.
Und, leider! sell'n Nammittog, Su niht goar lang »auch Zwa, Dau senn's scho draus g'wöst our'n Thur, Und drin halt ober ah.
Bald ist jedes Haus mit Soldaten überfüllt; die herrischen Gäste ver
langen das Beste aus Küche und Keller und zu alledem ist es nichts mit dem Weihnachtsmarkt, der Handel steht still, man nimmt keinen Kreuzer Geld ein.
Da verbreitet sich nach einigen Tagen die Kunde vom Anmarsch der Kaiser
lichen; am 17. Dezember rücken die Franzosen aus; am 18. und 19. hört man das Schießen bis in die Stadt; von der Burg aus läßt sich der Kampf be obachten. Dau haut mer ganzi Wög'n vuhl I'Racht's noh Blesseirti braucht (gebracht),Und bös noh in der gräuht'n Kott. Su wer'n die Menschen plaugt!
Vom Samstag
bis zum Montag
hinter Nürnberg zurück,
ziehen sich die Franzosen allmählich
die Reichstruppen
Jubel empfangen und verpflegt.
werden
von
den Bürgern mit
Nun gibt es doch noch einen „Kindlesmark"
und frohe Christbescherung! Aber schon am andern Weihnachtsfeiertag wendet sich das Blatt, die Kaiserlichen räumen die Stadt wieder den Franzosen. Vor Einquartierung denkt niemand ans Neujahrwünschen; sogar in schmalen Haus gängen sind Pferde eingestellt.
Zwei Faschingsbälle, die von den Franzosen
mit großem Geschick veranstaltet werden, bringen einige Zerstreuung in der
traurigen Zeit. Nau'n neuzehnt'n Februar Da der Paradi noh, Dau haut ha Mensch on Fried'n denkt, Ka Wurt niht g'red't dervoh.
Aff amahl werd a Lärma bau Und aff franzöisch a G'schra Von Republik und Bonapart Und Vivat ober ah.
Die Stadt wird "lluminiert, die ganze Nacht wird geschossen. Gott Lob! 'n Fried'n hätt'n mer öiz! Haut ans zon Andern g'sagt: Woi's ober halt noh weiter geiht Und wos^mehr mit uns macht!?
Einem Pariser Kommissär muß die Stadt wertvolle alte Bilder und Bücher ausliefern und endlich, 5 Wochen nach der Friedensfeier, am 30. März,
358
67. Johann Konrad Grübel als Chronist des Lüneviller Friedens.
ziehen die Franzosen ab, teilweise sogar von ihren Quartierherren noch beschenkt,
was Grübel zu der köstlichen Bemerkung veranlaßt: Präsent haut freilich Mancher hröigt As manch'n Haus nah mit; Mih ober haut's Kan Kreuzer hofft, Döi Sprauch versteih ih niht.
Nun tritt die Frage in den Vordergrund, was wohl mit der ehrwürdigen
freien Reichsstadt geschehen wird.
Aber mit erhabener Ruhe legt der Dichter
das Geständnis ab: Ih freu mih niht, i förchf mih niht, Ih will's derwarfn halt.
Der verständige Bürger läßt sich daran genügen, daß sich sein eigenes, bescheidenes Dasein wieder behaglicher gestaltet; der schon vor Jahren in der
endlosen Kriegszeit geäußerte Neujahrswunsch: Daß mer su roöi sunsfn könnt' Sei Mäißla trink'n schöi in Rouh Und raucht sei Pfeiff Tobak derzou,
er ist dem Redlichen von einem guten Geschick erfüllt worden.
So tönt uns
aus dem Gedicht „Die Bekanntmachung des Friedens" kein begeisterter Jubel
entgegen; er bemerkt nur schlicht und trocken: No, mir Könna doch um viel Rouhiger öiz löb'n;
war einem doch schließlich jede Gesellschaft verleidet worden, weil fast nur noch
von Erschießen geredet wurde.
Dem fleißigen Nürnberger Handwerksmeister
ist die Hauptsache, Wenn die Handling Widder geiht Frei on all'n Ort'n, Dös iß scho a Glück für uns.
Alles andere, die endgültige Regelung des Schicksals so vieler deutscher
Lande, überläßt er mit philosophischem Gleichmut den Diplomaten. Werd a Zeit noh rummer göih, Bis mer bau wos häiert, Und bis Alles ausg'macht werd, Wos an Ied'n g'häiert. Wenn's ner niht goar z'lang ohsteiht, Dast mer's doch derlöb'n.
Mag die Zukunft über den Landbesitz der Großen entscheiden! Ten kleinen Bürger beschäftigt weit fühlbarer die jüngste Vergangenheit, die ihn
um sein bischen Eigentum brachte: Dös wär' halt des Allerbest', Wenn mer's Könnt'n mach'n,
| |
Wenn mer Alles häit'n noh, Unser Woar und Sach'n.
359
G8. Napoleon bei AbenKberg und >Neiicnöbutfl.
68.
Napoleon bei Abensberg und Regensburg. (Am 20. und 23. April 1809.) Von Albrecht Adam.')
Der Tag (19. April) neigte sich zu Ende und der Sieg war auf allen Punkten entschieden. Der grossen Tapferkeit der österreichischen Truppen ließ man von allen Seiten Gerechtigkeit widerfahren, aber Napoleons Feldherrn talent und Glück triumphierte auch hier wieder.
Die Zeit war noch nicht ge
kommen, wo auch er die Wandelbarkeit des Glückes erfahren sollte. Die Truppen lagerten auf dem Schlachtfelde und in den wenigen nahe gelegenen Ortschaften. Abensberg war überfüllt; dort lag das Hauptquartier. Am
20.
wurde die Schlacht unter
größerer Ausdehnung fortgesetzt.
dem Befehle Napoleons
in
weit
Auf das Geivitter des vorigen Tages war
ein kalter, feuchter Morgen gefolgt, schwere graue Wolken hingen tief am Horizonte herab, auf der Erde lag Nebel. Die Lagerfeuer brannten rot, der Rauch schlich am Boden hin und stieg nur mühsam in die Höhe.
Nachdem ich meinen Magen mit schlechtem Kaffee ein wenig erwärmt hatte, setzte ich mich wieder zu Pferde, ritt dem nächste» Lagerplatze, wo ich gestern die Truppen verlassen hatte, zu und suchte mir einen erhöhten Punkt um möglichst
viel übersehen zu können. Das Glück lenkte heute meine Schritte. Auf einer Anhöhe am Saume eines kleinen Waldes fand ich den General von Raglovich, umgeben von seinen Adjutanten und Offizieren an einem Feuer sitzen.
Die
ganze Gesellschaft war in Mäntel gehüllt und recht malerisch um das Feuer
gruppiert; den interessanten Hintergrund bildeten die Lager rundherum. Sogleich begann ich eine Zeichnung zu machen, war aber noch nicht zu Ende,
als von der Ferne her ein lärmendes Rufen sich vernehmen ließ, das immer näher
kam: „Der Kaiser!" Er, der Held des Jahrhunderts, der belvunderte und zugleich gefürchtete kleine große Mann, der siegte, wo er sich zeigte, an dessen
Unüberwindlichkeit jeder glaubte, erschien bald darauf, umgeben von seinen Generälen,
begleitet
vom
bayerischen
Kronprinzen,
dem
Generalleutnant
Wrede und einer großen Suite, auf der Anhöhe, wo ich mich befand.
Welch'
eine Erscheinung für mich, der zum erstenmale seiner ansichtig wurde! machte mich so nahe hinzu als mir möglich.
Ich
Da saß er auf seinem kleinen
arabischen Schimmel in etwas nachlässiger Haltung mit dem kleinen Hute auf dem Kopfe und mit dem bekannten staubfarbenen Oberrocke bekleidet, in weißen Beinkleidern und hohen Stiefeln, so unscheinbar, daß niemand in dieser Per sönlichkeit den großen Kaiser, den Sieger von Austerlitz und Jena, vor welchem
sich Monarchen demütigen mußten, ,vermutete, wenn man ihn nicht schon so vielfältig in Abbildungen gesehen hätte.
Er machte auf mich mit seinem bleichen
*) „Aus dem Leben eines Schlachtenbummlers", Selbstbiographie von Albrecht Adam, 1786—1S62; herausgegeben von H. Holland, S. 63 ff. Stuttgart 1886, I. G. Cotta.
360
68. Napoleon bei Abensberg und Regensburg.
Gesichte, den kalten Zügen, dem ernsten, scharfen Blicke einen fast unheimlichen
Eindruck;
der Glanz der vielen Uniformen um ihn her erhöhte den Kontrast
dieser unscheinbaren Erscheinung.
Napoleon befahl, daß man aus den verschiedenen bayerischen Regimentern Offiziere herausrufen solle, ließ diese einen Kreis um sich und den Kronprinzen schließen und hielt an sie eine Ansprache, welche der Kronprinz ins Deutsche übersetzte. Unter anderm sagte er, daß er sie in einem Monate nach Wien führen und Bayern den Schaden, welchen ihm jetzt Österreich zufüge, reichlich ersetzen wolle.
Ein lautes Vivat erscholl, als er geendet, der Kreis löste sich
und Napoleon stieg vom Pferde. Er entfernte sich, nur von Wrede begleitet, ging in eifrigem Gespräche mit diesem auf und ab, stand still, sprach wieder
im Gehen, die Hände auf den Rücken gelegt und den Kopf etwas gesenkt, stand abermals still und klopfte Wrede auf die Schulter. Man konnte sichtlich be merken, daß er mit ihm sehr zufrieden und in guter Stimmung war. Napoleon sammelte darauf seine Generale um sich, ließ eine große Karte auf dem Boden
ausbreiten, setzte sich nieder und traf seine Dispositionen. Man sagte, er habe die Punkte bezeichnet, wo er die Österreicher schlagen wollte. Die vielen mili
tärischen Größen hier auf dieser Anhöhe um den Mann, welcher bereits die Aufmerksamkeit der Welt auf sich gezogen hatte, versammelt und sich bewegen zu sehen war für mich als stillen Beobachter von größtem Interesse. Während dessen hatten die Truppen Stellung genommen. Napoleon war unerwartet erschienen und mit ihm ein starkes französisches Heer, das im Vereine mit den Bayern und Württembergern sich nach allen Richtungen aus
breitete.
Es schien als wüchsen die Leute aus der Erde heraus.
Nachdem die Dispositionen getroffen waren, flogen die Generale und Adjutanten nach allen Richtungen auseinander; auch Napoleon bestieg sein Lieblingspferd wieder, den Ali, welchen er aus Ägypten mitgebracht; noch sehe
ich ihn lebendig vor mir, wie er den Hügel hinabsprengte und um die Ecke eines Waldes verschwand.
Bald darauf donnerten die Geschütze auf allen Seiten.
Prachtvoll, wahrhaft imposant waren die großen Massen ftanzösischer Kürassiere, welche in langen, geschlossenen Reihen in vollem Trab ins Treffen rückten; der Boden zitterte unter ihren Bewegungen und die Scheiden ihrer
Schwerter erzeugten dabei
einen eigentümlichen, unheimlichen Ton.
Dieser
Anblick machte einen gewaltigen Eindruck, nian fühlte sich leicht zu dem Ge danken veranlaßt, daß solche Massen alles niederwerfen müssen; und doch war
ich schaudernd Zeuge, wie später auch diese Eisenmänner ganze Felder mit ihren Leichen überdeckten. Der Mut mich immer so weit vorzuwagen als nur möglich verschaffte mir, als es schon zu dämmern begann, nbch einen höchst interessanten Anblick.
Ich hatte mich nämlich bis an den Platz vorgedrängt, auf dem Napoleon stand und wunderte mich selbst, daß ich dort geduldet wurde. Aber es war so lebendig in seiner Nähe, daß meine unbedeutende Persönlichkeit gar nicht bemerkt wurde.
68. Napoleon bei Abensberg und Regensburg.
361
Der Sieg des Tages war, obwohl teuer erkauft, ein vollständiger.
Es
wurden viele Gefangene gemacht und mehrere Tausend derselben marschierten an Napoleon vorüber, als ich eben dorthin kam. Er stand am Eingänge
eines Dörfchens bei einer Scheune, umgeben von einer sehr zahlreichen Suite und musterte über eine halbe Stunde jene mit Aufmerksamkeit, sprach sehr wenig und schien bisweilen in tiefes Nachdenken versunken. Vielleicht entwarf er in jenem Augenblicke schon den Vernichtungsplan für den folgenden Tag. Es vergingen auch nicht 24 Stunden, so hatte er in der Tat über einen Teil der. österreichischen Armee bei Landshut schon Verderben gebracht. Nicht mit der Miene des triumphierenden Siegers saß er auf seinem kleinen Schimmel,
ein tiefer Ernst schwebte um seine Stirne; wer ihn sah, war wohl versucht zu glauben, er gehe in diesem Augenblicke noch mit viel Größerem um als mit dem Siege dieses Tages.
Die Dunkelheit war hereingebrochen, als Napoleon wegritt, und der Zug der österreichischen Gefangenen hatte noch nicht geendet. Das Entwirren dieses Knäuels von Offizieren, Equipagen, Handpferden, welcher sich hier anhäufte, glich einem Ameisengewimmel, das mit einem Male aufgestört und lebendig
Die Dragoner der stolzen Kaisergarde, welche Napoleon als Schutz wache begleiteten, lind im Gegensatze zu ihnen die armen, gedemütigten öster
wird.
reichischen Gefangenen, die Toten und Verwundeten, auf die man überall stieß,
die am Boden zerstreuten Waffen, Armaturstücke und Kanonenkugeln, die ein brechende Nacht, der mit schwarzgrauen Wolken überzogene Himmel, an dem man nur tief am Horizonte hin einen blutroten Streifen sah, welchen die lange schon untergegangene Sonne znrückgelassen: das alles machte als Schlußakt dieses Tages auf mich einen großartigen, tragischen Eindruck.
Daß ich aber
durch besonders günstigen Zufall Napoleon am Morgen vor der Schlacht und abends als Sieger so in der Nähe beobachten konnte, läßt mich den 20. April niemals vergessen.
*
Am 23. früh rückte alles gegen Regensburg vor. Noch in der Nacht machten wir einen Teil des Weges und kampierten vor einem Dorfe, dessen Namen ich nicht aufzeichnete.
burg
Die aufgehende Sonne verkündete einen schönen Tag, aber für Regens sollte es ein Tag des Schreckens und Entsetzens werden. Da auf der
Hauptstraße der Truppenzug von Kavallerie und Artillerie sehr groß war,
marschierten wir abseits über ein mit vielen tausend Toten, mit Waffen und Armaturstücken übersätes Feld. Gegen 8 Uhr kamen wir auf einer Anhöhe vor Regensburg an und erblickten das Opfer dieses Tages, die würdige alte Stadt im Glanze der Morgensonne. Gegen 9 Uhr begann die Schlacht. Hier war es mir vergönnt einen schönen Überblick über alles, was vorging, zu bekommen; denn von jener An
höhe konnte man mit so scharfen Augen wie die meinigen fast jeden einzelnen
362
69. Das bayerische Heer in den 3°hrcit 1800 mit 1812.
Besonders imposant waren die ungeheuern Massen schwerer
Mann unterscheiden.
Kavallerie, namentlich der majestätischen Grenadiere ä cheval anzusehen.
Diese
zogen in einem grossen, doppelten Vierecke von immenser Ausdehnung in schräger
Richtung über die Ebene; mir fielen dabei die Worte Schillers ein: „Schwer und dumpfig, (Eine Wetterwolke, Durch die grüne Lb'ne schwankt der Marsch, Ium wilden, eisernen Würfelspiel Streckt sich unabsehlich das Gefilde."
Das Geplänkel um die Stadt herum dauerte fort und fort.
Inzwischen
wurden verschiedene Batterien nahe vor die Stadt postiert, welche ihre furcht
baren Geschosse in dieselbe schleuderten.
Bald zeigten hohe Rauchsäulen und
ouflodcrnde Flammen die Wirkungen. Es brannte beinahe gleichzeitig in zwei verschiedenen Richtungen und bei der herrschenden Windstille stieg der Rauch in rötlich-grauen Säulen himmelhoch, schauerlich majestätisch empor. Da ich das alles gleichsam zu meinen Füßen vor sich gehen sah und ein Plätzchen
fand, wo ich ungestört zeichnen konnte, packte ich sogar meine Farben aus und entwarf an Ort und Stelle ein Aquarell von dem brennenden Regensburg.
Gegen Abend hatte man eine Bresche in die Stadtmauern geschossen. Und mit wahrer Todesverachtung begannen die Franzosen den Sturm und waren auch bald in die Stadt eingedrunge». Der Kampf dauerte nun in den Straßen fort, bis die Österreicher Schritt für Schritt zurück über die Brücke auf das
jenseitige Ufer der Donau geworfen waren.
Bei diesem Gefechte wurde die
ganze Vorstadt Stadtamhof ein Raub der Flammen. Napoleon, welcher den ganzen Tag hindurch anwesend war und allent
halben gesehen wurde, stand gegen Abend nicht ferne von mir auf der An höhe mit einer ungeheuren Suite von mehr als hundert Köpfen; fast alle Generale mit ihren Adjutanten hatten sich in einer Entfernung von etwa 40 bis 50 Schritten hinter ihm versammelt. Abendsonne beleuchtet.
Das Ganze war prachtvoll von der
Unverwandt blickte er nach der Stadt in das mittler
weile bedeutend gewachsene Feuer. Nero. —
Er schien mir unheimlich, ich dachte an
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812. Von Karl v. Landmann.*
Nach dem Siebenjährigen Kriege trat allenthalben in Deutschland ein Stillstand in der Entwicklung des Heerwesens ein und nebenbei machte sich eine Vernachlässigung der kriegsmäßigen Ausbildung zu Gunsten des Wachund Paradedienstes sowie militärischer Spielereien mehr oder minder geltend. Auch in Bayern war es mit dem Heerwesen zu Ende des 18. Jahr hunderts nicht glänzend bestellt, wenngleich anznerkennen ist, daß Kurfürst Karl Theodor der Verbesserung der Heerescinrichtungen sein Augenmerk zuwendete.
69. Tas bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
363
Da sich für diese Aufgabe in Bayern scheinbar kein geeigneter Offizier vor
fand, so nahm der Kurfürst einen ihm empfohlenen englischen Offizier, den Amerikaner Benjamin Thompson, in seinen Dienst. An die Spitze verschiedener
Verwaltungszweige gestellt machte sich der später zum Grafen Rumford erhobene geistvolle Amerikaner durch gemeinnützige Einrichtungen aller Art in hohem Grade verdient,
aber im Heerwesen kam
es,
abgesehen von einigen
rühmenswerten Anläufen, nicht zu durchgreifenden Verbesserungen. Im Februar 1799 starb Karl Theodor und ihm folgte als Kurfürst
der 43 jährige Herzog Max Joseph von Pfalz-Zweibrücken, der vor Ausbruch der Revolution in der französischen Armee gedient hatte und die Bedeutung der Wehrkraft für den Staat verständnisvoll zu würdigen wußte. Unter
feiner Regierung sollte das bayerische Heer einen außerordentlichen Aufschwung und eine glänzende Zeit kriegerischen Ruhmes erleben. Vorerst
erfolgten aber,
durch
den Gang der Ereignisse
veranlaßt,
schwere Schicksalsschläge für Bayern, die neben anderen Forderungen der Zeit auch die Notwendigkeit einer Neugestaltung des Heeres noch mehr vor Augen
fuhren mußten.
Kurfürst Max Joseph sah sich veranlaßt dem großen Bündnis
gegen die französische Republik beizutreten und außer seinem kleinen Reichs
kontingent noch eine Infanteriedivision von England bezahlt wurde.
anfznstcllen, deren Unterhalt jedoch
Diese Division kämpfte im Verbände des öster
reichischen Heeres, das im Frühjahr und Sommer 1800 unter unglücklichen Gefechten von den Franzosen unter General Moreau vom Rhein bis an den Inn zurückgedrüngt wurde und, als es zu Ende des Jahres die Offensive ergriff,
bei Hohenlinden am 3. Dezember eine entscheidende Niederlage erlitt. In dieser Schlacht wurde eine bayerische Brigade vollständig zersprengt,
39 Offiziere derselben gerieten in französische Gefangenschaft und 24 bayerische Geschütze gingen verloren.
Durch de» darauffolgenden Frieden von Lnncville (9. Februar 18011 büßte Bayern seine schönen pfälzischen Länder ein und
erhielt dafür die Aussicht aus Entschädigung durch die Einziehung kleinerer reichsunmittelbarer Gebiete, denen ihre bisherige selbständige Stellung genommen
werden sollte. Max Joseph ließ sich nunmehr neben einschneidenden Reformen in allen übrigen Zweigen der Staatsverwaltung die allmähliche Verbesserung der Heereseinrichtungen mit aller Kraft angelegen sein.
Zum Glück fehlte es ihm
nicht an Männern, die ihm in seinem Werke mit Rat und Tat zur Seite stehen konnten. Für die Neugestaltung der Armee waren es hauptsächlich die
Generale und Brigadekommandeure Erasmus v. Dcroy und Karl Freiherr v. Wrcd e, beide Pfälzer von Geburt, und der Gencralquartiermeister Johann v. Triva, der Sohn eines kurbayerischen Hosrats.
Vor allem war es notwendig den in seiner Tüchtigkeit und in seinem Ansehen gesunkenen Osfizierstand zu heben. Wie konnte ein guter Geist im Offizierskorps herrschen, wenn nur durch hohe Gönnerschaft oder durch Geld
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
364
ein Vorwärtskommen möglich war! Höchst schädlich mußte namentlich das eingerissene Übel des Stellenkaufs wirken, der es z. B. dem jüngsten Leutnant
des Regiments möglich machte sich mit einigen Tausend Gulden eine Hanptmannstelle zu erwerben und auf diese Weise seine älteren Kameraden zu über
springen; durch diese Einrichtung war der Unfähigkeit Tür und Tor geöffnet. Eine der ersten Regierungshandlungen des Kurfürsten war es
daher
gewesen, daß er den Kauf und Verkauf der Offizierstellen abschaffte und den Grundsatz aufstellte, daß nur tüchtige Leute zu Offizieren vorgeschlagen werden bürsten.
Dazu geschah, was finanziell möglich war um die Stellung der
Offiziere wie auch der Militärbeamten zu verbessern, indem die Gehälter und
die Militärpensionen erhöht wurden; zur Abhilfe des Elends der Offiziers witwen erfolgte die Gründung eines Militärwitwenfonds. Die bisherige die nach ihrem Lehrplane den Bedürfnissen der Armee als Osfizierpflanzschule nicht entsprach, wurde als Kadettenkorps in eine rein
Militärakademie,
militärische Anstalt umgewandelt. Um die Offiziere noch mehr zu tapferen Taten anzuspornen, wurde das für Auszeichnung im Kriege seit 1795 bestehende
Militär-Ehrenzeichen in
den mit besonderen Vergünstigungen ausgestatteten
Militär-Max-Joseph-Orden umgewandelt.
Nicht minder erstreckte sich die Sorgfalt des Kurfürsten auf die Hebung
des Loses und der Stellung
der Mannschaften.
Das stehende Heer wurde
damals noch durch Werbung ergänzt und nebenbei bestand eine gesetzliche
Bestimmung, wonach Landstreicher, Arbeitsscheue, Trunkenbolde und ähnliche Subjekte behufs Besserung eingestellt werden konnten; es mochte daher gewiß nicht als Ehre gelten des Kurfürsten Rock zu tragen und war auch nicht zu verwundern, daß solche Leute in schwierigen Lagen wie in den Waldgefechten bei Hohenlinden einfach Reißaus nahmen und ihre Offiziere im Stiche ließen.
Zunächst wurde daher die Einreihung von übel beleumundeten Leuten zum
Zwecke der Züchtigung und Besserung verboten.
Alsdann kam nach franzö
sischem Muster an Stelle der Werbung die Aushebung der militärdiensttaug
lichen Mannschaften zur Einführung, wodurch die Pflicht des Staatsbürgers
zur Verteidigung des Vaterlandes, wenngleich noch mit ziemlich weitgehenden Ausnahmen zu Gunsten der bemittelten Stände, festgesetzt und die Einstellung besserer Elemente in die Reihen des Heeres gesichert wurde.
Auch
ergingen
Verordnungen znr Verbesserung der Verpflegung wie auch der Behandlung der Mannschaften. Bemerkenswert ist vor allem ein Armeebefehl vom 9. Juli 1804, der sich mit den Soldatenmißhandlungen befaßt, in dem der Kurfürst unter
anderem sägt: „Wir waren nie gesinnt, Unsere geliebten Untertanen den lau nischen, eigenmächtigen Ausfällen unmenschlicher Mißhandlungen je preiszugeben,
sondern Wir wollen dieselben gegen jede Bedrückung, welche aus dem Miß brauche der Gewalt entstanden ist, in Schutz nehmen, und verordnen daher, daß es jedem Offizier und Unteroffizier ohne Unterschied des Grades und der Waffe verboten sei einen Mann willkürlich mit dem Stocke,
Säbel, Degen
365
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
ober wohl gar mit der Faust zu schlagen ober zu stoßen. Jene Offiziere,
welche
zur Ehre
Gehorsam, würbige,
des Dienstes
bie Neigung
unb
menschlichen
ihrer
Gesinnungen
ben
burch eine
unb das Vertrauen ihrer Untergebenen
liebevolle Behanblung zu gewinnen unb daburch ein erhebendes
Selbstgefühl, festen Mut und Treue für ihr Vaterland in den Herzen derselben zu erhöhen suchen, machen sich vorzüglich um Unsere höchste Gnade verdient, jenen aber, welche sich ihrer Charge durch erniedrigende Gewalttaten und
rohes, menschenfeindliches Betragen gegen die Mannschaften unwürdig bezeigen,
jenen werden Wir ihre ungesetzliche Härte mit einer strengen, unerbittlichen Gerechtigkeit ohne Unterschied des Ranges vergelten und selbe ohne Nachsicht
aus den Linien Unserer Armee entfernen." Um auch äußerlich kund zu tun, daß ein neuer Geist im Heerwesen
Einzug gehalten habe, erließ schließlich der Kurfürst „zur Beförderung der Reinlichkeit bei den Truppen" den Befehl, daß der bisher zur Ausstattung der Offiziere und Mannschaften gehörige Zopf vom Obersten abwärts abzulegen
unb das Haar kurz geschnitten zu tragen sei. In Bezug auf die militärische Ausbildung wurden ebenfalls neue Wege eiugeschlageu, nachdem mit Beginn der Revolutionskriege zunächst bei der
Infanterie eine veränderte Kampfesweise sich Bahn gebrochen hatte. In ebenem Gelände exakte Bewegungen in langen, geschlossenen Linien auszuführen und
Sohlen feuer auf Kommando
abzugeben,
erwies
sich als unzulänglich
gegenüber der französischen Infanterie, bie eine neue, ungewohnte Form, den Kampf in zerstreuter Ordnung, zur Anwendung brachte und durch gleich
zeitigen Gebrauch von Schützenschwarm, Linie und Kolonne eine überraschende Beweglichkeit auch in durchschnittenem Gelände entwickelte. Da das bisherige bayerische Infanterie-Exerzierreglement nur das Gefecht in geschlossener Ordnung
nach den Regeln der sogenannten Lineartaktik kannte, so ergab sich die Not
wendigkeit Infanterie.
der
Herstellung
völlig
neuer
Ausbildungsvorschriften
für
die
Mit dieser Aufgabe betraute der Kurfürst den General Deroy,
der sich hiezu
noch Wredes Beihilfe erbat.
den 1. und 2. Abschnitt
Im Frühjahr 1804 legte Deroy
„Rekruten- und Kompagnie-Unterricht"
vor, dann
folgte der 3. Abschnitt „Bataillons- und Regiments-Exerzieren" und schließlich ein „Unterricht für die Schützen und Plänkler". Diese Vorschriften wurden
nur in wenig Exemplaren schriftlich vervielfältigt und auf dem Wege münd licher Anweisung weiter bekannt gegeben.
Im Jahre 1805 erließ Deroy an
die ihm als Divisionskommandeur unterstellten Truppen eine Instruktion, in der der Gedanke des selbständigen Auftretens der Kompagnie im Gefecht —
die 40 Jahre später gelehrte Kompagniekolonnen-Taktik — schon damals zum Ausdruck gebracht ist,
wie denn überhaupt Deroy
als ein hervorragender,
seiner Zeit voranschreitender Taktiker zu gelten hat. Die Kavallerie erhielt 1802 ein neues, den Anforderungen
der Zeit
entsprechendes Exerzierreglement, das sich durch Klarheit, Kürze und Gediegenheit
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
366
auszeichnete und dazu beitrug, daß die Leistungsfähigkeit dieser Waffe in kurzer Zeit auf eine zuvor nicht geahnte Höhe stieg.
Es wird in diesem Reglement
u. a. betont, daß der Offizier feine einzige,
wahre Ehre in
der Erfüllung
seiner Pflichten suchen müsse, daß beim Exerzieren alle Künsteleien wegfallen
sollen; dem richtigen Betrieb des Meldewesens ist nicht minder Gewicht beigelegt wie einer guten Pferdepflege, da von ihr auch der fechtende Stand abhängig sei. Die Artillerie, die sich wurde neu
gebührt
organisiert
hauptsächlich
und
in einem sehr verwahrlosten Zustande beträchtlich
vermehrt.
Das Verdienst
dem General Graf Manson, einem
befand,
hiefür
aus russischen
Diensten übernommenen französischen Emigranten; ihm verdankte die Artillerie die Errichtung einer Schule für Artillerieoffiziere, die Gliederung in Batterien als taktische Verbände, die Förderung von Schießübungen als eines wichtigen Ausbildungsmittels und die ständige Zuweisung einer militärischen Bespannung,
wodurch sie beweglicher wurde. Im Herbst 1804 fand zwischen Schwabing und Nymphenburg ein Übungslager statt, in dem 17000 Mann unter der Oberleitung des Kurfürsten vereinigt waren um sowohl die neuen Ausbildungsvorschriften insbesondere für das zerstreute Gefecht zu erproben und einzuüben als auch Manöver abzuhalten. Am letzten Tage der Übungen befehligte der Kurfürst in eigener
Person die eine Partei gegen Wrede, und als er von diesem besiegt wurde, gestand er ihm rückhaltlos die Überlegenheit zu, indem er sich hiebei beglück wünschte einen so tüchtigen General zu haben. Während
die Neugestaltung
der Armee vor sich
ging,
trat auch ein
Umschwung in politischer Beziehung ein. Der Kurfürst hatte in Erfahrung gebracht, daß in geheimen Verhandlungen zwischen Preußen und Österreich wiederholt die Besitzergreifung von Bayern durch letztere Macht zur Sprache
gekommen war, wogegen sich Preußen in Norddeutsehland durch entsprechende
Annektierungen bewahren
in
schadlos
eine
halten wollte.
Um Bayern
vor der Gefahr zu
österreichische Provinz verwandelt zu
werden,
sah Max
Joseph keinen anderen Ausweg, als sich in einem geheimen Vertrag (24. August 1801), dem erst später ein offenes Bündnis folgte, an Frankreich anzuschließcn.
Im März 1804 schickte Napoleon, der damals als erster Konsul an der Spitze
von Frankreich stand, zwei Großkreuze der französischen Ehrenlegion an die bayerische Regierung, von denen das eine für den Minister des Äußeren Graf Montgelas, das andere für General v. Deroy bestimmt war. Schon im Jahre 1805
bot sich
die Gelegenheit
den Bündnisfall als
gegeben zu erachten und zugleich die neue Armee einer ernsten Probe zu unterstellen. Von England angestachelt, das durch eine Landung des nun mehrigen Kaisers Napoleon bedroht war, erklärte Österreich den Krieg an
Frankreich und drang alsbald mit einer starken Armee über den Inn in Bayern ein. Ohne sich mit der Übermacht in einen Kampf einzulassen zog der Kurfürst
69. Das bayerische .deer in den Jahren 1800 mit 1812.
367
gemäß getroffener Vereinbarung seine sämtlichen Truppen nach Franken um dort
das Herankommen
der großen
unter Napoleon
französischen Armee
abzuwarten.
Bei Würzburg vereinigte sich die unter Deroys Befehl stehende Armee
1. französischen Armeekorps Bernadotte, das den linken Flügel der
mit dem
konzentrisch
gegen die obere Donau vorrückenden Armee Napoleons bildete.
Am 12. Oktober wurde München von
den Bayern
österreichische Besatzung zum Rückzüge
bis an
wieder
besetzt und die gezwungen.
den Inn
Die
bayerische Armee und das 1. französische Armeekorps blieben nun bei München stehen, da bereits ein russisches Korps zur Unterstützung der Österreicher am Inn eingetroffcn war, während Napoleon mit dem Hauptteil seiner Armee die
von General Mack befehligte österreichische Armee in ihrer Aufstellung in der Linie Ulm—Memmingen von rückwärts angriff. Nach verschiedenen Gefechten wurden die Österreicher in einzelnen Gruppen, Mack selbst mit 27 000 Man»
am 20. Oktober bei Ulm, zur Waffcnstrcckung gezwungen; nur ein Teil der Kavallerie schlug sich nach Norden durch. Nach diesem großen Erfolge vollführte Napoleon mit dem Hauptteil der Armee den Vormarsch auf Wien ohne auf nachhaltigen Widerstand zu stoßen und ivcndcte sich nach Besetzung der Kaiser
stadt nach Mähren, wo sich in der Umgegend von Brünn die zurückgcivichcnen österreichischen und russischen Streitkräfte mit neu angckoinmenen russischen Verstärkungen vereinigten. Zur Deckung dieses Vormarsches gegen ein
in Tirol
stehendes Korps
unter Erzherzog Johann war das Korps Bernadotte zurückgeblieben, bei dem sich auch Dervy mit vier bayerischen Brigaden befand.
Er erhielt beit Auftrag
mit zwei Brigaden zur Besetzung von Innsbruck vorzurücken und nahm hiezu seinen Marsch über Reichenhall auf Loser. Die zwischen beiden Punkten
liegenden Pässe tvurden von Deroys Avantgarde genommen, aber am Strub
paß westlich Loser gelang cs trotz schwerer Verluste nicht den Feind zu ver
treiben.
Hier wurde Deroy selbst verwundet und Bernadotte zog hierauf die
bayerischen Truppen nach Reichenhall zurück.
geschlossen und am 8. November genommen.
Zunächst wurde Kufstein ein Tirol wurde in der Folge ohne
erheblichen Widerstand von Erzherzog Johann geräumt. Glücklicher als Deroy traf es Wrede, der mit zwei Brigaden zur Haupt armee herangezogen worden Ivar.
Während sich die Entscheidungsschlacht bei
Austerlitz vorbereitete und abspielte, hatte er den Rücken der Armee Napoleons gegen das aus Böhmen vorrückendc österreichische Korps des Erzherzogs Ferdinand zu
decken.
In
wiederholten Gefechten
Stöcken und Jglau
gegen den
in den ersten Tagen
übermächtigen
des Dezember
Feind
bei
löste Wrede diese
Ausgabe so glänzend wie nur möglich und trug dadurch mittelbar zu Napoleons großem Erfolg nicht unwesentlich bei.
Durch den Frieden von Preßburg (26. Dezember 1805) erhielt Bayern
bedeutenden Länderznwachs,
wogegen es nur das Herzogtum Berg abgeben
368
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
mußte; von jetzt ab bestand das Königreich Bayern aus einem zusammen
hängenden, abgerundeten Gebiete von 1618 Quadratmeilen Landes.
Für die
Armeeverwaltung, an deren Spitze General v. Triva stand, veranlaßte dieser
Gebietszuwachs neue Arbeit, indem der Rahmen der Armee wiederum ent
sprechend erweitert werden mußte und eine Anzahl kleiner und kleinster Truppen kontingente in den bayerischen Heeresverband auszunehmen waren. Der 1. Januar 1806 wurde ein denkwürdiger Tag für Bayern und das Haus Wittelsbach. Kurfürst Max Joseph nahm unter Zustimmung des Kaisers Napoleon die Königswürde an. Napoleon, dem auf dem europäischen Kontinent
niemand mehr entgegentrat, griff nun noch weiter in die Verhältnisse des absterbenden Deutschen Reiches ein. Er brachte den Plan zur Ausführung die süd- und mitteldeutschen Staaten zu einem besonderen von Österreich und Preußen
unabhängigen Bunde zu vereinigen und diesen vertragsmäßig unter Frankreichs Führung zu stellen.
Auf diese Weise entstand der von Bayern und 15 andern
deutschen Staaten gebildete Rheinbund mit Kaiser Napoleon als Schutzherrn. Eine bei diesem Anlaß erfolgte abermalige Gebietsvermehrung sollte Bayern nicht geschenkt sein; denn noch im gleichen Jahre mußte cs den Bestimmungen
des Rheinbundes gemäß zum Kriege gegen Preußen und Rußland neuerdings seine Streitkräfte ins Feld stellen.
Während Napoleon mit dem Hauptteil seiner
Armee bei Jena und Auerstädt die erste Entscheidung hcrbeiführte, standen die in
zwei Divisionen gegliederten bayerischen Truppen wegen der unsicheren Haltung Österreichs in Bayern in Bereitschaft. Später bildete Napoleon bei Dresden
aus den bayerischen Divisionen, der Württembergischen Division und den über getretenen sächsischen Truppen ein 9. Armeekorps, an dessen Spitze er seinen Bruder Hieronymus als kommandierenden General setzte. Dieses Armeekorps
erhielt den Auftrag
sich iil den Besitz der schlesischen Festungen zu setzen;
daher nahmen bayerische Truppen in der Folge an der Belagerung der festen Plätze Glogau, Breslau, Kosel, Glatz und Silberberg teil. Ausgenommen hiervon ist nur ein Chevaulegersregiment, das unter Oberst Graf Pappenheim
von Napoleon
nach Polen befohlen wurde und in der Schlacht von Eylau
sowie im Gefecht von Heilsberg zum Eingreifen kam.
Nach der Schlacht bei
Eylau zog Napoleon die 2. bayerische Division zur großen Armee nach Polen heran und teilte sie dem 5. französischen Korps Masscna zu; unter dem Kommando des Kronprinzen Ludwig, dem Wrede zugeteilt war, bestand
sie bei Pultusk ein erfolgreiches Gefecht gegen die Russen. Inzwischen dauerte der Festungskrieg in Schlesien fort, der für die Division Deroy nicht nur einen anstrengenden Belagerungsdienst sondern auch wiederholte Gefechte mit Abteilungen
preußischer Feldtruppen
Gefechte am 14. Mai 1807
im Gefolge
hatte.
Bei einem dieser
kam die Fahne eines Bataillons in dringende
Gefahr vom Feinde genommen zu werden und entging diesem Schicksal nur
dadurch, daß der schwerverwundete Junker Chlingensberg sich mit ihr in den hochgehenden Fluten der wilden Weistritz begrub.
69. Das bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
369
Während des Krieges mußte von Bayern noch eine weitere Brigade
unter General Vincenti aufgestellt werden, die alsdann im Verbände eines neugebildeten Armeekorps unter Marschall Brune den Schweden bei Stralsund
gegenüberstand und nachher die Insel Rügen besetzte. Nachdem der Friede von Tilsit im Juli 1807 dem Kriege ein Ende gemacht hatte, blieben die bayerischen Truppen noch bis zum Herbst in Nord
deutschland in Quartieren und kehrten dann in die Heimat zurück. Der Krieg 1809 sollte dem bayerischen Heere neue Gelegenheit geben in
hervorragender Weise kriegerischen Ruhm zu erwerben, nachdem das Jahr 1808 mit abermaligen Rüstungen und Übungen vorüber gegangen war. Die mittel bare Veranlassung zu diesem Kriege gab Napoleons Aufenthalt jenseits der
Pyrenäen. Da dieser fast seine sämtlichen Armeekorps nach Spanien hatte marschieren lassen, so erachtete Österreich die Lage für günstig um durch einen abermaligen Krieg sein gesunkenes Ansehen wieder zu heben und die verlorenen Länder zurückzugewinnen. Im Hinblick auf die offenkundigen Rüstungen Österreichs erging daher bayerischerseits schon Ende Februar 1809 der Befehl
zur Mobilmachung der Armee in der Stärke von 3 Divisionen, jede aus 2 Jnfanteriebrigaden, 1 Kavallcriebrigade und 4 Batterien bestehend, und wurde alsdann Aufstellung
mit an den Inn vor
an der Isar genommen
geschobenen Kavallerievorposten. Als ein Zeichen des Mißtrauens Napoleons in
seine Bundesgenossen muß es hiebei gelten, daß der Oberbefehl
über das
bayerische Armeekorps dem französischen Marschall Lefebre übertragen wurde, während doch Deroy, der älteste der bayerischen Generale, den Anforderungen
eines Korpsführers gewiß ebenso gut entsprochen hätte. Bis zum Eintreffen Napoleons aus Spanien leitete Marschall Berthier der in Süddeutschland stehenden französischen und Rhein-
die Bewegungen
bund-Truppen.
In falscher Auffassung der Befehle des Kaisers und durch
unzutreffende Nachrichten über den Gegner irregeleitet verzettelte er die ihm unterstellten Streitkräfte in eine Aufstellung zwischen Landshut, Regensburg und Augsburg und brachte sie dadurch in Gefahr vereinzelt geschlagen zu werden. Als die österreichische Hauptarmee unter Erzherzog Karl mit etwa 120000 Mann in breiter Front gegen die Isar vorrückte, stand an diesem
Flusse und zwar bei Landshut nur die Division Deroy. Trotz der erdrückenden Übermacht beschloß der tapfere Deroy, die Wichtigkeit seiner Aufgabe erkennend,
solange als möglich stehen zu bleiben, als am 16. April der Gegner erschien. Durch ein meisterhaft geleitetes Gefecht gelang es ihm den Österreichern vom
Morgen bis gegen 2 Uhr nachmittags den Übergang über die Isar zu vermehren und dann durch einen mustergültigen Rückzug ohne erhebliche Verluste den
Anschluß an die weiter rückwärts stehenden Divisionen zu gewinnen. Der durch Deroy den Österreichern an der Isar bereitete Aufenthalt erwies sich für die Gesamtlage der Armee Napoleons von großem Nutzen.
Inzwischen war nämlich
der Kaiser über Ingolstadt bei der Armee eingetroffen; in Eilmärschen konzenKronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
24
370
69. DaS bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
inerte er die verfügbaren Streitkräfte und rasch erhielt nun die Kriegslage eine andere Gestalt. Am 20. April griff er mit den beiläufig in der Mitte seiner
Armeefront stehenden Bayern (Divisionen Wrede und Kronprinz in erster Linie, Division Deroy in Reserve) und Württembergern bei Abensberg die Mitte der
österreichischen Armeefront an und durchbrach sie dergestalt, daß ein Teil nach Osten, der andere Teil nach Süden gedrängt wurde. Den letzteren warf er nach
weiteren heftigen Gefechten über Landshut zurück, von wo sodann die Division Wrede und ftanzösische Truppen die Verfolgung fottsetzten. Hierauf wendete sich
Napoleon im Eilmärsche nach Norden, brachte am 22. April dem rechten Flügel der österreichischen Armee unter Erzherzog Karl bei Eggmühl eine vollständige Niederlage bei und nötigte ihn zum Rückzug über Regensburg. An der Schlacht bei Eggmühl nahmen die bayerischen Divisionen Kronprinz und Deroy ruhm
vollen Anteil, insbesondere gebührt der bei Deroy eingeteilten Kavalleriebrigade Seydewitz das Hauptverdienst an der Wegnahme einer feindlichen Batterie von 16 Geschützen, die aus äußerst günstiger Stellung das Angriffsfeld wirksam bestrich. Beim weiteren Bormarsche Napoleons gegen Wien wurde Marschall
Lefebre mit den drei bayerischen Divisionen beauftragt die Graffchaft Tirol wieder zu unterwerfen, die sich mit Beginn des Krieges von der bayerischen Herrschaft frei gemacht hatte.
Während die Division Kronprinz als Rückhalt
bei Salzburg stehen blieb, drangen die Divisionen Deroy und Wrede von zwei Seiten, über Kufftein und Loser, in Tirol ein. Nach mehreren kleinen Ge
fechten wurde Innsbruck besetzt und der Aufstand schien gedämpft.
Am 21. und
22. Mai wurde jedoch die französische Hauptarmee bei Aspern von Erzherzog Karl geschlagen und Napoleon sah sich daher genötigt mit anderen Ver stärkungen auch die Divisionen Wrede und Kronprinz gegen Wien heranzuziehen. Die Division Deroy stand infolgedessen allein in Tirol, als sich die Landes verteidiger unter Andreas Hofers Führung durch Linienttuppen unter Genera. Chasteler unterstützt von neuem zu tatkräftigem Widerstand erhoben. Deroy sah
sich nach äußerst heftigen und Verlustteichen Kämpfen zu dem Entschluß ge
zwungen Tirol wieder zu räumen.
Durch rechtzeitige und umsichtige Einleitung
des Abzugs aus Innsbruck gelang es ihm auch den Rückzug nach Bayern glücklich zu bewerkstelligen. An der Schlacht bei Wagram (5. und 6. Juli) nahm Wrede mit seiner Division hervorragenden Anteil. Am zweiten Schlachttage von Kaiser Napoleon selbst mündlich zur Unterstützung des in der Mitte der Schlachtftont fechtenden Korps Macdonald beordert griff Wrede äußerst wirk sam ein, wobei sich insbesondere die Artillerie seiner Division auszeichnete; er
selbst wurde verwundet.
Den großen Leistungen der Division bei Wagram
setzte ihre Kavalleriebrigade unter General Graf Preysing in den Verfolgungs
gefechten am 9. und 10. Juli die Krone auf, indem sie mit ihren Regimentern
mehrmals erfolgreich attackiette.
Die Division Kronprinz stand während der
Entscheidungstage von Wagram bei Linz um hier die linke Flanke Napoleons
und die Donaubrücke zu decken.
69. DaS bayerische Heer in den Jahren 1800 mit 1812.
371
Da trotz des am 12. Juli bei Znaym geschlossenen Waffenstillstandes
die Tiroler im Aufftand beharrten, ergab sich die Notwendigkeit sie mit Waffen» gewalt zur Unterwerfung zu zwingen. Unter dem Oberbefehl des Marschalls Lefebre drangen die Divisionen Kronprinz und Deroy bis Innsbruck vor. Hier angekommen hielt aber Lefebre seine Lage, namentlich wegen Gefährdung seiner Verbindungen, für zu bedenklich und auf seinen Befehl wurde Tirol zum
zweitenmal geräumt.
Napoleon ordnete zum drittenmal die. Eroberung von Tirol an. Von Norden her sollten die drei bayerischen Divisionen, an Stelle des unentschlossenen Lefebre von General Drouet d'Erlon kommandiert, von Osten und Süden her Truppen des Vizekönigs von Italien in das Gebirgsland eindringen.
Am
1. November stürmte die Division Wrede die Stellung der Tiroler am Berg Jsel bei Innsbruck und Andreas Hofer erklärte sich nun bereit die Waffen niederzulegen. Trotz dieser Zusage fachte er durch falsche Nachrichten und kleine Erfolge irregeführt in Südtirol den Aufstand von neuem an und es
bedurfte noch des Eingreifens der italienischen Armee und weiterer blutiger
Kämpfe, bis endlich die Ruhe hergestellt war.
An dem schließlichen Schicksal
des Andreas Hofer, der von einem Landsmann verraten und von französischen Soldaten in Mantua kriegsrechtlich erschossen wurde, hat die bayerische Regierung
keinen Anteil, König Max Joseph war sogar sehr peinlich berührt, als er die Nachricht von der stattgehabten Exekution erhielt. Im Frieden von Schönbrunn, 14. Oktober 1809, erhielt Bayern das Inn
viertel, die Gebiete von Salzburg, Berchtesgaden und Regensburg sowie im Jahre
1810 die Markgrafschaft Bayreuth; obwohl es dafür das südliche Tirol teils an Italien teils an den neugebildeten Staat Illyrien abtreten mußte, waren die neuen Erwerbungen in jeder Beziehung als ein abermaliger Gewinn zu erachten.
Nachdem in den Friedensjahren 1810 und 1811 die Verluste des acht Mvnare langen Feldzugs wieder ersetzt worden waren, hatte die von König Max Joseph umgestaltete Armee zu Anfang 1812 den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht.
Sie setzte sich zusammen aus 12 Regimentern und 6 leichten Ba
taillonen Infanterie, 6 Regimentern Kavallerie und
1 Regiment zu 3 Ba
taillonen Artillerie. Kommandiert von einsichtigen, tatkräftigen und kriegs erfahrenen Führern bestand sie aus Truppen, die, im Feld- und Gebirgskriege
vor dem Feinde geschält, hinsichtlich ihrer militärischen Leistungsfähigkeit den
weitgehendsten Anforderungen entsprachen;
ein durch drei siegreiche Feldzüge
aufs höchste gestiegener kriegerischer Geist beseelte alle Grade vom einfachen
Soldaten bis zum General. Aber dieser prächtigen Armee war keine lange Dauer mehr beschieden; als halb Europa von Napoleon zum Kriege gegen Rußland aufgeboten wurde, sollte ihr das Bundesverhältnis zu Frankreich ver
hängnisvoll werden. Die bayerischen Truppen bildeten im Kriege 1812 das vom französischen Marschall Gouvion St. Cyr befehligte 6. Korps der „Großen Armee", das
24«
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
372
aus zwei starken Divisionen bestand, die von Deroy und Wrede geführt wurden. Am 14. Juli fand bei Wilna Vorbeimarsch vor Kaiser Napoleon statt, den die Haltung der Bayern sehr befriedigte.
Nachher wurden die beiden bayerischen
Kavalleriebrigaden abgctrennt um im Verbände der Hauptarmee den Vormarsch
nach Moskau anzutreten;
sie nahmen an den Schlachten bei Smolensk,
Borodino, Malojaroslawez und Miasma sowie am BercsinaÜbergang teil. Der Hauptteil der Bayern blieb inzwischen im Verbände einer französischen Armeeabteilun^ an der Dwina zurück um die linke Flanke der Hauptarmee gegen ein russisches Korps unter Wittgenstein zu decken, das auf
der Petersburger Straße stand. Am 17. und 18. August fand die für die Bayern ruhmvolle Schlacht bei Polozk statt, in welcher der 69jährige General Deroy tödlich verwundet wurde. Die Bayern mußten hierauf in fortwährender Berührung mit dem Feinde und unter den größten Entbehrungen an der Dwina stehen bleiben, bis sie im Dezember in den unheilvollen Rückzug hineingezogen wurden, der dem russischen Kriege ein schaudervolles Ende bereitete. Durch Ruhr und Typhus, durch Hunger und Kälte fand die „Große Armee" ihren
Untergang; der geringere Teil fiel im Kampfe oder geriet in feindliche Ge
fangenschaft.
Die schönen Regimenter, die unter Deroy und Wrede den Riemen
überschritten hatten, gingen fast ganz zugrunde; nur spärliche Reste kamen in die Heimat zurück um die Überlieferungen einer glänzenden Vergangenheit auf eine neu zu schaffende Armee zu übertragen.
Teuer hat Bayern es dem Kaiser Napoleon bezahlen müssen, daß es durch ihn groß geworden ist. Den weitaus schmerzvollsten Posten in dieser weltgeschichtlichen Abrechnung bilden die nahezu 30000 Mann, die in Ruß
land ihr Grab gefunden haben.
Nach solch großem Menschenopfer konnte König
Max Joseph die Dankesschuld Bayerns an Napoleon als getilgt ansehen.
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813. Don Johann Heilmann.')
Nach der Katastrophe in Rußland mußte man in Bayern vor allein bedacht sein die Streitkräfte des Landes wieder in Achtung gebietenden Stand
zu setzen, um von den Ereignissen nicht überrascht zu werden. Es mußte ein völlig neues Heer geschaffen werden, da das alte kampferprobte in Rußland
umgekommen war.
Nachdem General Graf Wrede nach Bayern zurückgekchrt
war, widmete er sich mit gewohnter Tätigkeit der Organisation und Aus bildung der neuen Streitkräfte. Neben der Ergänzung der Armee ging noch die Errichtung von freiwilligen Korps sowie die Landesbewaffnung her. Auf die Nachricht vom erfolglosen Ausgange der Prager Unterhandlungen
(30. Juli bis 10. August) brach General Wrede mit dem neugebildeten bayerischen *) „Die Bayern im Kriege," S. 189 ff.
München 1864, I. I. Lentner.
373
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
Heer aus dem Lager bei München auf um eine Verteidigungsstellung am Inn
zu nehmen, da auch eine österreichische Heeresabteilung unter dem Fürsten von Reuß sich gegen die bayerische Grenze in Bewegung gesetzt hatte. So beruhte denn das ganze Schicksal Bayerns in jener Stunde auf dem am Inn aufgestellten Heere, das bereit war in voller Hingebung für
seinen König auch den ungleichsten Kampf mit erprobter Tapferkeit zu bestehen. Zum Glücke Bayerns wandte Wrede diese Gefahr ab. Nach langen Unter handlungen gelang es ihm trotz der Gegenwirkung des bayerischen Ministers Montgelas den Vertrag von Ried am 8. Oktober 1813 zum Abschluß zu bringen.
Wredes Name ist dadurch an einen der wichtigsten Wendepunkte
der neueren Geschichte Bayerns geknüpft. Der erste und mächtigste Fürst des Rheinbundes hatte hicmit das erste Beispiel zur Rückkehr zur deutschen Sache gegeben.
Es war in einem Augenblick
gegeben, in welchem die Masse des französischen Heeres noch unzerstört, ferner Napoleon noch Gebieter der Elbe und im Besitze einer Reihe gewaltiger Festungen im Rücken der Verbündeten war. Wrede hatte nach Abschluß des Rieder Vertrages drei Operationspläne
entworfen, von deren Ausführung er für die ihm unterstellte, nunmehr aus Österreichern und Bayern bestehende und über 50000 Mann mit 134 Ge
schützen starke Armee die erfolgreichste Mitwirkung an dem Befreiungskriege erwartete.
Als Grundlage dienten denselben die Stellung der Heere in Nord
deutschland zu Ende September.
Er wollte nämlich in möglichster Eile nach
Erfurt in den Rücken des französischen Heeres dringen oder über Würzburg nach Fulda oder über Ansbach, Heilbronn nach Mannheim marschieren, dort über den Rhein gehen, die nächsten Festungen überrumpeln und Strcifkorps
nach Frankreich senden. Dieser letzte, in seiner Idee kühn und genial, war Wredes Lieblingsplan. Allein
Seine Ausführung würde gewiß große Resultate herbeigeftthrt haben.
trotzdem ihn der General
mit genauester Sorgfalt ausgearbeitet
und
den
verbündeten Monarchen zur Annahme dringend empfohlen hatte, wurde dessen Ausführung dennoch nicht genehmigt. Im großen Hauptquartier entschied man sich mit einigen Abänderungen
für den zweiten Plan.
„Wrede solle," hieß es in einem Befehl vom 13. Oktober,
„über Regensburg nach Bamberg operieren und die Mainlinie als Basis nach eigenem Ermessen schleunigst befestigen lassen, sonach auf die Kommunikation
des Feindes nach Umständen gegen Frankfurt a. M. oder Fulda wirken, ferner alles aufbieten um Magazine am Main zu errichten."
Nachdem der Vertrag einmal abgeschlossen war, zögerte Wrede auch nicht mehr länger.
Schon am 10. Oktober, fast eine Woche früher, als die
Ratifikationen des Vertrages und die Bezeichnung des Operationsplanes ein getroffen waren, hatte er seine Bayern gegen die Donau in Bewegung gesetzt:
374
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
er selbst wartete mit den Österreichern diese ab und folgte dann rasch den
vorausmarschierenden Bayern. Wrede hatte mit dem Oberbefehl
des österreichisch-bayerischen Heeres
nicht bloß eine militärische, sondern auch eine politische Rolle übernommen. Der Rheinbund bestand noch;
wichtige Glieder desselben — Württem
berg, Baden, Würzburg, Frankfurt, Hessen — schienen wenig geneigt schon
jetzt der deutschen Sache beizutreten.
Wrede war es, der den Rheinbund im Südwesten militärisch aufrollte, in dem Maße, als sein Marsch diese Staaten in seinen Bereich brachte.
Die Staatsverträge, durch welche die südwestdeutschen
Staaten zu Anfang November dem Rheinbund entsagten, waren im Wesen nur die bindende Form für Zusagen, die Wrede bereits militärisch erzwungen hatte. So hatte Württemberg auf Wredes Drohung hin, daß er, wenn es
den Rheinbund nicht verlasse, das Land feindlich behandeln werde, schon am 23. Oktober einen Militärvertrag mit dem bayerischen General geschlossen, durch welchen der König dem Rheinbünde entsagte und 4500 Mann zu dem österreichisch-bayerischen Heere stellte. Sie schützten während der Hanauerschlacht den Mainübergang bei Aschaffenburg. Ähnliches geschah mit Hessen und Würzburg und
auch mit Baden
war es eingeleitet.
Das Großherzogtum
Frankfurt nahm Wrede förmlich in Besitz und vereidete dessen Regierung im
Namen der Verbündeten. Am 24. Oktober traf Wrede über Landshut, Neustadt, Neuburg, Donau
wörth, Nördlingen, Dinkelsbühl, Ansbach, Uffenheim vor Würzburg ein. Er hatte den bestimmten Befehl die Mainlinie zu gewinnen, Würzburg zu nehmen und dann im äußersten Falle bis gegen Frankfurt mainabwärts zu gehen.
Die Berennung von Würzburg hatte indessen nicht die erwartete rasche Kapitulation zur Folge. Auch ein politisches Motiv wirkte verzögernd: der Großherzog hielt mit der kategorisch verlangten Lossage von Napoleon zurück und es galt wesentlich darum auch dieses Glied vom Rheinbünde zu lösen. Erst am 26. übergab der französische Kommandant, General Thurreau, die Stadt und die Regierung erließ ein Manifest, das den Rücktritt des Groß
herzogs vom
Rheinbünde verkündete.
unter Wredes Befehl.
Die würzburgischen Truppen traten
Die Stadt wurde mit 3 Bataillonen besetzt.
Jetzt handelte es sich um ein entscheidendes Eingreifen in die Operationen gegen das bei Leipzig geschlagene französische Heer.
Die nächste Marschlinie
lief am Main abwärts. In Aschaffenburg sollte sich die gesamte Armee ver einigen. Was dann weiter zu geschehen habe, war eine Frage, die nur durch die Nachrichten beantwortet werden konnte, die man über Napoleons Rückzug erhielt. Die bayerische Division Lamotte, das österreichische Reservekorps unter Trautenberg und Spleny und die Reiterbrigade Vieregg waren schon im Vor
rücken gegen Aschaffenburg. Am 27. Oktober folgten die bayerischen Divisionen Rechberg und Beckers,
Division Fresnel.
die übrige bayerische Reiterei und die österreichische
70. Sie Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
375
In Betreff der wahren Rückzugslinie Napoleons durchkreuzten sich die widersprechendsten Nachrichten.
Kosakendetachements, die das feindliche Heer
seit Leipzig unausgesetzt begleitet zu haben vorgaben, bezeichneten Wetzlar als den Rückzugspunkt Napoleons; nur 20000 Mann, hieß es, zögen über Gelnhansen nach Hanau.
Dies bestätigte der russische Parteigänger Kaisaroff.
Noch mehr Glaubwürdigkeit gewannen diese Meldungen durch die Mitteilungen
des Fürsten Schwarzenberg, welche sie mit dem Zusatze bestätigten, das verbündete Heer folge dem französischen auf dem Fuße nach. Nur der öster
reichische Streifkorpskommandant Oberst von Scheibler meldete gestützt auf die Aussagen seines Kundschafters schon am 26. aus Schweinfurt, daß Napoleon mit dem Hauptheere über Fulda ziehe. Als der bayerische General in Aschaffenburg von dem Zuge ftanzösischer
Abteilungen durch Hanau Nachricht erhalten hatte, sandte er das 1. Chevau legerregiment dorthin;
am 28. morgens 7 Uhr rückten die ersten Bayern in
die von den Franzosen verlassene Stadt. Bald darauf kam auch der übrige Teil der Reiterbrigade Vieregg mit einer leichten Batterie vor Hanau an, ging durch die Stadt und suchte auf der Chaussee gegen Gelnhausen vorzudringen. Überlegene feindliche Abteilungen zwangen aber die Brigade zum Rückzug. Erst als Generalmajor Deroy (her Sohn des in Rußland gestorbenen Generals
Deroy) mit der Vorhut der Infanteriedivision Lamotte eintraf, wurde Hanau wieder und nachts 10 Uhr auch die jenseits der Kinzig gelegene Vorstadt vom
Feinde gesäubert und besetzt.
Die Brigade Deroy rückte bis an den Lamboy
wald vor. Wrede hatte die feste Überzeugung gewonnen, daß Napoleon die große Straße rechtsab verlassen und den offenen Weg über Kassel nach Koblenz genommen habe um dort den Rhein zu überschreiten. In solchem Sinne
schrieb er an Schwarzenberg. Im großen Hauptquartier teilte man diese Ansicht und die gesamten Maß regeln zu der ohnehin schon von Anfang an völlig kraftlos geleiteten Verfolgung
waren danach bemessen. So kam Napoleon geradezu unverfolgt und in ge sammelter Kraft bei Hanau an; der gleiche Irrtum seiner Gegner vor und
hinter ihm gab dem Kaiser einen letzten Sieg auf deutschem Boden. Am 29. Oktober morgens wollte eine ungefähr 3000 Mann starke feind
liche Kolonne aus dem Lamboywalde hervorbrechen. Deroy griff dieselbe an, nahm sie großenteils gefangen und eroberte zwei Kanonen. Er stellte sich hierauf
bei Rückingen auf.
Seinen Platz nahm die Brigade van der Stockh ein.
Von Aschaffenburg aus schickte Wrede am 29. die Infanteriedivision Rechberg mit 2 Eskadronen und 2 Batterien über Seligenstadt und Offenburg
zur Besetzung von Frankfurt.
Anfänglich sollte die Württembergische Brigade
Walsleben nach Frankfurt gehen. Da sie aber einen anderen Weg einge schlagen, übertrug ihr Wrede, wie schon gesagt, die Überwachung des Main überganges bei Aschaffenburg.
376
70. Dir Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
Die Entsendung einer ganzen Division nach Frankfurt, die jedensalls bei Hanau bessere Dienste geleistet hätte, findet ihre Entschuldigung in Wredes damaliger Absicht seinen Marsch
gegen Wetzlar zu richten und so das fran
zösische Hauptheer, das er auf dessen Rückzüge gegen Koblenz dort finden mußte,
in Flanke und Rücken zu fassen. Mit dem Hauptteil der Armee nahm Wrede die Richtung auf Hanau,
in seiner rechten Flanke rückte
die leichte Brigade Volkmann auf Geln
hausen. Volkmann schlug von Aschaffenburg den Weg über Damm, Jo hannesberg, Membris, Michelbach, Somborn gegen Gelnhausen ein; seine Flankendeckung ging über Schimborn, Schöllkrippen. Wegen des schlechten Weges hatte Volkmann seine Batterie zurücklassen müssen.
Eine Operation
in dieser Richtung mit der ganzen Armee war also wegen ungenügender Wegsamkeit nicht wohl ausführbar. Überdies waren die Truppen zu ermüdet um noch rechtzeitig an
den
Engpässen
von Gelnhausen einzutreffen.
Im
günstigsten Falle wären vielleicht die Spitzen der Kolonnen am Platze an gekommen. Mit Spitzen aber hätte man gegen 72000 Mann mit 140 Ge schützen unter Napoleons Führung sicherlich ebensowenig ausgerichtet als
Vollmann auszurichten imstande war. Statt dessen führte ein ebener Weg nach Hanau. Von dort konnte dann in Masse, wenn Zeit und Um stände es noch erlaubten, gegen die Engpässe von Gelnhausen oder von Haitz bis Höchst vorgerückt, oder bei Hanau, wie es dann wirklich geschah, Position
genommen werden. Am 29. Oktober nachmittags 2 Uhr traf Wrede in Hanau ein. Ihm folgte das österreichisch-bayerische Heer in der Stärke von 30000 Mann. Die Gefechte seiner vorausmarschierten Truppen hatten gegen 5000 Gefangene er geben und zugleich den Beweis geliefert, daß der Gegner, mit dem man es bis jetzt zu tun hatte, moralisch und physisch gebrochen war. Bestimmte Nach
richten fehlten noch immer. Während die eingetroffenen Streifkorps angaben, daß der Kaiser bis Schlüchtern die von Fulda nach Hanau führende Straße
nicht verlassen habe, trafen noch fortwährend Meldungen ein, die versicherten, daß er sich von dort rechts gewendet habe. Alle aber hatten nur demorali sierte Haufen gesehen, was mit den eigenen Anschauungen bei Hanau nur
zu wohl stimmte. Noch am Abend des 29. streckten nach einigem Hin- und Herreden 2000 Franzosen vor der Front der Division Lamotte das Gewehr,
ein Umstand, der Wrede in seiner Anschauung der Sachlage nur bestärkte. Man überließ sich, durch diesen neuen Vorteil verleitet, der Idee, daß es kaum mehr besonders viel zu tun geben würde. Unterdessen war das feindliche Hauptheer oberhalb Gelnhausen mittels dreier Brücken auf das rechte Kinzigufer übergegangen und rückte ohne Wider
stand gegen Hanau.
Volkmann zog sich, nachdem er ein kleines Gefecht be
standen, von Altenhaslau nach Hailer und in der Nacht vom 29. auf den 30.
in die Stellung bei Hanau.
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
377
Diese hatte Wrede folgendermaßen gewählt. Auf dem rechten Flügel stand die bayerische Division Beckers (Brigaden Pappenheim und Zoller) nebst
einer Batterie ä cbeval der vom Lehr- nach dem Neuhof führenden Straße. Das 1. Szekler-Grenzinfanteriereginient bildete eine Vorpostenkette in der Nähe des Neuhofs.
Hinter der Division Beckers stand
Infanterieregiment Jordis als Unterstützung.
das österreichische
Die Mitte bildete südlich von
der Gelnhausener Straße die bayerische Division Lamotte.
Die Brigade Deroy
anfänglich bei Rückingen stehend rückte später als zweites Treffen hinter die Brigade van der Stockh. Auf und zu beiden Seiten der nach Gelnhausen führenden Straße lvaren 28 Geschütze in einer Batterie aufgefahren.
Die
Bedeckung dieser Batterie bildete das österreichische Infanterieregiment Erz herzog Rudolf. Hinter dieser Geschützlinie stand die gesamte Reiterei in drei Treffen. Das 3. österreichische Jägerbataillon und zwei Kompagnien vom Regiment Erzherzog Rudolf standen am Krebsbach, das österreichische Streifkorps auf der Strecke nach Windeck und Friedberg. Am Morgen des 30. hatten sich zum erstenmal gegenüber der Brigade Deroy feindliche Truppen gezeigt, die sich völlig von den ungeordneten Haufen
unterschieden, mit denen
man
es
bisher zu tun gehabt.
Napoleon hatte
nämlich alle maroden und kampfunfähigen Leute vorausgeschickt. Was sich aber am 30. zeigte, war der Kern der Armee, darunter die Prätorianer des Imperators.
Die Starke dieser Truppen wird zu 60000 Mann Infanterie,
12000 Reiter mit 140 Geschützen angegeben.
Desungeachtet war man noch immer der Ansicht, daß Napoleon einen
andern Weg eingeschlagen. Der Minister Albini in Hanau hatte Berichte seiner Beamten aus Fulda erhalten, welche die bis jetzt festgehaltene Annahme,
daß Napoleon seinen Rückzug gegen Koblenz genommen, als sichere Tatsache
bestätigten.
Noch am Mittag des 30. sprach Wrede in Befehlen an seine
Generale bestimmt die Absicht aus nach Gefangennehmung der Seitenkolonne, die hier durchdringen wolle, zur Verfolgung des Kaisers aufzubrechen und so den Operationsplan, wie er ihn am 28. an Schwarzenberg gemeldet, auszuführen.
Erst während der Schlacht, als das Auftreten der Garde die Gewißheit
gab, daß man den Kaiser selbst mit einem noch tüchtigen Heereskerne gegen sich habe, erkannte Wrede und sein Stab den bisherigen Irrtum. „Jetzt ist nichts mehr zu ändern," antwortete Wrede aus die Meldung, „wir müssen als brave Soldaten unser Möglichstes tun." Und das ist wahrlich in einer Weise geschehen, welche die vollste Hochachtung verdient. Wrede und seine
Bayern haben bewahrheitet, was der General aus den Vorschlag Stellung auf dem linken Kinzigufer zu nehmen entgegnet hatte:
„Wir sind zu neue
Freunde um nicht unsern Willen mit blutigstem Ernste zu betätigen." Übrigens war Wrede zur Annahme berechtigt, daß das geschlagene Heer
von den Verbündeten lebhaft verfolgt werde.
Hatte ihm ja Schwarzenberg
versichern lassen, daß „er den Franzosen hart auf dem Nacken bleiben werde".
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
378
Selbst noch ein Schreiben Schwarzenbergs aus Dörnbach vom 30. Oktober, das begreiflicherweise zu spät kam um auf die Ereignisse Einfluß zu üben,
enthielt, obschon es den Irrtum über die Rückzugslinie hob, die wiederholte
Versicherung, daß Blücher und Bubna den Feind, den Degen in den Rippen, hart verfolgten. Schon seit dem frühen Morgen vom Feinde angegriffen behauptete sich die
Brigade Deroy bis 10 Uhr in der Nähe von Rückingen. Als aber der Feind um diese Zeit neue Streitkräfte entwickelte, zog sie sich Schritt für Schritt durch den Lamboywald zurück.
Die Brigade hatte kaum ihren Platz
in der Schlachtstellung eingenommen, als sich auch schon die Plänkler des Generals Charpentier am westlichen Saume des Waldes zeigten. Mehrere Versuche derselben aus dem Walde hervorzudringen, scheiterten an dem Feuer
der Batterie und den im ersten Treffen stehenden Bataillonen der Brigade
van der Stockh. Nun versuchte der General Dubreton mit 2000 Plänklern und einigen Geschützen den rechten Flügel der Verbündeten zu werfen; allein er sand so tapferen Widerstand, daß auch ihm das Vordringen aus dem Walde unmöglich
wurde. Mehrere Stunden wogte der Kampf auf der ganzen Linie hin und her, ohne daß der Feind in die Ebene zu gelangen vermochte.
Endlich um 3 Uhr
nachmittags stand die französische Gesamtmacht zum Hervorbrechen aus dem Walde in Bereitschaft. Napoleon wollte nämlich mit Übermacht einen kräftigen Stoß gegen den linken Flügel des verbündeten Heeres ausführen und sich
hier, wo die Chaussee lief, den Weg an den Rhein öffnen. General Curial drängte mit 2 Bataillonen der alten Garde die Plänkler Lamottes zurück. Dadurch wie durch das Feuer von 15 Geschützen, deren Zahl der Kaiser bis auf 50 steigerte, ward das Hervorbrechen der schweren Reitermassen ermöglicht.
Diese stürzten auf die Artillerie und
Bataillone der Division Lamotte.
auf einige
Die Reiterei der Verbündeten drückte zwar
die gepanzerten Massen in mehreren Angriffen in den Wald zurück; allein das Feuer jener 50 Geschütze zwang sie zum Rückzug. Fast gleichzeitig hicmit verließ die starke Batterie der Verbündeten, nachdem sie den größten Teil
ihrer Munition verschossen hatte, ihre Stellung und ging auf das linke Kinzig ufer zurück.
In
dieser
kritischen Lage ordnete Wrede fortwährend erneute
Reiterangriffe an und vorzüglich sein ritterliches Beispiel, sein ermunterndes
Wort waren Ursache, daß hier das Schlachtfeld bis zum Abend behauptet wurde. Damals, als das französische Geschütz sich in eine große Masse ver einigte um das „dvdnement" — Einbrechen mit der Garde und der Reserve — vorzubereiten, hatte die Brigade Pappenheim auf dem rechten Flügel bereits
sehr gelitten. Diese Brigade war um die Mittagsstunde, als das Szekler Regiment sich nicht mehr am Walde halten konnte, über die Lamboybrücke und in die Stellung zwischen Neuhof und Kinzig gerückt. Wrede ließ sie nun
70. Die Schlacht bei Hanau am 30. und 31. Oktober 1813.
379
durch die Brigade Zoller ablösen und letztere noch durch das österreichische Regiment Jordis verstärken. Als der Generalleutnant Graf Beckers diese Brigade persönlich vorführte, drang der Feind mit Übermacht aus dem Walde
hervor. Auch die Division Lamotte hatte um diese Zeit nach heißem Kampfe ihren Rückzug durch Hanau nach Groß-Auheim angetreten.
Ohne Artillerie
und Reiterei hatte sich diese brave Infanterie stundenlang gegen die Angriffe weit überlegener, gemischter feindlicher Truppenmassen aufs tapferste behauptet. Die unaufhörlich aus dem Walde sich entwickelnden Massen drängten
endlich den rechten Flügel der Verbündeten an die Lamboybrücke zurück.
Die
Brigade Pappenheim und 28 Geschütze, welche der bayerische Artilleriegeneral
Colonge auf dem linken Kinzigufer auffahren ließ, verteidigten die Zugänge zur Brücke.
Die Franzosen zogen sich, nachdem einzelne mutige Grenadier
abteilungen bis an die Brücke vorgedrungen waren, wieder in den Wald zurück. Während die teilweise zerstörte Lamboybrücke die Nacht über besetzt blieb und einer österreichischen Brigade die Verteidigung Hanaus übertragen wurde,
vereinigte Wrede seine Truppen in einer Stellung hinter dem Lehrhof und der Aschaffenburgerstraße, so daß diese vor der Front lief. Wrede nahm sein Hauptquartier in Großauenheim. Später erstreckte sich die Stellung kinzig auswärts, so daß sie die genannte Straße durchschnitt. Am 31. morgens 2 Uhr wurde ein Teil der Stadt Hanau in Brand geschossen. Die Österreicher räumten die Stadt, worauf sie von einigen feind
lichen Regimentern
besetzt wurde.
Unter
einem heftigen Geschützfeuer von
beiden Seiten setzten die Franzosen ihren Rückzug gegen Frankfurt fort.
Um
3 Uhr nachmittags beschloß endlich Wrede Hanau wieder zu nehmen und auf das rechte Kinzigufer überzugehen.
Dieses Ergreifen der Offensive nach einer blutigen Niederlage ist sowohl für den Feldherrn wie für sein Heer ein Beweis
von seltener Tüchtigkeit. Persönlich zog Wrede um diese Stunde an der Spitze von sechs österreichischen Grenadier- und Jägerbataillonen gegen die Stadt, in seiner rechten Flanke durch das wirksame Feuer einer bayerischen Batterie
unterstützt.
Wrede sprang zuerst in den Stadtgraben um mitten im stärksten
Kugelregen durch persönliches Beispiel die Stürmenden anzufeuern und die
Einnahme der Stadt zu erzwingen. Das Tor wurde aufgesprengt, alle Eingänge trotz der hartnäckigsten Gegenwehr erobert. Im Laufschritt stürmte man durch die Stadt die Feinde vor sich herjagend gegen die Kinzigbrücke. Wrede war so rasch vorausgeeilt, daß nur die Spitze der Kolonne hatte folgen können. Mit kaum 20 Grenadieren und Jägern erreichte er die Brücke; da traf ihn eine Flintenkugel in den Unterleib; er sank rückwärts und wurde in ein be
nachbartes Haus 'gebracht. Die Entfernung des bayerischen Generals brachte eine Stockung in den Gang des Gefechtes. Der Übergang des Heeres auf das rechte Kinzigufer wurde hiedurch verzögert und die Franzosen konnten ihren Rückzug ohne besondere Störung fortsetzen.
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
380
Erst am folgenden Tage rückte das bayerisch-österreichische Heer nach
Frankfurt, wo Abteilungen der Division Rechberg ein rühmliches Brückengesecht
bestanden hatten.
Die Vorhut der Hauptarmee der Verbündeten, welche von
traf, statt wie auf das be stimmteste versichert war, am 30. Oktober, erst am 3. November, sohin am
Fulda an die Verfolgung übernommen hatte,
vierten Tage nach der Schlacht, bei Hanau ein.
Der Gesamtverlust des österreichisch-bayerischen Heeres betrug im ganzen über 9000 Mann. Davon treffen auf die Bayern 121 Offiziere und über 4000 Mann. Die Franzosen hatten allein an Gefangenen 10000 Mann, darunter vier Generale und viele Stabs- und Oberoffiziere verloren. Den
Verbündeten fielen zwei Geschütze, eine große Anzahl Munitionswagen u. s w. in die Hände, während sie selbst keine einzige Trophäe verloren. Trugen die Anstrengungen am 30. Oktober auch nicht die Früchte, die
sie nach den gegründetsten Voraussetzungen haben konnten, so war doch das
französische Heer einen Tag lang aufgehalten,- Gewinn genug, wenn — was Wrede immer glaubte — die Verbündeten rechtzeitig im Rücken Napoleons
erschienen und dessen Macht teilten.
Jedenfalls hatte hier Bayern die Auf
richtigkeit seiner Gesinnungen für die deutsche Sache durch die Tat glänzend
bewährt, ein Umstand, weshalb die Schlacht bei Hanau mehr nach politischen als strategisch-taktischen Rücksichten zu beurteilen sein möchte.
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik. Don Paul v. Lossow.') a) Joseph v. Utzschneider, Georg v. Reichenbach und Joseph v. Fraunhofer.
Eine stattliche Reihe bahnbrechender Ideen auf dem Gebiete der Technik und der technischen Wissenschaften ist von Bayem ausgegangen und nicht selten hat die Technik kräftige Anregung und Förderung durch weitblickende und für sorgende Wittelsbacher Fürsten erfahren, die frühzeitig den Segen tech gesamte Volkswohl erkannt haben. In dieser
nischen Fortschritts für das Beziehung
wird Bayern nur von wenigen anderen Ländern Deutschlands
übertroffen. Lenken wir unsere Blicke um 100 Jahre zurück, so finden wir in München drei Männer tätig, die sich unsterbliche Verdienste um die Technik
erworben haben: Joseph v. Utzschneider, Georg v. Reichenbach und Joseph v. Fraunhofer.
Utzschneider war nicht Techniker, sondern Verwaltungsbeamter; aber die erfolgreiche Tätigkeit dieser drei Männer ist so eng untereinander verknüpft, l) „Die geschichtliche Entwicklung der Technik im südlichen Bayern," Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure, Jahrgang 1903, S. 1 ff. München, Ernst Reinhardt.
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
381
daß man keinen der drei Namen nennen darf ohne der beiden anderen zu gedenken. Der vormalige kurfürstliche Hofkammerrat und spätere Direktor bei der 1799 neu errichteten General-Landesdirektion, als welcher er Vorstand der Maut- und Kommerzdcputation war, ist einer der wärmsten Vaterlandsfreunde
und in staats- und volkswirtschaftlicher Beziehung einer der verdienstvollsten Männer gewesen, die Bayern je besessen hat. Da er aber in Bezug auf die damalige Zerrüttung des bayerischen Finanzzustandes (man wußte vor
Utzschneider weder die wahre Größe der Staatsschulden noch den wirklichen Ertrag der Staatsgcsälle) als den einzigen Weg bezeichnet hatte „die häufigen
und tiefliegende»,
die Regierung immer
lähmenden Staatsgebrechen radikal
und definitiv zu heilen", so zog er sich viele Feinde zu, die ihn als einen Revolutionär verdächtigten und das Gerücht verbreiteten, der Geheime Refe-
rendür Utzschneider stehe in Verbindung mit der französischen Republik und sei vorläufig zum Präsidenten von Süddeutschland bestimmt. Seine Stellung wurde unhaltbar und Kursürst Max Joseph versetzte ihn (1801) mit Fortgcwährnng seines vollen Gehalts in den Ruhestand. Was Utzschneider nach dieser Verfügung nicht mehr als Beamter wirken konnte, wollte er als Privatmann tun
und er wählte sich
hiezu das Gebiet der
Industrie. Alles, was ihren Aufschwung fördern und den Interessen seiner Mitbürger dienen konnte, ergriff sein scharfblickender und energischer Geist.
Reiche Quellen nützlicher Arbeit zu schaffen und die Fähigsten durch sein Bei
spiel zu Gleichem zu ermuntern war das Losungswort des Mannes, welcher „den Wohlstand aller, nicht den Reichtum einzelner" wünschte und dem Geld
gewinn fcrnlag.
Nachdem
er eine Ledermanusaktnr errichtet hätte, die sich
bis in die neuere Zeit erhalten hat,
wurde er mit zwei Männern bekannt,
die Bayern bis heute seine größten Techniker nennt: Reichenbach und Fraunhofer. In Fraunhofers Lebcnsgeschichte erzählt Utzschneider selbst:
„Der baye
rische Artilleriehauptmann Georg Reichenbach, der Sohn eines sehr begabten Bohrmeisters in pfalzbaycrischen Diensten, war vom Kurfürsten Karl Theodor
auf Antrag des Grafen Rumford zu seiner weiteren Ausbildung nach England geschickt worden. Nachdem er dort auch große Werkstätten für die Verfertigung
mathematischer Instrumente kennen gelernt hatte, faßte er bald nach seiner Rückkehr den Entschluß durch Errichtung einer solchen Werkstätte in Bayern sein Glück zu versuchen.
Er verband
sich zu
diesem Zwecke mit Joseph
Liebherr, einem fähigen Uhrmacher und Mechaniker, der bereits eine kleine Werkstätte besaß.
Nach dieser Verbindung äußerten mir Reichenbach und
Liebherr den Wunsch ihrer Werkstätte eine größere Ausdehnung zn geben und ein ordentliches Institut zur Erzeugung großer und kleiner Instrumente
und Maschinen mit ihnen zu gründen.
Ich »ahm um so weniger Anstand
auf ihren Wunsch einzugehen, als aus einem solchen Institute seinerzeit tüchtige junge Mechaniker hervorgehen könnten, woran Bayern einen großen Mangel hatte.
Der Gesellschaftsvertrag kam am 20. .August 1804 unter uns zustande
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
382
und das mathematisch-mechanische Institut von Reichenbach, Utzschneider und
Liebherr begann seine Geschäfte mit großer Rührigkeit."
Die Seele dieser Vereinigung bedeutender Männer war ohne Zweifel Reichenbach, damals 32 Jahre- alt, feurig und tatkräftig, theoretisch und praktisch wohlgeschult, ein mechanisches Genie, dem es ebenso leicht wurde
für die Beobachtung des gestirnten Himmels wie für die praktische Verwertung von Naturkräften neue Hilfsmittel zu erfinden oder schon vorhandene zu ver bessern.
Reichenbach befand sich während seiner zweijährigen Studienreise in
England inmitten einer auf Erfindungsgeist und gewaltige Geldmittel gegrün deten und mächtig aufstrebenden Industrie, welche ihn durch ihre täglich sich mehrenden wunderbaren Leistungen
aufs äußerste anregte; dennoch
galten
seine Studien nicht ihr allein, sondern fast ehenso eifrig jenen Stätten, wo die Mechanik des Himmels gepflegt wird. Diese Reise gestaltete sich für Deutschland zu einer förmlichen Entdeckungsreise; denn sie vermittelte unseren Fabrikanten die Fortschritte der Engländer im Maschinenbau, namentlich im Bau der Dampfmaschine, welche gerade damals von James Watt durch die Erfindung des Kondensators eine so durchgreifende Umgestaltung erfahren hatte, daß sie erst von da an als das wichtigste Kulturmittel gelten konnte.
In den großen Werkstätten für Feinmechanik und den zum Teil berühmten Sternwarten empfing Reichenbach die ersten Anregungen später selbst eine solche Werkstätte zu errichten und dabei alle jene Mängel zu vermeiden, welche sein
scharf beobachtender Geist an diesen Instituten
durch die Vorzüge hindurch
erkannt hatte. Zu der Einsicht gekommen» daß die damaligen geodätischen und astronomischen Meßwerkzeuge an überflüssiger Größe und Schwerfälligkeit und anderen Unregelmäßigkeiten litten, war er aufs lebhafteste davon überzeugt, daß sich diese Übelstände nur durch eine vollkommen gleichmäßige Teilung der zur Winkelmessung dienenden Kreise beseitigen ließen. Es lag also für ihn die Aufgabe vor eine Kreisteilmaschine herzustellen, welche selbst die von Bird
und Ramsden in London ausgeführten
Genauigkeit zu übertreffen habe.
besten
Teilmaschinen der Welt an
Von der Wichtigkeit genauer Kreisteilungen,
z. B. für die Seeschiffahrt, mag es einen Begriff geben, wenn man anführt,
daß ein Fehler von nur zwei Minuten in der Bestimmung des Winkels zwischen Mond und Sonne den Standort des Schiffes schon um 20 Seemeilen falsch
angibt. Einen Fehler von zwei Minuten erzeugt aber ein Sextant von 16 cm Halbmesser schon dann, wenn seine Teilung zwischen den beiden für die Bestimmung des Winkels maßgebenden Teilstrichen des Kreisbogens nur um den 20. Teil eines Millimeters falsch ist. So ist es wohl erklärlich, warum schon vor mehr als 100 Jahren die um alle Interessen der Schiffahrt ängstlich
besorgte englische Admiralität die höchsten Preise
für genaue Längenbestim
mungen auf dem Meere ausgesetzt und ausbezahlt hat. Nachdem die neue Teilmaschine allen Erwartungen aufs vollkommenste
entsprochen hatte, stand der Errichtung einer größeren Anstalt für Anfertigung
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
383
von Präzisionsinstrumenten nur noch der Mangel an Geldmitteln im Wege und hier griff Utzschneider entscheidend ein, was zu dem schon erwähnten
Gesellschaftsvertrage (1804) führte. Das kostbarste Werkzeug des neuen Insti tuts war die besprochene Kreisteilmaschine, welche, ungeschwächt in ihrer Wirkung,
beinahe 100 Jahre fortarbeitete und unzählige und unschätzbare Dienste leistete; obwohl noch immer gebrauchsfähig, ist sie (1900) um ihres geschichtlichen Wertes willen vom bayerischen Staate angekauft worden.
Das mechanische Institut von Reichenbach,
Utzschneider
und Liebherr
wurde in der Tat die Pflanzschule für Feinmechanik; denn schon wenige Jahre nach seiner Gründung ließen sich im In- und Auslande jüngere Mechaniker nieder um sogenannte Reichenbachsche Werkstätten einzurichten, die sich seitdem über ganz Europa verbreitet haben, England nicht ausgenommen.
Anfangs
aber hatte das Institut mit bedeutenden Hindernissen zu kämpfen: es fehlte an brauchbarem Flint- und Kronglase und an einem fähigen Optiker um die
Glaslinsen für die Meßgeräte mit welcher deren Kreise geteilt waren.
*
derselben Genauigkeit zu
*
schleifen,
mit
*
Am 21. Juli 1801 stürzten in der Nähe der Frauenkirche zwei baufällige Häuser, darunter das des Spiegelmachers Weichselberger, so plötzlich ein, daß
nur dieser, welcher eben unter der Haustür stand, der Gefahr verschüttet zu werden entging, seine Frau und der Lehrjunge aber nicht. Die Meisterin
wurde erst einige Tage nach dem Einsturz tot aus dem Schutte gezogen; über den Lehrling aber fielen die Trümmer so glücklich, daß er nicht erdrückt wurde. Während der anstrengenden und gefahrvollen Rettungsarbeit eilte der allverehrte, herzensgütige Kurfürst und nachmalige König Max Joseph selbst
an die Unglücksstätte und ermunterte durch Zuruf den noch lebenden Knaben wie die braven Arbeiter, die das Rettungswerk vollzogen. Nach vierstündigem Bemühen hatte man den Knaben befreit; der gerettete Glaserlehrling war aber kein Geringerer als der später so berühmt gewordene Fraunhofer.
Max Joseph
gab Befehl auf seine Kosten für die Heilung des verletzten Knaben zu sorgen.
Nach seiner Genesung ließ er ihn nach Nymphenburg bescheiden, unterhielt sich mit dem treuherzigen Knaben
in
der leutseligsten Weise und gab
ihm
ein
Geschenk von 18 Dukaten. Utzschneider sah den Verunglückten zum erstenmal, als er eben aus dem Schutt hcrvorgezogen war.
Später besuchte er ihn wiederholt und brachte
ihm mathematische und optische Lehrbücher, damit er aus ihnen die theore tischen Kenntnisse schöpfe, welche allein imstande waren ihn zum Schleifen brauchbarer Glaslinsen zu befähigen, das er in seinen Mußestunden betrieb.
So schwer es ist gerade die Anfangsgründe der Mathematik ohne Lehrer sich anzueignen, Fraunhofer brachte es doch zuwege. Da sein Meister für diese Studien des lernbegierigen armen Knaben kein Verständnis hatte, so mußte
384
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
sich dieser oft in arbeitsfreien Tagesstunden auf stille Plätze flüchten um hinter Hecken oder unter Bäumen seinen Wissensdurst zu stillen. Eine Wiese vor dem Karlstore, der jetzige Botanische Garten, war das Gymnasium, welches
Fraunhofer, Klügels Lehrbuch der Optik unter dem Arme, besuchte.
Vermögens
lose Lehrlinge wie Fraunhofer mußten nach damaligem Brauch sechs Jahre lang auch die Dienste eines Laufburschen für Küche und Werkstätte verrichten.
Als ihm aber sein Lehrmeister nachts Licht zu brennen verbot und ihm den Besuch der Feiertagschule verkümmerte, verwendete er den Rest vom Geschenke
des Kurfürsten dazu dem Meister das letzte halbe Jahr der Lehrzeit abzukaufen und sich eine Schleifmaschine anzuschaffen, mit der er eifrig arbeitete. Nebenbei verfertigte er Visitenkarten um etwas Geld zu verdienen. Sein Ideal war
ein guter Brillenmacher zu werden. Als sich Utzschneider 1807 seines Schützlings wieder erinnerte und ihn
den Teilhabern des Instituts vorstellen ließ, tat Reichenbach, von der Gabe aus scheinbar geringen Anzeichen das Talent zu erkennen erleuchtet, den ent scheidenden Ausspruch: „Das ist der Mann, den wir suchen; der wird das
leisten, was uns noch fehlt."
Unter der wissenschaftlichen Leitung Schieggs
und im Umgang mit Reichenbach und, Liebherr entwickelte sich der neben dem geschickten Optiker Niggl arbeitende neue Gehilfe ungemein schnell und berechnete und schliff schon ein Jahr darauf allein und selbständig aus den von Guinand
in Benediktbeuern geschmolzenen Glasstücken alle Linsen, deren das Institut für die von ihm verfertigten Meßgeräte bedurfte. Fraunhofers Talent machte sich hiebei in so hohem Grade bemerkbar, daß Utzschneider und Reichenbach beschlossen den optischen Teil ihres mechanischen Instituts ganz nach Benedikt beuern zu verlegen und unter die Leitung des
noch nicht
22 Jahre alten
Fraunhofer zu stellen. Am 7. Februar 1809 wurde die Firma Utzschneider, Reichenbach und Fraunhofer gegründet und dem letzteren damit die Möglichkeit geschaffen seine volle Kraft auf höhere Ziele als die bisher von ihm und dem Institut ver
folgten zu richten.
In der Tat beginnt von diesem Zeitpunkt an Fraunhofers
bahnbrechende Wirksamkeit
im Gebiete der Optik und die Steigerung
des
Ansehens des von ihm geleiteten Instituts zu einem Weltrufe. Zunächst ersann Fraunhofer nach einer Idee Liebherrs die heute noch im Gebrauch stehende Pendelschleifmaschine und ihr folgte alsbald die noch sinnreichere Konstruktion
einer Poliermaschine, deren wesentliche Aufgabe es ist die durch das Schleifen
gewonnene Grundform der Linse unverändert zu erhalten und doch mit der Glättung die unvermeidlichen kleineren Fehler des Schliffes zu beseitigen. Die Fraunhofersche Poliermaschine verhindert auch, daß der zu schleifenden Linse eine Unachtsamkeit des Arbeiters gefährlich werde; sie ist eine durchaus eigen artige Erfindung deshalb, weil sie die Übereinstimmung der ausgeführten
Linsenfläche mit ihrem Ideal, der geometrischen Kugelgestalt,
trügliche optische
durch eine un
Erscheinung, nämlich durch die Newtonschcn Farbenringe,
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
385
welche sich beim Aufeinanderdrücken plan- und bikonvexer Linsen als farbige, zu einem dunkeln Fleck gleichachsige Kreise darstellen, sehr gut erkennen läßt
— etwas, woran vor Fraunhofer weder ein Physiker noch ein Mechaniker
gedacht hatte.
Fraunhofer führte nicht bloß das sogenannte Farbenfleckpolieren
in die Optik ein sondern bereicherte sie auch noch durch vorzügliche Geräte
zur Prüfung der Genauigkeit der Linsenoberflächen; denn seine Sphärometer und mechanischen Taster lassen Gestaltfehler von dem 4000. Teil eines Milli meters noch erkennen.
Sodann beschäftigte sich Fraunhofer mit den beiden wichtigen Fragen: Ist das zll den Linsen verwendete Glas wirklich so gleichartig, wie es sein soll?
Und ist die übliche Berechnungswcise der optischen Geräte auch streng genug? Nach
wesentlichen Verbesserungen des Glasofens und der zum Schmelzen
erforderlichen Maschinen brachte Fraunhofer schon im Jahre 1812 ein Objektiv von 7 Zoll Öffnung fertig. Die Lösung der zweiten Frage gelang ihm so
vorzüglich, daß unsere besten Mathematiker erst 30 Jahre nach seinem Tode die Bedingung für die Genauigkeit der Bilder außerhalb der Mitte des Gesichts feldes aufstellten und nachwiesen, Fraunhofer habe auch noch eine Reihe anderer Bedingungen zu erfüllen und damit der Herstellung seiner Objektive einen
geradezu unübertrefflichen Grad von Vollkommenheit zu geben verstanden. Bei seinen weiteren Untersuchungen kam Fraunhofer auf die Linien des
Spektrums,
und um sich zu überzeugen,
daß diese dunkeln Linien
nicht von
der Natur des Glases oder der Atmosphäre, auch nicht von einer Beugung der
durch einen engen Spalt eintretendcn Sonnenstrahlen herrühren, sondern zum Wesen dieser Strahlen gehören und folglich Ausdruck einer bisher unbekannten
Eigenschaft des Sonnenlichtes sind, änderte er seine Versuche mannigfach ab, immer aber mit dem Ergebnis, daß die dunkeln Linien in der gleichen Reihen
Es ist unmöglich
folge und dem gleichen Entfernungsverhältnis auftraten.
die umfang- und erfolgreichen Untersuchungen Fraunhofers hier auch nur anzudeuten. Nach Überwindung zahlreicher praktischer und theoretischer Schwierigkeiten gelang ihm die Herstellung achromatischer Fernrohr-Objektive in so hervorragender Weise, daß sie alles Ähnliche, was damals in England,
Frankreich und Deutschland geleistet wurde, weit übertrafen.
Die Fraunhofer
scheu optischen Instrumente sind indessen nicht bloß durch ihre unvergleichlichen Objektive ausgezeichnet, sie enthalten auch bewunderungswürdig feine Meß
vorrichtungen oder Mikrometer und ihre Mechanik ist durch Reichenbachs Mit
wirkung so sinnreich und zweckmäßig gestaltet, daß die zentnerschweren Fernrohre den scheinbaren Bewegungen der Gestirne mit einer Stetigkeit und Genauigkeit folgen, daß man nach W. Struve bei allen, selbst mit den stärksten Vergröße rungen anzustellenden Beobachtungen nach unbeweglichen Punkten des Himmels
zu sehen glaubt. für die
Derselbe berühmte Berichterstatter nennt den von Fraunhofer
Sternwarte
in Dorpat hergestellten Refraktor
Kunstwerk der Optik und fügt bei, KronSeder, L.sebuch zur Geschichte Bayerns.
das vollkommenste
daß er das größte Herschelsche Spiegel25
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71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
teleskop an Schärfe der Messung und Mannigfaltigkeit weit hinter sich lasse.
Mit dem Fraunhoferschen Heliometer allein vermochte Bessel seine Beobach tungen so zu verfeinern, wie nötig war um den Abstand eines Fixsternes „von dem Unermeßlichen in das Meßbare überzuführen".
Den Weltruf, in
welchem die Fraunhoferschen Instrumente schon vor 80 und mehr Jahren standen, haben sie sich bis auf den heutigen Tag ungeschwächt erhalten und werden ihn bewahren, solange die Dauer ihrer Bestandteile ihren Gebrauch gestattet.
Der Wunsch, den Fraunhofer am Schlüsse seiner den akademischen Denk schriften einverleibten Abhandlung aussprach: es möchten geübte Naturforscher dem von ihm eingeschlagenen Wege Aufmerksamkeit schenken, da er zu interessanten Ergebnissen führen könne, ist 40 Jahre später (1859) in Erfüllung gegangen,
als Kirchhoff und Bunsen in Heidelberg die Spektralanalyse erfanden. Reichenbach schied am 17. Februar 1814 aus "bcm optischen Institut zu Benediktbeuern um die mechanische Werkstätte auf eigene Rechnung zu führen
und 1819 siedelte auch die optische Anstalt nach München über, mit Ausnahme der Glasöfen, welche in Benediktbeuern blieben. Am 20. Februar schlossen Utzschneider und Fraunhofer einen neuen Vertrag zur Fortführung ihrer
optischen Anstalt ab und von diesem Zeitpunkt an entwickelte Fraunhofer als
Direktor
des
optischen
Instituts
eine
noch größere Tätigkeit als
bisher;
jedenfalls hatte er eine zahlreichere Arbeiterschaft als früher zu leiten und zu überwachen, da sich die Bestellungen von allen Seiten fortwährend ver
mehrten. Alle einzelnen Erfindungen und Verbesserungen von Meßgeräten zu besprechen, welche man Reichenbach verdankt, kann hier nicht der Ort sein; es genügt zu sagen, daß er der praktischen Astronomie die Vorteile einfacher, leichter, sicherer und genauer Beobachtung verschafft und ihren Hauptapparat
auf nur wenige Instrumente zurückgeführt hat, die ausnahmslos von ihm eine neue und verbesserte Anordnung und Ausführung erhielten wie der Meridian kreis, das Passageinstrument, das Äquatoriale und der astronomische Theodolit. Auf dem Gebiete der praktischen Geodäsie knüpft sich an die Basisapparate,
die Theodoliten, die Spiegel- und Nivellierinstrumente wie an die Entfernungs messer sein Name entweder als Erfinder oder als Umgestalter. gegründeten, von Reichenbach und Fraunhofer geleiteten Institute sind wahre Werkstätten mathematisch-mechanischen Scharf Die von
Utzschneider
sinns gewesen und haben durch die allgemeine Verbreitung ihrer Präzisions
instrumente München zum vornehmsten Sitz mechanisch-optischer Technik gemacht. Diesen wohlerworbenen Ruf hat ein hervorragendes Mitglied der europäischen Gradmessung, der spanische General Ibanez, mit den Worten verkündigt: München habe ^durch seine von Utzschneider, Reichenbach, Fraunhofer und Stein heil gegründeten mechanisch-technischen Institute für die europäische Gradmessung mehr getan als irgend eine Stadt der Welt.
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
387
Reichenbach und Fraunhofer starben wenige Tage nacheinander im Jahre 1826 und ruhen unter den Arkaden des südlichen Friedhofs; das einfache Grabmal Fraunhofers trägt die kurze,
aber bezeichnende Inschrift:
Approximavit sidera. „Bon alles Wissens reiner Kund« Ob eine nur an jene reicht,
Di« durch den Raum zum Weltengrund« Erspähend mißt, berechnend gleicht?
Dem Augenlichte Geistesschwingen, Bestätigung Bedachtem bringen,
Wie hehr steht solch Erringen da: Approximare sidera!
(»ermann Lingg
b) Johann Baptist Stiglmaier und Ferdinand v. Miller.
Die im Laufe des 18. Jahrhunderts in Deutschland fast völlig verloren gegangene Technik und Kunst des Erzgusses wurde in München aufs neue und zwar in ganz hervorragender Weise ins Leben gerufen. Schon 1819 erhielt der damalige Bildhauer und K. Münzgraveur I. B. Stiglmaier den Auftrag in Italien neben der Stempelschneidekunst
auch die Erzgießkunst zu erforschen und wenn möglich praktisch zu üben. In Neapel, in einem Keller des Palazzo Caniotti, entstand nicht ohne große Schwierigkeiten sein erster Gliß,
eine zwei Fuß hohe, von
dem Münchener
Bildhauer Haller modellierte Phidiasfigur. Als Stiglmaier zwei Jahre später nach München zurückkehrte, wurde er mit dem Titel „Inspektor" zum Leiter der von dem Hofarchitekten Leo v. Klenze im Auftrag des Königs Maximilian I.
aus dessen Privatmitteln erbauten Erzgießerei ernannt, welche man aus Furcht vor Feuersgefahr weit hinaus vor die Stadt in die sogenannten Neuhauser Felder gelegt hatte. Die damals geübte Formtechnik war die des Wachs-Ausschmelzverfahrens,
welches jedoch neben manchen Vorteilen auch viele große Nachteile hatte, so
daß sich Stiglmaiers Aufmerksamkeit bald der von den Franzosen schon zu einer gewissen Vollkommenheit gebrachten Stückformerei zuwandte, die für die
Sicherheit des Gusses mannigfache Vorzüge hatte.
Ein großer Flammenofen
wurde gebaut, in welchem es möglich war 12500 kg Erz auf einmal in Fluß zu bringen. Das erste daraus gegossene Standbild war die von Rauch modellierte und von dem Magistrat München bestellte Bildsäule König Max I. König Ludwig I.
ließ aus eroberten französischen Kanonen den 29,2 m
hohen Obelisken gießen, der heute den Karolinenplatz in München schmückt.
Diesem folgten
die Bildsäulen Jean Pauls für Bayreuth,
des Markgrafen
Friedrich von Brandenburg für Erlangen, die erzenen Tore der Glyptothek
und der Walhalla, die von Thorwaldsen in Rom modellierte Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian u. a. m. •>5e
71. Anteil hervorragender Bayern an der Entwicklung der Technik.
388
Am 11. März 1844 starb Stiglmaier, nachdem er den Erzguß in
Deutschland zu hoher Blüte gebracht hatte, und sein Neffe und bisheriger Mit arbeiter Ferdinand Miller (der Ältere) wurde von König Ludwig I. als
sein Nachfolger bestimmt. Als bedeutungsvollste Aufgabe traf diesen die Aus führung des Gusses der von Schwanthaler modellierten Riesenfigur der
Bavaria (15,768 m hoch und 65511 kg schwer). Seit den Zeiten der griechischen Meister war solche Aufgabe einem Gießer nicht mehr gestellt worden; alle Bedingungen für den Guß so großer Massen mußten erst gefunden und neue Erfahrungen gesammelt werden.
Außer der Bavaria, die heute noch die größte gegossene Erzfigur ist, seien aus der überaus großen Zahl von Monumentalarbeiten, welche seitdem aus der K. Erzgießerei hervorgegangen sind, genannt: die 10,5 m hohe Bild säule der Germania auf dem Niederwalddenkmal, 2 Kolossalquadrigen, 9 Bronzetore, worunter die Tore für das Kapitol in Washington mit Hoch reliefs und Figuren bedeckt, 22 Reiterstatuen, 24 Monumentalbrunnen mit 62 Figuren, weit über 200 Standbilder und Monumentalwerke mit Figuren, sowie unzählige kleinere Kunstwerke.
Die Technik des Gusses
hat in der langen Zeit manche Änderungen
Der ursprünglich geübten Wachsformerei folgte die französische Sandformerei, dieser wieder, besonders für große, in einem Stück auszuführende
' erfahren.
Arbeiten, die nasse sogenannte Massaformerei. Durch Einführung elastischer Zwischenformen wurde das Wachs-Ausschmelzverfahren wesentlich verbessert,
so daß es seit einer Reihe von Jahren in der K. Erzgießerei wieder fast aus schließlich in Gebrauch ist.
Eine ganz besondere und einzig dastehende Leistung
dieses Kunstinstituts war die vorher als tollkühnes Unternehmen
betrachtete
Feuervergoldung großer Bildsäulen, vor allem der zwölf von Schwanthaler modellierten Ahnenstatuen im Thronsaal der K. Residenz in München. Gelungene Versuche im Überziehen von Naturformen mit Kupfer auf galvani schem Wege wurden in der K. Erzgießerei schon 1841
für größere Kunst
gegenstände ausgeführt; mehrere dieser Arbeiten sind noch erhalten.
Im Jahre 1871 ging die Anstalt unter Belassung des Titels „K. Erz
gießerei" in den Privatbesitz Ferdinand v. Millers und seiner Söhne über, von denen sie heute geführt wird.
1878 starb
Ferdinand
v. Miller;
König
Ludwig II. hatte den ehemaligen Goldschmiedlchrling in Anerkennung seiner vielfachen und vielseitigen Verdienste 1876 in den erblichen Adelsstand erhoben. Unter den jüngsten Arbeiten der Erzgießerei seien die Reiterstatuen Kaiser .Friedrichs III.
und
Kaiser Ludwigs
des
Sr. K. Hoheit des Prinzregenten erwähnt.
Bayern
sowie
ein
Standbild
72. Die Isar als BerkehrSstraße einst und jetzt.
389
72. Die Isar als DerKehrsftrahe einst und jetzt. Don Christian ®ruber.*
Der Verkehr auf der Isar, der zentralen Wasserader Südbayerns, nicht bloß im geographischen sondern auch im geschichtlichen Sinne, wurde seit alters durch eine Reihe günstiger Naturverhältnisse gefördert.
Die Quellandschaften
des Flusses umfassen gemeinsam mit denjenigen der Loisach und Ammer das Herz der waldbeschatteten Bayerischen Alpen. In sie kamen die Mittelpunkte der heimischen alpinen Hausindustrie zu liegen: Mittenwald, Partenkirchen, Garmisch und Oberammergau. Weiterhin erfolgt die Entwickelung der Isar zum flößbaren Bergbach hauptsächlich infolge des Aufbaues des Karwendel gebirges in vier parallel von Osten nach Westen
außerordentlich rasch.
streichenden Hauptkämmen Bereits 20 km von ihren äußersten Quellen entfernt
kann jene mit Flößen befahren werden, nämlich vom Engpässe bei Scharnitz an. Und so ist denn auch der flößbare Laufabschnitt an der Isar fast 14 mal solang als die nicht zu befahrende Strecke (275 gegen 20 km). Für die einstige Handelsbedeutung der Isar war es ferner von ein
schneidender Wichtigkeit, daß die Floßbarkeit des Flusses an einer Stelle ansetzt, welche den für Deutschland bequemsten Übergang zwischen dem Süd- und dem Nordrande der Alpen vermittelt, unmittelbar auf die Senke des Brenners und damit auf eine seit uralter Zeit bekannte Verbindungsstraße zwischen dem Reich und Italien hinweist. Als sich Venedig in der zweiten Hälfte des Mittelalters zum Hauptplatz für den auswärtigen Handel Südbayerns erhob, dem gestei
gerten Warenumsatz zwischen den transalpinen Republiken und den Reichs städten der Weg zu Land aber kaum genügen konnte, wünschten die deutschen Kaufleute die Schaffung regelmäßiger Floßfuhren und die Aufstellung eines
nicht allzu hohen Frachttarifs vom Mittenwalder Rat.
Doch erst 1430 kam
besonders auf wiederholtes Andrängen der Nürnberger eine feste Wasscrrottordnung zustande. 1450 besaß Mittenwald schon ein Floßbassin samt Ländstadel.
Die Aufzählung jener Güter, die in dieser Art Warenhaus einst bis
zur Weiterverfrachtung niedergelegt wurden, beweist nicht allein die Lebhaftigkeit
und den Umfang der damaligen deutsch-italienischen Handelsbeziehungen sondern weist vor allem auch darauf hin, wie sehr man die Raschheit zu schätzen wußte, mit welcher die Wellen unseres Flusses die schwanken Fahrzeuge der Floßleute
nach den unteren Jsarstädten und zur Donau hinabtrugen. Der alpine Charakter, welchen sich die Isar bis nahe zu ihrer Mündung bewahrt, übt nach einer doppelten Richtung Einfluß auf den Verkehr. Er unterstützt denselben einerseits durch das ansehnliche Gefälle und die bedeutende, allerdings mit den Wafferständen wechselnde Geschwindigkeit des Flusses. (Bei Mittelwasser brauchen die Flößer von Mittenwald bis Jsarmündt rund 40 Stunden Fahrzeit, legen sonach stündlich fast 7 km zurück.) Er beschränkt ihn jedoch anderseits durch den alljährlichen Gang der Wasserführung, welcher
72. Di« Isar als Verkehrsstraße «inst und jetzt.
390
die Floßfahrt vom Dezember bis zum April überhaupt sperrt, und durch den
launischen Wechsel der Wassertiefe.
Die Entwickelung des Floßverkehrs auf
der Isar wird aber auch durch den ansehnlichen Reichtum der sich stets ver
jüngenden Bergwälder des Jsarwinkels
beträchtlich
gefördert.
Wie gewaltig
zeitweise die Massenlieferungen an Bauholz waren, welche der Fluß bei der Errichtung von Kirchen und Staatsgebäuden nach München verfrachten mußte,
erweist der Umstand, daß für das Gerüst- und Balkenwerk der Frauenkirche allein 1400 Flöße zu je 15—16 Stämmen nötig waren und beim Bau der Herzog Maxburg 5800 Floßbäume aufgebraucht wurden. Auch in der Gegen
wart tragen die eiligen Fluten der Isar noch Tausende von Bergtannen hinab zur bayerischen Hochebene.
Diese aber sind wieder mit Eichen-, Ahorn-, Lärchenund Eschenstämmen, mit Bretterwaren, Brennholz und Holzkohlen, mit Kalk, Gips, Kreide, Pech, Sand und Fichtenlohe beladen. Trotz des hemmenden Einflusses,
welchen die
nach Tölz und Garmisch-Partenkirchen
Schienensttänge nunmehr auf den Floßverkchr ausüben,
führenden
kündeten im Jahre
1900 in München 5190 Flöße und der Wert ihrer Ladungen bemaß sich auf rund 24/6 Millionen Mark. Allerdings sind heute auf den Jsarflößen alle
aus Nordtirol und von jenseit des Brenners kommenden Waren verschwunden, vor allem Wein, Südfrüchte und Wollstoffe;
auch sucht man auf ihnen die
in den Quellgebieten unseres Flusses hergestellten Erzeuguffse alpiner Haus industrie vergebens.
Trotzdem hat die Bedeutung der Isar als Transportstrabe für Bayerns München ist vielmehr seit einigen Jahr
Hauptstadt keineswegs viel eingebüßt.
zehnten der ausschließliche Sammel- und Endpunkt für den Floßverkchr auf
jener. Während in dem Jahrzehnt zwischen 1860 und 1870, wo die moderne Jsarflößerei ihren Höhepunkt erreichte und in einem Jahre rund 10000 Fahr zeuge den Fluß hinabschwammen, noch ein Drittel aller in München angekom
menen Flöße den Weg gegen die
unteren Jsarstädte und die Donau hin
fortsetzte, gingen 1900 von dett erwähnten 5190 Fahrzeugen nur 26 noch weiter flußabwärts.
In dieser Konzentration des Flußverkehrs auf München
liegt die Wichtigkeit der gegenwärtigen Jsarfloßfahrt begründet.
Neben den
am Ostuser des Flusses
auSgebreiteten Gründen von Löß und Lehm,
die
zwischen Haidhausen und Unterföhring lagern,
fördert kein Umstand
so sehr
die bauliche Entwickelung der bayerischen Hauptstadt wie die von der Isar all jährlich gebrachten Holzfrachten. So traf denn auch der Künstlerblick Karl
v. Pilotys das Chctrakteristische, als er nahe der Mitte des großen Geschichts bildes, welches den Sitzungssaal der Gemeindebevollmächtigten im Münchener
Rathause ziert, die Quellgottheit des heimischen Flusses anbrachte und hinter sie die kühne Gestalt eines axtbewchrten Floßmannes stellte. Es liegt im Charakter der natürlichen Bedingungen, denen die Floßfahrt unterworfen ist, daß sich die Beschaffenheit der Fahrzeuge seit alters gleichgeblieben ist.
Jetzt noch wie vor 500 Jahren
findet man an ihnen durchweg Holz-
72. Die Isar als Verkehrsstraße einst und seht-.
391
bestandteile mit Ausnahme des sogenannten Floßhakens, mittels dessen beim Anländen das Seil am Floß befestigt wird.
Neben dem Ländseile ist des
Floßmanns treuester Begleiter die Axt.
Wie sich nun das Wesen des Flusses seit alters gleichgeblieben ist und
die Fahrzeuge unverändert sich erhalten haben, welche er zu Tal trägt, so auch der Floß mann, nicht bloß in seinen von einem altererbten Konservatismus
Geschmeidigkeit
im
unverfälschten Anhänglichkeit
an
herangezogenen Charaktereigenschaften, seiner stahlharten
Kampfe
gegen Wasser und Wetter,
Heimat,
Herrscherhaus und
seiner
religiösen Glauben,
sondern bis herab
auf die
Farbe der Tracht. Schon auf halbverblichenen Votivtafeln erscheint der Floß mann in dunkelblauem Gewand; heute noch trägt er dieses manchmal, wenn
auch in anderem Schnitt, neben dem wärmenden grauen Lodenanzug. Zur Leitung gewöhnlicher Fahrzeuge reichen meist zwei Flößer,
der
Ferge an der vorderen, der Steurer an der hinteren Schmalseite. Dieser ist jenem untergeordnet und muß, wie das Volk sagt, „auf ihn achtgeben". Ist
noch ein weiterer Fährmann zur Lenkung des Fahrzeuges nötig, so hat er seinen Platz gleichfalls am vorderen Teile desselben. Man hieß ihn früher Drittferge. Gegenwärtig verfrachten die Floßleute auf eigene Rechnung nur eine verschwindend geringe Anzahl von Flößen.
Sie stehen im Solde Mün
chener Firmen, sind also keineswegs selbständige Unternehmer,
sondern bloß
Akkordanten, welche die von Holzhändlern und Baumeistern im Gebirge ange
kauften Stämme, Bretter und Brennmaterialien mit Hilfe ihrer Knechte um ver gleichsweise niedrigen Frachtlohn nach der Landeshauptstadt führen.
Der Schimmer einer besonderen sozialen Stellung, eines im wirtschaft lichen Leben des Bergvolkes scharf hervortretenden Standes, welcher ftüher auf der Flößerzunft und
deren Meistern lag, ist gewichen;
einer geschichtlichen Tatsache geworden.
*
er ist bereits zu
*
Die Ansänge der Floßfahrt auf den südbayerischen Alpenflüssen liegen vollständig im Dunkel der Vorgeschichte begraben.
Man hat nun zwar versucht
durch Herleitung einer Anzahl von Orts-, Bach- und selbst Flößernamen aus dem Lateinischen ein sehr hohes Alter der vaterländischen Flößerei nachzuweisen.
Indessen läßt sich mit Sicherheit nur annehmen, daß bei der Einfachheit eines
so nahegelegenen und von der Natur zwanglos dargebotenen Verkehrsmittels, wie es einige roh aneinandergefügte Baumstämme darstellen, auch auf den alpinen Gewässern Altbayerns die Floßfahrt sehr bald begann.
Der älteste, vereinzelt stehende Hinweis auf die Befahrung der Isar mit Floß oder Kahn dürfte wohl in den Überlieferungen über die letzten Lebens schicksale des hl. Emmeram enthalten sein. Die Leiche des Missionars wurde von dem schon zu Zeiten der Agilolfinger berühmt gewesenen Aschheim nord
östlich von München aus an die Isar und bei Oberföhring (Emmeramskapelle) auf ein Fahrzeug gebracht, welches die Strömung des Flusses bis zur Donau trug.
72. Die Isar als Berkehrsstraße einst und jetzt.
392
Vor der Gründung Münchens und Landshuts scheint sich der Verkehr
der Isar in recht bescheidenen Grenzen gehalten zn haben. Damals bildete schon seiner Lage nach Kloster Schäftlarn, dessen Stiftung bis in die Mitte
des 8. Jahrhunderts zurückreicht und das einen Wasserzoll erhob, zugleich mit dem Übergang bei Föhring eine der wichtigsten Stellen am Flusse. Auch bei'
Pullach wird 1040 eine Anlände samt Steg urkundlich erwähnt. Bereits in der zweiten Hälfte des 13. und zu Anfang des 14. Jahrhunderts sprechen urkundliche Andeutungen für eine lebhafte Entwickelung des Jsarverkehrs.
Auf
der unteren Isar wäre der Weg über München und Föhring nach Freising, Landshut, Dingolfing und Landau bis zur Donau gegangen. Als Märkte von größerer Bedeutung werden diejenigen von Landau und Dingolfing genannt.
Eine wichtige Einfuhrware bildete u. a.
„Obst auf der Isar aus Tirol in
großen Flößen bis nach Landshut kommend".
Ferner bezogen schon damals
die im Jsargebiete gelegenen Klöster und auch Ettal Weine aus dem Etschland
auf Flößen. Jene Weinsuhren haben jedoch zweifellos als vereinzelte Erscheinungen gegenüber den umfangreichen Holzfrachten zu gelten, welche das Emporwachsen der Gründung Heinrichs des Löwen und anderer Jsarstädte hervorrief. Schon die erste, wahrscheinlich bis an das Ende des 13. Jahrhunderts zurückgehende
Sammlung magistratischer Verordnungen für München enthält eine Reihe von Vorschriften über die Flößerei.
Kaiser Ludwig
der Bayer aber suchte den
Handel seiner im Verhältnis zu Augsburg und Regensburg so jugendlichen
und auch geographisch weniger günstig gelegenen Residenz nicht nur durch die „Freyung" des dortigen Marktes (1315) und die Verleihung des Monopols der Salzniedcrlage (1332) kräftig zu heben, er wollte auch den Verkehr auf der Isar und den anderen ihm zugehörigen oberdeutschen Flüssen durch Verzicht
auf das sogenannte Grundruhr- oder Strandrecht erleichtern. Nach demselben konnten sich bekanntlich der Landesherr sowie die umwohnenden Leute, die das Eigentumsrecht von beiden Ufern her bis in die Milte des Wassers beanspruchten, die auf Schiffen und Flößen verunglückten Waren als »res nullius« (herren
lose Sache) zueignrn. mittel"
Ludwig entsagte diesem „widerrechtlichen Bereicherungs
im Februar 1316 zu Ingolstadt.
Ferner bewilligte der Kaiser —
wahrscheinlich um die Warenbewegung, welche aus Italien ihren Weg durch
Bayern nach Nürnberg nahm, zum Teil über München zu lenken — den Nürn bergern zollfreien Handel zu Wasser und zu Land nach München und seinen
Münchenern dasselbe Vorrecht beim Handel nach Nürnberg. Dem gleichen Bestreben mochte es entsprechen, wenn Kaiser Ludwig 1340 drei Venezianer Kaufleuten gestattete 200 Ballen Waren durch -seine Länder zollfrei nach
Brügge zu führen. In der Tat bezeugen auch Urkunden mehrfach „München als Station der Venezianer auf dem Wege von oder nach Flandern". Der
Magistrat der Stadt war seinerseits für die Instandhaltung eines brauchbaren Fahrweges auf der Isar von Tölz abwärts besorgt und scheute keine Ausgaben
393
72. Die Isar als Berkehrsstraße einst und jetzt.
für die Wegräumung der Felsen im Flusse.
Ebenso sollen die Tölzer ihrerseits
bereits um 1370 für Regelung und Sicherung der Flußfahrt Sorge getragen haben. Einen großartigen und anhaltenden Aufschwung erfuhr der Durchgangs handel Mittenwalds und das Frachtwesen aus der Isar am Ende des 15. Jahr hunderts. Siegmund von Tirol lag damals mit den Venezianern in Zwistig keiten. Er ließ 1487 gelegentlich eines der großen Märkte in Bozen, auf
denen deutsche und italienische Kaufleute gegenseitig Abrechnung pflogen, 130 der letzteren festnehmen und in Gewahrsam bringen. Über diese Gewalttat
erzürnt und auf eine Siegmund empfindlich schädigende Gegenmaßregel bedacht scheinen die Venezianer längere Zeit ihren persönlichen Verkehr mit den großen Kaufhäusern der süddeutschen Reichsstädte nach Mittenwald verlegt zu haben. Jedenfalls hob sich infolge der Streitigkeiten mit Siegmund das Speditions
wesen Mittenwalds in bedeutendem Maße.
Wenn es auch, wie ältere Geschicht
schreiber meinen, sehr unwahrscheinlich ist, daß der deutsch-venezianische Handel nahezu zwei Jahrhunderte — nämlich von 1487 bis 1679 — von dem beiden Teilen so günstig gelegenen Bozener Stapelplatze entfernt und in Mittenwald konzentriert gewesen sein soll, so ist doch sicher, daß gegen Ende des 15. und
während des 16. Jahrhunderts in dem letzteren Gebirgsmarkte ein geräusch volles Leben herrschte. Dessen Spuren kann jeder noch wahrnehmcn, der
durch die kulissenartig einander vorgeschobenen, bildergeschmückten Häuserreihen des Ortes
mit ihren
torähnlichen Einfahrten,
gewölbten Gängen und eisen
beschlagenen Läden und Türen im Schatten der Karwendelspitze dahinschreitet.
Der mit der Verlegung der Welthandelswege im Zeitalter der großen geogra
phischen Entdeckungen
eng
verknüpfte
allmähliche Niedergang Venedigs,
die
Ableitung des Zuges der Handelsgüter nach Augsburg über Füssen und die Folgen des großen Religions- sowie des Spanischen Erbfolgekrieges beschränkten indessen nach und nach das Mittenwalder Speditionswesen zu Wasser und zu Land beträchtlich.
Welcherlei Waren beförderten nun die Floßleute auf der Isar im 15. und 16. Jahrhundert? Die urkundlichen Nachrichten wissen von einer un gewöhnlich mannigfaltigen Fülle von Gütern zu melden, womit die Flöße
damals
beladen wurden.
anvertrauten schwanken
Ihre Aufzählung erweist,
Fahrzeuge in jenen Zeiten
daß die dem Flusse
eine
durchaus
ähnliche
Bedeutung für den Warentransport hatten wie die Lastwagen der Rottleute zu Lande, die Eisenbahnen im heutigen Wirtschaftsleben. Vor allem aber
tritt unzweideutig die Wichtigkeit der Isar für die Zufuhr italienischer und südtirolischer Handelsgüter in vollem Maße hervor. Während die Floßleute des Loisachgebietes nur gebogenes Eibenholz, Papier, Pferdedecken, Käse, Schafwolle, Pflastersteine, Leinwand, Barchent und gestrickte Hemden, Kreide,
Schuhe, Kupferwasser und Schmalz herbeiführten, brachten die Tölzer außerdem Hausgeräte, Rüstungsgegenstände, Nahrungsmittel (neben Käse und Schmalz
72. Die Isar als Verkehrsstraße einst und jetzt.
394
auch Fische und Knoblauch), Handschuhe, Sensen und Sichel, Beuteltücher für Müller, Krämer- und Buchdruckerwaren, „welsche Früchte", Baumwolle, Lorbeerblätter, Reis, „Schamlot und Arras", Teppiche, Silbergeschirr, Tuch, Pergament, Draht, Wetz- und Schleiffteine.
Noch vielseitiger war endlich die
Ladung der aus München kommenden Fahrzeuge.
Auf ihnen traf man nicht
nur die sämtlichen eben aufgeführten Gegenstände sondern ferner noch Felle, Kleidungsstücke,
Filzhüte, Kürschnerwaren, Gewürze, Wein und Weinbeeren,
Pomeranzen, Zwetschgen, Bier, Kupfer, Pulver, Glas, Blei, Galmei, Flaschen, Hirschgeweihe, Pfeifen zum Musizieren, Schreiner- und Kistlerarbeiten.
Im 17. Jahrhundert erfuhr zwar der Floßverkehr auf der Isar haupt sächlich wegen des Dreißigjährigen Krieges — litt doch selbst der Jsarwinkel
mehrmals unter den Einfällen der Schweden — vielfache Hemmnisse.
Trotzdem
erfolgten Fahrten die Donau abwärts bis nach Ungarn gerade vonseiten der Oberländer Flößer häufig. Darauf weist so manche Grabschrift oberhalb der Greiner Stromenge unterhalb Linz nicht minder hin als die in den Tölzer
Pfarrbüchern öfters verzeichnete Tatsache, daß Floßleute der „ungarischen Krankheit" (wahrscheinlich einer Art Dysenterie) erlagen, welche sie aus Ungarn eingeschleppt hatten.
Heute noch sind in Ofen und Pest Nachkommen uralt
angesehener oberländischer Flößerfamilien ansässig. Als leichte Rückfiacht wurden aus Österreich gewöhnlich seidene, nach orientalischen Mustern geblümte
und gefranste Brust- und Halstücher für Frauen und Mädchen mitgebracht. Auch in den Dienst der Kriegführung wurden die Flößer des Jsarwinkels gestellt und zwar besonders gegen Ende des 17. Jahrhunderts.
Ihre Bekannt
schaft mit dem Wasserwege nach Ungarn sowie die Raschheit und Billigkeit der
Provianttransporte auf Isar und Donau war
besonders in den Feldzügen
Max Emanuels gegen die Türken willkommen.
So kam z. B. von der kur
fürstlichen Hofkammer 1684 Befehl nach Tölz 30 Flöße mit Nahrungsmitteln und Schießbedars nach Ungarn gehen zu lassen — und der Aufforderung ward Folge geleistet.
In demselben Jahre wurde auch die Hofmark Hohen
burg (bei Lenggries) angehalten 30 Fergen zur gleichen Fahrt nach Ungarn aufzubringen. Während der.Belagerung Ofens durch die 8000 Mann starke
bayerische Hilfsarmee mußte der Pflegeamtsverwalter von Tölz 90 ausgewählte, jeder Gefahr gewachsene Jsarwinkler mit Vorräten verschiedenster Art ins kur fürstliche Lager abgehen lassen.
Sie kamen samt ihren Fahrzeugen glücklich
vor Ofen an und diejenigen, welche die Dysenterie verschont hatte, zogen im September 1686 mit den Kriegsleuten in die eroberte Festung. — Ähnlich wurde im Kampfe der Landesverteidiger mit den Österreichern 1705 den zum
Entsatz Münchens herbeigeeilten Bauern des Oberlandes zu Wasser Mundvorrat und Proviant nachgeführt. Man erzählt sogar, daß die Flößer von der Lände wegstürmten
um am letzten, todesmutigen Ringen in Sendling teil
zunehmen. Daraus erklären sich vielleicht die harten Maßregeln, welche der österreichische Statthalter auch gegen sie erließ. Noch am 6. Februar 1708
72. Die Isar als Berkehrsstraße einst und jetzt.
395
ordnete er an, daß kein Fahrzeug auf der Isar München verlassen dürfe, ehe die abfahrenden Personen bei der Kanzlei sich angemeldet. Überhaupt lähmten
die infolge des Spanischen Erbfolgekrieges in Bayern hervorgerufenen Ver hältnisse den gesamten Floßverkehr auf der Isar ein volles Jahrzehnt, was wohl Mittenwald am bittersten zu fühlen bekam.
Ungleich geringfügiger war
im Vergleiche hierzu der Rückschlag, den der Pandureneinfall in den Jsarwinkel während der Streitigkeiten des Kurfürsten Karl Albert mit Maria Theresia im Österreichischen Erbfolgekrieg verursachte.
Die durchaus friedliche und volksfreundliche Regierung des Kurfürsten Maximilian III., des Vielgeliebten, konnte in dem Floßverkehr, soweit er nicht auf München lokalisiert war, keinen anhaltenderen Aufschwung bringen. Die damalige Teuerung der Forstprodukte infolge einer maßlos vermehrten, höchst
lohnenden Allsfuhr
über die Landesgrenze erforderte,
daß ihrer Weiterver
frachtung sowie der Ausfuhr von Floßstämmen die festesten Schranken entgegen
gesetzt wurden. Anderseits wurde der Jsarverkehr zwischen dem Oberland und der Landeshauptstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus giebig durch die blühende Entwickelung des Gewerbelebens in Tölz gefördert.
Und zwar vor allem durch den Aufschwung der dortigen Bierbrauerei. wärtig noch erkennt auch der eiligste Wanderer
Hauptstraße dieses Marktes an
den
auffallend
Gegen
bei einem Gange durch die
vielen Braufirmen,
Ruhmes sich das Tölzer Bier früher erfreuen mochte.
welches
1610 gab es bereits
in Tölz 18, 1631 22, 1784 24 Brauereien. Deshalb meinte auch ein Schrift steller aus der Zeit Karl Theodors: „Ungeachtet der Markt Tölz sehr gewerbig und die Zahl der Wirte, welche das Bier von Tölz holen, nicht klein ist, so möchte die Zahl der Bräuer dennoch zu groß sein, wenn nicht alljährlich im
Herbst vieles Tölzer Bier auf der Isar nach München geführt würde."
Mit
welcher Vorliebe dasselbe früher in der Hauptstadt getrunken wurde, bezeugt
die Angabe, daß im Jahre 1782 nicht weniger als 8730 Eimer davon auf
Flößen nach München gingen. Neben dem Bier gewannen bald auch die sogenannten „Tölzer Waren" für die Ausfuhr Bedeutung. Alle Quatember brachten die Tischler und Kistler meister des Ortes Erzeugnisse ihrer Kunstfertigkeit zu Wasser nach München und jährlich einmal nach Landshut. Es waren aus Fichtenholz verfertigte, mit Ölfarben angestrichene, häufig auch mit blumenähnlichen Zeichnungen und
religiösen Bildern verzierte Möbel, die sofort von der Lände weg in die Stadt geführt und von den Bauern der Umgegend, von Dienstboten und geringeren
Bürgern gerne gekauft wurden. Von günstigstem Einfluß auf den Jsarverkehr des 17., 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedenfalls auch die Einrichtung der
Ordinarifuhren.
Sie waren ein regelmäßiges Verkehrsmittel im Sinne
der heutigen Postwagen und Bahnzüge und wurden für Personenverkehr und
Güterfracht sehr stark benutzt.
Bon Tölz fuhren Ordinariflöße in der Regel
72. Die Isar als Verkehrsstraße einst und jetzt.
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wöchentlich zweimal nach München (Montags und Freitags).
Auch den Verkehr
nach den unteren Jsarstädten und Wien besorgten während des ganzen 18. Jahrhunderts zwei Ordinarifuhren. Später freilich wurde diese Floß verbindung auf eine einmalige Fuhr in der Woche beschränkt, die allerdings nicht selten mit mehreren aneinandergesügten oder, wie das Volk sagt, aneinander gestrickten Fahrzeugen ausgeführt wurde. Auf eine landläufige Benutzung dieser Ordinariflöße nach dem altbayerischen Unterlande und Österreich darf
auch daraus geschlossen werden, daß die Floßmeister in den Kalendern die Zeiten der Abfahrt und die feststehenden Fahrpreise öffentlich bekanntgaben. Die Wegfahrt nach Wien geschah am Montag und zwar im Sommer um 1 Uhr, im Frühling und Herbst um 12 Uhr mittags, im Winter aber, wenn
überhaupt gefahren werden konnte, schon um 10 oder 11 Uhr. Nach Lands hut ging allwöchentlich außerdem zwischen April und Oktober ein Floß Donners morgens ab. Genügten jedoch diese auf bestimmte Tage festgesetzten Fahrten nicht, so konnten für Personen und Güter jederzeit noch weitere Flöße tag
bestellt werden.
Die im Verhältnis zum Landweg ausnehmend niedrigen Fahr
preise betrugen von München bis Landshut 30 Kreuzer, bis Plattling 1 Gulden 6 Kr., Passau 1 Gulden 30 Kr, Linz 2 Gulden, Wien 3 Gulden.
Für das
Reisegepäck war keine Fracht zu entrichten. Diejenigen Reisenden, welche die auf dem Floß aufgestellte, zur rauheren Jahreszeit geheizte Hütte benutzen
wollten, hatten doppelten Fahrpreis zu entrichten. Für Kaufmannsgüter und andere Waren mußten bis Wien 3 Gulden für den Zentner bezahlt werden.
Wenn bei sonnenhellem,, lindem Wetter das Ordinarifloß sachte über die Wellen der Isar glitt, mag cs auf ihm gar fröhlich zugegangen sein.
Alt
und jung, Künstler und Gelehrte, Kaufleute und Bergnügungsreisende ver
trauten sich demselben an und verkehrten zwanglos untereinander. Auf dem Ordinarifloß gelangt z. B. auch der junge Franz Lachner voll Hoffnungen und Plänen von München nach Wien und kein Geringerer als sein Freund Moritz v. Schwind hat diese billige und kurzweilige Fahrt des Meisters der Töne in „die Zukunft" humoristisch in seiner „Lachnerrolle" *) verherrlicht.
Das Wahrzeichen des alten Floßverkehrs in München war das Wirts
haus zum „grünen Baum". Wer des bewegten und zugleich heiter-behäbigen Lebens gedenken möchte, welches so lange Jahre in und vor diesem geherrscht hat, der beschaue das beigefügte Bild. Maler Stephans hat es zur Zeit der gesegneten Regierung Max III. Joseph entworfen, Meister Jungwirth den Stich ausgeführt.
Es liegt ein Schimmer des Sonnenglanzes dieser Friedenszeit
über dem Ganzen. Hart im Vordergrund ruht ein mit Faßgut beladenes, zur Abfahrt bereites Kaufmannsfloß samt Schutzhütte. Im Hintergrund aber *) „Franz Lachner", eine biographische Skizze zur Erinnerung an seinen 100. Ge burtstag verfaßt, S. 40 ff. Leipzig 1903, Breittopf & Härtel und Altbayerische Monats schrift IV. 2 u. 3.
72. Die Isar als Berkehrsstraße einst und jetzt.
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öffnet sich dem Blick ein Teil der Lände, welche damals zugleich als Holz
lagerplatz zu dienen hatte.
Das festtäglich ungezwungene Treiben unmittel
bar am Strande der Isar aber und die Sorgfalt, mit welcher die Gewan dung all der einzelnen fröhlichen Menschengruppen wiedergegeben wurde, läßt
uns ahnen, daß die Künstler der Wahrheit die Ehre gaben.
Seit Jahren
ist diese vielbesuchte und unter König Ludwig I. auch in Künstlermund viel
Das Wirtshaus zum „(Brünen Baum" in München.
genannte Stätte Altmünchens nicht mehr. Die Ordinarifuhren jedoch sind längst durch die Eiscnbahnzüge verdrängt worden. Mag die Isar jedoch dem Ver kehr gegenwärtig auch ungleich geringere Dienste leisten als in vergangenen Tagen, ihr Tal wird der lebensvollen und seinem Aussehen so durchaus an gepaßten Staffage, welche ihm die Floßfahrt verleiht, auch in künftigen Zeiten
keineswegs entbehren müssen. Am wenigsten aber dann, wenn einst München durch eine Kanalverbindung an den Großschiffahrtsweg angeschlossen ist, der zum Segen für Bayerns wirtschaftliche Gesamtverhältnisse das Donaugebict mit den Main-Rheinlandcn verknüpfen wird.
73. Ein Königsidyll vom Tegernsee.
398
73.
Ein Königsidyll vom Tegernsee. Von Karl Stieler.')
An den blauen Ufern des Tegernsees, wo einst der grübelnde Mönch vor seinem Pergamente gesessen, hatte König Maxi, sich ein Tuskulum ge
gründet, das ihm bald gar tief ins Herz wuchs. Als er das jetzige Schloß im Jahre 1817 kaufte, waren alle Verhältnisse des Ortes noch von der primittvsten Art: das schmale Sträßlein, von Vergißmeinnicht umwuchert, lief so
dicht am See hin, daß die Räder des Wagens vom Wasser bespült wurden; man sah noch die langen bräunlichen Röcke mit den vielen Knöpfen, wie sie
die alten Votivtafeln zeigen; die Weiber aber trügen die Pelzkappe und den roten Goller und Gewänder von schwarzem Wollstoff. Im ganzen Dorfe gab es nur eine einzige Taberne und auch diese war so recht vom alten Schlage.
Denn als Prinz Karl einmal (noch vor den Freiheitskriegen) mit
einem Kavalier nach Tegernsee kam und sein Wagen vor dem Wirtshause
anhielt, da sah die Wirtin, den Arm in die Seite gestemmt, hinein und sprach: „Herrgott noamal, is dös a sakrisch-sauberer Bua! Machts jetzt nur glei', daß's wieder weiterkommts; mit so schöne Herrschaften kann unsereiner nix ausrichten."
König
Das waren noch die alten, echten Bauernzeiten von Tegernsee; aber dem ward wohl inmitten ihrer Einfachheit. Wie mußte ihm nach den
Stürmen der Napoleonischen Zeit jene tiefe Ruhe behagen und sein Herz,
das nie an höfischem Prunk hing, mochte wohl auch die Gefühle teilen, die der alte Plinius einst ausgesprochen, wenn er von seinem Landsitze auf den
blauen Comer See hinaussah:
„Hier bin ich nicht gequält von Sorge und
Hoffen, hier dringt kein Wort aus meinem Mund und an mein Ohr, das mich
gereuen müßte.
Nie hör' ich in bitterem Ton über die Menschen schmähen."
Der Leutseligkeit des Königs aber, die ihm so sehr Bedürfnis war, stand ein
kerngesundes, aufgewecktes Volkstum gegenüber, das der Liebenswürdigkeit wert war und den Frohsinn verstand, womit ihm sein Herrscher begegnete. Wenn man ihn damals wandeln sah im grünen Rock und Kappenstieseln, das Stöckchen
in der Hand, wenn man ihn mit jedem Bauer sprechen und scherzen sah —
das war nicht nur das Bild eines menschenfreundlichen Fürsten, es war das Bild eines Glücklichen. Das letzte und innerste Geheimnis dieses Glückes aber lag in dem Familienleben, an dem er hing mit seinem ganzen Herzen und das er gerade
dort auf dem Lande so zwanglos pflegen konnte. Dieser schöne, rein mensch liche Zug ist es gewesen, der ihn dem Volke so nahe brachte; darin wurde er ja am besten verstanden, auch vom gemeinen Manne; das machte ihn so un
endlich populär. ') Aus „Fremde und Heimat" S. 241 ff.
Stuttgart 1886.
A. Bonz.'
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73. Ein Königsidyll vom Tegernsee.
Sechs blühende Töchter erwuchsen in seinem Hause; aber wenn er von
den erlauchten Prinzessinnen sprach, nannte er sie niemals anders als „meine Mädeln", und wenn er mit ihnen spazieren ging, wies er mit Stolz darauf: „Das ist mein Postzug!"
fügte er lachend hinzu:
Und nachdem sich die ersten zwei vermählt hatten,
„Jetzt kann ich nur mehr vierspännig fahren!"
Die Einrichtung des Schlosses zeigte eine wahrhaft rührende Einfachheit: Jede der Töchter hatte nur ein einziges Zimmer; die Möbel waren mit buntem
Pers überzogen und ein schmalfüßiges Spinett stand in der Ecke.
Wenn man
des Morgens vorüberging, hörte man eifrig durchs offene Fenster die Skala
spielen oder es ward eine Lehrstunde erteilt; nachmittags sah man die jungen
Prinzessinnen rudern, und wenn ein Spaziergang nach Egern führte, ward nicht selten die öffentliche Fähre benutzt. Mit beiden Händen vor dem Munde riefen sie dann jodelnd hinüber: „Überfahren, überfahren!" Ja, als Elisabeth, die spätere Königin von Preußen, nach Jahren wieder in ihr heimatliches Tegernsee kam, erbat sie sich von ihrem hohen Gemahl die Gunst, daß sie wieder wie damals selber nach dem Schiffe rufen dürfe. Friedrich Wilhelm IV. aber fand
an diesem zwanglosen Gebaren so viel Reiz, daß er es gern teilte.
„Willst
du deinem Vater einen Gruß von mir bestellen?" sprach er eines Tages zu meiner kleinen Schwester, die unter der Gartentüre stand, und als das Kind
ernsthaft erwiderte: „Ich kann ja keinen Gruß bestellen, ich weiß ja nicht, wer du bist", fügte er lachend hinzu: „Sag nur vom Herrn Friedrich Wilhelm." Bei König Max I.
verging
wohl kein Tag, ohne daß er irgend ein
Bauernhaus betrat oder mit dem nächsten besten Holzknechte ein Gespräch an
band; die Leute ließen sich dabei vollkommen gehen und redeten, wie's ihnen eben in den Sinn kam. Der eine klagte, wie schwer es sei ein großes Bauern
gut richtig zu regieren.
„Was soll denn ich erst sagen," erwiderte der König,
„ich muß das ganze Land regieren!"
„Wissen S' was," sprach der Bauer,
„da tat i's halt an Ihrer Stell' amal a Zeit verpachten." Meister Hanfftängl, der vor kurzem starb und in der Nähe von Dietramszell geboren war, traf
als halbgewachsener Junge eines Tages den König ohne zu wissen, wer vor
ihm stand. „Wo bist du denn her?"
fragte der König.
„Aus dem Tegernseer Landgericht", erwiderte der Junge. „Was, aus dem Tegernseer Landgericht?" rief jener mit ungeheuchelter
Freude, „dann sind wir ja Landsleut', da bin ich ja auch daheim."
Alm
Ungescheut nannten die Sennerinnen, die in der Nähe der Kaltenbrunner ihre Weiden hatten, den König „Herr Nachbar". Und wenn er auf
einem seiner Gänge den blauen Rauch aus einem Hause steigen sah, dann blieb er bisweilen stehen denn heut?"
und rief durchs offene Küchenfenster:
„Knödel gibt's", erscholl es von innen.
„Was gibt's
„Ah, das ist recht,"
400
73. Ein KönigSidyll vom Tegernsee.
rief dann der König, „da esse ich auch gleich mit — jetzt hab' ich doch .so viele Köche daheim und doch kann mir kein einziger noch richtige Knödel machen."
Diese Vertraulichkeit des Königs suchten die Bauern natürlich mit allen Wenn ihm irgend ein alter schöner Baum gefiel, so machte der Besitzer ihn sofort Sr. Majestät zum Geschenk erdenklichen Aufmerksamkeiten zu erwidern.
und eine Reihe der herrlichsten Linden ist in Tegernsee nur dadurch von der Axt verschont geblieben. Wo er neue Wege anzulegen wünschte, gab man ihm Grund und Boden ohne Entschädigung; vor allem aber lag ihm ein Wald
pfad zum „Bauer in der Au" am Herzen.
Als derselbe vollendet war und
der König ihn zum erstenmal allein beging, fand er plötzlich mitten im Walde einen blanken eichenen Tisch und auf demselben waren Butter und Milch, Erd
beeren und Kirschen sorgsam zugerichtet; davor ein stattlicher Großvaterstuhl
und weit und breit niemand zu sehen. Er ließ sich nieder und schmauste, die Bauern aber waren ringsum in den Gebüschen versteckt und weideten sich daran, wie ihre Kost dem Fürsten mundete.
Erst als er wieder aufbrechen wollte,
kamen sie hervor und einer von ihnen, der Seppl von Abwinkel, hieß ihn mit
einer kurzen Ansprache willkommen. All das sind nur kleine einzelne Züge und dennoch sind sie wahr — denn aus denselben atmet die Seele jener Zeit. Dazwischen gab es freilich auch mitunter ein hochgesteigertes öffentliches Leben, die Kaiser von Rußland und Österreich, die Fürsten aller erdenklichen Länder kamen nach Tegernsee zum Besuch und großartige Beleuchtungen des
Sees oder der Berge wurden zu ihren Ehren veranstaltet.
Wenn wichtigere
Beratungen nötig waren, kamen die einzelnen Minister heraus und eine Reihe
der bedeutsamsten Gesetze und Verordnungen (wir erinnern nur an die berühmte „Tegernseer Erklärung" zum Konkordat) trägt das Datum dieses Ortes. Selbst die Kammern des Landes wurden einmal vom König nach Kaltenbrunn und Kreuth geladen und dort bewirtet.
,
Im ganzen aber überwog doch unendlich die — Idylle; sein Verhältnis zu den Bewohnern
war noch immer am richtigsten bezeichnet durch jenes
rührende, naive Wort, das ihm beim Einzug einst ein Münchener Bürger in den offenen Wagen rief: „Ra, Maxl — weilst nur Du da bist!" Seine Nähe
allein, seine Persönlichkeit hatte etwas Beglückendes für das Volk.
Am letzten
Tage seines Lebens, am 12. Oktober 1825 (es war sein Namenstag), hatte er ein Bild des Schlosses zum Geschenk erhalten; er betrachtete es lange und
zuletzt hielt er die Hände vor das tränende Gesicht und sprach halblaut: „Mein liebes Tegernsee!" — Noch in derselben Nacht war Maxi, eine Leiche.
74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik.
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik. Don Karl Theodor von Heigel.')
Der Kongreß zu Rastatt hatte durch die Erneuerung des Kampfes mit der ftanzösischen Republik ein jähes Ende genommen. Roch war der Krieg nicht erklärt, als schon eine österreichische Armee in Bayern erschien. Die
Erinnerung an Ereignisse, die noch kaum der Vergangenheit angehörten, rief sofort bange Gerüchte wach: die Österreicher seien nicht zum Kampf gegen die Franzosen, sondern zur Besetzung des Landes bestimmt. Ratlos und auf das Äußerste gefaßt sah das Volk der Wiederkehr der Zustände entgegen, welche
der Unglückstag von Höchstädt im Gefolge gehabt hatte, da erscholl plötzlich die Kunde, der Kurfürst sei, vom Schlagfluß gerühtt, verschieden (16. Februar 1799).
Mochte der Tod des ungeliebten Fürsten manche Befürchtungen zerstreuen, so war das Ereignis anderseits wohl dazu angetan die schon herrschende Verwirrung noch zu steigern. Die Staatsregierung ohne Ansehen, die wichtigsten Ämter in unwürdigen Händen, der Staatsschatz leer, die Armee schwach und schlecht organisiert, die Landschaft ohne Achtung und Einfluß, Handel und Gewerbe daniederliegend, noch trauriger Volksbildung und geistiges Leben,
so gemahnten die inneren Zustände Bayerns allenthalben an Verfall und Auflösung. Vom Reich war kein Schutz zu erwarten, denn dahin war alle Kraft und Größe. Schon ließ sich mit Sicherheit voraussehen, daß auch die letzten Bürgen der Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme, Reichstag und Reichskammergericht, verschwinden würden. Nirgend ein Anwalt, nirgend ein Freund, Bayern konnte nur durch ein letztes Zusammenraffen der eigenen Kräfte gerettet werden oder mußte seiner Selbständigkeit verlustig gehen. Alles hing ab von der Persönlichkeit des Fürsten, der in so wild bewegter Zeit an
die Spitze des Staates trat, Wohl oder Wehe, Rettung oder Untergang. Und siehe! Der Genius Bayerns berief einen Mann auf den Thron,
derbem bayerischen Volke Freund, Vater, Retter ward! Max Joseph, ein klarer Geist und edles Gemüt, gab dem Volke das Beispiel eines wahren Patrioten, er weckte in der dumpfen Brust wieder den göttlichen Funken: die Begeisterung für den heimischen Herd und den Willen politisch und geistig frei zu sein. Schon die Tatsache, daß Max Joseph zur Regierung von Pfalz-Bayern gelangte, erscheint wunderbar, wenn man bedenkt, daß bei seiner Geburt (1756) die Zweige von Bayern und Pfalz noch in kräftiger Blüte standen, daß er
selbst nur der zweitgeborene Sohn eines mit dem kleinsten Teil der Wittelsbachischen Hausgüter begabten Fürsten war.
Dieser Vater, Friedrich Michael,
aus der Linie Zweibrücken-Birkenfeld, war niemals regierender Fürst gewesen; *) Vgl. „Die Wittelsbacher", Festschrift zur Feier des 700 jährigen Regierungs jubiläums des Hauses Wittelsbach, S. 72 ff. München 1880, M. Rieger. Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik,
erst sein ältester Sohn Karl August, der beharrliche Verteidiger der Wittels-
bachischen Hausrechte, war durch das Ableben seines Oheims Christian IV. Regent des kleinen Herzogtums Zweibrücken geworden. Sein Bruder Max Joseph trat, wie es bei nachgeborenen deutschen Prinzen nicht ungewöhnlich, in
französische Kriegsdienste und lebte als Oberst des Regiinents d’Alsace in
Straßburg, streng und pünktlich im Dienst, heiter und leutselig im gesellschaft lichen Verkehr mit jedermann.
Nach Ausbruch der Revolution zog er sich
in ländliche Einsamkeit nach Rohrbach an der Bergstraße zurück, da sah er sich plötzlich durch den Tod seines Bruders 1795 zum Herzog von Zwei
brücken, durch das Ableben Karl Theodors 1799 auf den bayerisch-pfälzischen Kurstuhl erhoben. Sein Einzug in München war ein wahrer Festtag für das Volk. Den ersten Gruß erhielt er an der Maxburg von dem in Stadt und Land wohl
bekannten Kaltenegger Bräu; der ergriff mit seiner derben, schwieligen Hand
die des Fürsten und rief dabei:
„Na, Maxl, weil nur du da bist!"
Der
derbe Ausdruck ftoher Erwartung entsprach der Volksstimmung: alles brachte dem neuen Regenten die zuversichtliche Hoffnung entgegen, daß nun für Bayern
eine bessere Zukunft anbrechen werde. Bald ließ sich auch erkennen, daß mit dem neuen Regenten ein guter Geist eingezogen sei, wenn sich auch natürlich nicht wie mit einem Zauber
schlag die traurige Lage des Staates ändern konnte.
Es waren ja die reichen
linksrheinischen Landesteile in Feindeshand und das Militärwesen heischte in
der kriegerfüllten Zeit erhöhten Aufwand. In der äußeren Politik blieb Max Joseph vorerst in den Geleisen der Politik seines Vorgängers, er ließ seine Truppen an der Seite der Österreicher
fechten. Der Feldzug nahm für sie den ungünstigsten Verlauf, sie wurden fast allerorten zurückgedrängt. Am 28. Juni 1800 sprengten die ersten französischen Reiter durch das Karlstor in München ein und ein volles Jahr hindurch hatte
die Stadt Tausende und Abertausende ungebetener Gäste zu bewirten. Die Plätze und Straßen boten damals ein bewegtes, farbiges Bild. Man sah Soldaten und Offiziere von allen möglichen Farben und Waffengattungev. Der unan sehnliche, kleine Volontär tummelte sich neben dem stattlichen Karabinier; hier stand eine Truppe Grenadiere, dort Husaren; Marketenderinnen, Lieferanten und Troßknechte, alles drängte sich durcheinander, man schimpfte und fluchte oder sang und war guter Dinge. Nach einer damals veröffentlichten Flug schrift soll die Mehrzahl der Franzosen gar verwahrlost und unkriegerisch
ausgesehen haben, „daß man hätte glauben mögen, ein deuffches Regiment
nehme es mit vier solchen auf". Die Pantalons der Soldaten bestanden aus jenem gestreiften Zeug, welches man in den Landstädten zu Fenstervorhängen und Bettüberzügen benutzt, so daß man den Ursprung leicht erraten konnte. Die Offiziere waren fast durchgängig sehr junge Leute. Die Generale quar tierten sich in die Paläste der Adeligen ein, die mit dem Kurfürsten geflohen
74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik.
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waren, und veranstalteten auf Kosten ihrer abwesenden Wirte glänzende Bälle
und Schmausereien.
Doch ließen sich die Franzosen auch die edleren Genüsse
nicht entgehen, die ihnen die Stadt bieten konnte.
Wie Moreau große Vorliebe
für die deutsche Literatur hegte, so war General Desolle ein enthusiastischer Verehrer der deutschen Tonkunst. Auf seinen Wunsch wurde durch die kur
fürstliche Kapelle, die einen hohen Ruf genoß, Haydns Schöpfung aufgeführt,
die selten ein so begeistertes Publikum gefunden haben mag wie jene französischen Offiziere. Ihre Verehrung für die bildenden Künste bekundeten jedoch die Sieger in eigennützigster Weise.
Als der Kommissär der Rheinarmee, Neveu,
in den Gemäldesaal der Residenz trat, rief er überrascht aus: „Wie war es nur diesen kleinen Herzogen und Kurfürsten von Bayern möglich Kunstschätze zu
sammeln, wie sie die Tuilerien nicht besitzen!" Sofort schrieb er auf diejenigen Gemälde, die ihm am besten gefielen, mit Kreide: Republique Francaise, zur Anweisung für die Grenadiere, welche den Raub abholen mußten.
Vorstellungen
bei dem Gouverneur der Okkupationstruppen erzielten nur die Antwort: „Es kann nicht die Rede sein von Bedingungen und Schwierigkeiten zwischen Sieger und Besiegten; der erste befiehlt, der andre gehorcht gutwillig oder weicht der Gewalt." Auch die der Stadt auferlegte ungeheure Brandschatzung ließ die Einwohner über ihr Verhältnis zu den „Befreiern der deutschen Völker", wie die Franzosen in ihren Proklamationen sich nannten, nicht int Zweifel. Auch bei Hohenlinden konnten die Österreicher und Bayern über MoreauS
überlegenes Feldherrngenie nicht obsiegen, die Franzosen drangen in die kaiserlichen Erblande ein, so daß der Kaiser für seine Hauptstadt Wien bangend Waffenstillstand schloß und Unterhandlungen anknüpfte, die zum Frieden von
Luneville führten.
Dem wachsamen Montgelas, dem einflußreichsten Minister
des Kurfürsten, blieb nicht unbekannt, daß vonseiten des Wiener Kabinetts neuerdings Anstrengungen gemacht wurden, um für die an Frankreich abzu tretenden Gebiete Ersatz durch Einverleibung eines Teils von Bayern zu ge
winnen. Es war demnach in Wahrheit nur ein Akt der Notwehr, daß Bayern um sich seiner Freunde zu erwehren mit Frankreich einen Vertrag abschloß (24. August 1801), wodurch es allen Ansprüchen auf das linke Rheinufer ent sagte, sich dagegen eine Entschädigung an Land verbürgen ließ, „das so günstig
als möglich gelegen wäre um als Ersatz für alle Verluste zu dienen". Da durch die Bestimmungen des Luneviller Friedens überhaupt eine Umgestaltung von ganz Deutschland notwendig geworden war, wurde ein Kon greß nach Regensburg berufen, dessen Hauptschluß erst am 27. April 1803
zum Vollzug kam.
Dank den freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich wurde Bayern bei dem Gebjetsaustausch in hohem Maße begünstigt. Es er
hielt die Hochstifte Würzburg und Bamberg, die zu den schönsten und best kultivierten Territorien des Reiches zählten, die Hochstifte Augsburg und Freising und eine große Anzahl wichtiger Reichsstädte. Erst durch diese Erwerbungen in Franken und Schwaben war zu einer politischen Entwicklung Bayerns die
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik,
wichtigste Vorbedingung erfüllt, erst durch die Verschmelzung der schwer be weglichen altbayerischen Bevölkerung mit den regeren und lebhafteren Volks
elementen der neuen Provinzen hatte die selbstgenüg^ame, schädliche Absperrung Bayerns gegen das übrige Deutschland ein Ende. Denn dieses Ziel strebte Max Joseph an: Bayern den besten Kultur
staaten ebenbürtig zu machen, das Staatswesen den Anforderungen der neuen Zeit entsprechend zu reformieren und sogar ihre überschäumenden Ideen der
herrschenden Gewalt dienstbar zu machen. Minister Graf Montgelas.
Die Seele dieser Besttebungen war
Bis zu seiner 1817 aus Betreiben des Thron
folgers erfolgten Entlassung genoß der Graf das unbedingte Verttauen des Monarchen, in seinen Händen liefen alle Fäden der inneren und auswärtigen Politik Bayerns zusammen.
Eine Menge von Edikten namentlich auf kirchenpolitischem Gebiet wurde erlassen, das wichtigste brachte Gleichstellung aller christlichen Konfessionen. Der Volkserziehung wurde ernsteste Sorgfalt zugewandt, die Zensur für poli
tische Schriften aufgehoben. Der Kampf zwischen einem absterbenden Alten und einem werdenden Neuen mußte Mißgriffe und Mißstände mit sich bringen und die schonungslose Härte, womit Montgelas und die Vollstrecker seines
Willens die Vernichtung alles historisch Gewordenen in Szene setzten, ist nicht
zu rechtfertigen. Insbesondere bei Aufhebung der Klöster zeigte sich, daß die sogenannten Aufklärungsmänner nicht immer als die wahren Lichtfteunde sieb erwiesen; denn durch den Vandalismus, den sie bei diesem Anlaß betätigten,
ging der Staat der erhofften Vorteile gänzlich verlustig und noch schmerzlichere Verluste erlitten Kunst und Wissenschaft. „Gleichwohl aber," sagt Häusser,
„war die Auflösung des Alten wirklich unvermeidlich und selbst diese gewalt tätige Periode hat eine Menge Fesseln gesprengt und eine Fülle von Lebens keimen zu wecken angefangen."
Bedeutender Fortschritt wurde auf dem Gebiet
der Landeskultur erzielt; am 31. August 1808 priesen Hunderttausende von
freien Staatsbürgern den einsichtsvollen Monarchen, der die Leibeigenschaft in
seinen Staaten aufgehoben hatte. Für den Handel wurde durch Erleichterung des Verkehrs gesorgt, für das Gewerbe durch Lösung von drückenden Zunstfesseln, gemeinnützige Anstalten aller Art wurden durch die Regierung ins Leben ge-
rtlfen.
Ebenso aus der persönlichen Vorliebe des Kurfürsten wie aus der
drohenden Zeitlage erklärt es sich, daß dem Militärwesen ganz besondere Auf merksamkeit gewidmet ward. Kleine, undisziplinierte Soldatenhoufen bildeten unter Karl Theodor die ftagwürdige bayerische Armee. Binnen wenig Jahren stand ein stattliches Heer unter der weißblauen Fahne.
Die tapferen Taten
desselben trugen wesentlich dazu bei, daß der Staat, der nur noch ein Wrack
schien, nur noch als Sttandbeute galt, bald eine Achtung gebietende Stellung unter den europäischen Staaten einnahm.
Beim drohenden Wiederausbruch des Krieges zwischen Frankreich und Österreich war es Max Josephs Wunsch neutral zu bleiben, doch das war
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik.
Unmöglichkeit, sollte nicht der kleinere Staat im Anprall der beiden Mächte
zermalmt werden. Thiers enthüllt in seiner Geschichte des Konsulats und Kaiserreichs das Motiv, das angeblich dem Zaudern des Kurfürsten ein Ende
setzte und ihn zum Bündnis bewog. „Der unglückliche Fürst von Bayern/ schwankend zwischen Österreich, welches sein Feind, und Frankreich, welches sein Freund war, jenes aber nah und dieses fern, und zugleich eingedenk, daß
Bayern in früheren Kriegen beständig bald von diesem bald von jenem er drückt und beim Frieden stets vergessen war, dieser Fürst wußte nicht, an wen er sich anschließen sollte. Er wußte wohl, daß, wenn er es mit Frankreich halte, er nicht bloß auf Erhaltung sondern auch auf Erweiterung seines Landes hoffen
dürfe, sprach auch immerwährend mit dem französischen Gesandten an seinem Hofe, Herrn von Otto, von einem Bündnis mit Frankreich, wagte aber nicht es abzuschließen.
Erst als Napoleon an ihn schrieb und ihn benachrichtigte, daß
er den Feldzug gegen England aufgeschoben habe und unverzüglich mit 200000 Mann nach Deutschland marschieren werde, auch beisetzte, der Kurfürst werde zur rechten Zeit Beistand erhalten, gab dieser zum Bündnis seine Einwilligung." Was aber jedenfalls noch dringlicher die Einigung mit Frankreich empfahl, war die Nachricht, Österreich habe sich in einem mit Rußland abgeschlossenen Vertrag den Gewinn Bayerns bis zum Inn garantieren lassen, Bei unpar teiischer Erwägung aller Verhältnisse, vor allem der Tatsache, daß eben damals
in jedem Lager selbstsüchtige Politik getrieben wurde und Recht wie Moral gleichsam verhüllt und vertagt waren, wird man das Bündnis, das Bayern am 24. August 1805 mit Frankreich schloß, wenn auch nicht rechtfertigen wollen,
so doch entschuldigen müssen. Die bayerische Armee wurde unter Napoleons Oberbefehl gestellt; dagegen versprach dieser Bayern gegen jeglichen Angriff zu schützen und verhieß ihm beim nächsten Friedensschluß so reichen Länder
gewinn, daß es sich künftig aus eigener Kraft der österreichischen Einverleibungs gelüste erwehren könne. Die erste Zusage wurde glänzend gelöst.
Im raschen Siegeslauf nahm
der große Schlachtenmeister bei Ulm eine ganze österreichische Armee gefangen,
eilig mußten
und
die Kaiserlichen das kurz
am 24. Oktober 1805
vorher
ertönte zum erstenmal
in den Straßen einer deutschen Stadt.
Doch
Wenige Wochen
später
der geborene Soldat.
besetzte München verlassen das Vive Napoleon!
nur kurze Rast gönnte sich schlug
er
die Schlacht
bei
Austerlitz und die hier erlittenen ungeheuren Verluste nötigten seine Feinde den Frieden zu Preßburg zu schließen. Er brachte auch für Bayern eine Erhöhung. Am 1. Jänner 1806 verkündete ein Herold in den Straßen Münchens,
daß Kurfürst Max Joseph Titel
und Rechte
eines
Königs angenommen habe. Napoleon, der am Tage der Pro klamation in München verweilte, wurde, wo er sich zeigte, freudig be grüßt.
Feier.
Glockengeläute, Kanonendonner, Jubel des Volkes verherrlichten die
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik.
Die Teuerung der Lebensmittel war aufs höchste gestiegen, aber der
Sieg ließ alle Sorge vergessen; eine unzählige Zuschauermenge sand sich täg lich bei den militärischen Schauspielen ein, die abwechselnd von den bayerischen Man gefiel sich in der Idee
und französischen Truppen veranstaltet wurden.
der Verwandtschaft der angeblich boiischen Vorfahren mit den Galliern, — der Sieg berauschte, vor dem Sieger beugten sich alle. Man muß sich um
diese Volksstimmung gerecht zu beurteilen vergegenwärtigen, welch bannenden Eindruck auch anderwärts Napoleons Erscheinung hervorrief. Johannes Müller, seiner idealen Richtung und patriotischen Wärme wegen insbesondere
von der Jugend gefeiert und geliebt, schrieb noch im Jahre 1806:
„Ich mache
nur zwei Abteilungen politischer Menschen: solche, die Napoleon hassen, und solche, die ihn lieben, und mit jenen ersten, wer sie auch seien, bin ich!" Wenige Monate später aber, nachdem er inzwischen Napoleon persönlich kennen
gelernt hatte, schrieb er:
„Die an das morsch gewordene Alte nutzlos ver
schwendeten Kräfte müssen auf das Neue übertragen werden, Gott ist es ja,
der die Regierung einsetzt: man muß sich umdenken."
Und ebenso emphatisch
ruft Hegel aus, nachdem er Napoleon, die „Weltseele", gesehen hatte: „Es ist eine ganz wunderbare Empfindung ein solches Individuum zu sehen, das hier,
auf einen
Punkt
konzentriert,
über
die
Welt
greift
und
sie
be
herrscht." — Das deutsche Verhängnis erfüllte sich.
Das Band, das die deutschen
Staaten bisher noch lose zusammenhielt, war schon zerrissen; vollends besiegelt
wurde die Auflösung des Deutschen Reiches durch eine neue Vereinigung der süd- und mitteldeutschen Staaten zum sogenannten Rheinbund unter dem Protektorat Napoleons. Preußen erkannte zu spät, daß es durch die seit dem Baseler Frieden verfolgte Politik nur den Vorteil Frankreichs gefördert habe;
als es sich zum Waffengang mit Napoleon aufraffte, stand es allein.
Bayerische
Regimenter stürmten die schlesischen Festungen und bei Pultusk flocht sich Kronprinz Ludwig ein Lorbeerreis um das jugendliche Haupt, aber sein Herz
blutete ob dieser Bruderkämpfe; wieder wie in den unseligen Religionskriegen wurden Deutsche gegen Deutsche ins Feld gestellt, die Großmächte lagen zu
Boden geschlagen und die rheinbündischen Staaten waren zwar dem Namen nach souverän, in Wahrheit jedoch Frankreichs Vasallen. Während aber in anderen deutschen Staaten die gebotene Unterwürfig
keit unter Napoleons Willen auch trage Gleichgültigkeit in Fragen der inneren Politik im Gefolge hatte, herrschte bei der Regierung Bayerns das regste Stteben das alte Stammland mit den neugewonnenen Gebieten zu einem wohl
gegliederten, zukunftsfähigen Staatskörper zu verschmelzen und den Eintritt Bayerns in die Reihe der stimmberechtigten Mächte Europas vorzubereiten.
Auf Umwandlung der Mosaik von verschiedenartigen Reichsterritorien in ein einheitliches Ganzes zielten alle Unternehmungen und Maßregeln des Ministeriums Montgelas ab.
74. Des Kurfürsten und Königs Mar I. Joseph innere und äußere Politik.
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Mit gleicher Energie fuhr es fort Mißstände, die in veralteten Über lieferungen wnrzeltcn, zu beseitigen.
gehen
Wo das häufig allzu rücksichtslose Vor
des Ministeriums Erbitterung und Widerstand hervorrief, wirkte die
herzliche Zuneigung des ganzen Volkes zu seinem König wieder ausgleichend Auch die Schwaben und Franken, denen unter mannigfacher
und versöhnend.
Botinäßigkeit längst in ihren engen Kreisen alles politische Leben abhanden
gekommen war, ließ das milde Regiment des volksbeliebten Königs den Verlust
der Selbständigkeit minder schmerzlich empfinden.
Noch mochten die Nürnberger,
die Augsburger in jenen Tagen eine Kränkung darin erblicken, daß nicht mehr vor einem selbstgewählten Stadtrat die Abzeichen der souveränen Gewalt ein hergetragen wurden, aber auch sie konnten sich nicht verhehlen, daß die aller-
Denkmünze vom Jahre 1806 auf die Annahme der Königswürde.
orten gesunkene Volkswohlsahrt nur durch Anschluß an ein größeres Gemein wesen gehoben werden könne, — und an welches Land hätte man sich lieber
angeschlossen als an jenes, wo Edelmann, Bürger und Bauer gleich ver
trauensvoll zu ihrem König aufblickten? Auf den blutgetränkten Auen wogten wieder goldene Saaten, Handel
und Gewerbe hoben sich, allein das Friedensglück war dem Lande und dem
friedliebenden Fürsten nicht lange beschieden.
Immer neue Opfer verlangte
die Freundschaft mit dem unberechenbaren Eroberer. Wie schmerzlich empfand dagegen der humane Max Joseph den Fluch der nimmer endenden Kriege, welche seinem Lande die kräftigsten Söhne, den Familien die Stützen raubten! Von den 30000 Bayern, welche nach Rußland gezogen, sahen nur wenige
die Heimat wieder.
Der furchtbare Ausgang jenes russischen Unternehmens erschütterte alle, nur nicht den Urheber. Als dieser mit der Verblendung eines dem Unter gang Geweihten von den Bundesgenossen neue Rüstungen verlangte, zögerten die Regierungen, im Volke aber blickten Tausende mit
aufrichtigen Segens
wünschen auf Preußen, weil es den Befreiungskampf mit Napoleon aufnahm.
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74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äußere Politik.
Ein Akt der Notwehr gegen den übermächtigen und drohenden Nachbar
war daS Bündnis des Hauses Wittelsbach mit Bonaparte gewesen. Von einem „Verrat an Deutschland" konnte damals nicht die Rede sein, denn es gab kein Deutschland mehr.
In der allgemeinen Verrottung und Versumpfung
der europäischen Politik hatte die Erscheinung des Helden wohltätig wie ein Gewitter gewirkt. Aber der Kaiser hielt nicht, was das Programm des Konsuls
versprochen. Er wollte Vorsehung der Menschheit sein und wurde ihre Geißel. Max Joseph sah sich und sein Volk durch den Übermütigen auf abschüssige Bahn gedrängt, sah zwischen seinem ältesten Sohne und Napoleon unheilbare Entfremdung, hörte den Sehnsuchtsruf der deutschen Stämme nach Versöhnung,
Einigkeit, Verbrüderung.
Er mußte zum Abfall sich entschließen.
Der russische Kaiser tat gegen Bayern die ersten vertraulichen Schritte, Österreich führte die Verhandlungen weiter. Mit den Vorstellungen der Diplomatie und den besorgten Äußerungen Marschall Wredes vereinigte der patriotische
Kronprinz seine feurigen Bitten. Der Vertrag von Ried (8. Oktober), durch Wredes Bemühungen zustande gebracht, bezeichnete den Politikwechsel des Wittelsbachischen Hau
ses, die Rückkehr des ersten und mächtigsten Fürsten des Rheinbundes zur deutschen Sache. Zwar kämpften die Bayern nicht in der großen Leipziger Schlacht mit, aber durch den Tag von Hanau traten auch sie ein in die Waffenbrüderschaft zur Befreiung der deutschen Heimat.
Schon im nächsten Jahre wehten die Fahnen der Verbündeten auf franzö sischem Boden. In den Kämpfen, durch welche Napoleon den überlegenen Feind vom Wege nach Paris abzulenken versuchte, leisteten die bayerischen Truppen treffliche Dienste. Die bayerischen Reiterbrigaden zwangen bei Bri enne
die sieggewohnte Kaisergarde und den Kaiser zur Flucht; das 10. bayerische
Infanterieregiment erstürmte Bar an der Aube; das ganze Korps Wrede nahm
an den blutigen Kämpfen um Ar cis rühmlichsten Anteil. Durch Kühnheit im Angriff und Verwegenheit in der Verfolgung tat sich namentlich der acht zehnjährige zweite Sohn des Königs, Prinz Karl, hervor. Durch die Bayern int Rücken gesichert vollbrachte die Hauptmasse der Verbündeten glücklich den Marsch auf Paris und zog am 31. Mai 1814 mit
klingendem Spiel dort ein; am folgenden Tage grüßten auch die bayerischen
Truppen das Wahrzeichen der Notredame. *
überwundenen Weltstadt, *
die Türme von
*
Endlich, nach der gänzlichen Niederwerfung Napoleons, durfte Max Joseph voll und ganz das sein, wozu ihn seine natürlichen Anlagen bestimmten:
ein Friedensfürst, seinem Volke ein immer und überall hilfsbereiter, großher ziger Freund.
Für die schweren Prüfungen von fast zwei Jahrzehnten sah er
sich schließlich doch reich entschädigt als Herr über ein Gebiet von mehr als 1300 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von vier Millionen Seelen. Die
74. Des Kurfürsten und Königs Max I. Joseph innere und äuhere Politik.
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Fruchtbarkeit und vorteilhafte Handelslage des Landes verhießen dem Fleiß
der Bewohner sichere Erfolge. Noch aber war die Bevölkerung der alten und neuen Gebiete durch Einzelverfassungen und verschiedenes Gesetz in dis harmonische Massengruppen geschieden.
Dieser Sonderung machte Max Joseph
vorerst durch eine neue Landeseinteilung ein Ende, wobei nach französischem Vorbild nur auf natürliche, nicht auf historische Grenzen der einzelnen Provinzen
Rücksicht genommen wurde.
Nachdem solchermaßen die Staatsverwaltung er
leichtert und vereinfacht worden war, löste Max Joseph zuerst von allen Fürsten, welche die Wiener Verträge unterzeichnet hatten, sein Wort ein und gab Bayern
eine Versüssung. Freiwillig schloß der gute König mit seinem Volke einen Vertrag, kraft
dessen es fürderhin an der Regierung wahren und wesentlichen Anteil haben
sollte, kraft dessen sich die herrschenden humanen Regierungsgrundsätze den
Nachfolgern auf dem Throne nicht nur als fromme Wünsche sondern als Pflicht vererben sollten. Indem der hochsinnige Monarch freiwillig des ab solutistischen Charakters seiner Herrschaft sich entäußerte, beseitigte er mit eins alle Schwierigkeiten, die der Verschmelzung der verschiedenen Stammescharaktere
entgegenstanden, und schuf ein wahrhaft einiges, starkes und freies Volk.
Am
26. Mai 1818 wurde die Verfassungsurkunde proklamiert, welche Bayern für einen souveränen, monarchischen Staat erklärt, der mit allen seinen Bestandteilen an Land und Leuten, Gütern, Regalien und Renten eine unver
äußerliche Gesamtmasse bildet. Sie regelt die Thronfolge, gewährt Freiheit der Gewissen, völlige Gleichstellung der christlichen Konfessionen, sichert die
Unantastbarkeit der geistlichen Gewalt in kirchlichen Dingen, gewährt Sicherheit der Personen und des Eigentums, Unaufhaltbarkeit der Rechtspflege und Gleich heit der Gesetze und vor den Gesetzen mit Ausschluß aller Spezialgerichtshöfe. Sie verbürgt gleiches Recht jedes Bürgers zu allen Graden des Staatsdienstes, aber auch gleiche Verpflichtung zur Ehre der Waffen.
Endlich verfügt sie den
gleichen Anteil aller an den Lasten des Staates, aber auch einen geregelten Haushalt in demselben und gesicherte Verwendung der bewilligten Mittel. Eine Standschaft hervorgehend aus allen Klassen der ansässigen Staatsbürger mit
dem Rechte des Beirats, der Zustimmung und Willigung, des Wunsches und der Beschwerde, ward zum Wächter der Verfassung eingesetzt um sie gegen willkür lichen Wechsel zu schützen, aber im Fortschritt zum Besseren nicht zu hindern. Nie erschien das Königtum ehrwürdiger, als da Max Joseph von seinen Kindern und den Kronbeamten begleitet in die Versammlung der Stände trat und jene freiwillig übernommenen Pflichten des Monarchen gegen seine Unter-.
tonen beschwor. Nichts vermochte die Gewalt und das Vermächtnis jenes Maientages zu beeinträchtigen und König und Volk in ihrer Treue zueinander zu erschüttern.
Davon gab der 16. Februar 1824 das beredteste Zeugnis, als Bayern die Gedächtnisfeier des vor 25 Jahren erfolgten Regierungsantritts seines Herrschers
75. Ode an König Ludwig L
410
beging. Ein Volksfest war's im wahren Sinne des Wortes; alle Gemüter waren frohbewegt und die Segenswünsche für den „besten König" erfüllten wie Musik alle Lüfte.
Noch erinnern sich manche Zeitgenossen mit Rührung des allem
Prunk und aller Etikette abgeneigten, immer heiteren und leutseligen „Vater Max", von dessen Herzensgüte zu erzählen das Volk nie müde wurde.
Wie
ein schlichter Privatmann promenierte er in den Straßen Münchens und hatte ein sieundliches Wort für Bekannte und Fremde. Eine erhabene Bescheidenheit, denn dank diesem Manne holte Bayern binnen wenigen Jahren ein, was es
in Jahrhunderten versäumt hatte!
Die Worte, die Max Joseph an seinem
Jubeltag zum Bürgermeister von München sprach, sind so recht charakteristisch für seine schlichte Größe: „Daß ihr Münchener mich liebt, die ihr mich immer in eurer Mitte habt, die ihr wißt, wie gut ich es mit jedem meine, das ist mir begreiflich; aber wie ich so viel Liebe in den Dörfern an den äußersten Grenzen verdient habe, wo man mich nie gesehen, das versteh' ich nicht. Allerdings war mein Wille immer rein und gut und meine Bayern sind eben ein treues, biederes Volk. Das habe ich schon offen zu den Kaisern von Österreich und Rußland gesagt: ich möchte nicht mit ihren größeren Reichen tauschen.
Ich hab' es immer gesagt und sage es jetzt als Greis wieder:
Alles für
meine Bayern, tun sie ja doch auch alles für mich!" Dem schönen Leben, dessen Wahlspruch: Licht und Liebe! war, beschied
Gott ein schönes Ende. Von Tegernsee, wo der König, wie in jedem Jahre, inmitten einer glücklichen Familie und im Genuß einer herrlichen Natur den Spätsommer 1825 verbrachte, begab er sich zur Feier des Oktoberfestes in die Landeshauptstadt.
Am Abend des 12. Oktober wohnte er einem Balle bei,
den der russische Gesandte zu Ehren des königlichen Namensfestes veranstaltete.
Max Joseph war ernster als gewöhnlich, entfernte sich bald und still und kehrte nach Nymphenburg zurück. Am nächsten Morgen fand man ihn tot in seinem Bette, ein letztes Lächeln auf den Lippen. Wie im griechischen Mythos die
Lieblinge der Götter rasch und unerwartet der Erde entrückt werden, so war der Gute in süßem Schlaf hinübergegangen, während ihm zu Ehren in allen Städten die Fenster festlich schimmerten und auf sein Wohl und seine Gesundheit die Gläser klangen.
75. Ode an König Ludwig I. Don August Graf von Platen. *)
Dom Sarg des Vaters richtet das Volk sich auf, Zu dir sich auf, mit Trauer und Stolz zugleich: Dertrau'n im Blick, im Munde Wahrheit, Schwört es dem Sohne der Wittelsbacher. l) Sämtt. Werke 2. Band, S. 113, herausgegeben von Karl Goedeke. 1881, Cotta. — Diese Ode übersandte der Dichter am 9. Dezember 1825.
Stuttgart
75. Ode an König Ludwig I.
411
Des Thrones glatte Schwelle, wie selbstbewußt, Wie fest betrittst du sie, wie gereift im Geist! Ja, leichter hebt dein freies Haupt sich, Seit die metallene Last ihm zufiel. Dir schwellt erhabne Güte das Herz, mit ihr, Was mehr noch frommt als Güte — der tiefe Sinn: Wo dieser Schöpfer mangelt, sehn wir Alles zerstückelt und schnell verunglückt.
Dein Auge spähte durch die Vergangenheit, Es lag das Buch der Jetten auf deinem Knie, Gedanken pflücktest du wie Blumen Über dem Grabe der deutschen Dorwelt.
Dein Dolk, du kennst es. Jeglichem Zeitgeschick, Das ihm zuteil ward, fühltest und sannst du nach Und still, in eigner Brust verheimlicht, Trugst du den lachenden Lenz der Zukunft. Du hast mit uns erlitten den Fluch des Kriegs, Gezählt die Todesnarben der Jünglinge, Die deiner Ahnherrn Strom, der Rhein, sah Seelen verhauchen für deutsche Freiheit.
Und nicht umsonst verhauchen, du fühlst es wohl! Nach jenes Cäsars tragischem Untergang Was könnten klein're Scheindespoten Anders erregen als frostig Lachen? Du aber teilst die heilige Glut mit uns, Dor der in Staub sank jener geprüfte Held,
Und fallen ließest du mit uns ihr Eine begeisterte, warme Träne. Dem Stein des Rechts **), den edelgesinnt und treu
Dein Dater legte, bläsest du Atem ein, Du siehst im Marmor keinen Marmor, Aber ein künftiges Iovisantlitz. Allein wie sehr du Wünsche des Tags verstehst, Richt horchst du blindlings jedem Geräusch, du nimmst Das Zepter, jenem Joseph s) ungleich, Richt in die weltliche Faust der Reu'rung.
Ehrfurcht erweckt, was Däter getan, in dir, Du fühlst verjährter Zeiten Bedeutsamkeit, Ins Wappenschild uralter Sitte Fügst du die Rosen der jüngsten Freiheit. x) Der Dichter meint die von König Maximilian I. im Jahre 1818 seinem Volke verliehene Verfassung. •) Kaiser Joseph II.
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75. Ode an König Ludwig I.
Heil dir und Heil der Lieblichen neben dir,
Heil jedem Sprößling, welchen sie dir gebar! Wenn Kinder dich und Volk umjubeln, Leerst du, als Becher, des Segens Füllhorn!
Wie eine Rebe, schattig und traubenschwer, Die schon den Keim des werdenden Rausches nährt, Umschlängelt deinen angeerbten Blühenden Zepter der goldne Friede.
Rückwärts erblickst du Flammen und Krieg und Mord, Doch mild am Gürtel trägst du das reine Schwert; Du stehst wie jener fromme Dietrichs) über den Leichen der Nibelungen.
So sei (du warst es immer, erlauchter Fürst!) Des Friedens Schirm und jeglicher Kunst mit ihm, Die nur an seiner sanften Wärme Seelenerquickende Knospen öffnet. Des Bildners Werkstatt wimmelt von Emsigkeit, Es hascht der Maler seltengebotnen Stoff, Die Bretter, Schauplatz jeder Größe, Biegen sich unter dem Gang der Dichtkunst. Und jenen Festsaal2), Gütiger, öffnest du, Doll edler Formen, wie sie ein Meißel schuf,
An befien Würde, dessen Kraft wir Gerne verschwenden das Ach der Sehnsucht.
Früh war die Schönheit deines Gemüts Bedarf Und Schönes ist ja Göttliches, leicht verhüllt
Durch einen Flor, den uns des Denkers Wesenerforschendes Auge lüftet.
Und nicht vergeblich sogst du mit Emsigkeit Das tiefste Mark altgriechischer Bildung ein! Wofür als fürs Dollkommne schlüge Solch ein erhabenes Herz wie deines? Es geht die Sage, daß du als Jüngling einst An deiner Salzach2) buschigem Felsenstrand, Abschüttelnd Weltgeräusch und Hofzwang, Rur mit homerischen Helden umgingst. *) Dietrich von Bern, der als letzter in den Kamps eingreift und allein diesen überlebt. •) Gemeint ist die Glyptothek aus dem König-Platz in München, für die wertvollen Skulpturen bestimmt, die Ludwig schon als Kronprinz gesammelt hatte. •) Als Statthalter des 1809 gewonnenen Inn- und Salzachkreises residierte Ludwig abwechselnd in Innsbruck und Salzburg.
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
413
Und zürnst du noch, wenn trunken ein Dichter dir Ausgießt des Lobes Weihungen? Zwar es sind Nur Tropfen Taus, doch deine Sonne Macht sie zu farbigen Regenbogen. Vergib, o Herr, dem Dichter, der ohne dich Verlasien stünde, fremd in der Zeit und stumm: Dein fürstlich Dasein löst den Knoten Seiner verworrenen Lebensrätsel.
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre. Don Karl Theodor von Heigel.
„Das sollte mir die teuerste Siegesfeier sein, wenn diese Stadt, in der ich geboren bin, wieder eine deutsche Stadt sein würde!"
Dies patriotische Wort wurde von dem bayerischen Kurprinzen Ludwig im Jahre 1805 zu Straßburg gesprochen, als dort Kaiserin Josephine ihr Hoflager hielt und die französischen Erfolge in Süddeutschland durch glänzende
Feste feierte.
Sein Wunsch aber galt dem schönen Straßburg und schmerz
lich ist's, daß der Fürst den Tag nicht mehr sah, an welchem jener Traum
seiner Jugend in Erfüllung ging und wieder deutsche Fahnen vom Münster wehten. Es steht zu Straßburg ein stattlicher Palast im Renaissancestil, der
Zweibrücker Hof genannt, mit seinen Fassaden nach der Promenade le Broglie und der Brandgasse gekehrt. Hier wohnte Herzog Maximilian von PfalzZweibrücken, während er als Oberst des Regiments d'Alsace sich in Straßburg
aufhielt, und in diesem Hause erblickte sein erstgeborner Sohn Ludwig Karl August am 25. August 1786 das Licht der Welt.
König Ludwig XVI. von Frankreich und der regierende Herzog von Zweibrücken Karl August waren seine Paten. Die Geburt des Prinzen wurde um so freudiger in der Pfalz wie in Bayern begrüßt, als sie die Zukunft des
Fürstenhauses sicherte; denn Karl Theodor wie der regierende Herzog von Zweibrücken waren kinderlos.
Allenthalben wurden Festlichkeiten veranstaltet
und herzlich gemeinte Jubelreden gehalten.
berg war Jung-Stilling.
Einer der Festredner in Heidel
Die Stadt München entsandte eine Bürgerdeputation
an den glücklichen Vater.
Der nahm die Segenswünsche sehr gnädig entgegen, hob den Prinzen selbst aus der Wiege und legte ihn einem der Bürger in die Arme.
„Sagt den Euern zu Hause," sprach er, „daß ich sie nicht minder
liebe wie diesen meinen Sohn!" Die Nachrichten über Ludwigs Mutter, Augusta, jüngste Tochter des
Landgrafen Georg
von Hessen-Darmstadt, sind nur spärlich,
') „Ludwig I., König von Bayern", S. 1 ff.
aber überein-
Leipzig 1872, Dunker & Humbloi.
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
414
stimmend darin, daß sie eine liebenswürdige Erscheinung und von überaus milder und gütiger Sinnesart gewesen sei.
Sie war eine warme Freundin
der Kunst; ein von ihr gemaltes Aquarell wird im Münchener Nationalmuseum aufbewahrt.
Die trefflichen Eigenschaften von Ludwigs Vater sind bekannt; sie bildeten, als er später den bayerischen Thron bestieg, das Glück seines Volkes und der Jurist Feuerbach, der wahrlich kein blinder Bewunderer der bayerischen Zu stände jener Periode war, gab nur der Wahrheit die Ehre, da er Maximilian
Bayerns Heinrich IV. nannte.
Zu Straßburg war er wegen seines jovialen
Charakters, seiner Freigebigkeit und Leutseligkeit der allgemeine Liebling, und
wie seine Soldaten an ihm hingen, zeigt eine heitere Episode aus den Tagen kurz nach der Geburt des Erbprinzen. Bei einer Musterung seiner Grenadiere bemerkte er mit Erstaunen, daß alle Knebelbärte verschwunden waren. Auf
seine Frage wurde ihm statt der Antwort ein Wiegenkissen präsentiert, das mit den Bärten der Soldaten gepolstert war. Ein seltsames Wiegengeschenk, aber das Opfer war jedenfalls manchem schwer geworden.
Der Heranwachsende Prinz erhielt eine durchaus militärische Erziehung; das Patengeschenk Ludwigs XVI. war ein französisches Oberstenpatent gewesen. Die Anschauungsweise des Vaters blieb immer der französischen verwandter als der deutschen; aber der Sohn bewahrte sich bis an sein Lebensende, das ihn, wie der Zufall wunderlich spielt, ebenfalls auf französischem Boden über
raschte, die wärmste deutsch-patriotische Gesinnung.
Dem Aufenthalt der herzoglichen Familie in Straßburg wurde ein uner
wartetes Ende gesetzt. Auch dort bildete sich im ereignisschweren Jahre 1789 ein Jakobinerklub, dessen Initiative bald Willige und Unwillige zum Kampf gegen das Bestehende rief; das Rathaus wurde gestürmt, die rote Fahne auf gesteckt und das Martialgesetz proklamiert. Max Joseph mußte Straßburg ver
lassen.
Nach vorübergehendem Aufenthalt in Darmstadt und Rohrbach ließ
er sich mit den Seinen in Mannheim nieder. Sein Haus war allen Emi granten, von denen damals die Rheingegenden überfüllt waren, gastlich geöffnet.
Hier in Mannheim, dem ein wahres Eden, der Schwetzinger Park, an grenzt, verlebte Prinz Ludwig seine Knabenjahre.
In einem 1809 geschriebenen
Gedichte gibt er der Erinnerung an jene sonnigen Tage Ausdruck: „Dich vergesse ich nie, die du Aufenthalt warst meiner Kindheit, Pfalz! und auch, Pfälzer, euch nie; liebe euch, die ihr mich liebt! ... Wiederum sehe ich mich in Schwetzingens Barten mit meiner Mutter, der besten, die's gab, die unvergeßlich mir ist. Liebliche Stelle, woselbst das Mahl wir, das ländliche, nahmen, Dor dem Hügel, auf dem raget der Tempel Apolls ... O (Erinnerung jener zu eilig entschwundenen Tage, Freundliches Andenken du, immerfort bist du mir frisch!" ...
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
415
In jenen liederreichen Gauen umschlingt, wie Eichendorff singt, der Frühling Haus und Hof und Wald und alles Gewöhnliche; die Märchen der Vorzeit werden in der Brust lebendig, ein Hauch der Romantik weht überall.
In diesen gesegneten Tälern Heidelberger Schloßruine erinnert ein
Aber auch an ernster Mahnung fehlt es nicht.
wütete
ein räuberischer Feind,
die
dringlich genug an Melac und seine Horden. Solche Tage der Trauer kehrten für die Pfalz gerade damals zurück.
Der Krieg gegen Deutschland fand im April 1792 in der Pariser National versammlung berauschte Zustimmung und bald ergossen sich die streitenden Heere
über Pfalzbayern, das auf lange Zeit Schauplatz des Krieges blieb. Da eine Beschießung der Stadt Mannheim in drohender Aussicht stand, mußte die herzogliche Familie abermals nach Darmstadt flüchten. Der Kriegs tumult brachte die düstersten Bilder vor die Augen des Knaben. In den Straßen drängten sich die Flüchtlinge, in ihrem Geleit zogen Unruhen, Schrecken,
Verwirrung ein, hinter ihnen loderten alle Greuel eines furchtbaren Krieges auf. Des Prinzen königlicher Pate starb auf der Guillotine. „In welcher Zeit," rief damals Johannes Müller aus, „zu welchen Aussichten hat Gott uns bestimmt! Rasende, wie einst im Tschilminar der trunkene Sohn Philipps, laufen
mit Fackeln in der Hand in dem alten Gebäude der Staatsverfassungen umher; da brennt ein Turm auf, dort bricht eine Zinne herab, bald sinkt alles in
den Staub!" Die Wehrkraft des Deutschen Reiches zeigte sich von der kläglichsten Seite. Das gegenseitige Mißtrauen
der
beiden
deutschen
Großmächte lähmte alle
Unternehmungen, die Regierungen der kleineren Staaten waren ohne Kraft und Energie. Feindlicherseits zeigte die Jakobinerphrase Custines: „Krieg den Palästen, Friede
den
Hütten!"
bald ihren wahren Wert:
die Neufranken
pflanzten in der Pfalz ihre Freiheitsbäume nur zwischen Ruinen. Schon im Jahre 1796 verlor der fürstliche Knabe seine Mutter.
Von
ihr war noch zur ßeitung des Unterrichts ein einfacher Landpfarrer berufen worden, Joseph Anton Sambuga, dessen Lehre und Beispiel von dauerndem
Sambuga hielt sich über seine Unterrichts stunden und die dabei geführten Gespräche ein Tagebuch, das nach seinem Tode durch Sailer veröffentlicht wurde. Diese Aufzeichnungen beweisen, daß Einfluß auf den Zögling war.
der Lehrer nicht bloß als frommer sondern auch Bildungswerk förderte.
als denkender Mann das
Er bezeichnet selbst als Hauptprinzip seiner Methode,
es sollte im Schüler bei allem das Selbstdenken gefördert werden, und diese Anregung in frühester Jugend ging nicht verloren.
Das Streben sich selbst
von allem Erforderlichen zu überzeugen tritt bei den Regierungshandlungen
des nachmaligen Königs überall hervor. Es kann dem Kunstmäzen Ludwig als Hauptyerdienst zugerechnet werden, daß bei allen seinen großartigen Plänen zur Förderung der Kunst ein metho
discher Zusammenhang zu erkennen ist, der nicht selten bis in die Studien
416
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
und Liebhabereien der Jugend zurückreicht.
Der Gedanke zur Verewigung
der Verdienste großer Männer einen Ehrentempel zu bauen erwachte schon in dem Knaben. Als Ludwig einst mit Sambuga von einer Spazierfahrt nach Schwetzingen zurückkehrte, fragte er seinen Erzieher, ob es denn einem edeln
Fürsten erlaubt sei so große Summen für sein Vergnügen aufzuwenden, da es ja doch so viele Arme gäbe.
Sambuga erwiderte, die Vernunft habe nichts
dagegen einzuwenden, wenn Fürsten ihr eigenes Geld für die Liebhabereien
verausgaben; es sei aber doch jedenfalls der Frage wert, ob nicht in - den Hallen einer Fürstenwohnung die Bildnisse eines Friedrich des Siegreichen,
eines Rupert und anderer verdienter Männer des Vaterlands besser ständen als mythologische Figuren. Der Prinz horchte gespannt auf und blieb dann schweigsam, als ob ein Gedanke in ihm zur Reife käme. Er zeigte für Geschichte entschiedene Vorliebe.
Als er später mit Johannes Müller persönlich bekannt
wurde, war dieser erstaunt über das ausgebreitete historische Wissen des Prinzen. Übrigens scheint Sambugas Beispiel auch auf die barocke Schreibweise
Ludwigs bestimmend eingewirkt zu haben; wenigstens wurde auch gegen ihn der Vorwurf wirren Durcheinanderschiebens der Worte und Sätze erhoben.
Mit Sambuga teilte sich Kirschbaum, ftüher Lehrer des Staatsrechts an der Hochschule zu Straßburg, in die Unterrichtsstunden. Er machte sich auch besonders um die Weckung des Kunstsinns in seinem Zögling verdient. Die stillen Lehrstunden zu Rohrbach an der Bergstraße wurden plötzlich durch die Berufung des Herzogs von Zweibrücken auf den bayerisch-pfälzischen
Kurstuhl nach dem Tode des kinderlosen Karl Theodor unterbrochen. Am 6. März 1799 zog Kurprinz Ludwig mit seinen Geschwistern in der Landes hauptstadt München ein. Der Empfang vonseiten der Bürgerschaft war herzlich, obwohl man sonst den „Fremden" nicht gerade geneigt war.
München an der Grenzscheide des 18. Jahrhunderts!
Alle jene Stadt
teile, die in der Folge glänzenden Neubauten weichen mußten, wurden vorher auf Befehl des königlichen Bauherrn ausgenommen und diese Gemälde, die
in den Kabinetten der Neuen Pinakothek Platz fanden, geben uns noch ein treues Bild von Altmünchen, der behäbigen, leichtlebigen Ackerstadt.
Durch
einige treffliche Bauten und Kunstwerke, namentlich aus dem 17. Jahrhundert, hatte der Name München in der Geschichte der Künste guten Klang gewonnen,
im vorigen Jahrhundert aber hatte die Entwickelung der Stadt fast gar keine Fortschritte gemacht.
Wer hätte geahnt, welch großartige Veränderungen der
blasse, schmächtige Prinz, der an der Seite des Vaters durch die engen und krummen Straßen Münchens fuhr, in dieser Stadt hervorrufen werde, so daß.
das unbeachtete Nazareth am Aufschwung der nationalen Kunst ruhmvollsten Anteil gewann! Im Mai 1803 bezog Ludwig die Landesuniversität Landshut.
Kirschbaum
und Sambuga begleiteten ihn. Seine Tätigkeit und sein Lerneifer wurden allgemein rühmend erwähnt. Von seiner frühesten Jugend bis in seine Greisen-
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
417
tage blieb Ludwig der Gewohnheit treu schon vor 5 Uhr morgens an die Arbeit zu gehen. Neben den Privatvorlesungen seiner Lehrer hörte er zu Landshut deutsches und bayerisches Staatsrecht, Staatsökonomie und natur historische Fächer bei den Professoren Gönner, Milbiller, Schrank und Feßmaier.
Bedeutenderen Einfluß aus seine geistige Entwickelung und Charakterbildung gewann der Professor für Moralphilosophie Sailer, in dessen Hause sich die
Tüchtigsten der akademischen Jugend zu versammeln pflegten. Im Herbst 1803 siedelte Ludwig an die Hochschule zu Göttingen über,
die als Mittelpunkt in Deutschland für wissenschaftliche Behandlung des Staats rechts und der Geschichte galt, für welche Disziplinen der Prinz besonderes Interesse zeigte.
Er besuchte die Vorlesungen Schlözers mit pünktlichster Ge
wissenhaftigkeit. Auch der berühmte Naturforscher Blumenbach wurde sein Lehrer wie 36 Jahre später der Lehrer des Kronprinzen Max. Nach Verlauf von 50 Jahren, im Jahre 1853, sandte die philosophische Fakultät der Georgia
Augusta dem ehemaligen Zögling als „Ausdruck wahrer Ehrerbietung, Dank barkeit und Pietät gegen einen deutschen Fürsten vonseiten einer deutschen Hochschule" das Ehrendiplom eines Doktors der Philosophie, „da kein Fürst jemals die Würde des königlichen Namens durch
liebevollere Fürsorge für
Kunst und Wissenschaft verherrlichte". Mit den Studiengenossen stand der bayerische Kurprinz in leutseligstem
Verkehr.
Er pflegte sich nicht selten
als Gast bei
festlichen Gelagen der
Studenten einzusinden und war fröhlich unter Fröhlichen ohne dabei je seine
Stellung zu vergessen.
ist charakteristisch.
Eine Episode aus der Zeit des Aufenthalts zu Landshut
Als bei einem Kommerse das Lied: Ich bin der Fürst von
Toren!" gesungen werden sollte, richtete ein Bursche an den Prinzen die dreiste Bitte, er möge die Rolle des Vorsängers übernehmen. Witz lehnte der Prinz ab:
Mit schlagfertigem
„Fürst bin ich schon und ein Fürst von Toren
möchte ich nie genannt werden!" — Die Ferientage benutzte er zu Ausflügen nach den norddeutschen Hauptstädten, wo er besonders die Denkmale der Kunst und des Altertums studierte. Mehr als die schuldige Aufmerksamkeit eines Schülers, begeisterte Ver ehrung brachte er dem Geschichtschreiber Johannes Müller entgegen, dessen Werke seine Lieblingslektüre noch im späten Alter blieben, wie sie ihrer Gefühls wärme und ihres deutschen Patriotismus halber das Ideal seiner Jugend waren. Erst im Jahre 1806 trat er dem verehrten Meister persönlich näher. Die Briese, die in der Folge zwischen dem jungen Königssohn und seinem Ratgeber gewechselt wurden, sind für beide ein ehrendes Zeugnis. Auch nach Beendigung der Universitätsstudien hielt Ludwig seine Lehr jahre nicht für vollendet. Der treffliche Jakobi wurde beauftragt ihm über
griechische Geschichte und Literatur Vorträge zu halten und lateinische Klassiker mit ihm zu lesen, ein Auftrag, der dem Lehrer, wie er in seiner Selbstbiographie sagt, „Gelegenheit gab ihm nah genug zu treten um das edle Blut des Kronseder, Lesebuch»zur Geschichte Bayerns.
27
76. König Ludwigs I. Jugendzeit und Lehrjahre.
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Wittelsbachischen Stammes in ihm zu erkennen, seinen Eifer Kenntnisse zu
sammeln, seinen Ernst in wissenschaftlichen Beschäftigungen, die lebendige Achtung, die er gegen alles Große und Schöne hegte, sein Streben nach Großem und Ruhmwürdigem, seinen Haß endlich gegen Gewalttätigkeit und Unrecht zu lieben
und zu bewundern".
Auch der gelehrte Thiersch stand mit dem Prinzen in
regstem Gedankenaustausch über hellenische Kunst und Geschichte.
Ludwig blieb stets ein eifriger Freund klassischer Lektüre. Thiersch schreibt 1826 an Lange: „Als ich das letzte Mal den König in seinem Kabinett sprach, einem kleinen Gemach mit einem Fenster, in dem man sich vor der Menge Skripturen und Konvolute, Portefeuillen und Bücher kauin umdrehen kann, sagte er über seine griechischen Studien:
„Da liegen meine alten guten Freunde
Herodot und Homer neben mir zwischen den Papieren. Sonst habe ich zwei, drei Stunden täglich Griechisch gelesen. Sie haben es mir übel genommen.
Hätte ich noch einmal soviel Zeit am Spieltisch zugebracht, .das wäre in der
Ordnung gewesen, aber zwei Stunden lang Homer und Thukydides lesen, das war ein unverzeihliches Betragen. Jetzt findet sich die Besserung von selbst; nur in kleinen Zwischenräumen komme ich noch darüber, so von einem Portefeuille zum anderen; doch es wird schon besser werden." Da der Prinz für Reiten und Jagen keine Vorliebe hatte und auch an den militärischen Übungen nur selten, um dem Wunsche des Vaters nach zukommen, teilnahm, konnte er neben den gelehrten Studien noch manche Mußestunde der Lektüre der deutschen Dichter widmen. Früh war, wie Platen
singt, die Schönheit seines Gemüts Bedarf und nicht vergeblich sog er mit Emsigkeit das tiefste Mark altgriechischer Bildung ein. Schiller und Goethe
namentlich ehrte er als die Dichterfürsten.
Oft pflegte er zu äußern, er habe
nur deshalb gewünscht ftüher auf den Thron zu gelangen um seinem Lieblings
dichter Schiller eine sorgenfreie Existenz und namentlich die Mittel zu einem längeren Aufenthalt in Italien bieten zu können. Den Toten ehrte er noch dadurch, daß er aus eigenem Antrieb bei einem Enkel Schillers Patenstelle übernahm.
Zu Goethe trat er später in ein innigeres Verhältnis.
Wenn Ruhe und Stille dem inneren Sein ein freieres Walten gestatteten, versuchte der Prinz auch selbst Spiegelbilder seines eigenen geistigen Lebens
in poetischer Form zu geben.
Diese Dichtungen des Prinzen wie des Königs
bieten nicht nur den dankenswertesten Beitrag zur Charaktergeschichte — sie enthüllen uns die Lebensfragen, die an den Dichter herantraten, und die Lösung, die er diesen Rätseln abgewann — sondern enthalten überdies eine Fülle echter Lebensweisheit.
Ludwig war kein Dichter, aber der hohe Adel der Ge
sinnung und die Geistesschärfe, die in seinen Gedichten zum Ausdruck gelangen, zeigen uns, daß er verdiente König zu sein.
77. Ein Brief an Kaiser Franz I. von Österreich von Kronprinz Ludwig.
41U
77. Lin Vries an Kaiser Franz I. von Österreich von Kronprinz Ludwig?) Durchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser,
freundlich vielgeliebter Herr Bruder und Better!
Vertrauensvoll wende ich mich zu Euerer Kaiserlichen Majestät, hierin« bestärkt durch die gütige, und ich darf sagen, liebevolle Aufnahme, so mir von Höchstderselben in Heidelberg wurde. Voriges Jahr war die Gelegenheit, nun,
fast wunderbar, ist sie von neuem, und dann wohl nie mehr, wieder zu erlangen,
was durch Verrath und Waffenglück Franzoßen von unserm Vaterland an sich
gerissen.
Aufrichtigkeit lieben Euere Kaiserliche Majestät, und aufrichtig sage
ich meine Meinung für am zweckmäßigsten zu halten, sich nicht in lange Unter handlungen einzulassen, als worinn die Franzoßen gefährlich, sondern in Paris zu erklären, was man will. Ruhmvolleres hat noch nie ein Kaiser vollbracht, als wenn Euere Majestät machen, daß nebst den int letzten Frieden erhaltenen Bezirken Elsaß, Lothringen nebst Metz, Toul und Verdun, die in jenem ein geschlossen, von Frankreich gesondert werden, wonach dieses immer noch größer
bleibt, als es war, da es Deutschland verderblich wurde. Darum beschwöhrc ich Euere Kaiserliche Majestät, daß wenigstens Elsaß mit Deutsch-Lothringen
und das Vogesen-Departement doch wieder Teutsch werden; es wäre zu traurig, wenn dieses nicht geschähe, Südtentschlands Gränzen ferner jedem Einfall offen
stünden.
Es waren, sind und bleiben Deutschlands Feinde die Franzoßen,
welche Familie sie auch regiere.
Obiges erwarten die Teutschen,
und daß
Frankreich die Kriegskosten zahle, wie daß es angehalten werde zur Rückgabe
dessen, was es in Europa geraubt an Kunst- und Wissenschaftlichen-Werken. Ich sage dieses, obgleich Baiern sehr wenig Bedeutendes nur verlohr.
Es
ziemt mir vielleicht nicht, mich so gegen Euere Kaiserliche Majestät zu äußern, aber Höchstdero Wohlwollen gegen mich und die Tugend, welche Euere Majestät nebst so vielen andern besitzen, Offenherzigkeit zu lieben, ließen mich dieses
schreiben.
Vergebung, wenn ich gefehlt.
Höchstdieselben um Dero fernere Ge
wogenheit ersuchend verbleibe ich
mit vorzüglichster Hochachtung und dienstwilligster Ergebenheit
Euerer Kaiserlich Königlichen Majestät! Dienstw., ganz ergebenster Bar le Duc den 3ttn
Bruder, Vetter und Diener
Julii ii 1815.
Ludwig, Kronprinz. Format 4°.
') Wiener Staatskanzlei, Bayern, Hofkorrespondenz.
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79. An Herrn Mac Jver, meines Erstgebornen Erzieher.
78.
NachLlage (1816).
Don Kronprinz Ludwig. *)
Nur die Leiden habe ich getragen, Um das Vaterland den tiefen Schmerz, Seine Schlachten durste ich nicht schlagen, Ach! vergeblich sehnte sich mein Herz. Wie die übersehungslosen Wogen Kamen Völker kämpfend hergezogen, Alles schimmerte in Waffenglanz, Ich allein entbehr' den Siegeskranz. Kriege mag es viele künftig geben, Doch ein solcher kommt uns nimmermehr, Nie von neuem dieses heil'ge Streben, So ein gottbeseeltes, hohes Heer.
Freudig hatte sich's geweiht dem Sterben Um der Heimat Freiheit zu erwerben, Zu des Wütrichs Sturz vom Erdenthron Eine Palme nur verlangt zum Lohn.
Ihr seid glücklich, die ihr fielt im Glauben An des deutschen Sinnes neue Macht, Welchen unsre Tage gräßlich rauben, Niemals aus dem Traume ihr erwacht. Und in jenen befiern, schönern Wellen Lohnet euch das ewige Vergelten; Aber Trauer immer mich umragt, Denn mir wurde jener Kampf versagt.
79. An Herrn Mac Jver, meines Erstgebornen Erzieher. Unterrichtsinstruktion vom Jahre 1817 von Kronprinz Ludwig?)
Vor Allem die Bezeugung meiner Zustiedenheit mit der, schon in der kurzen Zeit, daß Sie bei meinem Sohne sind, bewirkten vorteilhaften Ver änderung.
Was den Unterricht betrifft, setze ich Folgendes fest: Von Anfang
November bis Ende Dezember (Sonntag und Feiertag ausgenommen) täglich zwei halbe Stunden, in welchen Sie ihn werden lesen lernen.
Ich sage zwei
halbe Stunden, weil sie nicht in dieselbe Tageszeit fallen dürfen; dieses gilt
für alle folgende Unterrichtszeit gleichfalls.
Januar bis Februar täglich zwei
Dreiviertelstunden; März bis Juni täglich zwei Stunden. Mit dem Monat März kann auch nebst dem täglich eine Viertelstunde, aber nicht sitzend, sondern im Zimmer auf- und niedergehend, mit dem Kopfrechnen zu lernen verwendet werden, aber zu keiner bestimmten Zeit im Tage. Mit dem Monat März hat der förmliche Religionsunterricht, den Sie gleichfalls erteilen werden, zu
beginnen, und im Juni, die vom Hofbibliothekar Lichtenthaler zu geschehende
Unterweisung im Klavierspielen, welches beide auch in zwei zum Unterrichte festgesetzten Stunden zu verrichten; von welchem im Juni zum Klavier täglich eine Viertelstunde zu
nehmen.
Dieses gilt,
bis ich
anders
bestimme.
In
welchem dieser Monate Sie es für geeignet finden, beginnen Sie meinem Sohne kleine Fabeln und Erzählungen auswendig lernen zu lassen. Das Gedächtnis,
was für einen Fürsten so wichtig ist, muß geübt, muß geschärft werden. Dahin streben Sie, daß religiöses Gefühl meinen Sohn durchlebe, wie
das Blut den Körper, so jenes die Seele. Gottesfurcht, mehr noch Gottesliebe *) „Gedichte des Königs Ludwig von Bayern", I. Band, S. 198. München 1829, Cotta. ') Vgl. Karl Theodor v.Heigel: „Ludwig I., König von Bayern", S. 65. Leipzig 1872, Duncker & Humblot.
79. An Herrn Mac Jver, meines Erstgebornen Erzieher.
fühle er, Liebe ist das Höchste.
421
Teutsch soll Max werden, ein Bayer,
aber teutsch vorzüglich, nie Bayer zum Nachteil der Teutschen!
Wie die Briten sind wir Teutsche, und noch ein Volk, obgleich unter mehreren Fürsten. — Was mein Sohn verspricht, das halte er, der zu gewöhnen ist,
nicht leichtsinnig zu versprechen. Zuverlässigkeit ist eines jeden Menschen, vorzüglich aber eines Fürsten seiende Haupteigenschast. Zutrauen macht stärker noch als Heere, aber es muß verdient werden.
Abneigung flößen Sie meinem
Sohne gegen Frankreich, Teutschlands Erbfeind, und gegen das französische Wesen
(unser Verderben) ein! Wie kann ein Teutscher Frankreich Freund sein? So lange es wenigstens Elsaß noch von Teutschland abgerissen, unterworsen behält, von Teutschland, zu dem es gehört und durch Sprache und Lage immer gehören
soll. — Mensch im höheren Sinne des Wortes muß mein Sohn werden, Mensch und Christ (der veredelte, zur Vollkommenheit strebende Mensch ist Christ,) er achte die Menschheit und liebe die Menschen. Achtung gegen das Alter, Anhänglichkeit an das Alte, wenn es nicht schädlich, bekenne derselbe, überhaupt nichts Bestehendes zu ändern, wenn dieser Grund nicht obwaltet.
Gegen Selbstsucht (Egoismus), die Pest unserer Zeit, ist sehr bei Max zu arbeiten.
Gehorsam gegen den König,
gleichviel
wer die Würde
bekleidet,
ist ihm einzuprägen, Gehorsam, Verehrung und Liebe gegen seine Eltern. Das fehlte nie, und wird nie fehlen, daß sich Leute zwischen den regierenden Vater und den thronerbenden Sohn zu stellen trachten; darum kann das
herzliche, innige Band zwischen beiden nicht fest genug geschlungen werden, nie
des Sohnes Aufrichtigkeit dem Vater zu viel sein. Keine Vorlesungen sind über diese Gegenstände zu halten, aber im täglichen Leben, bei den so oft sich ergebenden Gelegenheiten einzuprägen, daß es zu einem eigenen Gefühle, zu eigener Denkweise werde.
Darauf werde gehalten, daß mein Sohn sich wirklich
beschäftige, seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand anhaltend richten lerne.
Auf Wahrheit werde unerbittlich strenge gehalten. Obgleich Du mir angenehm klingt, soll dennoch bewirkt werden, daß
Max, wenn ich zurückkomme, nur Sie zu mir sage; wenn es schon gegen
andere Väter ratsam ist, bestehet dieses um so mehr gegen den fürstlichen Vater, der wahrscheinlich Herrscher einstens wird, den König uub Vater ver einigend. — Die Sinne, Ohr und Augen, vornehmlich letztere, sollen auf Spaziergängen einstimmig, und nur daß es meinem Sohne Freude gewährt,
geübt werden.
Wann mein Sohn Griechisch und Latein, was von Lichtenthaler,
Englisch, was von Ihnen wird gelehrt werden, beginnen soll, wie überhaupt, was andere Unterrichtsgegenstände betrifft und von wem solche vorzutragen, werde ich künftig bestimmen,
der ich meine Zufriedenheit mit Ihnen wieder
holt bezeuge und meine Freude, Mac Jver gefunden zu haben. Würzburg, 6. Oktober 1817.
Ludwig, Kronprinz.
81. Die Walhalla.
422
80. Die hohle Weide. (Herbst 1832.) Don Friedrich Rückert.')
Der Morgentau verstreut im Tale Sein blitzendes Geschmeide, Da richtet sich im ersten Strahle Empor am Bach die Weide.
Sie weichen auseinander immer Und wer sie sieht, der schwöret, Es haben diese Stämme nimmer Zu einem Stamm gehöret.
Im Nachttau ließ sie niederhangen Ihr grünendes Gefieder Und hebt mit Hoffnung und Derlangen Es nun im Frührot wieder.
Doch wie die Lüfte drüber rauschen, So neigen mit Geflister Die Zweig' einander zu und tauschen Noch Grüße, die Geschwister;
Die Weide hat seit alten Tagen So manchem Sturm getrutzet, Ist immer wieder ausgeschlagen, So ost man sie gestutzet.
Und wölben überm hohlen Kerne Wohl gegen Sturmes Wüten Ein Obdach, unter welchem gerne Des Liedes Tauben brüten.
Es hat sich in getrennte Glieder Ihr hohler Stamm zerklüftet Und jedes Stämmchen hat sich wieder Mit eigner Bork' umrüstet.
Soll ich, o Weide, dich beklagen, Daß du den Kern vermissest, Da jeden Frühling auszuschlagen Du dennoch nie vergissest ?
Du gleichest meinem Daterlande, Dem tief in sich gespaltnen, Don einem tiefern Lebensbande Zusammen doch gehaltnen.
81. Die Walhalla. Don Karl Theodor von Heigel?)
Als den schönsten Festtag seiner langen Regierungszeit bezeichnet Ludwig selbst den Tag der Grundsteinlegung zur Walhalla. Am 2. Oktober 1808
hatte der Jüngling an Johannes Müller geschrieben:
„Walhalla ist kein Werk
für einen Kronprinzen, wäre zu kostspielig; soll ich einst König werden, errichte
ich es!"
Seit dieser Zeit aber waren in seinem Auftrag durch Künstlerhand
nach und nach die Brustbilder der berühmtesten Deutschen geschaffen worden. Der Platz für die Halle wurde schon 1810 bei Gelegenheit eines Besuches
des Fürsten Taxis gewählt. Im Herzen Deutschlands, nördlich von der ehr würdigen Karolingerstadt Regensburg, von der Goethe sagt: „Es liegt gar schön, schon die Gegend mußte eine Stadt herbeilocken!", bis zu dem alten
Stauf hinab,
wo
einst Albettus Magnus die
geheimnisvollen Gesetze der
Naturkräste zu ergründen strebte, zieht sich eine langgestreckte Hügelkette längs v) „Gesammelte Werke" III, S. 33.
Leipzig 1897, Gustav Fock.
„Ludwig I., König von Bayern", S. 106 ff.
81. Die Walhalla.
423
des schönen Donaustromes hin. Eine isoliert sich erhebende Höhe, der Breuberg, sollte das Gebäude tragen. „Groß muß es werden," schrieb Ludwig an Müller, „nicht bloß kolossal im Raume, Größe muß auch in der Bauart sein, nicht
zierlich und hübsch, hohe Einfachheit, verbunden mit Pracht, spreche sein Ganzes
aus, würdig werdend dem Zweck!" Bauplan betraut. dorischen
Peristyl
1821 wurde Leo von Klenze mit dem
Er entwarf den Riß zu
umzogen,
und Ludwig
einer Tempelhalle, von einem seine Einwilligung. Wohl
gab
ivurden schon damals Wünsche laut, die für die deutsche Walhalla einen Bau in altdeutschem Stil forderten, doch ließ sich nicht ohne Berechtigung entgegnen,
ein gotisches Münster sei eben wieder nicht passend zur Aufnahme von Büsten nach antiken Vorbildern. Endlich gedieh der Plan zur Reife. Am Jahrestag der Leipziger Schlacht 1830 zog eine festlich geschmückte Flottille von Regensburg stromabwärts.
Auf beiden Ufern jubelte eine un
ermeßliche Volksmenge, von der Stadt tönte feierlicher Glockenschall herüber,
Böllerschüsse krachten, denen das Echo der Hügel antwortete. Auf der aus erwählten Stätte hinter Donaustauf sammelte sich der Kreis der Geladenen.
Eduard v. Schenk hielt die Festrede, dann machte der König selbst die üblichen
drei Hammerschläge.
„Möchten in dieser sturmbewegten Zeit," sprach er dabei,
„fest, wie dieses Baues Steine vereinigt sein werden, alle Deutschen zusammen
halten !" Von nun an regten sich tausend fleißige Hände am Donaugestade, der königliche Gedanke wurde rasch zur Tat.
Auch bei diesem Gebäude wurde
wie bei der Glyptothek den drei Schwesterkünsten Gelegenheit geboten vereinten Kräften zu wirken.
Durch
die Anwendung
mit
der Lithochromie int
Innern wurde jene harmonische Pracht erzielt, die auf jeden Beschauer er greifenden Eindruck ausübt und ihn leicht vergessen macht, daß in der Mischung
römischer und griechischer Details in der Halle innere Widersprüche vorlicgen. Die Bildwerke in den äußeren Giebeln, die Besiegung der Römer und der
Franzosen durch die Deutschen darstellend, gehören zu den bedeutendsten Marmor gruppen, die seit Jktinos' und Kallikrates' Zeit überhaupt wieder erstanden.
Wie läßt sich ihnen gegenüber am Vorwurf festhalten, Schwanthalers Werke seien nur für den Guß, nicht für den Marmor geschaffen!
Mit ihrem Bildner
ringen Joh. Martin Wagner, der im Saalfries die Entwickelung des deutschen
Kulturlebens darstellte, und Christian Rauch durch seine lieblichen Ruhmes genien um die Palme. Das prächtige eiserne Hängewerk der Decke ist nach Schinkels Idee gefertigt. Für die Auswahl der Namen und Bildnisse, die in die Halle der Ver klärten ausgenommen werden sollten, blieben im allgemeinen die Bestimmungen
des Geschichtschreibers Johannes Müller vom Sommer 1807 maßgebend. Während sich damals, nach dem Siege bei Friedland, in der norddeutschen Hauptstadt französische Frivolität breitmachte, die französischen Marschälle in den Palästen
unter den Linden residierten und auf dem Exerzierplatz Feuerwerke abgebrannt
81. Die Walhalla.
424
wurden, die den Ruhmestempel Napoleons im Strahlenglanz erscheinen ließen,
in jenen Tagen der tiefsten Erniedrigung Deutschlands hatte der bayerische Prinz den Entschluß gefaßt dem deutschen Genius diesen Ehrentempel, seine
Walhalla, zu bauen.
„Es macht den Eindruck," sagt Döllinger, „wie wenn
ehedem römische Senatoren dem von der Niederlage bei Kannä heimkehrenden Konsul Varro entgegengingen und ihm bansten, daß er doch am Vaterland nicht verzweifelt habe." Schon bei einem früheren Besuch in Berlin (Neujahr 1807) lenkte er seine ersten Schritte zu Schadow um für seine Walhalla eine Büste
Friedrichs des Großen in Auftrag zu geben.
Außer bei Schadow bestellte
Ludwig dann noch bei Rauch, Tieck und Wichmann Büsten deutscher Geistes heroen. Während selbst die edelsten Patrioten trübe resignierten, hatte Kronprinz Ludwig niemals das Verttauen verloren aus die geistige Kraft des Volkes, die früher oder später das Vaterland wieder aufrichten, das Gefühl der Zusammen
gehörigkeit wecken müsse. Damals, als der Prinz täglich gezwungen war mit Betthier, Ney und anderen französischen Marschällen in Berührung zn kommen,
war das Gedicht entstanden: „Auf, ihr Teutschen, sprengt die Ketten, Die ein Korse euch hat angelegt;
Eure Freiheit könnet ihr noch retten, Teutsche Kraft, sie ruhet unbewegt . . .
Auch auf den Wunsch des Prinzen war Joh. Müller eingegangen, „alle diese Männer, nicht gelehrt, ohne alles Zitat, aber mit lebendiger Vorstellung
dessen, was jeder war und was zu sein er uns lehrt, aufzuzeichnen".
Doch
starb Müller, bevor er 'den Plan ausgeführt hatte, und Ludwig übernahm nun selbst die Abfassung kurzer biographischer Skizzen über die „Walhalla
genossen". Man mag den Stil barock nennen und den einen und anderen Verstoß gegen die Geschichte tadeln, aber man muß der Objektivität des Ver
fassers Gerechtigkeit widerfahren lassen. Zwölf Jahre nach der Grundsteinlegung, wieder am Jahrestag des Leip
ziger Befreiungskampfes,
tempels.
öffneten sich die ehernen Tore des deutschen Ehren -
Unter den Klängen des von Stunz komponierten Walhallaliedes
schritt der König mit großem Gefolge die majestätische Marmortreppe hinan. Das Gelübde, das er vor 35 Jahren nach der Schlacht bei Jena den zürnenden Walküren geleistet, war gelöst. Auch bei dieser Feier gab er dem Wunsche
Ausdruck, Walhalla solle vor allem zur Erstarkung deutschen Sinnes beitragen. Im Jahre 1830 war auch für ein einiges Dentschland kaum mehr als der Grund stein gelegt. Im Laufe der folgenden zwölf Jahre war an dem Bau nicht lässig fortgearbeitet worden, obwohl ein ausschweifender Partikularismus in gleicher Weise wie das Streben nach unbedingter Einheit, das sich zu anarchischer Tendenz verirrte, die Entwickelung der Einheitsidee schädigte. Aber es waren doch wenigstens die Glieder des deutschen Volkes nicht mehr durch Zollschranken
zerrissen und die deutsche Bewegung im Jahre 1840 hatte gezeigt, daß die
425
81. Die Walhalla.
Widerstandskraft dieser Nation trotz der schwachen Form ihrer Vereinigung
nicht mißachtet werden dürfe. Ein Herbsttag im Jahre 1870 neigte sich schon zur Rüste, als der Ver fasser den Eichenwald durchschritt, der die Walhalla auf der Landseite bis zum Gipfel des Berges den Blicken verbirgt, und endlich die herrliche Halle vor
sich liegen sah. „Tretet ein! Man vergißt die Walhalla nie.
Auch hier sind Götter."
Der Kunstkritiker Hermann Riegel, den man
nicht der Parteilichkeit für den königlichen Bauherrn oder für den Architekten zeihen wird, gesteht: „Mir ist die Walhalla, deren Lage schon an Ägina er innert, stets wie ein Tempel des Zeus Pangermanikos erschienen, wie ein wirkliches Heiligtum deutscher Ehre, in dem man Andacht üben kann!" Welche
Erinnerungen werden wach, wenn wir die langen Büstenreihen überblicken! Hier das energische, der Kaiserkrone würdige Haupt Friedrich Barbarossas,
dort der herrliche Dürerkopf, der männliche Scharnhorst, der häßliche und doch so anziehende Kant! Die letzten Sonnenstrahlen brachen eben durch das Dach werk und beleuchteten die Bildnisse Steins und Gneisenaus; allmählich zog sich ihr Schimmer hinüber zu dem ernsten Lutherbild.
Trittst du hinaus durch die Erzpforte, welch reizendes Bild!
Weithin
in der Ebene ein Kranz von Dörfern, deren Namen das altdeutsche Gepräge nicht verleugnen, zu beiden Seiten Hügelgebilde, von Hopfen und Reben über rankt, und mitten in dunkelm Forst, vom dämmernden Himmel sich geisterhaft
abhebend, die weiße Marmorhalle mit dem hell schimmernden Treppenbau! Das Rauschen
der Donau,
von alter Macht
in der sich schon die Sterne spiegeln,
und Herrlichkeit;
erzählt
die feierliche Stille einer heiligen Ein
samkeit lockt in Träume. Zur Walhalla schreiten die Götter auf dem Iris bogen über den Strom. Wie sich Helena und ihre Gespielinnen beim Anblick
der Ritterburg,
die
Phorkyas
ihnen
zeigt,
scheuer
Furcht
nicht
erwehren können, so staunen auch die Schutzgötter Germanias ob der fremd artigen Pracht. Da blitzen in der nahen Stadt feurige Garben auf!
Der Dom, dessen
himmelanstrebende Türme der Erbauer Walhallas vollenden half, steht in einem Feuermeer.
Die Stadt, in welcher Ludwig der Deutsche begraben liegt, feiert Das Aufleben
ein deutsches Siegesfest und die Wiedergeburt des Reiches.
der alten nationalen Begeisterung half den deutschen Waffen zum Sieg. Dank
den Fürsten, die sich als Träger der nationalen Idee bewährten, ist als schönstes Siegesmal ein starkes, glückliches Deutschland wieder erstanden, —
die edlen Wünsche des Gründers des nationalen Heiligtums Walhalla sind zur Tat geworden.
82. Walhalla.
426
82. Walhalla. Don Martin Greif?) Auf Walhallas Stiegen Satz ich einsam da, Alle Fluren schwiegen
Fern und nah. Nur die Amseln sangen Drüben noch im Wald, Abendglocken klangen
Und verstummten bald.
Rosenrot umflossen Fern der alte Dom Und der Mond ergossen Auf dem Strom. Leuchtende Gestalten Iiehn zum Tempel hin, Hohe Kränze halten Die Viktorien drin.
Die Viktorien bieten Hohe Kränze dar, Stille herrscht und Frieden Wunderbar. Aber nah und ferne Lebenshauch und Drang, Keimen goldner Sterne Sonnenuntergang!
In die weh'nden Lüfte, In den ros'gen Strahl, In die Bergesklüfte, In das Tal! Atmen, wandeln, weben Könnt ihr droben nicht, Alles ist das Leben, Alles ist das Licht.
Blauer Wellen Blinken, Grüner Donaustrand! Duft'ge Schleier sinken Auf das Land. Helden! Sänger! Meister! Wär's nicht einz'ges Glück, Führten sel'ge Geister Euch zu uns zurück?
83. Gedanken Jean Pauls über feine Jett. Von Hans Probst.*
Die ersten Werke Jean Pauls bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hinein sind voller Spott über das morsche Reich: er geißelt den Druck der kleinen Fürsten und ihre Soldatenspielerei, die unkriegerischen Reichstruppen und die verknöcherte Rechtspflege; er schildert mit bitteren Worten das Leben
der unfreien Bauern; nur die Reichsstädte nennt er die „deutschen Niederlassungen
und Absteigequartiere der Göttin der Freiheit." Ebenso unbefriedigt zeigt er sich als Beobachter der Ereignisse in Frankreich, „wo Revolutionen sich durch
die Revolution wälzen und der Staat ein Meer wird, dessen Bewohner sich bloß fressen und jagen;" er findet, daß die Revolution „wie eine weite, elektrische Wolke die Kröten und die Frösche und den Staub in die Höhe zog, indes sie die erhabenen Gegenstände umschlug." Die Koalitionskriege machen seine
Seele „beklommen vom Bedauern des edlen, kriegerischen Blutes."
In der
„Huldigungspredigt vor und unter dem Regierungsantritt der Sonne, gehalten am Neujahrsmorgen 1800“ ruft er das Lichtgestirn an:
„Ziehe dem Jahr
hundert, diesem wilden Titan, das Schwert aus der Hand und gib ihm deinen geheiligten Ölzweig ins Grab! Wie, war nicht seine letzte Bahn wie
die
einer Königsleiche mit Trauertuch
belegt und
wird es nicht wie diese
unter Kanonen eingesenkt? — Gib uns Liebe und Friede, Mutter des Lebens und der Wärme!" *) Gesammelte Werke, L, S. 297.
Leipzig 1895 •
83. Gedanken Jean Pauls über seine Zeit.
427
Das einzige, was ihn über die verstimmende Gegenwart erhebt, sind große Menschen. Sein deutscher Held ist Friedrich der Große, bei dessen Hinscheiden er schreibt: „Gewisse Menschen bringen auf einmal die ganze Menschheit vor unser Auge."
Lichtgestalt.
In der französischen Revolution ist ihm Charlotte Corday eine
„O selig," ruft er noch 1801 in dem Aussatz über diese Heldin
aus, „selig ist der, welchem ein Gott eine große Idee beschert, für die allein er lebt und handelt, die er höher achtet als seine Freuden, die, immer jung und wachsend, ihm die abmattende Eintönigkeit des Lebens verbirgt." Ohne solche hohe Geister wäre ihm das Leben schal. „Es erscheine ein Jahrhundert
lang in einer Literatur kein Genie, in einem Volke kein Hochmensch:
kalte Wasserebene der Geschmack- und Sittenlehrc! ...
welche
O, ich möchte in
keinem Leben leben, das kein großer Geist anrührte und durchgriff!"
Ebenso
beurteilt er anfänglich den ehrgeizigen Korsen. „Alle Größen und Berge in der Geschichte, an denen nachher Jahrhunderte sich lagerten und ernährten, hob das vulkanische, anfangs verwüstende Feuer solcher Übermenschen, z. B.
Bonaparte Frankreich . . . kühn auf einmal aus dem Wasser."
„Wer nun
diese Kraft besitzt, hat das Gefühl derselben oder den Glauben und darf unter
nehmen, was für den Zweifler Vermessenheit und Sünde wäre bei seinem Mangel des Glaubens und folglich auch der Kraft."
Unwillkürlich zieht er
zwischen ihm und den deutschen Heerführern seine Vergleiche. „Zur französischen Kriegskraft gehört ihre geistige Jugend und ihre Wahl der körperlichen; beides
führt wieder zur sieghaften Schnelle.
Wenn bei den Deutschen ein Mann
nicht eher einige Regimenter befehligen und stellen durfte, als bis er selber
kaum mehr stehen konnte — kurz, wenn man, den Fürsten ausgenommen, nicht früher ein Heer weise anführen konnte, als bis man mehrere Millionen Male rasiert geworden, so ahmen die Franzosen mehr den Griechen nach, welche den Mars ganz jung und ohne Bart darstellten."
Roch erwartet er, der Kriegsmeister werde sein Werk als Friedensfürst krönen.
Im Februar 1808 schreibt er in der „Friedensprcdigt": „Es ist eine
vorteilhafte Erscheinung, daß die Natur allen großen Helden — von Alexander und Cäsar an bis zu Karl dem Großen und Friedrich II. und Napoleon herüber — gleichsam als einen Wundbalsam für verblutete Völker Liebe und Eifer für die Wissenschaft auf die verheerende Laufbahn mitgegeben." Er meint Anzeichen davon zu sehen. „Der Knoten lösende Maschinengott Europas
hat durch mehrere neueste Schritte kundgetan, daß er nichts als Frieden brauche
und ihn künftig über Erwarten bewahren werde um Friedrich den Einzigen zum zweiten Male zum Muster zu nehmen. Im Krieg ist Friedrich II. nicht der Einzige; bleib' er's auch im Frieden nicht und werd' er nicht nur erreicht
sondern auch übertroffen! — Und dann ist die Welt beglückt und ihre Ver wundung entschuldigt!" Doch bereits 1809 schwindet ihm sichtlich diese Hoffnung. In dem Aufsatz „Kriegserklärung gegen den Krieg" heißt es: „Was dem
Frieden die Wohltaten verfälscht und schmälert, ist eben, daß er alte Kriegs-
83. Gedanken Jean Pauls über seine Zeit.
428
wunden zu verschließen und zu neuen auszuholen hat.
Wollte ein großer
Staat nur die Hälfte seines Kriegsbrennholzes zum Bauholze des Friedens
verbrauchen; wollte er nur halb soviel Kosten aufwenden um Menschen als
um Unmenschen zu bilden, und halb soviel sich zu entwickeln als zu ver wickeln: wie ständen die Völker ganz anders und stärker da! Wie viel mehr hat das kleine, ftiedliche Athen für die Welt getan als das würgende Riesen-
Rom!"
Deutlich klingt schon der warnende Hinweis auf das Schicksal der
großen Eroberer durch: „Immer glitten die durchstochenen, durch ein Schwert aneinander gereihten Länder wieder davon ab, sobald die blutschwarze Hand,
die es hielt, sich vor dem Tode senken mußte."
Offenbar anspielend auf den
unersättlichen Soldatenkaiser schreibt er: „Alexander hätte sich gewiß nicht mit dem winzigen Trabanten der kleinen Erde begnügt, dem Monde, wenn
er eine Aufziehbrücke dahin gefunden hätte, sondern er wäre gerade auf die Hauptstadt des hiesigen Planetenreiches, auf die Sonne, losgegangen und hätte daselbst, nach der Eroberung, Kriegskarten vom Hundsstern verlangt." Auch in anderer Hinsicht vollzieht sich in Jean Paul eine Wandlung.
Er hörte in Bayreuth in den ersten Oktobertagen 1806 die vor seinen Fenstern
„vorübergetragene Kriegsmusik,
welche mit ihrem Freudenanklang das Herz,
wider dessen Vaterland sie zog, schmerzlich seltsam teilte;" er durchlebte eine Zeit, „wo die Kanonen die Stunden schlugen und die Schwerter sie zeigten;" nun steht er dem Vaterlande nicht mehr mit kaltem Spott gegenüber, sondern nimmt wärmsten Anteil.
„Der Krieg hat über Deutschland ausgedonnert,
. . . mit den deutschen Wunden sind zugleich auch die deutschen Ohren offen; daher rede Heilsames, wer es vermag! ... Oftmals sind Länder vorbereitet und umgepflügt mit Schwertern, gedüngt mit Blut — und bleiben doch brach,
weil der Geist nicht kommt, der den guten Samen aussäet, sondern bloß der Feind mit Krallen voll Unkraut. . . . Noch hat uns . . . das Unglück nicht so viel Vaterlandsliebe gegeben, als das Glück den Franzosen davon gelassen, ja
zugelegt." Aber nicht in Vorwürfen will er zu seinem Volke sprechen, sondern tröstend und aufmunternd. Nach Jahren sagt er einmal: „Übrigens geht
durch alle meine politischen Aufsätze, von des ersten Konsuls Drucke an bis zu des letzten Kaisers Drucke, etwas ungebeugt und aufrecht, was ich jetzo am
liebsten darin stehen sehe — die Hoffnung."
(Fastenpredigten 1816.)
Er
schlägt schon 1808 in der Vorrede zu seiner Friedenspredigt diesen Ton an.
„Wir brauchen vielerlei Hoffnungen; schon das Glück kann ohne diese nicht genossen werden, geschweige das Unglück getragen oder geheilt. In jedem Falle ist Hoffen besser als Fürchten."
Eine Hoffnung ist, daß nun die Deutschen ihre alten Schwächen ablegen. „Der Krieg ist die stärkende Eisenkur der Menschheit, und zwar mehr des Teils,
der ihn leidet, als des, der ihn führt.
... So muß der Krieg den nächsten
Zeiten mehrere wahre Männer zugebildet und zurückgelassen haben und dem Vesuve gleich geworden sein, nach dessen Aschenwürfen (das Kriegsfeuer liefert
H3. Gedanken Jean Pauls über sein« Zeil.
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ja Häuserasche und Menschenasche genug) der anfangs durch sie erstickte Pflanzen wuchs üppig emporschießt. — Und was begehren wir mehr für die Zukunft als Männer?" Man muß sich in die neuen Verhältnisse einleben. „Neue Staats schiffe lassen wie neue Boote noch Wasser ein, bevor sie zugequollen sind."
„Wir wohnen jetzt noch im Baugerüste der Zeit — und freilich ist ein Gerüste
nicht die bequemste Wohnung.
Aber unsere vorige war ja noch zerlöcherter
und durchsichtiger als irgend ein Gerüste, gleichsam nur das Gerüste zu einem Gerüste." In die Abhängigkeit unter Frankreich muß man sich zunächst finden,
so gut es geht. „Seit den letzten Kriegen teilen wir wieder gern den gemein schaftlichen Namen Franken und erinnern uns aus der Geschichte, daß die Mehrheit in Frankreich nicht Gallier, sondern versetzte Germanen sind." Freilich ist das nur ein Scheintrost; wichtiger sind ihm die ersten sichtbaren Zeichen beginnender Verjüngung. Seine im Anfang des Jahres 1809 geschriebenen
„Dämmerungen" sprechen dies deutlich aus. „Als der Donner in Lykurgs Grab einschlug, galt es für ein günstiges Zeichen. In Potsdam fuhr der Strahl in das Grab eines ähnlichen kriegerischen Gesetzgebers; auch hier erscheint es als kein
böses Zeichen, indem er daraus zwar nicht den Gesetzgeber, aber doch verklärte Gesetze aufweckte." „Das Kriegsfeuer hat gewiß etwas Besseres entzündet als Häuser, nämlich Herzen für Deutschland.
Es finden deutscher Norden und
deutscher Süden — bisher so widerspenstig einander eingcwachsen zu einem Reichskörper als zuweilen Zwillinge am Rückgrate zu einem Leibe — und
ferner die deutschen Zwischenstaaten finden sich einander jetzt verwandter, zu
sammentreffend auf demselben Dornensteig von Leiden und auf der Wett- und Rennbahn ähnlicher Selbstverbesserung. Ein herrlicher Auferstehungsgeist arbeitet und glüht jetzt int vorigen Reichskirchhof und beseelt Scheintote und
beleibt Gerippe.
Einerlei Ziel löscht den Unterschied unter deutschen Staaten
immer mehr aus."
Nur eines ist jetzt noch vonnöten:
ein starker, alle diese
gärenden Kräfte einigender Mann. „Die neueste Geschichte voll umgeworfener und voll aufgerichteter Throne predigt uns allen das Übergewicht der Einzelnen über die Masse."
Dieser „Einzelne" muß ein Fürst sein.
„In Deutschland
läuft der Efeu der Vaterlandsliebe mehr am Throne empor als auf dem Boden umher; nämlich wir haben immer einen großen Fürsten — groß entweder
geographisch oder heroisch oder sittlich — vonnöten um erst an ihm das Vaterland zu lieben. ... Nie vermag — wie Österreich, Preußen u. s. w. zeigen —
ein Fürst über sein Volk mehr als nach Landesunglück und Landesschmälerung. Zumal wenn sie ihre Kräfte
Was werden also nicht unsere Fürsten vermögen?
nur nach innen, nicht nach außen kehren.
Dachten deutsche Fürsten jemals
deutsch, so müssen sie es jetzo noch mehr tun. Deutsche lieben so sehr ihre Fürsten; ist's denn also für einen von diesen so schwer, Millionen liebende
Herzen mit einem einzigen zurückzulieben?" Allerdings wurde noch im selbigen Jahre, 1809, das Vertrauen in Deutschlands Zukunft auf eine harte Probe gestellt. Über die Aufsätze, die er
430
83. Gedanken Jean Pauls über seine Zeit.
1810 bis 1811 schrieb und die er 1816 unter dem Titel „Politische Fasten predigten" zusammenfaßte, äußert er sich in der Vorrede dazu, sie seien „in
jenen lastenden Jahren geschrieben, wo weiter keine andern Federn kühn und stolz sich bewegen durften als die auf Helmen und wo man in Schafskleidern gehen mußte um Wölfen nicht anstößig zu werden.
So wird man sich über
die Stellen dieses Buches nicht entrüsten, wo ich mit den Wölfen zwar nicht heulte, aber auch nicht über sie."
In der „Traumdichtung in der ersten
Nachmitternacht des Jahres 1813" schreibt er im Dezember 1812:
„Unsere
Zeit, gewaltiger und umgreifender als eine, leidet eben darum keine Propheten:
sie läßt keinen Monat Zukunft von sich weissagen; ja, wir haben genug zu blicken um nur die Vergangenheit zu erraten und zu sehen." Aber unge beugt ist sein Vertrauen. „Wer hofft, hat schon gesiegt und siegt weiter." Als endlich der große, ersehnte Umschwung erfolgte, da äußert sich seine
Freude in der Vorrede zu „Mars' und Phöbus' Thronwechsel" am 10. Februar 1814: „Verfasser darf sich zuerkennen, daß er schon in seinen frühern Werken statt der Furcht die Hoffnung gepredigt und genährt. . . Und so schimmerten ihm denn die ewigen Sterne der Vorsehung durch den Nordschein einer langen
Nacht hindurch und dieser Schein hat ausgeprasselt und jene sind still in ihrem Lichte fortbestanden." Noch kann er sich zwar nicht so frei äußern, tote er möchte.
„Wenn der Leser es tadeln will, daß ich in eine so taten- und
folgenreiche einzige Zeit, ungleich anderen Schriftstellern, statt eines Sturmvogels
oder eines Beizfalken, einen leichten Sommer- und Schneidervogel, wie diese nur scherzende Flugschrift ist, hinausschicke: so fall' er den Zensor an, ... der es verbot! Dieser . . . verbot dem Sommervogel den Eingang in ein berühmtes Wochenblatt, weil er ihm als ein Totenkopfschmetterling gegen die Fran
zosen bedenklich schien;
mit anderen Worten: er verbot mir gegen die Leute
zu schreiben, gegen welche er und ich (auf Befehl unserer Regierungen) sogar zu schießen haben." Doch bricht die Freude über die große Gegenwart mit fast dithyrambischem Schwünge durch: „Wo zeigt uns die Geschichte einen ähn
lichen kosmopolitischen Krieg, welcher Fürsten und Völker fast eines Weltteils zur Wiedergeburt der Freiheit und nicht für Eroberungen, sondern für Er
oberte vereinigt und begeistert und worin die moralische Macht der Ideen die
verschiedene Macht der Waffen ausgleichend nach einem Ziele richtet? Wo hoben sich je gebeugte Völker und Fürsten unter wilderen Stürmen empor? . . . Eine Völkerauferstehung wie die jetzige bliebe, wenn ihr auch die Be glückung der nächsten Zttkunft fehlschlüge, für die ferne durch Beispiel ein fort
wirkendes Heil." Doch der Hinweis auf ein mögliches Fehlschlagen der nächsten Zukunft klingt wie eine leise Sorge durch. „Nicht als ob so leicht ein Zersprengen
des großen Bandes drohte, woran Fürsten und Völker, wie Wanderer auf Eisfeldern über die Eisspalten aneinander geknüpft, über die gemeinschaftliche
Gefahr hinüberschreiten."
Eine aitdere Frage beschäftigt ihn: ob ein kräftiger,
83. Gedanken Jean Pauls über seine Zeit.
weitblickender Fürst die Forderungen der Zeit versteht.
431
„Jetzo muß zugleich
in Kürze und auf lange hinaus gebaut werden; der Anspannung folgt Ab spannung, dem Bewußtsein der Opfer Hoffnung reicher Entschädigung und dem Ausruhen eine schlimmere Mattigkeit, als die des Anstrengens ist. . . . Für das Volk ist genug und gut geschrieben worden, aber wenig für Fürsten
und Große, was freilich ebenso schwierig als verdrießlich ist." diesen
verlangt, deutet er vorerst nur bildlich an:
alle Thronhöhen überwogenden Blutsündflut
Was er von
„Nach der gewaltigen,
des Jahrhunderts
wölbet über
Europa einen Regenbogen des Friedens!" Deutlicher spricht er sich in den Fastenpredigten aus: „Wir sind erst der bittern Vergangenheit los, aber der fruchttragenden, süßreifen Zukunft noch nicht Herr."
Besonders in dem Ab
schnitt „Nutzanwendung der Zeit" entwickelt er seine Zukunftsgedanken: „Eine Höhenzeit stand sonnenwarm über Griechenland nach dem Siege über Xerxes:
in ihr sprangen alle alten Blüten auf und alle jungen Früchte reiften.
Eine
solche Zeit arbeitet jetzo in Deutschland nach dem Siege über den neuesten Lerxes und zwar in Deutschland am meisten; denn nur dieses litt am längsten und
härtesten und nur in ihm wurden Länder und Jahrhunderte mit Kanonen rädern umgeackert....
Glaubt ihr, das; das Volk unten, das in der Feuers
brunst des Krieges aus Not und Rache mit einer Verdoppelung von Kräften
Riesenlasten bewegte und Rettwunder verrichtete, jetzo im Frieden die An spannung werde wiederholen anstatt nachlassen wollen"? . . . Im Volke muß öffentlicher Geist, großer Geineinsinn erst gebildet werden und zwar dadurch, daß man ihn befriedigt; und wie man alles Höchste erst durch das Besitzen erkennt und Gutes tun muß um cs recht zu lieben, so muß das Volk höhere
Güter freier Regierung umsonst bekommen um ihrer nachher würdig zu werben. So wird das Volk seine Verfassung, nicht bloß den persönlichen Fürsten lieben. Das Volk, das euch künftig umgibt, kein erniedrigtes, sondern ein aufgerichtetes, ihr Fürsten und ihr Staatenlenker, nur dieses malt euch groß in der Geschichte,
aber nicht schimmernde Siege mit dem Schwerte oder Ländergewinste mit der Feder. . . . Den Fürsten stehen nun zum mächtigsten, heiligsten Einwirken die Kräfte einer von der Zeit beseelten Jugend zu Gebote. . . .
Den Fürsten
stehen außer diesen Feuergeistern noch die Lichtgeister der Zeit zur Seite, eine Cincinnatusgesellschast hochgesinnter Schriftsteller in allen deutschen Kreisen und in allen wissenschaftlichen Fächern; . . . gleichsam Uhren in einer großen
Stadt, welche alle ineinanderschlagend zwar das Zählen erschweren, aber doch alle eine Stunde ansagen."
Also „können Fürsten mit keinem Mangel an
treuen, warmen Gehilfen oder an fremder Vorbearbeitung sich entschuldigen, ja nicht einmal mit einem Mangel an fürstlichen Mustern und Vorgängern selber, wenn sie im Besitze solcher Hände, Herzen und Köpfe den ewigen Ruhm
versäumen, ein schöneres Deutschland zu pflanzen, als das halbverwelkte, halb
gemähte gewesen. . . . Bedenkt noch, ihr gekrönten und besternten Machthaber aller Art: ihr tragt in der Zukunft entweder alle Schuld oder allen Glanz."
432
84. Ludwig I. und Goethe.
Mit den Fastenpredigten hat Jean Paul als politischer Schriftsteller seinen
Höhepunkt erreicht.
Wenn er von da ab noch zuweilen über die deutschen
Verhältnisse spricht,
so geschieht es nicht mehr so ausführlich und mit solcher
Begeisterung; man hört aus manchen Zeilen schon wieder den Satiriker heraus. In den „Saturnalien" 1818 faßt er nochmals einige Wünsche zusammen im
Gegensatz zu denen,
„welche durch Polizeidiener gern ein korrektes Universum
„Fürst und Adel sollen nicht . . . auf das göttliche Ebenbild des
hätten:"
Menschen
mit Füßen treten, . . . gegen
das Feuerwerk des Witzes sollen
Zensur und Polizei keine Feuertrommeln rühren und keine Lärmkanonen richten
gegen Raketen;" es solle „keine halbe und keine beschränkte Preßfteiheit geben,
sondern eine ganze;" es solle „überall Landstände geben;" „Weimar, das aus einem Parnasse der deutschen Musen zu einem Sinai der Verfassungen geworden,
soll die deutsche Keblah sein." So leuchtet aus den Werken Jean Pauls, mag er in strafendem Spott, in warnender Sorge oder in fteudiger Begeisterung schreiben, ein echt deutscher
Sinn.
Die Grundbedingungen für das Blühen und Gedeihen des Vaterlandes
sind ihm treffliche Fürsten,
eine freie Verfassung und
allgemeine Bildung,
„Einsichten des Volkes;" denn „in der Geschichte hat wie in der Göttergeschichte
Minerva am meisten die Götter gegen die Giganten beschirmt."
84. Ludwig I. und Goethe. Don Thomas Stettner.*
Was ein jeder unserer beiden Dichterfürsten ihm sei, hat König Ludwig I. in den knappen Worten eines Epigramms ausgesprochen: „Wenn ich erwache, bevor ich betrete den Kreis der Geschäfte,
Les' ich in Schiller sogleich, daß mich's erhebe am Tag; Aber nach geendigtem Lärmen, in nächtlicher Stille, «Mchf ich zu Goethe und träum' fort dann den lieblichen Traum."
Man kann kaum treffender die Verschiedenheit dessen, was ein jeder von
ihnen uns geben kann, bezeichnen:
der feurige, vorwärts drängende Schiller
soll uns begeistern zur Arbeit des Tages; überschauen wir aber in des Abends Sülle prüfend die abgelaufenen Stunden
und unser Wirken in ihnen,
dann
wird Goethe in seiner abgeklärten Ruhe unsere beste Gesellschaft sein. In seiner dichterischen Eigenart stand Schiller dem Könige näher, mit Goethe aber verband ihn neben der höchsten Bewunderung mannigfache Über
einstimmung in Neigungen und in der Auffassung des tätigen Lebens:
beide
liebten Italien als das Land der Sehnsucht, beide erblickten in der antiken Kunst die Höhe und deshalb die bleibende Norm künstlerischen Schaffens und
auch in den Fragen des politischen Lebens standen sich ihre Ansichten nahe.
Goethe aber verehrte in König Ludwig den mächtigen Beschützer und Förderer der Wissenschaften und Künste, der im großen zur Tat machte, was er selbst
433
84. Ludwig I. und Goethe.
im kleinen Kreis
unermüdlich anstrebte,
die Wiedererweckung einer großen
deutschen Kunst. Goethe hat München ein einziges Mal besucht, auf dem Wege nach Italien 1786.
Es war damals keine Blütezeit für die Stadt.
Noch war sie in die
Mauern der alten Befestigung eingeengt, kaum ein Gelehrter oder Künstler, dessen Ruhm, über Bayerns Grenzen gedrungen wäre, weilte in ihr und auch
die Sammlungen enthielten nicht allzuviel Bedeutendes. So können wir begreifen,
daß sein Auge an jenem rauhen Herbsttage vom Frauenturm aus sehnsüchtig den Süden suchte und daß er nach kurzer Rast weiterzog. Welch andere Stadt hätte er getroffen, wenn er, des Königs wiederholter Einladung und dem Drängen seiner Freunde folgend, etwa ein halbes Jahr
hundert später sie wiedergesehen hätte!
Schon unter Ludwigs Vater war
inmitten der Kriegswirren das wissenschaftliche Leben neu erwacht, mit der Thronbesteigung des Sohnes war dort ein wahrer Frühling für die Kunst angebrochen. Junge Künstler strömten zukunftsgläubig von allen Seiten dahin,
ein froher Wettstreit aller Künste begann. Und überall war der König der Anregende und Helfende. Die Sammlungen waren durch die Einverleibung der Düsseldorfer Galerie und durch die Kunstschätze der aufgehobenen Klöster
bedeutend gewachsen; hochherzig wies er ihnen zu, was er selbst gesammelt hatte und mit den größten persönlichen Opfern neu erwarb. Herrliche Bauten führte er auf um diese Schütze würdig zu verwahren. Kam Goethe nun auch nicht selbst, so verfolgte er doch aus der Ferne mit dem größten Interesse alles, was der König unternahm und was sonst
für die Kunst Bedeutendes geschah.
Da mancher seiner Freunde vom König
für immer nach München gezogen wurde oder für kürzere Zeit dort weilte,
wurde er durch deren Berichte stets auf dem laufenden erhalten.
In früherer
Zeit war sein vertrauter Jugendsteund Fritz Jacobi, der zum Präsidenten der
Akademie der Wissenschaften berufen wurde, sein Hauptberichterstatter (er gibt z. B. Nachricht über Senefelders Erfindung, für die Goethe das größte Interesse
und ein weitblickendes Verständnis bewies); als der König die herrliche Samm lung altdeutscher Bilder der Gebrüder Boisseree, die jetzt die ersten Säle der
Pinakothek ziert, erwarb, siedelte Sulpiz Boisseree nach München über und erstattete von nun an ausführlichste Berichte über alle Vorgänge daselbst. Aus dem reichen Briefwechsel der beiden sehen wir, wie Goethe im stillen Weimar bis ins kleinste an allem Anteil nahm, was in München zutage gefördert wurde; wie er bewundert und lobt, auch wohl sich sorgt, ob der Fürst nicht zu raschen Schrittes in seinen Unternehmungen vorgehe; und als es zwischen
diesem und den Ständen wegen der großen Ausgaben für. die Bauten zum Konflikt kam, bedauert er den König, dem es bei den Zeitgenossen zu ergehen
scheine wie den frommen Bauherren des Mttelalters bei der Nachwelt, die ihre großen Entwürfe nicht vollendet haben. — Auch die Früchte seiner dichterischen Tätigkeit schätzte er als Ausfluß einer hohen Denkungsart und KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
28
84. Ludwig I. und Goethe.
434
als Werke eines Fürsten,
der sich die
„angeborene schöne Menschlichkeit"
gerettet habe. Da keine Einladung Goethes Reiseunlust zu überwinden vermochte, machte
der König durch einen hochherzigen Entschluß dem Verkehr aus der Ferne ein
Ende.
Am Geburtstag des Dichters im Jahre 1827 fuhr unvermutet ein
Wagen an seinem Hause vor und in jugendlicher Hast entstieg.demselben der König. Er war von Brückenau tags zuvor aufgebrochen und hatte die Nacht im Wagen verbracht um Goethe seine Glückwünsche zum Festtag selbst zu
überbringen. Als Angebinde überreichte er ihm das Großkreuz des Kronenordens und hierbei spielte sich eine Szene ab, die charakteristisch ist für das Verhältnis
Goethes zu seinem Fürsten.
Trotz aller vertrauten Freundschaft fühlte und
gab er sich in allen dienstlichen Dingen stets als den Beamten und so wandte
er sich auch jetzt, ehe er den Orden annahm, mit aller Förmlichkeit an Karl August: „Wenn mein gnädiger Fürst erlaubt." — Dieser aber, der jene Scheidung nie anerkannt hatte, rief lachend: „Alter Kerl, mach doch kein dummes Zeug!"
Den größten Teil des Tages verbrachte der König in Goethes Haus; was ihm daneben und neben dem Besuch bei Hof an Zeit blieb, widmete er Schillers Andenken; er besuchte sein Haus, und als er auf der Bibliothek sah,
in welch wenig angemessener Weise dort aufbewahrt wurde, was von seiner sterblichen Hülle erhalten war, gab er den Anstoß dazu, daß dies eine würdigere Ruhestätte fand. — Abends war zu Ehren des Festtags Ball im Schützenhaus, auf dem der König durch seine Liebenswürdigkeit, seine lebhafte, geistvolle
Unterhaltung und den herzlichen Anteil, den er an Weimars großer Ver
gangenheit nahm, alle Herzen für sich gewann. Die große Freude, die der Dichter über diese fürstliche Auszeichnung empfand, und der tiefe Eindruck, den des Königs Persönlichkeit auf ihn machte, klingt aus allen Äußerungen wieder, die er mündlich und in Briefen über
diesen Besuch machte.
Es sei nichts Kleines, äußerte er zu Kanzler Müller,
einen so großen Eindruck, wie die Erscheinung des Königs, zu verarbeiten; ihm
sei es unschätzbar ihn gesehen zu haben: in derselben Zeit zu leben und diese Individualität, die mit aller Energie seines Willens so mächtig auf die Zeit gestaltung einwirke, nicht durchschaut zu haben, würde unersetzlicher Verlust gewesen sein.
Der König schreibt von jenem Tag an ihn:
„Wie kurz nur
genoß ich Ihres lehrreichen Umgangs; aber Augenblicke mit Goethe zugebracht wiegen Tage, wiegen Monate auf. Die mit Ihnen verlebte Zeit ist keine Vergangenheit geworden, sie bleibt als ewig erfreuende Gegenwart."
In ganz
Deutschland aber staunte man über diese Ehrung eines Dichters und ein zufälliger Zeuge jenes Besuchs schreibt: „Dieser Vorgang machte ein Aufsehen wie selten eine Begebenheit in Zeiten des Friedens." Lange ging Goethe mit sich zu Rate, womit er seiner Dankbarkeit sicht baren Ausdruck verleihen könnte; aber nichts schien ihm zu genügen, bis er
endlich eine Gabe fand, wie sie schöner nicht gedacht werden kann: er widmete
435
84. Ludwig 1. und Goethe.
ihm das „wundersame" Buch, das er damals der Welt schenkte, den Briefwechsel zwischen Schiller
und ihm, das Denkmal
einer einzigartigen Freundschaft.
Und wie schön weiß er diese Widmung zu begründen! Als der König in Weimar die engen Räume sah, in denen Schiller gewohnt hatte, äußerte er: „Hätte ich nur damals schon freie Hand gehabt, ich hätte ihm Villa Malta
in Rom eingeräumt!"
Anknüpfend an diese Worte gibt Goethe in der Widmung
dem Schmerz darüber Ausdruck, daß es seinem verewigten Freunde nicht auch vergönnt gewesen sei die königliche Gnade zu genießen. „Durch Ihre Gunst," fährt er fort, „wäre sein Dasein durchaus erleichtert, häusliche Sorgen entfernt,
seine Umgebung erweitert, derselbe auch wohl in ein heilsameres Klima versetzt worden und seine Arbeiten hätte man dadurch belebt und beschleunigt gesehen." Von jenem Besuch an wanderte mancher Brief und manches Geschenk — z. B. zum 80. Geburtstag der Abguß des Niobidentorso in der Glyptothek wie vorher
jener der Medusa Rondanini — von München nach Weimar und Goethe
antwortete stets sehr erfreut; doch da nach des Königs letztwilliger Verfügung sein schriftlicher Nachlaß noch für eine Reihe von Jahren uneröffnet bleiben soll, ist dessen Kenntnis Späteren Dorbehalten.
Um eine sichtbare Erinnerung an die Tage in Weimar zu besitzen sandte Ludwig ein Jahr danach seinen jungen Hofmaler Joseph Stieler, dessen fein durchgeführte Bilder die damalige Welt entzückten, nach Weimar mit dem Auf trage ein Porträt Goethes anzufertigen. Dieser ließ sich sonst nur mehr ungern dazu herbei für ein Bildnis zu sitzen, und wenn wir hören, wie oft er darum
angegangen und wie sehr er dann manchmal von denen gequält wurde, denen er es gewährte, werden wir es begreifen — hier aber war er mit Freude
bereit; selbst einen neuen Rock ließ sich der sparsame Hausvater — allerdings erst auf das dringende Zureden der Freunde! — für diesen Zweck anfertigen und sein vertrauter Freund Zelter, der kurz vorher den König gesprochen und Goethe eine sehr originelle Schilderung von München und den Münchenern zugesandt hatte, ermahnte ihn, er möge dem Maler geduldig sitzen und ihm
„die Fenster seines Geistes öffnen". Der junge Maler hatte als Probe seines Könnens eines der schönsten Frauenbildnisse mitgebracht, die jetzt als „Schönheitsgalerie" in der Residenz vereinigt sind, und Goethe meinte lachend: „Stieler war gar nicht dumm! Er brauchte diesen schönen Bissen bei mir als Lockspeise und schmeichelte meiner
Hoffnung, daß auch jetzt unter seinem Pinsel ein Engel entstehen würde, in
dem er den Kopf eines Alten malte."
Aber es bedurfte solcher Künste nicht: Stieler war ihm als Mensch sympathisch, seine saubere, ins Detail arbeitende Technik fand seinen vollen Beifall; er freute sich „in diesem Jahrhundert einen Maler zu finden, der malen kann", und bald war ein lebhafter Gedankenaustausch im Gang über die allgemeinen Fragen der Kunst und insbesondere über Münchener Kunst
und Künstler,
auf
die Goethe
damals
etwas
schlecht
zu
sprechen 28*
war,
436
84. Ludwig I. und Goethe.
da sie ihm zu sehr im Fahrwasser der Romantik zu segeln schienen und die An
regungen vernachlässigten, die er gab. ein harter Schlag:
Da traf den Dichter ganz unvorbereitet
Karl August war auf der Reise Plötzlich gestorben — die
Vollendung des Bildes schien, da die Sitzungen eingestellt wurden, in Frage
gestellt.
Aber es sollte anders kommen.
Goethe war gewohnt, wenn schweres
Leid ihn betraf, dies ganz für sich allein in der Stille zu verarbeiten:
als er
nach einer Woche die Sitzungen wieder aufnahm, sprach nicht mehr der Schmerz über den Verlust aus seinen Zügen, sondern es lag über ihnen der Abglanz
all der Erinnerungen an alte schöne Zeit, die er in ihm aufgeweckt.
Es ist,
als blicke er der Gegenwart vergessend zurück in eine Welt schöner Vergangen
heit, und so zeigt uns dies Bild den Dichter, während uns die anderen Porträte des alten Goethe nur den zurückhaltenden, gemessenen Minister geben. Geduldig saß Goethe selbst noch zu den Äußerlichkeiten; zuletzt trug
Stieler auf das Blatt, das jener in der Hand hält, die Anfangsverse von
des Königs Gedicht „An die Künstler" ein — das Bild war fertig, und zwar Goethe war hochbefriedigt, nicht weniger der
zur allgemeinsten Zufriedenheit.
König, beim Publikum aber erregte es „einen Enthusiasmus der Teilnahme". Am fröhlichsten aber war der Künstler: Goethe sagt selbst, dieser sei in seinem
Hause
ganz wie ein Angehöriger geworden.
Freundliche, anregende Briefe
setzten dies schöne Verhältnis fort und noch in späten Jahren erzählte Stieler
mit Begeisterung von jenen Wochen im Goetheschen Hause. — Das Original bild überwies der König hochherzig der Neuen Pinakothek; eine Kopie, die er Goethe schenkte, nimmt heute noch ihren Ehrenplatz im Goethehaus ein. In seinen letzten Lebensjahren nahm der Dichter noch liebevollsten, fördern
den Anteil an einem anderen jungen Münchener Künstler, an Eugen Neureuther, an dessen Zeichnungen er sich mit geradezu jugendlicher Begeisterung erfreute.
Einen seiner letzten Briefe richtete er an ihn um ihm für die „Randzeichnungen zu deutschen Klassikern" zu danken; schloß der Brief.
„ich bin sehr verlangend auf die Folge",
Aber als sie erschien, weilte Goethe nicht mehr unter den
Lebenden — wenige Wochen
nach jenem Brief war der Unermüdliche ins
Land der einigen Ruhe hinübergeschlummert. Der König aber ehrte den Toten, wie er den Lebenden geliebt.
Seine
Büste wurde in der Walhalla aufgestellt und die Worte, die er in Bezug auf
sie schrieb, beweisen, wie klar er seine fortwachsende Bedeutung fürs deutsche Volk erkannte; in Rom ließ er an dem Hause, in dem er gewohnt hatte, eine Tafel anbringen, und als der Plan für ein Denkmal Schillers und Goethes
in Weimar auftauchte, erbot er sich sogleich das Erz dafür zu liefern. Wie wir ihn im Verkehr mit den beiden Münchener Künstlern Stieler und Neureuther kennen gelernt haben als den teilnehmenden Freund, das ist der echte alte Goethe, der aus dem Schatz seiner Welterfahrung jedes Streben mit Rat und Tat unterstützte.
Dessen Bild sestzuhalten ist Stieler gelungen
und deshalb ist keines aus den vielen Goethebildern mehr beliebt und mehr
85. Der bayerische Sprachforscher Johann Andreas Schmeller in Tölz.
verbreitet als dieses.
437
Wenn uns seine milden Züge grüßen, dann möge cs
uns aber nicht nur an den Dichter mahnen sondern auch an den fürstlichen Freund und an das schöne Verhältnis, das gewaltet hat zwischen dem Herrscher
aus dem Thron und dem Fürsten im Reiche der Geister.
85. Der bayerische Sprachforscher Johann Andreas Schmeller in Tölz. Don 3** N. Sepp.1)
Wenn man mit dem Volke in seiner Mundart redet, erfährt man vieles; verkehrst du vollends als alter Bekannter und erzählst ihnen vorher etwas, alsdann werden sie zutraulich.
Dies hat vor anderen der Sohn eines Kürbenzeuners (= Korbflechters) von Tirschenreut, unser erster Sprachforscher Andreas Schmeller, verstanden und er wurde so der Begründer der deutschen Dialektforschung. Ohne sichere Lebensstellung, wie er war, hatte er sich als Soldat in Spanien anwerben lassen, hat 1814 und 1815 den Deutschen Befreiungskrieg mitgemacht, bis er
nach verschiedenen Lehrschulen zuletzt an der Staatsbibliothek und Universität
in München zu wirken vermochte. Seine Sprachstudien führten ihn vor anderen zu den sogenannten Cimbern in den Veronesergebirgen, den sieben und dreizehn Gemeinden, welche verlassen mitten unter Welschen leben und entweder bajuvarischen oder langobardischen Geschlechtes sich erweisen.
trieb brachte unseren Schmeller auch nach Tölz; Volkssprache näher kennen lernen.
Derselbe Forscher
denn er wollte die dortige
So hat er durch den Volksmund belehrt
und bereichert in seinen „Mundarten Bayerns" (1821) und im „Bayerischen
Wörterbuch"?) eine wahre Schatzkammer für Sprachkunde eröffnet. Beim „Kolber" setzte er sich mitten unter die Landleute und
vielleicht den Steffelbauer
von Sachsenkam, ein
bekam
lebhaftes Männlein,
den
Waldherr von Wackersberg, den Bartlmann von Lehen oder den Wicham von
Gaißach zum Tischnachbarn;
ein andermal
den Pföderl von Fischbach oder
den Cham, den Lambrecht lind Oswald von Lenggries, den Orterer und Lui-
polder ans der Jachenau, den Kifersauer oder Jaud am Sauersberg, welche
er dann ausfragtt. „Grüß Gott, Landsmann! Mir gefallt's bei Enk heroben." erwiderte der Angesprochene. daheim,
Wie geht's, wie steht's mit Leib und Leben? „Kannst gleich einmal in Kirta kömmen",
Schmeller fährt fort: „So, hast du eine Frau
die gute Nudel kocht?" — „Na, Frau hob i keine, aber ein Weib
*) „Denkwürdigkeiten aus dem Bayeroberland", S. 371 ff. München 1892, I. Lindauer. *) In 4 Bänden 1827—1837 ' erschienen. Eine neue Auflage im Auftrage der Hist. Kommission bei der Kgl. Akademie der Wissenschaften wurde (1872—1877) heraus gegeben.
438
85. Der bayerische Sprachforscher Johann Andreas Schmeller in Tölz.
und dies eine dunderschlachtige", versetzt der Bauer. Und Schmeller geht weiter: „Nun, da wird dir deine Bäurin schon was verzähl'n und du weißt gewiß auch allerhand vom Vater und Ahnl her?"
—
„Was nit gar vom
Urahn! und Guckahnl?" meint der Nachbar. — „Dunderschlachtig", „Guckahnl"
waren Ausdrücke, die sich der Professor notierte. „Das ist mir Ineu," schwatzt der Gilgenrainer drein, „daß ein Stadtherr
von unsereinem etwas lernen und aufschreiben will." — „Warum denn nit," entgegnet Schmeller. „Ein Landler ist eine andere Musik als die in der Stadt und so ist's auch mit enkerer Sprachweis." „Ehr' g'nug," meint der Brand „daß sich der Herr mit uns gemein macht, er braucht darum, mein
hofer,
Eichel, doch keine Lederhos und keine Kniestrümpf' anzuziehen." „Wie nennt ihr Hosen in eurer Sprach?" die Ueksen (Achsel) schaut.
„G'saß," ruft der Heiß, der dem Professor über „Na," wirst der Trischberger ein, „wir heißen's
Braxen." Sofort notierte sich Schmeller, daß im Jsarwinkel noch die Beteuerung „Mein Eichel" und das keltische Wort „Braxen" daheim sei, und zwar seit wenigstens 2000 Jahren, wovon einst Gallia braccata, das Hosengallien, hieß.
„Seid's Mannet oder Sueben," fährt der Sprachmeister fort, „jeder
Loder kann a Maß auf meine Rechnung trinken; so jung kommen wir nimmer zusammen."
„Wir sind net so anhabig," äußert der Lambert, halb beleidigt,
„ich bin von keiner Fretten daheim und nit auf der Bettelumkehr. I trau' mir mein Renken Brot schon zu verdienen, kann mir auch mein Bier selber zahlen und braucht mir niemand z'beiten und a nix z'schenka." — „Du darfst di nit so progeln, der Herr hat's nit bös g'meint", läßt sich der Freundelein aus der Fischbacher Gemain hören, der jeden mit diesem Worte begrüßte und
davon selber den Namen erhielt. So hat der gute Schmeller bei uns im Jsarwinkel manches erfragt.
Einmal wäre es ihm aber beinahe schlecht ergangen.
Die Bauersleute und
vereinzelt ein Bürger saßen gemächlich um den Akademiker bankweise herum
und nicht bloß dem Professor ging bei den Fragen und Antworten
über
manches ein Licht auf: da läßt sich vom Nebentische eine Stimme vernehmen und so ein Flößlcr wirft grimmige Augen herüber. „Dies G'schmatz wird mir schon bald zuwider," schrie der Rammelmair inzwischen, der ein strittiger Mensch war,
und schlug mit der Faust auf den Tisch,
„da mögst ja gleich
damisch werden. Der Herr hat nix Gut's im Sinn, daß er uns so angel ausfragt. I trau denen falschen Schreibern nit. I bin g'rad ein talketer Bauer,
aber das merk' i schon, es geht wieder auf eine neue Steuer außi.
Saxenti!
Da schlag' i gleich gar drein."
Dabei griff er nach dem Maßkrug,
als wollte er dreinwerfen. Der Professor ist ganz erstaunt. So gilt der altdeutsche Schwur beim Kriegsgott Saxnote auch bei uns noch und der
Ausdruck gibt ihm nicht wenig zu denken. Der Griesmann fällt jenem lärmend in den Arm. und Gischpel!
„Sei kein so Hiempel
Därf ent nit verschmachtn, Herr Professor, er hat wolta resch
86. Christovh Schmid unter den Kindern.
Irunko.
Tust halt so winni, weil du wieder z'viel
denkt Schweller.
439
hast!"
Molte volle
Sogleich ist auch der Wirt aufgesprungen und beschwichtigte
den Rammelmair: „Geh, wer wird denn so ein'Rüepel machen! Du brauchst nix z'fürchten, der Herr tragt kein' roten Kragen. Vertreib mir doch meine
Gäste nit! Meinst du denn, ich lade sie ein, damit wir eine höhere Steuer kriegen?" — „Du wärst mir schon ein Guttüchener," spricht der Burgerbauer, dich hat g'wiß noch keiner lachen sehen;
du gehst, mein bad!
auffi, wenn du ein freundliches Gesicht machen willst!"
unters Dach
„Du, mach mi nit
fuchti!" antwortet der Rammelmair. „Dies war mir schon zu dumm; jetzt geh' i gar, wo ist mein Ranzen? Kellnerin, was bin i schuldi?" „Mein,
was wirst schuldi sein", versetzt das Burgei, „hast gotzige drei Maß!" — „Anhabig", „progeln", „gotzig" schreibt der Professors wieder in sein Büchel und überlegt bei sich, ob das letztere Wort nicht gar zu gotisch stimme.
86. Christoph Schmid unter den Kindern. Don Alexander Schöppner. *)
Anno 1796 erhielt Christoph Schmid, der allverehrte Jugendschriftsteller,
ein sogenanntes Schulbenefizium im Marktflecken Thannhausen an der Mindel
in Schwaben.
Diese Stelle ertrug einen Gehalt von etwa dreihundert Gulden,
auch war der Titel eines Schulinspektors damit verbunden.
Der Inhaber
l) Schweller, geboren im gleichen Jahre mit Jakob Grimm, am 6. August 1785, zu Tirschenreut in der Oberpfalz, fand seine Heimat in Altbayern, in Rimberg bei Pfaffenhofen a. d. Ilm, wohin die kinderreichen Eltern schon im zweiten Jahre seines Lebens übersiedelten. Der Pfarrherr seines Ortes, Anton Nagel, nahm ihn zuerst in seinen eigenen Unterricht und brachte ihn hierauf in das Senlinar des Stiftes Scheyern. Auf dem Gymnasium zu Ingolstadt (1797) und zu München (seit 1799) setzte er seine Studien fort, mit Not und Entbehrung ringend. Während er im Lateinischen, in Philosophie und Naturwissenschaften die Fortschritte eines tüchtigen Schülers machte, beschäftigte ihn bereits das interessante Problem des Gegensatzes von Schriftsprache und Bolksmundart, an dem die deutschen Grammatiker seit den Tagen seines Landsmannes Aventin gleich gültig vorübergegangen waren. — Durch Staatsurlaub und Geldunterstützung ward Schweller später in den Stand gesetzt das Land in seinen verschiedenen Teilen zu bereisen; schon vorher hatte er als Oberleutnant mehrere Jahre hindurch seine Forschungsergebnisse durch planmäßige Vernehmung der jungen Rekruten gefestigt und ergänzt. Später standen ihm für die älteren Sprachstufen die überreichen Schätze der K. Staatsbibliothek zur Verfügung; endlich gesellten sich neue Helfer und Mitarbeiter im ganzen Bayerlande dazu. E. Schröder, Allgem. deutsche Biogr. 31, 786.
„Des Lebens Müh'n hat er durchkostet, Bevor das Höchste ihm gelang, Das seinem Fleiß, der nie gerostet, Glanz und Unsterblichkeit errang."
„Er hat die Sprache, die wir sprechen, In ihren Festen aufgerührt, Der Forschung Quell, der Weisheit Bächen Ein neues Leben zugeführt." (Frz. X. Seidl.)
’) „Lehrreicher Schulmeisterspiegel", 2. Bändchen, S. 38 ff. I. I. Lentner.
München
1859,
86. Christoph Schmid unter den Kindern.
440
dieses Benefiziums hatte die Verpflichtung über die Schule des Ortes die Auf
sicht zu führen und den Religionsunterricht zu erteilen.
Christoph Schmid
zog dahin, nahm seine jüngere Schwester Franziska zu sich und fing eigene Haushaltung an. Er fand die Schule in so unvollkommenem Zustande, daß er sich entschloß selbst Schule zu halten.
Bald gelang es ihm die Thann
hauser Schule zu einer wahren Musterschule zu erheben und es fanden sich bei den Prüfungen und auch sonst viele jüngere Lehrer und Geistliche ein um seine Methode zu beobachten und ihre Schule danach einzurichten. Viele Stunden brachte der Benefiziat in der Schule unter den Kindern zu und diese hingen mit einer Liebe und Hochachtung an dem Kinderfreunde, daß das
Lernen und Lehren ihnen und ihm zur Lust wurde.
Um die Kinder für ihren Fleiß zu belohnen veranstaltete er zuweilen kleine Kinderfeste, auch verfaßte er Schauspiele, welche sie aufführten. An schönen Frühlings- und Sommermorgen ging er mit ihnen hin und wieder
auf einen Hügel vor dem Orte hinaus und erwartete in ihrer Mitte das
herrliche Schauspiel der ausgehenden Sonne.
Er lehrte sie hier den allmächtigen
Schöpfer in seinen Werken kennen und lieben und machte sie auf die reinen Freuden aufmerksam, die ein schuldloses Herz in Gottes schöner Schöpfung genießen kann. Auch seine Schwester Franziska, eine sehr gebildete Jungfrau, die der berühmte Naturforscher Schubert nur „Maria-Martha" hieß, unterstützte
ihren Bruder in dem edlen Geschäfte der Jugendbildung.
Da sie eine Meisterin
im Nähen, Stricken und Sticken war, so eröffnete sie auf seinen Wunsch eine Arbeitsschule für die weibliche Jugend. Während der Arbeit wußte sie immer etwas Nützliches und Lehrreiches zu erzählen und nicht nur die Hände sondern
auch den Geist zu beschäftigen. Oft wurden auch schöne Lieder unter der Arbeit gesungen, von denen die schönsten Christoph verfaßte. Vieles trug sie
so zum Lebensglück ihrer Zöglinge bei. Viele dieser Mädchen wurden vor zügliche Hausfrauen und Hausmütter; andere traten in weibliche Erziehungs
anstalten und wirkten als tüchtige Lehrerinnen, besonders der Industrie.
Auf
diese und andere segensreiche Weise wirkten hier beide Geschwister zur echten Bildung und Veredlung der Jugend. In Thannhausen war es auch, wo sich die ersten Blüten von Christoph
Schmids schriftstellerischer Tätigkeit entwickelten. Zuerst gab er 1801 seine allbekannte „Biblische Geschichte" heraus, durch welche er sogleich die Aufmerk
samkeit des großell Publikums auf sich lenkte.
Diesem glänzenden Versuche
folgte „Der erste Unterricht von Gott", ein kleines Lesebüchlein für die An
fänger in der Schule. Dann erschienen „Die Ostereier" „Die Genoveva" und andere bekannte Schriften. Im Anfang schrieb Christoph nur für die Schul jugend zu Thannhausen und las seine Geschichten aus dem Manuskript nach der Sonntagsschule den Schülern vor; erst später gab er sie auf vielfältigen Wunsch heraus. Über den Eindruck, den diese Erzählungen auf die Jugend
87. Goldbergwerkr und Goldwäschereien in Bayern.
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machten, als sie der Verfasser zuerst selbst vorlas, schreibt eine seiner Schü lerinnen :
„Mit Sehnsucht warteten wir, bis sich die Türe öffnete und der ge
liebte Jugendfreund mit der Schrift in der Hand eintrat. Der eben behandelte Gegenstand wurde beendigt und der Lehrer selbst wie seine Schüler horchten nun mit gespannter Aufmerksamkeit dem überaus schönen Vortrage.
Nicht selten wurde die Rührung groß, Tränen flössen und ein lautes Schluchzen enfftand.
Wir merkten die vorgeschrittene Zeit nicht und bestürmten mit Bitten
den ermüdeten Vorleser fortzufahren.
Von einem Sonntag zum anderen freute
man sich, wenn eine Erzählung angefangen war, auf die Fortsetzung derselben
am nächsten Sonntag.
Zuweilen bekamen wir als Hausaufgabe den Auf
trag eine Erzählung nachzuschreiben. Die schönen Erzählungen blieben aber nicht bloße Gedächtnissache, sie bestimmten auch die Handlungsweise sehr vieler Jungfrauen Thannhausens.
Man sah recht viele sittsame, unschuldige und
fleißige Mädchen aufblühen, die sich die hervorleuchtenden Tugenden einer ,Genoveva', einer ,Rosa von Tannenburg' und einer Maria im Blumen körbchen' zu Musterbilder» wählten und fern von Weltsinn und Eitelkeit ihre Freude in Gott und stillen häuslichen Tugenden suchten zur Freude ihrer
Eltern und Lehrer." Diese Erzählungen zuerst in einem unbekannten Dorfe verfaßt und der Dorfjugend
dortselbst
vorgelesen
fanden
allmählich den Weg durch ganz
Europa und sogar über den Ozcan.
87. Goldbergwerke und Goldwäschereien in Bayern. Don A. Geistbeck.*
Vom sagenumwobenen Argonautenzug an, dessen Verlauf noch dem Dunkel der vorgeschichtlichen Zeit angehört, bis zum jüngsten Kriegszug der Engländer
ins friedliche Burenland, immer und überall hat das Gold, das mit Recht als „König der Metalle" gepriesen wird, in den Beziehungen der Menschen unter einander, im Handel unb Verkehr, in der Kunst und Wissenschaft eine bedeutsame Rolle gespielt, freilich nicht immer in segenbringender Weise. Der römische Ge schichtschreiber Tazitus preist daher die Deutschen glücklich, daß ihnen eine gütige Gottheit das Gold versagt habe.
In der Tat, Deutschland ist niemals
ein Goldland gewesen, wie man nach der Zahl der Schürfbricfe und nach der Fülle der Literatur hierüber schließen könnte; es ist vielmehr nur kärglich mit Gold ausgestattet, obwohl seine Berge und Flüsse im Süden, Osten und Westen Gold halten. Dessen spärliches Vorkommen wie die kostspielige Ge
winnung schließen eine Ausbeutung im großen aus, so daß das edle Metall
billiger und bequemer vom Auslande bezogen wird. In früheren Jahrhunderten lagen indessen die Verhältnisse anders als heutzutage. Die ungeheuren Goldschätze der Nordamerikanischen Union, AustraLens und Südafrikas waren noch unerschlossen, das gleißende Metall war
87. Goldbergwerke und Goldwäschereien in Bayern.
442
daher viel seltener und höher im Werte und an manchen Stellen unseres Vaterlandes konnte ein lohnender Bergbau auf Gold betrieben werden.
So
nennt der gelehrte Humanist Agricola Goldbergwerke im Fürstentum Waldeck,
in Thüringen, im Erzgebirge und im Riesengebirge.
Im Thüringer Walde
bestanden nicht weniger als hundert Gruben, die bis in die Zeiten der Hussiten kriege an tausend Menschen beschäftigten, und auch im Bereiche des heutigen Königreichs Bayern fehlte es nicht an Goldlagerstätten.
Große Berühmtheit genossen die goldhaltigen Quarzgänge der Grauwacken schichten um Goldkronach im Fichtelgebirge. Ihr Abbau ist sehr alt und manches Sprichwort erinnert noch an die jetzt verschütteten Schätze. „Mancher
wirst einen Stein nach der Kuh," so heißt es im Volksmunde, „und der Stein
ist mehr wert als die Kuh."
Auch von den goldsuchenden Walen und deren
geheimnisvollen Büchern mit den Angaben der Fundorte und der Methoden zur Gewinnung wußte man dort in stüheren Zeiten viel zu sagen. Vielleicht
verbergen sich unter dem Namen der Walen oder Venediger Erinnerungen an stühere, bergbautreibende Bewohner des Landes — Wenden oder Kelten — eine Meinung, die mehr und mehr Boden gewinnt. Geschichtlich erweisbar ist der Goldbergbau im Fichtelgebirge bereits unter den Burggrafen zu Nürnberg; unter Kaiser Karl IV. gelangte er zu größerer Bedeutung. Die Ausbeute der Goldkronacher Werke dürfte damals eine ungemein
reiche gewesen sein; sie wird von einem älteren Schriftsteller auf wöchentlich
2400 rheinische Gulden Reinertrag angegeben.
Goldkronachs Glanzzeit fällt
in die Jahre 1395—1430. Diese Erfolge ermutigten auch anderweit im Fichtelgebirge
nach
dem
kostbaren Metalle zu schürfen und in der Tat begegnet man dort noch viel fachen Spuren alten Goldbergbaues, so bei Konradskreut, Steinbach und Ober
steben, deren Goldseifen ins 14. Jahrhundert zurückgehen. Zwischen Münchberg und Hof entstanden um Plösen, am Röthenbach und Goldgraben neue Anlagen
im 16. Jahrhundert, andere tauchten erst int 18. Jahrhundert auf, so jene bei Ahornberg (1744), bei Unter-Pferd und Oberkotzau nächst Hof (1789).
Waren auch die Erträgnisse des älteren Bergbaues günstiger, so scheinen sie doch großen Schwankungen unterworfen gewesen zu sein; Agricola schätzt die wöchentliche Goldausbeute des ganzen Fichtelgebirges zu 1500 rheinischen Gulden.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts waren die alten Halden bereits drei- bis viermal umgewendet und die Kosten überstiegen den Gewinn. Der Dreißigjährige Krieg dürste die letzten Reste vertilgt haben.
Zweimal noch wurden ernste Versuche zur Wiederbelebung des alten
Goldkronacher Bergbaues unternommen, doch jedesmal ohne lohnenden Erfolg. Als nämlich Ende des 18. Jahrhunderts die Markgrafschaft Bayreuth mit Pretißen vereinigt wurde (1791), nahm der Staat den Betrieb der Fürsten zeche, Goldkronachs Hauptbergbau, unter Alexander v. Humboldts Leitung
87. Goldbergwerke und Goldwäschereien in Bayern.
443
auf, ließ aber infolge der ungünstigen Ergebnisse das Werk wieder eingehen. Nach der Einverleibung der Markgrafschaft in das Königreich Bayern ging man neuerdings an die Verwertung der Gold- und Silbererze in der Fürsten
zeche und im Jahre 1856 erreichte die Ausbeute silberhaltigen Goldes sogar den Betrag von 4357 % Gulden.
Doch eine Privatgewerkschaft, die bald darauf
die Gruben übernahm, stellte den Betrieb schon 1861 wieder ein, weil sich die Gänge für einen lohnenden Abbau zu erzarm erwiesen.
Seitdem ruht der
Bergbau in Goldkronach bis auf unbedeutende Betriebe. Auch sonst noch ist in den vergangenen Jahrhunderten da und dort im Gebiete des heutigen Königreichs Bayern Bergbau auf Gold getrieben worden,
so bei Waldsassen im Oberpsälzer Wald, bei Bodenmais am Fuße des Arber im Böhmerwald und bei Oberammergau. Alle diese Betriebe sind erloschen. Älter als der Bergbau auf Gold sind die Goldwäschereien an den Flüssen
Bayerns.
Schon Otfried, der gelehrte Weißenburger Mönch, gedenkt in
seiner Evangelienharmonie, wo er mit begeisterten Worten die Schönheit und
den Reichtum seines elsässischen Heimatlandes preist, des „Goldes im Sande der Flüsse," hauptsächlich wohl im Rheinsande, und Goldwäschereien am Weißen Main führten zur Entdeckung und Erschließung der goldführenden Gänge von
Goldkronach. Der hl. Rupert, der im Salzburgischen das Evangelium predigte, fand an der oberen Salzach, int Pongau, Goldwäschen vor und Bischof Aribert
von Freising (764—784) nennt seine Heimat das beste Land, voit anmutiger
Bildung und reich an Waldnngen, Wein, Getreide und Herden, an Gold und Silber. Damals umfaßte das Herzogtum Bayern allerdings noch die Lande Tirol und Salzburg, wo die Hohen Tauern mit ihren zahlreichen nach Norden
zur Salzach entwässernden Tälern die Hanptfnndorte des Goldes in den Alpen
waren. Noch heute wird in der Rauris hart an der Grenze des ewigen Eises Gold bergmännisch gewonnen. Im Umkreise des heutigen Altbayern begann erst im 15. Jahrhundert mit dem allgemeinen Aufschwünge des Bergwesens die nachhaltige, gesetzlich überwachte und geregelte Ausbeute des Goldgehaltes der Flüsse.
An der Isar,
dem Inn, der Salzach und Donau, ja selbst in der Alz, Traun und Windach
— diese ein Nebenfluß der Amper — wurde Gold gewaschen und zahlreiche Dekrete der bayerischen Landesfürsten, worin den Goldwäschern Stenern und
Abgaben erlassen wurden, ermunterten zur Ausbeute der bezeichneten Gewässer. Eigentümlich ist dabei die Tatsache, daß der Sand dieser Alpenflüsse erst in
größerer Entfernung vom Hochgebirge anfängt das edle Metall zu enthalten, die Isar von Moosburg abwärts, der Inn von Neuötting, die Salzach von
Laufen, die Donau erst von Kelheim an.
Dies deutet, wie Gümbel sagt,
darauf hin, daß die Flüsse das Gold dem vielfach den Zentralalpen entstammenden
Moränenschutt der Hochebene entnehmen, ans dem sie im weiteren Laufe die Goldteilchen ausscheiden. Iller und Lech, deren Moränenmaterial den nördlichen Kalkalpen und Flyschvorbergen entstammt, entbehren fast allen Goldgehaltes.
88. Die Perlfischerei in Bayern.
444
Die Menge des gewaschenen Goldes war in den
verschiedenen Zeit
räumen wechselnd, niemals aber beträchtlich und die Goldwäscherei gewöhnlich
nur ein Nebengewerbe der Fischer.
Von 1631—1640 erreichte das abgelieferte
Waschgold einen Wert von 132 Dukaten, von 1661—1670 einen solchen von 202 Dukaten.
Durch die Bemühungen der Regierung Max Emanuels stieg
dann die Goldausbeute im Jahre 1718 auf rund 2000 Mark heutigen Geldes
und erreichte 1728 noch 1500 Mark.
beschäftigt.
Etwa 50—60 Personen waren damit
Die Lust zum Goldwäschen an den bayerischen Flüssen blieb bis
in die Mitte des 19. Jahrhunderts rege und lieferte z. B. 1847—1853 noch 1953 Kronen, somit in einem Jahre 199 Kronen — nahezu 2000 Mark.
Am Rhein belief sich die Zahl der Goldwäschen in Baden auf ungefähr
400, in der Pfalz auf 40—50. Von letzteren gewann man 1841—1843 Gold im Werte von 1354 Kronen, im Jahre also 451 Kronen — 4510 Mark. Durch die fortschreitenden Flußkorrektionen, deren Zweck die Beseitigung der Flußalluvionen, d. i. eben der Goldfelder, ist, erlitt die Goldwäscherei starke
Einbuße, nicht minder durch die Aufhebung aller staatlichen Kontrolle dieses Gewerbes und seine völlige Freigabe. 1879 wurden an die K. Münze in
München nur noch 0,113 kg Waschgold abgeliefert. Ehedem prägte man aus dem heimischen Golde eigene Flußdukaten, welche
auf einer Seite das Porträt des regierenden Fürsten, auf der anderen das Bild eines Flußgottes mit einer Urne trugen, woraus er Wasser gießt. Im
Hintergründe ist die Münchener Frauenkirche, aus anderen Münzen der Dom von Speier sichtbar. Die Münzen führten die Inschrift: Ex auro Oeni,
Isarae, Danubii, Rheni.
Flutzdukaten ,,Ex auro Isarae“.
88. Die Perlsischerei in Bayern. Don Hermann Stadler. *
Edle Perlen liefern hauptsächlich die Sceperlmuschel (Meleagrina mar-
garitifera) und die Flußperlmuschel (Margaritana margaritifera). Erstere bewohnt mehrere Teile der Südsee; eine Kenntnis ihrer Schalen (Perlmutter) und Perlen läßt sich bis in die babylonisch-assyrische und altägyptische Zeit
hinauf verfolgen. Die Flußperlmuschel dagegen kommt so ziemlich in ganz Europa und Nordasien vor, doch ist sie an kalkarme Gewässer gebunden und also in Bayern nur im Gebiete des Granits, Gneises und Glimmer schiefers, der Hvrnblendegesteine, das Syenits und Tonschiefers zu finden.
88. Die Perlfischerei in Bayern.
445
Nach historisch-geographischen Gesichtspunkten zerfallen die Perlgewässer
1. die Bäche des altbayerischen Gebiets in Nieder bayern und der Oberpfalz — Bayerischer und Böhmerwald — meist Zuflüsse Bayerns in drei Gruppen:
des Regen, der Naab und Donau; 2. die Bäche des ehemaligen Fürstbistums Passau, zumeist zur Jlz fließend, und 3. die Gewässer der früheren Mark
grafschaft Bayreuth — Fichtelgebirge — zu Saale, Eger und Main gehörig. Die erste Erwähnung geschieht der Perlfischerei in Bayern in einem Erlaß der Herzoge Ernst und Albrecht von München aus dem Jahre 1437, worin sie „als in unserer Herrlichkait und Landgerichten in dem Niederland zu Baiern vor und in dem Wald in allen Flüssen und Wassern und sunderlich
in dem Regen und in der Teyschnach Vein Perlen wachsen und valln . . . ihren Diener und Getrewen Frantzn Zaler" beauftragen, für die nächsten sechs Jahre überall im „Niederland" die Perlen zu suchen und an den herzoglichen Hof abzuliefern, also bereits diese Fischerei für ein Kronrecht erklären, was
sie denn für immer geblieben ist. Zahlreiche Klagen über Diebstahl veranlaßten Wilhelm V. 1579 und 1581 zu scharfen Verordnungen. Man machte die Perlbäche „pänig", stellte Schnellgalgen und Warnungstafeln auf, schränkte die landwirtschaftliche Benutzung der Gewässer möglichst ein und setzte auf
Diebstahl harte Leibesstrafen.
Noch eifriger als sein Vater nahm sich Maxi
milian I. der Perlfischerei an: eigene Perlinspektorcn wurden ernannt, Perl ordnungen erlassen, kurz alles wohl geordnet. Da brach der große Krieg herein und vernichtete den besten Teil des mühevoll Geschaffenen. Aber kaum war
etwas Ruhe im Lande, so nahm der energische Kurfürst seine Bemühungen
wieder auf und fand in dem Perlinspektor Leonhard Vischer eine vorzügliche Hilfskraft. Maximilian zu Gefallen schrieb auch 1637 der Münchener Stadt»
und Hofarzt Malachias Geiger eine eigene Perlschrift (Margaritologia), worin
er die bayerischen Perlen besonders für ärztliche Zwecke empfahl.
Dieselbe ist
zwar ohne jeden wissenschaftlichen Wert, da er einfach die von der Seeperl muschel handelnden Stellen der Alten auf dies jenen ganz unbekannte Fluß tier bezog und überhaupt nur den Zoologen Ulysses Aldrovandi ausschrieb,
machte aber doch weitere Kreise auf die bayerische Perlmuschel aufmerksam. So berichtet 1687 der Rechtsgelehrte Aulus Apronius (Adam Ebert) von Donau-
und Jlzperlen auf Schloß Ambras in Tirol und von einer feuerfarbenen Jlzperle zu Augsburg, die auf 2000 Taler geschätzt wurde. Auch Ferdinand Maria tat viel für die Hebung der Perlfischerei, dagegen stellte Max Emanuels
prunkvoller Hofhalt an die Bäche zu große Ansprüche. Im Spanischen Erb folgekriege verkam während der österreichischen Okkupation der Betrieb fast gänzlich. Auch Karl Alberts wohlgemeinte Bestrebungen vereitelte der Öster
reichische Erbfolgekricg, in dem der berüchtigte Pandurenoberst Trenk die Bäche durch die staatlich bestellten Fischer zwangsweise ausräumen ließ. Max III. Joseph ließ von 1758 ab mit großen Kosten viele Tausende von Muscheln in den Nymphenburger Kanal bei München einsetzen um so in nächster Nähe Beob-
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88. Die Perlfischerei in Bayern.
ochtungen und Versuche anstellen zu können; allein die empfindlichen Tiere gingen in dem für sie zu kalkreichen Wasser der Würm bald alle zu Grunde.
Dagegen haben sich die von Karl Theodor gleichzeitig in einige Bäche bei
Heidelberg im Gebiet des kalkarmen Buntsandsteins eingesetzten Tiere bis heute
erhalten. Hernach geriet die Perlfischerei durch eine Reihe von Fehlern und ver kehrten Maßregeln immer weiter in Verfall. Man ernannte zu Perlinspek toren statt ortskundiger Fischer und Forstleute Münchener Goldschmiede, die hohe Reisespesen verrechneten und vielleicht mehr auf ihr eigenes Geschäft be
dacht waren als auf den Vorteil des Hofes, so daß fortwährend die Aus
gaben größer waren als die Einnahmen. Endlich wurde in den unruhigen Zeiten Napoleons durch fortwährende Truppendurchzüge die Ordnung in diesen Gegenden vielfach gestört und die Perlfischerei hörte ganz auf. Begreiflicherweise erlosch damit auch das Interesse für diese Tiere, und wenn auch unter der Regierung der Könige Ludwig I. und Maximilian II. wieder ein erfreulicher Aufschwung eintrat, so hatte er doch keine lange Dauer. Schließlich wurde der Regiebetrieb im bayerischen und ehemals Passauischen
Gebiete aufgegeben und von 1866 ab sogar eine Anzahl niederbayerischer Bäche samt den Perlenrechten an Private verkauft.
Nun riß seitens der
Berechtigten sowohl wie von Unberechtigten eine heillose Ausbeutung der Bäche
ein.
Wagenladungsweise führte man die Schalen in gewisse sächsische Fabriken,
welche sie abschliffen um Geldtäschchen und andere Galanteriewaren daraus herzustellen. Um daher den noch vorhandenen Beständen einen gewissen Rechts schutz zu gewähren erließen von 1886 ab die Regierungen von Niederbayern
und der Oberpfalz Verordnungen, welche heute noch zu Recht bestehen.
Neuer
dings hat sich auch die bayerische Staatsregierung in dankenswertester Weise
entschlossen zur Wiedererhebung und Erhaltung der Perlfischerei int Baye rischen Walde einen alljährlichen Zuschuß zu leisten. Zunächst wurde bei
Regen ein Musterbach eingerichtet, aus welchem in der Folgezeit die nächst
liegenden Bäche neu bevölkert toerben sollen; nach und nach sollen auch in anderen Bezirken solche Musterbäche entstehen um von ihnen aus allmählich
alle die ausgeraubten Perlenbäche wieder zu besetzen. Dieser Musterbach wird auch zugleich als Versuchsbach benutzt; denn die Lebensvorgänge des
Tieres wie auch die Pcrlbildung selbst sind noch nicht nach allen Richtungen erforscht. Ohne Unterbrechung erhalten haben sich die Fischereien der früherett Markgrafschaft Bayreuth. Schon Konrad Celtes erwähnt um!1502 die Perlen des Main, später werden noch Regnitz, Göstrabach, Selbitz und Lamitz genannt, weiterhin der Grünaubach, die Ölschnitz und Schwesnitz und der
Lübitzer Bach bei Gefrees.
In diesen Gewässern, in den Rentämtern Hof,
Marktschorngast und Selb, wird die Perlfischerei in Regie heute noch unter der Leitung der Forstbchörden betrieben. Die gefundenen Perlen gelangen zunächst
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89. Das Münchener Künstlersest von 1840.
an die K. General-Bergwerks- und Salinenadministration, wo sie verwahrt bleiben, bis das Ergebnis mehrerer Jahre die Vornahme einer Versteigerung verlohnt. Vor der Versteigerung werden ausgesuchte Stücke der Krone zur
Einverleibung in den K. Hausschatz angeboten. Solche Prachtstücke sind es, die wir in der K. Schatzkammer bewundern; aus solchen bestand auch die
Halskette, welche Prinzregent Luitpold der Prinzessin Gabriele bei ihrer Ver mählung mit seinem Enkel Prinz Rupprecht überreichte.
89. Das Münchener künstlersest von 1840. Don Thomas Stettner.*
Wenn die rasch vorüberrauschende Schönheit eines Maskenzuges noch im Andenken von Kind und Enkel nachklingt, wenn wir noch nach zwei Menschen
altern der Erzählung der wenigen überlebenden Zeugen desselben andächtig lauschen wie einem schönen Märchen aus guter alter Zeit, dann müssen besonders glückliche Sterne über ihm geleuchtet haben. Solche waren wie kaum je einem Fest dem Dürerfest von 1840 beschieden.
Die romantische Schule war vornehmlich unter Münchens Führung zum vollen Sieg in der Kunst gelangt und frohe Tätigkeit herrschte allent
halben, doch nirgends mehr als in München; riesige Baugerüste stiegen zum Himmel empor, der Meißel des Bildhauers erklang, im stillen Atelier genügte
den Malern Pinsel, Kohle
und
Stift kaum die überquellende Fülle von
Erfindungen aufs Papier zu bringen; die Gußhäuser rauchten wie einst in den goldenen Tagen von Florenz: kurz, es war eine Lust zu leben. Und wie
die Künstler das geistige Leben der Hauptstadt führten, so waren sie auch gesellschaftlich mit allen Kreisen eng verwachsen und überall gern gesehene Gäste. Da mochte denn der Wunsch sich regen der Freude an der schönen Gegenwart und
der Dankbarkeit gegen ihren fürstlichen Beschützer dadurch
sichtbaren Ausdruck zu verleihen, daß man — im Verein mit allen kunst liebenden Kreisen der Stadt — die Schönheit der vergangenen Zeit, in der man im Gedanken lebte, im lebendigen Bild erstehen ließe.
Dies Fest mußte
gelingen. Gedacht, getan. Das Programm war bald entworfen, die Vorbereitungen bald in vollem Gange. Als Stoff lag ihnen zu Grunde die Verleihung des Künstlerwappens an Dürer durch Kaiser Maximilian. Das Ganze sollte aus
drei Abteilungen bestehen: einem Aufzug der Bürger, dem Zug des Kaisers und einer Mummerei zur Belustigung des Kaisers.
Ausklingen sollte es in
-eine Huldigung für König Ludwig. Im Hauptquartier ging cs bald lebhaft zu.
Da peinlichst darüber
gewacht wurde, daß jeder zu seiner Rolle passe und daß die Kostüme ganz
der Zeit entsprächen, ward über beides strenges Gericht gehalten. Jeden Abend fanden sich die Teilnehmer ein, deren Gewandung vollendet war, und
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89. Da- Münchener Künstlerfest von 1840.
„auf den Tisch
gestellt, umgab sie mit kritischem Blick das Komitee"
änderte unerbittlich alles nicht echt Erscheinende.
und
Sorge machte vor allem
die Wahl eines passenden Vertreters des Kaisers; aber während eben beraten
wurde, trat der kurz vorher nach München gekommene Lichtenheld in den
Saal, eine Verkörperung des ritterlichen Max — diese Sorge war gehoben. Auch die Wahl der anderen Figuren
gelang so gut,
daß
der Bericht stolz
melden konnte: „Jeder war, der er sein sollte und wollte." Aus einem anderen Raume ertönten die Chöre, die Franz Lachner, Stuntz und Kunz für das Fest komponiert, und daneben exerzierten die 60 Landsknechte — es gestaltete
sich eine originelle Welt im kleinen.
Endlich war alles fertig. Am Abend des 17. Februar herrschte im Hoftheater reges Leben. Die Bühne und ein Teil des Zuschauerraumes waren in einen Saal verwandelt, in den Gängen drängten sich die zum Zuge antretenden Künstler und Kunstgenossen. Die Logen und das Parterre waren von einer schaulustigen Menge gefüllt.
Trompeten und Pauken ertönen, der
Zug betritt den Saal. Voran schritten die Zünfte in ihren kleidsamen, farbenreichen Trachten:
zuerst die Zunft der Meistersänger mit dem in dunkelm Pelzmantel einher schreitenden Hans Sachs, daran anschließend die Zunft der Bader mit Rosenblüth und dem hageren Hans Foltz.
Dann kamen die Schlosser, die Buchdrucker
und Formschneider mit Hans Schäufelin und Koberger, dem größten Buch händler der damaligen Zeit, die Silber- und Goldschmiede als glänzendste Gruppe, jene in himmelblauen und roten Gewändern mit weißem Überwurf, diese hochrot und schwarz mit goldgestickten Mänteln.
Als Meister der Orna
mentenschneider schreitet im polnischen Rock Veit Stoß einher. Ein rührender Anblick ist die Zunft der Gelb- und Rotgießer, denn Peter Vischer und seine Söhne bilden sie allein; er ist ein Bild des Glücks, wie er im Arbeitskittel,
mit Schurzfell und runder Filzkappe vorübergeht.
Die hünenhaften Zimmer
leute folgen; zuletzt kommt die Zunft der Maler und den Beschluß macht Albrecht Dürer zwischen seinem Lehrer Michel Wohlgemuth und Adam Kraft.
Zwei Edelknaben tragen ihm das Wappen vor, das Maximilian der Maler zunft verliehen haben soll und das seitdem zum allgemeinen Künstlerwappen
geworden ist.
Nun kommen die Vertreter der Stadt Nürnberg: der Stadthauptmann, Bürgermeister und Rat und endlich die festlichen Reihen der Geschlechter, die Männer in reichen Seidengewändern und neben ihnen, von Gold und Edel
steinen funkelnd, die Frauen und Töchter. Eine zweite Reihe von Trompeten und Pauken zieht in den Saal, gefolgt von einem Haufen Landsknechte mit einem Wald von Spießen; dann wird es plötzlich feierlich still — der Kaiser naht. Das kaiserliche Panier wallt hoch über allen, die Leibwache mit Flambergen, eine Schar Edelknaben
und Jäger gehen voran, dann schreitet in wundervoller Ruhe im goldenen
89. Das Münchener Künstlerfest von 1840.
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Brustharnisch und Hermelinmantel von Goldstoff, auf dem Barett die Krone, umgeben von Fackelträgern mit vergittertem Gesicht, Maximilians hohe Gestalt vorüber. Hinter ihm aber folgen waffenklirrend alle die, welche durch so viel
Länder in Nord und Süd für ihn die Waffen getragen, ein Frundsberg und Sickingen und Mark Sittich von Ems nnd ungezählte andere.
Gar bescheiden
nimmt sich gegen sie das Häuflein Gelehrte aus mit Wilibald Pirkheimer und Melchior Pfinzing in der Mitte.
Unmittelbar hinter ihnen rauscht der Mum
menschanz einher und beendet in toller Lustigkeit den Zug. Nachdem der ganze Aufzug dreimal den Raum durchschritten, traten alle in der Mitte des Saales zusammen, das vom Landschaftsmaler Felix v. Schiller
gedichtete und von Franz Lachner komponierte Festlied erscholl im mächtigen Chor, dann, ein gewaltiges Lebehoch auf den König. Dieser dankte sichtlich erfreut: er wußte, daß diese Huldigung von Herzen kam.
Durch die Säle und Korridore der Residenz und durch die Arkaden des Hofgartens zog man dann gar eilig über den regenfeuchten Platz in den großen Odeonssaal. Dort reihte sich Tafel an Tafel. Chöre, Schwänke, Narreteien kürzten in buntem Wechsel die Zeit: nach dem Mahle ging das Fest in einen
Tanz über;
— als die Morgensonne durch die Fenster des Saales schien,
mahnten die Sprecher den Mummenschanz zu beschließen. Der Eindruck des ganzen Festes war ein gewaltiger.
Das war kein
Maskenzug, es war ein historisches Gemälde, die Berkörperung einer großen, vorbildlichen Zeit. Die Blätter brachten begeisterte Berichte; künstlerische und
historische Betrachtungen wurden daran geknüpft; ein Feld im Außenschmuck der Neuen Pinakothek wurde der Darstellung des Festes gewidmet, kurz, das
Schauspiel war zu einem Ereignis geworden. Am 2. März mußte, da Bitten und Drängen darum nicht nachließ, der
Maskenzug wiederholt werden.
Es war ein überwältigender Anblick, als er
in seinen leuchtenden Gewändern und schimmernden Gewaffen durch die lange Reihe von Pechflammen und Fackeln,
diesmal bei klarem Nachthimmel, aus
dem Theater ins Odeon zog, wo scherzhafte Aufführungen und Tanz die Zeit füllten. Die Sonne stand schon hoch, als der Rest des Zuges nach dem
„Englischen Cafe" zog; — das helle Morgenlicht umstrahlte die Pracht der Kostüme.
Dann ging's zu Wagen und zu Fuß nach der Menterschwaige und
auch die zweite Morgensonne traf noch nicht alle als Schlafende. Das gütige Geschick hat aber auch dafür gesorgt, daß uns ein Nachhall
von der Festesfreude und -schönheit erhalten blieb;
denn in jenen Wochen
kam ein junger Künstler nach München und warf sich mit begeistertem Herzen in die Wogen des Künstlerlebens, um nach jahrelangen« Ringen zum Entschluß
des Entsagens zu kommen, da ihm auf anderen Höhen der Lorbeer winkte. Es war Gottfried Keller, der uns im „grünen Heinrich" eine so ausführliche und lebenswarme Schilderung des Festes gibt. Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
29
90. Thorwalds«» im Knorrkeller.
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Wir können uns der Erinnerung an dasselbe mit ganzem Herzen freuen;
denn die Künstlerfeste, deren Reigen eben jenes Dürerfest so glänzend eröffnete,
sind in München bis heute heimisch geblieben. Mag auch im Laufe der Zeit mancher Gegensatz in den einzelnen Lagern der Münchener Künstlerschast sich herangebildet haben, gilt es ein solches Fest, so treten sie alle zu fröhlichem
Beginnen zusammen.
Und wie damals nehmen heute alle Kreise der Bevöl
kerung Münchens an ihnen genießend Anteil und freuen sich der Fülle von Schönheit und von jugendfrischem Humor, der in ihnen lebt. Und dieses Erbteil
aus der Frühlingszeit der Münchener Kunst wird auch in Zukunft weiter blühen.
90. Thorrvaldsen im knorrkeller. München, 20. Juli 1841. Don Ludwig Steub.')
Wer sich unter dem Sommerkeller eines Münchener Bräuers etwa einen
Keller vorstellen wollte, wie ihn die übrige Welt auch hat, der befände sich in einem großen Irrtum. Es sind dies keine von jenen kleinen Grüften, wo die Hausftau ihre Weinfäßchen aufstapelt und ihr Flaschenbier, sondern viel
mehr ungeheure Gewölbe, in die man allenfalls vierspännig einfahrcn kann
und die aus ihrem Rücken mächtige Gebäude, wie Edelsitze und Schlösser, tragen, welche weit rankende Arme ausstrecken, mit Sommerwohnungen für den Eigen tümer, kühlen Hallen für die heißen Sommertage und netten gemalten Zimmerchen
für die Stammgäste.
Diese Burgen stehen in einem weiten Gehöft, das gar
Mannigfaltiges aufzuweisen hat.
So vor allem die vielen Ruhebänke für die
labedurstigen Gäste, malerisch auf die schönsten Plätze hingestellt, unter das Dach alter Linden oder stolzer Kastanienbäume.
Ferner gehört ein kleiner Wald dazu, durch welchen einsame Kiespfade ziehen oder auch die breite Heerstraße
für die Bierwagen.
Im Gehölze selbst aber finden sich Blumcngärtchen, Rosen
hecken, Stachelbeergebüsche, grünes Geländer, ländliches Treppenwerk, stille, stimmungsvolle Lauben und endlich auch eine wundervolle Aussicht über die
Münchener Hochebene ins Abendrot oder auf die blauen Züge der fernen Alpen. In einem solchen Keller nun, und zwar in einem der schönsten, bereiteten am Abend des 20. Juli 1841 die Künstler Münchens dem großen Thorwaldsen ein Fest.
Der lange Sommertag begann sich zu neigen und der Keller mit
Haus und Hof, Garten und Wald, reichlich geschmückt mit Laubbögen zu ebener
Erde, mit wallenden Flaggen auf den Zinnen, war voll harrender Verehrer,
voll von Jüngern der Kunst aus allen deutschen Gauen, voll von anderen Herren und Damen und voll lieber Jugend.
Ein sanfter Anstieg führt aus der waldigen Talenge, welche die Einfahrt bildet, allmählich hinauf gegen die kleine Hochebene.
Dort sammelte sich nun,
*) „Kleinere Schriften", IV. Band, S. 1 ff. Stuttgart 1875, Cotta.
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90. Thorwaldsen im Knorrkeller.
als der gefeierte Gast von der hohen Warte, die das Dach krönt, erspäht war, der Reigen der Festgeber, voran auf grünem Rasenflecke ihre jungen Frauen,
deren sie sehr schöne haben, hinter ihnen die Haufen der kunstliebenden Münchener,
die den Wundermann erschauen und sein Bild zur unvergeßlichen Erinnerung mit nach Hause nehmen wollten.
Der Wagen rollte unter Böllerkrachen vor.
Thorwaldsen, der stattliche Nordländer, mit dem Löwenkopfe und den langen Silberhaaren, begleitet von den ersten künstlerischen Zelebritäten, die mit ihm
gekommen waren, schritt jugendlich, alle Blicke auf sich ziehend, den Anstieg
hinauf, während alle Häupter sich entblößten, alles sich verneigte und ein donnernder Willkomm ihm entgegenscholl. Dort oben bot ihm auch der gastfreundliche Herr des Kellers seinen Gruß, den der schöne Greis mit kraftvollem Händeschütteln erwiderte. Jetzt ging's mit fröhlichem Drängen hinein in die Banketthalle.
Dazu
war die uuernießliche Hausflur eingerichtet worden, die das Erdgeschoß des Kellcrgebäudes bildet. Sie ist eigentlich ein Vorratshaus für die tausend Fässer, die unser Brauherr nötig hat; aber jetzt in ihrem Festschmucke konnte sie niemand mehr dafür erkennen. Über die Gewände spannten sich jene schönen, alten
Tapeten, welche nach Peter Candids Zeichnungen gewirkt sind und die Taten Ottos, des tapferen Wittelsbachers, darstellen, wie er für Kaiser Friedrich focht in den italienischen Schlachten, wie er die Klause bei Verona stürmte oder wie er die Griechen von Byzanz aus der Mark Ankona vertrieb.
Die Decke ver
schönerte eine glückliche Improvisation dekorativer Malerei; die rauhen Dielen des Bodens verhüllte frisches Grün; in der Höhe zogen duftende Blumen gewinde durch den Saal. Von dem vorjährigen Dürerzug, wo die ganze Pracht des späteren Mittelalters wieder auferstanden war, ist den Malern und Bildnern eine große Vorliebe geblieben für den Geschmack jener gepanzerten Zeiten, so daß ihnen jetzt Waffenglanz und gotische Geräte als der schönste Schmuck
für ihre Trinksäle gilt.
Demgemäß starrten die Pfeiler von ritterlichen Rüstungen,
Harnischen und Pickelhauben, von Turnierspeeren, Panieren und alten Flam
bergen.
Ein Dutzend Kronleuchter sandten ihr funkelndes Licht von der Decke;
unten zog sich unabsehbar die festliche Tafel hin, reich verziert mit goldglänzenden Kandelabern, Blumensträußen und mit einer unendlichen Front von glitzernden Gläsern.
Auf der langen Zeile jener Tische, wo die „Löwen" saßen, prangten
die vergoldeten Statuetten der Wittelsbacher Fürsten, wie sie Schwanthaler
geschaffen, auf der anderen die der großen Maler des 16. und 17. Jahrhunderts von demselben Meister. Gigantische Humpen mittelalterlichen Ansehens standen nachbarlich neben diesen Bildern. Zu Handen des Gefeierten war ein goldener Pokal zu sehen von reicher, gotischer Arbeit, vor ihm ein kleines Bronzebild
der Reiterstatue Maximilians, seines eigenen Meisterwerkes, ihm gegenüber auf der anderen Tischreihe ein verjüngter Gipsabguß des Schillerstandbildes, hinter
diesem aber und somit gerade im Angesicht des Gastes war in einem Haine von Lorbeerbüschen und Pomeranzenbäumen die Büste unseres Königs aufgestellt. 29*
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90. Lhorwaldsen im Knorrkeller.
Alles das glänzte und funkelte herrlich durcheinander und wer weiß, ob der
pilgernde Heros
auf seinem Triumphzuge
durch Deutschland
eine Feslhalle
betreten hat, die der unsrigen an überraschender Gewalt des Eindrucks gleich
stehen möchte. In diesen einladenden Räumen setzten sich also die Tischgenossen zur Tafel.
Was München von artistischen Berühmtheiten aufzuweisen hat, war da zusammen
gekommen um mit dem großen Meister des Abends froh zu werden — auch mancher Staatsmann, mancher Gelehrte von gutem Namen hatte sich eingefunden.
In das fröhliche Summen der heitern Zecher traten nach und nach belebend die Trinksprüche ein,
ausgebracht in feierlicher Stille,
wogegen donnernde
Vivatrufe und schmetternde Trompetenstöße ihnen folgten.
daß es unsere Maler an solchen Tagen
Nun muß man aber wissen,
bei gemütlichem Zusammentrinken nicht bewenden lassen, sondem immer auch zur Erhöhung des Jubels dramatische Maskeraden in das Treffen führen, die
geistreich erfunden sind und mit drastischer Komik an uns vorübergehen.
gab's denn auch heute einen Schwank, den wir laut dem Libretto:
So
Schieds
richterliches Urteil des alten Vaters Zeus in Sachen München, Stuttgart, Mainz
und Konsorten die
berühmten
wider Ritter Thorwaldsen
betiteln
Es traten da
dürfen.
Städte München, Mainz, Stuttgart, Kopenhagen und Rom,
repräsentiert durch die Bildwerke, die sie von dem Meister besitzen, als Guten
berg, Schiller, Maximilian, welcher gar zu Pferde war u. s. w., angemeldet durch den alten Gott Merkurius als den Gerichtsboten, vor den lächelnden Feiergast und begannen in humoristischen Streitreden darüber zu hadern, welcher von ihnen er eigentlich angehöre.
In das Plaidoyer mischte sich zuletzt auch
die weißarmige Juno von hohem Stuhle herab, leichter erkenntlich an dem Fächer von Pfauenfedern, mit dem sie agierte, als an dem braunen Schnurr
barte,
der ihren
Göttermund
beschattete.
In Anbetracht
des letztgedachten
Charakteristikums klang es komisch genug, als sie in tiefem Basse also sprach:
„Was wollen die Menschen in dieser Sache Mit ihrer Rede konfusem Sinn? Fürchten sie nicht meine glühende Rache, Wissen sie nicht, daß ich Juno bin? Wissen sie nicht, daß du all meine Söhne Mit der Wahrheit durchdringender Macht Rachgebildet in strahlender Schöne, Wie's noch kein Sterblicher jemals vollbracht?" Den Streit schlichtet Zeus, der schreckliche Donnerkeile schwingt,
unwiderruflich entscheidet, wie folgt:
„Rein, dieser Mann gehört nicht einem Lande, Richt einer Stadt allein gehört er an; Denn er umfaßt mit seines Geistes Bande Die ganze Welt, nur ihr, der Welt gehört er an!" ein llrteilspruch, der von stürmischem Jubelrus begrüßt wurde.
und
91. Des Kronprinzen Maximilian Hochzeit im Oktober 1842.
453
Kaum war aber der Bater der Götter und Menschen mit seiner Gemahlin, mit den klagenden Parteien und mit dem Gerichtsboten Merkur wieder ab
getreten, so brach der Liederkranz herein, zwciundsechzig Männer, denen süßer Wohllaut in der Kehle schläft, an der Spitze Meister Kunz, der treffliche Musikus. Diese richteten sich in der Mitte des Saales ein und sangen nun zum Nachmahle
ihre schönen Lieder, vor allem das begeisterte „Helden, laßt die Waffen ruhen",
das „Walhallalicd" mit seinen Heldentönen, das bei uns bereits zum Volks gesang geworden ist. So ging es fort in herrlichster Fröhlichkeit; Trinksprüche, Vivatrufe, lustige Scherze, prächtige Lieder und Musikstücke wechselten miteinander ab,
bis endlich nach Mitternacht Thorwaldsen in milder Rührung dankend Abschied nahm.
Wie einen jungen Hochzeiter begleiteten sie mit spielenden Musikanten,
jauchzend und jodelnd, den greisen Meister an den Wagen und unter hallendem Lebehoch fuhr er aus ihrer Mitte.
91. Des Kronprinzen Maximilian Hochzeit im Oktober 1842. Don Ludwig Steub.1)
Bei uns ist alles voller Freuden, die fröhlichste Aufregung geht durch alle Gassen der Stadt, von einem Ende des Weichbildes bis zum anderen, vom Erdgeschoß bis ins Dachstübchen. Der Reigen unserer Feste ist eröffnet seit
dem Tage, als die junge Kronprinzessin ihre neue Heimat in unserer Königs burg betrat. Daß die liebliche Braut, die Prinzessin Marie von Preußen,
mit herzlichem Willkomm werde ausgenommen werden, war vorauszusehen, aber die jubelnde Aufgeregtheit bei ihrem Empfange war am Ende doch noch
überraschend.
Es war in der Tat ein schöner Tag,
als selbst die kolossale
Ludwigstraße zu eng wurde für die Tausende, welche im Sonnenschein auf und ab wogten, die voll Freude und Spannung durcheinander drängten in der
festlich geschmückten Gasse, aus deren Fenstern ungeheure Banner flaggten.
An ihrem Anfänge, wo das Gebiet der Stadt beginnt, war dagegen ein grüner Triumphbogen erbaut, auf welchem der Willkomm zu lesen, den die Harrenden der Erwarteten, längst Ersehnten mit Herz und Mund entgegen trugen. Alle die Freudenbezeugungen der Städte, der Märkte und Dörfer an der Straße — noch im letzten Orte, zu Schwabing, standen die Landleute mit einem sinnigen Gruße bereit — alle diese Huldigungen hatten die Ankunft
etwas über die angesagte Stunde verzögert; endlich aber ging ein ftoher Ruf durch die Menge, welcher deutlich kundgab, daß der rechte Augenblick gekommen sei. Über dem bunten Gewimmel sah man die Helme der Kürassiere funkeln, die dem Zuge voranritten, die Gasse öffnete sich, der Wagen nahte,
die Reiter zogen vorüber,
ein tausendfacher Willkomm stieg
■) „Kleinere Schriften," IV. Band, S. 33 ff.
donnernd auf und in
Stuttgart 1875, Cotta.
454
91. Des Kronprinzen Maximilian Hochzeit tut Oktober 1842.
offenem Viergespann erblickten wir an der Seite der Eltern, des Prinzen Wilhelm von Preußen und seiner Gemahlin, ein holdes, jugendliches Frauen
bild, lieblich gerötet von der Aufregung des Tages, mit zauberhafter Freund lichkeit die Bürger grüßend, die sie jubelnd in ihre Stadt geleiteten. Es ist
unter allen, die da waren, nur ein Entzücken über die frohe Feierlichkeit dieser
Stunde, nur
eine
Freude über
die
anmutige Persönlichkeit der schönen
Fürstin. Der Vollständigkeit nach wäre nun zu erzählen,
wie sich von da an
Feier an Feier drängte: es wäre der reiche, noch lange nicht endende Kranz der großen und kleinen Feste zu besprechen, die vom Hofe, von der Stadt,
von den Familien gefeiert wurden, die hohe Vermählung selbst, die Theater
stücke, Festspiele, beleuchteten Häuser, die Bälle, Gastmähler und Bankette — indes wir wollen, um bald zum heutigen Festtage zu gelangen, nur etwa den unendlichen Jubel hervorheben, der an dem Abend erscholl, als die hohen Neuvermählten zum erstenmal das Theater besuchten und an die Brüstung der
königlichen Loge vortretend sich dem zahllosen, glänzenden Publikum zeigten
— diesen Jubel, der, gar nicht mehr zu beschwichtigen, in immer neuen Salven aufschlug und nur spät erst die Trompeten nach langen, fruchtlosen Versuchen zu Worte kommen ließ.
Seit drei Tagen ist nun auch die ganze Stadt hochzeitlich aufgeputzt. Von den Firsten herunter senken sich mächtige Fahnen, blau und weiß, schwarz
und weiß, in die volkreichen Gassen und an den Wänden hinauf von unterst bis
zu
oberft
blühen
freundliche Ziergärten
mit Bildern,
Namenszügen,
Wappenschilden, mit Flaggen, Tapeten und anderem prangenden Ornate aus
gelegt.
Manche Fronten sind so reich und zierlich,
so prachtvoll und so
glänzend, daß man glauben sollte, das Portal führe unmittelbar in einen Feenpalast — am besten von allen Gegenden der Stadt hat uns aber der
feierliche Schrannenplatz *) gefallen. So stehen wir denn ant heutigen Tage, den die Freude der Bayern über die Hochzeit ihres Königssohnes so bedeutsam und so volkstümlich verschönt
hat. Wir haben nun vor allem der 36 Brautpaare zu erwähnen, welche die acht bayerischen Kreise ausgestattet und hierher gesendet haben. Es war gewiß ein preiswürdiger Gedanke alle Gauen des Landes durch solche Festgesandte an der Feier und an ihren Freuden teilnehmen zu lassen.
Die Idee hat hier höchlich angesprochen und ebenso groß wie die Freude unserer Landsleute, sich
als Hochzeitsgäste in der wunderreichen Hauptstadt zu finden, war wohl die Neugier der Münchener die Stellvertreter aller Gebiete des Königreichs im Feierstaate sich gegenüber zu sehen.
Heute früh 10 Uhr war nun die bestimmte
Stunde, wo der Festzug vom Rathaus herunter über den Schrannenplatz und
durch die Kaufingerstraße zur Trauung in die Kirche ziehen sollte; *) Jetzt Marienplatz vor dem Rathause.
und so
91. Des Kronprinzen Maximilian Hochzeit im Oktober 1842.
455
stand denn geraume Zeit vorher schon aus dem Platze und in der Gasse un zähliges Volk.
Endlich kommt der Zug.
Voraus ein Bannerträger mit der Fahne von
München, dem Mönche im goldenen Felde, und dann die Bergschützen von Lenggries und Wackersberg, über 100 Mann, mit ihren Spielleuten, welche
die Schwegelpfeife bliesen und die Trommel rührten, prächtige Hochländer mit buschigen Schnurrbärten und roten Backen in ruhig fester Haltung einher schreitend, mit grünen Rocken, den grünbebänderten Hut mit den Spielhahn federn und dem Gemsbarte auf den« Haupte, den sichern Stutzen im Arm.
Auf die grünen Schützen der Berge folgten also die 36 Hochzeitszüge. Die Brautleute erschienen mit ihren Brautführern
und Hochzeitladern,
den
jugendlichen Kränzeljungfern, mit dem Ehrenvater, der Ehrenmutter und den Gästen — alle zusammen an 400 Personen. Einzelne Genossenschaften waren zu Fuß, andere saßen in langen, reichverzierten Wagen, die von vier stolzen,
urkräftigen Rossen
gezogen wurden.
Da gab es viele wunderliche Trachten
zu beschauen, die zum größten Teil noch jetzt im Ansehen sind, wenn auch
hier und da mit lobenswertem Takte um einige Dezennien zurückgcgriffen wurde um alte, funkelnde Prachtstücke, die jetzt vielleicht außer Übung gekommen,
wieder glänzen zu lassen.
Es wäre aber zu große Arbeit den farbenreichen
Zug nach all seinen Gewandstücken zu schildern und die 36 Landsmannschaften gesondert abzumalen und so wollen wir denn nur einzelne herausheben.
Zuerst kam also
der elegante Brautwagen
der Landeshauptstadt,
von
welchem die hübschen Töchter von München herablächelten, die zierlichen Gestalten mit dem blitzenden Riegelhüubchen und dem reichverschnürten Mieder, an dem die hundertjährigen Hccktaler hängen.
Mit den Oberbayern erschienen
auch die Reichenhaller, denen die heimatlichen Bergschützen das Geleit gaben, Mit den Mädchen von München in ihrer modernen städtischen Zierlichkeit mochte man die Hochzeiterin von Schroben
mit graue» Joppen und spitzen Hüten.
hausen, „der Stadt an der stillen Paar, treu dem Königshause immerdar", zusammenhalten, die in alter bäuerlicher Pracht, die Haare gepudert und abwärts mit roten Bändern in einen dicken Zopf geflochten,
eine schwere,
weitausgreifende Krone auf dem Haupte trug.
Nach dem Brautpaare aus dem Gebirge von Rosenheim fuhren die rotjackigen Jungen von Straubing, die mächtig auf ihren Trompeten bliesen, stolz auf ihre Hochzeiterin, die auch in roter Jacke prangte.
Hierauf in offener Kalesche die Passauer, die schönen Mädchen von Passau mit den goldenen Hörnern auf den Köpfchen, sämtlich
jenes berühmten Schlages, der am Jnnstrom erblüht von seinen Quellen in
Engadin
durch Tirol und durch das bayerische Hügelland hinunter bis zu
seinem Einfluß in die Donau.
Dann die Rottaler Bauernjungfern mit kufen
förmigen Kronen von Flittergold und nach diesen die ferne Pfalz in städtisch züchtiger Einfachheit — den Reichtum ihrer Herzen beweist das Geschenk der Burg Hambach, das die Pfalz am Rhein in diesen Tagen dem Königssohn
91. Drs Kronprinzen Maximilian Hochzeit im Oktober 1842.
456
zu Füßen legte.
Ferner die Oberpfälzer von Kemnath, wo der Bräutigam
mit dem Säbel zur Hochzeit geht, die Mädchen mit hohen, dünnen Zylindern auf dem Scheitel, welche seltsam nicken, und die Hemauer, denen der Braut
führer das Schwert vorantrug.
Mit den Oberpfälzern waren 76 Bergknappen
gekommen, die nun in schwarzer Bergmannstracht, den Hammer im Arme, in Reih und Glied vorüberzogen, ihre Trompeter voran — ein in unserer Ebene selten gesehenes Korps.
Dann folgten die Bambergerinnen mit den gigantischen Barthauben und wieder im offenen Wagen die Ratsherren von Kronach in schwarzem, spanischem Gewände mit goldenen Ketten, sehr stattlich anzusehen
— ein beneidenswertes Bild für alle anderen schwarzfrackigen Ratsherren unserer Zeit.
Hierauf die kräftigen Männer aus dem oberfränkischen Mistelgau mit
breiten schwarzen Hüten in alteigentümlicher Landestracht. Ans Mittelfranken waren die Knoblauchsbauern da, die um Nürnberg wohnen und große Blumenfreunde sind — aus Unterfranken waren Hochzeit leute von Würzburg gekommen und feine Mädchen damit, mit niedlichen Flor
häubchen geschmückt, in weiße Stoffe gekleidet, leicht und elfenhaft und wohl berechttgt mit den Töchtern von München und Passau um den Preis der
Zierlichkeit zu ringen. Diesen folgte ein Hochzeitszug aus dem reichen Schweinfurtergau, wo das Frauenvolk hohe, kegelförmige Hauben trägt, deren Ausläufer als breite Bänder über den Rücken flattern.
Die Mädchen dieses
Gaues erfreuen sich besonders schmächtiger Füßchen und behaupten mit koketter Ironie, sie hätten nicht Geld genug sich große Schuhe machen zu lassen.
Den Schluß bildeten die Schwaben.
Zuerst ein Zug von Trompetern
aus Augsburg in altdeutschen Sammetröcken und Baretten, dann die zwei Brautzüge aus der alten Augusta, 32 Personen. Die Frauen von Augsburg trugen noch die goldenen reichsstädtischen Boggelhauben,
die Mädchen
von
Kempten aber jene riesenhaften scheibenförmigen Gebäude, die sie Radhauben nennen.
So zogen also in spannender Mannigfalttgkeit der Gewänder, glitzernd
in Gold und Silber und in reichem Spiel der Farben die jungen Brautpaare,
ihre Verwandten und Landsleute in die Kirchen zur Trauung.
Von
den
Dächern herunter wallten ihnen die Festbanner entgegen, aus den bekränzten vollen Fenstern bewunderten sie die Herren und Frauen, auf der Gasse freute
sich unzähliges Volk an den stattlichen Männern und den anmutigen Jung frauen,
welche lächelnd vorüberfuhren,
während
die Trompeten und Wald
hörner, die im Zuge reichlich verteilt waren, ermutigend dareinschmetterten. Als sie, die Katholiken in der Michaelskirche, die Protestanten in der Matthäuskirche getraut waren, kamen sie wieder zusammen und begaben sich allerwege durch dichtes Gedränge des Volkes in den Pschorrkeller, wo ihnen
in dem weiten Raume ein Mittagsmahl bereitet war, das die Stadt München
gab, welche überhaupt die Honneurs des Festes mit großartiger Freigebigkeit zu machen wußte. Im weiten Hofe des Pschorrkellers stellten nun die Fest ordner den Zug wieder auf zum feierlichen Gange über die Theresienwiese.
92. An die Kronprinzessin Marie von Bayern.
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Hier kamen auch die festlichen Symbole hinzu, die ihm die letzte Weihe gaben — alle Landsmannschaften ließen ihre Banner wehen und allen voran wehte
die große Fahne mit dem Wappen des Königreichs.
Nun ging's freudig hinab
in die Wiese, auf welche eine herrliche Herbstsonne herunterleuchtete, und vors königliche Zelt, wo die Mistelgauer einen heimischen Brauttanz begannen und ihre Jungfrauen weidlich schwangen, zum großen Vergnügen der Hundert
tausende, welche auf dem Tanzplatz standen.
Dann reihten sich alle auf die
Bänke, die für sie aufgeschlagen waren, gegenüber den königlichen Herrschaften, um das Rennen zu beschauen. Wir unterlassen die weitere Schilderung der
müssen uns aber noch bei dem tiefen Eindruck aufhalten, den der
Feier,
Festzug auf alles Volk, hoch und nieder, hervorbrachte. Manchem Beschauer wurden die Augen feucht und selbst weither gekommene ausländische Gäste gestanden gern ihre Rührung ein. Es ist das Volkstümliche, das so wirkt,
die Freude an der Art des eigenen Stammes, der Gedanke, wie viel Schönes und Herrliches, anscheinend Unmögliches sich durch einträchtigen Sinn, durch Liebe und Begeisterung für teure Namen ermöglichen lasse. Es ist etwas Prächtiges um ein volkstümliches Volksfest!
Wollte Gott, wir Deutschen alle
hätten bald Anlaß ein großes, deutsches Volksfest zu begehen, sei's an den Ufern des Rheins
oder der Donau, wo dann
und die Weinbauern der Pfalz,
die Seemänner von Danzig
die Dittmarscheu und die Zillertaler neben
einander erscheinen mögen im pangermanischcu Festzug!
92. An die Kronprinzessin Marie von Bayern, geb. Prinzessin von Preußen. Don Franz Graf von Pocci.
Zieh Ins Wir Das
ein, o königliche Braut, neue VaterlandBayern harren sehnsuchtsvoll, Banner in der Hand.
Das Freudenbanner in der Hand, Es flattert weiß und blau Und spricht zu dir im Farbenspiel: „Komm Unschuld!" und „Vertrau!"
Sieh unsre Scharen dichtgedrängt, Wie sie um dich sich reih'n, Und dir und unserm Königssohn Die Huldigungen weih'n! Der Demant aus dem tiefen Schacht Schmückt deiner Krone Glanz, *) „Dichtungen", S. 110.
Der Myrte dunkelgrünes Laub Soll winden sich zum Kranz. Und wie der Demant, stark und fest, Wird unsre Liebe sein, Der Bayern Herzen treubewährt O glaub es! - sie sind dein.
Und wie der Myrte Blätter nun Um deine Stirne blüh'n, So werden, wie am heutigen Tag, Die Herzen stets erglüh'n! Das Danner weht, die Myrte blüht, Es glänzt der Diamant; Zieh ein, o holde Königsbraut, Ins neue Vaterland!
Schaffhausen 1843, Hurler.
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher iemeS Boltes.
458
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Volkes. Don Karl Theodor von Heigel.
Das Wort Goethes, daß „das Große doch wieder nur von bedeutenden
Menschen richtig erkannt und beurteilt werden" könne, gilt von den Lebenden.
Der Richter über die Toten, ein strenger, aber gerechter Richter ist die Zeit. Ein Jahrhundert ist seit der Geburt des Fürsten, dem mein Festgruß gilt, vergangen, ein Jahrhundert, reich an blutigen Kriegen und glorreichen
Siegen, an politischen Ereignissen, welche die Wiedergeburt von Nationen zur Folge hatten, an Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, welche die Welt aus den Angeln hoben, aber sein Stern leuchtet heller denn je, Bayerns Ludwig ist nicht nur ein Name, sondern lebt heute jenes schönste Dasein:
lebt in den
Idealen des deutschen Volkes fort.
Mit dem
leidenschaftlichen Herzen
eines Künstlers
verband
er einen
klaren Verstand, mit Begeisterung verband er Besonnenheit, und seine Nerven waren ehern wie sein Wille.
Vor allem hatte er bei seiner ungeheuren und
verschiedenartigen Tätigkeit immer feste und hohe Ziele.
geschaffen,
Nicht allein was er
ist bewundernswert, sondern auch wie und warum er es schuf.
Nero baute Rom nach dem Brande prächtiger wieder auf.
ihm keinen Dank dafür.
Die Geschichte weiß
Denn daß Macht vor Recht geht, mag man behaupten
und beweisen, doch niemals hörte man sagen, daß Macht vor Größe geht! Ein Zug von Größe aber ist das bezeichnende Merkmal seines Willens
und Schaffens, seines Lebens vom Jünglings- bis zum Greisenalter. Nur einige Beispiele!
Während Napoleon die entscheidenden Schläge gegen das alte römische
Kaisertum deutscher Nation führt, muß Prinz Ludwig in seiner Geburtsstadt Straßburg in der Umgebung Josephinens weilen.
Schon war für ihren Eugen
des Prinzen Schwester als Braut ausersehen und die bayerischen Truppen fochten unter den französischen Adlern.
Deshalb überhäuft die Gattin Napoleons
den Prinzen mit Artigkeit; sie und ihr Hof huldigen dem jungen Fürstcnblut; Ludwig darf nur wollen, nur ein wenig weniger gerade sein und er ist der
Erste bei den glänzenden Siegesfesten.
Was sagt er da, so daß die Ergebenen
Josephinens, seine Schmeichler, es hören können:
„Das sollte mir die teuerste
Siegesfeier sein, wenn diese Stadt, in der ich geboren bin, wieder eine deutsche
Stadt sein würde!"
Ist das nicht selbstlos, edel, groß gedacht?
Als Kronprinz muß
kämpfen.
er,
dem Vater gehorsam, unter den Franzosen
Er gehorcht und zeichnet sich bei Pultusk durch Unerschrockenheit
und Umsicht aus.
Aber er hat keine Freude an diesem Lorbeer.
Er muß im
l) Festrede, gehalten am 29. Juli 1888 im Münchener Rathaus zur Begrüßung der Festgäste der Zentenarfeier Ludwigs I. Abgedruckt in „Quellen und Abhandlungen zur neueren Geschichte Bayerns". Neue Folge S. 409 u. ff. München 1890, M. Rieger.
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Volkes
Gefolge der französischen Marschälle in Berlin einziehen.
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Da ist sein erster
Gang zu Schadow, um eine Büste — Friedrichs des Großen zu bestellen; in
mitten der deutschen Zerrissenheit und Entmutigung ahnt er die Wende, faßt
er den Entschluß, dem deutschen Genius einen Ehrentcmpel, die Walhalla, zu
bauen! --------Den Männern in seiner Umgebung ist über dem persönlichen Vorteil und über dem Buhlen um die Gunst des Augenblicks alle politische Fernsicht, alles Gemeingefühl entschwunden. Er allein erkennt, wer das Recht und die Zukunft
für sich habe.
Darum sieht er in den Tirolern, obwohl sie die bayerischen
Wappenschilder in Trümmer schossen, nicht Feinde, sondem natürliche Bundes genossen und wünscht ihrer Erhebung Glück und Erfolg! Und im Besreiungsjahr selbst! Während die königlichen Räte aus Furcht vor dem Kommenden und in der Angst um das Errungene vor jedem ent schiedenen Schritt warnen, schreibt er schon im Frühjahr, während Napoleon noch Sieg über Sieg erkämpft, an den leitenden Minister: „Es gibt nur ein Mittel uns die Achtung der Nation wieder zu gewinnen: sofort unsere Waffen
von der französischen Streitmacht zu trennen!" War es nicht groß gedacht, wenn er das bayerische Verfassungswerk, um dessen Zustandekommen er sich schon großes Verdienst erworben hatte, gegen die Mächtigsten des Zeitalters schirmte und an den Vater die Mahnung richtete: „Wir haben die Verfassung beschworen, wovon uns niemand entbinden kann; Sie können nicht wollen, daß eine Verletzung derselben, also ein Eidbruch geschehe!" Wer hat den „anbrechenden Tag im Osten" mit wärmerer Begeisterung begrüßt, wer mit Rat und Tat die staatliche Wiedergeburt des Griechenvolkes
gefördert wie er, zu einer Zeit, da das Wort Hellene an allen andern Höfen
Europas verpönt war, da die Freunde der hellenischen Sache noch alle Mächtigen, alle Spötter und die stumpfe Menge wider sich hatten! — War es nicht ein mutiges Wort,
Münchens ging:
mit dem er an die Verschönerung
„Ich will aus München eine Stadt machen, daß niemand
Deutschland kennen soll, der München nicht kennt!" War es nicht ein erhabenes Wort, das er zu Cornelius sprach, als er ihn vor dem Bilde der Zerstörung Trojas in der Glyptothek mit seinem Orden schmückte: „Man schlägt den Sieger auf dem Schlachtfeld zum Ritter, Sie sind hier gleichfalls auf Ihrem Feld der Ehre, ich mache Sie also hier zum
Ritter!" — Schon als Knabe hatte er den Plan gefaßt dem erkrankten Schiller ein
Heim auf dem Palatin in Rom zu schaffen.
Als Mann und König reiste er
1827 nach Weimar, wo er den Geburtstag Goethes mitfeierte und dem Dichter das Großkreuz seines Hausordens überreichte „um den Orden zu ehren!"
War es nicht echt königlich, wenn er auf einen Kammerbeschluß, der ihm die Mittel zum Pinakothekbau versagte, mit einer großartigen Spende an die
Armen antwortete, wenn er am Tag nach seiner Abdankung, zu der ihn
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Volkes.
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doch namentlich die Haltung der Münchener Bürgerschaft bewogen hatte, die Mittel anwies zum Bau eines griechischen Prachttores, das den herrlichsten Platz
Münchens, den Königsplatz, würdig abschließen sollte!" Aber solche Züge einer großen Seele zu erzählen würde ich kein Ende finden. Ich muß mir versagen, an seinem Lebenslauf zu zeigen, daß er ein
echter Fürst von Gottes Gnaden war; ich will nur einen Punkt seiner Wirk
samkeit herausgrcifen, will nur daran erinnern, wie er ein Führer, ein Erzieher seines Volkes gewesen ist. Diejenigen sind die besten Erzieher, welche sich selbst ihr Leben lang als Schüler betrachten. Von solcher Denkart war König Ludwig. „Wer's ehrlich
meint mit Leben und Streben," schreibt er einmal an seinen hochverehrten
Lehrer Blumcnbach, „der bleibt Student sein Leben lang."
Ludwigs Freude
zu lernen erlosch nur mit seinem Leben. Eifrig eignete er sich noch in reiferen Jugendjahren diejenigen Kenntnisse an, die er von seinen ersten Lehrern nicht
erlangen konnte, die er selbst aber für wesentlich zur Bildung hielt.
Er ruhte
nicht, bis er die griechischen und lateinischen Klassiker geläufig lesen konnte, und das hörte nicht mit den Jünglingsjahren auf, bis an sein Lebensende und täglich suchte er in der Lektüre Homers oder Herodots Erholung nach der
Jakobs und Thiersch haben der Belesenheit wie dem Verständnis des königlichen Schülers hohes Lob gezollt. Französisch und italienisch sprach er
Arbeit.
fließend.
In feinen Studienjahren trieb er russisch.
Zu Rom im Jahre 1817,
als alle Zeichen einen Aufftand der Hellenen ankündigten und er, ein Freund, ein Mitkämpfer, nach Griechenland gehen wollte, lernte er neugriechisch. Um
seine Absicht zu vereiteln ließ König Max Joseph die Verfassung rascher, als er anfänglich geneigt gewesen war, veröffentlichen und rief den Kronprinzen
zur Beeidigung zurück.
Mit dem Studium der spanischen Sprache beschäftigte
er sich 1846, als er eine Reise durch Spanien zur Erwerbung von Kunst schätzen plante. Er übertrug in der Folge sein Lieblingsdrama Don Carlos ins Spanische und mehrere spanische Lustspiele ins Deutsche. Kurz, er lernte unermüdlich
um Altertum und Gegenwart zu begreifen.
Er erkannte auch
den vollen Wert historischer Forschung und Betrachtung; er, der in seinen Jugendtagen
begeisterte Briefe
mit Johannes v. Müller gewechselt
hatte,
blieb zu allen Zeiten ein Freund der Geschichtskunde und Geschichtskundigen. Von den exakten, den streng beweisfähigen Wissenschaften, zog ihn die Rechts wissenschaft am meisten an; ihr Studium galt ihm als unerläßlich für einen
Fürsten. Keine bedeutende literarische Erscheinung entging ihm; er war ein eifriger Benutzer der Hof- und Staatsbibliothek, denn nur nachdem er ein Werk
selbst geprüft hatte, ließ er es für seine eigene Bücherei anschaffen.
So er
langte er die gründlichsten Kenntnisse in allen Zweigen, die für Erledigung seiner Regierungsgeschäfte von Belang waren. Und wie gewissenhaft oblag er diesen Pflichten!
Man kann ohne Über
treibung sagen, daß er an Arbeitsdrang und Arbeitskraft dem großen Friedrich
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Volkes.
glich.
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Tausend und aber tausend Urteile und Entscheidungen in fast sämtlichen
Akten der höheren Behörden des Königreichs zeugen von seiner allumfassenden
Tätigkeit. „ Und König Ludwig lebt, als müht' er Werben um, di« er besitzt, die Kron«!"
„In Eile schreibe ich Ihnen diesen Abend," schrieb er bald nach seiner
Thronbesteigung (3. Dezember 1825) an Martin Wagner, „der ich eben Auf wartungen hatte und Aufwartungen nachher noch bekomme; meine Zeit ist
ungeheuer in Anspruch genommen, obgleich ich jetzt schon um */„5 Uhr in der
Frühe täglich ausstehe!"
„Mein Licht," bemerkte er zu Graf Pocci, „ist immer
das erste, wenn ich frühmorgens auf den Max-Josephsplatz hinaussehe; dann kommen nach und nach Lichter in den Bürgerhäusern zum Vorschein, und wenn
andere auf ihre Bureaus gehen, habe ich schon alle Mappen durchgearbeitet!" Wie er sogar auf Erholungsreisen der Arbeit oblag, zeigt uns ein Brief, den er am 10. April 1839 von Neapel aus an seinen Sekretär Kreuzer richtete: „Daß
ich meinen heiteren Sinn behalte und meine innere Jugend und die Kräfte, dieses gehört zu meinen hauptsächlichsten Wünschen. Nachdem ich zwei Tage, den
ersten nur sehr kurz, den anderen mit längerer Unterbrechung von x/4
nach 5 Uhr in der Frühe bis abends gearbeitet, arbeitete ich gestern eilf Stunden, nur unterbrochen von Frühstück, und war recht wohl und munter dabei, kann weit mehr noch arbeiten wie früher." Zu dieser rastlosen Tätigkeit spornte den Regenten ernstes Pflichtgefühl, zur Pflege der Kunst drängte ihn die Neigung des Herzens. Die Kunst zu schützen und zu fördern hatte er einst gelobt, da er als Jüngling in den Kreis „der guten Geister," der deutschen Künstler in Rom, getreten war. „ Denn Kunst, die zwar ihr sich'res Erbteil droben 3m Himmel hat, bedarf, solange sie Auf Erden geht, des ird'schen Schutzes wohl! "
Wie treu hat er jenes Versprechen gehalten! Wie herrlich ist das in Rom gelegte Saatkorn anfgegangcn! Im Verhältnis zu den Einkünften des
Königs waren die Ausgaben für Kunst bedeutend, an sich aber die Mittel be scheiden, mit denen er so Stolzes, so Außerordentliches leistete. Eigenschaften:
Einfachheit und Ordnung
„Nur zwei
miteinander verbunden," sagt Abt
Haneberg in seiner Trauerrede auf Ludwig, „machen es zum Teil erklärlich, wie er Größeres schaffen konnte, als viele Kaiser oder Beherrscher von zehn
mal größeren Ländern vollbracht haben!"
Doch nicht bloß ihm selbst sollte die Kunst Leitstern seines Lebens sein: in ihr erblickte er auch die edelste Erzieherin des Volkes. König Ludwig dachte sich die Kunst in lebendiger Wechselwirkung mit
allem, was die Nation aus den Tiefen der Wissenschaft und der Poesie ge schöpft hat; er wollte nicht bloß gute Maler, sondern echte Künstler um seinen Thron versammeln.
„Alle Künstler sind meine Kinder!"
äußerte er oft bei
93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Bolles.
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ernstem und heiterem Anlaß. In einem Briefe an Minister Eduard Schenk drückt er den ernsten Wunsch und Willen aus, daß der Künstler in allen
Streifen der Bevölkerung geachtet und geehrt werde; mit Mißfallen sehe er, daß Künstler und Gelehrte mit 'den Münchener Adelskreisen fast keinen Ver kehr hätten. Nur zu hohen, kühnen, ja selbst waghalsigen Flügen spornte er seine Künstler. Die Tempelhallen von Ägina und Pästum, die Athene Promachos
der Akropolis, die Sixtinischen Fresken des Michel Angelo stellte er ihnen als Beispiel hin.
Der Meister zeigt sich auch im kleinen, aber man erzieht am
großen zum Meister. Unterschätzen wir doch den Anteil nicht, den Begeisterung und Ehrgeiz an der schöpferischen Kraft haben! Und wie glänzend wurde, wenn nicht in allen, doch in vielen Fällen, das Vertrauen gelohnt!
Es war
eine schöne, eine große Zeit heiteren Sinnes, uneigenniitzigen Strebens, mutigen Schaffens, es war — um mit Cornelius zu reden — „eine gesunde, lebens kräftige Wärme, erzeugt durch die hell auflodernde Flamme der Begeisterung,
wovon jene Werke mit allen ihren Mängeln das Zeichen an ihrer Stirne tragen!"
Allein nicht bloß den Künstlern sollte nach des Königs Absicht die erziehliche Kraft echter Kunst zugute kommen, sondern dem ganzen Volke. Er wollte nichts für sich allein genießen, alle seine Unternehmungen waren für die Öffentlich keit, für die Allgemeinheit bestimmt. Als 1829 die Fresken in den Münchener Hofgartenarkaden enthüllt wurden, gab er nicht zu, daß eine Wache aufgestellt
„Man muß," meinte er, „ohne Mißtrauen zu zeigen, den Geringsten im Volke an den Anblick des Schönen gewöhnen!" Als Rottmann von einer Studienreise nach Italien und Griechenland, die er in des Königs Auftrag werde.
unternommen hatte, eine Fülle herrlicher Landschaftsbilder seinem königlichen Gönner heimbrachte, beschloß dieser sofort die eines Claude Lorrain würdigen Kunstwerke zum Gemeingute zu machen.
Sie wurden allen zugänglich gemacht,
wie sie bis heute das Entzücken aller sind. König Ludwig glaubte an die Aufgabe und Macht der Stuiift zu sittigen und zu bilden; er hoffte von ihrer Pflege einen geistigen Aufschwung des bayerischen Stammes, vor allem der Bevölkerung Münchens. Und daß bei dieser der Kunstsinn erheblich zugenommen hat, läßt sich mit Leichtigkeit beweisen. Man
sehe nur die Feste, welche von den Künstlern Münchens veranstaltet werden. Mit ebensoviel Freude wie Verständnis kommt man ihnen nicht etwa nur im
Kreise der Wohlhabenden, sondern in allen Schichten der Bevölkerung entgegen. Die Künstler würden nicht so volkstümlich sein, wie sie es tatsächlich sind, wenn
das Volk keinen Herzschlag für die Kunst hätte! Aus Ludwigs Eifer auf die geistige und sittliche Entwicklung der Gesamt heit läuternd einzuwirken entsprang auch die Fürsorge für die öffentlichen Samm lungen und Kunsthallen.
Unablässig sann er auf Mehrung der Kleinodien, die heute der Stolz der Jsarstadt sind. „Nur das Beste ist gut genug!" war die Losung, die er
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93. Ludwig I. von Bayern als Erzieher seines Boltes.
immer wieder seinen getreuen und uneigennützigen Mitarbeitern zurief.
Ich
erinnere nur an die Glyptothek, nach Professor Urlichs' Wort König Ludwigs
eigenstes Werk.
Da ist keine Statue, deren Erwerbung er nicht selbst angeregt
oder doch mit seinen Künstlern und Vermittlern beraten hätte! Ich erinnere an die Boissereesche Sammlung altdeutscher Gemälde, deren Ankauf Böhmer für eine nationale Tat, ebenbürtig dem Ausbau des Kölner Domes, erklärte, an die Erwerbung der Wallersteinschen Galerie, der Altertumssammlung des Kardinals Fesch, der Liponaschen Vasen, der Dodwellschen Terrakotten, der
kostbaren chinesischen und japanesischen Altertümer, — welch ein Aufwand von Mühe, Klugheit und Geld war zur Ansammlung aller dieser Schätze erforderlich!
Keine Statue wurde in Rom oder Athen ausgegraben, kein Wandgemälde in Pompeji aufgedeckt, keine Kunstversteigerung in Köln oder Paris abgehaltcn, kein antikes Bildwerk neu gedeutet, kein Münzschatz in den Handel gebracht, ohne daß sich daran eingehende Anfragen und Weisungen des königlichen Sammlers an seine mit seltenem Geschick gewählten und überall hin verteilten Geschäftsvermittler geknüpft hätten. Des königlichen Sammlers! Denn dieser wahre Freund der Kunst
und Künstler verbarg seine Herrlichkeiten nicht hinter verschlossenen Türen:
er
baute Paläste für dieselben, aber Paläste, die als Tempel für die Eingeweihten, als Schule für die Laien immer offen stehen. Unter keinen Umständen duldete er, daß von den Hunderttausenden seiner Gäste, den Besuchern der Sammlungen,
unter irgend welcher Form eine Steuer erhoben werde.
„Was Kunst hervor
gebracht, wie die Wissenschaft, muß auch allgemein sein wie das Sonnenlicht!" Wer verargt cs ihm, daß er München mit seinen großmütigsten Geschenken
bedachte? Hier verweilte er die längste Zeit, hier war die Bevölkerung am dichtesten, hier war ein starker Fremdenverkehr, hier waren die meisten wissen schaftlichen Lehranstalten und bedeutendsten Kunstschulen.
In seinen Tagen
fehlte es freilich nicht an Kurzsichtigen, die gern die Boissereesche Sammlung
geteilt und die knidische Venus zerstückelt hätten, damit die Engländer genötigt seien, in jedem bayerischen Städtchen ein Glas Bier zu trinken.
Heute hält
jeder die Bevorzugung der Haupt- und Residenzstadt des Landes für berechtigt. Auch beschenkte er keineswegs nur München. Es gibt kaum eine größere Stadt
in Bayern, wo nicht ein Monumentalbau, eine Kunstsammlung, ein Standbild von der erziehlichen Fürsorge des Königs Zeugnis gäbe!
Lieb und wert war
ihm jede Stätte, wo die schönen Künste gehegt und gefördert wurden.
So
war es z. B. seine Absicht in Düsseldorf, das damals allein als Kunststadt mit München wetteiferte, den berühmten Jakobischen Garten anzukaufen um für die dortige Küustlerschaft ein trauliches Heim zu schaffen. König Ludwig, der Schutzherr und Apostel der Kunst, ist weltbekannt. Seine Verdienste um die Kunstbildung sind — ich möchte sagen — allen greifbar.
Dagegen sind die Beweise von seiner ebenso werktätigen Begeisterung
für die Wissenschaft schwieriger zu erbringen.
Bei allen Völkern, die sich
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einer hochentwickelten Knltlir erfreuen, werden „Kunst und Wissenschaft" immer zusammen genannt, weil überall empfunden wird, daß das Streben nach Schön
heit Hand in Hand gehen muß mit dem Streben- nach Wahrheit. Diese Überzeugung war auch in Ludwig lebendig. Indem er, wie ich schon schilderte,
an den Fortschritten des menschlichen Wissens dauernden Anteil nahm, konnten ihm der Nutzen und die Wichtigkeit der deutschen Hochschule nicht entgehen. Eine seiner frühesten Regierungshandlungen war die Verlegung der altbayerischen
Hochschule in die Landeshauptstadt.
Damals wurde sie von wenigen gebilligt,
heute zählt man sie zu seinen erfreulichsten Taten. Mit Recht hielt er den Verkehr in einer großen Gemeinde für die Charakterbildung der Studierenden für ersprießlich, mit Recht erwartete er, daß der Hort kostbarer wissenschaft licher wie künstlerischer Schätze den Gelehrten Anregung und Schwung geben,
Hinwider die Gegenwart der Vertreter der Wissenschaft auf die städtische Bevölkerung wohltätig zurückwirken werde. Man lese die Verordnungen Ludwigs zur Neugestaltung der Akademie, die damals nur noch ein unfruchtbarer Überrest
aus dem Hausrat der Zopfzeit war, auf daß auch sie der Wissenschaft und dem Leben, dem Gelehrtenstaat und dem Vaterland Nutzen bringe! Man lese die mit Minister Schenk gewechselten Briefe wegen Heranziehung neuer
Lehrkräfte nach München!
Männer wie Oken, Görres, Schubert, Thiersch, Martins, Schweller folgten dem Rufe. Namen von verschiedenartigem Klang, aber: „So ist's gut!" urteilte Anselm von Feuerbach, „Wasser und Feuer ver trügt sich in der Natur auch nicht und doch grünt die Saat und keimt die Frucht!"
Nicht nur in der Chemie sind die Gürungserreger wichtig und nützlich. Freilich war König Ludwig der rein atomistischen Auffassung der Welt abhold und allen Leugnern der Gottesidee ein unversöhnlicher Gegner. Aus diesen Gesichtspunkten mochte er in einzelnen Fällen ein Veto, in seinen späteren Regierungsjahren sogar ein sehr barsches Veto einlegen: im großen und ganzen
hielt er die Freiheit der Forschung hoch und war überzeugt, daß die Hochschule in ihrer Gesamtheit die Wissenschaft nach allen in ihr lebendigen Strömungen darzustellen habe. Als Rektor Dresch bei der feierlichen Eröffnung der Münchener Hochschule freimütige Gedanken über die Würde der Wissenschaft äußerte,
erwiderte der König:
„Nichts konnte mir besser gefallen, als was über die Un
abhängigkeit der wissenschaftlichen Forschung, über Freiheit des Wortes und der Mitteilung gesagt wurde. Es ist auch meine lebendigste, meine tiefste Überzeugung, daß hier jeder Zwang, jede Zensur, auch die billigste, verderblich
wirkt, weil sie statt des gegenseitigen Vertrauens, bei dem allein die menschlichen
Dinge gedeihen, den Argwohn einsetzt." — — Es liegt auf der Hand, daß ein Fürst, der so hell ins Leben blickte wie Ludwig von Bayern, auch auf Ackerbau und Handel und Gewerbe reformatorisch
einzuwirken suchte.
Der zwiefache Nutzen der landwirtschaftlichen Vereine, „einerseits die Regierung, anderseits die Landwirte zu belehren," bewog ihn neben dem seit
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1768 bestehenden Verein eine neue landwirtschaftliche Gesellschaft zu gründen. Prämien wurden von ihm ausgesetzt um intensivere Wirtschastsmethoden an
zuregen, Ausstellungen landwirtschaftlicher Geräte und Erzeugnisse veranstaltet, landwirtschaftliche Schulen errichtet.
Ich muß mich auf diese dürftigen Finger
zeige beschränken, kann nur im allgemeinen darauf Hinweisen, daß er auch auf diesem Gebiete der Volkserziehung das Goethesche Wort wahrhaft und aufs
schönste erfüllte: „Du im Leben nichts verschieb«, Sei dein Leben Tat um Tat!"
Trotz des Gleichgewichts und der harmonischen Entwicklung seiner geistigen Kräfte, bei aller Energie des Charakters blieben innere Kämpfe nicht aus.
Seine Künstlerseele empörte sich nicht selten gegen die Forderungen seines
Verstandes.
Während er als Kronprinz Baaders Erfindung einer Eisenbahn
die wärmste Teilnahme zuwandte und 1819 auf eigene Kosten im Nymphen burger Hofgarten das Modell einer solchen Herstellen ließ, war er der groß artigen und dabei so vernunftgemäßen Entwicklung dieser Idee durch Beiziehung
der Dampfkraft, wodurch die Erfindung erst ihre unvergleichliche Wichtigkeit gewann, durchaus nicht hold. „Ein schnelles Beförderungsmittel ist die Eisen bahn," schreibt er (8. Juni 1854) an Martin Wagner, „um von einem Ort
in einen anderen versetzt zu werden, aber das Innere der Städte umgeht sie, als wenn sie nicht beständen, und vom Genuß der schönen Natur kann nicht mehr die Rede sein,.... einer eingepackten, willenlosen Ware gleich schießt durch die schönsten Naturschönheiten der Mensch, Länder lernt er keine mehr kennen."
Aber ein Geist wie der seine konnte die weltumgestaltende Bedeutung dieses neuen Beförderungsmittels nicht unterschätzen. Nur seiner persönlichen energischen Einwirkung ist es denn auch zu danken, daß 1837 der bayerische
Landtag für eine Eisenbahnlinie von der südlichen bis zur nördlichen Grenze des
Königreichs die nötigen Mittel und gesetzlichen Anordnungen genehmigte.
Ohne
die bessere Einsicht des Königs würde Bayern auf lange Zeit vom allgemeinen
Handelsverkehr ausgeschlossen worden sein. Von seinen wirtschaftlichen Reformplänen seien nur hervorgehoben die
vom König angeregte und durchgeführte Anlage des Kanals, der Nordsee und Schwarzes Meer in Verbindung setzte, und der leider nicht ins Werk umgesetzte Gedanke München mittels Benutzung von Amper, Ilm und Isar und ergänzen
der Kanalbauten in unmittelbare Verbindung mit der Donau zu bringen und
dadurch gewissermaßen zu einem Hafen- und Stapelplatz zu erheben. Vor allem sei daran erinnert, daß die segensreichste Tat aus den Zeiten
des Deutschen Bundestags, die Zo lleinigung der deutschen Staaten, nächst König Wilhelm von Württemberg dem weitblickenden, opferwilligen Bayern könig zu danken ist.
Auch auf die Veredlung des Gewerbes erstreckte sich Ludwigs erziehliche Tätigkeit. Daß der Aufschwung der schönen Künste günstigen Einfluß auf das Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
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Handwerk üben mußte, liegt zutage.
Ein Frühlingshauch drang auch in die
bürgerlichen Werkstätten. Indem die Handwerker Mitarbeiter bei der Her stellung, Einrichtung und Ausschmückung stilvoller, großartiger Bauwerke wurden, gewannen sie nicht nur Geld, sondern mehr: ihr Geschmack ward geläutert, künstlerischer Takt auch in ihnen entwickelt. Und ebenso mußte der Anblick
so vieler in den Sammlungen vereinigter Meisterwerke aus der Zeit, da jeder Handwerker, wie Semper sagt, in seiner Art ein Künstler war, jedem überhaupt Empfänglichen die Brust erweitern. Daß diese Tatsache in den gewerblichen
Kreisen anerkannt wurde, zeigte sich 1850 bei dem Festzug gelegentlich der Enthüllung der Bavaria. Der König selbst berichtete hocherfreut an Wagner (13. Oktober 1850): „Erst wollten nur die Künstler die Enthüllung feyern,
dann gesellten sich die bey dcu Bauten betheiligten Gewerbe hinzu, hierauf alle, denn wenn sie auch nicht unmittelbaren Gewinn davon zogen, doch mittel baren, und er geht fort, nicht nur durch die bewirkte Vervollkommnung der Gewerbe, sondern auch durch die alljährlich zuströmende Menge von Fremden!" Fachschulen wurden errichtet, die Gelegenheiten für den Strebsamen sich zu unterrichten vermehrt, durch Preisausschreiben und Ausstellungen ein rühm
licher Wetteifer zu entfachen gesucht. Wohl würden die edlen Absichten kräftiger durchzuführen und noch be
deutendere Wirkungen zu erzielen gewesen sein, wenn die Mittel reicher ge flossen wären. Ludwig besaß jene Eigenschaft, welche den Glanz einer Regierung in den Augen der Zeitgenossen wesentlich mindert und doch zu den notwendig
sten Merkmalen großer Regenten gehört: Sparsamkeit. Wie sehr diese sittliche Kraft unseres Fürsten seinem Staat zum Heil gereichte, weiß jeder, der den kläglichen Stand der Finanzen und die Zerrüttung im Staatshaushalt während
der ersten zwei Jahrzehnte des Königreichs kennt. Als 1827 der Finanz minister dem Landtag die Erklärung abgab, daß zum erstenmal seit Bestehen der Verfassung kein Defizit vorliege, brachen die Mitglieder aller Parteien in
Hochrufe auf den König aus: so überraschend, so beglückend wirtte auf sie
jene Nachricht. Und abgesehen von der Besserung der Finanzlage: der weise Haus halter auf dem Throne wurde ein Beispiel für das Land! Ludwigs Ordnungs
liebe, seine Abneigung nicht gegen große, durch höhere Zwecke gerechtfertigte Ausgaben, aber gegen jede Verschwendung waren beim wichtigen Werke der Volkserziehung unschätzbar wesentliche Kräfte.
Vorzüglich dadurch gewann er
sich das Vertrauen des Volkes, jenes unerschütterliche Verttauen zur Krone,
' ohne welches der monarchische Verfassungsstaat nicht denkbar, sicherlich nicht haltbar ist. Ludwig erinnert darin an den prunklos tätigen Vater des großen Friedrich. Wie dieser sah auch er in bürgerlichen Tugenden des Regenten und seiner Diener die Grundfesten des Staates, wie dieser wurde Ludwig der Schöpfer eines neuen, strammen, arbeitsamen Beamtentums. Er selbst war unermüdlich tätig, er hielt seine Mittel zusammen und sah auf peinliche Ordnung
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und so verlangte er auch eisernen Fleiß, Pflichttreue und Pünttlichkeit von
jedem, der sich in den Dienst des Staates stellte. Mit der Vetternwirtschaft, dem Schlendrian, dem leeren Formelwesen, der alten Bureaukratie hat er gründlich gebrochen! —
Alles in allem: Ludwig erkannte und erfüllte die Pflichten des König tums. Auch ihm galt als erste Sorge das Fridericianische: Alles für Gott und das Volk!
Erst in jüngster Zeit erfuhr man in weiteren Kreisen, welch bedeutsamen Anteil Ludwig als Kronprinz am bayerischen Verfassungswerk nahm und daß in der Stunde der Gefahr ihm die Rettung dieses Palladiums zu danken war.
Später freilich, als er, der sich fteudig in den gemeinsamen Dienst mit dem Volke gestellt hatte, seinen Eifer durch Lahmheit oder Übelwollen in manchen Kreisen gehemmt glaubte, empfand er die Beschränkung seiner Machtbefugnisse
Dann mochte er wohl wünschen: Alles für das Volk, nichts
mit Unbehagen.
durch das Volk! Doch wie stark die Versuchung war, niemals erlaubte er sich einen Verfossungsbruch.
Die Begrenzung der Gewalt ist auch eine Verringerung der
Verantwortlichkeit.
Ludwig war zu lebendig vom Bewußtsein seiner Pflicht
durchdrungen, als daß er nicht darin eine Wohltat erblickt hätte! „Herrlich, über freies Volk zu walten, Nicht nach Willkür grenzenlos zu schalten, Sondern in den Schranken, die bestehn: In dem Tdelen sein Volk erhöh'»
Immerhin läßt sich nicht verkennen, daß Ludwig seit 1831 den Anteil des Volkes an der Regierung mit wachsender Eifersucht betrachtete und lieber
vermindert als vergrößert wünschte.
Er faßte den Fürstenberuf mehr und
mehr in selbstherrlichem Sinne auf, doch niemals im vermessenen des Roi soleil. Die Gewalt — dies ist seine Auffassung, seine felsenfeste Überzeugung — ist den
Fürsten von Gott selbst übertragen, doch nur zur Förderung des Gemeinwohls, der res publica.
In jenen Tagen, da von namhaften Lehrern des Staats
rechts noch das persönliche Eigentumsrecht der deutschen Fürsten an Land und Leuten verfochten ward, erkannte er selbstlos an, was die Völker von den Deshalb konnten unter ihm trotz Beschränkung
Fürsten zu beanspruchen haben.
der Presse und des Vereinswesens die politischen Tugenden des Volkes für eine freiere Zukunft heranreifen. Diese glückliche Fortentwicklung des politischen Sinnes in Bayern wurde
noch dadurch begünstigt, daß Ludwig in allen Lebenslagen ernst und treu zum deutschen Vaterlande hielt. Davon zeugen die Jugendgedichte, die Worte und Taten des Regenten, die großen, dem ganzen deutschen Volke gewidmeten
Bauwerke. In verblendeter Selbstgenügsamkeit wiegte man sich in Bayern,
da
Kronprinz Ludwig schon mit Herz und Geist auffeiten der Befreiungskämpfer stand.
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>C’est qu’il saut une France & la Baviöre !< ist der Trostspruch des leitenden Staatsmannes beim Scheiden des französischen Gesandten nach Abschluß des Rieder Vertrags. Man lese, was die von der Regierung beeinflußte sowie die unabhängige bayerische Presse auch nach der Gründung des Deutschen Bundes von den Vorteilen sogenannter internationaler Freundschaftsbeziehungen preisend sagte! Und dann rufe man sich die stolzen deutschen Worte ins Gedächtnis, die bei der Eröffnung der Walhalla, der Befreiungshalle der königliche Bauherr
sprach; wie er sich glücklich nannte, daß er zu friedlicher Beilegung der Kölner Wirren in Preußen beitragen konnte; wie er entzückt die lang ersehnte, endlich erreichte Eintracht der deutschen Fürsten feierte! Die Wende des germanischen Schicksals! Ludwig selbst kennzeichnet sie am glücklichsten, indem er von der „Nacht im Frühling seines Lebens" und dem „lichten Tage seines Herbstes" spricht.
Die Heranbildung seiner Bayern zu guten Deutschen preist er als den schönsten Lohn seines erzieherischen Waltens; in diesem stolzen Bewußtsein ruft er: „Ich
hab' vergebens nicht gelebt!"--------Nein, sicherlich nicht vergebens! Von seiner Jugend, da der Pulverdampf
der Schlacht sein Antlitz schwärzte, bis zum Greisenalter hat er die Pflichten
eines Fürsten erfüllt. Jeder Tag war eine Tat! Und so sind heute nicht nur die Söhne Bayerlands versammelt um den großen Toten zu ehren, sondern aus allen Gauen des Reiches kamen Vertreter deutscher Kunst und deutscher Arbeit; denn ganz Deutschland trat sein Vermächtnis an!
Und wie die Erinnerung an ihn als einen Edlen und Großen lebendig ist, bezeugt die Botschaft der beiden Städte, deren Verdienste um die Erziehung des Menschengeschlechtes ohnegleichen, unerreichbar, unvergänglich sind. Es huldigt Rom, das ewige Rom, das Ludwig als seine zweite Heimat liebte, wo er zuerst das Gelübde tat ein Schutzherr der Kunst und der Künstler zu werden, wo ihn die Kraft und die Herrlichkeit der Antike und des Cinquecento zu immer neuem Schaffen begeisterten und stärkten. Es huldigt Athen, die Seele Griechenlands, für dessen Größe Ludwig
wie Winckelmann, wie Goethe das sonnenhafte Auge hatte, dessen Befreiung
aus Sklavenbanden er glühend wünschte und mutig verlangte, dessen politische Wiedergeburt eine seiner schönsten Lebensfreuden war! Dein Italien, dein Hellas, dein Deutschland huldigen dir! .. . Wir, die wir dir aufs tiefste verpflichtet sind, wir wollen dein schönstes Vermächtnis, dein
Beispiel, hochhalten! Das Vaterland soll uns immer treu, die geistigen Güter der Menschheit sollen nie bei uns einen Verächter finden l Wir geloben es freudig und voll Vertrauens in die Zukunft.
hier sind deine Ideale.
Denn hier ist dein Sohn, hier ist dein Blut,
Scharen wir uns um ihn und unsre Freude, unsre
Dankbarkeit finde Ausdruck in dem Rufe:
Gott erhalte und beschirme unser Haus Wittelsbach!
94. Ludwig I. und die Kunststadt München.
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94. Ludwig I. und die Kunststadt München. Von Stegmuni) von Riezler?)
Mit Ludwig I. bestieg den Thron Bayerns eine ganz eigenartige, scharf
ausgeprägte Individualität, ein Fürst von so hervorragender Begabung, wie Bayern seit dem Kurfürsten Maximilian I. wohl keinen gehabt hatte, und von einer Art der Begabung, wie sie unter den Wittelsbachern noch nie aufgetreten war. Der Kern seines Wesens war Schwung, eine stets jugendfrische, un begrenzte Eindrucksfähigkeit, Begeisterung für das Schöne und Große.
Kronerbe und Träger der Krone brallchte er nur seinem Genius zu
folgen und sich auszuleben um der Erzieher seines Volkes und ein Bahn brecher für die bildendell Künste in Dentschland zu werden. Eine Vorbedingung seiner großen Leistungen war aber auch, daß er eine Eigenschaft besaß, die man
bei
schwungvollen Naturen
selten
findet:
haushälterischen Sinn und
Spartalent. Indem Ludwig sein Volk in die Bahnen der Kunstpflege wies, hat er schlummernde Kräfte der Volksseele geweckt, ist er der Begründer der
modernen Kunststadt und hierdurch der Großstadt München geworden.
Ein
Cornelius hätte seine Eigenart nie voll entfalten können, Hütte ihm nicht der
königliche Mäcenas monumentale Aufgaben gestellt, und München wäre nicht, was es heute ist, lväre nicht durch seine Kunstsammlungen und sein srisch auf blühendes Kunstleben der Fremdenstrom hingelenkt worden. Wie richtig man jetzt bemerkt, daß München als Kunstmarkt zurückgehen wird, wenn nicht eine
blühende Industrie den Reichtum in seiner Bevölkerung mehrt, so richtig ist es, daß erst in der Kunststadt München allmählich auch Industrie, Handel und Volkszahl heranwuchsen. Gleich Nürnberg, Augsburg, Würzburg hatte ja München schon seit
dem 16. Jahrhundert und länger eine nicht zu unterschätzende Kunsttradition. Aber die napoleonische Periode, auf lange die letzte, die ihren eigenen, wenn auch frostigen Kunststil erzeugte, war die ärmste an Kunstsinn gewesen. Unter
Max Joseph ist (1808) die Akademie der Künste gegründet, ist die Düsseldorfer Galerie nach abenteuerlichen Irrfahrten mit den älteren Münchener Beständen vereinigt worden. Aber welchen Einblick in den vorherrschenden Mangel an Kunstsinn gewährt uns der damals erfolgte Abbruch des berühmten Kaiser
saales in der Residenz, des Schönsten, was München an Innenarchitektur besaß!
Der Einsicht und Begeisterung König Ludwigs I.
verdanken wir es
nun, daß. das Bayerland und seine Hauptstadt zu Trägern einer besonderen, den Anlagen und Neigungen seiner Stämme am meisten zusagenden Kultur
mission erhoben und der deutschen Kunst in München ein bleibender Mittel punkt begründet wurde. *) „Das glücklichste Jahrhundert bayerischer Geschichte", 1806—1906, S. 24—28. München 1906,'O. Beck.
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94. Ludwig I. und die Kunststadt München.
Bayern und Berufene haben dabei zusammengewirkt:
neben den Ein
heimischen Schwanthaler, Miller, Ainmiller, Ohlmüller, Stiglmayer, Ziebland, Schraudolph, Bürkel, Spitzweg Männer aus allen deutschen Gauen: Cornelius
und Kaulbach, Klenze und Gärtner, Schwind und Schnorr v. Carolsfeld, Rottmann und die Heß. Auch von der Kunst gilt das schöne Wort, mit dem Thiersch die all
gemeine deutsche Kultur zeichnete:
ein Baum,
der seine Wurzeln nach allen
Seiten hin ausstreckt, aus allen Provinzen Leben zieht und dafür freigebig an jeden seine Früchte verteilt. Aber unter den Bäumen deutscher Kunst steht der mächtigste Stamm auf bayerischem Boden und eine unerläßliche Voraus setzung seines hier besonders fröhlichen Gedeihens ist doch die durch die baye rische Stammesnatur bedingte erstischende Atmosphäre eines gesunden und farbigen Volkslebens, eines unbewußten Schönheitssinnes im Volke, wie er sich z. B- in den einzig schönen Bauernhäusern des bayerischen Gebirges und
der Vorberge ausspricht, einer zwanglosen und nicht durch allzu starre Standes
unterschiede eingeschnürten Geselligkeit.
Auf unsere Feste darf man das Wort
des Dichters anwenden, daß die Zauber der Freude wieder binden, was die Mode streng geteilt. In dem gemütlichen München, sagt Knapp, haben die Berufe das Schöne, daß sie ihren Trägern nicht das Mark aussaugen.
„Ein
festlich heiteres Volk" hat Treitschke die Bayern genannt und ein solches wird in der Kunstpflege vor den arbeitsameren und ernsteren, aber prosaischeren Stämmen des Nordens immer viel voraus haben. Dazu kommt die engere Fühlung Münchens
mit Italien,
dem ewigen
Lande der Kunst. 1830 schrieb Montgelas: „München ist ein wahrer Leichnam, bedeckt mit einem Tuche von Goldbrokat, der, ohne selbst fetter zu werden, die
ÄrSfte der Provinzen aufsaugt."
Jetzt lächeln wir darüber, nicht nur wegen
der kühnen Schiefheit des Bildes. Wir lächeln ebenso über die Prophezeiung Lewalds von 1835, daß es zur Ausführung der Ludwig- und Briennerstraße
in der Länge, wie sie geplant seien, einer Bevölkerung bedürfe, die für München
niemals denkbar sei. Und wenn sich anfangs wohlverdienter Spott über die Münchener ergoß, daß sie in ihren Bilder- und Skulpturtheken durch stän dige Abwesenheit glänzten, werden heutzutage München und Nürnberg in Liebe
und Verständnis für die Kunst von keiner deutschen Stadtbevölkerung über
troffen, von äußerst wenigen erreicht. Mögen nun andere deutsche Städte, darunter Berlin, mit reicheren materiellen Mitteln den Wettstreit in der Kunst pflege mit der bayerischen Hauptstadt ausgenommen haben, es liegt doch keine Überhebung und keine Unklarheit in unserem Bewußtsein, daß bei uns zwischen
dem Durchschnittsfühlen und -denken des Künstlers und der großen Masse keine so breite Kluft gähnt wie in Berlin und daß unser Boden für Kunstpflege geeigneter ist als der nordische.
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96. Bor fünfundzwanzig Jahren.
Heimat der Kunst. Don Martin Greif?)
Glücklich die Stadt, die, geschmückt mit dem bräutlichen Kranze der Schönheit, Ihren Markt mit dem Glanz seliger Bilder erfüllt. Frommer die Menschen wohnen darin; gern ziehen die Götter Durch das geöffnete Tor in ihr beschütztes Gebiet.
95. An München. In das Goldene Buch der Stadt geschrieben von Martin Greif.')
Mein München, du vieltraute Stadt, Wer mag aus dir noch scheiden, Der deinen Sinn erkundet hat, In Freuden und in Leiden? Du trägst dein Antlitz unverstellt Und kennst kein Überheben,
Gewohnt nur dich vor aller Welt, So wie du bist, zu geben. Mein München, o wie strebst du kühn Dem Raub der Zeit zu wehren! Wohl einer Linde gleicht dein Blüh'n, Der stets die Blätter kehren. Gesunken sind die Mauern dir Wie auch die grauen Türme. Du prangst dafür in junger Zier, Daß Gott dich fürder schirme! Mein München, ja du thronst, geschmückt Durch Tempel und Paläste, Und deiner Schätze Pracht entzückt Die Scharen deiner Bäste.
Auch dienen dir zu hehrer Schau Die Zinnen, die dort blinken, Wo in der Ferne zartem Blau Die hohen Alpen winken.
Mein München, allen Künsten hold Ehrst du auch jed' Gewerbe, Doch über irdisch' Gut und Gold Gilt Treue dir im Erbe. Es malt sich ab die schlichte Art, Die dir seit alters eigen, Im Bild der Kuppen, die gepaart Dir himmelan entsteigen. Mein München, du vieltraute Stadt, Wer kann aus dir noch scheiden, Der deinen Sinn erkundet hat In Freuden und in Leiden? Du trägst dein Antlitz unverstellt Und kennst kein Überheben, Gewohnt nur, dich vor aller Welt, So wie du bist, zu geben.
96. Vor fünfundzwanzig Jahren. (Februar 1893.) Don Karl Theodor von Heigel?) In Frankreich wurde einer der besten Fürsten und Freunde des deutschen Volkes, Bayerns
gestorben;
großer König Ludwig I., geboren,
doch Straßburg
war auch
zur Zeit
in Frankreich
ist er
seiner Geburt deutscher
Boden, Nizza ist heute noch in Erscheinung und Lebensäußerung eine italie
nische Stadt.
Das Münster Erwins v. Steinbach steigt über seinem Vaterhaus
•) „Gesammelte Werke", I. Band, S. 384. Leipzig 1895, Amelang•) Ebenda S. 345. •) Vgl. Das Bayerland, IV. Jahrgang, Nr 23. München, 1893, R. Oldenbourg.
96. Bor fünfundzwanzig Jahren.
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empor; aus seiner letzten Wohnung sah er auf Palmen und auf das Meer, wieder auf Sinnbilder der Unvergänglichkeit!
25 Jahre sind seit seinem Tode vergangen. erwägen
Eine Spanne Zeit!
Doch
wir die Fülle von Ereignissen, die Umwälzungen im Schicksal der
Völker, im Staatsleben, in Kunst und Wissenschaft, die erstaunlichen Wand lungen der öffentlichen Meinungen gerade innerhalb dieser Spanne! Nichts
beweist die Eigenart, Kraft und Wirkung König Ludwigs I. deutlicher als die Tatsache, daß sein Andenken alle diese Stürme überdauert hat.
Eine neue Zeit brach an, ein anderes Geschlecht erstand, doch er ist für sie kein Fremdling, kein Schatten; die Gegenwart hat hellere Augen und wärmere Dankbarkeit für ihn als seine Zeitgenossen!
Wie glänzend gab sich
dies kund, als das Zentenarium seiner Geburt gefeiert wurde!
Erinnern wir
uns an die Farbenpracht, an die einmütige Begeisterung jener Münchener Tage! Wie kein Haus ungeschmückt blieb; wie am Vorabend, von tausend Feuergarben beleuchtet,
Bavaria den Kranz zu
den Sternen hob;
erinnern
wir uns an die Huldigung ohne gleichen, auf welche das Standbild des Königs niedersah, an den endlosen Pilgerzug zu seinem schlichten Grabe.
Wohl hatte München vor allen anderen bayerischen Städten Ursache das Zentenarium mit königlicher Pracht zu feiern, denn glorreich eingelöst
wurde das Wort, das er kühn als Jüngling sprach:
„Ich will aus München
eine Stadt machen, die Deutschland so zur Ehre gereichen soll, Deutschland kennt, wenn er nicht München gesehen hat!"
daß keiner
Doch das ganze bayerische Volk hat den Fürsten zu verehren, der, mit einer Künstlerseele begabt, das Gemeinwohl dennoch über den Dienst der Schönheit stellte.
Sehr hoch hielt er seine Fürstenrcchte, doch hat er jemals
seine Fürstenpflicht vergessen? Bei aller Freude an der Kunst, bei allen Taten und Opfern für die Kunst verlor er nie den Sinn für das Nützliche. Er war voll Schwung, doch ohne Überschwang, zugleich ein Künstler und ein Hausvater und guter Rechenmeister. Aber auch an der Elbe und an der Spree hat man alle Ursache des Verstorbenen, dennoch Unsterblichen, dankbar zu gedenken.
Denn was Ludwig
für das Wiedererwachen deutscher Kunst getan, war Licht und Wärmx für tausend Äste, von unschätzbarem Werte für die geistige Entwicklung des ganzen deutschen Volkes.
Auch nach seiner Thronentsagung fuhr er fort für gemeinnützige Zwecke zu arbeiten, zu opfern, zu gründen und zu bauen. Streng hielt er sein Wort, das er sich und dem Sohne gegeben, die Regierung nicht zu beeinflussen; er
ließ die Hand von aller Politik, widerstand allen Versuchungen zu einem Griff in die Zügel.
Oft sicherlich nicht ohne schweren Kampf, obwohl er in
Briefen an Martin Wagner und andere Vertraute den Verzicht auf politische
Doch er unterzog sich dem schwersten aller Gelübde, dem Verzichte auf Macht, nicht um die behagliche Ruhe und den
Tätigkeit eine Erlösung nannte.
96. Bor fünfundzwanzig Jahren.
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träumerischen Frieden eines Einsiedlers zu gewinnen. Auch die Jahre des Privatmannes waren volles, tätiges, erfolgreiches Leben. Er war keine poli tische Macht mehr, aber noch im Greisenalter eine tveithin wirkende Kraft!
Trotz der Erfahrungen, die so bitter waren, daß ihn der Verlust der königlichen Rechte fast ein Glück bedünkte, bewahrte er sich warme Empfindung
für Wohl und Wehe des Vaterlandes.
Es genügt ein Beispiel um zu zeigen,
wie er sich bezwingen und das beleidigte Ich vergessen konnte, wenn es sich
um ein Werk handelte, das für Volk und Stadt von dauerndem Werte war. Am 20. März 1848 legte er, durch die feindselige Haltung der Münchener Bürgerschaft bewogen, die Krone nieder; am 21. März verordnete er, daß der
schönste Platz Münchens einen würdigen Abschluß durch ein griechisches Pracht tor, die Propyläen, erhalte. Bewundernswerte Arbeitskraft, geistige und körperliche Rüstigkeit blieben
ihm treu bis ans Ende. Wenn erst der Briefwechsel zwischen ihm und seinem „Kunstgeneralbevollmächtigten, Staatsrat, Hofskulpteur, Hausmeister, Gärtner und Zimmermaler" in der Villa Malta in Rom, Martin Wagner, veröffent licht ist, wird alle Welt aus den hundert und hundert Blättern mit Staunen ersehen, welche Riesenpläne den greisen Fürsten noch beschäftigt haben. Diese Briefe werden auch am klarsten zeigen, wie Ludwig seine Kunstunternehmungen
aus langer Hand vorzubereiten pflegte, wie jede neue Schöpfung ein not wendiges Glied in der Kette und das schön Gedachte zur rechten Zeit in das Leben tritt. Sobald er für seine geistige Spannkraft fürchtete, fuhr er über die Alpen um sich in der ewigen Stadt gesund zu baden im Genuß der Antike und eines fröhlichen, bunten Künstlerlebens. In welchem Grade er sich seiner sicher
glaubte, bewies er im Herbste 1867. Damals, schon 81 Jahre alt, besuchte er seine Vaterstadt Straßburg, dann Paris und hier wanderte er in den Hallen der Weltausstellung von früh bis spät umher. „Von 4 Uhr morgens bis 4 Uhr abends stehe ich allezeit zu Gebote", erwiderte er auf die Anfrage
Napoleons III., um welche Zeit er den Besuch seines Gastes erwidern dürfe. Was er dort in der exposition des beaux arts sah, war ein anderes, als was er einst von Rom nach München verpflanzt hatte, doch war er geistig so reich und frei,
daß er keinen Stillstand der Kunst verlangte,
anderen Grundsätzen als den seinen sich bekehrte.
weil sie zu
Er gab zu, daß eben das
echte Künstlerstreben, das Suchen nach Wahrheit und Natur immer
wieder
auf neue Wege führt, wenn sie uns auch zeitweilig nur Sackgassen dünken. Er war freudig bewegt, daß die Münchener Pilotyschule in der Seinestadt,
die noch immer die Metropole der Kunst ist, rühmliche Triumphe feierte. die Franzosen nicht", schrieb er an einen Künstler,
„Liebe
„sie sind, so lange sie
wenigstens Elsaß nicht herausgeben, Teutschlands Erbfeind; aber es hat mich gefreut, daß sie Münchens Künstler so hoch schätzen, ihnen so viele Medaillen zuerkennend."
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Dieses Mal jedoch hatte er seine Kräfte überschätzt.
müde kam er im November nach Nizza.
Abgespannt, geistig
Wie stärkend die milde Seeluft auf
seinen Körper, wie berauschend der Zauber des Hesperischen Gartens auf seine Phantasie wirkte, beweisen die Strophen, die er wenige Wochen vor seiner letzten Erkrankung an einen Abendzirkel bei der Gräfin Sophie Lodron richtete (28. Dezember 1867): ,0 könnte ich euch doch versetzen In dies« ew'g« Blumenflur,
Euch fühlen lassen das Ergötzen In der bezaubernden Natur,
Wo auch im Winter Rosen blühen
Und Immergrün die Bäume schmückt,
Die goldnen Früchte glänzend glühen, Wo überall es uns entzückt!
Vermöchte doch auf Zephyrs Schwingen Ein Zauberwort ins Zauberland Euch, Teuere, zu mir zu bringen
An diesen heitren Meeresstrand!"
Bis Anfang Februar 1868 liefen über den Gesundheitszustand des greisen Königs aus Nizza nur günstige Nachrichten ein. Am 12. Februar zeigte ein
Telegramm an, daß sich Se. Majestät infolge rotlaufartiger Anschwellungen am Fuße einer Operation unterziehen mußte, daß dieselbe zwar gelungen sei, der Zustand des Kranken aber immerhin Bedenken errege.
Er hatte nicht geduldet, daß zur Operation ein Arzt aus Nizza beigezogen werde, sein Leib
arzt mußte alles allein besorgen:
„Ich möchte nicht, daß ein Fremder mich
etwa einen Schmerzensschrei ausstoßen hörte!"
Auch chloroformieren ließ er
er hielt die Schmerzen ruhig aus und begann unmittelbar danach in gewohnter Weise zu scherzen. „Ich danke Ihnen," sagte er zum Arzt,
sich nicht;
„daß Sie mir so wohltätige Schmerzen verursacht haben!"
Nachdem er auch
eine zweite Operation, die bald darauf notwendig geworden war, geduldig ertragen hatte, fühlte er sich wieder so wohl, daß er schon an Wiederauf
nehmen der gewohnten Spaziergänge dachte, doch es war nur ein letztes Auf flackern der Lebenskräfte! Wenige Tage nachdem sein Enkel Ludwig mit einer jugendschönen Gattin festlichen Einzug in München gehalten hatte, .trafen auS Nizza beunruhigende Nachrichten ein. Die Prinzen Luitpold und Adalbett eilten ans Krankenlager des Vaters. Am 26. Februar wurde für den König in seinem Hause eine Messe gelesen, dann empfing er bei vollem Bewußtsein die heiligen Sterbsakramente.
Unmittelbar darauf nahm die Schwäche zu,
auch Delirien stellten sich ein, doch rang er sich immer wieder zu voller Be sinnung durch. Er wußte, daß sein Ende bevorstehe, aber er sah der Auf lösung gefaßt entgegen. „Glauben Sie nicht," sagte er zu Oberstabsarzt Cabrol, „daß ich den Tod fürchte, ich habe ihm schon mehrmals ins Auge
geschaut!"
Am Abend des 27. Februar sagte er:
„Wenn
ich heut' nacht
96. Bor fünfundzwanzig Jahren.
sterbe, dann ist der König von seinen Leiden erlöst!"
475 Etwas später richtete
er sich auf dem Lager in die Höhe und sprach mit fester Stimme: „Allen, allen in München meinen Dank!" Nach Mitternacht erwachte er nochmals aus der Betäubung und sagte: „Ein Uhr, und ich bin noch nicht tot!"
Das
waren seine letzten Worte. Am nächsten Tage blieben seine Sinne umnachtet. Noch einmal, als ihm am 29. Februar frühmorgens die letzte Ölung gereicht wurde, schien er zur Besinnung zu gelangen, doch bald darauf um 8 Uhr
35 Minuten entschlief er ruhig — ohne Todeskampf.
Tieferschüttert knieten
die beiden Söhne am Sterbelager.
Die Leiche wurde einbalsamiert; dann blieb sie, bis die mit der Abholung
nach München beauftragte Hofkommission unter Führung des Hofmarschalls
Freiherrn v. Laroche in Nizza eintraf, im Totenhause auf dem Paradebett ausgestellt. Das Antlitz des Toten war nicht entstellt, sondern durch einen rührenden Zug von Milde verschönt. Am 6. März wurden die Exequien mit solcher Pracht und unter so lebhafter Beteiligung der Bevölkerung abgehalten, als gälte es einem Fürsten
des Landes die
letzte Ehre zu erweisen;
der Rö amante delle belle arti
genoß ja in ganz Italien einer großen Popularität.
Kaiser Napoleon III.,
der schon während der Krankheit des Königs Beweise seiner Teilnahme gegeben hatte, ließ sich bei der Trauerfeier durch seine persönlichen Adjutanten, General Reille und Herzog von Elchingen, vertreten. Die gesamte Garnison von Nizza wurde zur Spalierbildung aufgeboten;
eine französische Fregatte, die eigens
von Toulon herübergekommen war, stellte sich gegenüber der Behausung des Königs auf, hißte am Hauptmast die bayerische Flagge und gab, solange die
Exequien dauerten, Trauersalven.
Um 10 Uhr wurde die Leiche vom Klerus
unter Führung des Bischofs von Nizza abgeholt; auf einem von acht Rappen
gezogenen Traüerwagen wurde sie unter dem Geläute aller Glocken nach dem
Dom gebracht, viele Offiziere, Beamte, Bürger und Fremde gingen in feier lichem Zuge mit. Nachmittags brachte wieder ein prächtiger Kondukt den Sarg zum Bahnhof; eine große Menschenmenge gab auch dahin das Geleite.
Die Reise ging über Marseille, Lyon, Straßburg und Ulm; in allen größeren Städten wurde die Königsleiche mit Trauermusik begrüßt und durch Kranz spenden geehrt. Längst hatte Ludwig für sein Begräbnis alle Anordnungen getroffen. Seine sterblichen Überreste sollten an der Seite seiner Gemahlin Therese in
der mit schlichtem Marmorsarkophag geschmückten Gruft in der Basilika bestattet, an Stelle des nach Altötting gebrachten Herzens sollte sein Trauring gelegt
werden. Am 9. März setzte sich von der Hofkapelle aus der Leichenzug in Be wegung; der Verstorbene selbst hatte den Weg vorgezeichnet, auf welchem er als „stiller Mann" znr Gruft gebracht sein wollte. Ein königlicher Weg! Der Trauerzug durchquerte die prächtige Ludwigstraße, welche ihre Anlage und
476
97. Bor dem Königssarge in der Münchener Basilika.
«ine Reihe monumentaler Bauten dem Könige verdankte, dann lenkte er ein in die Briennerstraße, deren Name an eine glänzende Waffentat der Bayern er innert, vorbei an dem Meisterwerk Thorwaldsens, dem Standbild Maximilians I., am Wittelsbacher Palast, dessen östlicher Eckturm das sonnige Lieblingsgemach des Königs umschloß, am ehernen Obelisk, an der Glyptothek, die dm guten
Münchenem lange Zeit zur Zielscheibe ihres Witzes gedient hatte, bis sie er
kennen lernten, welch unvergleichlichen Schatz das Marmorhaus für München und die Welt bedeute, durch die Propyläen, das Denkmal der großen Gesin nung des königlichen Bauherm, das Denkmal des kleinlichen Undankes des Und nun öffneten die Glocken der Basilika ihren ehernen
Griechenvolkes . . .
Mund, das Trauergeleite wandte sich langsam zur Grustkapelle, Männer
stimmen hoben zu klagen an: »In memoria aeterna erst justus
«
Eine eigene und eigenartige Totenfeier veranstalteten die Künstler ihrem fürstlichen Freunde und Beschützer. Am Abend des 12. März zogen sie mit Fackeln und Fahnen nach dem herrlichen Königsplatz. In fahlgrünem Flacker
licht schimmerten die Marmorwände des dorischen Tempels. Von den Stufen der Glyptothek herab klang die Gedächtnisrede, aus der Säulenhalle der Pro
pyläen die Trauerhymne auf den Geschiedenen. Dann öffneten sich die ehemen Torflügel der Glyptothek und aus dem Atrium leuchtete weithin die Büste des gefeierten Toten.
Die Fahnen und Standarten
der Künstler, Oriflammen
unblutiger, dennoch heißer und ruhmreicher Kämpfe, senkten sich und der Redner bekränzte das Marmorhaupt mit goldenem Lorbeer. Draußen aber stand Kopf an Kopf eine unübersehbare Menge, nicht nur Künstler, alle die
Seinen, ein trauemdes Volk . . . schweigend . . . tief erschüttert . . .
97.
Vor dem Königssarge in der Münchener Basilika. Don Aorl Zettel.')
Die Abendsonne schickt den letzten Glanz Durch matte Fenster diesem Tempelhause; Ihr Strahl verflattert noch in müdem Tanz, Indes verstummt des Tages wirr Gebraus«. Dom Turme zittert noch ein Glockenschlag Und mählich stirbt die Rosenglut Um jenen würd'gen Königssarkophag, Auf dem nun heil'ger Friede ruht.
D welch ein Leben, hehr und sonnengleich, Liegt hier in Staub und Todesnacht gesunken! Noch schwelgen wir in seinem lichten Reich, Don jenem gottgegebnen Feuer trunken. ') „Dichtungen" S. 298, 4. Aufl. Stuttgart 1894.
98. Ludwigslied.
477
Ein Purpurleuchten glüht noch jetzt empor Aus dieses Sarges Heiligtum Und mächtig schlägt noch lang an unser Ohr Des großen Bayernkönigs Ruhm.
Denn was er sann und fühlte, war geweiht Dem ew'gen Reich des Wahren und des Schönen; Und stets war ihm die stolze Brust gefeit So gegen Torheit wie der Mißgunst Höhnen. Was klein und niedrig sich durch Engen wand, Dem zürnte sein erhabner Sinn; Und all sein Denken und sein Wollen fand Rur in der Grobheit Dollgewinn. Und wenn es galt im weiten Fürstenrat, In dem er lange saß, der besten einer, Zu wählen rechtes Wort und große Tat, War weiser wohl kein Haupt, kein Wille reiner. Sein Lieben glühte heiß dem Bayerland, Doch auch ein grimmer Bannerwart, Entbot er Schutz gen welschen Trug und Tand Dem deutschen Sinn, der deutschen Art. Drum steh' ich traumverloren manchen Tag, Wenn sich des Abends letzte Strahlen wiegen, O hoher Fürst, vor deinem Sarkophag Und kann ein Weh, ein tiefes, nicht besiegen, Daß auch zu Grab der Größte sinken muß, Des herben Todes flücht'ger Raub. — Du aber nimm der Ehrfurcht heil'gen Gruß Und still gesegnet sei dein Staub!
98. Ludwigslied. Jur 100jährigen Geburtsfeier (1887) König Ludwigs I. von Bayern. Don Martin Greif.
Baser Ludwig, Sproß der Schyren, Der du für dein Volk erglüht, Großes sannest zu vollführen Im beharrlichen Gemüt, Deine Saat hat Frucht getragen, Die noch immerfort gedeiht! Aller Bayern Herzen schlagen Dir voll heißer Dankbarkeit.
Für das Edle zu begeistern War dein frühes Trachten schon Und, umschart von Deutschlands Meistern, Saßest du auf lichtem Thron. Werke, von der Welt bewundert Rief dein Schöpferwort hervor. Blicken wird ein spät Jahrhundert Sehnsuchtsvoll zu dir empor.
l) „Gesammelte Werte", I. Band, S. 299.
Leipzig 1895, Amelang.
478
100. Burg Hohenschwangau.
Hochgestimmte Deinen Ruhm Wo die Halle Am geweihten
99.
Lieder melden dem Vaterland, strahlt den Helden, Donaustrand.
Ihnen nach hast du gerungen Und der Sieg hat dich gekrönt. Mancher Name ist verklungen, Wenn noch laut der deine tönt.
Festgedicht zur Zentenarfeier König Ludwigs I.
von Bayern (1888). Don Herman Lingg ’)
Schmettert, Trompeten! Festglocken, läutet! Einen König ragen Sah Bayerland, Als ob von Sagen Aus alten Tagen Ein Held auferstand l
I Wenn er die Straßen durchschritt I Seiner erblühenden Stadt,
Wo Marmor stieg und Akanthusblatt, Unter Gerüsten zum Mauerwerk Und den edlen Gebilden darinnen, Überall war sein Augenmerk, Urteil, Wink und großes Ersinnen. -
Groh war und heldenhaft Seiner Vaterlandsliebe Kraft Und Feuer in ihm und Schwung Edler Begeisterung. Sein Walten war weise Und kühn zugleich, An Huld war er reich Dem Kind wie dem Greise. Er mochte gern Den Gruß erwidern Hohen und Niedern; Auch kam von nah und fern Das Volk ihn zu schauen, Den mächtigen Herrn, An dem es hing mit Vertrauen.
100.
Jahre, Jahrhunderte ziehen Uber den Werken der Menschen dahin, Deine, großer König, beglänzt Morgenlicht deutscher Einigkeit, Deutscher Macht und Größe, deine bekränzt Bayerns Dank in fernster Zeit.
Schmettert, Trompeten! Festglocken läutet! Töne, Thorgesang I Töne, mächtig durchdrungen Dom Geisterklang Großer Erinnerungen!
Burg Hohenschwangau. Don Karl Stieler. •)
Fast in jedem Sinne ist Hohenschwangau klassischer Boden.
Alle großen
Entwicklungsstufen deutscher Geschichte und deutschen Lebens von der Völker
wanderung bis in die Tage der Reformation sind mit dem Namen dieser Burg verknüpft, mag man von der Kulturmission der ersten Christenboten sprechen oder von den Kaisergeschlechtern des Mittelalters, von kriegerischen Taten oder
vom stilleren Zauber des Liedes.
Immer wieder begegnet uns Schwangau
*) Jahresringe, neue Gedichte von H. Lingg, S. 287. Stuttgart 1889. Cotta. ’) Natur- und Lebensbilder aus den Alpen, S. 133 ff. Stuttgart, A. Bonz & Co., 1890.
479
100. Burg Hohenschwangau.
und so ist die schöne Landschaft gleichsam erfüllt von schönen Gestalten, von jenem Reichtum der Begebenheiten, der sie in vollem Maße zur historischen
Landschaft macht.
Den feinen und nachhaltigen Reiz,
den dieser Umstand
verleiht, wird kein Gebildeter verkennen; dadurch allein gewinnt die Betrachtung immer wieder neue-Seiten; die geistige Beleuchtung, in der wir eine Örtlichkeit erblicken,
ist ja nicht minder wirksam
als die Beleuchtung,
auf sie fällt. Wer zum erstenmal in jene Gebiete kommt,
die vom Himmel
wird überrascht durch die
mächtigsten Gegensätze. Es ist die Grenze, wo bayerisches und schwäbisches Volkstum seit uralter Zeit ineinander greifen; alamannische Art, die bedächtiger, kühler, berechnender ist, hat schon das rauhere, kühne Wesen des bayerischen
Gebirgscharakters gedämpft. Und wie die Völkerstämme — grundverschieden — hier ineinandergreifen, so stößt ebenda die breite, volle Ebene an die gewaltige Bergeswildnis.
Wer den Blick hinaussendet, sieht weit in niederes,
fruchtschweres Land; wer ihn bergwärts wendet, sieht hart vor sich die himmel ragenden Wände, grüne Tannenwälder und, zu ihren Füßen eingeschlossen,
zwei blaue Seen, die den Burgfelsen bespülen. Den eigentlichen Schlüssel der Landschaft aber, den mächtigen Angelpunkt
derselben bildet der Durchbruch des Lech bei Füssen (Fauces Alpium), der einen der ältesten Wege und Engpässe zwischen Deutschland und Welschland bezeichnet. Seine Bedeutung war schon dem großen Gotenkönige Theodorich bewußt, der die strengste Bewachung desselben befahl; an den Namen Füssen
knüpfen sich auch die Taten des Mannes, der als geistiger Held dieses Land dem Christentum gewann. Es war der heilige Magnus, dessen Kelch und
Stab noch heute daselbst verwahrt werden.
Wie eine holde Idylle lag waldversteckt und abseits von dem mächtigen Heerwege die Burg Hohenschwangau. Es war nicht bloß eine, es waren mehrere Burgen, die übereinander standen, und es scheint kaum zweifelhaft, daß
ehedem ein römischer und ein gotischer Wartturm daselbst gewesen. und mehr streift bald die Weltgeschichte
Aber mehr
das waldumsäumte Idyll;
Schönheit mag der Pinsel des Malers schildern;
seine
wir aber wollen erzählen
von den Taten, die sich unvergeßlich mit dieser Scholle verbinden.
Aus ihrer dämmernden Einsamkeit treten uns bereits im 10. Jahrhundert die ersten Urkunden entgegen. Als Kaiser Otto III. im Jahre 997 nach
Italien zog, hielt er hier seine Rast; auf Hohenschwangau empfing Anno 1004 Kaiser Heinrich II., der Heilige, die Gesandten des Ungarnkönigs Stephan. Als gebietender Name tritt uns in den vergilbten Pergamenten jener Zeit das
uralte Welfenhaus entgegen, das in diesen Gauen vor allem begütert war, und als Urkundszeugen finden wir die Schwangauer unterzeichnet, die den berühmten Bischof Wicterp von Augsburg (750) unter ihre Ahnherren zählten. Am berühmtesten unter ihnen aber ist wohl Hiltebold von Schwangau
geworden, der gefeierte Minnesänger, dessen Siegel mit dem Schwane uns nicht
100. Burg Hohenschwangau.
480
selten begegnet und dessen Liebeslieder an die schöne Elsbeth in der Manesseschen Handschrift stehen.
eigentlich klassischen Zeit sein Leben dahin;
Er war um 1200 Burgherr zu Schwangau, also zur
des deutschen Minnegesanges.
Reich bewegt ging
er verkehrte mit den bedeutendsten Männern seiner Zeit
und auch Walter von der Vogelweide, der eben um jene Zeit durch die bayerischen Alpen zog, hat aller Vermutung nach auf Hohenschwangau Einkehr gehalten. Den Höhepunkt seiner Fahrten aber, seiner Taten und Leiden
bildete der Kreuzzug nach Syrien, wo er aus dem. tiefsten aller Liederbronnen schöpfte, aus dem Heimweh.
Bald wandelt sich für Schwangau das Bild; die sonnigen Töne ver schwinden und an ihre Stelle tritt die tiefste Tragödie, welche die deutsche Geschichte jemals gesehen: es ist der Abschied Konradins. Der unglückliche letzte sprosse des Staufengeschlechts war am 25. März
1252 auf der Herzogburg zu Trausnitz bei Landshut geboren;
sein Vater,
Kaiser Konrad IV., hatte ihn nicht mehr gesehen. Seine Mutter aber war Elisabeth, die Tochter des bayerischen Herzogs Otto des Erlauchten, die mit 15 Jahren vermählt und mit 22 Jahren verwitwet war; dann lebte sie am Hofe ihres Bruders Ludwig des Strengen und längere Zeit auf der Burg zu Schwangau, bis sie nach fünfjährigem Witwenstande dem mächtigen Grafen
Meinhard von Tirol die Hand reichte.
Der kleine Konradin war über diese
zweite Ehe so ungehalten, daß er es verweigerte sich zu erheben, wenn seine
Mutter in den Saal trat;
er war das Königskind, sie aber hatte sich zur
Gräfin erniedrigt.
Oft genug freilich wich diese Härte, die bei dem leidenschaftlichen und stolzen Sinne des Knaben keineswegs unglaublich scheint, weicheren Herzens tönen und dann sehen wir nur die schöne, junge Mutter, die das Verhängnis
ihres Hauses ahnend in der Seele trägt und bekümmert niederschaut auf den
blonden Sohn, der ahnungslos diesem Verhängnis entgegenreift. Die alte Streitfrage, ob Konradin wirklich in Hohenschwangau udn seiner Mutter und von der Heimat Abschied nahm, bevor er nach Italien ins
Verderben zog,
„erwächst beinahe zur urkundlichen Gewißheit"
durch einen
Stiftsbrief, den Elisabeth mit Bezug auf die Abreise ihres Sohnes den Nonnen von Voldepp ausgestellt. Derselbe ist datiert von „Schloß Schwangau", den 22. August 1267, und als Zeugen dienen die sämtlichen Edlen und Ritter, denen wir nun auf dem ganzen Zuge als ständigen Begleitern Konradins begegnen.
Sie hatten sich offenbar auf der Burg Schwangau zur Heeresfolge versammelt; hier war demnach der Ort ihres Auszugs und Abschieds.
Das Ende dieses Weges freilich ward mit Blut in die Tafeln der Geschichte geschrieben, als der letzte ©taufe auf dem Marktplatze zu Neapel enthauptet ward.
Noch mancher Held aus den folgenden Kaisergeschlechtern hielt auf Hohenschwangau Rast: Ludwig der Bayer, der am Plansee sein Jagdgebiet
101. Der Schatz auf Hohenschwangau.
481
hatte, wo noch heute der Kaiserbrunnen nach ihm genannt ist; Maximilian, der letzte Ritter und der kühnste Jäger seiner Zeit, der von hier bis Zirl
und Innsbruck sein Weidwerk hegte. Unter Karl V. endlich kam die Feste an ein Augsburger Patrizier geschlecht (d. Paumgarten) und der internationale Charakter dieses Kaisers,
in dessen Reich die Sonne nicht unterging, mag schon daraus hervorgehen, daß die Bestätigungsbriefe über das einsame Bcrgschloß von Neapel und Madrid datieren.
Damals soll auch Martin Luther als Flüchtlingsgast die
Feste bewohnt haben, die nun bald mehr und mehr zerfiel.
Die Boten des
Erzherzogs Ferdinand, die sie besichtigen sollten, geben bereits eine klägliche Schilderung; dann kamen der Dreißigjährige, der Spanische und Österreichische Krieg und zuletzt die Zeit Napoleons, — Hohenschwangau wäre auf Abbruch versteigert worden, wenn nicht Fürst Öttingen es gerettet hätte. So ward
die Burg für den feinsinnigen König Max II. erhalten, der sie als Kronprinz (1832) gleichsam neu entdeckte und dnrch Künstlerhand zu dem gemacht hat, was sie heute bedeutet.
101.
Der Schatz auf Hohenschwangau. Don Friedrich Beck.^
Von Hohenschwangaus alter Burg Geht bei dem Volk die Sage, Daß ihres Berges hohler Grund Einen Schatz verborgen trage.
Es schwebt um sie manch Heldenbild Der Welfen, Staufen, Schyren; Sie war es wert, daß Kunst und Lied Wetteifern sie zu zieren.
Zuweilen nur erhebt er sich, Don Geisterhand gezogen; Dann steht auf Schwangaus Höhen licht Ein farb'ger Regenbogen.
Doch lange blieb sie ungeschmückt, Verstummt war Sang und Sage; Da kam ein edler deutscher Fürst Und hob den Schatz zutage.
Und ruht bei heitrer Luft die Burg Recht in des Glanzes Wonnen, Dann flüstert man sich heimlich zu: „Run will der Schatz sich sonnen."
Und willst du schau'n, wie reich er prangt, Geschirmt vom Bergesschotze, So halt im Tale fröhlich Rast Beim Wirt zur Alpenrose.
3a glaubt! 3ch hab' es selbst erlebt, Der Schatz, der will sich sonnen, Und wer das Märlein euch erzählt, Hat Lügen nicht gesponnen.
Da liegt vor dir so spiegelglatt Der grüne See gebreitet, Durch den der Silberschwäne Schar Am Ufer ruhig gleitet.
Rur denket nicht an rotes Gold, Ist Gold doch nicht das Beste! Der Schatz, der ist das Felsenschlotz, Die kühne Ritterfeste.
Biel goldne Lichter spielen bunt Auf Blumen rings und Bäumen; Du blickst hinaus zur Königsburg, Die Fels und Wald umsäumen.
*) „Stifleben, lyrische Dichtungen", S. 83, München 1861, Fleischmann. KronSeder, Lesebuch zur Geschickte Bauern».
ZI
482
102. König Maximilian II. von Bayern.
Die Türme ragen hell empor, Die kühlen Brunnen springen, Die Luft durchzieht's wie Harfenton, Und Lied und Sage klingen.
Dir aber ward die Märe klar, Ihr Schlüssel ist gewonnen: Ein Schatz, der lang versunken lag, Stieg hier ans Licht der Sonnen!
102. König Maximilian II. von Bayern. Aus der Erinnerung gezeichnet von Wilhelm Heinrich Riehl').
König Maximilian II. von Bayern hatte in seinem ganzen Wesen wenig
Leidenschaftliches, aber eine Leidenschaft erfüllte ihn, welche bei Fürsten selten sein mag: die Leidenschaft zu lernen.
Er erzählte gerne von seiner Göttinger Studentenzeit und
versicherte, daß er ein echter und ganzer Student und nicht bloß ein „studierender Kron prinz" gewesen sei, daß er jeden Tag pflichtgemäß mit der Mappe unterm Arm ins Kolleg gegangen und seine Hefte so sorgsam ausgearbeitet und studiert
habe wie irgend einer. Besonders tiefgreifend hatten damals Heerens Vorträge auf ihn gewirkt, und er bewahrte diesem Gelehrten durchs ganze Leben das treueste Andenken.
Auch seinen philosophischen Lehrer Schelling hielt er allezeit in höchsten Ehren. „Schelling der große Philosoph", so ließ er auf den Sockel des Denkmals schreiben, welches er ihm in München errichtete. Ein dritter Meister und Lehrer des Kronprinzen war Leopold Ranke, der sich trotz vorschreitenden Alters auf der Höhe seines Wirkens hielt.
Erschien ein neues Werk von Ranke,
so mußte es alsbald und von Anfang bis zum Ende gelesen werden, auch wenn die Zeit des Königs gerade knapp bemessen war oder der Inhalt des Buches seinen Studien fern lag.
Er wollte den Arbeiter ehren, indem er mitarbeitete,
den Meister, indem er von ihm lernte.
Dies war sein oft ausgesprochener
und betätigter Grundsatz. In dem letzten Lebensabschnitte des Königs ist diese Ehre des Mitarbeitens
und Lernens wohl keinem unmittelbarer zuteil geworden als Liebig. Poesie, Philosophie und Geschichte hatten dem Könige seit den Jünglingsjahren nahe
gelegen, auf ihrem Gebiete fühlte er sich heimisch; die Naturwissenschaft, nament lich nach ihrer exakten Methode, stand ihm fern. Allein er ahnte die umbildende theoretische Macht dieser modernen Wissensgruppe und erkannte wohl noch klarer ihren praktischen Einfluß auf das ganze Volksleben. Darum berief er nicht nur den berühmtesten deutschen Forscher an die Münchener Hochschule, sondern er zog ihn auch persönlich in seine Nähe um einige Anschauung der neuen und ftemden Disziplin zu gewinnen und genügendes Verständnis ihrer
Anwendung auf die Bedürfnisse des Lebens. Die naturwissenschaftlichen Ge spräche und Vorträge in dem gelehrten Freundeskreise des Königs, woran ') Kulturgeschichtliche Charakterköpfe, Nachfolger.
S. 175 ff.
Stuttgart 1899’,
Cotta'sche
102. König Maximilian II von Bayern.
483
neben Liebig später auch der Physiker Jolly, der Anatom Bischoff und andere
teilnahmen, boten für den Beobachter des Fürsten ein ganz besonderes Interesse. Ich habe niemand gekannt, der gleich ehrlich die Lücken seines Wissens und die Mühsal seiner Erkenntnis eingestanden hätte.
Mancher Fürst wähnt, als Prinz habe er zwar offenkundig lernen dürfen, nach der Thronbesteigung hingegen heische es der Nimbus der Majestät, daß er vor dritten immer nur als Wissender erscheine und also höchstens noch heimlich nachlcrne. Und vielleicht hat aus diesem Grunde manches gekrönte Haupt niemals nachgelernt, was es ungekrönt zu lernen versäumte.
Von Maximilian II. konnte man umgekehrt sagen, daß er als König noch offener und eifriger an seiner Fortbildung arbeitete denn als Kronprinz. Schickte er
doch sogar noch im Sommer 1854 einen Stenographen in das Kollegium eines Münchener Professors, dessen Gegenstand ihn besonders anzog, um sich das vollständige Heft zur Herbstlektüre nach Hohenschwangau mitzunehmen.
Der Trieb des reinen Forschers, welcher den Gelehrten macht, führte ihn nicht zur Wissenschaft, sondern die Erkenntnis, daß universellste Bildung
dem modernen Fürsten unerläßlich sei.
Er lernte aber auch keineswegs um
seiner selbst willen, sondern viel mehr noch, weil er sein Volk zum Lernen drängen wollte.
Sein großer Lebensplan war:
Das bayerische Volk durch
freie Bildung höher zu heben. Ich berühre hier eine Schranke in der Natur des Königs und will meine ehrliche Überzeugung noch weiter aussprechen.
König Max war ein rezeptives, kein schöpferisches Talent; ein gesund begabter, kein hochbegabter Geist. Sein Vater, der alte König Ludwig, über
ragte ihn an sprühender, zündender Geisteskraft; er überragte den Vater — als Charakter.
Die Bildung des Vaters war originaler, autochthoner; die
Bildung des Sohnes harmonischer.
Die Größe des Sohnes quoll darum nicht,
wie beim Vater, aus der Hingabe an die Inspirationen seines Genius, sondern gegenteils aus dem steten pflichttreuen Kampfe mit sich selbst, aus der Selbst bezwingung, die ihn zur Leidenschaft des Lernens führte und die sich ebenso gut in den traulich-ernsten Unterhaltungen mit seinen Poeten und Gelehrten
aussprach wie in dem späteren Umschwünge seiner Regierungspolitik. Als die politische Welt im Jahre 1848 sich ganz anders drehte, wie König Ludwig I. erstrebt und erwartet hatte, da konnte dieser eigenherrische Geist nicht weiter mitgehen und sprach:
„Ich will nicht länger König sein!"
Als dagegen König
Max im Jahre 1859 eine Krisis der inneren Politik Bayerns hereinbrechen
sah, die seinem Dichten und Trachten kaum minder widerstrebte, zwang er sich zum Frieden mit seinem Volke, er suchte politisch von vorn zu lernen und wurde nun erst recht König. Der König lernte aus Büchern, aber weit lieber noch im persönlichen Umgänge mit Männern der Literatur und Wissenschaft. - Diesen Umgang wußte
er in ganz eigener Weise zu organisieren.
102. König Maximilian II. von Bayern.
484
Anfangs sprach man nur von dem „Dichterkreise", welchen der König allwöchentlich einmal zum Souper und Billard bei sich versammele.
Tat überwog von 1853—55 das poetisch-literarische Interesse.
In der
Der Mann,
welchem neben der königlichen Initiative das Verdienst der ersten Anregung
und Organisation dieser Zusammenkünfte gebührt, Dünniges, war Diplomat, Gelehrter und Poet zumal; Geibel, der nicht bloß durch seine Verse sondern auch
durch seine Persönlichkeit die besondere Zuneigung des Königs gewann, entwarf und leitete meist das poetische Programm des Abends, Heyse, Schack, Bodenstedt
kamen hinzu, Kobell, Pocci, Thiersch vertraten das ältere Münchener Element.
Schon um die Räume, wo wir uns versammelten, wob sich der Zauber der Poesie.
Durch seit Jahren unbenutzte Prunkzimmer eines Seitenflügels
gelangte man in ein schönes, reiches Rokokogemach aus der kurfürstlichen Zeit,
dessen Wände mit alten Historienbildern, Porträts und Landschaften, gleich einer
Gemäldegalerie, bedeckt waren; ein völlig einsamer, stiller Raum, der, wie der Überrest eines längst verlassenen Schlosses, mitten in dem belebten modernen Residenzschlosse geborgen lag.
Hier stand der einfache Tisch mit der grünen
Lampe, um welchen wir so manchen Abend saßen, in ernste Gespräche vertieft, oft auch erregt in stürmischer Debatte.
Liebig, zur Linken Geibel.
Dem König zur Rechten saß allezeit
Ein an das Zimmer unserer Tafelrunde anstoßender
kleiner Saal im style de l’empire aus der Zeit Max Josephs enthielt das Billard, auf welchem wir nachgehends eine oder zwei Partien spielten um dann
zum Anhören eines Gedichtes und zum Abendessen noch einmal in das Rokoko
zimmer zurückzukehren.
Ein Thronhimmel an der Wand, dem aber der Thron
und die übrige ebenbürtige Ausstattung des Raumes fehlten, zeigte an, daß dieser Billardsaal früher vornehmeren Zwecken gedient hatte.
Wie der König
erzählte, war er selber hier getauft worben und er erklärte es für ein bedeutsames Omen, daß Platen bei seiner Taufe als Page fungiert habe. Vor allen Künsten liebte er nicht nur die Poesie zumeist, er übte sie
auch und trug sich mit dem Gedanken seine Gedichte drucken zu lassen.
Als
ihm jedoch Geibel, dem er dieselben zur vorläufigen Kritik übergeben, davon
abriet, legte er sie ruhig wieder in das Pult mit jener Selbstbescheidnng, welche
ihm durchweg eignete. Es war durchaus bedeutsam, daß der König mit den Poeten anfing und mit den gelehrten Spezialisten schloß.
Der „Dichterkreis" war die Ouvertüre,
die „Historische Kommission" das Finale.
Rur auf diesem Wege konnte der
Fürst zu seinem universellen Wirkey kommen, auf dem umgekehrten wäre er selbst im gelehrten Spezialismus stecken geblieben; für einzelne Forschungen
hätte er vielleicht mehr geleistet, für den geistigen Umschwung seines Volkes ohne Zweifel weniger.
Seit länger als einem Jahrhundert hat die deutsche
Wissenschaft immer in nächster Fühlung mit der Kunst, insbesondere mit der
Poesie gestanden, und der wissenschaftliche Geist unserer besten Dichter, der
künstlerische unserer größten Gelehrten bedingt den eigentümlichsten Glanz unserer
102. König Maximilian II. von Bayern.
Nationalliteratur.
485
Ob der König dies klar erkannte, ob er es bloß ahnte?
Ich weiß es nicht. Jedenfalls handelte er demgemäß. Übrigens hatten die gesellig heiteren Zusammenkünfte des Dichterkreises schon frühe einen lehrhaften Anstrich.
Mit dem Vortrage der eigenen neuesten
Arbeiten wechselten planvoll geordnete Proben aus der Weltliteratur aller Zeiten und die kritische und kunsthistorische Debatte ergab sich dann von selbst. Nun war aber schon durch Liebig ein rein wissenschaftliches Element in
den Dichterkreis gekommen, andere Gelehrte wurden gleichfalls als Stammgäste geladen und so bildete sich — seit 1855 — der Dichterkreis unvermerkt in
Die Dichter fehlten zwar niemals und ein Gedicht gab dem Abende auch fürderhin seinen künstlerischen Schmuck und Abschluß.
einen Gelehrtenkreis um.
Allein die Wissenschaft gewann denn doch die Vorhand, ja nicht selten leitete sie uns von der Theorie zur Praxis, zur Erörterung politischer, sozialer, religiöser Fragen des Tages. Wir selbst begannen unsere Tafelrunde um diese Zeit nicht mehr den Dichterkreis, sondern das „Symposion"*) zu nennen; *) „Die Symposien folgten einander schon in kurzen Zwischenräumen weniger Tag«. Der König schien großes Gefallen daran zu finden und brachte immer neue Fragen aufs Tapet, über die er zunächst den gerade Sachverständigsten unter uns zu hören wünschte. Doch verliefen die späteren Abende nicht ganz wie die ersten. Mehr und mehr wurde es Brauch, daß in der ersten Stunde ein wissenschaftliches Thema aus den verschiedensten Gebieten durchgesprochen wurde, ein naturwissenschaftliches oder ästhetische und literarhistorische, dann vorwiegend soziale und völkerpsychologische Probleme. Hierauf erhob sich der König und ging in das Billardzimmer voran, wo eine Partie Boule gespielt wurde, während deren er einen oder den anderen in eine Fensternische zog und mit ihm besprach, was im Augenblicke ihn beschäftigte. War dies beendet, so verfügte man sich wieder an den langen Tisch und nun hatten die Dichter das Wort, die sorgen mußten, daß immer etwas zum Vorlesen bereit war. So verklang der Abend nach manchen, oft stürmischen Debatten tönereich und harmonisch und man blieb, wenn die Majestät sich zurückgezogen hatte, in heiterer Stimmung beisammen. Was diesen Abenden einen besonderen Reiz und Wert verlieh, war die unbedingte Rede freiheit, die zuweilen sogar in sehr unhöstschem Maße an die Grenze des Zanks sich ver irrte. Hatte man in der Hitze des Gefechts dann vergessen, daß die Gegenwart des Königs doch einige Rücksicht erheischte, und hielt plötzlich inne mit einer Entschuldigung, daß man sich zu weit habe fortreißen lassen, so bemerkte der König mit freundlichem Lächeln: *Jch bitte sich ja keinen Zwang anzutun. Ich habe nichts lieber, als wenn die Geister auf einander platzend Als eS tiefer in den Sommer hineinging, wurden die Symposiasten nach Nymphen burg geladen, in die reizenden Rokokosäle der Amalienburg und Badenburg, wo man, wenn man nicht gerade das Protokoll zu führen hatte, die Augen zu der offenen Flügeltür hinaus über den kleinen See schweifen lassen und sich an der glänzenden Sternennacht erquicken konnte. So sehr war der König von der Wichtigkeit dieser Abendunterhallungen durch drungen, daß er, so gütig er sonst sich mir bewies, meine Bitte einige Tage vor dem Schluß der damaligen Symposien entlassen zu werden nicht gewährte. Ich erhielt nicht eher Urlaub, als bis ich die Reinschrift des letzten Protokolls in der Kabinettskanzlei ab geliefert hatte." Paul Heyse, „Jugenderinnerungen und Bekenntnisse." V. König Max und das alte München. S. 230 ff. Berlin 1900.
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102. König Maximilian II. von Bayern.
offiziell und im Munde des Königs hatte sie gar keinen Namen; die Einladungen
lauteten: „zum Billard". Ich bezeichne aber diese zweite Periode, welche unter der Hand aus der rein poetischen hervorgewachsen war, als die enzyklopädische; das Wort paßt dann
nicht bloß auf unsere Zusammenkünfte sondern auch auf die ganze Kulturpolitik,
wie sie der König in den Jahren 1855—59 energischer und selbständiger als je zuvor und hernach entwickelte, ja mit einer drängenden Hast, als fühle er, daß ihm nur noch kurze Frist vergönnt sei. Die Hauptwerkstätte seiner mannig fachen Bildungspläne war in jenen vier Jahren, aber auch nur damals, ohne
Zweifel das Symposion. Der Kreis der geladenen Gäste erweiterte sich und die sehr verschieden artigen Persönlichkeiten stellten für sich schon eine kleine Enzyklopädie dar. Aus der bunten Reihe erwähne ich neben den stammhaltenden Dichtern Geibel,
Heyse, Schack, Badenstedt, Kobell und meiner Person die Gelehrten Liebig, Bischoff, Jolly, Thiersch, Sybel, Löher, Bluntschli, Dollmann, Carriere, Gietl, Windscheid, Siebold, Petteukofer, Cornelius, Hermann, Ringseis, Schafhäutl und die Künstler Kaulbach, Piloty, Klenze, Adam u. a., wobei nicht vergessen werden darf, daß auch unter den Kavalieren des königlichen Dienstes Männer sich fanden, die, wie von der Tann und Spruner, an den wissenschaftlichen Auf
gaben des Abends ebenso berufen als eifrig teilnahmen.
Bei der Zahl der
Vorgenannten ist aber dann doch wieder ein engerer und ein weiterer Ring zu unterscheiden: regelmäßige Gäste, oder richtiger mitarbeitende Gäste, auf welche bei den Vorttägen und den nachfolgenden privaten Beratungen des
Königs gezählt wurde, und Ehrengäste, die ab und zu einmal gebeten waren. Ich habe bei meiner Aufzählung die ersteren vorangestellt. Meistens waren wir unser 12, selten mehr; 13 durften es niemals sein, der König fürchtete die verhängnisvolle Zahl.
Als einmal in Hohenschwangau, trotz aller Vorkehr,
dennoch der dreizehnte Mann durch Zufall an den Tisch kam, mußte, einer der
Adjutanten an einem der kleinen Tischchen in der Ecke Platz nehmen. nannten dies „am Altar des Aberglaubens essen".
Wir
Methodisch in allen Dingen, brachte der König auch eine Art Geschäfts
ordnung in das enzyklopädische Symposion.
Er gliederte den Abend in zwei
Teile, ich möchte sagen in einen theoretischen und einen prakttschen. Der zweite war wichtiger als der erste, aber wer nicht zu den Eingeweihten zählte, wer nur gelegentlich einmal als Ehrengast erschien, der merkte gar nicht, was alles im
zweiten Teile vorging und entschieden wurde. Der eine Akt spielte in dem Rokokozimmer, wo wir bei einem kleinen Imbiß und nachher der Zigarre — dem modernen Symbol der ausgleichenden Vertraulichkeit — versammelt
saßen um einen Vorttag anzuhören und das Thema im allgemeinen Gespräch weiter zu erörtern, der andere Att im Billardsaale. Hier bildeten sich Gruppen während der Pausen des Spieles, man ging auf und ab und der König sprach mit einzelnen unter vier Augen.
Er beriet sich über seine Pläne, gab unb
entwarf Aufträge und nahm mündliche Berichte über den Fortgang der von ihm angeregten Arbeiten entgegen. Dazu konnte man bei dieser Gelegenheit auch unaufgefordert ein offenes Wort mit ihm reden. Fremde, welche sich über die langen Spielpausen wunderten, merkten es freilich nicht, daß inzwischen vielleicht ein weittragendes Unternehmen beredet und beschlossen worden war, wenn der König endlich ein paar Worte in sein kleines Notizbuch schrieb oder sich auch kurzweg einen Knopf zu mehreren bereits vorhandenen Knöpfen ins Taschentuch machte um dann wieder unter die seiner Kugel harrenden Billard spieler zurückzukehren. Ganz im Einklänge mit seiner methodischen Art sah er in jedem von uns den Vertreter eines besonderen Faches und praktischen Erfolg hatte fast allezeit nur, was der einzelne aus dem Gebiete dieses Faches, gefragt oder ungefragt, vorbrachte. Wohl hörte er uns mitunter auch gerne über Dinge reden, die wir nicht gerade aus der Schublade unseres „Faches" holten, aber das Notiz buch hat er daun kaum jemals hervorgezogen, ja nicht einmal das Taschen tuch. Was der einzelne je aus seinem Fachkreise mitteilte, das schien ihm beachtenswert, was er etwa darüber hinaus vortrng, und wäre es auch noch so originell und bedeutsam gewesen, flüchtige Unterhaltung. Das Symposion als Ganzes war enzyklopädisch und der König, welcher unsere Verhandlungen an kaum merkbaren Fäden sicher leitete, die Enzyklopädie in Person; aber der einzelne unter uns sollte beileibe kein Enzyklopädist sein. Äußerst empfindlich wurde der König berührt, sowie er merkte, daß irgend jemand persönliche Ziele anstrebte oder überhaupt auch sachlich einen dominierenden Einfluß üben wollte. Seine Person vordrängen war das sicherste Mittel um von ihm zurückgeschoben zu werden, ja selbst die beste Sache, welcher man dabei etwa dienen wollte, zu verderbe». König Max fürchtete sich argwöhnisch vor allem Günstlingswesen. Wer daher seine Freundschaft — ich sage absichtlich nicht seine „Gunst" — dauernd zu bewahren wünschte, der mußte warten, bis er gefragt wurde, bann aber ehrlich und geradeaus antworten, gleichviel ob er angenehme oder unangenehme Wahr heiten zu sagen hatte; er mußte den Umgang mit dem Könige durchaus betrachten Wie den Umgang mit einem hochgeachteten Privatmanne, wobei das Vergnügen und die gegenseitige geistige Frucht des Verkehrs das einzige Ziel ist und der einzige Lohn. Auch der König faßte den geselligen Umgang mit seinen Freunden, sei es an den Münchener Abenden oder auf der Jagd und Reise, durchaus im Geiste des liebenswürdigen Wirtes auf; das bekundete seine ganze Haltung, das bezeugten aber auch seine ausdrücklichen Worte: er ließ niemals merken, als wolle er uns eine Gunst oder Ehre erweisen, dagegen dankte er uns um so anmutiger für unsere Ausdauer und frische Teilnahme. Das war denn freilich die feinste Gunst und Ehre und er hatte ein Recht zu erwarten, daß wir dieselbe mit gleichem Zartgefühl erwiderten und uns allen vordringlichen Wesens, aller eigennützigen Wünsche und Pläne sowohl ihm selbst gegenüber wie nach außen streng enthielten.
103. Eine Fußreise mit König Max ll.
488
Der König war karg mit seinem Lobe; er erwartete aber auch von uns keine Schmeicheleien.
Jener literarische Kreis zählte Männer genug, welche
ihn in der Presse laut hätten lobpreisen können und die, was mehr ist, auch Geist und Geschick besessen hätten, ihn geschmackvoll zu preisen. Keiner von uns hat das getan und der König würde es auch von keinem begehrt haben. Das hätte auch dem ganzen Wesen unseres gegenseitigen Verhältnisses wider sprochen: einen Gönner mag man öffentlich rühmen, einen treuen Freund rühmt man nur in der Sülle. Die historische Gestalt dieses so originalen und doch so zart und gemischt
organisierten Fürsten läßt sich in folgenden kurzen Worten plastisch skizzieren: König Maximilian förderte und ehrte Kunst und Wissenschaft, indem er mit Künstlern und Gelehrten arbeitete und lernte.
Die Aristokratie des Geistes
Seiner Natur nach ein humaner,
stand ihm höher als die Geburtsaristokratie.
aufgeklärter Absolutist, regierte er verfassungstteu und wurde zuletzt ein frei« sinnig-konstitutioneller Monarch aus Pflichtgefühl und Rechtssinn. Er zeigte
die Liebe zu seinem Volke, indem er es mit rastloser Hingabe studierte und förderte und den eigenen Frieden an den Frieden mit seinem Volke setzte. König Max war nicht der letzten einer unter den eifrigen Hütern des guten deutschen Geistes in schwüler Zeit. Und wenn sich das bayerische Volk in den schwersten Stunden des Jahres 1870 als echt, treu und deutsch erprobt hat,
wenn jetzt ein ganz anderer Geist im Lande weht als vor Jahrzehnten, wenn Bayerns Volk und Staat im neuen Deutschen Reiche eine würdigere und be
deutendere Rolle gewonnen haben als jemals im alten Deutschen Bunde, dann vergesse man angesichts alles dessen nicht, daß König Max es war, der mit redlicher, mühevoller Arbeit zu solchen Früchten den Boden bereiten half.
103. Eine Fuhreise mit König Max II. Don Wilhelm Heinrich Riehl.')
Es war am 4. März 1864, als König Max von Bayern die gelehrte Tafelrunde des sogenannten „Symposions" nach längerer Pause wieder ein
mal bei sich versammelt sah. In altgewohnter Weise hatten wir zuerst in dem ttaulichen, bildergeschmückten Rokokosaale der „grünen Galerie" beim ein
fachsten Abendbrot und dampfender Zigarre den Vortrag eines poetischen Frag mentes angehört und von literarischen Dingen gesprochen, bis ein Wink des Königs das Zeichen zum Aufstehen Zimmer zum Billard verfügten.
gab
und wir uns in das anstoßende
Wir spielten meist sehr lässig; denn das Spiel sollte mehr nur den An laß bieten uns freier zu bewegen und in Gruppen zu unterhalten und der König liebte es, während der oft äußerst langen Pausen mit dem einen oder *) Kulturgeschichtliche Charakterköpfe, S. 245.
Stuttgart 18993, Cotta.
103. Eine Fußreise mit König Max II.
489
anderen auf und ab zu gehen und unter vier Augen seine wissenschaftlichen und künstlerischen Pläne zu
So ist bei diesem Billard im Laufe
besprechen.
der Jahre viel Schönes unb Bedeutsames angeregt und beschlossen worden. Die Partie war ausgcspielt, als der König am Abende jenes 4. März
noch einmal in unseren größeren Kreis trat und mit lebhaften Worten einer Reise gedachte, welche er im Sommer 1858 gemacht hatte, vom Bodensee quer
durch den Bregenzer Wald, die Algäuer und Bayerischen Alpen sowie die an grenzenden Tiroler Täler nach Berchtesgaden — einer langen Reise bei kurzem
Wege; denn es wurden Seitenausflüge nach rechts und links eingeschoben. Berge bestiegen und ausgiebige Rasttage an besonders fesselnden Orten ge
halten, so daß die kleine Karawane gegen sechs Wochen unterwegs war.
Mit fast wehmütiger Freude redete der König von jenen Tagen und erklärte, das sei seine vergnügteste Reise gewesen, nie habe er sich unterwegs
so frei, frisch und heiter gefühlt wie damals.
Ich hatte die Reise mitgemacht
und nach meiner Gewohnheit ein Tagebuch geführt, wovon der König wohl wußte.
Jetzt entsann er sich dessen und fragte, ob ich ihm nicht eine Abschrift
oder einen Auszug geben möchte, da er auf der Gemsjagd im kommenden
Herbste unseren damaligen Weg auf gar manchen Punkten kreuzen werde und
dann in frischester Erinnerung Momente jener schönen Zeit noch einmal nach leben wolle.
Ich versprach eine treue Federzeichnung unserer bunten Wandererlebnisse. Dieses Versprechen war das geredet habe.
letzte Wort, welches ich mit dem edlen Fürsten
Unmittelbar nachher verabschiedete er sich, rascher und plötzlicher,
als er sonst pflegte, nach — sechs Tagen war er gestorben. —
Maximilian II. ist bereits eine historische Gestalt geworden, deren vor
treffliche und liebenswürdige Züge man warm und dankbar darstellen darf ohne den Schein der Schmeichelei.
Die Pietät gab mir die Feder in die Hand,
die echte Pietät aber ringt vor allem nach ungefärbter Wahrheit. —
des
Die Reisegesellschaft
Königs
bestand
aus
drei
Kavalieren
seines
Dienstes: dem General von der Tann als Reisemarschall, dem Obersten Graf Pappenheim und dem Hauptmann Baron Leonrod, dann ans vier Gästen: dem Grafen Ricciardelli, Franz von Kobell, Friedrich Bodenstedt und dem
Schreiber dieser Zeilen. — Der originelle Charakter unserer „Fußreise"
spiegelt sich vielleicht
am
schärfften in einer Skizze unserer Reisestrapazen. Denn Mühsal und Genuß, Zwang und Freiheit, Entbehrung und Überfluß reichten sich fortwährend in
abenteuerlichstem Wechsel
die Hand.
Es
herrschte
überhaupt
der Reiz der
Gegensätze. Die größte körperliche Ausdauer von uns allen bewies der König.
Ihm
war kein Weg zu weit, kein Wetter zu schlecht und nach seinem Sinne hätten
wir unsere Reise noch wenigstens zwei Wochen lang durch die Tiroler und Salzburger Täler fortsetzen sollen, als wir anderen schon allesamt froh waren
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103. Eine Fußreii'e mit König Max II.
demnächst Berchtesgaden zu erreichen und uns dort gründlich zu erholen und auszuruhen. König Max konnte die Stubenluft nicht ertragen; in der schwülen Atmosphäre des höfischen Repräsentationslebens fühlte er sich leidend; auf
der Jagd, auf der Reise hingegen kehrten ihm Frische und Kraft zurück. Wer ihn darum bloß in seiner Residenz sah, der ahnte jene schwache Konstitution, welche leider so ftühen Tod herbeisührte; wer ihn hingegen bloß draußen in den Bergen beobachtete, der würde dem rüstigen Weidmann noch ein langes
Leben prophezeit haben. —
Der König wußte guten Bescheid in seinem Lande und ganz besonders war er mit den Örtlichkeiten und Volkszuständen des Hochgcbirgs vertraut. Da „kannte er sich aus", wie die Bayern sagen.
Unterwegs wollte er aber
nicht bloß aus den Büchern und Akten, die wir mitführten, sich noch immer genauer über die Gegend unterrichten: er wollte auch aus dem Munde des Volkes lernen. Und manche Kenntnis, die er so gewann, führte rasch zur
fördernden Tat. „Ich muß studieren um zu regieren" war sein oft wieder holter Wahlspruch. — Wir waren zum Höllental an der Zugspitze hinaufgestiegen.
Dort spannte
sich ein Steg, aus alten mächtigen Stämmen gefügt, wie sie jetzt nicht mehr auf diesen Höhen wachsen, über die wohl 50 Fuß breite und mehrere 100 Fuß tiefe Felsenschlucht.
Allein
die
alten Balken waren vermorscht und
eine
Warnungstafel verbot das Beschreiten des baufälligen Steges bei Strafe. „Königliches Landgericht Werdenfels" stand mit großen Buchstaben unter dem Verbot.
Der König hatte das gelesen; trotzdem gelüstete es ihn in hohem
Grade über oder wenigstens auf den Steg zu gehen; denn der Blick von dort in die Tiefe mußte grauenhaft schön sein und überdies lagen unten die Trümmer einer Lawine, welche wir vom diesseitigen Rande des Abgrundes nicht erblicken konnten. Nun hatte einer der Führer das Wort fallen lassen, man könnte sich wohl bis zur Mitte des Steges wagen, wenn einer hinter dem anderen gehe und jeder sich genau auf dem linken Balken halte. Da waren denn alle unsere Gegenreden vergebens, daß der König sich nicht nutzlos so großer Ge
fahr aussetzen möge; er wollte durchaus die Lawine sehen und bestand um so mehr darauf, als er ärgerlich war über eine andere Lawine, die, nach Aus sage der Jäger, tags vorher weiter oben niedergegangen sein sollte und unseren
Plan vereitelt hatte den Gipfel der Zugspitze zu besteigen. Als aber alles Zureden und Bitten nichts half, deutete einer von uns auf die landgerichtliche Tafel und sprach: „In Ew. Majestät Namen ist dieses Verbot erlassen, die Strafe in Ihrem Namen angedroht; Sie dürfen Ihr eigenes Gesetz nicht mißachten! Betreten wir den Steg, so bricht höchstens der
Balken; betreten Sie ihn, so bricht Ihr eigener Rechtsboden unter Ew. Majestät Füßen, auch wenn der Balken hält."
491
103. Eine Fußreise mit König Max II.
Der König, schon mit einem Fuße auf dem Steg, stutzte, sah den Sprecher lächelnd an und sagte:
„Sie haben recht!" und kehrte augenblicklich um.
Wir lagerten uns ein paar Schritte seitab unter einer Buche, durch
deren
grünes Gezweig Graf Pappenheiin unsere zusammengesteckten Plaids
ganz malerisch zu einer Art schattenden Baldachins schlang, und stühstückten aus der Faust, was wir eben mitgebracht hatten, bei heiterem Plaudern.
Ich konnte aber in nachklingendem Eindruck der Szene am Steg den steundlichen
Herrn, der seine Erdbeeren verzehrte, nicht ansehen ohne zu denken: Das ist
ein wirklicher König! Und die mit Stecknadeln zusammengehefteten Plaids waren
so gut ein Thronhimmel wie irgend ein anderer von Sammet und Goldstoff. Nach den Lebensjahren war der König keineswegs der Jüngste unter
uns, aber in einem Stücke fühlte er jugendlicher als wir alle: er hatte sich eine Begeisterung für die reine Naturschönheit, für die landschaftliche Poesie bewahrt, wie sie nur dem Jünglingsalter eigen zu sein pflegt. Sonst ein durch aus moderner Mensch, erschien er in dem feinen Auskosten der Lyrik eines anmutigen Naturbildes fast wie ein Zeitgenosse Höltys oder besser Hölderlins. Denn er liebte es, gleich letzterem, den sinnlich reizenden Eindruck durch Ge
dankenbilder zu beseelen. Wie häufig sahen wir ihn mit dem Buche in der Hand unter einem Baume rasten, indes er wechselnd in der Landschaft schwelgte
und stimmnngsverwandte Verse las! Bei einem Abendspaziergang int Nymphenburger Park
führte er mich
einmal — es war lange vor unserer Gebirgsreise — zu einer mit dichtem Gehölz bedeckten Insel, welche in einem Kanal zwischen den verwachsenen
Ufern gar lauschig versteckt liegt, und erzählte mir, die stille Schönheit dieses Eilandes habe ihn als Knaben zu seinem ersten Gedicht verlockt. Damals sei
ihm nämlich der unwiderstehliche Wunsch erwacht die Insel souverän zu be sitzen und er habe sich dann Besitz und Herrschaft in Versen von seinem Vater erbeten.
Der König wie der Poet war zugleich in ihm geweckt
worden durch die schöne Natur.
Ob ihm der Vater die Bitte gewährte? Ich
entsinne mich dessen nicht mehr.
Aber was der Prinz als Knabe gewünscht, das schuf er sich in späteren Jahren doch, geraume Zeit bevor er den Thron bestieg: Hohenschwangau ward dem jungen Manne die Verwirklichung jenes kindlichen Wunsches, der freie, fürstliche Herrschersitz in der einsamen Hochgebirgsnatur. Wir rasteten auf unserer Reise einige Tage auf dieser reizenden Burg. Als ich mit dem Könige eine Rundfahrt durch die nächste Umgebung Hohen schwangaus machte, gestand er freilich, daß er dem einsamen Asyle neuerdings
etwas untreu geworden sei:
„Die Waldstille," so etwa sagte er, „zog mich
hieher, ich suchte die schweigende, von Menschen unberührte Natur. Denn in unserer Jugend lockt und befriedigt uns das traumhafte Naturleben voll und
ganz. In reiferen Jahren aber wollen wir Menschen sehen, wir suchen das Walten des gegenwärtigen Volkes oder die Denkmale der Geschichte, verklärt
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103. Eine Fußreise mit König Max ll.
und gehoben durch die Landschaft.
Und während uns früher die Menschen
bloß Staffage waren, die Landschaft Hauptbild, wird uns späterhin die Land
schaft Hintergrund und das menschliche Treiben fesselt uns als Hauptgruppe. Darum zieht es mich jetzt aus Hohenschwangau, der einsamen Ritterburg, fast
allzu häufig zu der modernen Villa bei Berchtesgaden, wo das bunteste Menschmtteiben so anmutig Tal und Matten belebt." Über solche Dinge pflegte der König sinnig nachzudenken und fein sich
anszusprechen. —
König Max liebte es den Cicerone zu machen, den Weg zu führen, versteckte Schönheiten, die er früher entdeckt, anderen zu zeigen und sich an ihrer Überraschung zu erfreuen. Jeder echte Wanderer hat ein Stück von dieser Leidenschaft des Cicerone, mag er nun Landschaften, Kunstwerken, Alter
tümern nachgehen oder dem gegenwärtigen Volksleben, und wir wandern darum jeden fesselnden Weg am liebsten zweimal: zuerst allein um selbständig zu suchen
und zu finden und dann mit Freunden um ihnen das Gefundene wie unser Eigentum zu zeigen.
Mehrmals sagte mir der König unterwegs, da ich in
meinen Büchern den Wald so
kräftig verteidigt habe, so wolle er mich nun
auch selbst durch seine Wälder führen und mir ihre heimliche Pracht entdecken. Bei einem Nachtlager ans dem Brunnenkopf hatten wir uns abends in
den nahen Wald zerstreut; der König war arbeitend in dem Jägerhäuschen zurückgeblieben, wo ihn Depeschen aus München festhielten, als plötzlich ein prächtiges Alpenglühen von den Tiroler Bergen in sein Fenster herüberleuchtete.
Sofort eilte er in den Wald und suchte uns, laut rufend, im Dickicht und ruhte nicht, bis er uns alle beisammen hatte, um uns „sein Alpenglühen", wie er's nannte, zu zeigen.
Er hätte einen Bedienten nach uns schicken können,
aber die Entdeckerfreude will sich selber mitteilen und mag keinen Bedienten.
Am liebsten speiste der König im Freien, an einem weittragenden Aussichts punkte ober am Gestade eines Sees, unter der Linde, in tiefer Waldeinsamkeit,
aber auch am Rande einer belebten Landstraße, gleichviel, wenn der Ort nur
ein malerisches Bild bot.
So haben wir am vorletzten Reisetage im lauschigsten
Waldesdtinkel hinter der Unfener Klamm Tafel gehalten und am letzten un mittelbar neben der Reichenhall-Berchtesgadener Chaussee bei der Schwarzbachwacht.
Bei unserer unberechenbaren Art zu reifen hing es aber von hundert
Zufällen ab, ob wir mittags oder abends zu dem ausgewählten schönen Punkte
gelangten. Daher ein steter Wechsel von Hunger und Entbehrung und von Überfluß, der bei so vielerlei Sttapazen eben doch nicht überflüssig war. Der
König allein empfand jene Entbehrungen nicht; er aß äußerst wenig, trank noch weniger und hatte von dem richtigen Wanderhunger eines gesunden Fuß gängers eigentlich gar keinen Begriff.
Geschah es doch einmal, daß wir von
morgens sieben bis abends sieben fuhren, ritten und stiegen ohne einen Bissen
oder Tropfen über die Lippen zu bringen. abends
hoch
oben
unter
Dafür tafelten wir dann auch
der obersten Felskuppe des Wendelsteins bei der
493
103. Eine Fußreise mit König Max II.
Bayrisch-Zeller Alm.
Und während wir in einer Reihe am langen Tische
saßen, um der Aussicht willen, breiteten sich vor uns die Tiroler Berge im
Seitab rechts und links
Abendsonnenschein zum wundervollsten Panorama.
lagerten die Leute von Zell, welche uns den ganzen Tag begleitet hatten, in
bunten Gruppen. Wir hatten zwei Tage, völlig eingeregnet, in dem Jagdschloß der Vorderriß verweilt, als endlich der 10. Juli den sehnlich erwarteten blauen Himmel brachte.
Ein sonnenheller, kühler Frühmorgen weckte uns, die Berge waren
mit frischgefallenem Schnee bedeckt, „angeschneibt", was als gutes Wetterzeichen gilt, und wir rüsteten uns zu einem Zuge über das Plumser Joch (in Tirol), um von dort zum Achensee niederzusteigen. Durch das großartige Alpental zur hinteren Riß wurde gefahren; dort bestiegen wir die Reitpferde, während unsere Wagen auf großen Umwegen über Bad Kreuth zum Achensee gingen, wo sie uns am nächstfolgenden Tage erwarten sollten. Wir ritten zwei
Stunden einen rauhen Fußpfad hinan bis zur Hagelhütte; hier mußten wir absitzen, die Pferde wurden zurückgeschickt und das Steigen begann. Der König führte bei solchen Gelegenheiten einen Spruch, den er Saussure beilegte, im
Munde: „Man muß auf die Berge steigen, als ob inan niemals hinaufkommen
wollte" — und richtete sich nach dieser Regel.
Er stieg äußerst langsam,
aber sicher und ausdauernd und kam zuletzt doch immer ans Ziel, obgleich es den Begleitern manchmal schien, als sei der Gipfel gar nicht zu erleben. So
erreichten wir denn auch den wohl gegen 6000 Fuß hohen Rücken des Joches ’) erst um zwei Uhr nachmittags. Da droben sah es prächtig aus: die Julisonne
leuchtete
blendend auf den
frisch gefallenen Schnee, aus welchem an den
steileren Seitenhängen ganze Fluren rotblühender Alpenrosen hervorschauten, hier und da auch ein vereinzelt blühendes Edelweiß.
Nun hätten wir oben
unseren Mittagstisch halten sollen angesichts des großartigen Umblickes, der sich links in die tiefe Schlucht des Achensees, rechts in die Wildnisse der Hoch
alpenkette öffnete. Allein mitten im Schnee, der obendrein bereits wieder zu schmelzen begann, ließ sich das denn doch nicht durchsetzen. Rottenhöfer (der K. Mundloch) war schon frühmorgens mit vielen Trägern und seiner ganzen Küchenausrüstung heraufgegangen.
Er hatte unfern des ungastlichen Joches
eine Sennhütte, die Plumser Alm, gefunden, welche wenigstens Obdach bot. Aber
an ein Aufschlagen der Tafel in der Hütte, wo nur eben das Bett der Sennerin neben dem Herde und dem Käskessel Platz hatte, war freilich nicht zu denken. Rasch entschlossen, ließ er darum den einzigen größeren bedeckten Raum, den
Kuhstall, ausräumen. Der Boden wurde zur Vertilgung ländlicher Gerüche dick mit frischem Heu belegt, die Wände mit Gewinden von Knieföhrenzweigen und Alpenrosen malerisch maskiert; vor der schlimmsten Partie aber waren
zwei blendend weiße Bettücher in groß stilisiertem Faltenwürfe aufgehangen l) Das Plumser Joch, 1653 m hoch, mit großartiger Aussicht.
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103. Ein« Fußreis« mit König Max II.
und reich mit Alpenrosen bekränzt. Die Türöffnung war so niedrig, daß man nur gebückt hereinkommen konnte, Fenster waren nicht vorhanden. Zum Ersatz fiel durch die zahlreichen Löcher des Daches eine Art Rembrandtisches Oberlicht in das geheimnisvolle Helldunkel.
In Ermangelung eines Tisches diente die
Stalltüre als Tafel, zwei Bänke von alten Brettern, auf Klötze gelegt, statt der Stühle.
Da jedoch diese Bänke etwas höher geraten waren als der Tisch,
so ragten unsere Kniee einen halben Fuß über die Tafel, die Füße schwebten in der Luft und wir mußten die Teller beim Essen in den Händen halten. Im Gegensatze zu alledem war nun aber die Stalltüre mit dem feinsten Tafel zeug gedeckt, wir speisten auf kostbaren Tellern, tranken aus silbernen Reise bechern und, wie jeden Tag, lag das kalligraphisch zierlich geschriebene „Menu" neben dem Gedecke des Königs.
Der Kontrast gegen die Umgebung war so
abenteuerlich, daß uns der König zur feierlichen Eröffnung der Tafel dieses nach allen Regelw französisch verfaßte Menu vorlas — von der Reissuppe
mit Huhn, zu den Forellen mit neuen Kartoffeln, dem Rindsbraten mit Sauce ä. la Montpensier, den Koteletten mit neuen Erbsen und Bohnen, dem Reh ziemer in Lorbeerblättern gebraten, bis zum „Schmarren d, la Plumser Alp", der Erdbeertorte, den Kirschen und Melonen und dem Konfekt, woran sich
zuletzt die Tasse Mokka reihte mit einer Havanna, welche Seine Majestät vom bayerischen Konsul in Havanna als das erlesenste Produkt der berühmten Insel zum Geschenk erhalten hatte. Es war alles echt mit einziger Ausnahme des Gerichtes, welches eigentlich das echteste hätte sein sollen, des „Schmarrens ä la
Plumser Alp", und der König, welcher auf seinen Jagdzügen auch die Original küche seines Volkes gar wohl kennen gelernt hatte, meinte, dieser zivilisierte Schmarren erinnere ihn an eine gewisse Sorte von Dorfgeschichten.
So fanden
wir auch das mitgebrachte Hofbräuhausbier nebst Rheinwein und Champagner echter als dos Trinkwasser, welches uns der Berg bot; denn das war in Er
mangelung einer Quelle aus einem Schneebache geschöpft und gewann keinen Beifall. Bei der schneidenden Kälte, die in dem Stalle herrschte, zogen wir unsere Mäntel und Überzieher an, bedeckten die Kniee mit den Plaids und zitterten
trotzdem vor Frost, bis Essen und Trinken uns die gehörige innere Wärme gab. Die wunderliche Situation entfesselte unseren Humor; niemals in meinem Leben habe ich einer fröhlicheren Tafel beigewohnt Geist, Witz und Laune
sprudelten in dem Tischgespräche und die heitere Stimmung erreichte
ihren
Gipfel, als wir uns beim Braten plötzlich von außen belagert sahen. Den Kühen war es nämlich draußen zu kalt geworden, sie kamen zu ihrem Stall zurück und suchten brüllend durch die offene Türe einzudringen, wurden aber von den servierenden Bedienten mit ihren Servietten tapfer bekämpft und
endlich zurückgeschlagen.
Schade, daß sich kein Maler zur Stelle fand; die
Hoftafel im Kuhstalle würde ihm Stoff zum originellsten und sttmmungsvollsten
Genrebild geboten haben.
103. Eine Fußreise mit König Max II.
495
Nach Tische besuchten wir alle Rottenhöfers improvisierte Küche, die er
sich in der Sennhütte auf einem Herde, der bis dahin nur einen großen Käs kessel geheizt, höchst sinnreich aufgebaut hatte. Es war ihm in der Tat gelungen alle jene Gerichte so vollendet zu bereiten, wie nur immerhin in der Münchener Schloßküche.
Weise,
Also ehrte der König auch hier den Künstler nach seiner gewohnten
nicht indem er ihn lobte, sondern indem er ihn in der Werkstatt
belauschte.--------Es war der letzte Reisetag. Wir hatten in Unken übernachtet; der König arbeitete einsam auf seinem Zimmer noch tief in den Vormittag hinein; unsere
ganze übrige Gesellschaft war schon frühe vorausgeritten über Reichenhall zur Schwarzbachwacht, wo sie uns erwarten sollte. Da mich an diesem Tag die Reihe traf im Wagen des Königs zu fahren, so war ich ganz allein bei ihm
zurückgeblieben.
Wir fuhren erst spät ab.
Der König war heiter, gesprächig
und doch sichtbar gemütlich tiefer bewegt; er empfand den Abschied von der kurzen, aber reichen Zeitspanne dieses originellen Wanderlebens. Als wir Reichenhall passiert hatten und das Viergespann etwas gemäßig
teren Ganges unseren Wagen den langen, steilen Berg hinaufzog, begann er vergleichend und fragend auf unsere gesamten Erlebnisse zurückzublicken. In seiner Jugend, als Kronprinz, hatte er, nur von zwei Herren begleitet, eine Reise durch Niederdeutschland und Holland nach England gemacht unter dem
Inkognito eines „Kaufmann Schmidt".
„Doch ist das eben" — so etwa
sagte er — „ein Stück der großen Tour durch große und kleine Städte gewesen, in fremdem Land; und so habe ich diesmal, wo ich als König im eigenen
Lande gewesen bin, die Freiheit des Wanderers voller genossen als auf jener Fahrt, wo man mir nicht einmal überall den „Herrn Schmidt" hat gelten
lassen wollen und
die Maske ahnte.
Ob der Fürst dem Volke inkognito
gegenübertritt, darauf kommt wenig an; wichtiger ist cs, daß das Volk sein
Inkognito angesichts des offenkundigen Fürsten ablege."
Wie er nicht mit
Unrecht glaubte, war dies oftmals auf der gegenwärtigen Reise geschehen.
Und
darüber freute er sich von Herzen. Es war damals des Königs Vorsatz, nachdem dieser erste Versuch so
schön gelungen, jedes kommende Jahr eine ähnliche Wanderfahrt durch einen anderen Teil seines Landes zu unternehmen. Er fühlte tief die verjüngende Kraft der innigeren Berührung mit Land und Volk. So ward fürs nächste Jahr jetzt schon das Fichtelgebirge in Aussicht genommen.
Aber im nächsten
Jahre schrieb man 1859! Der italienische Krieg brach aus, die Friedensepoche war vorüber, die beginnenden politischen Erschütterungen ergriffen das Gemüt
des Königs gewaltiger, als die meisten ahnen mochten.
Er wurde ein anderer
Mann in seinen letzten fünf Lebensjahren. Den feinen poetischen und humanen Sinn, welcher ihm den Plan zu unserer Reise eingegeben, beivahrle er bis ans Ende; aber seine Gesundheit nahm ab und die ganze Zeit bot nicht Muße und Stimmung dergleichen zum zweitenmal auszuführen.
104. Ein Erinnerungsblatt an König Maximilian II.
496
Ich komme zum Schluß.
den Gefährten wieder zusammen.
Auf der Schwarzbachwacht trafen wir mit Der König rastete nach seiner Gewohnheit
eine halbe Stunde, indem er unter einem Baume gelagert las, bis wir uns unter freiem Himmel zu Tische setzten. Der Rückblick auf die ganze jüngste Vergangenheit gab dem Tischgespräche den ernsten und heiteren Grundton.
Dann stiegen wir zu Pferde.
Der tiefblaue Himmel umzog sich; zwei schwere
Gewitter kämpften gegeneinander und verfingen sich in diesen engen Tälern, der Regen rauschte in Strömen auf uns herab, die Blitze zuckten, der Donner krachte unaufhörlich über unseren Häuptern, während wir durch die Ramsau
trabten.
Das Wasser troff von uns und unseren Pferden, daß wir förmlich
am Sattel klebten, als wir endlich die königliche Villa von Berchtesgaden in Sicht bekamen. Da zogen die Wetter ab und mit den fernhin rollenden Donner
schlägen mischte sich jetzt der freundlichere Donner der Böller, die uns begrüßten. Auf der Treppe der Villa empfing die Königin ihren Gemahl. Nur eine Viertelstunde, und wir waren alle verwandelt, der nasse, zuletzt ganz feldmäßig gewordene Reitanzug war mit dem jetzt nicht weiter verpönten, trockenen, hoffähigen Frack vertauscht, wir versammelten uns im Salon und
freuten uns, wieder einmal unter Damen zu sein, deren Umgang wir lange
entbehrt hatten und denen wir nun von unseren Abenteuern erzählen konnten. Dies war die erste und letzte Fußreise des Königs Max.
104. Lin (Erinnerungsblatt an König Maximilian II. Don Franz v. Kobell.') Es haben andere den edlen dahingcgangenen König Maximilian II. ge würdigt in seinen großen Schöpfungen, wie sie zu Bayerns Wohl und Ehre blühen und blühen werden; mir sei es erlaubt ein Erinnerungsblatt zu geben, welches, wenn auch nur mangelhaft, den erlauchten Herrn als Freund der Natur und Gönner des Weidwerks zeichnet und Verhältnisse berührt, die, an
sich unscheinbar, seine liebenswürdige Persönlichkeit bekunden, unbeeinttächtigt von dem Glanze einer Krone, dem Schimmer des Purpurs. Der König liebte Gottes freie Natur, man kann sagen mit einem kind lichen Gemüte, und ein ritterlicher, poetischer Zug in seinem Wesen machte ihn
empfänglich für die Reize des Weidwerks, die ja in dem Naturleben ihre Heimat haben. Die Berge unserer Alpen mit ihren großartigen Schönheiten waren daher sein liebster Aufenthalt.
Mit ganzer Seele gab er sich dem Genusse der mannig
faltigen Szenerien hin, die den Morgen, die untergehende Sonne begleiten oder die sternhelle Nacht, wenn sie über die phantastischen Formen der Kuppen und Felshörner und über die mit wogenden Nebeln verschleierten Talgründe sich lagert. Immer wurden die schönsten Plätze für die Birschhänser gewählt
) München, 1864.
104. Ein Erinnerungsblatt an König Maximilian II.
497
und sich ihrer auch anderwärts in der Erinnerung zu freuen wurde der Maler Rottmann beauftragt getreue Bilder derselben zu fertigen und in ein Album
zusammenzustellen.
Der König erkannte wohl, daß sich an das Treiben des Weidwerks auch
ein heiteres und wohltätiges Begegnen mit dem Volke knüpse, und er liebte ein solches mit den srischen Männern, die beim Jagen beschäftigt waren, und
besprach sich gerne mit den bei diesen Gelegenheiten sich einfindenden Zu schauern. Es wurde darum auch überall freudig begrüßt, daß der Herr dem Weidwerk zugetan war; sein Erscheinen weckte ja die Hoffnung auf Erfüllung so
mancher Wünsche und nie fehlte die Hilfe, wo Not und Unglück sich kundgab. Auch der geringste Mann wurde dabei berücksichtigt und ich wüßte viele Fälle
zu erzählen, wo der Herr unaufgefordert den überraschten Beteiligten den
trüben Himmel klärte, der sie umfing, nnd Leid in Freude verwandelte. Es waren aber diese Verhältnisse nicht denen zu vergleichen, wie sie wohl aus älteren Zeiten in der Jagdgeschichte bekannt sind, es waren die ge spendeten Wohltaten nicht Pflaster auf verschuldete Wunden, welche übertriebene
Weidlust geschlagen, denn niemals ist unter König Max II. zum Schaden des Landmannes Wild gehegt worden, niemals durften die Jäger ihre Befugnisse
überschreiten. Der König liebte seine Bayern wie ein Vater seine Kinder und den guten Kern von Redlichkeit und Treue, der gottlob noch bis auf diese Tage trotz der Umtriebe einer schlechten und frivolen Zeit in ihnen steckt, lebendig zu erhalten war fortwährend sein Bestreben. Er wollte die gesunde Denk weise und den heiteren Sinn, wie sie namentlich im Gebirge heimisch, nicht
verkommen lassen und wie die ernsten Verhältnisse Gegenstand seiner Sorge, so war er auch bedacht zu Fest und Freude eine Spende zu geben.
Es ge
hört hierher unter anderen die Stiftung der Königsschießen und die von ihm angeordnete Sammlung der oberbayerischen Volkslieder. Es ist damit ein von der Meisterhand v. Rambergs illustriertes Büchleins Entstanden, welches in
Senn- und Jagdhütten mit Jubel empfangen wurde.
Vor allen jdie „Singe
rinnen" freuten sich daran und brachten die Lieder zu neuem Leben; denn viele hatten beim Chorsingen in der Kirche die Noten kennen gelernt und wußten daher die Singweisen andern mitzuteilen. Gab es dann Gelegenheit, so sangen sie dem König bei einem Alpenbesuch, bei einer Kirchweih oder Jagdfahrt *) „Oberbayerische Lieder mit ihren Singweisen", herausgegeben von Franz von Kobell, im Auftrage und mit Unterstützung Sr. Majestät deS Königs ge sammelt, erschienen zu München bei Braun & Schneider in vielen Auflagen. Die 3. Strophe der Widmung „an die Landsleut in die Berg" lautet: „Und weiln der Kini d' Gsangln liabt „Und weil er'S gern tust hörn, „So will er ent dees Liederbuach „Als Andenka verehrn". Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bauerns.
104. Ein Erinnerungsblatt an König Maximilian II.
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vor und es gewährte ihm Freude, wenn sie ihn, teils für die Gabe dankend
teils darum bittend, umringten und dann in lautem Juchzen ihren Jubel kundgaben. Es ist bekannt, wie wohl unterrichtet der König war und wie er sich namentlich mit historischer und poetischer Literatur gerne beschäftigte; es war
daher bei seinen Jagden auch darauf Rücksicht genommen und in die Gesell schaft mancher Gelehrte und Dichter gezogen, die eben keine Jäger waren,
immer aber auch leidenschaftliche Freunde des Weidwerks, damit dem Jagen die eigentümliche Färbung und Auftegung nicht fehle, welche von solchen aus
geht.
Wo es möglich war, hielt man das Jagdmahl im Freien und dabei
wurden dann die Erlebnisse in ftöhlichster Weise besprochen.
Der König liebte
es bei solchen Gelegenheiten, wenn ein besonderer Fall in launiger Poesie hervorgehoben wurde. Besonders gefeiert war immer der Hubertustag, dabei durste ein poetischer Spruch nie fehlen. Freudig wurde dann getrunken und die Gläser klangen, der König selbst aber war so mäßig, daß er gewöhnlich
nur
ein, Glas Champagner trank, andere Weine gar nicht; er hielt es
„oqiötov töioy“ (das Beste ist Wasser) und allerdings spendeten die Bergquellen einen köstlichen Kristall, der in seiner Art oft die Gaben
mit dem
der Rebe übertraf. —
Die Abende wurden bei der Zigarre zum Teil mit Vorlesen zugebracht und immer war eine reichliche Auswahl älterer und neuerer Literatur vor handen. Gedichte und Novellen, Fragmente von Reisebeschreibungen oder historischen Werken kamen abwechselnd an die Reihe und ebenso die Ortssagen, welche der König gerne erzählen hörte; gab er doch auch Veranlassung, daß
sie in einem eigenen Werke *) gesammelt wurden. Ehe sich der König zurückzog, was gewöhnlich vor 10 Uhr geschah, wurde noch der kommende Tag be sprochen und die weitere Jagdfolge. So oblag man oft mehrere Tage nach
einander dem Weidwerk, wenn das Wetter günstig war, aber auch bei schlechten! Wetter wurde zuweilen gejagt und nicht selten, wenn schon Schnee gefallen war, wobei jedoch der König immer das Gutachten des Forstmeisters erholte, ob cs ohne Gefahr für die Treiber geschehen könne.
An Sonn- und Feiertagen
ruhte das Weidwerk; der König besuchte regelmäßig die Messe; war kein Geist licher im Orte, so wurde einer aus der Nachbarschaft Herbeibeschieden, so in der Riß, wo jedesmal ein Franziskaner vom sogenannten Klösterl in der
Hinterriß den Gottesdienst besorgte. Ich kann nicht umhin hier zu erzählen, daß bei einer solchen Messe in der winzigen Kapelle der Ministrant, ein Bauernbub aus der Gegend, sich plötzlich zum König wendete und ihm ganz gemütlich zuflüsterte: „Herr Kini, koa' Wei' is nit da!"
Der König über
diese Naivität lächelnd, winkte dem nahestehenden Adjutanten, der das Gesagte l) „Sagenbuch der bayerischen Lande", herausgegeben von A. Schöppner, 3 Bände, München 1852/53.
104. Ein Erinnerungsblart an König Maximilian II.
499
auch vernommen hatte, und so kam der Wein noch rechtzeitig zur Stelle. — Naive Äußerungen, Fragen und Bitten kamen natürlich oft genug vor und es machte dem Könige Vergnügen, darauf Bescheid zu geben, wie er auch immer Interesse bezeugte an den Eigentümlichkeiten des Bolksdialektes, oder
wenn ihm von den Leuten von altem Brauch und Herkommen erzählt wurde,-
was oft in sehr ansprechender Weise geschah.
Bei der geistigen Tätigkeit, die ihm eigen war, möchte man sich wundern, wie der König die Geduld gehabt habe, drei bis vier Stunden, denn so lange und oft länger dauerten die Gemstriebe, auf dem Stande auszuhalten; er hatte aber immer Bücher bei sich und pflegte zu lesen, bis die achthabenden Leibjäger ihn aufmerksam machten, daß das Wild im Anzug sei.
schöner Gegend
sich lesend
von ihm. Die königliche Kanzlei
zu
beschäftigen
war
In einsamer, überhaupt eine Neigung
folgte stets den Jagdfahrten
und
der König
arbeitete gewöhnlich schon am frühen Morgen. Wenn der Kaiser Maximilian im Jahre 1495 schrieb: „Wir haben den Tag zu Wurms auf dem Rein ge kürzt und den in daz gepirg zu den wilden Gemsen gelegt", so kam Ähnliches beim Könige nicht vor und die Jagd durfte die Arbeit der Regierungsgeschäfte nicht beeinträchtigen. Und lag auch manche .Wolke in den Papieren der Portefeuilles und manche unerfreuliche Kunde, die lebendig strahlende Sonne
in der freien Natur, die Bewegung in Wald und Wildnis und die frische Luft der Höhen wirkten stets wohltätig auf Geist und Körper und stählten dem Herrn die Kraft und das Vertrauen zu jenem höheren Regiment, welches alle Geschicke lenkt und regelt. So war dem König« der Berge Lust (Ein Wunderquell, der sein« Macht bewies, Daß sorgenfrei er zauberte die Brust Und dem Gemüte Blumen sprossen ließ.
Und wenn der Herr im Gemsgebiete dann Die weit« Fernsicht still genießend stand, Wie knüpfte sich da stets die Freud« dran: „Dies schöne Land, es ist mein Bayerland!"
Nun nimmer bringt ein Weidruf an sein Ohr, Die Alpenrose sieht er nicht mehr blüh'n, (Es trugen (Engel ihn zum Reich empor, An dem er ost begrüßt der Sterne Glüh'n. Wir Und Das Wie
aber trauern, daß es so gescheh'n, was di« Zeit auch trümmert und zerstiebt, Zeugnis wird lebendig fortbesteh'n, treu und innig ihn sein Volk geliebt.
500
105. König Maximilian U. von Bayern und die Wiffenschaft.
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wiffenschaft. Don 3gnp3 von Döllinger?)
Fürstliche Pflege der Wissenschaften hat zu verschiedenen Zeiten in der
Geschichte des menschlichen Geistes tiefgehende, bleibende, in ihren Wirkungen
jetzt noch fortlebende Resultate erzeugt.
Wenn wir absehen von den auf ein
engeres Gebiet beschränkten Bestrebungen der Könige von Pergamum, so sind es die Ptolemäer in Ägypten, welche durch weisen Schutz und verständige
Unterstützung ihr Alexandrien zum geistigen Mittelpunkte der Welt in den zwei letzten Jahrhunderten vor Christus und noch Jahrhunderte nachher machten.
Die Bibliothek, die sie gebildet, war die vollständigste der Alten Welt, ihr Museum die erste Akademie oder ein Vorspiel einer solchen.
Von Alexandrien
empfing Byzanz hellenische Wissenschast und Literatur und von Byzanz kam dieses kostbare Erbe an den lateinischen Westen, so daß der Einfluß, welchen die Ptolemäer auf unsere gesamte geistige Bildung, auf unsere Wissenschast
und
Literatur
mittelbar
geübt
haben,
wirklich
kaum
groß
genug
gedacht
werden kann.
Sehen wir ab von dem, was Karl der Große und Alfred geleistet, in deren Zeit eine Wissenschaft eigentlich nicht existierte, so müssen wir über viele
Jahrhunderte wegschreiten um Monarchen zu finden,
an
deren Namen sich
die Erinnerung großer, der Wissenschaft geleisteten Dienste knüpfte.
Einzelne Fürsten
des Mittelalters
und des
sechzehnten Jahrhunderts
förderten die Wissenschast nicht als solche, sondern dieses oder jenes spezielle Studium aus ganz persönlichen Gründen; sie förderten nicht sowohl die Chemie als die Alchimie, nicht sowohl die Astronomie als die Astrologie und damit ist
auch das Motiv solcher Förderung schon bezeichnet. Dem Kaiser Friedrich II. hat man nachgerühmt, daß er alle Fürsten des
Mittelalters in seiner rastlosen Tätigkeit für die Wissenschaft übertroffen habe; aber diese Tätigkeit beschränkte sich doch auf die Veranstaltung von Über
setzungen aus dem Griechischen und Arabischen. Unter den zu allen Zeiten sehr seltenen Fürsten, welche ihre Liebe und
ihre hilfreiche Teilnahme nicht bloß einem bevorzugten Fache, sondern einem erweiterten Kreise des Wissens geschenkt haben, war Cosimo de' Medici viel leicht der erste. Historiker, Dichter, Philologen, Rechtsgelehrte, Ärzte, Physiker
fanden Zutritt in seinem Palaste zu Florenz, welcher überhaupt der Sammel
platz der ausgezeichnetsten Männer seiner Zeit geworden war.
Er und sein
Enkel Lorenzo haben gezeigt, zu welchem Ruhm und Glanz eine einzelne Stadt als
geistige Metropole,
als Sitz
Fürsten erhoben werden könne.
der Kunst und Wissenschaft unter weisen Lorenzos Sohn, Leo X., dem jedes Mittel
der Förderung und Belohnung in reichster Fülle zu Gebote stand, vermochte ’) Rede, gehalten]: in der Festsitzung der K. Akademie der Wissenschaften zu München am 30. März 1864; München, im Berlage der K. Akademie.
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
501
noch weit Größeres zu leisten; unter ihm wurde das päpstliche Rom, was es nie vorher, nie mehr nachher gewesen, ein blühender Sitz klassischer Gelehr
samkeit und umfassender wissenschaftlicher Studien und so ist seine Regierung in
den Augen der Nachwelt in den Nimbus eines hellstrahlenden Glanzes gehüllt. Das Beispiel Italiens und der Medicis hatte damals auf Frankreich und
dessen König gewirkt.
Unter dem Schutze Franz' I. kam zwar nicht gerade
ein bedeutendes wissenschaftliches Werk zustande,
Humanisten
aber Künstler und gelehrte
erfreuten sich seiner Gunst und die Wirkung reichte weit über
seine Zeit und sein Land hinaus.
Nach ihm hat das Jahrhundert der kirchlichen Kämpfe kein Bild eines die Wissenschaften ernstlich pflegenden Fürsten aufzuweisen, doch wird es unter
den deutschen Kaisern späterer Zeit dem milden, schwachen Rudolf II. stets als Ehre angerechnet werden, daß die Gründer der neuen Astronomie, Tycho
Brahe und Kepler, an seinem Hofe Schutz und Gunst fanden, wiewohl dieser
Monarch, allzusehr wissenschaftlicher Dilettant, am Schmelzofen über seinen alchi
mistischen Hoffnungen und auf der Sternwarte beim Mitberechnen astronomischer
Tafeln der Kaiserpflichten und der Reichsgeschäfte vergaß. Bis in die zweite Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts müssen wir herab
steigen um eine Regierung zu finden, welche endlich den Gedanken faßte und
ausführte, die Wissenschaft im großen, in ihrem damaligen Umfange, durch
sl)stematischc Pflege auf eine höhere Stufe zu erheben. geschah
dies
in
Frankreich
Zum ersten Male
unter Ludwig XIV. nicht sowohl durch diesen
persönlich allzu ungebildet gebliebenen König, der nur eben dem Kranze seines Ruhmes
auch dieses Blatt
Minister Colbert.
einflechten wollte, als durch den einsichtsvollen
Damals wurden jene Akademien gestiftet, jene Einrichtungen
geschaffen, die, wenn auch mit veränderten Namen und Formen, heute noch
fortbestehen, die reiche Früchte getragen und Frankreich zu einer gebietenden
Weltmacht auch im Reiche der Geister gemacht haben. Europa
Zum ersten Male in
kamen jetzt wissenschaftliche Unternehmungen von größerem Umfange
mit Beihilfe des Staates zustande.
Fremde Gelehrte, wie Cassini, Huyghens,
Römer, wurden nach Paris gezogen, andere empfingen Jahresgehalte und Be
lohnungen,
ohne daß man sie ihrem bisherigen Kreise entrückt oder besondere
Anforderungen an sie gestellt hätte. Seitdem, in anderthalb Jahrhunderten, ist kein Monarch mehr zu nennen,
der sich die Pflege der Wissenschaften zur persönlichen Lebensaufgabe gemacht hätte.
Friedrich II. von Preußen, von dessen hoher Geistesbildung derartiges
zu erwarten gewesen wäre, war zu sehr dem damaligen französischen Literaten tum ergeben und in Voltaireschen Anschauungen befangen, als daß deutsche
Bildung und Wissenschaft, die
er im Grunde verachtete, auf seinen Schutz
Hütten hoffen dürfen. In neuester Zeit haben einzelne Regierungen, die französische, die englische,
zeitweilig auch die österreichische und preußische, für die Herausgabe bedeutender
502
106. König Maximilian IL von Bayern und die Wissenschaft.
Werke große Summen aus Staatsmitteln gespendet, aber unter den Fürsten ist Maximilian II. der einzige gewesen, der mit persönlicher Liebe und per
sönlichen Opfern seinem Volke, ja der Mitwelt und in noch höherem Maße der Nachwelt eine reiche, geistige Ernte bereitet hat. Es war besonders Schelling,
der durch seine Ratschläge in dkr Seele des jungen Prinzen bereits den Ent schluß geweckt und befestigt hatte, die Pflege der Wissenschaft nicht bloß für
Bayern, sondern für ganz Deutschland in die Hand zu nehmen.
Der König
hatte sich als leitenden Grundsatz auf Schellings Empfehlung das zum Augen merke gemacht: „Darauf soll bei der Wissenschaft, bei aller sonstigen Freiheit gesehen werden, daß die Achtung vor göttlicher und staatlicher Ordnung stets ge
wahrt bleibe, daß der Mensch das Menschliche dem Göttlichen unterzu
ordnen habe." Als er den Thron bestiegen, da hatte er nicht gleich anderen Fürsten, die mitunter als Gönner der Gelehrten gepriesen werden, eine besondere wissen schaftliche oder künstlerische Liebhaberei zu befriedigen. Niemand weiß von einer
exklusiven Neigung für dieses oder jenes, welcher der König mit Hintansetzung
anderer Gebieie und Richtungen gefrönt hätte. Er betrachtete das Reich der Wissenschaft nicht mit dem Auge eines Gelehrten oder eines Dilettanten, sondern mit dem Auge eines Königs, der das Ganze überschaut und alle Teile dieses Ganzen mit unparteiischer Liebe umfaßt, der auch hier keine Günstlinge und keine Stiefkinder hat, gleich der'Sonne, die ihre Strahlen aussendet, nicht etwa nm einen abgelegenen Winkel zu erleuchten, sondern um der ganzen Erde und allen Geschöpfen Licht und Wärme zu spenden. Wohl wußte der König, daß Theologie und Rechtswissenschaft wichtige Aufgaben zu vollbringen hätten, aber er nahm an, daß die juristische Leistung
keiner besonderen fürstlichen Unterstützung bedürfe,- da der Staat selbst und die ganze Nation bei dem Zustandekomnien der Gesetzbücher unmittelbar be teiligt seien und die Staatsmittel vollkommen dafür ausreichten. aber,
Die Theologie
das fühlte er, könne nur in völliger Unabhängigkeit, nur den rein
religiösen Impulsen folgend, nur von religiösen Motiven geleitet, an dem schwierigen Problem der Lösung konfessionellen Zwiespalts mit einiger Hoffnung des Erfolges arbeiten.
Maximilians Geist war durchdrungen von Hochschätzung der deutschen Philosophie. Schellings Vorträge, die er, während sie ihm gehalten wurden, aufzeichnen ließ und sorgfältig studierte, hatten bleibenden Eindruck auf ihn hervorgebracht.
Gleichwohl galt ihm auch die Philosophie nicht als eines der
Gebiete, auf welche seine Fürsorge sich zu erstrecken habe. Er wußte, daß hier mit äußerer Nachhilfe nichts zu erreichen sei; nur das eine glaubte der König für dieses Gebiet tun zu können, das Erscheinen von Gesamtausgaben der
Werke deutscher Denker mit ansehnlichen Summen zu unterstützen, und das hat er getan.
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschast.
503
So blieben denn die historischen und politischen, die mathematischen und
physischen Wissenschaften als das eigentliche Feld königlicher Hilfe und Libe ralität.
Dabei aber erschienen ihm doch immer alle einzelnen Disziplinen als
ebensoviele Zweige des einen mächtigen Baumes der menschlichen Erkenntnis, an welchem jeder Ast und jedes Blatt berechtigt sei, der in seinen Wurzeln
Nahrung ziehe aus der Vergangenheit, in seinen Früchten Nahrung biete den
künftigen Geschlechtern gegenwärtige Menschheit.
und seinen
erquickenden Schatten ausbreite über die
Dieser Baum des Wissens war es, den er pflegen
lvollte zum Gewinne und zur Ehre Bayerns, Deutschlands, der Menschheit. Denn sein erster Gedanke galt immer Bayern.
Was frommt meinem Volke?
lautete die erste Frage, die er an sich stellte.
Die zweite war: Was ist
geeignet das deutsche Wissensgebiet zu erweitern,
die deutsche Literatur zu
so
bereichern und zugleich,, als von Bayern ausgegangen, Bayern in den Augen des übrigen Deutschland zu heben und ihm Ehre zu bringen?
Wir betonen hier Bayern und Deutschland, aber wir wissen wohl, daß die Wirkung der königlichen Gedanken nicht auf dieses Volksgebiet beschränkt
bleiben konnte.
Der Monarch eines ansehnlichen Reiches nimmt eine Stellung
ein, welche ihm die richtige Auffassung und Beurteilung der Dinge, die Schätzung ihres Wertes einerseits erschwert, anderseits
leichtert.
aber auch in hohem Grade er
Es ist wahr: auf der einsamen Höhe seines Thrones befindet er sich
wie auf einem hohen, tiefer abwärts von dichten Wolken umlagerten Berge;
sein Blick vermag nicht durch diese dunkeln Schichten hindurch zu dringen; was unten im Tale vorgeht, das Treiben der Menschen im einzelnen, ihre Leiden
und Freuden, ihre Gebrechen und ihre Bedürfnisse, das alles entzieht sich seiner Wahrnehmung und es sind großenteils nicht deutliche Stimmen, es ist häufig nur ein wirres Getöse, das von da unten
her an sein Ohr schlägt.
Dagegen aber, wieviel freier, klarer, weiter dringend ist sein Blick auf der Höhe, wohin ihn seine Würde gestellt hat, wenn er nur überhaupt ein ge
sundes Auge besitzt und es zu gebrauchen versteht!
Er atmet und schaut in
reineren, ätherischen, nicht durch die Nebel und Dünste des Alltagslebens und
seiner Bedürfnisse getrübten Lüsten, er erkennt besser die Verknüpfung der Dinge, die Bedeutung des einzelnen für das staatliche Ganze; die gemeinen, niedern Triebfedern der menschlichen Handlungen haben keine Macht über ihn.
Wir Gelehrten, die wir jeder von uns ein bestimmtes Wissensgebiet bebauen
und pflegen, sind vor allem der Versuchung der Einseitigkeit ausgesetzt; nur schwer und selten erheben wir uns zu jener unbefangenen und großartigen Auffassung, die das eigene Fach nicht überschätzt und dem fremden Fache volle
Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Wer ist nicht schon im Leben Gelehrten begegnet,
welche jeden Kieselstein in dem Garten ihrer Wissenschaft für einen Diamant
ansehen, dagegen in den Diamanten anderer nur Kieselsteine erkennen wollen?
Erhaben über solche Täuschungen und Einseitigkeiten urteilt, handelt ein König, welcher der Wissenschaft, nicht etwa bloß diesem oder jenem Fache, seine
504
105. König Maximilian ll von Bayern und di« Wissenschaft.
Gunst,
seinen Schutz angedeihen läßt.
Er besitzt nicht die durchdringende
Kenntnis des einzelnen, aber er hat hingegen, und das ist in seiner hohen
Stellung wichtiger, den Maßstab für ihren Wert als Ganzes.
Unser Monarch besaß diesen Maßstab, aber er besaß noch überdies als eine ihn auszeichnende Gabe den festen Glauben an die unvergängliche Würde der Wissenschaft, an ihre unfehlbar zum endlichen Siege sich durchkämpfende Wahrheit, an ihre zuletzt immer wohltätigen Wirkungen. Diesen Glauben
ließ er sich auch durch widrige Erfahrungen, durch das egoistisch-unlautere Treiben einzelner nicht erschüttern. Für ihn gab es im Reiche des Geistes keine öden Steppen, die den Anbau nicht vertrügen oder nicht lohnten. Überall zeigte sich seinem
durch umfassende Bildung und durch steten Umgang mit
hochbegabten Männern geschärften Blicke treffliches Ackerland, welches nur der rechten Hände harre um zum Heile der Menschen seine Früchte hervorzubringen. Wenn Goethe im Tasso seinem Herzoge Alfons die Worte in den Mund legt:
„Ein Feldherr ohne Heer scheint mir ein Fürst, Der die Talente nicht um sich versammelt" —
so ist damit nur das selbstsüchtige Bewußtsein ausgesprochen, daß ein Fürsten thron, gehoben durch die Folie eines Kranzes von Gelehrten und Dichtern, sich stattlicher, ansehnlicher ausnehme. Diese sollen dann nur als Trabanten den fürstlichen Planeten umkreisen, sollen nur leuchten um den Glanz seines
Gestirnes zu erhöhen.
Unser König dachte größer, sein Patronat war uneigen
nütziger, edler. Die Wissenschaft und ihre Priester standen ihm zu hoch. Sie, die in seinen Augen die hehre Lehrmeisterin der Kulturvölker war, konnte er
nicht als ein bloß zum Schmucke seines Hofes bestimmtes Prunkstück ausnutzen wollen; ihren Dienern hatte er Besseres, Würdigeres zugedacht als die Rolle einer zur Erhöhung des königlichen Pompes dienenden Gefolgschaft. Darum konnte auch der entfernte, persönlich ihm unbekannte Gelehrte, wenn es um
eine bedeutsame Bereicherung der wissenschaftlichen Literatur sich handelte, auf seine Teilnahme, seine Unterstützung rechnen. Wir dürfen es also sagen: nicht sich, nicht seiner persönlichen Verherr
lichung, sondern seinem Volke wollte der König dienen;
ganz Bayern zu nächst sollte die Früchte seiner Liberalität ernten und genießen. J)
v) Man vergleiche die Worte, die König Maximilian in seinem „letz 1 en Willen" (schon am 16. Dezember 1851) niederschrieb: „Möge der Allmächtige mein teures, braves, herrliches Bayernvolk auch ferner und in alle Zukunst in seinen heiligen Schutz nehmen, seinen reichsten Segen ihm verleihen! Ich habe es von Jugend auf treu im Herzen ge tragen, eS war der Gegenstand meiner Arbeiten, meiner Sorge, meiner Leiden und Freuden. Sein Glück war das meine. Mein ernstes, eifriges Streben ist es und wird es immer sein, meines Landes materielle und geistige Wohlfahrt nach allen Kräften zu fördern und ihm denjenigen Rang unter den Nationen einzuräumen, auf welchen es durch seine Stellung und seine alte, ruhmreiche Geschichte Anspruch hat. Meine Liebe zu ihm wird mein Leben überdauern. Für mein Volk werde ich wirken und beten, solange ich wirken und beten kann." I. M. Söltl, „König Max II. von Bayern", S. 196. Augsburg 1867, Schlosser.
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
505
Vergessen wir nicht, daß der König in einer Sache, die ihm so sichtbar
persönliche Herzensangelegenheit war, mit Sicherheit aus den tief dynastischen
Sinn seines Volkes rechnen durfte.
Er wußte, daß das vom Throne herab
gegebene Beispiel im Guten wie im Bösen mit unwiderstehlicher Anziehungs
kraft auf dieses Volk wirke, und er vertraute, daß, wenn er ihm die Fahne
des wissenschaftlichen Strebens hochhalte, die begabteren Geister des jüngeren Geschlechtes sich fteudig um dieselbe scharen würden.
Fassen wir
um
unserem
unvergeßlichen Monarchen
völlig gerecht zu
werden, um klar zu erkennen, daß er nicht etwa erträumten Gütern und
phantastischen Schattenbildern nachjagte, die Sache noch etwas tiefer und ver
setzen wir uns auf seinen Standpunkt, in seinen Gedankenkreis.
Pflege der
Wissenschaft hieß bei ihm nicht etwa bloß Sorge für das Zustandekommen
gelehrter Bücher, noch weniger bedeutete das bei ihm soviel
einer Anzahl
als gute Bezahlung einiger Gelehrten um von diesen dann als großmütiger
und erleuchteter Mäzen gepriesen zu werben.
Dem Könige war es, als er
diesen Beruf sich gab, auch nicht etwa bloß um den Gewinn an Ehre und staatswirtschaftlichem Nutzen zu
tun,
der
für Bayern dabei herauskommen
werde, sondern darum vor allem war es ihm zu tun, daß in feinem Volke
der wissenschaftliche Geist geweckt und verbreitet würde, jener fein aus
gebildete, zugleich auf Reinheit des Willens und auf Schärfe der Intelligenz beruhende Wahrheitssinn. Der König hat, indem er für die Erweckung und Erhaltung des wissen
schaftlichen Sinnes in seinem Lande Sorge getragen, nicht etwa bloß dem
Königreiche Bayern
eine Anzahl
von Männern
geben wollen, welche eine
größere oder geringere Quantität von Kenntnissen besäßen und sie anderen
mitteilten, sondern er hat eine Schule, einen Herd des wissenschaftlichen Geistes, das heißt, des geübten und feinen Wahrheitssinnes in Bayern errichten wollen, überzeugt wie er war, daß dieser Geist, wenn er nur einmal vorhanden und
lebendig, nicht in den engen Schranken eines Fachstudiums eingeschlossen und
festgebannt bleiben werde, daß er vielmehr als ein ungreifbares, überall gegen wärtiges Fluidum in alle Poren und Öffnungen des gesellschaftlichen Körpers eindringen und allenthalben läuternd, erleuchtend, segensreich wirken werde. Der König hat überhaupt die geistigen Kräfte im Volke wecken, durch
Darbietung eines würdigen Stoffes und erhabener Ziele sie in Tätigkeit setzen wollen; er hat geglaubt und mit Recht geglaubt,
daß die heilsame Nach
wirkung hiervon sich mit der Zeit in allen Gebieten menschlicher Wirksamkeit, auch in den scheinbar weit abgelegenen, fühlbar machen werde.
wird gestehen:
es
ist
das vielleicht
Wohltat, welche ein Monarch seinem Volke leisten kann.
Geisteskraft
Würde,
und
Geistestätigkeit
ist
zuletzt
gleichbedeutend
mit harmonischem Gleichgewicht, mit
nationalen Lebens.
Und man
der größte Dienst, die dankenswerteste
Frische
und
Denn eine solche Macht
und
Gesundheit
des
mit
506
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
Indem Maximilian zu
größeren, ein Zusammenwirken von mehreren
Kräften erfordernden Arbeiten den Anstoß und die Mittel gab, hatte er noch
einen besonderen Vorteil im Auge, den er seinem Volke damit zuwenden wollte. Wer nämlich als Autodidakt sich seine Bahn mit Mühe und auf mancherlei
Umwegen und Irrwegen hat brechen müssen, der kann später nicht ohne ein schmerzliches Gefühl daran zurückdenken, welcher Verlust an Zeit, welche Ver
geudung an Kraft sich aus dem Mangel eines verlässigen Führers für ihn ergeben habe. Der junge aufstrebende Gelehrte bedarf vor allem zweier Dinge: Schule und Ermunterung, und es ist für ihn eine besondere Gunst des Himmels, wenn er zur Mitarbeit an einem wissenschaftlichen Unternehmen unter der Leitung älterer, erfahrener Fachmänner beigezogen, wenn ihm so die doppelte
Sicherheit des richtigen Verfahrens und des nicht vergeblichen Arbeitens von vorneherein geboten wird-
Darum gab der König besonders solchen Unternehmungen seinen Beifall,
durch welche nicht nur neue Werke geschaffen sondern auch Männer gebildet würden, welche das Begonnene einst fortsetzen und eigene neue Werke unter nehmen könnten. Bayern wird es ihm noch lange Dank wissen, daß er den
wissenschaftlich strebenden Söhnen des Landes durch solch große, literarische Unternehmungen sowie durch die Errichtung der Seminarien an den Univer sitäten Schulen gelehrter und schriftstellerischer Tätigkeit eröffnet und damit ein wirksames Heilmittel dargeboten hat gegen einen nur allzuhäufig an unseren
jüngeren Männern wahrgenommenen Zug, den Zug nämlich: über sich selbst zu brüten ohne etwas auSzubrüten.
Die Stiftung des Maximilians-Ordens für Wissenschaft und Kunst, dieser
Gesellschaft der fünfzig ausgezeichnetsten Gelehrten und Künstler von ganz Deutschland mit dem Rechte sich selbst durch Neuwahlen des Ordenskapitels zu ergänzen, war eine Ankündigung, gleichsam ein Programm dessen, was der König fernerhin zu tun, zu erstreben gedachte. An diese königliche Schöpfung
schloß sich einige Jahre später die Stiftung der Maximilians-Medaille an. Sie sollte, mit einem beträchtlichen Geldpreise, jedes Jahr den Verfassern der vier besten Werke auf den -Gebieten der Staatswissenschaften, der Geschichte,
der Philologie, der Naturwissenschaften zuerkannt werden. Auch als Preis für die Lösung einer vom Könige zu stellenden wissenschaftlichen Aufgabe sollte die Medaille zugleich mit der ausgesetzten Summe gegeben werden. War es hier das Kapitel des Maximilians-Ordens, welchem der König
das Richteramt übertrug, so empfing auch die Akademie bei mehr als einer Gelegenheit sprechende Beweise seiner Huld und teilnehmenden Aufmerksamkeit. Es sind wohl nur wenige unter uns, die er nicht zu wissenschaftlichen Unternehmungen ermuntert und dabei unterstützt hätte. Dann gab er der Akademie in der freien Wahl aller ihrer Mitglieder ihre volle Autonomie
zurück; er erweiterte ihren Wirkungskreis durch die Stiftung und Ausstattung
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
507
zweier ihr einverleibten Kommissionen, der historischen und der naturwissen schaftlich-technischen. Durch letztere sollte das weite Gebiet der Technik all mählich wissenschaftlich durchdrungen, die bisher von keinem wissenschaftlichen Sinne getragene Praxis gereinigt, vergeistigt und mit unvergänglicher Lebens
kraft ausgestattet werden. Der König war aufmerksam geworden auf die eigentümliche Anlage des südbayerischen Stammes zu technischen Leistungen, wie sie schon in der Vor
züglichkeit der in manchen Gebirgsgegenden verfertigten Schnitzwerke und Drechslerarbeiten sich kundgibt. Er hatte beachtet, wie die wissenschaftliche, dem technischen Talente beigesellte Begabung in der Verbindung dreier Männer: Fraunhofer, Reichenbach und Utzschneider, jene bis dahin nicht erreichten In
strumente zustande gebracht habe, durch welche im Beginne dieses Jahrhunderts eine neue Epoche der beobachtenden Astronomie angebahnt wurde.
Damals
hatten die Sternwarten aller Länder wetteifernd mit Instrumenten aus dem
Münchener optischen Institute sich versehen und so war Münchens Ruhm und vieler Bürger Wohlstand erhöht lvorden. Da ließ der König mittels einer jährlich ausgesetzten Summe feine physikalische Instrumente von Mechanikern der Hauptstadt ausführen, die dann an die Lehranstalten des Landes verteilt
wurden.
Die Folge war, daß, während früher alle feineren Instrumente aus
dem Auslande bezogen werden mußten, die Werkstätte eines bis dahin mit Armut ringenden Münchener Mechanikers sich rasch emporarbeitete und nun nicht nur das Inland mit Instrumenten versieht, sondern sie bereits nach England, Rußland, Amerika versendet.
Bei Betrachtung der königlichen Tätigkeit auf dem weiten Gebiete ge schichtlicher Forschung und Darstellung darf wohl daran erinnert werden, daß
Maximilian II. bei aller wissenschaftlichen Unparteilichkeit doch sich persönlich am stärksten zu der Geschichte hingezogen fühlte, daß er die bedeutenderen Er scheinungen auf diesem Felde mit erhöhtem, mitunter mit gespanntem Interesse verfolgte, daß die Hervorrufung gewisser historischer Werke sogar zu seinen
liebsten, schon frühe gehegten und beharrlich festgehaltenen Wünschen gehörte. Die Geschichte war seiner Geistesrichtung am meisten verwandt. Die erste größere Tat des Königs auf diesem Gebiete galt Bayern speziell. Er schuf im Jahre 1855 eine Kommission für die Veröffentlichung der in den Archiven und Bibliotheken des Königreichs vorhandenen, noch ungedruckten
Quellenschriften. Diese Kommission, die reichlich mit Geldmitteln versehen nur wenige Jahre bestand, bis sie in die für die deutsche Geschichte gebildete
Kommission überging, hat in der kurzen Zeit ihres Wirkens und obgleich zwei der bedeutendsten Mitglieder ihr bald durch den Tod entrissen wurden, doch in acht Bänden eine Fülle wertvoller Geschichtsquellen eröffnet. Daß dem Könige die bessere Erforschung und Bearbeitung der deutschen Geschichte vor allem am Herzen lag, ist nach dem Gesagten selbstverständlich.
Gerade der Aufschwung, den die deutsche Geschichte seit der Herausgabe der
105. König Maximilian II. von Bayern und di« Wissenschaft.
508
Monument» Gennaniae, also seit etwa 30 Jahren, genommen hat, machte die zahlreichen Lücken, an denen sie noch litt, erst recht fühlbar.
Es war, wie
wenn ein dunkler Saal plötzlich durch ein Licht erleuchtet wird und man nun erst wahrnimmt, wie nackt die Wände, wie spärlich noch das Geräte in diesem
Raume sei.
Man erkannte, daß wir Deutsche noch weit davon entfernt seien
unserer großen Vergangenheit auch nur die notdürftigste Gerechtigkeit erwiesen
zu haben, daß noch eine große Menge von vorbereitenden Arbeiten, von mono graphischen Leistungen not tue, bis nur einmal daran gedacht werden könne, eine der Nation würdige deutsche Geschichte zu schreiben. mit vollem Rechte an,
daß die geistigen Kräfte,
glücklichem« Erfolge verwendet werden könnten,
handen
seien,
daß
sie
die in diesem Gebiete mit
in Deutschland reichlich vor
aber der Ermutigung,
Fällen auch einer Remuneration bedürften,
Der König nahm
der Leitung
und
wie sie der Verleger
in
vielen
nicht ge
währen kann. Er rief daher die historische Kommission ins Leben, welche unter
ihrem Vorstande Leopold Ranke die angesehensten Historiker Deutschlands um faßt und in ihren jedes Jahr wiederkehrenden Sitzungen über eine Dotation
von jährlich 15000 Gulden zu verfügen hat.
Es ist bemerkenswert, wie der
König hier und auch sonst ganz anders verfuhr, als Monarchen zu verfahren
gewohnt sind.
Diese Pflegen ihre Gaben ganz dem eigenen Ermessen vorzu
behalten, damit sie rein als persönliche Gunst und Gnadenbezeugung erscheinen möchten und ihnen allein der Dank dafür zuteil werde.
Maximilian hingegen
gab die Verwendung der ansehnlichen Summen, die er bewilligt hatte, ganz
aus der Hand; er setzte einen wissenschaftlichen Gerichtshof ein, der rein im
Interesse der Sache darüber entscheiden sollte, und selbst die Bezeichnung bei ferner hinzutretenden Mitglieder dieses Tribunals überließ er den Männern,
die nun einmal sein volles Vertrauen besaßen.
Und doch, wenn er dann in
seiner huldreichen, freundlich ausdrucksvollen Weise dem Empfänger seine Be friedigung über das Geleistete oder seine Hoffnungen bezüglich eines gewünschten
und erwarteten Werkes aussprach, wenn er eine ihm vorgelegte Schrift so auf nahm, als sei damit ihm persönlich ein dankenswerter Dienst erwiesen worden,
dann hatte wohl jeder die Empfindung,
daß
es nicht bloß der Wahrspruch
eines wissenschaftlichen Gerichtshofes, daß es mehr noch die Güte, das Wohl gefallen des trefflichen Monarchen sei, worin sein schönster Lohn liege, und
daß für solche Gunst und Billigung kein Preis zu hoch, keine Anstrengung
zu groß sei.
Damit noch besser erkannt werde, wie ersprießlich das Eingreisen des Königs in den Gang unserer geschichtlichen Tätigkeit gewesen, so sei die Be merkung mir hier gestattet, daß große wissenschaftliche Werke historischen In
haltes in der Regel
ohne fürstliche oder staatliche Unterstützung
heutzutage
nicht mehr zustande gebracht werden können. Früher war dies teilweise anders. Die zahlreichen Klosterbibliotheken im südlichen Europa machten das Erscheinen
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
509
großer und kostspieliger, dem geschichtlichen Gebiete angehöriger Werke möglich. Diese Bibliotheken sind aber verschwunden und überhaupt werden große Privat,-
bibliotheken, die als Fideikommisse jahrhundertelang bei der Familie blieben,
heutzutage nicht leicht mehr gebildet oder auch nur fortgesetzt. Jedermann be dient sich jetzt der öffentlichen Bibliotheken; die Gelehrten sind eben nicht zu gleich die Reichen und die Reichen sind nur sehr selten die Gelehrten. Dank der königlichen Aufträge und Mittel sind eine Reihe der bedeu tendsten Werke, Denkmäler deutscher Forschung und Gelehrsamkeit, ins Leben gerufen worden: es entstand die Sammlung der deutschgeschriebenen Chroniken der deutschen Städte (im 15. und 16. Jahrhundert); die deutschen Reichstags akten seit dem Erscheinen der goldenen Bulle, eine großartige Publikation,
versprechen Helles Licht nicht nur auf die deutsche sondern auch auf die euro päische Geschichte zu werfen; die Jahrbücher der deutschen Geschichte, die For
schungen zur deutschen Geschichte, die Sammlung mittelalterlicher Formel- und Prozeßbücher, die Geschichte der deutschen Wissenschaft (aus 23 Einzelwcrken bestehend, für die allein der König die Summe von 50000 Gulden aus seiner Privatkasse bewilligte) werden Fundamentalwerke wissenschaftlicher Forschung
werden; durch Preisausschreibungen für Biographien berühmter Deutscher und verdienter Bayern sind bereits tüchtige Werke erzielt und viele andere be deutungsvolle Bereicherungen unserer historischen Literatur (z. B. die historischen
Lieder der Deutschen vom 15. bis 17. Jahrhundert,
die Korrespondenz der
Fürsten des Wittelsbachischen Hauses von 1550—1650) sind durch die Muni-
fizenz des Königs ermöglicht worden; der König war es auch, der zuerst den Gedanken eines Werkes wie die Bavaria faßte und nicht bloß den
Plan schon
im allgemeinen sondern auch im Detail entwarf, und der jetzt sehr günstige Erfolg des nur erst zur Hälfte vollendeten Werkes
beweist, welch treffendes Urteil, welch richtigen Blick er in Dingen des eigenen Landes besaß. Wenn der Berdienste Maximilians II. um die Wissenschaft gedacht wird, darf über das bayerische Nationalmuseum nicht geschwiegen werden. Denn der Gewinn aus dieser einzigen Sammlung kommt doch auch der Ge schichte zugute, und wer immer Bayerns, ja Deutschlands frühere Sitte, Kultur und Kunsttätigkeit in dem Jahrtausend von der Karolingischen bis zur Napo
leonischen Zeit gründlich,
das heißt, anschaulich kennen und studieren will,
der muß fortan nach München zu diesem Museum wandern und an dieser überraschenden Fülle künstlerischer Erzeugnisse Geist und Herz erfrischen. Wie Vieles und Kostbares ist hier vom sicheren Untergange gerettet, wie Vieles,
das in seiner Verborgenheit bisher unbeachtet, in seiner Vereinzelung tot und bedeutungslos geblieben, hat hier erst durch seine Einfügung in ein großes symmetrisches Ganzes, durch seine örtliche Verbindung mit Verwandtem Leben
und Gedankengehalt empfangen!
Wir dürfen Paris um sein Hötel de Cluny
nicht mehr beneiden, denn unser Museum ist jetzt schon gehaltvoller und groß-
510
105. König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
artiger und wird es in Zukunft, da es für fortwährendes Wachstum angelegt
ist, noch mehr werben.1)
Es ist mir gestattet worden Einsicht zu nehmen von dem authentischen Verzeichnisse aller Summen, welche der König für wissenschaftliche Leistungen
bewilligt hat. Da muß ich denn bekennen: durch das früher darüber Ver nommene war meine Erwartung hoch gespannt; sie ist aber durch den Blick
in dieses Verzeichnis noch weit übertroffen worden
und ich darf wohl sagen:
mir ist im ganzen Umfange der Geschichte kein Fürst bekannt, der aus seiner Privatkasse mit solch einsichtsvoller Liberalität die wissenschaftlichen Forschungen
und literarischen Erzeugnisse in ihren mannigfaltigen Verzweigungen unterstützt und gefördert hätte wie König Maximilian II. Da finden sich zuerst wahr haft königliche Unterstützungen zu wissenschaftlichen Reisen, dann Stipendien
für Studierende und angehende Gelehrte zum Besuche auswärtiger Universi
täten
oder auch Gaben an fremde Gelehrte zum Aufenthalte in München,
Summen für Anschaffung wissenschaftlicher Instrumente, für Herstellung von Apparaten oder für Verfertigung verschiedenartiger Karten; großartige Unter
stützungen für Anstellung von Forschungen im Auslande; beträchtliche Beiträge zur Herausgabe der Werke von lebenden oder verstorbenen Gelehrten. Im ganzen und großen sind die Gaben wohl verwendet, ist bleibender, geistiger Gewinn damit
erreicht worden.
Nirgends zeigt sich dabei eine Nebenabsicht, eine Bevorzugung
’) Das bayerische Nationalmuseum ist wohl das vornehmste Denkmal von König Maximilians hoher Gesinnung, der Künste und Wissenschaften, insbesondere die Erforschung und Darstellung der vaterländischen Geschichte mehrfache Anregung und wahr haft königliche Förderung zu danken haben. Der Plan zur Gründung der Sammlung wurde aus Anregung des Freiherrn Karl Maria von Aretin im Januar 18.54 ausgestellt, die neue Sammlung zuerst in der Herzog-Maxburg in München unter dem Namen „Wittelsbacher-Museum" untergebracht. Nach des edlen Königs eigenster Verfügung aber sollte es ein bayerisches historisches Museum im weitesten Sinne des Worte- werden, dessen zeitlicher Rahmen die Zeit abschnitte der Agilolfinger, der romanischen und gotischen Kunst und der Renaissance umfassen sollte; was zur Charakterisierung der vergangenen Jahrhunderte des geistigen und materiellen Volkslebens, der herrschenden Zeitrichtungen, besonders in Bezug auf Kunst und Gewerbe diente, sollte gesammelt werden. Am 30. Juni 1854 setzte ein K. Handschreiben die endgültige Bezeichnung „Bayerisches Nationalmuseum" fest. Dem nunmehr geweckten Sammeleifer bot die damalige Lage des Marktes noch besondere Gunst. Erfolgreiche Tätigkeit entfaltete besonders der K. Konservator I. H. von Hefner-Alteneck. Bald füllten sich die verfügbaren Räume und als schon im Jahre 1865 die Sammlungen dort 30 Säle, Hallen und andere Räume einnahmen, mußte an die Neubeschasiung eines geräumigen Obdaches gedacht werden. Die Lösung der Frage brachte der hochherzige Entschluß des königlichen Stifters seiner Lieblingsschöpfung aus eigenen Mitteln eine neue Stätte zu bereiten. So entstand in den Jahren 1858—65 das stattliche Museumsgebäude an der Maximiliansstraße, an dessen Schauseite die Widmungsworte des Königs prangen „Meinem Volk zu Ehr und Vorbild". Der historische Charakter des Gebäudes sollte im Innern durch eine Reihe trefflicher Wandgemälde aus der Geschichte des bayerischen Herrscherhauses und Volkes zum Aus-
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105 König Maximilian II. von Bayern und die Wissenschaft.
dieser oder jener Richtung oder Partei; vielmehr ist durchweg nur der reine
objektive Sinn für das, was der Wissenschaft wahrhaft frommt, für Bayerns
und Deutschlands geistige Bereicherung zu erkennen.
Und wenn die Gaben,
welche der speziellen Geschichte Bayerns und den Erforschungen der bayerischen Zustände gewidmet wurden, besonders reichlich ausgefallen sind, so werden wir
das nur natürlich finden.
War es doch sein Wille, daß jedes Talent, welches in
Bayern für irgend ein Gebiet der Wissenschaft oder Kunst sich hervortue, gepflegt,
unterstützt und mit fortwährendem Wohlwollen im Auge behalten werden solle.
Was sagt uns nun die lange Aufzählung all dieser edlen Stiftungen? Sie sagt uns,
oder
vielmehr der verewigte König redet durch seine Taten und
Gaben aus dem Jenseits herüber zu uns:
Ein reiches Vermächtnis habe ich
euch hinterlassen, euer Dank dafür möge leuchten in Taten, in der Benutzung
und Fortführung des Begonnenen!
Beweiset, daß der Same, den ich aus
gestreut habe, nicht auf steiniges, unfruchtbares Erdreich gefallen ist! daß ihr
Fleiß,
mit der Empfänglichkeit auch die zähe Ausdauer,
den nachhaltigen
die nicht erkaltende Begeisterung für hohe Ziele besitzet!
gründlicher Wissenschaft ist zündet und
Zeiget,
Das Feuer
nunmehr ans dem Altare des Vaterlandes ent
verbreitet weithin seinen Schein:
sorget ihr, daß es stets unter
halten und genährt werde, auf daß es niemals mehr in Bayern erlösche!
druck gebracht werden.
Die Überführung der Sammlung aus der Herzog-Maxburg er
lebte der edle Herrscher nicht mehr; sie begann im Herbst 1865, die feierliche Eröffnung fand am Namenstag des Stifters (12. Okt.) 1867 statt, und würdig trat das bayerische Nationalmuseum in die Reihe der großen Sammlungen der Landeshauptstadt ein, ja es wurde bald die volkstümlichste unter den großen Sammlungen Münchens und übte dank den unvergleichlich mannigfaltigen Schätzen den größten Einfluß aus aus das empor strebende Münchener Kunstgewerbe. Rasch dehnte sich der Umfang der überreichen Sammlung aus und bald stellte sich neuerdings ein wesentlich erhöhtes Raumbedürfnis ein. Als gründlichstes Mittel gegen über diesen und manchen anderen Bedenken wurde die Errichtung eines ausgedehnten Neubaues an anderer Stelle mit dem dreifachen Raume und allen Einrichtungen der modernen Technik erkannt. Für den Neubau wurde vom Lande die Summe von 4000000 M. bewilligt und als Stätte die in der Entstehung begriffene Prinzregentenstraße gewählt zu Ehren Sr. K. Hoheit des Prinz rege ulen Luitpold und seiner stets bewährten Kunstliebe. Der Bau wurde nach den Plänen des Architekten Professors Gabriel von Seidl in den Zähren 1894—98 ausgeführt, mit der Übersiedlung der Samm
lungen im September 1898 begonnen, die innere Einrichtung von dem Ehrenkonservator und K. Akademieprofessor Rudolf von Seitz geleitet. Die Räume sind mit ihrem Inhalt zu einem anziehenden künstlerischen Gesamtbilde vereinigt. So hat der Schatz, den zunächst und im reichsten Maße die Liberalität des er lauchten bayerischen Herrscherhauses, sodann die fortdauernde Fürsorge der K. Staats regierung und zu einem beachtenswerten Teil auch der edle Stiftersinn aufopfernder Bürger anhäusten, eine neue würdige Heimstätte erhalten, die seinen hohen Wert in künstlerisch vollkommener Weise zur Geltung gelangen läßt. Mit vollem Recht aber prangt auch an der Schauseile dieses Neubaues der Wahlspruch des königlichen Stifters „Meinem Volk zu Eh-r und Vorbild".
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106. Am OstersamStag (10. März 1864).
106. Am Ostersamstag (10. März 1864). Don Emanuel (Beibcl.:)
Am Ostersamstag war's, da schritt ich füll Ins Land hinaus,- zu meinen Füßen schoß Der Isar grüne Woge strudelnd hin Und fern im Duste lag das Hochgebirg. Und wie vom halbentwölkten Himmel her Ein lindes Säuseln kam und über mir Die erste Lerch' unsichtbar wirbelnd stieg: Da schmolz in meiner Brust das stumme Leid Und feuchten Auges warf ich mich ins Gras Und dacht' an unsern teuren König Max.
Und sieh, mir war's, er stände vor mir da, Lebendig wieder, mit dem milden Blick Und doch verklärt von ernster Majestät: Der Friedensfürst, den mehr als jedes Wort Das freie Glück des Stamms, den er beherrscht, Die stohe Blüte seines Reiches preist; Der stille Überwinder, der sich selbst Besiegt um seinem Volk genug zu tun Und jeder Willkür, jeder Leidenschaft Den Zügel des Gewissens angelegt; Der echte Sohn vom Stamme Wittelsbach, Getreu, beharrlich, heil'gen Willens voll, Der mit dem letzten Atemzuge noch Einstand für deutsches Recht und dem der Zorn Um deutsche Schmach den Todespfeil geschärft.
Das war der König! Bayern weint um ihn, Wie an des Baters Gruft die Tochter weint,
Und Deutschland legt den Kranz auf seinen Sarg.
Und andre Bilder stiegen vor mir auf. In seiner Hofburg sah ich ihn, umringt Dom Kreise seiner Lieben, stohgelöst Aufatmen von der Last des Herrscheramts, Ein fürstlich Dorbild reiner Menschlichkeit; Und durchs Gewühl der Gassen, die sein Ruf In reichem Schmuck erstehn hieß, folgt' ich ihm Und sah ihn wandeln unter seinem Dolk, Leutselig, liebreich, jedes fremden Glücks Sich mitersteuend, hilsteich jeder Rot. Denn köstlicher als seine Krone war Das Herz, das unter seinem Purpur schlug, *) Gesammelte Werke, 3. Band, S. 238 ff.
Stuttgart 1888, Cotta.
106. Am OstersamStag (10. März 1864). Das lautre, stets sich selbst getreue Herz, Aus dem aus alles, was er sprach und schuf, Ein Sonnenstrahl der reinsten Güte fiel. Das war's, was ihm die Seelen unterwarf; Und wenn er grüßend durch die Menge schritt Und jedes Auge glänzte, das ihn sah, Wer spürt' es nicht, daß noch ein schöner Band Als angestammter Treue hier sich wob Aus Dankbarkeit, Hingebung und Vertraun!
Und jener trauten Stunden dacht' ich dann Im hohen, bilderdunkeln Teppichsaal, Wo er, mit ernsten Männern im Gespräch, Das stillgeschäst'ge Walten der Natur, Der Vorzeit Bücher sich enträtseln liefe. Denn eine nimmermüde Sehnsucht zog Ihn zu des Lebens Tiefen. Nicht begnügt Mit der Erscheinung, sucht' er ihr Gesetz Und jede neuerkannte Wahrheit galt Ihm eine Stufe, die er sich erkämpft, Und oft, wenn vor bem wissensdurst'gen Geist Ein Strahl ihm aufging jener Gotteskraft, Der ewig Einen, die im leisen Blüh'n Der Pflanze wie im Auf- und Niedergang Der Völker und der Zeiten sich enthüllt: Da flog ein Leuchten über seine Stirn Und höher schlug sein Herz, als wär' er selbst Der Weisheit Jünger, nicht ihr Vogt und Hort. Doch liebt' er's, wenn um solcher Stunden Ernst Erheiternd sich der Kranz des Schönen flocht. Und wie er selbst in jungen Jahren wohl Geprüft die Saiten, bis des Szepters Pflicht
Ungern das holde Spiel ihn meiden liefe, Verlangt' ihn nach der Muse Gastgeschenk. Denn göttlichen Geschlechts noch ehrt' er sie Und in der Forscher strengen Kreis entbot Er, die ihr dienten, dafe sie mit Gesang Des Busens Wellenschlag ihm schwichteten. Auch mir beschied sein königlicher Ruf Die neue Heimat; hold gewährt' er mir, Wonach des Dichters Herz zumeist begehrt: Sorglose Freiheit und ein fteundlich Ohr, Das seinen Weisen lauscht. Und was ein Gott In hohen Stunden mächtiger beschwingt Mir auf die Lippen legte, wurde sein. Ach, würd'ger einst die vollgereifte Frucht, KronSeder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
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107. Mit einem AönigSherzen.
Die unterm Herbstlaub meines siebens schwillt, Ihm darzubringen hofft' ich und, dafern Ein Kranz mir je noch blühte, sollt' er ihm Zuerst gehören, der ihn mild gepflegt. — Da riß ein allzufrüh Geschick ihn fort Zu jenen Sphären, die kein sterblich Lied Erreicht, und nichts als Tränen heißen Danks Für den geliebten Toten hab' ich heut'. Den Toten? Nein! Ob auch das Gruftgewölb' Den schmerzensmüden Leib empfing: er lebt! Nicht in den Blättern der Geschichte bloß, Nicht bloß im Mund des Liedes, noch im Erz, Das fromme Treue dankbar ihm erhöht: In seines Landes Segen und Gedeih'n, In seines Volks Gesittung lebt er fort, Er lebt in unsern Herzen, lebt im Sohn, Der, was er anhub, zu vollenden ringt; Und daß er also fortlebt, sei uns Trost In unserm Leid! Denn fein’s verging in Glanz. So dacht' ich und erleichtert hob sich mir Die schwerbeklemmte Brust. Ich sprang empor Und sah zum Himmel, sah den Strom hinab; Da brach die Sonne leuchtend durchs Gewölk, Daß jede Well', in ihren Strahl getaucht, Der Hoffnung goldnes Bild zu tragen schien, Und durch das Tal im Wind herwogend kam Der Osterglocken Auferstehungsruf.
107. Mit einem Königsherzen. Don Oskar von Redwitz.')
Das edle Herz unseres höchstseligen Königs Max II. hat die letzte Stätte seiner irdischen Ruhe gesunden.
Und es ist wohl ein sehr natürliches Gefühl,
wenn es mich, als einen der wenigen beständigen Augenzeugen, nach meiner Rückkehr drängt, all denen, die im weiten, treuen Bayernlande um den Hin
gang ihres geliebten Königs vor vier Monaten aus aufrichtiger Trauer geweint haben, nun auch in Wahrheitstreue von der uns allen ewig denkwürdigen Fahrt zu erzählen, auf der wir das königliche Herz von der prächtigen Königsstadt
auf der Hochebene der Isar bis zur unscheinbaren Muttergotteskapelle in der Niederung des Inn im letzten Ehrendienste begleiten durften. Möge indessen niemand ungewöhnliche Schilderungen einer durch äußeren Pomp besonders großartigen Totenfeier erwarten! — Ging dieser in seiner l) „Eine Fahrt von München nach Altötting, dem bayerischen Volke erzählt." München 1864, Manz.
107. Mit einem KönigSherzen.
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Art so seltene Trauerzugx) zwei Tage in feierlichem Schritte doch nur durch
eine einzige kleine Stadt, durch zwei bescheidene Märkte, unbekannte Dörfer und zerstreute Weiler und gar lang oft nur auf einsamer, heißer Landstraße inmitten wogender Ährenfelder oder am schattigen Saum eines rauschenden
Forstes! Aber von einer viel wettvolleren Totenfeier, wie sie keine Residenz einem beweinten Monarchen würdiger bereiten kann, habe ich zu berichten — von der Totenfeier einer wahrhaft rührenden Liebe und Pietät für den königlichen Verklärten, die seinem gebrochenen Herzen auf allen Wegen dieser letzten Fahtt
entgegenkam. Wie viele von den Hunderten, die in dichten, sinnenden Reihen am frühen Morgen des 11. Juli dem aus seiner Residenzstadt unter dem Trauerklang aller Glocken scheidenden Herzen ihres vielgeliebten Königs Max den letzten
stummen Abschied sagten, überkam nicht eine eigene Wehmut, als der Trauerzug jene herrliche Straße hinunterfuhr, die Entstehen und Namen diesem nun längst erkalteten Herzen verdankt, an dessen stolzer Schönheit es so manches Jahr mit solcher Wärme gehangen, in der es so manche neue Zierde nimmer erleben durfte! — Wie vielen Hunderten sind nicht wie vor vier Monaten die Augen wieder naß geworden, als sich die Wagen über die neue Jsarbrücke bewegten
und die nach langer, düsterer Regenzeit zum erstenmal wieder in der Morgen
sonne glänzenden, prächtigen Gasteiganlagen diesem für Naturschönheit so be geisterten Herzen ihres königlichen Schöpfers den letzten Abschiedsgruß herüber rauschten! — Und als dann die alte Leibgarde, die den ernsten Zug von der Königsburg durch alle die vollendeten Bauwerke des Höchstseligen bis zur Höhe
des noch unfertigen Maximilianeums begleitet hatten, nun ebenfalls dem Herzen
ihres einstigen Gebieters Lebewohl sagten und der noch formlose Koloß wie ein stummberedter Mahner an irdische Vergänglichkeit auf die Silberurne mit
dem Herzen seines königlichen Bauherrn herniederschaute, der sich an seiner Vollendung nimmer erfreuen durste: welchen denkenden Zuschauer hätte da nicht tiefer Lebensernst ergriffen! So fuhren die drei Wagen dann mit den funkelnden Kürassieren hinaus aus der stolzen, menschendurchwogten Königsstadt durch die einsamen Gefilde der weiten Hochebene. Die vaterländische Alpenkette glänzte in durchsichttger Bläue zu uns herüber und die Lerchen stiegen jubelnd in den sonnigen Himmel.
Das Geläute der Dorfglocken nah und fern gab der ganzen Landschaft eine sonntägliche Stimmung.
Und mitten in dieser blühenden, duftenden und klin-
*) Den Zug eröffneten zwei berittene Gendarmen, dann folgten ein vierspänniger, hieraus ein sechsspänniger Wagen mit den beiden K. Kämmerern Frhr. v. Redwitz und Gras Irsch, endlich zwölf Kürassiere in Gala vor und zwölf hinter dem mit sechs Rappen bespannten letzten Wagen mit dem königlichen Herzen, das an der Seite eines K. HoskommissärS der K. Hofstiftsdechant Lehner in einer umflorten silbernen Urne trug.
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107. Mit einem Königsherzen.
genden Natur dieser Zug mit dem toten Herzen des geliebten Königs! — Ein Gegensatz, der auf der langen, zweitägigen Fahrt sich auf allen Wegen wieder
aufs neue geltend machte. Aber auch von den vielen Tausenden, denen der Trauerzug begegnete, störte nicht ein einziger diese feierliche Stimmung. Mit entblößten Häuptern in lautloser Ehrfurcht, meist auch mit gefalteten Händen und im sonntäglichen
Kleid standen sie längs den Häusern ihres Dorfes oder sie hatten sich an den Seitenwegen auf freiem Feld und unter Baumgruppen versammelt, während
der Kirchturm ihres oft in weiter Ferne abseits liegenden Dorfes sein Trauer geläute zur Landsttaße herübersandte. — Und hatte auch gar manche dieser
erste günstige Tag auf Feld und Wiese zur lang verschobenen Arbeit verlockt, so hielten sie doch damit ein, sobald.sie nur aus der Ferne den Zug gewahrten, und entblößten das Haupt und manch eine Gruppe von Landleuten sahen wir mitten in ihrem Felde niederknien und dem Herzen ihres Königs ihr
gläubiges Gebet mit auf den letzten Weg geben. Wenn dann der hochwürdige Stiftsdechant all den großen und kleinen, andächtig harrenden Reihen in den
Dörfern, am Feldrain und am Waldsaume die silberne Urne mit dem Trauer flor darhielt, da sah man es den Leuten an den Augen an: das war keine
gemachte oder erheuchelte Rührung, sondern der schlichte Ausdruck altbewährter bayerischer Treue und Ehrfurcht für ihr Königshaus, daraus dieses Herz als
eines der edelsten für das Wohl und den Frieden des Landes so aufrichtig gesorgt, so wohlmeinend geschlagen hatte. Auf der Höhe von Neufahrn blickten wir nochmals nach München zurück,
das ein sonniger Hauch überwob, und fuhren dann bergab, während der An zinger Forst in dunkler Fläche hinter dem gleichnamigen Dorfe sich ausdehnte. Schon auf der Landstraße wurde der Zug in feierlicher Prozession von der Geistlichkeit, den Beamten und dem zusammengesttömten Volke eingeholt und so zogen wir durch das Dorf Anzing und geleiteten unter dumpfen Po-
saunenstößcn das königliche Herz in die Kirche an demselben Försterhause vor
über, in dem es so manches Jahr nach glücklich vollbrachtem Weidwerke bei fröhlichem Mahle sich ergötzt hatte. — Man war in München im Zweifel ge wesen, ob sich wohl zur Ehrenwache in Anzing genug Landwehrmänner vor finden würden, und schon waren zur Vorsorge die Kürassiere zu diesem Dienste
beordert. Aber zwei vollständige Kompagnien Landwehr, von je einem Major geführt, von denen die eine von Grafing, die andere von dem fünf Poststunden entfernten Erding aus völlig freiem Antriebe herübergekommen waren und
durch das Dorf bis an die Kirche Spalier gebildet hatten, bewiesen deutlich, wie das Volk, das einst den lebenden König so hoch gehalten, nun auch jetzt für sein totes Herz, ohne jeden amtlichen Befehl, aus treuer Liebe von selbst zu sorgen wußte.
Nachdem der Stiftsdechant unter Assistenz einer Menge
von Geistlichen aus der Umgegend das königliche Herz auf dem würdig ver zierten Katafalk beigesetzt hatte, während ein Männerchor nach besten Kräften
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107. Mit einem König-Herzen.
einen Trauergesang ausführte, nahm der Ortspfarrer das Offizium ab.
Kinder
in weißen Kleidern mit schwarzen Schärpen standen von der Türe bis zum Altare und hier wie überall hielten Unteroffiziere der Landwehr die Toten wache.
So hatte das kleine Dorf im Vereine mit der weiten Umgegend sicht
lich all seine
bescheidenen Kräfte aufgewendet um das königliche Herz so
würdig als nur irgend möglich zu empfangen und zu beherbergen, und diese Überzeugung wirkte ergreifender als ein hundertmal größerer Pomp bei viel leicht mehr denn tausendmal größeren Mitteln.
Um 2 Uhr zogen wir weiter gegen Haag, das wir um 6 Uhr er reichten. Schon aus der Ferne wehte uns von dem malerischen Turm des alten Schlosses der Grafen von Haag eine riesige schwarze Flagge entgegen.
An der Grenze des Marktes umwogte den Zug eine dichtgedrängte Volksmenge und eine für diesen bescheidenen Flecken über alle Erwartung große Prozession von Geistlichen, Beamten, Zünften mit wehenden Fahnen, Bürgern mit bren nenden Fackeln, zahlreichen Abgeordneten der Gemeinden und einer Schar von Mädchen in weißen Kleidern mit über die Brust niederwallendem Flor geleitete den Zug durch das Spalier der Landwehr unter Trauermusik in das Innere
des Marktes. Noch mehr aber waren wir erstaunt, als wir bei dem höchst feierlichen Einzug fast von jedem Giebel eine schwarze Fahne niederwehen und alle Wände der Häuser von schwarzen Tüchern und unzähligen, mit Flor umschlungenen Kränzen geziert sahen. Auch dem kleinsten Hause fehlte nicht
sein so gut gemeinter Trauerschmuck und wäre es auch nur ein schwarzes Hals tuch gewesen, das zwischen zwei Tannenkränzen mit schwarzen Papierstreifen aus dem niedern Fenster niederhing, au8 dem ein altes Mütterlein betend herab schaute. Aber sicherlich war die Absicht so gut und ehrlich, als sie das größte
Banner offenbarte, das mit silbernen Sternen um den bayerischen Schild auf dunklem Grunde von einem der schönen, im gotischen Stile nach dem Brand neuerbauten Häuser in den heiteren Abend flaggte. Säulen aus grünem Fichtenreis standen längs der Straße bis zum Portale der Kirche, die zur Nachtherberge des königlichen Herzens, seiner völlig würdig, mit allem Aufwand
sinnigen Geschmackes und völlig auf eigene Kosten der Gemeinde zu
Hause der Trauer auf das reichste ausgeschmückt war.
einem
Nach dem Offizium
hielt der würdige Pfarrer des Marktes eine sichtlich aus dem Herzen kommende patriotische Anrede und forderte die Kinder auf, einen prachtvollen Blumen kranz vor dem Katafalke niederzulegen, der auf seidenen Bändern die Inschrift trug: „Dem besten Herzen unseres unvergeßlichen Königs die dankbare Markt gemeinde Haag."
Darauf bat er den K. Hofkommissär den Kranz mit in
die Königsgruft nach München zu nehmen, welche Bitte gerne erfüllt worden ist. Als er endlich sich gegen die silberne Urne wandte und sagte: „König liches Herz, so bleibe gerne hier diese Nacht, du sollst bei uns gewiß gut auf
gehoben sein!" und sodann die dichtgedrängte Schar in der Kirche und be
sonders auch die Kinder zum Gebet in dieser Nacht ermahnte, da sahen wir
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107. Mit einem Königsherzen.
gar manche aufrichtige Träne rinnen,
vor allem aber auch aus den Augen
der treuen Diener ihres verklärten Herrn, die rechts und links den Katafalk
umstanden. Es lag eben in dieser ganzen Totenfeier so gar nichts Gemachtes oder Befohlenes. Alles ging unmittelbar zum Herzen, aus dem es auch ge
kommen, und wirkte darum um so tiefer. Bei Anbruch der Nacht loderten aus den grünen Säulen vor dem Kirchen
portale wie in den Straßen düster qualmende Pechflammen in den unbewölkten, sommermilden Sternenhimmel und der Mahnung chres Seelsorgers treulich folgend füllte betendes Volk die hell erleuchtete Kirche bis zum frühen Morgen.
Das zwei Stunden entfernte Redemptoristenkloster Gars am Inn hatte zur Nachtwache seine Patres hergesandt. Und von Stunde zu Stunde der Nacht
wechselten vor dem blumenreichen Katafalk kniende Mädchen. Am anderen Morgen, den 12. Juli, Schlag 6 Uhr, nach vorher mit Choral sehr würdig abgehaltenem Requiem ging der Zug weiter gegen Ampfing.
— In glühender Sonnenhitze gab die Landwehr mit Musik dem königlichen
Herzen noch eine volle Stunde das Ehrengeleite. Und als wir auf der steilen Höhe von Ramsau noch einen Blick auf den malerischen Markt warfen, den auch an diesem Morgen die Alpen in heiterster Fernsicht umsäumten, da war unter uns allen nur ein Gefühl, daß die braven Haager wirklich in herzlichem
Patriotismus alles Erdenkliche getan hatten um das Herz ihres „unvergeßlichen
Königs" zu ehren. Auf dem Wege von Haag nach Ampfing stand mitten auf der Land straße, zu der aus einem unter Obstbänmen versteckten, ziemlich entfernten Dorfkirchlein der Glockenklang zu uns herüberwehte, eine kleine Schar Schul kinder in sonntäglichem Kleide zu beiden Seiten des Weges und grüßten mit chrem Lehrer mit ganz
besonders ehrerbietigen Verbeugungen. — Als wir
dann nochmals zurückschauten, sahen wir die Straße, wo die Kleinen standen, mit Laubwerk und Blumen dicht bestreut. Wie hieß dieser sinnige Lehrer?
Wie hieß dies entlegene Dörflein?
Wir wußten es nicht.
Aber das wußten
wir, daß, wenn'der verklärte König von diesen seinem Herzen zu Ehren auf einsamer Landstraße von Kinderhänden hingestreuten Blumen etwas wissen
könnte, sie ihn gewiß ebenso freudig gerührt haben würden wie uns selber. Wir sagten uns später alle, daß dieser also überstreute Weg zu den schönsten Erinnerungen auf dieser ganzen, an erhebenden Bildern so reichen Fahrt
gehörte. - Um 10 Uhr erreichten wir den althistorischen Boden der Ampfinger Walstatt. Welch neuer Vergleich drängte sich unserer Stimmung wieder von selber auf! Das Herz des kaiserlichen Ahnherrn vor mehr denn fünf Jahr hunderten auf dem damals von Eisen und Schlachtgeschrei wild durchdröhnten Gefilde, in blutigster Streitlust entbrannt und heute das Herz dieses bayerischen
Friedensfürsten durch dieselben von Lerchen umsungenen Fluren auf seiner stillen Fahrt zur letzten Ruhe!
519
107. Mit einem KönigSherzen.
Was soll ich von dem Orte selber Neues berichten? Auch Ampfing zollte dem königlichen Herzen im selben Maße wie Anzing den vollen Tribut dankbarer Liebe. Nach würdiger Beisetzung und Abholung des königlichen Herzens be gleitete die Geistlichkeit und ein Bataillon Kraiburger Landwehr nebst 70 Zög
lingen des Salesianer-Institutes aus dem nahe gelegenen großartigen, vor
mals gräflich Geldernschen Schlosse Zangenberg noch bis an die Grenze der Ampfinger Markung den Zug durch eine zahllose Volksmenge. Auch dieser kleine Ort hatte vollkommen bewiesen, daß Treue und Liebe des Volkes zu
seinem Königshaus in Bayern noch keine leeren, unwahren Begriffe sind. Gegen halb 4 Uhr kamen wir auf die Höhe von Ecksberg. Unter uns rauschte der Inn mit wildgeschwollener Flut ins weite, stuchtbare Talgefild. Die Schneehäupter der Salzburger Alpen glänzten in hehrer Majestät
zu uns herüber.
Die Glocken der Kirche von Ecksberg vermengten ihren
Trauerklang mit einem anderen fernen Geläute tief unten im Tal. Und als der Trauerzug langsam vorüberfuhr, da stand — welch eigentümlich weh mütiges Bild in dieser steien, erhabenen Natur! — der durch seine hochherzige Anstalt weithin bekannte Pfarrer von Ecksberg an der Spitze seiner bemit leidenswerten, stumpfsinnigen Pflegekinder und sie hielten alle die rechte Hand
aufs Herz und grüßten mit blödem Antlitz den ernsten Zug, den ihr geistiges Auge wohl nur wie durch einen Schleier verdüstert beschaute.
Bald darauf verkündeten noch auf der
Höhe ferne
Böllerschüsse die
Nähe von Mühldorf am tiefen Ufer des Inn. Da dort nach dem ursprüng lichen Programm gar nicht still gehalten werden sollte, hatten die Bewohner Mühldorfs in München die Bitte gestellt, daß das königliche Herz, wenn auch nur eine Viertelstunde, in ihrer Stadtkirche beigesetzt werden möge, damit sie
ihm wenigstens int Gotteshause ihre Liebe und Dankbarkeit sichtlich beweisen könnten.
Diese Bitte ward ihnen denn auch gewährt.
Ich will nun gar nicht reden von der überaus zahlreichen und. festlichen
Prozession, die den Trauerzug durch die mit ihren flachen Dächern und arkadenartigen Hallen völlig an südlichen Typus mahnende Haupfftraße ge leitete. Besonders die reichen Standarten der Zünfte und die Scharen von weißen Mädchen und Jungstauen mit weißen Rosen und Myrten im Haar
schufen einen wahrhaft poetischen Anblick.
Dazu der Trauermarsch der Land
wehr, durch deren Reihen der Zug in die Kirche wallte, und über allem ein unbewölkter Himmel, schweigend und feierlich, wie die an den Fenstern und
auf der Straße dichtgedrängte Volksmenge — eine Stimmung so
ganz des
toten Königsherzens würdig, dem dies ehrfurchtsvolle Schweigen galt. Aber von ihrer Kirche will und muß ich den Mühldorfern laut zum
Ruhme nachsagen,
daß ich wie die anderen Mitglieder der Hofkommission
wohl nicht leicht ein mit reicherem Aufwand und ausgesuchterem Geschmack geschmücktes Gotteshaus gesehen habe. Der ganze Chor der alten, auch
107. Mit einem KSnigSherzen.
520
architektonisch sehr malerischen Stiftskirche war in einen duftenden Gatten umgezaubett. Aus großen Beeten von Moos leuchteten die seltensten Blumen gruppen, wie sie nur der hiesige Glaspalast im Mai uns schauen ließ, und
Hunderte von Kerzen,
jede von
einem Flor umschlungen, umstrahlten aus
funkelnden Leuchtern, stufenweise aufgestellt, den sichtlich völlig neuen, silberbefranzten
Katafalk,
darauf
die
Silberurne
stand.
Den dunkeln Hinter
grund schmückten sehr schön ausgefühtte Wappen und Schilder.
Ausschmückung
trug den Stempel der Wahrheit an sich,
Die ganze
daß es der Stadt
mit ihrer Trauer heiliger Ernst war. Wahrhaftig, ich wünschte beim An schauen dieser Stiftskirche eines kleinen Provinzialstädtchens recht von ganzem Herzen, es hätten alle Bayern,
die Höchstgestellten in der Residenzstadt wie
der ärmste Bauer eines Dorfes im Spessart, mit uns ansehen und bewundern können, mit welcher sinnigen Pietät und opferfteudigen Liebe diese bescheidene Stadt Mühldorf das Herz ihres Königs zu beherbergen wußte — für eine
einzige, flüchtige Viertelstunde! Bald darauf fuhren wir über die bedeckte Jnnbrücke, ebenfalls eine
des königlichen Namens Maximilian. Die ganze Schar der so schön geschmückten Kinder und Jungfrauen hatte sich dott zu beiden Seiten Trägerin
zum Abschied aufgestellt.
In der gehobensten Stimmung zogen wir in der
Niederung des Inn weiter gegen das Ziel dieser unvergeßlichen Fahtt — dem altberühmten Wallfahrtsorte Altötting zu. Auf dem Wege dahin will ich indessen auch des kleinen Weilers Teising nicht vergessen, der dem königlichen Herzen eine Einzugspforte errichtet hatte mit der Inschrift:
„Ausdruck der
innigsten Liebe und tiefsten Ehrerbietigkeit." Schon weit über eine Stunde vor Altötting, dessen schlanke Türme wir
längst vor uns sahen, wuchs an jedem Seitenwege die Schar der dotthin Wandernden und eine Viertelstunde vor dem Wallfahrtsort umwogte den Zug eine solche Volksmenge, daß er sich nur mit Mühe bei dem stets wieder stockenden Gedränge fortbewegen konnte. Aber trotzdem störte nicht ein einziges lautes Wort die feierliche Haltung des immer dichter zusammenströmenden Volkes, das längs der Straße harrte oder auf den Bäumen saß, ja bei den
ersten Häusern in Altötting sogar auf den Dächern stand. In unabsehbarer Prozession an das Pottal der Stiftskirche geleitet ward die Hofkommission von dem hochwürdigsten Herrn Bischof von Passau im Pontifikalschmucke nebst vier Domherren empfangen, ebenso von mehreren
Adeligen, von Beamten des Bezirkes und von der vollzähligen Landwehr. Hierauf ward das königliche Herz in der Stiftskirche auf einem reichen, von Kerzen umstrahlten Taburet beigesetzt.
Vor dem Presbyterium stand ein
mit Krone, Szepter und dem königlichen Wappen geschmückter, prachtvoller Katafalk. Unter Anwesenheit von mehr als 150 Geistlichen, deren einige aus
dem tiefsten Bayerischen Wald herbeigeeilt, ward hierauf von dem hochwürdigsten Herrn Bischof die Vigil abgehalten.
Die Kirchentüren blieben während der
107. Mit einem Königsherzen.
ganzen Nacht offen.
521
Die geräumigen Hallen waren keine Minute von beten
dem Volke leer. — So harrte das Herz König Max' II. bis zum andern Morgen auf uralt historischem, geweihtem Boden, nur wenige Schritte von den Gebeinen Karlmanns, des Enkels Karls des Großen.
Noch bis zum Jahre 1861 waren auf einem marmornen Denkmale auf dem Fußboden des Chores die mehr als merkwürdigen Worte zu lesen,
die
aus dem Lateinischen übersetzt also lauten: „Im Jahre 1119 nach Christi Geburt sind aus der Mitte der Kirche hierher übersetzt worden die Asche und Überreste der wenigen Gebeine Karl
manns, Königs von Italien und Bayern und Erbauers dieses Gotteshauses, welcher im Jahre 880 dahier gestorben ist." Die Grausamkeit der Hunnen hat durch Raub und Brand alles von Grund aus zerstört. Heute befindet sich dieses Denkmal an der Seitenwand der Pfarrkirche
und eine einfache Aufschrift auf einer Marmorplatte innerhalb des Speise gitters zeigt an, daß die wenigen Gebeine Karlmanns noch hier liegen. Karlmann und Maximilian II. — Welches welthistorische Riesengrab von Vernichtung liegt zwischen diesen beiden Namen! — Und die nun noch
zwei Jahrhunderte ältere „Heilige Kapelle", dieses winzige Kirchlein mit seinem hölzernen Muttergottesbilde des heiligen Rupert, dem Gegenstände zwölf
hundertjähriger gläubiger Verehrung» steht noch
alten Platze.
heute
unversehrt auf dem
Ein Gedanke, der sich jedem Denkenden hier aufdrängt, mag er
noch so viel oder noch so wenig von dem Glauben jener vielen Millionen
halten, die seit der grauen Vorzeit der ersten Christen in Bayern bis zu diesem Tage des 19. Jahrhunderts vom erhabenen deutschen Kaiser bis herab zum niedrigsten Untertan um Trost und Hilfe hieher gepilgert sind. Am anderen Morgen ward in der Stiftskirche mit aller Pracht des katholischen Kultus von dem hochwürdigsten Herrn Bischof das Requiem zelebriert unter Mozarts tiefergreifenden Tönen. — In großartigem Zug, wie
ihn das Programm . vorschrieb,
trug der hochwürdige Stistsdechant Lehner
unter dem Baldachin, von je zwölf Kürassieren geleitet, das königliche Herz um den weiten, freien Platz.
Eine Abteilung Landwehr schloß den ernsten,
langen Trauerzug, über dem aus düsterem Himmel
heute schwere Gewitter
drohend niederhingen, während die lang gezogenen, ergreifenden Posaunenstöße im Verein mit dem Geläute aller Glocken und den vielen wolken
schwarzen Trauerflaggen die Stimmung tiefsten Ernstes noch erhöhten. Dazu diese zahllose Volksschar, lautlos harrend, betend und ergriffen. Wahrhaftig eine Haltung von all den Tausenden, des Verklärten und seines treuen, baye
rischen Volkes würdig. Wie könnte ich sie alle namentlich erwähnen diese Abgesandten der Ge
meinden aus Ober- und Niederbayern, die freiwillig herbeigeeilt waren, um hier wie auf dem ganzen Wege dem königlichen Hofkommissär den Ausdruck der Trauer um den Vater und der Liebe und Ergebenheit für den Sohn in
522
107. Mit einem Königsherzen.
den herzlichsten Worten kundzugeben. Aber eine Deputation muß ich aus drücklich mit Namen nennen. Der reiche Kranz von Edelweiß an dem Kata falke in der Stiftskirche, der von ihr aus weiter Ferne hergebracht ward, um
das Königsherz auch noch hier zu ehren, das sich so manches Jahr in chrer prächtigen Gebirgsheimat so wohl gefühlt hatte, dieses letzte sinnige Pfand der Pietät mahnt mich an diese Pflicht zu laut: das waren die Abgesandten
aus den Bergen von Berchtesgaden. Vor der heiligen Kapelle bildete der große Zug einen weiten Kreis.
Das königliche Herz zog ein in das von fünf Lampen Tag und Nacht er leuchtete, zwölfhundertjährige, enge, dunkle Oktogon mit dem Gnadenaltare.
Der hochwürdigste
Bischof,
die königliche Hofkommission und die Beamten
folgten. In der anstoßenden, größeren, im 15. Jahrhundert von Siegmund, Erzbischof von Salzburg, angebauten Kapelle erklang ergreifend ein hundert stimmiges Benediktus der Priester. — Der Bischof sprach die letzten Gebete. Die
Silberurne ward des Flores entledigt. Und bald darauf hatte das königliche Herz seine letzte Stätte gesunden in einer mit Glas bedeckten silberumrahmten Nische, dicht über dem schmalen Portale, dem uralten Muttergottesbilde zu gewendet, vor dem in so vielen Jahrhunderten Kaiser und Könige, Herzoge
und Kurfürsten gekniet und gebetet haben. Nach altem Brauch bei jeder Bei setzung eines fürstlichen Herzens nahm der Bischof noch das Gnadenbild aus
seinem mit Gold und Silber reich verzierten Zelte und bot es der Hof kommission zum Kusse dar. — Flüchtig beschauten wir all die anderen Nischen mit den Herzen aus dem bayerischen Fürstenhause, von dem des großen Kur
fürsten Maximilian L, das seit 1651 hier ruht, bis herab zum „besten Herzen" des ersten Bayernkönigs Max. Nochmals warfen wir einen scheidenden Blick auf die Urne mit dem letzten teuern Herzen und der inhaltsvollen Inschrift unter dem Königswappen: „Gott und mein Volk". Der Trauergesang ver
stummte;
unsere Kerzen
wurden
ausgelöscht.
Die
hehre
Totenfeier
war
zu Ende. Gewiß! — Wenn der Verklärte von dem ersten Auszuge aus seiner weiten ehemaligen Königsburg bis hierher in diese enge Nische der Altöttinger
Gnadenkapelle sein Herz im Geiste hätte mitbegleiten können, er würde bei diesem vollgefüllten Maße von Pietät und Liebe auf diesem langen Wege voll freudiger Rührung ausgerufen haben: „Mein Volk, ich danke dir!"
Und der königliche Sohn, der mit dem Szepter auch die ganze Liebe des treuen Bayernlandes erbte, er möge auch diese glorreiche Fahrt mit dem Herzen des höchstseligen, vielgeliebten Vaters als ein Pfand dafür erkennen, welch beneidenswertes
Los ihm unter den Fürsten dieser Welt zugesallen, der König eines solchen Volkes zu sein.
108. An König Ludwig II. von Bayern.
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108. An König Ludwig II. von Bayern. Don Martin (Breif.1)
Selig der Fürst, Dessen Thron die Musen Rah umstehn!
Aber des strahlendsten Ruhms erfreut sich Unter den waltenden Herrschern Doch des Gesanges Freund.
Ihrer Anmut Stimme Füllt sein Haus mit Wohlklang; Zwischen der Säulen Dämmer Fortgehallt vom Gewölbe Tönt ihr Reigen; Zugekehrt dem Horchenden Singen sie wechselnd Und sie Kränzen im Thore Seinen huldgeneigten, Mild gebietenden, Friedlichen Szepter Still mit unwelklichem Lorbeer.
An der Menschheit heiligsten Kämpfen Nimmt er tätig teil Ohne zu erlegen schicksalsvoll Den verhangenen Preis in Blut und Tränen. Seine Scharen bilden Geister ja Und die Waffen, die sie klingend führen, Sind der mächtigen Kunst Lichte Gedanken. Doch befeuernd allen voran Zieht er selbst, gewappnet königlich; Weit gepriesene Großmut ist sein Heer horn Und sein Schild ist die Weisheit. So gewinnt er ringend ewige Kränze. Die sonst alles verwüsten, die neidischen Jahre, Müssen sein Recht ihm lassen; Seinen Stern bewältigt nimmer ein Dunkel.
Wer hat je gehört, daß ein König verging, Dem ein dauerndes Leben Eine der Musen Kundig geweissagt?
Machtvoll in des Ruhms Posaune Stößt der starke Schlachtengott Und in beneideten Marmorgrüften Schläft nach tatvollem Leben, Heiß erstrittener Ehren müde, Glorreich gebettet der einsame Sieger. Selbst Barbaren stammeln des Eroberers Namen, Hochgelobt sind der Reiche Gründer: Aber auch ihren Taten folgt Endlich Vergessen. Alle gekreuzten Trophäen Und im Triumphkleid strotzende Riesen bogen Wiegt als Denkmal auf das trautere Bild, Das in des treuen Volkes Herz Unverwandelt webend Wie im Moos die Blume Spät noch an den Helden erinnert.
Ihn lobpreist das entfernteste Alter Und Geschlecht von Geschlecht lernt Rings auf der Erde Seinen auf des Liedes Fittich Schwebenden, dankbar Fortgesungenen Namen.
Seiner Tage Morgenlicht, Herrlich glänzt es die Dahn zurück Und es dringt zu den fernhin Lebenden Immerdar sein erweckender Schimmer. Aus der Gebilde Reihen, Die sein Wunsch hervorrief, Atmet er wieder. Ihren haftenden Duft beut Auferschlossen die Blume der Dichtung Stets, wie da sie zuerst ihm erschienen.
1 „Gesammelte Werke", I. Band, Z. 309.
Leipzig 1896, Amelang.
524
109. Richard Wagners Berufung durch König Ludwig II.
Heil dir, o Herr, der du dem zagenden Sänger zuriefst, Fühlend in teilnahmloser Zeit: Singe! Doller rauscht sein Saitenspiel, Seit er weiß, daß manchmal Du ihm lauschest. auch möchte des Beglückten Hand Dir ein Weihegeschenk erheben, Schimmernd gefügt, Reingestimmt und lauter, Würdig deines ernsten Sinnes; Gern
Aber bewegt vom Gedanken Sinkt ihm der Mut fast.
Statt die festliche Halle Dir empor zum Giebel zu kränzen Und ins verschlungene Laubgewinde Einzuweben dichte Knospen in Füll«, Streut er in Ehrfurcht heute Leicht auf den Pfad dir Wenige Blumen. Selig der Fürst, Dessen Thron die Musen Nah umstehn!
109. Richard Wagners Berufung durch König Ludwig II. Don Sebastian Röckl.l) „Womit kann Eurer Majestät ein Herzenswunsch erfüllt werden?" „Ich will Richard Wagner kennen lernen." — Es zeugt von freiem, hochsinnigem Mute und einer wahrhaft königlichen Begabung, daß der so streng erzogene junge Ludwig II. mit stolzer Vorurteils
losigkeit eine geniale Persönlichkeit berufen wollte, die in seinen Kreisen schon wegen ihrer politischen Vergangenheit schwerlich der schärfsten Beurteilung ent gangen war, daß er entschlossen die Bahn seines Vaters und Großvaters ver folgte, die beide den schöpferischen Geistern in Kunst und Wissenschaft überall
jene Hochachtung gezeigt hatten, die man damals an manchen anderen deutschen Fürstenhöfen vergeblich suchte, daß er ein seit mehreren Dezennien für Bayern als segensreich bewährtes System im ganzen übernahm und doch wieder eine
vollständig neue Richtung in demselben einschlug. Begründet wird die Berufung gewöhnlich mit dem Entzücken, welches der fünfzehnjährige Kronprinz über Wagners „Lohengrin" empfand. Gewiß
mußte diese Oper aufs lebhafteste seine Phantasie erregen, nicht weil sie ihm eine neue Welt erschloß, sondern weil sie in derjenigen spielte, welche ihm von seinem Lieblingsaufenthalt Hohenschwangau innig vertraut und damals seine
Welt war. Leopold von Ranke äußerte sich 1868 einmal, er habe erfahren, daß gerade das Wort „Zukunft" Ludwig für die Wagnersche Musik gewonnen hat. Der phantasievolle Jüngling, der seinen Ideenflug ost durch ein nüch ternes Wort seiner Umgebung gehemmt sah, dessen Traum von einem schönen Königtum man nicht selten die rauhe Wirklichkeit gegenüberstellte, fand seine *) König Ludwig II. und Richard Wagner 1864/65, S. 1 ff. Oskar Beck.
München 1903,
109. Richard Wagners Berufung durch König Ludwig U.
525
wünschenswerte Welt, die Vorstellung seiner mehr gefühlten als begrifflich
geordneten Zukunft vor allem in den Tönen der Musik zum Ausdruck gebracht. Als er nun einmal anläßlich eines Besuches bei den Prinzessinnen Max von
demselben Meister, dessen „Lohengrin" und „Tannhäuser" auf ihn einen so tiefen Eindruck gemacht, die Schriften „Das Kunstwerk der Zukunft", „Zu kunftsmusik" auf dem Klavier liegen sah, da griff er mit brennender Begierde
danach, las diese Offenbarungen, studierte mit glühendem Eifer auch die übrigen Bücher Wagners und erkannte in jenen Schriften das Evangelium der Zukunft der Kunst. Die schmerzliche Frage, die der Meister am Schlüsse des Vorwortes zur Dichtung vom Ring der Nibelungen stellt: „Wird der Fürst sich finden, der
die Aufführung meines Bühnenfestspiels ermöglicht?" beantwortet der Jüng
ling mit dem Ausruf:
„Wenn ich einst den Purpur trage, will ich der Welt
zeigen, wie hoch ich das Genie Wagners zu stellen wissen werde."
Kaum besteigt er den Thron, so rettet er den im äußersten Elend Schmachtenden in elfter Stunde und mit ihm ein wesentliches Stück Unsterb lichkeit deutschen Geistes. Wagner hält diese Rettung für ein wundervolles
Glück von göttlicher Abkunft; denn enge Beziehungen bestanden zwischen seinem
und seines Schirmherrn Leben. „In dem Jahre (1845) der ersten Aufführung
meines Tannhäuser,"
schreibt Wagner an Frau Willes, „des Werkes, mit dem ich meinen neuen, dornenvollen Weg betrat, in dem Monat (August), in welchem ich zu so über mäßiger Produktivität mich gestimmt fühlte, daß ich den Lohengrin und die Meistersinger zu gleicher Zeit entwarf, gebar eine Mutter mir meinen Schutz
(25. August 1845.) „In der Zeit, wo ich in Luzern meinen Tristan beendigte, mich unsäglich
engel."
mühte die Möglichkeit einer Niederlassung auf deutschem Boden mir zu ge winnen und endlich verzweiflungsvoll mich nach Paris wandte um dort in Unternehmungen mich abzumühen, die meiner Natur zuwider waren, damals
wohnte der fünfzehnjährige Jüngling zuerst einer Aufführung meines Lohengrin bei, die ihn so tief ergriff, daß er seitdem aus dem Studium meiner Werke und
Schriften seine Selbsterziehung in der Weise bildete, daß er offen eingesteht, ich sei sein Erzieher und Lehrer gewesen.
Er- verfolgt meinen Lebenslauf und
meine Nöten, meine Pariser Widerwärtigkeiten und nährt nun den einzigen Wunsch die Macht zu gewinnen mir seine höchste Liebe beweisen zu können.
Im Anfang März dieses Jahres ward mir das Mißlingen jeden Versuches meiner zerrütteten Lage aufzuhelfen klar: allem dem, was so abscheulich un würdig eintraf, sah ich offen und hilflos verzweifelnd entgegen. Da — ganz unerwartet — stirbt der König von Bayern und mein mitleidvoller Schutz
engel besteigt den Thron.
Vier Wochen nachher ist bereits seine erste Sorge
‘) Brief vom 26. Mai 1864.
526
109. Richard Wagners Berufung durch König Ludwig TL
nach mir auszusenden: während ich den Leidensbecher bis auf die untersten Hefen leere, sucht mich der K. Abgesandte bereits in meiner herrenlosen
Wohnung in Penzings) auf.“ Wagner ist aus Penzing vor seinen ungeduldigen Gläubigern entflohen,
wendet sich nach Mariafeld bei Zürich und fällt dort der ihm befreundeten Familie Wille als Gast ins Haus. Doch auch von hier treibt ihn nach un gefähr sechswöchigem Aufenthalt die Verzweiflung weiter, zunächst nach Stuttgart. An demselben Tage, da er sich gerade vorbereitet „irgendwo in der Welt zu verschwinden“, wo ihn die Dränger nicht finden könnten, als er
den Koffer packt um in die Einsamkeit der Rauhen Alb zu flüchten, wird ihm ein Besuch gemeldet; die Visitenkarte lautet: v. Pfistermeister, secrötaire aulique de 8. M. le roi de Bavifere. Von Wien nach Mariafeld, nach
Stuttgart war der Abgesandte des
bayerischen Herrschers dem Flüchtling
nachgereist. Er überreicht Wagner eine Photographie des Königs und einen kostbaren Rubinring und verkündigt ihm im Namen Ludwigs II., daß, so wie dieser Stein glühe, auch er vom Verlangen ihn zu sehen brenne. Wagner eilt in Begleitung des Abgesandten nach München. Am andern Tage macht er dem jungen König seine erste Aufwartung. Noch abends be richtet er fieudettunken der Freundin in Mariafeld von der wunderbaren Wen dung seines Geschickes: „Sie wissen, daß mich der junge König von Bayern auffuchen ließ. Heute wurde ich zu ihm geführt. Er ist leider so schön
und geistvoll, seelenvoll und herrlich, daß ich fürchte, sein Leben müsse wie ein flüchtiger Götterttaum in dieser gemeinen Welt zerrinnen.
Er will, ich
soll immerdar bei ihm bleiben, arbeiten, ausruhen, meine Werke aufführen; er will mir alles geben, was ich dazu brauche; ich soll die Nibelungen fertig machen und er will sie aufführen, wie ich will. Ich soll mein unumschränkter Herr sein, nicht Kapellmeister, nichts als ich und sein Freund. .. . Alle Not
soll von mir genommen sein, ich soll haben, was ich brauche — nur bei ihm soll ich bleiben. Von dem Zauber seines Auges können Sie sich keinen Begriff machen. Wenn er nur leben bleibt! Es ist ein zu unerhörtes Wunder. . ." Voll rührenden Mitleids, zarter Sorge, dankbarer Liebe und glücklich im Bewußtsein helfen zu können schreibt der König am nächsten Tage an den über seinen mächtigen Schutz Überseligen: „Seien Sie überzeugt, ich will alles tun, was irgend in meinen Kräften steht, um Sie für vergangene Leiden zu enffchädigen; die niedern Sorgen des Alltagslebens will ich von Ihrem Haupte auf immer verscheuchen, die ersehnte Ruhe will ich Ihnen bereiten, da mit Sie im reinen Äther Ihrer Kunst die mächtigen Schwingen Ihres Genius ungestört entfalten können! — Unbewußt waren Sie der Quell meiner Freuden,
von meinem Jünglingsalter an ein Freund, der mir zum Herzen sprach, mein
Lehrer und Erzieher.“ x) bei Wien.
109. Richard Wagners Berufung durch König Ludwig II.
527
Nach einigen Tagen setzt Wagner seine Reise nach Wien fort.
„Was
nur die verzweifelte Energie mit persönlicher Aufopferung hätte erreichen können,
ist nun zu ordnen ein leichtes Geschäft." Aus königlichen Mitteln bezahlt der mit Hast Bedrohte seine bettächtlichen Schulden. Nach wenigen glücklichen Stunden im Freundeskreis kehrt er leichten Herzens in seine „neue, letzte Heimat"
zurück um hier, „getrogen von der göttlichsten Liebe, das wundervolle Glück
zu genießen," das ihm sein Leiden geboren. — „Eine ruhige, schöne Wohnung, ein Garten mit ein paar prächtigen,
alten Bäumen" war immer einer der Lieblingswünsche Wagners. Am 14. Mai bewillkommnet ihn im Auftrag des Königs v. Pfistermeister im Pelletschen
Landhaus bei Kempfenhausen am lachenden Starnbergersee. stört ganz seiner Muse leben. Sein Wonnegefühl jubelt
aus
Hier soll er unge
folgendem Briefe an seinen
Freund
Weißheimer.T) „Nur zwei Worte, um Ihnen das unbeschreibliche Glück zu bestätigen, welches mir zuteil geworden ist. Alles ist so eingetroffen, wie es sich schöner gar nie träumen ließ. Ich bin durch die Liebe des jungen Königs für alle Zeiten gegen jede Sorge geschützt, kann arbeiten, habe mich um nichts zu be
kümmern; keinen Titel, keine Funktion, keine Art von Verpflichtung.
Nur, so
bald ich etwas von mir aufführen will, stellt mir der König alles, was ich
irgend brauche, zur Verfügung."
„Der junge König ist für mich ein wundervolles Geschenk des Schicksals. Wir lieben uns, wie nur Lehrer und Schüler sich lieben können.
Er ist selig
mich zu haben und ich ihn ... . Er ist dabei so schön und tief, daß der Umgang mit ihm jetzt täglich hinreißend ist und mir ein völlig neues Leben gibt." Am 25. August ist des Königs Geburts- und Namensfest. Wagner eilt zur Beglückwünschung nach Hohenschwangau. Als Geburtstagsgabe überreicht
der Meister den „Huldigungsmarsch", in dem er dem Gefühl der Dankbarkeit
gegenüber seinem Genius begeisterten Ausdruck gibt, und mit dem im Juli erschienenen Klavierauszuge der „Walküre" folgende Widmung:
Dem königlichen Freunde. D König! Holder Schirmherr meines Lebens! Du, höchster Güt« wonnereicher Hott! Wie ring' ich nun, am Ziele meines Strebens, Nach jenem deiner Huld gerechten Watt! 3n Sprach' und Schrift, wie such' ich es ver gebens: Und doch zu forschen treibt mich's fort und fort Das Wort zu finden, das den Sinn dir sage Des Dankes, den ich dir im Herzen trage.
*) Bom 20. Mai 1864.
Was du mir bist, kann staunend ich nur fassen, Wenn mir sich zeigt, was ohne dich ich war. Mir schien kein Stern, den ich nicht sah er blassen, Kein letztes Hoffen, deffen ich nicht bar: Auf gutes Glück der Weltgunst überlaffen, Dem wüsten Spiel auf Vorteil und Gefahr, Was in mir rang nach freien Künstlertaten, Sah der Gemeinheit Lose sich verraten.
528
110. Der Feldzug vom Jahre 1866 in Süddeutschland.
Der einst mit frischem Grün sich hieß be lauben Den dürren Stab in seines Priesters Hand, Lieh er mir jedes Heiles Täuschung rauben, Da auch des letzten Trostes Täuschung schwand, 3m Inn ren stärkt' er mir den einen Glauben, Den an mich selbst ich in mir selber fand: Und wahrt' ich diesem Glauben meine Treue, Nun schmückt' er mir den dürren Stab aufs neue. Was einsam schweigend ich im Innren hegte, Das lebte noch in eines andren Brust; Was schmerzlich tief des Mannes Geist er regte, Erfüllt' ein Iünglingsherz mit heil'ger Lust: Was dies mit Lenzessehnsucht hinbewegte Ium gleichen Ziel, bewußtvoll unbewußt, Wie Frühlingswonne muht' es sich ergießen, Dem Doppelglauben frisches Grün ent sprießen.
Du bist der holde Lenz, der neu mich schmückte Der mir verjüngt der Zweig' und Aste Saft; Es war dein Ruf, der mich der Nacht ent rückte, Die winterlich erstarrt hielt meine Kraft. Wie mich dein hehrer Segensgruß ent zückte, Der wonnestürmisch mich dem Leid entrafft, So wandl' ich stolzbeglückt nun neue Pfade 3m sommerlichen Königreich der Gnade. Wie könnte nun ein Wort den Sinn dir zeigen, Der das, was du mir bist, wohl in sich faßt? Nenn' ich kaum, was ich bin, mein dürftig Eigen, Bist, König, du noch alles, was du hast: So meiner Werke, meiner Taten Reigen, Er ruht in dir zu hold beglückter Rast: Und hast du mir die Sorge ganz entnommen, Bin nun ich um mein Hoffen selbst ge kommen.
So bin ich arm und nähre nur das eine, Den Glauben, dem der deine sich vermählt: Er ist die Macht, durch die ich stolz erscheine, Er ist's, der heilig meine Liebe stählt. Doch nun geteilt, nur halb noch ist er meine, Und ganz verloren mir, wenn dir er fehlt. So gibst nur du die Kraft mir dir zu danken Durch königlichen Glauben ohne Wanken.
110. Der Feldzug Dom Jahre 1866 in Süddeutschland. Bon Heinrich Friedjung?)
Die preußische Hauptarmee war unter persönlicher Führung Moltkes binnen vier Wochen von der sächsischen Grenze bis an die Donau vorgedrungen. Auch im mittleren Deutschland fiel den Waffen König Wilhelms ein Erfolg nach dem anderen zu: alle deutschen Stämme bekamen in diesem Feldzuge die militärische Überlegenheit Preußens zu fühlen. Unmittelbar nachdem die Han noveraner bei Langensalza am 29. Juni die Waffen gestreckt hatten, erhielt
General Vogel von Falckenstein Auftrag die süddeutschen Staaten zu unterwerfen. Falckenstein hatte durch den Feldzug im Norden alles Wünschens
werte erreicht, aber nicht ohne von seiner Aufgabe mehrmals abgewichen zu *) „Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland 1859 bis 1866", II. Band, S. 439 ff. Stuttgart und Berlin 1905 ®, I. G. Cotta.
529
110. Der Feldzug vom Jahre 1866 in Süddeutschland.
fein; es bedurfte wiederholter dringender Mahnungen seitens Moltkes um ihn rechtzeitig zur Umzingelung des Heeres König Georgs zu veranlassen.
Nun wandte er sich nach Süden, wo er es mit zwei Gegnern zu tun
hatte.
Der stärkere Feind Ware« die Bayern unter dem Oberbefehle ihres
Prinzen Karl; dann sammelte sich bei Frankfurt das 8. Bundeskorps, aus Württembergern, Badenfern, Hessen und Nassauern bestehend, denen die öster
reichische Division Neipperg beigegeben war.
Das 8. Korps, die Reichsarmce
benannt, zog unter schwarzrotgoldener Fahne ins Feld. Es war Falckensteins natürliche Aufgabe die Vereinigung dieser beiden Truppenkörper zu hindern und jeden Teil vereinzelt zu schlagen. Die Bayern waren um den bedrängten Hannoveranern die Hand zu bieten nach Norden gezogen und bis Meiningen vorgedrungen, wo sie die Unglücksnachricht von der Kapitulation König Georgs erhielten. Darauf brachen sie nach Westen auf um ihre Vereinigung mit dem 8. Bundeskorps zu vollziehen. An dessen
Spitze stand Prinz Alexander von Hessen, der in der österreichischen Armee die Stellung eines Feldmarschalleutnants bekleidete und liessen in Italien ge
wonnene Kriegserfahrungen ihn zu einem leitenden militärischen Posten zu be fähigen schienen. Prinz Alexander wollte den Bayern durch Kurhessen entgegenziehen und
sich etwa bei Fulda mit ihnen vereinigen.
Das aber mußte General Vogel
von Falckenstein verhindern. Auch sein Ziel war Fulda, weil er sich hier am leichtesten zwischen die feindlichen Heere drängen konnte. Indem nun die Preußen und Bayern von verschiedenen Richtungen demselben Punkte zueilten, stießen sie ftüher, als beide Teile vermuteten, aufeinander und maßen sich am
4. Juli in dem hitzigen Gefechte von Dermbach. Die Preußen zeigten sofort die Überlegenheit ihrer Taktik, aber das bayerische Fußvolk schlug sich wacker; Prinz Karl hielt sich nicht für besiegt, wich aber etwas aus um sein Heer zu konzentrieren und dann den Kampf mit besserem Erfolge aufzunehmen.
Er sah
indessen, daß es ihm nicht mehr möglich sei sich mit dem Bundeskorps bei
Fulda zu vereinigen; er hielt jedoch den richtigen Gedanken fest sich in den Hauptkampf nicht ftüher einzulassen, als bis er seine Bundesgenossen an sich gezogen hatte. Deshalb forderte er den Prinzen von Hessen dringend auf zu
ihm zu stoßen und bezeichnete ihm einen südlicheren Punkt, Kissing en, als
den Ort einer gefahrlosen Vereinigung. Da aber zeigte es sich, wie ungeeignet der Deutsche Bund durch seine militärische Verfassung für eine tüchtige Kriegführung war.
Wohl stand der
Prinz unter dem Oberbefehle des bayerischen Heerführers, aber dieser konnte
ihn nicht bestimmen sich dem wohlerwogenen Plane unterzuordnen. Denn der Bundestag, der noch zu Frankfurt tagte, wünschte, daß das 8. Korps vor allem diese Stadt decke, und ebenso sträubten sich Württemberg und Baden dagegen ihre Truppen von dem unteren Main abziehen zu lassen, weil ihr Land dadurch den Preußen geöffnet wäre. Jeder Landesfürst wollte vor Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-.
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110. Der Feldzug vom Jahre 1866 in Süddeutschland.
allem das eigene Gebiet schützen und ließ dabei das Hauptziel des Krieges Besiegung des gemeinsamen Feindes, außer acht. ES widerfuhr somit bet Bayern das Schicksal, das sie dem österreichischen Heere bereiten halfen. Zwschen den Generalen Benedek und v. d. Tann war zu Olmütz verabrede
worden, daß die bayerische Armee nach Böhmen ziehen und sich mit dem öste> reichischen Heere vereinigen solle.
Die Münchener Regierung versagte aber de
Genehmigung dieses richtig gedachten Kriegsplanes um das eigene Land z»
schützen. General Falckenstein hatte nach dem Gefecht von Dermbach von bet Bayern abgelqssen um sich Frankfurts zu bemächtigen — ganz gegen die An ordnungen Molktes, der ihm vorschrieb
vor allem über die Bayern het-
zufallen und mit ihnen reinen Tisch zu machen. Wie ihm aber das 8. Bunden korps bis nach Frankfurt auswich, wandte er sich abermals um mit der Ab sicht den Bayern bei Kissingen an den Leib zu gehen. Manches läßt siy gegen seine Kriegführung einwenden und wirklich zürnten der König uw Moltke ernstlich über seine Eigenmächtigkeit. Aber die Schnelligkeit feinte
Märsche zeigte, daß er ein Befehlshaber von großer Energie war, und treffew wurden seine Bewegungen mit den Zügen des Springers auf dem Schachbrett
verglichen. Bei Kissingen nun griff er die Bayern am 10. Juli in ihrer Ver einzelung an. So tapfer sie auch kämpften, so waren sie doch dem Angriff
Göbens und seiner Westfalen nicht gewachsen und diese eroberten in einen blutigen Straßenkampfe die Stadt. Dann hielten ihnen die Bayern auf den hinter Kissingen sich erhebenden Sternberg stand, doch auch diese Stellung er stürmten die Preußen. Wohl wurde sie ihnen von den zähen Gegnern noy einmal abgenommen, aber zuletzt behielten sie auch hier die Oberhand und b«endeten den Tag mit einem entscheidenden Siege. Die Bayern zogen sich darauf gegen Osten, mainaufwärts, zurück, siy dadurch immer weiter von dem Korps des Prinzen von Hessen entfernend Falckenstein folgte ihnen nicht, sondern warf seine Truppen jetzt endlich rasy
gegen Frankfurt, wie er es schon längst ersehnte.
Wohl verlegte ihm dcö
Bundeskorps den Weg, aber er schlug dessen Vortruppen, die Hessen, zueri
bei Laufach am 13. Juli aus dem Felde und der auch hier siegreiche Göbet folgte dem Feind mit Macht nach Aschaffenburg. Die Stadt wurde von 700) Österreichern unter Neipperg besetzt gehalten, die sich vereint mit 10000 Hesse: aus Darmstadt am 14. Juli zur Wehr setzten. Aber die Österreicher wurdet
von den letzteren im Stiche gelassen und dann von der Überzahl der Feinte überwältigt; ein Teil von ihnen zog über die Mainbrücke ab, aber da de Preußen sich des Übergangs rasch bemächtigten, fielen die Zurückgebliebener
in die Hand des Siegers.
Nun konnte Falckenstein endlich in Frankfurt eiv-
ziehen, der Bundestag war auseinandergesprengt und floh nach Augsburg, tro er sein rühmloses Dasein beschloß.
110. Der Feldzug vom Jahre 1866 in Süddeutschland.
531
In Frankfurt fand Falckensteins Triumphzug ein Ende. „Die Länder nördlich des Mains liegen zu Eurer Königlichen Majestät Füßen" meldete er dem König am 16. Juli ; fünf Tage früher jedoch war aus Böhmen der Befehl Wilhelms I. abgegangen, der ihn des Kommandos enthob und ihn zum General
gouverneur Böhmens ernannte. Er war Sieger, aber ihm konnte nicht ver ziehen werden, daß er im Kampfe gegen König Georg wie gegen die Bayern zu wiederholten Malen den Weisungen des Hauptquartiers nicht entsprochen
hatte. Moltke verlangte pünktlichen Gehorsam selbst von den verdientesten Generalen; auch im französischen Kriege wurde streng darauf gehalten und Steinmetz büßte seine Eigenmächtigkeit 1870 gleichfalls mit dem Verluste seines Kommandos.
General Manteuffel hatte den Oberbefehl über die Main
armee erhalten. Wohl hatte inzwischen das bayerische Heer Zeit die längst beabsichtigte Vereinigung mit dem Bundeskorps zu vollziehen; die Verbündeten waren jetzt 80000 Mann stark; aber die erlittenen Niederlagen führten zu Mißhellig keiten und allgemach begann jeder Landesfürst an einen Sonderfrieden zu denken, zumal da zwischen Preußen und Österreich am 22. Juli Waffenruhe eintrat.
Die letzten Tage dieses Feldzuges konnten nicht kläglicher verlaufen.
Manteuffel ergriff mit 40000 Mann die Offensive und überschritt den Main; er hegte die Zuversicht, daß ihm zudem ein Reservekorps zu Hilfe kommen werde, welches bei Leipzig gesammelt wurde und, 25000 Mann stark, unter dem Großherzog von Mecklenburg über Hof im östlichen Bayern ein
brach.
Die Süddeutschen, so erfuhr Manteuffel, lagen hinter der Tauber, dem
Nebenfluß des Mains. Es gelang ihm zuvörderst die bayerischen Generale durch einen Scheinangriff zu täuschen; sie vermuteten den Feind im Norden, zogen acht Meilen in dieser Richtung und waren so wieder von dem Bundeskorps getrennt. Über dieses nun fiel Manteuffel her und erzwang sich in den Ge fechten bei Bischofsheim und Werb ach den Übergang über die Tauber. Diesmal waren es die Badenser, die zuerst das Weite suchten; ihr Prinz Wil
helm zog so rasch mit ihnen davon, daß der Befehlshaber Prinz Alexander erst des Nachts erfahren konnte, wohin sie sich in Sicherheit gebracht hatten.
Rüstig verfolgte der preußische General seinen Vorteil; er schlug in einer Reihe kleinerer Gefechte das Bundeskorps und die allzu spät zu Hilfe kommen den Bayern bei Neubrunn und Roßbrunn. Er trieb beide so glücklich vor sich her, daß sie nicht nach Süden gegen ihre Heimat ausweichen konnten,
sondern in kläglicher Verfassung bei Würzburg auf das Nordufer des Mains übertraten. Inzwischen begannen auch hier die Verhandlungen über den Waffenstill stand; der Großherzog von Baden wartete aber ihren Schluß gar nicht ab,
sondern berief seine Division noch früher vom Bundeskorps ab. Da aber der Waffenstillstand erst am 2. August begann, versagten die Preußen noch im
letzten Hauche des Krieges ihren süddeutschen Gegnern Schonung, und während 34»
111. Sine Reise König Ludwigs II.
532
diese schon alles beendet glaubten, zersprengte der Grobherzog von Mecklenburg
bei Seubottenreuth am 29. Juli ein vereinzeltes bayerisches Bataillon. Die verrottete Wehrverfassung des Deutschen Bundes stürzte die tapferen Truppen ins Unglück, die 1870 unter preußischer Führung Sieg auf Sieg errangen.
111. (Eine Reise König Ludwigs 11. Don Friedrich Lampert?)
Noch gegen das Ende des traurigen Jahres (1866) faßte der jugendliche König den im ganzen Lande jubelnd begrüßten Entschluß die durch den Krieg
am meisten bedrängt gewesenen Provinzen Bayerns, die drei Franken, zu besuchen und so persönlich seine Teilnahme an seines Volkes Geschicken zu bezeugen. Am 10. November, vormittags 11 Uhr, erfolgte die Abreise von München.
Ohne Aufenthalt fuhr der Königszug nach Bayreuth, als der ersten Stadt, welche, in die Kriegsmitleidenschaft hineingezogen, nun der Ehre des tröstenden
Besuches des Landesherrn teilhastig werden sollte.
Um %6 Uhr abends war
die Ankunft des Königs erfolgt und er durch die beleuchtete Stadt zum neuen Schloß gefahren, auf dessen Balkon er noch, vom Jubelrufe des dichtgescharten
Volkes begrüßt, erschien. Der Sonntag und Montag wurden in Bayreuth und teilweise auch auf der Eremitage, auf welcher der König schon als Kind mit seinen Eltern verweilt, verbracht. Am Dienstag den 13., um 10 Uhr vormittags, erfolgte die Weiterreise nach der Grenzstadt Hof, wo man um 12 Uhr anlangte.
Die Stadt hatte festlichen Schmuck angelegt und prangte
abends in glänzender Beleuchtung.
Gerade nach 24 Stunden, Mittwoch den 14., mittags 12 Uhr, verließ der König Hof und traf um 3 Uhr 30 Minuten in Bamberg ein. Hier hatten sich der Stadtmagisttat, das Offizierkorps und sämtliche königlichen
Behörden sowie der damals in Bamberg hofhaltende König Otto von Griechen land zum Empfange eingefunden. Letzterer geleitete seinen königlichen Neffen zur Residenz, wo Familiendiner stattfand. Um 7 Uhr abends begann die Jlluminatton der Stadt, welche der König mit dem griechischen Königspaare
in den Haupffttaßen durchfuhr. Auf dem Rückwege ersttahlte der alte herr liche Dom Kaiser Heinrichs II. in bengalischem Lichte und die Landwehr brachte einen Fackelzug. Der folgende Tag, Donnerstag, brachte Audienzen, große Tafel und abends einen Ball der Gesellschaft Konkordia in deren
schönem, am Flusse gelegenen Hause; der König, munter und liebenswürdig gegen jedermann, blieb bis nach Mitternacht. Am 16., dem Freitag, besuchte
er den schwer erkrankten Erzbischof von Deinlein sowie das Schmidffche Institut l) Ludwig II., König von Bayern, ein Lebensbild, S. 68 ff. München 1890. I. Roth.
111. Eine Reise König LudwigS II.
533
für Porzellanmalerei und nahm um 1 Uhr mittags auf dem Exerzierplätze
die Besichtigung der gesamten Garnison vor, nämlich des 5. Infanterie- und
des 1. Ulanenregiments. Von hier aus ritt der König in das Militärkrankenhaus um die dort befindlichen verwundeten und kranken Soldaten zu besuchen.
Für den 17. war Hofball angesetzt, zu welchem 180 Personen geladen waren. Noch heute rühmt sich manche vornehme Bam
Am Abend war Festtheater.
bergerin
eine Runde mit der
jugendlichen,
in unvergleichlicher
Schönheit
prangenden Majestät getanzt zu haben. Am Sonntag den 18. hörte der König früh noch eine Messe im Dom
chore, worauf alsbald unter demselben Zeremoniell, mit welchem er empfangen worden war, die Abreise über Schweinfurt nach Kissingen erfolgte.
Eine
katarrhalische Affektion, welche er sich in den letzten Tagen zugezogen hatte, und leichte Fieberschauer legten ihm den Wunsch möglichst schnellen Eintreffens in Kissingen nahe, wo er auch erst mehrstündiger Bettruhe pflegen mußte, ehe er die erbetenen Audienzen zu erteilen vermochte. Abends wurde ihm eine Serenade gebracht, die geplante Illumination der Stadt machte ein heftiges Schneegestöber zunichte.
Ungünstiges Wetter erschwerte auch folgenden Tages die Fahrt über das Schlachtfeld jenes 10. Juli, an welchem von den Bayern so todesmutig
und doch so unglücklich gekämpft worden war. Am 20., am Dienstag, 20 Minuten vor 1 Uhr, wurde Kissingen ver lassen und die Reise zu Wagen über Hammelburg, Gemünden und von
da wieder mit der Bahn über Lohr nach Aschaffenburg fortgesetzt.
Auch
in den beiden ersteren Städten erkundigte sich der König eingehend nach ihren Kriegserlebnissen. In Aschaffenburg läuteten wiederum die Glocken, über reichten Jungfrauen
Blumensträuße,
sangen
die Gesangvereine
die Volks
hymne und eine Ehrengarde berittener Bürger geleitete den König nach dem
über dem Steilufer des Mains hochaufragenden Schlosse, das sein Großvater erbaut und in dem er mit Vorliebe geweilt.
Zwischen dem Aufenthalte in
Aschaffenburg und dem folgenden in Würzburg lag ein Besuch am ver wandten Hofe von Darmstadt, für den König eine Erholung von den Ansttengungen der vergangenen und eine vorbereitende Ruhe für die kommenden
Tage.
Denn auch die weinumkränzte Hauptstadt Frankens wollte dessen Herzog
die gebührende Ehre erweisen.
Auch sie hatte ja lange fremde Fahnen gesehen;
lustig flatterten nun die weiß-blauen Fähnlein in der Luft und durch die mit
vielen Emblemen geschmückte Ehrenpforte am Bahnhöfe hielt der König am Samstag den 24. November, nachmittags 4 Uhr, seinen Einzug in die Stadt.
Deren Bürgermeister hatte er schon auf dem Bahnhöfe versichert, wie es ihn
freue seine treuen Würzburger besuchen zu können.
Die freudigen Zurufe
der den weiten Residenzplatz füllenden Scharen dankend erwidernd zeigte sich der König, gleich nachdem er das Schloß betteten, auf dem Balkon desselben und fuhr selben Abend noch durch die beleuchteten Straßen zum Theater.
111. Eine Reise König Ludwigs H
534
Am Sonntag den 25. nahm der König am Gottesdienste im Dome teil,
hierauf empfing er, jeden einzelnen mit freundlichster Ansprache beehrend, die gemeindlichen Kollegien, die Beamten, das Osfizierkorps der Garnison und der Landwehr sowie den Lehrkörper der Universität.
Nach einem Fackelzuge
besuchte er den von der Gesellschaft Harmonie in ihren prächtigen, vollgcdrängteu Räumen gegebenen Ball. Dafür mußten am Montag den 26. alle geplanten Fesllichkeiten sistiert werden, da der König durch einen abermaligen heftigen
Fieberanfall genötigt wurde das Bett aufzusuchen.
Doch trat schon am nächsten Tage eine Besserung ein, so daß der König einen Spaziergang machen und dem russischen Gesandten Audienz erteilen, den Hofieller und die Militärspitäler besuchen konnte. Wie es schon in Kissingen geschehen, so sollten auch in Würzburgs Um
gebung die traurigen Erinnerungen an die Unglückstage des Monats Juli nicht vermieden werden. Der König suchte sie am 29. November auf den Schlacht
feldern von Roßbrunn, Helmstadt und Üttingen auf. In letzterem Orte ging er auf den Friedhof, auf welchem die größte Zahl der damals heldenmüttg Gefallenen, Bayern wie Preußen, zur Ruhe gebracht worden war, von Grab zu Grab; dann überreichte er der dortigen Gutsherrin, Freiftau von
Wolfskeel, die mit ihrer Tochter durch hingebendste Pflege der Verwundeten
und Kranken sich ausgezeichnet und diesen ihr ganzes Schloß eingeräumt hatte, eigenhändig das Militärverdienstkreuz. Die Rundfahrt über all die Stätten,
die noch so unverkennbar die Spuren des über sie hingegangenen Unheils hatte den König so ernst gestimmt, daß er es nicht über sich zu
trugen,
bringen vermochte, an jenem Abende noch, wie es geplant war, das Theater zu besuchen. Der Aufenthalt in Würzburg war um das Doppelte der anfänglich in
Aussicht genommenen Tage ausgedehnt worden und hätte vielleicht noch länger gedauert, wenn nicht der Bürgermeister von Nürnberg persönlich beim Monarchen mit der Bitte erschienen wäre, den Nürnbergerinnen nicht die Freude des Festballes zu vereiteln, der bei Nichteinhaltung des Programmes
durch die eintretende Adventzeit unmöglich gemacht werden würde. Darum versprach der König seine Wiederkehr nach Würzburg für den Sommer und trat am Freitag den 30. die Weiterfahrt nach Nürnberg an. In Kitzingen wurde ihm zum Willkommgruß durch ein Mädchen ein Gedicht vorgetragen,
in dem eine Stelle lautete: Als guter (Engel durch das Land Gehst du zu heilen und zu stillen
Mil rast» und ruheloser Hand, Wo noch des Kummers Tränen quillen. Gesegnet sei dir Hand und Fuß!
Bott schmückt dich mit der schönsten Krone, Des Volkes Blick, des Landes Gruß Folgt dir auf Weg und Steg zum Lohne!*
111. Eine Reise König Ludwigs II.
535
Kurz vor 4 Uhr bei herrlichstem Winterwetter traf der Königszug in
Nürnberg ein. Er habe sich gefreut, sagte der König, nach Nürnberg zu kommen und sich vorgenommen alle Wunden, die leider der Krieg geschlagen, zu heilen; freuen würde es ihn auch, wenn Handel und Industrie wieder er
blühten; für die loyale und taktvolle Haltung Nürnbergs während der preu ßischen Besetzung müsse er seine vollste Befriedigung aussprechen. Das Hoflager wurde auf der alten Hohenzollernburg genommen.
Um
der neubefesttgten Freundschaft zwischen den beiden Königshäusern und Staaten einen symbolischen Ausdruck zu geben hatte König Ludwig in einem Schreiben vom 30. August des Jahres dem Könige von Preußen angeboten
die ehr
würdige BuiA seiner Ahnen gemeinsam mit ihm zu besitzen und bei etwaiger Anwesenheit in Bayern zu bewohnen. Mit Dank nahm König Wilhelm dies entgegenkommende Anerbieten an und wenigstens sein Sohn, Kronprinz Fried rich, hat später davon Gebrauch gemacht.
Am Abende feines Ankunftstages erschien der König noch im Theater, wo er trotz eines wieder auftretenden Hustens bis zu dem erst um Mitternacht erfolgten Schluffe der Vorstellung blieb.
Am Samstag den 1. Dezember brachten die vereinigten Sänger Nürn bergs dem hohen Burgherrn ein Morgenständchen, worauf wieder großer
Empfang erfolgte, und abends 8 Uhr erschien der König auf jenem in der
festlich geschmückten Turnhalle abgehaltenen Bürgerballe, für welchen der Bürgermeister schon in Würzburg eingeladen hatte. „Wir zweifeln," schrieb am anderen Tage ein Korrespondent der „Allgemeinen Zeitung", „ob seit der Einführung der strengen Hofetikette durch Louis le Grand, der nur mit dieser
atmen zu dürfen glaubte, ein König je in solcher gemischten Gesellschaft als Ballgast ausgetreten ist und im vollsten Sinne diese so zu beleben wußte, wie es unser jugendlicher Monarch unter herzlichster Hingabe und wirklicher Auf
opferung tat.
Denn er hüstelte etwas, wohl infolge der nicht geringen Er
müdungen, denen er auf seiner ersten Provinzreife tagtäglich verfallen muß,
wenn er überall so wie hier sich allen Anmutungen hingibt. Volle vier Stunden tanzte der König oder unterhielt sich mit Frauen von allen Lebens altern und mit Herren, die ihm vorgestellt wurden, mit der ihm eigenen, ge
winnenden Liebenswürdigkeit. Die Herzen unserer Damenwelt faszinierte er. Er versteht es den Fluß der Rede im Geleise zu erhalten, immer neue Wen Erst nach Mitternacht ent fernte er sich, nochmals freundlich dankend für das ihm zum Geleite zudungen sinnend, gewöhnliche Worte meidend."
gerufene tausendfache Hoch. Der Ausgang des Burghofes wie der Burgberg war stets von Tausen den, namentlich Landleuten, belagert, die gekommen waren „um ihren jungen
König zu sehen."
Am 2. Dezember gab es wieder Audienzen, darunter an
die Deputation der Universität Erlangen und große Hostasel. abends kam der König von der Burg
Um 7 Uhr
herab um die große Illumination zu
111. Einr Reise König Ludwig- II.
536 sehen.
Am Fuße der Burg brannte ein riesiges gotisches L mit der Krone, das in Gasflammen gezeichnete An den Kirchen und auf den großen
am Rathause umgaben sprühende Sterne bayerische und städtische Wappen.
Plätzen glühten farbige Lichter auf; auch manche Dörfer der Umgebung er schienen, als ob sie in Feuer stünden.
Erst gegen 9 Uhr fuhr der König am
Theater vor, wo auf allerhöchsten Befehl der „Troubadour" und zwar so
vollendet gegeben wurde, daß jener durch den Bürgermeister dem gesamten Personale seinen Dank aussprechen ließ. Am 3. Dezember machte der König einen Spaziergang durch die Stadt, besuchte die Kirchen und andere Gebäude, gab abermals Tafel und erschien
dann im großen Konzerte im Rathaussaale. Auch die Truppen sollten ihren Kriegsherrn sehen;
darum hielt der
König am Dienstag den 4., mittags 2 Uhr, in Marschallsuniform auf dem Ludwigsfelde große Parade über die Garnison ab, nestelte mit eigener Hand
an vier Fahnen das Militärdenkzeichen von 1866, worauf General Stephan eine Ansprache hielt, die er mit einem von den Truppen aufgenommenen Hoch auf den Monarchen schloß.
Dieser ließ noch einige Evolutionen im Feuer
vornehmen und ritt dann allein mit einem Adjutanten nach Fürth, wo er am Rathaus abstieg und hier vollständig überraschte. Allein die Fürther
wußten sich schnell zu fassen.
Als der König mit dem Bürgermeister und dem
Rechtsrate das Rathaus verließ um einen Gang durch die Stadt zu machen, ertönte das Geläute aller Glocken und erstrahlten alle Häuser in schnell im provisierter Beleuchtung; der König besichtigte noch die Synagoge und einige nahe gelegene Fabriken und fuhr dann mit der Ludwigsbahn wieder nach
Nürnberg zurück um noch im Theater, dort stürmisch begrüßt, dem „Fidelio"
anzuwohnen. Der folgende Tag, der 5. Dezember, galt dem Besuche industrieller Etablissements, wie der Bleistiftsabrik von Faber in Stein, der Zeltnerschen Ultramarinfabrik und der Cramcr-Klettschen Eisengießerei.
Letztere betrat der
König in dem Augenblicke, als die Arbeiter die riesige Form seines Namens zuges mit der Krone mit flüssigem Eisen von oben durch einen Kanal voll laufen ließen, was bei der bereits eingetretenen Dunkelheit einen prachtvollen
Anblick gewährte.
Eine volle Stunde weilte König Ludwig mit besonderem
Interesse trotz des betäubenden Maschinenlärmes
in
der in einer Stunde
*/< Million Stifte liefernden Stiftfabrik. — Auch die Universitätsstadt Er langen sollte mit dem königlichen Besuche überrascht werden. Am 6. De zember nachmittags 2 Uhr begab sich der König dahin, der akademische Senat
und die Studentenschaft fanden sich rasch zur Huldigung für den erhabenen
Rector magnificentissimus zusammen. Der Freitag, der 7., wurde wieder mit Audienzen,
so auch an die
Deputation deS Lehrervereines, und Besichtigung verschiedener Anstalten ver bracht. Mit großer Aufmerksamkeit wohnte der König der Zusammensetzung
des eben vollendeten Keplerdenkmales in der Lenzschen Erzgießerei bei, besah
112. Prinz Karl von Bayern.
537
sich in der Kunstgewerbeschule das Atelier Meister Krelings und die Samm lungen des Germanischen Museums, in welchem Direktor von Essenwein den Führer machte. Auch die Fleischmannsche Papiermachefabrik wurde der Ehre des allerhöchsten Besuches gewürdigt.
Auf diesen Gängen war der König von seinem Bruder begleitet, welchen er, von dem Aufenthalte in der alten Noris so befriedigt, eingeladen hatte, an
den letzten Tagen desselben noch teilzunehmen. Prinz Otto war am 5. dieser Einladung gefolgt und mittags auf der Burg eingetroffen. Das Interesse und die Huldigungen der Bevölkerung teilten sich nun zwischen den beiden fürstlichen Brüdern. Hatte schon die ideale Erscheinung des älteren, des
Königs, alle Herzen erobert, so sielen dem jüngeren, der in noch größerer Schönheit zu blühen schien, fast noch mehr Triumphe zu. Auch Prinz Otto war, wo und mit wem er verkehrte,
So auch bei der großen Tafel,
von bezaubernder Liebenswürdigkeit.
die am 8. gegeben wurde, und bei dem
zweiten Konzerte im Rathaussaale, das am Abende desselben Tages König und Prinz besuchten. Am Samstag den 10. Dezember mittags 2 Uhr verließen die hohen Herrschaften Nürnberg unter den Versicherungen huldvollsten Dankes für die
Aufnahme, die sie dort gefunden, und dem Versprechen baldiger Wiederkehr, «in Versprechen, das dort und anderswo nie mehr eingelöst werden sollte.
Reiche Geldspenden waren in allen vom Könige berührten Städten für die Armen und Kranken an die Bürgermeister ausgehändigt worden. Mit
dem gleichen festlichen Gepräge,
mit dem die Königsreise ihren Anfang ge-
uommen hatte, ging sie auch ihrem Ende zu. Auch auf dem Rückwege wurde der König an allen Stationen, namentlich in Augsburg, freudig begrüßt, in München selbst jubelnd empfangen. Und gleicher Empfang wurde ihm am Abende auch im Theater, das er noch besuchte.
Dies war die einzige Königsreise,
die König Ludwig in seinem Lande
unternommen. Mochte er vielleicht auch in späteren Jahren noch ähnliche Entschlüsse gefaßt haben, zur Ausführung sind sie nicht mehr gekommen.
112. Prinz Karl von Bayern (f 16. August 1875). Don Karl Stieler. *)
Die Zeit des Todes ist nicht der Augenblick um den historischen Inhalt eines Lebens zu erschöpfen, vor allem, wenn ein Leben über Generattonen
hinwegreicht. Aber es ist die Stunde, wo wir vielleicht am meisten das Bedürfnis fühlen die menschliche Gestalt, die ganze Persönlichkeit noch einmal voll zu *) „Aus Fremde und Heimat", S. 229 ff.
Stuttgart 1886, A. Bonz.
112. Prinz Karl von Bayern.
538
erfassen und in diesem Sinne sind die folgenden Zeilen geschrieben.
Worten
kurzen
darzustellen,
möchten
wie
engen Grenzen
es
mag
wir
der
es
das Bild
versuchen
eigene Anblick
die Schilderung
in
uns
eines edlen
zurückgelassen.
Mit
Mannes
Auch in
ein gewisses historisches Gepräge ge
winnen, denn er selbst, seine ganze Persönlichkeit, war
eine historische Er
scheinung. l)
Prinz Karl war der Inbegriff einer vergangenen Epoche, deren Ver ständnis dem lebenden Geschlecht zum Teil verloren ging, aber es waren nicht
die Schatten,
sondern die schönen, die liebenswürdigen Eigenschaften dieser
Epoche, die er vertrat. Der Grundzug seines Wesens läßt sich in einem Worte zusammenfasseu
— er war ein Fürst im vollendetsten Sinne.
Dazu hatte ihn seine Geburt
bestimmt und sein ganzes Streben war: der Würde seines Namens auch die Würde der Persönlichkeit hinzuzufügen.
Schon die Natur kam ihm dabei zu
Hilfe, indem sie ihm jene Art von vornehmer Schönheit gab, die sich in jeder Hülle und in allen äußeren Situationen gleichbleibt.
Eine dichte, fast unbändige
Lockenfülle wuchs ihm in die gewölbte Stirn, tiefblaue Augen blickten aus den feinen, vornehm weichen Zügen, etwas Elastisches lag in seiner ganzen
Gestalt. So war er damals, als er 1814 den König Max I. zum Wiener Kon,
greß
begleitete,
wo man ihm bald den Namen gab:
>le beau prince de
') „Er war der zweite Sohn deS Herzog- von Pfalz-Zweibrücken, Maximilian
Josephs, des späteren Kurfürsten von Pfalz-Bayern und ersten Königs. Geboren am 7. Juli
1795 zu Mannheim wurde er für die militärische Laufbahn bestimmt und dieser Bestim
mung gemäß erzogen.
1813 und 14 nahm er alS Generalmajor an Wredes Seite fast
an allen Schlachten des Befreiungskrieges teil, in welchen das bayerische Korps in Aktion trat.
In der Schlacht bei Brienne, deren glücklichen Ausgang die Verbündeten haupt
sächlich Wredes Eingreifen zu danken hatten, focht Prinz Karl in den vordersten Reihen; rühmlich war auch feine Mitwirkung in der Schlacht bei Arcis (20. März 1814).
Nicht
höfischer Courtoisie, sondern allseitig anerkanntem Verdienst verdankt er die Ritterkreuze der militärischen Orden Bayerns, Österreichs und Rußlands, Auszeichnungen, welche
statutengemäß nur aus dem Schlachtfelde erworben werden können. — Nach dem Tode Wredes trat er an die Spitze der bayerischen Armee. Am 16. Januar 1841 wurde er
von seinem königlichen Bruder zum Feldmarschall und Generalinspekteur der Armee ernannt. 1860 wurde ihm der Oberfehl über das VH. deutsche BundeSarmeekorpS übertragen,
im Kriege des JahreS 1866 erhielt er das Kommando über die bayerischen und die übrige» süddeutschen Bundeskonttngente, das VII. und VIII. Korps. Der Plan Prinz KarlS mit
den beiden Korps vereint zu operieren wurde durch die alsbaldige Kapitulation der Hannoveraner und durch die Niederlage der Österreicher auf dem böhmischen Kriegs schauplatz vereitelt. — Nach den unglücklichen, aber nicht unehrenhaften Gefechten bei Kissingen und Hammelburg, später noch bei Würzburg,
kam eS zum Waffen
stillstand und am 22. August zum Frieden zwischen Bayern und Preußen.
Sofort
nach dem Friedensschluß legte Prinz Karl alle militärischen Würden nieder und zog fich vom öffentlichen Leben ganz zurück." C. Theodor von Heigel, Allgem. deutsche-
Biogr. XV.
258.
112. Prinz Karl von Bayern.
539
Bavifcre«; so steht sein Bild in der Erinnerung derer, die ihn zu Beginn der zwanziger Jahre in Kreuth gesehen, wenn er neben dem Stuhle seines Vaters Die übrigen Kinder
stand und dieser sachte den Arm um seine Hüfte legte.
des Königs machten sich eben zu einem Ausflug auf den Weg.
du mitgehen, Karl?"
fragte ihn der Vater in seiner milden Weise.
mitgehen willst,
du nicht recht gern Freudenstrahl
flog
„Möchtest
es
über
dann
bleib
das Antlitz des
mir!“
bei
guten
Max,
„Wenn
Und wie ein
wenn
sich
der
Sohn dann plaudernd bei ihm niederließ, er war ja vor allen anderen sein Liebling. Bis in die spätesten Jahre blieb ihm diese vornehme Schönheit eigen, aber sie war nur die äußere Erscheinungsform jenes fürstlichen Zuges,
der
durch sein ganzes Wesen ging. Noch unendlich entschiedener und prägnanter trat dieser Zug in seinen geistigen Eigenschaften, in seinem Charakter, in seiner Lebensgewohnheit hervor. All sein Denken und Fühlen war getragen vom Selbstbewußtsein seiner Würde,
aber nicht nur der Rechte, sondern vielleicht noch mehr der Pflichten, die ihm diese Würde gab, war er sich bewußt.
Er war vielleicht der reinste Typus jener echten Aristokratie, die immer mehr in unserer Zeit verschwindet;
er war die
lauterste Verkörperung der
historischen Idee: noblesse oblige. Selbst in den kleinsten Beziehungen des täglichen Lebens betätigte sich dieser Zug; nicht nur im Sinne des Kavaliers, sondern im höchsten und besten
Sinne des Wortes war er ein „ritterlicher Charakter“.
Auch denen gegen
über, die unter ihm standen, hat er niemals diese Noblesse vergessen, und wenn er die volle Ehrerbietung in Anspruch nahm, die seiner Stellung gebührte, so
erwiderte er sie seinerseits durch jene feinfühlige und rücksichtsvolle Art, in der
sich die Achtung vor den Menschen kundgibt.
Kein geringschätziges Wort kam
über seine Lippen, gegen hoch und niedrig wahrte er die gleiche
Delikatesse
und selbst der gemeine Mann fühlte die innere Vornehmheit heraus, die in diesem Benehmen lag
Seine Pünktlichkeit ist beinahe sprichwörtlich beruhte auf seiner rücksichtsvollen Natur, eine innere Gewohnheit.
Ansage gelautet,
wenn
Diener voraus
als seine
um den unfreiwilligen
mehr als einmal entschuldigte er sich nach Wochen,
er Personen nicht erkannt
begrüßt als sonst.
aber auch sie
Wenn er nur zehn Minuten später kam,
so sandte er einen
Aufschub zu melden und
geworden,
sie war ihm keine äußere, sondern
und sie deshalb vielleicht weniger herzlich
Einen Nachbar hatte er mündlich beruhigt, daß er ihm
nicht die Aussicht durch Erhöhung einer gegenüberliegenden Scheuer verbaue»
werde, war,
und als nach 30 Jahren der Neubau jener Scheune wirklich nötig da konnten die dringendsten Gründe der Zweckmäßigkeit ihn nicht be
wegen das Dach auch nur um einen Zoll zu erhöhen.
ich es versprochen,
„Der Mann,
dem
ist zwar seit 15 Jahren tot und die ©einigen wissen viel-
112. Prinz Karl von Bayern.
540
leicht nicht einmal darum, aber dennoch bin ich es seinen Kindern schuldig
mein Wort zu halten."
Es sind dies kleine alltägliche Züge, allein sie sind vielleicht bezeichnender für seine Denkart als seitenlange Reflexionen; sie zeigen uns am klarsten jene
Rechtlichkeit und jenes menschenfreundliche Wohlwollen, das Prinz Karl selbst dann noch festhielt, als er sich längst von den Menschen zurückgezogen.
jenigen aber, denen es
Die
vergönnt war ihm näher zu treten, wurden Zeugen
einer Liebenswürdigkeit, die etwas Herzgewinnendes hatte: niemals vergaß er der Dienste, die man ihm, wenn auch pflichtgemäß, erwiesen;
niemals war
seine Sympathie, wenn man sie je erworben, dem Wechsel der Stimmungen oder der Jahre preisgegeben.
Auch
hierin,
auf dem Gebiete des
edelsten
Empfindens, war er konservativ, Pietät war ihm ein Lebensnerv; er übte das alte Ritterwort „Treue um Treue bietend." Es liegt nahe,
daß ein Fürst,
der seine persönlichen Beziehungen mit
diesem Vollgefühle erhöhter Pflichten mißt, auch im Bereiche materieller Ver
bindlichkeiten die
volle Hand
betätigt;
untrennbar von
Freigebigkeit ist ja
wahrer Vornehmheit. In dieser Hinsicht aber war Prinz Karl beinahe einzig, seine Generosität
war ohne Grenzen und sein Wohltun ist zum Segen für Tausende geworden. Einfach und
bedürfnislos für sich selbst,
machte er sofort den höchsten An
spruch,
sobald es galt zu repräsentieren; die Fülle und Pracht, die sich bei
solchen
Gelegenheiten
Stellung schuldig.
entfaltete,
war er seinen Gästen und
Sie schien ihm nicht
seiner
eigenen
minder eine Pflicht als seine Mild
tätigkeit gegen die Armen. Was er diesen geleistet hat, beziffert sich auf Millionen fund Millionen betragen die Summen, die noch nach seinem Tode diesem edlen Zwecke dienen), in allen Nöten war Prinz Karl die erste und letzte Hilfe.
Freilich konnte es
dabei nicht fehlen, daß auch so mancher Mißbrauch mitunterlief; es gab wohl
Leute, die sich nicht scheuten ein Reitpferd für ihren Sohn und einen Logen platz für ihre Tochter zu erbitten (rote er es selbst versicherte), großmütig genug
nie
seine
Hand
dem
doch er war
wirklichen Bedürfnis zu
entziehen,
weil manch erheucheltes Bedürfnis seine Hilfe in Anspruch nahm.
Auch im
Gebrauche seiner Güter galt ihm die Norm »noblesse oblige«
und man
sühlte wohl den Gegensatz, in dem dieser historische Reichtum zum modernen
Reichsein stand.
Alles, was ihn umgab, sein Hofhalt, seine Dienerschaft, der
ganze äußere Apparat seines Lebens war nach diesem Sttle bemessen; es hätte wohl der zehnte Teil für sein eigenes Bedürfnis genügt, aber sein Grundsatz
war:
Ich brauche die Leute fteilich nicht, allein sie brauchen mich.
So blieb das Bewußtsein fürstlicher Pflicht und Würde gleichsam der Brennpunkt seines ganzen Wesens, in dem sich all seine Neigungen, all seine Vorzüge und kleinen Schwächen konzentrierten; denn welcher Sterbliche ist
112. Prinz Karl von Bayern.
541
ganz von solchen frei? Das Fürstentum war der Standpunkt, von dem aus er
die Welt und ihre Ereignisse betrachtete; die Natur selbst hatte ihn auf diesen Standpunkt gestellt und er maß sich vielleicht nicht einmal das Recht bei ihn zu verlassen. Wer so mit dem höchstgespannten Pflichtgefühle seine Stellung auffaßt
und ihr gerecht zu werden strebt, den muß es freilich erschütternd berühren,
wenn seiner redlichsten Bemühung der äußere Erfolg versagt ist. Und dies war im Jahre 1866 der Fall, es war der Wendepunkt in seinem äußeren und inneren Leben — eine andere Zeit hatte begonnen.
Kurz nach dem Friedensschlüsse vom 22. August, bevor die bayerischen Truppen auseinandergingen, war noch eine große Revue bei Ingolstadt. In Strömen goß der Regen auf die Tausende herab, die da versammelt waren;
wir standen regungslos in Reih und Glied, hier sah ich den Prinzen Karl zum letztenmal in Uniform. Blaß und gebückt ritt er im Schritt die Front entlang; es lag eine Müdigkeit in seinen Zügen, die nicht den Körper allein berührte. Ohne es zu ahnen war er Zeuge geworden, wie jener morsche Bau zusammenbrach, bei dessen prunkvoller Gründung er einst vor 50 Jahren in Wien zugegen war: nun stand er einer neuen Ära nnd einer fremden Welt
gegenüber. Es ist bekannt, daß er alsbald seine sämtlichen Würden und Ämter
niederlegte und völlig aus dem politischen Leben schied, aber wenige wissen,
wie er innerlich dabei gekämpft und gelitten.
Im alten Schlosse zu Tegernsee,
wo ihm einst das Glück der Jugend erblühte, suchte er nunmehr ganz seine Heimat; dort lebte er im Kreise liebenswürdiger Töchter und Enkel; doch wenn der Winter kam, dann sandte er auch sie nach Hause und blieb allein mit
seinen Gedanken und Erinnerungen. Es ist wahr, er lebte in der Vergangenheit und ging dem Lärme der Menschen fast scheu aus dem Wege, aber dennoch wäre es verfehlt deshalb zu glauben, daß er den Menschen gram geworden sei.
Im Gegenteil, mehr
als man es ahnt, waren die Tage dieser Einsamkeit von einem vertieften Innenleben erfüllt und mit wachem Blicke folgte er den Fragen der Gegen
wart, wenn er auch nicht mehr tätig in dieselben eingriff. Wie oft und schmerzlich beklagte er den jetzigen Mangel an Heimatssinn, wenn er sah, wie
die Leute ihre prächtigen Höfe, die jahrhundertelang im Besitze der Familie waren, um schnödes Geld verhandelten; der Schutz der Wälder war ihm eine stete Sorge; und als die Truppen im Jahre 1871 siegreich nach Hause kehrten,
nahm er an dieser Stunde tiefer teil, als wohl die meisten wissen. „Sie alle, alle fanden noch Gelegenheit und Kraft sich wieder hervorzutun und die herben Erinnerungen von .damals' zu tilgen — nur ich, nur ich . . ." So sprach er mit zögernder Stimme und feuchten Augen; er machte kein Hehl daraus, wie er sich damals gewünscht, daß eine Kugel ihn getroffen hätte. Seitdem ging^em Zug von Wehmut durch sein Wesen, eine Seelenstimmnng,
542
113. Der Deutsch-Französisch« Krieg 1870/71.
für welche die Gegenwart nur schwer ein Verständnis hat, und dies war eS vielleicht, was ihn vom Lärme der Welt und von den Menschen am meisten
trennte.
Allein trotz alledem gehörte er der Gegenwart doch weit mehr an,
als er es selbst wußte, denn der Grundgedanke unserer Zeit, der unter allem Lärm und all der treibenden Hast pulsiert, ist doch die große, echte
Humanität und sie war auch der Grundgedanke seines Lebens.
Sie war
es, die ihm den Dank und die Liebe von Tausenden erwarb und die chm
selbst die Verehrung derer sicherte, die er nicht für seine Freunde hielt. Davon gab noch die Feier seines achtzigsten Geburtstages ein lebendiges Zeugnis und mit inniger Rührung nahm er all die zahllosen Beweise stemder
Liebe hin.
Es war zum letztenmal, daß er diesen Tag begehen sollte, nur wenige Wochen später — dann war es still und öde im Schlosse zu Tegernsee und einem Toten widmem wir dies letzte Wort.
Wir glauben, es ist im Sinne
vieler Tausende gesprochen und vom Segen vieler Tausende begleitet, denn
wohl niemand, der je mit ihm in Berührung kam, wird ohne edle Regung seiner gedenken und selbst der letzte Wille, den er hinterließ, gibt noch ein Zeugnis seltener Großmut und Menschenliebe. Das ist die Tat eines Fürsten! Fürwahr,
wir sind mit voller Seele die Kinder unserer mächtigen Gegen
wart, aber wir würden es nur begrüßen, wenn auch die Gegenwart jene
Eigenschaften reger pflegen möchte, deren edelster Vertreter Prinz Karl von
Bayern war.
113. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Einleitung. Don Graf Helmut v. fljloltitc.l)
Es sind vergangene Zeiten, als für dynastische Zwecke kleine Heere von
Berufssoldaten ins Feld zogen um eine Stadt, einen Landstrich zu erobern, dann in die Winterquartiere rückten oder Frieden schlossen. Die Kriege der Gegenwart rufen die ganzen Völker zu den Waffen, kaum eine Familie, welche nicht in Mitleidenschaft gezogen würde.
Die volle
Finanzkraft des Staates wird in Anspruch genommen und kein Jahreswechsel setzt dem rastlosen Handeln ein Ziel. Solange die Nationen ein gesondertes Dasein führen, wird es Streitig keiten geben, welche nur mit den Waffen geschlichtet werden können, aber im
Interesse der Menschheit ist zu hoffen, daß die Kriege seltener werden, wie sie furchtbarer geworden sind. ') „Geschichte deS Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71". E S. Mittler & Sohn.
Berlin 1895,
114. Hurra, Germania l
543
Überhaupt ist es nicht mehr der Ehrgeiz der Fürsten, es sind die
Stimmungen der Völker, das Unbehagen über innere Zustände, das Treiben der Parteien, besonders ihrer Wortführer, welche den Frieden gefährden.
Leichter wird der folgenschwere Entschluß zum Kriege von einer Versammlung
gefaßt, in welcher niemand die volle Verantwortung trägt, als von einem einzelnen, wie hoch er auch gestellt sein möge, und öfter wird man ein fried liebendes Staatsoberhaupt finden als eine Volksvertretung von Weisen!
Die
großen Kämpfe der neueren Zeit sind gegen Wunsch und Willen der Regierenden entbrannt. Die Börse hat in unseren Tagen einen Einfluß gewonnen, welcher die bewaffnete Macht für ihre Interessen ins Feld zu rufen vermag. Mexiko und Ägypten sind von europäischen Heeren heimgesucht worden um die Forderungen der hohen Finanz zu liquidieren. Weniger kommt es heutzutage darauf an, ob ein Staat die Mittel besitzt Krieg zu führen, als darauf, ob
seine Leitung stark genug ist ihn zu verhindern.
So hat das geeinigte Deutsch
land seine Macht bisher nur dazu gebraucht den Frieden in Europa zu wahren; eine schwache Regierung beim Nachbar aber ist die größte Kriegsgefahr.
Aus solchen Verhältnissen ist auch der Krieg von 1870—1871 hervor gegangen.
Ein Napoleon auf dem Throne von Frankreich hatte seinen An
spruch durch politische und militärische Erfolge zu rechtfertigen. Nur eine Zeitlang befriedigten die Siege der französischen Waffen auf fernen Kriegs schauplätzen, die Erfolge des preußischen Heeres erregten Eifersucht, sie er
schienen als Anmaßung,
als Herausforderung und man verlangte Rache für
Sadowa. — Die liberale Strömung des Zeitalters lehnte sich auf gegen die Alleinherrschaft des Kaisers, er mußte Bewilligungen zugestehen, seine Macht
stellung im Innern war geschwächt und eines Tages erfuhr die Nation aus
dem Munde ihrer Vertreter, daß sie den Krieg mit Deutschland wolle!
114. Hurra. Germania! (25. Juli 1870.) Don Ferdinand Freiligrath.')
Hurra, du stolzes, schönes Weib, Hurra, Germania! Wie kühn mit vorgebeugtem Leib Am Rheine stehst du dal 3m vollen Brand der Juliglut, Wie ziehst du risch dein Schwerti Wie trittst du zornig-frohgemut Ium Schutz vor deinen Herd! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Du dachtest nicht an Kampf und Streit; In Fried' und Freud' und Ruh' Auf deinen Feldern, weit und breit, Die Ernte schnittest du. Bei Sichelklang im Ährenkranz
Die Garben fuhrst du ein: Da plötzlich, horch, ein andrer Tanz! Das Kriegshorn überm Rhein! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
*) Gesammelte Dichtungen, H. Band, S. 298.
Stuttgart 1871.
544
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse; FeldzugSplan, Aufmarsch.
Da fuhrst du auf in Hellem Zorn, Ties atmend auf im Nu; Schlugst jauchzend in die Hände dann: Willst du's, so mag es sein! Auf, meine Kinder, alle Mann! Zum Rhein, zum Rhein, zum Rhein! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Mag kommen nun, was kommen mag. Fest steht Germania! Dies ist All-Deutschlands Ehrentag; Nun weh dir, Gallia! Weh, daß ein Räuber dir das Schwert Frech in die Hand gedrückt! Fluch ihm! Und nun für Heim und Herd Das deutsche Schwert gezückt! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Da rauscht das Haff, da rauscht der Belt, Da rauscht das Deutsche Meer, Da rückt die Oder dreist ins Feld, Die Elbe greift zur Wehr. Neckar und Weser stürmen an, Sogar die Flut des Mains; Dergeffen ist der alte Span: Das deutsche Volk ist eins! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Für Heim und Herd, für Weib und Kind, Für jedes teure Gut, Dem wir bestellt zu Hütern sind Dor ftemdem Frevelmut; Für deutsches Recht, für deutsches Wort, Für deutsche Litt' und Art, Für jeden heil'gen deutschen Hort, Hurra, zur Kriegesfahrt! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Schwaben und Preußen Hand in Hand! Der Nord, der Süd ein Heer! Was ist des Deutschen Vaterland? Wir ftagen's heut' nicht mehr. Ein Geist, ein Arm, ein einz'gerLeib, Ein Wille sind wir heut'! Hurra, Germania, stolzes Weib! Hurra, du große Zeit! Hurra, Hurra, Hurra! Hurra, Germania!
Auf, Deutschland, auf und Gott mit dir! Ins Feld! Der Würfel klirrt! Wohl schnürt's die Brust uns, denken wir Des Bluts, das fließen wird; Dennoch das Auge kühn empor! Denn siegen wirst du ja! Groß, herrlich, frei wie nie zuvor! Hurra, Germania! Hurra, Viktoria! Hurra, Germania!
Da warfst die Sichel du ins Korn, Den Ährenkranz dazu,
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, Feldzugsplan, Aufmarsch. Don M. Moser.')
Bei gespannter europäischer Lage, aber dem Zeitpuntte nach doch völlig überraschend
führte Frankeich im Juli 1870 den seit Sadowa beschlossenen
Bruch mit Preußen herbei.
Nationale Eitelkeit und Eroberungssucht
sowie
dynastisches Interesse vereinigten sich in dem Wunsche den um seinen Waffen
ruhm beneideten Nebenbuhler zu demütigen, das Erstehen eines Frankeichs
Vorherrschaft in Europa gefährdenden, einheitlichen deutschen Staates zu ver*) Kurzer strategischer Überblick über den Krieg 1870/71. Berlin 1900, E. S. Mittler
& Sohn.
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, Feldzugsplan, Aufmarsch.
545
hindern und gleichzeitig die niemals aufgegebene Hoffnung auf den Erwerb
des linken Rheinufers zu verwirklichen.
Mit verdächtiger Eile und Leiden
schaft ergriff die ftanzösische Regierung die Anfang Juli austauchende Frage
der Hohenzollernschen Thronfolge in Spanien zu dem Versuche diplomatischer Brüskierung des Königs Wilhelm und leitete aus dessen gebührender Abferti
gung den Kriegsvorwand ab; schon am 15. Juli erging auf französischer, am
16. Juli auf deutscher Seite der Befehl zur Einberufung der Reserven, welchem am 19. Juli die förmliche Kriegserklärung Frankreichs folgte. So blieb denn zu Kriegsvorbereitungen in letzter Stunde auf beiden Seiten keine Zeit mehr.
Alle Mängel und alle Vorzüge der militärischen Organisation mußten daher
bei dem ersten Akte des gewaltigen Kampfes, der Mobilmachung und dem strategischen Aufmarsch, als das Ergebnis der von beiden Kriegführenden zu erwartenden äußersten Krastanstrengung voll in die Erscheinung treten.
In Frankreich hielt und erklärte man die Armee für archipr6te; in Wahrheit aber krankte sie an schweren inneren und äußeren Gebrechen. Die kaiserliche Armee von 1870 befand sich inmitten einer von Marschall Mel im Jahre 1868 begonnenen Reorganisation; bei vielen Vorzügen hatte sie doch den entscheidenden Schritt vom Werbeheere zum Heere der allgemeinen Wehrpflicht nicht getan.
Die ungleichartige Zusammensetzung des Mannschafts
standes aus jungen Ausgehobenen und altgedienten Stellvertretern, des Offi zierkorps aus der Front entstammenden Troupiers und aus Zöglingen der Offizierschulen, die von jenen durch Herkunft und Erziehung geschieden und in der Beförderung übermäßig bevorzugt wurden; ferner Mißvergnügen in dem materiell unbefriedigend gestellten Unteroffizierkorps; offenkundiges Günst lingswesen und bis in die Armee getragener Parteigeist, schließlich die Kämpfe
auf den außereuropäischen Kriegsschauplätzen hatten zusammengewirkt um die
Disziplin in bedenklicher Weise zu lockern, den Geist der Kameradschaft und der Treue zu untergraben und an deren Stelle vielfach Egoismus und per sönlichen Ehrgeiz zu setzen. Der Armee und ihren Führern fehlte, trotz der fast ununterbrochenen Kämpfe der letzten 20 Jahre in allen Weltteilen, die Schulung für den großen Krieg; leicht erworbene Lorbeeren hatten vielmehr, neben einem übermäßigen Vertrauen in die Allmacht der Routine, ein Gefühl der Selbstüberhebung hervorgerufen, welches um so gefährlicher war, als damit Unkenntnis der Organisation und der Leistungen der Nachbararmeen sowie der Gesetze der modernen Kriegführung Hand in Hand ging.
Aber auch taktisch
und technisch befand sich die Armee nicht überall auf richtiger Bahn; ins besondere hatte man, verführt durch die Güte des Chassepotgewehres, die
Infanterie durch scharfe Betonung der Vorzüge der Defensive auf eine der stanzösischen Tradition wie dem stanzösischen Naturell gleichmäßig wider sprechende Kampfweise hingeleitet, auch war die Kavallerie für ihre wichtigen Aufgaben ungenügend vorbereitet, die Artillerie mit wenig wirksamem Geschütz
material bewaffnet. Kron-eder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-.
35
546
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, FeldzugSplan, Aufmarsch.
Ließ so die Qualität der Armee viel zu wünschen übrig, so war ander
seits auch ihre numerische Stärke der Bevölkerungszahl und Machtstellung deS Landes nicht entsprechend. Die Armee bestand aus der aktiven Armee, bereit schwachen Reserven und aus der Mobilgarde (garde nationale mobile). Da aber die letztere militärisch nicht ausgebildet war, Ausrüstung und Bekleidung
völlig fehlten, so kann sie nicht zu den sofort mobilisierbaren Streitkräften
Frankreichs gerechnet werden. Nach Abzug der zur Bildung eines Beobachtungs korps gegen Spanien, zur Besetzthaltung Algiers und Roms sowie als Be satzung-- und Ersatztruppen im Innern Frankreichs erforderlichen Kräfte ergibt
sich als Gesamtleistung Frankreichs an sogleich nach außen verfügbaren Feld
truppen die überraschend geringe Zahl von 300000 Mann. Eine nennens werte Reservearmee ist bei Ausbruch des Krieges weder vorhanden noch kann sie in den ersten Wochen ins Leben gerufen werden. Aber selbst diese schwache Armee war zum schnellen Übergang auf den
Kriegsfuß keineswegs bereit.
Die getrennte Unterbringung der Regimenter
und ihrer Depots, die Anhäufung der notwendigsten Feldausrüstungsgegen stände an wenigen Orten, weiterhin eine übertriebene Zentralisation des Kom mandos und der Verwaltung in dem Kriegsministerium, welche der selbst tätigen Mitwirkung der Unterführer keinen Spielraum ließ, mußten den Gang
der Mobilmachung in hohem Grade erschweren;
vor allem aber war die
gründliche Vorbereitung der Mobilmachungsgeschäfte und des Massentransportes durchaus versäumt, vielmehr alles der Selbsthilfe der Truppen wie des Per sonals der Eisenbahnen überlassen.
Im lebendigen Gegensatze dazu war in Preußen und in den mit ihm durch geheime Bündnisverträge verbundenen süddeutschen Staaten seit dem Jahre 1866 in erfolgreichem Wetteifer danach gestrebt worden die Armee zahlreich, kriegstüchtig und kriegsfertig zu machen. Aufgebaut auf dem Grundsätze der allgemeinen Wehrpflicht umfaßte sie alle Kreise der Bevölkerung; ein pflichttreues, vortrefflich geschultes Unteroffizierkorps und ein durchaus gleichartiges Offizierkorps von hoher allgemeiner und militärischer Bildung,
von kameradschaftlicher Gesinnung und charakterfester Selbständigkeit hatten die Armee mit dem Geiste wahrer Manneszucht, lebendiger Treue und Vater
landsliebe zu erfüllen gewußt. In gemeinsamer, hingebender Arbeit der Kriegs
ministerien und des Generalstabs waren die reichen Erfahrungen der Feldzüge von 1864 und 1866 zu Verbesserungen auf allen Gebieten des Heerwesens verwertet worden; die Taktik der drei Waffen, insbesondere der Kavallerie und der Artillerie, war den Anforderungen des großen Krieges angepaßt, die
letztere durchweg mit gezogenen Hinterladern bewaffnet, die ganze Armee aber
in dem Geiste energischer Offensive erzogen worden.
In der Verwaltung
herrschten mustergültige Ordnung und planvolle Dezentralisation; das Verpflegungs-, Etappen- und Lazarettwesen waren auf großer Grundlage neu geregelt. Namentlich aber war die schnelle Überführung des Heeres auf den
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, Feldzugsplan, Aufmarsch.
547
Kriegsfuß und sein Transport an die Grenze in bis dahin unerreichter Voll
endung vorbereitet. Von größter Bedeutung für den ganzen Verlauf des Krieges mußte außerdem das Vorhandensein einer starken Reservearmee sein,
Schule des aktiven Heeres durchlaufen Ausrüstung und Belleidung
welche die
hatte und für welche Bewaffnung,
vollzählig bereit lagen.
Im ganzen verfügte
Deutschland für den bevorstehenden Kampf an Kombattanten über eine Feld armee von 520000 Mann und eine Armee zweiter Linie von 364000 Mann Besatzungs- und Ersatztruppen. War demnach die deutsche Armee der fran zösischen an Zahl, gleichmäßiger Güte und Kriegsbereitschaft weitaus über
legen, so gaben ihr anderseits ein von Selbstüberhebung freies, aber sicheres Gefühl der eigenen Kraft, ein festes Vertrauen in die obere Führung und das in allen deutschen Stämmen mit elementarer Gewalt er wachte Gefühl der Zusammengehörigkeit in dem Kampfe für Deutsch lands Einheit und Selbständigkeit auch ein hohes moralisches Übergewicht. Wenn man französischerseits Geist und innere Stärke des deutschen Heeres durchaus verkannte, so hatte man doch von der numerischen Über
Des halb faßte der französische Feldzugsplan in erster Linie eine Trennung beider
legenheit der vereinigten nord- und süddeutschen Streitkräfte Kenntnis.
ins Auge. Man nahm an, daß die preußische Armee in defensiver Absicht hinter
ihrer starken Rheinfront aufmarschieren werde, währenddem sich die süddeutschen Streitkräfte zur Verteidigung des Schwarzwaldes versammelten.
Zwischen
beide hinein sollte die Masse der ftanzösischen Feldarmee — 250000 Mann — bei und unterhalb Straßburg den Rhein überschreitend sich als trennender
Keil einschieben und zunächst die süddeutschen Staaten, bei welchen man ftanzösische Sympathien voraussetzte, mit oder ohne Kampf zur Neutralität be wegen. Dann erst sollte die preußische Armee ausgesucht und bekämpft
werden. Von dem ersten Waffenerfolge, an dem man nicht zweifelte, erhoffte man den Anschluß Österreichs, Italiens und vielleicht auch Dänemarks zur
weiteren Niederwerfung Preußens.
Der großen Angriffsbewegung der fran
zösischen Hauptarmee über den Rhein hatte ein bei Chälons für Marne zu
versammelndes Reservekorps von 50000 Mann durch Vormarsch
auf Metz
Flanke und Rücken zu decken; gleichzeitig sollte die stanzösische Schlachtflotte mit einem starken Landungskorps die Osffeeküste anlaufen um dort durch ihr
Erscheinen einen Teil der preußischen Streitkräfte festzuhalten. Schnelle Versammlung
der schlagfertigen Armee im Unterelsaß wäre
erste Vorbedingung dieses weitausschauenden, aber auf politisch und strategisch unsicheren Grundlagen aufgebauten Kriegsplanes gewesen. Allein die Gestaltung
des ftanzösischen Eisenbahnnetzes war für den beabsichtigten Aufmarsch keines wegs günstig; nur 100000 Mann konnten im . Elsaß ausgeschifft werden, 150000 Mann mußten bei Metz ausladen und waren von dort, in der Haupt85*
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, FrldzugSplan, Aufmarsch.
548
fache mit Fußmarsch, über die Vogesen nach der Gegend von Straßburg heranzuziehen.
Um trotzdem den Aufmarsch zu beschleunigen, griff man zu
einem ebenso gefährlichen wie trügerischen Mittel: man befahl den Transport
der Armee in immobilem Zustande an die Grenze.
Bon den acht Armee
korps, in welche nunmehr erst die französische Feldarmee eingeteilt wurde, sollten vier — das 2., 3., 4. und Gardekorps — vorwärts Metz zwischen
Mosel und Saar, zwei — das 1. und 7. — im Elsaß bei Straßburg und
bei Belfort sich zur Vollendung ihrer Mobilmachung versammeln; als Ver
bindungsglied zwischen beiden Gruppen wurde das 5. Korps nach der Gegend
von Bitsch gewiesen, während das 6. bei Chälons für Marne die Reserve der Armee zu bilden hatte.
Die ganze Armee, Rheinarmee genannt, unterstand zu den
dem Oberbefehl des Kaisers Napoleon. Ende Juli hoffte man Operationen, d. h. zu dem Rechtsabmarsch, schreiten zu können.
Aber diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Zwar erreichten die immobilen Korps im allgemeinen die ihnen angewiesenen Aufmarschpunkte, aber der Eisen bahnbetrieb erlitt schnell schwere Stockungen, die Reservisten trafen verspätet, unvollzählig und mangelhaft ausgerüstet bei den Korps ein, die Aufstellung der Stäbe für die erst zu schaffenden höheren Kommandostellen, ihre Ver
sorgung mit Trains, Lazaretten und Verwaltungspersonal kam nicht zum Ab
schluß.
Da die Anlage von Magazinen im Aufmarschgebiet versäumt war,
so trat sogleich empfindlicher Verpflegungsmangel ein; ein Zurückgreifen auf die Bestände der Grenzfestungen erwies sich als unausführbar, da diese sich selbst bezüglich der Verproviantierung wie auch der Armierung im übelsten Zustande befanden. Am 31. Juli steht die französische Armee, in vorderer Linie an der deutschen Grenze kaum 200000 Mann stark, ungegliedert und innerlich unfertig, im ganzen auf einer Strecke von 35 Meilen von Belfort bis Diedenhofen zerstreut.
Der überstürzte Aufmarsch ist mißglückt, der Feld
zugsplan in der ersten Ausführung gescheitert, die Initiative verloren. Die Armee, schon jetzt wankend in ihrem Vertrauen auf Sieg und Führung, bleibt an der Grenze stehen und nimmt Front gegen den Mittelrhein, an dem sich angeblich ein starkes feindliches Heer versammelt. Ein fianzösisches
Korps, das 2., ist seit dem 19. Juli zur Deckung des Aufmarsches und als Beobachtungskorps gegen die Saar bei Saarbrücken vorgeschoben. Demgegenüber hat sich auf deuffcher Seite eine gewaltige und ziel
bewußte Bewegung vollzogen und hat mit Sicherheit zu dem gewünschten Ergebnis geführt. Der deutsche Feldzugsplan gründete sich auf eine schon im Winter 1868/69
ausgearbeitete Denkschrift des Generals von Moltke. In diesem Meisterstück strategischer Weisheit, Klarheit und Voraussicht wird zunächst in überaus vor sichtiger Abwägung der Stärkeverhältnisse die numerische Überlegenheit der deutschen Armee nachgewiesen und daraus sogleich die Forderung energischer Offensive abgeleitet. Zu dem Zwecke sollen nach planmäßig beendigter
115. Kriegserklärung, Kräfteverhältnisse, Feldzugsplan, Aufmarsch.
549
Mobilmachung sämtliche Streitkräfte Deutschlands, in drei Armeegruppen ge gliedert, vorwärts des Rheins, etwa in der Linie Wittlich—Homburg—Landau,
versammelt werden.
Sogleich nach bewirktem Aufmarsch soll sodann die fran
zösische Hauptarmee aufgesucht,
mit überlegenen Kräften angegriffen und im
weiteren Verlaufe der Operationen sowohl von ihrer Verbindung mit dem reichen Süden Frankreichs als auch von derjenigen mit Paris abgedrängt
werden, dessen Eroberung von vornherein in Aussicht genommen
ist.
Schlagend wird nachgewiesen, daß die Bereinigung aller Streitkräfte in
der Pfalz wirksamer als jede andere Versammlung Süddeutschland und den Ober
rhein schütze, die feindliche Hauptmacht an die lothringische Grenze fessele und gleichzeitig das schnelle Ergreifen der Offensive mit vereinigten Kräften begünstige. Auf Grund dieses einfachen, auf den sichersten Voraussetzungen be ruhenden Feldzugsplancs kam der deutsche Aufmarsch zur Ausführung. Als schon am 23. Juli, acht Tage nach Einberufung der Reserven, die ersten Truppen ihre Mobilmachung beendigt hatten, war der immobile Aufmarsch der ftanzösischen Armee von den an der Grenze belassenen schwachen, aber
äußerst tätigen deutschen Fricdensgarnisonen von Trier, Saarlouis, Saar brücken und Landau erkannt. Dementsprechend vollzog sich in musterhafter Ordnung
und
Schnelligkeit
auf
neun
durchlaufenden
Eisenbahnlinien
der
Massentransport in das nach riickwärts durch die Linie Trier—Mainz—Karls
ruhe begrenzte Aufmarschgebiet, in welchem für alle Korps die Versammlungs gebiete abgegrenzt, die Marschlinien festgelegt und durch Anlage großer Magazine die Verpflegung sichergestellt war. Am 31. Juli steht die deutsche Armee in glücklicher Gruppierung und Gliederung, ein mächtiges Zentrum mit zwei vorgeschobenen Flanken, schon
jetzt an 300000 Mann stark, vor der fertig armierten Mittelrheinfront, stra tegische Avantgarden am Feinde, ebenso bereit zur Abwehr ivie zum demnächstigen Übergang zur Offensive.
13 deutsche Armee-Korps haben das Aufmarschgebiet erreicht und sind in 3 Armeen geteilt: diel, mit 60000 Mann unter dem General der Infanterie Steinmetz steht östlich Trier, die II. mit 190000 Mann vorwärts Mainz unter dem Prinzen Friedrich Karl von Preußen, die III. Armee mit 130000 Mann —
bestehend aus dem 5. und 11. preußischen, dem württembergisch-badischen und den beiden bayerischen Armee-Korps (von der Tann und Hartmann) — unter dem Oberbefehl des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen steht auf der Linie Landau-Karlsruhe. Während die I. und II. Armee gemeinsam die feindlichen Hauptkräfte an der Saar angreift und sie bei Spichern (6. August) zurückwirft, sucht die III. Armee die im Elsaß versammelten französischen Streitkräfte auf in der Absicht sie von der Verbindung mit ihrer Hauptarmee abzudrängen, was ihr durch das Gefecht bei Weißenburg (4. August) und durch den entscheidenden Sieg bei Wörth (6. August)
gelang.
550
116. Die ersten Siege.
116. Die ersten Siege. Don Georg Bleysteiner.')
Während in den Zeiten der Uneinigkeit Deutschlands die französischen
Armeen meist mit unfehlbarer Sicherheit den Vorstoß gegen die deutschen
Grenzen richten und das alte Ziel ihrer Eroberungsgelüste, die Pfalz, mit Truppen überziehen konnten, war es diesmal der deutschen III. (Süd-) Armee gelungen ihrerseits die Unternehmungen im Feindesland zu beginnen. Weißen burg, der Preis des ersten deutschen Sieges in diesem Kriege, war eine alte
deutsche Stadt, die im Jahre 1247 zu einer der zehn freien Reichsstädte des Elsasses erhoben, aber vom französischen König Ludwig XIV. im Jahre 1673 erobert wurde.
Im Jahre 1744 und 1793 wurde sie von den Deutschen zwar
zurückerobert, beidemale aber später von Frankreich wieder geraubt. Dieses legte stets den größten Wert auf den Besitz der „Weißenburger Linien", so daß, als der General Beauharnais, der Großvater Napoleons HI. (mütterlicherseits), sie 1793 gegen das deutsche Heer unter General Wurmser und dem Prinzen von Waldeck verlor, Beauharnais auf Befehl des stanzösischen Konvents aufs Schaffst geschleppt und hingerichtet wurde.
Nur infolge der Uneinigkeit der deutschen
Verbündeten war die französische Armee damals entkommen. Gottlob, daß jetzt die Deutschen einig waren und unter einem Oberbefehlshaber gegen den Enkel jenes Beauharnais kämpften! Der 4. August war der erste der glänzenden Siegestage,
welche die
deutsche Armee, nach Ergreifen der Offensive unaufhaltsam auf französischem Boden vorrückend, auf ihre Fahnen schrieb. Da an dem Erfolge dieses TageS Preußen, norddeutsche Bundestruppen und Bayern in gleich ruhmvoller Weise
beteiligt waren, so empfing am 4. August zugleich die neue Waffenbrüderschaft
der deutschen Stämme ihre erste Feuerprobe und Bluttaufe. Die amtliche Meldung des bayerischen Kriegsministeriums lautete: „Preußen und Bayern im Vormarsch, haben am 4. August die Lauter überschritten und Weißenburg
und den dahinter liegenden Geisberg erstürmt." Die Siegesbotschaft verbreitete sich noch am nämlichen Tage wie ein
Lauffeuer durch ganz Deutschland und wurde überall mit endloser Freude aus genommen.
Schon abends 11 Uhr lief an das Kriegsministerium in München
folgende Depesche vom äußersten Nordosten Preußens ein: „Marienburg. Die
treuen deutschen Brüder an der Ostsee ein donnerndes Hoch den tapferen bayerischen Waffenbrüdern!" In allen Redaktionsräumen wurden massenhaft
Extrablätter verlangt, welche die Nachricht augenblicklich über alle Teile des Landes und besonders auch an die noch durchziehenden Truppen gelangen ließen. Waren doch aller Augen und Herzen nach dem deutschen Rheine ge
richtet, erwartete man doch mit fiebernder Spannung die ersten Nachrichten
') „Aus großer Zeit", S. 108 ff.
Augsburg 1897, M. Rieger.
116. Die ersten Siege.
651
über den Gang der Ereignisse. Von diesem hing cs ab, ob es gelingen würde den Krieg
in Feindesland hinüberzutragen, oder ob er unsere eigenen Gaue überziehen sollte. Jetzt durchzuckte frohe Hoffnung ganz Deutschland. Im Süden begann jetzt insbesondere die Be sorgnis vor einem Einfalle der ftanzösischen Armee zu schwinden. Hatte schon die Nachricht von der Er
stürmung Weißenburgs ganz Deutschland mit
freudiger Zuversicht erfüllt, so sollte sich diese
zum hellsten Jubel steigern, als zwei Tage darauf die Kunde von der Hauptschlacht bei Wörth eintraf.
Hier hatte die III. Armee
mit dem Feinde einen zweiten Kampf be standen, noch heißer und blutiger, aber auch
noch glänzender und entscheidender in seinen Er gebnissen als der erste. Der berühmteste Feld herr in Frankreich, Marschall Mac Mahon, war aufs Haupt geschlagen und die unter ihm stehende Südarmee zersprengt worden;
was von dieser Armee, die ursprünglich zum
Einfalle in Süddeutschland bestimmt war und der man absichtlich die dunkelfarbigen, wilden Krieger und die Zuaven, den Abschaum der
Turko in voller Ausrüstung.
großen Städte, beigegeben hatte, nicht aufgerieben oder gefangen war, wälzte
sich in wilder Flucht teils auf Reichshofen teils in nordwestlicher Richtung aus Jägertal teils auch nach dem Süden zurück. Auch diese Siegesbotschaft kam von der Armee des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, der neben den Preußen
auch die Bayern, die Württemberger, die Badener, die Hessen und die Thüringer
angehörten.
So war in den beiden ersten Siegen der deutschen Waffen zu
gleich ein bedeutsames Wahrzeichen der nun vollzogenen Einigung aller deutschen
Stämme gegeben.
Es war eine gewaltige Schlacht, wie schon lange keine mehr auf französischem Boden geschlagen worden war. Nur eine Entfernung von wenigen Kilometern trennte die beiden Schlachtfelder von Weißenburg und Wörth und
doch welch bedeutsames Stück der Geschichte spielte sich auf diesem Boden abl Die Armee des Kronprinzen war am 5. August in die Linie der Selz
vorgerückt, rechts die beiden bayerischen Korps, in der Mitte das 5. und das 11. preußische Korps, auf dem linken Flügel die Württembergische und die badische Division, in der Reserve die Reiterdivision. Der Kronprinz setzte an diesem Tage seinen Marsch fort ohne auf ernstlichen Widerstand zu stoßen.
116. Die ersten Siege.
552
Die von ihm dirrchschrittenen Ortschaften waren von französischen Verwundeten
angefüllt.
Der tiefe Eindruck des Gefechtes bei Weißenburg war unverkennbar.
In der Nacht vom 5. bis 6. August biwakierten die einzelnen Korps bei Lem
bach und Jngelsheim, bei Preuschdorf und Sulz, bei Aschbach und Schönen burg. Jenseits der Sauer erblickte man in der Nacht zahlreiche feindliche Biwakfeuer; die französischen Vorposten standen auf den Höhen westlich von der Sauer, gegenüber von Wörth und Gunstett.
Für den 6. August hatte
der Kronprinz noch keine Angriffsbefehle ausgegeben, da es ursprünglich gar nicht in der Absicht lag, an diesem Tage eine Schlacht zu liefern. Nur eine
engere Vereinigung nach vorwärts war angeordnet worden. Da die Nach richten vom Feinde besagten, daß er auf den Höhen westlich von Wörth mit dem Gesicht nach Osten stehe, mußte die gegen Süden aufmarschierte Armee des Kronprinzen eine Schwenkung nach rechts machen und es mußten hierbei
der rechte Flügel und die Mitte früher an den Feind gelangen als der ent fernter stehende linke Flügel. Mit Tagesanbruch jedoch, während diejenigen Korps, die ihre Stellungen zu verändern hatten, soeben ihre Bewegungen be gannen, entspannen sich bei den beiderseitigen Vorposten der Sauer entlang kleine Scharmützel. Um 6 Uhr früh sandte das 5. preußische Artillericregiment
dem Feinde den Morgengruß hinüber, der sofort antwortete, zunächst ohne großen Schaden zu tun, da die französischen Granaten fast sämtlich hier in dem durch anhaltende Regengüsse aufgeweichten Boden erstickten. Noch früher waren die Bayern mit den französischen Wachen auf den Höhenzügen in ein
Plänklergefecht verwickelt worden. Man stieß auf die Hauptmacht Mac Mahons, die sich hier dem Heere des Kronprinzen in den Weg stellte.
Mac Mahon hatte gleich nach der Nachricht von der Niederlage der Division Douay bei Weißenburg Vorbereitungen getroffen in der Stellung
von Wörth und Gunstett eine Schlacht zu liefern, da er nicht zweifeln konnte, die Armee des Kronprinzen werde auf der von hier aus beherrschten Straße
nach Hagenau vorrücken. Der Marschall hatte ein solches Vertrauen zu der Vorzüglichkeit seiner Stellung, daß er ausrief: „Meine Herren Preußen, nun hab' ich euch!" lich gewählt.
In der Tat war seine Stellung in taktischer Hinsicht vortreff
Sie wurde gebildet durch das etwa 800 Schritt breite Tal der
von Norden nach Süden fließenden Sauer, dessen Westrand, von steiler Höhe
begrenzt, die natürliche Front des französischen Heeres bezeichnete.
Das süd
westlich von Wörth gelegene Dorf Elsaßhausen, durch seine Lage auf einem steilen Berge eine Art rückwärtiger Bastion, war der Schlüsselpunkt, das Dorf
Fröschweiler hinter Wörth der Stützpunkt der Stellung.
Die Hügel, auf denen
die Franzosen festsaßen, waren etwa 60 m hoch, sehr steil und an den Ab
hängen größtenteils mit hochgestocktem Wein, oben aber mit Laubholz dicht
bewaldet.
Die Hauptstellung war durch Schützengräben, Verhaue, Schanzen
und Drahtsperren verstärkt.
Die gegenüberliegenden östlichen Talabhänge, teil
weise ebenfalls mit Wein bepflanzt, was den Bewegungen der deutschen Truppen
553
116. Die ersten Siege.
sehr hinderlich wurde, fielen steil gegen die Sauer ab und wurden zudem vom
jenseitigen Ufer überhöht.
Der kleine Fluß, zwar nur zehn Schritte breit,
chatte aber einen äußerst steilen Uferrand und nach dem anhaltenden Regen starkes Gefälle. Im Talkessel lag das Dorf Wörth. Als sich am Morgen des 6. August die deutsche Armee gegen diese furcht
bare Stellung heranbewegte, stieß zuerst die Division Bothmer vom 2. baye
rischen Korps Hartmann
mit den Vortruppen der französischen Division
Ducrot zusammen. Das Gefecht war hitzig und ernsthaft, die Bayern verfolgten die errungenen Vorteile über Lembach hinaus auf Langensulzbach.
Mac Mahon, überzeugt, daß der Feind noch nicht so weit vorgerückt sein könne, hielt dies für eine bloße Scheinbewegung und glaubte auch seinerseits, daß die Schlacht erst für den folgenden Tag bevorstünde. Somit hatte der Marschall hinsicht
lich der Entfernung von Weißenburg bis Wörth und der hierauf gegründeten Nur hatte er die außerordent
deutschen Anordnungen ganz richtig geurteilt.
liche Begeisterung und Kampfeslust der deutschen Offiziere und Mannschaften nicht in Rechnung gezogen, die den Sieg um 24 Stunden verfrühten, ent gegen der ursprünglichen Absicht ihres Oberbefehlshabers.
Bald nach dem Vorgehen der Bayern war auch der Befehlshaber der Vorhut des preußischen 5. Korps in der Mitte der Schlachtreihe in einen Kampf verwickelt worden.
Auch die Vortruppen des 11. Korps stießen auf französische Geschütze und
Fußvolk und eröffneten das Feuer. So war um 9 Uhr auf der ganzen Linie der Kampf entbrannt, obwohl die größere Masse der deutschen Korps noch weit zurück war. Beim 5. Korps hatte bereits ein ernstlicher Angriff gegen Wörth begonnen. General v. Kirchbach befahl, als sich die Überlegenheit der
deutschen Geschütze herausgestellt hatte, Wörth zu nehmen und sich womöglich auf den jenseitigen Vorbergen festzusetzen. Das Dors Wörth war zunächst frei von Feinden; diese hatten sich auf den westlich dahinter liegenden Wein
bergen stark verschanzt.
Aber kurze Zeit, nachdem die Artillerie des 5. Korps
auf den östlichen Höhen gegen Wörth aufmarschiert war, hatte der Kronprinz
befohlen das Gefecht so lange abzubrechen, bis die übrigen Korps in genügen der Stärke heranmarschiert wären. Ehe aber dieser Befehl beim 5. Korps an
langte, hatte fälschlicherweise auch die bayerische Division Bothmer, die bereits über Langensulzbach
hinaus vorgedrungen war,
den Befehl zum Gefechts
abbruch erhalten, infolgedessen sie nach Langensulzbach zurückging.
Diese Er
leichterung auf seiner linken Flanke verschaffte dem Marschall Mac Mahon die
Möglichkeit seine volle Kraft nach Wörth zu wenden. Dies führte zum kritischen Moment der Schlacht. In dreimal wiederholtem Ansturm versuchte das 5. preußische Korps vergeblich über Wörth hinaus vorzugehen.
Die Truppen,
die den Fluß im stärksten Gewehr- und Granatfeuer, bis an die Brust im Wasser stehend, durchwatet hatten, erklommen im verheerenden Feuer des Feindes die Höhen, die gelichteten dünnen Reihen aber wurden durch starke
Angriffe französischer Reserven den Berghang wieder heruntergeworfen.
Der
554
116. Di« ersten Siege.
Feind hatte sich auf dem mit Hecken, Steinwällen, Gehöften und Anpflan
zungen dichtbesäten Abhang derart festgesetzt, daß er überall günstige Gelegen heit fand dem preußischen Fußvolke überraschend entgegenzuttetm und es mit mörderischem Kugelhagel zu überschütten. Frische Truppensendungen hatte« während des ganzen Vormittags die französischen Regimenter verstärkt; man
konnte bemerken, wie die Eisenbahnen ohne Unterbrechung neue Truppenzüge hcrbeibrachten, die aus den Wagen stürzten und sofort an die Schlachtstätte eilten.
Die Franzosen drangen sogar mehrere Male bis nach Wörth nnd dar
über hinaus vor, so daß Teile des Dorfes einmal in französischer, dann aber wieder in deutscher Hand waren.
Französische Artillerie auf den Höhen hinter Wörth.
So stand bis gegen 1 Uhr die Schlacht, anderthalb Stunden hin und
her wogend unter immer wieder zurückgewiesenen, heftigen Angriffsstößen der französischen Armee, bis sich um diese Zeit der Kronprinz, begleitet vom General leutnant v. Blumenthal, auf das Schlachffeld,
wo der Kampf am stärfften
wütete, begab. Durch die Ankunft des Kronprinzen wurde nun der Anfandes unaufhaltsamen Vordringens der deutschen Heersäulen bezeichnet. Nachdem
5 Stunden lang einzelne Divisionen den Kampf gegen eine große ftanzösische Übermacht auftecht erhalten hatten, stellte sich erst jetzt ein Gleichgewicht in
der Zahl her, das sich durch das Eintreffen neuer Scharen mit jedem Augen blicke zu Gunsten der Deutschen vollendete, bis schließlich das Übergewicht auch
in dieser Hinsicht ganz auf deuffcher Seite war. Auf dem äußersten linken Flügel erschien die Württembergische Division und verstärkte in Gunstett daK 11. Korps in den unternommenen Angriffsbewegungen, auf der äußersten
Rechten nahm das 2. bayerische Korps das Gefecht von neuem seiner Seite
begann
sich
das sehnlich erwartete
auf,
an
1. bayerische Korps mit
den Spitzen bereits der Schlachtlinie zwischen Langensulzbach und Görsdorf
zu nähern.
555
116. Die ersten Siege.
Nun griff auch das 5. Korps von neuem die Stellung von Wörth an. Es gelang den unwiderstehlich vorrückenden deutschen Truppen, das Dorf nach hartnäckigem Widerstande ganz zu nehmen.
Die Deutschen drängten in das
Dorf, stürmten die Häuser und gingen mit Hurra durch die zwar nicht breite, aber verhältnismäßig tiefe und reißende Sauer.
Im jenseitigen Teile des Dorfes
nahm der Kampf eine äußerst leidenschaftliche Form an, Haus für Haus mußte genommen werden unter beständigem Granatfeuer des Feindes, der sich auf den Höhen hinter dem Dorfe, auf der Straße nach Fröschweiler, im hoch stämmigen Wein verschanzt hielt. Festungsähnlich waren die Stellungen des Dazu empfing der Feind die Deutschen mit einem Höllenfeuer.
Feindes.
Er
hatte die Entfernungen vorher gemessen und sich durch Beseitigung zwischen
liegender Gegenstände ein fteies Schußfeld geschaffen, weshalb er sehr sicher
schoß.
Die Kugeln der weittragenden Chassepotgewehre fielen so hageldicht
in die deutschen Glieder hinein, als würde ein Sack voll Erbsen darüber aus
gegossen.
Man mußte oft fast ausschließlich sich auf dem Bauche weiterarbeiten;
denn sobald einer aufstand, war er weggepustet.
Und doch wich keiner der
Tapferen, ja sie überhörten wiederholt das Rückzugszeichen, immer weiter vor
wärts dringend.
Unter den französischen Geschützen, die einen Kugelhagel aus
spien, machten sich die Mitrailleusen durch ihr eigentümlich rauschendes Knattern
bemerkbar;
sie spielten wie Drehorgeln auf und rasselten, wie wenn schwere
Ankerketten niedergelassen würden.
Als die erste Ladung dieser Kugelspritzen
bei den Deutschen einschlug, pochte manchem das Herz; doch bald gewöhnte man sich an das Schwirren.
Aber auch das ftanzösische Chassepotgewehr schoß
viel weiter und schneller als das deutsche Zündnadelgewehr. die Deutschen immer weiter aufwärts.
Trotzdem stürmten
Oft erkannten sie dabei die Stellung
des verschanzten Feindes nur aus dem auffteigenden Pulverdampfe; oft aber auch stürzten die Turkos und Zuaven mit gellendem, rasendem Geheul aus
den Verhauen plötzlich den Deutschen bis auf 20, ja 5 Schritte entgegen und eröffneten das Handgemenge.
Die weißhosigen Turkos,
diese
braunen
und
schwarzen Schufte, fochten wie der leibhaftige Teufel, gaben niemals Pardon, sie kämpften nicht, sie mordeten
und
sengten
aus bestialischer Leidenschaft.
Waren sie selber aber in die Enge getrieben, so warfen sie das Gewehr weg, fielen auf die Kniee und jammerten um Gnade. Zweimal warfen sich neue ftan
zösische Kolonnen auf die deutschen Regimenter ihnen Wörth wieder zu entreißen, aber es ward behauptet und während die deutschen Tambours unaufgefordert
Sturm wirbelten, ging es mit Hurra ttotz des furchtbaren Feuers vor, bis die
Franzosen, fortwährend fechtend, aus einer Stellung in die andere wichen.
Auf
der Höhe selbst entbrannte der Kampf aufs neue, das Schlachtfeld zog sich hier über eine Stunde lang hin bis zu dem Dörfchen Fröschweiler, in dessen
großem kaiserlichen Schlosse Mac Mahon sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.
Unterdessen griff eine Division des deutschen 11. Korps Elsaßhausen an.
Unter blutigem Kampfe drang man hier Schritt für Schritt vor, bis es um
116. Die ersten Siege.
556
2 Uhr gelang im Verein mit Abteilungen des 5. Korps das brennende Dorf zu nehmen.
Zwischen 1 und 2 Uhr »hatte sich der Bogen der deutschen An
griffsreihe enger und fester um die französische Stellung zusammengezogen und begann nun von Norden und Süden umfassend die verzweifelten Angriffsstöße des Marschalls Mac Mahon zu ersticken. Vergeblich unternahm der Marschall
von Fröschwciler aus, in der Absicht die deutsche Mitte zu durchbrechen, mit Infanterie- und Kürassierregimentern einen wütenden Angriff. Er ward ab geschlagen. An das 5. Korps schloß sich jetzt das 1. bayerische Korps, das trotz des zurückgelegten langen Marsches sofort entscheidend in die Schlacht eingriff, und an dieses von Norden her das 2. bayerische Korps. Die tapferen
Bayern — das 1. Korps unter von der Tann — trieben mit unwider
stehlicher Gewalt den französischen linken Flügel vor sich her, wobei sie, wie der Kronprinz von Preußen nach der Schlacht anerkannte, durch eine geschickte Flankenbewegung viel zur Entscheidung des Tages beitrugen. Links an das 1. Korps reihte sich die Württembergische Division. So wurde Frösch weiler, der Mittelpunkt und Hauptstützpunkt der französischen Stellung, an
gegriffen. Ohne zu wanken standen sich hier längere Zeit beide Linien fast wie unbeweglich gegenüber, während von dem ganzen Schlachtfelde überall aus brennenden Gehöften und Dörfern die Rauchwolken emporstiegen. Jetzt aber
stürmten und beschossen die Preußen das Dorf von vorn und die Württem berger drangen von links ein, während die Bayern nach hitzigem Kampfe, der sich um den kleinen Sulzbach, einen reißenden Bergstrom mit steilen Ufern,
drehte,
das Dorf von der rechten Seite
angriffen.
Im letzten Augenblick
der Entscheidung warf hier Mac Mahon noch zwei Kürassierregimenter den Deutschen entgegen um in altnapoleonischer Weise durch die Wucht ihrer
Massen die deutsche Schlachtreihe zu durchbrechen.
Der Marschall Mac Mahon
setzte sich selbst mit seinem Stabe an die Spitze dieses letzten Angriffes.
Es
war ein großartiger Anblick, als die blanken Panzergeschwader zwischen den
Waldpartien glänzend hervorbrachen; sie kamen wie ein Gewittersturm, die Erde dröhnte. Als sie bis auf 240 Schritte heran waren, gab das deutsche Fußvolk Feuer, die Salven rollten von drei Seiten her und wie über den Tisch gefächerte Karten sanken die vordersten Glieder Mann an Mann.
An
anderen Stellen lagen sie wie ein wirrer Knäuel von Mann und Roß.
Ge
stürzte Reiter hier, ledige Pferde dort. zurück.
Der Rest sprengte in wilder Flucht
Zwei Regimenter auseinandergefegt wie Spreu.
Um S1^ Uhr ward
Fröschweiler endgültig genommen. Die Bayern im Norden, die Preußen im Osten und Westen und die Württemberger im Süden drangen umzingelnd ein und nahmen das Dorf samt mehreren Tausend darin eingeschlossener Feinde. Die Hitze in dem brennenden Dorfe war stellenweise unerträglich. Einzeln
wurden die Häuser gestürmt, die Türen mit dem Kolben eingestoßen.
Auf
Leitern mußte man die Scheunen ersteigert, aus denen die Turkos noch schossen.
55T
116. Die ersten Siege.
Am Fuße des zusammenstürzenden Kirchturmes trafen die einzelnen deutschen Regimenter von verschiedenen Seiten her zusammen. Endlich
war
der letzte Widerstand
Schlacht war damit endgültig entschieden.
zugsstraßen.
in Fröschweiler gebrochen.
Die
Der Feind warf sich auf die Rück
Mac Mahon selbst, der von dem mißlungenen Angriff seiner
Reiterei unverwundet zurückgekommen war, leitete den Rückzug.
„Den Degen"
— so schilderte ihn ein französischer Bericht in diesem Augenblick — „hatte er an der Klinge gefaßt und schwang ihn wie eine Keule. Unablässig bearbeitete er mit den Sporen sein großes, schaumbedecktes, schwarzes Pferd, das dritte Pferd an diesem Tage. Sein Rock hing in Fetzen, seine Krawatte war fort, das offene Hemd ließ die nackte Brust sehen. Er aber zündete sich eine Zigarre an und gab kaltblütig die Rückzugsbefehle." Doch was halfen Befehle, wo schon alle Ordnung aufgelöst war! Schon längst hatte die sinnlose Angst alle Truppenteile erfaßt und trieb sie dahin,
wo nur ein Ausweg zur Rettung noch zu entdecken war. Der Reiterangriff hatte wenigstens einem Teile der französischen Armee Luft gemacht und ihm Zeit und Gelegenheit zum Eiltweichen verschafft; diese Gelegenheit wurde auch allerseits so schnell wie möglich benutzt. In wilder Flucht zogen sich die fran
zösischen Regimenter, die trotz äußerster Tapferkeit keinen Erfolg hatten er
ringen können, zurück, Geschütze, Fahnen und zahlreiche Gefangene in den Händen der Sieger zurücklassend. Die Straße nach Hagenau bedeckte sich mit Flüchtlingen; es war ein schauderhaftes Durcheinander unter dem nach gesendeten Geschützfeuer der Deutschen, das sich von Minute zu Minute zu verdoppeln schien.
Als der Abend einbrach, wurde die Unordnung in der
Dunkelheit noch entsetzlicher, Geschrei,
Geheul,
Flüche,
ein höllisches Wett
rennen nach der Eisenbahn zu der Station Brumath. Hier galoppierten ledige Pferde, den Sattel unterm Bauche schleppend, zum Stadttore von
Hagenau herein; dann folgte ein Kürassier auf blut-
und schaumbedecktem
Pferde, ohne Küraß, ohne Waffen; dann ein Kanonier auf ungesatteltem Pferde — auf allen Gesichtern lag unaussprechliche Angst. Dann kamen ganze Schwärme von Reitern; oft saßen zwei Zuaven auf einem Pferde. Andere schwangen ihre Säbel und hieben wie wahnsinnig auf die armen Pferde ein; wieder andere warfen den Helm, den wuchtigen Säbel und den
schwerfälligen Panzer von
sich
um schneller vorwärts zu
kommen.
Nun
mischte sich auch Fußvolk unter die Reiter; die militärische Ordnung war voll
ständig gebrochen.
DaS waren keine Soldaten mehr, die da vorbeirasten; das
waren arme, furchtsame Kinder geworden, einzig und allein auf die Sicherung ihrer schon mehr oder weniger schadhaften Haut bedacht. Immer größer ward
der Lärm; unter die Haufen der Kürassiere mischten sich Ulanen und Husaren; alles drängte sich durch die Straße; ledige Pferde liefen, als wären sie von
gleicher Furcht getrieben, an allen Orten mit dem Schwarme; Zugpferde mit abgeschnittenen Zugsttängen, von Fußsoldaten oder Kanonieren geritten. Wie
116. Die ersten Siege.
558
die wilde Jagd eilten die Reiter der Stadt zu und ohne Aufenthalt durch.
An den Stationen warfen gesunde Fußsoldaten die Verwundeten aus dm Bahnwagen und setzten sich selbst hinein.
Als der Zug davonsauste, warm
alle Wagen überfüllt; auf den Wagendächern hingen sie, an den Türgriffen, auf dm Trittbrettern, mit halbem Leibe in der Lust, einige in voller Rüstung, andere halb nackt. Auf der Straße kam nun Fuhrwerk aller Art, Protzm ohne Geschütze, Kanzleikqrren, Ambulanzwagen, aber mit Gesunden bepackt. Jetzt sauste und polterte ein zerbrochener MunittonSkarren einher, dann ein
Bauernwagen mit Bettzeug und allerlei Habseligkeiten — ohne ihre Besitzer. Ein Zuave leitete die Pferde, zwei gräßlich verstümmelte Turkos lagen auf
dem Wagm quer über, ein Haufe unbewaffneter Soldaten klammerte sich außerdem noch oben an. Dann kamen verschiedene Marketenderwagen. Die Reiterei sämtlicher deutscher Divisionen übemahm sofort die Ver folgung und setzte sie 6 Meilen weit bis Zabern fort. Wie überstürzt die Eile war, womit die Franzosen die Flucht antraten, geht schon daraus hervor,
daß Marschall Mac Mahon selbst seinen Stabswagen, der die Papiere seines Bureaus und seine Briefschaften enthielt, zurückließ. Außerdem wurde die Kriegskasse, bestehend in 360000 Francs, erbeutet sowie zahlreiches wertvolles Troßgepäck.
Auch die Bevölkerung der ganzen Umgegend flüchtete in blinder
Flucht karawanenarttg dem Wasgenwalde zu. Der Verlust der Franzosen betrug an Toten und Verwundeten 5000 Mann, an Gefangenen 8000 Mann, darunter 2500 Verwundete. Vonseiten der Deutschen war der Sieg mit einem Verlust von 489 Offizieren, 10153 Mann
an Toten und Verwundeten erkauft. Und doch erschien beim Anblick der eroberten Stellungen diese schreckliche Zahl fast gering! Nachdem die Fran
zosen die Vormittagsstunden hindurch auch zahlenmäßig die Oberhand gehabt
hatten, waren schließlich den 60000 Franzosen in ihrer fast uneinnehmbaren Stellung 90000 Deutsche als Angreifende gegenübergestanden.
Ein trauriges Bild der Zerstörung bot Wörth. Die Häuser der Hauptsttaßen waren alle verwüstet, Fenster und Türen zerschlagen und zerschossen. Langsam brach der Abend über die wechselnden,
Bilder herein.
oft herzzerreißenden
Aber je schwerer der Kampf, um so herrlicher der Sieg.
Und
diesen hatten die Deutschen in erhebendster Weise gewonnen. Selten wurden Schlachten mit einer solchen idealen Hingebung, mit solcher überschäumenden und alles durchdringenden natürlichen Begeisterung geschlagen wie die Anfangs schlachten dieses Krieges bei Weißenburg und Wörth. Der Gedanke „Vater land!" und das Bewußtsein dieses vor der rücksichtslosen Mißhandlung eines haßerfüllten geschworenen Feindes zu retten, retten zu müssen beseelte die Brust jedes einzelnen Kämpfers mit feurigem Mute und triumphierte mächtig
über alle Gefahren, Anstrengungen, Nöten und Leiden des Kampfes. Ja auch alle Schrecknisse des Todes besiegte das durchmannende Gefühl dieser hohen Aufgabe.
Ein wahrhaft homerischer Geist von ursprünglichem Kampfeszorn
569
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
unb unüberwindlichem Heldentum sprach aus den einzelnen Zügen dieser Tage.
Die glühende Liebe zum Vaterland, der Glaube an dessen unbesiegliche Macht, die Überzeugung von der neuen Herrlichkeit, zu der dasselbe aus dem blutigen Kampfe emporsteigen mußte, schuf ihre Taten. Schon zeigte es sich, auf welche Seite der von den zwei mächtigsten Völkern Europas angerufene „Gott der Schlachten" treten wollte.
Noch vor vier Tagen hörte man die Pariser
Redensarten von der promenade militaire ä Berlin und heute bereits war eines der drohenden französischen Heere zerbrochen und aufgelöst. Sämtliche deutsche Truppen, die gefochten hatten, bezogen auf der Wal« statt ihr Biwak.
Es war ein schöner, stiller Sommerabend, die Fahnen flat
terten, die Militärmusiken bliesen den Choral „Nun danket alle Gott", die
„Wacht am Rhein" und Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?"
Alles
umarmte und küßte sich vor Freude; manchem tapfern Kameraden wurde im Sterben die Hand gedrückt. Manchem Schwerverwundeten reichte man die Feldflasche und fragte, wie es ihm gehe. „Gut, denn wir haben gesiegt!" antwortete der eine gefaßt; „Ich sterbe, aber für Deutschland!" ein anderer,
als er, durch den Leib geschossen, sein Leben aushauchte. Trotz der grausigen Zerstörung hörte man an diesem Abend niemand wimmern.
Der Kronprinz beritt am Abend das ganze Schlachtfeld und begrüßte unter freudigem Jubelgeschrei von Offizieren und Mannschaften seine siegreichen Truppen. Er ritt an die Brigadegenerale heran und drückte ihnen die Hand. Dann sich zu den Truppen wendend sprach er seine Anerkennung in mann haften Worten aus: „Soldaten!
Ihr habt euch wacker gehalten!
Der Sieg,
den ihr miterrungen habt, ist zum Wohle und zur Ehre Deutschlands erfochten
worden!"
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August. Don Karl Tanera.')
Wir Jäger waren bei Wörth eigentlich auch dabei, denn wir standen
dort während des Kampfes in erster Reserve und wurden nachher noch ein Stück zur Verfolgung verwendet. Aber man hatte doch nicht das Gefühl, daß man wirklich die Feuertaufe erhalten; denn wenn auch damals einige ver lorene Granaten über uns hinweggesaust waren, so erlitt doch unser Bataillon keine Verluste — und die gehören einmal dazu wie das Wasser zur Taufe,
sonst ist sie eben nicht echt. Morgen aber sollten wir gründlich daran kommen. Jeder großen kriegerischen Aktton gehen Gerüchte voraus, von denen kein Mensch weiß, .wo sie Herkommen. Sie sind da und verbreiten sich bis zu den jüngsten Soldaten und meistens haben sie wenigstens einigen Grund und darum erzählt sie jeder nach. *) Ernste und heitere Erinnerungen eines Ordonnanzoffiziers im Feldzug 1870/71 1. Reihe, S. 18 ff. Nördlingen 1888-, C. H. Beck.
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
560
So war es auch in unserem Biwak bei Sommerance.
„Ihr werdet
sehen, morgen kommen wir zum Handkuß!" meinte unser Adjutant und recht hatte er, denn 24 Stunden später knattetten unsere Podewilsbüchsen so tüchtig, daß den Franzosen Hören und Sehen verging. Vor und nach diesem 29. August haben wir oft biwakiert; aber kein Lager ist mir in so schöner Erinnerung als jenes unübersehbare, gewalttge
damals bei Sommerance.
Unsere Division biwakierte bei diesem Dorfe selbst;
links von uns die erste bayerische, neben dieser das 5. preußische Korps; rechts vorwärts von uns die Armeekorps des Kronprinzen von Sachsen, hinter uns die bayerische Kürassierbrigade, kurz, wo man hinsah, Soldaten, nichts als Soldaten. Das war herrlich zu sehen und wohl jedermann, nicht mich allein, über
kam damals ein Gefühl unbedingten Verttauens zu unserer oberen Führung, die es so gut verstand uns auf dem Marsche auseinander zu halten, damit
sich die Truppen nicht gegenseitig genierten, für das Gefecht aber alles zu sammenzuballen, damit wir jeder auch noch so schweren Aufgabe gewachsen und immer, wenn irgend möglich, stärker als der zu schlagende Feind waren.
Wir hatten uns schon so recht gemütlich eingerichtet, was man eben unter gemütlich in einem Biwak im Feindesland versteht. Unsere Jäger hatten Kartoffeln in Menge gefunden, Wasser war geholt worden, Holz lieferte der
nahe Wald, Salz und Brot gaben die Tornisterbestände.
Die Kochlöcher
waren gegraben, das Feuer loderte, das Wasser brodelte, kurz alles war fertig:
nur die Hauptsache fehlte: das Fleisch. Endlich kam unser Requisitionskommando zurück. Wir Jäger erhielten einen Prachtstier. Der Metzger stand bereit, ein Axthieb und — der Stier ging pleine carrifere durch, rannte einen Jäger um, daß dem das Blut von der Stirne lief, und nahm seine Richtung gerade auf unsere Kompagnie. „Achtung! ein Ochs kommt!" schrie ein Mann.
„Das kann ein schönes Unglück geben," rief unser Hauptmann und „Macht ninxn," meinte der Gefreite Mögele, „dem wer'n mers glei zoagn!" — Kaltblütig packte er seine Büchse, spannte den Hahn und zielte; paff, da lag der Stier, zuckte noch einige Male und war tot.
Der gute Schuß hatte alle
Jäger herzlich gefreut und — jedermann hatte Hunger. Sofort spannten sich
etwa zehn Mann an die jetzt so zahme Bestie; sie wurde hinter die Wagen geschleppt und bald brodelte sie, in etwa 1000 Teile zerlegt, in den Feld kesseln der Leute. Gegen 3 Uhr war das Diner fertig.
Suppe, Brot, Zunge, Stierfleisch,
Kartoffeln, Salz, Wein; was wollte man mehr!
Am Abend bei herrlichstem
Wetter spielte unsere Musik. Lange saßen wir beisammen und plauderten von den Aussichten für morgen. Für uns gab es keinen Zweifel mehr, daß es
zur Schlacht kommen würde.
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117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
Ziemlich spät begab man sich zur Ruhe, man schlief ziemlich aufgeregt, denn am Abend vor der Schlacht hat man an so mancherlei zu denken, was den Schlaf lange fernhält. In aller Frühe ging's los.
Ehe die Sonne langsam über den Wald
östlich Sommerance heraufkroch, waren wir alle munter und warteten ungeduldig auf den Marschbefehl. Es dauerte noch ziemlich lange. Endlich 5x/2 Uhr setzte sich die Avantgarde in Marsch, leider die 4. Brigade. Wir folgten beim Gros. Aber unser Bataillon war wenigstens da an der Spitze. Es ging
über St. Georges, Champigneulle, Verpel nach Buzancy. In den Ortschaften gewahrten wir an den Fensterläden ftanzösische Quartierbezeichnungen. Genau wie wir hatten sie es gemacht und auf Läden und Türen konnte man mit Kreide angeschrieben lesen, daß am 27. August hier das 12. Regiment Chas
seurs ä cheval und das 4. Regiment chasseurs d’Afrique übernachten sollten, hätten sie nicht die sächsischen Ulanen und Reiter des Generals von Pilsach unliebenswürdigerweise wieder fortgejagt. Dicht vor dem Städtchen Buzancy marschierten wir in Bereitschafts
stellung auf.
Es wurde gehalten.
Ein Ordonnanzoffizier galoppiert vorüber.
— „Was gibt's Neues?" — „Wir greifen an!" — „Bald?" —
„Weiß
nicht!" — Fort war er. — Also wir greifen an! Aber wo und wann denn? Man sieht ja weit und breit nichts vom Feinde! Und doch war er da, keine 10 Kilometer vor uns.
Wir in der Truppe wußten es damals nur noch nicht.
Aufregung wir uns befanden, läßt sich gar nicht beschreiben.
In welcher
Es war aber
auch zum Berzweifeln. Generalstabsoffiziere und Adjutanten ritten hin und her; dort vorne
stand General von der Tann mit seinem Stabe, Ordonnanzoffiziere sausten weg und kamen zurück, aber keiner ließ etwas hören, sie hatten alle keine Zeit mehr mit uns zu sprechen; wir wußten nichts als „wir greifen an". „An die Gewehre!" O, unsere Leute standen schon an den Pyramiden.
Vergingen sie ja
gerade so wie wir selbst vor Ungeduld vorwärts zu kommen und den Rothosen zu zeigen, wie bayerische Jäger schießen.
Sommauthe.
Wir setzten lins in Marsch auf
Das Tempo wurde immer schärfer.
Jeder drängte vor.
Die
Hinteren Regimenter mußten oft Laufschritt machen. Uns Jägern war dies einerlei. Da trabte ein preußisches Dragonerregiment an uns vorbei. Herrgott,
daß wir nicht auch traben konnten!
Jetzt jagte eine Batterie im Galopp
links vor. „Was ist denn das? Die protzen ja ab!" — Es war so; aber kein Schuß fiel. Wir marschierten weiter. Eigentlich war es jetzt ein wahrer
Eilmarsch.
„Hört, hört, es schießt!" Rechts vorne krachte es. Da kam auch Leben Das rechte Flügelgeschtttz begann, Kron-eder, Lesebuch zur Geschichte Bayern-. 36
in die Batterie, die links vorwärts stand.
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
562
die anderen folgten, genau so, wie es zu Hause auf dem Kasernhof geübt wurde. Wir sahen die Granaten in die Lust stiegen, dann verschwanden sie hinter einem Hügel, der uns jede Aussicht versperrte, wir wußten nicht wohin, jeden
falls auf den Feind.
Wir marschierten weiter.
Es ist ein eigentümliches Gefühl, wenn man so direst in die Schlacht
geht.
Man denkt schneller als sonst; man sieht und hört alles; jeder Sinn
ist erregt, das Herz schlägt heftiger; die Pulse fliegen.
Man möchte sich ver
doppeln um nur recht schnell überall zu sein und alles zu erfahren.
Noch
sahen wir nichts. Aber das Geschützfeuer wurde immer stärker und nun klang es dumpf, als ob auch Gewehrschüsse vernehmbar würden.
Plötzlich kamen wir auf den Rand des Hügels, der uns so neidisch bisher jede Aussicht versperrt.
Das ganze Schlachtfeld von Beaumont bis
Thibaudine lag offen vor uns. — Welch ein Anblick! Als ob man in einem Haufen von roten Ameisen mit einem Stocke herumgestiert hätte, so wimmelte es dort unten, kaum 2 Kilometer, von Rot hosen bunt durcheinander. Der Höhenrand uns zur Linken und Rechten spie Feuer hinunter und unten im Tal selbst vom Waldrand aus krachte und
knatterte es, daß man meinte, ein Hagelschlag prahle auf die Glasscheiben eines Gewächshauses und schlage alles kurz und klein. Jenseits auf einem langgestreckten Höhenzug stand die französische Artillerie und wetterte herüber
und bäld galten ihre Grüße auch uns.
Jetzt hatten wir das Dorf Sommauthe passiert. Links an der Straße lag ein Felsblock. Auf diesem stand unser Feldgeistlicher. Über seinem schwarzen Talar hing eine silberne Stola. Mit einem Kruzifix erteilte er uns Unsere Leute, wir selbst, alles befand sich in wahrhaft gehobener Stimmung. Da stimmten sie hinter uns an, alle sieten ein und noch nie erklangen den Segen.
die Lieder unserer Jäger so stisch als gerade dort auf dem Wege von Som mauthe bis hinunter an den Wald.
„Unser König soll leben, Prinz Luitpold
daneben, alle Generäl und Offizier, die tapfern Bayern san mir!" hieß es vorne, scholl es von hinten. — „Rechts heran! — Platz machen!"
Unsere Divisionsartillerie trabte vor. „Hurra, Kanoniere!" — „Hurra, Jäger!
Heut' gilt's!" —
„Kavallerie muß attackieren, Infanterie gibt Salven ab, das ganze Jäger
korps rückt aus mit Sack und Pack!" — „Aufhören! — Ruhe! — Lad 's Gewehr!" —
Jetzt wurde es ernst.
Als ob jeder die Biacht dieses Augenblicks zu
gleich empfunden hätte, herrschte sofort tiefe Stille. Nur die Gewehre raffelten,
als die Zylinder auf- und zugeklappt wurden, und die Hähne knackten, wenn man sie in Ruhe setzte. Bon der Schlacht sahen wir nichts mehr, desto mehr hörten wir.
Man meinte damals, ärger könne es gar nicht zugehen, und doch
kam es dicker bei Sedan, bei Orleans, Coulmiers, Ligny und Beaugency.
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
663
Er hatte genau die Richtung
Nun bogen wir in einen Waldweg ab.
auf jene französische Schimmelbatterie, die wir schon vorhin von oben be merkt hatten. An einer Lichtung passierten wir den ersten bayerischen Verbandplatz. Da walteten die Ärzte schon ihres schaurigen Amtes. Wir waren froh, daß uns der Wald bald wieder aufnahm.
Nichts wirkt auf die Leute ungünstiger
als der Anblick von Amputationen, wie sie dort gerade an einem Unteroffizier
des 10. Regiments vorgenommen wurde.
„Vorwärts, Jäger!
Laufschritt!
Vorwärts!"
Meine Kompagnie war an der Spitze. einer Lichtung. „Donnerwetter!
Was soll das heißen?
Der Weg verbreiterte sich zu Das sind ja unsere Leute, die
zurückweichen!" Eine schwache Abteilung unserer Avantgarde war in der Flanke gefaßt
worden.
Eine ganze feindliche Division, die 1. des 7. französischen Korps,
hatte sie von links gepackt und drohte sie vollständig aufzurollen.
„Meine Herren, halten Sie Ihre Züge fest geschlossen!
Wir dringen
durch und reißen sie mit!" — Ich hatte unserem kleinen Hauptmann eine so
mächtige Stimme gar nicht zugetraut. Wir sprangen zu unseren Jägern. „Uns nach, Jäger! — Fest beisammen bleiben! — Keinen der Unsrigen durchlassen! — Vorwärts, Jäger! Laufschritt, vorwärts!" Kein Mann blieb zurück. Wie eine feste Mauer drang unsere Kom
pagnie durch und riß die Wankenden mit sich.
Rechts von uns machten es 36»
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August,
564
die zweite und erste ähnlich, die vierte folgte als zweites Treffen. spiel wirkte.
Dies Bei
Nun wurde der Wald lichter. „Ausschwärmen!" — „Bajonette aufpflanzen!"
— „Vorwärts, Jäger,
vorwärts!" Die Flügel kamen kaum hinaus, so drängte die Mitte vor. jetzt im Hellen Lauf. Und wie hielten sie aus, die braven Kerls!
Alles war Für diesen
Dauerlauf verzieh ich ihnen all die Müh' und Plag', die mir das Algäucr Phlegma in der Garnison so oft verursacht hatte.
Der Wald hörte auf.
Eine etwa 200 Schritt breite Lichtung lag vor
uns. Eine weiße Dampflinie bezeichnete den jenseitigen Rand. Dazwischen beleuchtete die Sonne rote Hosen. Dort standen sie also, die Herren Fran zosen. Richtig, das sind die Chasscpots, die so lustig uns um die Ohren Pfiffen. — Tut nichts;
werden schon aufhören. — Wir aber hörten nicht auf,
nämlich zu laufen. Nicht einen Schuß gaben wir ab. „Vorwärts!" schrie der Hauptmann; „vorwärts, Jäger!" riefen wir ihm nach und hinaus ging's aufs freie Feld. Da stürzten freilich gleich einige nieder. „Hurra! hurra!" — Wie das durch die Nerven ging!— „Hurra! hurra!" schrie, nein, brüllte die ganze Kompagnie und vorwärts ging's in einem Lauf, bis wir dort waren, mitten unter ihnen drin, daß sie meinen mußten, eine Wolke habe uns aus
gespien zu ihrem Verderben. Den Waldrand faßte ein kleiner Graben ein. Da stürzten die vordersten der Unsrigen hinein; ich sprang flott drüber weg, war noch ein junger Kerl damals und nicht umsonst von jeher ein gewandter Turner und Fechter. Hinter mir folgte mein rechter Flügelkorporal. Dann kamen unsere Jäger und von den Franzosen riß der größte Teil aus, als wir dicht vor ihren
Gewehrmündungen standen und sie nur hätten losdrücken dürfen um noch manchen flotten Jäger dahinüber zu schicken, wo man zwar als treuer Soldat
gut ausgenommen wird, aber doch nicht gerne freiwillig hingeht.
Ein anderer Teil jedoch blieb stehen und wehrte sich verzweifelt.
Half
Immer mehr Jäger, auch die Zehner kamen heran und glichen alsbald das Zahlenmißverhältnis so ziemlich aus. Noch gellt's mir in den Ohren, wie unser guter Oberleutnant v. Z. einen großen Burschen ihnen aber nicht viel.
anschrie: „d bas les armes!“ als dieser auf zwei Schritte auf ihn anlegte.
Dem Kerl fiel das Gewehr aus der Hand, als ob es glühend geworden wäre. Dem schmächtigen Franzmann, der es auf meinen armen Schädel ab gesehen hatte, ging es nicht so gut. Er lag im Anschlag und zielte; da rannte
ihm ein Jäger das Bajonett mitten
durch die Brust.
in die Höhe gegangen, mir hat er nichts getan.
webel schlug ich den.Säbel aus der Hand.
Der Schuß war
Einem stanzösischen Feld
Er bat um Pardon.
117. Die Schlacht von Beaumont, 30. August.
565
Wir hielten uns nicht lange auf. Was noch Wider stand leistete, wurde
erschossen; es wa ren aber nur we
nige; die Mehrzahl war gefangen oder floh, so rasch sie tonnte. Jetzt knall ten
auch
unsere
Büchsen; nicht so hell und scharf wie
J
die Chassepots, aber . r gut genug um zu treffen und dies ist
ja doch die Haupt sache.
Franz-fische Batterien auf der Flucht vor Beaumont.
Etwas lang samer — denn schließlich geht ja sogar einer Lokomotive der Puster aus, geschweige denn einem Jäger, der nur eine Lunge im Leibe hat, aber einen
Tornister und noch mehr auf seinem Körper —, jedoch immer noch schnell genug folgten wir den Fliehenden nach. Bald erreichten wir den jenseitigen Waldrand; dort hielten wir und nun ging ein echtes, richtiges Scheibenschießen
los auf die armen Kerls, die sich todmüde über die Felder hinüberwälzten. Als es nichts mehr zu schießen gab, drangen wir wieder vor; unser
guter „Alter" marschierte zu Fuß mit geschwungenem Säbel voraus.
Wer
geglaubt hatte, der „Alte" sei alt, der hatte sich gründlich getäuscht.
Wenn es galt Strapazen zu ertragen, große Leistungen zu machen, den Feind an
zugreifen, dann war er jung; da tat's ihm keiner zuvor und nur wenige
waren ihm gleich. Unterdessen hattd die 4. Kompagnie links von uns einen tüchtigen Vor«
sprung erreicht.
Da winkte der „Alte" und sprang vor die Front.
„Auf,
Jäger! Vorwärts!" Von neuem ging die Jagd los; wir hatten ja wieder frische Kräfte. Jetzt protzten die Franzosen auf und jagten davon. Flink machten sie ihre Sache, aber doch nicht flink genug, daß die 4. Kompagnie
nicht noch zwei Geschütze samt Bedienung und Bespannung erwischte. Freilich waren wir auch gleich droben, aber die 4. Kompagnie war dieses Mal die erste.
Nun, wir gönnten es ihr; denn wir waren ja schon gründlich getauft
worden, sie bisher aber noch nicht.
Nachdem das ganze Bataillon sich zusammengefunden hatte, und zwar allein, denn die anderen waren noch weit zurück, beglückwünschten wir uns
118. Dir Schlacht bei Sedan.
566
gegenseitig und erzählten und fragten, wie es eben ein solcher Moment mit sich bringt.
Unser „Mter" — er wird verzeihen, daß ich ihn immer so
nenne —
Ja, so hatte er sich seine Jäger gedacht, so
strahlte vor Glück und Wonne.
hatte er sie erzogen, hart gegen Sttapazen, ausdauernd in Mühseligkeiten, tapfer, schneidig, vorzüglich im Gefecht. war, ich glaube ein Gefreiter:
Da rief einer, ich weiß nicht, wer es
„Unser Alter, der Herr Oberstleutnant, lebe
hoch!" und das ganze Bataillon schrie „hoch, hoch und nochmals hoch!"
So von Herzen habe ich selten jemanden leben lassen als dort unseren lieben, guten Oberstleutnant.
Er war aber auch gerührt bis zu Tränen; ja
wahrhaftig, dem wetterharten Manne, dem wir nachgesagt hatten, er könne
nicht einmal lachen, liefen Tränen über die Wangen und er genierte sich nicht und wir verargten's ihm nicht; wir haben ihn darum nur um so mehr geehrt.
Für uns war die Schlacht zu Ende. sammen und schauten, wer fehlte. geglaubt.
Es gab doch bedeutendere Lücken, als man
Immerhin hatten wir einen ganz außerordentlichen Erfolg verhält
nismäßig billig erkauft.
Wir bekamen viel Lob und Lohn für diesen flotten
Angriff der ersten bayerischen Jäger.
war,
daß
Wir stellten unsere Züge zu
man
Was uns aber doch am meisten freute,
auch höheren Orts unseren „Alten" erkannte und ihm die
höchste militärische Auszeichnung Bayerns, den Max-Josephs-Orden, für Beau
mont verlieh. In der folgenschweren Nacht von Beaumont wurde der rechte Flügel
der Armee Mac Mahons schwer erschüttert.
Zwei Tage darauf schließt sich
um die ganze Armee, die mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte noch den trüge rischen Schutz der Festung Sedan erreicht hat, der eiserne Ring, den zu durch
brechen ihr ttotz tapfersten Verzweiflungskampses in der Schlacht bei Sedan
nicht gelingt.
118. Die Schlacht bei Sedan. Don Hugo Arnold.') Nach den vom Kronprinzen Friedrich Wilhelm ausgegebenen Dispositionen hatte das 1. bayerische Korps am 1. September in seiner Stellung bei Remilly
zu verbleiben und in die Schlacht nach Maßgabe des Vorgehens der Maasarmee
einzugreifen, die um 4 Uhr morgens gegen den Givonneabschnitt vorrückte. Ausdrücklich wurde aber die Weisung beigefügt, es bleibe dem General Frhrn.
von der Tann überlassen auch ftüher anzugreifen,
wenn dadurch der Feind
in seiner Stellung festgehalten werden könne.
Schon am Abend des 31. August hatte es den Anschein gewonnen, als ob die vor uns stehenden Franzosen sich nach rückwärts, auf den Höhen von La Moncelle,
konzentrierten,
was
auf die
Absicht
eines
Rückzuges
gegen
’) „Unter General von der Tann", I. Bd., S. 121 ff. München 1896, Oskar Berk.
118. Die Schlacht bei Sedan.
567
Zogen die bei Bazeilles lagernden Truppen laut
los um Mitter
nacht
konnten
ab, sie
so bis
Tagesanbruch für die
Maasarmee
und unser Korps uner
reichbar ge worden sein. Deshalb ent schloß sich Ge neral Frhr. von
der Tann dazu noch vor Tages anbruch Bazeilles auzugreifen, den Feind dort in einen Kampf zu verwickeln und ihn gleichsam festzubinden; durch die Wegnahme des Ortes wurde ferner die Möglichkeit gewonnen über die Maas zu debouchieren und später mit der vorrückenden Armee des Kronprinzen von Sachsen zu kooperieren. Das Fest
halten des Feindes war aber nur möglich, wenn man ihm direkt auf den
Leib ging; er mußte überfallen werden. Nach Mitternacht war mit dem Einfall des Nebels drüben bei den Franzosen Ruhe eingetreten, bloß dumpfe Töne drangen polternd herüber.
Es mochte 3% Uhr geworden sein, da krähte im Orte Pont Maugy ein un
vorsichtiger Hahn — und wir hörten ein leises Rascheln, wie wenn der Weid mann durch das Gebüsch pirscht, dazu das Klappern und Klirren von Waffen, ein Kollern und Poltern ferne zu unserer Rechten. Das war das 2. Regiment,
welches die Eisenbahnbrücke überschritt, während Pontonbrücke zum Angriff auf Bazeilles vorrückte.
die
1. Brigade
über die
Gleich darauf wurde mir der Befehl meine Posten einzuziehen und zum Regiment an die Eisenbahnbrücke zu marschieren. Unser Oberst hatte den
Auftrag erhalten mit der ihm
unterstellten Halbbrigade die Brücke und den
Bahndamm zu besetzen und dort weitere Verfügungen
abznwarten.
Wir
nahmen nun diesseits der Brücke Aufstellung und harrten lange Stunden. Sehen konnten wir im Nebel absolut nichts, einzelne verlorene Kugeln zischten
über uns weg. Dafür hörten wir um so mehr, wiewohl wir glaubten, der dicke Nebel müßte den Schall dämpfen. Die Besatzung von Bazeilles, die Marine-Jnfanteriebrigade Martin des Pallieres, hatte die Ortschaft zu hartnäckigster Verteidigung eingerichtet,
118. Die Schlacht bei Sedan.
568
wobei ihr die massive Bauart der großen steinernen Häuser sehr zustatten
kam; in den Straßen waren durch Barrikaden Abschnitte hergestellt.
Allein
wie fast immer handhabten die Franzosen den Sicherheitsdienst so gut wie gar nicht, sie hatten keine Posten aufgestellt und schlummerten im Schlafe der Gerechten innerhalb der Häuser. Unsere Truppen überfielen sie daher im buchstäblichen Sinne des Wortes, einzelne kleinere Abteilungen drangen, wie
tags vorher die Jäger, bis an die Nordumfassung des Dorfes vor. Doch plötzlich tat sich der Schlund der Hölle auf: aus allen Gebäuden brach rasendes Feuer auf die Eindringlinge los, die ihrerseits dahin trachteten die Häuser
in ihre Gewalt zu bringen. So entspann sich von Gasse zu Gasse, von Haus zu Haus der schrecklichste Kampf, der noch grausiger dadurch wurde,
daß sich die in den Kellern versteckten Einwohner daran beteiligten und aus den bereits genommenen Häusern den Feinden in den Rücken schossen oder die Verwundeten massakrierten. Schon am vorausgegangenen Tage hatten
unsere Granaten an verschiedenen Stellen gezündet, nun brachen durch das Gefecht in mehreren Gehöften die Flammen hervor, dazu wurde an einzelne Gebäude, in denen den Verteidigern nicht beizukommen war, Brand gelegt und bald war der ganze Ort nur ein einziges wogendes Flammenmeer, in dessen
Lohe und Glut der Kampf mit
um
so
größerer Erbitterung
und
unter
wechselndem Glücke fortgeführt wurde. Zu uns hinter dem Bahndamm tönte das plötzlich losbrechende Toben
des Kampfeslärmes ganz unheimlich herüber, unaufhörlich rollte das Knattern des Feuergefechtes durch die tiefe Stille der Nacht und in die wallenden Nebel
hinein wie der Aufruhr von Dampf und Lärm im Krater eines
Vulkans. Langsam und allmählich lichteten sich die Nebel — es ging auf 6 Uhr — dann drang über Bazeilles der Schein heller Röte herüber; aber es war
nicht die rosenfingrige Eos, sondern der Schein der Flammen, welche die Ge bäude verzehrten. Nach und nach wurde es heller und heller, der dichte Nebelbrei ballte sich zusammen, die Wolken hoben sich und einzelne gebrochene
Sonnenstrahlen stahlen sich durch die wallenden Schleier. Nun ward es auch oder uns auf der Höhe lebendig. Schon längst waren die wackeren Kanoniere
ungeduldig an ihren Geschützen gestanden; wie sich jetzt die Nebelschleier ver zogen, begannen sie das Feuer gegen die nordöstlich von Bazeilles sich zeigenden feindlichen Heereshaufen und mit einem Male rollte dröhnender Kanonendonner
über das weite Tal hin.
Eine der ersten Granaten verwundete früh 6 Uhr
den in die Nähe von Bazeilles vorgerittenen Marschall Mac Mahon.Z
Die
*) Den Oberbefehl über die Gesamtarmee der Franzosen übertrug der verwundete Marschall mit Übergehung von zwei älteren Korpsführern dem General Ducrot. Dieser erteilte sofort die nötigen Befehle um den jetzt vielleicht noch möglichen Rückzug nord westwärts auf Mezieres anzutreten. Allein der erst kürzlich aus Algier eingetroffene General von Wimpffen trug eine ministerielle Vollmacht bei sich, die gegebenen Notfalls
118. Die Schlacht bei Sedan.
569
französischen Batterien blieben die Antwort nicht schuldig und nun krachten
ohne Pausen die Feuerschlünde, das Knattern und Toben des Kampfes in Bazeilles verschlingend. Wie es bei Wörth gewesen war, so geschah es auch hier.
Die Erschütterung der Atmosphäre durch das gewaltige Schießen fegte
das Nebelgewölke völlig weg,
der Himmel lachte im freundlichsten Blau und
goldener Sonnenschein überflutete die Walstatt. Nun konnten auch wir die Blicke auf den Kampfplatz senden.
Die Wut
schien immer mehr zu wachsen; offenbar hatte der Feind Verstärkungen herbei geführt. Auch von uns wurden frische Kräfte herangezogen und in das Dorf geworfen; die 2. Division ging über die Pontonbrücken. Über dem größten Teile des Ortes schlugen die Flammen empor und schwarze Rauchwolken ver
finsterten den Horizont. So schwer es war bei dem rasenden Getöse sich ein Urteil zu bilden, schien das Gefecht immer noch unentschieden hin und her zu schwanken; bloß das eine war zu erkennen, daß der südliche Teil des Dorfes
von den Unsern festgehalten werde. Allmählich nahm die Ausdehnung der Schlacht zn. Kronprinz Albert von Sachsen griff ein, die Höhen östlich vom Givonnebach krönten sich mit den feuernden Batterien der Sachsen, die wir zwar nicht sahen, aber an den in langen Linien aufsteigenden weißlichen Wolken des wallenden Pulver dampfes erkannten. Soweit unser Auge reichte, bis an die waldigen Höhen
fern im Norden erdröhnten Kanonen und ballten sich die weißgrauen Wolken
zusammen; in weitem Gürtel schoben sich die Korps der Maasarmee heran — unser Korps hatte den Feind an den Hörnern gepackt und festgehalten. Der Wunsch besser Umschau halten zu können trieb einige Offiziere und
Mannschaften auf den Bahndamm hinauf; kaum aber standen sie oben, als
eine ober Bazeilles aus der Höhe stehende Mitrailleusenbatterie die Lust an wandelte den Damm zu kehren. Sie sandte einige Lagen herüber und ihre Geschosse verwundeten mehrere Leute, so daß wir das gefährliche Observa torium räumten. Im Fortgänge der Schlacht war ein Wendepunkt eingetreten.
Über die
Pontonbrücke zu unserer Rechten gingen ununterbrochen Batterien auf Bazeilles vor; über die Eisenbahnbrücke an uns vorbei marschierte die 4. Brigade, dann nach einer Pause die 5. und nach einiger Zeit auch die 6. Brigade, die beiden
letzteren zum 2. bayerischen Armeekorps gehörig, sämtliche auf Bazeilles zu,
wo das Gefecht unverändert zu stehen schien.
Unablässig währte auch der
Artilleriekampf fort. So weit wir schauen konnten, standen auf den Höhen des linken Maasufers unsere Batterien im lebhaftesten Feuer, die sausenden ihm den Oberbefehl einräumte. Da General Wimpfsen den Rückzug nordwestwärts für völlig unausführbar hielt und im geraden Gegenteil nach Carignan durchdringen wollte, machte er — zu seinem Unstern — die ihm erteilte Vollmacht gellend. General Ducrot -fügte sich ohne Weigern; es mochte ihm vielleicht nicht unlieb sein sich einer schweren Verantwortung entledigt zu wissen. Moltke, S. 64.
118. Di« Schlacht bei Sedan.
570
Granaten von Freund und Feind kreuzten sich über unseren Köpfen und die
in den weichen Wiesengrund einschlagenden Projektile rissen tiefe Furchen.
Dazwischen rasselten die knarrenden Mitrailleusen mit ihrem ohrenzerreißenden, schrillen, widerlichen Spektakel. Einzelne Schüsse und Kanonenschläge waren nicht mehr zu unterscheiden, ununterbrochen über das ganze weite Tal hin
rollte der dröhnende Donner der Geschütze, daß die Erde bebte und die Lüste zitterten. Von allen Höhen und den Waldmauern der Forste auf den fernen Bergen wurde der Widerhall tosend in hundertfachem Echo in das Tal zurück
geworfen,
wo
die Schallwellen
zusammenschlugen
und
in einem einzigen
dumpfen Brausen sich vereinten, daß die Kämpfer noch tagelang es im Trommelfell summen zu hören vermeinten. Nur das Rasseln der Mitrailleusen drang durch diesen tosenden Chor durch, das Knattern der Gewehre wurde vom Brüllen der Kanonen verschlungen. — Ich bin in 16 Schlachten und Gefechten im Feuer gestanden, habe aber niemals ein so gewaltiges, fürchter
liches Höllenkonzert erlebt. Endlich, es war um die Mittagstunde, schien das Eingreifen der Ab
teilungen unserer 2. und 3. Division sich geltend zu machen, indem der Kampf
sich mehr nach Norden und Osten zog.
Doch brach das Gefecht in Bazeilles
nicht ab. Die Häuser und Scheunen am Eingänge des Dorfes waren mit Ver wundeten überfüllt und das schöne Schloß Dorival als Aufnahmsspital ein
gerichtet. Im reizenden Parke lagen und saßen die Verwundeten auf dem Rasen; die Ärzte hantierten; Stöhnen, Wimmern und Schmerzensschreie er
schollen. Fortwährend wurden Verwundete hereingetragen, darunter auch Hauptmann Heinrich Frhr. von Harold vom 2. Jägerbataillon, dem ich noch bei Wörth zugejubelt hatte, als er mit einem riesigen Transporte von Ge
fangenen bei uns vorbeikam.
Jetzt lag er mit durchschossenem Beine auf der
Bahre und nach zwei Monaten erlag er seiner Wunde in der Heimat. Die Häuser in den Straßen vor uns standen lichterloh in Flammen, kein Mensch versuchte zu löschen; unter dem Schutte und zwischen den glimmenden Balken lagen zahlreiche Leichen, zum Teil angekohlt. Patrouillen brachten Einwohner,
die heimtückisch aus den Kellern den Unsrigen in den Rücken gefeuert, Ver wundete massakriert und in die Flammen geworfen, sich mit den Waffen in der Hand widersetzt haben sollten; wir mußten ihre Bewachung übernehmen. Die Unglücklichen sahen schrecklich aus, viele waren mit Kolben und Säbel schlimm zugerichtet worden, die Kleider hingen ihnen in Fetzen vom Leibe. Das war im Kampfe geschehen.
Auf den verzerrten Gesichtern aber prägten
sich die wilden Leidenschaften aus, der Fanatismus, der ihnen die Waffen in die Hand gedrückt hatte, die Haare hingen zerrauft ins Antlitz und die blut
unterlaufenen Augen loderten in wilden Gluten. Wenige werden wohl den folgenden Morgen überlebt haben; über ein Ehepaar saß ich selbst tags darauf im Standgerichte.
118. Die Schlacht bei Sedan.
571
Während rings um uns die Schlacht in ununterbrochener Heftigkeit fort tobte und auf den und so wohlbekannten Höhen von Remilly statt der ab
gefahrenen Batterien unseres 1. solche vom 2. bayerischen und vom 4. preußi schen Korps in Aktion getreten waren, erlosch allmählich vor uns der Kampf; unsere 3. Division hatte Balan genommen.
Doch lange vermochte sie es nicht zu halten.
Sie wurde plötzlich so
heftig angegriffen, daß sie dem Stoße weichen mußte, Balan räumte und auf Bazeilles zurückging, dessen nördliche Umfassung von der 4. Brigade besetzt
war. Das war der verzweifelte Versuch, durch den General v. Wimpffen sich den Weg nach Carignan (ostwärts in Richtung auf das seit zwei Wochen be
lagerte Metz) bahnen und uns Bayern in die Maas werfen wollte. Gegen dieses unerwartete Vorgehen fuhr aber jetzt die gesamte hier vorhandene Artillerie auf, deren Feuer auch von den auf der Höhe oberhalb Remilly
stehenden Batterien unterstützt wurde;
zugleich gelang es die 3. Division vor
den an den Nordwestausgang von Bazeilles vorgezogenen Truppenteilen des 1. Armeekorps zum Gegenstoß zu verwenden. Das Feuer der Artillerie und Infanterie brachte jetzt den Feind zum Stehen. Dieser plötzliche Vorstoß rief die Besorgnis hervor, daß die Franzosen
doch noch den Durchbruch auf Carignan versuchen könnten, und veranlaßte Gegenmaßregeln.
Deshalb wurden alle hier disponiblen Truppen vorgezogen;
das ganze 1. Korps und nebenan bei La Moncelle die Sachsen und die Preußen rückten vor. Es war ungefähr 5 Uhr abends. Die 2. Brigade
marschierte um das in Flammen stehende Dorf BazeilleS an der Ost- und
Nordseite herum und nahm rittlings der Straße nach Balan Stellung, das 2. Regiment südlich, wir (11. bayer. Jnf.-Reg.) und das 4. Jägerbataillon nördlich der Straße.
Es war ein erhebender Anblick, als wir vor Bazeilles
angelangt waren, die Sonnenstrahlen aus den glitzernden Bajonettenwäldern blitzten,
die Kolonnen mit wehenden Fahnen und unter den
begeisternden
Klängen des Avanciermarsches über den Boden vorgingen, den unsere Tapferen
am Vormittage mit ihrem Herzblute getränkt hatten, Ringen den Feind zu werfen.
mutig bereit im letzten
Doch es war kein Eingreifen mehr nötig.
Der
Angriff Wimpffens war erlahmt, die Franzosen fluteten zurück.
Wir machten Halt.
Hinter den die Ackergrenzen
säumenden Hecken
lagen die Gefallenen, herüben meist Angehörige des 10. und 13. Regiments, Mann an Mann, wie sie in Reih und Glied gefochten hatten, die meisten
durch den Kopf geschossen, und ihnen gegenüber auf 100 Schritte Entfernung lagen ebenso die Franzosen, in der Mehrzahl Mariniers. Die Toten reihten sich so dicht aneinander, daß wir sie wegschieben oder über sie hinwegsteigeu mußten um unsern Marsch fortzusetzen. So weit wir nach Norden sehen
konnten, erstreckten sich die Reihen der entschlafenen Tapferen, Leute aller bayerischen Regimenter, die hier gefochten hatten, nebst Preußen und Sachsen und Rothosen, das Hin- und Herwogen des Kampfes und die einzelnen
572
118. Die Schlacht bei Sedan.
Momente markierend.
Die Schauer des Leichenfeldes
machten einen tiefen
Eindruck auf unsere Leute. Gegen 6 Uhr, nach 14 stündigem, hartem Ringen, verstummte das tobende
Feuer auf allen Punkten des blutgetränkten Schlachtfeldes.
Die französische
Armee war eingeschlossen und von allen Seiten her in die Festung zurück geworfen worden; durch unsere Reihen verbreitete sich die frohe Äunbe, daß auf den Wällen von Sedan die weiße Flagge wehe.
Um 7 Uhr erhielten wir den Befehl auf die Biwakplätze am Bahnhöfe
zurückzukehren.
Mit Einbruch der Dämmerung erreichten wir sie.
Nun
machte der knurrende Magen seine Ansprüche geltend. Auf dem Bahnhöfe stand ein langer Proviantzug der Franzosen, die Wagen gefüllt mit Rauch-
sieisch, Speck, Zwieback, Kaffee und Zucker.
Rasch wurde ausgeteilt, noch
rascher nahm jeder einige Bissen zu sich, die Pferde fütterten wir mit dem letzten Stück Brot und mit Zucker aus der Beute, denn Furage war nicht
vorhanden. Dann sank ein jeder auf der Scholle nieder, wo er stand, und streckte sich zum Schlafe. Zwei Nächte hintereinander hatten wir auf Vor posten gewacht, drei Tage hintereinander hatten wir geschlagen, jetzt forderte
die Natur ihre Rechte, der Schlummer senkte sich auf die bleischweren Lider. Wir wußten, daß wir einen großen, herrlichen Sieg errungen hatten, aber die
Größe des Erfolges erfuhren wir erst am folgenden Tage. Der Morgen des 2. September brach hell herein, er sollte nach drei Tagen blutiger Kämpfe der erste friedliche Tag sein. Aber Ruhe fanden wir wenig.
Von Tagesbeginn an marschierten preußische Truppen an unserem
Freilager vorbei, sendeten den tapfern Bayern brausende Hurrarufe zu und empfingen ebenso begeisterte Antwort; dann kamen lange Züge von französischen Gefangenen, die gestern auf freiem Felde die Waffen gestreckt hatten. Sachsen
eskortierten sie nach rückwärts, sie mochten beiläufig 6000 Mann zählen.
Später rief uns traurige Pflicht; es begannen die Bestattungen der Gefallenen und der während der Nacht auf den Verbandplätzen und in den Aufnahms-
Feldspitälern ihren Wunden Erlegenen, voran der Offiziere; an geeigneten Stellen in den Feldern, an den Gartenhecken oder unter den Wipfeln uralter
Bäume fanden die Braven ihre letzte Ruhestätte.
Die Musikkapellen an der
Spitze schritten die langen Züge heran, Bahre hinter Bahre, und immer neue Bahren schlossen sich aus dem Parke des uns gegenüberliegenden Schlosses an; der Mantel verhüllte mitleidig die vom Todeskampf verzerrten oder von den Kugeln entstellten Gesichter; gar mancher mir persönlich liebe Kamerad
war unter ihnen.
Rührend war es zu schauen, wie die Anhänglichkeit und
treue Liebe der Untergebenen die Bahren gar mancher Offiziere mit Blumen geschmückt, die letzten blühenden Rosen aus den vom Blute der Streiter ge» tränkten Gärten über das letzte Lager gestreut hatte.
Und selten wohl ist
der ergreifende Trauermarsch Beethovens so zu Herzen gedrungen wie damals den Leidtragenden. — Aber der Soldat darf sich nicht grämen!
Schlaft
573
119. Der Straßenkamps in BazeilleS.
wohl, ihr Tapfern,
in fremder Erde!
Mit uns, euern treuen Kameraden,
trauert tun euch das ganze deutsche Vaterland! Es mochte ungefähr 10 Uhr vormittags sein,
ungemein rege Bewegung geltend machte.
als sich plötzlich eine
Generalstabsoffiziere und Adjutanten
galoppierten hin und her; aus der Ferne vernahmen wir brausende, nicht enden wollende, stets stärker anschwellende Hurrarufe und die Töne rauschender
Musik. Wir standen und fragten. Da sprengte unser Divisionskommandeur, der ritterliche Generalleutnant von Stephan, in unser Biwak. Der alte Herr strahlte vor Begeisterung und rief mit weithin schallender Stimme:
„Sedan
ist über! 83000 Franzosen sind gefangen! Kaiser Napoleon hat dem König Wilhelm seinen Degen übergeben! Hurra dem König! Hurra unserm König!" Die Luft erbrauste von donnernden Rufen, die Leute warfen ihre Mützen in die Luft, die Kameraden fielen einander in die Arme und Tränen der Freude rannen gar manchem in den verwilderten Bart. Die Kapellen
waren rasch versammelt und stimmten die Königshymne an, die in hellem Jubel vom tausendstimmigen Chor der Krieger mitgesungen wurde. Se. K. Hoheit Prinz Luitpold
erschien um selbst bei der Verkündigung dieser
hehren Botschaft in Mitte seiner treuen Bayern zu sein und wurde gleich
mehreren Generalen, die zur Begrüßung der Truppen kamen, mit begeisterten Zurufen empfangen; anfänglich vermochte der erlauchte Herr der stürmischen Huldigungen sich kaum zu erwehren.
Unter dem Sturmliede der Kanonen hatte mit gewaltigen Hämmern Glied an Glied des ehernen Ringes fest die deutsche Siegerfaust geschmiedet.
„Sieg! Der Kaiser ist gefangen!" brauste es jubelnd durch die Lüfte, brauste
es vom Tale zu den Bergen, von den Bergen zurück ins Tal und der Wind trug den Jubel auf seinen Fittichen hinüber über Vogesen und Rhein, in die
Häuser und Hütten der Heimat. Der Verwundete, der sich stöhnend auf seiner Schütte Stroh krümmte, streckte sich und der Held, um dessen brechendes Auge schon der Todesschatten florte, hob sein blutendes Haupt empor und
legte sich zufrieden zurück zum Sterben.
Dem Franzmann aber klang es wie
die Todesglocken von seines Vaterlandes Ehre. Unter Blut und Eisen stürzte jäh der Thron des welschen Cäsars zusammen und über seine Trümmer weg, auf vom blutigen Schlachtgefilde, hob stolz zur Kronfahrt seine Schwingen der deutsche Kaiseraar.
119. Der Stratzenkamps in Bazeilles. Don Karl Bleibtreu.')
Von beiden Seiten warf man immer neue Truppen hinein um den feuerspeienden Krater zu speisen. Ich habe von diesem tollen Gemetzel nur *) »Dies irae«, Erinnerungen eines französischen Offiziers an die Tage von Sedan» S. 84 ff. Stuttgart 1882. Karl Krabbe.
574
119. Der Straßenkampf in Bazeilles.
noch unvollkommene Vorstellungen. Es wurde mit der blutdürstigen Rachgier lebenslänglicher Todfeinde gestritten. Auf deutscher Seite langgenährter Haß,
auf französischer die Erbitterung hochmütiger Weltbeherrscher über die An maßung herausfordernder Parvenus. War es doch unbewußt bei jedem einzelnen ein Zweikampf der zwei kriegerischesten Nationen der Neuzeit um die
Welthegemonie! Dieses instinktive Bewußtsein riß wohl auch die Einwohner fort sich an dem Blutbade zu beteiligen.
Sie taten es in der Uniform von National
gardisten, aber wie Meuchelmörder. Man hat erzählt, die Bayern hätten ganze Familien in die Flammen gestoßen; aber ich habe selber gesehen, wie
ein bayerischer Jäger ein altes Mütterchen, das in der brennenden Straße vor Mattigkeit zusammenbrach, durch einen Trunk aus seiner Feldflasche er quickte und ihr dann half das Bündel mit ihren Habseligkeiten auf den Rücken zu heben. Ich habe ferner beobachtet, wie ein Einwohner einen verwundeten Bayern in ein brennendes Haus zu schleifen suchte und wie der Frevler von
den herzueilenden Kameraden niedergemacht und dann selber in die Flammen geschleudert wurde. Keiner von beiden verdient Vorwürfe:
Völkerhaß ist unerbittlich.
Bazeilles war längst in Brand geschossen; Hitze und Qualm machten es in vielen Straßen unmöglich den Kampf fortzusetzen. Teilweise war ja auch der blühende Flecken schon eingeäschert. Überall geschwärzte Ruinen! Achtzig
Häuser, nicht Hütten, nicht Lehmkaten, sondern zweistöckige Quaderbauten, aus massivem Sandstein aufgeführt, lagen in Trümmern.
Die heldenmütigen Ver
teidiger ließen sich einfach mit den Bauten verbrennen. Zuletzt trat der elementare Dämon, der in jeder Menschenbrust steckt, in
seine Rechte. würgte sich.
Man fiel sich mit den Naturwaffen an, man umkrallte und Ich sah Leute, die mit abgerissenem Bajonett aufeinander los
gingen und sich, nur an die Vernichtung des Gegners denkend, zu gleicher Zeit beim ersten Stoße niedermachten; Offiziere, die einander ohne zu parieren den Degen durch den Leib rannten; Sterbende, die sich in ihre Sieger krampf
haft verbissen oder Vorüberschreitende umzureißen suchten.
Man warf die
Verteidiger summarisch zum Fenster hinaus, daß das Gehirn umherspritzte. Man
schmetterte sie von hinten mit Steinen nieder, wo sie, obwohl allerseits umgangen, bis zuletzt hinter Schutthaufen und Mauerresten am Boden liegend, feuerten
ohne sich um den Todesstteich zu kümmern, der sie vom Rücken her bedrohte. Es war ein berserkerhafter Kampfzorn. Ich sah auf der Hauptstraße einen Marinesoldaten mit zerschmettertem Beine liegen, in seinem Schmerze fast verschmachtend.
Ein bayerischer Oberst bot ihm einen Trunk Wasser und Wein
aus seiner Feldflasche, eine aufopfernde und erbarmungsvolle Tat mitten im Feuer. Aber der Sterbende wies ihn zurück, knirschte mit den Zähnen und lästerte Gott.—
Wilde Flüche, das unheimliche Klirren des Bajonettkampfes, dazwischen gellendes Angstgcschrei flüchtender Weiber, Schmerzensgebrüll >
Und durch das
119. Der Straßenkampf in Bazeilles.
575
Schmettern der Hörner und Rollen der Trommeln hindurch bestialisches Tiger geheul und hyänenhastes Wutgelächter! — Pardon wurde überhaupt weder verlangt noch gegeben. Nur eine Tugend scheint noch lebendig — denn die Tapferkeit wird bald
zu wüstem Morden und tierischem Instinkt — das ist ein gewisser vager Patriotismus.
Nicht mehr war es die blinde Vergötterung militärischer Götzen,
wie bei Waterloo, wo man Grenadiere den linken zerschmetterten Arm mit dem
rechten in die Lüfte werfen sah: ,,Vive l’Empereur jusqu'ä la mortl“ — nicht mehr folgte man allein der Trikolore, der Iris des Sieges, und dem „heiligen Kreuz" des Ruhmes, dem Stern der Ehrenlegion. Die Austerlitzsonne war im
Sinken. Sie leuchtete uns nicht mehr vor in die ewige Nacht. — Immer ver einzelter scholl das „Vive l’Empereur!“ der Offiziere und immer stärker schwoll das donnernde Schlachtgeschrei, das wir dem Feinde entgegenschleuderten: „La France!“ .... Und doch mußten die Deutschen siegen. Sie hatten eine
Idee auf ihrer Seite — und die siegt immer. Es war Mittag, als Bazeilles verloren ging. Wimpffen ordnete mit vieler Umsicht unsere zweite Position in Balan. Mich schickte er gegen Givonne vor um den dortigen Zustand der Dinge zu erkunden.
Es war ein großartiger Anblick, wie er wohl kaum je einem menschlichen Auge geboten ist. Auf einem unverhältnismäßig schmalen Raume kämpften Noch wurde unter mir im Grunde von Daigny um die Brücke mit Heldenmut gerungen; aber das unheimliche Knarren der Zehntausende von Menschen.
Mitrailleusen, das sonst durch allen Schlachtenlärm vernehmlich gewesen war, ließ sich nur noch in langen Zwischenräumen hören. Unsere auf dem Plateau
zusammengequetschten Massen wurden um so mehr von schweren Verlusten heim
gesucht, als Wimpffen die Divisionen Pelle und L'Heriller zu Douay, dieser aber mehrere Brigaden zur Verstärkung nach Balan entsendet hatte. Diese Truppen drängten und kreuzten sich nun im Marsche.
Noch jetzt aber zeigte sich keine Spur von Entmutigung.
Obwohl aus
tausend Wunden blutend stellte sich der umringte Löwe doch überall brav und trotzig entgegen und versuchte bald hier bald da einen Vorstoß zu machen um dem verderblichen Netze zu entrinnen. Überall brachen sich unsere dezi
mierten Sturmsäulen an dem ehernen Ring und wurden in den Kessel zu rückgetrieben, in welchem Tod und Vernichtung unbarmherzig wüteten. Die feindlichen Granaten wirkten Erstaunliches. Sie flogen mit der Präzision einer gut gezielten Büchsenkugel.
Tiralleurschwärme wurden auf eine Entfer
nung von 300 Schritt zur Umkehr gezwungen, größere Massen zerstoben wie
hilflose Herden von Wölfen angefallen.
Aus der Hölle von Bazeilles auf die Höhe von Jlly gekommen zu sein hieß aber nur aus dem Regen in die Tranfe geraten. Das Feuer dort oben war
beispiellos.
Man denke sich ein schmales Plateau, von einer dicht zusammen
gedrängten Armee besetzt, das von 20000 Granaten gefegt wird!
Es war das
576
119. Der Strahenkampf in Bazeilles.
großartigste und entsetzlichste Schauspiel, das ich je gesehen habe.
Auf den
amphithcatralisch gelegenen Waldbergen ringsum Hunderte feindlicher Geschütze, die Tod und Verderben über die Täler ergossen.
gelassen.
Die ganze Hölle schien los
Es sauste und heulte durch die Luft, es krachte und platzte hierhin
und dorthin. Fortwährende Explosionen! — Drei Dörfer brannten lichterloh — aus Sedan leckte bereits eine blutrote Flamme empor. Feuerschein und Pulver qualm mischten sich zu einer unbeschreiblich unheimlichen Atmosphäre und über
der ganzen Szene schien eine Wetterwolke zu hängen, aus der es unaufhörlich blitzte und bornierte. Es war, als ob die Engel des Jüngsten Gerichts die Schalen des Zornes über eine Dantesche Hölle ausschütteten.
Endloses Erdbeben schüttelte den Boden unter den Kämpfenden, als ob die große Mutter sich in Krämpfen winde. Die Halme und Ähren lagen ge knickt und in jeder Ackerfurche die lebende Blüte des Landes in Stücke zerfetzt.
Fast jeder Baum warf zitternd Splitter und Blätter als Bahrtuch für die Ge
fallenen herab. — Ein Chaos der Verwüstung, so weit das Auge blickte! Unablässig drangen die Blauen unten vor, unablässig warfen sich ihnen die
Unsern entgegen. Nie ist mit standhafterer Hingebung gefochten worden als hier von den Besiegten von Wörth. Da fesselte meine Aufmerksamkeit eine merkwürdige Szene. Aus einer total zerschossenen Hütte, welche einzustürzen drohte, trat ein Mann, warf sich
aufs Pferd und ritt dann mit wenigen Begleitern langsam querfeldein nach Sedan zu.
Jeder erkannte ihn:
der Kaiser war es! Sein Gesicht war erd
fahl, seine Augen stier und glanzlos, als wären sie nach innen gerichtet.
Ich
konnte mich nicht des Mitleids für den unglücklichen Monarchen erwehren, der hier buchstäblich den Tod gesucht hatte: er sollte ihn auf dem Felde der Ehre nicht finden.
Hier und da begrüßte den Vorüberreitenden ein vereinzeltes:
„Vive l’Empereur!“, aber auch drohende Rufe erhoben sich.
Nicht selten richtete
sich ein Verwundeter auf um ihm mit geballter Faust und schäumender Lippe ein Schimpfwort nachzuschleudern. Es war seine Kalvarienstraße. Ich mußte an
Napoleons I. Abendritt bei Aspern denken.
Ob er wohl die Leichenhügel
zählte?! — „Das Gespenst des Kaiserreichs!" dachte ich, als ich den bleichen Schemen vorüberschlendern sah ... . Dieser Anblick konnte entmutigen.
„Angeschlossen!"
„En avant!“ „Es
lebe der Kaiser!"
„Ach was!" knurrte ein alter Sergeant. ,,A bas Bonaparte! Cochon ? . . . . Vive la France I“ Mit Begeisterung wurde dies Feldgeschrei aus genommen, und während Granate nach Granate ganze Sektionen zu Boden
riß, ging es unter dem Gesänge der Marseillaise, die wie durch elekttischen Elan von allen Seiten angestimmt wurde, in den Kugelregen hinein: „Uhr Söhne des Vaterlandes, herbei!
Der Tag des Ruhmes ist gekommen" ....
577
120. Sedan.
120. Sedan. Don Karl Gerok.')
Wie Märchen klingt's und doch im Jubelton Durch alle Straßen wälzt sich's freudebrausend: „Sie haben ihn, den Schelm Napoleon! Sie haben ihn und seine achtzigtausend!" Die Kinder rufen's in den Gassen aus, Den Männern rollen Tränen von den Wangen, In Flaggen hüllt sich festlich Haus um Haus; „Viktoria! Der Kaiser ist gefangen!"
Viktoria! - So wuchtig lag die Frucht Vollreifen Siegs noch nie in deutschen Händen, Seit Hermann in der Teutoburgerschlucht Roms Heer zerquetschte zwischen Felsenwänden. Nicht Leipzig ist's, nicht Waterloo fortan, Wo deutscher Kraft ihr Bestes ist gelungen, Dort hat es halb Europa mitgetan, Bei Sedan haben wir's allein gezwungen. Viktoria! - So jählings lag, so tief Der Deutschen Todfeind niemals noch danieder, Augustus nicht, als er verzweifelnd rief: Gib, Darus meine Legionen wieder! Nicht König Franz, der nach Pavias Strauß Dem deutschen Ritter übergab die Wehre Und aus der Haft des Kaisers schrieb nach Haus: Alles verloren, aber nicht die Ehre.
Du brachtest nicht die Ehre mit ins Feld, Du nimmst sie nicht vom Feld mit ins Gefängnis. Ein kecker Spieler warst du, doch kein Held, Nicht groß im Glück und klein in der Bedrängnis. Des Siegers Mitleid, deines Heeres Hohn Und deines Volkes Fluch wird mit dir gehn, Und zürnend wird dein Ohm Napoleon Allnächtlich neben deinem Lager stehn.
Ein Gottesurteil ist's, ein Weltgericht, Wie keins in der Geschichte Buch geschrieben. Die Lüge bläht sich, doch besteht sie nicht; Gott bläst darein, die Blase muß zerstieben. Der Pharao begrub im Roten Meer, Nebukadnezar zwang den Staub zu essen ') „Eichenlaub", deutsche Gedichte aus dem Jahre 1870, S. 27. Fr. Lipperheide. Kronseder, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
Berlin 187P.
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
578
Und Sanherib zerschlug mitsamt dem Heer, Ist wieder einmal zu Gericht gesessen.
Ihr aber rollt aufs neu' die Fahnen auf. Glorreiche Helden, deutsche Gottesstreiter! Mit Gott voran im blutigen Siegeslauf! Dis hierher half er und noch hilft er weiter! Auf nach Paris, ins stolze Babylon! Kein Halt, bis seine trotzigen Mauern fallen! Dann soll's noch lauter, soll im Donnerton Viktoria! durch die deutschen Lande hallen!
121. Die Waffenftreckung bei Sedan; Zusammenkunft
der Generale zu Donchery. Don Wilhelm Onken.') Hier?) schossen die Batterien wie auf dem Schießplatz nach der Scheibe,
ohne selbst noch irgend welchen Verlust zu haben.
Endlich schien der Augen
blick zum Angriff gekommen und eine Salve aus sämtlichen Geschützen sollte der Infanterie das Zeichen geben. Die Salve krachte Punkt 2% Uhr und die Infanterie stieg den Berg hinan.
Der Widerstand war hier fast Null.
An
den meisten Stellen kamen die entmutigten Franzosen unseren Truppen mit dem Rufe entgegen: »Mich pitiö, nous ne pouvons plus, nous sommes ^crasös par le feu de votre artillerie«. Um dieselbe Zeit, da so der rechte Flügel der Franzosen gewissermaßen
in Stücke zerrissen ward, machte ihre heldenmütige Reservereiterei (Divisionen Marguerite und Bonnemains) die letzten verzweifelten Anstrengungen den linken Flügel vor demselben Schicksale zu bewahren. Drei-, viermal waren bei Floing
und Cazal Lanciers, Kürassiere, Chasseurs und Husaren in dichten Massen gegen das preußische Fußvolk der 43. Brigade vorgestürzt und durch die auf
gelösten Schützenlinien hindurchgesprengt, dann aber überall in ein vernichten
des Schnellfeuer geraten, das die geschlossenen Kompagnien von vorn, von rechts und links her auf sie abgaben, indem sie die Reiter ohne Viereck zu
bilden bis
auf
100 —150 Schritte
herankommen
ließen und
dann
ihnen
kaltblütig ihre mörderischen Salven entgegensandten. Mit Hinterlassung der Hälfte ihrer Offiziere und Mannschaften, die sich, Mann und Roß durch einander, zerfleischt im Staube wälzten, jagten die Reste der tapferen Schwa dronen zurück.
Der ganze äußere Höhenhalbkreis, welcher den inneren mit der Stadt Sedan wie ein höheres Stockwerk überragte, war mit 500 deutschen Geschützen
und die wichtigsten Stellungen innerhalb waren unwiderruflich von deutscher ') Das Zeitalter des Kaisers Wilhelm, II. Band, S. 150 ff. •) D. i. um die Höhen von Jlly, nördlich Sedan.
Berlin 1892.
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
579
Infanterie besetzt,
als König Wil helm, der auf der Höhe hinter Fre-
nois auf dem linken Maasufer, östlich von Don-
chery, die Oberlei tung der Schlacht
Leichenfeld auf den Höhen von Illy.
geführt hatte, um 4 Uhr den Befehl gab, die ganze auf dem linken Maasufer verfügbare Artillerie solle ihr Feuer auf die Stadt Sedan vereinigen um dadurch eine Waffenstreckung zu erzwingen, die dem deutschen Heere fernere Opfer ersparen
würde. Zu dem Zwecke wurden auch die Württembergischen Batterien aus Donchcry herangczogen und zu beiden Seiten der großen Straße, östlich von Frenois, in Stellung gebracht. Nach den ersten Schüssen des nunmehr verstärkten Geschützfeuers schlugen in Sedan an mehreren Stellen die Flammen in die Höhe. Die Spitzen des
5. bayerischen Jägerbataillons näherten sich dem westlichen Fcstungstore, fanden dort nur wenig Widerstand und waren eben im Begriffe die Palisaden zu übersteigen, als über der Stadt die weiße Fahne sichtbar ward und auf feind
licher Seite das Feuer verstummte, ein Beispiel, das alsbald auf deutscher Seite allgemein Nachahmung fand. Um 6 Uhr war der Kampf zu Ende und seine Beendigung durch das Aufhissen der weißen Flagge war das persönliche Werk des Kaisers Napoleon gewesen, dem die Generale Ducrot, Lebrun, Douay vorgestellt hatten, jeder Widerstand sei vergeblich, die Truppen, seit zwölf Stun
den im Feuer, ohne Ruhe und ohne Speise, seien vollkommen entmutigt, alle
die, die nicht in die brennende Stadt zurückgekonnt, seien in den Gräben und an den Mauern des Platzes angehüuft: alles in allem eine Lage, die schleunige Lösung forderte.
Indem er diese Entschließung traf, begriff Napoleon III. die ganze Schwere der Verantwortung, die er auf sich nahm, und hörte in Gedanken
all die Anklagen, deren Gegenstand er sein würde.
Die Lage erschien ihm
in ihrem ganzen Ernste und die Erinnerung einer ruhmvollen Vergangenheit vermehrte ihre Schmerzlichkeit durch den Widerspruch mit der Gegenwart.
Der
Ruhmesglanz, den die französische Armee mit Recht genossen, sollte also an einem Tage erlöschen und angesichts eines Unheils ohnegleichen der Kaiser, obwohl den gefaßten Entschließungen fremd, vor den Augen der Welt allein
verantwortlich bleiben für alles Leid, das der Krieg im Gefolge haben mußte?
Und wie wenn in dieser Schreckensstunde nichts fehlen sollte um das Maß
des Unheils voll zu machen, sandte nun auch der General Wimpffen dem Kaiser seine Bitte um Entlassung ein, so daß diese ungezügelte Armee sich
121. Die Daffenstreckung bei Sedan.
580
ohne Haupt und ohne Leitung befinden sollte, gerade da die äußerste Tatkraft
nötig war um nur etwas Ordnung herzustellen und mit etwas besserer Aus sicht auf Erfolg mit dem Feinde zu unterhandeln.
Die Entlassung ward nicht
angenommen und der Obergeneral begriff, daß, nachdem er in der Schlacht befehligt, er auch die Pflicht habe in so kritischen Umständen seinen Posten
nicht fahnenflüchtig zu verlassen. Während die weiße Fahne aufgezogen ward, erschien ein preußischer Offizier, Oberstleutnant Bronsard von Schellendorf, der ins Hauptquartier
geführt werden wollte. Von ihm erfuhr man, daß der König Wilhelm vor den Toren der Stadt sich befinde, und darum glaubte der Kaiser, das Beste für ihn werde sein sich
unmittelbar an das Haupt des Norddeutschen Bundes zu wenden. „Man hatte", schreibt der Kaiser, „in den Zeitungen so oft gesagt, der König von Preußen führe den Krieg nicht gegen Frankreich, sondern nur gegen den Kaiser,
daß
dieser überzeugt war, wenn er von der Bühne verschwände und sich in die Hände des Siegers begäbe, er würde vorteilhaftere Bedingungen für die Armee erlangen und gleichzeitig der Regentin leichter die Möglichkeit verschaffen in Paris Frieden zu schließen." Wir wissen, die Unterscheidung zwischen Frank reich und dem Kaiser, von der hier Napoleon redet, war wohl im Jahre 1814
und 1815, aber im Jahre 1870 niemals gemacht worden, niemals vom König Wilhelm und niemals von irgend einem deutschen Blatt. Beim Überschreiten der Grenze Frankreichs hatte König Wilhelm aus
gesprochen, er fechte nur gegen das bewaffnete, nicht gegen das unbewaffnete Frankreich, nur gegen Soldaten, nicht gegen friedliche Bürger.
Aber das war ja etwas ganz anderes,
als was hier der Kaiser sich
selber vorgespiegelt hat. In diesem Wahn schrieb
der Kaiser
an den König Wilhelm den be
rühmten Brief?)
Der General Reille war's, der diese Zeilen auf der Höhe von Frenois dem König Wilhelm übergab und dann dessen Antwort nach Sedan zurück brachte.
Der Inhalt des Briefwechsels hatte sich wie ein Lauffeuer bei den
Truppenteilen verbreitet, und als Reille zurückkam, da vernahm er ein tausend stimmiges Hurra, das fortrollte von Truppe zu Truppe, von Höhe zu Höhe und endlich das ganze Tal ausfüllte mit immer neuem Widerhall; dies Hurra
feierte den entscheidendsten aller Siege und begrüßte den Frieden, den alle Welt näher glaubte,
als er wirklich war.
Erst offenbaren sollte sich, was
*) Monsieur mon frerc, N’ayant pas pu mourir au milieu de mes troupes il ne me reste qua remettre mon epöe entre les mains de Votre Majeste. — Je suis de Votre Majeste le bon frere Sedan le 1. sept. 1870. Napoleon.
581
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
damals niemand ahnte: der Degen, den Napoleon übergeben hatte, war nur der Degen eines gewesenen Kaisers, aber der Degen Frankreichs war es nicht. Die eigenmächtige Aufhissung der weißen Fahne war die letzte Handlung, welche Napoleon III. kraft seiner rechtlich noch nicht erloschenen Eigenschaft In dem Briefe, den er gleich danach an König Wilhelm schrieb, sprach kein Staatsoberhaupt und kein Oberfeldherr mehr.
als Souverän verrichtet hatte.
Weder von der Festung noch vom Heere, weder vom Waffenstillstand noch vom Frieden war darin die Rede; nur den Verzicht auf die Fortsetzung eines un widerruflich verlorenen Kampfes hatte er persönlich angemeldet, aber nicht die
mindeste Andeutung hinzugefügt über den Sinn und Umfang, in dem dieser Verzicht auch für andere gelten sollte. Der Hintergedanke, der in diesem Ver fahren lauerte, offenbarte sich nicht auf den ersten Blick.
Einen Brief gerade
solchen Wortlautes hatte der König Wilhelm nicht erwartet. um ^7 Uhr General Graf Reille mit
Als am Abend des 1. September dem Briefe des Kaisers nach der Höhe der König mit dem Kronprinzen, den lassen, inmitten eines Halbkreises, den
von Frenois heraufgeritten kam, stand er von Donchery hatte herrüberrufen mit Bismarck, Moltke und Roon die
anwesenden Fürsten um ihn bildeten.
Zehn Schritte vor dem König stieg der
Parlamentär ab, ging auf ihn zu, zog die Mütze und übergab ihm einen großen, rotgesiegelten Brief. Nun traten alle von dem König zurück, der das
Schreiben öffnete und las.
Während er las, herrschte Totenstille unter der
immer zahlreicher gewordenen Umgebung und nur das wirre Summen der Tausende von Kriegern, die sich im Tal noch drohend gegenüberstanden, drang Nachdem er gelesen, übergab der König den Brief dem Grasen Bismarck, der ihn dem Kronprinzen und den Generalen von Moltke und
den Berg herauf.
Roon vorlas.
Hierauf erhielt Bismarck den Befehl die Antwort zu entwerfen,
die dieser dem Grafen Hatzfeld diktierte.
Stehend schrieb dann König Wilhelm
an den Kaiser in französischer Sprache:
„Mein Herr Bruder!
Mit Bedauern über die Umstände, unter denen
wir zusammentreffen, nehme ich den Degen Ew. Majestät an und bitte Sie einen Ihrer Offiziere ernennen zu wollen, der bevollmächtigt wird über die Bedingungen der Ergebung der Armee zu unterhandeln, die sich unter Ihren Befehlen so tapfer geschlagen hat. Meinerseits habe ich den General von Moltke dazu bestimmt.
Ew. Majestät guter Bruder Wilhelm."
Vor Sedan, 1. September 1870.
Als Reille mit der Antwort fort war, fielen sich der König und der
Kronprinz um den Hals.
Jetzt drängte sich alles herbei um Glück zu wünschen
In unbeschreiblicher Begeisterung, in Um armungen, Freudenttänen und Jubelrnfen löste sich die bis dahin fieberhafte
zn dem entscheidendsten aller Siege.
Spannung der Gemüter auf.
In des Königs Augen las man die freudige
582
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
Bewegung, die sein Inneres erfüllte, aber auch die ernsten Sorgen, die ihr
das Gegengewicht hielten. Für alle Glückwünsche und verwegenen Hoffnungs worte dankte er nur mit einem Händedruck. Unter vielen Trunkenen schien
ex der einzig Nüchterne zu sein und zum Grafen Bismarck sagte er:
„Dies
weltgeschichtliche Ereignis, fürchte ich, bringt uns den Frieden noch nicht." Noch in der Nacht fand zu Donchery die erste Zusammenkunft der Be vollmächtigten statt, deren Aufgabe war den Vertrag über die Waffenstreckung
des französischen Heeres abzuschließen. Zu dieser Zusammenkunft begab sich der General von Moltke, begleitet von seinem Generalquartiermeister und
dem Generalstab; auf Befehl des
Königs wohnte auch der Bundeskanzler Graf Bismarck der Unterredung bei,
die der Rittmeister Graf Nostiz an Ort und Stelle zu stenographieren hatte. Auf dem Wege nach Donchery
erwogen Bismarck und Moltke
die Frage,
inwieweit es möglich sein werde die Achtung vor der Tapferkeit, mit der der Feind sich geschlagen hatte, in den Bedingungen zu betätigen, die ihm jetzt gestellt werden mußten, und sie einigten sich rasch in dem Entschlüsse den Satz festzuhalten, daß ein Volk, welches vier Jahre lang diesen Krieg gefordert habe um eine von ihm selbst gar nicht erlittene Niederlage zu rächen, die Nieder
lage, die es nunmehr selbst erfahren, niemals verschmerzen und folglich auch großmütige Schonung nie verzeihen werde. Daraus ergab sich von selbst die Forderung: Niederlegen der Waffen und Kriegsgefangenschaft der ganzen Armee.
Im Quartiere des Grafen Bismarck zu Donchery fand nachts 10 Uhr die Unterredung statt. Die Franzosen waren schon seit zehn Minuten versammelt, als General von Moltke mit Graf Bismarck, General von Blumenthal und einigen Offizieren eintrat.
Nach kurzer Begrüßung fragte er den General von Wimpffen, ob er
Vollmachten besitze, und auf dessen bejahende Antwort verlangte er sie zu sehen und zu prüfen.
Nachdem dies geschehen war, stellte General Wimpffen seine
Begleiter, den General Castelnau und den General Faure, vor.
Auf die Frage
des Generals von Moltke, in welcher Eigenschaft diese beiden Generale gekommen seien, antwortete General Faure, er sei gekommen als Stabschef des Marschalls Mac Mahon um General Wimpffen zu begleiten, habe aber sonst keinen amt lichen Auftrag, und der General Castelnau sagte, er habe eine mündliche und halbamtliche Mitteilung des Kaisers zu überbringen,
diese Mitteilung werbe
aber erst am Ende der Unterredung ihre Wirkung tun; an der Unterredung
selber anderweitig teilzunehmen habe er keinen Auftrag. Darauf nannte General von Moltke mit einer Handbewegung den Grafen Bismarck und den General von Blumenthal und man setzte sich an den Tisch, der in der Mitte
des Zimmers stand.
Auf der einen Seite dieses Tisches, auf dem eine rote
Decke lag, saß Moltke mit Bismarck zur Linken und Blumenthal zur Rechten, auf der anderen saß allein der General von Wimpffen; hinter ihm, im Schatten fast verloren, die Generale Castelnau und Faure und die anderen französischen
583
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
Offiziere; außerdem waren noch sieben oder acht preußische Offiziere anwesend,
von denen der Graf Nostitz auf einen Wink des Generals Blumenthal sich au den Kamin setzte, um der Unterredung mit der Feder zu folgen. Nachdem man sich gesetzt hatte, trat eine Pause erwartungsvoller Stille
ein; der General Wimpffen wollte nicht anfangen, aber als Moltke in eisigem Schweigen verharrte, entschloß er sich endlich das Wort zu nehmen. „Ich möchte," sagte er, „die Bedingungen kennen lernen, welche Se.Maj.
der König von Preußen geneigt ist uns zu bewilligen." „Sie sind sehr ein fach," erwiderte Moltke; „die ganze Armee ist kriegsgefangen mit Waffen und Gepäck; man würde den Offizieren ihre Waffen lassen als Zeichen der Achtung vor ihrem Mut, aber sie werden Kriegsgefangene wie die Mannschaften auch." „Diese Bedingungen sind sehr hart, General", erwiderte Wimpffen, „und mir scheint, für seinen Mut verdient das ftanzösische Heer ein besseres Schicksal. Könnten ihr nicht folgende Bedingungen eingeräumt werden? Ihnen bliebe die Festung mit den Geschützen, der Armee aber würde gestattet mit Waffen, Ge
päck und Fahnen abzuziehen mit der Verpflichtung während der Dauer dieses Krieges nicht mehr gegen Preußen zu dienen; diese Verpflichtung würden der Kaiser und die Generale für die Armee, die Offiziere jeder für sich schriftlich eingehen und dann würde die Armee in einen von Preußen zu bestimmenden Teil Frankreichs oder nach Algerien geschickt werden um dort bis zum Friedens schlüsse zu bleiben." Ohne eine Miene zu verziehen antwortete General von Moltke, seine Forderung sei unwiderruflich und unabänderlich.
Nun hielt
ihm General Wimpffen eine große Rede über die ganz unsagbar peinliche Lage,
in die er persönlich sich gesetzt finde, er, der vor 48 Stunden in der Sand wüste Afrikas aufgebrochen sei um jetzt seinen ehrlichen Kriegernamen für immer zu beflecken durch Unterzeichnung eines Vertrages von solch unerhörtem Inhalte, und doch habe er die Schlacht, um deren Ergebnis es sich handle, gar nicht selbst eingeleitet, müsse vielmehr büßen für das, was andere getan oder unterlassen hätten. Als er sah, daß General von Moltke sich durch diese Betrachtungen nicht rühren ließ, rief er in fast drohendem Tone: „Wenn Sie
mir nicht bessere Bedingungen gewähren, so lege ich Berufung ein an meine Armee und ihre Ehre und es wird mir gelingen entweder einen Durchbruch zu machen oder mich in Sedan zu verteidigen!" Da fiel General von Moltke mit den Worten in die Rede: „Ich habe
große Achtung vor Ihnen, ich würdige Ihre Lage und bedaure nichts von dem tun zu können, was Sie verlangen; aber ein Durchbruch ist für Sie ebenso unmöglich als ein Aushalten in Sedan. Gewiß, Ihre Truppen sind wirk lich ausgezeichnet. Ihre Elite-Infanterie ist hervorragend, Ihre Reiterei kühn und unverdrossen, Ihre Artillerie bewunderungswürdig und hat uns viel zu viel
Schaden getan; aber ein großer Teil Ihrer Infanterie ist außer Rand und Band, wir haben heute mehr als 21000 Mann unverwundet gefangen ge
nommen.
—
Augenblicklich
haben Sie
nur
noch 80000 Mann.
Unter
584
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
solchen Umständen können Sie sich nicht durchschlagen,
denn ich habe jetzt
rings um Sie her noch 240000 Mann mit 500 Feuerschlünden, von denen schon 300 in Stellung sind um auf Sedan zu schießen, die 200 anderen werden morgen bei Tagesanbruch in Stellung sein.
Wollen Sie sich davon
überzeugen, so kann ich einen Ihrer Offiziere in die verschiedenen Aufftellungen unserer Truppen führen lassen und er wird die Richtigkeit dessen, was ich sage,
bestätigen können.
In Sedan aber sich zu verteidigen ist Ihnen erst recht
unmöglich: Sie haben nicht für 48 Stunden mehr zu leben und Munition haben Sie gar nicht mehr." Jetzt zog General Wimpffen andere Saiten auf; er riet durch Großmut
den Dank Frankreichs zu erwerben und dadurch dem künftigen Frieden Bürg schaften der Dauer zu geben. „Sie werden Frieden schließen," sagte er, „und wünschen ohne Zweifel ihn bald zu schließen; mehr als jede andere ist die französische Nation hochherzig und ritterlich und folglich auch empfänglich für die Großmut, die man ihr erweist, und dankbar für die Schonung, die man
ihr zeigt.
Wenn Sie uns Bedingungen bewilligen, die dem Selbstgefühle der
Armee schmeicheln, wird sich das Land auch geschmeichelt fühlen, das wird in den Augen der Nation den Schmerz der Niederlage mildern und ein unter solchen Umständen geschlossener Friede wird Aussicht auf Dauer haben, denn Ihr hochherziges Handeln wird die Türe geöffnet haben für die Wiederkehr
der Empfindungen der Gegenliebe, wie sie zwischen zwei großen Nachbarvölkern bestehen sollen und wie Sie sie auch wünschen müssen. Wenn Sie dagegen auf Maßregeln der Strenge wider uns beharren, so werden Sie Zorn und Haß
in jeder Soldatenbrust entzünden:
das Ehrgefühl der ganzen Nation wird
unheilbar verletzt; denn sie wird sich eins fühlen mit der Armee und dieselben Empfindungen haben wie diese. So werben Sie alle schlechten Triebe wieder anfwecken, welche der Fortschritt der Gesittung eingeschläfert hatte, und Sie
werden zwischen Frankreich und Preußen endlosen Krieg entflammen."
Das war das Stichwort, auf das Graf Bismarck gewartet hatte. Den Wert dessen, was man im Jahre 1815 „moralische Garantien" genannt, die
Unausrottbarkeit der Rhein- und Rachegelüste der Franzosen hatte er ja in vieljähriger Erfahrung gründlich kennen gelernt und alles, was er früher um des lieben Friedens willen gewaltsam in sich zurückgehalten, das strömte er jetzt aus in einer der glänzendsten Stegreifreden, die jemals in so engem Kreise
gehalten worden sind: „Ihre Schlußfolgerung,
Herr General,"
sagte er,
„scheint beim ersten Blicke bündig zu sein, in Wahrheit ist sie bloß bestechend und hält keiner Prüfung stand.
Im allgemeinen muß man auf Dank sehr
wenig, auf die Dankbarkeit eines Volkes aber gar nicht rechnen.
An die
Dankbarkeit eines Souveräns, im Noffalle an die seiner Familie kann man glauben, unter Umständen sogar mit aller Zuversicht darauf zählen, aber ich
wiederhole, von der Dankbarkeit einer Nation
muß man nichts erwarten.
Wäre das französische Volk ein Volk wie andere,
hätte es gediegene Ein-
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
richtungen,
585
erwiese es wie das unsere diesen Einrichtungen den Dienst der
Achtung und Verehrung, hätte es einen Fürsten, der fest auf dem Throne säße, so könnten wir an die Dankbarkeit des Kaisers und an die seines Sohnes glauben und Wert legen auf diese Dankbarkeit; in Frankreich aber sind seit 80 Jahren die Regierungen so wenig dauerhaft, so buntscheckig gewesen, sie
haben so rasche und unberechenbare Wechsel durchgemacht, daß man in Ihrem Lande auf nichts bauen kann und daß, wenn eine Nachbarnation ihre Hoff nung auf die Freundschaft eines französischen Souveräns setzen wollte, dies einfach Torheit sein würde, cs hieße in die Luft bauen. Überdies wäre es ja
sinnlos sich einzubilden, Frankreich könnte uns jemals unsere Erfolge ver zeihen. Sie sind ein reizbares, neidisches Volk, eifersüchtig und hochmütig bis zum Übermaß. Seit 200 Jahren hat Frankreich dreißigmal an Preußen, (sich
verbessernd) an Deutschland den Krieg erklärt; und diesmal haben Sie ihn uns erklärt, wie immer aus Eifersucht, weil Sie uns unsern Sieg bei Sadowa
nicht vergeben konnten, und doch hatte Sadowa Ihnen nichts gekostet konnte Ihren Ruhm nicht schmälern. Aber es schien Ihnen, als wäre Sieg ein Erbe, auf das außer Ihnen niemand ein Recht hätte, als wäre Waffenruhm für Sie ein Monopol. Sie konnten nicht ertragen, daß
und der
der an
Sadowa haben Sie uns nicht verziehen, wo weder Ihre Interessen noch Ihr Ruhm im Spiele Ihrer Seite eine Nation erstand, ebenso stark wie Sie.
waren. Und Sie sollten uns Ihren Zusammenbruch bei Sedan vergeben? Niemals! Wenn wir jetzt Frieden machten, so würden Sie in fünf, zehn
Jahren, sobald Sie könnten, den Krieg von vorne beginnen.
Das wäre die
ganze Dankbarkeit, die wir von der französischen Nation zu erwarten hätten!
Im Gegensatz zu Frankreich sind wir eine rechtschaffene und friedliebende Nation, die niemals Eroberungslust in Versuchung führt und die nichts anderes möchte als im Frieden leben, wenn Sie nicht beständig mit Ihrem Hange zum Streit und Übergriff dazwischen kämen. Heute ist es endlich genug. Frank
reich muß gezüchtigt werden für seinen Dünkel und für seinen ewig friedlosen Endlich wollen wir die Sicherheit unserer Kinder festlegen und dazu brauchen wir ein Glacis zwischen Frankreich und uns; wir brauchen ein Land, Festungen und Grenzen, die uns für immer gegen jeden Überfall von Angriffsgeist.
seiner Seite sicherstellen.Der. General Wimpffen widersprach:
Die französische Nation sei nicht
mehr, was sie im Jahre 1815 gewesen und dürfe nicht beurteilt werden nach den Versen einiger Dichter und den Artikeln einiger Zeitungsschreiber.
dem Wohlstände,
den das Kaisertum verbreitet,
Dank
hätten sich jetzt alle Köpfe
auf Spekulation, Geschäfte, Gewerbe und Künste geworfen.
Jeder wolle sein
persönliches Behagen steigern und denke an sein Sonderinteresse mehr als an den Ruhm. Man sei in Frankreich ganz bereit die Verbrüderung der Völker
auszurufen. Welch ein Erbhaß habe nicht zwischen Frankreich und England geherrscht und wo sei der hingekommen? Seien die Engländer heute nicht die
121. Die Wafsenstreckung bei Sedan.
586 besten
Freunde Frankreichs?
So
würden
die
Franzosen auch die besten
Freunde Deutschlands werden, wenn dieses sich großmütig zeige und nicht durch unzeitgemäße Härte erloschene Leidenschaften wieder anfache. Hier unterbrach ihn Graf Bismarck mit den Worten: „Nein, Frankreich hat sich nicht
geändert, es hat selbst den Krieg gewollt und um diesem nationalen Ruhmes wahne in dynastischem Interesse zu schmeicheln hat der Kaiser Napoleon III. uns herausgefordert. Wir wissen sehr wohl, daß der vernünftige und be sonnene Teil der Nation nicht zum Kriege trieb; nichtsdestoweniger hat er den
Gedanken desselben gerne angenommen.
Wir wissen sehr wohl, daß die Armee
uns durchaus nicht am meisten feind war, aber der Teil Frankreichs, welcher zum Kriege trieb, ist eben derjenige, welcher die Regierungen macht und stürzt. Bei ihnen ist es das Gesindel und auch die Journalisten und die wollen wir
züchtigen; deshalb müssen wir nach Paris. Wer weiß, was geschieht?
Vielleicht
bildet sich bei Ihnen irgend eine Regierung, die vor nichts Achtung hat, die
Gesetze nach ihrem Belieben macht und den Ergebungsvertrag nicht anerkennt, den Sie für die Armee schließen werden, die vielleicht die Offiziere zwingt die Versprechungen zu brechen, die sie uns gegeben haben, denn ohne Zweifel wird man sich verteidigen wollen um jeden Preis. Wir wissen wohl, daß
man in Frankreich schnell Soldaten macht;
aber junge Krieger wiegen feuer
feste Krieger nicht auf, und was man nicht aus dem Stegreif macht, das ist ein Offizierkorps, das sind selbst die Unteroffiziere.
Wir wollen den Frieden,
aber einen dauerhaften Frieden und unter den Bedingungen, die ich Ihnen
schon angegeben habe; zu dem Zweck müssen wir Frankreich unfähig machen uns zu widerstehen.
Das Los der Schlachten hat uns die besten Soldaten,
die besten Offiziere der französischen Armee in die Hände gegeben; sie gut willig freigeben um sie von neuem gegen uns marschieren zu sehen wäre
Wahnwitz, hieße den Krieg verlängern und sündigen wider das Wohl unserer
Völker.
Nein, General, wie warmen Anteil wir nehmen mögen an Ihrer
Lage, wie schmeichelhaft unsere Meinung sein mag von Ihrer Armee — wir können Ihre Forderung nicht bewilligen und nichts ändern an den ersten Be dingungen, die Ihnen gestellt worden sind." — „Wohlan," sagte General Wimpffen würdevoll, „dann ist mir ebenso unmöglich eine solche Kapitulation zu unterzeichnen und wir fangen die Schlacht von neuem an." Jetzt ergriff der General Castelnau das Wort und sagte mit stockender Stimme: „Ich glaube, der Augenblick ist gekommen die Botschaft des Kaisers
auszurichten." — „Wir hören, General,"
sagte Graf Bismarck. —
„Der Kaiser," fuhr General Castelnau fort, „hat mich beauftragt Sr. Majestät dem Könige von Preußen zu bemerken, daß er ihm seinen Degen ohne Bedingung zugesandt und sich persönlich ganz seiner Gnade übergeben habe, aber nur in der Hoffnung, daß der König gerührt sein werde durch solch vollständige Hingabe, daß er dies Opfer würdigen und darum der französischen Armee eine ehrenvolle Kapitulation bewilligen werde, eine solche, wie ihr Mut sie verdient habe."
587
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
„Ist das alles?" fragte Bismarck. — „Ja", antwortete der General. — „Aber wessen Degen ist denn eigentlich der, den der Kaiser Napoleon III.
übergeben hat? Ist es der Degen Frankreichs oder nur sein eigener Degen? Ist es der Degen Frankreichs, so können die Bedingungen ganz erheblich ge
mildert werden und Ihre Botschaft hätte ein ganz außerordentliches Gewicht." — „Es ist nur der Degen des Kaisers", antwortete der General. — „In
diesem Falle," sagte General Moltke, „ändert sich nichts an den Bedingungen; für
seine
Person
aber
wird
der
Kaiser
erhalten,
was
immer
er
ver
langen mag." Der Brief des Kaisers war also nur eine Falle gewesen, welche der Großmut des Königs Wilhelm gestellt war.
Wenn er nicht durchschaute, was der kaiserliche Brief absichtlich im Dunkeln ließ, so sollte er in dem
Glauben, Frankreich selber liege ihm zu Füßen und ein rascher Friede sei schon ein Opfer wert, so lange gelassen werden, bis er gerührt durch das
schreckliche Schicksal des Kaisers die Zusage gegeben hätte, er wolle die Armee entlassen und dann erst sollte er erfahren, daß er nicht das Oberhaupt Frank reichs, sondern lediglich einen ganz gewöhnlichen Schlachtenbummler gefangen genommen habe. Das war die Hinterlist, die durch dieses Gespräch zu Donchery gleichzeitig aufgedeckt und vereitelt ward. Dem General Wimpffen blieb jetzt nichts übrig als Unterwerfung oder neuer Kampf und zum letztern schien er entschlossen.
Er erklärte dem General Moltke:
„Wir nehmen den
Kampf von neuem auf", worauf Moltke antwortete: „Die Waffenruhe erlischt morgen früh um 4 Uhr.
Genau um 4 Uhr eröffne ich das Feuer."
Alles war aufgestanden um nach den Pferden zu rufen. Seit den letzten Worten des Generals Moltke herrschte ein eisiges Schweigen, niemand sprach ein Wort, da wandte sich Graf Bismarck von neuem an den General
Wimpffen und sagte:
„Ja,
General,
Sie haben tapfere und heldenmütige
Soldaten, ich zweifle nicht daran, daß Sie morgen Wunder der Tapferkeit
verrichten und uns empfindliche Verluste beibringen werden; aber was würde
das helfen?
Morgen abend werden Sie nicht weiter sein als heute, nur
werden Sie das ganz unnütz vergossene Blut Ihrer und unserer Soldaten auf dem Gewissen haben. Lassen Sie sich durch einen Augenblick des Unmuts
nicht bestimmen die Beratung abzubrechen. Der General von Moltke wird Sie,
wie ich hoffe, überzeugen, daß jeder Widerstandsversuch Ihrerseits Torheit wäre." Man setzte sich wieder und General Moltke begann von neuem:
„Ich
wiederhole Ihnen die Versicherung, daß ein Durchbruch niemals gelingen kann, selbst wenn Ihre Truppen sich in den allerbesten Stellungen befänden; denn, abgesehen von der großen Überlegenheit meiner Streiterzahl und meiner
Artillerie, nehme ich Stellungen ein, aus denen ich Sedan in einigen Stunden in Brand schießen kann.
Diese Stellungen beherrschen alle Ausgänge, durch
welche Sie versuchen könnten den Kreis, der Sie umschließt, zu verlassen und sie sind so stark, daß es unmöglich ist sie wegzunehmen."
588
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
„Oh, sie sind nicht so stark, wie Sie behaupten, diese Stellungen" — warf der General Wimpffen ein.
Da versetzte General Moltke in scharfem
Ton: „Sie kennen einfach die örtliche Lage der Umgebung von Sedan nicht
und das ist ein sonderbarer Umstand, der so recht geeignet ist den Dünkel und den Leichtsinn Ihrer Nation zu malen.
Beim Beginne des Feldzuges
haben Sie an Ihre Offiziere Karten von Deutschland ausgeteilt,
aber die
Geographie Ihres eigenen Landes konnten Sie nicht studieren, weil Sie die Karten Ihres eigenen Landes nicht besaßen. Wohlan: Ich sage Ihnen, unsere
Stellungen sind nicht bloß sehr stark, sie sind furchtbar und unbezwinglich." — Auf diesen Ausfall wußte General Wimpffen keine Antwort, denn die
Tatsache war richtig und unwidersprechlich. werde Gebrauch machen, General,
Nach einer Pause sagte er: „Ich
von dem Anerbieten, das Sie beim Be
ginne der Besprechung mir gemacht haben,
ich werde einen Offizier beauf
tragen diese furchtbaren Stellungen einzusehen, von denen Sie sprechen, und bei seiner Rückkehr werde ich zusehen und Beschluß fassen."
„Sie werden niemand schicken, es ist unnütz," lautete die trockene Er widerung, „Sie können mir glauben; außerdem haben Sie nur noch wenig Zeit zum Überlegen, denn jetzt ist Mitternacht; um 4 Uhr läuft die Waffen
ruhe ab und ich werde Ihnen keinen Augenblick Aufschub bewilligen." Jetzt verzichtete General Wimpffen auf die Besichtigung und bat nur um
Frist um seine Kollegen zu befragen, ohne diese könne er doch seinen Entschluß
nicht fassen, und da er sie zur Stunde in Sedan gar nicht auffinden könne, so sei eine Verlängerung der Waffenruhe unbedingt nötig. Da General Moltke nicht nachgeben wollte, so flüsterte ihm Graf Bismarck einige Worte zu und das Ergebnis war, daß die Waffenruhe bis auf 9 Uhr erstreckt ward; das sollte aber die äußerste Frist sein morgens.
und so trennte man sich gegen 1 Uhr
Da die Waffenstreckung der Armee nunmehr für zweifellos zuge
standen gelten konnte, so wurden die Bedingungen derselben noch in der Nacht vom Generalstabe des Großen Hauptquartieres festgesetzt und darin mit Rück sicht auf die tapfere Gegenwehr der Armee allen Generalen und Offizieren sowie den höheren Beamten mit Offiziersrang die Freilassung samt Waffen
und Privateigentum angeboten, wenn sie sich schriftlich mit ihrem Ehrenwort verpflichten wollten bis zur Beendigung des gegenwärtigen Krieges die Waffen gegen Deutschland nicht zu ergreifen und in keiner Weise gegen die Interessen Deutschlands zu handeln.
Der Vertrag gewährte also schließlich doch mehr, als ursprünglich in Aussicht gestellt war. Bei der Unterzeichnung des Graf Bismarck zugegen.
weltgeschichtlichen Schriftstückes war auch
In seinem Berichte an den König hebt er hervor,
das Verhalten des Generals von Wimpffen sei ebenso wie das der anderen Generale am Abende vorher ein sehr würdiges gewesen und die Bewilligung
121. Die Waffenstreckung bei Sedan.
589
der Entlassung der Offiziere auf ihr Ehrenwort mit lebhaftem Dank entgegen
genommen worden als ein Ausdruck der Absicht des Königs Wilhelm den Gefühlen einer Truppe, die sich tapfer geschlagen, nicht über die Linie hinaus zu nahe zu treten, die durch das Gebot der eigenen politisch-militärischen Interessen mit Notwendigkeit gezogen werde. Dies Gefühl habe denn auch
General von Wimpffen nachträglich in einem Schreiben ausgesprochen, in dem er dem General Moltke gedankt habe für die rücksichtsvollen Formen, in denen er die Verhandlung geführt habe. Mit der unterschriebenen Vertragsurkunde erschienen Graf Bismarck und
General von Moltke um halb 12 Uhr beim Könige, der sie auf den Höhen über Frenois erwartete. Bei dem Könige waren der Kronprinz, der Prinz Karl, der Großherzog von Sachsen-Weimar, Prinz Luitpold von Bayern,
Herzog Ernst von Sachsen-Koburg, Prinz Wilhelm und Herzog Eugen Erd
mann
von
Württemberg,
die
Erbgroßherzoge von Sachsen-Weimar und
Mecklenburg-Strelitz, der Erbprinz von Hohenzollern und der Prinz von Augustenburg. Der König stand mit dem Kronprinzen und den Fürsten im Vordergründe, nahe dem Bergabhang, int Halbkreis umher standen Generale
und Adjutanten, Minister und Räte,
die Mitglieder der Hauptquartiere, im
ganzen wohl 200 Personen.
Der König ließ die Urkunde durch seinen Generaladjutanten, General
leutnant von Treskow, vorlesen und sprach dann inmitten des Kreises, der sich um ihn gebildet hatte, folgende Worte: „Sie wissen nun, meine Herren, welch großes geschichtliches Ereignis sich zugetragen hat. Ich verdanke dies den ausgezeichneten Taten der vereinigten Armeen, denen ich mich gerade bei
dieser Veranlassung gedrungen fühle meinen königlichen Dank auszusprechen,
um so mehr als diese großen Ereignisse wohl geeignet sind den Kitt noch fester zu gestalten, der die Fürsten des Norddeutschen Bundes und meine andern Verbündeten — deren fürstliche Mitglieder ich in diesem großen Moment zahlreich um mich versammelt sehe — mit uns verbindet, so daß wir
hoffen
dürfen
einer
glücklichen
Zukunft
entgegenzugehen.
Allerdings ist
unsere Aufgabe mit dem, was sich unter unseren Augen vollzieht, noch nicht vollendet; denn wir wissen nicht, wie das übrige Frankreich es aufnehmen und
beurteilen wird. Darum müssen wir schlagfertig bleiben; aber schon jetzt meinen Dank jedem, der ein Blatt zum Lorbeer- und Ruhmeskranze unseres Vaterlandes hinzugefügt."
Dabei reichte er dem Prinzen Luitpold von Bayern und dem Prinzen
Wilhelm von Württemberg die Hand.
590
123. Ein Siegesgruß aus den bayerischen Bergen.
122. Mottke. (3«m 90. Geburtstage, 26. Okt. 1890.) Don Ernst von Wildenbruch.')
Er hat getan gleich seinem Lande, Das lange schweigt und stumm erträgt, Bis das Gedulden schwillt zum Rande Und bis zur Tat die Stunde schlägt.
Wilhelm der Held, der Gott-Erwählte, Bismarck, der Mächtige im Rat, Der Plan war fertig, eins noch fehlte, Aus Moltkes Händen kam's: die Tat.
Er hat gewartet und gewogen Stumm wie der Steuermann am Schiff, Bis daß die Wettervögel flogen Und bis der Sturm herüberpfiff.
Dor seinem Geiste lag geglättet, Was andren unentwirrbar schien, Er hat den Kriegsgott angekettet Und zwang vor Deutschlands Wagen ihn.
Da, als der Feinde Stimmen grollten, Stand er bereit, dem Sturm bewehrt, Und als sie uns ans Leben wollten, Gab er in unsre Hand das Schwert.
Und Das Wes Des
Es kam die wundervolle Stunde, Da Größe sich zu Größe fand, Wir sahen, wie im mächtigen Bunde Das Dreigestirn von Männern stand.
Sein Name war's, den kein Jahrhundert Verlöschen wird int deutschen Land; Geliebt, gepriesen und bewundert, Don jeglichem Geschlecht genannt.
als auf Sedans grünen Hügeln Banner sich der Deutschen schwang, Name war es, der auf Flügeln Jubels da zum Himmel drang? -
So wird er sein, so wird er bleiben; So wird er mit den Deutschen gehn Und die Geschichte wird ihn schreiben Dahin, wo ihre Großen stehn.
123. Ein Siegesgruh aus den bayerischen Bergen. Don Karl Stieler?)
Gott ist mit uns!
Auch diese Schlacht ist gewonnen!
Ergriffenheit ging durch Deutschland an jenem Tage,
Eine furchtbare
da die Kunde kam;
wir zitterten vor Jubel, wir waren starr vor all dem Herzeleid.
Wie ein Gewitter über das Weltmeer geht und die Wogen aus der Tiefe an den Himmel wirft, so ging die Kunde durch ganz Deutschland. Das
erste Gefühl war fromm — es war fast beklommen von Demut und Dank, daß wir wieder begnadigt sind, daß der Segen so sichtbar auf unserer Sache lag.
Dann aber brach die Freude mit allen Stimmen los, nicht die dithyrambische Freude, mit welcher Frankreich einst seine Siege feierte, sondern jenes Herzens
glück, das in der deutschen Seele so tiefe Wurzel hat. ') „Lieder und Balladen", 7. Auflage, S. 246. Berlin 1900, G. Grote. ’) „Durch Krieg zum Frieden", Stimmungsbilder aus den Jahren 1870/71, S. 60. Stuttgart 1886, Bonz.
123. Ein Siegesgruß aus den bayerischen Bergen.
591
Bis zum fernsten Ende, wo die Nordsee brandet, drang die glückliche Botschaft; die Kanonen riefen sie weit hinaus übers Meer; in der Hütte und im Palaste, im Herzen des Greises und im Herzen der Kinder stand derselbe Gedanke. Wie großartig waren diese Stunden nun gar in den gewaltigen Städten,
wo das reiche Leben in tausend Sprachen spricht, wo alle Kirchen ihr Geläute und alle Türme ihre Flaggen zur Feier senden! Zahllose Menschenmassen
drängen sich durch die Straßen,
ohne Unterlaß schafft die Presse und der
elektrische Draht; jeder freut sich seiner Arbeit, aber niemand schämt sich der Rührung. Jedes Städtlein, so weit die deutsche Zunge reicht, trägt seine deutsche Fahne. Das ganze Vaterland ist geeinigt in dieser Freude, ein Fieber
hämmert in allen Nerven, wir fühlen es, daß wir stark sind.
Ferne — in blauer, unermeßlicher Ferne — liegen die Alpen, der heilige Wall, mit welchem Deutschland beschirmt ist. Wie stille ist es hier, wie einsam und ftiedvoll! In den Wäldern rauscht der Nachtwind, am Felsenhang sprossen die Zyklamen; aber niemand kommt und bricht die feinen Blüten; all die Fremden, die sonst so fröhlich im Grünen waren, sind fort. Sie sind im Kriege oder daheim, am eigenen Herde, denn der Ernst der Pflicht und die Größe der Zeit hat sie abberufen.
Im Kriege? Wer möchte es hier ahnen, daß Krieg ist! Noch nie standen die Alpenhalden so schön und die Blumen so dicht; die Glocken der Herden tönen so friedvoll, wenn sie abends zur Hütte kommen. Goldübergossen
sinkt die Sonne hinab über den einsamen Bergen. daß Krieg ist!
Wer möchte es ahnen,
Und dennoch tönt kein Jodler hinaus in den schweigenden Abend, dennoch wissen es auch die Berge. Vor wenigen Wochen, als die Vollmondnacht über den weiten Wäldern lag,
da klopfte es leise ans Fenster der Sennerin, da
kam der Jägerbursch zu seinem Schatz und sagte ihr, daß es morgen früh „ins Feld" geht. Kein Zug der Trauer lag über dem kühnen Gesicht, frisch und freudig ging es hinaus, es machte ihn so stolz, „daß wir alle beisammen stehen". Ja fürwahr, auch der schlichte Bauer hat die Vernunft der deutschen Einheit
begriffen,
auch
die Herzen von Süddeutschland (nicht
bloß die
Waffen) sind mit in den Kampf gezogen. Wie mag es wohl gehen draußen im Kampfe?
Es ist wieder Abend, die Sennerin sitzt vor der Hütte und denkt an ihren Liebsten, bis die Sonne versinkt, bis die Sterne am Himmel blinken.
Wie mag es wohl gehen? Da hallt mit einem Male ein Juhschrei herüber, wo der Weg über den steilen Grat emporführt. Zwei alte Männer mit grauem Schnurrbart,
mit Rucksack und Axt
bewaffnet, kommen gegangen, denn die jungen sind alle fort. Was mag es sein, daß sie noch so spät in die Berge kommen, daß sie so flink und rüstig
den mühsamen Weg emporklettern?
Eine schlimme Botschaft ist's ja kaum,
592
123. Ein SiegeSgruß aus den bayerischen Bergen.
denn für die hat ja niemand einen Jodler übrig.
Da widerhallt es von
neuem — hutra, die beiden kommen zum Freudenfeuer! Auch in das stille Land der Alpen war der Siegesruf der Deutschen gekommen, es wußten manche nicht, wo Frankreich liegt, aber das wußten alle
bald, daß die Deutschen Frankreich überwunden hatten.
Auf dem kleinen Bahnhof der Station war die Nachricht von der sieg der Bote, der über Land ging,
reichen Schlacht an die Mauer geheftet;
nahm sie mit und wo er ins Haus trat, schwenkte er schon den Hut von weitem. Der Postillon, der die kleine Karriole fährt, griff heute zum schönsten Federbusch und blies auf der langen Straße ein Lied ums andere. So kam die Siegesbotschaft ins Gebirge, die Zeitungsblätter kamen und der Jubel hatte kein Ende! Es war nirgends ein Befehl von oben erschienen,
und doch, als es Abend wurde, brannten auf allen Höhen die Freudenfeuer. Das ganze Jnntal entlang und vom Inn bis zu den Quellen der Isar, im Chiemgau und in den Bergen des Königssees, überall schlug die Freude in
lichten Flammen empor.
Da stand der Wendelstein, die alte Warte der Bergesfteiheit und des Berggesanges, und grüßte leuchtend hinüber ins Leizachtal; da stand die Kampen-
wand und winkte herab auf die weiten Gefilde zu ihren Füßen. Wie ein Freudenstrahl leuchtete der Feuerschein um die alten, steinernen Züge des Karwendelgebirges; der Watzmann, ein König im Osten, trug sein brennendes
Diadem, und nun gar der Untersberg, dem durste seine Krone nicht fehlen! Im Untersberg sitzt ja der alte Kaiser und harrt auf die deutsche Einheit und
auf die Wiedererstehung der deutschen Macht. Es ist ein weiter Weg von den Ufern der Maas bis zu seiner Gruft,
aber mich deucht, er hat den Schlag
gehört und die Freudentränen flössen ihm in den weißen Bart. O, wer in solcher Stunde auf den Bergen stand! Es war eine Sternen
nacht, so klar und glühend, als hätte der Himmel sich geschmückt, als hätte er seinen prächtigsten Mantel angetan zu unserem Feste.
Hier auf den
steinernen Wällen brannten die Wachtfeuer der deutschen Treue und drunten
lag unermeßlich das schöne, heilige Deutschland.
Es waren dieselben Sterne,
die über dem Schlachtfelde glänzten und über den Wogen der Nordsee! Wir waren einig und sind es; wie ein Freudenschauer ergreift es uns — die Über
macht dieses Gedankens. In den Wäldern rauschte der Wind; auch die Wälder sind deutsch. Mit einer Art von Frömmigkeit hängt der Deutsche an seinem Wald, kein Volk hat ihn so tief verstanden und so treu gepflegt wie wir.
Er hat das Gemüt
der Jugend erzogen wie das der Ahnen; und wenn das Gemüt unser Kleinod
vor allen Nationen ist, dann ist der Wald sein Tempel; wenn das deutsche Gemüt uns den Sieg gegeben, dann war es recht, daß mitten im Kranze der deutschen Wälder die Siegesfeuer brannten! Horch, wie es rauscht! Rings
liegt die tiefe, schweigende Einsamkeit, und doch welche furchtbare Macht der
124. Der Volkskrieg an der Loire — ein neuer, zweiter Krieg.
593
Sprache wohnt in dieser Stille; wie wächst die Ergriffenheit an solchem
Schweigen! Drunten liegt das deutsche Land, das Land, das mehr getan für die
Erlösung des Geistes als irgend ein anderes und dennoch mehr gelitten als irgend ein anderes. Seine Geschichte ist eine Messiade in der Weltgeschichte. Elend und Schmach ist über uns ergangen, 30 Jahre hat der Krieg in unseren Gauen gewütet, der Druck der Fürsten und die Gier der Eroberer
haben das deutsche Volk, das edelste unter den Völkern, gebeugt. Und dennoch schritt es in stiller Arbeit weiter, dennoch konnten sie ihm eines nicht rauben,
das war die Treue und die Kraft seines Herzens. Mit dem Herzen hat es heute die große Tat der Befteiung vollbracht
und an dieser Tat hat der ärmste Mann, hat jedes Kind sein Teil, das die Hände zum Himmel erhob und für Deutschland gebetet hat. Das ist der wahre Boden unserer Einigkeit; im Herzen liegt unsere Kraft. O Vaterland, wie schön bist du, wie blühend liegst du zu unseren Füßen, so reich an Schmerzen und so reich an Ruhm! Hell lodern die Freudenfeuer auf allen Alpen.
Und wenn sie noch so ferne sind,
aus ihren Flammen
schlägt doch ein Stück vom deutschen Geiste zum Himmel und der Himmel
wird ihn beschirmen.
124. Der Volkskrieg an der Loire — ein neuer, zweiter Krieg. Don Fritz Hornig.')
Mit dem Volkskrieg an der Loire trat der Krieg unter der fran zösischen Republik in eine neue politische Phase. Ursprünglich nur von den
geführt nahm er nunmehr einen völlig veränderten Charakter an und gestaltete die Aufgabe der Strategie, je nachdem sich die Operationen mehr an den Grenzen oder im Herzen des Landes abspielten, beiderseitigen Heeren
weit schwieriger und erhöhte die Mühen und Anstrengungen der Truppen
erheblich. Die deutschen Heere kämpften nicht nur gegen eine andere Regierung,
sie kämpften vor allen Dingen gegen eine andere Armee. Dabei befanden sie sich in großer Unterlegenheit an Zahl, aber in der Überlegenheit an Tüchtig keit.
Der Kriegsschauplatz an der Loire war sehr verschieden von dem im Die regnerischen Novembertage im Verein mit den kurzen
Osten Frankreichs.
Tagen und langen Nächten legten den Operationen empfindliche Fesseln an und ließen in vielen Fällen das als unmöglich erscheinen, was zur Soinmerszeit auf festen Straßen und bei langen Tagen ausgeführt werden kann. Hiezu trat dann noch vor allen Dingen die Erhebung, in der sich das republikanische Frankreich seit dem Tage von Coulmiers (9. November) ') „Der Volkskrieg an der Loire im Herbste 1870."
I. Sb., S. 5 ff.
Berlin 1893,
E. S. Mittler & Sohn. Kron»eder, Lesebuch zur Geschichte Bayern».
38
694 befand.
124. Der Volkskrieg an der Loire — ein neuer, zweiter Krieg.
Man kann diese Erhebung, streng genommen, keinen Aufstand nennen,
etwa in dem Sinne des spanischen Aufstandes gegen Napoleon I. Allein der Grad der Volkserhebung und sein Einfluß auf die deutschen Operationen schuf
neue Schwierigkeiten, mit welchen nicht nur die deutsche Heeresleitung in Hinsicht der Erlangung von Nachrichten und folgerichtig ihrer Anordnungen und
Ziele, sondern auch die Truppenführung, herunter bis zur einfachen Patrouille,
gerade in der Periode von Coulmiers bis zur zweiten Einnahme von Orleans
zu kämpfen hatten. Die deutschen Heere an der Loire hatten im November zwei Gegner: der eine waren die neuen Armeen, der andere war das feindselige und be waffnete Volk.
Beide vereinigten sich darin, der deutschen Heeresleitung
jeden Schritt zu erschweren, nämlich durch die systemattsche Zerstörung aller Kommunikations- und Verkehrsmittel, durch die Absicht der mechanischen Ab
schließung des eigenen Besitzes von Fremden. Ob die Wege zu Nachrichten überhaupt verstopft werden, ob die Pattouille von einem bewaffneten Bauer oder einem Soldaten heruntergeschossen wird, ob Sttaßen, Wege, Wegweiser,
Eisenbahnen, Telegraphen von Soldaten oder Freischärlern oder Bauern un
die Armee oder das feindselige Volk die Mittel des Unterhalts für die gegnerische Armee vernichtet, ob ihre benutzbar gemacht werden, ob die Regierung,
rückwärtigen Verbindungen von der Armee oder dem Volke unterbrochen und
bedroht werden usw., das ist für die einfache Tatsache nicht von Belang. Die verschiedenen Tatsachen zusammen, besonders wenn, wie es hier der Fall war, System darin liegt, verändern nicht nur den Charakter des Krieges, sondern
erschweren die Operationen in einem Grade, der wieder nur dann richtig abgeschätzt werden kann, wenn über die Gestaltung und den Charakter des Kriegsschauplatzes völlig richtige Begriffe vorhanden sind. Hiebei fällt der Charakter des Volkes, sein Temperament, sein nationaler Stolz, sein Ver-
ttauen in seine Mittel und die geographische Gestalt samt den Kommunikationsmitteln zu Lande und zur See ins Gewicht, und wenn dies zusammen
berücksichtigt wurde, so war das Frankreich von 1870 ein Land, dessen fernere Widerstandsfähigkeit seit der Vernichtung der kaiserlichen Heere bei Sedan und
Metz schwer genau beurteilt werden konnte, die aber auch nicht unterschätzt werden durste. Neben allen diesen Gesichtspunkten sprachen aber auch die Einheit und Gleichheit eines großen Volkes in Bezug
gewichtig mit.
auf seinen
hohen Kulturzustand
Es gibt Länder und Völker, welche nach der Beseitigung ihrer
Feldarmee ohne weiteres eines längeren Widerstandes unfähig werden, weil die Hilfsquellen sehr ungleich über ihr Gebiet verteilt sind und es an Kommuni-
kattonen u. s. w. gebricht Truppen und Armeebedarf sicher und schnell nach
jeder beliebigen Richtung
hin
überzuführen.
Ein solches Land
war
das
Frankreich von 1870 nicht. Selbst wenn es zur Hälfte vom Feinde unter worfen war, konnte die andere Hälfte vermöge ihres Reichtums an Menschen
595
125. Bormarsch gegen die Loire.
und Mitteln sich neu organisieren, weil Frankreich eben ein alter, zentrali
sierter Staat mit einer gleichmäßig über seine Territorien verteilten Kultur
und — folgerichtig in diesem Falle — Kriegsmitteln war.
Südfrankreich
kann z. B. noch beträchtliche Streitkräfte aufstellen und erheblichen Wider
stand leisten, wenn ganz Nordfrankreich, Paris eingeschlossen, unterworfen sein sollte.
Die Gründe hiefür sind recht mannigfaltig,
zustatten kommt
Frankreich hiebei seine maritime Machtstellung und Lage, seine Rücken- und
Flankensicherheit sowie für die Organisation des Widerstandes die Möglichkeit einer Verteidigung nach großen strategischen Abschnitten.
Der Krieg an der Loire bedeutete für die Deutschen gewissermaßen einen neuen, zweiten Krieg und dieser zweite Teil des ganzen Feldzuges ist dadurch besonders eigentümlich, daß die Ungewißheit über Stärke und Ab sichten des Gegners etwas lange vorhielt, daß man die Anstrengungen der Republik anfangs unterschätzte, seit Coulmiers an manchen Stellen von Ge
wicht überschätzte.
125. Vormarsch gegen die Loire. Einnahme von Orleans (11. Oktober). Der Tag von Coulmiers (9. November). Don Theodor Lindner.')
Als die eiserne Sperrkette um Paris ihre Glieder schloß, besaß Frank reich an Truppen nur eine unvollständige Division bei Bourges, einige Ab
teilungen im Osten und Scharen bretonischer Mobilgarden im Westen.
Durch
das Land, soweit es von den Deutschen berührt war, ging ein ziemlich all gemeiner,
wenn auch zerstreuter Widerstand,
der nicht unbeachtet bleiben
durfte. Ihn hatte schon die kaiserliche Regierung hervorgerufen und die Republik sofort nach besten Kräften bestärkt und verstärkt. Die Behörden
verteilten Waffen, soweit sie nicht schon vorhanden waren, um allenthalben Scharen von unregelmäßigen Kämpfern auszurüsten. Diese nannten sich Franktireurs, Freischützen oder Freischärler und führten neben den in die Mobilgarde und in die Marschregimenter gestellten Mannschaften den Krieg
auf ihr eigenes Glück und Wagen, fteilich für nicht geringen Sold.
Die
meisten trugen eine Kleidung, die sie als Miliz kennzeichnete, kurze, schwarze Blusen, Pluderhosen mit roten Streifen und farbige Schärpen und vereinigten sich zu geschlossenen Haufen.
Ihr Zweck war der kleine, der Guerillakrieg.
Sie umschwärmten die Deutschen auf den Märschen und schnitten Zurück gebliebene ab, suchten kleine Abteilungen oder Wagenkolonnen zu überfallen, kurz, taten Abbruch, wo es ging. Meist der Gegend genau kundig, mit der ') „Der Krieg gegen Frankreich", S. 102 ff.
Berlin 1895, Asher.
125. Vormarsch gegen die Loire.
596
Bevölkerung im Einverständnis kamen und verschwanden sie, lagen im Hinter
halt, wichen fliehend einem ernsten Angriff aus und erschienen bald wieder an einer anderen Stelle.
Sehr viele aber trieben ihr Wesen mit Heimtücke.
Sie trugen nur Schärpe oder farbiges Halstuch um sich vor ihren Lands leuten und im Falle der Gefangenschaft als Soldaten auszuweisen.
Gar
oft kam es vor, daß solche „Hannes" oder „Pisangs", wie unsere Soldaten
die Bauern (paysans) nannten, in der landesüblichen blauen Bluse, breit beinig, die Hände tief in der Hosentasche, den Pfeifenstummet im Munde, ruhig den Vorbeimarsch von Truppen mit ansahen, dann rasch ihre Flinten ergriffen und von der Seite oder von hinten feuerten; wurde dann der
Wald oder das Dorf abgesucht, versteckte der Franktireur Gewehr und Ab
zeichen und stand in aller Unschuld als harmloser Bauer da.
Die große
Kriegführung konnte dadurch nicht gehemmt, wohl aber im einzelnen viel Unheil angerichtet werden und das Schlimmste war als unvermeidliche Folge gegenseitige wütende Erbitterung. Den Franzosen selber trug diese veraltete,
nur fälschlich als patriotisch betrachtete Kriegsweise den größten Schaden ein. Die moderne, menschlich gewordene Zeit führt allein Krieg mit den Soldaten und will die bürgerliche Bevölkerung schonen; das kann jedoch nur geschehen,
wenn diese sich selber jeder kriegerischen Handlung vollständig enthält.
Die
deutsche Oberleitung wachte mit eiserner Strenge über der Schonung von Privatleuten und ihrem Eigentum; um so weniger durfte jener heillose Unfug
geduldet werden. Daher verfuhr man mit diesem feigen Gesindel sehr kurz; die Ortschaften, deren Einwohner die Waffen erhoben hatten, wurden nieder gebrannt, den Gemeinden außerdem schwere Geldstrafen auferlegt.
Diese ver
meintliche Härte kam als Warnung den Franzosen selbst zustatten und ver fehlte nicht ihre Wirkung. Gewöhnlich wurden in den besetzten Orten die Waffen eingefordert und vernichtet und die Behörden waren oft recht eifrig
sie aufzuspüren und einzuliefern.
Denn die Franktireurs belästigten auch ihre
eigenen Landsleute und neben sonst ehrlichen, nur verblendeten Männern gab es unter ihnen genug, die unter dem Deckmantel der Vaterlandsliebe nur schändliche Räuberei trieben. Es ließ sich gar nicht übersehen, wie stark diese Scharen und ob sie
nicht die Vorläufer von regelmäßigen Truppen waren; denn sie dienten auch zur Deckung
und Verschleierung
neu entstehender Truppenkörper.
Da die
Armee bei Paris vor jedem Angriff gesichert werden mußte, schwärmte die
starke deutsche Reiterei, sechs Divisionen, nach allen Seiten aus um auszu kundschaften und auch Lebensmittel aufzutreiben. Ringsum fielen kleine Ge fechte vor und als die 4. Kavalleriedivision feststellte, daß sich vor Orleans bedeutende Streitkräfte sammelten, wurde zu ihrer Bekämpfung am 6. Oktober
eine besondere Heeresabteilung dem General von der Tann unterstellt, bestehend aus dem 1. bayerischen Korps und der 22. Division (die thüringisch-hessischen Regimenter 32, 95, 83, 94) unter General von Wittich.
125. Einnahme von Orkans.
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Die 2. und 4. Ka vallerie - Division begleiteten auf beiden Flügeln,
die 6. sollte west lich die sichern.
Flanke
Nördlich von der Loire erstreckt
sich die eintönige, ober fruchtbare Landschaft der Frontmarsch der Bayern von Arlenay gegen Orleans. Beauce, der Kornkammer von Paris. Diese „schöne Au", eine leicht gewellte Ebene, erzeugt auf ihrem weichen, unerschöpflich tragfähigen Tonboden die herrlichsten Getreide ernten und nährt einen bedeutenden Viehstand, besonders Pferde und Schafe. Daher liegt Dorf an Dorf, Ferme an Ferme; die Bevölkerung ist dicht und
wohlhabend, doch selbst ihre Landsleute urteilen über sie ungünstig.
Für den
großen Krieg eignet sich das Land wenig; die Gegend ist schwer zu übersehen, der starke Anbau hindert die Truppenbewegungen, beherrschende Punkte gibt es kaum.
Weder die Artillerie noch die Kavallerie vermögen sich dort recht
zur Geltung zu bringen und der Kampf muß sich meist in kleineren Gefechten von Ort zu Ort hinziehen. Unter den zahlreichen
Städten
ist die wichtigste das nur 270 km
von Paris entfernte altberühmte Orleans, am rechten Ufer der prächtigen,
schiffbaren Loire, mit den Vorstädten auf dem linken Ufer durch eine schöne, über 300 m lange Brücke verbunden. Reich an stattlichen Bauten, ein Haupt sitz der Industrie, mit wissenschaftlichen Anstalten ausgestattet und umgeben von breiten Boulevards, erfreut sich die Stadt mit ihren mehr als 50000 Ein wohnern eines blühenden Wohlstandes und vermittelt den Verkehr des Südens
mit dem Norden und namentlich mit Paris. General von der Tann stieß auf das erste der neu aufgestellten fran zösischen Korps, das XV., unter de la Motterouge, das 128 Geschütze
und 60000 Leute, fast nur junge Mannschaft, zählte. wich der Feind,
in seinen Flanken von
Trotz seiner Stärke
der Kavallerie umklammert,
nach
längerem, für ihn verlustreichem Gefecht bei Arte nah (10. Oktober) vor den ersten drei bayerischen Brigaden. Der Rückzug wurde so fluchtartig, daß Motterouge das nördliche Loireufer zu räumen beschloß. Am folgenden Tage marschierte Tann in breiter Front nach Süden gegen Orleans. Die 22. Division auf dem rechten Flügel geriet zuerst an
den Feind und stürmte nach langem Gefecht das etwa eine Stunde nord westlich von Orleans gelegene verschanzte Dorf Ormes, konnte dann aber nur
125. Einnahme von Orleans.
698
langsam durch Gärten und Häuser bis zur Vorstadt Le Petit St. Jean vor
rücken. Auf dem linken Flügel fand die 3. bayerische Brigade, welche die große, schnurgerade Straße von Paris her verfolgt hatte, heftigen Widerstand bei Bel Air.
Da von hier die auf beiden Seiten bis in die Stadt hinein
dicht mit Häusern besetzte Straße leicht zu verteidigen war, suchten die Bähen« im Rücken zwischen Straße und Eisenbahn vorwärts zu kommen und gerieten
darüber in hartnäckigen Kampf gegen die Gasfabrik und den Bahnhof Les Aubrays; auch die 4. Brigade, die rechts neben der 3. Brigade über Saran die feindliche Linie durchbrochen hatte, konnte nur die westliche Häuser reihe nehmen.
Daher ließ Tann den entscheidenden Stoß von Nordwesten
her führen, indem er um 5 Uhr die 1. Brigade zwischen die 4. und die 22. Division einschob. Es gelang den 32ern, den Bahndamm zu über schreiten und den Feind zum Weichen zu zwingen; durch die Vorstadt St. Jean
stürmte dann das 1. bayerische Regiment vor bis an das den Eingang in die Stadt sperrende Zollgitter. Major von Lüneschloß und sämtliche Offiziere setzten sich an die Spitze; durch eine gesprengte Nebentür drangen sie in die
Stadt ein und
bis zum Martroiplatz, auf
dem das Reiterstandbild der
Jungfrau von Orleans prangt, die einst die Stadt vor den Engländern ge rettet hatte. In den Straßen trafen sich Bayern und Thüringer; hier an der Loire wurde die bisherige Waffenbrüderschaft zur innigsten Freundschaft. Die 1. bayerische und die 43. Brigade besetzten noch am Abend die wichtigsten Gebäude und die Loirebrücke. Die glänzenden Siege beider Tage kosteten etwa 1100 Mann, von denen ein beträchtlicher Teil auf die 3. bayerische Brigade fiel. Die Franzosen verloren 4200 Mann, davon 2700 Gefangene.
Zwei Tage vor der Einnahme von Orleans hatte Gambetta in Tours die Regierungsgeschäfte übernommen, das Innere und den Krieg, und mit mächtigem Wort das Volk zum Kampfe aufgerufen: „Große Pflichten werden euch auferlegt! Die erste dieser Pflichten ist, daß ihr keinen anderen Gedanken habt als den Krieg!"
Gambetta trat auf als Diktator; mit der
gewaltigen Kraft seines Willens riß dieser einzige, vielumfassende Kopf Frank
reich mit sich fort und ergoß einen neuen Geist durch das Volk.
Ihm allein
war die ungeheure Anstrengung zu verdanken, der sich das Land unterzog. Nicht weniger als elf Armeekorps, 600000 Mann, stampfte er innerhalb von
vier Monaten wie aus der Erde.
Bewaffnung und, keineswegs schlechte Aus
rüstung für diese Massen wurden blitzschnell besorgt, anfangs unter der starken
Beihilfe Amerikas und Englands, deren Kaufleute bereitwilligst Gewehre und Patronen lieferten. 1404 neue Feldgeschütze kamen ins Feuer; die Granaten
erhielten jetzt Schlagzündung und wirkten weit mehr als die früheren. Schnell hergestellte Kriegskarten belehrten die Offiziere über die ihnen unbekannten Gegenden; ein tüchtiges Geniekorps bildete sich aus Privatleuten, meist Tech nikern der Fabriken. Vortrefflich verstand die Armeeleitung das Eisenbahnnetz auszunutzen. Ganz Frankreich war ein mobiles Kriegslager.
125 Einnahme von Orkans.
599
Der Krieg, der vielen schon fast beendet schien, trat in völlig neue Ver hältnisse ein und verlängerte sich ins Ungewisse. Wieder nahm er einen dramatischen Zug an, der seit Metz und Sedan geschwunden war, die Ent
wickelung erregte aufs neue erwartungsvolle Spannung. Ganz Europa, dessen Völker die unerhörten Siege der bisher gering geachteten Deutschen
nicht ohne einige Mißgunst gesehen hatten, verfolgte mit höchstem Interesse den wiederbelebten Waffengang.
Bayerische Artillerie im Kampfe bei Toulmiers.
Da der Feind über die Loire bis nach Salbris gewichen war, beschränkte sich Tann bei der geringen Zahl seiner Truppen darauf den Flußabschnitt
bei Orleans zu halten, während die 22. Division und die 4. Kavalleriedivision die zahlreichen Freischaren im Nordwesten vertreiben sollten. Am 18. Oktober fanden sie die offene Stadt Ehäteaudun durch Barrikaden verschlossen und von Franktireurs, denen sich die Einwohner kämpfend zugesellten, hartnäckig
verteidigt. Die Division stürmte die in Brand geschossene Stadt noch spät abends in gräßlichem Handgemenge; Ehäteaudun, großenteils ein rauchender Schutt
haufen, büßte mit fast völligem Ruin. Durch sein grausiges Schicksal gewarnt, ergab sich am 21. Chartres, wo den regulären Truppen Abzug gewährt
wurde. Der von Gambetta ernannte neue Oberbefehlshaber, General d'Aure lle de Paladines, der in kurzer Zeit durch Strenge und fleißige Übung seine
125. Der Tag von CoulmierS.
600
lockeren Scharen zu leidlich brauchbaren Kriegern machte, vereinigte das XV.
und das unter General Chanzy eben gebildete XVI. Korps und zog, von starker Artillerie und Kavallerie begleitet, von Blois her auf dem rechten
Loireufer gegen Orleans mit der Absicht zugleich dem Gegner den Rückzug abzuschneiden. General von der Tann, der die Stärke des Feindes nicht kannte und
durch den Abmarsch der 22. Division geschwächt war, beschloß den Feind westlich von der Stadt zu empfangen, da sie selbst zur Verteidigung ungeeignet war. Am Morgen des 9. November mußten die Bayern vor der Mehrzahl und dem starken Geschützfeuer der Franzosen, die in guter Haltung heran rückten, erst Bqccon, dann nach langem Widerstand um 2 Uhr auch La Renar-
diere aufgeben und sich nach dem Saume des Waldes von Montpigeau zurück
ziehen. Im Norden vereitelte die 2. Brigade unter General von Orff alle Umgehungsversuche und erstritt Vorteile, bis die Übermacht des Feindes es
ratsam machte vom Angriff abzusehen und nur die Stellung bei St. Sigismond aufs äußerste zu verteidigen. Nachdem die 4. Brigade mehrere Gewalt anstürme des Feindes auf Coulmiers kräftig zurückgewiesen hatte, wollte Tann nicht seine Reserve daransetzen und ließ deshalb das Gefecht um 4 Uhr
abbrechen.
In bester Ordnung, den Feind stets zurückhaltend, zog das Korps
über Artenay nach Toury zurück, wo es stehen blieb.
Die Stadt Orleans
war bereits am Nachmittage geräumt worden, nur die Lazarette mit den Ver
wundeten und Kranken blieben zurück. Stadt aufs neue.l)
Am Abend besetzten die Franzosen die
Dieses Treffen von Coulmiers ist das einzige größere, das die Deutschen in diesem Kriege verloren haben. Aber ihrer 15000 mit 90 Geschützen hatten
71000 Feinde mit 140 Geschützen gegen sich. Mit Ruhm und ohne allzu große Verluste war sieben Stunden lang gestritten worden und die Franzosen
wagten keine Verfolgung.
Und wenn diese nach jeder verlorenen Schlacht
der Auflösung anheimfielen, kamen die Deutschen nicht einen Augenblick in Verwirrung, obgleich manche Abteilungen seit 36 Stunden nicht geruht hatten?) Die Franzosen zauderten daher ihren Erfolg auszunutzen; dennoch waren sie ’) Erst nach schweren Kämpfen
bei Beaune la Rolande (28. Nov.), Bille-
Pion (1. Dez.), Loigny- Poupry (2. Dez.), Orleans (3. und 4. Dez ), nachdem
die Armee d'Aurelle de Paladines' auf der ganzen Linie geworfen, im Zentrum durch brochen und zu exzentrischem Rückzug auf Bourges bzw. Tours genötigt worden war, fällt Orleans zum zweitenmal und dauernd in die Hände der Deutschen.
’) „Der Rückzug
nach
einem Gefecht bleibt immer die bitterste Prüfung des
militärischen Wertes einer Truppe, aber sie mag noch so gut bestanden werden, ein ver drießlicher Moment ist es doch. Das 1. bayerische Korps hatte bis jetzt in sechs Schlachten
und Gefechten gekämpft, ohne daß es jemals zurückweichen mußte; wir waren etwas ver
wöhnt und mehr erstaunt als geärgert, daß das siebente Mal der Sieg nicht gelungen. Wenn man sich auch wiederholt die große Überlegenheit des Gegners in das Gedächtnis rief, gegen welche mit unseren geringen Kräften einen dauernden Widerstand zu leisten
126. (Sine gefährliche Eisenbahnfahrt.
601
höchst befriedigt und dieser Sieg half ihnen sogar über die Bestürzung hin weg, welche die Kapitulation von Metz (27. Oktober) hervorgerufen hatte. So viel hatten sie auch wirklich erreicht: die Loirearmee, an deren Wert viele nicht hatten glauben wollen, war eine Tatsache geworden, mit der ernst lich gerechnet werden mußte.
Die deutsche Heeresleitung hatte mit den größten
Schwierigkeiten zu kämpfen;
Paris fesselte zu viele Kräfte,
während fort
während ringsum neue Armeen aus der Erde schossen. Es war die höchste Zeit, daß Metz fiel, sonst wurde die weitere Belagerung der Hauptstadt in
Frage gestellt.
126. Line gefährliche Eisenbahnfahrt. Don Adolf von Erhards)
Von der Eisenbahn-Geniekompagnie des Genie-Regiments (heute 1. und *2. Pionier-Bataillon), die selbst zur bayerischen „Feldeisenbahn-Abteilung" ge hörte, war ein Detachement in der Stärke von 3 Unteroffizieren und 36 Mann am 14. Oktober
1870 zu
Bahnhofsarbeiten
in
Etampes
zurückgeblieben,
am 22. in Orleans eingetroffen um daselbst bis 9. November den Bettieb auf der Strecke Orleans-Juvisy zu leiten und vereinigte sich erst nach ver schiedenartigen Verwendungen am 20. Januar 1871 wieder mit der Abteilung.
Kaum graute der Morgen des 9. November, so begannen die Geschütze bei Coulmiers zu spielen und bald ließ der ununterbrochene Donner der Kanonen auch in Orleans erkennen, wie heftig im Westen der Stadt um den Sieg gerungen wurde. Von der großen Übermacht der entgegenstehenden
französischen Loirearmee hatte man in den uneingeweihten Kreisen keine Ahnung, wohl aber zeigten die freudigen Mienen der gut unterrichteten Stadtbewohner und deren plötzlich schroff hervortretendes, feindseliges Gebühren gegen die noch anwesenden Deutschen, welchen Hoffnungen sie sich Hingaben. Bon dem Generalstabschef des 1. bayerischen Armeekorps von Hein te th war der Feldeisenbahn-Abteilung morgens der Befehl übermittelt worden,
den ganzen int Bahnhof von Orleans vorhandenen Fahrpark zum Rückzug in
der Richtung gegen Paris bereit zu halten und sobald die Meldung erfolge, daß auch die letzte Kompagnie des Jnfanterie-Leibregiments, welche am Vornicht möglich war, — der Eindruck, daß man bei Nacht, in Schnee und Regen, still, ohne Signale zurückmarschierte, ließ sich nicht verwischen und, gestehen wir es ein, das Bewußt sein, daß gerade uns Bayern dies passieren mußte, milderte diesen fatalen Eindruck eben nicht." Vgl. Hugo Helvig „Das 1. bayerische Armeekorps von der Tann im Kriege 1870/71." S. 207. München 1872, R. Oldenbourg. „General von der Tann hatte sich mit Geschick und Glück einer mißlichen Lage entzogen - eine Verfolgung fand überhaupt nicht statt." Moltke a. a. O. S. 127.
*) „Bayerische Einzeltalen und Gefechtsbilder aus dem Deutsch-Französischen Kriege 1870/71." Nr. 15, S. 47. München 1899, I. Lindauer.
126. Eine gefährliche Eisenbahnfahrt.
602
mittag des 9. noch die Wache in Orleans hielt, abgezogen sei, mit dem ganzen
Fahrpark und allem,
was in demselben untergebracht werden könnte, dm
Bahnhof zu verlassen. Hierzu stand aber nur eine seit 7. November not dürftig zusammengeflickte, ftanzösische Lokomotive „Bucephale", mit höherer
Erlaubnis „von der Tann" umgenannt, zu Gebote. keit
war nicht zu viel zuzumuten,
Deren Leistungsfähig
während der Ernst der Dinge immer
klarer wurde. Schon in den Morgenstunden gingen Gerüchte, in der Stadt sei auf Deutsche geschossen worden. Der Ingenieur Gustav Ebermayer, Führer der
hier tätigen Arbeitssektton der Feldeisenbahn-Abteilung, teilte die sämtlichen vorhandenen Wagen, etwa 40 an der Zahl, in zwei Transporte, um sie nach einander aus Orleans wegzubringen. Um x]29 Uhr vormittags kam von der
Stadtkommandantschaft der Befehl mit der Abfahrt noch zu warten, bis die ersten Nachrichten vom Schlachtfelde da seien. Gegen ^11 Uhr traf die Ordre ein nunmehr alles nach Artenay, der nahezu 20 km von Orleans
gelegenen Station der Pariser Linie, in Sicherheit zu bringen und kurz darauf Der Führer
dampfte die Maschine mit dem ersten Zug zum Bahnhof hinaus.
hatte Aufttag von Artenay sogleich mit der Maschine zurückzukehren um auch
den zweiten Zug, für dessen gleichzeitige Fortschaffung die Stärke der Lokomottve nicht ausgereicht hätte, fortzuführen. Inzwischen begannen die Ereignisse zu drängen.
Um */212 Uhr zog die
Bahnhofwache mit der letzten Kompagnie des Leibregiments ab und mit der selben befehlsgemäß auch der auf der Straße mit den Rüstwagen sich be wegende Teil des Detachements.
Am Bahnhof befand sich jetzt nur noch ein
Keines Häuflein von Geniesoldaten, welches zur Deckung des Zuges dienen sollte, ungefähr 25 Mann, und außer dem Ingenieur ein Maschinenmeister
und Bahnmeister, nebst Hilfspersonal, alle sehnsüchtig der rückkehrenden Ma schine harrend, denn die Lage im Bahnhöfe fing an höchst ungemütlich zu
werden. Massen von Pöbel, Blusenmännern, deren Orleans als Fabrikstadt viele Tausende zählte, hatten sich, sobald die Stadt von allem deutschen Militär entblößt war, in den Bahnhof hineingedrängt und nähetten sich unter Geschrei und Gejohle immer mehr dem bayerischen, zur Abfahtt bereit stehenden Zuge. Es war bereits
Uhr und von der Lokomotive, welche längst zurück sein
sollte, ließ sich noch immer nichts sehen.
Wenn nun der notdürftig geflickten
Maschine ein Unfall begegnet wäre, der sie überhaupt an der Rückkehr hinderte? — Diese schlimme Möglichkeit mußte allmählich in Erwägung gezogen werden,
und als auch gegen 1 Uhr dem in die Ferne spähenden Auge von der er sehnten Rauchsäule sich nichts zeigte, der Andrang der Volksmenge aber immer
stärker wurde, durfte Ebermayer die Verantwortung für längeres Zuwarten nicht mehr übernehmen und befahl daher den Abmarsch. Dieser wurde zu Fuß auf der Bahnlinie bewerfftelligt und das not wendigste Gepäck aus kleinen, mit der Hand geschobenen Bahnwagen mitgeführt.
126. Eine gefährliche Eisenbahnfahrt.
603
Die wenigen in dem zurückgelassenen Bahnzuge befindlichen bayerischen Kranken, Verwundeten und Rekonvaleszenten, welche noch marschsähig waren, schlossen
sich an und mit tiefer Betrübnis den Bahnzug im Stiche lassend'kehrten die Angehörigen der Feldeisenbahn-Abteilung als die Letzten der Stadt Orleans den Rücken. Zögemd marschierten die Bayern rückwärts, aber noch war die Hoffnung nicht erloschen, daß die rettende Lokomotive sich nahe. Erst als
der Bahnhof allmählich außer Sicht kam, schwand alle Hoffnung den zurück gelassenen Zug zu bergen. So erreichte die kleine Schar Les Aubrais, den wenige Kilometer von Orleans gelegenen großen Rangierbahnhof und hier, wo alles noch in tiefer Ruhe und kein Mensch zu sehen war, machten die Bayern nochmals Halt, sich fast die Augen nach ihrer Retterin ausschauend.
Da — plötzlich — lieblicher hat kaum je eine Musik lauschenden Ohren ge klungen — der Pfiff einer Lokomotive; das konnte nur der „von der Tann"
sein und mit Jubelruf empfangen danipfte auch schon die Maschine heran. Allerlei kleine Unfälle, Rostverschlackung, Wasseraufnahme u. a. m. hatten sie aufgehalten.
Nun aber war guter Rat teuer.
Sollte man nochmals in die Löwen
höhle zurück, wo vermutlich der bayerische Zug schon gestürmt und demoliert und das Schicksal der Gefangenschaft, wenn nicht Ärgeres, den Umkehrenden sicher war?
Befehlen konnte man das nicht;
so rief der Ingenieur: Frei
willige vor, und im Augenblicke saßen und standen etwa 20 der wackeren Geniesoldaten, alle mit den gefürchteten Chassepots wohlbewaffnet, auf dem
Tender, während Ebermayer mit dem Bahnmeister die Maschine bestiegen hatte; und vorwärts ging es wieder nach Orleans, was die Maschine laufen konnte.
Da stand noch der verlassene Zug, unangetastet, wenn auch wild umtobt
von dem andrängenden Volke.
Einzelne deutsche Soldaten, welche erst nach
dem Abmarsch der Bayern sich noch aus der Stadt an den Bahnhof gerettet,
hatten mit ihren Waffen die andrängende Menge immer noch im Schach ge Im Nu war die Maschine an den Zug angekuppelt, alles schien ge
halten.
wonnen, da — meldet der Zugführer ganz phlegmatisch, daß die Maschine kein Wasser mehr habe! Man muß wissen, was eine Lokomotive ohne Wasser
ist, eine unbehilfliche, tote Masse, um den ganzen Schrecken der Leute zu er messen.
Und die Wasservorrichtungen im Bahnhof unheilbar zerstört! Hatte
man doch auch schon tags vorher und desselben Tages früh die Maschine nur
mittels Schlauches und einer von der Stadt requirierten Feuerspritze mit Wasser versehen können! Aber die Spritze mußte noch an einem benachbarten Weiher stehen und richtig, sie zeigte sich unberührt, und als, wie auf einem
lecken Schiffe, das Kommando
ertönte:
„Alle Mann
an die Pumpe!",
da
wurde die Pumpe mit einem Feuereifer bedient, wie vielleicht vorher selten bei
der größten Feuersbrunst.
Es vergingen peinliche Minuten, bis endlich das
Wasser am ersten Probierhahnen sprang.
Nun genug!
Schon
will der
Führer Dampf geben, doch Halt! Man mußte auch sorgen, daß, wenn unter-
126. Eine gefährliche Eisenbahnfahrt.
604
Wegs wieder Wassernot eintritt, man nicht hilflos sei; also schnell mit vereinten
Kräften die Feuerspritze beigefahren,
aufgepackt
und
in
einen
Bahnwagen
hinein und-mit ihr die rasch auseinandergeschraubten Schläuche — kein Stück davon wurde zurückgelassen.
Nun aber fort!
Triumphierend dampft der „von der Tann" mit feinern Bahnzuge, teils besetzt von Kranken und Verwundeten,
teils
beladen mit allen
möglichen
Gegenständen: Ersatzmonturen, namentlich Stiefeln und Wäsche, Liebesgaben, Furage u. s. w. unter dem Wutgeheul und den Verwünschungen der ange
sammelten Volkshaufen zum Bahnhof hinaus.
Vor dem Bahnhof führte eine
Wegbrücke über das Geleise, dicht besetzt von Franzosen, welche bei unserem Abzüge zu Fuß vor einer Stunde ein Hohngeschrei aufgeschlagen hatten, bei unserer Wiederkehr mit der Maschine uns mit Verwünschungen überschütteten,
jetzt aber, als wir den von ihnen schon als gute Beute erachteten Bahnzug
davonführten, Miene machten Steine und was sie sonst zur Hand bekommen konnten
auf uns niederzuschmettern;
einzelne von ihnen waren mit Waffen
versehen. Aber die 20 vom Tender aus auf sie gerichteten Chassepots hielten
sie doch in Respekt weh.
und ihr Verwünschungsgejohle tat den Abziehenden nicht
In Les Aubrais luden diese ihr Gepäck und die zurückgebliebenen Ge
nossen ein und kamen unbehelligt nach Artenay, wo der erste Zug schon hinter
stellt war. Hier erhielt das Detachement der Feldeisenbahn-Abteilung gegen Abend
die Kunde von dem Ausgang des Treffens bei Coulmiers und brachte noch den einen der beiden Bahnzüge bis Etampes, einer zwischen Paris und Orleans,
etwas näher an ersterer Stadt gelegenen Bahnstation, wo die Maschine über
nachtete um am andern Morgen (10. November) mit Tagesgrauen wieder auf zubrechen und die Sachlage bei Artenay zu erkunden.
Wiederum verzögerten kleine Unfälle an der Maschine die Fahrt.
Auf
dem Wege nach Toury — etwa 13 km vor Artenay — wurde dem Ingenieur
von der Weiterfahrt dringend abgeraten, da Artenay bereits von den deutschen
Truppen geräumt sei.
Aber auch der dort noch stehende Zug, obwohl zum
weitaus größten Teile bereits geleert, sollte nicht im Stiche gelassen werden,
da schon das Wagenmaterial an sich für die Bayern zu wertvoll war.
Das
Detachement machte sich daher trotz aller Warnungen auf den Weg. Zwischen Toury und Artenay zieht die Bahnlinie fortwährend in geringer Entfernung
von der Landstraße hin, auf welcher die von Coulmiers herkommenden deutschen
Truppenkörper sich
gegen Toury
bewegten.
Alle Augenblicke
kamen
nun
Offiziere von der Straße her gegen unsere Maschine angesprengt mit dem Zu
rufe, Artenay sei geräumt, wir sollten uns hüten noch dahin zu fahren. Mit dem oftmaligen Aufhalten verlor man viel Zeit.
Da
bedeutete
halbwegs
Artenay dem tapferen Ingenieur ein Generalstabsoffizier, daß die Abholung des dort stehenden Zuges noch nicht unmöglich sei, und nun war kein Halt
mehr.
Mit Volldampf sauste die Lokomotive trotz alles Winkens von der
605
127. Ergebnisse der Schlacht von Orleans am 3. und 4. Dezember.
Landstraße mit Taschentüchern und Gewehren, trotzdem ganze Truppenabtei
lungen stehen blieben vor Verwunderung
tollen Jagen in Feindesrachen zu rennen.
über
das unsinnige Beginnen
im
Nichts hielt den Ingenieur und
seine Begleiter mehr auf, der Bahnhof war in Sicht, von französischem Militär nichts zu bemerken; daher ward mit gemäßigter Geschwindigkeit in den einsam
und verlassen daliegenden Bahnhof eingefahren, gelegt und angekoppelt.
die Maschine vor den Zug
Zurück geht es mit dem Zuge
an den Augen der
eben noch so besorgten Leute an der Landstraße vorüber.
Nach weniger als
einer halben Stunde befand sich auch dieser Zug zu Toury in Sicherheit und das
Detachement konnte stolz sein, die bei dem Rückzüge von Orleans ihm zuge wiesene Aufgabe trotz der schwierigsten Umstände voll und ganz erledigt jit
haben.
127. Ergebnisse der Schlacht von Orleans
am 3. und 4. Dezember. Von Hermann Kunz.*)
Die Ergebnisse der zweitägigen Schlacht von Orleans waren glänzend,,
die eigenen Verluste der Sieger dabei gering zu nennen.
Der Haupterfolg
der Schlacht liegt aber nicht in der Masse der gemachten Gefangenen und der eroberten Geschütze, sondern in der Zersprengung der französischen Loirearmee
und in dem großen Niedergang des moralischen Elements bei den Franzosen.
Nicht leicht dürfte es schärfere Gegensätze in der moralischen Verfassung
eines und desselben Heeres geben, weniger Tage feststellen konnten.
wie wir sie
bei der Loirearmee binnen
Am 1. Dezember gingen die Massen dieses
Heeres mit frohester Siegeszuversicht vorwärts,
begeistert durch die Lügen
proklamationen Gambettas, stolz auf die angeblichen Erfolge der Pariser
Armee,
begierig darauf
es
Fröhlichkeit herrschte vor,
den
Pariser Kameraden
gleichzutun.
die berühmte >gatte gauloiae«,
Heitere
auf welche die
Franzosen nicht ohne Grund stolz sind, spiegelte sich auf den Gesichtern der
Tausende ab, die bei Villepion in den Kampf zogen.
Als nun gar noch ein
Sieg die Anstrengungen dieses Tages lohnte, da gab es kein Halten mehr.
Jetzt war nur noch von Enthusiasmus die Rede.
Man fürchtete ordentlich,
die verhaßten »Prussiens« würden sich dem gallischen Anstürme noch recht
zeitig -entziehen
und
dadurch
einer Niederlage entgehen.
war sicher; wehe dem, der etwa daran gezweifelt hätte! wagt hätte
solche Zweifel
auszusprechen,
Aber der Erfolg
Wer aber gar ge
den hätte man einfach für einen
Verräter gehalten.
So war die Stimmung am Morgen des 2. Dezember, am Jahrestage
der Schlacht von Austerlitz. 1 • „Die Schlacht von Orleans", S. 239.
Berlin 1894, Mittler.
606
128. Das Ende der dreitägigen Schlacht bei Beaugency-Travant.
Am späten Abend des 4. Dezember fluteten dieselben französischen Massen, an Zahl sehr herabgemindert, durch Feuer und Schwert zersprengt, blutend,
hungrig, vor Frost zitternd, hoffnungslos, vielfach auch führerlos, im Dunkel der Nacht trübselig zurück, nach Westen, nach Süden, nach Osten. Schlag ans Schlag hatte die siegestrunkenen Franzosen getroffen, einer immer vernichtender
als der andere.
Die vielgeschmähten »Prussiens« waren nicht ausgewichen,
sie hatten sich vielmehr mit vollster Wucht dem Feinde entgegengeworfen und den wilden gallischen Ansturm am 2. Dezember gründlichst abgewiesen.
Dann
waren sie sogleich selbst zum Angriff vorgegangen, nicht so leidenschaftlich enthusiasmiett wie die Franzosen, dafür aber ruhiger, zielbewußter und von
vorttefflich bewährten Führern geleitet. Jetzt lag das stolze Feldzeichen Frank reichs danieder. Tieffte Entmutigung war an Stelle der hell lohenden Be geisterung getreten. Alles eilte nach rückwärts, vielfach ohne zu wissen wohin. Nur fort aus der Nähe der siegreichen Deutschen, möglichst weit fort, das war das Losungswott auf ftanzösischer Seite. „Wir können nicht mehr und wir wollen nicht mehr", sagten dieselben Soldaten, welche vier Tage ftüher sich schon die Freuden eines Einzugs in das befreite Paris ausgemalt hatten.
So stellt sich die Bilanz der Schlacht von Orleans dar. An Stelle einer
an Zahl den deutschen Heeren weitaus überlegenen Armee, welche soeben noch siegesfteudig aus den Stern Frankreichs tiertraute, gab es jetzt nur noch ge schlagene Armeekorps, zersprengte Divisionen, welche nach drei verschiedenen
Richtungen hin sich dem Nachdrängen des Siegers zu entziehen ttachteten.
Wenn es wahr ist, daß die Franzosen sich leicht für eine Idee begeistern,
daß sie sogar mit glänzendem Elan für eine Idee zu sterben bereit sind und dabei nach der Zahl der Opfer nicht fragen, so ist es nicht minder wahr, daß schwere und plötzliche Mßerfolge die Stimmung der Nachkommen der alten Gallier auss nachhaltigste beeinflussen und daß Mutlosigkeit, ja Verzweiflung
ebenso schnell dort Platz greift, wo zündende Begeisterung sich kurz vorher ganz
allein gezeigt hat.
128. Das Ende der dreitägigen Schlacht bei Beaugency-Eravant (8 —10. Dezember); Rückkehr der Bayern nach Orleans. Don Karl lanera.l)
Bis zum vollständigen Eintritt der Dunkelheit hatte das Gefecht gebauert.
Nun aber erkannte man deutlich, daß der Feind auf allen Teilen des Schlacht
feldes entschieden abgewiesen sei und daß man jetzt doch hoffen dürfe,
die
Armee des Generals Chanzy werde sich endlich zur Flucht wenden. Wie von einem Alp entlastet begrüßte man bei den höheren Stäben die am Abend des 9. Dezember einlaufenden Meldungen. *) „An Loire und Sarthe", S. 207 ff.
München 1892, Oskar Beck.
607
128. DaS Ende der dreitägigen Schlacht bei Beaugency-Cravant.
Dennoch wollte bei uns Bayern keine rechte Freude aufkommen. Wir hatten wieder am meisten verloren, nämlich 8 Offiziere und 320 Mann, und unsere Truppen waren auf Zahlen herabgesunken, die einfach eine jede
Die meisten Bataillone
größere Leistung für die nächste Zeit ausschlossen.
mußten in zwei, eine ganze Reihe sogar in eine Kompagnie zusammengestellt werden; viele Bataillone wurden von Leutnants, die Mehrzahl der Kompagnien von Feldwebels geführt trotz des nun auch für die erste Division angekom
menen Ersatzes an Offizieren und Mannschaften und die Artillerie war selbst
durch Ausgleich nicht mehr imstande jedes Geschütz mit der unbedingt not wendigen Bespannung und Bedienung zu versehen. Ich selbst habe in der Nacht zum 10. Dezember den Rapport der 3. Brigade aufgestellt.
Er ergab 33 Offiziere, 123 Unteroffiziere und 2124
Mann. Unter letzteren befanden sich 102 Landwehrjäger, 603 ältere und 1298 Ersatzleute, welch letztere kaum drei Monat ausgebildet waren. So sah eine aus 7 Bataillonen bestehende, normal 160 Offiziere und 7000 Mann starke Brigade aus. Mit solchen Truppen haben wir wieder am 9. Dezember stundenlang fest und ruhig im ärgsten Feuer ausgehalten; mit solchen Truppen haben wir am
9. Bauvert und Villorccau gestürmt, und mit solchen Truppen haben wir be wiesen, daß man die Bayern Physisch vernichten, niemals aber ihr soldatisches
Ehrgefühl, ihre Pflichttreue untergraben kann. Alles aber hat eine gewisse Grenze, und daß unsere physischen Kräfte nachließen — nachstehende Tabelle beweist, warum. Nach den Strapazen, Märschen und Gefechtsverlusten des November, als wir dachten, durch die
2. Armee abgelöst zu werden um uns zu erholen, trafen uns folgende Verluste: Gefecht bei Villepion
.
.
.
1. Dez.
37 Offiziere
802 Mann
Schlacht bei Loigny Poupry .
2.
100
„
Schlacht bei Orleans
.
3.
„
3
„
2203 20
,, „
...
4. 7.
„ „
9
„
301
„
8
„ „
94 1986
„ „
„
„
„
.
.
Gefecht bei Meung . . . Schlacht b. Beaugency-Cravant 8., 9,10. Dez.
88
,
245 Offiziere 5406 Mann.
„Somit hatte das 1. Korps in 10 Tagen 8 Gefechtstage und hierbei ein Dritteil der Mannschaft und mehr als die Hälfte der Jnfanterieoffiziere auf dem Schlachtfelde verloren." Von den Erftorenen, durch Krankheiten und Marschstrapazen Zugrunde gegangenen spricht man nicht einmal. In der Nacht zum 10. Dezember standen die 17. und 22. Division in erster Linie mit Vorposten von Beaugency über Clos Moussu bis Cernay, da
hinter, bei und südlich Montigny, die Bayem und rechts von ihnen die 4.,
links die 2. Kavalleriedivision.
128. Da- Ende der dreitägigen Schlacht bei Beaugency-Cravant.
608
Ein Befehl des Prinzen Friedrich Karl bestimmte, daß unsere Armee abteilung am 10. Ruhetag haben und das bayerische Korps als Besatzung
nach Orleans abrücken sollte. Die Freude hierüber wurde jedoch wieder zu Wasser. Bei General Chanzy war nämlich Gambetta eingetroffen. Dieser be stimmte jenen Armeeführer noch einmal stehen zu bleiben und sogar angriffs
weise vorzugehen. Schon früh 7 Uhr, gerade als sieben Kompagnien der 32 er (Thüringer, vom X. preußischen Korps) auf den Sammelplatz der Brigade nach rückwärts
abmarschiert waren, stürmten dichte Massen des Feindes gegen Crigny an. Die dortigen fünf Kompagnien der 32er wehrten sich wie verzweifelt, allein schließ lich erlagen sie der Übermacht und verloren das Dorf. 150 wurden gefangen,
die übrigen schlugen sich mit der blanken Waffe durch, nachdem sie ihre Munition Das war ein schlechter Ruhetag. Kaum gelangten die Meldungen hiervon nach rückwärts, so machten sich Preußen und Bayern auf, die Kameraden zu rächen. Letztere stellten, der Auf verschossen.
forderung des Generals von Wittich folgend, sofort ihren Abmarsch ein und kehrten freiwillig ins Gefecht zurück. Die 34. und 44. preußische sowie die 2.
und 4. bayerische Brigade drangen nun vor. An Artillerie kamen aber nur zwei preußische und vier bayerische Batterien zur Tätigkeit, denn fast alle Ge
schütze der 22. Division und ein Teil der bayerischen waren durch Ausbrennen der Zündlöcher unbrauchbar geworden.
Für diese reichte auch die noch vor
handene Bedienungsmannschaft annähernd aus. So war es also mit der Rückkehr nach Orleans noch nichts!
Nur das
schon dorthin abgerückte Leibregiment und die 1er beließ man im Marsche. Wir andern, wir schlugen wieder drein.
Bald kamen unsere sämtlichen noch gefechtsfähigen Batterien angefahren — angetrabt konnte man nicht mehr
sagen, weil die wenigen abgehetzten Skelette von Pferden keinen Trab mehr zuwege brachten — und bald war wieder der Rummel los wie alle Tage. Das unerwartete Vorgehen des Feindes am 10. hatte zur Folge, daß der Befehl, die Bayern sollten am 11. Orleans besetzen, um einen Tag ver schoben wurde. Die ganze Armeeabteilung des Großherzogs von Mecklenburg bereitete sich also in der Nacht vom 10. zum 11. noch einmal zum Kampfe vor. Überall bedauerte man, daß es so sein mußte, aber niemand murrte.
Doch heute täuschten wir uns zu unser aller Freude.
Die Franzosen, selbst
ihr energischer General Chanzy, hatten nun endlich doch genug. Die erlittenen Verluste, der mit Riesenschritten zunehmende Verfall jeder Disziplin und Ord nung und schließlich das den Rücken der Loirearmee bedrohende Vorgehen des IX. preußischen Korps und der 6. Kavalleriedivision aus Blois bestimmten Chanzy noch am Abend des 10. am folgenden Tage den Rückzug auf Vendöme
anzutteten.
Damit hatte also die dreitägige Schlacht der zweiten französischen
Loirearmee gegen die Armeeabteilung des Großherzogs
Cravant ihr Ende erreicht.
bei Beaugency-
Wir konnten uns nicht einen so glänzenden
128. Rückkehr der Bayern nach Orleans.
609
zuschrei
Sieg
ben wie bei Loigny-Poupry oder Or leans. Allein
drei Tage hatten wir der vierfa chen Übermacht,
großenteils ganz
frischen
Trup
erfolgrei chen Widerstand geleistet, alle pen ,
ihre
Versuche
waren an unse rer Gegenwehr vollständig
ge-
icheitert und ver Auf der Rückkehr nach Orleans (12. Dezember). geblich erwiesen sich selbst die Bemühungen Gambettas die Entsatzarmee von Paris vorwärts zu bringen.
Das hatte des Großherzogs Armeeabteilung geleistet; die Armee
des Prinzen Friedrich Karl konnte jetzt an die Vernichtung des entmutigten, abgewiesenen Gegners denken. Am 11. früh standen alle Truppen fast auf den gleichen Plätzen wie am 10. kampfbereit.
Es kam aber nur zu unbedeutenden Scharmützeln mit
den Arrieregarden des abziehenden Feindes. Das nun vollständig herangerückte X. Korps schob sich vor die Truppen des Großherzogs. Am 12. schied das bayerische Armeekorps als solches aus der Armee-
abttilung des Großherzogs von Mecklenburg aus.
Nur die 4. Jnfanteriebrigade
und sechs Batterien verblieben noch in ihrem Verbände und kamen wiederholt
ins Feuer. Am gleichen Tage zwischen 1 und 3 Uhr rückten die 2. und 3. bayerische Brigade nach herzlichen Begrüßungen mit den aus der Stadt ausmarschierenden
Voran ritt der jetzt ganz weiß ge Wie verschieden war dieser Einzug von den
Brandenburgern wieder in Orleans ein.
wordene General von der Tann.
vorhergehenden!
Beim ersten (am 11. Okt.) strahlte alles in der Siegessieude
und war fröhlich und guter Dinge; der zweite (am 4. Dez.) fand schon unter
dem Drucke großer Strapazen statt; jetzt aber zog der Rest eines schönen, starken Korps ernst und still, trauernd um so viele schmerzliche Verluste ein. Von uns allen im Juli mit ausmarschierten Offizieren waren nur noch sehr wenige da. Über 530 lagen auf unseren mehr als 20 Schlachtfeldern. Trotzdem
ließen wir, als wir durch das wohlbekannte Tor Faubourg Madeleine einzogen fttonleber, Lesebuch zur Geschichte Bayerns.
39
129. Das Lied vom von der Tann.
610
und vor unserem kommandierenden General defilierten, die Köpfe nicht hängen. Im Gegenteil!
Frei konnten wir trotz der Lumpen, die uns kleideten, trotz
der zerrissenen Stiefel, die kaum mehr die Füße bedeckten, trotz der klepper
dürren Rosse, auf denen wir ritten, seinem festen Blick begegnen, denn ein er
hebendes Bewußtsein durchwogte uns alle und wir lasen die Bestätigung davon in seinem Auge, das stolz auf seinen Bayern ruhte und es deutlich aussprach:
„Ihr habt euere Pflicht erfüllt bis aufs äußerste!" Das Korps von der Tann blieb
nunmehr
bis zum 24. Dezember in
Orleans mit Ausnahme der oben erwähnten Truppen.
Es erholte sich in dieser
Zeit und war, als es im Januar bei der Belagerung der Hauptstadt wieder Verwendung fand, bei frischen Kräften.
Durch den Abzug der Bayern nach Orleans löste sich deren engere Ver
bindung mit jenen preußischen Divisionen, mit denen sie im Süden von Paris so manchen Sieg erfochten, so manches Ernste durchgemacht.
Treue Kamerad
schaft hatten wir gefunden und gewahrt; gleicher Opfermut, gleiches Stteben
hat uns Bayern von Iller, Lech, Isar, Inn und Donau, aus den südlichsten Gauen des Reiches mit den Mecklenburgern und Hanseaten des äußersten Nor
den-, mit den Thüringern und Hessen der Mitte und mit schlesischen, pommerschen, posenschen und preußischen Reitern des Ostens vereint;
wir. haben
uns gegenseitig kennen und achten gelernt und wir haben empfunden, daß wir alle zu einem großen, mächtigen Volke gehören, daß wir alle nur eine Heimat haben, unser geliebtes deutsches Vaterland. Don ihnen jeder ist ein Held,
Sie stehen auf dem Siegesfeld Dom ersten Tag an sichtbarlich. Hier hat der Sanger nur zu preisen,
Auf Opferleichen hinzuweisen, Und betend zu verhüllen sich.
(Martin Greif.)
129. Das Lied vom von der Tann. Don Franz Trautmann. *)
En avant, marchons, en avant, marchons, Liebe Bruder von dere grrrande Nation! Wire sein sie sicher der Victoire, Wire hab' sie schone unserige Gloire! La la Gloire, la Gloire, la Gloire, la Gloire, La Gloire, la grande Victoire! Wire fürcht' sie keiner Preuß-?oltron8, Wire fürcht' sie keiner Herr Saxons, Keiner Bademann, Würtenberbouregois, Keine böse, blauer Bavarois! ') „AuS der KriegSzeit 1870", S. 30.
Berlin 1870, Fr. Lipperheide.
611
130. Die Bayern an der Loire.
En avant, en avant, Enfants, Enfants, Wire slag' ihre tot bei die Orleans! He, he, le Tann, le le Tann, le Tann, Sie sie seine eine geflogene Mann, (Beflogene Mann, die Tann!
Und es sprengt heran der v o n d e r T a n n, Der deutsche Held, der deutsche Mann. Und kaum geschaut, schon schlägt er los Ci da macht er Augen, der Franzos! Ha parbleu, parbleu, parbleu, parbleu, 8auv', sauv’, sauv’, sauv', quipeut! Ere hau sie drein, schieß mit Canons, Ere gib sie gare kein Pardon! Pfiffi paff, wir fall' sie um wie die Muck, Lauf, lauf sie, Frfcres, lauf sie suruck! Retirons, retirons, sacre Bataillon, Retirons, retirons, retirons!! Le le Tann, le Tann, le le Tann, le Tann, Sie sie seine eine sehr böse Mann, Sacre bleu, die Tann, die Tann!
Ja Jst Ja Jst
So nun kennt ihr unsern von der Tann Und wißt, wenn Bayern rücken an, Ja da ist's vorbei mit der Victoire Und da ist es aus mit euriger Gloire! Ja, da Hilst euch nichts, als Reiß reißaus, Erzählt's zu Haus, zu Haus! Und wenn euer Hochmut gar nicht ruht Und euch wieder steigt zum Kopf die Wut Denkt an „Pfiffi paff, fall' sie um wie die Muck", An die „Lauf sie, Frfcres, lauf sie suruck!" Sonst geht es euch, chäris Enfants, Als wie's euch ging dort bei Orleans! General, Soldat, ein jeder Mann, bei uns ein von der Tann!
das merk, Franzos, ein jeder Mann bei uns ein von der Tannein von der Tann im Herzen jeder deutsche Mann!
130. Die Bayern an der Loire. Don Karl Bleibtreu.')
Da das Korps von der Tann abtrat, ziemt sich ein Rückblick.
jetzt (11. Dezember) vom Schauplatz
Die Süddeutschen haben vornehmlich an der zweiten Hälfte des Deutsch«
Französischen Feldzugs hervorragenden Anteil genommen,
ja sie sind
hier
geradezu in den Vordergrund getreten.
Die Württemberger empfingen bei Champigny
in der großen Pariser
Ausfallschlacht (30. November) ihre hauptsächliche Feuertaufe und bestanden sie mit Ruhm, die Badenser in gleicher Weise bei Dijon (21. und 23. Januar).
Die bayerischen Truppen, so glänzend sie bei Wörth, Sedan und vor Paris fochten, haben ihre schönsten Lorbeeren an der Loire gepflückt, so besonders
bei Coulmiers am 9. November die Artillerie. Zwischen Coulmiers und Ormeteau waren fünf Batterien aufgefahren und ihre aufopfernden Bemühungen *) Kritische Beiträge zur Geschichte deS Krieges 1870/71, S. 214 ff. H. Costenoble.
Jena 1896,
612
130. Die Bayern an der Loire.
retteten die dünne Linie des weichenden Fußvolkes vor dem Durchbruch feind» licher Übermacht. Sie avancierten mehrere hundert Schritt um die feindlichen Geschütze näher zu fassen unb Batterie Baumüller stand am rechten Flügel
der Verteidiger des Parkes von Coulmiers, unerschüttett ttotz herbster Ver luste, vorne in der Plänklerlinie. Ungewöhnlich zeichnete sich hier auch Oberst Graf Isenburg aus, der
mit dem 13. Infanterieregiment und versprengten Abteilungen des 10. Schloß
und Park Coulmiers hielt, nachdem er die Verteidigung durch Distanzmarkie rungen und Schließung einzelner Mauerlücken vorbereitet. So wehrten sich die Bayern 6 Stunden lang gegen die Massen der Division Barry vom 16.
und der Brigade Daries vom 15. Korps.*) In der Schlacht bei Beaugency-Cravant tat sich auch Prinz Leopold
von Bayern als Batteriechef besonders hervor und ermutigte die Mann schaften durch kaltblütige Haltung. Die fünf Batterien der Artilleriereserve unter Major Schleitheim wirkten hier mit ähnlicher Hingebung wie jene bei Coulmiers. Die 3. Jnfanteriebrigade avancierte unter heftigem Feuer auf Gelände gegen zahlreiche Weinberge und trotz herbster Verluste (schon im Treffen von Orleans hatte diese Brigade den stärksten Verlust am
ebenem
11. Oktober und ebenso bei Loigny) stockte der Angriff keinen Augenblick.
Doch gelang es erst der 2. Brigade Orff und der etwas später eingreifenden 1. Brigade
den
Feind
zurückzudrängen.
mehrere Bataillone fast kampfunfähig.
Dabei
machte
Munitionsmangel
Das nachfolgende Biwak der Sieger
stellte letztere auf harte Geduldprobe. Es war bitterkalt, die Verpflegung glänzte durch Abwesenheit, da die Proviantwagen sich in der Dunkelheit nicht zu ihren Truppenteilen durchfinden konnten. Am Flügel rechts bei Cravant nahm das bayerische 9. Jägerbataillon „am Kampfe rühmlichen Anteil-, wie der preußische
Divisionsgeneral von Wittich (22. Division) in seinem Tagebuch bezeugt. Am folgenden Tage (9. Dezember) focht wieder das
13. Infanterie
regiment bei Villechaumont mit Energie und Graf Isenburg, jetzt Komman dierender der 4. Brigade, harrte aus, bis die 22. Division ihn aus der kritischen Lage befreite. Hiebei hatte die Sechspfünderbatterie Kriebel, der
sich zwei Vierpfünder anschlossen, einen besonders schweren Stand. Feindliche Granaten räumten unter Stücken und Bemannung dermaßen auf, daß nur noch 14 Mann und 3 Geschütze übrigblieben.
Am rechten Flügel nahm General
Orff den wichtigen Ott Beauvert glänzend mit Sturm. Am 10. Dezember beschäftigte das arg gelichtete bayerische Korps das 21. französische Korps am Walde von Marchenoir. Am 11. Dezember schied es aus der Front und kehrte am 12. Dezember
nach Orleans zurück um endlich auf einige Wochen Feierabend zu machen. *) Graf Usenburg und Major Baumüller erhielten den Max-Josephs-Orden, ebenso später Hauptmann Reder, ein anderer Ches der obengenannten 5 Batterien.
131. Deutschlands Frauen 1870/71.
613
Seine Kompagnien zählten durchschnittlich nur noch 100 Mann, 1 Offizier.
Seit dem 8. November (Vorabend vor Coulmiers) bei Kälte, Wind, Regen auf
dem Marsche und immer am Feinde, hatte es allein seit dem 1. Dezember 5750 Mann (darunter 245 Offiziere) in acht Gefechten verloren, überhaupt seit Anbeginn 539 Offiziere und 9303 Mann.
Das 2. bayerische Infanterie
regiment — mit 58 Offizieren ausmarschiert — verlor 62 inklusive späteren Ersatzes. Kein anderes deutsches Korps hatte so viele Schlachten
und Strapazen durchstritten und durchlitten. Die stärkste Einbuße erlitt es bei Loigny durch rund 2300 Mann; die 3. Brigade allein 39 Offiziere und 765 Mann, dazu 2 Offiziere beim Brigadestab. Bei Coulmiers hatte sich bereits eine Batterie genötigt gesehen ihre Bedienungsmannschaften mit Chassepots auszurüsten und so einen Anlauf
französischer Tirailleurs abzuwehren.
Bei Villepion (Schlacht von Loigny
beim ungestümen Andrang der Brigade Deplanque, kurz vorher ward Divisionsgeneral von Stephan durch Granat splitter und Jnfanteriegeschoß schwer verwundet, die dritte Sechspfünderbatterie
am 1. und 2. Dezember) sah sich
zum Abfahren genötigt.
Da brachte Prinz Leopold den vorstürmenden
Feind zum Halten.
Nur noch vier seiner Geschütze waren gefechtsfähig, er aber gab uner schrocken Schnellfeuer mit Granatkartätschen ab.
Zwei Kompagnien des Leib
regiments, die sich total verschossen hatten, hielten gleichwohl bei den feuernden Geschützen als Bedeckung aus um sie im Notfall mit dem Bajonett zu ver
teidigen.
Erst als ein Regiment der Brigade Bourdillon unter persönlicher
Führung des opfermutigen Kontre-Admirals Jaureguiberry in der Dunkelheit
vordrang, wich die schwache bayerische Gefechtslinie auf Loigny zurück. Rechnet man die Verluste der bayerischen Artillerie, die hier durchweg das Höchste
leistete, zusammen, so betrug ihr Verlust bei Villepion 37, bei Loigny 121 Mann
(die Reservebatterie des Regiments „Königin-Mutter" davon allein 45), bei Beaugency 204 Mann, ein relativ ganz außerordentlicher Verlust. Bei Gravelotte z. B. verlor das 7. preußische Korps an Artillerie 122, das 9. Korps bei Verneville 232 Mann, — größte sonstige Artillerieverluste in einer Haupt schlacht.
131.
Deutschlands Frauen 1870/71. Don Alois Dreyer.')
Wenn ihr den Enkeln stolz erzählt Don jenem Krieg, dem großen, hehren, Wo jeder deutsche Mann ein Held Des Vaterlandes Ruhm half mehren; *) „Auf lichten Höhen", S. 27.
Wo dies, vom argen Zwist befreit, Den Erbfeind glücklich hat bezwungen, Dann fragt auch, wer in dieser Zeit Den schönsten Lorbeer hat errungen!
Dresden-Leipzig, 1897, E. Pierson.
132. Aus Vorposten vor Paris.
614
i Es konnte sich in größter Not Es standen fest in heißer Schlacht Die Männer all aus Deutschlands Gauen, \ Ihr herrlich Wirken voll entfalten. Man sah sie, von Gefahr umdroht, Doch Großes haben auch vollbracht, Gleich Engeln ihres Amtes walten. Wie sie, die edlen deutschen Frauen. Wo mit dem Tod ein Krieger rang, Daniederlag an schwerer Wunde, Da halfen sie und es erklang Gar reicher Trost aus schönem Munde. I
Wenn oftmals schon verloren schien Des wackern Helden junges Leben, Hat ihre treue Pflege ihn Den Seinen noch zurückgegeben.
Drum, preiset chr die große Zeit, Die Kämpen all aus deutschen Gauen, Ein voller Kranz sei auch geweiht Dem Opfermut der deutschen Frauen!
132. Aus Vorposten vor Paris. Von Karl Stieler. •)
Folgen wir der Kompagnie, die heute Nacht den Vorpostendienst zu ver sehen hat und lautlos durch die Dämmerung dahinzieht! Eine. Grabesstille
herrscht unter den Soldaten;
in gebückter Stellung
geht es weiter, an den Mauern entlang, zwischen den Gängen der Gärten und Häuser hin; immer näher kommen wir an den Feind; man kann die Mündung der Geschütze erkennen, die hinter den Schießscharten vorstarren, man kann das Weiße im Auge des Gegners sehen, wie der Soldatenausdruck lautet. Kaum 150 Schritte stehen sich die Vedetten gegenüber,
hinter ihnen wartet
das Feldpikett, das von den Trümmern einer zerstörten Villa gedeckt ist. Nur sachte — sachte! — Wie ein Mann sich bewegt, fällt drüben ein Schuß auf ihn. Und „drüben" liegt Paris — Paris, die Magdalena dieses Jahrhunderts; sie, die einst im Jubel der Weltlust glänzte und jetzt in Sack und Asche da niederliegt! Paris, das Medusenhaupt, vor dessen finstern Blicken Europa bebte, dem unter allen Völkern nur das deutsche Volk furchtlos in die Augen
geschaut. Fürwahr, es ist ein Vulkan an Kraft und ein Ozean an Stürmen, dies stolze Paris, und heute stehen die deutschen Heere zum dritten Male auf
seiner Erde und pochen an seine Pforten. So glühen wohl die Gedanken, wenn man draußen steht auf dem ein
samen Posten, wenn Auge und Ohr hinüberspäht. Alles ist still in weiter Runde — man hört das Getöse und das Ge wogt der Weltstadt, wie man auf Meilen hin die Wogen des Meeres hört, die ans Ufer branden; man hört die Glocken läuten und die Arbeit dröhnen in all den langen Straßen, man atmet die Seufter der sterbenden Magdalena.
So stehen wir auf unserem Posten die lange, bange Nacht, eigentlich recht
allein und verlassen, —- aber auch die Weltstadt ist allein; und was ist Ein’) „Durch Krieg zum Frieden", S. 142 ff.
Stuttgart 1886, Bonz.
615
132. Aus Vorposten vor Paris.
samkeit des einzelnen gegen jene, die in der Seele von Paris lebt! ja gewohnt die leuchtende Hauptstadt der Welt zu sein.
Es war
Hunderte von Wegen
führten zu ihren Toren und Millionen von Menschen lagen an ihrem Herzen, jede Stunde gab neuen Wechsel, an jedem Orte wohnten ihre Neider, es war
eine Königin von Saba. — Und nun? Nun kommt nicht einer mehr in die verfemten Mauern, nicht einer entrinnt aus dem Innern; Paris ist abge
schnitten von der Welt, — cs ist zur Waise geworden und lebendig be
graben.
Bayerische Batterie im Süden vor Paris.
Fast ist es schwer sich eigentlich die Vorsehung,
dieser Gedanken
zu entschlagen, in denen ja
man möchte sagen die Gerechtigkeit, dieses Krieges
liegt und doch darf man nicht allzuviel denken, wenn man draußen auf Posten steht. Jede Minute droht ein Überfall, jeden Augenblick kann die feindliche Kugel treffen
und diese Spannung, in welcher Leib und Seele ge
halten wird, ist wohl die größte aller Kriegsmühen. Dazu kommt das Gefühl der ungeheuren Verantwortung;
denn die
Sinne eines Sterbenden sind scharf und die Wachsamkeit, welche da- hoffnungs lose Paris besitzt, übertrifft selbst die Erwartung der deutschen Führer. Man
ist fast zum Tode erschöpft, wenn nach 20 Stunden die Ablösung kommt und die verhängnisvolle Pflicht auf andere Schultern legt.
Mühsam gewinnt man
133. Mr bleiben.
616
eine kurze Ruhe und will sich schlafen legen, aber plötzlich wird von neuem alarmiert, man plaudert mit den Kameraden und zu gleicher Zeit fällt eine Granate mitten ins Biwak und reißt zwei Soldaten wörtlich in Stücke. Auch die Verpflegung legt den Truppen herbe Entbehrung auf; denn das Fleisch ist oft viele Tage lang ferne und die Kartoffeln der umliegenden Felder sind zerstört oder aufgebraucht.
Ein lichter Punkt in all den Mühen, ja fast ein festlicher Moment ist es, wenn abends der Bataillonstambour erscheint und die Feldpost unter Namensaufruf verteilt wird. Wie viel Freude machen die wenigen Zeilen,
wie viel Glück umschließt oft ein kurzer Gruß! Das ganze liebe Blld der Heinrat steht auf einem zerknitterten Blatt vor uns. Und wenn nun vollends ein Zeitungsblatt kommt, — ein Brief für alle, — das ist ein Luxus, ein Leckerbissen der wertvollsten Art. Auch hier fehlt es nicht an reizenden Szenen; so erhielt, um nur ein Beispiel anzuführen, ein junger Gelehrter, der als Landwehrmann im Felde stand,
als er kaum aus dem Treffen kam,
eine Nummer der . . . Zeitung, in welcher sein jüngstes Werk auf das rühm lichste besprochen ward. Dieser Mann ist gemeiner Soldat im deutschen Heere!
133. Wir bleiben. Don Adolf Erhard.')
Aus den 4. Januar 1871 war die Eröffnung des Feuers für die Batterien des Südangriffes vor Paris befohlen worden, doch des dichten Nebels
wegen konnte man weder ein feindliches Fort noch eine Batterie des Gegners erkennen. Man mußte also warten. Der Befehl vom 4. kam tags darauf zum Vollzug.
Um 9 Uhr früh begann die deutsche Batterie Nr. 17, erbaut
und besetzt von der 2. Fußbatterie „Limprun" des 1. bayerischen ArtillerieRegiments „Prinz Luitpold", das Feuer, welches völlig erst in der Nacht vom
26. zum 27. Januar enden sollte. In diese Batterie kam am 8. Januar 1871 abends die Ablösung unter Kommando des Oberleutnants Karl Landmann, wegen des hohen Kranken
standes zur Hälfte aus preußischen und bayerischen Kanonieren zusammengesetzt. Mit Rücksicht auf die ungewöhnlich starken Verluste, welche die Batterie erlitten, und darauf, daß sie ihre Aufgabe die feindlichen Geschütze in und bei Jssy
niederzukämpfen vollständig erfüllt hatte, gab Hauptmann Ritter von Limprun dem ablösenden Oberleutnant im Einvernehmen mit dem Stabsoffizier vom
Tage den Auftrag, falls die Herstellung der Schulterwehr zur Deckung gegen
Flankenfeuer nicht gelingen sollte, die Batterie zu räumen.
Obschon nun diese für längeres Besetzthalten gestellten Bedingungen mangels genügender Arbeitskräfte nicht erfüllt werden konnten, wollte Ober*) „Bayerische Einzeltaten und Gefechtsbilder", Nr. 30, S. 85.
134. AuS dem Briefwechsel zwischen König Ludwig II. und Graf Bismarck.
617
leutnant Landmann die Batterie gleichwohl nicht verlassen, da diese, wenn sic
auch ihren Hauptzweck erreicht hatte, dennoch bei einem etwaigen Ausfall der Franzosen sehr wirksam werden konnte.
Anderseits mochte den Offizier große
Verantwortung treffen, falls im Laufe des 9. Januar abermals erhebliche Verluste durch das Flankenfeuer verursacht würden. Er entschloß sich daher mit nur zwei Geschützbedienungen in der Batterie zu bleiben, hierzu Freiwillige zu verwenden und die übrige Mannschaft abrücken zu lassen.
„Freiwillige
vor!" hieß es und rasch hatte sich die nötige Geschützbedienung gefunden. Mit Spannung sah die kleine Besatzung dem anbrechenden Tage entgegen,
dichter Nebel machte langsames Feuer notwendig, welches auch von französischer Seite nur matt erwidert wurde. Infolgedessen konnte man mit den Jnstandsetzungsarbeiten fortfahren, so daß der Abend des 9. die Batterie aber
in bester Ordnung fand.
Beim Eintreffen der Ablösung herrschte kein Zweifel,
daß die Batterie sich auch in den kommenden Tagen halten müsse.
Die Art,
wie die bayerischen Artilleristen auf diesem verlorenen, Tod und Verderben bringenden Posten ausharrten und kämpften, ist das schönste Ruhmesblatt der Fußartillerie in dem letzten Feldzuge.
Zur Anerkennung erhielt die Batterie
Nr. 17 am 15. Januar den Ehrentitel „Generalinspekteur" und sie wird stets unter den ersten genannt werden, wenn es gilt auf Beispiele unerschütterlicher Disziplin, freudigen Opfermutes und echt bayerischer Tapferkeit hinzuweisen.
Die Fußbatterie „Limprun" war die einzige bayerische Truppe, welche an der Parade vor dem Deutschen Kaiser am 3. März in Longchamps teilnahm. Hiebei riefen mehrere höhere preußische Offiziere aus dem Gefolge Kaiser
Wilhelms I. der Batterie Beisallsbezeugungen zu und der Kaiser selbst sprach sich gegenüber dem kommandierenden General des 2. bayerischen Armeekorps, Jakob Ritter von Hartmann, bezüglich der Leistungen der Batterie höchst
lobend aus.
134. Aus dem Briefwechsel zwischen König Ludwig II. von Bayern und Gras Bismarck?) a) Versailles, 27. November 1870. Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König,
Allergnädigster Herr! Für die huldreichen Eröffnungen, welche mir Graf Holnstein auf Be
fehl Eurer Majestät gemacht hat, bitte ich Allerhöchstdieselben den ehrfurchts
vollen Ausdruck meines ^Dankes entgegennehmen zu
wollen.
Das Gefühl
meiner Dankbarkeit gegen Eure Majestät hat einen tiefern und heitern Grund als den persönlichen in der amtlichen Stellung, in welcher ich die hochherzigen ') „Gedanken und Erinnerungen" von Otto Fürst von Bismarck, I. Band, S. 353 ff. Stuttgart 1898, Cotta.
618
134. Aus bem Briefwechsel zwischen König Ludwig U. und Gras Bismarck.
Entschließungen Eurer Majestät zu würdigen berufen bin, durch welche Eure'
Majestät beim Beginne und bei Beendigung dieses Krieges der Einigkeit und» der Macht Deutschlands den Abschluß gegeben haben. Aber es ist nicht meine,,
sondern die Aufgabe des deutschen Volkes und der Geschichte
dem
durch--
lauchtigen bayerischen Hause für Eurer Majestät vaterländische Politik und für' den Heldenmut Ihres Heeres zu danken. Ich kann nur versichern, daß ich» Eurer Majestät, solang ich lebe,
in ehrlicher Dankbarkeit anhänglich und er
geben sein und mich jederzeit glücklich schätzen werde,
wenn es mir vergönnt
wird Eurer Majestät zu Diensten zu sein. In der deutschen Kaiserfrage habe ich mir erlaubt dem Grafen Holnstein einen kurzen Entwurf vorzulegen,
welchem der Gedankengang zu Grunde liegt, der meinem Gefühl nach die deutschen Stämme bewegt: der deutsche Kaiser ist ihrer aller Landsmann, der König von Preußen ein Nachbar, dem unter diesem Namen Rechte, die ihre Grundlage nur in der freiwilligen Übertragung durch die deutschen Fürsten und Stämme finden, nicht zustehn.
Ich glaube, daß der deutsche Titel für
das Präsidium die Zulassung desselben erleichtert, und die Geschichte lehrt, daß die großen Fürstenhäuser Deutschlands, Preußen eingeschlossen, die
Existenz des von ihnen gewählten Kaisers niemals als eine Beeinträchtigung ihrer eigenen europäischen Stellung empfunden habend)
*
*
*
v. Bismarck.
b) Hohenschwangau, 2. Dezember 1870. Mein lieber Graf! , Mit lebhaftem Vergnügen habe ich bemerkt, daß Sie trotz zahlreicher und dringender Geschäfte Muße gefunden Ihren Gefühlen gegen mich Aus druck zu verleihen.
Ich sende Ihnen deshalb meinen wärmsten Dank; denn ich lege hohen Wert auf die ergebene Gesinnung eines Mannes, nach dem das ganze Deutsch land fteudigen Stolzes seine Blicke richtet. Mein Brief an Ihren König, meinen vielgeliebten, hochverehrten Oheim, wird morgen in dessen Hände gelangen. — Ich wünsche von ganzem Herzen, daß mein Vorschlag beim Könige, den übrigen Bundesgliedern, welchen ich geschrieben, und auch bei der Nation vollsten Anklang finde,
und ist es
mir ein befriedigendes Bewußtsein, daß ich vermöge meiner Stellung in Deutschland wie beim Beginne so beim Abschlüsse dieses ruhmreichen Krieges in der Lage war einen entscheidenden Schritt zu Gunsten der nationalen
Sache tun zu können.
Ich hoffe aber auch mit Bestimmtheit,
daß Bayern
seine Stellung fortan erhalten bleibt, da sie mit einer treuen, rückhaltlosen Bundespolitik wohl vereinbarlich ist und verderblicher Zentralisation am
sichersten steuert. ') Der Kürze halber sind bei Bries a und c die Kurialien weggelasjen.
135. Die feierliche Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
619
Groß, unsterblich ist das, was Sie für die deutsche Nation getan haben, und ohne zu schmeicheln darf ich sagen, daß Sie in der Reihe der großen
Männer unseres Jahrhunderts den hervorragendsten Platz einnehmen. Möge Gott Ihnen noch viele, viele Jahre verleihen, damit Sie fortfahren können zu wirken für das Wohl und Gedeihen unseres gemeinsamen Vaterlandes.
Meine besten Grüße Ihnen sendend bleibe ich, mein lieber Graf, stets
Ihr aufrichtiger Freund *
*
♦
Ludwig.
c) Versailles, 24. Dezember 1870.
Allerdurchlauchtigster König, Allergnädigster Herr! Das huldreiche Schreiben Eurer Majestät, welches Graf Holnstein mir überbracht hat, ermutigt mich mit meinem Danke für den gnädigen Inhalt
desselben Eurer Majestät meine untertänigsten Glückwünsche zu dem bevor stehenden Jahreswechsel darzubringen. Wohl selten hat Deutschland von mit gleicher Zuversicht wie von dem bevorstehenden die
einem neuen Jahre
Erfüllung nationaler Wünsche erwartet. Wenn diese Hoffnungen sich ver wirklichen, wenn das geeinte Deutschland dahin gelangt, daß es seinen äußeren Frieden in gesicherten Grenzen durch eigene Kraft verbürgen kann, gleichzeitig ohne die freie Entwicklung der einzelnen Bundesglieder zu beeinträchtigen, so
wird die entscheidende Stellung, die Eure Majestät zu der Neugestaltung
des gemeinsamen Vaterlandes gewonnen haben, in der Geschichte und in der Dankbarkeit der Deutschen jederzeit unvergessen bleiben. Eure Majestät setzen mit Recht voraus, daß auch ich von der Zentrali sation kein Heil erwarte, sondern gerade in der Erhaltung der Rechte, welche die Bundesverfassung den einzelnen Gliedern des Bundes sichert,
die dem
deutschen Geiste entsprechende Form der Entwicklung und zugleich die sicherste
Bürgschaft gegen die Gefahren erblicke,
welchen Recht und Ordnung in der
freien Bewegung des heutigen politischen Lebens ausgesetzt sein können. Eure Majestät wollen sich in Gnaden versichert halten, daß ich mich glücklich schätzen werde, wenn es mir gelingt mir Allerhöchstdero gnädige Ge
sinnung zu erhalten.
D. Bismarck.
135. Die feierliche Verkündigung des deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 zu Versailles. Don Georg Bleysteiner.')
Die deutschen Fürsten hatten den Ruf der Geschichte und den Wunsch der Nation verstanden, sie hatten nach dem Vorantritt des wahrhaft deutsch') „Aus großer Zeit", S. 611 ff.
Augsburg 1897, M. Rieger.
135. Die feierliche Verkündigung deS deutschen.Kaiserreichs.
620
gesinnten Königs Ludwig von Bayern aus freier Entschließung die deutsche Kaiserwürde dem greisen Heldenkönig Wilhelm von Preußen angeboten. Auf Befehl des Königs Wilhelm sollte die feierliche Verkündigung des
deutschen Kaiserreiches am 18. Januar, dem Tage der preußischen Königs krönung, vorgenommen werden. Kronprinz Friedrich Wilhelm war mit der obersten Leitung der Anordnungen für diese Feier betraut worden.
Er erließ
am 16. einen Befehl, der die Teilnahme der Truppenteile an der großen
Staatshandlung regelte.
Die Verhältnisse der Zeit brachten es mit sich, daß
bei dieser für ewig denkwürdigen Feier das Heer das deutsche Volk vertrat.
Die obersten Führer und mit ihnen Abgesandte der Offiziere wurden von sämtlichen Abteilungen zur Feier entboten, ebenso alle mit dem Eisernen Kreuze I. Klasse geschmückten Offiziere und Mannschaften. Jedes Fuß- und Reiter regiment der einzelnen Korps sollte eine Fahne oder Standarte in Begleitung
eines Offiziers, eines Fahnenträgers und zweier Feldwebel, Wachtmeister oder Unteroffiziere nach Versailles entsenden. Auch ein großer Teil der bayerischen Fahnen (10 des 1. und 8 des 2. bayerischen Korps) war nach Versailles ab geschickt worden und außerdem waren die sämtlichen Prinzen des bayerischen
Königshauses, die im Felde vor Paris standen, viele Offiziere und mehrere
Abteilungen bayerischer Soldaten anwesend. In der berühmten Spiegelgalerie des prunkvollen, zum Tempel und zum Museum des französischen Waffenruhmes umgeschaffenen Königsschlosses,
wo einst der schlimmste Feind deutscher Macht
und deutschen Wesens —
Ludwig XIV. — seine Befehle zur Erniedrigung Deutschlands ausgegeben hatte, sollte zu Versailles die vollzogene geschichtliche Tatsache der erfolgten Gründung des neuen Kaiserreiches deutscher Nation nun der Welt verkündet
werden.
Diese prächtige Halle, der Schauplatz so vieler feierlich-pomphafter
Haupt- und Staatsaktionen französischer Herrscher seit zwei Jahrhunderten, sollte nun auch der größten Staatshandlung der neuen deutschen Geschichte
zur Stätte dienen.
Während Se. Majestät, umgeben von den Prinzen, den
Fürsten, den Generalen und den Ministern, noch einige Augenblicke in den
Vorzimmern der Festräume verweilte, hatte sich im Spicgelsaale einstweilen die Versammlung geordnet.
Um
Uhr trat Se. Majestät in den Festsaal ein, während ein Sänger
chor, zusammengesetzt aus Mannschaften, unter Musikbegleitung das „Jauchze
dem Herrn, alle Welt!" anstimmte. Der König nahm in der Mitte vor dem Altare Aufftellung, im Halbkreise um ihn die Prinzen und die Fürsten: der Kronprinz Friedrich Wilhelm, die Prinzen Karl und Adalbert von Preußen, die Prinzen Otto, Luitpold und Leopold von Bayern, Kronprinz Albert und Prinz Georg von Sachsen, die Prinzen von Württemberg, der Großherzog von Baden, der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Schwerin und viele andere deutsche Fürsten. Hinter diesen und ihnen zur Seite standen die Generale und die Minister: an der Spitze des linken Flügels der Bundeskanzler Graf Bismarck.
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135. Die feierliche Verkündigung deS deutschen Kaiserreichs.
Welch gewaltige, weltumgestaltende Ereignisse hatten geschehen müssen, daß diese glänzende deutsche Versammlung in diesen Räumen zu solchem Zwecke tagen konnte!
Es war ein Zug großartiger Ironie der Geschichte, daß sich
König Wilhelm im Versailler Königsschlosse zum Deutschen Kaiser ausrufen ließ, an derselben Stätte, wo seit den Tagen Richelieus so viele Pläne zum
wo so viele bildliche Dar und der Zerrissenheit des deutschen
Verderben Deutschlands gefaßt worden waren,
stellungen
an die Zeiten
der Schmach
Volkes und an die ehemaligen Gewalttaten Frankreichs erinnerten. Nach dem Chorgesange wurde die Liturgie in
gottesdienst üblichen Weise ausgeführt.
der für den Militär
Es folgten a capella=®efang, Choräle
von Posaunen geblasen, Gebet und Predigt. Nach Beendigung der religiösen Feierlichkeit trat der 74 jährige König frisch und rüstig wie ein Jüngling durch die Reihen der Versammlung auf die erhöhte Estrade zu.
Hier, auf der teppichbedeckten Estrade, standen die Fahnen-
und Standartenträger im Halbkreise geordnet; jeder Träger in voller Aus rüstung mit helmbedecktem Haupte, den gerollten Mantel über Schulter und
Brust. Unter Vortritt ■ der Hofmarschälle betrat König Wilhelm mit den Fürsten und den Prinzen die Estrade, wo die letzteren in leicht gekrümmter Reihe ihren Stand nahmen.
Nahe vor der Fahnengruppc stand
Mitte der König und zwar in voller Gencralsuniform. Ansprache: „Durchlauchtigste Fürsten und Bundesgenossen!
in der
So hielt er folgende In Gemeinschaft mit
der Gesamtheit der deutschen Fürsten und freien Städte haben Sie sich der von des Königs von Bayern Majestät an Mich gerichteten Aufforderung angeschlossen, mit Wiederherstellung des Deutschen Reiches die deutsche Kaiser
würde für Mich uud Meine Nachfolger an der Krone Preußen zu übernehmen. Ich habe Ihnen, durchlauchtigste Fürsten, und Meinen anderen hohen Bundes
genossen bereits schriftlich Meinen Dank für das Mir kundgegebene Vertrauen und Meinen Entschluß ausgesprochen Ihrer Aufforderung Folge zu leisten.
Diesen Entschluß habe Ich gefaßt in der Hoffnung, daß es Mir unter Gottes Beistand gelingen werde die mit der kaiserlichen Würde verbundenen Pflichten
zum Segen Deutschlands zu erfüllen.
Dem deutschen Volke gebe Ich Meinen
Entschluß durch eine heute von Mir erlassene Proklamation kund, zu deren
Verlesung Ich Meinen Kanzler auffordere." Hierauf verlas der Bundeskanzler Graf Bismarck die ewig denkwürdige
Proklamation.
Gras Bismarck stand im Saale an der unteren Esttadenstufe
als der erste der versammelten Minister und Generale im blauen Waffenrock seiner Kürassiere und in hohen, schweren Reiterstiefeln. Er hielt das auf
gerollte, inhaltschwere Dokument an beiden Kanten mit der rechten und der So
linken Hand; an der linken hing zugleich der Stahlhelm am Riemen.
dastehend las er zum König gewendet bei lautloser Stille der Versammlung
diese Proklamation:
136. Die feierlich« Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
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„An das deutsche Volk!
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König
von Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen
Ruf an uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reiches die seit mehr denn 60 Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu über nehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden
Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben diesem Rufe der verbün
deten deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiser würde anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde unter dem Wahrzeichen ihrer alten
Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen.
Wir
übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines
Volkes, zu vetteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem
Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe gewähren.
Uns
aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle
Gott verleihen allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriege rischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung." Ernst und doch freudesttahlend, die Stimme gehoben von innerer Genug tuung, hatte Graf Bismarck das weltgeschichtliche Aktenstück verlesen. War er es doch, der, als leitender Geist hinter allen notwendig gewordenen Vor bereitungen und Vorereignissen stehend, durch jahrelange deutschnationale Politik
das Erscheinen dieses großen Tages ermöglicht hatte und dadurch, daß er als treuer Diener seinem Herrn nun die von ihm geschmiedete deutsche Kaiserkrone darbot, zugleich sein eigenes, größtes und schönstes Lebenswerk krönte. Der Eindruck dieses feierlichen Augenblicks, wo Graf Bismarck die bedeutungsvolle Proklamation verlas, war für alle Anwesenden unvergeßlich, gewaltig und
ergreifend. Graf Bismarck hatte geendet. Da ergriff der Großherzog Friedrich von Baden den richtigen Augenblick das erste Lebehoch auf den neugekürten Deuffchen
Kaiser auszubringen.
Plötzlich zum Rande der Estrade vortretend, rief er,
die Rechte hoch erhoben, mit lauter,
vor Begeisterung bebender Stimme:
„Seine Kaiserliche und Königliche Majestät, Kaiser Wilhelm, er lebe hoch! und hoch! und hoch!" Und während die von ihren Trägern geschwungenen Standarten und Fahnen zu Häupten der Fürsten wehten und sich senften, brach der Hochruf aus der Versammlung mit einer Sturmesgewalt und einem
135. Die feierliche Verkündigung des deutschen Kaiserreichs.
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brausenden Donner hervor, als ob jenes Wort des Großherzogs der elektrische Funke gewesen, der in eine Mine geschlagen. Die Hände reckten sich zum Gruß und Schwur empor, die Helme wurden geschwungen, die Blicke flammten
und dreimal rollte unter den Klängen der deutschen Volkshymne der Ruf an den Spiegeln und Marmorwänden hin und hallte von der gewölbten Decke wider. Das deutsche Volk in Waffen hatte seinen Kaiser proklamiert und ihm aus voller Brust seinen kräftigsten Willkomm entgegengerufen. Aus des
Königs Augen stürzten Tränen innigster Bewegung; er drückte dem Groß herzog die Hand. Nun war es ein erhabener Augenblick, wie der Kronprinz Friedrich Wilhelm, als der erste der Reichsmannen und Erbe des Reiches, vor dem Kaiser zur Huldigung die Kniee beugte, der Kaiser den Prinzen erhob
und ihn mit herzlichster Bewegung in seine Arme schloß. Auch den Prinzen Karl und die ihm verwandten Fürsten umarmte der Kaiser tief gerührt. Dann ließ er die sämtlichen Abordnungen der Offiziere an sich vorüberziehen und ging
an den Reihen der im Saale ausgestellten Truppen entlang. Die Musikchöre hatten sich inzwischen in dem an den Saal östlich anstoßenden „Friedenssaal" ausgestellt. Von dorther begrüßten sie den Kaiser mit dem Hohcnsriedberger Marsch, als er, begleitet von den Fürsten und den Prinzen, in den Saal Hinabstieg und langsam die ganze Galerie abschritt um darauf den Festraum zu verlassen.
Das Große und Wunderbare war geschehen! Bald wehten die Fahnen und Standarten der Regimenter wieder unten auf dem Vorhof des Schlosses, von wo sie an Ludwigs XIV. Reiterstatue und den Standbildern ftanzösischer Feldherren vorüber zur Kommandantur getragen wurden. Vom Schlosse aber
wurde alsbald das rote Königsbanner hinweggenommen und statt seiner wehte und wallte nun dort über dem Mittelbau des »ä toutes les gloires de la France« geweihten stolzen Palastes zum ersten Male das schwarz-weiß-rote Nationalbanner des neu erstandenen Deutschen Reiches. Alle aber, die der
denkwürdigen Feier beigewohnt, waren mit hohem Glücksgefühl darüber erfüllt, daß sie das noch erlebt, mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatten.
Ein weltgeschichtlicher, unvergeßlicher Akt hatte sein Ende erreicht. Das Deutsche Reich steht aufgerichtet Don Fels zum Meer auf festem Grund, Was wir ersehnt, erträumt, erdichtet, Getan ist's, - allen Völkern kund. Wer uns nicht liebt, der mag uns scheuen, Wir aber wollen uns in Treuen An unserm blutgeschweißten Bund Für Kaiser und für Reich erfreuen!