Lempicka [1. Auflage] 9781781603512, 1781603510

Die Portraits, Akte und Stillleben von Tamara Lempicka (1898-1980) atmen den Geist des Art Deco und des Jazz Age. Sie sp

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German Pages n, 207 Seiten [208] Year 2017

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Table of contents :
Inhalt......Page 5
Einleitung......Page 7
Der Beginnihrer Karriere......Page 9
Art Déco......Page 45
Wendepunkt......Page 101
Meisterwerke......Page 133
BIBLIOGRAPHIE......Page 204
BIOGRAPHIE......Page 205
BILDVERZEICHNIS......Page 206
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Lempicka [1. Auflage]
 9781781603512, 1781603510

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LEMPICKA

Patrick Bade

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Text: Patrick Bade Übersetzung: Antje Kroschewski

Layout: Baseline Co Ltd 127-129 A Nguyen Hue Fiditourist, 3rd Floor District 1, Ho Chi Minh City Vietnam

© Parkstone Press International, New York, USA © Confidential Concepts, worldwide, USA © de Lempicka Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP © Denis Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP © Lepape Estate / Artists Rights Society, New York, USA / ADAGP. © Dix Estate / Artists Rights Society, New York, USA / VG Bild-Kunst. © Pierre et Gilles. Galerie Jérôme de Noirmont, Paris © O'Keeffe Estate / Artists Rights Society, New York USA © Lotte Lasterstein. Alle Rechte vorbehalten.

Ohne Genehmigung des Urhebers ist es weltweit nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus zu reproduzieren der zu übernehmen. Soweit nicht anders angegeben, liegt das Urheberrecht für die reproduzierten Werke beim jeweiligen Fotografen. Trotz ausführlicher Nachforschungen ist es dem Verlag nicht in allen Fällen gelungen, das Urheberrecht festzustellen. Für etwaige Hinweise sind wir dankbar.

ISBN 978-1-78160-351-2

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Inhalt EINLEITUNG

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DER BEGINN IHRER KARRIERE

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ART DÉCO

45

WENDEPUNKT

101

MEISTERWERKE

133

BIBLIOGRAPHIE

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BIOGRAPHIE

205

BILDVERZEICHNIS

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Einleitung

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amara de Lempicka hat mit ihren Bildern einige der größten Kultsymbole des 20. Jahrhunderts geschaffen. Das Werk keines anderen zeitgenössischen Künstlers ziert so viele Buchumschläge wie ihre Porträts und Aktzeichnungen aus den Jahren 19251933. Die Verleger wissen sehr wohl, dass diese Reproduktionen die Aufmerksamkeit auf sich lenken und das Interesse der potenziellen Käufer anregen. In den letzten Jahren haben die Originalbilder bei Auktionen von Christie’s und Sotheby’s Rekordsummen eingebracht. Gekauft werden sie nicht etwa nur von Museen, sondern sie sind beliebte Sammlerobjekte von Film- und Popstars. Im Mai 2004 veranstaltete die Royal Academy of Arts in London eine große Ausstellung der Werke de Lempickas – und dies nur gerade ein Jahr, nachdem die Künstlerin einen zentralen Platz in einer anderen großen Ausstellung des Art déco im Victoria und Albert Museum (ebenfalls in London) eingenommen hatte. Die Besucher kamen in Scharen, trotz kritischer Reaktionen von beispielloser Feindseligkeit gegenüber einer Künstlerin mit solch fundiertem Ruf und Marktwert. In einer Sprache voll moralischer Verurteilung, wie sie seit Hitlers Denunziation moderner Kunst auf dem Reichsparteitag in Nürnberg und der von den Nazis veranstalteten Ausstellung über Entartete Kunst nicht mehr gehört worden war, wetterte der Kunstkritiker der Sunday Times, Waldemar Januszczak: “Ich hatte sie für eine manierierte und seichte Hausiererin der Art déco Banalitäten gehalten. Aber hier hatte ich Unrecht. Lempicka war viel schlimmer als das. Sie war eine mächtige Kraft des ästhetischen Verfalls, sie korrumpierte einen großartigen Stil auf melodramatische Weise und förderte leere Werte, ein entarteter Clown und eine in Wirklichkeit wertlose Künstlerin, deren Bilder wir zu unserer großen Schande haben absurd teuer werden lassen.” Laut Januszczak kam de Lempicka 1919 nicht als unschuldiger Flüchtling der Russischen Revolution nach Paris, sondern in bösartiger Mission und mit der Absicht, “den menschlichen Anstand und die künstlerischen Standards ihrer Zeit zu verletzen”. Man kommt nicht umhin, sich zu fragen, was genau die Kunst de Lempickas an sich hat, dass sie solch hysterische Schmähworte provoziert. Vielleicht gibt Januszczaks folgender scharfer Kommentar hier Aufschluss: “Luther Vandross sammelt scheinbar ihre Werke. Madonna. Streisand. Diese Art von Leuten.” Die Feindseligkeit ist vielleicht eher politisch als ästhetisch motiviert, denn was einige ihrer Kritiker am meisten ärgerte, war der glamouröse Lebensstil sowohl von Tamaras Sammlern als auch ihren Modellen.

Seite 6 Tamara de Lempicka im Abendkleid,

um 1929. Schwarze und weiße Photographie auf Papier. 22,3 x 12 cm.

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Der Beginn ihrer Karriere

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Das Leben

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Der Beginn ihrer Karriere

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amara de Lempickas Herkunft und ihr frühes Leben sind geheimnisumwoben. Unser Wissen über ihre Herkunft setzt sich aus einigen höchst unzuverlässigen und lückenhaften autobiografischen Fragmenten sowie den Äußerungen ihrer Tochter, Baroness Kizette de Lempicka-Foxhall, gegenüber de Lempickas amerikanischem Biografen Charles Phillips zusammen. De Lempicka war eine Meisterin im Erfinden von Geschichten und im Mythologisieren ihrer eigenen Person; sie war durchaus in der Lage, ihre eigene Tochter und sogar sich selbst zu täuschen. Ein großer Teil ihrer Geschichte, wie ihre Tochter sie erzählt, erinnert an einen Liebesroman oder ein Drehbuch und ist wohl in vieler Hinsicht auch nicht viel authentischer. Sowohl Geburtstort als auch Geburtsdatum de Lempickas variieren von Erzählung zu Erzählung. Darin braucht man jedoch weiter nichts zu sehen als die Eitelkeit einer schönen Frau. (Zu Tamaras Lebzeiten hatten Opernsängerinnen mit dem Titel Kammersängerin im Österreichisch-Ungarischen Reich offiziell das Recht, ihr Geburtsdatum um bis zu fünf Jahre nach hinten zu korrigieren.) Schon eher bedeutsam ist, dass sie ihren Geburtsort von Moskau nach Warschau verlegte, wie dies zumindest manche behaupten. Es wurde darüber spekuliert, dass de Lempicka auf väterlicher Seite jüdischer Herkunft gewesen sei, und dass die Verschleierung ihres Geburtsortes helfen sollte, diese Tatsache zu verdecken. Ohne Frage war de Lempickas Fähigkeit, sich an neuen Orten immer wieder neu zu erfinden, wie sie sich im Laufe ihres Lebens öfters manifestierte, ein Überlebensmechanismus, den sie mit vielen Juden ihrer Generation teilte. Die Vorahnung der von Nazi-Deutschland ausgehenden Gefahr einer ansonsten unpolitischen Frau und ihr Wunsch, Europa 1939 zu verlassen, geben ebenfalls Grund zur Vermutung, dass sie Halbjüdin war. Der offiziellen Version zufolge kam Tamara Gurwik-Gorska als Tochter wohlhabender Eltern der polnischen Oberschicht im Jahre 1898 in Warschau zur Welt. Nach drei Teilungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Großteil Polens, und somit auch Warschau, Teil des Russischen Reiches. Der im 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus brachte fortlaufende Auflehnungen gegen die russische Herrschaft mit sich und resultierte in immer härteren Versuchen, die Polen zu russifizieren und ihre polnische Identität zu unterdrücken. Tamara scheint sich nie mit den kulturellen und politischen Bestrebungen des polnischen Volkes identifiziert zu haben. Sie fand sich im Gegenteil in der herrschenden Klasse des zaristischen Regimes wieder, das Polen unterdrückte. Die Tatsache, dass sie nach ihrer Flucht aus dem bolschewistischen Russland zusammen mit tausenden russischen Aristokraten das Exil in Paris dem Leben im gerade befreiten und unabhängigen Polen vorzog, scheint für sich zu sprechen. Die Familie ihrer Mutter, Malvina Decler, war wohlhabend genug, um die “Saison” in St. Petersburg verbringen und in die mondänen Kurbäder Europas reisen zu können. Auf einer dieser Reisen sollte Malvina Decler ihren zukünftigen Ehemann Boris Gorski treffen. Über ihn ist außer der Tatsache, dass er als Anwalt für eine französische Firma arbeitete, sehr wenig bekannt. Aus welchem Grund auch immer, Boris Gorski war nicht jemand, den Tamara in den Erzählungen über ihr frühes Leben besonders hervorzuheben pflegte. Aus Tamaras späteren eigenen Äußerungen lässt sich schließen, dass sie zusammen mit ihrem älteren Bruder Stanczyk und ihrer jüngeren Schwester Adrienne eine glückliche Kindheit verbrachte. Ihr eigensinniges Temperament, das sich schon in jungen Jahren zeigte, wurde eher gefördert als gezügelt. Als Tamara im Alter von zwölf Jahren für ihr Porträt sitzen soll, wird dies zu einem wichtigen und offenbarenden Ereignis. “Meine Mutter traf die Entscheidung, mein Porträt von einer berühmten Frau malen zu lassen, die mit Pastellfarben arbeitete. Ich musste stundenlang am Stück still sitzen, es war eine Tortur. Später würde ich andere quälen, die für mich Modell sitzen mussten. Als sie fertig war, konnte ich dem Bild nichts abgewinnen, es war nicht … präzise.

Seite 10 Porträt der Baroness Renata Treves, 1925.

Öl auf Leinwand, 100 x 70 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 11

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Das Leben

Seite 12 Bauernmädchen beim Gebet, um 1937.

Öl auf Leiwand, 25 x 15 cm. Privatsammlung. Seite 13 Das polnische Mädchen, 1933. Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung.

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Das Leben

Seite 15 Bauernmädchen mit Krug, um 1937.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung. Seite 16 Das Bauernmädchen, um 1937.

Öl auf Leinwand, 40,6 x 30,5 cm. Lempickas Erben. Seite 17 Die Wahrsagerin, um 1922.

Öl auf Leinwand, 73 x 59,7 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 14

Die Linien waren nicht fournies, nicht sauber gemalt. Das war nicht ich. Und ich beschloss, dass ich das besser konnte. Ich kannte die Technik nicht. Ich hatte nie gemalt, aber das war unwichtig. Meine Schwester war zwei Jahre jünger. Ich nahm mir die Farbe. Ich zwang sie, für mich Modell zu sitzen. Ich malte und malte, bis ich endlich ein Ergebnis vorliegen hatte. Es war imparfait, aber ähnelte meiner Schwester mehr, als das Bild der berühmten Künstlerin mir ähnelte.” Wurde Tamaras Berufung, wie sie hier behauptet, in diesem Augenblick geboren, so verstärkte sich ihr Interesse noch mehr, als sie ihre Großmutter im Jahr darauf auf einer Reise nach Italien begleitete. Laut Tamaras Angaben versuchte sie zusammen mit ihrer Großmutter ihre Familie davon zu überzeugen, dass die Reise aus gesundheitlichen Gründen notwendig sei. Das junge Mädchen heuchelte eine schlechte gesundheitliche Verfassung vor und ihre Großmutter war nur zu bereit, sie in wärmere Regionen wie Rom, Florenz und Monte Carlo zu begleiten, um ihrer Spiellust zu frönen. Die ältliche polnische Frau und ihre atemberaubend schöne Enkeltochter müssen einen ähnlich exotischen Eindruck gemacht haben wie die polnische Familie, die Aschenbach in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig beobachtet. Besuche der Museen von Venedig, Florenz und Rom hinterließen bei Tamara eine lebenslange Leidenschaft für die Kunst der italienischen Renaissance, die ihre besten Arbeiten in den 1920er und 30er Jahren beeinflusste. Ein zerrissenes und geknicktes Foto aus Monte Carlo zeigt sie als typisches junges Mädchen de bonne famille der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Ihr sorgfältig gekämmtes Haar fließt in präraphaelitischer Fülle über ihre Schultern und reicht fast bis zu ihrer Taille. Sie posiert beim kindlichen Diabolospiel, aber ihre üppigen Lippen und ihr kühler selbstbewusster Blick täuschen über ihr Alter von dreizehn Jahren hinweg. Es würde sicher nicht mehr lange dauern, bis sie für das nächste große Abenteuer in ihrem Leben bereit war – für die Zeit der Umwerbung und Ehe. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und des Todeskampfs der russischen Monarchie ist die Geschichte, die durch Tamara und ihre Tochter überliefert wurde, wie so oft in de Lempickas Leben, reif für einen populären Liebesroman oder Film. Als Tamaras Mutter erneut heiratet, zieht die Tochter als Ausdruck ihrer ablehnenden Haltung zu ihrer Tante Stephanie und ihrem wohlhabenden Ehemann, einem Bankier, nach St. Petersburg, wo sie durch den Ausbruch des Krieges und die anschließende Besetzung Warschaus durch die Deutschen festsitzt. Kurz vor dem Ausbruch des Krieges, Tamara war gerade fünfzehn, hatte sie in der Oper einen gut aussehenden jungen Mann gesehen, der von wunderschönen und gebildeten Frauen umgeben war, und sie hatte sofort beschlossen, ihn für sich zu gewinnen. Sein Name war Tadeusz Lempicki. Obwohl zum Rechtsanwalt ausgebildet, war er so etwas wie ein Playboy und stammte aus einer wohlhabenden Familie, die große Güter besaß. In ihrer üblichen Dreistigkeit und ohne jegliche Hemmungen setzte sich das junge Mädchen über sämtliche Konventionen hinweg, näherte sich Tadeusz und machte vor ihm einen kunstvollen Knicks. Tamara hatte die Möglichkeit, den Eindruck, den sie auf Tadeusz bei ihrem ersten Treffen gemacht hatte, noch zu verstärken, als ihr Onkel etwas später im selben Jahr einen Kostümball gab, zu dem Lempicki eingeladen war. Zwischen den eleganten und gebildeten Damen in ihren modernen, von Poiret inspirierten Kleidern erschien Tamara als bäuerliche Gänsemagd, eine lebendige Gans an der Leine führend. Selbst Barbara Cartland und Georgette Heyer hätten sich keinen besseren Trick einfallen lassen können, um die Aufmerksamkeit des gut aussehenden Helden zu gewinnen. In einer Darstellung, die der Wahrheit ziemlich nah zu kommen scheint, gestand Tamara ein, dass das Aushandeln ihrer Hochzeit mit Tadeusz durch ihren Onkel alles andere als romantisch war. Der wohlhabende Bankier suchte den gut aussehenden jungen Mann in der Stadt auf und sagte: “Hören Sie mir zu. Ich werde meine Karten auf den Tisch legen. Sie sind ein gebildeter junger Mann, aber sind nicht sonderlich vermögend. Ich habe eine Nichte, eine Polin, die ich gern verheiraten würde. Wenn Sie sie als Braut akzeptieren, werde ich ihr eine Mitgift geben. Jedenfalls kennen Sie sie bereits.”

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Der Beginn ihrer Karriere Als die Hochzeit 1916 in der Malteserkirche im gerade umbenannten Petrograd stattfand, war das Russland der Dynastie Romanow unter dem Angriff der deutschen Armee am Rande des Zusammenbruchs und kurz davor, von der Revolution überwältigt zu werden. Die Erlebnisse des frisch verheirateten Paares nach der Machtübernahme der Bolschewiken gehören weniger in die Handlung eines Romans als in die einer Oper, mit Tamara in der Rolle der Tosca und Tadeusz als Cavaradossi. Zieht man den gesellschaftlichen Hintergrund und die Lebensweise des Paares sowie die reaktionären politischen Sympathien und Aktivitäten Tadeuszs in Betracht, so ist es kaum verwunderlich, dass dieser unter dem neuen Regime in Gefangenschaft geriet. Tamara erinnerte sich, dass sie und Tadeusz gerade miteinander schliefen, als die Geheimpolizei mitten in der Nacht mit den Fäusten an die Tür schlug und Tadeusz ins Gefängnis beförderte. In ihren Bemühungen, ihren Ehemann ausfindig zu machen und seine Flucht aus Russland zu ermöglichen, nimmt Tamara die Hilfe des schwedischen Konsuls in Anspruch, der wie Scarpia in Puccinis Opernmelodram als Gegenleistung sexuelle Dienste verlangt. Glücklicherweise war das Ende anders als in Puccinis Oper und keine der beiden Parteien betrog die andere. Tamara gab dem schwedischen Konsul, was er wollte, und er hielt sein Versprechen: Er verhalf nicht nur Tamara zur Flucht aus Russland, sondern erzwang auch die Freilassung und ermöglichte die Flucht ihres Ehemanns. Mit einem falschen Pass reiste Tamara über Finnland, um in Kopenhagen mit ihren Angehörigen wieder vereint zu sein. Dies war ein Weg, den zahlreiche russische Adelige, Künstler und Intellektuelle gingen, unter ihnen viele, deren Geschichte nicht weniger abenteuerlich als jene von Tamara und Tadeusz war. Die wunderschöne und sehr weiblich geformte Sopranistin Maria Kouznetsowa, ein Liebling des kaiserlichen Russlands, entkam auf einen schwedischen Frachter, etwas unglaubwürdig als Schiffsjunge verkleidet. Flüchtlinge der Russischen Revolution verteilten sich über die ganze Welt, aber Paris, das schon lange die Heimat vieler betuchter Russen gewesen war, wurde zum Mekka vieler Weißrussen in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Unweigerlich zog es Tamara und Tadeusz zusammen mit Tamaras Mutter und ihrer jüngeren Schwester (ihr Bruder verlor sein Leben im Krieg) dorthin. Im Gegensatz zu vielen anderen Flüchtlingen, die ohne Geld und Freunde in Paris ankamen, konnten sie sich zumindest auf die Hilfe ihrer Tante Stefa und besonders deren Ehemann verlassen, dem es gelungen war, seinen Reichtum zu behalten und an seine frühere Karriere als Bankier anzuknüpfen. Seit der Jahrhundertwende ermutigte die politische Allianz zwischen Russland und Frankreich, die der Eindämmung der Gefahr des Wilhelminischen Deutschlands galt, die Entstehung kultureller Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Der große Impresario Sergei Diaghilew nutze dieses politische Klima, um sich in Paris eine Stellung zu verschaffen. 1906 organisierte er eine Ausstellung russischer Porträts im Grand Palais, die die Vorarbeit für eine fantasievollere Präsentation von Gemälden und Skulpturen leistete. Im Anschluss an diesen Erfolg arrangierte er Konzerte, in denen dem französischen Publikum zum ersten Mal die Musik von Komponisten wie Glazunow, Rachmaninow, Rimski-Korsakow, Tschaikowsky und Scriabin präsentiert wurde. Die junge Generation französischer Musiker, die aus dem Schatten Wagners treten wollte, war begeistert von dieser Musik, die frisch und neu und nicht deutsch war. Das Jahr 1908 sah Diaghilews erste westliche Inszenierung der größten aller russischen Opern, Mussorgskys Boris Godunow, an der Pariser Oper. Paris war nicht nur von der Originalität und Urgewalt von Mussorgskys Musik begeistert, sondern auch von der bezwingenden Macht der Interpretation der Titelfigur durch den Bassisten Feodor Schaliapin. Schaliapin hatte das Publikum in Schrecken versetzt und dazu veranlasst, in der berühmten Szene mit der schlagenden Uhr auf die Sitze zu springen und nach dem Geist Ausschau zu halten, und etablierte sofort seinen Ruf als größter singender Bühnenschauspieler. Misia Sert, eine der einflussreichsten Schiedsrichterinnen dessen, was zu jener Zeit angesagt war, schrieb: “Ich verließ die Oper ergriffen und in dem Bewusstsein, dass sich etwas in meinem Leben verändert hatte”.

Seite 18 Die Zigeunerin, um 1923.

Öl auf Leinwand, 73 x 60 cm. Privatsammlung. Seite 20 Frau im Prof il, einen Schal tragend,

um 1922. Öl auf Leinwand, 61 x 46 cm. Barry Friedman Ltd., New York. Seite 21 Porträt einer jungen Damen in blauem Kleid,

1922. Öl auf Leinwand, 63 x 53 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 19

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Seite 23 Frau mit Taube, 1931.

Öl auf Holz, 37 x 28 cm. Privatsammlung. 22

Im folgenden Jahr fanden Diaghilews Bemühungen in der Bekanntmachung des Pariser Publikums mit dem Russischen Ballett ihren Höhepunkt. Die Pariser waren von dem tänzerischen und choreografischen Talent eines Ensembles beeindruckt, zu dem so legendäre Namen wie Nijinski, Pawlowa, Karsawina und Fokine gehörten, und von dem Erlebnis des Balletts als eine Art Gesamtkunstwerk und nicht als triviale Unterhaltung. Diaghilew und sein Ballettensemble sollten das Pariser Publikum zwei weitere Jahrzehnte lang begeistern und erstaunen. Diaghilew hatte ein einmaliges Talent dafür, das Talent anderer vorauszuahnen und zu entwickeln. Ohne auch nur die Tänzer und Choreografen zu erwähnen, die unter seiner Regie das moderne Ballett schufen, ist die Liste der Künstler und Musiker, die für Diaghilew arbeiteten, ein Kompendium der größten Talente jener Zeit und schließt Strawinsky, Debussy, Ravel, Richard Strauss, Satie, Falla, Resphigi, Prokofjew, Poulenc, Milhaud, Bakst, Goncharowa, Larionow, Balla, Picasso, Derain, Braque, Gris, Marie Laurencin, Max Ernst, Miro, Coco Chanel, Utrillo, Rouault, de Chirico, Gabo, Pevsner und Cocteau ein. Tamara de Lempickas Karriere fand 1929, im Todesjahr Diaghilews, ihren Höhepunkt, und der Verlauf der einzigartigen Karriere dieses Mannes hatte in mehr als einer Hinsicht einen Einfluss auf die Karriere von de Lempicka. Diaghilew hat wahrscheinlich mehr als irgendein anderer dazu beigetragen, den Mythos der russischen Kreativität und des Exotischen in der Kunst zu etablieren. Als aufgrund der Russischen Revolution der Nachschub an echten russischen Tänzern auf sich warten ließ und Diaghilew sich gezwungen sah, britische Tänzer zu engagieren, russifizierte er ihre Namen, um so ihre Mystik zu bewahren. So wurde aus Alice Marks Alicia Markowa, aus Patrick Healey-Kay Anton Dolin und aus Hilda Munnings, nach einer kurzen Phase unter dem unglaubwürdigen Namen Hilda Munningsowa, Lydia Sokolowa. In den 1930er Jahren hatte sich die Gleichsetzung von russisch mit glamourös und exotisch bereits in der Populärkultur durchgesetzt. In dem Film Ein Stern geht auf von 1937 wird das von Janet Gaynor gespielte junge Mädchen, das auf ein Leben als Berühmtheit vorbereitet wird, mehrfach von einem Angestellten der Werbeabteilung der Studios gefragt, ob sie russische Verwandte habe, in der Hoffnung, auf diesem Wege für die Öffentlichkeit ein aufregenderes Bild von ihr kreieren zu können. Diaghilevs Bühnenbildner und Kostümdesigner, unter ihnen besonders Léon Bakst, spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Art déco Stils, mit dem de Lempicka sich assoziierte. Insbesondere Baksts Entwürfe für die Produktion der Sheherazade im Jahre 1910 hatten einen außergewöhnlichen Einfluss auf Mode und Innenarchitektur. Die gesamte nächste Generation der modernen Pariser Gastgeberinnen trug Kleider und dekorierte ihre Salons, als bereite man sich auf eine orientalische Orgie vor. Selbst in den späten 1920er Jahren zeigen Fotografien von Tamara de Lempickas Schlafzimmern Dekors, die – auch wenn sie sich von der Üppigkeit des Designs von Bakst abheben – diese so erscheinen lassen, als wäre hier Nijinskys Sexsklave als nächtlicher Besuch nicht fehl am Platze. Das Paris zwischen den beiden Weltkriegen wimmelte von russischen Flüchtlingen. Es kursierte der Witz, dass jeder zweite Taxifahrer in Paris entweder ein echter oder ein vorgeblicher Großfürst war. Aus dieser Situation heraus wurde auch das beliebte Stück Tovarich geboren (1937 mit Charles Boyer und Claudette Colbert in Hollywood verfilmt), in dem sich zwei ehemalige Mitglieder der königlichen russischen Familie gezwungen sehen, ihren Lebensunterhalt als Butler und Zofe in einem wohlhabenden Pariser Haushalt zu verdienen. In einem mit wunderbaren Art déco Illustrationen geschmückten Buch über die Pariser Vergnügungslust mit dem Titel Paris leste findet sich ein Kommentar über die russischen Parties in Paris: “Man könnte meinen, man müsse zwischen zwei Arten von russischen Parties unterscheiden, der russischen Party der Vorkriegszeit, einer Zeit, in der die Russen Geld hatten, und der russischen Party der Nachkriegszeit, in der die Russen kein Geld mehr hatten. Aber es gibt keinen Unterschied! Man findet dieselben Prinzen,

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Der Beginn ihrer Karriere

Seite 24-25 Frauen im Bad, 1929.

Öl auf Leinwand, 89 x 99 cm. Privatsammlung.

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Der Beginn ihrer Karriere kaiserlichen Offiziere und Beamten in denselben Clubs. Sie machen auch das gleiche. Der einzige Unterschied liegt darin, dass sie früher selbst zahlende Kunden waren, während sie heute Angestellte des Hauses sind.” Tamara selbst gab später an, einige russische Aristokraten in Lohn und Brot genommen zu haben, als sie nach Hollywood zog. Neben den Tänzern, Musikern und Künstlern, die im Zusammenhang mit Diaghilew bereits genannt wurden, gab es viele kreative Russen, die vorübergehend oder dauerhaft in Paris wohnten. Unter ihnen der Dirigent Sergej Koussewitsky, die Cembalistin Wanda Landowska, die Sängerinnen Nina Koshetz, Oda Slobodskaja, Natalie Wetchor und die gesamte Kedroff Familie, die alle eine bedeutende Rolle im Pariser Musikleben spielten, sowie die Künstler Marc Chagall, Sonia DelaunayTerk, Natalia Goncharowa, Nadia Khodossievitch-Leger, Jacques Lipchitz, Serge Poliakoff, Chaim Soutine, Ossip Zadkine, Romain de Tirtoff (bekannt als Erte), Chana Orloff, Antoine Pevsner und, nach 1933, Naum Gabo und Vassilij Kandinsky. Lempickas erste Jahre in Paris waren nicht glücklich. Auch wenn sie niemals die große Not ihrer ebenfalls geflohenen Landsleute ertragen musste, war sie doch vom Großmut ihrer wohlhabenden Verwandten abhängig. Trotz der Geburt der Tochter Kizette wurde Tamaras Beziehung zu Tadeusz durch ihre Untreue und seine resultierende Frustration getrübt. Er schlug das Angebot des Onkels, einen Job in seiner Bank anzunehmen, als erniedrigend aus. Laut ihrer eigenen Erzählung entstand ihre künstlerische Berufung aus dieser schweren Situation heraus sowie aus dem Wunsch, finanziell und persönlich unabhängig zu sein. Tamara berichtete ihrer jüngeren Schwester Adrienne in folgendem Gespräch von ihrer Situation: “Tamara, warum machst Du nichts – warum machst Du nichts für Dich? Hör mir zu, Tamara. Ich studiere Architektur. In zwei Jahren werde ich Architektin sein und ich werde für mich selbst und sogar für Mutter sorgen können. Wenn ich das kann, kannst du auch etwas tun.” “Was denn? Was? Was?” “Ich weiß nicht, vielleicht malen. Du kannst eine Künstlerin werden. Du hast immer gern gemalt. Du hast Talent. Erinnere dich doch nur an das Porträt, das du von mir gemalt hast, als wir Kinder waren… .“ Der Rest, wie man sagt, ist Geschichte. Tamara kaufte Pinsel und Farben, schrieb sich in einer Kunsthochschule ein, verkaufte ihre ersten Bilder schon nach wenigen Monaten und machte ihre erste Million (Franc) mit achtundzwanzig Jahren. Wieder einmal scheint de Lempickas Leben in ihren eigenen Erzählungen einem schlechten Drehbuch entsprungen zu sein, denn es fällt schwer, zu glauben, dass die Entscheidung ganz so einfach gewesen sein soll. Eine Frau, die auch noch lange nachdem ihre Kunst aus der Mode gekommen war und wenig einbrachte, diese so hartnäckig weiter betrieb, kann nicht auf so zufällige Art und Weise und aus rein monetären Motiven zu ihrer Berufung gefunden haben. Tatsache ist jedoch, dass Tamara nacheinander bei zwei angesehenen Malern Stunden nahm, bei Maurice Denis (1870-1943) und André Lhote (1885-1962). De Lempicka sagte später, dass sie von Denis nicht viel gelernt habe. Und es ist tatsächlich schwer vorstellbar, dass der streng katholische Denis den weltlichen, modischen und erotischen Tendenzen, die sich bald in Tamaras Werken zu zeigen begannen, viel abgewinnen konnte. Dennoch war Denis eine intelligente Wahl als erster Lehrer einer angehenden Künstlerin. Zu Beginn der 1890er Jahre hatte Denis für kurze Zeit als Mitglied der Nabis Gruppe zusammen mit Vuillard, Bonnard, Serusier, Ranson und Vallotton zur vordersten Front des frühen Modernismus gehört. Angeregt vom Synthetismus Gauguins bretonischer Gemälde, wandten sich Denis und seine Freunde vom Naturalismus der Salonmalerei und dem sehr unterschiedlichen Naturalismus der Impressionisten ab, die an sinnliche Wahrnehmung gebunden waren und kleine Bilder mit Flächen heller übertriebener Farben zeichneten. Im Jahre 1890, Denis war gerade 20 Jahre alt, veröffentlichte er sein Manifest über die Definition des Neo-Traditionalismus, das heute

Seite 26 Gruppe von vier Akten, um 1925.

Öl auf Leinwand, 130 x 81 cm. Privatsammlung. 27

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Das Leben

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Der Beginn ihrer Karriere

Seite 28-29 Das schlafende Mädchen, 1923.

Öl auf Leinwand, 89 x 146 cm. Privatsammlung. Seite 30 Sitzender Akt, um 1923.

Öl auf Leinwand, 94 x 56 cm. Privatsammlung. Seite 31 Akt, blauer Hintergrund, 1923.

Öl auf Leinwand, 70 x 58,5 cm. Privatsammlung.

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Der Beginn ihrer Karriere

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Das Leben

Seite 33 Sitzender Akt im Prof il, um 1923.

Öl auf Leinwand, 81 x 54 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 32

hauptsächlich wegen seiner gewaltigen Anfangssätze bekannt ist: “Man vergesse nie, dass ein Bild an erster Stelle kein Schlachtross, keine nackte Frau, keine Erzählung, sondern eine Oberfläche ist, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt wurde.” Diese Aussage könnte zur Rechtfertigung des Formalismus in der modernen Kunst dienen, sogar den Verzicht auf das Figurative in der Kunst rechtfertigen – etwas, das Denis selbst niemals akzeptiert hätte. Nach einem Besuch in Rom im Jahre 1898 zusammen mit André Gide wandte sich Denis vom Modernismus ab und wurde fortan mit dem Klassizismus und reaktionären Katholizismus identifiziert, die einen solch unheilvollen Einfluss auf das kulturelle und politische Leben des Frankreichs des 19. Jahrhunderts hatten. Vielleicht war es sein Ruf, der ihn mit allem Regressiven in der französischen Kunst in Verbindung brachte, der de Lempicka dazu veranlasste, Denis’ Einfluss auf ihre Entwicklung herunterzuspielen. Die sichere Linearität und weiche Modellierung der Formen in den späteren Werken von Denis sowie sein Versuch, die Moderne mit den klassischen Traditionen zu verbinden, werden an der jungen de Lempicka jedoch kaum spurlos vorüber gegangen sein. Die Ästhetik, die Denis 1909 in seiner Publikation Von Gauguin und van Gogh zum Klassizismus zum Ausdruck brachte, teilte sie sicherlich: “Für uns Maler ergab sich der Weg zum Klassizismus aus unserem Wunsch heraus, die zentralen Probleme der Kunst anzusprechen, sowohl ästhetischer als auch psychologischer Art ... wir demonstrierten, dass jedes Gefühl oder jede Gemütsverfassung, die durch einen bestimmten Anblick hervorgebracht wurden, in der Vorstellung des Künstlers zu Symbolen oder einer konkreten Entsprechung wurden, die identische Gefühle oder Gemütsverfassungen hervorbringen konnten, ohne die Notwendigkeit, eine Kopie des Originals zu erzeugen, und dass es für jede Nuance unseres emotionalen Make-ups ein korrespondierendes Objekt gab, das darauf abgestimmt war und in der Lage war, sie vollständig wiederzugeben. Kunst ist nicht nur eine visuelle Sinneswahrnehmung – eine raffinierte Fotografie der Natur. Nein, sie ist eine Schöpfung des Verstands und die Natur dient hier als Ausgangspunkt.” Dies trifft sicherlich auf de Lempickas seltsam zerebrale und abstrakte Porträts der 1920er Jahre zu. De Lempicka sprach lieber über den Einfluss ihres zweiten Lehrmeisters, André Lhote. Während Denis auf sie den Eindruck eines Relikts des 19. Jahrhunderts gemacht haben muss, war Lhote, der 1885 geboren wurde, kaum mehr als ein Jahrzehnt älter als de Lempicka selbst und stand somit ihrer modernen und weltlichen Auffassung weitaus näher. Seit er seine Werke 1911 zusammen mit Künstlern wie Jean Metzinger, Roger de La Fresnaye, Albert Gleizes und Fernand Leger im Salon des Indépendants und dem Salon d’Automne ausgestellt hatte, war Lhote mit dem Kubismus identifiziert worden. Er folgte nicht den radikalen Experimenten der Auflösung der Form in Picassos und Braques Analytischem Kubismus, sondern fühlte sich eher von dem farbenfrohen und gegenständlicheren Synthetischen Kubismus von Juan Gris, Albert Gleizes und Jean Metzinger angezogen. Für Lhote war das Malen eine “plastische Metapher…an den Rand der Ähnlichkeit gedrängt”. In Worten, die denen von Denis sehr ähneln, verlieh er seiner Meinung Ausdruck, dass Künstler versuchen sollten, eine Übereinstimmung von Gefühlen und visueller Sinneswahrnehmung auszudrücken, und nicht einfach die Natur zu kopieren. Was Lhote für de Lempicka als Vorbild und Lehrer besonders wertvoll machte, war sein Verständnis für die dekorative Rolle der Malerei sowie sein Versuch, Elemente der kubistischen Abstraktion und Sprengung der konventionellen Perspektive mit der gegenständlichen und klassischen Tradition zu verbinden. In diesem Zusammenhang scheint die Tatsache von Bedeutung zu sein, dass Lhote der Sohn eines Holzschnitzers war und seine ersten Versuche in den dekorativen Künsten machte. Wie Denis hegte er auch später ein Interesse an der dekorativen Wandmalerei. Seine Synthese von kubistischer Kantigkeit und Fragmentierung mit der akademischen Tradition war sehr einflussreich und verhalf dem Kubismus zu einem größeren Publikum.

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Der Beginn ihrer Karriere

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Das Leben

Seite 34 Akt mit Segelbooten, 1931.

Öl auf Leinwand, 113 x 56,5 cm. Bruce R. Lewin Gallery, New York.

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Der Beginn ihrer Karriere

Seite 35 Die zwei Freundinnen, 1930.

Öl auf Holz, 73 x 38 cm. Privatsammlung.

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Seite 36-37 Akt auf einer Terrasse, 1925.

Öl auf Leinwand, 37,8 x 54,5 cm. Privatsammlung.

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Das Leben

Seite 38 Jean-Auguste-Dominique Ingres, Das Türkische Bad, 1862. Öl auf Leinwand, 108 cm (Durchmesser). Musée du Louvre, Paris. Seite 39 Rhythmus, 1924.

Öl auf Leinwand, 160 x 144 cm. Privatsammlung. 38

Wenn die Künstlerin de Lempicka auch nicht voll entwickelt und gerüstet auf die Welt kam, wie etwa bei der Geburt der Athena aus dem Kopf des Zeus und wie sie es uns gern glauben machen würde, so war die Reifezeit bis zu ihrer voll entwickelten Kunst doch erstaunlich kurz – sie dauerte nicht länger als zwei bis drei Jahre. Ihr Porträt eines Polospielers, das um 1922 entstand, zeigt bereits ihre Vorliebe für die elegante Welt, aber hätte auch von jedem anderen kompetenten Künstler im Paris jener Zeit gemalt werden können. Es zeigt eine Ungenauigkeit der malerischen Qualität, die bald nicht mehr in ihren Werken zu finden sein würde. Die Modellierung des Gesichts mit dicken strukturhaften Pinselstrichen zeigt den Einfluss von Cézanne, zu dem sie zweifelsohne sowohl Denis als auch Lhote ermuntert haben könnte. Ähnlich üppig und malerisch ist das Porträt der Ira Perrot, das später in Porträt einer jungen Dame in blauem Kleid umbenannt wurde. In seiner Urform, wie es im Salon d’Automne ausgestellt und mit dem Modell davor fotografiert wurde, zeigte es Ira Perrot mit überkreuzten Beinen vor einer Reihe von Kissen sitzend, die exotisch in der Art von Baksts Sheherazade Design übereinander gestapelt sind. Stilistisch und thematisch prophetischer als jene zwei Porträts ist ein weiteres Bild jener Schaffensperiode, das den Titel Der Kuss trägt. Das erotische Thema vor städtischem Hintergrund, das Element kubistischer Stilisierung, das dem Bild eine Ahnung von Moderne und Dynamik gibt, sowie der metallische Glanz auf dem Zylinderhut des Mannes sind alle Ausdruck einer Vorahnung der künstlerischen Reife de Lempickas. Die Grobheit der Technik ist jedoch noch weit von der emaillierten Perfektion ihrer besten Werke entfernt. Auch wenn Naivität im Allgemeinen keine Eigenschaft ist, die wir mit de Lempicka assoziieren, so hat dieses Bild doch etwas vom Cover eines reißerischen Trivialromans. Im folgenden Jahr arbeitet de Lempicka an einer Reihe groß angelegter und monumentaler weiblicher Akte, die eher kubisch als kubistisch sind. Diese Werke zeigen ein Interesse am Klassischen und Monumentalen, das nach dem Ersten Weltkrieg und in der gesamten Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in der westlichen Kunst weit verbreitet war. Von der Antike an kann die gesamte Geschichte der westlichen Kunst als eine Serie größerer und kleinerer Wiederbelebungen der Klassik betrachtet werden. In seinem Essay Der Ruf zur Ordnung aus dem Jahre 1926 präsentierte Jean Cocteau die Rückkehr zum Klassizismus nach dem Krieg als eine notwendige Reaktion auf die radikale Experimentierfreudigkeit des anarchischen Jahrzehnts, das dem Ersten Weltkrieg vorausgegangen war. Sicherlich liegt einiges an Wahrheit in dieser Aussage, auch wenn die Wurzeln des zwischen den zwei Weltkriegen aufblühenden Klassizismus viel weiter reichen. Eine speziell französische Version des Klassizismus kann als roter Faden der französischen Kunst betrachtet werden, der bis zu Poussin und ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Der klassizistische Maler des 19. Jahrhunderts, der am häufigsten im Zusammenhang mit de Lempicka genannt wird, ist Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867). Die Vorliebe für harte, leuchtende Farben und emaillierte Oberflächen, die Kombination von Abstraktion und quasi-fotografischem Realismus, die

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Der Beginn ihrer Karriere Erotisierung des weiblichen Körpers durch die radikale Verzerrung der Anatomie und die Liebe zu luxuriösen und modernen Accessoires verbinden die weiblichen Porträts von Ingres und de Lempicka. Baudelaires gehässiger Kommentar, dass Ingres’ Ideal “eine provokative, ehebrecherische Liaison zwischen der ruhigen Solidität Raphaels und der Affektiertheit eines Modeopfers” war, könnte ebenso gut auf de Lempicka zutreffen. Überraschend ist jedoch die Art und Weise, in der de Lempicka Ingres’ Beispiel in der Darstellung von Frauen als passiven Sexobjekten folgt. Wie auch Ingres zeigt sie so gut wie kein Interesse an der individuellen Psychologie oder Persönlichkeit ihrer weiblichen Modelle. Und de Lempickas weibliche Aktbilder haben noch mehr mit denen von Ingres gemeinsam. Ihre vor dem kubischen, städtischen Hintergrund in Ketten gelegte Andromeda mit den nach oben gerichteten Augen und dem Kopf, der weiter nach hinten geworfen ist, als ihre Anatomie es erlauben dürfte, ist eindeutig eine aktualisierte Version von Ingres’ Angelika. Ihre Gruppen weiblicher nackter Körper, wie aufblasbare Puppen aufeinander geschichtet, gehen auf Ingres’ berühmt-berüchtigtes Türkisches Bad zurück. Ingres genoss in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ein beachtliches Revival und zwei Größen der modernen Malerei, Picasso und Matisse, würdigten ihn jeder auf seine Weise. Ein weiterer Maler des 19. Jahrhunderts, der seinen Teil zum KlassikRevival beitrug, war Pierre Puvis de Chavannes (1824-1898). In den 1870er Jahren, als der am wenigsten klassische Stil – der Impressionismus – gerade in voller Blüte stand, entwickelte Puvis de Chavannes mit Hilfe einer Reihe monumentaler Wandbilder (häufig als fresques bezeichnet, jedoch mit Öl auf Leinwand gemalt) einen Stil, der versuchte die zeitlosen Qualitäten des Klassizismus einzufangen, ohne in die Klischees der akademischen Kunst zu verfallen, die im Pariser Salon ausgestellt waren. Puvis de Chavannes war ein Held der Nabis Gruppe. Denis wird seine Schüler, darunter auch de Lempicka, zweifelsohne dazu angehalten haben, dem Beispiel Puvis’ zu folgen. Denis’ NabiGefährte Eduard Vuillard (1868-1940) schrieb: “Die Experimente in Stilisierung und expressiver Synthese von Form, die die heutige Kunst auszeichnen, waren alle Teil der Kunst von Puvis.” Die Vertrauenskrise, die alle Impressionisten in kleinerem oder größeren Maße in der 1880er Jahren ereilte, veranlasste Renoir, zur klassischen Tradition zurückzukehren. Eine Reise nach Italien von 1881 bis 1882, auf der er sich mit römischer Wandmalerei und den Meistern der Renaissance beschäftigte, veranlasste Renoir dazu, Ingres mit neuem Interesse zu studieren, einen Künstler, der bis dato von den meisten Künstlern der impressionistischen Gruppe mit Abscheu betrachtet worden war. Mitte der 1880er Jahre entwickelte Renoir einen kantigen Stil, der später von einem weicheren, aber volumetrischen und monumentalen Stil abgelöst wurde, der einen bedeutenden Einfluss auf die klassizierenden Maler und Bildhauer der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hatte. Es waren die einfachen Linien und das große Skulpturelle der späten Aktmalerei Renoirs, die Aristide Maillol mit dem Pathos und den “unskulpturellen” Eigenschaften von Rodins ausdrücklich modellierten Skulpturen brechen ließen. Das Schlüsselwerk der Wiederbelebung des monumentalen klassischen Stils im 20.

Seite 40 Die blaue Stunde, 1931.

Öl auf Leinwand, 55 x 38 cm. Privatsammlung. 41

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Seite 41 Maurice Denis, Die Rache der Venus. Psyche schläf t ein, nachdem sie das Kästchen mit den Träumen der Unterwelt geöf f net hat,

1907. Öl auf Leinwand, 395 x 272 cm. Hermitage St. Petersburg. Seite 43 Badende Suzanne, um 1938.

Öl auf Leinwand, 90 x 60 cm. Privatsammlung. 42

Jahrhundert war Maillols Werk La Méditerranée, das 1902 modelliert wurde und 1905 in Bronze in eben dem Salon d’Automne ausgestellt wurde, in dem das kontroverse Debüt der Gruppe der Fauves stattgefunden hatte. Man könnte behaupten, dass Maillols monumentaler Neo-Neo-Klassizismus einen länger anhaltenden Einfluss auf die westliche Kunst hatte, als die spektakuläre, doch kurzlebige Fauve Bewegung, die zwar als gloriose Koda zum 19. Jahrhundert betrachtet werden kann, jedoch eine Art Sackgasse darstellte. Es war sehr von Nachteil für Maillols und, zumindest für kurze Zeit, auch indirekt für de Lempickas Ruf, dass Maillols bekanntester Schüler Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker war, und somit die Art des monumentalen Klassizismus, der Maillol den Weg bahnte und die de Lempicka praktizierte, in einen engen Zusammenhang mit den totalitären Regimes der 1930er Jahre gestellt wurde. Die Rückkehr zum Klassizismus, die von einigen Anhängern als Verrat oder sogar blasphemische Provokation angesehen wurde, wurde vom König der Pariser Avantgarde, Pablo Picasso, abgesegnet. Bereits 1914 (also zu einer Zeit, als Reaktionen auf die Auswirkungen des Kriegs noch keine Rolle spielen konnten) begann Picasso, mit einigen Aspekten des Klassizismus zu spielen, indem er Porträts von Fotografien abmalte und sich dabei eines harten, linearen Stils in der Tradition von Ingres bediente. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Porträt des Kunsthändlers Leonce Rosenberg aus dem Jahre 1915, das sehr an die Zeichnungen erinnert, die Ingres im post-napoleonischen Italien für Touristen malte. Auch wenn de Lempicka bissige Bemerkungen über Picasso machte, deuten Werke wie Sitzender Akt aus dem Jahre 1923, das eine Frau mit überdimensional großen Schenkeln und plastischen Brüsten darstellt, eindeutig darauf hin, dass de Lempicka Picassos Werk wahrgenommen hatte – sowohl den Primitivismus der frühen Phase des Analytischen Kubismus, als auch die gigantischen neo-klassischem Frauenfiguren der Nachkriegszeit. In den engen und beinahe inzestuösen artistischen und intellektuellen Kreisen des Paris zwischen den beiden Weltkriegen war es unvermeidlich, dass de Lempicka irgendwann mit den meisten der führenden Künstler und Intellektuellen in Kontakt kommen würde. Unter den Künstlern und Autoren, mit denen sie Umgang hatte, waren Gide, Marinetti, Cocteau, Marie Laurencin, Foujita, Chagall, Kiesling und van Dongen. Cocteau, der sie warnte, sie würde ihr Talent ruinieren, wenn sie zu viel Gesellschaft suchte, war wahrscheinlich ihr engster Kontakt zu Picasso. Cocteaus eigene, unglaublich clevere und raffinierte erotische Zeichnungen könnten de Lempicka als Beispiel dafür gedient haben, wie sich Avantgarde, das Klassische und der Hochglanz des Kommerziellen verbinden ließen. Cocteau nahm die nackten männlichen Körper direkt von Michelangelos Sixtinischem Deckenbild und anderen Quellen der Renaissance und Klassik, fügte die vergrößerten Genitalien, sich kräuselndes Schamhaar und andere Merkmale homosexueller Pornografie hinzu und zeichnete sie allesamt in einem spärlichen linearen Stil, der eng an Picassos neo-klassische Zeichnungen angelehnt ist. Das Resultat ist eine Mischung aus Michelangelo, Picasso und Tom of Finland. Auch wenn die Erotik in de Lempickas Werk niemals so offensichtlich wie in Cocteaus Werk wird, ist es ihr in ihren reifen Werken der späten 1920er Jahre auf jeden Fall gelungen, eine ähnliche Synthese aus Moderne, Illustrativem und Kommerziellem zu schaffen. In einem im Jahre 1929 veröffentlichten Artikel kommentierte der angesehene französische Kritiker Arsène Alexandre die erfolgreiche Synthese von Klassischem und Modernem in de Lempickas Werk: “Welche einzigartigen, glücklichen Widersprüche erlauben es ihr, diesen Eindruck von Moderne (Hochmoderne, meiner Meinung nach) entstehen zu lassen und sich dabei rein klassischer Quellen zu bedienen? Wie kann sie mit diesem offensichtlich kühlen Stil, den sie manchmal bis zum Äußersten treibt, Gefühle hervorrufen (ja sogar Empfindungen), die im Allgemeinen mit dem anderen Extrem in Verbindung gebracht werden? Wie gelingt es ihr, diesen Ausdruck von Keuschheit zu wandeln, oder fällt es uns vielleicht schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden?”

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as “intensive Moderne” und die “Kälte” de Lempickas kommen durch eine Leidenschaft für das Mechanische und Metallische zum Ausdruck, die charakteristisch für diese Zeit ist. Eine der am meisten hervorstechenden Eigenschaften der Werke de Lempickas ist die Art und Weise, in der sie alles von menschlichem Fleisch bis hin zu dauergewelltem Haar und in Falten geworfenem Stoff mit einem metallischen Glanz zeichnet. Es kommt einem Manets bissiger Kommentar zu den militärischen Bildern Ernest Meissoniers in den Sinn, alles sähe so aus, als wäre es aus Metall, nur die Waffen nicht. In de Lempickas Werk ergibt sich das Metallische jedoch aus einer Ästhetik, die Sklave der Maschine ist. Mit der Verbreitung der Industrialisierung in der westlichen Welt im 19. Jahrhundert begann die Maschine, einen Einfluss auf jedes Gebiet des menschlichen Lebens zu nehmen. Zu Beginn reagierten die meisten Künstler mit Horror. Der französische symbolistische Maler Pierre Puvis de Chavannes litt nach einem Besuch der Maschinenhalle auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1889 unter Albträumen. Für William Morris, den einflussreichsten Designtheoretiker des späten 19. Jahrhunderts, stellte die Maschine eine Gefahr für all das dar, was ihm lieb war. Er sah nicht, dass die Maschine in der Tat die Erfüllung seines Wunsches ermöglichen konnte, dem Volk Kunst und Wohlstand zu bringen. Erst nach der Jahrhundertwende begannen Architekten und Designer wie Richard Riemerschmid und Peter Behrens, die Maschine als Chance und nicht als Gefahr wahrzunehmen. Künstler begannen zudem, Maschinen aufregend und schön zu finden. Im Manifest des Futurismus, das 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro veröffentlich wurde, verkündete Marinetti die Bereicherung der Welt um “eine neue Schönheit … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake”. Als de Lempicka einmal mit Marinetti in der Brasserie La Coupole saß, wurde sie so von seiner Rhetorik eingenommen, dass sie sich plötzlich in einer Gruppe von Leuten wieder fand, die Burn the Louvre sang. Sie gab an, dass sie vom Mitsingen nur von der Polizei abgehalten wurde, die gerade ihr falsch geparktes Auto beschlagnahmte. Das Manifest des Futurismus proklamierte “Wir wollen den Krieg verherrlichen”. Der Erste Weltkrieg, der der futuristischen Bewegung ein Ende setzte, repräsentierte mit seiner mechanisierten Kriegsführung von ungeträumtem Ausmaß und der Industrialisierung des Todes sicherlich den traurigen Triumph der Maschine. Die Antwort des Malers Fernand Léger, der am Krieg als einfacher Soldat teilnahm, war eine Bewegung hin zu einer populistischeren Kunst und einem Stil, der von der Ästhetik der Maschine durchdrungen war. Er fing an, kühle metallische Formen zu malen, die denen de Lempickas nicht unähnlich waren. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen durchdrang der Maschinenkult alle Gebiete von Kultur und Gesellschaft. Autos, Expresszüge, Flugzeuge, Zeppeline und Ozeandampfer nahmen die Plätze von Nymphen und Karyatiden ein und dekorierten Fassaden und Decken von Kaufhäusern wie Barker’s in London und Bullocks Wilshire in Los Angeles. Le Corbusier beschrieb das Haus als “Maschine zum Wohnen”. Gebäude wie das Broadcasting House in London und die Coca-Cola

Seite 46 Geheimnisaustausch, 1928.

Öl auf Leinwand, 46 x 38 cm. Galleria Campo dei Fiori, Rom. Seite 47 Georges Lepape, Cover für Vogue. 15. März 1927. 47

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Seite 48 Der grüne Turban, 1929.

Öl auf Holz, 41 x 33 cm. Privatsammlung. Seite 49 Die Mädchen, um 1930.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung. Seite 51 Der orangefarbene Schal, 1927.

Öl auf Holz, 41 x 33 cm. Privatsammlung. Seite 52-53 La Belle Rafaëla in Grün, 1927.

Öl auf Leinwand, 38 x 61 cm. Privatsammlung, Paris. 50

Abfüllanlage in Los Angeles nahmen die Gestalt von stillliegenden Ozeandampfern an, während Ozeandampfer wie die Ile de France, Normandie, Queen Mary und Queen Elizabeth die Sehnsüchte und den Ethos des Art déco in der Art und Weise repräsentierten, wie es Kathedralen für das Mittelalter und Museen und Bahnhöfe für das 19. Jahrhundert getan hatten. Selbst in Filmen wie Fritz Langs Metropolis von 1927 und Charlie Chaplins Moderne Zeiten von 1936, die vor den Gefahren der Mechanisierung warnen wollten, wird offensichtlich, dass die Bühnenbildner völlig von der Ästhetik der Maschine eingenommen waren. Ein naiver und überschwänglicher Enthusiasmus für die Maschine kommt in den Hollywood Musicals von Busby Berkeley zum Ausdruck, in denen hunderte von Mädchen, die alle aussehen, als wären sie selbst das Ergebnis einer Massenproduktion, sich in Massenformationen wie die Zahnräder einer großen Maschine bewegen. Der wunderbarste Tribut Hollywoods zum Reiz der Maschine ist die Sequenz aus dem RKO-Film Darf ich bitten? aus dem Jahre 1937, in der Fred Astaire zum Rhythmus der Kolben in einem glänzenden und makellos sauberen Maschinenraum eines Ozeandampfers tanzt. Auch die Musik wurde von der Liebe zur Maschine beeinflusst, von den motorischen Rhythmen von Avantgarde Komponisten wie Strawinsky und Hindemith und den beinahe bildhaften Heraufbeschwörungen von Maschinen in Konzertstücken wie Alexander Mosolows Eisengießerei und Arthur Honeggers Pacific 231 (das den Klang einer beschleunigenden Lokomotive simuliert) bis hin zu den beliebten Tanzbands jener Zeit wie Wal-Berg in Paris, die nur zu gern den Klang von Expresszügen und Stadtverkehr nachahmten. In den 1930er Jahren hatten die Maschine und die Massenproduktion genau jene Art der Demokratisierung von gutem Design hervorgerufen, von der William Morris geträumt hatte. Jeder Besucher eines Flohmarkts kann in den 1930er Jahren gefertigte Massenprodukte aus industriellen Materialien wie Bakelit und Chrommetall erstehen, die genauso glatt und glänzend und ästhetisch befriedigend sind, wie die meisten Luxusprodukte jener Zeit. Die Massenprodukte der Art Nouveau Zeit hatten immer wie schäbige und billige Imitationen von aufwendig gefertigter Handarbeit ausgesehen. In einer interessanten Umkehrung bedienten sich die berühmtesten und bestbezahlten Kunstgewerbler der Art déco Zeit, wie der mit Ebenholz arbeitende Jacques-Emile Ruhlmann, jedoch der arbeitsaufwendigsten Techniken und teuersten Materialien, um die einfachen Stromlinienformen des industriellen Designs zu reproduzieren. Die glatten reflektierenden Flächen des Art déco Stils, die in Lempickas besten Werken und insbesondere in Werken wie Arlette Boucard mit Callas von 1931 – mit gläsernem Tisch und transparenter Vase – zu finden sind, geben auch dem neuen Wunsch der westlichen Kultur nach Hygiene Ausdruck. Die Auffassung, dass “Reinheit gleich nach Gottesfürchtigkeit kommt”, war vor dem 19. Jahrhundert kein zentraler Bestandteil der christlichen Kultur (anders als in jüdischen und muslimischen Traditionen, bei denen die persönliche Hygiene immer eine große Rolle gespielt hatte). Nachdem der Begriff des Keims aufkam und der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Hygiene durch Louis Pasteur und andere Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert worden war, begann man auch in Europa der Reinlichkeit und dem Baden größere Beachtung zu schenken. Noch in den 1880er Jahren wurde beim Bau des luxuriösen Savoy Hotels in London über die große Zahl der Zimmer mit eigenem Bad gelächelt. Doch bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen verfügte jeder Haushalt der Mittelklasse über ein Badezimmer, das mit keimfreier Keramik, Glas und verchromten Oberflächen meist der modernste und am besten gestaltete Raum im Haus war. Aufwendig gestaltete Badezimmer sind in vielen Filmen der Zeit zu sehen. Leider zeigen die Werbefotos von de Lempickas Appartement in der Rue Méchain nicht ihr Badezimmer, jedoch lässt die gestalterische Ästhetik der restlichen Inneneinrichtung erahnen, wie es ausgesehen haben muss.

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Art Déco Eines der Bilder mit Kultsymbolcharakter des Jazz-Age und wahrscheinlich das Bild de Lempickas, das heute am häufigsten reproduziert wird, ist das Selbstporträt am Steuer eines Bugatti Cabrios in de Lempickas Lieblingsfarbe “giftgrün”, das vom deutschen Modemagazin Die Dame 1925 in Auftrag gegeben wurde. Der enge Helm, der ihr dauergewelltes Haar abdeckt, und ihr eher das Aussehen eines Piloten als eines Autofahrers verleiht, und ihr kühler undurchdringlicher Blick charakterisieren sie als gänzlich unabhängige und selbstbewusste moderne Frau. So wie die Nähmaschine und die Schreibmaschine (die innerhalb und außerhalb des Hauses die, wenn auch bescheidene, Möglichkeit der Arbeit boten) in der vorangegangenen Generation trug das Auto maßgeblich zur Emanzipation der Frau bei, wenn auch nur der Frauen, die sich am oberen Ende der ökonomischen Skala bewegten. De Lempicka versah dieses Gemälde mit ihren Initialen, die wie ein industrielles Logo an der Tür des Wagens zu finden sind. In der gesamten Zeit des Art déco verlieh de Lempicka ihrer Verbundenheit zur Ästhetik der Maschine Ausdruck, indem sie ihre Bilder mit Buchstaben signierte, die wie industrielle Schrifttypen aussahen und somit zu der fließenden, von den mehr “malerischen” Künstlern der Belle Epoque bevorzugten Kalligrafie in Kontrast standen. Wie Arsène Alexandre andeutete, lag Lempickas Modernität auch in der Kombination von Kühle und Sinnlichkeit und einer gewissen Ambivalenz. Auch wenn er zu diskret ist, um es in Worte zu fassen, war diese Zweideutigkeit sexueller Natur. Zu den Wertesystemen, die durch die beispiellose Katastrophe des Ersten Weltkrieges in Frage gestellt wurden, gehörte auch die traditionelle Auffassung des Geschlechts. Man könnte die 1920er Jahre in Paris als heroisches Zeitalter der weiblichen Homosexualität bezeichnen. Während Queen Victoria im 19. Jahrhundert die Existenz der weiblichen Homosexualität in Abrede stellte, blühte diese indes – will man den geheimen Reiseführern, die für englischsprachige Sextouristen in der “Stadt des Lichts” produziert wurden, Glauben schenken – in den Bordellen von Paris. 1930 begann Colette eine Reihe von Essays in der Pariser Wochenzeitschrift Gringoire zu veröffentlichen, die später gesammelt unter dem Titel Pure et Impure in Buchform erschienen und in denen sie das Schattenleben betuchter Lesben in den frühen Jahren des neuen Jahrhunderts darstellte. Auch wenn die erste Reihe dieser Artikel abgesetzt wurde, anscheinend als Antwort auf negative Reaktionen, sagt doch die einfache Tatsache, dass eine so bekannte und respektierte Autorin Material wie dieses veröffentlichen konnte, einiges über die grundlegende Veränderung der Einstellung gegenüber der Homosexualität aus, die seit dem Ersten Weltkrieg stattgefunden hatte. Der Krieg selbst spielte hier eine große Rolle. Als Millionen von jungen Männern ihre Heimat für die Kämpfe an der Westfront verließen, wurden Frauen in neue Rollen gedrängt und von ihrer häuslichen Sklaverei erlöst. Nach dem Krieg gab es keinen Weg zurück. Der veränderten Rolle der Frau wurde auch durch ihr verändertes Erscheinungsbild Ausdruck verliehen – Pagenschnitt und la ligne à la mode – knabenhafte Figuren mit flachen Brüsten und schmalen Hüften. In der gesamten westlichen Welt feierten oder verspotteten bekannte Lieder wie Masculine men and feminine women oder Eh! Ah! Maria! T’est’y une fille ou bien un gars? und Hannelore in Claire

Seite 54 Double “47”, um 1924.

Öl auf Holz, 46 x 38 cm. Privatsammlung. Seite 55 Alfred Wolmark, Doppel Portrait. Victor Arwas Gallery, London. 55

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Das Leben

Seite 57 Frühling, 1930.

Öl auf Holz, 41 x 33 cm. Privatsammlung. 56

Waldoffs Lied (mit ihrem schönen Bubiköpfchen und Smokingkleid, die “’n Bräutjam und ‘ne Braut” hat) dieses neue androgyne Aussehen. Besonders in Berlin änderten sich traditionelle sexuelle Moral und Geschlechterrolle auf dramatische Weise. Laut Stefan Zweig “verwandelte sich Berlin in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze schossen auf wie die Pilze. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solchen Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle. Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. Junge Damen prahlten damit, dass sie anomal waren. Im Alter von 16 Jahren in den Verdacht der Jungfräulichkeit zu geraten, wäre in jeder Schule Berlins als Schande angesehen worden.” Während Berlin für seine Transvestitenbälle berühmt war, war das Paris der 1920er Jahre zweifelsohne die lesbische Hauptstadt der Welt. Die relative Akzeptanz der weiblichen Homosexualität im Paris der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ermöglichte die Eröffnung bekannter lesbischer Nachtbars, wie Le Monocle sowie wohlgesinnte und beinahe glamouröse Darstellungen von Lesben in französischen Filmen wie etwa Symphonie Pathétique aus dem Jahre 1928 und La Garçonne aus dem Jahre 1936. Diese Toleranz lockte kreative und unkonventionelle Frauen aus der ganzen Welt nach Paris. Gertrude Stein und Alice B. Toklas und Nathalie Barney und Romaine Brooks, die bekanntesten lesbischen Pariser Paare, waren schon seit vor dem Krieg in der Stadt und hinzu kamen in den 1920er Jahren die Romanschriftstellerin Djuna Barnes, die Journalistin Janet Flanner, Sylvia Beach, Besitzerin des berühmten englischsprachigen Buchladens Shakespeare and Co. De Lempicka beschrieb Gertrude Stein und Ernest Hemingway als “langweilige Menschen, die das sein wollten, was sie nicht waren. Er wollte eine Frau und sie ein Mann sein”. Sie ging in den Salon von Nathalie Barney and Romaine Brooks, jedoch scheint es schwer vorstellbar, dass sie mit ihrem leicht hochnäsigen Hedonismus an Lesungen in Adrienne Monniers La Maison des Amis des Livres teilgenommen oder viel zum feministischen oder lesbischen intellektuellen Leben von Paris beigetragen hat. Lempicka wurde schon lange vor Erfindung des Begriffes “lipstick” Lesbe als eine solche bezeichnet. Dennoch nahm sie ihre Rolle als Künstlerin in sofern ernst, als dass sie in den 1930er Jahren ihre Werke zusammen mit der Gruppe FAM (Femmes Artistes Modernes) ausstellte. De Lempicka verschwieg nie ihr sexuelles Interesse am eigenen Geschlecht. Eine Fotografie ihres Schlafzimmers, das 1928 zu Werbezwecken gemacht wurde, zeigt das Porträt der amazonenhaften Herzogin de La Salle über ihrem Bett, und das Kopfende des Bettes ist mit einem von de Lempicka selbst entworfenen Design verziert, das zwei Frauen verzückt miteinander umschlungen zeigt. Die Botschaft könnte kaum lauter oder offensichtlicher sein. Schon in den frühen Jahren ihrer Ehe begann de Lempicka sexuelle Beziehungen mit Frauen zu haben. Ab 1922 hatte sie eine Affäre mit Ira Perrot, die viele stürmische Jahre überdauerte, trotz des zahlreichen Fremdgehens de Lempickas mit Vertretern beiden Geschlechts. Ira Perrot saß für das erste Bild Modell, das de Lempicka im Salon d’Automne ausstellte, und noch einmal für ein Porträt, das gegen Ende ihrer Beziehung im Jahre 1930 entstand. Im zweiten Porträt erzeugen die schlangenartige Pose und die Art und Weise, in der de Lempicka die gesamte Leinwand von oben bis unten mit dem verdrehten Körper ihrer Liebhaberin füllt, den Eindruck der Intimität und gewaltsamen Wollust. Die erotische Stimmung wird noch durch den Strauß von Callas, den das Modell umfasst, verstärkt. Wie auch Georgia O’Keeffe scheint de Lempicka von der suggestiven Form der Blumen fasziniert gewesen zu sein und zeichnete Callas zu zahlreichen Anlässen.

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Art Déco De Lempicka malte Porträts zweier bekannter Lesben – der Herzogin de La Salle und des Fotomodells und der Nachtclubsängerin Suzy Solidor. Die Herzogin ist als Amazone dargestellt, machtvoll und maskulin. Vor dem kubistischen städtischen Hintergrund deuten ihre schwarzen Reitstiefel eher die Domina als gesunde Aktivitäten im Freien an. Das Akt-Brustporträt der Suzy Solidor (ebenfalls vor städtischem Hintergrund) ist eines der weniger problematischen weiblichen Akte de Lempickas, das sowohl das augenrollende Pathos als auch die überwältigende Passivität der meisten anderen Bilder vermissen lässt. Es hebt sich zudem durch seine strenge Individualisierung und die tatsächliche Ähnlichkeit mit dem Modell, wie sich aus zeitgenössischen Fotografien schließen lässt, von den anderen Porträts ab. Alle Künstler in Paris wollten die große, schlanke, blonde Solidor malen. Unter den 225 Porträts ihrer selbst, die sie sammelte, waren Werke von Foujita, Marie Laurencin, Kisling, Picabia und van Dongen. De Lempickas Porträt entstand im Jahre 1933, in dem Suzy Solidor das Varieté La Vie Parisienne öffnete und sich selbst als erfolgreiche Sängerin präsentierte. Am 10. Mai desselben Jahres nahm sie mit ihrer tiefen Stimme, die Cocteau als direkt von ihrem Geschlecht kommend charakterisierte, das Lied Ouvre auf, das den Untertitel “die geheime Hymne des Sapphismus” erhielt. Eigentlich macht das Lied daraus überhaupt kein Geheimnis: “Öffne deine zitternden Knie, öffne deine Schenkel, öffne alles, was geöffnet werden kann”, etc. Mit der forschen Dreistigkeit eines Mannes sprach de Lempicka Frauen an, die an öffentlichen Orten ihre Aufmerksamkeit erregt hatten, und machte ihnen das Angebot, für sie nackt Modell zu sitzen. Eine dieser Entdeckungen machte sie im Théâtre de Paris, eine andere im Bois de Boulogne. De Lempicka erinnerte sich an das letztere Treffen: “Plötzlich wurde ich auf eine Frau aufmerksam, die ein Stück vor mir lief. Jeder, der ihr entgegenkommt, hält inne und schaut sie an. Die Leute drehen sich um, wenn sie vorbeiläuft. Ich bin neugierig. Was ist so besonders an ihr, dass sie sich so verhalten? Ich laufe ganz schnell und überhole sie, laufe dann den Weg aus der anderen Richtung zurück und verstehe, warum alle Leute innehalten. Sie ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe – riesige schwarze Augen, ein wunderschöner sinnlicher Mund, ein bewundernswerter Körper. Ich halte sie an und sage: ‚Mademoiselle, ich bin Malerin und möchte Sie bitten, für mich Modell zu sitzen. Würden Sie das tun?’ Sie sagt: ‚Ja. Warum nicht?’ Und ich sage: ‚Also, kommen Sie. Mein Auto steht hier.’ Ich nahm sie in meinem Auto mit nach Hause, wir aßen zusammen Mittag und später in meinem Atelier sagte ich: ‚Zieh dich aus, ich möchte dich malen.’ Sie zog sich ohne jegliche Scham aus. Ich sagte: ‚Leg dich hier auf das Sofa.’ Und sie lag. Jede Pose war Kunst – Perfektion und ich begann, sie zu malen, und malte sie über ein Jahr lang.” Eines der daraus entstandenen Gemälde ist La Belle Rafaëla in Grün – das zu den kraftvollsten erotischen Arbeiten von de Lempicka gehört und dem Verlangen der Künstlerin nach dem weichen und kurvenreichen Körper des Modells Ausdruck verleiht. Wie jeder, der mit seichter Pornografie handelt, verstand de Lempicka, dass teilweise verdeckte Reize erregender als bloße Nacktheit sein können. Sie liebte es, ihre weiblichen Modelle in teurer Unterwäsche zu malen und, wie im Falle der gefühlvollen Genesenden, mit einer provokativ entblößten Brustwarze. Auch in de Lempickas Darstellung von Paaren von Frauen liegt eine bestimmte erotische Spannung. Sie beschäftigte sich häufig mit diesem Motiv, unter anderem in Der orangefarbene Schal (1927), Die Braut (1928), Geheimnisaustausch (1928), Der grüne Turban (1929), Die Mädchen (um 1930) und Frühling (1930). Double “47”, eine Darstellung zweier Köpfe, die scheinbar dasselbe Modell als Vorbild hatten, zeigt ein Paar sehr maskuliner Lesben mit kurzem Haar. De Lempicka zeichnete mehrere Bilder mit passiven und sinnlich positionierten Gruppen nackter Frauen, die an eine sehr männliche Darstellung von an Harem-Fantasien von Malern des 19. Jahrhunderts, wie etwa Ingres und Gerome, erinnern.

Seite 58 Die Genesende, 1932.

Öl auf Holz, 56 x 42 cm. Privatsammlung. Seite 60 Mutterschaf t, 1928.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung. Seite 61 Das rosa Hemd I, um 1927.

Öl auf Holz, 41 x 33 cm. Privatsammlung. 59

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Das Leben

Seite 63 Der Traum, 1927.

Öl auf Leinwand, 81 x 60 cm. Sammlung von Frau Àntonia Schulman, New York. 62

Die Bilder, die auf den modernen Betrachter wohl am verstörendsten wirken, sind die Porträts, die de Lempicka von jungen Mädchen, einschließlich ihrer Tochter Kizette, malte. Wieder einmal geben diese Bilder in der Art und Weise, wie sie auf die Beine der jungen Mädchen sowie die häufig angedeuteten Schatten zwischen den Beinen fokussieren, eher den Blick eines männlichen Voyeurs als den einer Frau und Mutter wieder. Kizette in Rosa, kaum acht oder neun, schaut den Betrachter mit Augen an, die so wissend sind wie Tamaras Augen in dem Foto, das 1911 von ihr in Monte Carlo gemacht worden war. Wie sie offen gestand, nahm de Lempicka Männer auf die gleiche maskuline und forsche Art und Weise mit nach Hause. “Ich versagte mir selbst nichts. Ich hatte immer einen “Innamorato”, immer. Wenn ich Inspiration brauchte, ging ich abends aus und ließ mir von einem gut aussehenden Mann sagen, wie schön ich war oder was für eine tolle Künstlerin – und er berührte meine Hand … ach, ich liebte es. Und ich hatte viele, viele.” Einer ihrer seltenen männlichen Akte, die wunderbar muskulöse Gestalt, die man in Adam und Eva von hinten betrachten kann, ist nach dem Modell eines jungen Polizisten entstanden, den sie in den Straßen am linken Ufer der Seine getroffen hatte. “Als ich die Skizze (des weiblichen Modells) beendet hatte, ging ich nach draußen. Es war das Künstlerviertel. Ich hatte ein Bild von Adam und Eva in meinem Kopf. In einer Straße ganz in der Nähe sah ich einen Gendarmen, einen Polizisten auf Streife. Er war jung, er war gut aussehend. Ich sagte zu ihm: ‚Monsieur, ich bin Künstlerin und brauche ein Modell für mein Bild. Würden Sie für mich Modell sitzen?’ Und er sagte: ‚Natürlich, Madame. Ich bin ebenfalls Künstler. Um welche Zeit brauchen Sie mich?’ Wir verabredeten uns. Er kam nach der Arbeit in mein Atelier und sagte; ‚Wie soll ich Modell sitzen?’ ‚Nackt.’ Er zog seine Sachen aus und legte sie ordentlich auf dem Stuhl zusammen, seinen großen Revolver obenauf legend. Ich setzte ihn aufs Podium und rief dann mein Modell. ‚Du bist Adam und das ist deine Eva’ sagte ich.” Es lohnt sich an diesem Punkt innezuhalten und de Lempicka mit zwei anderen Malerinnen ihrer Zeit zu vergleichen, die jene spezifisch lesbische Sensibilität hatten – die Amerikanerin Romaine Brooks und die deutsch-jüdische Lotte Laserstein. 1874 als Tochter wohlhabender amerikanischer Eltern zur Welt gekommen, feierte Romaine Brooks 1910 in Paris ihren ersten Erfolg mit einer Ausstellung in der angesehenen Durand-Ruel Galerie (die mit dem Aufstieg des Impressionismus assoziiert wird). Auch wenn zwischen dem Debüt de Lempickas und dem von Brooks nur fünfzehn Jahre liegen, sind diese Ereignisse durch den großen Wendepunkt des Ersten Weltkriegs getrennt und die beiden Künstlerinnen scheinen zwei vollständig unterschiedlichen Generationen und Welten anzugehören. Dennoch hatten sie gemeinsame Freunde und Bekannte und de Lempicka war häufig ein Gast im Hause von Romaine Brooks’ Liebhaberin Nathalie Barney. Sicherlich hatte die Tatsache etwas Pikantes, dass die militant lesbische Brooks den lüsternen Annäherungsversuchen des italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio erlegen war (von Nathalie Barney heiter und resignierend geduldet), während die jüngere de Lempicka sich diesen später entzog. Brooks und de Lempicka waren zudem beide mit Jean Cocteau befreundet, der scheinbar mühelos von einer sozialen und kulturellen Welt in die andere wechselte – und das mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Sowohl Brooks als auch de Lempicka verfügten über eine solide Grundlage akademischer Zeichenkunst und beide verbanden Elemente des Realismus mit dekorativer Stilisierung. Die Wurzeln des Brookschen Stils liegen eher in der Belle Epoque und dem Stil der Art Nouveau als in der Jazz-Age Moderne de Lempickas begründet. Den eindruckvollsten Vergleich der beiden Künstlerinnen bieten Brooks’ Porträt von Una, Lady Troubridge und de Lempickas Porträt der Herzogin de La Salle – zwei Symbole der weiblichen Homosexualität der 1920er Jahre, die in den aufeinander folgenden Jahren 1924 und 1925 entstanden. Die stämmige Herzogin und die bleistiftdünne englische Lady tragen beide Männerkleider und lassen jeden Hauch weiblicher

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Seite 64 Irène und ihre Schwester, 1925. Öl auf Leinwand, 146 x 89 cm. Irena Hochman Fine Art Ltd., New York.

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Art Déco Kurven vermissen. Das Maskuline der Herzogin wird durch ihre schweren schwarzen Reitstiefel angedeutet, das der Lady Troubridge durch das Paar phallischer Dachshunde, das sich von ihren Hüften zu lösen scheint. Beide Frauen blicken den Betrachter herausfordernd an. Lady Una zeigt sich mit jenem Abzeichen der weiblichen Homosexualität der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen – einem Monokel. 1898 in einer kleinen ostpreußischen Stadt geboren, die heute zu Polen gehört, war Lotte Laserstein genau gleichaltrig mit de Lempicka. In den 1920er Jahren lebte Laserstein in Berlin, der wahrscheinlich einzigen Stadt, die noch toleranter gegenüber Abweichungen von sexuellen Normen war als Paris. Die Karriere der Laserstein bewegte sich in exakt den gleichen Bahnen wie die de Lempickas – eine Zeit der Brillanz von Mitte der 1920er Jahre bis zum Jahre 1933 – Exil in den späten 30er Jahren, gefolgt von einem Verlust an Beachtung sowie künstlerischem Niedergang und schließlich einer späten Wiederentdeckung. Diese bewundernswerte Künstlerin musste viel länger als de Lempicka warten, um die Wertschätzung zu erfahren, die sie verdiente. Glücklicherweise erlebte sie noch ihre Wiederentdeckung in den 1990er Jahren und starb erst 1993 im hohen Alter von 94 Jahren. Der neo-realistische Stil Lasersteins lässt die oberflächlichen Zeichen der Moderne vermissen, die de Lempicka sich angeeignet hatte. Ihre nüchterne und einwandfreie Technik gleicht eher der des realistischen Malers Wilhelm Leibl als der eines ihrer Zeitgenossen der Berliner Avantgarde. Obwohl der weibliche Akt eines ihrer Hauptthemen war, lässt ihre Arbeit die offensichtliche Anrüchigkeit de Lempickas und ihrer Berliner neo-realistischen Kollegen Otto Dix und Christian Schad vermissen. Das Moderne an ihrem Werk liegt in einer gewissen mutigen Wirklichkeitstreue begründet, die sich vom Glanz und Glamour der Porträts Lempickas abhebt, und in einer Sensibilität, die besonders in ihren Darstellungen von Frauen deutlich wird. Ihre zahlreichen Darstellungen von Frauenpaaren, die eine Ahnung emotionaler wenn nicht sexueller Affinität zwischen den Frauen deutlich werden lässt, stellen einen deutlichen Gegensatz zu den Darstellungen de Lempickas dar. Sowohl de Lempickas als auch Lasersteins Werk kann im Kontext der weit verbreiteten Blüte des mehr oder weniger kantigen Neo-Realismus der 1920er Jahre gesehen werden, vom Sozialistischen Realismus des Russland unter Stalin bis hin zu den Werken Grant Woods und Edward Hoppers in den USA, und auch Künstler wie Stanley Spencer, Dod Procter, Gluck und Meredith Frampton in Großbritannien, die Maler der so genannten Neuen Sachlichkeit Otto Dix und Christian Schad in Berlin, die Novecento Group, Felice Casorati, Piero Marussig, Ubaldo Oppo in Italien, Josep Togores, Joaquim Sunyer, Francesc d’Assis Gali, Feliu Elia, Francesc Domingo in Spanien und Frida Kahlo und Diego Riviera in Mexiko einschließend. Die Assoziationen und Bedeutungen dieses Neo-Realismus sind von Ort zu Ort und Künstler zu Künstler unterschiedlich, doch gibt es oft auffällige visuelle Parallelen. Dies liegt vielleicht weniger an gegenseitigen Einflüssen und identischen Quellen als am Zeitgeist. Die weiche und gleichzeitig kantige Technik und Kombination von Abstraktion und detailgetreuer Wiedergabe von Accessoires in Porträts von Stanley Spencer, wie etwa Die Schwestern (um 1940), erinnert stark an einige von de Lempickas Porträts von Frauen. Jedoch ist diese

Seite 65 Lotte Laserstein, Zwei Frauen. 65

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Das Leben Verbindung provinzieller Einfachheit und tiefer Spiritualität Lichtjahre von Lempickas großstädtischer Raffinesse entfernt. Dod Procters Gemälde Morning, das bei seiner Ausstellung im Jahre 1926 gefeiert wurde, zeigt beeindruckende Parallelen zu de Lempickas Die rosa Tunika, das sie im darauf folgenden Jahr malte. Die von oben betrachtete Pose der sich zurücklehnenden Mädchen ist in beiden Bildern fast identisch, nur einmal gedreht. In beiden Fällen sind wir dem Modell sehr nahe und ihr Körper füllt die Leinwand von einer Seite bis zur anderen aus. Beide Frauen tragen ein Unterkleid, das in provokanter Art und Weise ihre Beine entblößt und ihren Oberkörper eng umschließt. Die bei Dod Procter diskret angedeutete Erotik wird in de Lempickas Bild durch die modische Frisur des Modells, ihre angemalten Lippen und ein luxuriöses und knalligfarbiges Unterkleid, das die Berührung des Betrachters herausfordert, offensichtlicher. Die Augen von Procters Modell sind geschlossen, wahrscheinlich schläft sie sogar und ist sich des Beobachters nicht bewusst. De Lempickas Modell hingegen blickt ausdruckslos und passiv aus dem Bild heraus. Die eisig marmorne Perfektion von Meredith Framptons Porträts sind ein Beispiel für die angelsächsische jungfräuliche Variante des neorealistischen Stils, die vollständig die Eleganz und erotische Aufgeladenheit von de Lempickas Werk vermissen lässt. Die Künstlerin jenseits des Kanals, die mit ihren Porträts der “widernatürlichen” Sinnlichkeit von de Lempickas Werken am nächsten kommt, ist die lesbische Malerin Gluck, die sich selbst und ihre Liebhaberin in einem doppelten Profilporträt mit dem Titel Medallion trotzig mit androgyn kurzen Haaren darstellt. Natürlich hegten auch de Lempickas Berliner Zeitgenossen, die normalerweise unter dem Begriff Neue Sachlichkeit zusammengefasst werden, ein Interesse an den Variabeln der menschlichen Sexualität, doch ist dieses hier mit einem Element von sozialer Kritik und einer Faszination der Hässlichkeit verbunden, die de Lempicka ganz und gar fremd war. Otto Dixs Porträt der bisexuellen Tänzerin Anita Berner aus dem Jahre 1925 übertrifft in seiner karikaturistischen Härte de Lempickas Nina de Herrera bei weitem. Christian Schad, der wie so viele Künstler seiner Zeit und seines Typs (einschließlich de Lempicka selbst) in einem kurzen Zeitraum (ca. 1927 – 1933) Werke von großer Kraft und Überzeugung schuf und im Takt mit der Zeit ging, ist wahrscheinlich der Berliner Künstler, der de Lempicka in künstlerischer Hinsicht am meisten ähnelte. Trotz seiner exquisiten Technik und der ästhetischen Schönheit seines Werks war Schad jedoch auch bereit, sich Aspekten der Realität zu stellen und diese zu zeigen, worauf sich die elegante Tamara niemals eingelassen hätte. Die Darstellung von roten Blutgefäßen in Augäpfeln, geschweige denn von Narben und Missbildungen, wären für sie zu viel der Realität gewesen. Auf der anderen Seite des Atlantiks war es vielleicht Georgia O’Keeffe, die einen interessanten Vergleich zu de Lempicka bietet, sowohl aufgrund ihrer Methoden der dekorativen Abstraktion und des dekorativ verwässerten Kubismus als auch ihrer Vorliebe für zwei Motive, die de Lempicka sehr 66

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Art Déco

Seite 66 Otto Dix, Porträt der Tänzerin Anita Berber, 1925. Tempera und Öl auf Holz, 120 x 65 cm. Otto Dix Stiftung, Vaduz. Seite 67 Porträt von Romana de La Salle, 1928.

Öl auf Leinwand, 162 x 97 cm. Privatsammlung. 67

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Art Déco am Herzen lagen – Wolkenkratzer und Lilien. O’Keeffe stellte ihre stilisierten Darstellungen New Yorker Wolkenkratzer zum ersten Mal im Jahre 1926 aus, drei Jahre bevor de Lempicka begann, das New Yorker Stadtbild als allgegenwärtiges Hintergrundbild ihrer Porträts zu verwenden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass de Lempicka mit der Arbeit der viel gelobten und bewunderten O’Keeffe während ihres Aufenthalts in New York von 1929 bis 1930 in Kontakt gekommen war. Auch hatte sie wahrscheinlich die Art und Weise beeindruckt, mit der O’Keefe das weibliche Geschlecht durch die Darstellung von Blüten andeutete. De Lempicka stellte ihre Werke zum ersten Mal im Jahre 1922 im angesehenen Salon d’Automne aus, nur zwei Jahre nachdem sie sich an der Académie Ranson bei Maurice Denis eingeschrieben hatte, und von 1923 an stellte sie regelmäßig ihre Arbeiten im Salon des Indépendants aus, wo in der Vergangenheit solch große Meister wie Georges Seurat und Henri Rousseau zu sehen gewesen waren. Ihr Durchbruch kam im Jahre 1925 mit einer exklusiven Ausstellung im Bottega di Poesia in Mailand. De Lempickas Timing war perfekt. Das Jahr 1925 war Zeuge des Triumphs des Art déco Stils auf der großen Ausstellung der dekorativen Künste in Paris. Diese Ausstellung stellte nicht nur den Höhepunkt dieses Stils dar, sondern kennzeichnete auch den Übergang vom früheren mehr überladenen und stark dekorierten Stil zur glätteren und rationalisierten Version des Stils, der bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges vorherrschte. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt ihre Werke an einem ganz anderen Ort ausstellte, wird de Lempicka auf ewig mit dieser Pariser Ausstellung des Jahres 1925 in Verbindung gebracht werden. Für den größten Teil eines Jahrzehnts ritt sie ganz oben auf einer Welle als wahrscheinlich charakteristischste Vertreterin der späteren Version des Art déco Stils. Der Name Art déco ist eine Verkürzung des französischen Ausstellungstitels Exposition des Arts Décoratifs, auch wenn dieser Begriff erst mehrere Jahre später geprägt wurde und mit der Publikation von Bevis Hilliers Buch Art Deco of the twenties and thirties 1968 in den Sprachgebrauch überging. Wie auch bei vielen seiner Vorgänger (besonders dem Manierismus des 16. Jahrhunderts) ist heftig über die Frage diskutiert worden, wie der Stil am besten zu definieren sei. Viele verschiedene und widersprüchliche Definitionen sind formuliert worden und es wurden sogar Zweifel laut, ob es sich hier um einen kohärenten Stil handle. Als stilistischer Begriff, der für die Architektur und die dekorativen Künste geprägt wurde, scheint es fraglich, inwiefern sich dieser auf die Malerei anwenden lässt (auch wenn eines von de Lempickas Gemälden ganz selbstverständlich als Umschlagsillustration von Edward Lucie-Smiths Buch Art Deco painting benutzt wurde). In einem Artikel mit dem Titel Defining Art Deco aus dem Jahre 1982 schrieb Martin Greif: “Ich denke, Art déco sollte eigentlich Art Décos (mit der Betonung auf dem Plural) heißen, denn jeder dieser Stile (wenn wir sie genau betrachten) kann von den anderen getrennt werden.” De Lempickas Kunst repräsentiert nicht die Gesamtheit all dieser verschiedenen Art décos. Beispielsweise scheint sie nur wenig Interesse an den vielen nichteuropäischen Einflüssen gezeigt zu haben, die den Stil durchdrangen. Sie blieb unberührt von der Ägyptomanie, welche nach der Entdeckung des Tutanchamun-Grabs im Jahre 1923 einsetzte, und von dem in Kinos zu findenden chinesischen Art déco; überraschenderweise zeigt ihre Kunst auch keine Spur von der Begeisterung für alles Afrikanische und Afroamerikanische, die in Paris durch die sensationelle Josephine Baker und die Revue Nègre 1925 ausgelöst wurde (ein ebenso bahnbrechendes Ereignis wie Diaghilews Russisches Ballett sechzehn Jahre zuvor).

Seite 68 Arums, um 1931. Öl auf Holz, 92 x 60 cm. Sammlung von James und Patricia Cayne. Seite 69 Georgia O’Keeffe, Schwarzer Iris III, 1926. Öl auf Leinwand, 91,4 x 75,9 cm. Metropolitan Museum of Art, New York. 69

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Das Leben

Seite 71 Der Musiker, 1929.

Öl auf Leinwand, 116 x 73 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 70

Abgesehen vom Kopfende ihres Bettes, das mit dem Bild eines lesbischen, sich in einem stilisierten Dschungel tummelnden Paares geschmückt war, gibt es weder in ihrem Werk noch in der Einrichtung ihrer Wohnung viele Hinweise auf das geometrisierte florale Design, das so bezeichnend für die Pariser Ausstellung des Jahres 1925 war. Dennoch erfüllt die Kunst Lempickas problemlos die Kriterien, die Charlotte und Tim Benton in einem Versuch einer umfassenden Definition des Art déco Stils in ihrem Vorwort zum Katalog der Art déco Ausstellung im Victoria und Albert Museum in Jahre 2003 auflisten. “Wir können versuchen, einige der Merkmale herauszustellen, die die scheinbar gegensätzlichen Werke des Art déco verbinden. Sie stehen häufig in einer Beziehung zu historischen Stilen, westlicher oder nicht-westlicher Herkunft, aber auch wenn sie diese achten, sind sie nicht von diesen abhängig. Sie sind häufig von der Kunst und dem Design der Avantgarde beeinflusst, doch betonen sie nicht ihr Desinteresse an der kommerziellen Welt, sondern sind im Gegenteil ein Teil von ihr. Egal ob von traditionellen oder avantgardistischen Quellen beeinflusst, haben sie eine Tendenz zu vereinfachten Formen und einer Abwesenheit drei-dimensional angelegter Ornamente. Sie sind trotz der Abwesenheit von Ornamenten ‚dekorativ’ und sie betonen häufig ‚oberflächliche’ Werte und Effekte. Sie sind meist neuartig und innovativ – jedoch nicht radikal oder revolutionär. Sie machen oft Gebrauch von neuen Technologien, wenn ihre Formen und Methoden auch häufig traditionsgebunden sind. Sie beziehen sich oft explizit oder symbolisch auf moderne Themen wie Jugend, freie Sexualität und Aspekte der zeitgenössischen mechanischen Kultur mittels eines immer wiederkehrenden Repertoires an eingefrorenen Fontänen, dem Motiv der Sonnenstrahlen, der Elektrisierung, Mechanisierung und der neuen Transportmittel.” Die Kommerzialisierung in de Lempickas Werk wird besonders durch die Ähnlichkeit mit Modeillustrationen deutlich. Ähnlich der Technik de Lempickas bedienten sich Modeillustratoren der 1920er und frühen 30er Jahre an Elementen avantgardistischer Kunstrichtungen, besonders des Kubismus und Futurismus, um einen Stil zu erschaffen, der gleichzeitig modern und dekorativ und zudem einem großen Publikum zugängig war. Als der große Pariser Modeschöpfer Paul Poiret 1908 eine der größten Revolutionen in der Geschichte der Damenmode auslöste, indem er den gepolsterten und geschnürten Stil der Belle Epoque zugunsten eines schlankeren und stromlinienförmigeren Stils über Bord warf, initiierte er zugleich auch das Goldene Zeitalter der Modeillustration, indem er Paul Iribe den Auftrag für die Illustration eines Albums mit dem Les Robes de Paul Poiret gab. Iribes Illustrationen mit ihren festen Konturen und flachen leuchtenden Farben erinnerten an japanische Holzstock-Drucke und waren ebenso revolutionär wie Poirets Entwürfe. Auf einen Schlag ersetzten sie den trockenen und faktischen Stil der Modeillustration des 19. Jahrhunderts und bereiteten den Weg für beinahe zwei Jahrzehnte außergewöhnlich einfallsreicher und aufregender Modeillustrationen in Zeitschriften wie Gazette du Bon Ton, Modes et Manières d’aujourd’hui, Journal des Dames et des Modes, Luxe de Paris, Art, Gout, Beaute, Vogue, Harper’s Bazaar und Die Dame. Zu den Künstlern, die zu diesem kreativen Ausbruch etwas beitrugen, zählten Georges Lepape, André Marty, Charles Martin, Benito, Georges Barbier, Pierre Brissand, Helen Dryden, Harriet Meserole und Ernst Dryden. Diese Künstler waren wie diebische Elstern, ständig auf der Suche nach Neuem und die neuesten Innovationen der Avantgarde beäugend. Hier finden wir häufig die schockierenden Farben der Fauves vermischt mit der Winkligkeit und den fragmentierten Perspektiven der Kubisten, den dynamischen Linien der Futuristen, der stromlinienförmigen Abstraktion von Brancusi und der überraschenden Nebeneinanderstellung und Traumlogik der Surrealisten. Auf den Seiten von Vogue und Harper’s Bazaar finden wir zahlreiche Motive, die auch in de Lempickas Gemälden zu sehen sind – die abstrakten, metallischen Formen und Oberflächen, der Hintergrund Manhattans und selbstverständlich die modischen Kleider und Accessoires. Die Modezeitschriften bedienten sich an den Werken der Künstler und luden diese manchmal auch dazu

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Art Déco ein, die Titelseiten zu gestalten. Léon Bakst, Marie Laurencin, Pavel Tchelitchew, Raoul Dufy, Pierre Roy und Salvador Dalí haben alle an Vogue mitgewirkt. De Lempickas Kunst passt so gut in die Welt der Modezeitschriften, dass es beinahe befremdend erscheint, dass sie weder für die amerikanische noch für die französische Ausgabe der Vogue die Titelseiten gestaltete. Sie wurde jedoch mit dem Entwurf einiger Titelseiten für die führende deutsche Modezeitschrift Die Dame beauftragt. Unter ihnen war auch das Selbstporträt im Bugatti von 1925, das zu ihrem wohl berühmtesten und am häufigsten reproduzierten Bild wurde. Mit einer durchschnittlichen Auflage von 60.000 Exemplaren und zahlreichen farbigen Illustrationen von feinster Qualität war Die Dame eine luxuriöse und angesehene Publikation. Die Dame widmete sich nicht ausschließlich der Mode, tatsächlich war es gleichzeitig ein Kunst-, Literatur- und Modemagazin. Werke solch wichtiger Schriftsteller wie André Maurois, Colette und Stefan Zweig wurden hier mitunter sogar zum ersten Mal in Fortsetzungen veröffentlicht. Die Dame war in der Wahl der von ihr beschäftigten oder publizierten modernen Künstler wagemutiger als Vogue. Die anarchistische Dada Collagen-Künstlerin Hanna Hoch war eine überraschende Wahl für die Illustration einer Umschlagseite. Artikel von Max Pechstein und George Grosz wurden veröffentlicht. Während die von Vogue geförderten Künstler alle wenigstens äußerlich modisches Raffinement repräsentierten, waren der Primitivismus eines Max Pechstein und Groszs Darstellungen des Lebens der Berliner Unterschicht weit von der Welt der Haute Couture entfernt. Der in der Zeit von 1926 bis 1933 zur Gestaltung der Seiten und Cover von Die Dame wohl am häufigsten beschäftigte Illustrator war der gebürtige Österreicher und in Paris lebende Künstler Ernst Dryden. Es gibt Grund zur Annahme, dass Dryden seine Finger im Spiel hatte, als die ebenfalls in Paris lebende de Lempicka für die Gestaltung der Umschlagseiten der deutschen Zeitschrift auserkoren wurde. Ohne Frage gibt es auffällige Parallelen zwischen den Werken Drydens und de Lempickas. Im Jahre 1930 entwarf Dryden beispielsweise ein Cover, auf dem eine elegante Frau vor dem Hintergrund eines Bugattis einen kleinen Hund festhält. Sein Cover der November-Ausgabe 1928 zeigt eine matte Schönheit inmitten eines riesigen Kreises von Sportwagen, die alle lüstern in ihre Richtung zeigen, und ist ein Bild der Frau des Jazz-Age, das Tamaras Selbstporträt im Bugatti sehr nahe kommt. Die Berühmtheit, die Tamara die Gestaltung der Titelseiten für Die Dame brachte, kam ihr im Jahre 1934 in Deutschland zu Nutzen, als sie leichtsinnigerweise ohne die erforderlichen Papiere nach Berlin reiste. Die Geschichte in ihren eigenen Worten: “Hitler war noch nicht lange an der Macht, aber die Straßen waren bereits voll von Naziuniformen und die Menschen hatten Angst. Beim Mittagessen im Hotel sagt meine Freundin zu mir: ‚Ich freue mich so sehr, Dich zu sehen, aber wie um alles in der Welt hast Du eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen?’ Und ich sage: ‚Was für eine Aufenthaltsgenehmigung?’ ‚Das ist ja schrecklich’, sagt sie. ‚Wir müssen sofort zur Polizei gehen.’ Wir verlassen das Hotel. Wir gehen zur Polizei. Sie sind unhöflich. Sie nehmen mir meinen Pass weg. Sie stellen meiner Freundin viele Fragen. Schließlich bringen sie mich zum Dienststellenleiter. Er sitzt hinter einem großen Schreibtisch in einem großen Raum. Er trägt eine Naziuniform und ein rotes Band am Arm. Er hat meine Papiere. Er schaut mich an und runzelt die Stirn. ‚Frau Lempicka, Sie sind Französin?’ ‚Das ist richtig.’ ‚Und Sie leben in Paris?’ ‚Ja genau.’ ‚Und warum halten Sie sich in Berlin ohne Aufenthaltsgenehmigung auf?’ Er schaut mich an. Ich habe Angst, lasse sie mir aber nicht anmerken. Ich sage es ihm. Er schaut nochmals auf meine Papiere, dann fragt er: ‚Sind Sie die Frau Lempicka, die die Titelseiten für Die Dame zeichnet?’ ‚Ja, das ist richtig.’ ‚Ah’, sagt er und kommt um den Tisch herum, um mir die Hand zu schütteln. ‚Ich freue mich so sehr, Sie kennen zu lernen. Meine Frau liebt Ihre Zeichnungen, in der Tat haben wir alle ihre Titelseiten der Zeitschrift gesammelt. Ich werde Sie eine Geldstrafe zahlen lassen, die leichteste

Seite 72 Porträt der Mrs. M., 1932.

Öl auf Leinwand, 100 x 65 cm. Privatsammlung. Seite 74 Porträt des Marquis d’Af f lito, 1925.

Öl auf Leinwand, 116 x 73 cm. Privatsammlung. Seite 75 Porträt des Marquis Sommi, 1925.

Öl auf Leinwand, 100 x 73 cm. Privatsammlung. 73

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Seite 77 Porträt des Grafen Vettor Marcello,

um 1933. Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung. 76

Form der Strafe, und dann können Sie gehen. Aber Sie dürfen niemals nach Deutschland zurückkehren.” Tamara de Lempickas Auftragsporträts stammen allesamt aus einer sehr kurzen Schaffensperiode zwischen ihrer triumphalen Ausstellung im Jahre 1925 in Mailand und dem Jahre 1933, als die Wirtschaftskrise sich in Frankreich bemerkbar machte und Veränderungen der ökonomischen Umstände sowie des Geschmacks mit sich brachten, die den Strom der Aufträge eintrocknen ließen. Zusammen stehen diese Porträts für eine Klasse und Schaffensperiode, die vielleicht de Lempickas größte Leistung darstellt. Im Großen und Ganzen malt de Lempicka Männer, wenn auch glamourös, eher als Individuen und Frauen hauptsächlich als Typen. Das war nichts Neues. Die meisten professionellen Porträtmaler waren Männer und männliche Künstler hatten immer einen menschlicheren Zugang zu ihren männlichen Modellen als zu den weiblichen, die sie häufig als Objekte darstellten. Lely, Kneller, Reynolds und Ingres stehen alle exemplarisch für Künstler, deren Porträts von Männern viel mehr Charakter haben als jene, die sie von Frauen malten. Auch wenn Ingres es liebte, Frau zu malen, scheint es ihn oft mehr zu interessieren, was sie tragen, als was sie denken. Von seinem berühmten Dreierset von Porträts der Familie Rivière würden wir mit großer Wahrscheinlichkeit Monsieur Rivière auch in einem überfüllten Raum erkennen, während Madame und Mademoiselle Rivière aus einer Reihe reizender Frauen durch ihre seltsamen anatomischen Deformierungen, jedoch nicht durch ihre Gesichter herausstechen würden. Mit Ausnahme von André Gide und eventuell ihrem Schwager, dem Architekten Pierre de Montaut, sind keine von de Lempickas männlichen Modellen Künstler oder Intellektuelle. Viele von ihnen haben Titel. Der attraktive Graf Vettor Marcello, mit offenem Freizeithemd vor einer Yacht gemalt, repräsentiert das perfekte Bild eines Playboys. Obwohl der Marquis Sommi Musik schrieb und sich in avantgardistischen künstlerischen Kreisen bewegte, ist es schwer zu glauben, dass die gesellschaftliche Rolle dieses wunderschönen Mannes mit dem geglätteten Haar, den frisierten Augenbrauen, gepolsterten Schultern und dem Siegelring mit Smaragd etwas anderes als dekorativ war. De Lempickas Porträts von Männern erscheinen manchmal kritisch oder sogar leicht spottend gegenüber ihren Motiven, das Porträt des berühmt-berüchtigten dekadenten Großherzogs Gabriel Konstantinowitsch grenzt mit dem arroganten Gesichtsausdruck und der Uniform, die einer romantischen Operettenproduktion entsprungen zu sein scheint, ans Karikative. Das komplexeste und ausdrucksvollste aller ihrer männlichen Porträts, ist das Porträt ihres Ehemannes Tadeusz de Lempicki, das 1928 entstand. Durch Tamaras schamlose Untreue sowie zweifelsohne auch durch ihre sozialen und künstlerischen Erfolge über die Maßen erniedrigt, gab de Lempicka zur Zeit der Entstehung dieses Porträts bekannt, dass er seine Frau für eine andere verlassen würde. De Lempicka fängt einen Ausdruck von Gewandtheit und wachsamem Argwohn auf dem Gesicht dieses gut aussehenden Mannes ein, den sie einmal geliebt hatte, jedoch nicht mehr respektierte. Aufgebracht darüber, dass sie für eine andere Frau verlassen wurde, ließ de Lempicka die linke Hand unvollendet und stellte das Bild unter dem zweideutigen Titel Porträt d’homme inachevé aus. Der Argwohn de Lempickis steht im Kontrast zu dem Eindruck zuversichtlicher Dynamik, den Dr. Boucard in einem 1928 in Auftrag gegebenen Porträt macht. Der wohlhabende Arzt und Erfinder des Lacteol Patentrezepts zahlte beträchtliche Summen für die Porträts seiner selbst, seiner Frau und seiner Tochter Arlette. Seine Investition machte sich mit einem ausdrucksvollen Porträt bezahlt, das ihn als Wissenschaftsdandy mit weißem Mantel und perlenbesetzter Krawattennadel unsterblich machte. Seine Dynamik wird durch die gedrehte Pose sowie durch die schrägen Flächen im Hintergrund suggeriert, die an einen expressionistischen Film erinnern. Alles in allem gleicht Dr. Boucard einem Schauspieler, der in einem Film einen hervorragenden Arzt spielt. Das glänzende Mikroskop und das Reagenzglas werden wie in einem Porträt der Renaissance eingesetzt, um sein wissenschaftliches Interesse zu verdeutlichen.

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Art Déco Ein besonders wohlwollendes Porträt eines weiteren berufstätigen Mannes ist das von de Lempickas Schwager Pierre de Montaut. De Lempicka schenkt seiner Brille und der Art und Weise, in der die dicken Gläser die Konturen seiner Wange verzerren, besondere Aufmerksamkeit. Pierre de Montaut war ein modernistischer Architekt. Hier besteht der städtische Hintergrund einmal nicht aus verallgemeinerten würfelartigen Gebilden, sondern stellt Gebäude in der Rue MalletStevens dar, Vorzeigestücke modernen Designs von und benannt nach dem Architekten, der auch das Appartementhaus entworfen hatte, in dem de Lempicka lebte. Die Aufträge für ihre Porträts von Frauen erhielt de Lempickas meist von deren reichen Ehemännern. Sie malte eine Reihe spektakulärer Bilder dieser “Vorzeigefrauen”. Die erste in der Reihe war Mrs. Rufus Bush. Im Frühjahr des Jahres 1929 kam Rufus Bush, dessen Familie im Besitz des Bush Terminals in New York war, in de Lempickas Atelier und bat sie, seine Verlobte zu malen. Von der Schönheit des jungen Mädchens und dem sicheren Auftreten des reichen jungen Mannes beeindruckt, stimmte de Lempicka zu, dem Paar für Sitzungen nach New York zu folgen, nachdem sie den ursprünglich geforderten Preis auf das Vierfache hochgetrieben hatte. De Lempicka reiste mit dem Luxusliner Paris (sicherlich das perfekte Transportmittel für eine Künstlerin, die sozusagen die lebendige Verkörperung des Art déco war) und kam im September 1929 in New York an. Wie so viele andere Besucher New Yorks zu jener Zeit verliebte sich de Lempicka sofort in die Skyline der Stadt, die sie so wie unzählige andere Touristen und Emigranten zum ersten Mal vom Deck des Schiffes sah. Von diesem Punkt an wird eine stilisierte Variante von Manhattan zum Standardhintergrund auch jener Porträts, die in Paris gezeichnet werden, um den Modellen einen Hauch von Moderne und städtischem Raffinement zu geben. Mrs. Bush zeichnet sie vor eben diesem Hintergrund in einem einfachen roten maßgeschneiderten Mantel und einem schwarzen Rock, den de Lempicka selbst mit großer Sorgfalt ausgesucht hatte. Sie ist verspielt androgyn – mehr garçonne als amazone und scheint nicht in die Rolle der “Vorzeigefrau” zu passen. Tatsächlich war die Ehe von sehr kurzer Dauer und das Porträt verschwand von der Bildfläche und kam erst mit der Wiederentdeckung von de Lempickas Kunst wieder an die Öffentlichkeit. Im Gegensatz zu Mrs. Bush entspricht Mrs. Alan Bott voll und ganz dem Bild der Luxusfrau. Ihre Körpergröße wird durch das vertikale Format und die Wolkenkratzer im Hintergrund noch verstärkt. Ihr Körper windet sich graziös von der oberen linken zur unteren rechten Ecke des Bildes und der obere Teil ihres Kopfes sowie ihr elegant bekleideter linker Fuß sind abgeschnitten. Provokativ rafft sie ihr Kleid und entblößt ihr Knie. Doch ihr Kleid, unter dem sie keine Unterwäsche zu tragen scheint, ist so fein und transparent, dass man auch so jedes Detail ihrer Anatomie, von den Brustwarzen bis zu ihren Schenkeln, sehen kann. Das exquisite minimalistische Kleid steht in krassem Kontrast zum prunkhaften Luxus des Diamanten- und Smaragdarmbands im Cartier-Stil und dem aufwendigen, mit Seide gefütterten und Pelz besetzten Mantel, den sie nachlässig hinter sich herzieht. Das “Dschungel-Rot” ihrer lackierten Fingernägel und ihrer Lippen und die Mattigkeit ihrer Augen geben ihr einen fast gespenstischen Reiz. Trotz ihrer jungen Jahre erweckt sie den Eindruck, als habe sie schon Jahrhunderte hinter sich. Erst nach ihrer verspäteten Rückkehr aus New York konnte de Lempicka mit der Arbeit an ihrem Auftrag, die Frau des Dr. Boucard zu malen, beginnen. Die würdevolle Madame Boucard ist älter als die anderen weiblichen Modelle für de Lempickas Porträts, stellt jedoch einfach eine reifere Version der Luxusfrau dar. Auch die Pariserin Madame Boucard wird vor dem üblichen New Yorker Hintergrund gezeichnet. Ihr Körper schlängelt sich vom linken unteren Rand bis fast zum oberen Rand des Bildes. Sie scheint in denselben Luxusgeschäften wie Mrs. Bott einzukaufen, und wenn ihre Kleidung auch, ihrem Alter entsprechend, nicht ganz so freizügig ist, sind ihre konischen Brüste mit den harten Brustwarzen leicht durch den metallischen Glanz des weißen Kleides hindurch zu erkennen.

Seite 78 Breitrandiger Hut, 1933.

Öl auf Holz, 46 x 38 cm. Privatsammlung. Seite 80 Hochsommer, 1928. Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung.

Seite 81 Der Strohhut, 1930.

Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Privatsammlung. 79

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Seite 83 Porträt der Miss Poum Rachou, 1933.

Öl auf Leinwand, 92 x 46 cm. Privatsammlung. 82

Das erste aus der Reihe der Porträts des Familie Boucard war das der Tochter Arlette, das im Jahre 1928 entstand. Das junge Mädchen wird in zurückgelehnter Pose dargestellt und füllt die horizontale Leinwand von einer Seite zur anderen vollständig aus, wobei auf der einen Seite einer ihrer Ellbogen und auf der anderen ihre Füße abgeschnitten sind. Im Hintergrund kann man den Hafen von Cagnes und Dr. Boucards Yacht Lacteol (nach dem medizinischen Patentrezept benannt, das ihm seinen Reichtum brachte) sehen. Der Name Lacteol hebt sich in weiß von dem dunklen Rumpf des Schiffes ab. Die anscheinend unbewohnte Hafenstadt sieht merkwürdig traurig und Unheil verkündend aus. Sie ähnelt sehr der Hafenstadt, die den Hintergrund des einige Jahre später entstandenen Porträts des Grafen Vettor Marcello bildet, eine Tatsache, die belegt, dass die Hintergründe in de Lempickas Porträts häufig austauschbar sind. Trotz ihrer jungen Jahre erscheint Arlette so zeitlos und enigmatisch wie die Sphinx. Wie so oft bei de Lempickas Porträts von Frauen und Aktbildern scheint die Künstlerin ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Knie und sehr suggestiven Schatten dazwischen zu richten. (Man kommt nicht umhin, an Suzy Solidors dringenden und pulsierenden Ausruf “Ouvre tes genoux tremblantes” zu denken. Vielleicht gefiel die junge Arlette Tamara. Vier Jahre später erscheint sie in dem großartigen Gemälde Arlette Boucard mit Callas in einer gerahmten, glamourösen und unscharfen Schwarz-Weiß-Fotografie, die auf einem Glastisch steht. Es ist bekannt, dass de Lempicka im Besitz dieses Fotos war, denn es ist auf einem Foto ihres Ateliers festgehalten. Die suggestive Form der Callas-Lilien deutet hier auch eine erotische Bedeutung an, eine von ihnen scheint sogar aus Arlette Boucards Kopf zu wachsen. Die Lilien sind an den Rand der Leinwand gedrängt und strecken sich dem Betrachter entgegen, ihre gewundenen Stängel werden von der durchsichtigen Glasvase gebrochen, die von der schrägen Tischplatte zu rutschen scheint. Dieses Bild feiert einmal mehr Tamaras Liebe für glänzende Oberflächen und transparente Materialien. Zu den letzten Auftragsporträts der Art déco Phase de Lempickas gehört das alarmierende Porträt der Miss Poum Rachou. De Lempicka bedient sich einer niedrigen Perspektive und füllt die schmale längliche Leinwand von oben bis unten mit dem Körper des kleinen Mädchens. Dies lässt sie wie die Hulsenbeck Kinder in Philip Otto Runges berühmten Porträt aufragen. Dies ist ganz bestimmt kein sentimentales Bild zerbrechlicher Kindheit. Miss Poum Rachous metallische Locken, eisig unfokussierte Augen, angemalte Lippen und Augenlider sowie ihren nackten Beine lassen sie auf irritierende Weise erwachsen und erotisierend erscheinen, trotz des grimmig guckenden Teddybärs, den sie im Arm hält. Unter den weiblichen Auftragsporträts de Lempickas stellt jenes der spanischen Tänzerin Nana de Herrera insofern eine Ausnahme dar, als es nicht von einem Ehemann, sondern einem Liebhaber in Auftrag gegeben wurde. Nana de Herreras karnivore und vampartige Sinnlichkeit grenzt in diesem Bild ans Parodistische. De Lempicka lässt die gefeierte Tänzerin wie eine pensionierte, provinzielle Carmen erscheinen. Das Wissen darum, dass Baron Kuffner Nana de Herreras Liebhaber war, und dass dieser Nana für Tamara verließ und deren zweiter Ehemann wurde, gibt dieser Charakterisierung eine noch stärkere Grausamkeit. Sicherlich erklärt eine Art Rivalität mit einer früheren Liebhaberin die Gehässigkeit, mit der de Lempicka beschreibt, wie sie das Porträt malte: “Ich sagte ihm (Kuffner), dass ich von ihr gehört hatte und dass sie wunderschön sein müsse, da sie doch eine Tänzerin war. Er sagte: ‚Ich werde sie später anrufen und ihr sagen, dass sie zu Dir kommen soll.’ Ich war sehr überrascht. Die Frau, die in mein Atelier kam, hatte keinen Chic. Ich dachte: ‚Oh nein. Ich will sie nicht malen. Ich kann nicht glauben, dass das die berühmte Nana de Herrera ist. Nun’, dachte ich, ‚versuchen wir es.’ Also sagte ich: ‚Setz Dich hin.’ Und: ‚Zieh das aus.’ Also zog sie es aus. So mag ich es nicht. ‚Das Haar’, sagte ich. ‘Wie trägst Du Dein Haar?’ ‚Oh,’ sagte sie, ‚nur mit einer Blume.’ ‚Wo ist denn die Blume?’ Am Ende

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Art Déco hatte sie alles ausgezogen und war nackt. Dann fügte ich hier und da ein wenig durchsichtigen Stoff hinzu. Ich sagte: ‚Bedecke Dich hier ein wenig, und hier auch.’ Solange sie angezogen war, ging es einfach nicht. So hässlich. Ich konnte es kaum glauben. Und ich dachte, ‚Dieser Mann hat einen sehr schlechten Geschmack.’ Nackt war sie ein wenig interessanter. Dennoch, so lange sie einfach nur so dasaß, war sie ein Niemand. Und ich sagte: ‚Nein, nein, nein.’ Und ich war kurz davor, das Porträt aufzugeben, es gar nicht erst zu malen, bis mir einfiel: ‚Wenn Du tanzt, wie siehst Du dann aus?’ Und dann nahm sie diesen Ausdruck an. Und ich sagte: ‚So geht es.’ Und dann malte ich sie.” Man kann nicht umhin, Mitleid für die arme Nana de Herrera zu empfinden, die nicht nur ihren Liebhaber verlor, sondern sich auch eine solch erniedrigende Behandlung von der Frau gefallen lassen musste, die ihn ihr wegnahm. Das Besondere an den aus dem Jahre 1932 stammenden Porträts von Marjorie Ferry und Mrs. M. ist die Art und Weise, in der die Hände in selbstbewusster und manierierter Eleganz den roten Nagellack und die riesigen Perlenringe zeigen. Hände waren schon immer ein Problem für Porträtmaler: Sie offenbaren häufig Schwächen in der Zeichenkunst, wie dies in Porträts von Gainsborough und Reynolds und sogar bei einigen frühen Porträts von Rembrandt der Fall ist. Viele erfolgreiche Porträtmaler haben geschickte Strategien und Formeln entwickelt, um dem Problem der Hände Herr zu werden. Van Dyck beispielsweise wollte uns glauben machen, dass die gesamte englische Aristokratie sensible Hände mit schlaffem Handgelenk und langen, sich verjüngenden Fingern hatte, die sie gern gespreizt zeigten. John Singer Sargent, der den Spitznamen der van Dyck von Tite St. bekam, bediente sich ebenfalls der gespreizten Finger, wenn er nicht gerade versuchte, das Problem komplett zu umgehen, indem er die Hände versteckte oder nur unscharf darstellte. Tamara malt Hände, die den Anschein erwecken, als seien sie aus metallenen Gelenkteilen gebaut und die auch gern einer bestimmten Formel folgen. Oft sind sie stark verkrümmt oder am Handgelenk nach hinten gebogen. Manchmal spreizen ihre weiblichen Modelle den kleinen Finger und lassen so den Eindruck von gesitteter Eleganz entstehen. Die gleiche Achtsamkeit bei der Haltung der Hände lässt sich auch in den Fotos von Tamara selbst wieder finden – sowohl in den sorgfältig inszenierten Werbefotografien als auch in Fotos aus Tamaras alltäglichem Leben. Egal ob nackt oder bekleidet, de Lempickas Frauen haben stets perfekt manikürte Fingernägel, die mit jenem karnivoren “dschungel-roten” Nagellack lackiert sind, der eine solch zentrale Rolle in George Cukors Film The Women von 1939 spielte. Mrs. M.s weißes Kleid und das Laken, mit dem Marjorie Ferry ihre Nacktheit bedeckt, scheinen aus dem gleichen Material gemacht zu sein. In beiden Bildern ist es in große Falten geworfen. De Lempicka war sich der großen Bedeutung, die dem Faltenwurf seit der Renaissance oder sogar dem antiken Griechenland in der westlichen Kunst zugekommen war, wohl bewusst. Obwohl sie in ihren Bildern gern den weiblichen Körper durch feine und transparente Materialien durchschimmern lässt und den Glanz auf Seide und Satin darstellt, unterscheidet de Lempicka kaum zwischen der Struktur unterschiedlicher Stoffe. Hier ist sie im Einklang mit den akademischen Doktrinen von Sir Joshua Reynolds, der in seinen Discourses den Standpunkt vertrat, dass eher die Generalisierung als die Spezifizierung bestimmter Eigenschaften eines Materials ein Zeichen großer Kunst sei. Wie auch die Meister die Renaissance und des Barock benutzte de Lempicka in Falten geworfenen Stoff, um Raum zu füllen und aus Kompositionsgründen. Mrs. M.s blaue Stola kommt einer Blüte gleich hinter ihrer linken Schulter hervor und füllt so die obere rechte Ecke des Porträts. Ira Perrots in große Falten geworfene, orangefarbene Stola, die sich hinter ihr in Wogen ausbreitet, als bewege sie sich im Wind eines Luftschachts wie das wehende Kleid der Marilyn Monroe in Das verflixte 7. Jahr, erweckt den Anschein, als gehöre sie zu einer Stoffrolle, die sorgsam auf dem Boden ausgebreitet wurde.

Seite 84 Kizette in Rosa, um 1926.

Öl auf Leinwand, 116 x 73 cm. Musée des Beaux-Arts de Nantes. 85

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Seite 87 Mutter und Kind, 1931. Öl auf Leinwand, 33 x 24 cm. Musée départemental de l’Oise, Beauvais.

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Die leuchtenden Tücher setzen in jedem Fall einen starken Akzent von purer, unmodulierter Farbe. De Lempicka war nie besonders feinsinnig oder ausdrucksstark im Gebrauch von Farben. In ihrer besten Schaffensperiode bedient sie sich einer relativ geringen Auswahl klarer leuchtender Farben mit der plumpen und simplen Wirksamkeit eines Plakatkünstlers. Lippen und Fingernägel leuchten in einem hellen und reinen Rot. Ziegelrot und ein kräftiges klares Blau werden oft für Stoffe verwendet, um einen Kontrast zu weißen oder cremefarbenen Tönen herzustellen. Auch ein “Giftgrün”, das manchmal ins Blaue übergeht, ist häufig. Der Farbe von Schatten schenkt Tamara niemals genauere Beachtung, sie sind immer braun oder schwarz dargestellt. Die großartigsten unter de Lempickas Aufträgen ihrer kurzen Blütezeit als modische Porträtmalerin waren ihre Bilder der Prinzessin Elizabeth von Griechenland und des entthronten König Alfonso von Spanien. Obwohl Frankreich eines der ersten europäischen Länder war, das sich von der Monarchie befreite, und dies in blutiger Manier, war es der Treffpunkt der internationalen Königshäuser und der erste Anlaufhafen für entthronte oder abgedankte Monarchen wie Edward VIII. von England, der hier seine Flitterwochen mit Wallis Simpson verbrachte. De Lempicka verstand sich gut mit Alfonso, auch wenn sie sein ständiges Gerede und den Mangel an Konzentration während der Sitzungen eher ermüdend fand und ihn bei einer dieser Gelegenheiten entschieden aufforderte, still zu sein. Sie erinnerte sich gern daran, dass sie auf den Einwand des Ex-Königs “Wir sind es nicht gewohnt, so behandelt zu werden” erwiderte, dass sie “keine Modelle gewohnt wäre, die so viel redeten”. Der triumphale Erfolg von de Lempickas Ausstellung in Mailand im Jahre 1925 hatte eine Reihe von Aufträgen für Porträts zur Folge, die einige ihrer besten und charakteristischsten Arbeiten ausmachen. Die zwei Porträts des Marquis d’Afflitto sind aufgrund ihrer beunruhigenden Charakterisierung besonders auffällig. Im ersten Porträt wählte de Lempicka eine zurückgelehnte Pose, die für Porträts von Männern äußerst ungewöhnlich ist. Der Marquis besitzt eine, um es mit Stefan Zweigs Worten auszudrücken, “künstliche Taille” und gleicht einem Gigolo. Im zweiten Porträt macht er den verrufenen Eindruck eines vornehmen Geschäftemachers. Tamaras neue Kontakte zur italienischen Aristokratie ließen Gabriele d’Annunzio auf sie aufmerksam werden und führten zum pikantesten und am meisten zitierten Ereignis ihres Lebens – dem Versuch des alternden Dichters, sie zu verführen. Ausnahmsweise ist diese Episode einmal nicht nur durch de Lempickas eigene unzuverlässige Erinnerungen überliefert, sondern im Tagebuch von d’Annunzios langjähriger Haushälterin und Geliebten, Aelis Mazoyer, festgehalten. In jungen Jahren, und noch im Besitz seines lockigen Haars, war d’Annunzio ein Mann von umwerfender, wenn auch androgyner Schönheit gewesen. Mit dreiundsechzig war er kahl, runzelig und frühzeitig gealtert. De Lempicka selbst nannte ihn einen “alten Zwerg in Uniform”. Nichtsdestotrotz fühlte sie sich sicherlich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt. Heute wird er im Wesentlichen als historisches Phänomen betrachtet. Außerhalb von Italien sind seine einst allgemein bewunderten Bühnenstücke Teil des Repertoires verschiedener musikalischer Fassungen, einschließlich Zandonais Francesca da Rimini (eine Opernfassung eines für Eleanor Duse geschriebenen Stücks), Mascagnis Parisina und allem voran Debussys Das Martyrium des Heiligen Sebastian. Dieses aufwendige Ballett wurde von Ida Rubinstein in Auftrag gegeben, die Diaghilew mit verschwenderischen Kostümen und Bühnenbildern von Leon Bakst ausstechen wollte. In den 1920er Jahren war d’Annunzio der große alte Mann der italienischen Literatur und wurde von vielen als einer der größten Dramatiker und Dichter der Welt angesehen. Er war auch für seine Heldentaten im Ersten Weltkrieg bekannt und seine absurden Versuche, nach Kriegsende die Stadt Fiume für Italien einzunehmen. Er wurde von Mussolini mehr oder weniger behutsam als eine Art lebendiger Nationalschatz behandelt. Zudem war d’Annunzio als Liebhaber schöner Frauen

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Art Déco bekannt. Zu seinen zahlreichen Eroberungen gehörten die gefeierten Schauspielerinnen Eleonora Duse und Cecile Sorel, die Tänzerinnen Ida Rubinstein und Isadora Duncan, die Malerin Romaine Brooks und die Dame der Gesellschaft und Femme fatale Marchesa Casati (deren unheimlich anmutende Schönheit auf Porträts von Boldini und Augustus John festgehalten wurde). Es war von Anfang an klar, dass sich d’Annunzio von der exotischen blonden Schönheit der talentierten polnischen Malerin angezogen fühlen würde. Für einen Mann, der so bekannte Lesben wie Romaine Brooks und Ida Rubinstein ins Bett bekommen hatte, stellte de Lempickas Bisexualität wahrscheinlich eine zusätzliche Herausforderung und einen Anreiz dar. Das einzige, was ihrer beider Werk gemeinsam hatte, war vermutlich die knisternde Atmosphäre “widernatürlicher” und ambivalenter Sexualität. Der Versuch einer Verführung ereignete sich in der spektakulär gelegenen Villa d’Annunzios, Il Vittoriale, am Gardasee. Zum einen Palast, zum anderen Schrein des “Genius” d’Annunzios war Il Vittoriale mit einem Durcheinander von Flohmarktkitsch eingerichtet, das de Lempicka mit ihrer Liebe für die makellos glatten Linien des Art déco Stils kaum gefallen haben mag, auch wenn das pikante Detail des Poiret Morgenmantels, der benutzt wurde, um die kurzen Beine eines Gipsabdrucks von Michelangelos Sterbendem Sklaven zu verdecken, ihren Sinn für Humor getroffen haben dürfte. Aelis Mazoyer die nicht nur d’Annunzios Haushalt führte, sondern auch bei Bedarf mit ihm schlief, ihn mit Kokain versorgte und erfolgreich die Kupplerin für ihn spielte, hielt die zynischen Vorbereitungen für Tamaras bevorstehende Verführung und d’Annunzios zunehmend ungehaltenen und frustrierten Versuche in allen Details fest. D’Annunzio fand es amüsant, dass die polnische Frau nur eine Stunde nach der Abreise seiner offiziellen Mätresse, der Pianistin Luisa Baccarra, ankommen würde. “Wahrscheinlich wird das Bett noch warm sein”, stellte Aelis Mazoyer fest. “Vielleicht ist es eine weitere Täuschung, so wie die vielen anderen”, sagte d’Annunzio zu seiner Haushälterin. “Aber wenn es nicht klappt, kann sie immer noch mein Porträt malen, was eine gute Werbung für sie sein wird.” Die von Aelis Mazoyer festgehaltenen Details, die von de Lempickas eigenen Erinnerungen ergänzt wurden, lesen sich eher wie eine pornografische Fantasie als ein Liebesroman. Bereits in der ersten Nacht ihres Besuches versuchte d’Annunzio de Lempicka dazu zu bringen, mit ihm zu schlafen. An diesem Tag gelang es ihr, ihn abzuwehren, wie auch am nächsten, als er ihr während der ersten Sitzung für das Porträt neuerliche Avancen machte. Als Ausrede diente ihr die angebliche Angst vor Syphilis, denn d’Annunzio hatte die Gunst vieler Frauen genossen. In der folgenden Nacht versicherte die Haushälterin d’Annunzio, dass sich nur eine “Professionelle” solch einer Ausrede bedienen könnte und die beiden hatten vor Tamaras Schlafzimmertür Sex. Während der zehn Tage, die de Lempicka in Il Vittoriale verbrachte, spielten der Dichter und die Malerin eine Art sexuelles Katz- und Mausspiel, wobei de Lempicka d’Annunzio immer mehr Freiheiten gewährte, sich jedoch nie vollständig hingab. Am Ende rief sie mitten in der Nacht ein Taxi, verließ, ohne sich zu verabschieden, das Haus und bezog ein Zimmer in einem Hotel in der nahe gelegenen Stadt Brescia. Doch das Spiel war noch nicht zu Ende. De Lempicka hielt sich für einige Zeit in Brescia auf und wartete darauf, dass d’Annunzio kommen und den Liebesakt mit ihr vollziehen würde. D’Annunzio sandte einen Boten auf einem weißen Pferd in ihr Hotel, der einen Brief mit einem Gedicht überbrachte, der an la Donna d’Oro adressiert war und einen wunderbaren Topazring enthielt. Auf ihrem Weg zurück nach Paris schrieb de Lempicka d’Annunzio einen Brief, der eine besondere Zwiespältigkeit ihrer Gefühle ihm gegenüber zeigt, aber auch erahnen lässt, wie frustrierend ihre wechselhafte Taktik für den verliebten Dichter gewesen sein muss. “Alles geht vorbei, alles verblasst … und das Feuer dieser letzten Tage, so brennend und schmerzhaft, vielleicht wird es auch vorbeigehen, wie alles andere … Brescia, Stadt des Leidens! Ich musste dort verbleiben, aber ich wusste, es war nur eine selbst erfundene Ausrede, um meine

Seite 88 Akt mit Gebäuden, 1930.

Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm. Privatsammlung. Seite 90-91 Die rosa Tunika, 1927.

Öl auf Leinwand, 73 x 116 cm. Privatsammlung. 89

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Seite 93 Die Schlafende (Kizette) I, um 1933.

Öl auf Holz, 30,8 x 40,6 cm. Privatsammlung. 92

Abfahrt – noch einmal – hinauszuzögern … doch worauf wartete ich? Einen Anruf? Dich vielleicht? Oh wie langsam die Stunden vorbeigehen, wenn man wartet! Als ich in jener Nacht ein Klopfen an der Tür vernahm, traute ich mich nicht, mich zu rühren. Worauf wartete ich? Was wollte ich? Ich wusste es selbst ja nicht einmal. Aber ich wollte Dich noch einmal sehen. Am Tag darauf … konnte ich es nicht mehr innerhalb der vier Wände dieses elendigen Hotelzimmers aushalten. Das Fieber und die Angst fraßen mich auf. Ich war am Ersticken. Ich brauchte Luft, Luft. Ich stand auf und fing an zu rennen, einfach geradeaus, wie eine Verrückte, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge. Wie lange ich weiter rannte, weiß ich nicht, aber schließlich kam ich wieder zu Sinnen und bemerkte, dass ich mich auf dem Weg nach Gardone befand … Ich, die ich Dir nie gehört habe! Die Sünde meines Verrats war nie so schwer. Die unendlichen Stunden der Reise. Der schreckliche Gedanke, dass ich wegging, begleitet mich bei jeder Straßenbiegung, ein wenig weiter, immer weiter, für immer …. Immerhin habe ich den Mut gefasst, Dir dies in einem Brief zu gestehen!” Tamaras Verhalten in dieser eher grotesken Episode ähnelte dem einer Stummfilmheldin. Tatsächlich scheint das Kino eine außergewöhnlich große Rolle sowohl in ihrem Leben als auch in ihrer Kunst gespielt zu haben. Die große Beliebtheit, derer sich ihr Werk ab den 1970er Jahren erfreute, wurde durch eine zu jener Zeit verbreitete Nostalgie für die Filme der Zwischenkriegszeit begünstigt. Die von ihr gezeichneten Frauen locken oft mit den Augen der Stummfilmstars und auch der Stil der Bilder erinnerte viele Menschen an die glänzenden, einfachen Musicals und Screwball-Komödien. Zweifelsohne war de Lempicka grundlegend von der aufkeimenden Kunstform des Kinos beeinflusst. Die Entwicklung ihres Stils in den 1920er Jahren fiel zusammen mit den so genannten Goldenen Jahren Hollywoods, mit dem Aufkommen der großen Hollywood Studios M.G.M., Paramount, Columbia, Universal und R.K.O., die fortan die Unterhaltung auf der ganzen Welt dominieren sollten. Die französische und deutsche Filmindustrie erfreute sich zu jener Zeit ebenfalls großer Kreativität und brachte viele der besten Filme des 20. Jahrhunderts heraus. Die Allgegenwärtigkeit des Films fing an, die Menschen in ihrem Aussehen und Verhalten zu beeinflussen. De Lempickas stark geschminkte weibliche Motive mit dem perfekt gestylten Haar und ihren theatralischen Posen und Gesichtsausdrücken voll von künstlichem Pathos könnten direkt der Leinwand entsprungen sein. De Lempicka selbst ähnelte in ihrer markanten Schönheit einem Filmstar. In den späten 20er und frühen 30er Jahren ließ sie sich immer wieder auf Fotografien festhalten, die denen der glamourösen Stars glichen, die die Werbeabteilungen der Filmstudios verbreiteten. Die Fotos hatten die gleiche leichte Unschärfe des weichen Fokus, das Helldunkel und die essentiellen Accessoires des klobigen Art déco Schmucks sowie lässig über die Schulter geworfene Felle und die in eleganter Manier gehaltene Zigarette. 1932 filmte die französische Filmproduktionsfirma Pathe de Lempicka, wie sie mit einer Zigarettenspitze in der Hand eine Treppe hinab stieg – der klassische Auftritt eines Stars und ein Auftritt, der in Paris insbesondere mit dem großen Star des variété, Mistinguette, in Verbindung gebracht wurde. Im folgenden Jahr, als die gefeierte Schauspielerin Cecile Sorel im Casino de Paris ihren ersten Varieté-Auftritt hatte, parodierte sie den Treppenauftritt und brachte ganz Paris mit dem unübersetzbaren Wortspiel “L’ai-je bien descendu?” zum Lachen. Mit großem Stolz erzählte de Lempicka, dass sie einmal in den 1930er Jahren bei einem Urlaub in Salsomaggiore für Greta Garbo gehalten wurde: “Ich war im teuersten Hotel untergekommen, einem dieser Orte, an dem man eine Kur macht. Und dann kam eines Tages der Hoteldirektor auf mich zu und sagte: ‚Madame de Lempicka, in der Zeitung steht, dass Greta Garbo hier in Salsomaggiore ist. Und vor dem Hotel stehen Leute, die auf Greta Garbo warten. Und sie denken,

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Art Déco dass Sie Greta Great Garbo sind.’ ‚Aber sie wissen doch, dass ich es nicht bin’, sagte ich. Und er antwortete: ‚Ja, wir wissen, dass Sie eine berühmte Malerin sind. Aber würden Sie unserem Hotel den Gefallen tun? Das wäre großartige Werbung.’ Ich sagte: ‚Was genau meinen Sie damit?’ ‚Nun’, sagte er, ‚wir werden sagen, dass Sie Greta Garbo sind.’ Und ich sagte: ‚Wenn es gut für Ihr Hotel ist, können Sie machen, was sie wollen.’ ‚Aber’, sagte er, ‚sie werden Sie um eine Autogramm bitten. Was machen Sie dann?’ Ich sagte: ‚Ich werde natürlich mit Greta Garbo unterschreiben’ und dies tat ich dann auch.“ De Lempicka ließ in den späten 20er und frühen 30er Jahren nicht nur sich, sondern auch das Interieur ihrer Pariser Appartements fotografieren. Dies war Teil eines ehrgeizigen Plans der Selbstdarstellung. Diese Interieurs machen in ihrer ordentlichen und rationalisierten Eleganz nicht den Eindruck, als gäbe es Leben in ihnen. Und niemals gibt es irgendeinen Hinweis auf die Existenz ihrer Tochter Kizette. Stattdessen präsentieren diese Räume die Künstlerin und ihren glamourösen Lebensstil. Mit dem erotischen Design des Kopfendes ihres geräumigen Doppelbettes und einer Staffelei mit der großen vorbereitenden Studie für das Porträt des Dr. Boucard zu Füßen des Bettes steht de Lempickas Schlafzimmer in der Rue Guy de Maupassant für die Kunst und die Liebe. 1928 zog de Lempicka in eine weitläufige zweistöckige Wohnung in einem neuen Wohnblock in der Rue Méchain, der von dem progressiven Architekten Robert Mallet-Steven entworfen wurde. Mallet-Stevens war ein Modernist nach ihrem Geschmack. Im Gegenteil zu dem fundamentalistischen Le Corbusier und den harten Männern des Bauhaus, milderte er die harten Linien des Modernismus mit Elementen luxuriöser Dekoration. Im Jahre 1925 entwarf er in Zusammenarbeit mit dem Maler Fernand Leger die Kulisse für Marcel L’Herbiers Film L’Inhumaine. Sie schufen eine fabulöse modernistische Villa als Schauplatz für eine unbarmherzige Femme fatale, die von der früheren Opernsängerin Georgette Leblanc gespielt wurde. Vielleicht hatte Tamara für sich eine ähnliche Rolle im Kopf. Ein späteres Foto zeigt de Lempicka, wie sie in einem höchst unpraktischen, trägerlosen Abendkleid und vier Reihen einer riesigen Perlenkette um den Hals in ihrem makellosen Atelier mit der röhrenförmigen, metallischen Einrichtung ein Bild malt. Zu der von ihrer jüngeren Schwester Adrienne (die wie Mallet-Stevens ein Mitglied der fortschrittlichen Union of Modern Artists war) eigens für ihr Appartement in der Rue Méchain entworfenen Inneneinrichtung gehörten auch ein niedriges Zwischengeschoss mit einer “Bibliothek”, die keine erkennbaren Bücher enthält, und eine reichhaltig bestückte Cocktailbar, die in eine Luxusyacht zu gehören scheint. Für Pariser Journalisten war die exotisch schöne polnische Künstlerin in der eleganten Umgebung ihrer Wohnung in der Rue Méchain ein guter Stoff für ihre Texte. Sie wurde ohne Unterlass als “groß und schlank, weich” beschrieben. “Harmonisch in ihren Bewegungen…vor Leben übersprühend, ihr Gesicht von ihren großen, fast künstlichen Augen erleuchtet und mit einem leicht lächelnden Mund, von teurem Pariser Lippenstift rot gefärbt.” Einmal, als sie einen Journalisten empfing, trug sie ein “weißes Abendkleid aus Satin, mit dunkelroter Schärpe und einem kurzen schwarzen Mantel”. Bei einer eben solchen Gelegenheit war sie mit “einer beigegelben Jacke, schwarz eingefasst, von Creed designt” bekleidet. Der scheinbar beiläufig hinzugefügte Name des Modeschöpfers, der die beige-gelbe Jacke entworfen hatte, fällt hier alles andere als zufällig. Es war üblich, dass Pariser Modeschöpfer glanzvolle Frauen des öffentlichen Lebens gratis einkleideten, als Gegenwert für die Aufmerksamkeit, die sie dadurch erregten. Dies war die große Zeit der Berühmtheiten. In den Theater- und Opernprogrammen der Zeit liest man, dass der berühmte Musical-Star Yvonne Printemps sowohl auf der Bühne als auch in der Stadt von Jeanne Lanvin eingekleidet war, und dass die hübschen Sopranistinnen Eide Norena und Fanny Heldy respektive von Jean Patou und Alexandrine, Rue Auber Nummer 10, coiffée und gantée (wortwörtlich “behandschuht”) wurden.

Seite 94 Das Modell, 1925.

Öl auf Leinwand, 116 x 73 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 95

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Seite 96 Pierre & Gilles, Pleureuse - Claire Nebout, 1986. Fotografie. Privatsammlung. Seite 97 Der orangefarbene Turban II, um 1945.

Öl auf Leinwand, 27 x 22 cm. Musée des Beaux-Arts du Havre. 96

In Paris gab es eine lange Tradition, die Schönheit der Werke einer Malerin mit ihrem eigenen Aussehen gleichzusetzen. Als Anna Dorothea Therbusch-Lisiewska (1721-1782), eine weitere begnadete Porträtmalerin polnischer Herkunft, in den 1760er Jahren nach Paris kam, wollte niemand von ihr gemalt werden, weil sie wie eine mitteleuropäische Hausfrau aussah. Selbstporträts der zwei erfolgreichsten Porträtistinnen im Paris des späten 18. Jahrhunderts, Adelaide LabilleGuiard (1749-1803) und Elisabeth Vigée Le Brun (1755-1842), zeigen, dass beide Frauen genauso bedacht auf ihre Erscheinung waren wie de Lempicka. Labille-Guiard trägt ein wogendes hellblaues Seidenkleid und einen weichen Hut mit Straußenfeder, das als Arbeitskleidung noch schlechter geeignet scheint, als de Lempickas New Look Abendkleid und die Perlenkette. In ihrem Selbstporträt in der Londoner Nationalgalerie zeigt Vigée Le Brun einen großen Ausschnitt und schaut den Betrachter mit einem “komm zu mir”Ausdruck an. Angeblich hörte de Lempicka beim Malen gern Musik von Wagner. Wagner ist wohl kaum die Art von Musik, die man mit der Kühle ihrer Art déco Porträts in Verbindung bringen würde. Wagner war in den avantgardistischen Kreisen der 1920er Jahre nicht sonderlich angesagt, obwohl beispielsweise Luis Buñuel and Salvador Dalí ständig unterbrochene, wiederholte Sequenzen aus dem Liebestod aus Tristan und Isolde auf brillante und blasphemische Art und Weise in ihrem Film Das Goldene Zeitalter aus dem Jahre 1930 verwendeten, der unter der Protektion von de Lempickas Freunden, dem Vicomte und der Vicomtesse de Noailles, entstand. Ein Äquivalent fand de Lempickas stilistische Kühle in der Musik der Komponisten Les Six (Protegés eines weiteren Freundes de Lempickas, Jean Cocteau) und in dem europäisierten Jazz von Jean Sablon und dem Hotclub of France. Die Musik von Les Six (Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Darius Milhaud, Francis Poulenc und Germaine Tailleferre) mit ihrer Kombination aus gemäßigtem Modernismus und Neo-Klassizismus, den jazzartigen Tönen und dem Spiel mit beliebten Idiomen und dem Anschein kühler Distanziertheit und geistreicher Gewandtheit hätte wunderbar zu de Lempickas Art déco Porträts gepasst. Insbesondere Poulencs Ballett Les Biches, im Jahre 1923 von Diaghilew aufgeführt und von Bronislaw Nijinska choreografiert, hätte mit seinen komplexen bisexuellen Liebesspielen im eleganten Landhaus-Setting von Tamaras Modellen besetzt sein können. 1923 war in etwa ein Jahr zu früh, als dass de Lempicka als Bühnenbildnerin für dieses Ballett in Frage gekommen wäre, und so ging der Auftrag stattdessen an die Meisterin des seichten Kubismus, Marie Laurencin. Eine von de Lempickas Lieblingsbars war Le Boeuf sur le toit, die nach dem von Jean Cocteau erdachten Ballett zur pulsierenden Musik von Darius Milhaud benannt war. Der Bühnenbildner Jean Hugo, ein weiterer Stammgast des Le boeuf sur le toit beschrieb es rückblickend als “Treffpunkt von Schicksalen, Wiege der Liebesabenteuer, Matrix der Diskussionen, Nabel von Paris”. Mit dem leisen Unterton des Bisexuellen war es der perfekte Ort für de Lempicka. Hier konnte sie Cocteau und seine musikalischen Gefolgsmänner Darius Milhaud, Georges Auric und

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Art Déco Francis Poulenc treffen. Für die musikalische Unterhaltung der Gäste des Le boeuf sur le toit sorgte der Pianist Jean Wiener, der auch ein großer Förderer der Musik von Les Six sowie von amerikanischem Jazz war. Zu den weiteren Stammgästen des Le boeuf sur le toit gehörten die lesbische Princesse de Polignac (die Nähmaschinenerbin Winneretta Singer), die zahlreiche Meisterwerke von Les Six in Auftrag gab, unter anderem Poulencs Orgelkonzert, der Vicomte und die Vicomtesse de Noailles, Diaghilew und der Tänzer, der jeweils gerade sein Liebhaber war, Picasso, Fernand Leger, André Derain, Brancusi, Coco Chanel, die beliebten Entertainer Mistinguette und Maurice Chevalier, der exzentrische englische Komponist Lord Berners und der sich unter das Pariser Volk mischende Prinz von Wales (der zukünftige Edward VIII), dem in jenen Kreisen auch Bisexualität nachgesagt wurde. Nachdem Tadeusz sie verlassen hatte, brauchte Tamara nicht lange, um einen neuen Ehemann zu finden – ein Mann, der vielleicht nicht ganz so gut aussehend wie Tadeusz war, jedoch wohlhabend genug, um ihr das Leben zu ermöglichen, an das sie sich gewöhnt hatte, und der ihr einen Titel und das soziale Umfeld geben konnte, das sie sich ersehnte, und ihr bis zum Ende seines Leben ergeben sein würde. Sein Name war Baron Raoul Kuffner oder Rollie, wie Tamara ihn nannte. Kuffner hatte ein großes Vermögen und riesige Ländereien in der ehemaligen ÖsterreichischUngarischen Doppelmonarchie. Er war von Beginn an ein treuer Sammler von de Lempickas Arbeiten gewesen. Die beiden hatten wahrscheinlich von dem Zeitpunkt an eine Affäre, als er ihr 1928 den Auftrag gab, das Porträt von Nana de Herrera zu malen, doch konnte Kuffner de Lempicka erst nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahre 1933 einen Heiratsantrag machen. Auf ihrer Seite hatte diese Heirat wenig mit Liebe zu tun, und de Lempicka zögerte lange, bevor sie seinen Antrag annahm. Doch entpuppte sich dieses Arrangement als sehr erfolgreich, denn es erlaubte ihr, ihre Karriere und ihren unabhängigen Lebensstil fortzusetzen. Nach den Flitterwochen in Ägypten nahm sich Kuffner eine Wohnung in dem Wohnblock, in dem sich auch de Lempickas Atelier befand, doch er blieb weiterhin hauptsächlich in einer Suite im Westminster Hotel wohnen. Baron Kuffner war toleranter als Tadeusz de Lempicki es gewesen war, toleranter gegenüber den Eskapaden seiner Frau mit Vertretern beider Geschlechter und ihrem Durst nach sexuellem Abenteuer, den auch die zweite Ehe nicht stillte. Der französische Kunstkritiker, Michel GeorgesMichel, vertraute Tamaras Biograf, Charles Phillips, an, wie er sie zu jener Zeit zum ersten Mal getroffen hatte, als “er in eine schäbige kleine Bar in einer der schmutzigsten Straßen in Cannes kam, in der man nur den harten Gesichtern von Seemännern begegnete, Frauen mit einem Blick, der wilder als der der Männer war, und bleichen jungen Homosexuellen, die rosa Hemden trugen und säuerliche Blicke austauschten. Der Besitzer des Etablissements, dessen rot- und lilafarbenes Gesicht seinen Weinen glich, saß wie ein Gefängniswärter an der Tür. In die dunkelste Ecke hatte sich eine barfüßige, beinahe barbusige Frau zurückgezogen, die auf dem Kopf einen abscheulichen Eselshut trug. Ihr Haar war durch die Löcher gezogen, die für die Ohren des Esels bestimmt waren, und ihre riesigen Augen schimmerten in der Dunkelheit. Er starrte sie an. Sie zuckte mit den Schultern und drehte ihm den Rücken zu, einen atemberaubenden Rücken, bis zu den Lenden entblößt. Am Abend dieses Tages war er zu einer Party an einer vornehmeren Adresse in Cannes eingeladen. Gerade in privaten Beobachtungen der verschwenderischen Darbietung von Essen und des schicklichen Verhaltens der Gäste versunken, fühlte er einen Schlag auf seiner Schulter und hörte eine heisere Frauenstimme sagen: ‚Nun, sie waren heute Morgen in der Tat an einem seltsamen Ort.’ Er drehte sich um und erblickte die Frau von der Bar, dieses Mal von Kopf bis Fuß mit funkelndem Schmuck bedeckt, kulminierend in einer Tiara, die wie ein Heiligenschein auf ihrem goldenen Kopf saß.” Es war natürlich Tamara.

Seite 98 Frau mit blauem Schal, um 1944.

Öl auf Holzfaserplatte, 45,7 x 37,8 cm. Privatsammlung. 99

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as Jahr 1933, in dem Tamara zum zweiten Mal heirate, war auch das Jahr der Machtübernahme Hitlers, was eine neue Welle intellektueller und künstlerischer Emigranten nach Paris brachte. Das Jahr stellte auch einen Wendepunkt im Leben und in der Karriere de Lempickas dar. Auch wenn sie dies erst nach einigen Jahren begreifen würde, gehörte ihre kreativste Schaffensperiode bereits der Vergangenheit an. Die Aufträge für Porträts blieben beinahe von einem Tag auf den anderen aus. Dies lag sicherlich zum Teil daran, dass nach ihrer erneuten Heirat keine dringende Notwendigkeit zum Geldverdienen bestand. Aber es war auch ein Zeichen der Zeit. Der Wall-Street-Crash und die Wirtschaftskrise machten sich nun auch bei den wohlhabenderen Parisern bemerkbar, die de Lempickas Klientel gebildet hatten. Hinzu kam ein Geschmackswandel: Der knallige Art déco Stil, den de Lempicka so wunderbar repräsentiert hatte, kam außer Mode. Es gab keine unmittelbare oder radikale Veränderung in Tamaras Stil, wenn ihre Arbeiten auch das knallige, quasi-kubistische Element vermissen lassen, das ihre Bilder der späten 20er und frühen 30er Jahre charakterisiert hatte. Die Bewegung weg von der Modernität und hin zur Nüchternheit scheint das Ergebnis einer psychologischen und geistigen Krise gewesen zu sein, die sie in den ersten Jahren nach ihrer zweiten Heirat durchmachte. Ein bereits 1931 entstandenes Werk mit dem Namen Die Flüchtlinge kündigt diese neue Phase an. Es zeigt eine von Sorgen gezeichnete Mutter mit ihren wenigen Habseligkeiten in ein Tuch gewickelt, die ihre Arme um ihr traurig blickendes Kind legt. Der spröde Hedonismus des Jazz-Age war durch ein tränenrührendes Pathos ersetzt worden, das nicht zum Glanz von Tamaras Technik passen wollte. De Lempicka begann 1936 ihre Besuche bei einem Psychiater, den sie als Heiligen Antonius zeichnete. De Lempicka näherte sich der 40 und wie viele andere schnelllebige Frauen, deren Schönheit zu vergehen begann, suchte sie Trost in der Religion. Zu jener Zeit malte sie ihr außergewöhnliches Werk Mutter Oberin. De Lempicka erläuterte den Ursprung dieses Gemäldes folgendermaßen: “Wenn man immer nur kreiert und kreiert und dabei so viel von sich selbst verausgabt, fühlt man sich irgendwann ausgelaugt und deprimiert. Ich war nach Italien gegangen, um mit der Depression klarzukommen, und um ein Kloster zu besuchen und dort nur einfache Dinge zu malen. Ich ging zu einem Kloster in der Nähe von Parma und klingelte. Eine reizende Nonne kam und ich fragte sie, ob ich die Mutter Oberin sehen könnte. ‚Setz dich, mein Kind’, sagt sie. Ich saß auf der harten Bank und wartete. Ich weiß nicht, für wie lange. Dann betrat ich einen wundervollen Raum im Renaissance-Stil, mit der typischen Decke und den Säulen, und dort war die Mutter Oberin und in ihrem Gesicht zeigte sich das ganze Leid der Welt, ein schrecklicher und trauriger Anblick, und ich rannte aus dem Raum. Ich hatte vergessen, warum ich gekommen war. Das einzige, was ich wusste, war, dass ich eine Leinwand und einen Pinsel brauchte und sie malen musste, ihr Gesicht malen musste. Doch wir, mein zweiter Ehemann, der Baron, und ich, sind bereits dabei, unseren Umzug nach Amerika vorzubereiten, und so muss ich warten. Wir gingen nach New York. Wir wohnten im Savoy Plaza, aber ich hatte noch ein altes, schmutziges Atelier mit einer Katze, genauso wie in Europa. Ich nehme vom Hotel schwarzen und weißen Stoff mit ins Atelier und lege diesen auf einen alten Sessel, der gut beleuchtet auf dem Podest steht und dann sehe ich sie, die Mutter Oberin. Ich war wie in Trance, in einem Fieber. Ich sprach mit ihr und bat sie, sich mehr nach links zu drehen, und so weiter, und so weiter. Ich arbeitete drei Wochen kontinuierlich daran, bis es schließlich vollendet war. Es ist klein, nicht größer als die Seite einer Zeitschrift. Im Hotel stellte mein Mann es auf den Kamin. Er betrachtet es lange Zeit, ohne etwas zu sagen. Dann sagt er: ‚Das ist, denke ich, das Beste.’” Auch wenn diese Episode für Schlüsse auf de Lempickas Arbeitsweise interessant ist, scheint es nur schwer möglich, ihre neu gefundene Religiosität als etwas anderes denn als theatralische und ästhetische Pose

Seite 102 Die Flüchtlinge, 1931.

Öl auf Holz, 51 x 53 cm. Musée d’Art et d’Histoire de Saint-Denis. 103

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Das Leben

Seite 105 Venedig im Regen, 1961.

Öl auf Leinwand, 94 x 66 cm. Privatsammlung. Seite 106 Frau mit einem grünen Handschuh, 1928. Öl auf Sperrholzplatte, 100 x 65 cm. Privatsammlung.

Seite 107 Idylle, 1931. Öl auf Holz, 41 x 32,5 cm. Privatsammlung. 104

anzusehen. Von der reizenden Nonne, die die Tür öffnet, bis hin zum wunderschönen Raum im Renaissance-Stil und dem von Sorgen gezeichneten Gesicht der Mutter Oberin ist die ganze Erfahrung eindeutig eher ästhetischer als spiritueller Natur. Als Meisterin des nach oben gerollten Augapfels war Tamara immer geneigt, einen Gesichtsausdruck und eine Körpersprache zu verwenden, die an die gegenreformatorische Leidenschaft des Barocks in Kombination mit der eisigen Distanziertheit und höfischen Eleganz von Manieristen wie etwa Bronzino erinnerten. Das Ergebnis ist nicht immer leicht verdaulich und erinnert oft in komischer Weise an einen anderen Vertreter der heiklen religiösen Symbolik, den Florentiner Barockkünstler Carlo Dolci, der ebenfalls den Barock in theatralischer Weise mit der akribischen Art eines Miniaturmalers verband. Die “Glyzerin”-Tränen sind sowohl bei Dolci als auch bei de Lempicka nicht nur wegen ihrer pathetischen Wirkung beliebt, sondern auch aufgrund der sich somit bietenden Chance, ihre Fertigkeit in der Darstellung durchsichtiger und reflektierender Materialien darzustellen. Es gibt keinen Grund, de Lempicka eine blasphemische oder satirische Intention zu unterstellen, aber Werke wie die weinende Nonne und der Heilige Antonius nehmen die bewusst kitschigen “handgemalten Fotografien” von Heiligen und Martyrern vorweg, die Pierre & Gilles in den 1970er Jahren zu produzieren begannen, zu einer Zeit, als de Lempickas Werk wieder in Mode kam. De Lempickas Malaise und fragile Geistesverfassung in den späten 1930er Jahren reflektieren möglicherweise auch die unruhige politische und kulturelle Stimmung des Europas jener Zeit. Mit dem spanischen Bürgerkrieg im Westen, Mussolinis Italien, das mit den nordafrikanischen Kolonien Frankreichs liebäugelte, im Süden und dem Aufstieg Hitlers im Osten war ihre Stimmung entweder das Ergebnis einer gerechtfertigten bösen Vorahnung oder ein Zeichen von mutwilligem Eskapismus. Die gefährliche Situation Frankreichs wurde in einem bekannten Hit mit dem Titel “Tout va très bien, Madame la Marquise” humorvoll kommentiert. Hier ruft eine sehr bestürzte Marquise, die gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt ist, ihre Diener an. Nachdem jeder von ihnen ihr versichert hat, dass alles ganz wunderbar laufen würde, offenbaren sie ihr nacheinander, dass ihr Lieblingspferd gestorben ist, die Ställe und das Schloss abgebrannt sind und ihr Ehemann sich aufgrund seines finanziellen Ruins erschossen hat. Der im Angesicht der sich immer weiter verdunkelnden politischen Stimmung aussichtslose Optimismus der Franzosen in den späten 1930er Jahren wurde von dem österreichischen Emigranten, dem Journalisten Joseph Roth, beobachtet. Die Entscheidung der französischen Regierung kommentierend, dass sie an den Schüleraustauschen zwischen Frankreich und Deutschland festhalten wolle, schreibt er: “So groß ist der Edelmut des französischen Volks, so stark ist sein Glaube an die ewige und unzerstörbare Natur der Menschheit, dass es kaum verwundert, dass weiterhin Schüleraustausche stattfinden, als wäre Deutschland immer noch Deutschland, so wie Frankreich immer noch Frankreich ist, als wäre die Sprache des Dritten Reiches immer noch eine deutsche Sprache, die man lernen kann und soll – und nicht das barbarische Gestammel und Jaulen, zu dem es mutiert ist, eine Mischung aus preußischem Geschwätz, deutschem Technikjargon aus dem Kleingedruckten in Anzeigen für Eau de Cologne oder Flintenschrot und der unheimlichen Dysphemie der alten und neuen Verteidiger von Rasse und Revolution.” Die “ausgetauschten” deutschen Kinder werden einige Wochen mit erschrockenen, unschuldigen Augen ein Land betrachten, in dem sie nicht die Enden der Kreuze umbiegen, Juden nicht bespucken und auch nicht töten, ihre Sozialisten und Pazifisten nicht in Konzentrationslager stecken; ein Land, in dem man das machen kann, wonach einem ist, in dem man nicht marschieren muss; ein Land, in dem der Einzelne respektiert wird und jedes einzelne Kind mit so etwas wie Ehrfurcht betrachtet wird: diese “ausgetauschten” deutschen Kinder werden sich einige Wochen später zu Hause wieder finden, in Reih und Glied vor ihren Lehrern und Ausbildern stehen und

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Seite 108-109 Frau in gelbem Kleid, 1929. Öl auf Leinwand, 78 x 118 cm. Privatsammlung.

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Seite 110 Madonna, um 1937. Öl auf Holz, 33 cm (Durchmesser). Musée départemental de l’Oise, Beauvais. Seite 111 Madonina, um 1934.

Öl auf Kupfer, 18 x 12,8 cm. Privatsammlung. 110

erfahren, was für ein liederliches, verjudetes, vernegertes Land Frankreich ist: Genau das, was Hitler in seinem Buch schwarz auf weiß geschrieben hat.” Der Abgesang für Paris als kulturelle Hauptstadt der westlichen Welt kam im Jahre 1937 mit der letzten Pariser Weltausstellung, in der sich die Pavillons der Nazis und der Sowjets in einem einander bemerkenswert ähnelnden monumental klassischen Stil zeigten. Viele Künstler wie Delaunay und Dufy, die 1925 in der Exposition des Arts Décoratifs ausgestellt hatten, waren hier wieder präsent. Poiret war auf der Strecke geblieben und die Haute Couture von Chanel und Schiaparelli wurde hauptsächlich vom Surrealismus beeinflusst, einer Bewegung, die zu jener Zeit ihren Höhenpunkt hatte. De Lempicka hatte wenig Neues zu zeigen oder war vielleicht der Ansicht, dass es nicht gut genug war, und griff auf das sechs Jahre alte Adam und Eva zurück, um es mit den FAM (Femmes Artistes Modernes) auszustellen. Ihren eigenen Angaben zufolge “hörte” de Lempicka den ersten Warnruf, als sie während eines Urlaubs mit Kuffner in den österreichischen Alpen eine in den Straßen singende Hitlerjugendgruppe sah. Von da an, versuchte sie scheinbar Baron Kuffner zu überreden, seinen Besitz zu verkaufen und Europa zu verlassen. Aus welchen Grund auch immer, Kuffner ahnte die Entwicklungen erstaunlich gut voraus und verkaufte die meisten seiner Besitztümer in Mitteleuropa, lagerte seine Wertsachen in der Schweiz ein und ging am 24. Februar 1939, rechtzeitig vor Ausbruch des Krieges, an Bord der SS Paris. Innerhalb des nächsten Jahres überschwemmten Künstler als Flüchtlinge des europäischen Konflikts in Europa die Vereinigen Staaten. Nur wenige von ihnen erwartete dort jener Komfort und Stil, dessen sich die Kuffners erfreuten, besonders jene nicht, die Europa erst nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Jahre 1940 verlassen hatten. Hitlers Hass gegenüber der modernen Kunst war von jenem Zeitpunkt an klar, als er 1934 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg mit der kreischenden, hysterischen Stimme eines Verrückten das “ganze Kunst- und Kulturgestotter von Kubisten, Futuristen, Dadaisten” verurteilte. Man brauchte nicht Jude oder Kommunist zu sein, um sich in Gefahr zu wähnen, und mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen (Picasso, Braque und Matisse) flohen jene Vertreter der Avantgarde, denen sich die Möglichkeit dazu bot, in die USA. Varian Fry initiierte ein Rettungskomitee, das Emergency Rescue Committee, das zwischen Juni 1940 und dem Herbst 1941 den widerwilligen Marc Chagall (dem man versichern musste, dass es in den USA tatsächlich Bäume und Kühe gab), Max Ernst, André Breton, André Masson, Tristan Tzara, Jacques Lipchitz und vielen anderen zur Flucht verhalf. Chagall schrieb einen ergreifenden Brief an die zurückgebliebenen Künstler: “Ich litt darunter, Euch in jenem schrecklichen Jahr verlassen zu müssen. Es war nicht mein Schicksal, mein Leben für Paris zu opfern. Der Feind bereitete irgendwo in Polen einen erniedrigenden Tod für mich vor. Also nahm ich die gastfreundliche Hand, die Amerika mir bot.” Als die deutsche Armee im Juni 1940 in Paris ankam, schrieb der Kritiker Harald Rosenberg: “Das Labor des 20. Jahrhunderts ist geschlossen worden.” Nun übernahm New York diese Aufgabe. Die Anwesenheit von Mondrian, Leger, André Breton und so vieler anderer Künstler, die mit der surrealistischen Bewegung in Verbindung standen, brachten die Kultur in Bewegung und verhalfen der New Yorker Schule zum Leben. Für de Lempicka war es jedoch der falsche Ort und die falsche Zeit. Sie hatte eine große Anzahl ihrer Bilder auf der SS Paris mitnehmen können

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Wendepunkt und war so in der Lage, bereits im Mai 1939 in der Paul Reinhardt Gallery auszustellen. Es schloss sich im April 1941 eine Ausstellung in der Julien Lévy Galerie an, die dann im nächsten Jahr nach Los Angeles ging. Ein Foto von Tamara auf der Ausstellungseröffnung im Jahre 1939 zeigt sie noch eleganter als sonst, mit einem locker auf dem Kopf sitzenden Fellhut und größeren Schulterpolstern, als Joan Crawford sie trug. Die Kunst an sich jedoch erschien den New Yorker Kunstliebhabern als fad, denn sie waren an die innovativeren Ausstellungen der Werke emigrierter Künstler gewohnt, die Pierre Matisse und Peggy Guggenheim veranstalteten. Auch wenn ihre New Yorker Ausstellungen Werke aus ihrer besten Schaffensperiode zeigten, waren diese zu jener Zeit etwas in die Jahre gekommen, und ihre neuen Werke, obwohl technisch vollendet, ließen jene attraktiveren Eigenschaften der Künstlerin de Lempicka vermissen. Das Gemälde Flucht, das sie kurz nach ihrer eigenen Flucht nach New York malte, beschäftigt sich sicherlich mit einem aktuellen Thema. Vor dem Hintergrund einer nicht einzuordnenden europäischen Stadt zeigt es eine verzweifelte und verarmte Mutter, die mit Tränen in den Augen ihr Kind umklammert. Dem Gemälde fehlt es an jeglicher Überzeugungskraft, was kaum verwundert, wenn man bedenkt, dass Tamara an Bord eines Luxusdampfers geflohen war und niemals am eigenen Leib solche Not erfahren hatte. De Lempicka bediente sich bis zum Ende der 1940er Jahre der glänzenden Glätte ihres Art déco Stils, vernachlässigte jedoch die modernistischen Eigenschaften, die ihre besten Arbeiten ausgemacht hatten. Stattdessen orientierte sie sich an einer Reihe alter Meister und Quellen aus dem 19. Jahrhundert, um ihre erlahmende Inspiration anzukurbeln. De Lempickas Gemälde In der Oper aus dem Jahre 1941 erinnert mit seinem Motiv einer elegant gekleideten Frau in einer Opernloge an Maler des 19. Jahrhunderts wie Renoir, Degas und Cassatt. Anstelle der rationalisierten Geradlinigkeit der Art déco Phase finden wir hier die sich schlängelnden Linien eines beinahe schwülstigen Neo-Barocks. Der unangenehme Eindruck, den dieses Bild hinterlässt, wird durch de Lempickas Gebrauch von stark gesättigten Farben verstärkt, die an frühe Farbfilme erinnern. Die wahrscheinlich besten Werke de Lempickas in den 1940er Jahren sind Stillleben wie Sukkulente und Glasgefäß, um 1941 entstanden, oder Der Schlüssel aus dem Jahre 1946. Diese Bilder zeichnen sich durch eine besonders surreale Fremdheit aus. Besonders die an die Wand geheftete Postkarte eines vermutlichen Rubensporträts, weist auf ein neu erwachtes Interesse am Barock hin. Der Schlüssel mit seinen illusionistischen Tricks und komplex zerknitterten Formen erinnert an die holländische Stilllebenkunst, auch wenn de Lempickas Desinteresse an der Unterscheidung von Oberflächenstrukturen ihr Bild in krassem Kontrast zu den holländischen Gemälden erscheinen lässt. Zwei Werke, die auf dem klischeehaftesten der alten Meister, Raphael, und seiner Madonna della Sedia beruhen, sind Der orangefarbene Turban aus dem Jahr 1945 und Die Madonna, rund aus dem Jahre 1948, zeigen deutlich, wie de Lempickas Inspiration mit dem Voranschreiten dieses Jahrzehnts immer mehr versiegte. Mit ihrer Vorliebe für das Glamouröse und Berühmtheiten war es nur zu natürlich, dass de Lempicka sich von Hollywood angezogen fühlte. Im Jahre 1940 zog es die Kuffners dort für einen ausgedehnten Aufenthalt hin. Ein offensichtlich gestelltes Foto zeigt de Lempicka, wie sie den Zug der Union Pacific nach Los Angeles besteigt, sich mit einer Gardenie, dem nonchalant über die Schulter geworfenen Pelz und einem ungeheuerlich modernen Hut zur Schau stellend. Sie hat den

Seite 112 Die Weisheit, 1940 - 41.

Öl auf Holz, 71,1 x 50,8 cm. Privatsammlung. Seite 113 Agnolo Bronzino, Porträt von Lucrezia Panciatichi, um 1541.

Öl auf Holz, 102 x 85 cm. Galleria degli Uffizi, Florenz. 113

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Seite 114 Sukkulente und Glasgefäß, um 1941.

Öl auf Leinwand, 55,9 x 45,7 cm. Privatsammlung. Seite 115 Stillleben mit Lilien und grauem Stof f,

um 1944. Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm. Privatsammlung. Seite 117 Stillleben mit rosafarbenem Stof f und Lilie,

um 1944. Öl auf Leinwand, 65 x 54 cm. Barry Friedman Ltd., New York. 116

distanzierten und unscharfen Blick eines Stars auf einem Werbefoto. De Lempicka war immer noch eine atemberaubend schöne Frau und versprach sich eventuell eine neue Karriere in Hollywood, vielleicht sogar Rollen in Filmen. Die Kuffners übernahmen das Haus des bekannten Regisseurs King Vidor, der während des Krieges nicht dort wohnte. Später würde dieser mit seinem größten kommerziellen Erfolg im Gepäck zurückkehren, dem reißerischen Melodrama Duell in der Sonne aus dem Jahre 1947 (im Volksmund Lust in the Dust genannt). Mit ihrem mittel- und osteuropäischen Hintergrund fühlten sich die Kuffners in Hollywood wahrscheinlich mehr zu Hause als an der Ostküste. Die Filmindustrie in Hollywood war in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg auf Initiative russischer und ungarischer Juden hin entstanden. Selbst vor der Machtübernahme Hitlers war Hollywood von dem nicht abreißenden Talentschub aus Europa abhängig gewesen. Zu den bekannten kulturellen Persönlichkeiten, die in und um Los Angeles im Exil waren, gehörten die Komponisten und Musiker Sergei Rachmaninow, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, Hanns Eisler, Mario Castelnuevo-Tedesco, Erich Korngold, Oscar Straus, Ernst Toch, Arthur Rubinstein, Otto Klemperer and Bruno Walter, der Theaterdirektor Max Reinhardt und die Schriftsteller Berthold Brecht, Lion Feuchtwanger, Thomas und Heinrich Mann, Berthold und Salka Viertel, Theodor Adorno sowie Franz Werfel und seine Frau Alma. (Ein Treffen zwischen Tamara und der Männer verschlingenden Alma Mahler wäre sicherlich ein erinnerungswürdiges Ereignis gewesen!) Zudem gab es natürlich hunderte Exilanten, die in der Filmindustrie beschäftigt waren. Deutsch und Ungarisch waren in und um Los Angeles häufig zu hören. Max Reinhardts Sohn Gottfried erinnert sich, wie der jähzornige Regisseur Otto Preminger in den Kriegsjahren auf einer ungarischsprachigen Party in Hollywood wütend auf den Tisch schlug und ausrief: “Wir sind hier in Amerika. Könnt Ihr nicht wie alle anderen deutsch sprechen?”. Tamara hatte auch reichlich Gelegenheit, mit Leuten wie Jean Renoir, Annabella und Simone Simon ihr Französisch zu pflegen. Ein Foto zeigt sie in Gesellschaft des sanften französischen Schauspielers Charles Boyer. Auf einem anderen ist sie mit den Schauspielern George Sander und Walter Pidgeon am Set vom Twentieth Century-Fox Film Manhunt aus dem Jahre 1941 zu sehen und ein weiteres Foto zeigt sie im Gespräch mit dem Kostümdesigner und Regisseur Mitchell Leisen. Leisen hatte die Kostüme für den ausgezeichneten orientalischen Art déco Fantasy-Film Der Dieb von Bagdad von 1926 und die kitschige Komödie Madame Satan aus dem Jahre 1930 entworfen, bevor er in den 1930er Jahren als einfühlsamer Regisseur für Filme mit weiblicher Besetzung bekannt wurde. In letzterem Foto erweckt Tamara mit ihrem schwarzen Schleier und ihren Fellen den Anschein, als würde sie für einen Film noir vorsprechen. Mit Hilfe ihres Titel und ihres verführerischen Aussehens gelang es Tamara leicht, in die obersten Ränge des sozialen Lebens in Los Angeles vorzudringen. Von der Presse häufig als Baroness mit dem Pinsel bezeichnet, empfing sie Stars wie Greta Garbo, Tyrone Power und Dolores del Rio in ihrem Atelier. Im Jahre 1940, dem Jahr ihrer Ankunft in Hollywood, legte de Lempicka eine Aktion hin, die einer Werbeabteilung in Hollywood oder einer Preston Sturges Komödie entsprungen hätte sein können, als sie den Studentinnen des U.C.L.A. eröffnete, sie sei auf der Suche nach einem Nacktmodell für eine Version des Gemäldes Susannah und die Alten. Tamara hatte das Vergnügen, mehr als hundert junge Frauen zu “begutachten”, die in ihr Atelier kamen und sich entkleideten. Etwas verspätet erinnerte sich de Lempicka zu jener Zeit auch an ihre polnische Abstammung und arbeitete unter anderem für den Paderewski Fond, eine Kriegshilfsaktion. 1942 war Baron Kuffner endgültig des Lebens in Hollywood müde und bestand auf ihrer Rückkehr nach New York. Sie kauften sich ein weitläufiges Appartement im besten Teil der Stadt in 322 East 57th Street, wo sie bis zum Tode des Barons blieben. Nachkriegsfotos des Interieurs dieses Appartements erwecken ein wenig den Eindruck eines Film-Sets. Keines von de Lempickas eigenen Gemälden ist

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Wendepunkt hier zu entdecken. Stattdessen war das Appartement mit Kunstwerken und schweren antiken Möbeln eingerichtet, die aus den Besitztümern des Barons in Mitteleuropa stammten. De Lempicka malte auch weiterhin, wenn auch in zusammenhangsloser Manier, doch ihr Hauptaugenmerk lag auf ihrem Leben als New Yorker Dame der Gesellschaft. Eine weitere Salonlöwin, die Erbin Gloria Vanderbilt, erinnert sich in ihrer Autobiografie Once upon a time daran, wie ihre Mutter beim Planen einer eleganten Party ausrief: “Oh, und vergiss nicht die Baroness Tamara de Lempicka Kuffner, … Sie ist lustig und malt solch amüsante Bilder.” Das wirklich schreckliche Gemälde Mexikanische Frau aus den späten 1940er Jahren zeigt de Lempickas Art déco Stil in minderwertiger und aufgebrauchter Form. Mit der Gönnermiene einer gelangweilten Dame der besseren Gesellschaft malt de Lempicka die malerische und heiratsfähige Bäuerin in einem so faden und kitschigen Stil, dass man als Betrachter an die geschmacklosen und grellen Reproduktionen von Gemälden orientalischer Frauen erinnert wird, die Ladenketten in den 1950er Jahren in rauen Mengen verkauften. Tiefer konnte de Lempickas Kunst nicht mehr sinken und es war an der Zeit für eine radikale Veränderung. Von 1949 an, begann de Lempicka, wieder in Europa zu reisen. Ein Foto, das zu dieser Zeit von ihr gemacht wird, zeigt sie wieder in ihrem Atelier in der Rue Méchain. Das Art déco Interieur ist gleich geblieben, nur der Gipsabdruck eines klassischen Kopfes ist hinzugekommen. De Lempicka trägt ein langes New Look Abendkleid, das ihre Schultern frei lässt, und scheint an einem Bild zu arbeiten, das eindeutig ein Vorkriegsbild ist. Neben ihr steht das Bild Flucht aus dem Jahre 1940. Die späten 1940er Jahre waren die Zeit des Triumphs des Abstrakten Expressionismus. Für viele Kritiker gehörte Gestaltung der Vergangenheit an. Es brauchte einigen Mut und tiefe Überzeugung, gegen den Strom zu schwimmen und wie Balthus, Edward Hopper, Stanley Spencer und Lucian Freud weiterhin gestalterisch zu arbeiten. Andere Künstler, wie etwa Victor Passmore und de Lempicka, ergaben sich und sprangen auf den fahrenden Zug der Abstraktion auf. Beginnend mit dem Jahr 1953 bediente sich de Lempicka eines gleichzeitig weichen und kantigen Stils, der mehr der puristischen Abstraktion der 1920er Jahre glich, als etwas mit der gestischen, malerhaften Abstraktion des New Yorks der 1950er Jahre gemeinsam zu haben. Diese Bilder haben wieder etwas von der Dynamik und dem “modernen” Flair ihrer Werke aus den späten 20er und frühen 30er Jahren und sind glücklicherweise frei von jener rührseligen Sentimentalität, die ihre Arbeit seit den späten 30er Jahren verdorben hatte. Doch in den 50er Jahren machte de Lempickas “Modernität” bereits einen überholten Eindruck. Eine Reihe von Ausstellungen zwischen 1955 und 1961 in Paris, Mailand und New York stießen auf keinerlei Interesse. Ein weiterer radikaler Richtungswechsel in den 1960er Jahren brachte ebenfalls keinen Erfolg. De Lempicka kehrte zur figürlichen Malerei zurück. Die Arbeit mit fahlen, blassrosa Farben die mit einem Spachtel aufgetragen wurden, war eine Maltechnik, für die sie nicht die geringste Begabung hatte. Diese Werke der 60er Jahre scheinen eine Negation dessen darzustellen, was ihre besten Arbeiten ausgezeichnet hatte. Ein in den 60er Jahren gezeichneter Blick auf das verregnete Venedig trägt alle Eigenschaften eines banalen und billigen Touristensouvenirs oder einer Grußkarte.

Seite 118 Die Kaf feemühle, um 1941.

Öl auf Holz, 61 x 50,8 cm. Musée des Beaux-Arts de Nantes. Seite 119 Die Tür des Ateliers, 1941.

Öl auf Leinwand, 30,5 x 23 cm. Fundacion Victor Manuel Contreras. 119

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Seite 121 Stillleben, Zitronen und Teller, um 1942. Öl auf Leinwand, 55,9 x 45,7 cm. Sammlung von Herrn und Frau Dr. Richard Hirschberg.

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Schlimmer noch waren ihre Versuche, einige ihrer alten Motive in einem neuen Stil zu malen, wie etwa das Bild Mädchen mit Gitarre aus dem Jahre 1963. Die 1960er Jahre waren der Tiefpunkt in de Lempickas privatem und künstlerischem Leben. 1961 starb Baron Kuffner, der Tamara mehr als 30 Jahre lang uneingeschränkte Liebe und Schutz geboten hatte, auf einer Rückreise über den Atlantik. Nach den Misserfolgen verschiedener Ausstellungen stellte de Lempicka ihre Werke nicht mehr aus. Ihre Tochter Kizette berichtete Charles Phillips von Tamaras endgültiger Erniedrigung durch einen Kunsthändler aus Houston, dessen Interesse an ihrer Arbeit sie zu wecken versucht hatte: “Er sagte ihr höflich, dass ihn ihre Gemälde kalt ließen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, sie zu kaufen und in seiner Galerie auszustellen. Als er weg war, blieb Tamara für eine Weile ruhig vor dem Gemälde sitzen, an dem sie gerade arbeitete und das mitten im Raum auf einer Staffelei stand. Dann ging sie hinüber zum Tisch, wo ihre Tochter Kizette, absichtlich dem Blick ihrer Mutter ausweichend, Briefe öffnete. Tamara nahm den Brieföffner und attackierte wie berauscht die Leinwand, sie in lange, dünne Fetzen reißend. Sie sprach nie über diesen Vorfall.” Nach dem Tode Kuffners unternahm Tamara nacheinander drei Weltreisen. Danach verkaufte sie ihr Appartement in New York und zog nach Houston, um ihre Tochter um sich zu haben. Kizette hatte einen Geologen namens Harold Foxhall (genannt Foxy) geheiratet, der für Dow Chemical arbeitete. Von nun an musste Kizette die Rolle ihres verstorbenen Stiefvaters übernehmen und gleichzeitig Beschützerin, Sekretärin und Mädchen für alles für ihre herrschsüchtige Mutter spielen. Da Kizette de Lempicka-Foxhall die Hauptquelle für die Biografie von Charles Phillips war, die wahrscheinlich immer die authentischste Darstellung von Tamara de Lempickas Leben sowie ihrer schillernden und komplexen Persönlichkeit bleiben wird, ist es unvermeidlich, dass wir die turbulente Mutter-Tochter-Beziehung durch die Augen der Tochter sehen. Dennoch gibt es auch jede Menge untermauernde Berichte von Freunden und Bewunderern de Lempickas und es ist sogar in Tamaras eigenen Worten belegt, dass sie manchmal ein dominierendes und manipulierendes Monster sein konnte, und dass ihr Verhältnis zu ihrer Tochter in vieler Hinsicht ausfallend war. Wie eine Freundin von Mutter und Tochter es ausdrückte: “Alles was Tamara nicht mochte, änderte sie. Sogar ihre Tochter. ‚Ich mag deine Frisur nicht. Frisiere dich so. Zieh dir etwas anderes an. Du musst das tragen. Wenn du nicht etwas anderes anziehst, gehe ich nicht mit dir weg.’ Sie erlaubte niemanden, er oder sie selbst zu sein.” De Lempicka hatte niemals Muttergefühle und als ihre Tochter noch ein Kind war, hatte ihr Hauptinteresse an ihr – wenn sie sie nicht gerade ins Internat steckte – darin gelegen, sie für solch zweideutige Porträts wie Kizette auf dem Balkon aus dem Jahre 1927 oder Kizette in Rosa, das sie als Objekt pädophiler Begierde zeigt, oder das kranke Die Erstkommunikantin aus dem Jahre 1929 mit seiner gespielten Pietät Modell sitzen zu lassen. Selbst später scheint Tamara ihre Tochter als peinlich empfunden zu haben. Wenn Kizette ihre Mutter in New York besuchte, wurde sie anderen als ihre Schwester vorgestellt. Manchmal scheint de Lempicka zudem die böse Großmutter gewesen zu sein. Unter den zahlreichen Anekdoten ihres unfassbar schlechten Benehmens, sticht eine ganz besonders hervor und wäre hervorragend für das Drehbuch ihres Lebens geeignet. Als Kizettes Tochter Victoria (von Tamara Putti genannt) den Heiratsantrag eines jungen Argentiniers annahm, war Tamara außer sich vor Zorn darüber, dass sie nicht zuerst um Erlaubnis gefragt wurde. Die Rache kam am Tag des Hochzeitsempfangs: “Kizette hatte für nach der Zeremonie dutzende Gäste in ihr Haus in Rover Oaks eingeladen. Als es an jenem Morgen früh um zehn an der Tür klingelte und Kizette öffnete, stand dort die Frau des Kurators des Rice University Museums mit ihren zwei Töchtern und einigen Einkaufswagen. Tamara hatte dem Museum ihre komplette Sammlung antiken Geschirrs und Silbers, die Kizette bereits ordentlich aufgebaut hatte, gespendet, mit der einzigen Bedingung, dass

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Wendepunkt sie diese an diesem speziellen Morgen und zu keiner anderen Zeit abholten. Kizette musste den Partyservice anrufen und ihn bitten, alles notwendige Geschirr und Besteck mitzubringen”. Glücklicherweise endete de Lempickas Karriere nicht in Verbitterung und Unbedeutsamkeit, sondern in einer Art triumphaler Koda, denn sie erlebte noch die Wiederentdeckung ihrer früheren Kunst. Einhergehend mit dem Triumph der modernistischen Ästhetik beim Neubau der Städte nach dem Zweiten Weltkrieg, wurde der Art déco von den meisten Menschen mit dem “richtigen” Geschmack als stilistische Verirrung angesehen. Ironischerweise ging die groß angelegte Zerstörungsaktion von Gebäuden des Art déco in den 1960er und 70er Jahren einher mit einer Art Nostalgie und Wertschätzung dieses Stils. Da die Leute in den 50er und 60er Jahren immer häufiger zu Hause blieben, um Fernsehen zu schauen, gab es keinen Bedarf mehr für die großen Art déco Filmpaläste, die in den meisten Städten der augenscheinlichste und beliebteste Ausdruck des Art déco Stils waren. Doch während die Odeons, Paramounts und Roxys den Abrissbirnen zum Opfer fielen oder ihre prächtigen Interieurs verloren, um Platz für mehrere Leinwände zu machen, wurden am Sonntagnachmittag im Fernsehen alte Hollywoodfilme gezeigt, was ein neues Publikum für den Stil schaffte. Als Edgar Brandts wundervolle schmiedeeiserne Fahrstühle 1971 aus Sicherheitsgründen aus dem Selfridges Kaufhaus entfernt wurden, kamen sie direkt ins Museum. Gleiches geschah mit dem prachtvollen gläsernen und metallenen Art déco Foyer des Strand Palace Hotel (auch wenn das Victoria und Albert Museum mehr als dreißig Jahre benötigte, um es zu restaurieren und auszustellen). Als das Jazz-Moderne Firestone Gebäude von Wallis Gilbert an der aus London herausführenden Great West Road 1980 abgerissen wurde, führte dies zu öffentlicher Empörung. Bereits 1966 hatte das Museum der dekorativen Künste in Paris unter dem Namen Les Années ’25 eine bahnbrechende Ausstellung eröffnet. Nachdem das Interesse an der Pariser Exposition des Arts Décoratifs des Jahres 1925 und den ausgestellten Kunstwerken geweckt worden war, sollte es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch de Lempicka wieder entdeckt wurde, da Akademiker und Händler die Zeitschriften und Literatur jener Zeit durchforsteten und sahen, wie viel zu jener Zeit über sie geschrieben worden war. Einige französische Museumskuratoren bemerkten sogar, dass sie in ihren Lagerräumen bereits Originale von de Lempicka stehen hatten. 1969 begannen die vier jungen Pariser Kunsthändler Alain Blondel, seine Frau Françoise, ihre Schwester Michèle Roccaglia und deren Freund Yves Plantin, die gerade im Begriff waren, eine neue Galerie in dem gerade wieder belebten Viertel Les Halles zu eröffnen, darüber zu spekulieren, “was um alles in der Welt aus Tamara de Lempicka geworden war”. Im Telefonbuch war ihre Rue Méchain Adresse angegeben. Und durch einen glücklichen Zufall war sie gerade in Paris und arbeitete in ihrem Atelier, als Alain Blondel aus heiterem Himmel an ihrer Tür klingelte und sie bat, ihm ihre Arbeiten von vor vier Jahrzehnten zu zeigen. Für jemanden, der sich wahrscheinlich damit abgefunden hatte, in Vergessenheit geraten zu sein, muss dies eine aufwühlende Erfahrung gewesen sei. Und nur mit einigem Misstrauen und Bedenken erlaubte sie ihm, die Gesinderäume im siebenten Stock des Mallet-Steven Wohnblocks zu erforschen, wo sie ihre alten Arbeiten aufbewahrte. Tamara erlaubte Blondel, einige der Werke mitzunehmen, aber es sollte noch drei Jahre dauern, bis sie einer retrospektiven Ausstellung in Blondels und Plantins neuer Galerie du Luxembourg zustimmte, die ihren Ruf wiederherstellte. Beinahe alle Gemälde, die seitdem so berühmt und weit verbreitet wurden, waren Teil dieser Ausstellung, wie etwa das Porträt der Herzogin de La Salle, alle Porträts der Boucard Familie, das Porträt von Ira Perrot, La Belle Rafaëla, Adam und Eva, Die Frau mit grünem Handschuh, Nana de Herrera, das Porträt von Tadeusz Lempicki aus dem Jahre 1928, St. Moritz und das Selbstporträt am Steuer eines grünen Bugatti. Die Preise für de Lempickas Werk gingen bereits zu diesem Zeitpunkt in die Höhe, aber jeder, der bei dieser Ausstellung ein Werk erstand, tätigte eine sehr kluge Kapitalanlage, denn seitdem sind die Preise ins Exorbitante gestiegen.

Seite 122 Abstrakte Komposition in Rot und Blau I,

um 1953. Öl auf Leinwand, 40,5 x 30,5 cm. Privatsammlung. Seite 124 Die Lesende III (abstrakt), um 1956.

Öl auf Leinwand, 63,5 x 53,5 cm. Lempickas Erben. Seite 125 Surrealistische Hand, um 1947.

Öl auf Leinwand, 71,1 x 50,8 cm. Privatsammlung. 123

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Seite 126 Quattrocento, 1937. Öl auf Leinwand, 55 x 46 cm. Privatsammlung.

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Seite 127 Graziella, um 1937.

Öl auf Holz, 35 x 24 cm. Musée des Beaux-Arts du Havre.

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Seite 129 Amethyst, 1946. Öl auf Leinwand, 76,2 x 63,5 cm. Privatsammlung. 128

Der außergewöhnliche Erfolg dieser Ausstellung und die darauf folgenden Artikel in der Presse, machten Franco Maria Ricci auf de Lempicka aufmerksam. Ricci war Herausgeber des Kunstmagazins FMR, das durch sein Flair und die luxuriöse Aufmachung eine der herausragenden Publikationen jener Zeit war. Ricci schlug de Lempicka das vor, wovon jeder in Vergessenheit geratene Künstler nur träumen konnte – einen aufwendig produzierten und reich illustrierten Wälzer über ihr Lebenswerk. Es gab jedoch einen Haken an der Sache. Was de Lempicka nicht wusste, als sie diesem Unternehmen zustimmte, war, dass die Veröffentlichung auch einen gemeinen und detaillierten Bericht von Gabriele d’Annunzios erfolglosen Versuchen, de Lempicka in den 1920er Jahren zu verführen, enthalten würde, und zwar in Anlehnung an die Aufzeichnungen des Haushälterin und Geliebten des Dichters, Aelis Mazoyer. Es ist kaum verwunderlich, dass de Lempicka sich betrogen fühlte, doch als das Buch im Jahre 1977 herauskam, war ihr Ruf bereits durch die Annahme einer Spende ihrer Arbeit durch Europas prestigeträchtigstes und glamouröses Museum moderner Kunst am Centre Pompidou gefestigt. De Lempicka kam weitere acht Jahre in den Genuss ihres verspäteten Ruhmes, wenn “Genuss” das richtige Wort für jemanden ist, der so wenig daran gewöhnt war, die kleinen Freuden des Lebens zu genießen. Ihr Jähzorn im Umgang mit ihrer Familie und dem Rest der Welt war oft selbstzerstörerisch. 1973, zur Zeit des fabelhaften Erfolgs ihrer Ausstellung in der Galerie du Luxembourg, bot ihr die respektable Knoedler Galerie in New York an, ihre späteren Werke auszustellen. De Lempicka sabotierte das gesamte Unternehmen durch ihre maßlosen und gebieterischen Forderungen. In diesem Fall mag es aber auch daran gelegen haben, dass sie tief in ihrem Herzen spürte, dass ihre späteren Werke bei einem Vergleich mit ihren besten Arbeiten aus den 1920er und 30er Jahren schlecht weggekommen wären. Als ihre Beziehung zu Tochter und Enkeltöchtern immer angespannter wurde, verbrachte de Lempicka immer mehr Zeit außerhalb Houstons, im mexikanischen Ferienort Cuernavaca, wo sie sich schließlich auch ein Haus kaufte. In Cuernavaca ging de Lempicka eine intensive, jedoch platonische Beziehung zu dem mexikanischen Bildhauer Victor Contreras ein, der vierzig Jahr jünger als sie war. Bei all seiner Hingabe für diese stolze und faszinierende alte Dame, musste Contreras auch Zeuge ihres immer grausamer und unzumutbarer werdenden Verhaltens gegenüber ihrer Tochter Kizette werden – besonders in der Zeit als Kizette die schreckliche Qual durchmachte, ihren Mann mit Krebs im letzten Stadium zu pflegen. Tamara weigerte sich zu akzeptieren, dass Kizette die Pflege ihres Mannes an erste Stelle setzte und versuchte Kizette mit ständigen Änderungen ihres Testaments zu erpressen, nach Mexiko zu kommen und sie zu pflegen, anstatt bei ihrem Mann in Houston zu bleiben. Da Harold Foxhall vor Tamara starb, konnte sie ihre Drohung nicht wahr machen, Kizette komplett zu enterben, wenn diese nicht bei ihrem Tod bei ihr wäre. Trotzdem vererbte sie Victor Contreras ihr mexikanisches Haus, wahrscheinlich sowohl um ihre Tochter zu ärgern, als auch ihrer Zuneigung und Dankbarkeit für ihren mexikanischen Gefährten Ausdruck zu verleihen. Am 18. März 1980, nach Monaten der Gebrechlichkeit und, wie verlangt, Pflege durch ihre Tochter, starb Tamara de Lempicka. In der für sie charakteristischen Kontrollsucht, hatte sie alle Formalitäten ihrer Beerdigung und Einäscherung bereits selbst geregelt. Kurz vor ihrem Tod vertraute sie Victor Contreras an, dass ihre Asche in einer letzten theatralischen Geste über dem Krater des Vulkans Popocatepetl verstreut werden sollte. Victor Contreras gibt in de Lempickas Biografie einen lebhaften Bericht dieses Ereignisses: “Gegen Mittag versammelten sich alle im Cuernavaca Golf Club. Ein Viererspiel am neunten Loch schaute nach oben und war überrascht, einen Helikopter auf dem Grün landen zu sehen. Die zwei Gruppen beäugten sich ein wenig argwöhnisch. Als alle da waren … weigerte der Pilot sich, sie an Bord zu nehmen. ‚Wir werden sehr hoch fliegen und es wird starken Wind geben’, sagte er, ‚und wir können nicht mehr als zwei von Euch mitnehmen: den Maestro und

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Wendepunkt Senora Kizette. Sonst haben wir zu viel Gewicht. Sogar mein Copilot wird hier bleiben müssen.’ Auf halbem Weg zum Popocatepetl begann der Wind stärker zu werden. Dem Pilot fiel es schwer, den Helikopter ruhig nach oben zu bringen. Kizette hatte von Anfang an große Angst. Um ihr Mut zu machen, hatte Victor Kizette in Cuernavaca erzählt, dass er schon oft mit Helikoptern geflogen sei und er hatte diese Lüge aufrechterhalten, obwohl es offensichtlich war, dass auch er Todesängste ausstand. Am Ende konnte selbst der Pilot es nicht mehr aushalten: ‚Ich werde nicht über den Vulkan fliegen’, sagte er ihnen. ‚Es ist einfach zu gefährlich. Wir werden das nicht überleben.’ ‚Können Sie uns um den Krater herum fliegen?’, fragte der erblasste Contreras. Der Pilot stimmte zu. Als der Helikopter um die schneebedeckte Kuppe des Popocatepetl strauchelte und die helle Sonne sich in seinem Propeller, dem Plexiglas und den polierten metallenen Seiten reflektierte (ein Detail, dass Tamara in den Tagen ihres Art déco Ruhmes geliebt hätte!), zog Victor einen Beutel aus Satin aus der Urne und streute die Asche in den Abwind, der den Helikopter dichter und dichter an den Vulkan drückte. Victor wollte den lilafarbenen Beutel nicht loslassen, aber er konnte ihn nicht festhalten. Er hatte immer noch die Urne in seinem Schoß. Er schaute Kizette mit einem fragenden Blick an, denn Sprache war in diesem Getöse von Wind und Maschine sinnlos. Kizette nickte und er warf die Urne nach draußen. Sie beobachteten, wie sie in Richtung der dunkelgrünen Baumgipfel weiter unten fiel.” So hatte Kizette also endlich den Geist ihrer dominierenden Mutter vertrieben. Wie gut war Tamara de Lempicka als Künstlerin? Sollen wir den hochnäsigen, missbilligenden Kritikern Glauben schenken, die ihre Kunst als trügerisch und kurzlebig ablehnen oder den berühmten Sammlern und der weiteren Öffentlichkeit, die ihre Werke bewundernswert und faszinierend finden? Ein Teil des Problems liegt in der verbreiteten Tendenz, Dinge von ihr zu verlangen, die sie nicht geben wollte. Sie bietet nicht die Tiefgründigkeit Rembrandts, die Aufrichtigkeit von Velazquez oder die Deutlichkeit und Spontaneität eines Frans Hals. Sie gehört zu einer anderen Tradition höfischer Porträtmalerei, die über Ingres und van Dycks englische und genuesische Porträts auf die eisig schönen Medici Hofporträts von Bronzino aus dem 16. Jahrhundert zurückgeht. Diese Künstler sind mehr an Schönheit als an Wahrhaftigkeit interessiert und sie malen nicht nur Porträts von Personen, sondern auch Porträts eines Milieus. De Lempickas Eklektizismus stellt für manche ein weiteres Problem dar. Sicherlich ist ihre Kunst nicht besonders originell oder sogar bahnbrechend und sie bediente sich gern am Werk anderer Künstler. Man fühlt sich an Picassos berühmten Ausspruch erinnert: “Nur schlechte Künstler kopieren. Gute Künstler stehlen.” Nach diesem Kriterium beurteilt, ist de Lempicka in der Tat eine sehr gute Künstlerin. Was sie nimmt, macht sie sich auch zu eigen. Das von ihr Kopierte ist in einem Stil verschmolzen, der völlig individuell und sofort erkennbar ist, auch wenn er noch so einfach zu kopieren ist. Und es gibt noch ein Problem. In ihrer Art déco Phase malte de Lempicka in einer Manier, die verlockend einfach nachzumachen scheint. Jeder, der in den letzten Jahren die Pariser Flohmärkte besucht hat, wird bemerkt haben, dass de Lempicka eine der am häufigsten nachgeahmten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts geworden ist. Nichts schadet dem Ruf eines Künstlers mehr als Nachahmung und all zu große Vertrautheit – und Tamara de Lempicka hat unter beidem zu leiden. Schließlich scheint es de Lempickas größte Leistung gewesen zu sein, dass sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort etwas über eine bestimmte soziale Klasse zu erzählen hatte, das niemand anders auf die gleiche einprägsame Weise ausdrücken konnte. Ebenso wie Van Dyck uns ein Bild des Englands unter Charles I. gab und Otto Dix das der Berliner Bevölkerung zur Zeit der Weimarer Republik, hat Tamara de Lempicka uns Bilder geschenkt, die immer wieder das Paris der Années Folles heraufbeschwören werden. Die missbilligenden Kritiker werden sich daran gewöhnen müssen, dass Tamara ihren Platz nicht räumen wird.

Seite 130 Bettler mit Mandoline, 1935.

Öl auf Leinwand, 67 x 51 cm. Musée départemental de l’Oise, Beauvais. 131

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Porträt eines Polospielers um 1922 Öl auf Leinwand, 73 x 60 cm Barry Friedman Ltd., New York

Obwohl nicht unmittelbar als Werk Tamara de Lempickas erkennbar, stellt dieses Porträt doch für eine junge Künstlerin, die erst so kurz davor begonnen hat, in ihrem Beruf zu arbeiten, ein bemerkenswertes Werk dar. In ihren Memoiren, auf die nicht immer Verlass ist, stellt es de Lempicka später so dar, als ob sie ihre Entscheidung, Künstlerin zu werden, willkürlich und eher aus finanziellen Motiven getroffen hätte. Sie behauptete, dass sie auf einen Vorschlag ihrer jüngeren Schwester hin wegen ihrer zerrütteten Ehe und des Mangels an Geld gehandelt habe. De Lempicka war für kurze Zeit Schülerin des bedeutenden früheren Mitglieds der Nabis Gruppe, Maurice Denis, und danach des viel jüngeren und moderneren André Lhote. Beide Lehrer lehrten sie Ingres und Cézanne zu respektieren und Lhote machte sie mit Sicherheit mit einer dekorativen Version des Kubismus bekannt. Weder die glatte Linearität Ingres’ noch die Winkligkeit und fragmentierten Räume des Kubismus, die später ihre beste Arbeit auszeichnen würden, sind in diesem Porträt schon auszumachen. Man kann jedoch einen einigermaßen abgeschwächten Einfluss Cézannes erkennen. Der junge Polospieler ist Teil einer eleganten und privilegierten Welt, die de Lempicka anstrebt und zu der sie dank ihrer Fähigkeiten als Porträtistin bald gehören würde.

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Perspektive (Zwei Freundinnen) 1923 Öl auf Leinwand, 130 x 162 cm Musée du Petit Palais, Genf

Auf Drängen ihres Lehrers André Lhote und des Schriftstellers André Gide, dessen Freundschaft sie in dem überwiegend lesbischen Literatursalon der Amerikanerin Nathalie Barney gewann, stellte de Lempicka 1923 dieses große Bild auf dem Salon d’Automne aus. Dieser war 1904 ins Leben gerufen worden, um den progressiven künstlerischen Tendenzen, die in den älteren, offiziellen Salons nicht angenommen wurden, eine Plattform zu bieten, und hatte die Geburt des Fauvismus und einiger Variationen des Kubismus erlebt. “Perspektive” stellte ein eindrucksvolles Debüt für eine Künstlerin dar, die erst vor ein paar Jahren damit begonnen hatte, sich ernsthaft mit dem Studium der Kunst auseinander zu setzen. Auf den ersten Blick erkennen wir de Lempickas Strategie, das Neue und das Alte zu verschmelzen, das Akademische und Avantgardistische. Dem akademischen Akt wird eine kubistische “Überarbeitung” verpasst, auch wenn man das Bild vielleicht eher als “kubifiziert” denn als kubistisch bezeichnen sollte. De Lempicka kann nie wirklich an der theoretischen Basis des Kubismus interessiert gewesen sein. Der Lippenstift, das Make-up der Augen und die Frisuren verhelfen dem Bild zu mehr Aktualität. Die lesbische Thematik jedoch, bisher fast unbekannt in der französischen Malerei (es gibt hier offensichtliche Parallelen zu Courbets Die Schlafenden und Ingres’ Türkisches Bad), muss in den zwanziger Jahren provokativ und chic gewirkt haben.

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Meisterwerke

Porträt von André Gide um 1925 Öl auf Karton, 50 x 35 cm. J. Nicholson, Beverly Hills, Kalifornien.

Während ihrer Jahre in Paris machte de Lempicka Bekanntschaft mit vielen literarischen Persönlichkeiten wie Marinetti, Colette, Gide und Cocteau. Ihr Vorhaben, ein Porträt des berühmten italienischen Poeten Gabriele d’Annunzio anzufertigen, scheiterte an ihrer fehlgeschlagenen Liebesaffäre. De Lempicka scheint nie Jean Cocteau gemalt zu haben, welcher sich doch als ein solch unvergessliches Objekt für die lesbische Porträtistin Romaine Brooks herausgestellt hatte. De Lempickas Bild einer großen intellektuellen und literarischen Gestalt bleibt einzigartig unter ihren Porträts. Zu der Zeit, als de Lempicka sich mit Gide im literarischen Salon Nathalie Barneys traf, war dieser schon in seinen Mitfünfzigern und wurde als “Grand Old Man” der französischen Literatur angesehen. Im folgenden Jahr sollte er seine Autobiografie “Si le grain ne meurt” publizieren (auch wenn es zwei weitere Jahrzehnte dauern sollte, bis er den Nobelpreis für Literatur bekam). Wie auch später ihrem zweiten Ehemann, Baron Kuffner, erweist de Lempicka Gide die Ehre, sich vollständig auf sein Gesicht zu konzentrieren – ohne ablenkende Staffagen oder Dekorationen. Seine ausdruckslosen, mit gewaltigen Brauen versehenen Augen lassen das Gesicht wie eine Maske der Tragik erscheinen.

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Porträt des Marquis d’Afflito 1925 Öl auf Leinwand, 116 x 73 cm Privatsammlung

Genauso wie der jungenhafte Charme des “Flappers” mit seinem Pagenschnitt und der bleistiftdünnen Figur in vielen beliebten Liedern der zwanziger Jahre gefeiert wurde, so zelebrierte man die doppeldeutige Attraktivität des Gigolos und des verweiblichten Mannes in Liedern wie “C’est mon gigolo” und “Ich küsse Ihre Hand, Madame”. Um die Geschlechtsverwirrung noch zu vergrößern, war es üblich, dass männliche Sänger an Männer gerichtete Liebeslieder wie “The man I love” sangen und aufnahmen. Selbst der berühmte Operntenor Richard Tauber nahm 1929 eine elegante Version von “C’est mon gigolo” auf. Die Art hübscher, schlanker junger Männer mit geglättetem Haar und einem Hauch von Make-up wurde in französischen Filmen von Henri Garat repräsentiert, der als “Le Prince Charmant” öffentlich bekannt wurde und in den frühen 1930er Jahren eine Zeit lang eine immense Popularität erreichte. Trotz seines aristokratischen Titels scheint der Marquis d’Afflito im ersten der zwei Porträts, die de Lempicka von ihm anfertigte, eher in die Kategorie narzisstischer und feminisierter junger Männer zu fallen. Die zurückgelehnte Haltung, sehr ungewöhnlich für männliche Porträts, verstärkt den Eindruck sexueller Zweideutigkeit noch.

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Meisterwerke

Porträt der Herzogin de La Salle 1925 Öl auf Leinwand, 162 x 97 cm Privatsammlung

Das Porträt der Herzogin de La Salle ist eines der bedeutendsten Werke de Lempickas. Das längliche Format, die traditionellen Streifen des Vorhangs sowie die klassische Säule legen Vergleiche mit höfischen und aristokratischen Porträts des 16. und 17. Jahrhunderts nahe, auch wenn das “kubifizierte”, im Hintergrund elektrisch beleuchtete nächtliche Stadtbild, die Pagenfrisur der Herzogin und ihre wagemutig maskuline Kleidung das Bild eindeutig dem zwanzigsten Jahrhundert zuordnen lassen. Mit ihrem robusten Körperbau, ihrem bedrohlich erscheinenden Gesichtsausdruck und der ebenso wirkenden Körperhaltung ist die Herzogin ein Musterbeispiel der “amazonischen” oder “maskulinen” Lesbe. Als de Lempicka dieses provokative Bild in einer Werbefotografie auffällig hinter dem Bett ihres Schlafzimmers platzierte, hatte sie damit eindeutig die Absicht, ihre eigene Bisexualität und sexuelle Freizügigkeit zur Schau zu stellen. Das Porträt der Herzogin de La Salle wurde 1925 in der ersten für de Lempickas Ruf bedeutenden Ausstellung in der Bottega de Poesia in Mailand gezeigt.

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Zwei kleine Mädchen mit Schleifen 1925 Öl auf Leinwand, 100 x 73 cm Sammlung von Herrn Dr. George und Frau Vivian Dean

Obwohl sie während der Zeit ihrer größten Kreativität Mutter eines kleinen Kindes war, fehlt Tamara de Lempickas Darstellungen von Kindern merkwürdigerweise jegliche Spur mütterlicher Zärtlichkeit, die wir in denen anderer Malerinnen wie Berthe Morisot und Käthe Kollwitz finden. Selbst ihr 1928 gemaltes Bild einer jungen, ihr Kind stillenden Mutter, wirkt auf seltsame Weise nicht überzeugend. Sie scheint mehr Aufmerksamkeit darauf zu richten, ihre sich elegant verjüngenden Finger zur Schau zu stellen, als ihr Kind zu halten. Die zelebrierte Häuslichkeit einer Künstlerin wie Mary Cassatt (die ironischerweise weder verheiratet war noch Kinder großgezogen hat) war de Lempicka völlig fremd. De Lempicka malt niemals Jungen, nur Mädchen, vom Kleinkind bis hin zur Jugendlichen. Die zwei kleinen Mädchen mit ihren Schleifen sind zukünftige Verführerinnen. Ihre Körpersprache und ihr Gesichtsausdruck zeugen von einem außergewöhnlichen sexuellen Bewusstsein. Durch die Wahl einer niedrigen Perspektive und das Füllen der gesamten Leinwand mit ihren Gestalten lässt sie sie wie junge Riesinnen erscheinen. Sie wirken eher machtvoll als verwundbar, wie man es eigentlich von Kindern ihres Alters erwarten würde.

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Porträt seiner kaiserlichen Hoheit des Großfürsten Gabriel 1926 Öl auf Leinwand, 116 x 65 cm Privatsammlung

Während ihres gesamten Lebens war Tamara de Lempicka ein Snob. Glaubt man ihrer Tochter Kizette de Lempicka-Foxhall, so war sie lediglich an Menschen interessiert, die sie selbst als “die Besten, die Reichen, die Machtvollen und die Erfolgreichen” bezeichnete. Zweifellos haben ihre Gemälde der Armen und Geplagten etwas Herablassendes und wenig Überzeugendes an sich. Nach ihrer zweiten Ehe sonnte sie sich in dem Titel, den sie mit ihr erlangt hatte. Ein großer Teil ihrer Porträts von Männern sind Porträts Adeliger. Gleichzeitig war de Lempicka wichtigen Persönlichkeiten gegenüber unerschrocken und brachte es fertig, dem spanischen König während einer Porträtsitzung vorzuwerfen, er redete zu viel. Auch seine kaiserliche Hoheit der Großherzog Gabriel scheint mit diesem alles andere als schmeichelhaften Bildnis von de Lempicka eher schlecht wegzukommen. Trotz oder vielleicht wegen seiner prächtigen Uniform tritt er uns eher aufgeplustert und arrogant denn als natürliche Führungspersönlichkeit gegenüber.

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Kizette auf dem Balkon 1927 Öl auf Leinwand, 130 x 81 cm Musée National d'Art Moderne, Paris

De Lempickas Tochter Kizette war eines ihrer häufigsten Modelle. In den arbeitsreichsten Jahren der Karriere der Künstlerin stellte das Modellsitzen oft die einzige Möglichkeit Kizettes dar, Zeit und Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu lenken. Vielbewundert zu dieser Zeit, gewann “Kizette auf dem Balkon” 1927 den ersten Preis auf der Exposition Internationale des Beaux-Arts in Bordeaux und “Kizette in Rosa” wurde 1938 vom Musée des Beaux-Arts in Nantes erworben. Mit neuzeitlichen Augen betrachtet, haben dieser “Komm zu mir”-Ausdruck und die provozierend entblößten Beine eine beunruhigende Ähnlichkeit mit pädophilen Pin-ups. Es scheint außergewöhnlich, dass die Mutter das Motiv ihres eigenen Kindes auf solche Weise ausbeuten würde. In “Kizette auf dem Balkon” verstärkt die Schiefwinkligkeit des nächtlichen Stadtbildes, eher expressionistisch als kubistisch, diese Verdorbenheit noch.

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La Belle Rafaëla in Grün um 1927 Öl auf Leinwand, 38 x 61 cm Privatsammlung, Paris

“La Belle Rafaëla” ist eines von de Lempickas eindrucksvollsten und sinnlichsten Aktbildern. Die steile Perspektive soll die abstrakten Formen des Modells betonen und erweckt einen Eindruck von Voyeurismus. Der Betrachter scheint am Fuß von Rafaelas Bett zu stehen. Die Art und Weise, in der ihre Unterschenkel vom roten Stoff abgeschnitten werden, steigert zusätzlich ihre erotische Wirkung. Mit dem über ihren Kopf gelegten Arm und ihrer rechten, ihre Brustwarze liebkosenden Hand scheint Rafaëla gedankenverloren in erotischen Träumereien zu schwelgen. Wie Marilyn Monroe, die behauptete, im Bett Chanel No. 5 zu tragen, ist dieses Mädchen nur mit ihrem Lippenstift bekleidet und scheint damit suggerieren zu wollen, dass sie nicht für lange Zeit allein zu bleiben gedenkt. De Lempicka griff Rafaëla im Bois de Boulogne, einem berüchtigten Ort für Prostituierte, auf und sagte über sie: “Sie ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe – riesige schwarze Augen, ein wunderschöner sinnlicher Mund, ein bewundernswerter Körper… Jede Pose war Kunst – Perfektion und ich begann, sie zu malen, und malte sie über ein Jahr lang.”

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Meisterwerke

Andromeda 1927-1928 Öl auf Leinwand, 100 x 65 cm Privatsammlung

“Andromeda” kann als Hommage an Ingres angesehen werden, der während de Lempickas besten Zeiten einen anhaltenden Einfluss auf ihre Arbeit ausübte. Zu seinen Lebzeiten und während des größten Teils des 19. Jahrhunderts wurde Ingres von vielen fortschrittlichen Künstlern und Kritikern als konservativ und rückschrittlich abgelehnt. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg allerdings wurde er zu einer Art Kultfigur Pablo Picassos, der Leitfigur der Pariser Avantgarde, welcher ihm eine leidenschaftliche Bewunderung entgegenbrachte. Picassos Strichzeichnungsporträts und seine Gemälde monumentaler weiblicher Persönlichkeiten der 20er Jahre wie auch die erotisch verzerrten Aktmalereien der frühen 30er Jahre, zu denen er von seiner Affäre mit Marie Therese Walter inspiriert wurde, bringen Ingres gegenüber ganz offensichtlich Respekt zum Ausdruck. Die nach oben gerichteten Augen, der kropfartige, unnatürlich nach hinten gebogene Hals und die allgemeine Stimmung träger Passivität beziehen sich speziell auf Ingres’ Gemälde von Roger und Angelica, das im Salon von 1819 ausgestellt wurde. Die Andromeda der griechischen Mythologie war an einen Felsen gekettet, um einem Meeresmonster geopfert zu werden. Mit ihren scharlachrot geschminkten Lippen, ihrem elegant frisierten Haar und vor einem städtischen Hintergrund dargestellt, erscheint de Lempickas Andromeda dagegen eher als Teilnehmerin einer sadomasochistischen Orgie.

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Meisterwerke

Porträt von Arlette Boucard 1928 Öl auf Leinwand, 70 x 130 cm Privatsammlung

Das Porträt von Mademoiselle Boucard war das erste von drei Familienporträts, die Dr. Boucard in den Jahren 1928 bis 1931 in Auftrag gab. Die drei Porträts von Mutter, Vater und der heranwachsenden Tochter legen unausweichlich Vergleiche mit den Porträts von Monsieur, Madame und Mademoiselle Rivière nahe, mit denen Ingres seine Karriere als aktueller Porträtmaler begann. Der Einfluss seines kalten Perfektionismus auf de Lempicka ist offensichtlich und wurde von Anfang an kommentiert. Ein Vergleich der Porträts von Mlle. Rivière und Mlle. Boucards lässt jedoch die soziale und moralische Kluft deutlich werden, die zwischen der Bourgeoisie des Napoleonischen Paris und dem der “Années Folles” herrschte. Arlette Boucard hat nichts von der jungfräulichen Unschuld und der zerbrechlichen Anmut Mlle. Rivières an sich. Ihre blasse pinkblaue Kleidung und das Fehlen von Lippenstift und Nagellack, die zum Repertoire von de Lempickas Porträts erwachsener Frauen gehören, mögen eine jugendliche Zartheit nahe legen wollen, doch ihr harter und der Welt überdrüssiger starrender Ausdruck erzählt eine andere Geschichte.

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Porträt des Baron Kuffner 1928 Öl auf Holz, 35 x 27 cm Musée National d’Art Moderne

Der wohlhabende mitteleuropäische Baron Raoul Kuffner trat in Tamara de Lempickas Leben als Förderer und Bewunderer ihrer Arbeit. 1928 gab er ihr den Auftrag, seine Geliebte, die bekannte spanische Tänzerin Nana de Herrera zu malen. Obwohl Tamara schon bald die unglückliche Nana in der Zuneigung des Barons verdrängte, sah er sich erst nach dem Tod seiner ersten Frau im Jahr 1933 in der Lage, um die Hand Tamaras anzuhalten. Diese zögerte, bevor sie sich auf eine zweite Heirat einließ, die sich jedoch als ideales Arrangement herausstellen sollte. Der Baron wurde zu ihrem Beschützer in jeglichem Sinne des Wortes und gestattete ihr bemerkenswerte persönliche und professionelle Freiheiten. De Lempicka fuhr bis zum Ende ihrer Karriere fort, ihre Werke mit dem Namen ihres ersten Ehemannes zu unterzeichnen. Mit Beginn ihrer zweiten Ehe gab sie es praktisch auf, Auftragswerke zu malen. Dies war teilweise darauf zurückzuführen, dass sie nicht mehr auf finanzielle Mittel angewiesen war, aber auch ein Zeichen dafür, dass sie den Zenit ihrer Popularität überschritten hatte und ihre Art der Porträtmalerei nicht mehr en vogue war.

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Meisterwerke

Porträt des Dr. Boucard 1928 Öl auf Leinwand, 135 x 75 cm Privatsammlung

Die verdrehte contrapposto Pose, die de Lempicka in so vielen ihrer weiblichen Porträts nutzt, um hemmungslose Sinnlichkeit zu suggerieren, wendet sie hier an, um einen Eindruck von Kraft und Stärke zu vermitteln. Dr. Boucard scheint ein Schauspieler zu sein, der einen bedeutenden Arzt oder Wissenschaftler darstellt. Er könnte einer von Hollywoods eleganten und reiferen männlichen Stars wie Ronald Coleman, Warner Baxter oder William Powel sein. Die übertrieben gepolsterten Schultern seines weißen Mantels, die Krawattennadel mit Perle, der perfekt getrimmte Oberlippenbart und die grauen Strähnen, die kunstvoll in sein Haar eingebürstet worden sein mögen, verhelfen ihm zu einer äußerst dandyhaften Erscheinung. Das glänzende Mikroskop und das Reagenzglas werden als Attribute seines Berufes oder seiner Interessen dargestellt, genau so, wie sie es auch in einem Porträt eines fürstlichen Sammlers der Renaissance üblich gewesen wäre. Dr. Boucards Erfindung seines patentierten Heilmittels “Lacteol” verhalf ihm zu immensem Reichtum und ermöglichte es ihm, mehrere Jahre während des Höhepunkts ihrer Karriere de Lempickas großzügigster Förderer zu sein.

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Meisterwerke

Tadeusz de Lempicki (unvollendet) 1928 Öl auf Leinwand, 130 x 81 cm Musée National d’Art Moderne, Paris, aufbewahrt im Musée des Années Trente, Boulogne-Billancourt.

Als vielleicht subtilstes und psychologisch komplexestes ihrer Gemälde ist dieses Porträt von Tamaras erstem Ehemann ein bitteres Resümee ihrer Ehe, die doch, zumindest aus ihrer Sicht, als eine Liebesheirat begonnen hatte. Trotz ihrer eigenen schamlosen Untreue und den Erniedrigungen, die sie Tadeusz de Lempicki zufügte, war Tamara außer sich vor Zorn, als er sie 1928 wegen einer anderen Frau verließ. Sie brachte ihre Empörung und ihre Verachtung für ihn zum Ausdruck, indem sie die linke Hand (an der er den Ehering trug) unvollendet ließ und das Bild so ausstellte. Tamara hat in diesem Bild sowohl das aufreizend gute Aussehen als auch den Argwohn eines verbitterten Mannes eingefangen.

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Meisterwerke

Die Erstkommunikantin 1928 Öl auf Leinwand, 100 x 65 cm Musée des Beaux-Arts de Roubaix

Bald nach ihrer zweiten Heirat Mitte der 1930er Jahre durchlitt de Lempicka eine Art religiöser Krise. Diese mag nicht mehr als die Panik einer einst schönen Frau gewesen sein, welche realisieren muss, dass sie sich nicht länger auf ihre physische Attraktivität verlassen kann, um im Leben das zu bekommen, was sie will. Gewiss ist in den vielen Abhandlungen religiöser Themen de Lempickas nichts zu erkennen, was darauf schließen ließe, dass ihre Spiritualität über eine rein ästhetische Pose hinausging. Die Erstkommunion eines jungen Mädchens (nie die eines Jungen) stellte seit dem neunzehnten Jahrhundert eine populäre und sentimentale Wahl des Themas eines Gemäldes dar. Abgesehen von einer irgendwie krankhaften Sinnlichkeit bringt de Lempickas Bild hier keinerlei Neuerungen. Die nach oben gerichteten Augen und der sehnsüchtige Ausdruck ihrer Tochter Kizette unterscheiden sich nicht wesentlich von den ekstatischen Posen ihrer Aktmodelle und ihrer lesbischen Paare.

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Meisterwerke

Nana de Herrera 1928-1929 Öl auf Leinwand, 121 x 64 cm Privatsammlung

Das Porträt Nana de Herreras ist außergewöhnlich unter de Lempickas Arbeiten in der Hinsicht, dass es eher karikaturistischer denn der Person schmeichelnder Natur ist. Das Element des Grotesken in diesem Porträt erinnert an zeitgenössische Berliner Künstler wie Otto Dix. Die Abneigung de Lempickas gegenüber dem Modell wird auch aus der viele Jahre später erfolgten langatmigen mündlichen Beschreibung des Modells deutlich. Ob es jetzt schon in ihrem Kopf vorging oder nicht, so sollte de Lempicka schon bald Nana de Herrera in der Gunst des Barons Raoul Kuffner, dem Auftraggeber des Porträts, als Liebhaberin und später als Ehefrau verdrängen. Wie in vielen ihrer Aktbilder von Frauen legt de Lempicka auf eine ihr eigentümliche Weise besonderen Wert auf die knöcherne Form der Knie – eigentlich nicht der aufregendste oder ästhetisch ansprechendste Teil des weiblichen Körpers. De Lempickas Darstellung Nana de Herreras grober Gesichtszüge und wulstiger Lippen lassen kaum die geschmeidige Grazie der berühmten Sängerin erkennen, deren Figur so viele Jahre die Päckchen der Gitane-Zigaretten schmückte.

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Meisterwerke

Porträt der Mrs. Bush 1929 Öl auf Leinwand, 122 x 66 cm Privatsammlung

Der Auftrag, die Braut des wohlhabenden jungen Amerikaners Rufus Bush zu malen, bedeutete für de Lempicka nicht nur das Vierfache ihres üblichen Honorars, sondern verschaffte ihr dazu erstmalig die Möglichkeit, auf die andere Seite des Atlantiks zu gelangen. Wie für viele Europäer der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war die Lebhaftigkeit New Yorks und der Anblick seiner spektakulären Skyline eine Offenbarung für die Künstlerin. Als verwöhnter Gast der Familie Bush war es de Lempicka kurze Zeit vergönnt, New York in all seinem Glanz des Jazz-Age und der Prohibition zu erleben. Der Börsencrash, der einem Jahrzehnt der Ausgelassenheit ein Ende bereitete, ereignete sich zu der Zeit, als de Lempicka sich in New York aufhielt. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Tamaras Karriere einen anderen Verlauf genommen hätte, wäre der Nachschub wohlhabender New Yorker, die sich für viel Geld porträtieren lassen wollten, nicht so schnell zum Erliegen gekommen. So jedoch kehrte sie nach wenigen Monaten nach Paris zurück. Die Ikonografie von Manhattans Stadtbild aber sollte in den nächsten Jahren ein allgegenwärtiger Teil ihres Repertoires werden. Als die Beziehung der frisch Verheirateten schnell zerrüttete, führte dies dazu, dass dieses Porträt der modebewussten, knabenhaften Mrs. Bush weggestellt wurde und für mehr als ein halbes Jahrhundert aus der Öffentlichkeit verschwand.

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Meisterwerke

Selbstporträt (Tamara im Grünen Bugatti) 1929 Öl auf Holz, 35 x 27 cm Privatsammlung

Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts wurde dieses Porträt zu einem sehr berühmten und vielfach reproduzierten Gemälde. Es ist kein Porträt im Sinne einer Darstellung einer individuellen Frau und recht unwahrscheinlich, dass irgendjemand de Lempicka auf der Straße aufgrund dieses hochstilisierten Bildes wieder erkannt hätte. Es ist vielmehr ein Porträt einer Epoche und speziell einer Art von Frau, die in dieser Epoche ins Blickfeld geriet. Durch die drastische Art und Weise, auf die der Erste Weltkrieg eine ganze Generation junger Männer niedergemetzelt hat, trug dieser wahrscheinlich mehr zum Fortschritt und zur Emanzipation der Frau bei als sonst ein Ereignis in der Geschichte. In den “Roaring Twenties” stellte das Automobil für diejenigen, die es sich leisten konnten, das höchste Symbol weiblicher Emanzipation dar. De Lempickas eigene Darstellung, wie sie die schöne Rafaëla im Bois de Boulogne auflas und mit ihr zu ihrem Atelier zurückfuhr, ist ein Beispiel dafür, wie sehr das Auto ein Hilfsmittel zur sexuellen Unabhängigkeit sein konnte.

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Meisterwerke

St. Moritz 1929 Öl auf Holz, 35 x 27 cm Musée des Beaux-Arts d’Orléans

Als der berühmte Pariser Modeschöpfer Paul Poiret sich vom gepolsterten und geschnürten Look der Belle Epoque zugunsten einer knapperen, geschmeidigeren, teils von den Tänzern des Russischen Balletts inspirierten Mode abwandte, kam dies einer Revolution in der Mode gleich, die zahlreiche unerwartete Konsequenzen mit sich brachte. Auf der einen Seite schien das Über-Bord-Werfen des Fischbeines und der Polsterung ein großer Schritt in Richtung sexueller Freiheit für das weibliche Geschlecht. Auf der anderen Seite begannen damit, wie die üppig gebaute Sopransängerin Frances Alda bedauernd in ihren Memoiren “Männer, Frauen und Tenöre” bemerkte, Diät und Leibesübungen einen täglichen Platz im Tagesablauf der Frauen einzunehmen, die ihre modebewusste Figur erhalten wollten. In den zwanziger Jahren wurde Sport sexy. Zum ersten Mal wurden sportliche Frauen, wie die Tennisspielerin und sechsmalige Wimbledonsiegerin Suzanne Lenglen, zu gefeierten Vorbildern anderer Frauen. Passende Kleidung zum Skifahren, Reiten, Schwimmen und Tennis dominierten die Seiten der Modemagazine. Diese Darstellung einer eleganten Skifahrerin, die ein Selbstporträt in Brünett zu sein scheint, wurde für das Cover der deutschen Modezeitschrift “Die Dame” gemalt.

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Meisterwerke

Porträt der Ira P. 1930 Öl auf Holz, 99 x 65 cm Privatsammlung

Dieses Porträt von de Lempickas Freundin, Liebhaberin und Nachbarin Ira Perrot malte sie gegen Ende ihrer turbulenten Beziehung. In späteren Jahren sollte de Lempicka in Erinnerungen an die Schönheit Iras herrlicher Brüste schwelgen. Seltsamerweise scheint sie ihnen in diesem Porträt eher auszuweichen und versteckt sie hinter dem vor dem Körper gekreuzten Arm. Selbst ohne die Hervorhebung Ira Perrots wichtigster körperlicher Reize vermittelt das Porträt durch ihren lasziven Ausdruck und ihre contrapposto Haltung, in der sie sich von der oberen rechten bis in die untere linke Ecke der Leinwand windet, wie auch durch die suggestive Form der Callas ein Gefühl klaustrophobischer Wollüstigkeit. Die gekünstelt wirkende Haltung der Hände erscheint so konzipiert, um ihren blutroten Nagellack und die Fertigkeit ihrer Maniküre zur Schau zu stellen. Wie in vielen Porträts dieser Zeit nutzt de Lempicka den Faltenwurf als füllendes und Raum einnehmendes Element.

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Meisterwerke

Porträt der Mrs. Allan Bott 1930 Öl auf Leinwand, 162 x 97 cm Privatsammlung

Das Porträt von Mrs. Allan Bott ist ein Beispiel von de Lempickas Fähigkeit, vollständige Bekleidung sexuell anziehender und suggestiver wirken zu lassen als Nacktheit. Mrs. Botts dünnes und durchscheinendes Kleid enthüllt und betont jedes Detail ihres geschmeidigen jungen Körpers. Die Kombination eines heruntergefallenen Pelzmantels und eines wenig Verhüllung oder Wärme spendenden Kleides, ist besonders provokativ. Die geschwungenen und anmutigen Kurven ihres Körpers, die denen von Ira Perrot gleichen und in einem sitzendem Porträt nicht realisierbar gewesen wären, zeigen, dass de Lempicka wie Ingres beträchtliche Fähigkeiten in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper hatte. Das schmale vertikale Format der Leinwand und der Hintergrund mit Manhattans Wolkenkratzern verstärken noch die Betonung von Mrs. Botts Körper als dem eines Supermodels.

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Schlafendes Mädchen 1930 Öl auf Holz, 35 x 27 cm. Sammlung von Daniel Fischel und Sylvia Neil

Die Thematik schlafender und erotischer Träumerei ist häufig in de Lempickas Arbeiten anzutreffen. Diese Themen haben eine lange Tradition in der westlichen Kunst, die bis in die antike Welt zurückgeht. Nahezu immer ist es eine Frau, die in einem Zustand passiver und sinnlicher Träumerei dargestellt wird (auch wenn sehr seltene Ausnahmen dieser Regel existieren, wie die des hellenistischen Barbarini Faun und einige Darstellungen Endymions, der in einen permanenten erotischen Traumzustand versetzt wurde, so dass die Mondgöttin Artemis in seinem Schlaf jede Nacht den Liebesakt mit ihm vollziehen konnte). Die zurückgelehnten Posen, die mit erotischer Träumerei assoziiert werden, sind von offensichtlichem praktischen Vorteil sowohl für das Modell als auch für den Künstler, auch wenn die hier eingenommene Pose mit dem über dem Kopf ausgestreckten Arm – angelehnt an die berühmte klassische Statue Ariadnes – wohl nicht sehr einfach über einen längeren Zeitraum aufrecht erhalten werden konnte.

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Meisterwerke

Der blaue Schal 1930 Öl auf Holz, 35 x 27 cm Privatsammlung

Der Kopf der Frau in diesem Bild scheint eine Variante des Kopfes von Mrs. Bott in deren Porträt zu sein, welches im gleichen Jahr gemalt wurde. Die dunkle Baskenmütze, die das blonde Haar der Frau festhält, ihr zerknitterter, vom Wind gepeitschter blauer Schal und das Modell eines durch stürmische See preschenden Segelschiffes in der linken, oberen Ecke stehen in pikanter Weise im Gegensatz zu der makellosen Kunstfertigkeit von de Lempickas Stil. Wie auch beim vom Wind gepeitschten Mantel Rogers in Ingres’ im Louvre ausgestellten Gemälde von 1819, in dem er hinuntereilt, um Angelika zu retten, ist hier von wirklicher Bewegung nichts zu spüren. Vielmehr entsteht der Eindruck von vorsichtig arrangierter und eingefrorener Animation.

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Meisterwerke

Das Telefon II 1930 Öl auf Holz, 35 x 27 cm Privatsammlung

Das Telefon in diesem Bild hat denselben erotisch-amourösen Stellenwert, der in der holländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts den Briefen zukommt, die gelesen oder geschrieben werden. Der besorgte Ausdruck der jungen Frau lässt darauf schließen, dass sie mit ihrem Liebhaber spricht. Wahrscheinlich wurde dieses Gemälde durch die Premiere von Jean Cocteaus Telefon-Monodrama “La Voix Humaine” inspiriert, welches am 15. Februar 1930 in der Comédie Française uraufgeführt wurde. Der großartigen tragischen Schauspielerin Berthe Bovy auf den Leib geschrieben, zeigt “La Voix Humaine” das letzte und zunehmend schmerzvolle Telefonat zwischen einer Frau und ihrem Liebhaber, der sie wegen einer anderen verlassen hat. Die Premiere wurde zu einem Skandal, als Bovys Monolog vom flegelhaften Stören des surrealistischen Poeten Paul Eluard unterbrochen wurde. Zwei Jahre später sollte das Leben dem Schauspiel folgen, als die zutiefst unglückliche Bovy von ihrem Mann, dem Schauspieler Pierre Fresnay, wegen der musikalischen Komödiantin Yvonne Printemps verlassen wurde.

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Meisterwerke

Junge Dame mit Handschuhen 1930 Öl auf Sperrholzplatte, 61 x 46 cm Fonds national d’art contemporain, Paris

Durch den metallischen Glanz ihres grünen Kleides hindurch erkennt der Betrachter nicht nur die erigierten Brustwarzen der jungen Frau, sondern sogar die Einbuchtung ihres Nabels (und das zu einer Zeit, als solche anatomischen Details aus Hollywoods Glamourfotografien herausretuschiert wurden). Mit einer ebensolchen Leidenschaft malt de Lempicka die komplexe Gestalt der Hände der jungen Frau, die eng von ihren weißen Handschuhen umschlossen werden. Das Mädchen zieht ihren breitrandigen Hut herunter, so als ob sie ihr Gesicht vor dem entgegenkommenden Wind schützen wollte, welcher auch ihr Kleid in einer spektakulären Kaskade gefalteten Stoffes aufbauscht. Es ist nicht schwer zu verstehen, warum dieses attraktive und sinnliche Porträt zu jener Zeit einen solchen Erfolg hatte. Das Musée de Luxembourg kaufte es direkt von der Künstlerin, bevor es 1932 im Salon des Indépendants ausgestellt wurde, was einen Höhepunkt in de Lempickas Karriere darstellte.

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Meisterwerke

Adam und Eva 1931 Öl auf Holz, 116 x 73 cm Privatsammlung

Schenkt man de Lempickas Ausführungen Glauben, so bekam sie die Anregung zu diesem Bild durch ein Modell, welches zwischen zwei Sitzungen in ihrem Studio einen Apfel aß. In Tamaras farbenfroher Darstellung der Szene rief die Künstlerin aus: “Stopp, bewege Dich nicht! Bleib genau in dieser Stellung”, als das Modell gerade im Begriff war, in den Apfel zu beißen. Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass selbst ein Modell eines Pariser Künstlers spontan eine so gekünstelte Haltung eingenommen haben könnte, um einen Apfel zu essen. Adam wird von einem gut gebauten jungen Polizisten dargestellt, den Tamara in ihrer typischen Hemmungslosigkeit während seines Kontrollganges am linken Ufer der Seine aufgegriffen hatte. Wie gewöhnlich modernisiert de Lempicka ihr traditionelles Thema, indem sie es vor einem kubistischen Stadtbild positioniert. Während de Lempicka viele großartige weibliche Aktbilder, sowohl von einzelnen Frauen als auch von Gruppen malte, bildet dieser männliche Akt eine Ausnahme unter ihren Arbeiten. In Anbetracht von Tamaras Verachtung der bürgerlichen Moralvorstellungen wird es eher persönliche Neigung als Anstand gewesen sein, die zu dieser Dominanz des Weiblichen über das Männliche geführt hat.

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Meisterwerke

Arlette Boucard mit Arums 1931 Öl auf Sperrholzplatte, 91 x 55,5 cm Privatsammlung

Neben Porträts und dem weiblichen Akt gehörten Stillleben zu den Genres, mit denen de Lempicka sich am meisten beschäftigte. Zu ihrer besten Zeit hatte sie die Fähigkeit, genau wie Stanley Spencer, gewöhnliche Gegenstände mit einem Gefühl von Fremdheit und Mysterium zu versehen. Das fast monochromatische “Arlette Boucard mit Callas” ist ein Stillleben, das einige charakteristische Merkmale von de Lempickas Kunst enthält – die Liebe zu transparenten und spiegelnden Oberflächen ebenso wie die hocherotisierte Gestalt der Lilien, die bis in die obere Ecke der Leinwand ranken, ganz ähnlich wie die sich windenden weiblichen Modelle in ihren Porträts. Dieses faszinierende Bild gewährt zudem einen indirekten Einblick in das persönliche Leben der Künstlerin. Das gerahmte Foto, vermutlich ein Geschenk Arlette Boucards, macht deutlich, dass Arlette von der wissenden Jugendlichen des Porträts aus dem Jahre 1928 zu einer jungen Frau mit der “fatalen” Schönheit eines Hollywoodstars herangewachsen ist.

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Meisterwerke

Porträt der Madame Boucard 1931 Öl auf Leinwand, 135 x 75 cm Privatsammlung

Die verdrehte, eine schmale, vertikale Leinwand von oben bis unten füllende Haltung ist ein typisches Merkmal vieler bedeutender Porträts de Lempickas. Obwohl älter als die meisten von de Lempickas Modellen, wird Mme. Boucard als “Luxusfrau” dargestellt. Das tief ausgeschnittene weiße Seidenkleid, das ihre immer noch festen Brüste so plastisch hervorhebt, die großzügig mit Pelz verzierte Stola, der schwere Art déco Schmuck sowie Manhattan als Hintergrund machen den Betrachter glauben, dass Mme. Boucard die Mittel zur Verfügung stehen, Reisen auf Luxusschiffen zu unternehmen und lassen den Eindruck von Reichtum und Raffinesse entstehen. Wie üblich in ihren Porträts dieser Zeit folgen de Lempickas Farben einem Muster plakativer Einfachheit, indem sie nur Rot für Lippen, Fingernägel und die Stola verwendet und damit dem im Wesentlichen monochromatischen Bild ein starkes Farbelement hinzufügt.

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Meisterwerke

Porträt von Pierre de Montaut 1931 Öl auf Holz, 41 x 27 cm Barry Friedman Ltd., New York

Seinem Beruf als Architekt entsprechend, wird Pierre de Montaut hier vor einem unfertigen Gebäude gezeigt. Pierre de Montaut war mit de Lempickas Schwester Adrienne verheiratet, die selbst Innenarchitektin war und den überwiegenden Teil des Innenbereiches von de Lempickas Appartement in der Rue Méchain kreierte. Ehemann und Frau waren beide Anhänger der Art des gemäßigten und luxuriösen Modernismus, wie er von Robert Mallet-Stevens repräsentiert wurde, der das Exterieur des Appartementblocks gestaltet hatte. De Lempickas Darstellung ihres Schwagers ist nüchterner und weniger aufdringlich als die ihrer meisten männlichen Modelle, auch wenn die Neigung seiner Schultern eine charakteristische Empfindung von Dynamik und Energie hervorzurufen hilft. De Lempicka genoss offensichtlich die Herausforderung, seine mit dicken Gläsern versehene Nickelbrille zu malen.

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Meisterwerke

Porträt von Marjorie Ferry 1932 Öl auf Leinwand, 100 x 65 cm Privatsammlung

Das Porträt der Sängerin Marjorie Ferry ist ein gutes Beispiel von Tamaras beiderseitiger Loyalität gegenüber Klassizismus und Moderne. Der Klassizismus manifestiert sich in den weichen idealisierten Formen, dem zeitlosen architektonischen Hintergrund sowie im Faltenwurf. Marjorie Ferry scheint ihre Nacktheit mit einem weißen Tuch zu verhüllen. Das Tuch ist so kompliziert röhrenartig gefaltet, als sei es aus Metall gefertigt oder aus poliertem Marmor herausgearbeitet worden. In ihrem Klassizismus folgte de Lempicka einer Richtung, die von Jean Cocteau als “Ruf zur Ordnung” bezeichnet wurde und die viele Künstler von Picasso und Maillol bis hin zu den Bildhauern des faschistischen Italiens und Deutschlands in den Jahren zwischen den Kriegen beeinflusste. Ein Hauch der Moderne macht sich in den stromlinienförmigen mechanistischen Formen und den seltsamen metallischen Oberflächen bemerkbar. Die Art déco Zeit verherrlichte die Maschine und jegliche mechanischen Teile. Selbst Marjorie Ferrys Haar scheint aus Streifen polierten Metalls gefertigt zu sein.

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Meisterwerke

Porträt von Suzy Solidor 1933 Öl auf Holz, 46 x 38 cm Château-Musée de Cagnes

Die berühmte lesbische Sängerin Suzy Solidor begann ihre Karriere als Model in den zwanziger Jahren. Nachdem sie sich 1932 von ihrer Liebhaberin und Protektorin Yvonne de Bremand d’Ars getrennt hatte, gründete sie ihr eigenes Nachtlokal “La Vie Parisienne”, welches schon bald die Art eleganter Kundschaft anzog, für die de Lempicka sich interessierte. Zur selben Zeit begann Solidor eine bedeutende Karriere als Darstellungs- und Aufnahmekünstlerin. Als sie sich schließlich entschloss, sich auf einen männlichen Liebhaber einzulassen, war es ironischerweise ein Offizier der Deutschen Besatzungsarmee – ein Beispiel der “collaboration horizontale”, welche kurz ihre Karriere unterbrach und ihrem Ruf Schaden zufügte. Bewundert für ihre blonde, amazonenhafte Schönheit wurde sie neben vielen anderen von Marie Laurencin, Foujita, Kisling, Picabia und van Dongen gemalt. Sie sammelte mehr als 200 Porträts ihrer selbst, von denen sie vierzig im Museum von Cagnes ausstellte.

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Meisterwerke

Die Mutter Oberin 1935 Öl auf Leinwand, aufgeleimt, 30 x 20 cm Musée des beaux-Arts de Nantes

In der Zeit der verheerenden ökonomischen Depression, die sich auf die gesamte westliche Welt auswirkte, und als die Stimmung in der internationalen Politik sich in den Jahren, die zum Zweiten Weltkrieg führten, verdunkelte, schien der extravagante Hedonismus von de Lempickas Art déco Periode leer und fehl am Platze. De Lempicka selbst wandte sich seriöseren und tragischeren Themen zu. Anstelle von verhätschelten und schönen Frauen und eleganten und schwachen Männern malte sie die Armen und Unglücklichen. In der Mehrzahl der Fälle waren die Resultate bescheiden und spiegelten ein falsches Pathos und Sentimentalität. Die seltsam faszinierende “Mutter Oberin” beschreitet einen Grat zwischen Kitsch und “Hoher Kunst” und weckt Erinnerungen an gegenreformatorische Leidenschaft und Bilder allgemeiner Frömmigkeit. De Lempicka war übermäßig stolz auf dieses kleine Bild, sich in Erinnerung rufend, wie sie beim Besuch eines Klosters auf dem Höhepunkt einer persönlichen und religiösen Krise ihres Lebens dazu inspiriert wurde.

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Meisterwerke

Flucht um 1940 Öl auf Leinwand, 50,8 x 40,6 cm Musée des Beaux-Arts de Nantes

Die herausragende Zurschaustellung dieses Bildes in einer Fotografie ihrer selbst bei der Arbeit im Atelier in der Rue Méchain macht deutlich, wie stolz de Lempicka darauf war. Die oft vervielfältigte Fotografie wird üblicherweise dem Jahr 1937 zugeordnet. Dies kann nicht der Wahrheit entsprechen, da “Flucht” zu dieser Zeit noch gar nicht gemalt worden war. Auch das Kleid, das sie in diesem Foto trägt und das einem Ballkleid des New Look gleicht, macht deutlich, dass dieses Foto nicht vor, sondern nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sein muss. Die schlichte Eleganz von de Lempickas Art déco Appartement, ihre Perlenkette und makellose Erscheinung stehen im Widerspruch zum tragischen Thema von “Flucht”. De Lempickas eigene Flucht vor dem bevorstehenden Krieg im Jahre 1939 trug sich unter ganz anderen Umständen zu. Nachdem sie ihren Ehemann Baron Kuffner überzeugt hatte, die meisten seiner europäischen Besitztümer zu verkaufen, verließ Tamara mit ihm im entsprechenden Stil Europa auf einem Luxusschiff in Richtung Vereinigte Staaten.

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Meisterwerke

In der Oper 1941 Öl auf Leinwand, 76,2 x 50,8 cm Privatsammlung

Zum Ende der 1930er Jahre verabschiedete sich de Lempicka von ihrer Liebe zur Moderne. Obwohl ihr Farbauftrag weiterhin akribisch genau und glatt war, wurden die jazzartige Winkligkeit und die Stromlinienförmigkeit des Art déco ihrer besten Zeit durch barocke Kurven und Schnörkel ersetzt. In diesem Gemälde geht die Darstellung der in einer Opernloge sitzenden schönen jungen Frau bewusst auf viele Gemälde von Künstlern des späten 19. Jahrhunderts wie Renoir und Mary Cassatt zurück. Ob bewusst oder nicht, de Lempickas stilistischer Richtungswandel folgt dem der Designteams der großen Hollywoodstudios. Die stromlinienförmigen Ozeanriesen und jazzartig modernen Appartements, die in den dreißiger Jahren bevorzugt wurden, weichen zum Ende der Dekade einem wiedererwachenden traditionelleren Stil. Die neue Pingeligkeit spiegelt sich nicht nur in der Dekoration der Kulisse, sondern ebenso in Kleidung und Frisur der jungen Frau wider.

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Meisterwerke

Die mexikanische Frau um 1947 Öl auf Sperrholzplatte, 50,8 x 40,5 cm Musée des Beaux-Arts de Nantes

Es gibt viele berühmte und langlebige Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Berühmtheit heute auf Arbeiten beruht, die sie während eines sehr kurzen Zeitabschnitts ihrer Karriere angefertigt haben. Derain und Vlaminck schafften es nicht, die Intensität ihrer besten Arbeit über mehr als zwei oder drei Jahre hinaus aufrechtzuerhalten. Die führenden Maler der deutschen Neuen Sachlichkeit, Georg Grosz, Otto Dix und Christian Schad, schufen ihre besten Arbeiten zu exakt derselben Zeit wie de Lempicka, also zwischen 1925 und 1933. Die Parallelen zwischen Grosz und de Lempicka sind aufschlussreich. Ihre Kunst gedieh in einem partikulären kulturellen, moralischen und sozialen Umfeld. Aus diesem nährenden Umfeld entfernt, verwelkten ihre Talente sehr rasch. Dieses banale und fade Gemälde einer mexikanischen Bäuerin zeigt, wie tief de Lempickas Kunst in den Jahren nach ihrem Umzug nach Amerika gesunken war.

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BIBLIOGRAPHIE Alexandre, Arsène, “Tamara de Lempicka”, La Renaissance de l’art français et des industries de luxe, Juli 1929, S. 330-337

Bazin, Germain, und H.Itsuki, Tamara de Lempicka, Tokyo, 1980

Blondel, Alain, Tamara de Lempicka; Catalogue Raisonné, 1921-1979, Lausanne, 1999

Breon, Emmanuel, L’Art des Années 30, Paris 1996

Chiarelli, Luigi, “Tamara de Lempicka”, La Donna April 1930

Dayot, Magdeleine A., Tamara de Lempicka, L’Art et les Artistes, 156, April 1935

De Lempicka-Foxhall, Kizette und Charles Phillips, Passion by Design; the art and Times of Tamara de Lempicka, New York und Oxford, 1987

De Sceaux, Didier, “Un Peintre Tamara de Lempicka” Le forum, 12 Juli 1927

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Levy, Julien, Memoir of an Art Gallery. New York, 1977

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Tamara de Lempicka de 1925 a 1935, Vorwort von Jean Reau, exh. Cat., Galerie du Luxembourg, Paris 1925

Tamara de Lempicka, with the Journal od Aelis Mazoyer, Gabriele d’Annunzio’s Housekeeper., Piero Chiara and Federico Roncoroni (eds) John Shepley (trans) Milan 1977

Warnod, André, "Les Expositions; Quelques oeuvres de Tamara de Lempicka" Comoedia, 17 Mai 1931 s.3

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BIOGRAPHIE 1898: Als Tamara Gurwik-Gorska von wohlhabenden polischen Eltern der Oberschicht in Warschau geboren. Ihr Vater, Boris Gorski, war ein Rechtsanwalt mit einem französischen Unternehmen. Ihre Mutter war Malvina Decler. 1911: Eine Reise nach Italien mit ihrem Großvater ruft in Tamara die Leidenschaft für Kunst hervor. 1914: Tamara zieht bei ihrer Tante Stephanie in St Petersburg ein, als sie die Entscheidung ihrer Mutter sich wieder zu verheiraten bemerkt. Sie trifft ihren zukünftigen Ehemann, Tadeusz Lempicki, einen anziehenden Rechtsanwalt aus einer wohlhabenden russischen Familie. 1916: Tamara und Tadeusz heiraten in Petrograd in der Kapelle des Ritters von Malta. 1917: Russland ist nach dem Aufstieg der Bolschewiken und der neuen Macht in die Revolution verwickelt. 1918: Tadeusz ist verhaftet als Antirevolutionär. Tamara sucht die Hilfe eines schwedischen Konsuls für deren Flucht auf. Allen beiden gelingt es das Land zu verlassen und sie finden sich in Paris, ihrem neuen Zuhause für die nächsten 20 Jahre. 1920: Geburt von Kizette de Lempicka. Tamara nimmt Untericht bei Maurice Denis und Andre Lhote. Sie nimmt den Namen Tamara de Lempicka und beginnt ihren weltlichen, modischen und erotischen Stil zu entwickeln. 1922: Sie verkauft ihre ersten Gemälde bei der Gallerie Colette Weill, die später ihre Werke das erste Mal auf dem Herbstsalon in Paris ausstellen wird. 1925: De Lempicka macht sich einen Namen mit der Ausstellung in der Bottega di Poesia in Mailand und in der weltersten Art Deco Austellung, durchgeführt in Paris. Die deutsche Modezeitschrift Die Dame gibt eines ihrer berühmtesten Gemälde in Auftrag, das Selbstbildnis in der Grünen Bugatti. 1926: Der hervorragende italienische Dichter und Szenarist, Gabriele d’Annunzio, macht einen erfolglosen Versuch de Lempicka in seiner italienischen Villa an der Küste zu verführen. 1927: De Lempicka stellt einige kontroverse Gemälde von ihrer Tochter Kizette her. Sie trifft die schöne Rafaela im Bois de Boulogne die manche ihrer sinnlichsten erotischen Werke inspiriert.

1928: Sie beginnt die Arbeit an dem Auftrag der Familie Boucard und malt ein Portrait ihres Ehemanns Tadeusz bevor sie sich später des gleichen Jahres scheiden lassen. Sie trifft Baron Raoul Kuffner und zieht in seine geräumige Wohnung in der rue Méchain ein, deren Design vom modischen modernen Architekten Robert Mallet-Stevens stammt. 1929: De Lempicka wird Kuffners Geliebte und unternimmt ihre erste Reise nach Amerika. 1933: Sie heiratet Baron Kuffner. Ihre Arbeit und Kreativität leiden unter der nüchternen Realität von Hitlers Aufstieg an die Macht in Deutschland und dem Börsenkrach an der Wall Street. Sie tritt in eine lange Periode von Depressionen ein. 1939: De Lempicka und Baron Kuffner ziehen nach Amerika und lassen sich in Los Angeles nieder, nachdem Kuffner die meisten seiner österreichischen und ungarischen Ländereien verkaufte. De Lempicka fährt mit dem Malen fort und rutscht leicht ab in die glamouröse Welt der High Society von Hollywood. 1942: Müde von deren Leben in Hollwood, besteht Kuffner darauf, dass sie zurück nach New York ziehen. Kizette folgt ihnen nach Amerika, wo sie ihren Ehemann trifft, Harold Foxhall, einen Geologen aus Texas. 1943: Ihr neues Leben als eine mondäne New Yorkerin führt sie weg von der Kunst. Ihre figurativen Gemälde und Experimente mit abstraktem Expressionismus entziehen sich jeglichem Interesse des Publikums. Ihre Karriere beginnt zu stagnieren und sie gerät langsam in Vergessenheit. 1962: Baron Kuffner stirbt. Dieser Vorfall veranlasst de Lempicka, zu ihrer Tochter und deren Ehemann nach Houston zu ziehen. 1973: Ein erneutes Interesse an ihrer Arbeit führt in eine höchst erfolgreiche Retrospektive ihrer Arbeit in der Galerie du Luxembourg. 1974: Nach ihrem wiederhergestellten Ruhm zieht sie mit ihrer Tochter nach Cuernavaca, Mexico. Sie verbringt dort den Rest ihres Lebens, stets voller Ärger über ihre Familie und den Zustand der Welt.

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BILDVERZEICHNIS A

G

Abstrakte Komposition in

Geheimnisaustausch, 1928

46 58

Rot und Blau I, um 1953

123

Die Genesende, 1932

Adam und Eva, 1931

185

Graziella, um 1937

Akt auf einer Terrasse, 1925

36-37

Akt mit Gebäuden, 1930

88

Akt mit Segelbooten, 1931

34

Akt, blauer Hintergrund, 1923

31

Amethyst, 1946

129

Andromeda, 1927-1928

153

Arlette Boucard mit Callas, 1931

187

Arums, um 1931

68

B

Der grüne Turban, 1929

48

Gruppe von vier Akten, um 1925

26

H Hochsommer, 1928

80

I Idylle, 1931

107

In der Oper, 1941

201

Irène und ihre Schwester, 1925

Badende Suzanne, um 1938

42

Bauernmädchen beim Gebet, um 1937

12

J

Bauernmädchen mit Krug, um 1937

15

Junge Dame mit Handschuhen, 1930

Das Bauernmädchen, um 1937

16

64

183

Bettler mit Mandoline, 1935

130

K

Der blaue Schal, 1930

179

Die Kaffeemühle, um 1941

118 149

Die blaue Stunde, 1931

40

Kizette auf dem Balkon, 1927

Breitrandiger Hut, 1933

78

Kizette in Rosa, um 1926

C/D

84

L

Cover für Vogue, Georges Lepape, 15. März 1927

47

La Belle Rafaëla in Grün, 1927

Double “47”, um 1924

54

La Belle Rafaëla in Grün, um 1927

151

Doppel Portrait, Alfred Wolmark

55

Die Lesende III (abstrakt), um 1956

124

E Die Erstkommunikantin, 1928

52-53

M 163

F

Die Mädchen, um 1930

49

Madonina, um 1934

111

Madonna, um 1937

110 203

Flucht, um 1940

199

Die mexikanische Frau, um 1947

Die Flüchtlinge, 1931

102

Das Modell, 1925

94

20

Der Musiker, 1929

71

Frau im Profil, einen Schal tragend, um 1922 Frau in gelbem Kleid, 1929 Frau mit blauem Schal, um 1944 Frau mit einem grünen Handschuh, 1928

108-109 98 106

Frau mit Taube, 1931

23

Frauen im Bad, 1929

24-25

Frühling, 1930

206

127

57

Die Mutter Oberin, 1935

197

Mutter und Kind, 1931

87

Mutterschaft, 1928

60

N Nana de Herrera, 1928-1929

165

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O

Rhythmus, 1924

39 61

Der orangefarbene Schal, 1927

51

Das rosa Hemd I, um 1927

Der orangefarbene Turban II, um 1945

97

Die rosa Tunika, 1927 S

P Perspektive (Zwei Freundinnen), 1923

90-91

137

Die Schlafende (Kizette) I, um 1933

Pleureuse - Claire Nebout, Pierre & Gilles, 1986

96

Das schlafende Mädchen, 1923

Das polnische Mädchen, 1933

13

Schlafendes Mädchen, 1930

Porträt der Baroness Renata Treves, 1925

10

Schwarzer Iris III, Georgia O’Keeffe, 1926

93 28-29 177 69

Porträt der Herzogin de La Salle, 1925

143

Selbstporträt (Tamara im Grünen Bugatti), 1929

169

Porträt der Ira P., 1930

173

Sitzender Akt im Profil, um 1923

33

Porträt der Madame Boucard, 1931

189

Sitzender Akt, um 1923

30

Porträt der Miss Poum Rachou, 1933

83

St. Moritz, 1929

171

Porträt der Mrs. Allan Bott, 1930

175

Stillleben mit Lilien und grauem Stoff, um 1944

115

Porträt der Mrs. Bush, 1929

167

Stillleben mit rosafarbenem Stoff und Lilie, um 1944

116

Stillleben, Zitronen und Teller, um 1942

121

Porträt der Mrs. M., 1932

72

Porträt des Baron Kuffner, 1928

157

Der Strohhut, 1930

Porträt des Dr. Boucard, 1928

159

Sukkulente und Glasgefäß, um 1941

114

Surrealistische Hand, um 1947

125

Porträt des Grafen Vettor Marcello, um 1933

77

81

Porträt von Lucrezia Panciatichi, um 1541, Agnolo Bronzino

113

T

Porträt des Marquis d’Afflito, 1925

141

Tadeusz de Lempicki (unvollendet), 1928

Porträt des Marquis d’Afflito, 1925

74

Tamara de Lempicka im Abendkleid, v. 1929

Porträt des Marquis Sommi, 1925

75

Das Telefon II, 1930

Porträt der Tänzerin Anita Berber, Otto Dix, 1925

66

Der Traum, 1927

Porträt einer jungen Damen in blauem Kleid, 1922

21

Die Tür des Ateliers, 1941

Porträt eines Polospielers, um 1922

135

Großfürsten Gabriel, 1926

147

Porträt von André Gide, um 1925

139

V

Porträt von Arlette Boucard, 1928

155

Venedig im Regen, 1961

Porträt von Marjorie Ferry, 1932

193

Porträt von Pierre de Montaut, 1931

191

Porträt von Romana de La Salle, 1928

67

Porträt von Suzy Solidor, 1933

195

6 181 63 119

Das Türkische Bad, Jean-Auguste-Dominique Ingres, 1862

Porträt seiner kaiserlichen Hoheit des

161

38

105

W Die Wahrsagerin, um 1922 Die Weisheit, 1940 - 41

17 112

Z

Q/R

Die Zigeunerin, um 1923

18

Die Rache der Venus. Psyche schläft ein,

Zwei Frauen, Lotte Laserstein

65

nachdem sie das Kästchen mit den Träumen der

Die zwei Freundinnen, 1930

35

Quattrocento, 1937

Unterwelt geöffnet hat, Maurice Denis, 1907

126

41

Zwei kleine Mädchen mit Schleifen, 1925

145

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D

ie Portraits, Akte und Stillleben von Tamara Lempicka (1898-1980) atmen den Geist des Art Deco und des Jazz Age. Sie spiegeln den eleganten und hedonistischen Lebensstil einer glamourösen Elite in Paris in der Zeit zwischen den beiden

Weltkriegen wider. Ihre Kunst kombiniert eine hervorragende klassische Technik mit Elementen aus dem Kubismus. Lempickas Schaffen ist der Höhepunkt eleganter Modernität und greift gleichzeitig auf Meisterportraitisten wie Ingres oder Bronzino zurück. Das vorliegende Buch befasst sich mit der rationalen Schönheit ihrer besten Werke in den 1920er und 1930er Jahren und der außergewöhnlichen Lebensgeschichte einer talentierten und schillernden Frau. Sie beginnt ihr Leben zur Jahrhundertwende in Polen und dem zaristischen Russland, dann verbringt sie glorreiche Jahre in Paris und eine lange Zeit des Misserfolgs in Amerika, bis sie schließlich in den 70er Jahren wieder entdeckt wird und ihre Bilder den Status einer Ikone und weltweite Popularität erhalten.