Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie: Naturlehre des Staates [2., umgearb. Aufl. Reprint 2020] 9783112335222, 9783112335215


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German Pages 207 [212] Year 1922

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Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie: Naturlehre des Staates [2., umgearb. Aufl. Reprint 2020]
 9783112335222, 9783112335215

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A

1 e X a il ti e r y est.

6. Juli

S u p 1920.

a

n

Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie Naturlehre

des

Staates

von

Dr. Alexander Supan w e i l a n d Professor an der Universität

Zweite

umgearbeitete

Breslau

Auflage

N a c h d e m druckfertig hinterlassenen Manuskript A. S u p a n s besorgt von

Dr. Erich Obst Professor der Geographie an der Techn. Hochschule in Hannover

Mit d e m

Bildnis des Verfassers und

7

Textfiguren

Berlin und Leipzig 1922

Vereinigung wissenschaftlicher

Verleger

Walter de Qruyter & Co. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung :: J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung :: Georg Reimer :: Karl J . Trübner :: Veit & Comp.

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechtes, vorbehalten.

Druck yoü Metzger &. Wittig in Leipzig.

V o r w o r t zur ersten Auflage. Das vorliegende Büchlein ist, obwohl politischen Inhalts und während des Krieges entstanden, doch nichts weniger als eine Kriegsschrift. Sie ist vielmehr die Frucht der länderkundlichen Vorlesungen, die ich seit meiner Berufung an die hiesige Universität in regelmäßigem Turnus hielt, und ist hervorgegangen aus der Überzeugung, einerseits daß die einseitige morphologische Entwicklung die Geographie ihrem innersten Wesen immer mehr entfremde, anderseits daß die politische Geographie, um ein Gegengewicht bieten zu können, auf neue Grundlagen gestellt werden müsse. Schon knapp vor Ausbruch des Krieges war ich entschlossen, die mir am wichtigsten scheinenden Ergebnisse meiner Beschäftigung mit der speziellen Geographie namentlich Europas s y s t e m a t i s c h zusammenzufassen. Der Krieg führte mir natürlich manche neue Gesichtspunkte zu und bestärkte mich in der Überzeugung, daß man in Zukunft der politischen Seite der Geographie unbedingt erhöhte Aufmerksamkeit widmen müsse. Was ich jetzt geben kann, ist freilich nur ein Gerippe; an weiteren Untersuchungen hat mich mein leidender Zustand, der mich seit ein paar Jahren an die Krankenstube fesselt, gehindert. Im wesentlichen ist das Büchlein aus dem Kopfe niedergeschrieben worden. Aber das, worauf es mir vor allem ankam, die Leitlinien mit fester Hand zu ziehen, glaube ich erreicht zu haben. B r e s l a u , den 28. April 1918. A. Supan.

V o r w o r t zur zweiten Auflage. Mag auch die H a n d , die diese Zeilen schreibt, schon im Grabe vermodert sein, wenn diese Auflage an die Öffentlichkeit gelangt, so k a n n ich es mir doch nicht versagen, einige erläuternde W o r t e ihr vorauszuschicken. N u r ein kleiner Bruchteil der ersten Auflage ist in die zweite übergegangen. 1918 k o n n t e man noch hoffen, d a ß der Weltkrieg mit einem Remis endigen und daß das Nationalprinzip ehrlich d u r c h g e f ü h r t w ü r d e . Nach beiden Seiten sollte mein W e r k c h e n v o r a r b e i t e n . Nun aber, d a d u r c h den Versailler Friedensvertrag alle H o f f n u n g e n zert r ü m m e r t sind, galt es, das Nationalprinzip, das sich durch den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie auf das überzeugendste bew ä h r t h a t , fester zu begründen und an der H a n d der inzwischen gem a c h t e n E r f a h r u n g e n weiter auszubauen, und ferner zu verschiedenen neu a u f g e t a u c h t e n politischen Problemen im Sinne jenes P r i n z i p s Stellung zu nehmen. Aus diesem G r u n d e h a b e n die „ L e i t l i n i e n " vielleicht eine aktuellere F ä r b u n g gewonnen, als einem theoretischen W e r k e g e s t a t t e t ist. Aber die Politik und d a m i t auch die politische Geographie sind, wie alles, im beständigen Flusse; nicht einmal m a t h e m a t i s c h e Lehrbücher k ö n n e n sich völlig dem Wechsel entziehen. Mag a u c h manches von dem Inhalte dieser zweiten Auflage veraltet erscheinen, so darf sie immerhin den Anspruch erheben, als ein ernstgemeinter Versuch zur A n b a h n u n g einer Versöhnung zwischen Territorial- und Nationalpolitik bewertet zu werden. B r e s l a u , 23. April 1920. A. Supan.

Bemerkung des Herausgebers. A L E X A N D E R S U P A N verschied am 6. Juli 1920. Die letzten J a h r e seines Lebens waren nicht mehr seinem eigentlichen Lebenswerke, den Grundzügen der physischen E r k u n d e , gewidmet, sondern den Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie. Trotz körperlichem Siechtum und trotz der f u r c h t b a r e n seelischen Not, die ihm der Ausgang des Weltkrieges und seine Folgen bereiteten, arbeitete Supan mit der ihm eigenen gewaltigen Energie Tag f ü r Tag, Monat f ü r Monat an seinen politischgeographischen Untersuchungen. Am 23. April 1920, angesichts des Todes und sich dessen klar bewußt, schrieb er das Vorwort zu vorliegendem Buche und beendete d a m i t die Arbeiten an der zweiten Auflage seiner „Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie".

Mit dem Erscheinen dieser zweiten Auflage geht ein sehnlicher Wunsch des Verstorbenen u n d seiner Hinterbliebenen in Erfüllung. Wir möchten das Andenken A L E X A N D E R S U P A N S wachhalten und ehren, indem wir jetzt zunächst die hinterlassene zweite Auflage seiner politischen Geographie der Öffentlichkeit übergeben. Ein J a h r später wird in neuer Bearbeitung S U P A N S Lebenswerk „Grundzüge der physischen E r d k u n d e " erscheinen und hoffentlich recht bald darauf eine Biographie dieses als Gelehrter wie als Mensch gleich hervorragenden Mannes unter Benutzung seiner Tagebücher, Briefe usw. Die vorliegende zweite Auflage der „Leitlinien der allgemeinen politischen Geographie (Naturlehre des S t a a t e s ) " ist die ganz persönliche Auseinandersetzung S U P A N S mit dem großen Problem des Weltkrieges: Territorialpolitik oder Nationalpolitik. J e d e r einzelne Satz trägt die besondere Note SUPANS, und d a m i t waren die Obliegenheiten des Herausgebers ohne weiteres vorgezeichnet. Unsere Pflicht m u ß t e es sein, dem druckfertig ^unterlassenen Manuskript mit der d e n k b a r größten Pietät zu begegnen und sich jedes Eingriffes tunlichst zu enthalten. In dem Buche steht daher nichts, was nicht von S U P A N S eigener Hand herrühre. Nur ein p a a r offenkundige kleine Versehen und Schreibfehler sind berichtigt worden. H a n n o v e r , Winter 1921/22. Erich Obst.

Inhalt. Der Staat und die politische Geographie. Der Staat. S. 1. — Die politische Geographie. S. 6. — Stellung der politischen Geographie innerhalb der geographischen Gesamtwissenschaft. S. 8. — Praktischer Wert der politischen Geographie. S.U. Die Gestalt der Staaten. Einfache und mehrteilige Staaten. •— Kolonialstaaten. S. 18. •— Wachstum und Grenzen der Staaten. S. 23. — Politische Grenzen. S. 25. — Planmäßiges Wachstum der Staaten im Sinne der reinen Territorialpolitik. S. 37. — Umrißformen. S. 41. Die Größe der Staaten. Großmächte. S. 46. — Räumliche Ausdehnung. Bevölkerung. S. 52. — Macht. S. 58.

S. 46. —

Die Lage der Staaten. Mathematische Lage. S. 64. — Geographische Lage. S. 67. — Politische Lage. S. 69. — Druckquotient. S. 75. — Das zwischenstaatliche Leben. S. 78. Die Struktur der Staaten im allgemeinen. Äußerer-Zusammenhalt. Zusammenhalt. S. 84.

S. 8 1 . — Innerer

Die physische Struktur der Staaten. Physisch-homogene Staaten. S- 85. — Gliederung der S t a a t e n . S. 85. •— Gliederung physisch-homogener Staaten. S. 88. — Physische Heterogenität. S. 89. — Politische Bedeutung der physischen Struktur. S. 92. Die völkische Struktur der Staaten. Organisation. S. 94. — Volk und Nation. S. 98. — Völkische Gleichartigkeit. S. 99. — Homogenitätsfaktoren zweiter Ordnung. S. 104. — Der nationale Aufsaugungsprozeß. S. 108. — Einteilung der S t a a t e n nach der völkischen Struktur. S. 110.— Territorialstaaten. S. 111. — Pseudonationale Staaten. S. 115. — Nationalstaaten. S. 118. — Nationalpolitik. S. 121. — Übernationale Verbände. S. 131. — Die völkische Struktur der europäischen Kolonien. S. 134. Die wirtschaftliche Struktur der Staaten. Grundbegriffe. S. 136. — Grundformen der Wirtschaft. S. 141. — Wirtschaftsstufen. S. 144. — Die wirtschaftliche S t r u k t u r der Staaten. S. 147.

Inhalt.

VIII

Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur. Die Bevölkerungsdichte. S. 154. — Die Siedelungen. S. 156. — H a u p t s t ä d t e . S. 162. Verkehr und Weltwirtschaft. Verkehrsarten und die älteren Verkehrsmittel. S. 167. — E i s e n b a h n e n . S. 169. — W a s s e r s t r a ß e n . S. 173. — Seeverkehr und Welthandel. S. 175. — E n t w i c k l u n g des Weltverkehrs. S. 176. — W e l t w i r t s c h a f t . S. 180. — Wirtschaftspolitische Möglichkeiten. N a t i o n a l s y s t e m u n d seine Voraussetzungen. S. 185. — Allianzsystem. S. 189. — Universalsystem. S. 190. — Föderativs y s t e m . S. 192. Sachregister.

S. 196.

Textfiguren. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Lebenslinien. S. 4. Preußen zur Zeit des Deutschen Bundes. S. 17. Ö s t e r r e i c h - U n g a r n — R u m ä n i e n vor d e m Weltkriege. S. 43. Das deutsche Sperrgebiet im J a h r e 1917. S. 73. S p r a c h e n k a r t e der S t e i e r m a r k 1910. S. 126. N a t i o n a l i t ä t e n k a r t e W e s t p r e u ß e n s und Posens. S. 127. N a t i o n a l i t ä t e n k a r t e Finnlands. S. 129.

Der Staat und die politische Geographie. Der Staat. „Die Geschichte zeigt uns," sagt der große französische Historiker TAINE, „ d a ß die Staaten, die Regierungen, die Religionen, die Kirchen, alle großen Institutionen die einzigen Mittel sind, mit deren Hilfe der tierische wilde Mensch einen kleinen Teil V e r n u n f t und Gerechtigkeit erwirbt." Fügen wir hinzu, d a ß alle diese Institutionen sich nur im R a h m e n des Staates auswirken k ö n n e n , so folgt u n m i t t e l b a r daraus, daß der Staat die Grundlage aller Zivilisation u n d K u l t u r ist. Man kann nicht hoch genug vom Staate denken. Das m u ß mit allem Nachdruck betont werden, denn immer wieder gerät die sozialistische 1 Staatsauffassung in Widerspruch mit der vor hundert J a h r e n verbreiteten individualistischen, ganz zu schweigen von der Theorie der Kommunisten ( E N G E L S , L E N I N ) , die den S t a a t f ü r gänzlich überflüssig erklären, wenn einmal ihr P r o g r a m m restlos durchgeführt sein wird. Der S t a a t ist eine k o m p l e x e Erscheinungsform, er kann von drei Seiten- b e t r a c h t e t werden und zeigt auf jeder ein anderes Bild. Für die p o l i t i s c h e G e o g r a p h i e ist er e i n e M e n s c h e n v e r e i n i g u n g i n n e r h a l b f e s t g e l e g t e r G r e n z e n , also g e b u n d e n a n e i n S t ü c k d e r E r d o b e r f l ä c h e , oder mit anderen W o r t e n als e i n T e i l d e s m e n s c h e n erfüllten irdischen Allraums. Als räumliches Gebilde ist er ein N a t u r w e s e n , das sich von anderen durch seine G e s t a l t und G r ö ß e unterscheidet und ihnen gegenüber, wie ü b e r h a u p t im R a u m , eine bestimmte L a g e einnimmt. Aber dieses Gebilde ist kein leerer R a u m , sondern mit Menschen erfüllt, also ein k o m p a k t e r Körper, und an einem solchen ist auch die Art des inneren Zusammenhanges seiner Teile, d. h. seine S t r u k t u r zu untersuchen. D a m i t ist aber auch, strenggenommen, die Aufgabe der politischen Geographie abgeschlossen. Gestalt, Größe, Lage und S t r u k t u r nennen wir die g e o g r a p h i s c h e n Kategorien d e s S t a a t e s , und somit können wir die politische Geographie als die 1 S o z i a l i s t i s c h nicht im Sinne einer politischen Partei, sondern gleichbedeutend m i t Förderung der Gemeinschaft, der man angehört. Die i n d i v i d u a l i s t i s c h e Auffassung hat nur die Förderung des Interesses des Einzelnen im Auge.

S u p a n , Leitlinien. 2. Aufl.

1

2

Der Staat und die politische Geographie.

L e h r e v o n d e n n a t ü r l i c h e n G r u n d l a g e n oder kurz als die N a t u r l e h r e d e s S t a a t e s definieren. In den m e n s c h e n e r f ü l l t e n R a u m wird durch Gesetze, Verordnungen u n d E i n r i c h t u n g e n eine O r g a n i s a t i o n hineingetragen, und v o m l e g i s l a t i v e n S t a n d p u n k t e erscheint er nur als Organisation und erweckt d a m i t den E i n d r u c k eines Organismus. Diese A n s c h a u u n g 1 reicht bis in das griechische A l t e r t u m zurück und b e r u h t e bei A R I S T O T E L E S 2 , dem V a t e r der politischen W i s s e n s c h a f t , auf dem Sophisma, d a ß das Ganze (hier der S t a a t ) v o r seinen Teilen (hier die Staatsorgane) da sei. Von F I C H T E u n d S C H E L L I N G zu Beginn des 19. J a h r h u n d e r t s weiter a u s g e b a u t , f a n d diese Theorie auch bei m a n c h e n S t a a t s l e h r e r n Eingang, w ä h r e n d sie von anderen entschieden abgelehnt wurde. In der T a t liegt ihr eine völlige V e r k e n n u n g des Organismus zugrunde. Die Organe eines solchen wachsen v o n i n n e n h e r a u s , w ä h r e n d die einer Organisation von ä u ß e r e n K r ä f t e n h e r s t a m m e n . Wohl aber m u ß z u g e s t a n d e n werden, d a ß dies nicht von aller und jeder Staatsorganisation gilt. W a s in alter Z e i t , wo S i t t e , B r a u c h und R e c h t noch nicht unterschieden wurden, w u r z e l t , m a g sich vielfach auf organischem Wege entwickelt h a b e n . Es sei n u r ein Beispiel e r w ä h n t . Der im altdeutschen Rechte wurzelnde Brauch des „ D r e i ß i g s t e n " , demzufolge die E r b s c h a f t erst dreißig Tage nach dem Tode des Erblassers a n g e t r e t e n werden d u r f t e , ist sicher ein Ausfluß urältesten Geister- und Gespensterglaubens. Das heroische K ö n i g t u m , mit d e m die Geschichte der altgriechischen S t a a t e n beginnt, m a g wohl als u n m i t t e l b a r e F o r t s e t z u n g des ursprünglichen Häuptlingswesens zu b e t r a c h t e n sein, die folgenden Aristokratien und D e m o k r a t i e n t r a g e n aber schon deutliche Züge f r e m d e n Ursprungs, und solche mehren sich bei allen Völkern, je weiter sie in das helle Licht der Geschichte rücken und sich v o n den primitiven Z u s t ä n d e n entfernen. Man denke nur z. B. an die V e r d r ä n g u n g der alten deutschen Volksrechte d u r c h das römische R e c h t . W e n n m a n von der organischen Theorie einen tieferen Einblick in die Z u s a m m e n h ä n g e des Staatslebens erwartete, so sah m a n sich darin gründlich e n t t ä u s c h t . B U R C K H A R D T 3 hielt die meisten S t a a t e n der italienischen Renaissancezeit f ü r K u n s t w e r k e , „ d . h. bewußte, von der Reflexion abhängige, auf genau berechneten, sichtbaren Grundlagen beruhende S c h ö p f u n g e n " . JELLINEK 4 scheint sogar die Analogie 1

ALBERT TH. V. KEEKEN, Die sogenannte organische Staatstheorie. Leipzig

2

Politik I, 11. Die Kultur der Renaissance, 10. Aufl. Leipzig 1908, Bd. 1, S. 91. Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900, S. 45ff.

1873. s 1

3

Der Staat und die politische Geographie.

mit einem Organismus verworfen zu haben, weil dem S t a a t e die Fortpflanzungsfähigkeit mangle, — allerdings ein u n h a l t b a r e r E i n w u r f , weil F o r t p f l a n z u n g nicht eine notwendige F u n k t i o n des Organismus ist. Wohl aber ist es mit dem Begriffe des Organismus schlechterdings u n vereinbar, d a ß gestorbene S t a a t e n wieder z u m Leben erwachen. W e n n m a n dagegen einwendet, eine solche W i e d e r a u f e r s t e h u n g sei n u r d a n n möglich, wenn die beiden Grundelemente des Staates, Land und Volk, noch vereinigt sind 1 , (z. B. Polen), so t r i f f t auch das nicht immer zu. Der jüdische S t a a t lebte wieder auf, obwohl die J u d e n nach Babylonien weggeführt worden waren, und wenn die gleichen Bestrebungen der heutigen Zionisten keinen vollen Erfolg h a b e n sollten, so wäre dies nur dem englischen Widerspruche zuzuschreiben. W e n n RATZEL2 die organische Theorie d a m i t r e t t e n will, d a ß er den S t a a t einen u n v o l l k o m m e n e n Organismus nennt, so ist d a m i t augenscheinlich gar nichts e r k l ä r t ; und ebenso unbefriedigend sind die Definitionen RUDOLF KJELLENS 3 , der den S t a a t bald ein „sinnlich-vernünftiges Wesen mit d e m Schwerp u n k t auf der sinnlichen Seite", bald „ein d u r c h Selbstzucht gefesseltes und u n t e r den Drucke d e r ' Lebensnotwendigkeiten u m h e r t a s t e n d e s Wesen" nennt. Ebensooft, wie von einem S t a a t s o r g a n i s m u s , wird von einem S t a a t s m e c h a n i s m u s gesprochen. Auch dieser Vergleich h i n k t oder vielmehr, er t r i f f t in m a n c h e n Fällen zu, in anderen aber nicht. Beiden, dem Organismus und dem Mechanismus, k o m m t Leben zu, sofern m a n unter Leben nur Bewegung versteht, nur d a ß der A n s t o ß dazu bei dem Organismus von innen heraus, bei der Maschine d u r c h eine von außen wirkende K r a f t erfolgt. Beide bestehen aus Teilen mit b e s t i m m t e n Funktionen, die a u f e i n a n d e r angewiesen sind, so daß, wenn einer versagt, das Ganze stille steht. Der Unterschied liegt aber in den L e b e n s l i n i e n (Fig. 1). Die Lebenslinien der O r g a n i s m e n stellen eine K u r v e dar, deren Anfangs- und E n d p u n k t , G e b u r t und Tod, im g l e i c h e n Niveau, das wir als das a b s o l u t e N i v e a u bezeichnen wollen, liegen. Der aufsteigende Ast der K u r v e ist etwas länger, als der absteigende, so d a ß der H ö c h s t p u n k t dem E n d p u n k t e näher liegt, als dem A n f a n g s p u n k t e . Die K u r v e k a n n sich m e h r m a l s w i e d e r h o l e n , jedoch nur u n t e r der Voraussetzung, d a ß die E n d p u n k t e der Teilkurven ü b e r d e m absoluten Niveau liegen. Verschiedene Variationen sind möglich, zwei d a v o n kom1

J. J. MOSCHELES in d. Mitt. d. Wiener Geogr. Oes. 1919, S. 56. Politische Geographie oder die Geographie der S t a a t e n , des Verkehrs u. des Krieges. München 1897; 2. A u f l . 1903. 3 Der S t a a t als Lebensform. Leipzig 1917. 2

1*

4

D e r Staat und die politische Geographie.

men f ü r uns besonders in Betracht. Die a b b r e c h e n d e Linie wird dadurch charakterisiert, daß der absteigende Ast zuerst normal oder annähernd normal verläuft, dann aber kurz vor dem Endpunkte eine Knickung erleidet und abbricht. In der a b s t ü r z e n d e n Linie tritt der Knick unmittelbar oder wenigstens bald nach dem Höhepunkt ein, und insofern kann man sie auch die t r a g i s c h e nennen, denn in der Peripetie besteht das eigentliche Wesen des Tragischen. Sich wiederholende Kurven können verschiedenen Charakters sein: auf eine abbrechende kann eine abstürzende, dann eine normale Linie usw. folgen; überhaupt sind in dieser Beziehung die mannigfaltigsten Kombinationen möglich. Jeder kann an sich selbst und an seinen Mitmenschen diese verschiedenen Lebenslinien beobachten; jeder wird sie, wenn er das Buch der Geschichte aufschlägt, in dem Schicksale ihrer Helden wiedererkennen, die normale z. B. bei Kaiser W I L H E L M I., die abbrechende bei K A R L V. und B I S M A R C K , die abstürzende bei HANNIBAL,

CÄSAR,

NAPOLEON,

II. Er wird endlich finden, daß sich die Geschichte der meisten Staaten diesem Fig. 1. Lebenslinien. Schema einfügen läßt; das Leben des römischen Staates verlief im großen und ganzen normal, die Geschichte des habsburgischen Österreich wird durch die abbrechende, die des neuen Deutschen Kaiserreichs durch die abstürzende Linie repräsentiert. Aber wir sind überzeugt, daß der abstürzende Ast dieser Teilkurve der deutschen Geschichte nicht das absolute Niveau erreicht hat, sondern ein neuer Aufstieg erfolgen wird, geradeso wie in Frankreich auf die Niederlage 1870/71 eine neue Teilkurve ihren Anfang nahm, die jetzt auf ihrem Höhepunkt angelangt zu sein scheint. Wenn auch die Mehrzahl der Staaten, deren Entwicklung wir übersehen können, dem organischen Typus folgt, so behauptet sich doch WILHELM

Der Staat und die politische Geographie.

5

auch in vielen Fällen ein ausgesprochen m e c h a n i s c h e r Typus. Zwei Grundeigenschaften unterscheiden ihn vom organischen: 1. Anfangsund Höhepunkt fallen zusammen. Sobald die Maschine fertig aus der W e r k s t a t t kommt und aufgestellt ist, beginnt mit ihrer Arbeit auch ihre Abnutzung, die endlich zu ihrem Stillstande führen muß; von der organischen Kurve ist also nur der absteigende Ast vorhanden. Dafür gibt es aber 2. kein absolutes Niveau. Jede Maschine kann, wenigstens prinzipiell gesprochen, wieder instand gesetzt werden, und ihre Arbeitsleistung gleitet dann wieder zu einem anderen Niveau hinab. Auf diese Weise können gestorbene Staaten wieder zu neuem Leben erweckt werden. Die Wiederaufrichtung Polens in unseren Tagen ist ein beredtes Beispiel. Wir sahen die beiden Mechaniker, Deutschland und Österreich, an der Arbeit, wie sie zuerst die geborstene Maschine aus dem Schlamm aufrichteten, dann neue Räder einbauten, dann diese, als sie sich als unbrauchbar erwiesen, wieder durch neue ersetzten und so endlich das Werk notdürftig in Gang brachten. Charakteristisch für Staaten ist es, daß m e c h a n i s c h e L e b e n s l i n i e n in o r g a n i s c h e u n d u m g e k e h r t ü b e r g e h e n können. Polen selbst ist ein Beispiel dafür, ebenso die christlichen Staaten, die auf dem Boden des türkischen Reiches entstanden. Das beweist wieder, wie völlig verkehrt es ist, den Staat einfach als einen Organismus oder Mechanismus anzusprechen. Er ist eine ganz eigenartige Erscheinungsform, eine Erscheinungsform s u i generis. Diese eigentümliche Mischung von Organischem und Mechanischem findet ihre Erklärung einerseits darin, daß, je weiter sich der Staat von seinem Ursprung entfernt, die Organisation immer mehr den Charakter eines komplizierten Mechanismus a n n i m m t , in den äußere Kräfte bald fördernd, bald hemmend eingreifen, während andererseits das, was organisiert wird, Menschen, also selbst Organismen höchster Ordnung sind. Von der Gesellschaft einzelner Persönlichkeiten, d. h. Menschen mit selbstbewußtem Willen zur Heranbildung einer K o l l e k t i v p e r s ö n l i c h k e i t , ist nur ein verhältnisimäßig kurzer Schritt; damit hat der Staat den Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Dieses Persönlichkeitsgefühl kommt vor allem im Kontakt mit anderen Persönlichkeiten gleicher Art, d. h. im zwischenstaatlichen Leben zur Geltung. Zusammenfassend können wir sagen, daß wir den Staat von drei Seiten betrachten können, und daß demnach die gesamte Staatswissenschaft drei Disziplinen u m f a ß t : 1. Die p o l i t i s c h e G e o g r a p h i e oder N a t u r l e h r e d e s S t a a t e s betrachtet diesen als einen N a t u r k ö r p e r .

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Der Staat und die politische Geographie.

2. Vom l e g i s l a t i v e n Standpunkt aus betrachtet, erscheint der Staat als eine O r g a n i s a t i o n . Diese bildet mit der „Politik" von A R I S T O T E L E S ZU allen Zeiten den ausschließlichen Inhalt der S t a a t s l e h r e , ja, diese gilt auch noch heutzutage als die eigentliche und alleinige Staatswissenschaft. Es ist bezeichnend, daß, wie P A R T S C H 1 bemerkt, „die deutschen Rechtsgelehrten, die sich 1913 zum Entwurf eines großen Handbuches der Politik vereinten, ganz darauf verzichteten, die politische Geographie in den Rahmen ihres großen Unternehmens einzufügen". Man hat nur Augen f ü r den mannigfach gegliederten, in verschiedenen Stilarten aufgeführten Oberbau, übersieht aber gänzlich, daß seine Standfestigkeit auch von den Fundamenten und von der natürlichen Beschaffenheit des Untergrundes mitbedingt ist. Andererseits muß ich aber entgegen meiner älteren Auffassung zugeben, daß eine völlig reinliche, Scheidung zwischen politischer Geographie und Staatslehre nicht durchführbar ist, doch berühren sich beide nur an wenigen Stellen. 3. Eine Wissenschaft, die den Staat unter dem Gesichtspunkte der P e r s ö n l i c h k e i t betrachtet, besteht noch nicht; die staatsmännische Tätigkeit im zwischenstaatlichen Verkehre gilt als eine Kunst, ja in den meisten Fällen sogar als eine Geheimkunst, aber vielleicht wird auch hierin einmal eine wissenschaftliche Auffassung zum Durchbruch kommen. Vorläufig sieht sich die politische Geographie genötigt, ab und zu auch dieses Gebiet zu betreten. Unsere Dreiteilung ist eine rein begriffsmäßige Unterscheidung und stellt keine zeitliche Reihenfolge dar, als ob zuerst der Naturkörper fix und fertig dastünde, dann die Organisation einsetzte und endlich bewußte Willensbildung erfolgte. Im Gegenteil ist die Organisation der primäre Vorgang, durch sie wird erst die Menschenhorde eine Menschenvereinigung, und gleichzeitig entwickelt sich die Willensbildung, zuerst als unbewußtes Wollen, als Trieb, dann als bewußter Wille. Der Staat entsteht in dem Augenblicke, wo der a n a r c h i s c h e Z u s t a n d in den o r g a n i s i e r t e n ü b e r g e h t . Die geographischen Kategorien verharren zunächst gleichsam im latenten Zustand und gelangen erst dann, die eine früher, die andere später, zu eingreifender Wirkung. Politische Geographie. Der Staat besteht, wie es sich aus dem Vorhergehenden ergibt, aus z w e i u n t r e n n b a r m i t e i n a n d e r v e r b u n d e n e n G r u n d e l e i t i e n t e n , L a n d u n d V o l k . Man schreibt daher der politischen, wie der Geographie überhaupt, einen d u a l i s t i s c h e n 1

Der Bildungswert der politischen Geographie.

Berlin 1919.

Der Staat und die politische Geographie.

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C h a r a k t e r zu. Aber der Menschengeist, der sich als eine Einheit fühlt, k a n n sich n u r schwer mit dem Dualismus abfinden. Überall, wo ihm ein solcher begegnet, sucht er die Gegensätze zu versöhnen und zu einer E i n h e i t zu verschmelzen. J a , m a n k a n n im vorhinein überzeugt sein, d a ß sich jeder Dualismus in einen Monismus ü b e r f ü h r e n lassen müsse, aber d a m i t ist die Streitfrage des Wie noch nicht gelöst. An den Problemen Gott und die W e l t , Leib und Seele, m ü h t sich die Menschheit schon J a h r t a u s e n d e ab, ohne zu einem allgemein a n e r k a n n t e n Ergebnis gelangt zu sein. Und ein solches läßt sich auch niemals erzielen, denn hier handelt es sich um zwei völlig disparate Begriffe, von denen sich der eine auf einen sinnlich w a h r n e h m b a r e n , der andere auf einen nicht einmal vorstellbaren Gegenstand bezieht. Aber mit dem Gegensatz Land und Volk verhält es sich anders. Hier ist die Synthese im Begriffe S t a a t schon gegeben. Das innere Leben des S t a a t e s ist auf das Z u s a m m e n w i r k e n beider Elemente gegründet, und d a m i t ist der D u a l i s m u s ü b e r w u n d e n . In der a l l g e m e i n e n Geographie stößt dies aber, soweit sie Gesetze oder Regeln f ü r das staatliche Leben überh a u p t aufstellen will, auf — wie es scheint — unüberwindbare Hindernisse. Man u m g e h t den Dualismus, indem m a n eines der beiden Grundelemente in den Vordergrund stellt. FRIEDRICH RATZEL1, den m a n wohl mit R e c h t als den V a t e r der politischen Geographie bezeichnen darf, legte das Gewicht hauptsächlich auf das Verhältnis des Staates zum R a u m , und ihm folgte der schwedische Staatslehrer RUDOLF KJELLEN 2 insofern, als ihm geographisch der S t a a t nur das ist, was sich auf die Erdoberfläche als solche bezieht. Seine „Geopolitik", wie er die politische Geographie nennt, erörtert n u r das Verhältnis des S t a a t e s zum Land als dem „ K ö r p e r des Staates'.'. Zu dieser Auffassung stehen wir 1

Zit. S. 3. Dieses Werk erregte zwar b e r e c h t i g t e A u f m e r k s a m k e i t , wirkte aber d o c h weniger, als m a n h ä t t e e r w a r t e n sollen, in die Breite und Tiefe. Dieser anfängliche Mißerfolg erklärt sich einerseits daraus, d a ß m a n d a m a l s ü b e r h a u p t nur auf physische Probleme G e w i c h t legte, anderseits auf der E i g e n t ü m l i c h k e i t der RATZELschen D a r s t e l l u n g s w e i s e . Der Verfasser m o c h t e dies wohl selbst f ü h l e n , denn er veranlaßte seinen Schüler EMIL SCHÖNE, die politische Geographie in abgekürzter, gemeinverständlicher und s y s t e m a t i s c h e r gegliederter Form zu bearbeiten (erschien 1910 in der Leipziger S a m m l u n g „ A u s N a t u r und G e i s t e s w e l t " ) . E i n ähnliches U n t e r n e h m e n von HERMANN WALSER (bei D e u t i c k e in W i e n ) ist durch den allzu frühen Tod des Verfassers vereitelt worden. 2 Zit. S. 3. KJELLEN e r k e n n t übrigens die politische B e d e u t u n g des völkischen E l e m e n t e s durchaus an, nur v e r w e i s t er es in e i n e n a b g e s o n d e r t e n A b s c h n i t t ( D o m o politik) seiner Staatslehre. Vgl. auch seine beiden älteren Werke „ D i e Großmächte der G e g e n w a r t " , Leipzig 1911, und „ P o l i t i s c h e P r o b l e m e des W e l t k r i e g e s " . Leipzig 1916.

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Der Staat und die politische Geographie.

in einem grundsätzlichen Gegensatz, indem wir den Hauptton auf das Volk legen. Es handelt sich aber letzten Endes keineswegs nur um einen Streit subjektiver Auffassungen, sondern es spiegelt sich darin der Kampf zweier großer Prinzipien wieder, der gerade unseren Tagen eine weltgeschichtliche Bedeutung verleiht. Nennen wir sie kurz T e r r i t o r i a l - und N a t i o n a l p o l i t i k ; im Mittelpunkte jener steht das L a n d , im Mittelpunkte dieser das Volk. Daraus ergeben sich, wie wir sehen werden, Folgerungen von ungeheuerer Tragweite. Die Territorialpolitik drückte der geschichtlichen Entwicklung der gesamten Menschheit bis zum Abfall der englischen Kolonien in Nordamerika ausschließlich ihren Stempel auf; seitdem ringt sie mit verzweifelter Zähigkeit, nur Schritt um Schritt zurückweichend, mit der Volkspolitik, die sich allmählich zur Nationalpolitik entwickelt; und wir hofften, daß der Weltkrieg endgültig zuungunsten ihrer ausschließlichen Geltung entscheiden würde. Leider vergebens. Stellung der politischen Geographie innerhalb der geographischen Gesamtwissenschaft. Auf zweierlei Weise können die geographischen Phänomene eine wissenschaftliche Behandlung erfahren: einmal jedes einzelne für sich und in seiner Verbreitung über die Erdoberfläche, dann in ihrem Zusammenwirken an einer bestimmten Örtlichkeit. Jenes ist die Aüfgabe der a l l g e m e i n e n , dieses die der s p e z i e l l e n Geographie. Die allgemeine Geographie gliedern wir wieder in drei Teildisziplinen: 1. P h y s i o g e o g r a p h i e oder allgemeine physische Erdkunde, 2. A n t h r o p o g e o g r a p h i e oder allgemeine Geographie des Menschen, 3. a l l g e m e i n e p o l i t i s c h e G e o g r a p h i e oder Naturlehre des Staates, auf dessen Boden sich die Synthese von Boden und Mensch vollziehen soll. Es ist klar, daß man, ehe man das örtliche Zusammenwirken der geographischen Faktoren untersucht, diese selbst kennen lernen muß. Die spezielle Geographie setzt also die allgemeine voraus, und diese kann daher, unbeschadet der wissenschaftlichen Selbständigkeit ihrer Teildisziplinen und der einschlägigen Untersuchungen als g e o g r a p h i s c h e P r o p ä d e u t i k bezeichnet werden. Die Wissenschaft hat gerade den umgekehrten Weg eingeschlagen. Seit den Tagen H e r o d o t s und S t r a b o s bis ins vorige Jahrhundert hinein bildete Länderbeschreibung fast den ausschließlichen Inhalt der Erdkunde, und das trug sicher dazu bei, daß sie allmählich völlig versumpfte. Immerhin wird aber die Geographie stets die Kunde von der Erdoberfläche und ihren Bewohnern bleiben,

Der Staat und die politische Geographie.

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und es fragt sich nur, ob sie sich als solche auch bis zu dem Range einer Wissenschaft wird erheben können. Für den Laien, der die Wissenschaften hauptsächlich vom Standpunkte der Nützlichkeit beurteilt, ist die Länderbeschreibung mit reichlicher Beimengung staatsrechtlicher und statistischer Daten und in Verbindung mit der Ortskunde die Geographie schlechtweg. Das Vorbild B Ü S C H I N G S ( 1 7 2 4 — 9 3 ) wirft seinen Schatten noch in unsere Tage hinein. K A R L R I T T E R ( 1 7 7 9 — 1 8 5 9 ) hauchte der Erdkunde zwar einen neuen Geist ein, aber er blieb in seiner teleologischen Grundanschauung stecken, und seine literarische wie akademische Tätigkeit kam mehr der Geschichte als der Geographie zugute. Wir nennen die Erde nicht mehr das Erziehungshaus, sondern einfach das W o h n h a u s des Menschen. Aber wir halten daran fest, daß es nicht genügt, den Baustil und den Grundriß dieses Gebäudes zu studieren, sondern wir müssen in alle Stockwerke hinaufsteigen, in jede Stube hineingucken und uns darüber klar zu machen suchen, wie es sich darin leben läßt. Nur eine so eingehende Besichtigung wird uns instand setzen, über die einzelnen, nach Größe, Ausstattung lind Lage sehr verschiedenartigen Räume zweckmäßig zu verfügen. Der Aufschwung der Naturwissenschaften erfüllte auch die Geographie mit neuem Leben, und es kann daher nicht wundernehmen, daß der Löwenanteil des Gewinns der physischen Erdkunde zufiel. Wenn auch nur einer, G E R L A N D , den Mut hatte, den Menschen grundsätzlich aus der Geographie hinauszuweisen, so stimmte ihm doch im Herzen nahezu die ganze jüngere Generation der Geographen bei und bekundeten dies in der Praxis durch einseitige Pflege der naturwissenschaftlichen Seite der Erdkunde. Die Mehrzahl stimmte darin überein, daß nur die allgemeine Geographie als Wissenschaft zu betrachten sei. Das führte auch zur Begründung einer neuen Disziplin, der Anthropogeographie durch F R I E D R I C H R A T Z E L , der, wie schon erwähnt, auch der Schöpfer der allgemeinen politischen Geographie wurde. Jedenfalls ging die spezielle Geographie, die Erdbeschreibung, wie sie FRIEDRICH H A H N 1 , allerdings mit etwas zu schroffer Einseitigkeit, genannt hat, oder die Länderkunde 2 oder Chorologie bei dieser Umgestaltung fast leer aus. Wohl ist E L I S E R E C L U S ' bändereiche Géographie universelle 3 schon wegen ihres Umfanges eine monumentale Leistung, 1

P e t e r m a n n s Mitteilungen 1914, B d . 1, S. 65, 121. Dieser j e t z t in d e u t s c h e n Fachkreisen gebräuchliche und h a u p t s ä c h l i c h auf ALFRED KIRCHHOFF zurückzuführende N a m e i s t w e n i g glücklich g e w ä h l t , d e n n eine Landeskunde e n t h ä l t a l l e s W i s s e n s w e r t e , das sich auf das betreffende Land b e z i e h t , u n d k a n n daher nur v o n einer A n z a h l v o n S p e z i a l i s t e n geschrieben w e r d e n . 2

3

N o u v e l l e géographie universelle, 19 B d e . ,

Paris

1875—94.

Der Staat und die politische Geographie.

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auch d u r c h ihre flüssige, elegante Darstellung wohl geeignet, die Geographie wieder volkstümlicher zu machen, aber sie ist vom Geist der modernen Wissenschaft doch n u r wenig a n g e h a u c h t . Angeregt durch RECLUS w o l l t e

ALFRED

KIRCHHOFF

eine

großartige

Länderkunde

in

d e u t s c h e r Sprache ins Leben rufen, aber sie kam über E u r o p a nicht h i n a u s und m a c h t , wenn auch a n wissenschaftlichem Gehalt RECLUS weit überlegen, als Sammelwerk keinen einheitlichen E i n d r u c k . Auch die von HANS MEYER herausgegebene Spezialgeographie, in der jeder Erdteil von einem besonderen A u t o r b e h a n d e l t wird, zeigt, wie schwankend noch die Methode der L ä n d e r k u n d e ist. Wesentliche Schuld t r ä g t d a r a n , d a ß der N a m e Land vieldeutig ist. Die erdrückende Mannigfaltigkeit der Erdoberfläche zwingt uns, sie in Teile zu zerlegen, und es f r a g t sich, nach welchen Grundsätzen man dabei verfahren solle. Das Einfachste ist, sich der politischen Einteilung zu bedienen. Dagegen erhob sich aber schon im 18. J a h r h u n d e r t Widers p r u c h . 1 Schon 1726 verwarf POLYKARP LEYSER dieses Verfahren als d u r c h a u s unwissenschaftlich, weil die Grenzen der Länder einem beständigen Wechsel u n t e r w o r f e n sind, und f o r d e r t e eine Einteilung auf Grund der natürlichen Verhältnisse. ZEUNE (1778—1853) h a t in der Gaea dieses Prinzip systematisch und vorbildlich d u r c h g e f ü h r t , das d a n n durch die überragende A u t o r i t ä t KARL RITTERS zum höchsten Ansehen gelangte. Seitdem herrschen in der L ä n d e r k u n d e zwei Richtungen. Die eine behält die Einteilung der Landoberfläche in S t a a t e n bei und ist noch immer die weitaus vorherrschende in allen f ü r die Schule und den praktischen Gebrauch b e s t i m m t e n Lehrbüchern und Kompendien, die andere gliedert die Landoberfläche nach physikalischen Gesichtspunkten in „ N a t u r g e b i e t e " , „geographische I n d i v i d u e n " oder „geographische Provinzen". Sie h a t im P u b l i k u m zwar wenig festen F u ß gefaßt, gilt aber als die allein wissenschaftliche und d a h e r gewissermaßen als die vorn e h m e r e ; sie h a t ohne Zweifel a u c h eine Berechtigung, ja sie ist sogar die ausschließlich berechtigte, sobald m a n den Menschen von der Darstellung ausschließt. W e n n dies aber nicht geschieht, so darf m a n die höchste Leistung des Menschen, den S t a a t , nicht ignorieren oder, wie s. Z. GUTHE, in einen d ü r f t i g e n A n h a n g zu Nachschlagezwecken verweisen. Für die natürliche und gegen die politische L ä n d e r k u n d e scheint zu sprechen, 1. d a ß die S t a a t e n häufig das von N a t u r Z u s a m m e n gehörige zerreißen und von N a t u r Fremdes verbinden, 2. ihre Un1

Vgl. EMIL HOLZEL, Das geographische Individuum bei Karl Ritter und seine Bedeutung für den Begriff des N a t u r g e b i e t e s und der Naturgrenze Hettners Geographische Zeitschrift, Bd. tl (1896), S. 3 7 8 u. 433.

Der Staat und die politische Geographie.

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beständigkeit. Der e r s t g e n a n n t e Übelstand k a n n , wie wir sogleich sehen werden, ohne Schwierigkeit umgangen werden, und jedenfalls zieht die politische L ä n d e r k u n d e neue Z u s a m m e n h ä n g e , die f ü r den Menschen wichtiger sein können, als die natürlichen, a n s Licht. W a s den zweiten P u n k t b e t r i f f t , so haben sich beide L ä n d e r k u n d e n nicht viel einander vorzuwerfen. W a s ein S t a a t ist, weiß j e d e r m a n n , über die Naturgebiete sind aber die Ansichten vielfach geteilt; politische Grenzen sind freilich verschiebbar, aber doch wenigstens zeitweise der Willkür des Menschen e n t r ü c k t , die Grenzen der Naturgebiete sind dagegen vielfach unsicher und d a u e r n d dem gelehrten Streit unterworfen. Übrigens stehen sich die beiden R i c h t u n g e n der L ä n d e r k u n d e nicht absolut feindlich einander gegenüber, ja, sie lassen sich bis zu einem gewissen Grade vereinigen, m ü s s e n sogar vereinigt werden. Die K a r t e eines S t a a t e s oder einer Provinz, deren Geländezeichnung oder geologisches Kolorit plötzlich an der Grenze a b b r i c h t , gewährt nicht nur ein unerfreuliches Bild, sondern m a c h t unzweifelhaft auch den E i n d r u c k des Unwissenschaftlichen. Das gleiche gilt auch von der S t a a t e n k u n d e , die ihre O b j e k t e isoliert, a n s t a t t sie in die großen Z u s a m m e n h ä n g e hineinzustellen. Eine Geographie von E u r o p a z. B. m u ß immer d a m i t beginnen, die morphologischen, klimatologischen und anderen Grundzüge des ganzen Länderkomplexes zu zeichnen, d a n n erst k a n n die S t a a t e n k u n d e mit ihren Details einsetzen. A u ß e r d e m ist zu beachten, d a ß jeder größere S t a a t zwar eine Einheit bildet, aber t r o t z d e m wieder der Gliederung bedarf. Hier m u ß das Prinzip der natürlichen Einteilung voll zur Geltung k o m m e n . W ü r d e n wir z. B. bei der Charakterisierung der physischen Verhältnisse zu den Provinzen, D é p a r t e m e n t s und anderen politischen U n t e r a b t e i l u n g e n herabsteigen, so würden wir bald das Gesamtbild des S t a a t e s aus den Augen verlieren. Das w ä r e wissenschaftlicher Partikularismus, und gerade die provinzielle Einseitigkeit zu u n t e r d r ü c k e n und den Sinn f ü r d a s 1 Ganze zu schärfen und zu weiten, ist eine würdige Aufgabe der geographischen S t a a t e n k u n d e . Praktischer Wert der politischen Geographie. Schon indem sich die L ä n d e r k u n d e zur S t a a t e n k u n d e u m g e s t a l t e t , wird sie eine praktische, u n m i t t e l b a r auf das Leben gerichtete Wissenschaft. Der S t a a t ist gleichs a m die Hülle, die den n a c k t e n Körper der Menschheit bedeckt, d u r c h ihn gliedert sich die höher zivilisierte Menschheit in eine Reihe von größeren und kleineren G r u p p e n , von denen jede sich als eine Persönlichkeit mit eigenartiger natürlicher A u s s t a t t u n g , eigenartigen Fähigkeiten, 1 Hier bricht S U P A N S Manuskript plötzlich ab, indes versteht sich die Ergänzung des Absatzes nach dem Text der 1. Auflage wohl von selbst. Der Herausgeber.

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Der Staat und die politische Geographie.

eigenartiger Willensrichtung und eigenartigem Energiegehalt darstellt. Unvollkommene politische Gebilde, die sich noch nicht zu Persönlichkeiten entfaltet haben, schließen wir von unserer B e t r a c h t u n g aus, mit A u s n a h m e jener Völkerschaften, die sich als dienende Glieder d e m großen Zusammenhange der zivilisierten Menschheit eingefügt h a b e n . Von unserem praktischen S t a n d p u n k t aus fassen wir vor allem die Gegenw a r t ins Auge und schenken den politischen Zuständen der Vergangenheit nur gelegentlich Aufmerksamkeit. Die politische Geographie unterscheidet dreierlei R ä u m e : 1. p o l i t i s c h e (größere zivilisierte Staaten), 2. k o l o n i a l e , 3. u n p o l i t i s c h e , d. h. unbewohnbare, wie Trocken- und Eiswüsten, aber auch a u s g e d e h n t e Urwälder, wo die Überfülle des vegetativen Lebens das Menschliche erstickt und endlich das Meer, das zwei Drittel der Erdoberfläche bedeckt. Es b r a u c h t nicht hinzugefügt werden, d a ß diese Einteilung i m m e r nur f ü r einen b e s t i m m t e n Z e i t p u n k t gilt, d a ß koloniale R ä u m e sich in politische, unpolitische in koloniale verwandeln können, d a ß aber a u c h der Weltprozeß sich in umgekehrter Reihenfolge entwickeln k a n n ; doch lehrt die Geschichte, d a ß die aufsteigende Linie die normale ist. Auch ist die Unterscheidung der drei R ä u m e nicht scharf. Grönland z. B. ist ein unpolitischer R a u m mit einem schmalen kolonialen W e s t r a n d . Die englischen Dominions sind koloniale Räume, die aber in m a n c h e r Beziehung auch als politische b e t r a c h t e t werden können; betreffs m a n c h e r politischen R ä u m e in Mittel- und Südamerika kann m a n im Zweifel sein, ob ihre Zurechnung zu den kolonialen nicht treffender wäre. Da sich aus dem Begriffe Staat dessen allgemeine geographische Eigenschaften nicht ableiten lassen, so sind wir ausschließlich auf die E r f a h r u n g angewiesen. Die Methode k a n n nur die v e r g l e i c h e n d e sein. Wollten wir ein Lehrbuch schreiben, s t a t t uns darauf beschränken, die Leitlinien zu ziehen, so m ü ß t e n wir wenigstens alle politischen u n d kolonialen R ä u m e der Gegenwart in unsere Darstellung einbeziehen; a b e r abgesehen davon, d a ß eine solche Aufgabe unsere K r ä f t e weit übersteigen würde, ist es auch fraglich, ob eine solche umfassende Arbeit zurzeit wirklich den gewünschten praktischen Erfolg h ä t t e , oder ob es nicht zweckmäßiger ist, das Auge auf jenes politische H a u p t p r o b l e m zu lenken, mit dem jetzt das Schicksal der europäischen Menschheit, vor allem auch das unsere, auf das innigste v e r k n ü p f t ist. Ich verstehe d a r u n t e r das, worauf ich schon einmal hingewiesen h a b e : den K a m p f z w i s c h e n d e r T e r r i t o r i a l - u n d d e r N a t i o n a l p o l i t i k . Und d a m i t s t e h t noch ein anderer praktischer Gesichtspunkt in innigstem Zusammenhange. W i r haben, worauf wiederholt hingewiesen wurde, die höher entwickelten S t a a t e n als Wesen mit b e w u ß t e m Willen, als P e r s ö n l i c h -

Der Staat u n d die politische G e o g r a p h i e .

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k e i t e n aufzufassen, und da k o m m t alles darauf an, zu untersuchen, inwiefern schon die N a t u r a n l a g e den Willen k r ä f t i g t oder h e m m t . An Stelle der üblichen Unterscheidung von großen und kleinen S t a a t e n sollte die von s t a r k e n und s c h w a c h e n t r e t e n ; das w ü r d e zwar nicht zu einer völligen U m w e r t u n g der bestehenden W e r t e führen, aber doch unser politisches Urteil wesentlich berichtigen und klären. S t ä r k e und Schwäche sind nur Ausdrücke f ü r verschiedene Intensit ä t s g r a d e der M a c h t , unseren b e w u ß t e n Willen frei zu betätigen. Ä u ß e r e Freiheit ist d a f ü r die notwendige Voraussetzung; der Sklave ist o h n m ä c h t i g . N u r wenn der S t a a t Macht h a t , k a n n er seine Persönlichkeit frei entfalten, k a n n er wachsen. Man beachte aber wohl: der S t a a t wächst, wie jeder Mensch, ü b e r h a u p t wie jeder Organismus, sowohl n a c h außen, wie nach innen, aber nur das äußere W a c h s t u m ist eine räumliche, d. h. echt geographische Erscheinung, das innere aber ä u ß e r t sich vorwiegend in der Organisation, in der W i r t s c h a f t und im allgemeinen K u l t u r z u s t a n d e . Die Frage, mit der wir uns zu beschäftigen h a b e n , ist, in welcher Weise sich das W a c h s t u m im R a h m e n der geographischen Kategorien verwirklicht, und welche Folgerungen sich d a r a u s auf das Machtproblem ziehen lassen. Es wird sich zeigen, d a ß n u r zwei G r u n d k a t e g o r i e n , S t r u k t u r und Lage, dabei in Frage kommen, u n d daß Gestalt und Größe n u r F o l g e k a t e g o r i e n sind.

Die Gestalt der Staaten. Einfache und mehrteilige Staaten. Der Unterschied der politischgeographischen von der politisch-legislativen Betrachtungsweise k o m m t uns deutlich zum Bewußtsein, wenn wir von der Gestalt der S t a a t e n sprechen. W i r unterscheiden e i n f a c h e oder einräumige und m e h r t e i l i g e oder mehrräumige S t a a t e n . Die staatsrechtliche Einteilung in E i n h e i t s s t a a t e n und S t a a t e n v e r b ä n d e oder F ö d e r a t i v s t a a t e n läuft d a m i t nur scheinbar parallel, denn ein Einheitsstaat k a n n auch mehrteilig (Königreich Großbritannien und Irland) und ein S t a a t e n v e r b a n d auch einfach sein (Schweiz). In letzterem Falle s t i m m t die geographische Auffassung mit der diplomatischen überein, denn auch f ü r sie gilt der S t a a t e n v e r b a n d als eine Einheit, sofern er den f r e m d e n S t a a t e n als eine in sich geschlossene Persönlichkeit gegenübertritt. Dies t r i f f t bei der Schweiz auch äußerlich zu, auch ihre Gestalt ist g e s c h l o s s e n , insofern die Grenzlinie ohne U n t e r b r e c h u n g in sich zurückläuft. Aber auch die U n t e r b r e c h u n g der Grenzlinie hebt nicht immer den C h a r a k t e r der gestaltlichen Einfachheit auf. Den K ü s t e n aller maritimen S t a a t e n sind Inseln vorgelagert, die sich physisch als Teile des b e n a c h b a r t e n Festlandes erweisen, und doch zu klein sind, als daß sie wirtschaftlich und politisch eine selbständige Rolle spielen k ö n n t e n . Die F j o r d k ü s t e n werden von vielen H u n d e r t e n solcher Felseneilande von verschiedenster Größe begleitet. Sie sind so dicht geschart, d a ß sie nur auf K a r t e n größeren Maßstabes einzeln unterschieden werden können, und d a ß sie, wie z. B. bei Norwegen, den Verlauf der alten, unverletzten Küstenlinie noch deutlich erkennen lassen. In anderen Gegenden, wie z. B. an der Ostseite des Adriatischen Meeres, ist die insulare Auflösung schon weiter gediehen, besonders gegenüber Süddalmatien, und waren manche Inseln auch schon etwas ansehnlicher, aber doch nur u n b e d e u t e n d e Anhängsel des ehemaligen Österreich. 1 Es ist also außer 1 Wie geringfügig der Anteil, den die Meeresinseln am Staatskörper in Europa nehmen, oder kurz gesagt die I n s u l a r i t ä t der europäischen Staaten ist, zeigt folgende Zusammenstellung (zumeist auf Grund der Ausmessungen in J. STRELBITSKI,

Die Gestalt der Staaten.

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der Festlandsnähe der Inseln immer deren G r ö ß e n v e r h ä l t n i s zum kontinentalen H a u p t k ö r p e r des S t a a t e s d a f ü r entscheidend, ob wir den betreffenden S t a a t als einen einfachen oder mehrteiligen auffassen sollen. In m a n c h e n Fällen können d a r ü b e r Zweifel e n t s t e h e n , wie wir etwa zu entscheiden haben in bezug auf F r a n k r e i c h — K o r s i k a oder Schweden— Gotland. Die beiden g e n a n n t e n Inseln sind groß, wohl bevölkert, sind wirtschaftlich nicht ganz vom Mutterland a b h ä n g i g , haben eine eigene geschichtliche Vergangenheit, aber im Vergleich mit dem kontinentalen H a u p t k ö r p e r sind sie doch von untergeordneter B e d e u t u n g und üben wenig Einfluß auf das Leben ihrer S t a a t e n aus. Sie sind zwar nicht unbedeutende Anhängsel, können aber den C h a r a k t e r der Einfachheit des S t a a t e s nicht verwischen. Mehrteilige Staaten bestehen aus mehreren r ä u m l i c h g e t r e n n t e n Territorien, die vermöge ihrer Größe auf eine gewisse Selbständigkeit Anspruch machen können, und die d a n n selbst wieder von kleineren T r a b a n t e n begleitet sind. In der Regel, aber nicht immer, wie D ä n e m a r k zeigt, ü b e r n i m m t derjenige Teil, der die a n d e r e n an Größe ü b e r t r i f f t , die politische F ü h r u n g im Staatsleben und umschließt die H a u p t s t a d t und den Sitz der Regierung. Von N a t u r aus mehrteilig sind die Inselund Halbinselstaaten; penkontinentale Staaten sind Italien, Griechenland, D ä n e m a r k ; sie bestehen aus einem festländischen H a u p t teil und einigen größeren Inseln, sind also den einfachen S t a a t e n v o m T y p u s des ehemaligen Österreich-Ungarn v e r w a n d t und unterscheiden sich davon n u r dadurch, d a ß der kontinentale Bestandteil den insularen nicht so s t a r k überwiegt. A r c h i p e l s t a a t e n , die sich, wie der N a m e Superficie de l'Europe, St. Petersburg 1882, berechnet): Die Zahlen bedeuten die Summe der Inselflächen in Prozenten der Gesamtflächen der betreffenden Staaten. Großbritannien und Irland 100 Dänemark 46 Griechenland (mit Kreta, aber ohne die kontinentalen Erwerbungen im Balkankrieg) 25 Italien 17 Norwegen 7 Niederlande 5 Östereich-Ungarn 5 Deutsches Reich 5 Portugal (mit Azoren und Madeira) 4 Spanien (mit den Kanaren) 2 Europäisches Rußland 2 Frankreich 1,8 Schweden 1,7 Belgien 0

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Die Gestalt der Staaten.

besagt, nur aus Inseln zusammensetzen, waren selten und stets nur von untergeordneter Bedeutung, ein Beweis, daß sich große Staaten stets nur durch Expansion aus kleinen entwickeln, und zur Expansion nur das Festland genügend Raum bietet. Gerade die beiden Staaten, die man allenfalls als Archipelgroßstaaten ansprechen könnte, Großbritannien und J a p a n , sind ein Beweis für unseren oben ausgesprochenen Satz. Beide waren mit ihrer insularen Existenz entschieden unzufrieden; England suchte im Mittelalter in Frankreich festen Fuß zu fassen, später gründete es sein Kolonialreich in Nordamerika, und endlich auf asiatischem Boden, in Indien. J a p a n schlug, sobald es sich als modernen Staat zu fühlen begann, denselben Weg ein; entgegen den Wünschen einer Partei, die es nur auf das Meer verweisen wollte, begann es sich über die koreanische Brücke hinweg, über Ostasien auszubreiten, und in der Gegenwart tritt diese Tendenz immer deutlicher hervor. Darin besteht freilich ein Gegensatz zu allen anderen Staaten, daß im englischen wie im japanischen Reiche der politische Kern insular war und aller Voraussicht nach bleiben wird. Schließlich müssen wir noch einer letzten Art mehrteiliger Staaten gedenken, eines Erbstückes extremster Territorialpolitik, das entschieden im Aussterben begriffen ist, nämlich des E x k l a v e n s t a a t e s . Die Teile sind nicht durch Meer voneinander getrennt, sondern über das Land verstreut. Sie heißen Exklaven vom Standpunkte jenes Staates, zu dem sie gehören, und Enklaven vom Standpunkte jenes Staates, der sie umschließt. Im Mittelalter und bis Napoleon spielten sie in Europa eine große Rolle; das buntscheckige Bild, das damals das Deutsche Reich bot, war eine Folge der Kleinstaaterei, die zum Teil durch die große Menge von Enklavenstaaten bedingt war. Übrigens steht Deutschland in dieser Beziehung nicht allein da. Es war die Zeit, da die Fürsten zwischen Staats- und Privatgut nicht zu unterscheiden pflegten, und Erbteilungen und Heiratsausstattungen gaben häufig Veranlassung zur Erwerbung von Exklaven, Der größte deutsche Exklavenstaat, der bis 1866 diesen Charakter bewahrte und nun wieder dem gleichen Schicksal verfallen ist, ist Preußen. Die Unzuträglichkeit einer solchen Staatsgestalt liegt auf der Hand. Auch insulare Zersplitterung ist ein Moment der Schwäche, die um so fühlbarer wird, je weiter die Teile voneinander abliegen, und unter allen Umständen wird die Grenze verlängert, werden die Angriffspunkte vermehrt, und wird dadurch die Verteidigung erschwert. Wie sehr muß sich dieser Übelstand steigern, wenn zwischen den Teilen des Staates fremde, oft neutrale Staaten liegen! Es war daher ein Gebot der Staatsnotwendigkeit, alle Gelegenheiten zu benutzen, um diese zerstreuten Trümmer zu einem einheitlichen, kompakten Gebäude

Die Oestalt der Staaten.

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zu verschmelzen. In der napoleonischen Zeit und bei der nachfolgenden Neuordnung der Verhältnisse sind viele Exklavenerbstücke verschwunden. Nur wenige blieben erhalten, die meisten in Thüringen, das als Modell der mittelalterlichen politischen Zersplitterung Deutschlands gelten kann. Übrigens sind Exklaven nicht unter allen Umständen f ü r den Bestand des Staates gefährlich. Der größte Exklavenstaat der neueren Geschichte war das habsburgische Spanien, das außer dem Stammland und dem dazu gehörigen großen Kolonialbesitz in der neuen Welt noch

Fig. 2.

Preußen zur Zeit des Deutschen Bundes.

Sardinien, Sizilien, das Königreich Neapel, Mailand, die Freigrafschaft Burgund und Belgien umfaßte. Das hatte in Kriegszeiten natürlich eine unbequeme Zersplitterung seiner Kräfte zur Folge, besonders da sich das feindliche Frankreich zwischen Spanien und Belgien drängte, war aber anderseits eine wesentliche Vorbedingung für Spaniens europäische Machtstellung, die freilich nicht so ausgenutzt wurde, wie es hätte werden können. Der Besitz Süditaliens sicherte die Herrschaft über das Tyrrhenische Becken, das nun von einem Kranz spanischer Besitzungen umsäumt wurde, und die Niederlande mit ihrer reichen Industrie und S u p a n , Leitlinien.

2. Aufl.

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Die Gestalt der Staaten.

ihrer regen Schiffahrt boten dem armen Stammland eine unentbehrliche Ergänzung für dessen koloniale Bestrebungen. Im spanischen Erbfolgekriege kam Belgien an Österreich, und nun machten sich die Nachteile der Exklavenwirtschaft immer mehr fühlbar. Es war daher vom österreichischen Standpunkt eine durchaus gesunde Politik, wenn Josef II. Belgien gegen das ärmere, aber benachbarte Bayern umtauschen wollte, ein Plan, der bekanntlich an dem Widerstande Friedrichs d. Gr. scheiterte. Wäre er verwirklicht worden, so hätte sich das Geschick Österreichs und damit ganz Mitteleuropas wesentlich anders gestaltet. Die interessanteste Exklave ist derzeit der schmale Landstreifen, den die Republik Panama zu beiden Seiten des gleichnamigen Schifffahrtskanals den Vereinigten Staaten von Amerika abgetreten hat, und wo auch bereits Festungswerke errichtet wurden. So unbedeutend diese Exklave auch räumlich ist, so wichtig ist sie durch ihre Lage, und es ist vorauszusehen, daß die Vereinigten Staaten danach streben werden, auf irgendeine Weise auch eine räumliche Verbindung mit ihr herzustellen. Die zentralamerikanischen Staaten sind zu machtlos, um das auf die Dauer verhindern zu können; diese Aufgabe fällt Mexiko zu, dessen Unabhängigkeit durch ein solches Ausgreifen der Union ja auch in Frage gestellt wäre. Kolonialstaaten. Wir verstehen darunter nur Staaten mit ü b e r s e e i s c h e n Kolonialbesitzungen, schließen also Rußland, das bis zur letzten Revolution mit seinen asiatischen Besitzungen in unmittelbarem Landzusammenhajnge stand und äußerlich alle Merkmale eines einfachen Staates trug, davon aus. Rein territorial betrachtet, kann man die Kolonialstaaten den mehrteiligen Staaten zurechnen, und auch die weite Entfernung der Teile voneinander ändert daran nichts wesentlich. Ihr politischer Zusammenhang wird dadurch freilich gelockert, aber trotzdem macht sich die Verletzung eines Teiles wenigstens im führenden Hauptteil fühlbar und auch umgekehrt. Dafür bot gerade der Weltkrieg zahlreiche Beispiele. Der Hauptunterschied zwischen mehrteiligen und Kolonialstaaten liegt darin, daß in jenen die Teile politisch gleichwertig sind, in diesen aber nicht. Hier ist immer nur ein Teil, derjenige, von dem die kolonisatorische Bewegung ausgegangen ist, aktiv, und alle anderen sind passiv; jener gebietet und diese müssen gehorchen. Dieses Verhältnis der Teile zueinander hat sich natürlich in den verschiedenen Kolonialstaaten höchst mannigfaltig ausgebildet und war in jedem zeitlichen Wandlungen unterworfen, aber der Gegensatz blieb immer bestehen. Er ist ursprünglich ethnographisch begründet. S e i t d e m 16. J a h r -

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h u n d e r t , seitdem Kolonialstaaten bestehen, lagen die a k t i v e n Teile immer in Europa, und erst in den letzten J a h r z e h n t e n gesellten sich noch die Vereinigten S t a a t e n von Amerika und J a p a n zu den Kolonialmächten. Mit A u s n a h m e von J a p a n gehörten die gebietenden Völker der weißen Rasse an und waren die unterworfenen farbig. Nach diesen völkischen Verhältnissen lassen sich drei Arten von Kolonien u n t e r scheiden 1 : 1. E i n g e b o r n e n k o l o n i e n , in denen außer wenigen weißen Beamten, Soldaten, Missionaren, K a u f l e u t e n u. dgl. nur farbige Eingeborene leben. 2. In den M i s c h k o l o n i e n bilden zwar die Farbigen und ihre Mischlinge noch immer die Mehrzahl, aber das weiße E l e m e n t n i m m t schon einen breiteren R a u m ein und, was besonders schwer ins Gewicht fällt, ist zum großen Teil ansässig geworden. 3. In den E i n w a n d e r e r k o l o n i e n haben die weißen Kolonisten entweder menschenleere Ländereien in Besitz genommen, oder die Eingeborenen entweder v e r d r ä n g t oder bis auf wenige u n b e d e u t e n d e Reste ausgerottet. In den großen Kolonialstaaten sind alle drei Arten v e r t r e t e n . Der Gegensatz von aktiven und passiven Teilen gestaltet sich verschieden. Die Eingeborenen- und die meisten Mischkolonien können wir als A r b e i t e r l ä n d e r — oder K n e c h t l ä n d e r bezeichnen, und ihnen gegenüber s t e h t das politische Kernland als H e r r e n l a n d . Die Briten b e t o n t e n diesen H e r r e n s t a n d p u n k t immer mit besonderem N a c h d r u c k , selbst wenn sie, durch die Not gezwungen oder aus finanziellen Gründen, die alten, einheimischen F ü r s t e n und H ä u p t l i n g e zum Teil bestehen ließen und ihre kolonialen U n t e r t a n e n nur m i t t e l b a r regierten. Diese Methode empfahl sich besonders in der größten Eingeborenenkolonie, in Britisch-Indien, wo noch an 300 britische Vasallenfürsten sich einer p r u n k h a f t e n , a b e r m a c h t losen Existenz erfreuen. Auch in a n d e r e n Kolonien ist diese Regierungsform beliebt, wenngleich ihre H a u p t e n t f a l t u n g s z e i t zweifellos v o r ü b e r ist. Die Stellung Holländisch-Ostindiens zum europäischen K e r n l a n d e h a t sich z. B. bereits wesentlich geändert. „ D i e Kolonien sind," wie selbst der ehemalige Kriegs- und Marineminister H. COLYN2 j e t z t ausdrücklich anerkennt, „keine bloßen Anhängsel der Niederlande mehr, sondern bilden einen wesentlichen und integrierenden Bestandteil des Staates. An Stelle der f r ü h e r e n Subordination t r a t die K o o r d i n a t i o n . " Auch in der Stellung der afrikanischen Eingeborenenkolonien d ü r f t e eine einschneidende Ä n d e r u n g im Anzüge sein. Nicht nur, d a ß unsere Gegner m a s s e n h a f t farbige Soldaten als K a n o n e n f u t t e r auf die euro1

A. SUPAN, Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien. Gotha 1906, S. 307. 2 In einem Brief an Professor LUDWIG STEIN, mitgeteilt in der Vossischen Zeitung v. 24. Aug. 1916. 2*

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päischen Schlachtfelder schleppten, sondern es wurde auch, entgegen einem belgischen Antrage (v. 7. Aug. 1914) von Frankreich und England der Krieg selbst auf zentralafrikanischen Boden verpflanzt und damit der Herrenstellung der Weißen ein empfindlicher und unheilvoller Stoß versetzt. Welche F r ü c h t e dieses unsinnige Gebaren zeitigen wird, läßt sich noch nicht absehen; Pessimisten sehen darin den Anfang des Endes der europäischen Kolonisation im schwarzen Erdteil. W a s das f ü r die Zivilisation der ganzen Menschheit bedeuten würde, braucht nicht weiter ausgemalt zu werden. Einwandererkolonien standen zu ihrem Kernland natürlich von jeher in einem anderen Verhältnis, das m a n kurz als das von T ö c h t e r n zur M u t t e r bezeichnen kann. Aber trotzdem bestand der Gegensatz von passiv und a k t i v auch hier, denn auf den Tochterländern lastete der schwere Druck der Bevormundung. Das f ü h r t e zum Abfall der englischen Kolonien in Nordamerika und später der spanischen und portugiesischen Kolonien in Mittel- und Südamerika, die seitdem ihre staatliche Unabhängigkeit bewahrt haben. Große Umgestaltungen im britischen Kolonialreiche waren die Folge davon. Eine neue Art von Kolonien entstand, die Dominions, wie m a n sie jetzt nennt, mit selbständiger Gesetzgebung und Verwaltung, die nur noch ganz lose mit dem Mutterland zusammenhängen. Mit Ausnahme der südafrikanischen Union, wo die weiße Bevölkerung nur 16 v. H. ausmacht, sind sie alle echte Einwandererkolonien: Kanada, Neufundland, Australien und Neuseeland. Südafrika, Australien und K a n a d a kann m a n wegen ihrer räumlichen Ausdehnung und ihrer Lage wohl als Staaten, und zwar als Bundess t a a t e n betrachten, und m a n h a t im Ausland auch schon oft die Erw a r t u n g ausgesprochen, d a ß sie sich vom britischen Mutterland loslösen werden. So locker auch das Band ist, das sie mit England verk n ü p f t , es bleibt doch ein Gängelband. Der von der britischen Krone ernannte Gouverneur f ü h r t die Oberaufsicht, und die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten wird bisher ausschließlich von London besorgt. Wir sind daher vollauf berechtigt, das britische Reich noch immer als eine staatliche Einheit zu betrachten. Man ist sich aber in England auch darüber klar geworden, d a ß der Zusammenschluß des Mutterlandes mit den Dominions auf eine solidere Grundlage geteilt, d a ß aus allen diesen zerstreuten Stücken ein kräftiges, lebensfähiges Ganze geschaffen werden müsse, ein „ I m p e r i u m " , das, wie sich J O S E F CHAMBERLAIN ausd r ü c k t e , „jeden Mann britischer Rasse in jedem Teile der Erdkugel u m f a ß t " . Seit 1887, dem J a h r e der ersten Kolonialkonferenz in London, h a t der imperialistische Gedanke immer weitere Kreise gezogen und sich immer mehr der Geister bemächtigt. Bekannt ist der Plan J O S E F

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C H A M B E R L A I N S , das Imperium durch einen Zollbund zu erreichen. Er ist gescheitert, weil er gegen den englischen Grundsatz des Freihandels verstieß, wird aber sicher, wenn auch in veränderter Form, wieder aufleben. Die beiden großen Kriege, in die England in der jüngsten Zeit verwickelt war, haben gezeigt, daß der Gedanke des inneren Zusammenhangs von Mutterland und Tochterländern auch in den letzteren schon feste Wurzeln geschlagen hat. Wir stehen hier vor ganz neuen Staatsgestalten, vor Problemen, denen wir später noch einmal begegnen werden. Die übrigen Kolonialstaaten der Gegenwart stehen im großen ganzen noch auf der Stufe von Herren- und Knechtland. Doch gibt es Abweichungen. Ein paar französische Kolonien senden Vertreter in das französische Parlament, Algier gilt fast als ein Teil des Kernlandes. Spanien zählt die Kanaren und Ceuta, Portugal die Azoren und Madeira zum Mutterlande, Hawaii ist nicht eine Kolonie, sondern ein Territorium der Vereinigten Staaten. Zusammenfassend können wir sagen, daß Kolonialstaaten, ebenso wie mehrteilige Staaten, als politische Einheiten aufzufassen sind, aber mit jenen nicht zusammengeworfen werden dürfen. Fraglich bleibt es dagegen, wie es mit den I n t e r e s s e n s p h ä r e n zu halten sei. Man versteht darunter überseeische Gebiete, auf die ein Kolonialstaat die Hand gelegt, auf die er sich durch Verträge mit den eingeborenen Machthabern und mit anderen Kolonialstaaten Rechtstitel erworben hat, deren eigentliche Besitzergreifung aber erst in der Zukunft erfolgen soll. Sie sind charakteristisch für die Periode ungestümer Kolonialjagd in den 80 er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts, sind aber eine Erscheinung, die sich in weniger legalen Formen durch alle Zeiten der Kolonialgeschichte bis zur Teilung der Erde durch Papst A L E X A N D E R V I . verfolgen läßt. Theoretisch sind sie vom Gebiete des Kolonialstaates auszuschließen, praktisch wird es aber in seltenen Fällen gelingen, zwischen Interessensphären und kolonialen Verwaltungsgebieten für einen bestimmten Zeitpunkt eine Grenze zu ziehen. Dies gilt z. B. selbst f ü r die französische Einflußsphäre in der westlichen Sahara, während die britische in der Libyschen Wüste wohl auch heute noch unabhängig ist und daher nicht zum britischen Reiche gezählt werden darf.

Mandatskolonien, eine Erfindung des Versailler Friedens von 1919 (Art. 22), sind die deutschen Kolonien und noch nicht festgestellte türkische Besitzungen, die infolge des Weltkrieges herrenlos geworden sind und nun von dem Völkerbund unter die siegreichen Kolonialstaaten verteilt werden, rechtlich und dem Namen nach aber noch immer der Oberaufsicht des Völkerbundes unterstehen. Diese Einschränkung

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ist indes schon deshalb belanglos, weil der Völkerbund selbst noch problematisch ist. D e u t s c h - O s t a f r i k a z. B. ist tatsächlich jetzt ebenso britisch, wie Nigeria. W e n n wir uns f r a g e n , inwiefern Kolonien zur S t ä r k u n g oder S c h w ä c h u n g eines S t a a t e s beitragen — eine Frage, die besonders in Deutschland, aber in der Vergangenheit auch in England lange Zeit auf der T a g e s o r d n u n g s t a n d —, so können wir unser Urteil in Kürze dahin zusammenfassen, d a ß Kolonien an und f ü r sich f ü r jeden S t a a t eine Last sind. Ihre Z e r s t r e u u n g über weite R ä u m e , die Notwendigkeit einer s t a r k e n Flotte, a n der die Kolonialbestrebungen Frankreichs wiederholt gescheitert sind, und von der uns der Weltkrieg wieder auf die eindringlichste Weise überzeugt h a t , die klimatischen Widerwärtigkeiten der Tropenzone, in der die meisten Kolonien liegen, die Schwierigkeiten, die die Eingeborenen einer geregelten Verwaltung und den kulturellen A u f g a b e n der Kolonisten entgegensetzen — das alles ist entschieden als ein S c h w ä c h e m o m e n t einzuschätzen. W e n n wir t r o t z d e m seit f a s t einem halben J a h r t a u s e n d die Seemächte eifrig bestrebt sehen, sich kolonial auszudehnen, so m u ß der Grund hierzu wo anders zu suchen sein, und wir werden an einer späteren Stelle davon ausführlicher zu reden h a b e n . Vorläufig haben wir nur festzustellen, daß S t a a t e n durch kolonialen Besitz eine ungünstige Gestalt erhalten. Viel hängt davon ab, in welchem Größenverhältnis dieser Besitz zu dem Kernlande steht. D a r ü b e r gibt uns der auf die Landfläche oder die Bevölkerung bezogene K o l o n i a l q u o t i e n t (Kolonien dividiert durch das dazu gehörige M u t t e r - bzw. Herrenland) raschen und übersichtlichen Aufschluß. F ü r die Zeit u n m i t t e l b a r v o r dem Weltkriege galten ungefähr folgende Z a h l e n : England 1 Niederlande Belgien Portugal 2 Frankreich 3 Italien Deutschland Japan Amerika Spanien 2

Fläche

Bevölkerung

102,7 59,8 80,0 24,3 19,5 5,i 5,3 0,7 0,04 0,7

8,4 6,2 2,3 1,7 1,4 0,4 0,2 0,2 0,i 0,os

1 Ohne die libysche Wüste und die überseeischen Besitzungen auf europäischem Boden, Gibraltar und Malta. 2 Die portugiesischen Azoren und Madeira und die spanischen K a i a r e n 'sind als Kolonialbesitz behandelt. 3 Einschließlich der saharischen Einflußsphären.

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Nach obiger Tabelle lassen sich die kolonialen Mächte in zwei Gruppen zusammenfassen, in der ersten liegt der Bevölkerungs-Koloriialquotient über, in der zweiten u n t e r 1. Die erste u m f a ß t die alten westeuropäischen Kolonialmächte mit A u s n a h m e von Spanien, das einst auch ihr angehörte, ja sogar an der Spitze s t a n d u n d n u n auf die letzte Stufe herabgesunken ist. Zur zweiten Gruppe gehören die jungen Kolonialstaaten, deren Expansionstrieb nach allen Seiten hin auf Widerstand stieß. Rein zahlenmäßig b e t r a c h t e t ist ein kleiner Kolonialquotient günstiger als ein großer, namentlich in bezug auf die Bevölkerung; es ist augenscheinlich klar, d a ß die H e r r s c h a f t gesicherter ist, wenn die Unterworfenen sich in der Minderzahl befinden. D a ß 46 Mill. Engländer über 315 Mill. Inder herrschen, ist unzweifelhaft ein ungesundes Verhältnis, und m a n weiß auch, auf wie' schwachen F ü ß e n das britische Regiment in Indien steht. Doch darf m a n nie vergessen, d a ß Flächenund Volkszahlen f ü r die W e r t s c h ä t z u n g einer Kolonie nur von u n t e r geordneter B e d e u t u n g sind. N a m e n t l i c h die Flächenzahlen. Der Unterschied. beider Kolonialquotienten zeigt deutlich, wie d ü n n die Kolonien durchschnittlich bevölkert sind, was sich d a r a u s erklärt, d a ß neben reichen Gegenden u n f r u c h t b a r e liegen. D a m i t soll aber nicht gesagt sein, d a ß diese letzteren nicht einmal auch bei rationellerer Bewirtschaftung im W e r t e steigen können. Wachstum und Grenzen der Staaten. Die augenblickliche Gestalt eines S t a a t e s ist stets das Ergebnis einer Entwicklungsphase. Die E n t wicklung ist meist kriegerisch, jedoch m a n c h m a l , wenn es sich nur um u n b e d e u t e n d e Veränderungen handelt, auch friedlicher Art, und ihr T e m p o ist verschieden; aber kein S t a a t h a t noch im Laufe längerer Zeiträume seine Gestalt u n v e r ä n d e r t behalten. Diese Veränderungen können, wie wir schon auf S. 8 a n d e u t e t e n , aus zwei verschiedenen Motivzentren entspringen, und dementsprechend haben wir zwischen T e r r i t o r i a l - und N a t i o n a l p o l i t i k zu unterscheiden. Die U r a n f ä n g e der ältesten S t a a t e n liegen jenseits der historischen Linie. Aber nach dem, was wir aus der f r ü h e s t e n Geschichte Babyloniens und Ägyptens wissen und wie wir schon a priori voraussetzen dürfen, vollzog sich der Übergang aus dem anarchischen in den organisierten Zustand immer nur fleckenweise, und zwar dort, wo reichliche N a h r u n g s mittel eine große M e n s c h e n a n s a m m l u n g und ein dichteres Z u s a m m e n wohnen ermöglichten. Die steigende Bevölkerungszunahme und die Unfähigkeit und Unlust zu einer intensiveren A u s n u t z u n g des Bodens d r ä n g t e n zur E x p a n s i o n , bis irgendeine N a t u r s c h r a n k e , das Meer, ein hohes Felsengebirge, eine W ü s t e oder ein Urwald H a l t gebot, oder

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bis man auf eine lebendige Mauer, auf ein wehrhaftes Volk stieß. Wenn dann ein Kampf entbrannte, konnte es stets nur ein Kampf um den Boden sein. Die T e r r i t o r i a l p o l i t i k , die n u r a u f L a n d e r w e r b g e r i c h t e t ist und f ü r die der Besiegte lediglich eine N e b e n s a c h e i s t , war somit notwendigerweise die ä l t e s t e Form aller kriegerischen zwischenstaatlichen Beziehungen, sie drückt den Geschichtsblättern aller vergangenen Jahrtausende ihren Stempel auf. Wenn ihre wilden Ausbrüche auch mit der Zeit seltener wurden, so feierte sie doch noch in unseren Tagen .auf dem Pariser Kongreß nicht minder wüste Orgien als vor hundert Jahren auf dem Wiener Kongreß. Sie ist stets der Ausdruck eines Expansionsdranges, mag dieser innerlich begründet oder nur willkürlich sein. Aus dem Gesagten geht hervor, daß es zwei Hauptarten von Grenzen gibt: p h y s i s c h e oder N a t u r g r e n z e n und p o l i t i s c h e Grenzen, die benachbarte Staaten scheiden. Über Grenzen ist schon viel geschrieben worden, vom allgemeinen Standpunkt aus hat R A T Z E L diesen Gegenstand behandelt, und wenn wir auch in den folgenden Erörterungen nicht das ganze Problem aufrollen wollen, so möge es doch, um Klarheit zu schaffen, vergönnt sein, eine allgemeine Bemerkung vorauszuschicken. Man hat zunächst an dem Unterschiede von Berührungsstellen starrer und beweglicher Körper festzuhalten. 1 Die ersteren sind in ihrem Wesen nach E i g e n s c h a f t s g r e n z e n . Wenn ich einen Stein und einen genau sich anschmiegenden Eisenblock nebeneinander lege, so ist die Grenze eine wahrhafte Trennungslinie, an der plötzlich und unvermittelt ein Wechsel der Substanz eintritt. An B e w e g u n g s g r e n z e n verhalten sich die sich berührenden Körper anders. Da ihre Teilchen verschiebbar sind, so können die Substanzen an den Berührungsstellen sich gegenseitig durchdringen oder mischen. Statt einer scharfen Trennungslinie entsteht eine Übergangszone. Ein anderer Unterschied liegt darin, daß Eigenschaftsgrenzen fest, Bewegungsgrenzen verrückbar sind, sich also genau so verhalten wie die Körper, die sie trennen. Insofern solche Naturhindernisse Grenzen bilden, sind diese einseitig, im Gegensatze zu den doppelseitigen politischen Grenzen. An der maritimen Westgrenze Frankreichs stehend, blicken wir nur auf einer Seite in ein staatliches Gebilde, auf der anderen aber in das politische Leere hinaus. Die Ostgrenze hat dagegen einen januskopf, das 1

RATZEL hat eigentlich nur den zweiten Fall betrachtet und daraus entsprangen viele Mißverständnisse. Sein Schüler EMIL SCHÖNE erklärte geradezu: „ I n Wirklichkeit ist die politische Grenze, wie jede andere Grenze ein räumliches Gebilde von wechselnder Breite" (Politische Geographie, S. 40).

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eine Gesicht kehrt sich Frankreich, das andere Deutschland zu. Die physischen Grenzen sind mehr den Eigenschaftsgrenzen verwandt, die politischen mehr den Bewegungsgrenzen; jene sind auch fester als diese, aber absolut fest doch nur f ü r Völker, solange diese auf einer sehr tiefen Stufe der Zivilisation stehen. Vom Eindringen in den Urwald hält weniger die Mühsal des Rodens, als die abergläubische Furcht vor dem geheimnisvollen Düster ab. 1 Dauerndere Schranken sind das Meer, das Eis und die Wüste. Aber auch sie können mit der Zeit fallen. Das Meer ist schon längst aus einer Völkerschranke eine Völkerbrücke geworden. Die Staaten greifen nicht nur über schmale Meeresarme, sondern sogar über breite Ozeane hinüber. England, Frankreich, Spanien und Portugal haben ihre atlantischen Gegengestade bis tief in das Land hinein ihrer Herrschaft unterworfen. Nur der Große Ozean, der die halbe Erdkugel bedeckt, verharrt noch im Stadium der Schranke, aber schon mehren sich die Anzeichen seiner Überwindung. Ein erster Schritt dazu war die Besitzergreifung Hawaiis und der Philippinen durch die Amerikaner, und schon scheinen sich die Japaner zu dem umgekehrten Wege zu rüsten. Auch Wüsten bilden keine dauernden Grenzen. Die jahrzehntelangen Bemühungen der Franzosen, von Algier aus eine staatliche Verbindung mit den Senegal- und Nigerländern herzustellen, sind von Erfolg gekrönt worden. Nur das Eis scheint ein dauerndes Hemmnis zu sein. Die dänischen Kolonien in Grönland werden immer nur auf den Rand des Inlandeises beschränkt bleiben, und auch die reichsten Bodenschätze würden keinen verlocken, von der Antarktika, diesem echtesten Niemandslande der Erde, Besitz zu ergreifen. Politische Grenzen.2 Diese haben im Rahmen der Territorialpolitik nur Augenblickswert. Sie sind nur Ausdruck der augenblicklichen Verteilung der Machtverhältnisse. Darin liegt auch ihre meist übersehene Bedeutung. Sie sind zwar, wie R A T Z E L richtig erkannt hat, Bewegungsgrenzen, zugleich aber auch M a c h t g r e n z e n und nehmen bis zu einem gewissen Grade den Charakter von Eigenschaftsgrenzen an. Möge das Volk auch hüben und drüben der Grenze dieselbe Sprache sprechen, 1 Vgl. die unübertreffliche Schilderung der litauischen Wälder in „ H e r a T h a d d ä u s " des polnischen Dichters ADAM MICKIEWICZ. 2 CLEMENS FÖRSTER, Zur Geographie der politischen Grenze. Leipzig 1893. — H. WALSER, Zur Geographie der politischen Grenzen (Mitteil. d. ostschweizerischen Geogr.-Kommerz-Ges. St. Gallen 1910). — A . PENCK, Über politische Grenzen. Berlin 1917. — A m eingehendsten h a t sich ROBERT SIEGER m i t diesem Problem beschäftigt: Zur politisch-geographischen Terminologie (Ztsch. d. Ges. f. E r d k u n d e . Berlin 1917, S. 4 9 7 ; 1918, S. 48).

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möge es auch sonst gemeinsame Züge aufweisen, die sich auf dauernde Berührung, häufige Mischung und gemeinsame Interessen zurückführen lassen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß hüben und drüben verschiedene Gesetze gelten und verschiedene Machthaber gebieten. Eine Ausnahme machen nur jene Grenzstellen, wo ein Staat, meist auf juridischem und wirtschaftlichem Gebiete, in die Rechtssphäre des Nachbarstaates eingreift. Diese „übergreifenden R e c h t e " haben aber keine politische Bedeutung und schwinden immer mehr. Die Bedeutung von Machtgrenzen kommt auch nur den ä u ß e r e n oder S t a a t s g r e n z e n zu, nicht den i n n e r e n Verwaltungs- und Eigentumsgrenzen, die wir daher von unserer Betrachtung ausschließen. Die Staatsgrenzen sind zweierlei Art. Sie können entweder mit Volksgrenzen zusammenfallen ( V o l k s g r e n z e n ) oder ohne Rücksicht auf den Charakter der Bevölkerung das Land durchziehen ( L a n d grenzen). Die bisher herrschende Territorialpolitik kennt nur Landgrenzen, Volksgrenzen sind erst eine Forderung der neuesten Zeit und kommen daher v o r l ä u f i g für uns n i c h t in Betracht. Die Landgrenze primitiver Völker war von jeher ein G r e n z s a u m . Ein solcher konnte aus einer physischen Grenzfläche, z. B . einem ausgedehnten Urwald, der durch eindringendes Volk immer mehr verengt wurde, hervorgehen und gehört dann in die Kategorie der Bewegungsgrenzen. Meist ist er aber wohl ein Fremdkörper, der sich zwischen zwei andere Körper einschiebt und sie auseinanderhält; dann ist er den Eigenschaftsgrenzen zuzuzählen, besonders dann, wenn er unbewohnt war. Am häufigsten war er von der Natur selbst geschaffen. Wasserflächen, ödes und der Kultur unzugängliches Gelände, vor allem aber Urwälder, die die rodende Hand des Menschen absichtlich stehen ließ, waren beliebte Mittel, um eine unerwünschte Annäherung des Nachbarn hintanzuhalten. Auch auf künstliche Weise entstanden Grenzsäume. Allbekannt ist jener 5 0 — 1 0 0 km breite Ödlandstreifen zwischen China und Korea, wo jede Niederlassung bei Todesstrafe verboten war und nur an einer einzigen Stelle dreimal im J a h r e Messen abgehalten werden durften. Ein paar J a h r h u n d e r t e erhielt sich diese Einrichtung, die erst 1870 verschwand. Dieses Beispiel zeigt schon, daß der Grenzsaum nicht nur bei Naturvölkern, sondern auch bei zivilisierten vorkam. Besonders dort, wo Kultur und Unkultur zusammenstießen, wie z. B . an der römischgermanischen Grenze im Altertum. Stets war es das Schutzbedürfnis, das zu dieser Art der Ländertrennung durch mehr oder weniger völlige Abschließung führte. Zweierlei wirkte dagegen: der zunehmende

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Verkehr mit den N a c h b a r n und die wachsende Bevölkerung, die zur E r w e r b u n g der nutzlos brach liegenden Grenzländereien drängte. Gebirge, die ursprünglich in ihrer ganzen Breite u n b e w o h n t waren, wurden v o m R a n d aus besiedelt, und mancherlei mineralische Schätze lockten den Menschen immer tiefer hinein und immer höher hinauf in die bisher g e f ü r c h t e t e n Regionen. So schmolz das trennende Grenzland immer mehr und mehr z u s a m m e n , die Völker rückten einander näher, a u s d e m G r e n z s a u m e n t w i c k e l t e s i c h d i e G r e n z l i n i e . Dieser Prozeß vollzog sich natürlich bald schneller, bald langsamer und in verschiedenen Ländern zu verschiedenen Zeiten. Bei den alten K u l t u r v ö l k e r n war er schon seit vielen J a h r h u n d e r t e n vollendet, als G e r m a n i e n noch ganz in der Phase des Grenzsaumes steckte. Aber a u c h hier waren es n u r die großen Grenzen, die Völker- und Gaugrenzen, die noch bis tief in das Mittelalter hinein mit Grenzwäldern u m g ü r t e t waren, während die kleinen Grenzen zwischen Äckern und H u f e n schon zur linearen Gestalt übergegangen waren. E r s t im 3 12. J a h r h u n d e r t w a r diese U m w a n d l u n g allgemein geworden. In den Negerländern Afrikas w a r der Grenzsaum, wenigstens zur Zeit der großen E n t d e c k e r in der zweiten H ä l f t e des vorigen J a h r h u n d e r t s , noch allgemeine Einrichtung und d ü r f t e wohl auch jetzt noch nicht ganz verschwunden sein. Selbst aus modernen S t a a t s v e r t r ä g e n ist der Grenzs a u m noch nicht ganz verschwunden. So w u r d e im Frieden zwischen Frankreich und Siam vom 1. Oktober 1893 festgesetzt, d a ß in einem 25 km breiten Gürtel am rechten Ufer des 'Mekong Siam weder befestigte P o s t e n und Militärniederlassungen gründen, noch irgendwelche T r u p p e n halten d ü r f e . 2 In v e r ä n d e r t e r Form lebte der Grenzsaum in neuester Zeit wieder auf. Die P u f f e r s t a a t e n , z. B. A f g h a n i s t a n und Siam, haben eine Existenzberechtigung d a d u r c h erhalten, d a ß sie ausdehnungslustige Mächte voneinander trennen. Die Wiederaufricht u n g Polens im J a h r e 1916 dient einem ähnlichen Zwecke. Der ganze W e s t r a n d des einstigen europäischen R u ß l a n d s löste sich in P u f f e r s t a a t e n auf, die jetzt freilich eine ganz andere B e d e u t u n g gewonnen haben. Auch die neutralen S t a a t e n Europas, besonders Belgien und die Schweiz, können als Grenzsäume in modernisierter Form und a n g e p a ß t unseren Kulturverhältnissen a u f g e f a ß t werden. Auch in diesen Fällen w a r das S c h u t z b e d ü r f n i s der b e n a c h b a r t e n G r o ß m ä c h t e das treibende Motiv, und m a n glaubte es d a d u r c h befriedigen zu können, d a ß m a n einen Keil dazwischen schob. Wie sehr m a n sich darin getäuscht h a t , 1 HANS F. HELMOLT, Die Entwicklung der Grenzlinie aus dem Orenzsaume im alten Deutschland. Histor. Jahrbuch 1896, Bd. X V I I , S. 235. 2 A. SUPAN, Die Bevölkerung der Erde, H e f t X I , Gotha 1901, S. 52.

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hat der Weltkrieg gezeigt. Andere staatliche Grenzgebilde, mit denen sich die Geschichte und die Politik näher zu beschäftigen haben, sind die Marken des alten fränkischen und deutschen Reiches, die Protektorate, die Tributärstaaten u. a. 1 ; auch in ihnen schimmert die Idee des Grenzsaumes durch. Wie eine Erinnerung aus ältesten Tagen in eigenartiger Verquickung mit ganz moderner Auffassung mutet uns die deutsch-französische Grenze an, die nach dem Frankfurter Frieden (1871) durch die waldigen Teile gelegt wurde. Eine 4 km breite Lichtung wurde hier ausgehauen, und genau in der Mitte verlief die Grenzlinie. . Daß diese nicht etwa eine ideale Linie war und die streifenartige Waldblöße als Grenze gedacht war, davon konnte sich jeder zu seinem Schaden überzeugen, der in der Friedenszeit jene Linie verletzte. Als 1897 die Union zwischen Schweden und Norwegen aufgehoben wurde und man sich genötigt sah, genaue Grenzen festzulegen, südlich vom 61. Parallel aber in der Natur keinen Anhalt fand, half man sich damit, statt einer Grenzlinie eine neutrale Zone einzuschieben. 2 Schatten des Grenzsaumes verfolgen uns allenthalben. Jeder Fluß, der zwei Staaten trennt, ist ein flächenhaftes Grenzgebilde, aber die rechtliche Grenze liegt in einer Linie, die entweder am Rande des Flusses oder in diesem selbst verläuft, meist im Talwege, d. h. über der tiefsten Rinne des Bettes. Wenn wir sagen, die Pyrenäen bilden die Grenze zwischen Frankreich und Spanien, so bedienen wir uns der Terminologie einer vergangenen Zeit; in der Tat liegt die Grenze i n n e r h a l b der Pyrenäen. J a , sogar am Meere zeigt sich die Tendenz, die flächenhafte Grenze durch eine lineare zu ersetzen. Die Grenze zwischen Meer und Land ist periodischen und unperiodischen Schwankungen unterworfen, sie soll daher durch eine feste künstliche Linie ersetzt werden. Nicht das ganze Meer soll als neutrale Fläche betrachtet werden, sondern man nimmt einen an der Küste gelegenen Streifen (Territorialgewässer, mare territoriale) davon aus, um den daran liegenden Staat vor feindlichen Überfällen und wirtschaftlichen Eingriffen (Fischfang) zu schützen. In älteren Zeiten sollte dieser marine Grenzsaum so weit hinausreichen, als die am Strande aufgestellten Geschütze tragen; da aber die Tragweite der Kanonen sich änderte, so führte man ein festes Maß ein: alle Küstengewässer bis zu einer Entfernung von 3 Seemeilen (5560 m) und in allen Buchten von weniger als 10 Seemeilen (18500 m) Breite sollen als Staats1 Ausführlicher handelt davon Lord CURZON OF KEDLESTON, Frontiers. Oxford 1908, S. 2 6 f f . 2 R.KJELLEN, Geopolitische Betrachtungen über Skandinavien (Geogr. Ztschr. 1905, S. 657).

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gebiet angesehen werden. In neuester Zeit ist in Amerika der Gedanke a u f g e t a u c h t , wieder zum älteren System zurückzukehren, aber, entsprechend der T r a g k r a f t der modernen Geschütze, die Staatsgrenze bis 40 Seemeilen (74 km) hinauszurücken. Nach den neuesten Erfahrungen vor Paris würde auch diese E n t f e r n u n g nicht genügen. Grenzlinie. Als ein wichtiger Charakterzug m u ß folgendes hervorgehoben werden. W ä h r e n d die physische Grenze unmittelbar durch die N a t u r gegeben ist, indem unbewohnbares — nicht bloß unbewohntes — Gebiet an bewohntes stößt, und während Grenzsäume zwar manchmal durch den Menschen abgegrenzt sind, häufig aber nicht, indem sich zwischen zwei geordneten Staaten wilde, gesetzlose Horden einschieben, ist die Grenzlinie stets das E r g e b n i s e i n e r Ü b e r e i n k u n f t zwischen den benachbarten Völkern. Und ferner: während physische Grenzen und Grenzsäume ihrem Wesen nach ein Ausdruck von Bewegungsvorgängen sind, indem sie die Stellen bezeichnen, wo eine fortschreitende Bewegung ins Stocken gerät, liegen Grenzlinien in der Regel diesseits der Haltestelle. Im Feldzuge von 1870/71 drangen die deutschen Heere weit über die Vogesen vor, und i n n e r h a l b des eroberten Gebietes wurde dann im F r a n k f u r t e r Frieden eine Linie ausgesucht, die den Bedürfnissen des Siegers am besten zu entsprechen schien. Doch gibt es A u s n a h m e n ; 1919 wurden die neuen Grenzen ü b e r die Okkupationszonen hinausgerückt. Indem die Linie an die Stelle des Saumes t r a t , sind die Grenzverhältnisse unstreitig etwas schwankender geworden, was allerdings durch die Fortschritte der K u l t u r zum Teil etwas ausgeglichen wird. Die Grenzlinie ist empfindlicher, als der Grenzsaum, und schon deshalb bedarf sie einer genauen Fixierung. Ihre Stärke liegt nicht in ihr selbst, sondern in den Kräfteverhältnissen der Nachbarstaaten. In höherem Grade, als die Grenze den S t a a t , schützt hier der S t a a t die Grenze. Unter allen U m s t ä n d e n ist die p o l i t i s c h e Grenzlinie (gleichgültig, ob Landoder Volksgrenze) eine Machtgrenze. Der Satz, d a ß sich deutlich w a h r n e h m b a r e Änderungen in der Oberflächengestalt, d. h. erdmorphologische Grenzen, am besten zur Abgrenzung der S t a a t e n eignen, h a t schon seit dem Altertum fast allgemein Anerkennung gefunden und ist auch f ü r die Praxis maßgebend geworden. J a , wenn man von n a t ü r l i c h e n (besser n a t u r e n t l e h n t e n ) Grenzen sprach, meinte man in der Regel nur die erdmorphologischen. Man stellt ihnen die k ü n s t l i c h e n Grenzen gegenüber, die m a n d a m i t häufig als minderwertig bezeichnen will. Demgegenüber m u ß nochmals betont werden, daß politische Grenzen ihrem Wesen nach nur Machtgrenzen

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sind, und d a ß es lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, ob man sie an natürliche Verhältnisse anlehnen will oder nicht. S e i t d e m 16. J a h r h u n d e r t k a n n m a n auch von m a t h e m a t i s c h e n Grenzen sprechen. Bei der Feststellung der politischen Grenzen spricht die Frage nach der Z w e c k m ä ß i g k e i t das erste und letzte W o r t . Fassen wir z u s a m m e n , was wir über diesen Gegenstand bisher an verschiedenen Stellen gesagt haben. Dreifach ist der Zweck der Staatsgrenze: 1. deutliche Trennung, 2. Schutz gegen feindliche Eingriffe, 3. t r o t z d e m möglichst geringe Störung des Verkehrs der S t a a t e n untereinander. Keine Grenze vereinigt alle drei Eigenschaften in sich, keine ist absolut gut, aber selten ist auch eine absolut schlecht, da die S t a a t e n natürlich bestrebt sein werden, einem so unerträglichen Z u s t a n d ein Ende zu machen. G u t e und s c h l e c h t e Grenzen sind relative Begriffe. Die Grenze zwischen Preußen und Österreich zeigte viele schwache Stellen, wie aus der Kriegsgeschichte seit Friedrich d. Gr. genugsam ersichtlich ist, aber seit 1879 k o n n t e sie sich mit einem mäßigen Schutz begnügen, weil sie nur m e h r v e r b ü n d e t e Völker t r e n n t e . J e t z t ist das freilich anders geworden. Die deutsch-russische Grenze w a r dagegen viel empfindlicher, m a n b r a u c h t nur auf die Ereignisse im Weltkriege hinzuweisen. D a ß das M e e r kein so schützender Mantel ist, wie m a n f r ü h e r glaubte, soll an einer anderen Stelle erörtert werden. Auch die W ü s t e ist keine sichere Schutzgrenze; der große Zivilisationsunterschied zwischen den W ü s t e n n o m a d e n und den ansässigen G'renzvölkern schafft hier ähnliche Zustände, wie einst das Seeräuberunwesen a n den K ü s t e n kultivierter Länder. Als Verkehrsgrenze k o m m t sie ü b e r h a u p t nur örtlich in B e t r a c h t . Eine ausgezeichnete Schutzgrenze ist das E i s . Die große Ausdehnung von R u ß l a n d s polarer Grenze h a t t e zur Folge, d a ß weite K ü s t e n s t r e c k e n ohne militärischen Schutz gelassen werden k o n n t e n ; ja m a n k a n n sagen, d a ß ein Reich, wie R u ß l a n d , ü b e r h a u p t nur unter dieser Bedingung möglich ist. D a ß die polare K ü s t e dem Verkehr verschlossen ist, und alle Versuche, Asien im N zu umsegeln oder wenigstens einen Eingang in die sibirischen Riesenströme zu gewinnen, mit ein p a a r A u s n a h m e n gescheitert sind, ist freilich ein schwerer Nachteil und wiegt den Vorteil der Schutzgrenze wenigstens auf. Der G r e n z s a u m u n t e r dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit wurde schon oben b e t r a c h t e t . Welche G r e n z l i n i e n als gut oder schlecht zu bezeichnen wären, d a r ü b e r läßt sich ein allgemeines Urteil nicht fällen 1 , sondern es m u ß jeder Fall f ü r sich erwogen werden. N u r 1 Zwei Arbeiten, die in der letzten Zeit im Hinblick auf den künftigen Friedensschluß in England erschienen sind, vertreten diametral einander entgegengesetzte Ansichten. Für L. W. LYDE (Types of political frontiers in Europe, Geogr. Journ.

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das l ä ß t sich sagen, daß, da die meisten v o n ihnen ein Ergebnis des Krieges sind, ihr W e r t f ü r beide N a c h b a r s t a a t e n nicht der gleiche sein k a n n . Stets wird die Seite des Siegers begünstigter sein. Erwägt m a n noch, d a ß der W e r t der Grenzen zeitlichen W a n d l u n g e n u n t e r w o r f e n ist, d a ß S t r a ß e n b a u t e n , Eisenbahnen, Befestigungsanlagen, ja jede neue technische E r f i n d u n g den größten E i n f l u ß darauf gewinnen kann, so wird m a n wohl ermessen können, wie verwickelt das Grenzproblem ist. I m m e r h i n wird m a n stets bestrebt sein, den natürlichen Verhältnissen möglichst R e c h n u n g zu tragen. D a ß den n a t u r e n t l e h n t e n Grenzlinien, die entweder über die höchsten oder die tiefsten P u n k t e eines Geländes f ü h r e n und den Lauf des fließenden Wassers regulieren, stets der Vorzug gegeben wurde, leuchtet ein. F ü r die älteren Zeiten fällt aber hauptsächlich ins Gewicht, d a ß sich in F l u ß und Gebirge der Übergang vom Grenzsaum zur Grenzlinie n a t u r g e m ä ß vollzieht. F l ü s s e 1 erfreuten sich stets einer besonderen Beliebtheit, wahrscheinlich deshalb, weil sie weithin erkennbare Trennungslinien sind. Dadurch haben auch kleine Flüsse B e d e u t u n g erlangt, wie z. B. der Rubikon, der in der Zeit der römischen Republik Italien im N begrenzte. Z u m Schutz eignen sich nur breitere Flüsse oder solche, die in Sumpfniederungen fließen. K o n n t e n doch selbst der obere R h e i n und die obere Donau den militärischen Artsprüchen des römischen Reiches nicht genügen und m u ß t e n durch einen Grenzwall jenseits der Flüsse v e r s t ä r k t werden. Günstig im Sinne des Schutzes wirkt, d a ß der L a n d v e r k e h r immer nur an wenige, zum B r ü c k e n b a u geeignete Örtlichkeiten oder an F u r t e n gebunden ist. Die Gesteinsbeschaffenheit der Ufer ist d a f ü r von wesentlicher Bedeutung. Magdeburgs Lage z. B. ist d a d u r c h bedingt, d a ß hier zum letzten Male festes Gestein an den F l u ß herantritt. Die große Mannigfaltigkeit in den Gestaltungsverhältnissen der G e b i r g e m a c h t natürlich auch das Problem der relativ besten n a t u r e n t l e h n t e n Grenzen verwickelt. Die einfachste Lösung bietet ein langgestrecktes Gebirge, wie es z. B. das Riesengebirge eines ist. Der höchste Teil bildet die Wasserscheide und ihr schließt sich die schlesisch-böhmische Grenze an. Aber wenn m a n genauer zusieht, findet m a n , d a ß Dort, diese beiden Linien nicht überall haarscharf zusammenfallen. wo der Rücken breit ist, n i m m t die W a s s e r s c h e i d e d i e F o r m e i n e s London 1915, S. 135) sind Verkehrsgrenzen, für Th. H. HOLDICH (Political frontiers and Boundary making. London 1916) Abschließungsgrenzen das Ideal. 1 HH. ARLOT, Natürliche Grenzen und staatliche Brückenköpfe (Ztschr. f. Politik 1916, S. 545). — 0 . E. JUNGHANS, Der Fluß in seiner Bedeutung als Grenze zwischen Natur- u. Kulturvölkern. Leipzig 1899.

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G r e n z s a u m e s an, und wenn man auch theoretisch annehmen kann, daß innerhalb desselben eine Linie aufgefunden werden könne, die nördlich und südlich sich bewegendes Wasser trennt, so ist sie in der Praxis doch wertlos, weil sie nicht erkennbar ist. Mit diesen Eigentümlichkeiten der Wasserscheiden muß man selbstverständlich rechnen, die politische Grenze verliert etwas vom Charakter einer natürlichen; in den Geländestreifen, der die Wasserscheide darstellt, m u ß erst der Landmesser eine Linie hineinlegen. Nur auf scharfen Kämmen überhebt uns die Natur dieser Mühe. Diese sind aber nur auf das Hochgebirge beschränkt, also verhältnismäßig selten. Aber auch da können manchmal ganz fremdartige Erwägungen, wie z. B. wirtschaftliche in den Pyrenäen, die Grenze an einem Abhang hinabdrängen. Unsere Anschauungen von der Natur der Wasserscheiden haben sich gründlich geändert, aber die politische Geographie hat damit so wenig gleichen Schritt gehalten, daß selbst ein KJELLEN1 noch von einem „Grenzprinzip der Wasserscheide" sprechen und Österreich-Ungarn wegen der Mißachtung dieses „Prinzipes" tadeln konnte. Unzweifelhaft ist die Meinung, daß Wasserscheiden in erster Linie dazu berufen seien, als politische Grenzen zu dienen, in erster Linie zurückzuführen auf den Grundsatz der alten Geographen und Kartenzeichner, daß die Wasserscheide stets ein Bergrücken sein müsse. Englische Kartographen füllen noch jetzt wenig erforschte Länder mit solchen raupenförmig sich hinschlängelnden Gebirgsketten, die nur in ihrer Phantasie existieren. Die Karten von Australien z. B. werden dadurch wahre Zerrbilder. Der Great Dividing Range in Queensland, anscheinend einer der Grundzüge der Bodengestaltung des östlichen Australiens, unterbricht in Wirklichkeit nirgends den Flachlandcharakter des Bodens und verdankt seine Existenz lediglich dem alten kartographischen Dogma. Selbst im Hochgebirge sind ganz flache Wasserscheiden, sog. Talwasserscheiden, eine häufige Erscheinung. Manche Kämme werden von tiefen Einschnitten durchbrochen, die wie von der Natur aufgestellte Wegweiser die Menschen von der einen Abdachung nach der begünstigteren entgegengesetzten lockten. _ An solchen Stellen wird die Bedeutung der Wasserscheide als naturgemäße Grenze völlig illusorisch; Brenner, St. Gotthard sind geläufige Beispiele. Außerdem hat sich die Ansicht als falsch erwiesen, daß alle großen Kettengebirge sich ganz regelmäßig staffeiförmig aufbauen, daß also die wasserscheidende Kette die höchste ist und die Mitte einnimmt. In hohem Grade lehrreich ist der chilenisch-argentinische Grenzstreit, der ein paar Jahrzehnte die südlichsten südamerikanischen 1

Die Großmächte der Gegenwart, S. 9.

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Republiken in politischer Spannung erhielt, sie mehr als einmal bis an den Rand des Krieges führte und erst 1902 durch den Schiedsspruch des englischen Königs einen befriedigenden Abschluß fand. 1 Die älteren Verträge von 1881 und 1893 hatten lediglich bestimmt, daß die Grenze auf dem H a u p t k a m m und der Hauptwasserscheide zwischen dem Atlantischen Ozean und der Südsee verlaufen solle, man hat also angenommen, daß die in Frage stehenden Andes eine normale Wasserscheide 2 besitzen. Vom San Francisco- bis zum Perez-Rosalespaß trifft die Voraussetzung auch mit einer einzigen Ausnahme zu, und man glaubte, daß in dem 1881 nur ganz ungenügend erforschten Abschnitte zwischen 41 und 52° B der Gebirgsbau der gleiche sein werde. Darin hatte man sich getäuscht. Die Wasserscheide ist anomal. 2 Die Zone der höchsten Gipfel, über die die argentinische Regierung die Staatsgrenze legen wollte, ist keine- zusammenhängende Kette, sondern ist von zahlreichen Tälern unterbrochen, die ihre Gewässer nach 0 entsenden. Die Lage war offenbar für die Argentinier günstiger, und der Schiedsrichter konnte nur durch eine aus natürlichen und künstlichen Grenzstrecken zusammengeflickte Linie noch einiges für Chile retten. Selten bleibt in einem ausgedehnten Kettengebirge die Grenzlinie auf weite Strecken hin der Wasserscheide treu. Manche Geländeschwierigkeiten, auch manche politische Rücksichten, die mit der Geographie nichts zu tun haben, nötigen sie häufig, von einem Kamm auf den anderen zu springen, oder vom Kamm in das Tal hinabzusteigen und es zu durchqueren, dann wieder in die Höhe zu steigen usw. In den Alpen ist eine derartige Überquerung ein außerordentlich häufiger Fall, der mit dem Stufenbau der Täler in innigem Zusammenhange steht. Sie erfolgt stets in dem Talabschnitt, wo das Gefälle steil ist, und die Wände sich schluchtartig zusammenziehen. Solche Talengen sind unzugänglicher selbst als schroffe Kämme, und gewähren daher vortrefflichen Schutz. Uralte Gemeindegrenzen haben sich an solcjhen Stellen erhalten und manche davon sind jetzt Staatsgrenzen, wie ja überhaupt oft neue politische Grenzen sich an solche Eigentumsgrenzen hielten und dadurch nicht selten eine mehrfach geknickte, geographisch nicht zu rechtfertigende Gestalt bekamen. Oft wird nur der Verlauf der Grenze im allgemeinen, nicht die Grenzlinie in ihren Einzelheiten durch die Wasserscheide bestimmt; nur in diesem Sinne darf man z. B. sagen, die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen ziehe längs der Wasser1 2

Petermanns Geographische Mitteilungen 1903, S. 13. ALEX. SUPAN, Grundzüge der physischen Erdkunde, 6. Aufl.

Leipzig 1914,

S. 695. S u p a n , Leitlinien.

2. Aufl.

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D i e Gestalt der Staaten.

scheide des Erzgebirges hin. Dieses Beispiel ist noch in anderer Hinsicht lehrreich. Das Erzgebirge senkt sich allmählich nach N und fällt steil nach S ab, schützt also militärisch Sachsen besser als Böhmen. Alle Besonderheiten des Baues eines Gebirges müssen berücksichtigt werden, wenn man über seinen Wert als Grenze ein Urteil fällen soll. Im F l a c h l a n d ist der Einfluß der Wasserscheide auf die Grenze natürlich viel geringer als im Gebirge, sie tritt dort entschieden hinter dem Flusse zurück, der den Vorzug der deutlicheren Erkennbarkeit besitzt. Die m a t h e m a t i s c h e n Grenzen, die durch Parallelkreise und Meridiane gebildet werden, sind von Haus aus ebenso unkennbar, wie die künstlichen, unterscheiden sich aber von diesen dadurch, daß sie in der Natur (durch Messung) stets wieder aufgefunden werden können, und werden daher von manchen Geographen den natürlichen Grenzen zugezählt. Sie sind zurückzuführen auf die berühmte Demarkationslinie 1 , durch die Papst Alexander VI. im Jahre 1493 die nichtchristliche Welt in eine westliche spanische und eine östliche portugiesische Hälfte schied. Der praktischen Ausführbarkeit wurde sie aber erst durch den spanisch-portugiesischen Vertrag vonTordesillas vom Jahre 1494 nähergebracht. Aber die Unvollkommenheit der damaligen mathematischen Hilfsmittel gestattete noch jahrhundertelang keine exakten Längenbestimmungen und Entfernungsmessungen. -1534 fügten dann die Portugiesen in Brasilien die Parallelkreise den Meridianen hinzu 2 und schufen damit jene schachbrettförmige Einteilung der Erdoberfläche, die für die Kolonialländer Nordamerikas und Australiens, in geringerem Grade Afrikas so sehr charakteristisch ist. Diagonallinien, die die Diplomaten, wie man sich erzählt, meist nur mit dem Lineal auf einer beliebigen Karte, ohne Rücksicht auf Maßstab und Projektion, zogen, waren eigentlich nur vorläufige Auskunftsmittel und verschwinden mit der Zeit immer mehr. Selbst wenn die geographischen Koordinaten der Endpunkte der Diagonallinie genau bestimmt sind, bleibt diese noch immer unzweckmäßig und gibt zu Streitigkeiten Anlaß. Als eine dritte Art der mathematischen Grenzen nennt CURZON 3 die Distanzgrenzen, die in einer vertragsmäßig festgesetzten Entfernung von einer natürlichen Linie verlaufen. Die Grenze zwischen Kanada und Alaska, von der wir noch sprechen werden, war eine solche. Die mathematischen 1

A. SUPAN, Territoriale E n t w i c k l u n g der europäischen Kolonien.

2

Ebenda, S. 38. CURZON, Frontiers, S. 3 5 .

S. 14. 3

Gotha 1906,

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Grenzlinien haben aber ein zähes Leben, wenn m a n sie auch in der Regel nur zur vorläufigen Orientierung in unerforschten E r d r ä u m e n oder f ü r innere Grenzen anwendet. Die b e r ü h m t e s t e m a t h e m a t i s c h e S t a a t e n g r e n z e ist der 49. Parallel, der auf eine Länge von 2000 k m v o m Lake of the Woods bis zur J u a n - d e - F u c a - S t r a ß e K a n a d a von den Vereinigten S t a a t e n scheidet. Soweit die künstlichen Grenzen lediglich auf Vermessung im Gelände beruhen, kommen sie nur auf K a r t e n zur Darstellung und w e r d e n daher als u n s i c h t b a r e bezeichnet. B e d e u t u n g haben sie eigentlich n u r auf dem Gebiete des P r i v a t r e c h t s ; politische, vor allem S t a a t s grenzen, fordern dagegen dringend eine s i c h t b a r e Markierung durch Steine, Pfähle u. dgl., die in regelmäßigen Zwischenräumen aufgestellt werden, oder durch Wälle, die den natürlichen Grenzrücken ersetzen sollen. Überall t r i t t das Bestreben h e r v o r , eine deutlich e r k e n n b a r e Grenzlinie zu schaffen, sie und das d a h i n t e r liegende Land vor Überfällen zu schützen und den Grenzverkehr zu beaufsichtigen. Die ber ü h m t e s t e Kunstgrenze ist die chinesische Mauer, die bis in die sagenh a f t e Vorzeit hinaufreicht, jetzt aber ihre B e d e u t u n g gänzlich eingebüßt h a t und einem u n a u f h a l t s a m e n Verfall entgegengeht. In einer Länge von 2450 k m zieht sie aus der Gegend von Sutschou bis z u m Golf v o n L i a u t u n g , z u m großen Teil einst wirkliche Backsteinmauer, z u m Teil aber a u c h n u r ein lose aufgeschichteter Steinwall. Ein bescheidenes Seitenstück dazu ist der süddeutsche Limes, ein zum Teil mit Pallisaden v e r s t ä r k t e r regelmäßiger Erdwall von 542 k m Länge, den die älteren römischen Kaiser zwischen Rheinbrohl und Hienheim a. d. D o n a u hauptsächlich zum Schutze des einspringenden Winkels im Oberlaufe der Der militärische beiden Grenzströme Rhein und D o n a u errichteten. Zweck t r a t vielleicht zurück hinter d e m der Grenzsperre gegenüber d e n b e n a c h b a r t e n germanischen Barbarenvölkern. Auch a n a n d e r e n Stellen des römischen Reiches finden sich solche Erdwälle; der Hadrianswall gegen die P i k t e n und Scoten in G r o ß b r i t a n n i e n und die T r a j a n s w ä l l e im Gebiete des Donaudeltas sind die b e k a n n t e s t e n . Letztere h a b e n selbst im rumänischen Feldzuge 1916 noch eine u n t e r g e o r d n e t e Rolle gespielt. Grenzwälle waren auch s p ä t e r noch beliebt. Viel g e n a n n t ist das D a n e w e r k , das im 9. J a h r h u n d e r t zwischen der Schlei und der Trave e r r i c h t e t und später bis zu den S ü m p f e n von Hollingsted ausgedehnt wurde. Noch 1848 und 1864 wurde d a r u m g e k ä m p f t . Ob N a t u r - oder Kunstgrenzen, in allen Fällen m u ß erst eine g e n a u e topographische A u f n a h m e den Verlauf festlegen. Gegen diesen G r u n d satz w u r d e in zahlreichen Fällen arg gefehlt. Lange Zeit blieb die S t a a t s zugehörigkeit einer wirtschaftlich so wichtigen Örtlichkeit, wie des 3*

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Galmeiwerks Kelmis-Moresnet (7 km S W von Aachen) unentschieden, und sowohl Preußen wie Belgien übten Hoheitsrechte daselbst aus. Am leichtsinnigsten gingen die Kolonialmächte in Afrika v o r ; von den Diagonalgrenzen w u r d e schon gesprochen. Charakteristisch sind auch die e l a s t i s c h e n Grenzen in Asien und Afrika, die absichtlich in ganz allgemeinen A u s d r ü c k e n beschrieben werden, um sie d a n n nach Belieben dehnen zu können. Wie trotz anscheinend genauer Markierung Grenzstreitigkeiten entstehen, zeigen ein p a a r b e k a n n t e Beispiele aus der neuesten Kolonialgeschichte. Der Andesgrenze zwischen Chile und Argentinien wurde bereits gedacht. Da gab eine allzu schematis'che Auffassung des Gebirgsbaues die Veranlassung. Der Alaskagrenzstreit e n t s t a n d , weil genaue M a ß b e s t i m m u n g e n auf ein ungenau bekanntes Gelände angewendet wurden. Der nach SO sich erstreckende Teil von Alaska, zwischen dem Eliasberg u n d dem Portland-Channel, sollte nach dem Vertrage von 1825 zwischen R u ß l a n d und K a n a d a so geteilt werden, d a ß der westliche Küstenstreifen von höchstens 10 „ m a r i n e leguas" ( 5 5 6 5 3 m) Breite an R u ß l a n d bzw. seinen Rechtsnachfolger, die Vereinigten S t a a t e n , fallen solle. W o a b e r die Ausgangslinie der Vermessung liege, war unb e s t i m m t gelassen. K a n a d a verlegte sie an die äußere Küstenlinie, Amerika an die E n d p u n k t e der tief einschneidenden F j o r d e ; K a n a d a rückte die Grenze nach W , Amerika nach O. 1 Ein Schiedsspruch verlegte sie 1903 zwischen die beiden Ansprüche, so d a ß die L y n n s t r a ß e , die von dem E n d p u n k t e des gleichnamigen F j o r d s zu den KlondikeGoldfeldern f ü h r t , völlig in den englischen Machtbereich fällt. Die Oyabocgrenzfrage b e r u h t e darauf, d a ß m a n sich geographischer N a m e n bediente, ohne genau zu wissen, zu welchen O b j e k t e n sie gehören. Der U t r e c h t e r V e r t r a g von 1713 n a n n t e einen Grenzfluß zwischen Brasilien und Französisch-Guayana, aber m a n k o n n t e ihn nicht mit Sicherheit lokalisieren. Dies geschah erst durch den Schiedsspruch des Schweizerischen Bundesrats von 1900, u n d F r a n k reich m u ß t e auf ein Gebiet von 260000 q k m z u g u n s t e n Brasiliens verzichten. Das lateinische Amerika ist ü b e r h a u p t voll von strittigen Gebieten. F a s t jeder S t a a t zeichnet seine Grenzen anders, als die Nachbarstaaten. Die Folge d a v o n ist die größte Verwirrung betreffs der Flächengröße der. südamerikanischen S t a a t e n . Manche Grenzstreitigkeiten sind in den letzten J a h r e n auf gütlichem Wege beigelegt worden, aber 1 Siehe das Kärtchen in A. SUPAN, Bevölkerung der Erde, H e f t 12. 1904, S. 2.

Gotha

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es gibt noch genug Ungenauigkeiten zu entfernen. N u r die fortschreitende geographische Erforschung zwingt d a z u , u n b e s t i m m t e Grenzsäume in feste Grenzlinien zu verwandeln und an die Stelle n e b e l h a f t verschwomm e n e r Staatsgebilde der Vergangenheit scharf umrissene politische Indiv i d u e n zu setzen. Planmäßiges Wachstum des Staates im Sinne der reinen Territorialpolitik. D a ß das Maßhalten schon im alltäglichen Leben eine seltene T u g e n d ist, übersehen wir n u r deshalb, weil die K r a f t des Einzelnen bald e r l a h m t . W e n n sich a b e r im Parteikampf und im Völkerringen d u r c h S u m m i e r u n g der Einzelkräfte große Energiemassen z u s a m m e n ballen und in Fluß geraten, wird es uns bald deutlich, wie schwer es ist, sich selbst Grenzen zu setzen. Am deutlichsten besonders dann, wenn sich Energie und Macht in einer Person mit außergewöhnlicher S t ä r k e vereinigen, weil in diesem Falle die innere R e i b u n g auf ein geringes M a ß b e s c h r ä n k t wird. Aber solche K r a f t n a t u r e n , wie ein Alexander d.Gr., ein Dschingiskhan, ein Napoleon, sind v e r h ä l t n i s m ä ß i g selten; die meisten Weltreiche sind nicht in einem Zuge, sondern etappenweise e n t s t a n d e n . S t e t s a b e r gerät Eroberung in Gefahr, ins Maßlose auszuarten. Nur das römische Kaiserreich h a t es ein paarmal versucht, sich selbst Schranken zu setzen, indem es die drei großen Ströme Rhein, Donau und E u p h r a t als die Grenzen seiner Macht festlegte, die n u r gezwungen überschritten werden sollten. So e n t s t a n d der Begriff der n a t ü r l i c h e n G r e n z e . Die französische Revolution h a t dieses Schlagwort wieder a u f g e n o m m e n , freilich ohne sich weiter d a r a n zu kehren. Die politische Geographie ü b e r n a h m die Aufgabe, d a f ü r die wissenschaftlichen Grundlagen zu schaffen. F ü r einen gegebenen Moment k ö n n t e es wohl gelingen, jedem S t a a t einen b e s t i m m t e n R a u m anzuweisen, in dem er alle seine K r ä f t e und Fähigkeiten zu freier E n t f a l t u n g bringen k a n n , ohne seine N a c h b a r n in gleicher B e t ä t i g u n g zu stören. Dann k ö n n t e m a n allgemein gültige Regeln aufstellen, die Erde gerecht unter die Völker verteilen, u n d das Rätsel der Territorialpolitik wäre gelöst. Aber wohl zu b e a c h t e n : n u r für einen Moment. Schon die wechselnde Bevölkerungszahl eines S t a a t e s s c h a f f t von J a h r zu J a h r v e r ä n d e r t e Bedingungen, und ihnen m u ß sich die Politik anpassen. Aber t r o t z d e m können gewisse G r u n d sätze festgestellt werden. Die im Dienste der Territorialpolitik s t e h e n d e politische Geographie hat zwei Begriffe eingeführt, die als Leitsterne in das Dunkel der politischen Wirren hineinleuchten sollen: die o r g a n i s c h e G r e n z e und den L e b e n s r a u m . Sollen sie ihrer A u f g a b e gerecht werden u n d praktischen W e r t gewinnen, so müssen sie vor allem präzis und e i n d e u t i g sein. Sehen wir nun aber zu, was die Schöpfer

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dieser Begriffe darunter verstehen. S I E G E R 1 nennt o r g a n i s c h ,,solche Grenzen, die dem Bedürfnisse des Staates entsprechen und ihm gerecht werden, zu verschiedenen Zeiten verschieden", und P E N C K 2 nennt den Lebensraum eines Staates „den Raum auf der Erdoberfläche, der bei entsprechender Größe die wirtschaftlichen Grundlagen für staatliches Leben bietet und dessen Zusammenschluß und Sicherheit begünstigt". Man erkennt auf den ersten Blick, wie verschwommen und vieldeutig diese Definitionen sind, und d a ß sie beliebig ausgelegt werden können. Die organische Grenze ist ein rein geographischer Begriff, sie ist gleichbedeutend mit den natürlichen Grenzen von Beckenlandschaften oder von muldenförmig (z. B. die Poebene) oder grabenartig (z. B. Oberrhein) eingesenkten Flachländern oder mit den Grenzen von Naturgebieten im Sinne K A R L R I T T E R S . Der Lebensraum ist keineswegs mit solchen Räumen gleichmäßiger natürlicher Ausstattung identisch, sondern greift vielfach darüber hinaus und ist in erster Linie ein volkswirtschaftlicher Begriff. Auf ihn beriefen sich die Polen, wenn sie erklärten, ohne Danzig und die untere Weichsel wäre ihr neuerstandener Staat nicht lebensfähig, er veranlaßte die Franzosen, sich des Saarbeckens mit seinen Kohlenschätzen zu bemächtigen. Die Theorie der organischen Grenze lieferte die Deutschböhmen der tschechischen und das deutsche Südtirol der welschen Herrschaft aus. Man kann also von dieser, die Territorialpolitik stützenden Wissenschaft wohl sagen: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Sie kann jeden Unfug decken. Schon der Name „organische" Grenze ist irreführend, denn er erweckt den Anschein, als sei sie mit dem innersten Wesen des Staates verwachsen. Ich habe sie t h e o r e t i s c h e N a t u r g r e n z e n genannt, weil sie sich zwar anscheinend auf die Natur stützen, in der T a t aber nur in gewissen Ideenverbindungen wurzeln. Auch kommt es nicht auf die Grenze selbst an, sondern auf das, was sie umschließt, und worauf man im Namen der Natur oder des Volkstums oder der Geschichte oder der militärischen Sicherheit oder der Volkswirtschaft Anspruch erhebt. Nur ein paar besonders in die Augen springende Beispiele. Frankreich betrachtet sich als Rechtsnachfolger der alten Gallia transalpina, und deren Grenzen zur Zeit Cäsars gelten ihm auch heute noch als seine wahren Grenzen, um so mehr, als sie aus einer fortlaufenden Reihe ausgezeichneter geographischer Linien bestehen: Pyrenäen (Golf du Lion), Westalpen, Rhein. Schon viel Blut ist diesem nationalen Phantom 1

S t a a t s g e b i e t u. S t a a t s g e d a n k e (Mitteil. d. Geograph. Ges. in W i e n , S. 1), S. 7. 2 Über politische Grenzen. S. 21.

1919,

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geopfert worden, und es ist b e k a n n t , d a ß es auch am Weltkriege mitschuldig war. Im S und SO ist in der T a t diese archäologische Grenze erreicht worden, aber nur, weil hier eine Anpassung an die natürlichen Verhältnisse zwanglos s t a t t f i n d e n k o n n t e ; die obere Rheingrenze w u r d e der R a u b von Elsaß, die mittlere und untere aber erst 1801 (Frieden von Luneville) gewonnen. J e d o c h fiel es den Franzosen d u r c h a u s nicht ein, n u n an ihren „ n a t ü r l i c h e n " Grenzen h a l t z u m a c h e n ; sie überschritten den Niederrhein und drangen bis an die Elbe vor, ebenso wie sie ihre u n m i t t e l b a r e H e r r s c h a f t über die Westalpen bis nach Toskana a u s d e h n t e n und in lllyrien sogar bis in das adriatische Gebiet hinübergriffen. Der Weltkrieg ö f f n e t e ihnen wieder das oberrheinische Einfallstor nach Deutschland, und schon t r i t t ihr Plan, auch in der Pfalz, am Mittel- und Niederrhein, wenn auch auf Umwegen, wieder festen F u ß zu fassen, immer unverhüllter zutage. W a s bezweckt wird, liegt auf der H a n d . Das unterlegene und doch so gefürchtete Deutschland soll, wie u n t e r dem ersten Napoleon, von den Alpen bis zur Nordsee den b r u t a l e n Eingriffen seines westlichen Erbfeindes offen daliegen, w ä h r e n d sich dieser durch den Besitz der rheinischen Brückenköpfe sichert. Es soll übrigens nicht verschwiegen werden, d a ß einst hervorragende f r a n zösische Gelehrte 1 selbst schon die U n h a l t b a r k e i t der Rheingrenze erklärt h a b e n , weil d a d u r c h die wichtigste Wasserstraße Mitteleuropas dem Verkehr e n t z o g e n w ü r d e . — Auch Italien f a n d 1915, d a ß es natürliche Grenzen haben müsse, d a ß jenseits seiner Grenzpfähle ein unerlöstes Italien, eine Italia irridenta, der Befreiung entgegenschmachte. „ I t a l i a fino al Brennero" w u r d e das beliebteste Schlagwort jenseits der Alpen. Die beiden M A R I N E L L I lieferten die wissenschaftliche Begründung, die im wesentlichen darauf hinauslief, daß, da das Adriatische und das Ligurische Meer italienische Meere seien, auch alle in diese m ü n d e n d e n Flüsse italienische Gewässer seien. Die Hauptwasserscheide der Alpen und der Dinarischen Gebirge sei also die natürliche Nord- und Ostgrenze Italiens. Der nationale Gesichtspunkt war eigentlich n u r Nebensache. Welschtirol h ä t t e m a n ja auf friedlichem Wege erlangen können, a b e r letzten Endes handelte es sich nicht d a r u m , sondern m a n wollte Kriegsruhm gewinnen, W e l t g e l t u n g erringen, die mediterrane Vormacht werden und d a m i t in die F u ß s p u r e n des alten R o m s t r e t e n . 2 1

DUFRÉNOY et E U E DE BEAUMONT, Explication de la carte géologique de Paris 1841—48. 2 A. RÜHL, Die Grundlagen des italienischen Imperialismus. Berlin 1918." Daß der italienische Imperialismus älter ist, als der offizielle Irridentalismus und schon in die Zeit CRISPIS hinaufreicht, legt ein Artikel in den „ G r e n z b o t e n " von 16. April 1919 (S. 63) klar dar. France.

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Den Spuren der römischen Wölfin ist auch der britische Löwe gefolgt. Namentlich wie das britische Reich in Indien aufgerichtet wurde, erinnert fast genau an das antike Beispiel. Dort wie hier zuerst die Unterwerfung der Halbinsel, dann die der nördlichen fruchtbaren Ebene. Besonders lehrreich entwickelte sich die Geschichte Britisch-Indiens in dem letzten halben J a h r h u n d e r t . Den alten theoretischen Anschauungen entsprach die sog. „wissenschaftliche" Grenze, die der Hauptsache nach den neuen Grenzabmachungen mit Afghanistan 1879 im Frieden von Gandamak zugrunde gelegt wurde. Man begnügte sich noch damit, die Grenze nach W bis auf die Wasserscheide zwischen den nach 0 zum Indus und den nach W in das Innere Afghanistans abfließenden Gewässer hinaufzuschieben. Lord C U R Z O N , Vizekönig von Indien, findet einen solchen natürlichen Schutzwall schon nicht mehr genügend und fordert „Ein- wie Ausgänge in die Hände der abwehrenden Macht (darunter ist England gemeint!) zu bringen und den Feind zu nötigen, vor dem Durchgang schon die bloße Annäherung zu erringen". Der Verlust von Belutschistan an Britisch-Indien war das Endergebnis dieser neuen Glacistheorie, die CURZON später noch weiter ausgebaut hat. „Indien", sagt er, „ist einer Festung vergleichbar mit dem Ozean als nassem Graben auf zwei Seiten und Gebirgen auf der dritten. Jenseits der Wälle liegt ein Glacis von verschiedener Breite und Ausdehnung. Wir brauchen es nicht zu besetzen, aber wir dürfen nicht zulassen, daß es von einem Feinde besetzt werde. Wir sind ganz zufrieden damit, daß es in der Hand von Verbündeten und Freunden bleibe: aber wenn ein feindseliger Einfluß heranschleicht und sich unter den Wällen einnistet, so sind wir zur Intervention genötigt, weil sonst unsere Sicherheit bedroht wäre. Das ist das Geheimnis der ganzen Lage in Arabien, Persien, Afghanistan, Tibet und Siam." Es ist nur eine Konsequenz solcher Ansichten, wenn CURZON den Euphrat als die „natürliche" Westgrenze Indiens proklamierte. Nun da sie erreicht ist, wird sie bald bis an das Mittelmeer hinausgeschoben werden. Das ist Landhunger, in ein System gebracht! Diese Unersättlichkeit scheint eine Rasseneigenschaft der Angelsachsen zu sein. Sie ist den Vereinigten Staaten nicht minder eigen, als den Engländern. Auch jene riefen immer von neuem nach „natürlichen Grenzen", zuerst war es der Mississippi, dann das Felsengebirge, dann die pazifische Küste. J e t z t ist auch diese Naturgrenze schon überschritten. Dieselbe Expansionsgier drängt nach Süden. Bezeichnend ist das Wort ROOSEVELTS im Jahre 1906: Die Grenzen der Vereinigten Staaten enden effektiv am Kap Hoorn! Das ist das Programm des Panamerikanismus.

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Wie dem Bergsteiger mit jedem S c h r i t t a u f w ä r t s , so eröffnet sich d e m Eroberer mit jedem Schritte v o r w ä r t s ein neuer Horizont. Die letzte Konsequenz der reinen T e r r i t o r i a l p o l i t i k war und wird s t e t s d e r I m p e r i a l i s m u s 1 s e i n . T r o t z d e m h a t die auf ihr f u ß e n d e politische Geographie bleibende Verdienste. Die „organische Grenze" behält f ü r die Geschichtsschreibung ihre Berechtigung, n u r darf sie nicht als politische Richtlinie a u f g e f a ß t werden. Irgendeine bestimmende Gewalt w o h n t ihr nicht inne, sonst h ä t t e z. B. die Poebene, eines der ausgezeichnetsten N a t u r g e b i e t e E u r o p a s , nicht immer in politischer Zerrissenheit und Unselbständigkeit v e r h a r r e n d ü r f e n . Die Zerreißung U n g a r n s zeigt, d a ß auch die E n t e n t e sich nicht scheut, überall, wo es ihr gerade p a ß t , die Theorie der natürlichen (organischen) Grenzen über Bord zu werfen. Eine z w e i t e Stelle wird m a n aber ihr und in noch höherem Grade dem „ L e b e n s r a u m " in der R ü s t k a m m e r der Naturlehre des S t a a t e s einräumen müssen, wie in den folgenden Abschnitten dargelegt werden soll. Umrißformen. Betrachten wir auf einer K a r t e die Umrißformen der einfachen S t a a t e n und der H a u p t k ö r p e r der mehrteiligen und Kolonialstaaten, so werden wir z u n ä c h s t durch ihre Mannigfaltigkeit verwirrt. Es ist in der T a t unmöglich, sie in ein System einzufügen, und wir müssen uns d a m i t begnügen, einige besonders auffällige Formen hervorzuheben. In ihnen spiegeln sich nicht n u r die Eigentümlichkeiten der Bodenbeschaffenheit, sondern auch die geschichtlichen Schicksale des Volkes wieder. Jedenfalls m u ß m a n den Satz gelten lassen, d a ß eine kurze Grenze leichter zu verteidigen ist, als eine lange, d a ß also von zwei gleich großen Flächen diejenige begünstigter ist, deren U m r i ß sich am meisten d e m Kreise n ä h e r t . Eine kreisförmige Gestalt suchen wir u n t e r den größeren S t a a t e n freilich vergebens, a m nächsten k o m m t ihr noch das chinesische Reich. Das Z e n t r u m liegt ungefähr im K u k u - n o r . Andere S t a a t e n erinnern an eckige geometrische Figuren, z. B. U r u g u a y an ein Dreieck, 1

Wir verstehen hier unter Imperialismus im allgemeinen das Bestreben des Staates, seine Herrschaft über seine augenblicklichen Grenzen hinaus so weit als möglich auszudehnen. In diesem Sinne ist er so alt, wie die Geschichte überhaupt. Dagegen sieht die moderne sozialistische Schule (besonders die österreichischen Marxisten 0 . BAUER U. R'. HILFERDING) im Imperialismus eine ganz neue Erscheinung, das Endglied der kapitalistischen Entwicklung, das Erzeugnis des „Finanzkapitals", d. h. der Verbindung des Bankkapitals mit der Industrie, die den Staat zu immer steigender Erweiterung des Marktes zwingt u. d a m i t die Politik in den Dienst des Kapitals stellt. (Vgl. J. HAZHAGEN, Marxismus u. Imperialismus; Jahrbücher d. Nationalökonomie u. Statistik, 1919, 3. Folge, Bd. 58, S. 193.)

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Die Gestalt der Staaten.

Spanien (fast quadratisch!), die Vereinigten Staaten, das russische Reich u. a. an ein Viereck, Frankreich an ein Fünfeck usw. Im Gegensatz zu jenen Staatsgestalten, deren Längs- und Breitenachsen nicht sehr voneinander abweichen, stehen die L o n g i t u d i n a l s t a a t e n , die sich vorwiegend nur nach einer Seite entwickelten, also die Form langer Streifen zeigen. Chile ist ein Musterbeispiel; bei einer nordsüdlichen Länge von 4000 km hat es mit Ausnahme der Puna de Atacama nur eine Breite von wenig über 100 km. Dieser Typus, wenn auch nicht so scharf ausgeprägt, ist ziemlich weit verbreitet. In Europa ist Italien ein charakteristisches Beispiel; hier, wie in Chile, ist augenscheinlich der Verlauf des Gebirges dafür verantwortlich, wenn auch, wie wir sehen werden, nicht ausschließlich. Dort, wo die Andes sich spalten und der Gebirgskörper mit mächtiger Ausbreitung weit in das atlantische Flußgebiet sich hinein erstreckt, folgt auch die Ostgrenze der pazifischen Staaten diesem Übergreifen. Chile folgte diesem Beispiel, indem es sich in der Atacama auf Kosten Boliviens verbreiterte. Auch im Süden, wo die Andeskette ihre strenge Geschlossenheit verliert, und die Hauptwasserscheide von dem Kamm in die Täler hinabsteigt, hatte einst Chile sich nach Ost auszudehnen versucht, zog aber in dem daraus entstandenen Konflikt mit Argentinien den kürzeren (S. 33). Die Longitudinalgestalt ist ein augenscheinliches Schwächemoment. Nur ein Beispiel. An der Ostküste Großbritanniens war der Hauptkriegshafen Chatham. Der Aufschwung der deutschen Seemacht zwang zur Gründung eines neuen Kriegshafens, Rosyth am inneren Firth of Förth, dessen Aufgabe es war, die Nordsee zu bewachen. Im gegenwärtigen Kriege machte sich eine abermalige Verschiebung zum Schutze der nördlichen Ausfahrt aus der Nordsee notwendig: Scapa Flow in den Orkneyinseln. In dieser Wanderung militärischer Schwerpunkte tritt die Ungunst einer langgestreckten Grenze — hier einer maritimen — klar zutage. Auch Longitudinalstaaten sind Variationen unterworfen. Dem meridional gestreckten Chile steht z. B. die sichelförmige österreichische Reichshälfte gegenüber, eine der seltsamsten Gestalten, die wir in unseren Atlanten fanden, so seltsam, daß wir auf den ersten Blick die Überzeugung gewinnen, dieses Österreich wäre ohne Ungarn eine Unmöglichkeit gewesen, während andererseits Ungarn in seiner behäbigen Abrundung ohne Österreich sehr wohl existieren könnte (s. Fig. S. 43). Nun begreifen wir auch die Notwendigkeit der Annexion Bosniens und der Herzegowina, die dem schmalen dalmatinischen Streifen erst einen festen Rückhalt gab. Ein Gegenstück des u m f a s s e n d e n österreichischen Staates war Rumänien. Es ist an und für sich begreiflich, daß auch dieser Staat nach Ausfüllung seiner Krümmung strebte und nicht bloß aus

Die Gestalt der Staaten.

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nationalen Gründen es auf Siebenbürgen abgesehen hatte. Da aber andererseits Ungarn auf die transsylvanische Hochburg nicht verzichten kann, ohne sich selbst aufzugeben, so stehen wir hier vor einem dauernden Konflikt, der früher oder später einmal dazu führen mußte daß einer der beiden Konkurrenzstaaten verschwindet. Der Ausgang des Weltkrieges hat für Rumänien entschieden.

Fig. 3.

Österreich—Ungarn—Rumänien

vor dem Weltkriege.

G e b u c h t e t e Gestalten sind meist nachteilig. Deutschland litt schon vor dem Kriege sehr darunter. Zwei Buchten, die polnische und die böhmische, drangen an der Ostseite tief in den Körper des Reiches ein und bedrohten dessen Hauptstadt. Die Politik des Reiches war dadurch zum Teil vorgezeichnet: es durfte niemals gleichzeitig mit ÖsterreichUngarn und Rußland in Krieg geraten. Durch die dritte Teilung Polens, die Preußen in den Besitz des Weichsellandes setzte, wurde die polnische B u c h t vorübergehend ausgefüllt, und die jüngste Wiederherstellung Polens sollte diesen Grenzfehler, wenn auch nicht aufheben, so doch hoffentlich mildern. J e n e n zwei Buchten entsprachen zwei zipfelartig vorspringende Ausbuchtungen, die preußische und die schlesische, die augenscheinlich eine stark gefährdete Lage besaßen. Im letzten Kriege war der preußische Zipfel der vollen W u c h t des russischen Angriffes ausgesetzt; jetzt ist der preußische völlig abgetrennt und dadurch die räumliche Einheit des Reiches vernichtet. J e schmäler solche Z i p f e l und je enger ihre Verbindung mit dem staatlichen Hauptkörper ist, desto schwieriger wird ihre Verteidigung, desto problematischer wird

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ihr W e r t . E x t r e m e Beispiele sind der ehemalige, nach dem zweiten Reichskanzler b e n a n n t e Caprivizipfel D e u t s c h - S ü d w e s t a f r i k a s und der von A f g h a n i s t a n nach 0 vorspringende Wachanzipfel, der die u n m i t t e l b a r e •Berührung der britisch-indischen u n d der russischen Grenze verhindern soll — zwei diplomatische Meisterstücke ersten Ranges! Es erscheint wünschenswert, f ü r die U m r i ß f o r m e n der S t a a t e n , oder, wie m a n zu sagen pflegt, f ü r ihre G r e n z e n t w i c k l u n g einen m a t h e matischen Ausdruck zu finden. Aber die Aufgabe ist schwieriger, als sie a n f a n g s scheint. Alle Vorschläge, die m a n f ü r die K ü s t e n e n t w i c k l u n g g e m a c h t h a t , gelten auch hier. 1 Völlig befriedigt keiner, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die die Ausmessung der Grenzen an und f ü r sich bereitet. W i r haben uns hier f ü r eine Formel entschieden, die auch H E R M A N N W A G N E R 2 angewendet h a t . Sie besagt, um wievielmal der wirkliche U m f a n g eines S t a a t e s größer ist, als der des flächengleichen Kreises 3 , oder mit anderen 1 W o r t e n : je mehr der U m f a n g von der Kreisform abweicht, desto größer ist die Grenzentwicklung, desto ungünstiger ist, u n t e r sonst gleichen U m s t ä n d e n , die Gestalt des Staates. Auf Grund der leider nicht ganz zuverlässigen Messungen S T R E B B I T Z K I S 4 w u r d e n f ü r die europäischen S t a a t e n um 1880, natürlich mit Ausschluß der Inseln, und auch abgesehen von den meisten B a l k a n s t a a t e n , deren Gestalt große Veränderungen erfahren hat, folgende W e r t e e r m i t t e l t 3 :

Norwegen • • Irland . . Griechenland (1882). . . . . Großbritannien . . Schweden . . Europ. Rußland . . . . • • Italien . . Niederlande . . Österreich-Ungarn. . . . . . 1

. . . . . • . . .

Grenzlänge km 21900 4800 3160 8000 9800 32900 6 5700 2040 9200

Grenzentwicklung 11,3

V 4,5 4,3 4,2

4,1 3,3 3,3 3,2

A. SUPAN, Grundzüge d6r physischen Erdkunde, 6. Aufl., Leipzig

1916,

S. 8 1 6 . 2

Lehrbuch der Geographie, 9. Aufl., Bd. I, S. 830.

3

Ist F der Flächeninhalt einer beliebigen Figur, so ist der Umfang eines

flächengleichen Kreises = 2 l / « F , 4 Zit. S. 14/15. 5 Zahlen für Grenzentwicklung können logischerweise nur für g e s c h l o s s e n e Figuren gegeben werden^ also bei mehrteiligen Staaten nur für die einzelnen Teile. Bei einfachen Staaten mit Inseln wird von letzteren abgesehen. 6 Davon 5700 km innere Grenze zwischen dem europäischen und asiatischen Rußland.

D i e Gestalt der Staaten.

D e u t s c h e s Reich Frankreich Spanien Schweiz Portugal Belgien Dänemark (Jutland)

Grenzlänge km 8150 7300 6200 1760 2460 1330 1230

45 Orenzentwicklung 3,i 2,8 2,5 2,4 2,3 2,2 1,8

An der Spitze stehen Länder mit s t a r k gezahnten K ü s t e n , und bei den übrigen S t a a t e n sind es hauptsächlich die buchtenreichen K ü s t e n , die eine s t a r k e Grenzentwicklung zur Folge haben. Die v e r h ä l t n i s m ä ß i g große Ausgeglichenheit der Landgrenzen erklärt sich d a r a u s , d a ß sie z u m großen Teil willkürlich sind.

Die Größe der Staaten. Großmächte. Von jeher haben die Menschen — Kultur- wie Naturvölker — die Macht und Bedeutung der Staaten an deren Größe gemessen. Die vergangenen Jahrtausende kannten eigentlich nur extensive Politik, Vergrößerung des Besitzes war der Hauptzweck der Staatskunst; die Herrscher, die sich den Titel „Mehrer des Reiches" beilegten, haben damit ihre Aufgabe unzweideutig ausgesprochen. Die Ehrfurcht vor der großen Zahl, die die Menschen auch im Privatleben beherrscht, sollte auch in dem Begriffe der G r o ß m ä c h t e deutlich zum Ausdrucke kommen. Der Name besagt schon, daß man von einem Großstaat zweierlei verlangt, Größe und Mächt, aber noch nicht, worin die Größe und Macht bestehen. Kein Völkerrechtskodex gibt darüber Aufschluß, lediglich die Wucht der Tatsachen entscheidet, welchen Staaten diese Würde zuzuerkennen sei. Bei dem Ausbruche des Weltkrieges zählte man acht Großmächte, sechs europäische (in chronologischer Reihenfolge Österreich, Frankreich, England, Rußland, Italien, Deutschland) und zwei außereuropäische (Vereinigte Staaten von Amerika, Japan). Sie werden in den folgenden Tabellen durch Sperrdruck hervorgehoben werden. Räumliche Ausdehnung. Zunächst erhebt sich die Frage, welches von den beiden Grundelementen des Staates, das Land oder das Volk, für die Größenbeurteilung maßgebend sei. Die älteren Geographen traten, wohl instinktiv, im Sinne der Territorialpolitik für die räumliche Ausdehnung ein, mit vollem Bewußtsein erst RATZEL, und die Überschätzung des Raumes erscheint uns als Grundirrtum seiner ganzen politischen Geographie. 1 Er ist wohl begreiflich, weil von allen Eigenschaften der Länder die Fläche allein in einfächster Weise sinnlich wirksam ist. Wenn wir Größenverhältnisse uns vorstellen wollen, nehmen 1 Unter den Historikern fand RATZEL neuerdings einen eifrigen Helfer in MARTIN SPAHN (Die Großmächte. Berlin-Wien 1918),

Die Größe der Staaten.

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wir i m m e r zur L a n d k a r t e unsere Zuflucht, u n d d a sich die S t a a t e n sehr h ä u f i g noch durch F l ä c h e n f ä r b u n g v o n e i n a n d e r a b h e b e n , so wird uns schon in der Schule der W a h n einer alles ü b e r r a g e n d e n B e d e u t u n g der Flächengröße eingeimpft. Ein gefährlicher W a h n , d e n n im G r u n d e g e n o m m e n ist alle E r o b e r u n g s s u c h t , alle Ländergier der Herrscher u n d Völker darauf z u r ü c k z u f ü h r e n . Mehr noch als andere gesittete Völker scheinen die romanischen diesem Rausche zu erliegen. Als im Herbst 1911 Italien Tripolis besetzte, waren in den S c h a u f e n s t e r n aller italienischen Buchhandlungen K a r t e n ausgehängt, die Italien und die neu erworbene Kolonie im gleichen M a ß s t a b und in grellroten F a r b e n zeigten. Tripolis f a s t viermal größer als das M u t t e r l a n d , das m u ß t e auf die naiven Beschauer faszinierend w i r k e n ! Dabei w u r d e nicht einmal gefragt, ob die Flächenzahlen wohl auch richtig seien, ob die Grenzen von Tripolis nicht bloß in der Einbildung existierten. Auch uns Deutschen w u r d e von den Verfechtern der Kolonialidee immer wieder vorgehalten, d a ß unser Ostafrika f a s t doppelt, unser S ü d w e s t a f r i k a l ^ n i a l so groß sei, wie das Reich, und K a m e r u n nicht viel weniger. Als ob solche Zahlen a n sich schon entscheidend w ä r e n ! W e n n ich sage, das europäische R u ß l a n d war neun- bis zehnmal so groß wie das Deutsche Reich, soll d a m i t gesagt sein, d a ß es auch um ebensoviel m ä c h t i g e r w a r ? Das ist in der T a t auch, wenigstens ungefähr, die landläufige Meinung, u n d m a n h a t sie a m Beginn des Weltkrieges oft genug ausgesprochen. Wollte m a n dagegen b e h a u p t e n , der R a u m an sich sei nichts, alles k o m m e auf die R a u m e r f ü l l u n g an, so würde m a n ebenfalls ü b e r das Ziel hinausschießen. Als Frankreich 1763 den Pariser Frieden schloß, gab es K a n a d a , ,,einige Morgen Schnee", wie es V O L T A I R E wegwerfend nannte, leichten Herzens hin, und w a r froh, Guadeloupe gerettet zu haben. Das w a r töricht, wenn wir bedenken, was K a n a d a jetzt geworden ist, a b e r in jener Zeit verständlich, wenn auch nicht berechtigt. Denn die P l a n t a g e n insel Guadeloupe w a r t r o t z ihrer Kleinheit viel einträglicher, als die weiten R ä u m e K a n a d a s , die das menschenarme Frankreich nicht zu füllen vermochte. Aber auch heute k a n n es uns nicht imponieren, d a ß das Dominion K a n a d a nahezu so groß ist, wie das konventionelle E u r o p a . S t a a t e n , die am Polargürtel oder an großen W ü s t e n g e b i e t e n der mittleren und niederen Breiten Anteil nehmen, müssen mit einem eigenen M a ß s t a b gemessen werden, aber auch f ü r alle a n d e r e n S t a a t e n gilt der Satz, d a ß ihre Areale nicht ohne weiteres miteinander verglichen werden d ü r f e n . Man k a n n zwischen a k t i v e n und p a s s i v e n R ä u m e n unterscheiden, und m a n soll nur a k t i v e mit a k t i v e n und passive mit passiven in bezug auf ihre Flächengrößen miteinander in Vergleich setzen. Es ist freilich schwer, ja es erscheint als schier unmöglich, den Unterschied von a k t i v

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Die Größe der Staaten.

und passiv e x a k t festzustellen, und m a n wird sich mit a n n ä h e r n d e n Methoden zufrieden geben müssen. Die Bevölkerungsdichte k a n n uns einen Fingerzeig geben. W i r können jene R ä u m e , in denen die Dichte nicht einmal 1 auf das qkm erreicht, als passive bezeichnen. R u ß l a n d und K a n a d a s c h r u m p f e n d a n n erheblich zusammen, K a n a d a f a s t auf 1 / 3 seiner Gesamtgröße. Auch das französische Kolonialreich, auf das die Franzosen als echtestes Eroberervolk so stolz sind, m u ß sich eine beträchtliche R e d u k t i o n gefallen lassen, denn ihr Einflußgebiet in der großen nordafrikanischen W ü s t e n i m m t 1 / 5 des ganzen Kolonialbesitzes ein. Aber auch die passiven Gebiete sind recht verschiedenartig. Manche sind es n u r zeitweise und werden sicher mit fortschreitender Besiedelung und K u l t u r a k t i v werden, sie sind Z u k u n f t s r ä u m e , und glücklich der S t a a t , der solche besitzt, denn er k a n n Expansionspolitik innerhalb seiner Grenzen treiben, er erobert in friedlicher Weise, er w ä c h s t nach innen. Welche Aufgaben sind da R u ß l a n d gestellt, während es Menschen, G u t und Zeit verschwendet h a t , um a u ß e r h a l b seiner Grenzen zu suchen, was es innerhalb in Fülle besitzt! Als Friedrich d. Gr. die Oderbrüche u r b a r machte, r ü h m t e er sich mit Recht, eine Provinz im Frieden gewonnen zu haben. K a n a d a ist ein klassisches Beispiel d a f ü r , was durch intensive Politik erreicht werden k a n n . Wie viele a u s g e d e h n t e Ländereien sind in den letzten J a h r z e h n t e n aus passiven aktive geworden, und dieser Prozeß wird im Mackenziegebiet u n a u f h a l t s a m fortschreiten. Aber viele R ä u m e , die wir derzeit als passive bezeichnen, werden es immer bleiben, wenn nicht hier und da durch mineralische F u n d e plötzlich Wandel geschaffen wird, wie beispielsweise in Klondike. A b e r solche wirtschaftliche Umwälzungen werden immer örtlich bleiben und versprechen selten Dauer. Die Gestade des Eismeeres und der H u d s o n b a i und die umfangreiche arktische Inselwelt sind wohl zu ewiger P a s s i v i t ä t v e r d a m m t , und solche s t e r i l e R ä u m e zählen politisch nicht mit. Diese E i n s c h r ä n k u n g e n müssen wir uns stets vor A u g e n halten, wenn wir aus der n a c h s t e h e n d e n Tabelle Schlüsse ziehen wollen. Sie e n t h ä l t die S t a a t e n geordnet nach ihrem F l ä c h e n i n h a l t : bei d e n Kolonials t a a t e n sind die Areale der Kerngebiete beigefügt. Die drei großen britischen Dominions sind a u c h als S t a a t e n mitgezählt, was bis zu einem gewissen Grade berechtigt erscheint. In der G r u p p e n b i l d u n g folgen wir RATZEL, der drei Klassen u n t e r s c h e i d e t : Große S t a a t e n 1 (über 5Mill.qkm), mittlere S t a a t e n (0,2—5 Mill. qkm) und Kleinstaaten (unter 0 , 2 Mill. qkm). Die letzteren haben wir nicht berücksichtigt. 1 RATZEL nannte sie kontinentale Staaten, und auch ich habe in der 1. Auft. diese Bezeichnung beibehalten, was mit Recht getadelt wurde.

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Die G r ö ß e der Staaten.

T a b e l l e A. Die R e i h e n f o l g e d e r g r o ß e n u n d m i t t l e r e n S t a a t e n (1914) (in T a u s e n d e n

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.

Großbritannien . . . . Rußland China Frankreich Vereinigte Staaten . Kanada Brasilien Australischer B u n d e s s t a a t Deutschland S ü d a f r i k a n i s c h e Union . Argentinien Belgien Portugal . . . Niederlande. . Mexiko Italien Türkei Persien Kolumbien Peru Bolivien Abessinien . Venezuela Spanien Chile Österreich-Ungarn . . Japan Siam Afghanistan Schweden Norwegen Ekuador Paraguay . .

qkm).

* . . . .

. .

Gesamtfläche

M u t t e r - bzw. Herrenland

30018 22556

314 5016

11139

6242

. . . . . . .

11020 9794

536 7839

. . . . • •

9659 8497 7939

. .

3494

. . . .

3120 2789 2394 2185 2080

. • • . .

. .

. . . .

. . .

. . . .

. .

— — —

541 — —

29 92 34

1987



1920

287

. . . . . . . . .

1795 1645 1206



. . .

U37





— —

.

. . .

.

942 876 757



504 —

677 674 . .

. . . . . .



382

600 558 448 323 307 253

— — —

— — —

Die Tabelle zeigt, daß für die Großmachtstellung die räumliche Aasdehnung nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist. Nur die Hälfte gehört der Gruppe der großen Staaten an, und d a v o n fielen zwei, Großbritannien und Frankreich, in früheren Zeiten nur mit ihrem verhältnismäßig kleinen europäischen Kernland ins Gewicht, während die Vereinigten -Staaten erst zu den jüngsten Großmächten gehören Supan,

Leitlinien.

2. A u f l .

4

Die Größe der Staaten.

50

und ihren Rang jedenfalls nicht ihrem schon beträchtlich älteren ausgedehnten Besitzstande verdanken. Berücksichtigt man dies, so kann man sagen, daß mit Ausnahme Rußlands die Großmächte in die Reihe der mittleren Staaten gehören. Warum China keine Großmacht ist — W A G N E R nennt es zwar als solche, aber mit Unrecht, denn es fehlt die allgemeine Anerkennung —, soll später erörtert werden; Brasilien spielt nicht einmal unter den südamerikanischen Staaten die erste Rolle. Ältere Großstaaten von längerer Dauer waren: Tausende qkm 1 Das spanische Reich unter Karl V Mongolenreich (13. J h r d t . ) Kalifenreich (10. J h r d t . ) Perserreich (um 500 v. Chr.) Römisches Reich (3. J h r d t . n. Chr.) Deutsches Reich (um 1040) Assyrisches Reich

12800 11000 10000 5600 5400 1000 900

Die meisten waren zwar große Staaten im Sinne RATZELS, erreichen aber doch nicht die Ausdehnung der modernen Staaten derselben Größenordnung. Das britische und das russische Reich stehen einzig in der Geschichte da. Sehen wir aber zunächst von den Großmächten im modernen Sinne ab, weil dieser Begriff jedenfalls nicht bloß räumlicher, sondern komplizierterer Natur ist. Zu allen Zeiten, soweit wir in der Geschichte zurückblicken können, hat es große und kleine Staaten gegeben, und jedenfalls war das auch durch die Natur bedingt. Weite Ebenen bedingten eine andere Staatenentwicklung, als insulare Zersplitterung oder rascher Wechsel von Berg und Tal. Wie immer sie sich aber auch gestaltete, stets und überall strebten die Völker nach R a u m e r w e i t e r u n g (s. S. 46). Die heranwachsende Nachkommenschaft braucht Ellenbogenfreiheit. Man sollte meinen, daß sich dieses Bestreben in großräumigen Staaten weniger intensiv geltend mache, als in kleinräumigen, aber gerade das Umgekehrte ist der Fall. Wer an einen großen Raum gewöhnt ist, ist weniger gewillt, zusammenzurücken, als der Kleinräumige. D i e g r o ß e n S t a a t e n s i n d im a l l g e m e i n e n auch, abgesehen von dem Bewußtsein ihrer Stärke, e x p a n s i v e r a l s d i e k l e i n e n , und sie würden diese allmählich völlig aufzehren, wenn sie nicht mit wachsender Größe an innerem Zusammenhang verlören und damit endlich dem Zerfall anheimfielen. Großstaaten werden zu Kleinstaaten, 1

G. SCHNEIDER, Die großen Reiche der Vergangenheit und der Gegenwart. Leipzig 1904.

Die Größe der Staaten.

und Kleinstaaten wachsen zu Großstaaten aus.

51

Am Auf- und Abstieg

d e s r ö m i s c h e n R e i c h e s l a s s e n sich d i e e i n z e l n e n P h a s e n auf d a s G e n a u e s t e

verfolgen. Das politische Netz, das uns die geschichtlichen Karten zeigen, verschiebt sich fortwährend, und gleichzeitig werden die Maschen bald größer, bald kleiner. Die Schnelligkeit, mit der sich dieser Prozeß vollzieht, hängt von der Beschaffenheit der Bodenunterlage ab. Nichts zeugt klarer gegen die Allgemeingültigkeit des RATZELSchen Satzes, daß der beständige Anblick großer Räume den Menschen zur Expansion reize, als die Tatsache, daß z. B. an den Küsten Afrikas Völker jahrtausendelang saßen, ohne zur Schiffahrt angeregt zu werden. Freilich, wenn einmal der erste Schritt auf das Meer hinaus getan ist, und besonders, wenn Land in erreichbarer Ferne winkt, hemmt nichts mehr die Expansionslust. Viel schneller ist die Wirkung eines weiten Gesichtskreises auf dem Festlande. Man erinnere sich nur an die wiederholten explosionsartigen Ausbrüche mongolischer Horden aus den Steppen und Wüsten Zentralasiens. Wichtiger als die Raumerweiterung ist die R a u m b e w ä l t i g u n g . An sich ist der große Raum totes Kapital, man muß ihn erst ausnutzen. Daß darin die großräumigen Völker den kleinräumigen überlegen gind, daß sie namentlich vor den schwierigsten Problemen des Verkehrs nicht zurückschrecken, versteht sich eigentlich von selbst. Im Straßenund in der neuesten Zeit im Eisenbahnbau sind die großen Staaten immer vorangegangen, denn ihnen machte sich die Notwendigkeit dieser Art der Raumüberwindung natürlich am meisten fühlbar. Aber auch in diesem Punkte wirkte der große Raum sehr verschieden auf verschiedene Völker. RATZEL, der zum Preise der „großräumigen Auffassung" nicht genug Worte finden konnte, hat eigentlich immer nur die Vereinigten Staaten von Amerika, die er durch jahrelangen Aufenthalt genau kennen gelernt hat, im Auge. Schon das russische Reich zeigt ein anderes Bild, ganz zu schweigen von den Kolonialvölkern Südamerikas oder gar von den Steppen- und Wüstenvölkern der Alten Welt. Auch in diesem Punkte läßt sich kein zwingender Einfluß der Umwelt auf den Menschen, keine geographische Gesetzmäßigkeit nachweisen. Kleinräumige Völker entwickeln sich natürlich anders als großräumige. Die Kleinstaaterei mit all ihrem Jammer, den der Deutsche zur Genüge kennt, kann nur in beschränktem Räume gedeihen, aber vergessen wir nicht, welch herrliches Kulturleben in den Stadtrepubliken des alten Griechenlands emporgeblüht ist, während der großräumige Römer in seiner geistigen Entwicklung immer nur ein Schüler des 4*

52

Die Größe der Staaten.

kleinräumigen Griechen blieb. Auch daß die geräumigen Staaten dauerhafter sind als die engen, kann nicht als allgemeine Regel gelten; Andorra und San Marino sind älter als die europäischen Großmächte, und an Beispielen von rasch vergänglichen Großstaaten ist die Geschichte reich genug; das letzte war das Reich des ersten Napoleons. Um es kurz zusammenzufassen: der Raum kann ein wichtiger Faktor im Völkerleben werden, ist es aber nicht an sich. Vor allem ist der Raum an sich keine Quelle der politischen Macht, das lehrt China, das heute so ohn_mächtig ist, wie irgendein europäischer Kleinstaat. Wir müssen also das Rätsel der Großmacht auf einem anderen Wege zu lösen suchen. Bevölkerung. Den drei Arealklassen nach R A T Z E L S Vorgang können wir drei Populationsklassen gegenüberstellen: den Großstaaten entsprechen ungefähr solche mit mehr als 100 Mill. Einwohnern; den mittleren Staaten solche mit 10—100 Mill. Bewohnern, und die übrigen können wir Kleinstaaten nennen. In der nachstehenden Tabelle werden wir sie nicht berücksichtigen. Unsere Bevölkerungszahlen gelten für die Zeit unmittelbar vor dem Weltkrieg und sind dem Gothaer Hofkalender f ü r 1914 entnommen. Gesamtbevölkerung (in Tausenden) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.

Großbritannien . . . . . China . . Rußland . . Vereinigte Staaten Frankreich . . Deutschland • • • • Japan . . Österreich-Ungarn Niederlande . . Italien . . Brasilien . . Belgien . . Spanien . . Türkei . . Portugal . . Mexiko . .

422559 329618 173360 102196 85175 77213 72206 51319 44321 36979 24308 24424 20989 20600 15170 15160

Bevölkerung des Kernlandes (in Tausenden) 45371 325818 135327 91927 39602 64926 52985 —

6213 35239 —

7424 20356 —

5960 —

Vergleicht man obige Tabelle mit der auf S. 49, so fällt sofort in die Augen, daß die Liste der Großmächte viel mehr mit den Bevölkerungs- als mit den Flächenzahlen übereinstimmt. Von den beiden Grundelementen des Staates ist also die Bevölkerung das maßgebendere.

Die Größe der Staaten.

53

Aber dieses Element befindet sich in einem b e s t ä n d i g e n F l u ß ; Geburten und Sterbefälle, Zu- und Abwanderung verändern es fortwährend, und damit sind auch die Machtverhältnisse der Staaten, soweit sie von der Volkszahl abhängen, unausgesetzten Verschiebungen unterworfen. Die Vorgänge, die die Statistik unter dem Namen der B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g zusammenfaßt, gewinnen damit eine außerordentliche, noch zu wenig gewürdigte Bedeutung für die politische Geographie. Aber nicht zu allen Zeiten die gleiche. Bis in das 19. J a h r hundert war die Bevölkerungsbewegung weniger stark, weil die Wanderungen verhältnismäßig keinen großen Umfang annahmen. Die Menschen waren seßhafter. Selbst die Periode der Völkerwanderung darf sich mit dem 19. Jahrhundert nicht messen. 1821 — 1912 sind nahezu 21 Mill. Menschen, hauptsächlich aus Europa, in das Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika hinübergewandert, die mit ihren Kindern und Kindeskindern allein einen ansehnlichen Großstaat bevölkern könnten. Aber auch die natürliche Volksbewegung scheint die Staaten weniger beeinflußt zu haben als in unseren Zeiten; in normalen Zeiten mag die Zahl der Geburten wohl immer die der Todesfälle übertroffen haben, aber häufig mag wohl auch der umgekehrte Fall eingetreten sein. Jedenfalls drückten Kriege, Hungersnöte und weitverbreitete Epidemien, vor allem aber die unhygienische Lebensweise das Durchschnittsalter der Menschen stark herab. Der zuletzt genannte Grund fiel wahrscheinlich am schwersten ins Gewicht und mußte vor allem eine enorme Kindersterblichkeit zur Folge haben. In früheren Jahrhunderten konnten daher die Staaten an Volkszahl nur sehr langsam und ungleichmäßig wachsen. Man kann sich indirekt davon überzeugen, wenn man nach dem Prinzip der Zinseszinsrechnung und unter Annahme einer mäßigen Bevölkerungszunahme die gesamte Menschenzahl f ü r irgendeine ferne Epoche berechnet; man erhält dann lächerlich kleine Zahlen, deren Unmöglichkeit man sofort erkennt. Im 19. Jahrhundert, und namentlich in dessen zweiter Hälfte, macht sich überall eine aufstrebende Lebenskraft geltend. Aber die einzelnen Staaten verhalten sich sehr verschieden. Auch in Europa. Als Beispiel mögen uns die Großmächte um die Wende des Jahrhunderts dienen. Die Zahlen in der folgenden Tabelle 1 beziehen sich auf die Periode zwischen zwei Volkszählungen und bedeuten die Bevölkerungszunahme für ein Tausend der mittleren Bevölkerung. Die letzte Kolumne gibt den Geburtenüberschuß innerhalb eines in Klammern beigefügten Jahres ebenfalls für je ein Tausend der Bevölkerung. 1

Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1910.

54

Die G r ö ß e der Staaten. (Kernland) Deutsches Reich Rußland Österreich-Ungarn Großbritannien Italien Frankreich Vereinigte Staaten Japan

Letzte Zählung 1905 1897 1900 1901 1901 1906 1900 1903

Zunahme 14,6 13,4 9,8

9,0 6,e 1,5 18,9 13,i

Geburtenüberschuß 14,o 17,7 11,3 10,9 10,8 1,2

?

(1908) (1903) (1907/08) (1908) (1908) (1908)

12,2 (1907)

Das Wachstum ist, wie man sieht, sehr ungleichmäßig. An der Spitze stehen die Vereinigten Staaten infolge starker Einwanderung aus Europa. In solchen Einwandererländern kann die Volksvermehrung enorme Werte erreichen — in Kanada z.B. 1896—1906 126,8 a. d. Taus., also fünfmal mehr als in den Vereinigten Staaten, die ihren Bedarf an Arbeitskräften zum Teil schon gedeckt haben, während Kanadas neu erschlossene Ackerbaudistrikte in der Prärienzone noch mit offenen Armen des Ansiedlerzustromes harren. Es ist aber klar, daß die Bevölkerung solcher jungfräulichen Länder starken Schwankungen unterworfen ist, und daß im Gegensatze dazu die natürliche Volksbewegung einen mehr regelmäßigen Gang zeigt. Aber auch in den Staaten, deren Wachsturn hauptsächlich durch den Geburtenüberschuß bestimmt wird, sind beträchtliche Unterschiede wahrnehmbar. In Europa lassen sich drei Gebiete unterscheiden: 1. Das östliche, das Rußland, Rumänien, Bulgarien, zum Teil auch Serbien und Ungarn umfaßt, also die größtenteils von Slawen niederer Kulturstufe besiedelten Ackerbauländer, mit großer Geburten-, aber auch großer Sterbehäufigkeit, 2. das westliche Gebiet, dem Frankreich, die Schweiz, Belgien, die Niederlande, Großbritannien, aber auch die drei skandinavischen Staaten angehören, also das vorwiegend industrielle Qebiet, in dem sowohl die Zahl der Geburten, als die der Sterbefälle unter dem Durchschnittsmaß liegt, und 3. die übrigen Staaten, die (mit Ausnahme von Spanien und Portugal) die Mitte Europas und auch betreffs der natürlichen Bevölkerungsbewegung eine mittlere Stellung einnehmen. Schon daraus geht hervor, daß Geburt und Tod Erscheinungen sind, die durch die wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Verhältnisse mitbestimmt werden. Diese Zusammenhänge liegen klar zutage, es gibt aber noch andere Faktoren, über die man sich wenigstens bisher nur vermutungsweise äußern kann. Wir deuten damit auf das Problem der französischen, Geburtenarmut hin, die in der gegenwärtigen Welt ohne Beispiel dasteht. Nur die starke Einwanderung rettet Frankreich vor Entvölkerung und gänzlichem Verfall, kann aber sein allmähliches Abwärtsgleiten nicht aufhalten. Das

Die Größe der Staaten.

55

macht sich in zwingender Weise bemerkbar, wenn man darauf achtet, wie rings um das sterile Frankenland reiches Leben emporschießt. 1876, zu Beginn der letzten Friedensperiode, zählte Frankreich 36905788 Einwohner, das Deutsche Reich aber 1875 42727360, jenes verhielt sich also zu diesem wie 100:113. Nach 45 Jahren friedlicher Entwicklung und eines gewaltigen materiellen und politischen Aufschwunges, im Jahre 1911, war Frankreichs Bevölkerung nur auf 39601509 gestiegen, die des Deutschen Reiches aber (1910) auf 64925993, und das Verhältnis beider Nachbarstaaten war nunmehr 100:165. Die Krankheit, die das französische Volk ergriffen hat, ist überdies ein altes Übel, dem man freilich erst im vorigen Jahrhundert durch regelmäßige statistische Aufzeichnungen auf die Spur kam. Sie erfaßt nicht gleichmäßig den ganzen Staatskörper; es gab bei jeder Zählung Departements, die in frischem Wachstum begriffen schienen. Aber dieses Wachstum war im Grunde genommen nur eine Täuschung, es erfolgte nicht von innen heraus, sondern hauptsächlich durch Zuzug vom platten Lande, und dieäes besaß nicht die Kraft, den Menschenverlust zu ersetzen, und blieb daher stationär oder fiel sogar der Entvölkerung anheim. 1 Das Grundübel ist die eheliche Unfruchtbarkeit, Man darf das aber nicht als eine verhängnisvolle Rasseneigenschaft betrachten, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte, denn die nach Kanada ausgewanderten Franzosen leiden durchaus nicht daran. Darüber sind alle einig, daß die Ursache in dem in Frankreich in allen Schichten der Gesellschaft herrschenden Zweikindersystem liegt. Man hat schon wiederholt Vorschläge gemacht, wie ein reichlicherer Kindersegen zu erzielen sei, aber alle Bemühungen bleiben erfolglos, geradeso wie im alten Rom. Das legt die Vermutung nahe, daß es nicht mehr im Belieben des einzelnen steht, die Sachlage zu ändern. Es scheint, als ob durch dauernde künstliche Kinderbeschränkung physiologische Vorgänge ausgelöst würden, die hemmend das Fortpflanzungswerk beeinflussen. Wie dem auch sei, das Schicksal Frankreichs scheint besiegelt, eine Regeneration nicht mehr möglich zu sein. Unter solchen Umständen mußte der lange dauernde Weltkrieg verhängnisvoll werden. Und dies war in der Tat der Fall. Uns liegen die amtlichen vorläufigen Zahlen für die Jahre 1914—18 vor; die Kriegsverluste sind dabei n i c h t berücksichtigt. 2 In dieser Periode war die Bilanz der natürlichen Bevölkerungsbewegung in den 77 nicht vom Feinde besetzten Departements durchaus negativ, und dasselbe ist in den 10 besetzten mit gutem Grund anzunehmen. In jenen fünf Kriegs1

A. SUPAN, Die Verschiebung der Bevölkerung in den industriellen staaten Westeuropas (Petermanns Geogr. Mitteil. 1892, S. 59). a Gothaischer Kalender 1920, S. 732.

Groß-

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Die G r ö ß e der Staaten.

jähren starben rund 1273000 mehr als geboren wurden, und setzt man die Zahl der im mörderischen Kampfe Gefallenen auch möglichst niedrig an, so ist doch der Schluß unausweichlich, daß der Krieg Frankreich 3—4 Mill. Menschen gekostet hat, also reichlich doppelt so viel, als es durch die Annexion von Elsaß-Lothringen gewonnen hat. Es ist nicht zu erwarten, daß ein Volk, auf dem der Fluch der Impotenz lastet, diese Lücke aus eigener Kraft sobald wieder ausfüllen wird. Daher die berechtigte Angst vor der Zukunft. Wird es aber durch das Wachstuni der anderen, besonders der .benachbarten Völker, ebenso energisch in den Hintergrund gedrängt werden, wie in den letzten J a h r z e h n t e n ? Das ist unwahrscheinlich, namentlich in betreff des deutschen Volkes, das durch den Krieg noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wurde als das französische. L U D W I G E L S T E R 1 beziffert die unmittelbaren Kriegsopfer auf 2 Mill., die Opfer der Zivilbevölkerung infolge der Hungerblokade auf 800000 und den durch den Krieg bewirkten (Abwesenheit der Männer, Unterernährung u. dgl.) Geburtenausfall für die Zeit von Mai 1915 bis April 1918 auf 3292000, so daß die Bevölkerung des Reiches, die am Beginn des Krieges nahezu 68 Mill. betrug, mit Einrechnung der verlorenen Gebiete nur auf 56,5 und im günstigsten Falle 59,5 Mill. zählen dürfte. Damit wäre Deutschland wieder auf den Stand zu Anfang unseres Jahrhunderts zurückgeworfen. Überdies hat die Statistik nachgewiesen, daß die Geburtenzahl seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in allen europäischen Ländern bedeutend abgenommen hat, besonders in den industriellen, und in den Städten mehr als auf dem Lande. 2 Für die Vereinigten Staaten liegen zwar keine ziffernmäßigen Nachweise vor, aber alle Berichte stimmen 1

Der Einfluß des Krieges auf die B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g in D e u t s c h l a n d (Jahrb. f. Nationalök. u. Stat. 1919, Bd. 58 d. 2. F o l g e , S. 152). A HANSSEN, Über den Geburtenrückgang (München, mediz. Wochenschrift, 60. Jhrg.). — GERH. GRAMSE, Die Beziehungen des A b o r t s zum Geburtenrückgang. Diss. Breslau 1918. Geburtenzahlen

auf T a u s e n d

der

1841—50 Rußland Bulgarien Serbien Österreich-Ungarn Italien Deutschland England Schweden Frankreich

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

. . . . . . . . .

42,7

Bevölkerung. 1871—80

1906—08







43,s

40,7

39,4

39,4

34,4

36,7

32,6

31,6

39,i

32,4

32,6

35,4

26,6

31,!

30,5

25,6

27.4

25,4

20,i

— — — —

Die Größe der Staaten.

darin überein, daß die Kinderlosigkeit der E h e n immer mehr zunimmt, und namentlich die F r u c h t a b t r e i b u n g soll d o r t in schlimmster Weise a u s a r t e n . Die Ursachen liegen wohl auch hier im Drucke der wirtschaftlichen Verhältnisse 1 und wahrscheinlich noch mehr in der seelischen E n t a r t u n g , die immer einzutreten scheint, wenn die Zivilisation einen gewissen H ö h e p u n k t überschritten h a t . Im Menschenleben m u ß eben jedes Plus auf der einen Seite durch ein Minus auf der anderen Seite e r k a u f t werden. Die Meinung ARNOLD STELNMANN-BUCHERS2, die Unf r u c h t b a r k e i t aller amerikanischen Völker stehe in einem mystischen Z u s a m m e n h a n g mit der N a t u r , dem „ E r d g e i s t " der Neuen Welt, k a n n natürlich nicht ernst genommen werden. Noch ganz unklar ist es, was es mit der von der deutschen S t a t i s t i k 3 eingeführten und berechneten L e b e n s k r a f t in verschiedenen S t a a t e n f ü r eine Bewandtnis h a t . Sie wird definiert als der reziproke W e r t des jährlichen Sterbekoeffizienten, als die durchschnittliche Zahl der Leben^ den, die auf 1 Gestorbenen derselben Altersklasse entfallen. 4 Zu den nachstehenden Zahlen 5 , die nur numerischen W e r t besitzen, aber untereinander s t r e n g vergleichbar sind, läßt sich kein enger Z u s a m m e n h a n g mit der natürlichen Bevölkerungsbewegung, ü b e r h a u p t nichts Gesetzmäßiges herauslesen, aber sie zeigen doch, d a ß auch die „ L e b e n s k r a f t " der verschiedenen Völker recht verschieden ist. Niederlande Schweden England Belgien Italien Deutschland Frankreich Massachussetts Österreich-Ungarn

männlich 119,4 118,4 118,2 116,5 112,3 110,4 102,7

weiblich 122,i 119,2 126,7 121,8 102,4 116,2 107,7

96,8

97,2

93,2

88,5

Alle derartigen statistischen Angaben eröffnen bedeutende Perspektiven u n d wären von besonderem W e r t e , wenn wir solche auch von anderen Rassen h ä t t e n , d e n n wir können uns des unheimlichen Gefühls nicht erwehren, d a ß die Weißen einmal z a h l e n m ä ß i g von den Gelben und Schwarzen erdrückt werden. 1 2

JULIUS WOLF, Nahrungsspielraum u. Menschenzahl. Englands Niedergang. Berlin 1917, S. 31.

Berlin 1917.

* Statistik d. Deutschen Reiches, B d . 2 0 0 , S. 31. 4 Z. B. entfielen im Durchschnitt der Jahre 1 8 9 1 — 1 9 0 0 innerhalb der Altersstufe 10—15 Jahre in Deutschland 368,5 Lebende auf 1 T o t e n . 5 Mittel aller J a h r f i i n f t m i t t e l der Lebensstufen von 5 — 8 0 Jahren.

58

Die G r ö ß e der Staaten.

Macht. Die Größe an sich, weder die Seelenzahl und noch weit weniger die räumliche A u s d e h n u n g sind die u n m i t t e l b a r e n Grundlagen der Macht. In dem W o r t e G r o ß m a c h t liegt der Ton auf der zweiten Silbe. Worin b e s t e h t also das Wesen der M a c h t ? Dem Zwecke nach k ö n n e n wir eine innere und eine äußere Macht unterscheiden, die innere besteht in der S e l b s t b e h a u p t u n g , und ohne sie ist ein selbständiger S t a a t überh a u p t nicht d e n k b a r ; die äußere k a n n auch über die Grenzen bestimmend hinausgreifen. Beide wurzeln im W i l l e n , und es ist das große Verdienst KJELL£NS\ dies e r k a n n t und mit allem Nachdruck b e t o n t zu h a b e n . E r h a t auch ganz richtig den Ausgang des Weltkrieges als den Sieg des Willens über die Intelligenz bezeichnet. Aber der Wille bedarf Mittel, u m sich verwirklichen zu können. Im zwischenstaatlichen Leben w a r und ist das u n m i t t e l b a r s t e Werkzeug die W a f f e ; ob auch in der Z u k u n f t , k a n n n u r f ü r jene zweifelhaft sein, die noch i m m e r an dem Glauben an das t a u s e n d j ä h r i g e Reich inbrünstig f e s t h a l t e n . Vorläufig sieht es nicht danach aus, und wir werden sicherer gehen, wenn wir uns von der bisherigen geschichtlichen E r f a h r u n g f ü h r e n lassen. Aber in bezug auf die H a n d h a b u n g und Beschaffenheit der W a f f e vollziehen sich W a n d l u n g e n . Im A l t e r t u m u n d Mittelalter war der Krieg nahezu ausschließlich Menschenarbeit, seit der E r f i n d u n g des Pulvers zwar nicht mehr ganz, aber doch noch zum größten Teil. Da wurde es auch v e r h ä l t n i s m ä ß i g kleinen und von N a t u r aus schwachen S t a a t e n möglich, zu größerer Macht zu gelangen, wenn nur der Wille dazu vorh a n d e n war. B r a n d e n b u r g - P r e u ß e n charakterisiert Fürst VON B Ü L O W in seinem W e r k über die deutsche Politik (Berlin 1916, S. 140) als eine „ d u r c h a u s künstliche, d u r c h keine natürliche Grenze geschützte, durch keine S t a m m e s e i g e n a r t oder lange Überlieferung zusammengehaltene Staatsbildung Sie w a r in bewegter Zeit und in unruhiger Umgebung nur durch militärische Machtmittel zu b e h a u p t e n . Das e r k a n n t e mit f r ü h geschärftem s t a a t s m ä n n i s c h e n Blicke der jugendliche Große K u r f ü r s t . . . Er rettete seinen S t a a t , den er in seiner Existenz schwer bed r o h t vorgefunden h a t t e , d a d u r c h , d a ß er ihn auf die W e h r k r a f t stellte". So wurde der „preußische Militarismus" typisch und der Gegenstand des Hasses sowohl aller M ä c h t e , die den Hohenzollernstaat als einen unberechtigten Eindringling b e t r a c h t e t e n , als auch aller innern Widersacher der staatlichen Ordnung. Auch Kleinstaaten, denen es ihr R e i c h t u m ermöglichte, stattliche Söldnerheere ins Feld zu stellen, gelangten so zu hohem Ansehen; Venedig z. B. spielte d a d u r c h einige Zeit die Rolle einer G r o ß m a c h t . D a m i t t r a t ein neuer M a c h t f a k t o r in W i r k s a m k e i t : ' Die G r o ß m a c h t e der G e g e n w a r t , S. 1

59

Die Größe der Staaten.

das V o l k s v e r m ö g e n , und solange der H a n d e l die H a u p t q u e l l e des R e i c h t u m s war, k o n n t e n es auch See- u n d H a n d e l s s t a a t e n , wie z. B. Holland, und nicht minder gilt es in der neuesten Zeit von England, sich m i t S t a a t e n messen, die ihnen an Volkszahl weit überlegen waren. Aber R e i c h t u m k a n n erschlaffen, und Söldnerwesen ist ein zweischneidiges Schwert. Die E i n f ü h r u n g der allgemeinen W e h r p f l i c h t d r ä n g t e zwar den finanziellen M a c h t f a k t o r zur Vordertüre hinaus, a b e r die M e c h a n i s i e r u n g d e r W a f f e f ü h r t e ihn zur H i n t e r t ü r e wieder herein. Diese U m w ä l z u n g im Kriegswesen, f ü r die der Weltkrieg epochemachend war 1 , und die noch u n g e a h n t e Dimensionen a n n e h m e n k a n n , ist genau derselbe Vorgang wie in der Industrie der Übergang von der H a n d a r b e i t zum Maschinenbetrieb und s t e h t d a m i t auch in innigem Z u s a m m e n h a n g e . Alte Zerstörungs- und V e r n i c h t u n g s m i t t e l werden i m m e r m e h r verv o l l k o m m n e t , neue werden erfunden, und die Kriegsarbeit wird zum großen Teil v o m Felde in die Fabriken des H i n t e r l a n d e s verlegt. Kohle und Eisen werden die Gebieter, und es liegt auf der H a n d , welch große Verschiebungen d a m i t auf dem Gebiete der äußeren Macht eingeleitet werden. D a m i t ist aber auch wieder der R e i c h t u m in den politischen Vordergrund gerückt. E r m i t t e l u n g e n über das Gesamtvermögen eines S t a a t e s sind n a t ü r lich mit den größten Schwierigkeiten v e r k n ü p f t und können nur zu ganz allgemeinen Vorstellungen f ü h r e n , ja, sie sind sogar irreführend, wenn die- Berechnungsmethoden verschieden sind und daher nicht vergleichbare Zahlen liefern. Eine vollständige Aufstellung gab das Census Office der Vereinigten S t a a t e n 1896 f ü r alle Groß- und M i t t e l s t a a t e n E u r o p a s und f ü r einige wenige amerikanische S t a a t e n . Die absolute Richtigkeit der Zahlen bleibt hier auch in s t a r k e r A b r u n d u n g (in Milliarden Reichsmark) sehr problematisch, vielleicht k a n n a b e r die finanzielle Reihenfolge der G r o ß m ä c h t e auf a n n ä h e r n d e Zuverlässigkeit Anspruch machen. Milliard. M. Vereinigte Staaten Großbritannien Frankreich Deutschland Rußland Österreich-Ungarn. Italien

. . . . . . . .

. . .

. .

. . 3 3 4 . . . 241 . . . 198 . . . 165 . . . 131 . . . 92 . . . 65

Auf den Kopf d. Bev. M. 4700 6100 5200 3200 1200 2100 2100

1 Lehrreich sind die allerdings vielleicht übertriebenen Angaben über die Ausrüstung des amerikanischen Heeres in E. T. POWELL, A r m y behind the army, 1919.

60

D i e Größe der Staaten.

Die Großmächte zusammen (außer Japan) verfügten also gegen Ende des vorigen Jahrhunderts über 1226 Milliarden Mark, die europäischen Mittelstaaten und Kanada aber nur über 186 Milliarden. Das Übergewicht der Großmächte tritt somit klar zutage, aber nur absolut, relativ ist dagegen der Unterschied gering (auf den Kopf der Bevölkerung entfallen in den Großmächten 3200, in den übrigen Staaten 2900 M.). Neuere Berechnungen hat A . S T E I N M A N N - B U C H E R 1 zusammengestellt. Milliard. M. Vereinigte S t a a t e n (1904) . . Deutschland (1905—06) . . . Großbritannien ( 1 9 0 5 — 0 6 ) . . Frankreich (1906)

428 330—360 253—300 225—250

Auf den Kopf d. B e v . M. 5300 5—6000 6—7000 5—6000

Daß Deutschland hier an zweiter Stelle erscheint, beruht ausschließlich auf der neuartigen Berechnungsmethode S T E I N M A N N - B U C H E R S , gegen die sich A D O L F W A G N E R , eine anerkannte Autorität, ausgesprochen hat. SCHMOLLER schätzte das deutsche Volksvermögen für 1902 auf 200 Milliarden, legt aber selbst dieser Zahl kein großes Gewicht bei. Fest steht dagegen, daß die nordamerikanische Union der reichste Staat der Welt ist, und dieser Reichtum ist im Weltkrieg noch enorm gestiegen. Hier haben wir es mit einem ganz n e u e n G r o ß m a c h t s t y p zu tun. Seine Grundlage ist nicht nur mittelbar, wie z. B. bei den alten Söldnerstaaten, sondern unmittelbar der Reichtum. Die Vereinigten Staaten dehnten ihre Herrschaft nicht nur durch die Gewalt der Waffen und auf politischen Schleichwegen, sondern auch direkt durch Länderkauf aus. Louisiana, Alaska, Dänisch-Westindien kamen auf diese Weise in ihren Besitz. Dieser Methode wird Onkel Sam, seitdem er Allerweltsgläubiger geworden, auch in Zukunft den Vorzug geben, und England und Frankreich könnten wohl einmal gezwungen werden, sich durch Verzicht auf ihre westindische Kolonie eines Teils ihrer Schuldenlast zu entledigen. England ist endgültig auf die zweite Stelle herabgeglitten, und Frankreich, einst der Weltbankier, ist infolge des Krieges finanziell kaum noch als Großmacht zu werten. Deutschlands Reichtum ist zertrümmert, und was der Krieg übrig gelassen hat, hat die Revolution vollends vernichtet. Macht, oder allgemeiner gesprochen Kraft, und Wille, sie zu gebrauchen, können wir in dem Begriffe E n e r g i e zusammenfassen. Die staatliche Gesellschaft stellt eine Summe von verschiedenwertigen 1

3 5 0 Milliarden d e u t s c h e s V o l k s v e r m ö g e n , Berlin 1909.

Die Größe der Staaten.

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Einzelenergien dar. Es findet hier aber nicht eine einfache Summierung statt. Wie wäre es sonst zu erklären, daß die Chinesen trotz ihrer Intelligenz und ihres allgemein anerkannten Fleißes und trotz ihrer Zahl nur eine kleine Energiesumme in die Wagschale werfen können? Offenbar deshalb, weil die Energieeinheiten nicht einheitlich orientiert sind und infolgedessen sich durchkreuzen und vielfach gegenseitig hemmen, mit einem Worte, weil die O r g a n i s a t i o n f e h l t . So kommen wir zu dem Schlüsse, d a ß d i e M a c h t s t e l l u n g e i n e s S t a a t e s v o n s e i n e r o r g a n i s i e r t e n G e s a m t e n e r g i e , die d u r c h die B e v ö l k e r u n g r e p r ä s e n t i e r t wird, a b h ä n g t . Der R a u m spielt dabei nur i n s o f e r n e i n e R o l l e , a l s er d e r E n e r g i e M ö g l i c h k e i t e n zu ihrer Betätigung bietet. Großmachtstypen. K J E L L E N unterscheidet deren zwei, einen alten und einen neuen. Jener charakterisiert das Altertum und das Mittelalter, dieser die Neuzeit. Jener hatte die allerdings niemals verwirklichte Tendenz, die ganze bekannte Erde zu umfassen, so daß f ü r zwei Großmächte gleichzeitig kein Raum vorhanden war und der Machtaufstieg der Großstaaten immer erst nacheinander erfolgte, während in der Neuzeit verschiedene Großmächte nebeneinander auftreten. Nur das Reich Napoleons gehört noch dem alten Typus an, es ist in der Tat eine ganz isolierte Erscheinung. Dieser Betrachtungsweise haftet aber ein Fehler an, in den zuerst R A T Z E L , dann besonders sein Schüler S C H N E I D E R verfallen ist. Es ist logisch unstatthaft, politische Größen mit der Erweiterung des geographischen Horizonts in Beziehung zu setzen. Wenn wir von der bekannten Erde sprechen, so meinen wir immer nur die den Mittelmeervölkern bekannte. Wir denken nicht daran, daß andere Völker ein weiteres Gesichtsfeld überschauen konnten. Wenn wir ausrechnen, daß das römische Reich 9 Proz. der damals uns Abendländern bekannten Erde umschloß, so besagt das politisch sehr wenig. Inhalt der Weltgeschichte ist der Zusammenfluß der Menschheit. Ob er sich jemals restlos vollziehen wird, können wir nicht wissen, und es wäre ein müßiges Beginnen, darüber auch nur Vermutungen anzustellen. Aber in bezug auf das, was wir oben die politische Welt genannt haben, läßt sich die Entwicklung doch schon einigermaßen übersehen. Sie ist aus der Verschmelzung von Sonderkreisen entstanden, die entweder in gar keiner Berührung miteinander standen, wie die altweltlichen und die amerikanischen, oder nur durch sehr lose Fäden miteinander zusammenhingen, wie die west- und osteuropäischen. Jeder dieser Sonderkreise erwuchs wieder aus der Vereinigung kleinerer

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Die Größe der Staaten.

Kreise, und in jedem davon konnten sich eine oder mehrere Großmächte entwickeln. Etwas Genaueres wissen wir nur von dem westlichen Flügel des eurasiatischen Kontinents. Hier lösten in der Tat die Großmächte einander ab, denn, wenn mehrere nebeneinander standen, so entwickelte sich bald ein Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen, wie zwischen Athen und Sparta, Griechenland-Mazedonien und Persien, Rom und Karthago. Nur Rom und China konnten nebeneinander bestehen, weil sich ihre Interessen wenig berührten, obwohl sich schon 100 v. Chr. ein direkter Handel zwischen ihnen anzubahnen begann. Das Mittelalter wird eingeleitet durch den scharfen Gegensatz zwischen der christlichen und der mohammedanischen Welt. Die Absicht der Khalifen, sie politisch zu vereinigen, scheiterte an dem Widerstande K A R L M A R T E L L S in der Schlacht bei Poitiers (732). Ebensowenig erfochten die Christen in den Kreuzzügen einen endgültigen Sieg über die Mohammedaner. Und nun begann hüben wie drüben der Zerfall. Die christliche Welt des Abendlandes war zwar im Heiligen römischen Reich vereinigt, aber nur dem Namen nach. In Westeuropa bildeten sich selbständige Nationalstaaten, und .in Deutschland und Italien schritt die Auflösung noch weiter fort. Das gab in Italien, dem Lande illegitimer Herrscher, mächtiger Städtestaaten und gewaltiger Söldnerheere, Veranlassung zu einer neuen politischen Problemstellung: Wie können sich schwache Staaten dauernd gegen die Machtgelüste eines stärkeren schützen? Die Antwort war: durch Herstellung eines p o l i t i s c h e n G l e i c h g e w i c h t s . Das J a h r 1480, in dem Florenz, Mailand, Venedig und Neapel einen Bund schlössen, ist das Geburtsjahr der Gleichgewichtsidee. An die Stelle der politischen Einheit tritt ein S y s t e m von Staaten, die sich gleichsam gegenseitig ihr Leben versichern. Die eigentliche Bedeutung fand diese Idee aber erst am Ende des 17. Jahrhunderts, als sie auf ganz Europa Anwendung fand, um der Gefahr, die vom Frankreich Ludwigs XIV. drohte, eine wirksame Schranke zu setzen. Seitdem ist das e u r o p ä i s c h e G l e i c h g e w i c h t 1 ein Schlagwort geworden, das seine mystische Kraft bis zum heutigen Tage bewahrt hat, obwohl seine Hohlheit und innere Unwahrheit sich schon längst geoffenbart hat. Durch die Theorie eines europäischen Staatensystems erhielten die Großmächte erst ihre Sanktion, denn ihnen fiel die Aufgabe zu, das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten und die schwachen Staaten zu stützen. In Wahrheit hat das europäische Gleich1

KAEBER, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizierten Literatur v o m 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Leipzig 1907. — O. MEISNER, V o m europäischen Gleichgewicht (Preußische Jahrbücher, Mai 1919, Bd. 176, S. 222).

Die Größe der Staaten.

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gewicht n i e bestanden. Man hat nie daran gedacht, die Staaten gleichgewichtig zu machen, und hätte es auch nie zustande bringen können, denn man ging von der ganz falschen Voraussetzung aus, daß das politische Gewicht eines Staates identisch sei mit seinem „Bodengewicht", d. h. bestimmt werde durch die räumliche Ausdehnung und die Güte der Grenzen. Inzwischen sind ganz andere Stärkefaktoren, von denen wir in diesem Buche handeln, in Wirksamkeit getreten. Man ging von einem gegebenen Zustand aus, ohne zu fragen, ob er auch die Gleichgewichtsbedingungen in sich trage, und sah nur darauf, daß er nicht in empfindlicher Weise gestört werde. Frankreich beharrte nach wie vor auf seinem Anspruch, als Vormacht im festländischen Europa zu gelten, und empfand die Siege Preußens im J a h r e 1866 als eine Störung des Gleichgewichts. Dagegen konnten Rußland und England ihre Weltreiche ungehindert ausbauen, denn ihre Erwerbungen lagen ja außerhalb der konventionellen Grenzen Europas. Gerade in Englands Interesse lag es, immer wieder auf das europäische Gleichgewichtsprinzip zu pochen, denn es hielt ihm den Rücken frei. Darüber gingen Europa schon während des Krimkrieges die Augen auf. 1 Freilich ohne weitere Folgen. Nun liegt das System zertrümmert am Boden, und die Weisen in Paris mühen sich in manchmal kindischer Weise ab, wieder ein neues zurechtzuschneidern. Vergebliche Arbeit! Die Grenzen des europäischen Systems sind für immer gesprengt, jetzt handelt es sich um das W e l t g l e i c h g e w i c h t , und an die Stelle der einstigen Großmächte treten die W e l t m ä c h t e 2 England, die Vereinigten Staaten von Amerika und Japan. Von den sechs europäischen Großmächten sind drei völlig ausgeschieden, und Frankreich und Italien wiegen den Weltmärkten gegenüber leicht, Italien sogar federleicht. Frankreich genießt fast nur mehr ein konventionelles Ansehen. Überall herrscht die Furcht, daß die fast erstickten Großmächte Rußland und Deutschland wieder zur Besinnung und zu Kräften kommen, und man kann sich nicht anders helfen, als immer wieder neue Lasten auf sie zu werfen. Überall tiefes Dunkel, nur in der Ferne ein schwaches, aber trügerisches Licht: der Völkerbund. Über ihn werden wir an geeigneterer Stelle sprechen. 1

WERNADSKI, Die Weltherrschaft Englands u. das europäische Gleichgewicht, 1856, S 4. 2 RATZELS Definition (Physische Geographie, S. 357) m u ß heute als veraltet und unhaltbar angesehen werden.

Die Lage der Staaten. Unter Lage verstehen wir in der Geographie die durch Azimut und Entfernung exakt bestimmbare Lage eines beliebigen geographischen Objekts zu einem anderen. In der politischen Geographie sind diese Objekte die als Einheiten gedachten Staaten, und ihre Lage fesselt nicht an und für sich unser Interesse, sondern hauptsächlich wegen ihrer Rückwirkung auf das Befinden der Staaten, deren Stärke oder Schwäche durch die Lage in hohem Grade mitbestimmt wird. Von diesem Gesichtspunkt aus sind unsere folgenden Betrachtungen zu beurteilen. In Betracht kommen hier drei Lageverhältnisse, die man kurz als die mathematische, die geographische und die politische Lage bezeichnen kann; sie beziehen sich sämtlich auf das Horizontale, von den Vertikallagen (Hoch- und Tieflandslage) sehen wir hier völlig ab. Mathematische Lage. Man kann sie auch die B r e i t e n l a g e nennen, denn es kommt hier vor allem auf die Entfernung vom Äquator an. Die Breite ist bekanntlich in erster Linie entscheidend für das Klima und damit auch für das menschliche Leben. Die mathematische Lage eines Staates kann man von jeder Karte ablesen; um zu einem schnellen, vergleichenden Überblick zu gelangen, eignet sich am besten eine politische Weltkarte in BABINETscher Projektion, die mit der beliebten Mercatorprojektion den Vorzug der geraden Parallelen teilt, sie aber wegen ihrer Flächentreue für unsere Zwecke weitaus übertrifft. Ein ziffernmäßiger Ausdruck wäre die mittlere Breite des Staates, natürlich unter der Voraussetzung, daß bei Staaten mit weit zerstreuten Bestandteilen (also besonders bei Kolonialstaaten) nur das Kerngebiet in Betracht gezogen werde. Es ließe sich wohl eine Methode finden, um diesen Mittelwert genauer zu bestimmen; wir begnügen uns hier mit einer rohen Annäherung, nämlich mit dem arithmetischen Mittel der Breitenextreme.

D i e Lage der Staaten.

65

Osthälfte. Arktische

Staaten.

1

Island 65,5°, Norwegen 64,«°,

Schweden

62,4°.

M i t t l e r e B r e i t e n . R u ß l a n d (bis Bolwanski Noß) 57,e°, Sibirien 56,9°, D ä n e m a r k 5 6 , 2 ° , Großbritannien 55,4°, Niederlande 5 1 , 8 ° , Deutsches Reich 5 1 , o ° , Belgien 5 0 , 5 ° , Frankreich 47,7°, Österreich-Ungarn 4 6 , 6 ° , Schweiz 46,6°, R u m ä n i e n 45,9°, Serbien 4 4 , B u l g a r i e n 4 2 , 6 ° , Italien 41,7°.

S u b t r o p i s c h e B r e i t e n : Spanien 39,9°, Portugal 38,5°, Griechenland 3 8 , 2 ° , Afghanistan 3 8 , 9 ° , J a p a n 3 8 , 8 ° , China 3 4 , 6 ° , Persien 31,s°, Türkei

28,6°.

Tropische Breiten:

Indien

21,5°, Siam 12,o°, Australien

—26,8°.

Westhälfte. G e m ä ß i g t e B r e i t e n : Kanada (bis zur Murchisonspitze auf Boothia felix) 57,o°. S u b t r o p i s c h e B r e i t e n : Vereinigte S t a a t e n 39,«°. T r o p i s c h e B r e i t e n : Mexiko 23,7°, Zentralamerikanische S t a a t e n 11,6°, K o l u m b i a 6,4°, Venezuela 5,9°, E k u a d o r — 1 , 8 ° , .Peru — 10,e°, Brasilien —14,s°, Bolivien —16,5°. S u b t r o p i s c h e B r e i t e n : P a r a g u a y —24,8°, U r u g u a y —24,8°, Chile

—36,8°,

Argentinien

—38,6°.

Alles s t a a t l i c h e . Leben b e r u h t auf Interessengemeinschaft irgendwelcher Art, und eine solche k a n n sich n u r dort entwickeln, wo die Menschen näher aneinandergerückt sind. Die Voraussetzung hierzuist das Vorhandensein einer genügenden Menge von N a h r u n g s m i t t e l n , und somit ist im Grunde jede S t a a t e n b i l d u n g durch Bodenbeschaffenheit und Klima bedingt. In der polaren Zone erlischt sehr bald jede staatliche Organisation und d a n n jedes menschliche Leben ü b e r h a u p t . Eine besonders bemerkenswerte A u s n a h m e bildet die isländische Pforte, in die die nordatlantische S t r ö m u n g (Golfstrom) eine breite Wärrnezunge in die arktische Welt hineinstreckt. Die Vegetationslinien, die Baum- und Getreidegrenzen schmiegen sich mit weiter nördlicher A u s b u c h t u n g den Isothermen an, und hier ist es auch, wo hohe germanische K u l t u r und alte staatliche E n t w i c k l u n g am weitesten gegen den Pol vorgedrungen ist. Eine ähnliche Ausnahmestellung wird vielleicht einmal auch das Land am Mackenziefluß erringen. 1

Die S t a a t e n v o r dem Weltkrieg, da die neuen Grenzen n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t

sind. Größere Kolonien sind g e s o n d e r t a u f g e z ä h l t und durch Kursivschrift k e n n t l i c h gemacht. Supan,

Leitlinien.

2. A u f l .

5

66

Die Lage der Staaten.

Ungünstig f ü r das Heranwachsen größerer politischer Gebilde wirkt aber nicht n u r die Kargheit der polaren, sondern auch die Überfülle der tropischen N a t u r . N u r darf man diesem Satze nicht eine zu scharf betonte Allgemeinheit geben. An und f ü r sich ist das Tropenklima der E n t w i c k l u n g menschlicher K u l t u r und d a m i t auch der S t a a t e n bildung nicht feindlich. Die Geschichte liefert dafür, wenn auch nicht zahlreiche, so doch unwiderlegliche Beispiele. Moderne tropische S t a a t e n gibt es fast nur in der Neuen Welt, sie sind aus dem spanischen und portugiesischen Kolonialreich hervorgegangen, sind also s e k u n d ä r e Staatenbildungen, gleichsam europäische Ableger. Aber die Spanier f a n d e n hier auch zwei a u t o c h t h o n e S t a a t e n vor, das Aztekenreich in Mexiko und das Inkareich in den südamerikanischen Arides. Besonders das letztere hat durch seine räumliche Ausdehnung und seine vortreffliche Organisation f a s t den R a n g einer amerikanischen G r o ß m a c h t erreicht. Aber beide S t a a t e n waren nur vermöge ihrer Breitenlage tropisch, ja das der Inka sogar äquatorial, ihrer Höhenlage nach aber nahezu gemäßigt zu nennen. Außerdem h a t ihr Klima einen ausgeprägt trockenen Charakter und gerade darin liegt das Entscheidende. Soweit sich in den Tropen hohe W ä r m e mit intensiver Feuchtigkeit p a a r t , soweit herrscht Urwald, und dieser ist überall kulturfeindlich, nicht minder als die W ü s t e . Gerade das tropische Amerika liefert d a f ü r einen sprechenden Beweis. Zunächst mag es p a r a d o x erscheinen, wenn wir die beiden E x t r e m e der Vegetationstypen in ihren Wirkungen einander gleichstellen, um so mehr, als W a l d b e d e c k u n g gerade der Ausdruck höchster B o d e n f r u c h t b a r k e i t ist. Die Kulturfeindlichkeit des Urwaldes ist darin •begründet, d a ß er dem primitiven Menschen feindlich e n t g e g e n t r i t t (vgl. S. 25). Das unheimliche Düster, das eine Menge Schrecknisse und Gefahren in sich zu bergen scheint, wirkt auf den N a t u r m e n s c h e n nicht minder abschreckend, als die unendliche Einsamkeit einer S a n d w ü s t e oder das wild b r a n d e n d e Meer. Das alles sind N a t u r h e m m u n g e n , deren Überwindung selten einem k ü h n e n Wagnis, häufiger erst allmählicher Angewöhnung von Generationen gelingt. Der Urwald scheint besonders hartnäckig zu sein. Man darf es wohl als allgemein gültiges Gesetz aussprechen, d a ß die K u l t u r stets von dem offenen Gelände ausging und schrittweise in den Wald- eindrang. Damit verblaßte auch allmählich die Scheu vor diesem, aber nicht bei allen Völkern schwand sie völlig, und nur bei wenigen wandelte sie sich in Liebe und erwachte das Verständnis f ü r die segensreiche Rolle, die dem Wald im H a u s h a l t der N a t u r zufällt. Dem Deutschen ist das gelungen, w ä h r e n d der R o m a n e seine m a n c h m a l bis zum H a ß sich steigernde Abneigung schwer überwinden k a n n . Das Verhältnis des Menschen zum Urwald erklärt es auch,

Die Lage der Staaten.

67

d a ß die K u l t u r in der Alten Welt in den subtropischen Breiten ihren U r s p r u n g n a h m . Hier liegen die beiden ältesten S t a a t e n , von denen uns die Geschichte sichere K u n d e gibt, Babylonien und Ägypten. Beide in regenarmen, f a s t regenlosen Flußniederungen, die aber durch regelmäßige alljährliche Überschwemmungen einen hohen Grad der F r u c h t b a r k e i t erreichen. Das genügt jedoch nicht; das segenspendende E l e m e n t m u ß erst durch Kanäle und andere technische Einrichtungen p l a n m ä ß i g verteilt und in andere, e n t f e r n t e r e Gegenden hinübergeleitet werden. Außerdem m u ß t e n die Feldmarken, die die Übers c h w e m m u n g verwischte, immer wieder hergestellt werden. Darin lag ein hohes erzieherisches Moment, das zur Eigentumssicherung, Arbeitsteilung, zu Gemeinsinn f ü h r t e , also kurz gesagt die Grundlagen s t a a t l i c h e r O r d n u n g schuf. Weiter nördlich, wie in den Mittelmeerl ä n d e r n und in großen Teilen Vorderasiens, ist zwar die jährliche Regenmenge groß genug, daß m a n einer natürlichen Bewässerung, wie der des Nil und des E u p h r a t , entbehren kann, aber ihre jährliche Verteilung, die ihren Tiefstand im Sommer erreicht, m a c h t doch überall künstliche Bewässerung nötig, und f ü h r t e also schließlich, wenn auch langsamer, z u ähnlichen K u l t u r w i r k u n g e n , wie in Babylonien und Ägypten. Erst n a c h d e m die K u l t u r in den subtropischen Breiten festen F u ß g e f a ß t h a t t e , t r a t sie ihren Marsch in die Urwaldzonen an. Einerseits nach S, v o m oberen Indus in das Flachland am Ganges, und von Nord- nach S ü d c h i n a , anderseits nach N in den breiten Waldgürtel, der E u r o p a u n d Asien vom Atlantischen bis zum Großen Ozean bedeckt. Hier ist der Rodungsprozeß seit Beginn, des Mittelalters bis auf unsere Tage i m Gange. Langsamer, als die K u l t u r an sich, verschiebt sich das, was wir das p o l i t i s c h e G e b i e t nennen, d. h. die S u m m e aller Länder mit höher entwickeltem staatlichen Leben. F ü r sie hat in der Gegenwart die mathematische Lage nur insofern Bedeutung, als sie ihren wirtschaftlichen C h a r a k t e r in dessen wesentlichen Grundzügen, aber nicht ausschließlich b e s t i m m t , weil der Verkehr ausgleichend wirkt. Geographische Lage. W i r verstehen d a r u n t e r die Lage irgendeines geographischen Objektes zu einem anderen beliebigen geographischen O b j e k t . Nach dieser Definition sind die geographischen Lageverhältnisse von u n a b s e h b a r mannigfaltiger Art. F ü r uns k o m m e n n u r wenige in Betracht, von B e d e u t u n g ist im Grunde nur die L a g e e i n e s S t a a t e s zu v e r k e h r f ö r d e r n d e n o d e r v e r k e h r h e m m e n d e n O b e r f l ä c h e n f o r m e n . Die wichtigste davon, die in beiden Richt u n g e n wirkt, ist das Meer. Wir ziehen es aber vor, davon später, im

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Die Lage der Staaten.

Z u s a m m e n h a n g mit der politischen Lage, ausführlicher zu sprechen. Ein anderes verkehrhinderndes Element erster O r d n u n g ist die W ü s t e . Ihre gewaltige A u s d e h n u n g wird nur d a d u r c h gemildert, daß sie nicht, wie das Meer, das F r u c h t l a n d allseitig u m f l u t e t , sondern fleckenweise a u f t r i t t . Trotzdem wirkt sie in hohem Grade abschließend. Die Atlasländer und Tripolis sind völlig isoliert. Seine j a h r t a u s e n d e l a n g e A b s o n d e r u n g von dem Kulturleben der Alten Welt v e r d a n k t das tropische Afrika außer seiner ungegliederten Inselgestalt vor allem auch seiner Lage südlich des saharischen Wüstengebietes. Eine Lücke s c h a f f t n u r das Niltal, und hier sind in der T a t auch abendländische Gesittungselemente bis nach Abessinien eingedrungen. Viel länger als das Meer h a t die W ü s t e den Überwindungsversuchen des menschlichen Genius w i d e r s t a n d e n , aber allgemach wird sie doch durch die Eisenbahn dem Verkehr geöffnet werden. F r ü h e r schon ist die Hochgebirgsschranke durchbrochen worden. Die Alpen sind f ü r Deutschland und Italien immer von B e d e u t u n g gewesen, aber d a n k ihren mäßigen Höhen, ihren tief eingekerbten K a m m e i n s c h n i t t e n , ihren vielfach verzweigten Talsystemen und ihren häufigen Talwasserscheiden u n t e r b r a c h e n sie in geschichtlicher Zeit niemals völlig den Verkehr. In wie ganz anderer Weise fällt f ü r Indien die Lage a m H i m a l a j a ins Gewicht! Die Scheidung der Neuen W e l t in eine atlantische u n d eine pazifische A b d a c h u n g h a t bisher nur deshalb keinen tiefgreifenden E i n f l u ß auf die politische E n t w i c k l u n g Amerikas ausgeübt, weil die atlantische A b d a c h u n g räumlich und hydrographisch weit überlegen ist, und der Stille Ozean eine verhältnismäßig t o t e See war. Aber schon beginnt sich auch hier frisch pulsierendes Leben zu regen, das asiatische Gegengestade erwacht, J a p a n n i m m t eine i m m e r drohendere Gestalt an, und wenn einmal der pazifische Verkehr ähnliche Dimensionen wird angenommen h a b e n wie jetzt der atlantische, d a n n wird der Hochgebirgswall der Andes und des Felsengebirges trotz Eisenbahnen und P a n a m a kanal seine trennende Gewalt zu voller Geltung bringen. Verkehrfördernd sind die Flüsse in erster Linie dadurch, d a ß sie dem Menschen b e s t i m m t e Richtungen bis z u m Meere anweisen. Erst in zweiter Linie wirkt ihre t r a n s p o r t i e r e n d e K r a f t , denn diese ist h ä u f i g durch Wassermangel oder Wasserüberfluß, durch Hindernisse im S t r o m b e t t , durch Riffe, S a n d b ä n k e , Stromschnellen, K a t a r a k t e und Wasserfälle g e h e m m t oder lahm gelegt. Aber immer ist die Flußlage f ü r den S t a a t von Bedeutung. Österreich-Ungarn gründete zum großen Teil darauf seine Existenzberechtigung und w u r d e d a h e r mit R e c h t als D o n a u s t a a t bezeichnet. Maßgebend ist die R i c h t u n g ; seit den f r ü h e s t e n Zeiten der Geschichte f u n k t i o n i e r t e die Donau als der

Die Lage der Staaten.

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von der N a t u r vorgezeichnete Weg aus Mitteleuropa nach dem Orient, obwohl sie zur Schiffahrt erst nach und nach tauglich gemacht wurde und auch jetzt noch nicht allen idealen Anforderungen völlig entspricht. Felsenriffe, an denen das Wasser in wirbeiförmige Bewegung gerät, und Ungleichmäßigkeit des Gefälles sind hauptsächlich schuld daran. Es ist natürlich f ü r jeden Staat ein Bedürfnis, seine Flüsse ganz in seiner H a n d zu haben, und es ist ein ernstlicher Übelstand, wenn ein schiffbarer Fluß politisch zerrissen ist. Das ist leider das Schicksal des Rheins. Quellgebiet, Hauptlauf und Mündung liegen in verschiedenen S t a a t e n . So k a n n dieses herrliche Stromland mit seinen reichen Schätzen f ü r Deutschland niemals seinen vollen W e r t erlangen. Nun ist dies noch wesentlich erschwert dadurch, d a ß der Oberrhein wieder die Grenze zweier unfreundlicher, wenn nicht gar feindlicher Staaten bildet. Daß die Mündung in fremden und noch dazu nicht immer in Freundeshänden liegt, ist dabei das Schmerzlichste. Die holländische Herrschaft über die Scheidemündung wird f ü r Belgien stets ein wunder P u n k t bleiben. Anderseits erlangen die Niederlande durch den Besitz des Rhein- und Scheldedeltas eine Bedeutung, die ihnen sonst nicht zukommen würde. Die Donau teilt mit dem Rhein das gleiche Schicksal, und Rumäniens Machtstellung f u ß t wenigstens zum großenTeil darauf, daß es das Donaudelta beherrscht. Politische Lage. Grenzt ein Staat an einen oder mehrere andere Staaten oder an einen sonstwie beliebigen menschenerfüllten R a u m , so befindet er sich in einer N a c h b a r n l a g e , im anderen Falle ist er i s o l i e r t . Die Schweiz und Neuseeland können als die äußersten E x t r e m e politischer Lagerungsverhältnisse gelten; jene ist ringsum von mächtigen Staaten eingeschlossen, dieses liegt 18—1900 km vom nächsten australischen Staat entfernt mitten im Weltmeere. Zwischen diesen Extremen vermitteln mannigfache Übergänge. An die küstenfernen Inseln vom T y p u s Neuseelands reihen sich zunächst die küstennahen Inseln an, f ü r die Großbritannien das bekannteste Beispiel ist. Die staatliche Entwicklung hat hier ganz andere Wege eingeschlagen als auf den küstenfernen Inseln. Dort wirkte die Nähe des Festlandes mit magischer Anziehungskraft. Großbritannien erlag ihr im Mittelalter, J a p a n erliegt ihr heutzutage. Großbritanniens Politik h a t t e von jeher einen J a n u s kopf. Das eine Gesicht blickte hinaus über das Weltmeer in ferne Länder, das andere auf das nahe Gegengestade, wo, gegenüber der Themsemiindung, im Rheindelta sich die Haupteingangspforte nach Mitteleuropa öffnet. Diese Zwiespältigkeit ist das Schicksal aller S t a a t e n mit langem maritimen Rande. Den insularen ist noch die Möglichkeit

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D i e Lage der Staaten.

einer W a h l gegeben. J a p a n s t e h t jetzt auf dem Scheidewege; soll es sich noch tiefer in die kontinentale Politik verstricken oder soll es seine Z u k u n f t auf dem Großen Ozean s u c h e n ? U n t e r ganz ähnlichen Bedingungen stehen die H a l b i n s e l - u n d die R a n d s t a a t e n . Diese sind mit dem Festland eng v e r b u n d e n , a b e r a n einer oder an ein p a a r Seiten reichen sie ans Meer. Eine U n t e r a r t d a v o n bilden die I s t h m u s s t a a t e n , die zwei Meere berühren, wie Frankreich. Zur Charakterisierung der Lage eines S t a a t e s ist vor allem notwendig, das Verhältnis von Meeres- und Landgrenzen ziffermäßig festzustellen. Leider können wir diese Aufgabe nur f ü r den größten Teil der europäischen S t a a t e n vor dem Weltkriege lösen und auch hier n u r an der H a n d der Ausmessungen von S T R E B B I T S K I , f ü r deren Richtigkeit wir nicht volle B ü r g s c h a f t ü b e r n e h m e n möchten. Aber in der prozentischen Umrechnung, die folgender Tabelle z u g r u n d e liegt, d ü r f t e n die Mängel wohl größtenteils verschwinden. v. H . der g a n z e n

Großbritannien . . . Griechenland (1882) . Dänemark (Jütland). Norwegen Schweden Spanien Italien Europäisches Rußland Frankreich Niederlande Portugal

. . .

.

. . . . . .

. . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

D e u t s c h e s Reich . . . . Österreich-Ungarn . . . . R u m ä n i e n (1882) . . . . Belgien . . Schweiz

Meeresgrenzen 100 93 92 89 78 69 66 65 63 51 51

. . . .

.

. . . .

36 22 9 7

.—

Kiistenlänge Festlandgrenzen —

Maritimität /Meeresgrenzen \ Landgrenzen 00

7 8 11 22 31 34 35 37 49 49

13,4

64 78 91 93 100

0,5

11,4 8,1 3,5 2,2 1,9 1,8 ',7

1,0 1,0

0,3 0,1 0,07

0

Die S t a a t e n Europas zerfallen also in zwei G r u p p e n : in eine m a r i time mit einem Übergewicht der Meeresgrenzen, und eine festländische mit vorwiegenden Landgrenzen. Die K ü s t e n der zu den Halbinselund R a n d s t a a t e n gehörigen Inseln sind nicht mitgezählt. Der Begriff der M a r i t i m i t ä t k a n n als ein e x a k t e r Ausdruck des Anteils eines S t a a t e s a m Meere angesehen und bei Vergleichen gebraucht werden, charakterisiert aber keineswegs erschöpfend die natürliche Seegeltung der S t a a t e n . Es d ü r f t e auffallen, d a ß sich u n t e r den maritimen S t a a t e n

Die Lage der Staaten.

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auch das europäische R u ß l a n d befindet, das wir doch sonst als den hervorragendsten kontinentalen T y p u s zu b e t r a c h t e n gewohnt waren; in bezug auf M a r i t i m i t ä t ü b e r t r i f f t es sogar Frankreich. Dieses überraschende Ergebnis d ü r f t e sich auch d a n n nicht wesentlich ändern, wenn wir — wie es auch aus sachlichen Gründen richtig wäre — das ganze ehemalige russische Reich in die R e c h n u n g mit einbeziehen würden. T r o t z d e m hilft ihm die v e r h ä l t n i s m ä ß i g hohe Maritimitätsziffer nicht viel, weil die H ä l f t e seiner K ü s t e n einen großen Teil des J a h r e s vom Eise blockiert sind und die übrigen nur durch schmale Meeresstraßen, zu denen andere S t a a t e n den Schlüssel in den H ä n d e n haben, in den offenen Ozean hinausgelangen können. Es ist schon längst allgemein a n e r k a n n t , d a ß R u ß l a n d s Geschick darin begründet ist, und d a ß seine Geschichte seit Peter d. Gr. sich d a r a u s erklärt. Die hohe politische Bed e u t u n g der M e e r e n g e n , die den durch die unregelmäßigen Umrißformen des Landes gestörten Z u s a m m e n h a n g des Weltmeeres wieder herstellen, wird d a r a u s ohne weiteres v e r s t ä n d l i c h ; sie sind wie die Landengen, auf die wir weiter unten zu sprechen k o m m e n werden, von N a t u r aus zu politischen Aktionsz'entren b e s t i m m t . Die Meerengen übertreffen die Landengen insofern weit an Wichtigkeit, als sie sowohl dem Angriff, wie der Verteidigung dienen, während der Charakter der Landengen vorzugsweise nur defensiver N a t u r ist. Daher hegte man auch niemals Bedenken, sie völlig zu eliminieren und, wenn möglich, in Meerengen zu verwandeln (Suez, P a n a m a , Korinth, Eiderenge). Auch unsere Ansichten von dem W e r t e der maritimen Lage haben sich geändert. Gewiß h a t sie ihre großen Vorteile, aber doch n u r u n t e r gewissen Voraussetzungen. Wir sprechen hier zunächst von der isolierten maritimen Lage. Die Engländer haben, seitdem sie ein großes Seevolkgeworden, in der Inselnatur ihres Landes, also in ihrer natürlichen Isoliertheit, die Wurzel ihrer Stärke, ihrer Macht und ihres Ansehens erblickt und sich bis in die jüngste Zeit heftig gegen das P r o j e k t einer unterseeischen E i s e n b a h n v e r b i n d u n g mit dem Festlande durch die Enge von Calais gesträubt. Aber dabei wurde manches vergessen, woran erst der Weltkrieg etwas u n s a n f t erinnert h a t . Allerdings bedeutet jede Meeresküste, die insulare so gut wie die kontinentale, Isolierung, aber zugleich auch u n m i t t e l b a r e V e r b i n d u n g m i t a l l e n a n d e r e n M e e r e s k ü s t e n der Erde, mit A u s n a h m e des größten Teiles der polaren. Ein K ü s t e n v o l k k a n n mit einem anderen u n m i t t e l b a r in Krieg geraten, und die Gefahr ist um so größer, je näher sie einander sind. Ein Krieg zwischen Spanien und der Schweiz ist u n d e n k b a r , wohl aber einer zwischen Spanien und Italien. Das Meer an sich bietet keinen Schutz, sondern nur eine starke Flotte. Der Inselstaat h a t also vor dem Binnen-

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Die Lage der Staaten.

Staat nicht das geringste voraus, insofern als beide auf militärischen Schutz angewiesen sind. Am ungünstigsten ist die Lage der Halbinselund R a n d s t a a t e n , sie bedürfen ebenso eines Landheeres wie einer Flotte. Der Deutsche weiß, wie kostspielig eine doppelte R ü s t u n g ist, a b e r die eine auf Kosten der anderen zu vernachlässigen, könnte noch t e u r e r zu stehen k o m m e n . Die Vasallenstellung, in die Frankreich gegenüber England geraten ist, erklärt sich einfach daraus, d a ß es eine zu kleine Flotte h a t t e , u m seine K ü s t e n selbst zu decken. Italien mit seiner langen Küste steht nahezu in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältnis zu Großbritannien, und die beschämende Machtlosigkeit, zu der sich Griechenland in dem Weltkriege verurteilt s a h , w a r hauptsächlich darin begründet, d a ß es sich ohne genügende Rücksicht auf seine hohe M a r i t i m i t ä t zu viel in kontinentale Händel einließ. Mit R e c h t h a t Großbritannien sich nicht allein auf seine isolierte Lage, die eine mehrmalige U n t e r w e r f u n g von der europäischen Gegenküste aus nicht v e r h i n d e r n konnte, verlassen, sondern alle seine reichen Mittel angewendet, um sich durch eine starke Flotte das Übergewicht auf dem Meere zu sichern. So k o n n t e es den f r e v e l h a f t e n Gedanken fassen, die feindlichen Küstendurch eine Blokade völlig zu isolieren. Glücklicherweise s t i m m t e die R e c h n u n g nicht ganz. Es ist nicht allzuviel Gewicht darauf zu legen, d a ß auch die stärkste Flotte ein Land gegen die Angriffe der L u f t s c h i f f e und Flieger nicht zu schützen v e r m a g — das m a g erst in Z u k u n f t einmal von größerer B e d e u t u n g werden —, viel wichtiger war es, d a ß Deutschland in sein&n Tauchbooten ein Mittel f a n d , der britischen Seegewalt ein Paroli zu bieten. D u r c h das nordatlantische und mediterrane Sperrgebiet wurde England s a m t seinen Satelliten einigermaßen isoliert. Ein Blockadering um einen Blockadering — das w a r in der T a t etwas Neues. Der W e r t der maritimen Lage in Friedenszeiten bleibt nach wie vor ungeschmälert, aber im Völkerkampfe h a t er doch eine H e r a b minderung e r f a h r e n . 1 Letzten Endes b e r u h t die Eigentümlichkeit der m a r i t i m e n Lage auf der Einheit des Weltmeeres. Aber ganz vollständig ist diese nicht. Um den Nordpol dehnt sich eine große Eisschranke aus. Man h a t wiederholt die bevorzugte Lage der britischen Inseln darin zu erblicken ge1

Das mag vielleicht dazu führen, daß diese Eisenbahnverbindung zwischen Sangatte (westlich von Calais) und der St. Margaretbucht (bei Dover) durch einen unterseeischen, ungefähr 100 m tiefen und 3 5 — 4 0 km langen Tunnel doch zustande kommt. Aber die unausbleibliche Folge wird sein, daß England wieder den Besitz des festländischen Brückenkopfes (Calais) anstreben wird. — Über andere Projekte der Untertunnelung von Meeresstraßen, siehe R . H E N N I G in Jhrb. f. Nationalökon. und Statistik 1919, S. 523.

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meint, d a ß sie nahezu die Mitte der Landhalbkugel einnehmen. Diese f r ü h e r allgemein verbreitete Ansicht ist, wenn wir nicht irren, durch P E N C K berichtigt worden. Die arktische Eisschranke versperrt England den nördlichen, kürzesten Weg nach der pazifischen Welt. Die Geschichte der E n t d e c k u n g e n erzählt uns von den angestrengten und wiederholten B e m ü h u n g e n der Engländer, eine nordwestliche D u r c h f a h r t zu f i n d e n ; sie f ü h r t e n zu wichtigen wissenschaftlichen Erfolgen aber zu keinen praktischen, und j a h r h u n d e r t e l a n g waren die britischen Schiffe

Fig. 4.

Das deutsche Sperrgebiet im J a h r e 1917.

genötigt, die Südspitzen Afrikas u n d Südamerikas zu umsegeln. Der Durchstich des I s t h m u s von Suez öffnete endlich den kürzeren Weg zum Indischen Ozean, und der P a n a m a k a n a l wird E u r o p a in bequeme Verb i n d u n g mit dem pazifischen Amerika setzen. Die politische Wichtigkeit der d u r c h b r o c h e n e n Landengen steigt natürlich u m so höher, je wichtiger die E r d r ä u m e sind, die sie t r e n n t e n . Der Suezkanal ist unstreitig eine der b e d e u t s a m s t e n Erdstellen und f ü r G r o ß b r i t a n n i e n geradezu ein G r u n d pfeiler seiner W e l t m a c h t . Diese geographische Lage teilt aber mit Suez die ganze weitere U m g e b u n g , soweit sie die Gelegenheit zur Anlage kurzer und bequemer Landwege a u s d e m Mittelmeer zum Roten Meer und zum Persischen Golf, also ebenfalls z u m Indischen Ozean bietet. Die schicksalschwersten Probleme der Weltpolitik harren hier ihrer Lösung.

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D i e Lage der Staaten.

Das wichtigste dieser D u r c h g a n g s l ä n d e r war und ist Ägypten. Seit der G r ü n d u n g Alexandriens war dieser H a f e n p l a t z wiederholt der K n o t e n p u n k t des Verkehrs zwischen dem Abendland und Ostindien. Durch die E n t d e c k u n g des Seeweges um das K a p der guten H o f f n u n g w u r d e es einige Zeit in den S c h a t t e n gestellt, aber der Suezkanal erweckte es wieder zu neuem Glänze. J e d o c h ist es nicht die Weltlage allein, die Ägypten so sehr auszeichnet. Es ist auch ein n e u e r T y p u s d e r i s o l i e r t e n L a g e . W a s die Inseln im Meere sind, sind die Oasen in der W ü s t e , und Ägypten ist nichts anderes als eine Oase. An allen Landseiten umgeben es W ü s t e n , und machen es schwer angreifbar. Die libysche im W ist nahezu völlig unzugänglich, und die Sinaiwüste, durch die einst die Israeliten-wanderten, setzt einem von Syrien heranrückenden Feind die ernstesten Hindernisse entgegen. Napoleon, der einst auf seinem Zuge nach Ägypten diesen Weg einschlug, h a t sie zur Genüge kennen gelernt, und auch die Angriffspläne der T ü r k e n im Weltkriege scheinen d a r a n gescheitert zu sein. N u r Eisenb a h n e n könnten hier eine W e n d u n g herbeiführen, und in der T a t sollen die Engländer mit dem Gedanken u m g e h e n , ihre H e r r s c h a f t über das Niltal durch Anlage eines Schienenstranges durch die Sinaiwüste nach Südpalästina gegen die von W drohenden Gefahren zu schützen. Den direkten Gegensatz zur isolierten Lage bildet, wie schon oben e r w ä h n t , die B i n n e n l a g e . Ihre Schwäche m a c h t sich vor allem im Frieden geltend, indem sie das Land v o m überseeischen Verkehr abschließt. In Kriegszeiten bietet sie gegenüber der m a r i t i m e n Lage den Vorteil, d a ß sie ferne Feinde nicht zu f ü r c h t e n b r a u c h t . Die Schweiz kann militärisch nie in einen Krieg mit Amerika verwickelt werden, wie z. B. im Weltkriege das Deutsche Reich. Die Aufgabe eines Binnenstaates besteht darin,- mit seinen N a c h b a r n Frieden zu halten und sich um W e l t h ä n d e l nicht zu k ü m m e r n . Freilich gelingt ihnen das nur, wenn sie nicht zugleich den Charakter von P u f f e r s t a a t e n haben. Die Schweiz, die die Erbfeinde Frankreich und Deutschland t r e n n t , befindet sich in einer recht Übeln Lage.' Afghanistan ist gänzlich von den politischen Beziehungen E n g l a n d s zu R u ß l a n d s abhängig. Die Zahl der B i n n e n s t a a t e n ist, von den ganz kleinen, wie Liechtenstein, Andorra u. dgl. abgesehen, gering; WALSER zählte 1910 u n t e r 53 selbständigen S t a a t e n n u r 8, die das Meer nicht erreichen. Den Übergang von der R a n d - zur Binnenlage bildet die M i t t e l l a g e . N u r eine Seite ist gegen das Meer offen, alle anderen sind von S t a a t e n begrenzt. Die beiden mitteleuropäischen G r o ß m ä c h t e waren typische Vertreter dieser Art.

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Die Lage der Staaten.

Druckquotient. J e d e r nicht isolierte S t a a t befindet sich' gewisserm a ß e n im Belagerungszustände, wenn dieser a u c h hauptsächlich nur in Kriegszeiten eine reelle B e d e u t u n g gewinnt, sich aber auch in Friedenszeiten durch Zollschranken f ü h l b a r machen k a n n . Die b e n a c h b a r t e n S t a a t e n üben, entsprechend ihrer Macht, einen D r u c k aus, auf den der umgrenzte S t a a t mit einem ebenfalls seiner Macht entsprechenden Gegendruck a n t w o r t e t . W i r können d a f ü r einen m a t h e m a t i s c h e n Ausd r u c k finden, den wir den g e o g r a p h i s c h e n D r u c k q u o t i e n t nennen wollen. Er geht hervor aus der Division der Bevölkerungssumme aller u n m i t t e l b a r e n N a c h b a r s t a a t e n durch die Bevölkerungsziffer des umgrenzten Staates.1 Der geographische D r u c k q u o t i e n t bezeichnet, obwohl auch veränderlich im Vergleich zum politischen, von dem s p ä t e r die Rede sein soll, einen D a u e r z u s t a n d und gewinnt d a d u r c h seine wissenschaftliche Bedeutung.

Geographischer D r u c k q u o t i e n t der G r o ß m ä c h t e dem Großbritannien Vereinigte Staaten Italien Russisches Reich Frankreich Deutsches Reich Österreich-Ungarn (Japan

1

vor

Kriege: 0 0,2 2,7 3,i 3,3 3,8 5,7 7,5 2 )

Beispiel: Das Deutsche Reich ( 6 4 9 2 6 0 0 0 Einw.). Nachbarstaaten Dänemark Niederlande Belgien Luxemburg Frankreich Schweiz Österreich-Ungarn Russisches Reich in Europa

Tausende 2775 6213 7424 260 39602 3753 51319 135327 2 4 6 6 7 3 : 6 4 9 2 6 = 3,8

2

Japan kommt hier nur insofern in Betracht, als es durch den Besitz Koreas und die immer mehr sich erweiternde Machtstellung in der Mandschurei dem Drucke von seiten Chinas und des russischen Reiches ausgesetzt ist. Früher war der Druckquotient 0.

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D i e Lage der Staaten.

Geographischer D r u c k q u o t i e n t einiger europäischer und K l e i n s t a a t e n vor dem Kriege: Spanien Norwegen Portugal Niederlande Belgien Dänemark Rumänien Schweden

2,2 2,4 3,7 11,7 14,8 23, i 30,8 30,s

Schweiz

50,9

Mittel-

Wie man sieht, ist der Druckquotient ein genauer Ausdruck der politischen Lage. Die Reihenfolge ist: isolierte, Halbinsel-, Rand-, Mitte-, Binnenstaaten. Aber Druck wird nicht bloß durch die unmittelbar angrenzenden Nachbarn ausgeübt, sondern auch von nahegelegenen Inselstaaten. Die Niederlande spüren lebhaft den englischen, China den japanischen Druck; mit der Entfernung nimmt dieser Druck, den das Meer gleichsam wir ein elastisches Medium fortpflanzt, ab, und wir gelangen endlich zu einer verschiebbaren Linie, wo Druck und Gegendruck sich aufheben. Der transmarine Druck ist, wenn auch zeitweise heftig, doch niemals so intensiv und andauernd wie der kontinentale. Die Druckwirkung hängt auch ab von der Stärke des G e g e n d r u c k e s , den der betreffende Staat ausübt, und der zunächst von dessen Bevölkerungsziffer bestimmt wird. Mittel- und Kleinstaaten sind einem stärkeren Drucke ausgesetzt, als Großstaaten, und ihre Existenzbedingungen werden dadurch wesentlich erschwert. In diesem Punkte scheint der von S A L I S B U R Y ausgesprochene Satz, daß große Staaten immer größer und kleine immer kleiner werden, einige Berechtigung zu haben. Nur darf man nicht vergessen, daß die kleinen durch Zusammenschluß der ihnen drohenden Gefahr entrinnen oder sie wenigstens verringern können. Das ist übrigens nicht die einzige Möglichkeit. Ein Staat a, der zwischen b und c liegt, kann sich des Druckes von b auch erwehren, wenn der von c ausgehende in entsprechendem Maße steigt. Darauf beruht die Existenz vieler Pufferstaaten, von denen wir schon auf S. 27 gesprochen haben, und K J E L L E N sieht in der „Pufferpolitik geradezu eine Lebensversicherung für kleine Staaten". Darauf kann auch zurückgeführt werden, daß Randstaaten, die ja nur unter einem einseitigen Drucke stehen, eine Gegenstütze jenseits des Meeres suchen; K J E L L E N sucht auf diese Weise das Abhängigkeitsverhältnis Portugals von England zu begründen, und man könnte diese Erklärung auch auf die „Entente cordiale" zwischen Frankreich und England anwenden.

Die Lage der Staaten.

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Der D r u c k q u o t i e n t ist eine v e r ä n d e r l i c h e Größe. Die Volkszahl ist n u r ein F a k t o r , u n d zwar d e r j e n i g e , d e n wir a m leichtesten zifferm ä ß i g erfassen k ö n n e n , aber wir h a b e n b e r e i t s oben u n t e r Hinweis auf China b e t o n t , d a ß sie f ü r die Energie eines S t a a t e s n i c h t allein m a ß g e b e n d ist. Das h i n d e r t a b e r nicht, ihr eine h e r v o r r a g e n d e W i c h t i g k e i t bei der B e u r t e i l u n g der S t ä r k e u n d d a m i t d e r D r u c k k r a f t eines S t a a t e s z u z u e r k e n n e n . W e n n es auch der Politik n i c h t i m m e r gelingen w i r d , d e m A n w a c h s e n des D r u c k e s v o n a u ß e n einen Riegel v o r z u s c h i e b e n , so bleibt es doch s t e t s die A u f g a b e , der sich kein S t a a t e n t z i e h e n d a r f , d e n G e g e n d r u c k v o n innen i m m e r m e h r zu v e r s t ä r k e n . K i n d e r r e i c h t u m ist der sicherste W e g dazu. Aus d e m allen geht hervor, wie w i c h t i g die Lage eines S t a a t e s f ü r die B e u r t e i l u n g seines S t ä r k e g r a d e s ist. D a ß D e u t s c h l a n d s s c h w ä c h s t e r P u n k t seine Mittellage ist, ist uns niemals m e h r z u m B e w u ß t s e i n gek o m m e n als im W e l t k r i e g e . W i r h a b e n n e b e n dem geographischen D r u c k q u o t i e n t einen p o l i t i s c h e n genannt. W i r v e r s t e h e n d a r u n t e r den D r u c k , der w ä h r e n d eines Krieges auf einen S t a a t v o n seiten seiner Gegner a u s g e ü b t wird. E r c h a r a k t e r i s i e r t d a h e r i m m e r n u r einen v o r ü b e r g e h e n d e n Z u s t a n d u n d ist m e h r ein historischer als ein g e o g r a p h i s c h e r Begriff. Der W e l t krieg liefert uns ein ausgezeichnetes Beispiel. Obwohl D e u t s c h l a n d d e r H a u p t z i e l p u n k t des Angriffes w a r , s t a n d es doch n i c h t allein, s o n d e r n w a r mit Ö s t e r r e i c h : U n g a r n , Bulgarien u n d d e r T ü r k e i v e r b u n d e n , d a s D r u c k o b j e k t wird also d u r c h die S u m m e der B e v ö l k e r u n g aller vier S t a a t e n r e p r ä s e n t i e r t und ist = 1 4 1 7 0 0 0 0 0 . Die D r u c k f a k t o r e n w a r e n R u ß l a n d , F r a n k r e i c h , G r o ß b r i t a n n i e n , Belgien, Serbien u n d P o r t u g a l , a b e r da sie a u c h ihre Kolonien m i t in den K a m p f f ü h r t e n , w u c h s ihre S u m m e auf 7 2 5 3 0 0 0 0 0 an. Die a n d e r e n S t a a t e n , die sich n u r d e m N a m e n n a c h an d e m Kriege beteiligten, u n d a u c h J a p a n , das t r o t z d e r H i l f e r u f e F r a n k r e i c h s dem e u r o p ä i s c h e n K a m p f p l a t z e f e r n blieb, d ü r f e n n i c h t in die R e c h n u n g einbezogen w e r d e n . Der politische D r u c k q u o t i e n t w a r also E n d e 1914 725,3:141, 7 = 5,2, Der E i n t r i t t Italiens in den B u n d u n s e r e r Gegner e r h ö h t e ihn auf 5,>. der Z u s a m m e n b r u c h R u ß l a n d s ließ ihn a b e r auf 3,9 sinken. Die Teiln a h m e R u m ä n i e n s und Griechenlands ä n d e r t e d a r a n n i c h t s wesentliches, dagegen h o b die K r i e g s e r k l ä r u n g der Vereinigten S t a a t e n den Quot i e n t e n w i e d e r auf 4,e. E n t s c h e i d e n d w i r k t e a b e r der Z u s a m m e n b r u c h Bulgariens, d e r österreichisch-ungarischen M o n a r c h i e u n d der T ü r k e i , w o d u r c h D e u t s c h l a n d im H e r b s t 1918 plötzlich isoliert w u r d e . D a d u r c h schnellte der D r u c k q u o t i e n t plötzlich auf m e h r als das Doppelte, auf 10, in die H ö h e .

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Die Lage der Staaten.

Dieses traurige Beispiel wird uns über das Wesen und die Brauchbarkeit des politischen Druckquotienten aufgeklärt haben. Selbstverständlich findet er nur in der neueren Geschichte Anwendung und auch hier nur soweit, als die notwendigen statistischen Grundlagen beschafft werden können. Mit dem geographischen Druckquotienten teilt er das Schicksal der Unzulänglichkeit. Man könnte es vorziehen, statt der Kopfzahl der Bevölkerung die der Streitkräfte in die Rechnung einzustellen, dann würden die Druckquotienten auf ungefähr die Hälfte sinken 1 , aber das Verhältnis der Quotienten in den verschiedenen Phasen des Krieges zueinander würde sich nicht wesentlich ändern. Ein anderes Resultat würde sich dagegen ergeben, wenn wir die Berechnung auf die beiderseitigen Energiesummen basieren könnten, aber für diese fehlt uns jede Möglichkeit eines zahlenmäßigen Ausdruckes. Unsere Druckquotienten sind also nur höchst dürftige Ersatzmittel, aber zum Zwecke der Vergleichung immerhin brauchbar. Das zwischenstaatliche Leben. Der Druckquotient kann uns eindringlicher als langatmige Erörterungen zum Bewußtsein bringen, in welch hohem Grade die Lebensfähigkeit eines Staates durch seine Lage bedingt ist. Und dies gilt für alle Zeiten und alle Völker, aber nicht stets in gleicher Weise. Keine Lage zwingt an sich den Staat, seiner Politik eine bestimmte Richtung zu geben, und gerade dadurch ist die Mannigfaltigkeit und scheinbare Gesetzlosigkeit des politischen Geschehens bedingt. Die maritimen Lagen (Insel-, Halbinsel- und Randlage) werden erst dann wirksam, wenn in der Nähe oder auch in weiter Ferne ein Gegengestade auftaucht, das zu Plünderungs- und Eroberungszügen lockt; und die kontinentalen Lagen (Mittel- und Binnenlage) werden erst dann gefährlich, wenn die Nachbarreiche zu bedrohlicher Kraftentfaltung kommen. Die westeuropäischen Staaten erwachten erst dann zu vollem Leben, als Prinz H E I N R I C H der Seefahrer, V A S C O DA G A M A , C O L U M B U S und C A B O T den Weg in die Ferne eröffnet hatten. Für Deutschland gab es im Mittelalter keine Mittellage, seine Front war einseitig, war nur nach Ost gekehrt, gegen Avaren, Magyaren und Slaven, während es im Westen kampflos zurückwich. Damals hatte es versäumt, seine Lage planmäßig nach allen Seiten hin zu sichern, und erst, als im W 1

Der Druck, den Rußland und. Frankreich auf die e i n g e k l e m m t e n Mittelmächte a u s ü b t e n , betrug 1914 auf Grund der Gesamtbevölkerung 2,2. D a die Mittelm ä c h t e nicht ganz 6 Mill. Streiter ins Feld stellen k o n n t e n , seine beiden Flankengegner aber reichlich 9 Mill., so würde der militärische Druckquotient, lediglich nur auf Grund der Kopfzahl der Heere berechnet, w e n i g s t e n s 1,5 gewesen sein. Aber es ist leicht einzusehen, daß auch diese Methode höchst unzulänglich ist.

Die Lage der Staaten.

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u n d 0 G r o ß s t a a t e n emporwuchsen, ist es langsam zur E r k e n n t n i s seiner Lebensbedingungen herangereift. Auch jetzt, unter den v e r ä n d e r t e n Verhältnissen, bleibt seine Mittellage sein Verhängnis, das es scharf ins Auge fassen m u ß . Die B e m ü h u n g e n der E n t e n t e , namentlich F r a n k reichs um die E r s t a r k u n g Polens, laufen n u r darauf hinaus, es zum Ers a t z des zerbrochenen russischen Zangenschenkels heranzuziehen. D a m i t ist unsere Politik klar vorgezeichnet: wir müssen alles d a r a n setzen, durch W i e d e r a u f r i c h t u n g der russischen M a c h t Polen seinerseits in eine Mittellage zu drängen. Freilich ist jetzt die Lage noch bedrohlicher, ja fast Binnenlage geworden, denn auch die S ü d f r o n t ist nicht mehr gedeckt, und die N o r d f r o n t ist f a s t schutzlos der englischen Flotte preisgegeben. Und müssen wir unsere Bagger ausliefern, wie die E n t e n t e a m 1. November 1919 verlangt hatte, d a n n wären unsere Nordseehäfen rettungslos der Versandung verfallen und den großen Handelsschiffen u n n a h b a r gemacht. Unsere an und f ü r sich bescheidene M a r i t i m i t ä t würde d a n n um mehr als die H ä l f t e an W e r t verlieren. Im allgemeinen gewähren die maritimen Lagen der Politik einen freieren Spielraum, als die kontinentalen, können aber anderseits auch leichter irreführen. F ü r Spanien wurde die E n t d e c k u n g Amerikas eigentlich verhängnisvoll, denn es w u r d e d a d u r c h von Marokko abgelenkt. Seine Politik geriet auf ein falsches Geleis, und es v e r s ä u m t e die günstige Gelegenheit, die gebietende M i t t e l m e e r m a c h t zu werden, wozu es schon durch den Besitz der G i b r a l t a r p f o r t e berufen war. Dagegen w u r d e die Politik des russischen K o n t i n e n t a l s t a a t e s seit Peter d. Gr. n u r von einem G e d a n k e n , dem Drange nach einer eisfreien K ü s t e , beherrscht. Daß die Forderung einer g e s c h ü t z t e n Lage die Grenzpolitik und d a m i t die ganze zwischenstaatliche Politik im hohen Grade beeinflußt, wurde schon an anderer Stelle erörtert. Sie ist in der Gegenwart insofern in die zweite Linie gerückt worden, als die moderne Technik viele Mittel an die H a n d gibt, auch einen von N a t u r aus ungenügenden Grenzschutz stark zu m a c h e n . Der Festungsgürtel an der französisch-deutschen Grenze h a t sich im letzten Kriege als unüberwindlich erwiesen. Die H a u p t s a c h e ist aber, d a ß das zwischenstaatliche Leben n u r d a n n vor E r s c h ü t t e r u n g e n bewahrt bleibt, wenn sich Druck und Gegendruck die W a g e halten. D a r u m d r e h t s i c h s c h l i e ß l i c h d i e g a n z e P o l i t i k . Die ä u ß e r e insofern, als es von jeher ihr Hauptziel war, die natürlichen Druckverhältnisse durch Bündnisse zu korrigieren. 1 Die 1

Wie ganz anders hätte sich das Schicksal Deutschlands gestaltet, wenn das 1898—1901 von England angestrebte Bündnis mit uns zustande gekommen wäre. Vgl. GUSTAV R 0 L 0 F F i n den Preußischen Jahrbüchern 1919, Bd. 177, S. 345; 0 . HAMMANN, Zur Vorgeschichte des Weltkrieges, Berlin 1918, S. 125ff.).

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Die Lage der Staaten.

U n t e r s c h e i d u n g von Offensiv- und Defensivallianzen h a t keinen Sinn. J e d e s Bündnis k a n n beiden Zwecken dienen. Der Bund zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn sollte sicher nur der Verteidigung dienen, wurde aber von unseren Gegnern stets als Angriffsgefahr gedeutet, w ä h r e n d u m g e k e h r t die E n t e n t e , die stets ihren defensiven C h a r a k t e r b e t o n t e , von A n f a n g an offensive Absichten verfolgte. Aber nicht bloß die äußere, sondern auch die i n n e r e Politik befindet sich in Abhängigkeit von der Lage, denn der Druck wird nicht allein durch die Volksmenge, sondern durch die Gesamtenergie des S t a a t e s bedingt, und f ü r diese ist die S t r u k t u r entscheidend. Damit wird unsere B e h a u p t u n g , d a ß Lage und S t r u k t u r die beiden geographischen G r u n d kategorien des Staates sind (S. 13), gerechtfertigt.

Die Struktur der Staaten im allgemeinen. Die Teilchen fester Körper werden durch Molekularkräfte z u s a m m e n gehalten. Das ist der innere Z u s a m m e n h a l t oder die Kohäsion. Je nachdem sie s t a r k oder schwach ist, ist der Z u s a m m e n h a l t fest oder locker. Die Materie kann aber auch durch Druck von außen vorübergehend verfestigt werden, d a u e r n d aber ftur dann, wenn der D r u c k d a u e r n d ist, oder wenn sich Kohäsion dazu gesellt. Ganz so verhält es sich mit dem Staatskörper. Indem der S t a a t aus Land und Volk besteht, stellt er die innige Vereinigung eines starren mit einem beweglichen E l e m e n t d a r . In diesem P u n k t e unterscheidet er sich von allen anderen Gesellschaften. Unbewohnte Länder, wie die westliche Sahara, können wohl einem S t a a t e angehören, aber niemals selbständige S t a a t e n bilden. Dasselbe gilt f ü r das Volk ohne Land. W e n n JELLINEK 1 den germanischen U r s t a a t „einen völkerschaftlichen V e r b a n d " n e n n t , „dem die stetige Beziehung zu einem festen Territorium mangelte", so sehen wir darin nur eine E m b r y o n a l f o r m , die sich zum S t a a t e erst entwickelte, als sich eine „ d a u e r n d e Verbindung des Gebietes mit der Völkerschaft in historischer Zeit allmählich vollzogen h a t " . Auf einen ähnlichen E n t wickliingsvorgang deutet es vielleicht hin, d a ß die alten Griechen ihre S t a a t e n nicht nach dem Lande, sondern nach den Bürgern b e n a n n t e n , nicht Athen, sondern oi!A&r]vutoi, nicht S p a r t a , sondern oi AaxtSat¡xövoi aber auch nicht Persien, sondern oi Ilioaai. Manche Zigeunerhorden nehmen auch h e u t e noch den Schein eines Staates mit mehr oder weniger fester Bindung u n t e r einem O b e r h a u p t an. Es gibt auch große gesellschaftliche Organisationen, die vorübergehend wirkliche Gewalt ausübten oder auszuüben t r a c h t e t e n , wie die katholische Kirche, aber notwendigerweise überall mit den wirklichen Staaten, an die sie durch den Boden gefesselt waren, in Streit geraten m u ß t e n . Das Streben der Päpste, durch Landerwerb wenigstens in beschränktem Maße staatliche Existenz zu gewinnen, ist daher wohl begreiflich. 1

JELLINEK,

S u p a n , Leitlinien.

a. a. O., 2. A u f l .

S.

289.

6

82

Die Struktur der Staaten im allgemeinen.

Jedes der beiden Grundelemente setzt sich wieder aus Teilen zusammen. I h r Z u s a m m e n h a l t i s t e n t w e d e r e i n ä u ß e r e r o d e r ein i n n e r e r o d e r b e i d e s z u g l e i c h . Äußerer Zusammenhalt. Es galt lange Zeit als Grundsatz, d a ß ein S t a a t durch dieselben Mittel erhalten werden müsse, durch die er gegründet wurde. In den meisten Fällen h a t äußere Gewalt ihn geschaffen, und äußere Gewalt m u ß t e ihn z u s a m m e n h a l t e n . Noch jetzt k o m m e n bei Völkern niederer K u l t u r s t u f e Staatenbildungen auf diese Weise zustande. In d e n von AVELOT1 treffend geschilderten „Pseudos t a a t e n " Afrikas, die meist von beträchtlichem U m f a n g e sind, r u h t die Macht in den H ä n d e n eines kriegerischen Stammes, dessen H ä u p t l i n g im ganzen Gebiet T r i b u t erhebt und im Kriege den Oberbefeht f ü h r t . Mit vielfachen A b s t u f u n g e n war diese Art äußeren Z u s a m m e n h a l t s auch bei den zivilisierten Völkern bis in die Gegenwart v e r b r e i t e t ; wir brauchen nur die S t a a t s f o r m e n Despotismus, Absolutismus, Polizeis t a a t zu nennen. Andere monarchistische S t a a t e n h a t t e n einen friedlichen Ursprung in Heiratsverträgen, Erbteilungen u. dgl. Von Österreich galt lange Zeit der lateinische Vers „Bella gerunt allii, tu felix Austria n u b e " . Aber auch sie m u ß t e n f ü r den Notfall Waffenhilfe bereit halten und nicht minder Freistaaten, ja sogar Revolutionsgeburten, wie die Bolschewiki Rußlands. Man ersieht daraus, wie hohl das Schlagwort Militarismus ist, wie utopisch alle völligen Abrüstungsgedanken sind. S t a a t e n , die etwas gelten wollen, wie Frankreich, Italien u. a. m., spielen mit ihnen höchstens, denken aber gar nicht d a r a n , diesen gefährlichen Weg zuerst zu betreten. Die Schweiz k a n n t r o t z ihrer neutralen Stellung auf das Militär nicht verzichten, und wenn die Vereinigten S t a a t e n von Amerika sich mit wenig Militär begnügen k ö n n t e n , so v e r d a n k e n sie dies ausschließlich ihrer geschützten Lage und der Machtlosigkeit ihrer Nachbarn. Als sie sich 1917 auf den heißen Boden der Weltpolitik hinauswagten, w a r die S c h a f f u n g eines gewaltigen Heeres der erste Schritt, und wer weiß, ob sie nicht bei der allgemeinen W e h r p f l i c h t beharren werden. England, das sein w e l t u m s p a n n e n d e s Reich mit seiner Seemacht geg r ü n d e t hat, k a n n auch im Frieden nicht einer gewaltigen Kriegsflotte entbehren. G e s e t z und O b r i g k e i t sind die eisernen K l a m m e r n , die das Staatsgebäude v o n a u ß e n z u s a m m e n h a l t e n . Es ist eine der vielen politischen Modetorheiten unserer Tage, wenn m a n den „ O b r i g k e i t e n s t a a t " als 1 Les grands mouvements des peuples en Afrique, Bull, geogr. hist. et desc. 1912, S. 75.

Die Struktur der Staaten im allgemeinen.

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etwas Reaktionäres, d u r c h a u s Verabscheuungswürdiges dem Volkss t a a t e gegenüberstellt, als ob nicht jeder S t a a t , möge seine Verfassung wie immer sein, der Obrigkeiten bedürfte, u n d es lediglich nur darauf a n k ä m e , auf welche Weise sie eingesetzt werden. Die Obrigkeit m u ß darauf achten, d a ß die Gesetze befolgt werden, und zu ihrem Schutz wird stets eine b e w a f f n e t e H a n d bereit sein müssen. Wehe, wenn diese versagt, d a n n stürzt das Gebäude z u s a m m e n . Aber dieser äußere Zus a m m e n h a l t kann auch dadurch u n t e r h ö h l t werden, d a ß die eisernen K l a m m e r n rosten. Und das geschieht, wenn die Organisation verkalkt, a n s t a t t sich den stetig sich v e r ä n d e r n d e n Bedingungen anzupassen und sich so f o r t w ä h r e n d zu erneuern. E v o l u t i o n m u ß stets das Losungswort bleiben. Sie k a n n zeitweise auf zweierlei Weise unterbrochen werden, wofür u n s die N a t u r zwei ganz analoge Vorgänge zeigt. Ein in lebhafter Erosionstätigkeit befindlicher Fluß k a n n zeitweise bei länger a n d a u e r n der Trockenheit gezwungen werden, s t a t t a b z u t r a g e n , Sand abzulegen. Das ist die R e a k t i o n . Er k a n n aber auch u n t e r entgegengesetzten meteorologischen Bedingungen plötzlich sein Zerstörungswerk in einem rasenden T e m p o a u f n e h m e n und durch Bergschlüpfe und Felsstürze das Bild der U m g e b u n g in kurzer Zeit völlig verändern. Das ist die R e v o l u t i o n , die nicht immer bloß durch äußere Eingriffe v e r a n l a ß t zu sein b r a u c h t , sondern in vielen Fällen n u r als eine s p r u n g h a f t e Unterbrechung des regelmäßigen Evolutionsprozesses gedeutet werden k a n n . Der Z u s a m m e n h a n g von Evolution und Revolution k o m m t freilich der mitlebenden Generation nur selten zum Bewußtsein, wie beim S t u r z der S t u a r t s 1688. Meist ist der U m s t u r z mit Zerstörung v e r b u n d e n , aber auch d a n n dürfen wir hoffen, d a ß die E n t w i c k l u n g wieder zu ihrer ruhigeren Gangart zurückkehren werde. Freilich, was die Revolution im Staatsleben so f u r c h t b a r m a c h t , ist nicht die plötzliche U m g e s t a l t u n g gewohnter politischer Zustände, sondern die seelische Umwälzung, die plötzliche Auflösung der Moral, wie wir sie j e t z t an Alt und J u n g , an Hoch und Niedrig in R u ß l a n d und in Deutschland erleben. Da m a g wohl m a n c h e n die F u r c h t anwandeln, ob nicht wirklich die Todesstunde seines Volkes geschlagen h a t . Aber, wie uns die Lebenslinien (S. 4) zeigten, die H o f f n u n g m u ß bestehen bleiben, d a ß der E n d p u n k t der abstürzenden K u r v e noch nicht der absolute E n d p u n k t zu sein braucht. Sie ist berechtigt, solange der innere Z u s a m m e n h a n g noch nicht gelockert ist. Auch geographische oder politische Lage spielen als äußere K l a m mern keine unwesentliche Rolle. J e n e darf m a n freilich nicht überschätzen. Selbst die insulare Lage hindert nicht die politische Zersplitterung. Wie lange h a t es gedauert, bis Großbritannien zu einer 6*

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D i e Struktur der Staaten im a l l g e m e i n e n .

Einheit heranwuchs: England ist mit Schottland erst durch die Thronbesteigung der Stuarts im J a h r e 1603 dauernd zusammengefügt worden. Wirksamer ist manchmal der politische Druck. Selbst lockere oder sogar morsche Staatengebilde können dadurch längere Zeit vor Zerfall bewahrt werden, wie ein loser Steinhaufen durch einen festen Bretterzaun. Die Türkei h a t t e ihren Fortbestand mehr als einmal nur der Eifersucht fremder Mächte zu danken, von denen keine Konstantinopel und den Besitz der Meerengen der anderen gönnte. Aber es m u ß nochmals bet o n t werden, daß äußerer Zusammenhalt niemals auf die Dauer genügt. Innerer freilich ebensowenig, b e i d e m ü s s e n z u s a m m e n w i r k e n . Innerer Zusammenhalt. Was die Teilchen eines Staatskörpers im Innern aneinander kettet, ist ihre eigene Beschaffenheit und die Art ihrer Anordnung, mit einem W o r t , ihre S t r u k t u r . Entsprechend der Zusammensetzung des Staates aus Land und Volk haben wir eine p h y s i s c h e und eine v ö l k i s c h e S t r u k t u r zu unterscheiden. Selbstverständlich u m f a ß t die physische S t r u k t u r alles, was zum Boden gehört, in erster Linie dessen Formen, aber auch die Gewässer, das Pflanzenkleid und das die gesamte organische Welt bedingende Klima. Zwischen Land und Volk findet eine ununterbrochene Wechselwirkung s t a t t , aber es ist ungemein schwer, ja vielleicht unmöglich, diesen Knäuel in einzelne Fäden zu entwirren. So unendlich viel auch darüber geschrieben und gesprochen wurde, so wenig ist gesagt worden. Der Grund liegt darin, d a ß wir den einen H a u p t f a k t o r in dem Verhältnis von Land und Leuten, den menschlichen Geist, nicht mit naturwissenschaftlicher E x a k t h e i t zu fassen vermögen. Nur in einem P u n k t e gelingt es wenigstens annähernd, das Geheimnis der wechselseitigen Beziehungen zu N a t u r und Mensch zu entschleiern: in der Volkswirtschaft. Und da diese f ü r die Wertschätzung eines Staates gerade das Ausschlaggebende ist, werden wir uns darauf beschränken. Wir unterscheiden demnach in der politischen Geographie dreierlei Strukt u r e n : eine p h y s i s c h e , eine v ö l k i s c h e und eine w i r t s c h a f t l i c h e . Die physische S t r u k t u r ist das beständigste, die wirtschaftliche das veränderlichste Element. J e d e S t r u k t u r kann entweder h o m o g e n oder h e t e r o g e n sein, und es wird zu untersuchen sein, wieweit sie die Stärke des Staates beeinflußt.

Die physische Struktur der Staaten. Physisch-homogene Staaten. Da Mannigfaltigkeit der G r u n d z u g unserer Erdoberfläche ist, so ist zu erwarten, d a ß es m e h r heterogene als homogene S t a a t e n gibt. Das t r i f f t auch zu. W e n n wir u n t e r physischer H o m o g e n i t ä t Gleichartigkeit der B o d e n f o r m e n v e r s t e h e n , so k o m m t sie vorwiegend n u r K l e i n s t a a t e n zu, wie Andorra oder San Marino und wenigen Mittelstaaten, von denen Norwegen (322900 qkm) und Nepal im H i m a l a j a die größten sein d ü r f t e n (140000 qkm), und nur einem G r o ß s t a a t : R u ß l a n d vor 1917. Aber die drei zuletzt a n g e f ü h r t e n Beispiele k a n n m a n schon nicht mehr im strengsten Sinne des W o r t e s zu den homogenen S t a a t e n zählen; Norwegen verflacht sich im S von Kristiania, Nepal reicht mit einem ausgedehnten, wenn auch politisch wenig b e d e u t e n d e n Streifen in die Tieflandregion des Tarai hinein, und das europäische R u ß l a n d h a t t e an den Ost- und Südostgrenzen n a m h a f t e Gebirge. Aber durch solche u n t e r geordnete Störungen des homogenen Charakters d ü r f e n wir uns nicht beirren lassen, wir müssen vielmehr die Frage so stellen: ist der betreffende S t a a t , a l s G a n z e s b e t r a c h t e t , homo- oder h e t e r o g e n ? Nur so k ö n n e n wir den Gegensatz dieser beiden physischen S t r u k t u r e n erfassen. Die Niederlande bleiben ein homogener T i e f l a n d s t a a t , den jüngsten geologischen Bildungen angehörig, w e n n sie auch mit ihrem südlichsten Zipfel an den Vorstufen des Rheinischen Schiefergebirges Anteil nehmen. Gliederung der Staaten. Jedes größere Gebiet m u ß m a n , schon u m zu einer Übersicht und O r d n u n g zu gelangen, in kleinere Teile zerlegen, diese wieder in kleinere usw. Der Politiker teilt den S t a a t willkürlich oder mit Rücksicht auf geschichtliche Z u s a m m e n h ä n g e oder mit B e n u t z u n g natürlicher Grenzen in Verwaltungseinheiten, die verschiedene Namen f ü h r e n , wie z. B. Provinzen, D é p a r t e m e n t s , Grafschaften, Kreise usw. Manche davon haben ihre Grenzen j a h r h u n d e r t e lang nur wenig v e r ä n d e r t und d a d u r c h zur Ausbildung völkischer Indiv i d u a l i t ä t e n beigetragen; sie verdienen daher in der monographischen

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D i e physische Struktur der Staaten.

B e h a n d l u n g eines S t a a t e s volle Beachtung, in der v e r g l e i c h e n d e n politischen Geographie aber können sie keinen P l a t z finden. Hier m u ß der S t a a t als eine Einheit festgehalten werden. Und gerade deshalb, weil wir ihn in seiner N a t u r ergründen wollen, müssen wir seine Einteilung auf eine natürliche Grundlage stellen. Denn die E i n t e i l u n g soll ja nicht bloß praktisch wirken, sie soll auch e r k l ä r e n . D a h e r bleibt sie stets die erste Aufgabe des beschreibenden Geographen. N u r wer ein großes oder kleines Stück der Erdoberfläche gut eingeteilt h a t , zeigt d a m i t , d a ß er es auch v e r s t a n d e n h a t . Gut ist aber eine E i n t e i l u n g nur d a n n , wenn sie die ganze S t r u k t u r des b e t r e f f e n d e n S t ü c k e s bloßlegt, wie der A n a t o m das Innere eines organischen Körpers. W i e ist aber dieses Ziel zu e r r e i c h e n ? 1 Im 18. J a h r h u n d e r t , als m a n sich mit dieser Frage zu beschäftigen anfing, legte m a n d a s - S c h w e r gewicht auf die Grenzbestimmung. Die Naturgebiete, die m a n an die Stelle der politischen R ä u m e setzte, erwiesen sich als solche d a d u r c h , d a ß sie sich durch natürliche Grenzen voneinander a b s o n d e r t e n . Ihren H ö h e p u n k t erreichte diese Methode in BUACHES Essai de géographie physique ( P a r i s 1756), wo die Erdoberfläche in eine Reihe v o n Becken zerfällt, die durch méridionale und ostwestliche G e b i r g s k e t t e n voneinander g e t r e n n t werden. Da m a n alle Wasserscheiden als Gebirge ansah, waren solche in genügender Zahl v o r h a n d e n . Von diesen und ähnlichen P h a n t a s i e g e m ä l d e n h a t uns KARL RITTER befreit. Er ging nicht von schematischen N a t u r g r e n z e n aus, sondern f o r d e r t e zuerst das S t u d i u m der ganzen Landoberfläche, die sich d a n n von selbst in Naturgebiete, d. h. K o m p l e x e v o n g l e i c h a r t i g e m g e o g r a p h i s c h e n C h a r a k t e r , auflöste, die RITTER bezeichnenderweise geographische Individuen n a n n t e . Ihre Grenzen ergaben sich d a n n von selbst, sie waren im Gegensatze zu der älteren A u f f a s s u n g nicht das W i c h t i g s t e , Aber immerhin, Grenzen — es sondern von s e k u n d ä r e r B e d e u t u n g . brauchen nicht G r e n z l i n i e n zu sein —, sind notwendig, sollen nicht die Naturgebiete ineinander zerfließen, soll ü b e r h a u p t eine E i n t e i l u n g zustande k o m m e n . E s ist aber klar, d a ß die Schwierigkeit einer solchen wachsen m u ß , je tiefer m a n in die Details eindringt. W e r d e n Begriff eines geographischen I n d i v i d u u m s auf die Gesamtheit d e r geographischen Charaktere g r ü n d e t , m u ß natürlich darauf gefaßt sein, d a ß der eine diesem, der andere jenem C h a r a k t e r z u g den entscheidenden Vorrang e i n r ä u m t . Nicht einmal RITTERS Individuen erster O r d n u n g , die Erdteile, sind u n a n g e f o c h t e n geblieben. Seine Methode, obwohl von einem richtigen geographischen G r u n d g e d a n k e n ausgehend, er1

HOLZEL,

zit.

S.

10.

Die physische Struktur der Staaten.

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mangelt der E x a k t h e i t und bedarf daher nach dieser Richtung hin dringend des Ausbaues. Bemerkenswert ist ein Versuch, den PASSARGE 1 gemacht hat. Er n e n n t die Naturgebiete sehr passend natürliche Landschaften und schließt d a h e r den Menschen und dessen K u l t u r als etwas F r e m d artiges von der B e t r a c h t u n g aus. D a n n teilt er Afrika nach n a t ü r lichen Gesichtspunkten ein, und zwar 1. nach der geologischen Zus a m m e n s e t z u n g , 2. nach den orographischen u n d geomorphologischen Verhältnissen, 3. nach den A b d a c h u n g e n und Flußsystemen, 4. nach dem Klima, 5. nach den Wasserverhältnissen, 6. nach der Vegetation, 7. nach V e r w i t t e r u n g und Bodenbildung und 8. nach der Tierwelt. Diese Einteilungen werden kartographisch dargestellt, und so erhält m a n eine Anzahl von Gebieten, von denen sich einige teilweise decken und deren Grenzen bald a n n ä h e r n d parallel verlaufen, bald sich kreuzen, im allgemeinen aber doch entweder mit der morphologischen oder mit der K l i m a k a r t e einige Ü b e r e i n s t i m m u n g zeigen. Oberflächeng e s t a l t u n g u n d K l i m a sind also die v o r n e h m s t e n Gesichtspunkte, die uns bei der Aufstellung natürlicher L a n d s c h a f t e n leiten müssen. Darauf müssen wir freilich verzichten, d a ß sie ein völlig einheitliches Gesamtbild geben, aber da sie, wenigstens zum Teil, in ursächlichen Wechselbeziehungen stehen, so ist auch nicht zu erwarten, d a ß sie ganz verschiedene Bilder liefern werden. I m m e r h i n m u ß m a n einem von ihnen den Vorzug geben; welchem, das m u ß v o n F a l l z u F a l l entschieden werden. Die geographischen F a k t o r e n zweiter Ordnung, vor allem die Wasserverhältnisse und die Vegetation, können dabei ein ausschlaggebendes W o r t sprechen. Jedenfalls m u ß der Mensch einen Einteilungsgrund f ü r sich bilden. J e d e S t r u k t u r m u ß f ü r sich b e h a n d e l t werden, so d a ß wir zu einer d r e i f a c h e n E i n t e i l u n g d e r S t a a t e n gelangen: 1. in natürliche L a n d s c h a f t e n , 2. in völkische Provinzen und 3. in Wirtschaftsgebiete. T r o t z d e m auch sie nicht völlig u n a b h ä n g i g voneinander sind, so w ü r d e eine V e r m e n g u n g doch in den meisten Fällen mehr verwirren als klären, also mit einem W o r t e unwissenschaftlich sein. Und noch eines. Bisher spielte bei allen Einteilungen die Festlegung von Grenzlinien, wenn auch nicht die H a u p t s a c h e , so doch eine höchst wichtige Rolle. Man h a t sich natürlich gesagt, d a ß solche scharfe Grenzen, wie sie der K a r t o g r a p h zeichnet, in der N a t u r nicht v o r k o m m e n , m a n h a t zwischen zwei Gebieten Übergangsgebiete eingeschoben, aber auch diese in völlig unlogischer Weise scharf umrissen. 1

Die natürlichen S. 147, 182, Taf. 13.

Landschaften

Afrikas,

Petermanns

Mitteilungen

1908,

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Die physische Struktur der Staaten.

Von dieser Sucht nach linearen Grenzen müssen wir uns frei machen, auch bei den Landschaften. Es gibt g e s c h l o s s e n e und o f f e n e Landschaften. Jene sind ringsum von Gebirgen umrahmte Becken, wie z. B. Thessalien, diese sind durch Grenzsäume von verschiedener Breite voneinander getrennt. Es gibt auch Landschaften, die nach einer Seite offen, nach der anderen geschlossen sind, wie beispielsweise die oberrheinische; es gibt auch solche, wo die Umschließung gewissermaßen nur angedeutet ist. Die Variationen sind unendlich, aber immerhin kann an der obigen Zweiteilung festgehalten werden, und man kann sich die Mühe sparen, Grenzlinien der Natur aufzuzwingen, wo in Wirklichkeit keine vorhanden sind. Für planimetrische Ausmessungen sind solche Konstruktionen allerdings unumgänglich, aber auch in diesem Falle kann man den natürlichen Verhältnissen gerecht werden, wenn man sich nur mit u n g e f ä h r e n Angaben der Flächengröße offener Landschaften begnügt. Gliederung physisch-homogener Staaten. Es liegt im Wesen der physisch-homogenen Staaten begründet, daß die Oberflächenformen bei der Einteilung nur geringe Berücksichtigung finden können, und daß die Gliederung daher nur schwach akzentuiert ist. Rußland ist bis zu den Grenzgebirgen Ural und Kaukasus ein ununterbrochenes Flachland, das im 0 bei Chwalynsk nur 390 und im W, in der Waldaihöhe, nur 320 m Seehöhe erreicht. Die Höhenschichtenkarte zeigt allerdings Erhebungen und Vertiefungen, aber sie gehen so allmählich ineinander über, daß sie sich dem Auge überall nur als eine einzige Ebenheit darstellen. Im Winter verschärft noch die ununterbrochene Schneedecke diesen Eindruck. Aber Flußanordnung, Klima und Vegetation bieten genug Kontraste, um auf ihnen eine deutliche Gliederung in offene Landschaften zu gründen. In ihren Hauptzügen ist sie so deutlich, daß sie sich nach A. V O N M E Y E N D O R F S Versuch im Jahre 1 8 4 1 nicht wesentlich geändert hat, ja sogar mit wenigen Abänderungen in der völkischen und wirtschaftlichen Gliederung wiederkehrt. Ihre meridionale Anordnung wird durch das Klima bedingt. Die nordrussische Landschaft wird hauptsächlich durch ihre beträchtliche Polhöhe und die nördliche Abdachung, die zentralrussische durch ihre beckenartige Gestalt und den östlichen Verlauf ihres Hauptflusses, der Wolga, die baltische durch die westliche Abdachung zur Ostsee charakterisiert. Alle drei gehören dem großen nordeuropäischen Waldgürtel an. Die südrussische Landschaft, die nach 0 bis zu dem Bergufer der Wolga und den sich daran anschließenden Ergenihügeln reicht, dacht sich nach S ab und trägt den fruchtbaren Schwarzerdeboden, mit steppenartiger

D i e p h y s i s c h e Struktur der Staaten.

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Vegetation. Die f ü n f t e L a n d s c h a f t , jenseits der Ergenihügel und zwischen Wolga und Ural gelegen, können wir die kaspische nennen, weil sie zum großen Teil trocken gelegter Boden des ehemaligen Kaspischen Meeres ist und auch heute noch u n t e r dem Meeresspiegel liegt. Streng kontinentales Klima, R e g e n a r m u t und daher Abflußlosigkeit und dürftige Steppenvegetation sind die Grundzüge dieser L a n d s c h a f t , die um so kräftiger individualisierend h e r v o r t r e t e n , als wenigstens im W und NO eine deutliche orographische U m r a h m u n g v o r h a n d e n ist. Im 0 fehlt, dagegen jede natürliche Grenze. Es m a g schließlich noch hervorgehoben werden, d a ß jeder der aufgezählten L a n d s c h a f t e n durch ihre mathematische und geographische Lage b e s t i m m t e Züge aufgeprägt sind, die ihre kulturelle und politische E n t w i c k l u n g wesentlich beeinflußt haben und noch beeinflussen. In Norwegen k o m m t trotz nicht u n b e t r ä c h t l i c h e r meridionaler E r s t r e c k u n g dem K l i m a keine so sondernde B e d e u t u n g zu, wie in R u ß land, weil dort die n o r d a t l a n t i s c h e S t r ö m u n g , die das Klima in erster Linie b e s t i m m t , die ganze Küste bespült. Die Kristianiaebene als eine selbständige L a n d s c h a f t aufzufassen, erscheint wegen ihrer geringen A u s d e h n u n g als unpassend, um so greller t r e t e n aber Fjord und Fjeld als landschaftliche Gegensätze hervor. In den Niederlanden sind Oberflächenform und Klima zu einförmig, um zu einer Gliederung des Staates herangezogen werden zu k ö n n e n ; an ihre Stelle t r e t e n die Bodenarten, und eine Einteilung in Dünen-, Marsch- und Geestlandschaften scheint hier a m zweckmäßigsten. Alle diese Beispiele bekräftigen den oben ausgesprochenen Satz, d a ß sich der Geograph in physisch-homogenen Ländern v o n jedem schematischen Verfahren völlig freihalten m u ß . Physische Heterogenität. Sie liegt in dem Oberflächenbau begründet, und dieser ist auch der wichtigste erdphysikalische F a k t o r , der die Gliederung bedingt. Die übrigen F a k t o r e n t r e t e n nur ausnahmsweise und nur s e k u n d ä r in W i r k s a m k e i t . Aus der Definition ergibt sich schon, d a ß alle heterogenen Länder aus zwei oder mehreren L a n d s c h a f t e n bestehen. Zu den z w e i g l i e d e r i g e n ist nichts weiter zu bemerken. Die südamerikanischen S t a a t e n des W e s t e n s sind fast alle von dieser A r t . An die Gebirgslandschaft schließt sich eine Tiefebenenlandschaft an. E t w a s komplizierter ist die S t r u k t u r Italiens. Deutlich treten im festländischen Italien zwei Glieder h e r v o r : die Tiefebene des Po u n d die peninsulare A p e n n i n e n l a n d s c h a f t . Scharf u n d auch politisch bestimmend t r i t t uns hier der Gegensatz der adriatischen und t y r r h e nischen A b d a c h u n g entgegen und die letztere gliedert sich wieder in eine Reihe U n t e r l a n d s c h a f t e n , so d a ß m a n versucht sein könnte, Italien

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D i e physische Struktur der Staaten.

eher zu den mehr-, als zu den zweigliederigen Ländern zu zählen. Doch d ü r f t e das letztere zutreffender sein und die physische S t r u k t u r des S t a a t e s besser zum Ausdruck bringen, u m so mehr, als auch die anderen F a k t o r e n diese Auffassung u n t e r s t ü t z e n . Sind mehr als zwei L a n d s c h a f t e n v o r h a n d e n , so k o m m t es wesentlich auf ihre A n o r d n u n g an. Sie können in Streifen, ähnlich den Zellen eines organischen Körpers unregelmäßig nebeneinander liegen. Ein typischer S t r e i f e n s t a a t ist die nordamerikanische Union. Von 0 nach W folgen aufeinander die atlantische Küstenebene, die Alleghanies, das Mississippitiefland, die P r ä r i e n p l a t t e und das Kordillerensystem. Das ist eine nahezu symmetrische Gliederung, jedenfalls m u ß als charakteristisch hervorgehoben werden, d a ß der tiefste Streifen die Mitte einn i m m t und von zwei Gebirgsstreifen eingesäumt wird. Im verkleinerten M a ß s t a b e k e h r t diese S t r u k t u r f o r m in der Schweiz wieder. Gerade entgegengesetzt war die S t r u k t u r Bulgariens in den Grenzen von 1912. Hier lag der höchste Streifen, der Balkan, in der Mitte, zwischen zwei tieferen: d e m bulgarischen u n d dem ostrumelischen. Man k ö n n t e diese S t r e i f e n s t r u k t u r als die d a c h f ö r m i g e bezeichnen im Gegensatze zur m u l d e n f ö r m i g e n der Vereinigten S t a a t e n . Die d r i t t e Art ist die s t u f e n f ö r m i g e . Sie ist charakteristisch f ü r das Deutsche Reich, und war es vor allem f ü r das alte Deutschland vor 1866. Die alpine, die Mittelgebirgs- u n d die Flachlandslandschaft bilden einen von S nach N absteigenden S t u f e n b a u . Solch eine stufenförmige S t r u k t u r h a t a u c h Belgien. Neu ist die periklinale oder h u t f ö r m i g e S t r u k t u r , wie sie Breite R u m ä n i e n durch den Ausgang des Weltkrieges erhalten h a t . Flachlandstreifen umschließen die siebenbürgische Hochlandburg. Noch mannigfaltiger sind die Z e l l e n s t a a t e n . Ihre S t r u k t u r enthüllt sich häufig viel deutlicher auf geologischen, als auf orographischen K a r t e n . W i r können das an Frankreich beobachten, wo fünf L a n d s c h ä f t e n zu unterscheiden sind, aus denen im Laufe der mittelalterlichen Geschichte der französische S t a a t zusammengeschweißt w u r d e : 1. Das nordfranzösische Becken, der eigentliche K e r n des F r a n k e n reiches, der immer die H a u p t s t a d t umschlossen hat und d a d u r c h auch bis zur Gegenwart das politische Z e n t r u m geblieben ist. 2. und 3. die beiden großen R u m p f m a s s i v s , das zentralfranzösische und das bretonische. An diesem Beispiele zeigt es sich besonders klar, wie sehr wir auf die Beihilfe der Geologie angewiesen sind, denn auf orographischen K a r t e n wird die scharf ausgesprochene Individualität der Bretagnel a n d s c h a f t völlig u n t e r d r ü c k t , und das nordfranzösische Becken vers c h w i m m t mit 4. der Garonnemulde, dem H a u p t t e i l e der alten aquitanischen L a n d s c h a f t . 5. N u r die breitgrabenförmige Rhonelandschaft,

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das älteste Burgunderreich, behält auch auf der orographischen K a r t e ihre Selbständigkeit voll und ganz bei. In manchen Ländern tragen einzelne L a n d s c h a f t e n den Charakter mehr oder minder streng umschlossener Becken, und wir können d a n n von einer B e c k e n s t r u k t u r als einem Spezialfall der Z e l l e n s t r u k t u r sprechen. In Spanien sind das Ebrobecken, die altkastilische und z u m Teil auch die neukastilische Hochebene solche geographische Zellen. Ein anderes Beispiel ist die ehemalige österreichisch-ungarische Monarchie mit den gut ausgeprägten Becken Ungarn u n d Böhmen. Die Landschaften sind in der Regel selbst wieder zusammengesetzt, und die Teile erreichen m a n c h m a l eine so große Ausdehnung, d a ß m a n nicht mehr von einer einheitlichen L a n d s c h a f t , sondern von einem K o m plex von Landschaften sprechen darf. Als Beispiel diene uns die deutsche Mittelgebirgslandschaft. In ostwestlicher R i c h t u n g unterscheiden wir hier: 1. Die sächsisch-thüringische Landschaft, ein unvollständig geschlossenes Viereck, dessen Seiten das Erzgebirge, der Thüringer W a l d und der Fläming bilden, während sich im N W wie als mächtige Pfeilerruine einer geborstenen Brücke der Harz erhebt. Ein Blick auf die K a r t e lehrt, d a ß diese L a n d s c h a f t nur ein v e r k ü m m e r t e s Abbild der anstoßenden böhmischen ist. Vom Erzgebirge und dem T h ü r i n g e r Wald laufen zentripetal die Flüsse der Leipziger E b e n e zu und gewinnen d a n n vereint einen Ausweg durch die P f o r t e von Magdeburg. 2. Die hessische L a n d s c h a f t , der dreieckförmige Zwischenraum zwischen den rechtwinklig zueinander gestellten Thüringer W a l d u n d Niederrheinischem Gebirge, das Abzugsgebiet der Weser. Zwischen den genannten Rumpfgebirgen, den Überresten eines einst z u s a m m e n hängenden Hochgebirgszuges, h a t die vulkanische K r a f t in viel späterer Zeit zwei basaltische Gebirgsstöcke geschaffen: die R h ö n und den Vogelsberg. 3. Jenseits dieser Lücke liegt als Gegenpfeiler der sächsischthüringischen L a n d s c h a f t das niederrheinische R u m p f m a s s i v , d a d u r c h ausgezeichnet, d a ß es durch das Flußkreuz R h e i n — L a h n — M o s e l in vier Blöcke zersägt ist. 4. Die niedersächsische L a n d s c h a f t , der T y p u s einer offenen Landschaft, besteht aus einer Reihe nordwestlich streichender längerer und kürzerer Gebirgsketten, die zusammenhanglos zwischen E m s u n d Elbe durch das norddeutsche Flachland zerstreut sind. 5. Von den beiden südlichen L a n d s c h a f t e n ist die oberrheinische halb geschlossen, ein breiter, tiefer Graben zwischen den B r u c h b ä n d e r n zweier Gebirgsmassive und zweier p l a t e a u a r t i g e r E r h e b u n g e n .

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6. Die sich anschließende fränkisch-schwäbische L a n d s c h a f t h a t S t u f e n b a u und e m p f ä n g t ihren einheitlichen Charakter dadurch, d a ß die Gewässer nach W zum Rhein abfließen. W i r haben uns bei diesem Beispiele etwas länger aufgehalten, um zu zeigen, d a ß unsere Einteilung nicht etwa n u r von u n t e r g e o r d n e t e r B e d e u t u n g ist, sondern d a ß in der T a t jede unserer sechs L a n d s c h a f t e n den Anforderungen an eine geographische L a n d s c h a f t vollauf entspricht. Politische Bedeutung der physischen Struktur. Sie liegt nicht in der S t r u k t u r selbst. W i r dürfen nicht meinen, daß ein homogener S t a a t s k ö r p e r an und f ü r sich fester und widerstandsfähiger sei, als ein aus verschiedenen Teilen z u s a m m e n g e s t ü c k t e r . Der Boden w i r k t nur m i t t e l b a r , indem er den Z u s a m m e n h a l t der menschlichen Bewohner bald fördert, bald h e m m t , und von diesem Gesichtspunkt aus k ö n n t e m a n allerdings v e r s u c h t sein, der physischen H o m o g e n i t ä t vor der Heterogenität den Vorzug zu geben. Wenigstens der homogenen Ebene, denn im Gebirgsland wird der homogene Charakter durch den Wechsel von Berg und Tal s t a r k beeinträchtigt. Aber auch jene Voraussetzung e r f ä h r t durch die Geschichte und die E r f a h r u n g e n der Gegenw a r t eine erhebliche E i n s c h r ä n k u n g . Dagegen spricht schon die T a t sache, d a ß die weitaus größte Zahl der G r o ß m a c h t s t a a t e n in Gegenw a r t und Vergangenheit dem heterogenen T y p u s angehören. Von der einigenden K r a f t der großen russischen Fläche w u r d e in f r ü h e r e n Zeiten viel Aufhebens gemacht, aber gerade jetzt, in dem revolutionären Zerfallsprozeß, wo m a n ihrer a m meisten b e d ü r f t e , versagte sie gänzlich. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, d a ß sie doch wieder zum D u r c h b r u c h k o m m t . 1 Im Gegensatze dazu scheinen die h e m m e n d e n Einflüsse des physischen Heterogenismus sich wirksamer geltend zu machen. Je geschlossener die L a n d s c h a f t e n sind, desto m e h r wirken sie sondernd. Die offene L a n d s c h a f t ist hierin dem homogenen Boden am ähnlichsten, die B e c k e n s t r u k t u r ist der E n t w i c k l u n g eines großen, machtvollen Staates a m gefährlichsten. Die politische Zersplitterung Griechenlands im A l t e r t u m dürfen wir wohl diesem U m s t ä n d e zuschreiben. In der habsburgischen Monarchie waren gerade die beiden großen Beckenlandschaften, Ungarn und Böhmen, die H a u p t h e r d e der separatistischen Tendenzen, denen allerdings, wie wir später sehen werden, eine andere Struktureigentümlichkeit entgegenarbeitete. Auch die Größe der Landschaften k o m m t in B e t r a c h t , große neben kleinen wirken in der Regel zentralisierend. Sehr auffällig ist in Deutschland der Gegensatz zwischen 1 O. HOETZSCH, Ein gewiegter Kenner russischer Verhältnisse spricht sich dafür aus (Russische Probleme, Berlin 1917).

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der homogenen F l a c h l a n d s c h a f t im N, wo schon in früheren J a h r h u n d e r t e n größere S t a a t e n zur E n t w i c k l u n g gelangten und dann 1871 die politische Einigung des Reiches ihren A u s g a n g n a h m , und anderseits der landschaftlich und politisch s t a r k aufgelockerten Mittelgebirgszone; kein W u n d e r , d a ß diese Z u s a m m e n h ä n g e schon verhältnismäßig f r ü h die A u f m e r k s a m k e i t auf sich gelenkt haben. W e n n sie nicht überall nachweisbar sind, so ist dies leicht erklärlich, wenn wir uns vor Augen halten, d a ß die physische S t r u k t u r nicht allein und nicht in erster Linie die Staatsbildungen beeinflußt. Auch die Lage der einzelnen Lands c h a f t e n spielt eine nicht unwesentliche Rolle und gibt in der Regel den Ausschlag f ü r die Lage der H a u p t s t a d t , wovon später die Rede sein soll. A u ß e r der Oberflächenform sind f ü r die S t r u k t u r heterogener L ä n d e r selbstverständlich auch die anderen physischen Faktoren m a ß gebend, und keiner in so hohem Grade als das fließende Wasser. Durch dieses entstehen v e r k n ü p f t e L a n d s c h a f t e n . D a ß der nördliche und mittlere Streifen des deutschen Bodens zu einer Einheit v e r b u n d e n ist, ist wesentlich ein W e r k der Oder, Elbe und Weser. W o die allgemeine nördliche A b f l u ß r i c h t u n g durch die Einschaltung der Donau eine schmale U n t e r b r e c h u n g erleidet, wird auch die V e r b i n d u n g des Mittelgebirgsstreifens mit dem alpinen zwar nicht völlig aufgehoben, aber doch geschwächt. D a ß sie am Rhein nicht wieder a u f l e b t , s t e h t im Widerspruche mit den geographischen Bedingungen und ist nur geschichtlich begründet. Die hydrographische A n o r d n u n g im nördlicKen Deutschland ist g l e i c h s i n n i g p a r a l l e l , in R u ß l a n d , wo sie a u c h eine große bindende K r a f t a u s ü b t , d a die flachen Wasserscheiden den Schiffsverkehr sehr erleichtern, ist sie s t r a h l i g , und ähnlich, wenn auch nur einseitig ausgebildet, in den Vereinigten S t a a t e n , wo das Mississippi- und das Lorenzsystem in bequeme natürliche V e r b i n d u n g gesetzt w e r d e n ; in ÖsterreichUngarn w a r sie s c h n u r f ö r m i g . Die D o n a u durchzog die Monarchie in der Mitte und zog von N und S b e d e u t e n d e Nebenflüsse an sich. Die Alpenländer, die M a r c h l a n d s c h a f t und das ungarische Becken reihen sich wie Perlen an einer Schnur aneinander. Selbst in die nördliche A b d a c h u n g Mitteleuropas greift die Anziehungskraft der Donau h i n ü b e r , denn die Elbe k a n n nur durch eine schmale P f o r t e nach N entweichen, während ihr ganzes oberes Gebiet sich frei zur March und d a m i t zur Donau öffnet. Mit Recht n a n n t e m a n die Monarchie den D o n a u s t a a t , obwohl sie weder Ober- noch Unterlauf ihres H a u p t s t r o m e s b e s a ß . Daß als Seitenstück dazu kein R h e i n s t a a t zur E n t w i c k l u n g gelangte, erklärt sich daraus, d a ß der Rhein als südnördliche V e r b i n d u n g s s t r a ß e

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nicht allein d a s t e h t , sondern vor allem in der Elbe einen mächtigen K o n k u r r e n t e n hat, während mit der Donau kein Strom als Verbindungsstraße mit dem Orient rivalisiert. Die Aufteilung eines S t a a t e s in L a n d s c h a f t e n geht, vielleicht seltene Fälle ausgenommen, nicht restlos vor sich. Es bleiben kleinere oder größere Gebietsteile übrig, die physisch zu benachbarten S t a a t e n gehören. Solche z e r r i s s e n e L a n d s c h a f t e n kleben d a n n oft nur wie lose Anhängsel dem S t a a t e an, dem sie sich nicht organisch eingliedern können, und sind d a n n eher ein Schwäche- als ein- Stärkemoment. Aber was k ü m m e r t sich der Politiker bei der Absteckung seiner Grenzen um wissenschaftliche Gesichtspunkte, wenn er nur seinen Länderhunger stillen k a n n ! Der augenblickliche Erfolg läßt ganz vergessen, d a ß jede E r w e r b u n g zu Konsequenzen f ü h r t , die mitu n t e r recht u n a n g e n e h m sein können. A n s t a t t die ganze Politik danach einzurichten, den D o n a u s t a a t auszubauen, streckte das vormärzliche Österreich seine H a n d nach Ländern aus, die mit seiner eigentlichen Lebensader in keine organische V e r b i n d u n g gesetzt werden konnten, und doch groß genug waren, um an dem Mark des Staates zu zehren und ihm zur Last zu fallen. Von der Po-Ebene, einer völlig abseits gelegenen L a n d s c h a f t , riß es den größten Teil an sich, und was w a r der E r f o l g ? Zwei kostspielige Kriege, die mit dem Verluste des Erworbenen endigten und den Haß. des italienischen N a c h b a r s als trauriges Erbe zurückließen. K a u m minder u n n a t ü r l i c h w a r die V e r b i n d u n g mit Galizien und der Bukowina, die nur durch einen schmalen Hals mit dem s t a a t lichen H a u p t k ö r p e r z u s a m m e n h i n g e n u n d sonst durch ein bedeutendes, schwer zugängliches Gebirge von ihm g e t r e n n t sind. Der Weltkrieg h a t genugsam gezeigt, wie wenig diese Provinzen dem eigentlichen Lebenszwecke der Monarchie förderlich w a r e n ! Beide b a n d e n einen großen Teil der militärischen K r a f t und k o n n t e n doch nicht verteidigt werden. Ein ähnliches geographisches Monstrum, wie die österreichischen Provinzen Lombardei und Venetien, w a r bis zum Krieg im J a h r e 1870 Elsaß, a u c h ein typisches Beispiel einer zerrissenen L a n d s c h a f t und ist es jetzt wieder. Frankreich, sonst ausgezeichnet d u r c h scharf ausgeprägte L a n d s c h a f t e n , h a t an seiner N W - G r e n z e noch eine solche schwache Stelle, die es ebenso, wie Elsaß, der Ländergier seines Sonnenkönigs v e r d a n k t : sie liegt dort, wo die Grenze über die wasserscheidende Schwelle von Artois in das germanische, kohlenreiche und hochindustrielle F l a n d e r n hinübergreift.

Die völkische Struktur der Staaten. Organisation. K A N T h a t 1784 in einer A b h a n d l u n g „ I d e e zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher A b s i c h t " 1 den Übergang vom anarchischen zum organisierten Z u s t a n d auf die fortschreitende Differenzierung einer Menschengruppe z u r ü c k g e f ü h r t , auf den in der menschlichen N a t u r begründeten A n t a g o n i s m u s zwischen dem Geselligkeits- und dem Selbständigkeits (Isolierungs)trieb, also zwischen anziehenden und abstoßenden K r ä f t e n . Diese Gegensätze müssen immer wieder von neuem nach einem Ausgleich suchen. J e d e staatliche Organisation f ü h r t notwendigerweise zu einer Auflösung der menschlichen Gesellschaft in Gruppen, zu einer S c h i c h t u n g in Klassen, die einerseits aufeinander angewiesen sind, anderseits sich doch wieder voneinander abzusondern streben. Die Geschichte aller Zeiten und aller Völker bestätigt dies, und K A N T wie seine staatsrechtlichen Nachfolger (z. B. L U D W I G G U M P L O W I C Z ) k ö n n t e n wohl glauben, in diesem Differenzierungsprozeß das Wesen des S t a a t e s aufgedeckt zu h a b e n ; aber dabei w u r d e - was zu K A N T S Zeiten wohl erklärlich w a r — etwas vergessen. Die Differenzierung an sich w ü r d e — und auch d a f ü r liefert die Geschichte viele Beispiele — notwendigerweise endlich zur Zerreißung der staatlichen Gesellschaft f ü h r e n , wenn nicht ein B a n d sie z u s a m m e n h i e l t e , sei es das sichtbare der Gewalt, sei es das u n s i c h t b a r e des Zusammengehörigkeitsgefühls. Nach R A N K E S Geschichtsauffassung soll dieses Z u s a m m e n gehörigkeitsgefühl durch den Gegensatz des S t a a t e s nach a u ß e n wachgerufen werden 2 , es ist aber klar und durch die Geschichte vielfach, besonders überzeugend erst jüngst wieder durch den W e l t k r i e g bezeugt worden, d a ß es nur d a n n wirksam wird, wenn eine i n n e r e Gemeinschaft schon vorhanden ist, die den divergierenden Interessen der innerstaatlichen Gruppen die Wagschale hält. Immer wieder müssen der durch die Organisation notwendig h e r b e i g e f ü h r t e n H e t e r o g e n i t ä t homogenisierende K r ä f t e entgegenwirken, und n u r hinsichtlich der A r t dieser K r ä f t e bestehen räumliche und zeitliche Verschiedenheiten. 1

Gesammelte

Bd. VIII, 2

S c h r i f t e n , h e r a u s g e g e b e n v o n d . p r e u ß i s c h e n A k a d . d.

S. 15, B e r l i n

Wiss.,

1912.

K- ROTTHAUS, S t a a t s f o r m und ä u ß e r e P o l i t i k ( P r e u ß . J h r b . 1 9 1 0 , B d . 1 7 9 , S. 1.

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D i e völkische Struktur der Staaten.

Besonders deutlich k o m m t uns dies zum Bewußtsein, wenn wir die Völker in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander betrachten. Nach der Auffassung der Territorialpolitik findet das zwischenstaatliche Leben ein getreues Spiegelbild im Schachspiel. Es dreht sich hier u m die E r o b e r u n g und Besetzung der Felder des Brettes, und E n d zweck ist, dem feindlichen Könige den Lebensraum immer mehr einzuengen und endlich ganz zu entziehen. Die Figuren sind zwar organisiert, indem jede ihre besondere Aufgabe, ihre besondere Bewegungsart und ihren besonderen Wirkungsradius besitzt, aber sie werden nur g e s c h o b e n , sind lediglich Werkzeuge in der H a n d des Spielers. Diese Analogie fällt nach der Auffassung der Nationalpolitik gänzlich weg. Die Figuren sind eigenwillige Wesen und bewegen sich frei, aber nicht wirr durcheinander — das wäre ja der anarchische Zustand —, sondern nach einem gemeinsamen Plane, indem sich d i e I n d i v i d u a l w i l l e n zu e i n e m S t a a t s w i l l e n z u s a m m e n s c h l i e ß e n . Dieser Prozeß ist in der Regel das Ergebnis einer langen E n t w i c k l u n g und steht im innigen Z u s a m m e n h a n g e mit der Organisation. Die politische Organisation läßt sich auf drei H a u p t a r t e n zurückf ü h r e n ; auf die vielen Übergangsformen, von denen die Staatslehre handelt, brauchen wir hier nicht einzugehen. 1. Die E i n z e l h e r r s c h a f t ( M o n o - oder A u t o k r a t i e ) ist ohne Zweifel diejenige S t a a t s f o r m , die das Problem des Staatswillens am glattesten lösen k a n n , denn hier fällt der Staatswille zusammen mit dem Individualwillen des Machthabers, und alle anderen Individualwillen sind machtlos. 2. Die K l a s s e n h e r r s c h a f t ( O l i g o k r a t i e ) besteht in der Herrs c h a f t einer Minderheit, möge sich diese aus Adeligen (Aristokratie) oder Reichen ( P l u t o k r a t i e ) zusammensetzen. Hier k a n n die B i n d u n g der Individualwillen schon -auf Schwierigkeiten stoßen, wird sich aber schließlich doch durchsetzen, weil der Staatswille in dem Klassenbewußtsein eine kräftige S t ü t z e findet, und die Mehrheit durch Gesetz oder wenigstens in der T a t machtlos ist. 3. Die V o l k s h e r r s c h a f t ( D e m o k r a t i e ) ist in Wirklichkeit nicht die H e r r s c h a f t des ganzen Volkes, sondern die der Mehrheit über die Minderheit. Auch im demokratischen S t a a t ist das Volk keine Einheit, sondern zerfällt in Parteien, aber diese sind zum Unterschied von den Klassen, besonders den streng abgeschlossenen Kasten, ein flüssiges Elem e n t . Abgesehen von der D i k t a t u r des Proletariats, die aber als Klassenh e r r s c h a f t aufzufassen ist und bisher immer n u r ein vorübergehender in Anarchie oder A u t o k r a t i e a u s m ü n d e t e r Z u s t a n d w a r , ist die Minderheit nicht recht- und machtlos und k a n n sich d a h e r u n t e r U m s t ä n d e n

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D i e v ö l k i s c h e Struktur der Staaten.

in eine Mehrheit verwandeln. Das politische Leben der Demokratie bestand und besteht also in einem steten inneren Kampf u m die Macht, und zum A l l g e m e i n w i l l e n k a n n sich auch der demokratische Staatswille nur in Zeiten höchster Erregung steigern, besonders d a n n , wenn der S t a a t sich angegriffen f ü h l t , wie ja auch der Einzelne in solchem Falle seine ganze Energie auf einen einzigen P u n k t konzentriert. Es ist bemerkenswert, d a ß dabei die S t a a t s f o r m wenig in Frage k o m m t . Die Kriegserklärung Deutschlands im J a h r e 1914 w u r d e von allen Parteien, die sich eben noch h a ß e r f ü l l t gegenüberstanden, und von allen S t a a t e n des Bundes, deren E i n t r a c h t schon stark e r s c h ü t t e r t war 1 , mit Begeister u n g aufgenommen, w ä h r e n d die der Vereinigten S t a a t e n im J a h r e 1917 im G r u n d e genommen nur das W e r k des Präsidenten W I L S O N und der am Krieg finanziell s t a r k interessierten Industriestaaten des Ostens war. Im monarchischen Deutschland k a m also der Allgemeinwille auf echt d e m o k r a t i s c h e und in der demokratischen Union auf auto- und plutokratische Weise zustande. Nicht n u r Verteidigungs-, sondern auch Angriffskriege können m a n c h m a l die allgemeine Z u s t i m m u n g des Volkes f i n d e n , u n d dies ist schon häufig von gewissenlosen M a c h t h a b e r n b e n u t z t w o r d e n , um die wegen a u f g e h ä u f t e r Unzufriedenheit beginnende innere Zersetzung des S t a a t e s e i n z u d ä m m e n und die allgemeine M i ß s t i m m u n g nach außen abzuleiten. Das w a r 1914 jedenfalls einer der H a u p t b e w e g g r ü n d e f ü r den Krieg R u ß l a n d s gegen Deutschland.2 Aber ebenso schnell, wie das Feuer kriegerischen E n t h u s i a s m u s entz ü n d e t werden kann, k a n n es auch erlöschen, wenn der Krieg unter Wechselerfolgen länger« Zeit d a u e r t . Das haben wir in Deutschland erleben müssen, w ä h r e n d die Feinde trotz aller Niederlagen ihren Siegeswillen unentwegt b e h a u p t e t e n . Hier zeigt sich die Macht der Organisation oder vielmehr ihrer Anpassungsfähigkeit an die Forderungen des Tages. Die E n t e n t e m ä c h t e und die Vereinigten S t a a t e n , obwohl wenigstens d e m N a m e n nach Demokratien, haben sich nicht gescheut, f ü r die D a u e r des Krieges sich zur A u t o k r a t i e zu bekennen, indem sie die willensgewaltigen Leiter ihrer Geschicke, einen C L E M E N C E A U , einen Lloyd GEORGE, einen WILSON, mit geradezu diktatorischen Vollmachten und M a c h t m i t t e l n ausrüsteten. Diese politische Konzentrierung und ihre rücksichtslose A n w e n d u n g und anderseits die z u n e h m e n d e Zerfahrenheit Deutschlands haben den Krieg trotz unserer militärischen 1

S o g a r d e r f r a n z ö s i s c h e B o t s c h a f t e r in B e r l i n s c h r i e b s e i n e r R e g i e r u n g , B a y e r n

w e r d e n i e m a l s an der S e i t e P r e u ß e n s g e g e n 2

Frankreich Krieg führen.

Vgl. Graf P o u R T A L f e s , A m S c h e i d e w e g e z w i s c h e n K r i e g u n d F r i e d e n , B e r l i n

1918. S i l p a n , Leitlinien.

2. A u f l .

7

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Die völkische Struktur der Staaten.

Glanzleistung zu unseren Ungunsten entschieden. Wer kann d a noch zweifeln, d a ß der Staatswille im Leben der Völker der entscheidende Faktor ist? An der Unterscheidung von Staats- und Allgemeinwillen m u ß streng festgehalten werden. J e n e r ist der bewußte, wenn auch nicht immer zielbewußte Wille der M a c h t h a b e r u n d h ä n g t von der Organisation des S t a a t e s ab, wobei der U m s t a n d besonders ins Gewicht fällt, d a ß in Auto- und Oligokratien die Machtorgane d a u e r n d , in Demokratien aber einem m e h r oder minder häufigen Wechsel unterworfen sind. Der Allgemeinwille ist dagegen, wie wir gesehen haben, v o n der Organisation bis zu einem gewissen Grade unabhängig, impulsiv und d a h e r vorübergehend, ü b e r h a u p t mehr u n b e w u ß t e s Wollen, als b e w u ß t e r Wille, ja oft nur S t i m m u n g , w o f ü r die Sinnesart des Volkes ausschlaggebend ist. Er setzt voraus, d a ß der Ichsinn und dessen gewöhnliche Erweiterung, der Familiensinn, zum Genieinsinn auswächst. Die völkische S t r u k t u r ist der N ä h r b o d e n , dem solcher Gemeinsinn e n t s p r i e ß t . Volk und Nation. Wie alle im täglichen Gebrauch s t a r k abgegriffenen W o r t e , decken sich auch die Bezeichnungen Volk, Völkerschaft, Volkss t a m m , Nation, N a t i o n a l i t ä t nicht mit scharf umrissenen Begriffen. Da eine Ü b e r e i n s t i m m u n g der Definitionen nicht zu erzielen ist, müssen wir unter den vorhandenen eine Auswahl t r e f f e n oder neue prägen. Diese Aufgabe wird uns wesentlich erleichtert durch die tüchtige Vorarbeit von FR. G. NEUMANN1, dem wir in der H a u p t s a c h e folgen können. Völkerschaften und Volksstämme scheiden aus, denn ihre erst in den Anfängen steckende Zivilisation h a t sie noch nicht befähigt, höhere staatliche Organisationen zu schaffen. Sie bewohnen ausschließlich die kolonialen R ä u m e . U n t e r V o l k versteht m a n ziemlich allgemein die Gesamtheit der Angehörigen eines Staates, es ist also gleichbedeutend mit dem, was wir oben Menschenvereinigung n a n n t e n . Die Vereinigung findet ihren Ausdruck in dem G e f ü h l d e r Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t , dessen Kehrseite das G e f ü h l des G e g e n s a t z e s zu anderen Völkern ist, namentlich zu den b e n a c h b a r t e n , von denen m a n u n m i t t e l b a r Gefahr und Schädigung zu b e f ü r c h t e n hat. Das Volk k a n n aus homogenen oder heterogenen Elementen, die sich durch Sprache, Religion', Stand, Beruf, Beschäftigung, K u l t u r u. dgl. unterscheiden, bestehen. Eine völlige Gleichartigkeit b e s t e h t nirgends. W e n n aber ein Element an Zahl so groß ist, d a ß es das ganze oder nahezu das ganze Volk u m f a ß t , so nennen wir dieses eine N a t i o n . Im politischen Sinne ist N a t i o n ein 1

Volk und Nation, Leipzig 1888.

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h o m o g e n e s V o l k . Nur ein solches k a n n einen kräftigen und dauerh a f t e n Staatswillen erzeugen, wenigstens n u r d o r t , wo der demokratische T y p u s in voller Reinheit ausgebildet ist oder sich inniger mit einem der beiden anderen H a u p t t y p e n vermischt. Ein homogenes Volk ist auch im höheren Grade, als ein heterogenes, befähigt, den S t a a t s willen zum Allgemeinwillen zu erweitern und ihn d a u e r n d e r darin zu erhalten. U n d darauf k o m m t es gerade an, wenn ein S t a a t stark sein will. So spitzt sich das ganze Problem auf die F r a g e . z u : W i e e n t s t e h t ein g l e i c h a r t i g e s V o l k ? Völkische Gleichartigkeit. Der höchste Grad der völkischen Gleichartigkeit ist g e m e i n s a m e A b s t a m m u n g , aber er k a n n nur von kleineren S t a m m e s g e n o s s e n s c h a f t e n und nie von einem großen Volke erreicht werden. Immer und überall, wenn S t a a t e n durch Eroberung e n t s t a n d e n , f a n d e n die Eroberer eine eingeborene Bevölkerung vor, m i t der sie sich bald langsam, bald schneller, bald n u r vereinzelt, bald allgemein vermischten. Nur in den englischen Kolonien erhielten sich die weißen Eindringlinge von Beimischung farbigen Blutes rein, aber selten von einer Vermischung mit nachfolgenden, verschiedenen S t ä m m e n angehörigen weißen Einwanderern, so daß also auch in diesem Falle eine Mischbevölkerung e n t s t a n d . W e n n aber natürliche Bande der Zusammengehörigkeit zerreißen, t r e t e n geistige B a n d e an ihre Stellen. Ü b e r e i n s t i m m u n g im Wollen setzt Gleichrichtung des Denkens voraus. Im Mittelalter unserer Geschichte ü b e r n a h m die R e l i g i o n die völkerverbindende Rolle und f ü h r t e sie so erfolgreich durch, d a ß sie sogar die natürlichen S t a m m e s v e r b ä n d e überwand. Die S p a l t u n g der Christenheit in eine römische und eine griechische Kirche blieb zwar ohne nachhaltigen Einfluß auf die völkischen S t r u k t u r v e r h ä l t n i s s e , u m so tiefgreifender wirkte dagegen der Gegensatz zwischen der christlichen und der islamitischen Welt, die beide d a n n in den Kreuzzügen z u s a m m e n p r a l l t e n . In diesen Religionsparteien verschmolzen die Völker miteinander. Zur Entwicklung der spanischen Nation, in der der Geist der Kreuzzüge am längsten wach blieb, haben die K ä m p f e mit den Mauren jedenfalls am meisten beigetragen. In der übrigen christlichen Welt v e r b l a ß t e aber allmählich der völkische Einf l u ß der Religion, in der m o h a m m e d a n i s c h e n erhielt er sich dagegen bis in die Gegenwart lebendig und beginnt erst j e t z t merklich zu schwinden. In der Türkei ist der religiöse Gegensatz entscheidend, nicht der der A b s t a m m u n g . Serbische, bulgarische und griechische M u h a m m e daner halten sich nicht zu ihren S t a m m e s b r ü d e r n sondern zu den Türken, wenn sie auch kein W o r t Türkisch sprechen. Aber die Zersetzung des 7*

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auf der Religion beruhenden Zusammengehörigkeitsgefühls schreitet rasch vorwärts, am raschesten bei den Christen. Als im J a h r e 1844 der Fürst Alexander Karageargiewitsch und sein Minister Garaschanin das unter dem Namen Natschertanige bekannte politische Zukunftsprogramm für Serbien 1 entworfen, wiegten sie sich noch in der Hoffnung, daß auch die Bulgaren dem großserbischen Reiche zufallen werden, und wenige J a h r z e h n t e genügten, um deren Nationalbewußtsein im schärfsten Gegensatz zum serbischen auszubilden. Auch in der islamitischen W e l t wird die Zersetzung immer offenkundiger. Der Aufruf des Khalifen zum heiligen Krieg im J a h r e 1915 war ein Schlag ins Wasser und hatte einen fast lächerlichen Mißerfolg. Aber man darf nicht voreilig urteilen, denn im Orient entwickelt sich alles langsamer. Manches deutet darauf hin, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl der islamitischen W e l t noch glimmt, und England scheint im Hinblick darauf den Besitz Konstantinopels oder wenigstens den maßgebenden Einfluß in dieser S t a d t als des geistigen Mittelpunktes des Mohammedanismus anzustreben. In Europa lebte die völkerverbindende Kraft der Religion noch einmal auf im Zeitalter der Reformation, aber nur selten mehr mit der alten Stärke. Seitdem h a t sie ihre Rolle als völkisches Bindemittel ausgespielt. Der Grund davon liegt darin, daß sie immer weniger als äußere Organisation in Erscheinung tritt, daß sie immer mehr ihr dogmatisches Gewand abstreift, sich immer tiefer in die innerste Seele zurückzieht. In der protestantischen Welt ist dieser Umwandlungsprozeß nahezu vollendet, in der katholischen lodert aber, dank ihrer machtvollen Organisation, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und des Gegensatzes da und dort noch kräftig auf. E s verbindet zwar nicht mehr Völker miteinander, aber es vermag noch innerhalb eines Volkes die Gleichartigkeit zu stärken oder zu schwächen. Polen hat seine Nationalität zum großen Teil durch die Verbrüderung mit dem Katholizismus aufrecht erhalten, im atheistischen Frankreich t r a t 1871 die katholische Kirche, namentlich durch den K u l t der J e a n e d'Arc, in den Dienst des Revanchegedankens; in den slavischen Ländern Österreichs hat die römische und ruthenische Geistlichkeit, besonders die niedere, geradezu die Rolle eines Totengräbers der Monarchie gespielt. Auffallend schwach erwies sich die russische Kirche, trotz ihrer gebietenden Stellung im zarischen Staatswesen und ihres Einflusses auf die bäuerliche Bevölkerung, gegenüber den Umsturzbewegungen, was auf eine weit fortgeschrittene innere Zersetzung schließen läßt. Ein völkischer Homogenitätsfaktor erster Ordnung ist die Religion 1

G. DKVAS, L a nouvelle S e r b i e , P a r i s - N a n c y

1914.

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bei keinem K u l t u r v o l k e mehr. Diese A u f g a b e ist auf die Sprache übergegangen. Auf diesem Wege e n t s t e h t vor unseren Augen in den Vereinigten S t a a t e n eine neue Nation, jedoch gestaltet sich hier der Prozeß etwas komplizierter durch E i n w a n d e r u n g f r e m d e r Farbiger und teilweise Vermischung mit den Weißen. Die Statistik der Union gibt uns wenigstens die Möglichkeit an die H a n d , die Bevölkerung dieser großen Republik in ihre anthropologische H a u p t b e s t a n d t e i l e aufzulösen. Im J a h r e 1910 zählte m a n : Weiße

81732000

Neger und Mulatten

9828000

Indianer!

266000

Chinesen

71000

.Japaner

72000

Farbige 10 2 4 0 0 0 0

3000

Andere

zusammen:

91972000

Welchen U m f a n g hier die Völkermischung angenommen hat, davon können wir uns eine Vorstellung machen, wenn m a n die amerikanische E i n w a n d e r e r s t a t i s t i k seit ihrem Beginn im J a h r e 1821 d u r c h m u s t e r t . Wir zählen nur die wichtigsten Posten auf. In dem Zeiträume 1821 bis 1912 sind eingewandert aus Großbritannien

8032000

Deutschland

5449000

Österreich-Ungarn

3515000

Italien

3430000

Europäischem Rußland

2837000

S c h w e d e n und N o r w e g e n

1 747000

Übrigen europäischen

2005000

Außereuropäischen

Staaten

Ländern

2769000 zusammen: 29784000

Man h a t die Union mit Recht den großen Schmelztiegel, genannt, in den immer wieder neue V ö l k e r t r ü m m e r hineingeworfen werden und den sie als ein neuer, anscheinend homogener K ö r p e r verlassen. Diesen Legierungsprozeß f ü h r t die englische Sprache aus, die f r ü h e r oder später den meisten fremdsprachigen Einwanderern o d y wenigstens deren Nachk o m m e n einen einheitlichen Stempel a u f d r u c k t . Die Sprache ist das Organ des Geistes, sie ü b e r m i t t e l t uns nicht n u r einen W o r t s c h a t z , sondern erfüllt uns auch mit einem G e d a n k e n i n h a l t . Deshalb ist es nicht leicht, seine M u t t e r s p r a c h e mit einer f r e m d e n zu vertauschen. Aber 1

Ohne die in den R e s e r v a t i o n s a n g e s i e d e l t e n

Rothäute.

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in Amerika wurde mit Nachdruck darauf hingearbeitet. Wer Bürger werden will, muß seiner ganzen Vergangenheit abschwören. 1 Und der Wichtigkeit der Sprache ist man sich wohl bewußt. Während des Weltkrieges verbot der Gouverneur von Jowa jeden öffentlichen Gebrauch -einer Sprache außer der englischen, und davon wurden nicht nur die Deutschen, sondern auch die Neutralen betroffen. Daß sich die Deutschen der Anglisierung am schnellsten fügen, ist eine betrübende Tatsache, und die demonstrative Selbstauflösung des über zwei Millionen Mitglieder zählenden deutschen Nationalbundes am 12. April 1918 sollte unvergessen bleiben 2 . Slaven und Magyaren halten am zähesten an ihrer Sprache fest, die Italiener sind meist nur Gäste und kehren, wenn sie genug erworben haben, wieder in ihre Heimat zurück. 3 In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts t r a t im amerikanischen Einwandererwesen eine wichtige Wendung ein: statt Engländern, Deutschen und Iren bilden jetzt Slaven, russische Juden und Italiener das Hauptkontingent; damit erleidet der nationale Amalgamisierungsprozeß eine Stockung. Das heterogenste, unverdaulichste Element sind aber die Neger, obwohl sie sprachlich ganz in dem angloamerikanischen Volkstum aufgegangen sind. Einheitliches Sprechen führt wohl zu einheitlichem Denken und endlich zu einheitlichem Wollen, aber nur unter der Voraussetzung einer g e m e i n s a m e n K u l t u r g r u n d l a g e . Hier müssen wir einen Augenblick innehalten, um uns mit dem neu aufgetauchten Moment Kultur auseinanderzusetzen. Kultur ist jedenfalls etwas, was den Menschen über seinen ursprünglichen, seinen Naturzustand hinaushebt. Aber das tut auch die Zivilisation. Es wird zweckmäßig sein, diese beiden Begriffe streng auseinanderzuhalten. Kultur betrifft den inneren, Zivilisation den äußeren Menschen. Kultur ist Geistesverfassung, die in jahrtausendjährigem Ringen sich entwickelt und, sich von Generation zu Generation übertragend, unsere Welt- und Lebensauffassung bestimmt und unserer ganzen Gedankenwelt ein einheitliches Gepräge verleiht, wenn sich auch immer nur wenige dessen voll bewußt werden. Kultur ist Lebensinhalt, Zivilisation ist Kleid, Schmuck, Werkzeug. Sie ist daher in verhältnismäßig kurzer Zeit erlernbar. Selbstverständlich ist auch sie dem Gesetze der Entwicklung 1

Die imNaturalisationsgesetzvorgeschriebene Eidesformel lautet: ,,to renounce for ever all allegience and fidelity to a n y foreign prince or state and particularely to the one of which he m a y be at the time a citizen or subject." 2 Dagegen soll aber auch nicht vergessen werden, daß die deutschamerikanischen Frauen durch eine umfassende Hilfstätigkeit während des Krieges und nachher ihre lebendige Anhänglichkeit an ihr Stammland vielfach bezeugt haben. 3 A. PENCK, U.S.-Amerika, Stuttgart 1917, S. 27.

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unterworfen, unzählige Grade der Vervollkommnung sind v o r h a n d e n u n d denkbar, aber sie bleibt immer am Äußeren kleben, wenn sie auch im Laufe langer Zeiträume zur K u l t u r f ü h r e n k a n n . Am wichtigsten f ü r uns ist die Tatsache, d a ß , w ä h r e n d die europäische Zivilisation f a s t alle anderen Zivilisationen v e r d r ä n g t h a t , noch heute drei bis vier K u l t u r kreise: ein a b e n d l ä n d i s c h e r , den wir auch in zwei Kulturkreise, einen c h r i s t l i c h e n und einen i s l a m i t i s c h e n , auflösen können, ein i n d i s c h e r und ein c h i n e s i s c h e r , von dem sich der j a p a n i s c h e abzuzweigen beginnt, f r e m d einander gegenüberstehen, wie ihnen allen der Kreis der U n k u l t u r , der auch die primitiven und H a l b k u l t u r e n einschließt. Ob sie jemals zusammenfließen werden, oder ob dies n u r ein T r a u m ist, wie der vom Paradies, ist eine Frage, mit der sich die politische Geographie nicht zu beschäftigen h a t ; f ü r uns ist n u r die T a t sache wichtig, d a ß innerhalb jedes Kulturkreises durch politische Vereinigung Nationen entstehen können, d a ß aber kein Fall b e k a n n t ist, d a ß zwei Kulturkreise in einer streng einheitlichen Nation miteinander verschmolzen. K u l t u r k a n n wohl U n k u l t u r aufsaugen, das zeigt das romanische Amerika, aber, soweit unsere E r f a h r u n g reicht, nicht eine Vollkultur eine andere. D a r a n wird einst das britische Weltreich zugrunde gehen, wie einst das römische seine Einheit nicht bewahren konnte, und deshalb s t r ä u b e n sich die Vereinigten S t a a t e n mit g u t e m G r u n d e gegen die gelbe Einwanderung, die ihnen noch gefährlicher werden würde, als ihre Neger und M u l a t t e n . Die Vereinigten S t a a t e n sind uns ein Beispiel, d a ß S p r a c h e i n h e i t ' noch nicht genügt, eine Nation ins Leben zu rufen. Im Sinne unserer Definition sagen w i r , die Union werde von einem Volke englischer N a t i o n a l i t ä t bewohnt. Das gilt f ü r ganz Amerika, wenn auch in den romanischen S t a a t e n die Kulturgegensätze zwischen Weißen u n d Farbigen nicht so grell sind, wie im nördlichen Festland. Peru wird also z. B. von einem Volke spanischer N a t i o n a l i t ä t , Brasilien von einem Volke portugiesischer N a t i o n a l i t ä t bewohnt. In E u r o p a h a t der Begriff N a t i o n a l i t ä t einen etwas abweichenden Inhalt. Man k ö n n t e hier besser von u n p o l i t i s c h e n N a t i o n e n sprechen, denn sie sind Sprach- u n d K u l t u r g e m e i n s c h a f t e n , denen die politische Einigkeit und Selbständigkeit fehlt. Sie sind entweder in verschiedene S t a a t e n zersplittert oder leben sogar ganz oder teilweise u n t e r f r e m d e r Herrschaft. Die Griechen waren im A l t e r t u m , die Italiener im Mittelalter und in der Neuzeit bis 1861 solche unpolitische Nationen. Piemontesen, Toskaner, Römer, Neapolitaner und dgl. waren nicht Bezeichnungen f ü r Nationen, sondern f ü r Völker italienischer N a t i o n a l i t ä t . Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist es zu empfehlen, a n der j e t z t

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D i e völkische Struktur der Staaten.

ziemlich allgemein eingebürgerten und Nationalität festzuhalten.

Unterscheidung von Volk, Nation

Homogenitätsfaktoren zweiter Ordnung sind gewisse allgemein verbreitete Gedankengänge und Gefühle, die zu den genannten Faktoren hinzutreten und sie unterstützen, ja in manchen Fällen sogar in erster Linie staatserhaltend wirken, häufig aber gänzlich fehlen oder nur zeitweise und unter besonderen Umständen aktiv hervortreten können. Streng genommen könnte man schon die Religion dazu rechnen, da sie in der T a t schon in vielen Staaten ihre einigende K r a f t eingebüßt hat. Einen großen völkischen Einfluß schreiht m a n der p o l i t i s c h e n I d e e zu; R A T Z E L spricht wiederholt davon, aber ohne klipp und klar zu sagen, was m a n d a r u n t e r zu verstehen habe. In den primitivsten staatlichen Gebilden, den demokratischen Gemeinwesen, die VIERKANDT1 als die Keimform des Staates bezeichnet, und die sich nur auf einen S t a m m beschränkten und höchstens über ein paar Dörfer ausdehnten, war es leicht, ein lebendiges Gefühl der Zusammengehörigkeit wachzuerhalten, das die politische Idee vertrat. Das gleiche w a r der Fall unter ganz anderen Kulturverhältnissen in den hochentwickelten S t a d t s t a a t e n des klassischen Altert u m s und auch noch in den freien Städten des Mittelalters. Nirgends war der politische Geist so rege, der Patriotismus tiefer eingewurzelt, als in den kleinen Republiken des alten Griechenlands oder in Rom. Wenn sich aber die Grenzen erweitern, der Blick nicht mehr am einzelnen haften kann, keine Familienbande mehr die Bürger miteinander verknüpfen, d a m u ß die politische Idee einen anderen Inhalt annehmen. Es ist zweckmäßiger, den Begriff der politischen Idee zu spalten und den S t a a t s g e d a n k e n als eine niedere Entwicklungsstufe davon abzutrennen. Das Leben der Staaten spiegelt sich im Leben des Einzelnen wieder. Hier wie dort wird es ausgefüllt von Existenzsorgen und zugleich beherrscht vom Erwerbssinn, der aber meist nur auf die Ausbeutung günstiger Gelegenheiten gerichtet ist. Eine höhere Form des Lebens ist es, wenn über Existenzsorgen und Erwerbssinn nicht das Bedürfnis und die Gunst des Augenblicks gebieten, sondern wenn sie einem bestimmten Plan untergeordnet werden. Im Leben der Staaten spricht man dann von einem S t a a t s g e d a n k e n . Es hat wohl Staaten gegeben, die ebenso wie die Kinder sorgen- und gedankenlos in den Tag hinein lebten, aber die Regel ist dies nicht. Jedoch erlangt der Staatsgedanke nicht 1

S t a a t und G e s e l l s c h a f t in der G e g e n w a r t .

L e i p z i g 1916, S. 11.

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immer völkische K r a f t , meist ist er nur das E i g e n t u m Weniger, nicht Allgemeingut, und lenkt so das Volksbewußtsein in eine b e s t i m m t e Richtung. Dazu k o m m t noch, d a ß der S t a a t s g e d a n k e , wenn er auch Wohl und Stärke des Staates als Endziel stets im Auge behält, sich doch den wechselnden U m s t ä n d e n anpassen muß, und d a ß das Volk, das nicht das Getriebe des zwischenstaatlichen Lebens überblicken k a n n , nicht zu folgen vermag. Die Presse k ö n n t e diesem Übelstand einigermaßen abhelfen, wenn sie ausreichend u n t e r r i c h t e t und ihr Urteil nicht durch Parteiinteresse g e t r ü b t wäre. Die Geschichte Deutschlands seit 1870 gibt ein betrübendes Zeugnis d a f ü r , wie schwer es einem schon an sich nicht politisch v e r a n l a g t e m Volke wird, einen S t a a t s g e d a n k e n zu erfassen oder gar sich ihn zueigen zu machen. In der BisMARCKSchen Periode f ü h l t e sich der Deutsche wohlbehütet u n t e r den Fittichen des gewaltigen Kanzlers, blieb wie immer fleißig im kleinen, wurde aber denkfaul im Großen. Die Politik war klar und einfach, sie war u n v e r w a n d t darauf gerichtet, d a s durch seine geographische Lage gefährdete Reich gegen einen drohenden Zusammenschluß der Feinde in W und 0 zu schützen und i h m den R ü c k e n zu decken. Neue Anläufe, der Schutzzoll 1879 und die E r w e r b u n g der Kolonien 1885, stießen schon auf Verständnislosigkeit und Widerwillen, m a n f ü h l t e sich instinktiv aus der spießbürgerlichen Behaglichkeit hinaus- und in neue Bahnen hineingedrängt. Als d a n n nach BISMARCKS Sturze (1890) der neue S t a a t s g e d a n k e , der Deutschland aus der europäischen Enge und seiner eingeklemmten Lage in die freie, weite Welt hinausführen wollte, neue Perspektiven eröffnete, war das in häuslichen Zänkereien aufgehende deutsche Volk noch weniger fähig, ihn zu erfassen. Zum Teil w u r d e es wohl auch m a n c h m a l durch seltsame Seitensprünge der kaiserlichen Politik kopfscheu gemacht, im großen und ganzen war aber durch die Kaiserworte: „Unsere Z u k u n f t liegt auf dem W a s s e r " (1898) u n d „ Ü b e r den Balkan geht der einzige Landweg Deutschlands in die W e l t " (1909) das Ziel deutlich gewiesen. Ein völkischer H o m o g e n i t ä t s f a k t o r von gewaltiger S t ä r k e entwächst aber dem S t a a t s g e d a n k e n n u r dann, wenn er sich J a h r h u n d e r t e gleich bleibt und sich so fest in der Seele des Volkes v e r a n k e r t , d a ß ihn eine Generation der anderen v e r e r b t . Das ist säkularer S t a a t s g e d a n k e , die p o l i t i s c h e I d e e . Nicht alle Völker sind einer solchen Idee fähig. Stetigkeit der Politik ist die erste Voraussetzung. Das Leitmotiv der russischen Politik war seit Peter d. Gr. die Befreiung aus der kontinentalen Gefangenschaft, die Gewinnung einer eisfreien Meeresküste. Aber stetig w a r sie t r o t z d e m nicht, sie rüttelte bald an dieser, bald an jener T ü r ihres Gefängnisses und verwirrte dadurch das Volk, das schon aus religiösen G r ü n d e n n u r

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an dem Ausweg über K o n s t a n t i n o p e l festhielt. Ganz im Banne ihrer politischen Idee stehen die E n g l ä n d e r und die Franzosen, und der Weltkrieg h a t gezeigt, welch eine ungeheure moralische K r a f t einer solchen Idee innewohnt. Der E n g l ä n d e r f ü h l t sich als der von Gott berufene Herr der Welt. Die geographische Lage seines Inselreiches und seine geschichtliche E n t w i c k l u n g im K a m p f e mit Spaniern, Holländern und Franzosen h ä t t e n ihm schon diesen Glauben a u f d r ä n g e n müssen, aber der Calvinismus h a t ihn erst vertieft, indem er ihm eine religiöse Weihe verlieh. So ist diese Idee ein N a t i o n a l d o g m a geworden, das Hoch und Nieder d u r c h d r i n g t . Es f i n d e t seinen drastischen Ausdruck in dem bek a n n t e n S a t z e : right or wrong — m y country, der freilich einer doppelten Auslegung fähig ist. E r k a n n sagen: Ob mein Land mit Recht oder Unrecht Schaden erleidet, wir müssen zu ihm halten, und in diesem Sinne müssen wir alle uns dazu bekennen — oder: ob mein Land mit rechten oder unrechten Mitteln Vorteil gewinnt, k a n n uns gleichgültig sein — und das ist unzweifelhaft auch die dem echten Engländer in bezug auf Politik und Geschäft geläufigste Auffassung. Auch die moderne internationale Sozialistenbewegung h a t bisher vergebens dagegen a n g e k ä m p f t . Die englischen Arbeiter „ f ü h l t e n sich A r m in Arm mit ihrer Kapitalistenklasse als die herrschende Klasse der W e l t " . 1 Nicht minder tief wurzelt in der Seele Frankreichs sein auf die E r i n n e r u n g e n an die Karolingische Monarchie g e g r ü n d e t e r A n s p r u c h auf die V o r h e r r s c h a f t im festländischen E u r o p a (la p r é p o n d é r a n c e l é g i t i m e de la France). Napoleon III. n a h m ihn wieder auf, als er sich durch P r e u ß e n z u r ü c k g e d r ä n g t v e r m e i n t e ; er gebar zwei entsetzliche Kriege, den von 1870 als R e v a n c h e f ü r Sadowa, das die französische Eitelkeit g e k r ä n k t h a t t e , und den Weltkrieg als Revanche f ü r Sedan. 2 In keinem Volke ist d a s N a t i o n a l g e f ü h l so lebendig, wie im französischen. „ E i n w a h r e r Nationalist stellt das V a t e r l a n d über alles, b e h a n d e l t alles, löst alle schwebenden Fragen nur in ihrem Zus a m m e n h a n g e mit dem N a t i o n a l i n t e r e s s e " . 3 Die Schweiz bietet ein Beispiel anderer Art. Im Bewußtsein der Schwierigkeit ihrer politischen Lage h a t sie auf alle ä u ß e r e M a c h t e n t f a l t u n g verzichtet und d a f ü r die A n e r k e n n u n g ihrer N e u t r a l i t ä t eingetauscht. Das ist die Grundlage ihrer politischen Existenz, iind dieser Gedanke h a t sich nicht erst seit 1815, sondern schon seit J a h r h u n d e r t e n tief in die Volksseele eingesenkt. Die politische Idee ist hier im Geschichtsbewußtsein v e r a n k e r t . Ob sich die MoNROE-Doktrin (1823) als politische Idee der Vereinigten S t a a t e n ' P. LENSCH, Drei Jahre W e l t r e v o l u t i o n .

Berlin 1898, S. 106.

2

HERMANN MEYER, Frankreichs K a m p f u m die M a c h t der W e l t .

3

CH, MAURRAS, E n q u ê t e sur la m o n a r c h i e ,

1918. Paris 1914, S. 459.

Tübingen

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wird erhalten können, ist fraglich, d a diese mit ihrer Teilnahme am Weltkrieg und dem famosen-WILSON sehen V ö l k e r b u n d ganz neue politische B a h n e n b e t r e t e n haben. Schon die politische Idee bleibt nicht reine Verstandessache, sondern k a n n sich vielfach mit anderen Gefühlen verquicken und a n ihnen erw ä r m e n . N u r Gefühl ist die d y n a s t i s c h e T r e u e in alten Monarchien. Solch ein u n m i t t e l b a r e s Sicheinsfühlen mit dem Geschick des Herrschers k ö n n t e u n t e r U m s t ä n d e n ein mächtiges Hilfsmittel f ü r den inneren Zus a m m e n h a l t des Staates werden. Freilich bedarf es, um sich in gleichmäßiger Frische zu erhalten, der sinnlichen U n t e r s t ü t z u n g durch häufige B e r ü h r u n g mit dem Herrscher und dessen Familie; in großen Staaten, abseits von der Residenz und in den u n t e r e n Schichten der Bevölkerung, läuft es Gefahr, allmählich zu verblassen. Es h ä n g t ' n a t ü r l i c h auch von den F ü r s t e n selbst ab, ob sie es verstehen, sich die Liebe ihrer Völker zu erhalten. In Österreich und Preußen w a r dieses Gefühl besonders lebendig. BISMARCK legte noch großes Gewicht auf dieses Imponderabile; er war überzeugt, daß, sobald Kaiser FRANZ JOSEF ZU Pferde steige, seine Völker ihm folgen w ü r d e n . U n d in der T a t schien das dynastische Gefühl im deutschen und ungarischen Österreich und in D e u t s c h l a n d unerschütterlich zu sein. Da k a m der Revolutionssturm im H e r b s t 1918, und in wenigen Tagen waren alle Herrscherhäuser wie weggeblasen, wie im V o r j a h r e schon das russische. Gefühle sind doch ein zu unsicheres F u n d a m e n t eines Staatsbaues, jedenfalls das dynastische, wie auch schon alle Revolutionen der älteren Zeit gelehrt haben. Mehr Vertrauen darf m a n der V a t e r l a n d s l i e b e oder dem p a t r i o t i s c h e n Gefühl entgegenbringen, obwohl es tatsächlich j ü n g e r ist, als das dynastische Gefühl und a b s t r a k t e r e N a t u r zu sein scheint. Es klingt jedenfalls überraschend, wenn 0 . SCHRÄDER 1 nachweist, d a ß in dem politisch zerrissenen Deutschland noch bis zur zweiten H ä l f t e des 18. J a h r h u n d e r t s der Begriff Vaterland den meisten u n k l a r und viel u m s t r i t t e n war, ja, daß sogar Friedrich d. Gr. die Vaterlandsliebe ausdrücklich n u r äuf das Volk, nicht auf das Land bezog. In Wirklichkeit bezieht sie sich auf beides. Ein Land mit scharf ausgeprägten Bodenformen oder deutlichen natürlichen Grenzen m a c h t auf das G e m ü t der Bewohner den tiefsten E i n d r u c k , daher die Heimatliebe der Gebirgler. Das Flachland mit seinem weiten Horizont oder die Meeresküste k ö n n e n nicht minder tief auf das G e m ü t einwirken. Große F r u c h t b a r k e i t hält den Menschen a m Boden fest, D ü r f t i g k e i t k a n n die Bande zwischen Land und Leuten lockern oder gar lösen. Aber immer 1

Bismarck-Gedächtnisrede, Breslau 1915.

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D i e völkische Struktur der Staaten.

ist das völkische Element mit im Spiele, vorausgesetzt, d a ß nicht eine schroffe T r e n n u n g in K a s t e n oder Ständen das Gefühl der völkischen Zusammengehörigkeit völlig erstickt hat. Erst im vorigen J a h r h u n d e r t , als sich diese gesellschaftlichen Gegensätze milderten, k o n n t e n sich Staatsgedanke und Nationalgefühl mächtig entwickeln. Und dieses Gefühl bezieht sich nicht n u r auf die Gegenwart, sondern reicht auch in Vergangenheit und Z u k u n f t hinein. Ein gemeinsames Los v e r k n ü p f t die entschlafene, die lebende und die heranwachsende Generation. KJELLEN h a t dieses Zusammengehörigkeitsgefühl L o y a l i t ä t g e n a n n t , a b e r auch er m u ß zugeben, d a ß es sich selten zu einer s t a a t s e r h a l t e n d e n K r a f t steigert. Der einzige S t a a t , wo sie sich, wenigstens bisher, als eine solche bewährt h a t , ist die Schweiz. Der nationale Aufsaugungsprozeß. Alle s t a a t e n b i l d e n d e n Völker der Gegenwart und der Vergangenheit sind, wie gesagt, eine Mischung ungleichartiger Elemente, die sich schichtenweise übereinander lagern und selbst innerhalb einer fertigen Nation sich zum Teil heute noch erkennen lassen, wie z. B. das keltische, romanische und germanische Element bei den Franzosen. Dasjenige Element, das an Zahl, Macht oder K u l t u r alle anderen überragt, nennen wir das N a t i o n a l e l e m e n t , weil es schließlich den Charakter der Nation b e s t i m m t . Alle anderen sollen F r e m d e l e m e n t e heißen, nicht als ob sie sich erst s p ä t e r dem Nationalelemente zugesellt h ä t t e n , sondern lediglich wegen ihres Gegensatzes zu diesem. Ihm erliegen sie im Laufe der Zeit, geben die wichtigsten Bestandteile ihrer Eigenart auf, werden a u f g e s o g e n . Dieser Prozeß vollzieht sich nicht überall und nicht immer in gleicher Weise, und gerade darin wurzeln viele der wichtigsten politischen P r o b l e m e , die unsere Zeit bewegen und denen die Z u k u n f t gehört. Vorausgeschickt m u ß werden, d a ß in einem zu einer N a t i o n heranreifenden Volke das Nationalelement zwar in der Regel das herrschende ist, es aber nicht zu sein b r a u c h t . Die germanischen Völker, die sich auf dem Boden des römischen Reiches ansiedelten, erlagen t r o t z ihrer Machtstellung der höheren K u l t u r der Unterworfenen, gaben ihre Eigenart auf, zuletzt auch den arianischen Glauben, und wurden zugleich katholisiert und romanisiert. Der Aufsaugungsprozeß k a n n natürlich durch den D r u c k des Nationalelementes gesteigert und beschleunigt werden, namentlich d a d u r c h , daß m a n d e m Fremdelement politische oder wirtschaftliche Vorteile versagt oder gewährt, aber er k a n n sich auch ohne solche künstliche Unters t ü t z u n g im Laufe der Zeit vollziehen, vorausgesetzt, d a ß an der s t a a t lichen Grundlage nicht gerüttelt wird. Denn Entnationalisierung von

D i e volkische S t r u k t u r d e r S t a a t e n .

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F r e m d e l e m e n t e n findet immer nur innerhalb eines S t a a t e s s t a t t oder wird wenigstens a n g e b a h n t . Die italienische N a t i o n a l i t ä t e n t f a l t e t e sich freilich erst, als Italien politisch schon zerfallen war, aber das feste F u n d a m e n t w a r bereits im römischen Reich gelegt worden. In der Regel werden zuerst die oberen und gebildeten Schichten des F r e m d e l e m e n t e s von der Entnationalisierung erfaßt, und d a n n dringt dieser U m w a n d l u n g s vorgang allmählich und meist mit a b n e h m e n d e r Geschwindigkeit in die mittleren und unteren Volksschichten ein. Veränderungen der siegreichen Sprache gehen damit H a n d in H a n d . Wie lange es w ä h r t , daß das F r e m d e l e m e n t völlig dem Nationalelement einverleibt ist, hängt von verschiedenen Bedingungen a b ; in erster Linie von seiner A u f n a h m e - und A n p a s s u n g s f ä h i g k e i t . D a ß diese sehr verschieden ist, ist eine unwiderlegliche T a t s a c h e ; worin diese aber begründet ist, m u ß dahin gestellt bleiben. Es mögen sich in jedem einzelnen Falle wohl Gründe finden lassen, aber irgendeine Gesetzmäßigkeit wird sich schwerlich nachweisen lassen. Daß der Franzose fest und a u f r e c h t steht, k a n n nicht w u n d e r n e h m e n , denn er ist das P r o d u k t einer glorreichen Vergangenheit, aber wie k o m m t es, d a ß ihm der Pole im Nationalstolze nur wenig n a c h s t e h t ? U n t e r den europäischen Nationalitäten ist die englische ebenso unleugbar die steifste wie die deutsche die biegsamste. Und doch sind beide germanischen S t a m m e s . Auch da liefert die Geschichte keine erschöpfende Erklärung. Der Deutsche w a r schon zur Römerzeit fremden Einflüssen sehr zugänglich. Es ist bezeichnend, d a ß Deutschland die H e i m a t des Kosmopolitismus und der Internationale ist. Die A u f n a h m e - und Anpassungsfähigkeit ä n d e r t sich bei Völkern, wie bei dem Einzelnen, mit dem A l t e r , aber auch bei verschiedenen in verschiedener Weise. Kinder sind immer biegsam, es h a n d e l t sich aber d a r u m , wie lange die Kindheit d a u e r t . Entscheidend ist, in welchem Stadium, ob in dem der Unmündigkeit, des Mündigwerdens oder der Selbstbestimmung das Fremdelement dem nationalen Aufsaugungsprozeß anheimfällt. Das ist ein P u n k t von besonderer Wichtigkeit, und viele Erscheinungen der politischen Geschichte und Geographie k ö n n e n nur aus diesem Gesichtspunkt eine E r k l ä r u n g finden. W i r werden s p ä t e r noch wiederholt darauf zu sprechen k o m m e n . Mächtig gefördert wird der Aufsaugungsprozeß, wenn die E l e m e n t e sich m i s c h e n , besonders dann, wenn die Mütter d-em Nationalelement angehören. E r f a h r u n g s g e m ä ß ist der weibliche Teil im höheren Grade der Träger der Erblichkeit, als der männliche. Daß eine kleinere Z a h l f r ü h e r aufgesogen wird als eine große, liegt auf der H a n d . Auch die V e r t e i l u n g des Fremdelementes spielt eine

110

Die völkische S t r u k t u r der Staaten.

wichtige Rolle. Zerstreutes V o r k o m m e n begünstigt die nationale Zersetzung, Z u s a m m e n w o h n e n in größeren G r u p p e n erschwert sie. Darauf ist es wohl z u m großen Teil z u r ü c k z u f ü h r e n , d a ß die deutschen Kolonisten in Südbrasilien ihre Eigenart b e w a h r t haben, w ä h r e n d in den Vereinigten S t a a t e n die Anglisierung oft in wenigen J a h r z e h n t e n vollendet ist. Einteilung der Staaten nach der völkischen Struktur. Die Zweiteilung in g l e i c h a r t i g e ( h o m o g e n e ) u n d ~ u n g l e i c h a r t i g e ( h e t e r o g e n e ) ergibt sich aus unseren bisherigen E r ö r t e r u n g e n von selbst. E s ist selbstverständlich, d a ß m a n diese Ausdrücke nicht auf die Gesamtheit der völkischen S t r u k t u r beziehen darf. Ein Volk k a n n gleichsprachlich sein, aber aus verschiedenen Religionsgenossenschaften bestehen oder u m g e k e h r t , es genügt, wenn n u r eines der o b e n g e n a n n t e n Homogenitätselemente in s o l c h e r S t ä r k e v o r h a n d e n i s t , d a ß e s d a s Z u s a m m e n g e h ö r i g k e i t s g e f ü h l d e s V o l k e s b e s t i m m t . Ist dies nicht der Fall, so ist immer Ungleichartigkeit die Folge. E s können auch m a n c h e willkürliche Einrichtungen die W i r k u n g eines oder mehrerer H o m o g e n i t ä t s e l e m e n t e völlig u n t e r b i n d e n u n d nicht bloß einen bestehenden S t a a t dem U n t e r g a n g e z u f ü h r e n , sondern ü b e r h a u p t Staatsbildung verhindern. So m ü ß t e z. B. jedes politische Selbständigkeitsstreben des indischen Volkes an dem Kastenwesen scheitern, auch wenn sonst die völkische S t r u k t u r gleichartig wäre. W e n n wir die Sprache als den wichtigsten H o m o g e n i t ä t s f a k t o r b e t r a c h t e n und darauf die Einteilung der S t a a t e n nach der völkischen S t r u k t u r gründen, so bedarf das nach dem oben Gesagten keiner weiteren Begründung. Gleichartig nennen wir einen S t a a t vor allem d a n n , wenn er von einem g l e i c h s p r a c h i g e n Volke b e w o h n t wird. U n d d a wir nur auf ein solches die Bezeichnung N a t i o n beschränken, so können wir einen einsprachigen S t a a t a u c h einen N a t i o n a l s t a a t nennen. Es m u ß aber darauf a u f m e r k s a m gemacht werden, d a ß m a n m i t u n t e r d a m i t auch einen rein politischen Begriff v e r b i n d e t , der n u r der neuesten Geschichte a n g e h ö r t . 1 In diesem Sinne heißt so derjenige. S t a a t , in dem das ganze Volk, gleichgültig, ob es einem oder verschiedenen S p r a c h s t ä m m e n angehört, an dem Staatsleben, an Verfassung und Verwaltung, tätigen Anteil n i m m t . 1 Nach V I E R K A N D T S Terminologie bildet er den Gegensatz zum Eroberer- und Klassenstaat. N a c h dieser rein politischen u n d daher den Geographen nicht weiter b e r ü h r e n d e n Auffassung v e r ä n d e r t natürlich auch der Begriff N a t i o n seinen Inhalt. V e r w a n d t d a m i t sind jene Auffassungen, denen N a t i o n in erster Linie 1

VlERKANDT, Zit. S. 104.

Die völkische Struktur der Staaten.

111

kein politischer, sondern ein Kulturbegriff ist. Die sich zu dieser Ansicht bekennen, k ö n n e n sogar v o n einem gemischtsprachigen Volk als einer politischen N a t i o n sprechen. 1 Vom philosophischen u n d geschichtlichen S t a n d p u n k t ließe sich d a r ü b e r streiten, die politische Geographie m u ß aber diese irreführenden Terminologien entschieden ablehnen. Der N a m e T e r r i t o r i a l s t a a t will besagen, d a ß hier das einigende Moment nicht im Volke, sondern im Lande liegt. Legt m a n den Nachd r u c k auf die völkische Ungleichartigkeit, so k a n n m a n den Territorials t a a t auch N a t i o n a l i t ä t e n s t a a t nennen. Neben den beiden g e n a n n t e n Arten gibt es noch eine dritte, der P s e u d o n a t i o n a l s t a a t , eine, wie wir seilen werden, weit v e r b r e i t e t e Zwischenform. Sie h a t ungleichartige S t r u k t u r , a b e r aus den verschiedenartigen Völkern, die den S t a a t bewohnen, ragt eines so sehr an Macht hervor, d a ß d a d u r c h der S c h e i n einer gleichartigen S t r u k t u r erweckt wird. Die f ü h r e n d e N a t i o n a l i t ä t n e n n t man auch die S t a a t s n a t i o n . Territorialstaaten. Wahrscheinlich gehörten in alten Zeiten alle vollentwickelten S t a a t e n dieser Klasse an, und zum zweiten Male erreichte ihre Zahl einen H ö h e p u n k t in der Periode des neuzeitlichen Absolutismus. Sie entsprechen d u r c h a u s der alleinherrschenden Territorialpolitik. Mit dem allmählichen Übergang zur Nationalpolitik ist die reine Territorialform dem U n t e r g a n g e geweiht. Schon a m Beginn des 20. J a h r h u n d e r t s konnten ihr von 19 Groß- und M i t t e l s t a a t e n Europas n u r mehr 4 zugerechnet w e r d e n : Österreich-Ungarn, die Türkei, Belgien und die Schweiz. Österreich war das typischste Beispiel eines Territorialstaates. Das t r i t t am grellsten hervor, wenn wir die Relativzahlen der N a t i o n a l i t ä t e n f ü r die G e s a m t m o n a r c h i e nach der Z ä h l u n g von 1910 ins Auge fassen. Auf Tausend entfallen:

Deutsche Magyaren Tschechen und Verwandte . . Polen Ruthenen Kroaten und Serben . . . . Slowenen Rumänen Italiener (und Ladiner) . . .. . Andere und nicht gezahlt

Österreich

Ungarn

Bosnien

348 3 222 174 123 28 44 10 26 22

97 481 97 2 23 141 4 141 2 12

12 4 4 6 4 960 2

1 R. S I E G E R , Zur politisch-geographischen Terminologie. Ges. f. Erdkunde. 1917, S. 497.



1 7

Gesamtmonarchie 234 198 165 99 77 107 26 62 16 16

Ztschr. d. Berliner

112

D i e völkische Struktur der Staaten.

Von den neun H a u p t n a t i o n e n , die hier wohnen, ist die s t ä r k s t e nur mit 23 v. H. vertreten. D a ß u n t e r diesen U m s t ä n d e n gerade das, was ein Volk s t a r k m a c h t , nämlich ein kräftiger Staatswille, nur schwer z u s t a n d e k o m m t , liegt auf der H a n d . Es wäre in f r ü h e r e n Zeiten vielleicht möglich gewesen, diesen heterogenen Z u s t a n d , wenn a u c h nicht aufzuheben, so doch zu mildern. Schon das römische Reich h a t den W e g dazu gezeigt. Durch italische Kolonisten w u r d e überall, wenigstens im W e s t e n , unter den unterworfenen F r e m d v ö l k e r n die lateinische Sprache verbreitet, u n d wie erfolgreich dieser Romanisierungsprozeß war, ist ja b e k a n n t . Ebenso haben im Mittelalter die Deutschen die slawischen Grenzländer germanisiert. D u r c h einen ähnlichen Vorgang e n t s t a n d z. B. aus verschiedenen völkischen B r u c h s t ü c k e n die englische Nation, u n d wir haben schon oben e r w ä h n t , d a ß die Vereinigten S t a a t e n einer ähnlichen U m w a n d l u n g entgegengehen. W a r u m h ä t t e das nicht auch in dem österreichischen K a i s e r s t a a t gelingen k ö n n e n ? In der T a t gab es eine Zeit, in der man etwas Ähnliches .erwarten konnte. Den Kern dieser werdenden S t a a t s n a t i o n bildete die B e a m t e n s c h a f t , die, wenn a u c h vielfach slavischen Ursprunges, schon im D e u t s c h t u m a u f gegangen war. Da eine einheitliche Staatssprache, nämlich die deutsche, bestand, und auch die Schulen deutsch waren, so d u r f t e man hoffen, der G e s a m t b e v ö l k e r u n g allmählich einen h o m o g e n e m C h a r a k t e r zu verleihen. D a ß diesen E r w a r t u n g e n nicht entsprochen w u r d e , erklärt sich aus folgenden Mißständen. Erstens w a r die deutsche Nation an Zahl den anderen nicht erheblich überlegen. Zweitens b e a n s p r u c h t e n die Italiener kulturell eine Gleichstellung mit den Deutschen, w ä h r e n d sich Magyaren, Tschechen und Polen auf ihre reiche geschichtliche Vergangenheit' als N a t i o n a l s t a a t e n beriefen. Endlich ist die geographische Lage höchst unglücklich, indem von den neun Nationen sieben über die Grenzen hinausgreifen und jenseits derselben ihren nationalen und politischen S c h w e r p u n k t suchen. Sie befanden sich also schon in einem vorgeschrittenen Stadium des Mündigwerdens, nur bei den Slowenen h ä t t e aber die Germanisierung noch F u ß fassen können. Das sind schwerwiegende völkische S t r u k t u r f e h l e r , die mit voller W u c h t aber erst z u r Geltung kamen, als 1866 die Monarchie durch den Ausschluß aus Deutschland entwurzelt w u r d e und u n m i t t e l b a r darauf in eine österreichische und eine ungarische H ä l f t e zerfiel, die in ihrem innern Leben völlig u n a b h ä n g i g voneinander wurden. N u n h a t t e n die Deutsch-Österreicher ihren R ü c k h a l t im Reiche verloren und waren dem A n s t u r m der anderen N a t i o n a l i t ä t e n um so mehr ausgesetzt, als die Regierung ihre alte Methode, die Völker gegeneinander auszuspielen, mit steigender Raffiniertheit a n w a n d t e . Die N a t i o n a l i t ä t e n fn einem Z u s t a n d e „ w o h l t e m p e -

113

Die völkische Struktur der Staaten.

rierter Unzufriedenheit" zu erhalten, galt als der Staatsweisheit höchstes Ziel. Und da zeigt sich wieder die entscheidende Wichtigkeit der völkischen S t r u k t u r ; Die pseudonationale ungarische Reichshälfte gewann ohne Mühe das Übergewicht über die rein territoriale österreichische Hälfte. Freilich, auch der Pseudonationalismus ist schwach, und daher zerstob der ungarische S t a a t in der Katastrophe von 1918 ebenso wie das heterogene Österreich, während das homogene Deutsche Reich wenigstens nicht ganz aus den Fugen ging. Trotzdem war aber das Österreich vor 1866 kein wahllos zusammengewürfelter Länderhaufen, sondern im Sinne der Territorialpolitik ein wohlgefügter S t a a t , dessen Hauptteile durch einen großen Strom miteinander verknüpft waren (vgl. S. 93), von dem einzigen Strome, der aus dem Herzen Mitteleuropas nach dem Orient führt. Noch jetzt, nachdem das Donaureich untergegangen ist, halten manche an dem Gedanken fest, die Trümmer jenes Reiches wieder in irgendeiner Formel politisch zu verbinden. Aber auch seine geopolitische Aufgabe hat die habsburgische Monarchie nicht gelöst. Die große Wasserstraße wurde nur höchst unvollständig ausgebaut und ausgenützt, und die Politik lenkte in Bahnen ein, die einer vernünftigen Territorialpolitik schnurstraks entgegenliefen. In NO und S W griff das Kaiserreich über seine natürlichen Grenzwälle, die Karpathen und die Alpen, hinaus und gliederte sich in Galizien, der Bukowina, in der Lombardei und in Venetien weite Gebiete an, die dem Donaustaate absolut fremd waren. J a , noch während des Weltkrieges scheint man derartige widersinnige Annexionsgedanken verfolgt zu haben, wenigstens deutet das Projekt einer „austropolnischen Lösung" der polnischen Frage darauf hin. Das völkische Bild der T ü r k e i war noch bunter als das Österreichs, aber trotzdem war sie weniger heterogen. Bis in das 19. J a h r h u n d e r t war hier nicht die Nationalität, sondern die Religion ausschlaggebend. Die ganze Bevölkerung schied sich in zwei Klassen: die herrschenden mohammedanischen Osmanen, zu denen sich auch alle nichttürkischen Anhänger des Islams rechnen (vgl. S. 9 9 ) , und die unterworfene christliche R a j a h . Seit der mißglückten Türkenbelagerung Wiens im J a h r e 1693 begann der langsam, aber stetig fortschreitende Rückbildungsprpzeß des osmanischen Erobererreiches, ergriff anfangs des 19. J a h r hunderts auch die Balkanhalbinsel, und 1912 waren da alle christlichen Völker befreit. W a s übrig blieb, war durch das Bekenntnis nahezu homogen; auch die noch offene Wunde, das christliche Armenien, war nicht unbedingt lebensgefährlich. Aber die islamitische Masse verlor ihre gleichartige S t r u k t u r , der alte durch den Kalifenmantel kaum verdeckte nationale Gegensatz zwischen Türken und Arabern verschärfte Supan,

Leitlinien.

2. Aulf.

8

Die völkische Struktur der Staaten.

114

sich immer mehr, und mit seiner Hilfe gelang es den E n g l ä n d e r n , zwischen die europäisch-anatolische und die syrisch-arabische H ä l f t e einen Keil einzutreiben. Die Türkei ist schließlich also doch auch seiner völkischen Heterogenität zum Opfer gefallen. Auch an den beiden kleinen Territorialstaaten, Belgien und der Schweiz, d ü r f t e der Weltkrieg nicht spurlos vorübergegangen sein. B e l g i e n war zu nahezu gleichen Teilen zwischen den französischen Wallonen im O und den germanischen Flamen im W geteilt. Der Streit zwischen diesen Nationalitäten h a t t e nicht bloß einen politischen, sondern mehr noch einen wirtschaftlichen Charakter. Die wallonischen Machthaber d r ü c k t e n die Flamen absichtlich in tiefste Unwissenheit hinab, u m aus ihnen Lohnsklaven f ü r die belgische Industrie zu gewinnen. 1 Aber im letzten Augenblick h a t die deutsche Besetzung des Landes die Flamen vor sicherem Untergange gerettet und ihnen wieder neues Leben eingehaucht, u n d das wird t r o t z der Wiederherstellung Belgiens erhalten bleiben. Die S c h w e i z w a r anscheinend homogener. 1910 zählte m a n auf je Tausend 690 Deutsche, 211 Franzosen, 80 Italiener, 11 Rom a n e n und 8 Anderssprachige. Das ziffernmäßige Übergewicht des deutschen Volksstammes ist klar, aber es b e d e u t e t noch lange nicht ein Übergewicht des D e u t s c h t u m s . Bekanntlich bedienen sich die Deutschschweizer aller Kreise ihres einheimischen Idioms als Umgangssprache und h a l t e n d a m i t die Fiktion einer völkischen S o n d e r a r t aufrecht. Bezeichnend ist der Ausspruch, den ich aus dem Munde eines hervorragenden deutschschweizerischen Gelehrten hörte, d a ß die Deutschschweizer das Schriftdeutsch in der Schule wie eine f r e m d e Sprache lernen müssen. Indem die N e u t r a l i t ä t aus dem Politischen auch ins Völkische übertragen wurde, k o n n t e die Meinung entstehen, d a ß m a n ein schlechter Schweizer sei, wenn m a n ein guter Deutscher bleibe. Man k ö n n t e sich d a m i t als einer T a l s a c h e abfinden, wenn diese Auffassung der N e u t r a l i t ä t die ganze Schweiz durchdränge, aber gerade das ist nicht der Fall, wie der Weltkrieg klar erwiesen h a t . Die nichtdeutschen Schweizer hielten an ihrer N a t i o n a l i t ä t fest. N u n ging ein Riß durch das Volk und d r o h t e dem S t a a t e U n t e r g a n g . D a ß die Schweiz n u r als neutraler S t a a t existieren kann, d a r ü b e r besteht kein Zweifel, aber wie die N e u t r a l i t ä t a u f r e c h t e r h a l t e n ? E t w a durch völlige E n t d e u t s c h u n g der Deutschen und Entwelschung der Welschen, so d a ß d a n n n u r der reine Schweizer übrig b l e i b t ? Aber ein solcher ausgelaugter Schweizer wäre ein Homunculus, weder lebendig, noch schöpferisch. 2 1

2

CLAUDIUS SERVERUS, F l a n d e r n s N o t .

D e u t s c h v o n P . OSSWALD.

Berlin 1918.

BÄCHTOLD, Die innerpolitische Krisis in der Schweiz und unser Verhältnis zu Deutschland. Basel 1916.

D i e völkische Struktur der Staaten.

115

Pseudonationale Staaten. Obwohl Zwischenform, sind sie doch nicht als Umwandlungsform vom Territorial- zum N a t i o n a l s t a a t anzusehen, sondern, soweit uns bekannt, die Urform der meisten durch Eroberung gegründeten Staaten, nur natürlich mit Ausnahme jener in barbarischen Zeiten, wo die Besiegten ausgerottet oder vertrieben wurden. In modernen Staaten gewinnen die unterworfenen Völkerschaften gleiche Rechte wie die Sieger, aber diese Gleichstellung gilt n u r auf dem Papier, in Wirklichkeit bleibt nach wie vor das Eroberervolk, die Staatsnation, der Träger des Staatswillens. Es bewahrt diese Stellung dadurch, d a ß es an Zahl die Summe oder wenigstens jede einzelne der übrigen Nationalitäten übertrifft. So machten, wie aus unserer Tabelle auf S. 111 hervorgeht, dieMagyaren i n U n g a r n zwar nicht die absolute, aber doch die relative Mehrheit aus. Diese Stellung aufrecht zu erhalten, bleibt natürlich das Hauptziel der inneren und unter U m s t ä n d e n der äußeren Politik dieser Staaten. Wesentlich trug dazu eine günstige geographische Lage des herrschenden Volkes bei. Dies t r i f f t z. B. in Ungarn zu. Hier sitzen die Magyaren im Z e n t r u m des Landes, in dem von einem Gebirgskranz umgebenen Tieflandbecken, das an wirtschaftlichem Wert alle peripherischen, von slavischen und rumänischen Stämmen bewohnten Gegenden übertrifft. D a f ü r oblag diesen Randvölkern die Aufgabe der Grenzwacht, an der sich vermöge seiner Lage nur ein Zweig des Magyarenvolkes, die Szekler, beteiligte. Eifrig, häufig übereifrig waren die Magyaren bestrebt, die f r e m d e n Sprachen zugunsten ihrer eigenen zu verdrängen, was ihnen besonders bei den J u d e n , aber vielleicht auch bei den Deutschen nur zu leicht gelang; dazu nötigte sie auch ihre geringe natürliche Volksvermehrung, gering besonders im Vergleiche mit den R u m ä n e n . Natürlich suchten sie auch von ihrem Z e n t r u m aus immer mehr nach allen Seiten an R a u m zu gewinnen, und so e n t b r a n n t e hier ein Nationalitätenstreit, nicht minder heftig als in der österreichischen Reichshälfte, nur mit dem Unterschiede, daß die Magyaren infolge ihrer Lage ungleich begünstigter waren und viel zielbewußter und einheitlicher vorgingen, als die Deutschösterreicher. Der größte Pseudonationalstaat war bis 1917 das e u r o p ä i s c h e R u ß l a n d (nicht das russische Reich, das als ein Territorialstaat anzusehen ist). Die Sprachenzählung im J a h r e 1897 1 ergab einige zwanzig Nationalitäten, von denen 14 über oder ganz nahe an 1 Million Köpfe zählten. Das herrschende Volk war das großrussische, das aber nicht ganz die H ä l f t e der Gesamtbevölkerung bildet, also zu dieser in ungefähr 1

Gotha

Ausführlichere

D a t e n in

SUPAN, Die B e v ö l k e r u n g der

Erde, H e f t

1909. 8*

XIII,

Die völkische Struktur der Staaten.

116

demselben Verhältnis s t a n d , wie die Magyaren. Auch die geographische Verteilung der Völker zeigt einige Ähnlichkeit mit der in U n g a r n insofern, als die meisten Fremdvölker in z u s a m m e n h ä n g e n d e n G r u p p e n die R a n d p a r t i e n bewohnen. J e d o c h keineswegs gleichmäßig. Die Großrussen beherrschen nicht nur das Z e n t r u m , sondern a u c h den ganzen Norden u n d werden a u c h im Osten nur fleckenweise v o n a n d e r e n S t ä m m e n u n t e r b r o c h e n oder leben mit ihnen gemischt. Eine gerade Linie, die v o m Golf v o n Taganrog nach N W zur Rigaischen B u c h t zieht, t r e n n t ungefähr das großrussische Gebiet, das zwei Drittel des S t a a t e s e i n n a h m , von der westlichen Zone der Fremdvölker, die mit Finnland beginnt und nur durch den finnischen Meerbusen eine U n t e r brechung erleidet. Ü b e r s i c h t der v ö l k i s c h e n

Struktur des e u r o p ä i s c h e n .... ®

Rußland:

Davon Großrussen Orthodoxe

i. Taus.

v. Taus.

v. Taus.

56041

802

900

Finnland Litauen (4 Gouvernements) . . Polen (9 Gouvernements) . . . Weißrußland (5 Gouvernements) Ukraine 2 (9 Gouvernements) . . Rumänisches Gouv. Beßarabien

2713 4101 8819 8518 23430 1 935

2 46 27 58 118 81

71 65 602 847 827

Westl. fremdvölkische Zone

49516

78

555

105557

462

729

Großrußland (30 G o u v e r n e m e n t s ) . 1

Europäisches Rußland

.

16

Die Großrussen sind selbst ein Mischvolk, vorzugsweise aus slavischen, finnischen und t a t a r i s c h e n Elementen z u s a m m e n g e s e t z t , u n d dieser Assimilationsprozeß ist noch immer nicht abgeschlossen. Große Völkerbrocken, besonders im 0 , sind noch immer nicht verschlungen und v e r d a u t . Doch ist hier der Ausgang nicht zweifelhaft. Anders im W . Finnen, Litauer, Polen und R u m ä n e n e r k e n n t a u c h der Russe als Fremdvölker an, und wenn er auch den Versuch nicht aufgegeben hat, sie national zu sich herüberzuziehen, so sind doch die Erfolge bisher ohne nachhaltige B e d e u t u n g geblieben. Man ersieht das aus dem geringen Anteile der Großrussen an der Bevölkerung. Anders verhält es sich mit den Weiß- und Kleinrussen oder, wie sie sich jetzt nennen, U k r a i n e r n . Diese wurden n u r als dialektisch ver1 2

Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1900. Nicht ganz identisch m i t dem Lande, das sich 1917 selbständig erklärt hat.

Die völkische Struktur der Staaten.

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schiedene Zweige des großrussischen S t a m m e s b e t r a c h t e t , und demnach berechnete der Russe sein Volk mit 75V 2 Mill. oder 714 v. T. D a d u r c h wurde der völkische C h a r a k t e r des S t a a t e s ganz v e r ä n d e r t , er erscheint dem T y p u s des N a t i o n a l s t a a t e s schon beträchtlich näher gerückt. Die Weißrussen scheinen in der T a t den Großrussen nahe zu stehen, n u r d a ß die westliche Lage das slavische E l e m e n t hier reiner erhalten h a t ; die Ukrainer müssen aber als ein selbständiges slavisches Volk b e t r a c h t e t werden, das der E n t n a t i o n a l i s i e r u n g n u r durch brutale Gewalt im Laufe weniger J a h r z e h n t e zu verfallen drohte, eine Gefahr, die durch die Revolution abgewendet zu sein scheint. In dem Russifizierungsprozeß spielt die religiöse P r o p a g a n d a eine große Rolle; deshalb haben wir auch den Anteil der griechisch-orthodoxen Bekenner an der Gesamtbevölkerung in unsere obige Tabelle mit aufgenommen. Die betreffenden Zahlen sind s y m p t o m a t i s c h . Sie zeigen z. B., wie die russische Regierung im Bunde mit der von ihr ganz abhängigen Kirche auch schon in Finnland, Litauen und Polen den Versuch gemacht hat, festen F u ß zu fassen und in W e i ß r u ß l a n d und der Ukraine die Herrs c h a f t schon völlig an sich gerissen hat, natürlich begünstigt durch die ältere Entwicklung. Also auch in R u ß l a n d , wie in Ungarn, w a r die Tendenz deutlich dahin gerichtet, die völkische S t r u k t u r zu vereinheitlichen u n d zu vereinfachen. Das b r i t i s c h e Reich sehen wir im letzten S t a d i u m dieser U m w a n d l u n g . Die keltischen Elemente sind auf der Hauptinsel bis auf wenige kümmerliche Reste in Wales und Schottland absorbiert, auch Irland ist sprachlich schon u n t e r j o c h t , aber n o c h . l e b t der alte religiöse Gegensatz und der alte H a ß gegen die politischen und wirtschaftlichen U n t e r d r ü c k e r . J e t z t ist Britannien noch ein P s e u d o n a t i o n a l s t a a t ; die Ausscheidung Irlands w ü r d e es zu einem N a t i o n a l s t a a t und d a m i t innerlich stärker machen. Neben diesem e u r o p ä i s c h e n E r o b e r e r t y p gibt es noch einen a m e r i k a n i s c h e n K o l o n i a l t y p des P s e u d o n a t i o n a l s t a a t e s . In jenem wohnen die N a t i o n a l i t ä t e n geschlossen n e b e n e i n a n d e r , in diesem schieben sie sich d u r c h e i n a n d e r . Die Vereinigten S t a a t e n haben wrr schon als den v o r n e h m s t e n Vertreter des Kolonialtypus k e n n e n gelernt (S. 101 ff). Dieses Durcheinander und die d a d u r c h bedingte tägliche Ber ü h r u n g der verschiedensten Elemente miteinander m a c h t es natürlich der f ü h r e n d e n N a t i o n a l i t ä t leichter als im europäischen Typus, sich durchzusetzen, läßt aber andererseits nur schwer ein einheitliches Nationalbewußtsein a u f k o m m e n . THOMAS COOPER, P r ä s i d e n t des Columbia-College, n a n n t e einst die N a t i o n ,,eine grammatikalische Erfindung, n u r gemacht, Umschreibungen zu ersparen, ein Nicht-Wesen

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(a non entity), das keine Existenz habe und nur in den Köpfen der Politiker spuke". 1 In Amerika kann man den Pseudonationalstaat nicht unbedingt eine Vorfrucht des Nationalstaates nennen. In Osteuropa ist der koloniale Typus auch zu finden, wenn auch nur untergeordnet dem Eroberertypus. Ungarn, Siebenbürgen und besonders das Banat bieten ausgezeichnete Beispiele davon. Nationalstaaten. Auf die oben angeführte Weise entstand im Mittelalter der französische und zu Beginn der Neuzeit der spanische Nationalstaat. Die skandinavischen Staaten sind von Anfang an gleichartiger gewesen. Die Balkanstaaten sind im Laufe der Zeit aus dem türkischen Reiche hervorgegangen; ihre völkische Struktur hat insofern eine Wandlung erfahren, als der religiöse Faktor, der im Anfange stark betont wurde, später immer mehr von dem nationalen in den Hintergrund gedrängt wurde. Die jüngsten Nationalstaaten vor dem Weltkriege waren Italien und das Deutsche Reich. Beide sind nicht aus dem politischen Zusammenschluß verschiedener Völkerschaften entstanden, sondern die Nation war älter als der Nationalstaat. Die völkische Zusammengehörigkeit fand zuerst ihren Ausdruck in der gemeinsamen Schriftsprache, die eine geistige Gemeinschaft schuf; daraus in Verbindung mit der Erinnerung an eine große politische Vergangenheit entwickelte sich, lebhafter in Italien als in Deutschland, ein Nationalgefühl, das endlich, sobald es die Kraft einer politischen Idee erlangt hat, zum Nationalstaat führte. Der Nationalstaat stellt zwar den höchsten Grad völkischer Gleichartigkeit dar, ist aber selten absolut homogen. Bei genauerer Betrachtung kleben ihm immer die Eierschalen einstiger Ungleichartigkeit an. Das d e u t s c h e Volk kann zwar als eine ethnographische Einheit gelten, ist aber jedenfalls eine anthropologische Mischung. Noch heute lassen sich zwei Rassentypen, ein blonder und ein brünetter, und zahlreiche Übergangsformen erkennen; der blonde, der noch immer mit 32 v. H. vertreten ist, ist der eigentlich germanische Typus, der brünette (14 v. H.) deutet auf slavische, keltische, vielleicht noch vorkeltische Zumischung hin. 2 Man unterschätze ja nicht den Einfluß solcher alter Mischungen, wenn wir ihn auch nicht im einzelnen exakt begründen können. Nicht nur der körperliche, sondern auch der seelische Gegensatz vom Nordund Süddeutschen, West- und Ostdeutschen mag darauf zurückzuführen sein. Die Germanisierung der überelbischen Grenzmarken ist längst 1 Zit. in. FR. LIST, Das n a t i o n a l e S y s t e m der politischen Ökonomie. gart 1841, B d . I, S. 187. 2

Stutt-

R . VIRCHOW, Die Verbreitung des blonden und des b r ü n e t t e n T y p u s in Mittele u r o p a . Sitz.-Ber. der preuß. A k a d . d. Wiss. 1885, I. H a l b b a n d , S. 39.

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b e e n d e t , nur ein schwacher Rest der einstigen slavischen Bewohner h a t sich in den Wenden der Lausitz erhalten. Die alten N ä h t e des d e u t s c h e n Volkstums werden n u r mehr bei sehr a u f m e r k s a m e r Bet r a c h t u n g sichtbar, vom weiten gesehen erscheint es als eine einfarbige Fläche, aber m a n braucht nicht einmal sehr nahe zu treten, um sofort zu erkennen, d a ß es ein Mosaik ist, deren Teile eine Farbe in verschiedenen A b t ö n u n g e n zeigen. M u n d a r t und Sitte sind sehr verschieden, aber wahrscheinlich nicht in höherem Grade als in Frankreich oder Italien, und mit zunehmendem Verkehr wetzen sich diese Eigenarten schnell ab. Aber t r o t z d e m ist der Gegensatz des festen Gefüges der französischen und des lockeren der deutschen Nation eine Tatsache, die uns immer wieder von neuem schmerzlich z u m Bewußtsein k o m m t . Vielleicht liegt die Schuld daran an unserer individualistischen Veranlagung, aber den Polen h a f t e t derselbe Charakterfehler, und zwar in noch höherem Grade an, und trotzdem h a t ihr lebhaftes völkisches Zusammengehörigkeitsgefühl nicht im geringsten d a r u n t e r gelitten. Der psychische H a b i t u s eines Volkes, die V o l k s s e e l e , ist jedenfalls ein Faktor, der sich n u r schwer in R e c h n u n g stellen läßt. W i r haben wohl viele z u t r e f f e n d e völkerpsychologische Schilderungen, aber die eigentliche Aufgabe bes t e h t darin, den P u n k t zu fixieren, auf den sich schließlich alle H a n d lungen z u r ü c k f ü h r e n lassen. So findet BURCKHARDT1 den Schlüssel zum Verständnis der italienischen Geschichte im Zeitalter der Renaissance in dem Ü b e r m a ß der P h a n t a s i e der Italiener und dieses Urteil t r i f f t a u c h auf die Gegenwart zu — m a n denke z. B. nur an den abenteuerlichen Zug D ' A N N U N Z I O S nach Fiume. Aber selten wird sich der K n o t e n so leicht lösen lassen, in der Regel sind die Charaktere Einzelner wie ganzer Völker ein Gemisch verschiedener, oft sich widersprechender E i g e n s c h a f t e n , von denen die Mehrzahl wohl erst erworben wurde, ein A b d r u c k geschichtlicher Schicksale ist. D a r a u s mag es sich erk l ä r e n , d a ß die Franzosen den Galliern C A S A R S mehr gleichen als die Deutschen den Germanen des TACITUS. Schon der Grad der Mischung war bei beiden Völkern verschieden. Und wie gegensätzlich war der Gang der geschichtlichen E n t w i c k l u n g ! D a ß unser nationales E m p finden bald f ü r kurze Zeit auflodert, bald f ü r lange Zeit in S t u m p f s i n n verfällt, d a n k e n wir hauptsächlich unserer schlechten politischen E r ziehung. Unsere Z e r k l ü f t u n g und Schwäche ist nicht so sehr unser natürliches, als unser geschichtliches Verhängnis. Die unselige mittelalterliche Kaiserpolitik legte alle E i n h e i t s b e s t r e b u n g e n schon zu einer Zeit lahm, da man in Frankreich bereits die F u n d a m e n t e seines stolzen 1

Z i t . S. 2.

B d . II, S. 158,

170.

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Staatsbaues zu legen begann, und während im Nachbarlande die zentripetalen Kräfte planvoll am Werk waren, arbeiteten bei uns ebenso planvoll die zentrifugalen Kräfte. Der schwerste Schlag war der religiöse Zwiespalt. Aber nicht die Reformation ist anzuklagen, sondern die Gegenreformation. Die Reformation wäre im Gegenteil ein mächtiger Hebel der nationalen Konsolidierung geworden, denn sie drang auch im Süden und besonders in den österreichischen Ländern unaufhaltsam vor, und hätten nicht die Habsburger und Wittelsbacher brutal eingegriffen, so hätte Deutschland in kurzer Zeit eine Nationalkirche gehabt, und das Unglück des Dreißigjährigen Krieges wäre uns erspart geblieben. Und damit auch die politische Zersplitterung, die wachsende Auflösung des Reiches in Territorien, die Abbröckelung der Randländer. Auch in dieser Hinsicht fällt der österreichischen und der bayrischen Dynastie der Löwenanteil der Schuld zu. Wohl verfolgten auch die Hohenzollern einseitig ihre Hausinteressen, aber ihre großzügigere Politik und die größere völkische Gleichartigkeit ihres Staates bewirkten schließlich doch, daß der preußische Partikularismus die Einheit des Reiches herstellte. Freilich in höchst notdürftiger Weise. Nur das Übergewicht und die stramme Organisation Preußens hielten das Reich oder vielmehr den Fürstenbund zusammen. Auch die Revolution, die den Zusammenbruch im Weltkriege zu Parteizwecken ausbeutete und nur von beschränkten Geistern und blinden Hetzern mit ihrem üblichen Radaugefolge gemacht wurde, und der von Beginn an jede Spur eines großen Zuges fehlte, hat die Gelegenheit zur Begründung eines Einheitsstaates ungenutzt vorübergehen lassen; ja, der Partikularismus erhob noch frecher das Haupt, am Rhein führten schmachvolle Absonderungsgelüste bis an den Rand des Landesverrats, und der heiße Wunsch der Deutschösterreicher, zum großen Vaterlande zurückzukehren, fand bei uns nur einen schwächlichen Widerhall. BISMARCK sagte einmal, zwanzig Jahre nach seinem Tode (er starb am 30. Juli 1898) wolle er aus seinem Sarge aufstehen, um zu sehen, ob Deutschland in Ehren vor der Welt bestanden habe oder nicht. Also hatte auch er, tief verletzt durch den Undank, der ihm zuteil geworden, an seinem Volke bereits zu zweifeln begonnen. Nicht zu übersehen ist, daß Deutschland auch nach 1871 noch nahezu an der Kippe zwischen einem Pseudo- und einem echten Nationalstaate stand. An den Rändern saßen noch Reste von Fremdvölkern, die aus der Zeit der Territorialpolitik übrig geblieben waren. Ziffermäßig waren aber nur die Polen von Bedeutung. Die preußische Sprachenzählung von 1900 ergab etwas über 3 Mill. oder 91 v. T. der preußischen Bevölkerung (die Gesamtzahl der Fremdsprachigen betrug 113 v. T.).

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Gleichartiger sind unzweifelhaft die F r a n z o s e n , obwohl auch hier das gallische, romanische und germanische E l e m e n t sich noch deutlich v o n e i n a n d e r abheben. Der Gegensatz von Nord- und Südfranzosen ist das Ergebnis verschiedener Mischungen. Noch beträchtlich ungleichartiger ist die S t r u k t u r des s p a n i s c h e n Volkes, u n d die Aufsaugung der den Provencalen v e r w a n d t e n K a t a l a n e n ist noch immer zu keinem Abschlüsse gediehen. Die I t a l i e n e r sind scheinbar am homogensten, aber nicht nur, d a ß der Einfluß alter Mischungen noch immer erkennbar ist, sind auch noch einige f r e m d s p r a c h i g e Splitter v o r h a n d e n , Franzosen, Deutsche, Slowenen, Serben, Albaner und Griechen (zusammen freilich n u r x / 4 Mill. oder 8 v. T.). 1 Für die Beurteilung des Einflusses solcher heterogener E l e m e n t e auf die S t r u k t u r eines homogenen Volkes k o m m t außer der Zahl noch auch wesentlich ihre geographische Verbreitung in B e t r a c h t . Treten sie vereinzelt auf, so sind sie ganz ohne Belang f ü r den Gesamtwillen, bilden sie aber z u s a m m e n h ä n g e n d e G r u p p e n , so können sie u n t e r U m s t ä n d e n gefährlich werden. Fremdsprachige besonders d a n n , wenn sie u n m i t t e l b a r an ihre S t a m m e s genossen in einem f r e m d e n S t a a t e grenzen. Dies traf z. B. bei den Polen der preußischen Landesteile Posen und Oberschlesien (2,3 Mill.) zu. Dasselbe Gesetz ist auch auf Konfessionen u n d politische Parteien anwendbar. Eine Partei, die in einer k o m p a k t e n Masse z u s a m m e n sitzt, k a n n viel größere Macht gewinnen, als eine durch den ganzen S t a a t zerstreute, selbst wenn sie an Zahl von der letzteren übertroffen wird. Darin lag z u m Teil der Erfolg der deutschen Z e n t r u m s p a r t e i gegenüber dem schwächeren der Sozialdemokratie b e g r ü n d e t . Nationalpolitik. Den Unterschied der National- von der Territorialpolitik haben wir schon' oben an einem Gleichnis klar zu machen versucht. Diese b e r u h t nur auf d e m Prinzip der Macht, jene auf dem Prinzip des Rechts. Die Macht ergreift das Volk von außen her, das R e c h t entquillt dem Volke selbst. Die W o r t e S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t d e r N a t i o n e n erschöpfen den ganzen Inhalt der Nationalpolitik. Aber viele J a h r h u n d e r t e , ja J a h r t a u s e n d e mußten, vergehen, ehe die Völker zu einem Rechtsgefühl erzogen wurden. Zuerst brach es im innerstaatlichen Leben, auf dem Gebiete der Organisation durch, indem in den S t a a t e n des klassischen A l t e r t u m s die- republikanische Verfassung an die Stelle der monarchischen t r a t , aber auch da nicht in voller Reinheit, denn überall, wo das Volk in Freie und Unfreie zerfiel, stand neben dem Rechte die Gewalt. In der englischen Verfassung brach sich allmählich 1

S. 100.

Ausführlicher nach der Zahlung von 1901 in SUPAN, Bev. d. Erde, X I I I ,

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der Gedanke Bahn, d a ß kein Gesetz und keine Auflage einen Briten verpflichten könne, ohne von dessen Vertretern bewilligt worden zu sein. Auf diesen Grundsatz sich stützend, leisteten die englischen Kolonien in Nordamerika seit 1765 den P a r l a m e n t s a k t e n des Mutterlandes energischen Widerstand und leiteten endlich am 4. Juli 1776 aus den sogenannten allgemeinen Menschenrechten f ü r jedes Volk das Recht ab, sich von dem Staate, zu dem es bisher gehörte, zu trennen und sich unabhängig zu machen. Damit war aber der Sieg der Nationalpolitik noch lange nicht entschieden. Selbst die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten beruht tatsächlich nicht auf jenem Rechtsgrundsatz, sondern auf der Anerkennung von Seiten Englands im J a h r e 1782 bzw. 1783. Auch alle folgenden Revolutionen f ü h r t e n nur dann zur Bildung selbständiger Staaten, wenn sie siegreich waren. Seit der Mitte des 19. J a h r hunderts f a n d der Gedanke des Selbstbestimmungsrechtes der Völker eifrige Verfechter in der slavischen Welt. Er findet sich in B A K U N I N S Aufrufen in den 40 er J a h r e n und mehrmals in tschechischen Proklamationen, z. B. im staatsrechtlichen Memorandum vom 8. Dezember 1870. Im zwischenstaatlichen Leben blieb die Territorialpolitik allein maßgebend, doch hat schon König V I K T O R E M A N U E L II. bei Begründung des Königreichs Italien alle seine Eroberungen durch Volksbeschlüsse sanktionieren lassen. Aber erst im letzten Weltkriege brach sich das Selbstbestimmungsrecht der Nationen vollends Bahn und wurde in der russischen Revolution allgemein a n e r k a n n t e r Grundsatz. Der Präsident der Vereinigten Staaten, W O O D W A R D W I L S O N , formulierte ihn in seiner Rede am Grabe W A S H I N G T O N S am 4. Juli 1918 in P u n k t 2 folgendermaßen : „Regelung aller Fragen, sowohl der territorialen wie der Souveränitätsfragen, der wirtschaftlichen und politischen Fragen auf der Grundlage einer freien A n n a h m e dieser Regelung durch das Volk, das unmittelbar dabei betroffen ist, und nicht auf der Grundlage des materiellen Interesses oder Vorteiles irgendeines anderen Volkes, das eine andere Regelung zur Ausbreitung seines Einflusses oder seiner Herrschaft w ü n s c h t . " 1 Alle kriegführenden Staaten t r a t e n dieser Formel bei, aber dies war, wie es sich auf der Pariser Konferenz herausstellte, nur ein taktisches Manöver, eine Falle. W I L S O N mochte es vielleicht ursprünglich ernst gemeint haben, und jedenfalls glaubte die Menschheit a n ihn, dem sie wie einem neuen Messias zujubelte; als er aber in Europa erschien und von dem ihm reichlich gespendeten Weihrauch umnebelt 1 Die vielgenannten 14 Punkte WILSONS vom 8. Januar 1918 beziehen sich nur auf konkrete Fragen und k o m m e n daher, wie so häufig ausgesprochen wurde, hier nicht in Betracht.

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u n d b e t ä u b t wurde, geriet er ganz in den Bannkreis der alten Territorialpolitik, und was in der Ferne gigantische Formen a n z u n e h m e n schien, s c h r u m p f t e , in der Nähe b e t r a c h t e t , immer m e h r z u s a m m e n und erwies sich, indem es dem Gesetz der u m g e k e h t r e n Perspektive unterlag, als eine falsche Größe. 1 N u n konnte sich die Machtgier der E n t e n t e schrankenlos austoben. W e n n aber trotzdem nicht alle ihre p h a n t a s t i s c h e n E r o b e r u n g s p l ä n e z u r vollen Reife gelangten und die Territorialpolitik vergangener Zeit keinen vollen Sieg erfocht, wenn die politische K a r t e von E u r o p a von 1919 doch ein anderes Gesicht bekam wie die von 1814 und 1815, so ist der Grund hiervon ein doppelter. 1. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das man w ä h r e n d des Krieges immer im Munde geführt h a t t e , ließ sich doch nicht ganz u m gehen, und man konnte ihm um so leichter genügen, als es lediglich auf Kosten der Feinde geschah. Aber nicht das Nationalprinzip siegte, sondern der Pseudonationalismus v o m E r o b e r u n g s t y p u s , der im G r u n d e genommen nur ein Ableger des Territorialismus ist. Die neugeschaffenen S t a a t e n , der polnische, der tschecho-slowakische 2 und der südslawische, sind solche Mißgeburten, von denen die beiden ersteren beträchtliche Teile deutschen Volkstums, ohne sie zu befragen, sich einverleibten, und im dritten drei slavische Volksstämme miteinander verschmolzen w u r d e n , die sich f r ü h e r n u r im H a ß gegen Deutsche und Magyaren zus a m m e n g e f u n d e n h a t t e n , sonst aber wenig miteinander zu schaffen h a b e n und religiös in scharfem Gegensatz zueinander stehen. Indem Italien ins deutsche Alpengebiet und in die Balkanhalbinsel hinüber1

W.

V g l . , , H e r r n WOODROW WILSON".

OSTWALD,

H.

VAIHINGER,

Dr.

D e n k s c h r i f t v o n P. DEUSSEN,

MEYER.

Berlin

R.

EUCHEN,

1919.

2

Über die völkische Zusammensetzung wurden vor kurzem folgende Mitteilungen gemacht: Tschechen 6300000 Deutsche 3750000 Slowaken 1900000 Magyaren 900000 Ukrainer 500000 Polen 300000 Zus. 1 3 6 5 0 0 0 0 Die Richtigkeit der Zahlen, die augenblicklich nicht kontrolliert werden können, aber ganz wahrscheinlich klingen, vorausgesetzt, wäre die Republik ein ausgesprochener Pseudonationalstaat, in dem die herrschende Nationalität ( 4 6 % ) nicht einmal die absolute Mehrheit besitzt, genau so, wie früher in Ungarn. Selbst wenn man die Slowaken hinzuzählt, stiege der Prozentsatz nur auf 60, aber die Neigung der Slowaken für ihre tschechischen Verwandten scheint sehr kühl zu sein.

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Die völkische Struktur der Staaten.

greift, gibt es seinem nationalen C h a r a k t e r nicht die letzte Weihe, sondern verfälscht ihn, und dasselbe t u t Frankreich, indem es sich im 0 deutsche Volksteile angliedert. Das geschieht freilich in der E r w a r t u n g , die F r e m d k ö r p e r bald aufsaugen zu können, aber in unseren Zeiten hochgesteigerten Nationalgefühls wird diese H o f f n u n g selten in E r f ü l l u n g gehen, neue Irridentas werden e n t s t e h e n , neue Konfliktsstoffe werden a u f g e h ä u f t werden und diese pseudonationalen Gebilde schwächen s t a t t zu s t ä r k e n . Überall suchen die A r g u m e n t e der Territorialpolitik das Prinzip der Nationalpolitik z u r ü c k z u d r ä n g e n . 1 Am unverhülltesten t r i t t diese Tendenz in Artikel 80 des Versailler Friedens zutage, der D e u t s c h l a n d verpflichtet, die U n a b h ä n g i g k e i t Deutschösterreichs anzuerkennen. Auf der einen Seite wurden also deutsche Gebiete f r e m d e n Völkern ausgeliefert, auf der anderen werden deutsche Volksteile gegen ihren ausdrücklichen Willen verhindert, sich zu vereinigen. 2. Die H a u p t s a c h e ist aber, d a ß sich in der Territorialpolitik selbst ein W a n d e l vollzogen hat. Nach wie vor will m a n seine Grenzen ausdehnen, aber nicht mehr nackte Ländergier ist die vorherrschende Triebfeder, sondern die Erreichung w i r t s c h a f t l i c h e r Vorteile. Es k o m m t in erster Linie nicht mehr auf die Q u a n t i t ä t , sondern auf die Q u a l i t ä t an. Freilich h a t diese Auffassung nicht alle Völker mit gleicher S t ä r k e e r f a ß t . Die Franzosen stecken noch tief in der politischen Ideenwelt der Bourbonen und Napoleoniden, u n d die Italiener wiegen sich noch immer in den W e l t m a c h t s t r ä u m e n des römischen Reiches. 2 Dagegen stehen die Engländer — und zwar schon seit ein p a a r J a h r h u n derten — ganz u n d voll auf dem Boden der wirtschaftlich orientierten Territorialpolitik. Deshalb gelang es ihnen auch, im Weltkriege den Vogel abzuschießen. Sie konnten mit gewohnter Heuchelei auf das 1

Wie verständnislos die alte Schule der Politiker den Forderungen der Nationalpolitik gegenüberstehen, beweist schlagend das Friedensprojekt des österreichischen Ministers CZERNIN im April 1917 (LUDENDORFF, Meine Kriegserinnerungen 1914—18, Berlin 1919, S. 351), Deutschland solle Elsaß-Lothringen an Frankreich abtreten und dafür Kongreßpolen und Galizien erhalten, also zu einem Pseudonationalstaat schlimmster Art herabgedrückt werden. Ein Gedanke, würdig eines österreichischen Staatsmannes, und der Historiker HANS DELBRÜCK (Preuß. Jahrb. 1919, Bd. 178, S. 95) m e i n t dazu, CZERNIN habe doch wenigstens Ideen gehabt. Das Territorialprinzip galt eben als unumstößliches A x i o m der äußeren Politik. Auch noch für BISMARCK, den wir doch mit Recht als den Einiger der deutschen Nation verehren. Noch 1894 bekannte er in einem Gespräch mit A. v. POSCHINGER: „Die elsaß-lothringer Verfasssungsfrage lag mir erst in zweiter Linie am Herzen. Ob die Elsässer unter deutscher Verwaltung blieben oder auswanderten, war nebensächlich. Das Wichtigste war, daß wir Elsaß behielten als Glacis gegen Frankreich" (Deutsche Rundschau, Dez. 1919, S. 352). 2

RÜHL, zit.

S. 3 9 .

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b l a n k e Schild ihrer Selbstlosigkeit klopfen u n d immer wieder versichern, d a ß sie nur f ü r Ideale k ä m p f e n und keinen Zoll breit deutschen Boden begehren, w ä h r e n d sie durch den R a u b deutscher Kolonien und türkischasiatischer Gebiete ihre W e l t h e r r s c h a f t in erfolgreichster Weise ausb a u t e n . Ihnen k a m es niemals nur darauf an, ihre Flagge über Tausende von Q u a d r a t k i l o m e t e r n wehen zu lassen u n d über Millionen von Menschen zu herrschen, weshalb im M u t t e r l a n d m a n c h m a l der Gedanke a u f t a u c h t e , sich der Kolonien ü b e r h a u p t zu entledigen. Der Brite s c h ä t z t seine Landerwerbungen n u r wegen ihres Handelswertes im weitesten U m f a n g e des W o r t e s und n i m m t oder behält auch m a n c h e s minder Wichtige nur, um es nicht in die H ä n d e Anderer fallen zu lassen. W e n n die Nationalpolitik auch jetzt v e r s a g t hat, so m u ß man die Frage aufwerfen, ob sie ü b e r h a u p t möglich sei. Einige schwere Bedenken lassen sich nicht u n t e r d r ü c k e n . Ihr Ziel sind national geschlossene S t a a t e n innerhalb der m ü n d i g gewordenen Menschheit, also innerhalb der Kulturkreise, insbesondere in E u r o p a , der eigentlichen H e i m a t des Nationalprinzips. Selbstverständlich gilt auch die E i n s c h r ä n k u n g , d a ß n u r der g e g e n w ä r t i g e Zustand maßgebend ist, und alle Berufungen auf die Vergangenheit, auf ehemalige Sprachenverschiebungen und politische Zugehörigkeiten müssen als unzulässig zurückgewiesen werden. Aber auch dieser notwendige Vorbehalt s c h a f f t noch nicht völlige K l a r heit. In der organischen Welt gibt es nirgends scharfe Grenzen, nicht einmal in der Pflanzenwelt und noch viel weniger im Bereich der frei sich bewegenden Individuen. Das gilt v o r allem von d e m Menschen, soweit ihm nicht Wasser, Eis, W ü s i e und Gebirge eine Schranke e n t gegenstellen. Alle S p r a c h e n k a r t e n zeigen, soweit ihr M a ß s t a b eine genauere Darstellung erlaubt, in den großen Zügen das gleiche Bild. 1 Das K ä r t c h e n der Steiermark (Fig. 5) auf Grund der Volkszählung von 1910 möge als Beispiel dienen. Der nördliche Teil, f a s t 2 / 3 des Landes, ist ganz deutsch (95 u. mehr v. H.). nur a m äußersten S ü d r a n d t r i t t eine leichte Auflockerung ein, und der R a n d selbst n i m m t eine z e r l a p p t e Gestalt an. Das n u n folgende slowenische Sprachgebiet ist nicht geschlossen, ein solches f ä n g t erst jenseits der Landesgrenze, in Krain an. In S t e i e r m a r k ist es eine Mischzone, in der Deutsche und Slowenen neben- u n d d u r c h e i n a n d e r wohnen und in die a u c h einige vorwiegend deutsche Sprachinseln eingestreut sind. Die größte und wichtigste 1 A. PENCK hat solche detaillierte Nationalitätenkarten für W e s t p r e u ß e n und P o s e n in 1 : 1 0 0 0 0 0 im geographischen Institut der Berliner Universität herstellen lassen. Die Karte der S t e i e r m a r k in 1 : 2 0 0 0 0 0 , nach anderer Methode gezeichnet, liegt der Denkschrift des akademischen Senats der Universität Graz „ D i e SUdgrenze der deutschen Steiermark" Graz 1919, bei.

Die völkische Struktur der Staaten.

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d a r u n t e r ist M a r b u r g a. d. D r a u . Im allgemeinen sind die S t ä d t e vorwiegend deutsch und ist die L a n d b e v ö l k e r u n g slowenisch. Nördlich

£r-A/ärrurty : MB I

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Fig. 5.

Sprachenkarte der Steiermark.

Nach RICH. V. PFAUNDLER.

vom Bachergebirge ist die Mischung intensiv, südlich d a v o n sporadisch. Folgende Tabelle gibt den Beleg h i e r f ü r :

qkm 16532 Deutsches Gebiet 807 Nördliche Mischzone Südliche Mischzone 5 0 8 6

Zivilbevölkerung in T a u s e n d . _? davon Ganz deutsch slowenisch 917 76 393

913 40 25

4 36 367

. _ . auf Tausend deutsch

slowenisch

994 524 65

5 475 935

Nun ist die Steiermark zwischen Deutsch-Österreich und Südslawien geteilt, wohin soll die Grenze verlegt w e r d e n ? Die Grenze des deutschen Gebietes k a n n es schon wegen ihrer unregelmäßigen Gestalt nicht sein, sie m u ß also in die Mischzone verlegt werden. Aber wohin immer, stets wird sich eine oder die andere N a t i o n a l i t ä t benachteiligt fühlen.

Die völkische Struktur der Staaten.

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Dazu gesellen sich noch andere Schwierigkeiten. Überall, wo sich ein nationaler Aufsaugungsprozeß in verschiedenen Stadien befindet — und das gilt vor allem von den Mischzonen, — können in jedem einzelnen Zweifel entstehen, welcher N a t i o n a l i t ä t er angehöre. In Altösterreich

letzten Volkszählungen die Frage nicht nach der Muttersprache, sondern nach der Umgangssprache stellte. N u n , da es zur politischen Teilung der nationalen Bestände k o m m t , will m a n vielfach die Umgangssprache nicht als K r i t e r i u m der N a t i o n a l i t ä t a n e r k e n n e n . Und im Prinzip mit R e c h t . Aber völlig v e r k e h r t ist es, wenn m a n u n t e r Hinweis auf ehemalige Z u s t ä n d e u n d m i t Zuhilfenahme etymologischer U n t e r s u c h u n g e n von geographischen und Familiennamen die N a t i o n a l i t ä t feststellen

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D i e völkische Struktur der Staaten.

will. Das hieße die Gegenwart durch die Vergangenheit binden. Die Geschichte lehrt aber, d a ß die N a t i o n a l i t ä t ein flüssiges E l e m e n t ist. Entscheidend ist nicht die A b s t a m m u n g , sondern der aus dem ethnischen Bewußtsein entspringende freie E n t s c h l u ß . Man gehört jener Nationalität an, zu der m a n sich b e k e n n t . Das ist der Sinn des Selbstbestimmungsrechtes. 1 Noch schwieriger liegen die Verhältnisse in W e s t p r e u ß e n und zum Teil auch in Posen (s. Fig. 6). Der tschecho-slowakische S t a a t h a t 26300 q k m mit 2 9 5 0 0 0 0 Deutschen (95 a. H. der Gesamtbevölkerung) verschluckt 2 , ist das mit den F o r d e r u n g e n der Nationalpolitik v e r e i n b a r ? U m so weniger, als sie sich u n m i t t e l b a r an politisch deutsches Gebiet anschließen, hier also d e u t s c h e Irridentas geschaffen w u r d e n . Hier wäre diese schwere Z u k u n f t s g e f a h r zu' vermeiden gewesen, es gibt aber Fälle, wo das nicht einmal möglich ist. Finnland wird von zwei N a t i o n a l i t ä t e n bewohnt, den Finnen im Innern und den Schweden in einem v e r h ä l t n i s m ä ß i g schmalen Streifen a n der K ü s t e der Ostsee. Sie stehen sich seit langer Zeit feindlich einander gegenüber, ihre politische Scheidung wird von beiden erwünscht u n d wäre jetzt auch möglich, da Finnland selbständig geworden ist, m u ß aber aus innern Gründen f ü r ausgeschlossen gelten. Für die Schweden, weil ihr schmaler, sichelförmiger S t a a t schon wegen seiner Gestalt ein Unding wäre, f ü r die Finnen, die auf das felsige und seenreiche Gelände des Innern beschränkt sein würden und v o m Meere abgeschnitten wären, aus zwingenden wirtschaftlichen G r ü n d e n (s. Fig. 7). Wirtschaftliche Rücksichten machen auch sonst nicht selten das Selbstbestimmungsrecht geradezu illusorisch. In den ersten Flegeljahren der russischen Revolution wurde mit diesem Rechte häufig ein alberner Mißbrauch getrieben. Da und dort e n t s t a n d e n auf beschränkten Gebieten Sowjetrepubliken, die weder leben noch sterben k o n n t e n . Auf unserer Zivilisationsstufe ist die W i r t s c h a f t auf Großbetrieb angewiesen u n d verurteilt kleine politische Gebilde zur Unselbständigkeit und d a m i t zur U n f r u c h t b a r k e i t . S t a a t e n wie Monaco, Andorra, San Marino, Liechtenstein, selbst L u x e m b u r g sind Fossilien aus einer lange entschwundenen Zeit, die nur noch als R a r i t ä t e n im europäischen Museum a u f b e w a h r t werden. Es ist eine Torheit, wenn sich Montenegro weigert, in Südslawien aufzugehen, u m so mehr als nicht einmal die 1

Wie u n g e s c h i c k t und verständnislos sich die E n t e n t e p o l i t i k e r bei der A b s t e c k u n g der n e u e n Grenzen Deutsch-Österreichs b e n a h m e n , schildert ROBERT SIEGER in den „ G r e n z b o t e n " 1919, S. 95 u. 244. * M. KREBS, Deutsch-Österreich (Geograph. Ztschr. 1919, S. 73).

Die völkische Struktur der

völkische

Struktur

fi'r die N a t i o n e n Immer werden,

diese

politische

gilt S C H I L L E R S

strebe

zum

als d i e n e n d e s

Ganzen,

129

Staaten.

Eigenbrödelei

rechtfertigt..

doch

kannst

Glied s c h l i e ß a n

ein

Aus den Schwierigkeiten einer strengen politik f ü h r t u n s die E r w ä g u n g h e r a u s ,

du

selber

Ganzes dich

Menschen

auf

nicht

Gerechtigkeit, wie

Sachen

zu

und

soll

S u p a n , Leitlinien.

wegen

d a ß der M e n s c h nicht wegen des

d e s h a l b wird ihre

behandeln,

2. A u f l .

materieller

Ganzes

Durchführung der National-

sondern

respektieren, i m m e r an e r s t e r Stelle stehen müssen. Nalionalraum

kein an.

S t a a t e s , s o n d e r n d e r S t a a t w e g e n des M e n s c h e n d a ist. politik f ü h r t

Auch

Epigramm:

Vorteile

Die

National-

Forderung, ihre

Gefühle

die zu

Kein geschlossener

angetastet

werden, 9

wie

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D i e völkische Struktur der Staaten.

es jetzt- von den Franzosen im Saarkohlenbecken geschieht oder wie es s. Z. von der deutschen Annexionspartei in bezug auf die Erzbecken von Brie und Longwy geplant wurde. Anderseits d ü r f e n auch die Bedürfnisse des S t a a t e s als eines lebendigen Körpers nicht außer a c h t bleiben. Er m u ß sich nach außen schützen können und darf in seinem n a t ü r l i c h e n - W a c h s t u m nicht gehemmt werden. In solchen s e k u n d ä r e n Fragen wird die Territorialpolitik immer zu ihrem Rechte kommen, nur s t e h t ihr im R a t e der Völker nicht das einzig entscheidende W o r t z u ; aber immerhin ein gewichtiges. Man darf nämlich nie v e r gessen, d a ß Macht der Lebensnerv des S t a a t e s ist, nicht Macht, um andern seinen Willen aufzuzwingen, sondern nur, u m seine Selbständigkeit zu bewahren und seine Persönlichkeit zu e n t f a l t e n . Macht ist f ü r den S t a a t dasselbe, was Freiheit f ü r den einzelnen ist; beide können nur bestehen, wenn sie Macht und Freiheit auch bei anderen a n e r k e n n e n . Man m u ß zugeben, d a ß die Territorialpolitik einfacher und konsequenter ist, als die Nationalpolitik; jene d u r c h h a u t den Knoten, diese sucht ihn zu lösen; jene k a n n , diese s o l l niemals ausgeschaltet w e r d e n . Die P o l i t i k d e r Z u k u n f t w i r d a l s o i m m e r h i n bis zu e i n e m gewissen Grade Territorialpolitik bleiben, aber geläutert u n d in S c h r a n k e n ' g e h a l t e n d u r c h d i e N a t i o n a l p o l i t i k . N u r in diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn auf S. 38 dem Begriff Lebensraum auch in Z u k u n f t eine große B e d e u t u n g zugeschrieben wurde. N u n sind wir in der Lage, das S e l b s t b e s t i m m u n g s r e c h t d e r V ö l k e r , das, seitdem es modernes Schlagwort geworden, an U n k l a r heit und Vieldeutigkeit leidet und daher schon viel Verwirrung angerichtet hat, etwas schärfer zu umgrenzen. Man m u ß n u r die Doppeln a t u r des S t a a t e s im Auge behalten. Die Völker schweben nicht frei in der Luft, sondern sind an festen Boden gebunden. In erster Linie findet das Selbstbestimmungsrecht auf i r r e d e n t i s t i s c h e Randg e b i e t e Anwendung, auf i s o l i e r t e , völkisch einheitliche S i e d l u n g s gebiete aber nur d a n n , w e n n s i e v e r m ö g e i h r e r G r ö ß e , g e o graphischen Lage und w i r t s c h a f t l i c h e n A u s s t a t t u n g fähig s i n d , i h r e p o l i t i s c h e S e l b s t ä n d i g k e i t zu b e h a u p t e n . Nationale Minderheiten mag m a n wohl auf gesetzlichem Wege oder durch andere M a ß n a h m e n , z. B. durch E r r i c h t u n g von Schulen zu schützen versuchen, aber über kurz oder lang werden sie t r o t z d e m dem Aufsaugungsprozeß (S. 108) zum Opfer fallen. Mehr Sicherheit bieten größere völkisch homogene Ansiedelungen, wie ausgedehntere Sprachinseln, besonders d a n n , wenn die sprachliche Eigenart durch die religiöse gestützt wird. Dadurch, wie allerdings auch durch ihre kulturelle Überlegenheit haben sich die Sachsenkolonien in Sieben-

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Die völkische Struktur der Staaten.

bürgen j a h r h u n d e r t e l a n g erhalten. Aber gerade deshalb werden sie von der herrschenden N a t i o n a l i t ä t als lästige Fremdkörper e m p f u n d e n und müssen einen h a r t e n Kampf u m s Dasein führen. Als Leitsatz ergibt sich also, d a ß , w e n n a u c h d e r S t a a t h ö h e r s t e h t als die N a t i o n , f ü r seine S t ä r k e u n d D a u e r h a f t i g keit doch der Grad der n a t i o n a l e n Geschlossenheit den Ausschlag gibt. Übernationale Verbände. Man könnte dabei zunächst an S t a a t e n bündnisse denken, wie solche die Geschichte aller Zeiten k e n n t . Es gibt d a v o n zwei A r t e n : A l l i a n z e n , die nur zu gewissen, eng begrenzten Zwecken geschlossen werden und so sehr vergänglicher N a t u r sind, d a ß sich die Genossen von heute nicht selten in Gegner von morgen verwandeln, und schon aus diesem Grunde a u ß e r h a l b einer natürlichen Staatslehre stehen, oder K o n f ö d e r a t i o n e n , Bündnisse zu d a u e r n d e r politischer Lebensgemeinschaft, die sich in den B u n d e s s t a a t e n so eng zusammenschließen können, d a ß sie sich schon mehr oder weniger dem Einheitsstaate nähern. Aber sie sind nur Gebilde rechtlicher N a t u r , w ä h r e n d die übernationalen Verbände gerade darin ihre Existenzberechtigung sehen, d a ß sie n a t ü r l i c h e Gebilde seien. N a c h ihrer Ansicht sind die Nationen nicht die letzten natürlichen Einheiten, sondern können und müssen zu solchen höherer O r d n u n g zusammengeschlossen werden. Das ist die theoretische Grundlage des Konnationalismus und des Internationalismus. Der K o n n a t i o n a l i s m u s hat, soweit er bisher in Erscheinung getreten ist, eine reine völkische oder eine geographische Färbung. J e n e r will v e r w a n d t e Nationen zu ihrer ursprünglichen Einheit zurückf ü h r e n , v e r k e n n t also ganz die mit der Zeit wachsende K r a f t der trennenden Momente. Das b e k a n n t e s t e und wichtigste Beispiel ist der P a n s l a w i s m u s , der in der zweiten H ä l f t e des vorigen J a h r h u n d e r t s die Solange er nur wissenschaftliche ganze slawische Welt beherrschte. und literarische Ziele verfolgte, h a t t e er noch einen Sinn, sobald aber politische Tendenzen in den Vordergrund traten, hob er sich selbst auf, indem er in den Panrussismus umschlug, dessen Ziele eine Vereinigung aller slawischen Völker u n t e r der K n u t e des russischen Zaren war. Der Weltkrieg hat dieses P h a n t o m wohl f ü r immer v e r b a n n t und d a m i t auch der konnationalen Idee völkischer F ä r b u n g ü b e r h a u p t den Todesstoß versetzt. Sie ist eine Utopie, die stets an der Interessenverschiedenheit der realen Nationen scheitern muß. Der P a n r o m a n i s m u s hat es nur bis zur lateinischen Münzunion gebracht, der P a n g e r m a n i s m u s s p u k t n u r in den Köpfen einiger Leute, der P a n m o n g o l i s m u s (die g*

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„gelbe G e f a h r " ) h a t nur kurze Zeit Furcht erweckt, und selbst d e r P a n i s l a m i s m u s , mit dem m a n c h e noch als mit einem politischen F a k t o r rechnen zu müssen glauben, scheint völlig zu versagen und hat jedenfalls seine s t a a t e n b i l d e n d e K r a f t gänzlich eingebüßt (vgl. S. 100). Ein anderes Bewandtnis h a t es mit d e m geographischen K o n nationalismus. Hier handelt es sich zunächst nur um wirtschaftliche Interessengemeinschaften innerhalb einer geographischen Einheit, aus denen im Laufe der Zeit politische Verbände erwachsen können. Bisher ist n u r der P a n a m e r i k a n i s m u s von einiger B e d e u t u n g geworden, w e n n auch die erste Konferenz der amerikanischen S t a a t e n in W a s h i n g t o n (1889—90) zu keinem durchschlagenden Erfolge g e f ü h r t h a t . Aber trotzd e m wird diese Bewegung immer weitere Kreise ziehen, schon deshalb, weil die Vereinigten S t a a t e n d a r a n auf das lebhafteste interessiert sind. Auch die Schlagworte: Asien den Asiaten, Afrika den A f r i k a n d e r n , k ö n n e n vielleicht einmal zu praktischen Ergebnissen führen, deren Tragweite sich noch gar nicht absehen läßt. Es ist zu beachten, d a ß hier der Grad der geographischen Abgeschlossenheit großen Einfluß zu h a b e n scheint. Ganz anderer Art ist der I n t e r n a t i o n a l i s m u s . Man v e r s t e h t d a r u n t e r organisierte Interessenverbände einzelner Kreise v e r s c h i e d e n e r S t a a t e n zu bestimmten Zwecken, Man unterscheidet gewöhnlich eine s c h w a r z e (extrem-katholische), eine r o t e (sozialdemokratische) u n d eine g o l d e n e Internationale (Finanzkreise). Doch ist d a m i t ihre A u f z ä h l u n g nicht erschöpft. Man kann noch von einer f r e i m a u r i s c h e n (Gegensatz zur schwarzen, besonders wichtig in romanischen Ländern), von einer h ö f i s c h e n , die auf den v e r w a n d t s c h a f t l i c h e n Beziehungen der europäischen Herrscherfamilien b e r u h t , u n d einer w i s s e n s c h a f t l i c h e n Internationale sprechen, die in internationalen Aufgaben (z. B. Erdmessung) und K o n g r e s s e n 1 ihren Ausdruck findet. Eigentlich widerspricht jede Internationale der Staatsidee, insbesondere der Idee des Nationalstaates, indem sie innerhalb der Nationen Scheidewände a u f f ü h r t , aber ihre W i r k u n g e n sind doch sehr verschieden. Das h ä n g t von ihrer Organisation und ihren Zwecken ab. W e n n sich diese mit dem Staatszweck vereinigen lassen oder neutral sind, sind internationale Verbände ungefährlich. So im allgemeinen diewissenschaftlichen. 1

Nach einer Zusammenstellung von SARTORIUS V. WALTERSHAUSEN wurden 1840—1900 1124 wissenschaftliche internationale Kongresse abgehalten, also durchschnittlich 18 im Jahre, dagegen 1900—12 1491, d. h. 124 jedes Jahr. Auf jedem Kongresse wurde seine völkereinigende Kraft gepriesen; das Vorgehen der feindlichen Gelehrten und gelehrten Körperschaften gegen die deutschen Gelehrten bietet ein drastisches Beispiel dafür.

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A n d e r s dagegen, w e n n sie politische M a c h t a n s t r e b e n . Die schwarze I n t e r n a t i o n a l e h a t d a d u r c h , d a ß sie sich a n die k r a f t v o l l e O r g a n i s a t i o n d e r k a t h o l i s c h e n K i r c h e a n l e h n t , bis in u n s e r e Tage hinein zeitweise einen g r o ß e n politischen E i n f l u ß a u s g e ü b t . Dasselbe gilt v o n der gold e n e n , f r e i m a u r i s c h e n u n d vielleicht a u c h v o n der höfischen Intern a t i o n a l e , obwohl sich d a r ü b e r n i c h t s B e s t i m m t e s a u s s a g e n - l ä ß t , weil sie s ä m t l i c h ihre M a c h t im geheimen a u s ü b e n u n d d a h e r d e r K o n t r o l l e e n t ziehen. Alle a b e r s t e h e n j e t z t h i n t e r der r o t e n z u r ü c k , so d a ß m a n diese als I n t e r n a t i o n a l e s c h l e c h t w e g bezeichnet. Sie k a n n wegen ihrer ausg e b i l d e t e n O r g a n i s a t i o n in einem gewissen Sinne d e m S t a a t e an die Seite gestellt w e r d e n , ist ein politischer M a c h t f a k t o r u n d sich dessen a u c h v o n T a g zu T a g m e h r b e w u ß t , je m e h r es ihr gelingt, in d e n W i r k u n g s kreis der a n d e r e n F a k t o r e n e n t s c h e i d e n d einzugreifen. Ihre t h e o r e t i s c h e G r u n d l a g e schuf M A R X d u r c h seine m a t e r i a l i s t i s c h e G e s c h i c h t s a u f f a s sung. Diese f ü h r t n o t g e d r u n g e n d a z u , das auf der S p r a c h - u n d K u l t u r einheit g e g r ü n d e t e N a t i o n a l p r i n z i p zu v e r k e n n e n u n d die w i r t s c h a f t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e allein in den V o r d e r g r u n d zu r ü c k e n . 1 Der G e g e n s a t z zwischen Reich u n d A r m , Besitzenden u n d Besitzlosen oder, wie es j e t z t h e i ß t . Bourgeoisie ( n u r sprachlich, n i c h t aber a u c h begrifflich g l e i c h b e d e u t e n d m i t B ü r g e r t u m ) u n d P r o l e t a r i a t h a t in h ö h e r e m oder geringerem G r a d e zu allen Zeiten b e s t a n d e n u n d i m m e r g a b es a u c h w i r t s c h a f t l i c h e K ä m p f e , w e n n a u c h teilweise v e r h ü l l t d u r c h d a s I n s t i t u t der Sklaverei u n d Leibeigenschaft. Auch das K a m p f m i t t e l des S t r e i k s ist keine neue E r f i n d u n g ; die A u s w a n d e r u n g der römischen P l e b s im J a h r e 494 v. Chr. w a r ein r e g e l r e c h t e r Generalstreik, u n d d u r c h d a s I n t e r d i k t riefen die m i t t e l a l t e r l i c h e n P ä p s t e die Geistlichkeit z u m G e n e r a l s t r e i k gegen d a s Laienturn a u f . A b e r alle diese B e w e g u n g e n vollzogen sich im R a h m e n des S t a a t e s , erst die rote I n t e r n a t i o n a l e v e r s u c h t ihn m i t d e r Parole „ P r o l e t a r i e r aller L ä n d e r , vereinigt e u c h " zu s p r e n g e n . 2 D a m i t ist eine ganz n e u e Lage g e s c h a f f e n . Die M A R X s s c h e Lehre w u r d e G e m e i n g u t u n d ihre S c h r i f t e n g e w a n n e n k a n o n i s c h e s A n s e h e n . Ü b e r h a u p t zeigt der Siegeslauf d e r r o t e n Intern a t i o n a l e viele v e r w a n d t e Züge m i t d e m des U r c h r i s t e n t u m s . A u c h sie e r s t a r r t e b a l d zu O r t h o d o x i e u n d f ü h r t e d a m i t z u r U n f r e i h e i t , k o n n t e 1

S e l b s t ein so k e n n t n i s - und geistreicher sozialistischer Schriftsteller wie PAUL LENSCH k a n n sich v o n dieser A u f f a s s u n g n i c h t frei m a c h e n , die ihn u. a. zu einer g r u n d f a l s c h e n B e u r t e i l u n g der Verhältnisse in der altösterreichischen Monarchie f ü h r t e ( W e l t r e v o l u t i o n , zit. S. 106, S. 152). 2 D a s b e d e u t e t die völlige A u f l ö s u n g des S t a a t e s . „ D a s P r o l e t a r i a t " , b e k e n n t offen das italienische S o z i a l i s t e n b l a t t „ A v a n t i " (19. D e z e m b e r 1918), „ k e n n t keine Grenzen u n d keine Vaterländer".

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aber auch Ketzereien nicht verhindern. Beide Bewegungen bergen einen unvergänglichen Kern in sich, aber in beiden treten Zerfallserscheinungen immer unverhüllter zutage. Der nationale Widerstand kann auch von der roten Internationale nicht völlig gebrochen-werden. J e älter, in sich gefestigter, machtvoller und wirtschaftlich gesunder ein Staat, je gleichartiger sein völkisches Gefüge ist, desto kräftiger wehrt er sich gegen das rote Zersetzungsferment. England ist ein schlagendes Beispiel. Der phantastische Traum einer Weltrevolution s p u k t wohl nur mehr in unklaren Köpfen. Frankreich versagt und selbst Italien besinnt sich. In Deutschland, dem Mutterlande der Internationale, zerbröckelt die sozialistische Partei; in den sog. Mehrheitssozialisten glimmt noch immer ein Funke nationalen Geistes, und selbst von den blutigsten Kommunisten beginnt sich eine kleinere Gruppe von Nationalbolschewisten abzusondern. Der Weltkrieg endlich h a t den roten Internationalismus völlig widerlegt, denn wäre dieser nicht bloß eine Idee, sondern eine wirkliche Macht, so h ä t t e der Krieg gar nicht zustande kommen können. So dürfen wir mit Recht die Hoffnung hegen, daß die Z u k u n f t dem Nationalstaate bleibt. Die völkische Struktur der europäischen Kolonien. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit haben hier eine andere Bedeutung, als in den Staaten des christlichen Kulturkreises. Nicht die Sprache, sondern die Rasse, die H a u t f a r b e ist hier das Entscheidende. Die A r t des Pseudonationalismus, die wir in den Vereinigten Staaten kennen gelernt haben, ist daraus hervorgegangen. Nach ihren völkischen Verhältnissen haben wir auf S. 19 drei Kategorien unterschieden. Infolge der E i n f ü h r u n g fremder farbiger Arbeiter, besonders von Negersklaven, haben sich auch von den weißen Kolonialstaaten die wenigsten rein erhalten. Eingebornen- wie Einwanderkolonien kann man, vom Rassens t a n d p u n k t aus gesehen, eine gleichartige völkische S t r u k t u r zusprechen, die aber auf den Staatswillen unmittelbar keinen Einfluß a u s ü b t . Denn dieser hat seinen Ursprung nicht in der Kolonie, sondern in dem Kernlande, zu dem die Kolonie gehört. Dies war wenigstens der tatsächliche Zustand bis zum Ende des 18. J a h r h u n d e r t s . Seitdem sind auf britischem Boden autonome Einwandererkolonien entstanden — K a n a d a , Neufundland, Südafrika, Australien und Neuseeland—, die mit dem englischen Kernlande nur noch durch lose Fäden zusammenhängen, und die wir daher bis zu einem gewissen Grade als unabhängige Staaten betrachten dürfen. Sie tragen alle einen mehr oder weniger ausgesprochen pseudonationalen Charakter von jenem Typus, den wir den kolonialen

D i e völkische Struktur der Staaten.

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g e n a n n t haben. Die Eingebornenkolonien stehen zwar ganz u n t e r dem Staatswillen des Kernlandes, aber es h ä n g t viel d a v o n ab, wie weit diesem freiwillig Folge geleistet wird. D a h e r sind sie f ü r m a n c h e Kolonials t a a t e n trotz aller Vorteile, die sie bieten, mehr ein Moment der Schwäche als der Stärke. Das t r i t t vor allem d a n n ein, wenn die Eingeborenen einem Kulturkreis angehören u n d einen k r ä f t i g entwickelten Eigenwillen besitzen. Deshalb steht die englische H e r r s c h a f t in Vorderindien auf etwas wackeligen Beinen, und die gleiche E r f a h r u n g m a c h t sie jetzt in Ägypten. Die M i s c h k o l o n i e n haben die ungünstigste S t r u k t u r . Der Grund liegt nicht in dem Durcheinanderwohnen von Farbigen und Weißen, obwohl dies schon an und f ü r sich kein einheitliches Volksbewußtsein a u f k o m m e n lassen würde, sondern in der Blutmischung. Der b e k a n n t e S a t z ; die Mischlingskinder hassen ihre weißen Väter und v e r a c h t e n ihre farbigen Mütter, enthüllt uns den ganzen moralischen J a m m e r solcher geschlechtlichen Verbindungen, die besonders bei den Kolonisten romanischer A b s t a m m u n g so häufig sind. Die V e r k o m m e n h e i t der Mestizen und Mulatten ist ein nur zu deutlicher Beweis d a f ü r . T r o t z d e m m u ß m a n die Frage offen lassen, ob diesem Übel Einhalt getan werden könne. Es wird noch dadurch gesteigert, daß, wie h u n d e r t j ä h r i g e E r f a h r u n g lehrt, in Mischehen nicht der farbige Teil kulturell und sittlich hinauf-, sondern der weiße herabgezogen wird. Auf diese Weise wirkt es also auch schädlich, wenn die ursprünglich heterogene völkische S t r u k t u r allmählich homogener wird. Das kann auch nicht dazu beitragen, ein einheitliches Volksbewußtsein zu erzeugen, im Gegenteil: der Mischling ist ein Feind der Ordnung, und in denjenigen von der N a t u r so gesegneten Ländern, wo er herrscht, sind U m s t u r z und blutige Rebellion eine bleibende Einrichtung.

Die wirtschaftliche Struktur der Staaten. Grundbegriffe. Das wirtschaftliche Leben des S t a a t e s besteht in Erzeugung und Verbreitung von G ü t e r n oder mit anderen W o r t e n : in P r o d u k t i o n und H a n d e l . Die Güter e n t s t a m m e n entweder den organischen N a t u r r e i c h e n oder dem mineralischen. Dieser Unterschied ist grundlegend f ü r den wirtschaftlichen Charakter eines Staates. Denn alle organischen Erzeugnisse sind an s t r e n g e G e s e t z e gebunden, sind abhängig von der T e m p e r a t u r u n d der Feuchtigkeit, ä n d e r n sich daher mit der geographischen Breite und mit der Seehöhe, und sind dem Einfluß aller jener Faktoren unterworfen, die die Verteilung der Niederschläge auf der festen Erdoberfläche regeln. Die Einteilung der S t a a t e n nach ihrer mittleren Breitenlage, die wir auf S. 65 gegeben haben, gibt u n s d e m n a c h nur eine ungefähre, rohe Vorstellung von ihrer wirtschaftlichen S t r u k t u r , soweit diese auf der organischen P r o d u k t i o n b e r u h t . Z u d e m ist das Klima f ü r die organische P r o d u k t i o n nicht allein verantwortlich, sondern auch die Beschaffenheit des Bodens, und Boden und Klima folgen nicht den gleichen Gesetzen. Es k o m m t noch etwas dazu. Das Klima ist gänzlich u n a b h ä n g i g von dem Menschen, der Boden aber nicht. Verschiedene Zusätze, wie Guano, Chilisalpeter, Kalisalze u. a. können den Charakter des Bodens auf weite Strecken hin völlig v e r ä n d e r n , u n f r u c h t b a r e s Land in f r u c h t b a r e s umschaffen. Ein zweiter ebenso wichtiger Unterschied zwischen der organischen und mineralischen Produktion besteht darin, d a ß sich jene in gewissen Zeitabschnitten immer wieder erneuert, diese aber nicht. Pflanzen und Tiere sind also D a u e r g ü t e r , die bei zweckmäßiger B e h a n d l u n g sogar i n n e r h a l b gewisser Grenzen immer besser und reichhaltiger werden. Nur auf ihnen läßt sich ein geordnetes W i r t s c h a f t s s y s t e m a u f b a u e n , w ä h r e n d die mineralischen Schätze, die m a n aus der Erde hervorholt, nicht mehr ersetzt werden können, u n d daher jeder Bergbau, möge er auch noch so sehr nach wissenschaftlichen G r u n d s ä t z e n betrieben werden, im Grunde g e n o m m e n immer R a u b b a u bleibt.

D i e wirtschaftliche Struktur der

Staaten.

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Im Gegensatze zu den Erzeugnissen der organischen Welt sind die mineralischen an keine klar e r k e n n b a r e n Gesetze gebunden, sie sind regellos oder wenigstens scheinbar regellos über die Erde verteilt. Nach dem Gesichtspunkte des Z w e c k e s unterscheiden wir 1. N a h r u n g s m i t t e l , die uns das Pflanzen- und d a s Tierreich-liefern. Nach der allgemeinen A n n a h m e können wir nur organische N a h r u n g assimilieren, und in der T a t wird d a h e r die V e r b r e i t u n g der Menschen hauptsächlich durch die klimatischen F a k t o r e n geregelt. Ob wir aber in dieser Hinsicht wirklich einem eisernen Gesetz unterworfen sind, scheint doch noch fraglich, denn in b e s c h r ä n k t e m Grade können wir doch a u c h mineralische Substanzen assimilieren, wie vor allem Salz, d a n n Eisen u. a. Für die E r n ä h r u n g k ä m e n freilich n u r K o h l e n s t o f f v e r b i n d u n g e n in B e t r a c h t . Doch ist es überflüssig, diesen G e d a n k e n g a n g weiter zu verfolgen u n d darauf Z u k u n f t s p l ä n e a u f z u b a u e n . Für absehb a r e Zeit sind wir sicher auf das Pflanzen- u n d das Tierreich angewiesen. Das gilt auch f ü r 2. die Gruppe der G e n u ß m i t t e l , die zu allen Zeiten u n d auf allen Zivilisationsstufen eine große Rolle gespielt haben. Die 3. Gruppe bilden die R o h s t o f f e , die allen drei N a t u r r e i c h e n entn o m m e n werden, und zu ihrer N u t z b a r m a c h u n g erst der menschlichen Bearbeitung, die wir als Industrie im weitesten Sinne bezeichnen, bedürfen. 4. Die g e w e r b l i c h e n oder I n d u s t r i e e r z e u g n i s s e bilden wieder eine Gruppe f ü r sich, es sind teils Bekleidungsgegenstände, bei welchen, wenn auch in b e s c h r ä n k t e m Grade, wieder die Abhängigkeit v o m Klima zum Vorschein k o m m t , teils G e r ä t s c h a f t e n der verschiedensten Art und zu den verschiedensten Zwecken. Wichtig ist namentlich der Unterschied zwischen H a l b - und V o l l w a r e n ; jene werden u n m i t t e l b a r aus den Rohstoffen hergestellt und liefern wieder den Stoff f ü r die Vollwaren. Eine solche Stufenfolge bildet z. B. die Rohbaumwolle, das Baumwollgarn und d a s Baumwollgewebe. Als eine besondere P r o d u k t i o n s g r u p p e sind 5. die K r a f t s t o f f e zu nennen, die m a n f r ü h e r meist zu den Rohstoffen rechnete, die sich davon aber wesentlich unterscheiden, indem sie an sich keinen stofflichen W e r t besitzen, sondern vielmehr erst die V e r n i c h t u n g des Stoffes sie zu wirtschaftlichen Gütern stempelt. Der wichtigste Kraftstoff ist die Kohle. Sie ist, abgesehen von ihrer gelegentlichen V e r w e n d u n g zu medizinischen und anderen Zwecken, an sich wertlos; aber indem sie v e r b r a n n t wird, erzeugt sie Licht und W ä r m e , u n d diese k a n n in mechanische Arbeit ü b e r g e f ü h r t werden, die unsere Maschinen in Bewegung setzt. Ein anderes Beispiel ist das Petroleum, das jetzt, seit der E n t d e c k u n g der reichen mexikanischen Erdölvorkommnisse, immer mehr an B e d e u t u n g gewinnt und namentlich auf D a m p f s c h i f f e n die Kohle

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D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

zu verdrängen sucht. Auch das bewegte Wasser, das als eine elektrische K r a f t q u e l l e immer mehr an B e d e u t u n g gewinnt, k a n n als ein K r a f t stoff angesehen werden, der freilich keiner völligen substantiellen Vern i c h t u n g unterliegt, sondern nur insofern unserer Definition entspricht, als eine Bewegungsart in eine andere ü b e r g e h t . Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben diese P r o d u k t i o n s g r u p p e n sich in verschiedener Weise entwickelt. Im allgemeinen kann m a n sagen, d a ß sie sich vervielfältigt h a b e n . Darin b e s t e h t im wesentlichen auch der Fortschritt der Zivilisation. Die N a h r u n g s m i t t e l haben natürlich zu allen Zeiten den ersten R a n g b e h a u p t e t und sind auch in geschichtlicher Zeit am k o n s t a n t e s t e n geblieben. Wohl m a g der herumschweifende Sammler hier und d a neue N a h r u n g s m i t t e l entdecken, wohl v e r ä n d e r t sich das Aussehen der Pflanzungen, der Felder und der Viehweiden f o r t w ä h r e n d , aber das k o m m t nur durch örtliche Ü b e r t r a g u n g zustande. Freilich k a n n sich d a d u r c h der wirtschaftliche C h a r a k t e r weiter Gebiete ändern, wie beispielsweise durch die E i n f ü h r u n g des Maises und der Kartoffel aus der Neuen in die Alte Welt und durch die der altweltlichen Getreidearten nach A m e r i k a und Australien. In bezug auf die Genußstoffe haben sich viel größere W a n d l u n g e n vollzogen. Das ist auch leicht begreiflich, denn die Genußfähigkeit des Menschen ist ja, wenn sie einmal angeregt wird, unbegrenzt, und die Geschmacksrichtungen sind außerordentlich verschieden und zugleich im hohen -Grade dem Wechsel unterworfen. In der Geschichte der E n t d e c k u n g e n haben die G e n u ß m i t t e l eine große Rolle gespielt, schon in den ältesten Zeiten war Salz ein außerordentlich b e g e h r t e r Artikel, die Sehnsucht nach Gewürzen f ü h r t e die Portugiesen und Holländer nach Ostindien, Zucker und Kaffee wurden die Grundlage großer kolonisatorischer U n t e r n e h m u n g e n . Eine ebenso große Umwälzung hat das Zeitalter der Kolonisation in der P r o d u k t i o n von Rohstoffen hervorgerufen. Man b r a u c h t nur an Baumwolle und K a u t s c h u k zu erinnern. Aber nicht darauf ist der Nachd r u c k zu legen, d a ß wir mit neuen Stoffen b e k a n n t w u r d e n , sondern auf die ungeheuern Q u a n t i t ä t e n , die uns nun z u g e f ü h r t werden. Ihre t r o p i s c h e n Ursprungsländer haben erst d a d u r c h eine dominierende Stellung in der wirtschaftlichen E n t w i c k l u n g gewonnen. Doch soll d a m i t nicht gesagt sein, d a ß die gemäßigte Zone völlig in den Hintergrund gerückt sei. Sie mag noch manche wertvolle Beiträge liefern. Wir h a b e n uns darauf besonnen, als die N o t des Krieges uns von den Tropen abschloß. Die E n t d e c k u n g , d a ß unsere große Brennessel (Urtica dioica) einen E r s a t z f ü r die Baumwolle liefert, soll auch in Friedenszeiten nicht in Vergessenheit geraten.

D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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Die Produktion der Rohstoffe und K r a f t m i t t e l geht H a n d in H a n d mit der E n t w i c k l u n g der Gewerbe. Hierin ist der Gegensatz von Einst und J e t z t am schroffsten. Durch J a h r t a u s e n d e beruhte die gewerbliche Tätigkeit n u r auf H a n d a r b e i t , und der mechanische Fortschritt bestand nur in der Verbesserung und Verfeinerung der Werkzeuge. Das ä n d e r t e sich, wenn auch nicht mit einem Schlage, so doch in überraschend kurzer Zeit mit der E r f i n d u n g der D a m p f m a s c h i n e durch JAMES W A T T im J a h r e 1 7 6 9 . Der H a n d b e t r i e b ging in den Maschinenbetrieb über, und die Industrie gelangte dadurch zu einer E n t f a l t u n g wie nie zuvor. D a m i t natürlich auch die Prod u k t i o n von Rohstoffen und K r a f t m i t t e l n . Diese Entwicklung, die a n f a n g s mit schweren wirtschaftlichen E r s c h ü t t e r u n g e n 1 v e r b u n d e n war, ist noch nicht abgeschlossen. Die Mechanisierung des- gesamten W i r t s c h a f t s l e b e n s schreitet u n a u f h a l t s a m vorwärts. Die D a m p f m a s c h i n e erzeugt wieder Arbeitsmaschinen, die die M e n s c h e n k r a f t zu ersetzen bes t i m m t sind und endlich die Menschen selbst in Maschinen verwandeln. Die industrielle P r o d u k t i o n n i m m t immer größere Dimensionen an, und wir werden sehen, wohin diese f ü h r e n m u ß . ,, In qualitativer und vor allem in q u a n t i t a t i v e r Hinsicht steigert die Maschine", sagt SOMBART2, „ d a s menschliche Können über das individuell erreichbare M a x i m u m der Vollkommenheit h i n a u s . " Außerdem läßt sich noch nicht absehen, welcher U m s c h w u n g sich vollziehen wird, wenn der Dampf immer mehr von der Elektrizität überflügelt wird. Angesichts des bisher Erreichten ist es verständlich, wenn in Laienkreisen sich die Meinung v e r s t ä r k t e , es eröffne sich uns immer mehr ein Ausblick auf unbegrenzte wirtschaftliche Möglichkeiten. Aber auch hier ist d a f ü r gesorgt, d a ß die B ä u m e nicht in den Himmel wachsen. J U L I U S W O L F 3 ist zu dem Schlüsse gekommen, d a ß wir auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens endlich einmal auf Schranken stoßen müssen, die auch der menschliche Erfindergeist nicht überfliegen k a n n . W e n n wir oben die P r o d u k t e der organischen Welt D a u e r g ü t e r n a n n t e n , so ist dies nur relativ zu verstehen. Landwirtschaftlich ben u t z b a r sind jetzt ungefähr 30 Mill. q k m in den Tropen und 26 Mill. q k m in den gemäßigten Zonen. Da die geographischen E n t d e c k u n g e n in den g e n a n n t e n Zonen im großen als abgeschlossen b e t r a c h t e t werden dürfen, so k a n n mit einer wesentlichen E r w e i t e r u n g der p r o d u k t i v e n Bodenfläche nicht gerechnet werden. Aber auch ihre E r t r a g f ä h i g k e i t 1

Ein anschauliches Bild

davon

g i b t GOETHE in W i l h e l m M e i s t e r s

jahren. 2

Der moderne

3

Zit. S. 57.

K a p i t a l i s m u s , L e i p z i g 1 9 0 2 , B d . II, S. 5 2 .

Wander-

D i e w i r t s c h a f t l i c h e S t r u k t u r der Staaten.

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f i n d e t eine Grenze an dem allerdings oft bestrittenen G e s e t z d e s s i n k e n d e n B o d e n e r t r a g e s , demzufolge man, um ein b e s t i m m t e s R e s u l t a t zu erzielen, immer mehr Arbeit und K a p i t a l a u f w e n d e n m u ß . Boden von geringerer Güte wird von diesem Gesetz besonders b e t r o f f e n . Auch auf F i s c h e r e i u n d besonders auf B e r g b a u findet dieses Gesetz A n w e n d u n g . U n m i t t e l b a r einleuchtend ist, d a ß der Bergbau mit d e m Vordringen in immer größere Tiefen kostspieliger wird und endlich ganz aufhören muß. Die wichtigsten m i n e r a l i s c h e n P r o d u k t e f ü r die Gegenwart sind Kohle, Eisen, K u p f e r und Gold. W i e d e r h o l t sind Berechnungen aufgestellt w o r d e n , wie lange die uns b e k a n n t e n Vorkommnisse noch v o r h a l t e n werden. Dem Gold h a t E D U A R D S U E S S schon f ü r 1 8 7 7 ein Ende gesetzt; wir wissen, wie d u r c h die westaustralischen und südafrikanischen Goldlager diese Prophezeiung zuschanden geworden ist, und können d a h e r auch J U L I U S W O L F , der den Termin bis zum Ende unseres J a h r h u n d e r t s verlängert, n u r mit größter Skepsis begegnen. Auch daß d e m Eisenbergbau n u r noch 1000 J a h r e in Aussicht gestellt werden, erscheint uns angesichts unserer noch sehr dürftigen geologischen K e n n t n i s A f r i k a s und großer Teile Asiens und S ü d a m e r i k a s eine sehr gewagte A n n a h m e , aber unzweifelhaft wird einmal die Zeit kommen, wo wir nur mehr auf Altgold u n d Alteisen angewiesen sein werden. Die wichtigste Frage ist aber, wie lange wir noch K o h l e n haben werden 1 , denn sie sind nun einmal die Grundlage unserer ganzen modernen Zivilisation. Auch d a r ü b e r sind wiederholt Berechnungen a n gestellt worden. Die R e s u l t a t e widersprechen sich, und sind schon deshalb unsicher, weil die K o h l e n f ö r d e r u n g in den letzten J a h r e n unheimliche Dimensionen a n g e n o m m e n h a t . Doch darin stimmen die meisten überein, d a ß es sich bei den westeuropäischen Kohlenfeldern, also bei jenen, die jetzt die wichtigsten Industrien ernähren, um nicht viel m e h r als ein J a h r h u n d e r t handelt. In Z u k u n f t wird neben den Vereinigten S t a a t e n China eine Hauptrolle spielen. Aber auch mit ihren Vorräten wird m a n sparsam umgehen u n d jedenfalls das sich bewegende Wasser immer mehr als Energiequelle heranziehen müssen. Die großen Wasserfälle, wie der Niagara und die Viktoriafälle des Sambesi, der Kongo u. a. m., sind Kraftreservoirs, die noch k a u m oder gar nicht a u s g e n u t z t werden. Das Verhältnis von K r a f t s t o f f e n und Rohstoffen zu deren Vera r b e i t u n g k a n n ein dreifaches sein: 1. K r a f t - und Rohstoffe finden sich vereint a m gleichen Ort, oder 2. es sind nur K r a f t s t o f f e da, zu deren 1

FRITZ FRECH, Die K o h l e n v o r r ä t e der W e l t , S t u t t g a r t

1918.

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D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

A u s n u t z u n g Rohstoffe von fernher herbeigeführt werden, oder endlich 3. fehlen beide, es sind aber andere zufällige U m s t ä n d e (z. B. billige und geschulte Arbeitskräfte) vorhanden, die zu einer industriellen Anlage a n einem b e s t i m m t e n Orte drängen. Im ersten Falle sprechen wir von einer b o d e n s t ä n d i g - e n , in den beiden andern Fällen von einer V e r edelungsindustrie. Rohstoffe ohne K r a f t s t o f f e rufen in der Regel keine Industrie hervor, sondern werden zur V e r a r b e i t u n g in K r a f t s t o f f gebiete a u s g e f ü h r t . Der Grund hiervon wird s p ä t e r klar werden. Man sollte meinen, die bodenständigen Industrien seien die ältesten, d a s gilt aber nicht uneingeschränkt. Die b e r ü h m t e n T u c h m a n u f a k t u r e n Flanderns u n d von Florenz beruhten auf englischer Schafwolle. Richtig ist aber, d a ß die Industrie in der Vorkohlenperiode im allgemeinen viel bodenständiger war als heutzutage. Die spärlichen K r a f t q u e l l e n , fließendes Wasser und das Holz der noch dichten Wälder, legten dem industriellen, Betriebe notwendig Schranken auf und fesselten ihn vorzugsweise an die Gegenden, wo auch Rohstoffe v o r h a n d e n waren. Kohle u n d D a m p f k r a f t haben alle Schranken weggerissen, die Expansionsk r a f t der Industrie wächst ins Ungeheure, das Tempo wird immer schneller. Der älteste Industriezweig Englands, die Tucherzeugung, w a r einst in des W o r t e s echtester B e d e u t u n g bodenständig, ist aber j e t z t ganz auf australische und südafrikanische Wolle angewiesen. Grundformen der Wirtschaft. Als M a ß s t a b dient uns die Art und Weise der Beschaffung von N a h r u n g s m i t t e l n . Alle höheren Völker haben hierin, wie ü b e r h a u p t in ihrem ganzen Wirtschaftsleben, verschiedene Stadien durchlaufen. Entsprechend der allmählichen E n t wicklung des menschlichen Geistes stellen diese Stadien in ihrer Ges a m t h e i t eine a u f w ä r t s f ü h r e n d e Stufenfolge dar, aber mit der Bes c h r ä n k u n g , d a ß verschiedene Völker verschieden lange auf einer Stufe v e r h a r r e n , und d a ß manche Völker diese oder jene Stufe überspringen. Die Umwelt übte dabei den größten Einfluß aus; anders entwickelten sich die Waldvölker als die Steppenvölker, anders die Bewohner der Tropen als die der eisigen Polarzone. So entsteht ein sehr b u n t e s Bild d e r wirtschaftlichen S t r u k t u r , und die schematische Auffassung der älteren Wissenschaft ist gänzlich verlassen. Das ist z u m größten Teil d a s Verdienst von R A T Z E L und von E D U A R D H A H N . 1 A u f . d e r untersten Stufe steht als primitivste W i r t s c h a f t s f o r m die Sammelwirtschaft. Der Mensch folgt f a s t ausschließlich d e m N a h r u n g s b e d ü r f n i s und unterscheidet sich in dieser Hinsicht wenig 1

D i e W i r t s c h a f t s f o r m e n der Erde..

K a r t e auf T a f . 2.

Petermanns-Mitteilungen

Die E n t s t e h u n g der P f l u g k u l t u r , H e i d e l b e r g

1 8 9 2 , S. 8, m i t

1909.

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Die wirtschaftliche S t r u k t u r der Staaten.

vom Tier. Ohne W a h l f ü h r t er alles E ß b a r e z u m Munde, was er gerade findet. Auch jetzt sind die Sammelvölker noch nicht völlig ausgestorben (z. B. die Eingeborenen von Australien, die W e d d a h s auf Ceylon, die Negritos auf den Philippinen u. a. an den Grenzen der menschlichen Besiedelung), aber auch sie haben durch B e r ü h r u n g mit höher stehenden Völkern Fortschritte gemacht. Im Grunde genommen gehören auch die J ä g e r - und F i s c h e r v ö l k e r zu den Sammelvölkern, denn auch sie e n t n e h m e n ihre N a h r u n g u n m i t t e l b a r der N a t u r und treiben R a u b b a u ohne systematische Sorge f ü r die Z u k u n f t , aber da sie Werkzeuge verschiedenster Art anwenden, stehen sie doch wirtschaftlich auf einer viel höheren Stufe als die Sammelvölker im engeren Sinne des W o r t e s . K a n n auf dieser Stufe von einem staatlichen Leben gesprochen w e r d e n ? Die Frage ist ebenso schwer zu b e a n t w o r t e n , wie die, ob es auch religionslose Völker gebe. Es h ä n g t alles d a v o n ab, was m a n u n t e r S t a a t und Religion v e r s t e h t . Für unsere A u f f a s s u n g vom S t a a t e k a n n es keinem Zweifel unterliegen, d a ß überall, wo Menschen nebeneinander wohnen und miteinander verkehren, völlige Anarchie unmöglich ist u n d sich Spuren einer Organisation finden müssen. Man m u ß nur d a n a c h suchen, wie es die Gebrüder SARASIN1 bei ihrem Besuch der N a t u r w e d d a h s im Ceylongebirge so erfolgreich g e t a n h a b e n . Völlig u n g e b u n d e n lebt auch dieser kleine S t a m m n i c h t ; sein Gebiet ist in J a g d g r ü n d e eingeteilt, deren Grenzen in der Regel respektiert werden; die blutsverw a n d t e n Familien schließen sich zu Clans z u s a m m e n , deren Häuptlinge freilich nichts weiter zu t u n haben, als den gesammelten Felsenhonig zu verteilen. Von dieser e m b r y o n e n h a f t e n Organisation bis zu den verh ä l t n i s m ä ß i g hoch stehenden Organisationen der indianischen J ä g e r s t ä m m e , die selbst den europäischen Kolonisten genug zu schaffen m a c h t e n , l ä ß t sich eine Reihe Übergänge aufzeigen, ein Beweis, d a ß der Mensch in der T a t , wie A R I S T O T E L E S ihn bezeichnete, ein FßOV noXixtxov ist. Eine W i r t s c h a f t s f o r m , die aber nur in der Alten Welt zur E n t wicklung gelangt ist, ist der N o m a d i s m u s . Die Hirtenvölker sind die ersten, die richtunggebend in die N a t u r eingriffen und die Eigenart der organischen Welt, die beständige Wiedererneuerung, f ü r ihre wirtschaftlichen Zwecke systematisch a u s n u t z t e n . Aber nur auf dem Gebiete der Viehzucht. N u r f ü r diesen W i r t s c h a f t s z w e i g konnten die weiten, vorwiegend flachen Steppen und W ü s t e n der Alten Welt genügen, jedoch waren die Herdenbesitzer gezwungen, beständig zu wandern, um geeignete F u t t e r p l ä t z e f ü r das Vieh aufzusuchen. Deshalb sind 1 E r g e b n i s s e n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e r . F o r s c h u n g e n auf Ceylon, 3. B d . b a d e n 1892—93. S. 4 8 0 f f .

Wies-

Die wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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die Hirtenvölker, t r o t z d e m sie in vielen Dingen schon zu einer ziemlich hohen Zivilisation gelangt waren, doch von der N a t u r gehindert worden, den letzten entscheidenden Schritt zu t u n , nämlich sich s e ß h a f t zu machen. Sammel-, J ä g e r - und Hirtenvölker haben, so verschieden sie auch voneinander sein mögen, doch den einen Grundzug gemein: sie sind u n s t e t e V ö l k e r . E r s t der A c k e r b a u zwang den Menschen zur S e ß h a f t i g k e i t und d a m i t zur E i n f ü h r u n g geordneter Einrichtungen und des staatlichen Zwanges. Nur sie fallen in den Gesichtskreis der politischen Geographie. Der Ackerbau wird auf zweierlei Art b e t r i e b e n : mit der Hacke und mit dem Pflug. Der H a c k b a u ist die unvollkommenste und zugleich höchst entwickelte Form, indem er von der primitivsten Bodenbearbeitung bis zur G a r t e n k u l t u r f ü h r t . Auf erstere wenden wir speziell den Namen H a c k b a u an. Man n i m m t an, d a ß er auch die ursprünglichste W i r t s c h a f t s f o r m ist, indem er sowohl bei Sammel- wie bei J ä g e r völkern und N o m a d e n nebenbei durch die Weiber betrieben wurde. Er hat sich aber bei den tropischen Ackerbauern bis in die neueste Zeit erhalten und ist mindestens ebensoweit verbreitet wie die Pflugkultur. Der Grund scheint darin zu liegen, d a ß m a n nach alter Sitte die Feldbestellung den Weibern .überläßt, deren schwächere K r ä f t e zu einer intensiven B e a r b e i t u n g des Bodens nicht ausreichen. Man begnügt sich daher, die Erde nur oberflächlich mit einfachen Werkzeugen, besonders mit der Hacke, a u f z u k r a t z e n . Da die D ü n g u n g fehlt, m u ß m a n durch häufigen Wechsel der A n b a u f l ä c h e der E r s c h ö p f u n g des Bodens entgegenarbeiten, und alle diese U m s t ä n d e bringen es mit sich, d a ß der H a c k b a u sich niemals über so weite Felder ausbreiten kann, wie die P f l u g k u l t u r . In den tropischen Gegenden ersetzt die natürliche F r u c h t b a r k e i t diesen Mangel zum Teil. Die G a r t e n k u l t u r , die auf intensivster Bodenpflege durch Düngung und künstliche Bewässerung mit A u s n u t z u n g auch der kleinsten Flächen b e r u h t und sich auch der Hacke zur Auflockerung der Erde bedient, k a n n sich natürlich meist nur auf kleine R ä u m e beschränken, wie z. B. in der U m g e b u n g unserer Großstädte, wo ihre hauptsächlichsten Erzeugnisse, Gemüse und Früchte, lohnenden Absatz finden. Sie drückt aber in China und J a p a n dem ganzen Ackerbau ihren Stempel auf. Eine ähnliche B e w a n d t n i s hat es mit der P l a n t a g e n w i r t s c h a f t , besonders in der tropischen Zone; auch sie ist intensivster H a c k b a u , unterscheidet sich aber von der G a r t e n w i r t s c h a f t d a d u r c h , d a ß sie sich meist nur auf die Zucht einer einzigen Pflanze beschränkt. Die P f l u g k u l t u r ist schon in vorgeschichtlicher Zeit in Westasien entstanden und h a t sich von da mit der abendländischen K u l t u r

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D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

über E u r o p a und die außereuropäischen Kolonien verbreitet. Da zur H a n d h a b u n g des das Erdreich tief a u f w ü h l e n d e n Pfluges die menschlichen K r ä f t e nicht ausreichten, m u ß t e das Tier, und zwar das Rind, zur U n t e r s t ü t z u n g herangezogen werden, und so t r i t t die P f l u g k u l t u r stets in Gemeinschaft mit der Viehzucht auf. Eine weitere Folge war die natürliche D ü n g u n g , und nun k o n n t e tiberall, wo W ä r m e und Feuchtigkeit in ausreichendem Maße v o r h a n d e n waren, auch der Anbau unserer anspruchsvolleren Getreidearten mit Erfolg in Angriff gen o m m e n werden. So h a t sich viele J a h r h u n d e r t e hindurch der Ackerbau auf Grund der E r f a h r u n g vieler Generationen in gewohnten, festen Bahnen entwickelt, bis in unserer Zeit die Wissenschaft, vor allem die Chemie, sich seiner a n n a h m , die M a s c h i n e n k r a f t die P r o d u k t i o n in ung e a h n t e m Maße steigerte, und der wachsende Verkehr die natürlichen Unterschiede in der Erzeugung von organischen N a h r u n g s m i t t e l n ausglich. Wirtschaftsstufen. 1 W i r t s c h a f t ist der Inbegriff aller Arbeit, die den Zweck hat, irgendeinem menschlichen Mangel abzuhelfen und irgendein menschliches Bedürfnis zu befriedigen. Zwei Gruppen von Bedürfnissen k ä m e n hier als allgemein in B e t r a c h t : die E x i s t e n z b e d ü r f n i s s e , vor allem die E r n ä h r u n g , aber auch der D r a n g nach Gewürzen, der sich u m so s t ä r k e r f ü h l b a r m a c h t , je einförmiger die Kost ist, ferner Schutz gegen die Unbilden des Klimas durch Bekleidung und Behausung. Alle anderen, so außerordentlich mannigfaltigen, wechselnden und sich ohne U n t e r l a ß steigernden können wir als Z i v i l i s a t i o n s b e d ü r f n i s s e zusammenfassen. Selbstverständlich haben die Existenzbedürfnisse stets .den V o r t r i t t , und wenn wir von Volkswirtschaft sprechen, so meinen wir in erster Linie die Art und Weise, wie sie befriedigt werden. W e n n wir von ganz primitiven Existenzen (Anachoreten der älteren Zeiten und Robinsonaden) absehen, 50 ist klar, d a ß die K r ä f t e e i n e s Menschen dazu nicht ausreichen, und T e i l u n g d e r A r b e i t ist daher die Grundlage jeder W i r t s c h a f t . Infolgedessen steht jeder einzelne in Abhängigkeit von anderen, und je nach der Weite dieses Abhängigkeitskreises lassen sich im Laufe der Geschichte verschiedene W i r t s c h a f t s s t u f e n unterscheiden. J e d e Stufe unterscheidet sich von der vorhergehenden durch einen größeren U m f a n g jenes Kreises, aber stets sind neben dem neuen Zustand noch Überbleibsel des älteren v o r h a n d e n , und mit ihnen mischen sich auch schon Vorboten des k o m m e n d e n . 1

A.

SARTORIUS

v.

WALTERSHAUSEN,

Begriff

und

Entwicklungsmöglichkeit

der h e u t i g e n W e l t w i r t s c h a f t (Mitteil, über d. S t i f t u n g s f e s t d. K a i s e r W i l h e l m s - U n i v e r s i t ä t , S t r a ß b u r g 1913, S. 61). — K. A . GERLACH, Über Begriff u. S t u f e der W e l t w i r t s c h a f t ( J a h r b ü c h e r f. N a t i o n a l ö k o n o m i e

u. S t a t i s t i k 1918, B d . 56, S. 385).

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D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

Die unterste Stufe ist die E i n z e l w i r t s c h a f t . Eine Familie, eine Sippe, m a n c h m a l auch eine kleine G r u p p e von Familien mit ihrem Gesinde bildet eine abgeschlossene wirtschaftliche Einheit. Ihre Arbeit ist geregelt, organisiert, gilt aber ausschließlich den Bedürfnissen der Gemeinschaft. Die Teilung der Arbeit ist noch u n v o l l k o m m e n ; noch jetzt ist der norwegische Bauer zugleich Schreiner, Schlosser und Schmied. Die Viehzucht liefert außer N a h r u n g s m i t t e l n auch Rohstoffe. Gespinnstpflanzen werden kultiviert und im Hause verarbeitet. Mit einem W o r t : die Wirtschaftsgemeinde v e r s o r g t s i c h s e l b s t , z. T. kümmerlich u n d unbeholfen, aber ausreichend. Die Grenze ihres W o h n sitzes ist zugleich die Peripherie ihres Abhängigkeitskreises. W ä h r e n d des Weltkrieges erschien dieser Z u s t a n d m a n c h e m als Ideal, aber man e r k e n n t leicht, daß er nur unter ganz eigenartigen Verhältnissen sich längere Zeit aufrecht erhalten kann. Voraussetzung ist stets eine undichte und zerstreute Wohnweise. In jungen Kolonialländern, wie in Nordamerika, Australien, S ü d a f r i k a ist die Einzelwirtschaft auf weite Strecken noch heute vorherrschend; sie erhält sich auch in E u r o p a in v e r k e h r s a r m e n Hochgebirgsländern, wie in den Alpen, in Skandinavien und auf der pyrenäischen Halbinsel am längsten, aber auch d a selten rein. Selbst hinsichtlich vieler der dringendsten Existenzbedürfnisse ist der B a u e r schon auf Hilfe von außen angewiesen, und die steigenden Zivilisationsbedürfnisse bringen ihn vollends in fremde Abhängigkeit. Die reine Einzelwirtschaft gehört also eigentlich der Vergangenheit an, wenn sich auch Erinnerungen d a r a n heute noch selbst bis zum Bannkreis unserer Groß- und Industriestädte wach erhalten h a b e n . Die nächste geschichtliche Stufe, wenigstens in West- u n d Mitteleuropa ist die V i z i n a l w i r t s c h a f t . Die Scheidung der w i r t s c h a f t lichen Tätigkeit in L a n d w i r t s c h a f t und Gewerbe und dieses wieder in verschiedene Arten h a t sich bereits vollzogen, aber sie liegen noch nachbarlich nebeneinander. Welche Verhältnisse sich daraus entwickeln müssen, hat J. H. v. THÜNEN 1 schon in der Mitte des vorigen J a h r h u n d e r t s in ebenso scharfsinniger wie anschaulicher Weise geschildert. Im Z e n t r u m seines hypothetischen „isolierten" S t a a t e s liegt die S t a d t , in der alle Zivilisationsgüter, aber keine N a h r u n g s m i t t e l zu h a b e n sind. Diese bezieht sie aus der sie umgebenden Agrarzone, die wieder nach außen durch eine Wildnis abgeschlossen, d. h. „isoliert" ist. S t a d t und Land stehen somit in u n d u r c h b r e c h b a r e m wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander; auch der Bauer arbeitet nun nicht mehr bloß f ü r sich, sondern auch f ü r Fremde, u m Tauschobjekte zu schaffen, 1 Der isolierte S t a a t in B e z i e h u n g auf L a n d w i r t s c h a f t u. N a t i o n a l ö k o n o m i e . 3. A u f l . , Berlin 1875.

S u p a n , Leitlinien.

2. A u f l .

10

D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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und das gleiche t u t der Bürger. Ein neues Moment t r i t t in das W i r t schaftsleben ein: die Arbeit m u ß l o h n e n d sein. 1 Und dazu gesellt sich noch ein zweites. Die Agrarzone des „isolierten" Staates s t e h t überall unter den gleichen Lebensbedingungen; kein P u n k t ist durch K l i m a und Bodenbeschaffenheit vor dem anderen bevorzugt, und t r o t z d e m wechselt ihre Ertragsfähigkeit und h ä n g t direkt von der E n t f e r n u n g von der S t a d t , d. h. von den T r a n s p o r t k o s t e n nach dem Markt, a b . Dies wird nicht theoretisch, sondern an der Hand eines k o n k r e t e n Beispiels d a r g e t a n . In einer bestimmten E n t f e r n u n g , wo die T r a n s p o r t kosten der Feldprodukte die Höhe des Verkaufswertes in der S t a d t erreichen, hört der Ackerbau auf, lohnend zu sein, und h ö r t d a m i t überh a u p t auf. Dieses Gesetz gilt nicht nur f ü r die Landwirtschaft, sondern auch f ü r die Industrie, ja f ü r diese noch in verschärftem Grade, denn hier k o m m t nicht nur die E n t f e r n u n g zwischen dem Erzeugungsort (z. B. der Fabrik) u n d dem Verbrauchsort (oder dem Markte), sondern auch die zwischen dem Erzeugungs- und dem Ursprungsort der Roh- uhd K r a f t stoffe in B e t r a c h t . ADOLF WEBER 2 hat alle diese Faktoren in eine einfache m a t h e m a t i s c h e Beziehung zueinander gesetzt. Nennen wir R das Gewicht der Rohstoffe, K das der K r a f t s t o f f e und P das des betreffenden E n d p r o d u k t e s , so ist ( R " + K ) : P = der Materialindex 3 , der d a r ü b e r entscheidet, an welchehi P u n k t e die betreffende Industrie noch lohnend betrieben werden k a n n . Er wird nicht f ü r alle Industriezweige in gleicher Weise maßgebend sein, aber sicher f ü r die Schwer(Eisen)industrie, und diese ist h e u t z u t a g e die Grundlage aller Industrien, denen sie die nötigen Maschinen liefert. J e höher der Materialindex ist, desto n ä h e r m u ß der Erzeugungsort den Ursprungsorten liegen. Nun wird uns auch klar, w a r u m Erzgruben ohne nahe Kohlengruben industriell steril und zur A u s f u h r ihrer Erze gezwungen sind, denn die K r a f t s t o f f e sind es vor allem, die in des W o r t e s strengster Bedeutung ins Gewicht fallen. Die Vizinalwirtschaft drückt dem mittel- und westeuropäischen Wirtschaftsleben durch das ganze Mittelalter und die Neuzeit bis an die Schwelle des vorigen J a h r h u n d e r t s ihren Stempel auf, ist aber in all1

B e s t i m m e n d dafür sind die Leistungsfähigkeit u. die Lebensansprüche des Arbeitselements. Darin besteht der Kernpunkt der sozialen Frage, die die Gegenwart b e w e g t , deren Erörterung aber aus den Rahmen der politischen Geographie fällt. 2 Über den Standort der Industrien, Bd. I. Tübingen 1909. 3

D e r D i s s e r t a t i o n v o n WALTER EVERS „ S t a n d o r t s u n t e r s u c h u n g e n

über d i e

industrielle E n t w i c k l u n g Bremens, Breslau 1917, entnehme ich folgendes Beispiel. Die niederdeutsche H ü t t e in Bremen brauchte im letzten Jahrzehnt vor d e m Kriege zur Herstellung von 1000 kg Roheisen rund 3 5 0 0 kg Rohstoffe (Eisenerze, Kohlen, Kalk), der Materialindex ist also 3 5 0 0 : 1 0 0 0 = 3,5.

Die wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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mählicher Umbildung begriffen. Die Bedingungen sind überall die gleichen: Zunahme der Bevölkerung, steigender Drang nach Erleichterung und Verfeinerung des Lebens und Fortschritte der Technik. Die beiden Abhängigkeitskreise erweitern sich immer mehr und mehr, aber stets der Existenzkreis langsamer als der Zivilisationskreis, so daß sie sich immer weiter voneinander entfernen. Mit dem Verkehr steht die Wirtschaft in innigster Wechselbeziehung, sie beleben sich gegenseitig Die Vizinalwirtschaft können wir aber als abgeschlossen betrachten, wenn f ü r den größten Teil der Bevölkerung auch die Nahrungsmittel aus der Ferne bezogen werden müssen. Indessen noch überschreitet dieser Abhängigkeitskreis mit wenigen Ausnahmen nicht die Grenzen des Staates. Das ist die Stufe der V o l k s w i r t s c h a f t , und erst wenn sich der Abhängigkeitskreis selbst in bezug auf die Nahrungsmittel und die nötigsten Rohstoffe über alle politischen Grenzen bis an deti Rand der bewohnten Erde ausdehnt, können wir von W e l t w i r t s c h a f t sprechen. In diesem Übergangsstadium steht jetzt der größte Teil der zivilisierten Menschheit; manche Völker verharren noch auf der Stufe der Volkswirtschaft, andere erklimmen, durch die Verhältnisse gedrängt, schon die der Weltwirtschaft. Einzelwirtschaft und Weltwirtschaft sind die Pole, zwischen denen sich das Wirtschaftsleben der Völker bewegt; dort b e s c h r ä n k t e S e l b s t v e r s o r g u n g oder A u t a r k i e 1 , hier u n b e s c h r ä n k t e A u ß e n v e r s o r g u n g oder A n a u t a r k i e . Die wirtschaftliche Struktur der Staaten. Der Prozeß der Arbeitsteilung, der S t a d t und Land schied, schreitet noch weiter zu wirtschaftlichen Differenzierungen innerhalb der Staaten und endlich der ganzen politischen Welt fort, entsprechend der verschieden natürlichen Auss t a t t u n g der Landschaften und der verschiedenen Begabung ihrer Bewohner. Zum vollen Durchbruch ist dieser Differenzierungsprozeß aber erst seit 1769 gekommen, seit Dampf und Kohle die Welt regieren. Seit dieser Epoche nehmen die Staaten deutlich verschiedene w i r t 1

der

Dieser jetzt sehr geläufige Fachausdruck («viaqxeta)

(Nikomachischen)

Ethik

v o n ARISTOTELES,

I, 7 u n d

s t a m m t ursprünglich aus X,

7 und wird

von

ADOLF

STAHR mit Selbstgenügsamkeit oder Selbsthinlänglichkeit übersetzt. ARISTOTELES hat diesen Begriff auf das Volkswirtschaftliche (Politik VII, 5) übertragen, aber ganz verfehlt ist es, dafür die wörtliche Übersetzung auch hier zu gebrauchen. Ethische Selbstgenügsamkeit erkennen auch wir als einen hohen Grad von Vollkommenheit an, wirtschaftliche Selbstgenügsamkeit aber müssen wir^ besonders unter den gegenwärtigen Verhältnissen, als das Allerunvollkommenste betrachten. Über die weitere Geschichte dieses Begriffes siehe G. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900, S. 3 9 5 f f .

10*

Die wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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s c h a f t l i c h e S t r u k t u r e n an, und zu den politischen Gegensätzen t r e t e n neue hinzu, die seit dem E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s i m m e r m e h r steigende, ja überragende B e d e u t u n g gewinnen. Eine gute Grundlage f ü r die Feststellung der wirtschaftlichen S t r u k t u r der S t a a t e n und deren Veränderungen böte eine genaue B e r u f s s t a t i s t i k , wenn sie n u r in allen S t a a t e n gleichzeitig und n a c h den gleichen G r u n d s ä t z e n aufgestellt würde. So ersehen wir z. B. aus den letzten Berufszählungen des Deutschen Reiches, d a ß zwischen 1885 und 1907 eine beträchtliche Verschiebung zu Ungunsten der L a n d w i r t s c h a f t s t a t t g e f u n d e n hat, denn auf das Tausend der Bevölkerung zählte 1885 die L a n d w i r t s c h a f t 349, die Industrie 356 und Handel u n d V e r k e h r 115 Angehörige, w ä h r e n d 1907 die entsprechenden Zahlen 280, 379 u n d 134 lauten. Aber leider fehlen in vielen S t a a t e n solche Aufstellungen gänzlich oder sind, wenn v o r h a n d e n , doch nicht miteinander vergleichbar. Noch zweckmäßiger wäre es, wenn wir die W e r t e der Erzeugnisse der einzelnen W i r t s c h a f t s k a t e g o r i e n ziffernmäßig erfassen k ö n n t e n . Aber diesen Gesichtspunkt h a t die S t a t i s t i k bisher ganz a u ß e r a c h t gelassen, wohl deshalb, weil verläßliche Grundlagen d a f ü r fehlen. Unseres Wissens ist n u r in den Vereinigten S t a a t e n anläßlich der S c h ä t z u n g des Volksvermögens ein derartiger Versuch g e m a c h t w o r d e n : 1 Wert in »«•..• ^ .. Millionen Dollar 1900 1904 Industrieerzeugnisse Landwirtschaftliche Erzeugnisse und Vieh Bergwerkserzeugnisse

Zunahme . „ Pr0Z "

6087

7409

21,7

1458 327

1843 408

26,* 24,1

W e n n f ü r eine längere Reihe von J a h r e n derartige Schätzungen vorlägen, so w ü r d e n sie ohne Zweifel ungemein wichtiges Material f ü r die Wirtschaftsgeschichte bieten. Die Zahlen b r a u c h t e n nicht einmal absolut richtig zu sein, wenn sie n u r u n t e r sich vergleichbar w ä r e n . Aber ^n dieser" unerläßlichen F o r d e r u n g wird wohl auch diese Methode scheitern. Besser ist es mit der S t a t i s t i k d e s a u s w ä r t i g e n H a n d e l s bestellt. W i r besitzen darauf bezügliche, mehr oder minder detaillierte A n g a b e n f ü r alle europäischen S t a a t e n und deren Kolonien, und f ü r die Mehrzahl der zivilisierten außereuropäischen S t a a t e n ; leider wird a b e r hier die F o r d e r u n g der Gleichzeitigkeit nicht durchweg erfüllt, 1

Departement of Commerce and Labour, Speziai Reports of the Census office : Wealth, Debt and Taxation. Washington 1907.

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u n d auch sonst fehlt noch manches zur völligen Vergleichbarkeit. 1 Bis auf weiteres müssen wir uns aber d a m i t begnügen, jedoch mit einem Vorbehalt. Nicht immer gibt die H a n d e l s s t a t i s t i k ein zutreffendes Bild von der P r o d u k t i o n des b e t r e f f e n d e n Staates. Im allgemeinen d ü r f e n wir zwar wohl voraussetzen, d a ß ein S t a a t die Artikel a u s f ü h r t , die er in Überfülle erzeugt, aber das t r i f f t nicht immer zu. China ist z. B. ein reiches Getreideland, aber Getreide darf nicht, a u s g e f ü h r t werden. China ist seiner S t r u k t u r nach ein echter A c k e r b a u s t a a t , aber die H a n d e l s s t a t i s t i k weiß davon nichts. Solche Fälle sind jedoch selten, u n d m a n c h m a l sind sie indirekt auch aus der E i n f u h r s t a t i s t i k erkennbar, denn die einzigen vegetabilischen N a h r u n g s m i t t e l , die 1912 in größeren Mengen in China eingeführt wurden, Reis und Mehl, erreichten nur eine Höhe von 26 v. T. der G e s a m t e i n f u h r . Man m u ß also schon d a r a u s schließen, d a ß das Reich von 330 Mill. Bewohnern eine solche Menge von B r o t f r ü c h t e n erzeugen m u ß , d a ß es den ausländischen Zuschuß entbehren k a n n . U n t e r allen U m s t ä n d e n gibt uns die Statistik des auswärtigen Handels das Mittel an die H a n d , um zu entscheiden, a u s w e l c h e n Q u e l l e n die F i n a n z k r a f t eines L a n d e s h e r s t a m m t . Auch hier k ö n n e n wir von einer h o m o g e n e n und h e t e r o g e n e n S t r u k t u r reden, jedoch haben wir d a r u n t e r zweierlei zu verstehen. Berücksichtigen wir nur die Stellung des S t a a t e s auf dem W e l t m a r k t e , so können wir seine P r o d u k t i o n homogen nennen, wenn sie sich nur auf wenige, miteinander v e r w a n d t e Erzeugnisse b e s c h r ä n k t . In diesem Sinn ist homogen gleichbedeutend mit e i n s e i t i g u n d heterogen mit v i e l s e i t i g . B e t r a c h t e n wir aber den S t a a t nur f ü r sich v o m S t a n d p u n k t des innern Marktes, so verstehen wir u n t e r homogen G l e i c h f ö r m i g k e i t und u n t e r heterogen M a n n i g f a l t i g k e i t . Aus dieser K o m b i n a t i o n dieser vier Begriffe ergeben sich vier H a u p t t y p e n der P r o d u k t i o n , die aber in der T a t doch auf n u r zwei z u s a m m e n s c h r u m p f e n , d a Einseitigkeit in allen größeren S t a a t e n fehlt, und Vielseitigkeit wohl stets mit Mannigfaltigkeit v e r b u n d e n ist. Eine ausgeprägte H o m o g e n i t ä t im ersten Sinne k a n n daher mit einer ebenso ausgeprägten Heterogenität im zweiten Sinne H a n d in H a n d gehen. Chile f ü h r t f a s t nur Salpeter aus,- 1912 z. B. f ü r 292 Mill. Pesos, was 77 v. H. der gesamten A u s f u h r entspricht. Vom S t a n d p u n k t e des W e l t m a r k t e s w a r also Chile wirtschaftlich unzweifelhaft ein homogener S t a a t , aber die Salpeterindustrie ist nur auf das Küstengebiet des nördlichen trockenen Landes beschränkt. Das mittlere Drittel mit seinem subtropischen Klima ist ein vortreff1 R. MEERWARTH, Über die zukünftige Umgestaltung der deutschen Handelsstatistik (Deutsches statist. Zentralblatt 1919, Nr. 5, 6/7). Hoffentlich wird der in Brüssel 1 Öl 0 u. 1913 aufgestellte Plan nun durchgeführt werden.

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D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

liches Ackerland, namentlich das Längstal, das zu den vorzüglichsten Weizengebieten der E r d e gehört, der regenreiche Süden endlich ist mit Urwäldern bedeckt und eignet sich vortrefflich zur Rinderzucht. Die einzelnen S t a a t e n h a b e n von jeher — und das ist schon d u r c h physische Verhältnisse, vor allem durch das Klima b e g r ü n d e t — verschiedene wirtschaftliche C h a r a k t e r e besessen. Aber niemals sind schroffere Gegensätze a u f g e t r e t e n , als der zwischen A g r a r - und I n d u s t r i e s t a a t e n in der Epoche der D a m p f m a s c h i n e . E u r o p a ist d a d u r c h in zwei W i r t s c h a f t s g e b i e t e geteilt. Der Osten ist agrarisch, d. h. landwirtschaftlich. In R u m ä n i e n ist dieser agrarische Typus am reinsten ausgeprägt. Im J a h r e 1911 w u r d e Getreide und Mehl f ü r 557,7 Mill. Lei (1 Leu = 80 Pf.) a u s g e f ü h r t , w ä h r e n d alle anderen A u s f u h r g e g e n s t ä n d e nur 134,1 Mill. Lei einbrachten. Mit dem E r t r a g seiner B r o t f r ü c h t e bezahlte es fast seine ganze E i n f u h r von 570,3 Mill. L., die hauptsächlich in Metall- und Textilwaren bestand. Ähnlich ist der W i r t s c h a f t s c h a r a k t e r in Ungarn, Serbien und Bulgarien, w ä h r e n d sich R u ß l a n d , obwohl absolut der erste Getreidelieferant E u r o p a s , durch eine etwas mannigfaltigere W i r t s c h a f t auszeichnete. Im Norden der K a r p a t h e n g r e n z e herrscht der A g r a r t y p u s in Polen, im Übereibischen Deutschland und in Dänemark, aber nicht so rein wie in R u m ä n i e n , u n d die Verschiedenheit der A c k e r k r u m e und des Klimas bringt es mit sich, d a ß in manchen Gegenden die Viehzucht überwiegt, besonders in D ä n e m a r k , wo B u t t e r und Fleisch die H a u p t a u s f u h r g e g e n s t ä n d e sind. Den A g r a r s t a a t e n gegenüber s t e h t die westeuropäische G r u p p e der I n d u s t r i e s t a a t e n , die Großbritannien, Belgien, Frankreich, Deutschland und die Schweiz u m f a ß t . Eine sehr charakteristische Eigentümlichkeit der Industrie- im Gegensatz zur A g r a r w i r t s c h a f t ist die scharf ausgesprochene n e g a t i v e H a n d e l s bilanz. Die E i n f u h r ü b e r t r i f f t um ein Beträchtliches die A u s f u h r . Das ist nicht so sehr eine Folge des Mangels an einheimischen Lebensmitteln, sondern mehr noch des Bedarfs an R o h s t o f f e n . Die Maschinen sind gefräßige Ungeheuer und müssen es sein, um die rasch anwachsende industrielle Bevölkerung mit Brot zu versehen. In unseren modernen I n d u s t r i e s t a a t e n h a t die Industrie schon längst aufgehört, bodenständig zu sein, sie ist zum größten Teil Veredelungsindustrie.. Der letzte Grund dieser Erscheinung w a r zu allen Zeiten derselbe. Im A g r a r s t a a t ist eine solche künstliche Steigerung der Lebensmöglichkeiten nicht möglich, hier ist man an den Boden gebunden. Mit jener Eigenschaft der Ind u s t r i e s t a a t e n hängen auch noch andere z u s a m m e n . Vor allem die Verk n ü p f u n g mit dem H a n d e l . Seit den Tagen der Phönizier waren alle großen Handels- auch I n d u s t r i e s t a a t e n . Es gibt A u s n a h m e n von dieser Regel. Selbst im Holland des 17. J a h r h u n d e r t s w a r die V e r f r a c h t u n g

Die wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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nicht der einheimischen, sondern der f r e m d e n W a r e n die H a u p t s a c h e . J e t z t sind die Norweger Fuhrleute zur See. Aber die Regel ist doch, d a ß der Handel die Industrie weckt, weil zur See leicht Gegenden ergiebiger R o h s t o f f p r o d u k t i o n erreicht werden können. Andererseits regt aus demselben Grunde die Industrie den Handel an, und es ist kein Zufall, d a ß die v o r n e h m s t e n I n d u s t r i e s t a a t e n auch die wichtigsten H a n d e l s s t a a t e n sind. Endlich ist noch hervorzuheben, d a ß die W i r t s c h a f t der Industriestaaten viel m a n n i g f a l t i g e r ist als die der Agrars t a a t e n , was keiner besonderen E r k l ä r u n g bedarf. Wohl herrschen in der Regel ein oder ein p a a r Industriezweige vor, aber nichts hindert, w e n n nur die notwendigen K r a f t m i t t e l v o r h a n d e n sind, d a u n d dort neue Gewerbe ins Leben zu rufen, die bessere Aussichten auf Gewinn eröffnen. Neben der Baumwollindustrie blühen in England noch die Woll-, Leinen-, Seiden-, Leder-, Metall-, Porzellanindustrie usw. Man sollte erwarten, d a ß ein d a u e r n d e s Übergewicht der E i n f u h r zur V e r a r m u n g des Landes f ü h r e n müsse, und dies w a r die herrschende Ansicht im Zeitalter des Merkantilismus (zweite H ä l f t e des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s ) . Man h a t es aber vergessen, weil in der T a t die I n d u s t r i e l ä n d e r die A g r a r l ä n d e r i m m e r mehr an R e i c h t u m überholten. Nach der S c h ä t z u n g des amerikanischen Census Office f ü r 1906 entfielen in den oben a n g e f ü h r t e n Industrieländern v o m Nationalvermögen auf den Kopf der Bevölkerung 1080, in den Agrarländern des Ostens (europ. R u ß l a n d , Österreich-Ungarn, D o n a u s t a a t e n ) aber nur 360 Dollar. Dieser Widerspruch löst sich auf, wenn m a n erwägt, d a ß die Industriestaaten noch andere, und zwar ergiebige E i n n a h m e quellen haben, von denen die auswärtige Handelsstatistik nichts erw ä h n t : 1. Den E r t r a g des stark entwickelten überseeischen H a n d e l s ; 2. den Gewinn aus dem inneren Handel und 3. die Zinsen des in der Fremde angelegten Kapitals. Auch die Agrarstaaten' entbehren ihrer nicht ganz, aber ihre K a p i t a l k r a f t ist viel geringer als die der Industries t a a t e n , weil die Fabrikware infolge der Mannigfaltigkeit der industriellen Erzeugnisse auf dem inneren M a r k t den Vorrang b e h a u p t e t , durchschnittlich geringere Herstellungskosten v e r u r s a c h t und d a h e r größeren Gewinn erzielt als das landwirtschaftliche P r o d u k t . 1 E n g l a n d h a t t e 1901/02 ein K a p i t a l von mindestens 1 2 5 0 M i l l . ^ oder 25 Milliarden 1 Einen exakten Beweis dafür lieferte Mc QUEEN (zit. von LIST, Nationales System, 7. Aufl., S. 202f.), der, wenn er sich auch nur auf Schätzungen gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts gründet, doch im wesentlichen noch heute vollgültig ist. Ende der 30er Jahre betrug das in England in der Landwirtschaft angelegte Kapital 3311, das Industriekapital aber nur 218 MiU. Pfd. St., jenes verzinste sich jedoch nur mit 16 Proz. im Jahr, dieses dagegen mit 1 1 9 P r o z .

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Die wirtschaftliche Struktur der Staaten.

Reichsmark im Ausland angelegt, deren Zins- und D i v i d e n d e n e r t r a g 1252 Mill. Reichsmark betrug. In 10 J a h r e n h a t t e sich dieser Gewinn mehr als v e r d o p p e l t . 1 Trotzdem ist die negative Handelsbilanz nur b i s z u e i n e m g e w i s s e n G r a d ungefährlich. Diese E r f a h r u n g m a c h t j e t z t England infolge des Weltkrieges. Die A u s f u h r ist jetzt (1919) bis auf die H ä l f t e der E i n f u h r herabgesunken, und schon wird sogar von Seite der Regierung die W a r n u n g ausgesprochen, auf diesem Wege treibe m a n dem B a n k e r o t t entgegen. Die Verhältnisse haben sich eben von Grund aus geändert, und ein Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung in der nächsten Z u k u n f t soll dem letzten A b s c h n i t t dieses Kapitels vorbehalten bleiben. Vorläufig haben wir es n u r mit dem abgeschlossenen Fazit der Vergangenheit zu t u n . Hier t r i t t uns in E u r o p a und N o r d a m e r i k a dieselbe Tatsache entgegen; l a n g s a m e r e s o d e r s c h n e l l e r e s Z u r ü c k d r ä n g e n d e r L a n d w i r t s c h a f t d u r c h d i e I n d u s t r i e . Auf diese Weise haben sich im Laufe des 19. J a h r h u n d e r t s die Industriestaaten aus ursprünglichen A g r a r s t a a t e n entwickelt. W o die Grundbedingungen des Industrialismus: entweder eigener Besitz an K r a f t - und Rohstoffen oder die Möglichkeit einer bequemen und billigen m a r i t i m e n Herbeischaffung dieser Stoffe aus der Ferne erfüllt w a r 2 , trieb er una u f h a l t s a m vorwärts, und endlich gewann er auch in den Agrarstaaten immer mehr Boden. Die Vorzüge der Industrie waren zu auffällig; sie öffnete nicht bloß neue Erwerbsquellen, sondern schuf auch R a u m f ü r die wachsende Bevölkerung. Denn die Bauern sind gezwungen, nebeneinander zu leben, u n d sind d u r c h die unbesiedelten Felder, Wiesen und Weiden beengt, die Gewerbetreibenden können aber nicht n u r dichter neben-, sondern auch übereinander wohnen. Zudem lockt die Unabhängigkeit vom Ausland; viel Geld k a n n im Lande behalten werden. Ob sich diese Tendenz auch in nächster Z u k u n f t in gleicher oder sogar wachsender S t ä r k e b e h a u p t e n wird, läßt sich aber noch nicht absehen. Neben den Industrie- und Agrarländern müssen wir schließlich noch die B r u t t o s t a a t e n und -kolonien nennen, die den W e l t m a r k t in erster Linie mit Rohstoffen versorgen. Es sind ihrer nicht so viele, als m a n meinen sollte, weil auch die A g r a r s t a a t e n viel pflanzliche und tierische Rohstoffe erzeugen und m a n c h e Industrieländer viel Kohle und 1 E. FRIEDERICH, Allgemeine und spezielle Wirtschaftsgeographie. Leipzig 1904, S. 143. CHIOZZA MONEY berechnete das 1902/03 im Ausland angelegte Kapital auf 1821 Mill. Pfd. Sterling. 3 Für die Schweiz trifft allerdings keines von beiden zu. Hier wurde die Industrie künstlich gezüchtet als Schutzmittel gegen die Unfruchtbarkeit der Hochgebirgsnatur wie in früheren Zeiten die Auswanderung u. das Söldnerwesen.

D i e wirtschaftliche Struktur der Staaten.

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Erze liefern. Von den europäischen S t a a t e n können wir n u r Spanien und Schweden nennen, die anderen liegen alle im w a r m e n Erdgürtel, so vor allem Mexiko, Peru, Bolivien und Chile im amerikanischen Hochgebirge, Ägypten, Kongo, Südafrika und die britisch-malaiischen Schutzs t a a t e n in der Alten Welt. Viele B r u t t o l ä n d e r , wie Argentinien, Australien und Neuseeland, einst die H a u p t l i e f e r a n t e n der Schafwolle, sind zum Teil zu anderen W i r t s c h a f t s f o r m e n übergegangen; andere S t a a t e n mit ausgesprochener wirtschaftlicher Mannigfaltigkeit sind nur in der einen H ä l f t e Brutto-, in der anderen Agrargebiete. Das beste Beispiel d a f ü r ist Brasilien, wo diese wirtschaftliche Zweiteilung physisch b e g r ü n d e t ist: die südliche H ä l f t e ist Gebirgsland mit P l a n t a g e n k u l t u r und Ackerbau, die große Tiefebene des Amazonas ist eines der ersten K a u t s c h u k l ä n d e r der Erde.

Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur. Die Bevölkerungsdichte. Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische S t r u k t u r f i n d e t seinen klarsten Ausdruck in der Bevölkerungsdichte eines beliebigen Gebietes, d. h. in dessen Bevölkerung, bezogen auf irgendeine Flächeneinheit, z. B. 1 qkm. Ein Vergleich der S t a a t e n nach ihrer Volksdichte gewährt uns einen raschen Einblick in ihre wirtschaftliche K r a f t . In E u r o p a 1 sind die industriellen S t a a t e n a m dichtesten bevölkert, dagegen treten die A g r a r s t a a t e n w i i t z u r ü c k . Trotzdem ist es unzweifelhaft richtig, d a ß die Volksdichte von d e m R e i c h t u m an N a h r u n g s m i t t e l n a b h ä n g t , nur ist es bei dem heutigen S t a n d e des Verkehrswesens gleichgültig, ob die N a h r u n g s m i t t e l an Ort 1

Groß- und M i t t e l s t a a t e n : 1. 2. 3. 4. 5.

Belgien (1910) N i e d e r l a n d e (1909) G r o ß b r i t a n n i e n (1911) Italien (1911) Deutsches Reich (1910)

auf 1 q k m 252 171 144 121 120

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Schweiz (1910) Ö s t e r r e i c h - U n g a r n (1910) F r a n k r e i c h (1911) D ä n e m a r k (1911) Europäische Türkei P o r t u g a l (1911) Serbien (1911) R u m ä n i e n (1913)

91 76 74 69 67 ( ? ) 65 61 54

14. 15. 16. 17. 18.

B u l g a r i e n (1910) Spanien (1910) G r i e c h e n l a n d (1907) E u r o p ä i s c h e s R u ß l a n d (1911) Schweden (1912)

45 40 37 23 13

19. Norwegen (1910)

7

S c h l i e ß t m a n in R u ß l a n d die G o u v e r n e m e n t s des polaren T u n d r a - und W a l d gürtels ( A r c h a n g e l s , W o l o g d a u n d Olonez), das s t e p p e n h a f t e A s t r a c h a n , F i n n l a n d , a b e r a u c h das n u n m e h r u n a b h ä n g i g e Polen von der B e r e c h n u n g aus, so e r h ö h t sich die Dichte auf 32.

D e r E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

155

und Stelle wachsen oder von anderswo herbeigeschafft werden. Wo dies nicht in so reichem Maße geschehen k a n n , wie h e u t z u t a g e in Europa, da liegt in der Tat der Z u s a m m e n h a n g zwischen N a h r u n g s m i t t e l p r o d u k tion und Volksdichte offen zutage. Wenn die Mehrzahl der Tropenländer, auch der f r u c h t b a r e n , dem nicht entsprechen, so liegt die Schuld ausschließlich am Menschen. Schlaraffenländer gibt es n i c h t ; fast überall m u ß die N a t u r erst durch Arbeit gezwungen werden, ihren vollen Reicht u m zu entfalten. Lässigkeit und U n k e n n t n i s sind aber nicht die einzigen H e m m u n g e n . Völker können sich n u r in dem Maße vermehren, in dem f ü r die Sicherung des Lebens gesorgt wird. Endemische K r a n k heiten, unhygienische Lebensweise, Vernachlässigung der Säuglinge, Willkürherrschaft, Aberglaube usw. zehren an dem Mark so vieler Tropenvölker, wenn auch ihre Kinderzahl eine Steigerung der Volksdichte erwarten ließe. Zu dem gleichen Ergebnis f ü h r t be.i fortgeschrittenen zivilisierten Völkern die künstliche U n t e r b i n d u n g der ehelichen F r u c h t b a r k e i t ; Frankreich, das unter den europäischen S t a a t e n erst die 8. Stelle e i n n i m m t , ist ein Beispiel hiervon. Die Bevölkerungsdichte ist also ein P r o d u k t einer Reihe von Faktoren der verschiedensten Art, u n t e r denen aber allerdings die wirtschaftsgeographischen obenan stehen. Für die Beurteilung der S t ä r k e eines Staates ist sie von untergeordneter B e d e u t u n g ; man vergleiche nur L u x e m b u r g mit 100 und Frankreich mit 74 Bewohnern auf dem Quadratkilometer. Hier k o m m e n nur die absoluten Volkszahlen in Betracht. Von größter Wichtigkeit wäre es, wenn wir das D i c h t e m a x i m u m eines Landes berechnen k ö n n t e n ; aus dem Vergleiche mit der wirklichen Dichte würde sich d a n n ergeben, wieweit das betreffende Land noch von seinem völkischen Sättigungsp u n k t e n t f e r n t ist. Vorläufig ist aber keine Aussicht v o r h a n d e n , d a ß wir dieses Problem jemals werden lösen können, ja, es ist ü b e r h a u p t unwahrscheinlich, ob es ein solches absolutes D i c h t e m a x i m u m überh a u p t gibt, denn dieses setzt die Erreichung des E x i s t e n z m i n i m u m s voraus, und die Menschen werden stets bestrebt sein, die Bevölkerungsdichte h e r a b z u d r ü c k e n , um dem Minimum ihres Lebensbedürfnisses auszuweichen. N u r annäherungsweise läßt sich einiges aussagen. R u ß land k ö n n t e z. B. sicher viel dichtere Bevölkerung ernähren als jetzt, ob aber auch Belgien oder Großbritannien, möchte manchem als fraglich erscheinen, denn es läßt sich nicht absehen, welcher E n t w i c k l u n g die Industrie noch fähig ist. Norwegens Volksdichte k a n n wegen der polaren Lage und der gebirgigen Beschaffenheit des Landes u n t e r den gegenwärtigen Verhältnissen sicher nicht weit über den heutigen W e r t steigen, aber eine bergmännische E n t d e c k u n g größeren Maßstabes würde ganz neue Bedingungen schaffen.

156

Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

Die Siedelungen. Die Volksdichtekarten stellen die Sachlage eigentlich so dar, als ob die Menschen gleichmäßig über größere Flächen verteilt wären. In Wirklichkeit leben sie aber in kleineren und größeren Gruppen z u s a m m e n , u n d zwar — soweit die ansässigen und s t a a t e n bildenden Völker in B e t r a c h t k o m m e n — in Siedelungen von wechselnd e m Umfange. Die Siedelungsweise ist verschieden und steht im engsten Z u s a m m e n h a n g e mit den wirtschaftlichen Verhältnissen, ursprünglich wohl auch mit der ethnischen Anlage der verschiedenen Volksstämme 1 , die aber mit steigender Volksdichte, die das Schwergewicht immer weiter nach der Seite der Existenzbedürfnisse verschiebt, mehr und m e h r in den H i n t e r g r u n d t r i t t u n d u n t e r den gegenwärtigen Verhältnissen mit seltenen A u s n a h m e n ganz außer B e t r a c h t fällt. Vom streng w i r t s c h a f t lichen Gesichtspunkte unterscheiden wir l ä n d l i c h e und s t ä d t i s c h e Siedlungen; jene befriedigen ihre Existenzbedürfnisse durch eigene Arbeit, diese sind ganz oder nahezu ganz auf die ländliche Arbeit angewiesen 2 ; jene treiben L a n d w i r t s c h a f t ; diese Gewerbe und Industrie; jene sind vorwiegend a u t a r k i s c h , diese a n a u t a r k i s c h . Unsere Einteilung der W i r t s c h a f t s s t u f e n spiegelt sich z. T. in der der Siedelungen wieder. Die l ä n d l i c h e n S i e d e l u n g e n 3 sind entweder Einzel- oder Gruppensiedelungen. Die E i n z e l s i e d e l u n g steht auf der S t u f e der Einzelwirtschaft, und alles, was von dieser gesagt w u r d e (S. 145), gilt auch f ü r jene. Aber schon das Bedürfnis gegenseitiger Hilfeleistung und nicht minder der menschliche Geselligkeitstrieb f ü h r t e n dazu, d a ß die Einzelsiedelungen näher a n e i n a n d e r r ü c k t e n . Der Übergang zur G r u p p e n s i e d e l u n g ließ sich in Westfalen noch gegen die Mitte des 1 9 . J a h r h u n d e r t s beobachten. IMMERMANN h a t in seinem R o m a n „ D e r O b e r h o f " ein anschauliches Bild davon gezeichnet. J e d e r Hof, von einer Familie und deren Gesinde b e w o h n t , war räumlich a b g e s o n d e r t ; mehrere b e n a c h b a r t e Höfe bildeten eine B a u e r n s c h a f t , die gewöhnlich den Namen des ältesten und angesehensten Hofes f ü h r t e . Kleinere Gruppensiedelungen n e n n t m a n W e i l e r , größere D ö r f e r ; ganz große mit 1 0 0 0 0 und mehr Bewohnern, die z. B. in Süditalien und auf Sizilien an die wasserreichen Stellen der Kalkhochflächen g e b u n d e n sind, nennt B E R N HARD treffend B a u e r n s t ä d t e . Auch manche volkreiche S t ä d t e des ungarischen Tieflandes gehören in diese Kategorie. 1 AUGUST MEITZEN, S i e d e l u n g und Agrarwesen der W e s t g e r m a n e n germanen, der K e l t e n , R ö m e r , F i n n e n u. Slaven. Berlin 1895.

u.

Ost-

2

W.

3

HANS BERNHARD, D i e ländlichen Siedelungsformen (Oeogr. Zeitschr. 1919,

S. 20).

SOMBART ( z i t .

S.

139),

S.

191.

Der E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

157

Neben den B a u e r n s t ä d t e n schieben sich noch andere Übergangsformen zwischen die ländlichen und städtischen Siedelungen ein. Das erklärt sich daraus, d a ß die Formen des Z e r s t r e u t - und G e s c h l o s s e n wohnens die ursprünglichen s i n d , und die wirtschaftlichen Charakterzüge sich erst später herausgebildet h a b e n . Bis weit in die Neuzeit hinein war ländliche Siedelung gleichbedeutend mit offener und städtische gleichbedeutend mit geschlossener und umschlossener Siedelung. Gerade die Umschließung mit Wällen, Gräben und Mauern, die in wilden Zeiten allein Sicherheit v e r b ü r g t e n , d r ä n g t e die städtische Bevölkerung auf einen engen R a u m z u s a m m e n und zwang sie zu einem anderen W i r t schaftsbetrieb, als zu dem der N a t u r mehr entsprechenden des Landmanns. Als d a n n jene künstlichen Hindernisse fielen, begannen sich vielerorts städtische und ländliche Siedelungsweise zu mischen. Manche Baulichkeiten, wie Klöster, K r a n k e n h ä u s e r , Kasernen, Gefängnisse u. dgl. w u r d e n aus d e m geschlossenen K e r n der S t a d t hinausverlegt; Landhäuser w o h l h a b e n d e r Leute und Bauernhöfe e n t s t a n d e n an der Peripherie der S t ä d t e , u m an den Vorzügen städtischen und ländlichen Lebens in a n n ä h e r n d gleicher Weise teilzunehmen. Nur wenige Statistiken ermöglichen es uns, derartige g e m i s c h t e Siedelungen in ihre Elemente aufzulösen, allen voran in mustergültiger Weise die italienischen Zensusberichte. Eine K a r t e , die ich auf Grund der Z ä h l u n g von 1901 gezeichnet habe 1 , zeigt eine ausgesprochen regionale A n o r d n u n g der Mischungsverhältnisse von geschlossenem und zerstreutem W o h n e n in Italien. Hier sind W i r t s c h a f t s b e t r i e b e räumlich voneinander get r e n n t ; noch häufiger, ja sogar ziemlich allgemein f i n d e t das Gegenteil s t a t t . Auch von den Dörfern sind Gewerbe nicht völlig ausgeschlossen, ebensowenig wie aus unseren L a n d s t ä d t c h e n der landwirtschaftliche Betrieb. J a , im Mittelalter und noch bis weit in die Neuzeit hinein w a r eine solche W i r t s c h a f t s m i s c h u n g sogar die Regel; selbst in großen S t ä d t e n ernährte sich ein ansehnlicher Teil der Bewohner vom Ackerbau. In Asien tragen selbst O r t s c h a f t e n , die wir der Bewohnerzahl nach zu den G r o ß s t ä d t e n rechnen, gemischten Charakter. Die orientalischen Riesenstädte des Altertums, wie Babylon und Ninive, bargen in ihren Mauern auch weite Felder und Weideflächen, und ähnliche Selbstversorger sind viele mit Lehmwällen umgebene S t ä d t e in Mittelasien noch heute. Altindische S t ä d t e , wie z. B. K a l k u t t a , waren oder sind noch j e t z t , nur A n h ä u f u n g e n von Dörfern, die einen gemeinsamen Weideplatz umlagern. 1

Die B e v ö l k e r u n g der E r d e , H e f t X I I I , G o t h a 1909, S. 104.

158

Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

Die meisten S t ä d t e der Gegenwart sind aus Dörfern hervorgegangen, und a u c h , wo die Ansiedelung schon ursprünglich einen städtischen C h a r a k t e r trug, b e s t e h t das Problem immer darin, was eine größere M e n s c h e n a n s a m m l u n g an einem b e s t i m m t e n Orte bedingt h a t . Die Ursachen waren zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern verschieden. 1 In f r ü h e r e n , unsicheren Zeiten w a r das Schutzbedürfnis sehr stark. Die Lage an einer leicht zu befestigenden, isolierten Bodenerhebung war im A l t e r t u m sehr beliebt (Akropolis!). Im Mittelalter lehnte m a n sich gern an Bischofsitze (z. B. Magdeburg, H a m b u r g , Bremen) oder kaiserliche Pfalzen (z. B. Goslar, Aachen, Nürnberg) an. Auf dem Boden des römischen Reiches k n ü p f t noch die Geschichte der heutigen S t ä d t e vielfach an das A l t e r t u m an, sie reicht in Italien weiter zurück als in Gallien, in Gallien weiter als in Germanien, und hier finden wir die ältesten S t ä d t e im Bereich der römischen Provinzialverwaltung. Die örtliche Gebundenheit des Handels, das Stapelrecht, rief manche S t ä d t e g r ü n d u n g e n hervor. Die geographischen Bedingungen sind außerordentlich mannigfaltig; der Verkehr' 2 spielt dabei eine wichtige Rolle. Aber alle diese Bedingungen sind im Grunde genommen nur s e k u n d ä r e r Natur 3 , die H a u p t b e d i n g u n g ist, d a ß die städtische Bevölkerung, die ja aus Außenversorgern besteht, t r o t z d e m ihre Existenzbedürfnisse befriedigen k a n n . Dieser w i r t s c h a f t l i c h e Charakter der S t a d t t r a t im Laufe der Zeit immer schärfer hervor. Auf der Stufe der Vizinalwirtschaft ist die S t a d t ganz von dem Überfluß der ländlichen Umgebung, besonders an Nahrungsmitteln, abhängig; je kräftiger der Verkehr sich entwickelt, je weiter sich der wirtschaftliche Abhängigkeitskreis a u s d e h n t , desto mehr verlieren die örtlichen Faktoren der S t ä d t e e n t w i c k l u n g an Bedeutung. Das W a c h s t u m der S t a d t h ä n g t d a n n in erster Linie n u r davon ab, d a ß sie genug Tauschwerte schafft, u m die nötigen Existenzmittel einzuhandeln. Am ausgeprägtesten t r i t t uns der wirtschaftliche Charakter in der G r o ß s t a d t entgegen. Wir verstehen d a r u n t e r gewöhnlich S t ä d t e mit 100000 und mehr Einwohnern. Hier haben wir zwischen O r t s c h a f t und Gemeinde zu unterscheiden. Die G e m e i n d e ist die unterste Ver1

W. ROSCHER, System der Volkswirtschaft. Stuttgart 1883, Bd. III, S. 1 ff. J. G. KOHL, Der Verkehr u. die Ansiedelungen der Menschen, 1841. 3 Dies nicht erkannt zu haben, darin bestand allerdings ein Iirtum der Geographen, aber nicht aller, wie die Auslassungen der modernen Nationalökonomen vermuten lassen. SOMBARTS wirtschaftliche Theorie ist schon von FR. RATZEL (Anthropogeographie, Bd. II, 2. Aufl. Stuttgart 1912. S. 293) klar ausgesprochen worden: Anderseits ist die Nationalökonomie, die die historischen u. geographischen Bedingungen ignoriert, nicht weniger einseitig. 2

D e r Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

159

waltungseinheit und d e m n a c h ein politischer Begriff, O r t s c h a f t ist eine abgeschlossene Gruppe von Siedelungen und somit ein geographischer Begriff. T r o t z d e m werden sie in der Mehrzahl der statistischen Veröffentlichungen einfach einander gleichgesetzt. Allerdings decken sich beide Begriffe häufig, aber oft besteht eine Gemeinde aus mehreren O r t s c h a f t e n oder eine O r t s c h a f t aus mehreren Gemeinden. Der erste Fall ist in vielen Ländern, z. B. in Südeuropa, und in den Gebirgen sehr häufig. Besonders in Spanien, worüber uns der v o m Madrider geographisch-statistischen I n s t i t u t herausgegebene „ N o m e n c l á t o r de los ciudades, villas" etc. zum ersten Male aufgeklärt h a t . Murcia z. B. hielten wir f ü r eine G r o ß s t a d t (111539 E. im J a h r e 1900), jetzt wissen wir, d a ß es in Wirklichkeit nur eine Mittelstadt mit 3 2 0 0 0 E., aber mit nicht weniger als 118 O r t s c h a f t e n , die bis zu 34 k m vom H a u p t o r t entf e r n t sind, und von denen zwei sogar mehr als 10000 Einwohner haben, u n d mit 5913 zerstreuten Siedelungen zu einer Gemeinde vereinigt ist. Manche solcher Riesengemeinden sind an Flächeninhalt unseren preußischen Kreisen vergleichbar. Der zweite der oben e r w ä h n t e n Fälle ist vielleicht noch häufiger. W e r von Berlin durch das B r a n d e n b u r g e r Tor nach W w a n d e r t , k o m m t , ohne es zu merken, durch eine lückenlose Häuserreihe in eine zweite G r o ß s t a d t , Charlottenburg. In gleicher Weise w a r e n 1905 noch 20 andere S t ä d t e u n d Dörfer mit Berlin verwachsen. Sie alle w a r e n einst auch geographisch selbständig und haben ihre politische Sonderexistenz meist n u r aus administrativen, fiskalischen und anderen Gründen b e w a h r t . Brüssel zählte 1906 als Gemeinde n u r 2 0 0 0 0 0 E., als Ort aber 640000 E. In neuester Zeit ist f a s t überall die Tendenz bem e r k b a r , diesen W i d e r s p r u c h aufzulösen und auf dem Wege der „ E i n g e m e i n d u n g " das, was geographisch z u s a m m e n g e h ö r t , auch politisch zu vereinigen. 1 Auf diese Weise sind die meisten unserer G r o ß s t ä d t e zu ihrem heutigen U m f a n g herangewachsen. Dies m u ß m a n im Auge behalten, wenn m a n über das W a c h s t u m der S t ä d t e auf Grund der Bevölkerungsstatistik ein sicheres Urteil abgeben will. „ D a s W a c h s t u m der G r o ß s t ä d t e " , sagt MACKENZIE2, „ist vielleicht das größte aller Probleme der modernen Zivilisation". Die meisten ältesten G r o ß s t ä d t e b e r u h t e n auf dem H a n d e l . Hier floß das Geld aus verschiedenen, vielverzweigten Kanälen z u s a m m e n und ermöglichte 1 Ich habe das Prinzip der „ k o m b i n i e r t e n Ortszahl", wie ich es g e n a n n t habe, schon seit Jahren in der „ B e v ö l k e r u n g der Erde", soweit es meine Hilfsmittel ges t a t t e t e n , k o n s e q u e n t durchgeführt. 2 Introduction to social Philosophy, 1891, S. 101. Ähnlich hat sich schon K A R L R I T T E R ausgesprochen (s. F. R A T Z E L , Anthropogeographie, Bd. II, S. 323).

160

D e r E i n f l u ß der w i r t s c h a f t l i c h e n auf d i e v ö l k i s c h e

Struktur.

dadurch weitgehende Außenversorgung. Daher kamen hier die sekundären geographischen Bedingungen vollauf zur Geltung. An den Ufern und der M ü n d u n g und an den natürlichen Übergangsstellen mächtiger Flüsse, an den K r e u z u n g s p u n k t e n natürlicher Verkehrswege, an der Grenze von orographisch u n d wirtschaftlich verschiedenen Geländeteilen, z. B. Gebirge und Ebene, an Umlageplätzen, wo ein Beförderungsmittel durch ein anderes ersetzt werden m u ß t e , an günstig gelegenen Küstenstellen konnten sich Siedelungen am leichtesten- zu Handelsemporien entwickeln. Politische Zentren trugen nur d a n n den Keim zu G r o ß s t ä d t e n in sich, wenn Handel, Verkehr und Industrie hier einen Nährboden f a n d e n . Der m o d e r n s t e und charakteristische Typus der Großstadt ist aber die I n d u s t r i e s t a d t . Sie ist die Frucht jener wirtschaftlichen Umwälzung, die sich im Gefolge der D a m p f m a s c h i n e vollzogen h a t . Früher, als meist fließendes Wasser u n d Holz die K r a f t lieferten, war die Industrie a n n ä h e r n d gleichmäßig verteilt und zum großen Teil Hausindustrie, jetzt ist K o n z e n t r a t i o n das Losungswort, und die Kohlenfelder sind übermächtige Anziehungspunkte geworden. 1 SOMBART unterscheidet p r i m ä r e und s e k u n d ä r e Industriestädte; jene sind durch die Industrie selbst ins Leben gerufen worden, indem sich an Stellen, die K r a f t - und Rohstoffe bieten, gleichartige und sich gegenseitig ergänzende Betriebe u m einen M i t t e l p u n k t g r u p p i e r e n ; diese sind ältere S t ä d t e , die aus verschiedenen, oft zufälligen Gründen, zur industriellen W i r t s c h a f t übergegangen sind. Die Mehrzahl unserer Großs t ä d t e gehört dieser Kategorie an. Es ist im G r u n d e genommen derselbe Prozeß, den wir auf S. 150 bei den A g r a r s t a a t e n kennen gelernt haben. Die allmähliche U m g r u p p i e r u n g der Bevölkerung im Reich zeigt nachstehende Tabelle 2 . Von

1000

der

Reichsbevölkerung

(bis 5 0 0 0 E.)

( 5 — 2 0 0 0 0 E.)

1871

763

112

1875

736

1880

lebten

Deutschen

in

Mittelstädten

Großstädten

( 2 0 — 1 0 0 0 0 0 E.)

( ü b e r 1 0 0 0 0 0 E.)

77

48

82

62

713

120 126

89

72

1885

687

129

89

95

1890

678

115

93

114

1895

619

135

107

139

1900

577

135

126

162

1905

544

137

129

190

1

V g l . K- WIEDENFELD, E i n J a h r h u n d e r t r h e i n i s c h e r M o n t a n i n d u s t r i e ,

bis 1 9 1 5 . 2

Bonn

1916.

Entnommen

STEINMANN-BUCHER, z i t . S. 6 0 .

1815

D e r E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

161

Einen guten Einblick in die völkische S t r u k t u r und deren Verhältnis zur wirtschaftlichen gewinnen wir, wenn wir die Bevölkerungss u m m e n verschiedener Siedelungskategorien auf die Gesamtfläche des betreffenden Gebietes beziehen. Hier ein Beispiel aus dem Deutschen Reiche nach der Zählung von 1905. Vergleichen wir die Regierungsbezirke Allenstein (in Ostpreußen), Düsseldorf und P o t s d a m einschließlich Berlin miteinander, so erhalten wir als durchschnittliche Dichte 44, 546 und 208. Schon diese Zahlen lassen auf große wirtschaftliche U n t e r schiede schließen. Noch klarer t r e t e n diese aus folgender Tabelle hervor. An der Gesamtdichte beteiligen sich in Alienstein

Düsseldorf

Potsdam-Berlin



237

143 14

die G r o ß s t ä d t e ,,

Mittelstädte

2

100



Kleinstädte

4

105

14

,,

ländliche B e v ö l k e r u n g . . . .

38

104

37

44

546

208

Zusammen:

Alienstein repräsentiert den ländlichen und agrarischen, Düsseldorf den städtischen und industriellen Typus, obwohl — und das ist besonders hervorzuheben — die ländliche Bevölkerung hier dichter ist als d o r t . Potsdam-Berlin h a t , wie sich aus dem beträchtlichen Übergewicht der G r o ß s t a d t erweist, konzentrierte Siedelungsweise, aber d a ß es bereits am R a n d e des Übereibischen Ackerbaugebietes liegt, zeigt sich in der relativ hohen Dichte der ländlichen Bevölkerung. Die Zahlen f ü r Potsdam-Berlin geben uns ein gutes Beispiel einer extrem gesteigerten G r o ß s t a d t b i l d u n g , die wir als k o n z e n t r i e r t e S i e d e l u n g s w e i s e bezeichnen können. Eine solche ist d a n n v o r h a n d e n , wenn eine S t a d t oder einige wenige S t ä d t e alle anderen Siedelungen u m ein Bedeutendes überragen. Australien ist durch diese Siedelungsweise besonders ausgezeichnet. Von der Gesamtbevölkerung des 2 n Staates Viktoria leben /s > der H a u p t s t a d t Melbourne; Sidney beherbergt 36 v. H. von Neu-Südwales, und im ganzen B u n d e s s t a a t Australien, der nahezu so groß ist wie E u r o p a , entfallen 32 v. H. der Bevölkerung auf die sechs Großstädte. In E u r o p a ist D ä n e m a r k ein S t a a t mit konzentrierter Bevölkerung: im J a h r e 1911 entfielen 20 v. H. der Bewohner des Königreiches auf Kopenhagen (mit Frederiksberg). Die Dichtezahlen geben uns einen Fingerzeig zur Beurteilung der Größenverhältnisse der Siedelungen. Zerstreute Siedelungsweise ist mit einer hohen Volksdichte nicht vereinbar; je höher diese ist, desto mehr müssen sich die Menschen in geschlossenen Orten zusammendrängen, desto enger ist das Siedelungsnetz, desto häufiger Supan,

Leitlinien.

2. A u f l .

11

162

D e r E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

k a n n der Fall eintreten, d a ß mehrere Orte miteinander verschmelzen. W e n n wir die Tabelle auf S. 154 d u r c h m u s t e r n , so können wir wohl v e r m u t e n , d a ß die S t a a t e n der ersten Dichtekategorie mehr G r o ß s t ä d t e (über 100000) besitzen, als die minder dicht b e v ö l k e r t e n , aber ganz zuverlässig ist dieser Schluß noch n i c h t ; im J a h r e 1911 h a t t e z. B. das europäische R u ß l a n d (mit Finnland) 20, Frankreich aber nur 15 Großs t ä d t e (mit mehr als 100000 Einwohnern), obwohl dieses nahezu f ü n f m a l dichter bevölkert w a r als jenes. Hauptstädte. J e d e politische Einheit, die Gemeinde, der Kreis, der Bezirk, die Provinz und endlich auch der S t a a t m u ß einen Mittelp u n k t haben, von dem die alles z u s a m m e n h a l t e n d e n Fäden ausgehen. Für uns sind die H a u p t s t ä d t e d e r S t a a t e n am wichtigsten. Ihnen k o m m t in der Regel eine ähnliche F u n k t i o n zu wie dem Herzen im tierischen Körper. Von H a u p t s t ä d t e n k a n n man eigentlich nur in f l ä c h e n h a f t e n S t a a t e n sprechen, nicht in der altgriechischen Polis, wo die Begriffe S t a d t und S t a a t sich deckten. Aber keineswegs völlig. Der größere Teil der Bevölkerung lebte a u ß e r h a l b der S t a d t auf ihren ländlichen G r u n d s t ü c k e n . 1 Im b e s c h r ä n k t e n Sinne waren also auch die a n t i k e n und mittelalterlichen S t a d t s t a a t e n , wie auch die modernen Hanses t a a t e n Flächenstaaten, und darf man z. B. A t h e n die H a u p t s t a d t von A t t i k a nennen. Aber rechtlich war nur die S t a d t der S t a a t und das Land nur unpolitische Beigabe. Insofern k a n n m a n sagen, die H a u p t s t a d t sei älter als der S t a a t . Bis zum J a h r e 88 v. Chr. war Rom nicht die H a u p t s t a d t des d a m a l s schon mächtigen römischen Reiches, sondern das Reich selbst; erst die Verleihung des römischen Bürgerrechts, zuerst nur an die Italiker, d a n n auch an die anderen Völker des Reiches, schuf einen neuen Rechtszustand. R o m sank von der Beherrscherin zur H a u p t s t a d t herab. Als mit dem U n t e r g a n g der Republik auch die römische Volksversammlung ihre politische Macht einbüßte, war Rom nur mehr Kaiserresidenz und Regierungssitz, und nun verfiel es demselben Schicksal wie so viele H a u p t s t ä d t e , die aus verschiedenen politischen Gründen, manchmal auch n u r um der Laune des Herrschers zu genügen, an eine andere Stelle verlegt wurden. Maximilian residierte immer, Diocletian zeitweise in Mailand, letzterer auch in Nicomedia in Klein-« asien. K o n s t a n t i n d. Gr. verlegte die Residenz dauernd nach der von ihm neu gegründeten S t a d t a m Bosporus, die seinen N a m e n t r ä g t ; und als das römische Reich geteilt wurde, wählte Kaiser Honorius zur 1

ARISTOTELES, P o l i t i k V, 4.

Der E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

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H a u p t s t a d t der westlichen Reichshälfte nicht das altehrwürdige Rom, sondern die große Flottenstation R a v e n n a , die diese Stellung bis zum U n t e r g a n g des Reiches beibehielt. Solange die H a u p t s t ä d t e , aus denen der S t a a t erwuchs, wie der B a u m aus einem kleinen Samenkorn, mit dem S t a a t identisch bleiben, sind sie b o d e n s t ä n d i g , d a n n können sie b o d e n v a g werden. Freilich selten sind die Verschiebungen so groß, wie im römischen Reiche. Solche vollziehen sich nur dann, wenn der S t a a t sich völlig neu orientiert. Die Verlegung der H a u p t s t a d t b e d e u t e t d a n n eine Verlegung des politischen Schwerpunktes. Das b e k a n n t e s t e Beispiel aus der neueren Geschichte bietet R u ß l a n d , dessen ältere H a u p t s t a d t Moskau die kontinental-nationale, und dessen jüngere, Petersburg, die maritimeuropäische Phase in der E n t w i c k l u n g des Reiches kennzeichnet. Die H a u p t s t a d t der Vereinigten S t a a t e n von Amerika, Washington, gehört noch der früheren Periode der Union an, die damals nur die atlantischen K ü s t e n l ä n d e r u m f a ß t e ; seitdem h a t sich die Union über das ganze Innere u n d die W e s t h ä l f t e ausgedehnt, und die Zeit wird nicht mehr fern sein, wo es sich als unabweisbares Bedürfnis f ü h l b a r machen wird, die H a u p t s t a d t in die mediane Furche, etwa nach Chicago oder noch besser nach St. Louis zu verlegen. In unfertigen S t a a t e n tragen die H a u p t s t ä d t e nur einen provisiorischen Charakter und sind im vorhinein schon auf das W a n d e r n angewiesen. Burgas, Valladolid, Madrid bezeichnen E t a p p e n in dem K a m p f e des christlichen Spaniens gegen die Mauren. Adrianopel war f ü r die Türken nur eine Vorstufe zu Konstantinopel, wie Florenz f ü r das Königreich Italien nur ein R a s t o r t auf der W a n d e r u n g nach R o m . Häufig vollziehen sich die Verschiebungen nur innerhalb enger Grenzen; d a n n haben wir zwischen dem H a u p t g e b i e t und der H a u p t s t a d t zu unterscheiden, und es k o m m t weniger darauf an, die Lage der letzteren, als die des ersteren zu erklären. In Schweden konnte es n u r in dem klimatisch begünstigten südlichen Flachland gesucht werden, und man war niemals im Zweifel darüber, d a ß der durch eine schmale P f o r t e mit dem Meere in V e r b i n d u n g stehende Mälarsee und seine nächste U m g e b u n g schon durch die N a t u r zum politischen Mittelp u n k t b e s t i m m t sei, mochte der Herrschersitz in Sigtuna, Berka, Upsala oder Stockholm aufgeschlagen werden. In D ä n e m a r k lag das H a u p t gebiet immer im nordöstlichen Seeland; die älteren H a u p t s t ä d t e Lethra und Roskilde befanden sich im Hintergrunde des nach N geöffneten Roskildefjords, Kopenhagen liegt an der günstigsten Stelle, an der Meeresstraße des Sundes. Aber nicht immer h a t die Gunst der Lage den Ausschlag gegeben. In dem Kernlande des preußischen Staates, in der Mark B r a n d e n b u r g , war das politische Zenträlgebiet stets die ll*

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Der Einfluß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

Gegend an den Havelseen, nahezu gleichweit von der Elbe und der Ostsee entfernt. Brandenburg war die älteste Hauptstadt, daneben waren Spandau und Köpenick wichtig als befestigte Flußübergangsstellen. Berlin und die benachbarte Fischersiedelung Kölln standen weit hinter Köpenick zurück, das den ganzen Handelsverkehr über die Spree beherrschte. Nur durch besondere Vergünstigungen, die Berlin den Kaufleuten gewährte, zog es den Verkehr an sich und wuchs dadurch über seinen Rivalen hinaus. Im 14. Jahrhundert war es schon Haupt des märkischen Städtebundes, Ende des 15. Jahrhunderts wurde es dauernd Residenzstadt. Das brachte aber erst dann Förderung, als sich die brandenburgisch-preußische Monarchie, besonders seit dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten, mächtig zu entwickeln begann. Aber die Lage der Havelseengegend wirkte mehr lokal, als weitausgreifend. Aus der Eingabe von G. F. O P P E R T an das preußische Ministerium vom 11. März 1837 anläßlich des Eisenbahnprojektes Hamburg—Berlin 1 geht deutlich hervor, daß Berlin damals nur eine untergeordnete Bedeutung im Handel besaß, und daß das binnenländische Zentrum Magdeburg war. Aber nun setzt der große Umschwung ein, 1700: 1825: 1855: 1905:

26000 220000 344000 2041 0 0 0

Die durchschnittliche jährliche prozentische Zunahme, bezogen auf die mittlere Einwohnerzahl, betrug 1 7 0 0 - 1 8 2 5 1, 3 , 1825—55 aber 2, 2 und 1855—1905 schon 2,e. Diese Zahlen gelten nur für die Gemeinde Berlin ohne die Vororte. Die rasche Steigerung ist zum größten Teil ein Werk der zielbewußten preußischen Eisenbahnpolitik, die Berlin zum Knotenpunkt eines umfassenden Schienennetzes gemacht hat. Außerdem ist Berlin durch den Ausbau der Wasserstraßen und die Anlage von Kanalverbindungen mit der Elbe, Oder und durch diese weiter mit der Weichsel zu einem der größten Binnenhäfen Deutschlands geworden. Bei der Betrachtung der großen Städte betont man viel zu einseitig den Faktor 2 Lage und vergißt den Faktor Mensch, vor allem den Faktor Staat. Eine Veranlassung zur Festlegung der Hauptstadt gibt ihr Wachstum. Wenn sie auch anfänglich von anderen Städten des Landes übertroffen wird, so können doch ihre natürlichen Lebensbedingungen künstlich so gesteigert werden, daß sie bald eine 1 2

Deutsche R u n d s c h a u 1911/12, Nr. 22, S. 311. J. G. KOHL, Die geographische Lage der H a u p t s t ä d t e Europas, Leipzig 1874.

Der E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf d i e völkische Struktur.

]ß5

überragende Stellung e i n n i m m t . Berlin ist ein Beispiel davon. H e u t zutage kann, wenn nicht eine elementare K a t a s t r o p h e eintritt, niemand ernstlich d a r a n denken, die H a u p t s t a d t P r e u ß e n s und des Deutschen Reiches anderswohin zu verlegen, obwohl m a n schon m e h r m a l s mit diesem Gedanken gespielt hat. Von den 19 H a u p t s t ä d t e n der Großund Mittelstaaten E u r o p a s (1914) sind 15 zugleich die bevölkertsten der betreffenden S t a a t e n , nur Haag, Bern, R o m u n d Petersburg machen davon noch eine A u s n a h m e , u n d auch die beiden l e t z t g e n a n n t e n d ü r f t e n in nicht zu ferner Zeit an die erste Stelle rücken. In den außereuropäischen S t a a t e n t r i t t der Gegensatz zwischen H a u p t s t a d t u n d den übrigen S t ä d t e n noch greller hervor, mit A u s n a h m e von Nordamerika, wo sowohl in den Vereinigten S t a a t e n wie in K a n a d a der Sitz der Regierung grundsätzlich in kleinere S t ä d t e verlegt wird. T r o t z d e m k o m m t auch hier das Gewicht der Volkszahl zur Geltung; in der Union liegt der politische S c h w e r p u n k t nicht in W a s h i n g t o n , sondern in New York, dessen Börse einen ausschlaggebenden Einfluß a u s ü b t . Die Festlegung der H a u p t s t a d t k a n n aber auch durch andere Momente bedingt werden. Die Lage und die wirtschaftlichen Verhältnisse stehen obenan, aber m a n c h m a l werden sie durch geschichtliche Erinnerungen in den H i n t e r g r u n d gedrängt. Neapel ist d u r c h seinen Handel und Mailand durch seine Industrie Rom weit überlegen, aber das Herz der Nation h ä n g t an der ewigen S t a d t . Griechenland h ä t t e , wenn es nur n ü c h t e r n e n Erwägungen R a u m gegeben h ä t t e , seine H a u p t s t a d t sicher nicht nach Athen, sondern an die Westseite verlegt. Da sind Imponderabilien mit im Spiele, die kein Volk von g r o ß e r Vergangenheit unberücksichtigt lassen darf. Man k ö n n t e in diesen Fällen von v e r e r b t e n H a u p t s t ä d t e n sprechen, u n d zu ihnen z. B. auch Paris u n d London zählen; denn es ist nicht zweifelhaft, d a ß , wenn m a n n u r mit Berücksichtigung der Gesamtheit der g e g e n w ä r t i g e n V e r h ä l t nisse eine Stelle f ü r die H a u p t s t ä d t e Frankreichs und E n g l a n d s zu wählen h ä t t e , m a n sich f ü r passendere Örtlichkeiten entscheiden würde. W e n n die H a u p t s t a d t mit Recht der M i t t e l p u n k t des S t a a t e s g e n a n n t wird, so ist doch die weit verbreitete Ansicht unrichtig, sie müsse auch wirklich in der Mitte des Landes liegen. Das böte auch in der T a t manchen Vorteil; im Kriege gilt die E i n n a h m e der H a u p t s t a d t durch den Feind als" ein entscheidender Schlag, und die zentrale Lage wäre in der Regel die geschützteste. T r o t z d e m ist sie selten. Von den 19 europäischen H a u p t s t ä d t e n (1914) waren nur 3 z e n t r a l : Madrid, Brüssel und Wien, letzteres auch n u r im uneigentlichen Sinne, nämlich nur dann, wenn m a n Österreich-Ungarn als eine Einheit auff a ß t , und nur insofern, als Wien a m T r e f f p u n k t e der drei morphologischen

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D e r E i n f l u ß der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur.

H a u p t b e s t a n d t e i l e des Reiches: der Alpen, Böhmens und Ungarns liegt. 7 H a u p t s t ä d t e sind exzentrisch gelegen: Berlin, Paris, R o m 1 , H a a g , Bern, Bukarest und Sofia. Hier ist die physische S t r u k t u r von Bed e u t u n g . Italien z. B. kann keine zentrale H a u p t s t a d t haben, sie m u ß entweder auf der Halbinsel oder in der Po-Ebene liegen. Rom ist f a s t peripherisch, ebenso wie Haag, aber sie sind nicht Seestädte. Auch wenn wir diese E i n s c h r ä n k u n g gelten lassen, h a t noch immer die Mehrzahl der europäischen H a u p t s t ä d t e eine peripherische Lage. Auch London m u ß hierher gerechnet werden, obwohl sie im H i n t e r g r u n d des Themse-Ästuariums liegt. Zweifel könnten betreffs Konstantinopel obwalten, denn die Randlage bezog sich nur auf die europäische Türkei, nicht auf den G e s a m t s t a a t . Es liegt hier genau derselbe Fall vor, wie bei D ä n e m a r k : erst als Schonen die dänische Herrschaft mit der schwedischen v e r t a u s c h t e , rückte Kopenhagen an den äußersten Rand Dänem a r k s vor. Aber t r o t z d e m die H a u p t s t a d t immer der politische M i t t e l p u n k t des S t a a t e s ist, ist sie nicht immer sein S c h w e r p u n k t ; jedoch, sie dazu zu machen, ist eine überall hervortretende Tendenz. Völlig erreicht ist dieses Ziel n u r in Paris; hier ist es durch j a h r h u n d e r t e l a n g e Arbeit in der T a t gelungen, alles Leben, nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche und vor allem das geistige Leben so zu konzentrieren, d a ß f ü r die Provinz wenig mehr übrig bleibt. London h a t ein Gegengewicht in dem industriellen und bergmännischen W e s t e n ; Berlins unleugbares Konzentrierungsstreben wird durch den P a r t i k u larismus der Einzelstaaten, durch die industrielle Ü b e r m a c h t des rheinischen Westens und durch die allgemeine Blüte des geistigen Lebens im Z a u m e gehalten; Italiens wirtschaftlicher Schwerpunkt liegt nicht in Rom, sondern in Oberitalien; Madrid hat einen scharfen K o n k u r r e n t e n in Barcelona; in R u ß l a n d galt Moskau noch immer als die zweite H a u p t s t a d t und ehrwürdiger als Petersburg. Die Zentralisation nach f r a n zösischem und die Dezentralisation nach deutschem Muster haben beide unzweifelhafte Vorzüge, aber im großen und ganzen ist doch die letztere der gesündere Z u s t a n d . 1

R o m ist nur für t y r r h e n i s c h e Seite des h e u t i g e n Königreiches zentral g e l e g e n .

Verkehr und Weltwirtschaft. Verkehrsarten und die älteren Verkehrsmittel. Sobald die Eigenwirtschaft in die Vizinalwirtschaft überzugehen beginnt, t r i t t Güteraustausch ein, Produzent und K o n s u m e n t treten entweder u n m i t t e l b a r oder mittelbar miteinander in Verbindung. Zum Verkehr nötigte auch das Bedürfnis, Nachrichten und Personen zu verschiedenen Zwecken zu befördern, und soweit unsere geschichtliche E r i n n e r u n g reicht, waren alle diese Motive schon bei den ältesten zivilisierten Völkern wirksam, ja, der Handelsverkehr reicht bis in die vorgeschichtliche Zeit zurück. Jedenfalls ist der Staat ohne Verkehr nicht denkbar. Dies gilt aber nur f ü r den Verkehr innerhalb der Staatsgrenzen, nur der i n n e r e Verkehr ist eine allgemeine Erscheinung, dagegen nicht der ä u ß e r e oder der Verkehr zwischen verschiedenen Staaten. Dieser ist wiederholt zeitweise u n t e r b u n d e n worden, so in China bis 1842, in J a p a n bis 1854, und Korea hat sogar erst 1876 seine Häfen dem Handelsverkehr mit dem Ausland erschlossen. Wir haben auch zwischen N a h - und F e r n v e r k e h r zu unterscheiden. Jedenfalls bewegte sich der Verkehr zuerst zwischen ben a c h b a r t e n W o h n p l ä t z e n , aber allmählich streckte er seine Fühler immer weiter aus, über die Staatsgrenzen, endlich über Erdteile und Meere, Schritt f ü r Schritt mit der Erweiterung des geographischen Horizonts. J e weiter sich der Fernverkehr erstreckte, desto mehr war man gezwungen, den Weg in Abschnitte zu zerlegen. Es wurden S t a p e l p l ä t z e eingerichtet, von denen wieder neue Verkehrswege ausstrahlten. Sie konnten sich zum Kern einer neuen S t a a t e n b i l d u n g entwickeln, deren H a u p t a u f g a b e die Vermittelung des Handels war. Venedig ist das b e k a n n t e s t e Beispiel dieser Art. Handelsgesellschaften n a h m e n die Eigenschaften staatlicher Gebilde an, wie im Mittelalter die H a n s a und in der Neuzeit die verschiedenen ost- und westindischen Handelskompagnien. Das letzte Ziel in der E n t w i c k l u n g des Fernverkehrs ist der W e l t verkehr. Im A l t e r t u m und Mittelalter reichte er von E u r o p a bis Ostindien, zeitweise sogar bis China, im 16. J a h r h u n d e r t dehnte er sich

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Verkehr und Weltwirtschaft.

über die Neue Welt aus, und seitdem zieht er immer weitere Kreise, bis er endlich in W a h r h e i t die ganze bewohnte Erde u m s p a n n e n wird. Verkehrswege und Verkehrsmittel bedingen sich gegenseitig, aber wenn die ursprünglichste Form des Verkehrs, der von L a s t t r ä g e r n auf natürlichen ausgetretenen F u ß p f a d e n , wie er h e u t z u t a g e noch in einem großen Teile von Afrika besteht, ü b e r w u n d e n ist, ü b e r n i m m t das Verkehrsmittel die f ü h r e n d e Rolle, und mit seiner Entwicklung, mit dem A u f t a u c h e n neuer E r f i n d u n g e n ä n d e r n sich auch die Ansprüche an den Verkehrsweg und die ganze Gestaltung des Verkehrs. Es scheiden sich L a n d - und W a s s e r w e g e . Man sollte meinen, die letzteren seien als die natürlichsten Wege auch die ältesten, in der T a t konnten sie aber erst nach E r f i n d u n g des Schiffes b e n u t z t werden. Auf dem Lande genügten die N a t u r p f a d e auch d a n n noch, als im Lastenverkehr das H a u s t i e r ( P f e r d , Esel, Maultier; K a m e l , L a m a , R e n n t i e r , Rind, Ziege, Schaf; Elefant) als Träger an die Stelle des Menschen t r a t . Der S a u m v e r k e h r mit Packtieren d a u e r t e durch das ganze A l t e r t u m und Mittelalter hindurch. Die unausgesetzte B e n u t z u n g m a c h t e die S a u m p f a d e zu deutlich e r k e n n b a r e n Wegen von größter Beständigkeit, die den ganzen Handel beherrschten und regelten. Erst die E r f i n d u n g u n d E i n f ü h r u n g des W a g e n s m a c h t e den Bau g e b a h n t e r S t r a ß e n notwendig. Aber nicht überall. Im Großen Becken im westlichen Hochland der Vereinigten S t a a t e n f a n d Wagenverkehr schon auf natürlichen S t r a ß e n s t a t t , desgleichen stellenweise in Zentralasien und der Mongolei, u n d das in S ü d a f r i k a gebräuchliche Ochsengespann überwindet ohne besondere Schwierigkeiten auch steile und holperige Wege. Der W a g e n k a n n durch den S c h l i t t e n ersetzt werden, aber dieser ist n u r auf die polare Zone und a u ß e r h a l b derselben nur auf die kalte J a h r e s z e i t b e s c h r ä n k t . Besonders eignet er sich f ü r flache Gegenden, wie R u ß l a n d , Sibirien und die kanadische Rumpffläche. Hier k a n n er g e b a h n t e S t r a ß e n e n t b e h r e n u n d übert r i f f t wegen des geringeren Reibungswiderstandes der S'chneeflächen sogar den W a g e n an Schnelligkeit. Die alten Perser, die R ö m e r und die Chinesen waren die ersten, die S t r a ß e n b a u t e n ; d a s Mittelalter sank wieder auf die Stufe des ' S a u m v e r k e h r s zurück, u n d erst im 17. J a h r h u n d e r t beginnt wieder der systematische S t r a ß e n b a u , zuerst in Frankreich durch den Minister COLBERT. Den längsten W i d e r s t a n d leistete natürlich das Hochgebirge; die erste K u n s t s t r a ß e in den Alpen, die über den Simplon, e r b a u t e erst Napoleon B o n a p a r t e a m Beginne des 19. J a h r h u n d e r t s . Kein S t a a t ist ohne Verkehr d e n k b a r . Menschen u n d Güter müssen sich in f o r t w ä h r e n d e m Kreislaufe befinden, wie das Blut im

Verkehr u n d W e l t w i r t s c h a f t .

169

tierischen Körper. Dies ist eine notwendige Vorbedingung des Zus a m m e n h a l t s , ohne Verkehr würde der S t a a t in seine A t o m e zerfallen. Aber nicht nur m i t t e l b a r dienen die S t r a ß e n dem S t a a t e , auch unmittelbar. J a , die der alten Perser und der R ö m e r wurden ü b e r h a u p t nicht zu Handels-, sondern zu politischen u n d militärischen Zwecken angelegt. Sie waren die K l a m m e r n , die die weit ausgedehnten Reiche zusammenhielten. Es ist bezeichnend, d a ß der S t r a ß e n b a u erst im Zeitalter der napoleonischen Eroberungskriege ein rascheres Tempo einzuschlagen begann, und daß m a n die am sorgfältigsten g e b a u t e n S t r a ß e n Heeresstraßen n a n n t e . Eisenbahnen. Eine radikale U m g e s t a l t u n g e r f u h r der L a n d v e r k e h r erst durch die Anlage von S p u r b a h n e n und die A n w e n d u n g der D a m p f k r a f t . S p u r b a h n e n , in Stein gehauen, waren schon im A l t e r t u m (Ägypten, Griechenland) b e k a n n t ; im Mittelalter k a m e n die eigentlichen Vorläufer unserer Eisenbahnen, die S p u r b a h n e n mit Holzschienen auf, und erst im 18. J a h r h u n d e r t t r a t die Eisenschiene an die Stelle der Holzschienen. Anfangs w u r d e n diese S p u r b a h n e n nur im Bergwerksbetrieb v e r w e n d e t , f ü r den eigentlichen Verkehr k a m dieses neue Vehikel erst in B e t r a c h t , als R I C H A R D T R E V E T H I C K 1 8 0 4 den Dampf als bewegende K r a f t einführte, und G E O R G S T E V E N S O N 1 8 1 4 den Maschinen eine zweckmäßige Gestalt und E i n r i c h t u n g gab. A m 27. S e p t e m b e r 1825 — wie das J a h r 1769 (S. 139) eines der wichtigsten Daten der W e l t geschichte !— wurde in E n g l a n d die 42 k m lange E i s e n b a h n s t r e c k e S t o c k t o n — D a r l i n g t o n eröffnet, und d a m i t ü b e r h a u p t erst die Brauchb a r k e i t des neuen Verkehrsmittels erwiesen. Aber es d a u e r t e noch längere Zeit, bis es sich allen Anzweifelungen zum Trotz allgemein d u r c h s e t z t e . Auf dem europäischen Festland (in Österreich und Frankreich) begnügte m a n sich zuerst mit P f e r d e b a h n e n , die D a m p f b a h n k a m nach England zuerst (1829) in den Vereinigten S t a a t e n von A m e r i k a und 1835 in Belgien u n d Deutschland (Strecke N ü r n b e r g — F ü r t h ) in Gebrauch. D a m i t w a r der Sieg gewonnen, und von da ab entwickelte sich das E i s e n b a h n n e t z m i t steigender Geschwindigkeit. Darin b e s t e h t die kulturelle B e d e u t u n g der Eisenbahn in noch höherem Grade als in der Schnelligkeit der Beförderung von Personen u n d W a r e n , und sie wird noch d a d u r c h gesteigert, d a ß nun auch der Bau von K u n s t s t r a ß e n neue Impulse empfing, und somit w u r d e der ganze Verkehr auf eine Grundlage von u n g e a h n t e r Breite gestellt. T r o t z d e m sind selbst in E u r o p a die Unterschiede noch beträchtlich. Man k a n n in doppelter Weise einen zahlenmäßigen A u s d r u c k d a f ü r finden, wie aus n a c h s t e h e n d e r Tabelle hervorgeht, in der ersten K o l u m n e

Verkehr und Weltwirtschaft.

170

n e h m e n d i e Z a h l e n m i t der D i c h t e d e s E i s e n b a h n n e t z e s ab, in d e r z w e i t e n steigen

sie. E i s e n b a h n länge auf 1000 q k m

Mittlere Maschenbreite1

km

km

L u x e m b u r g (1910) Belgien (1912) G r o ß b r i t a n n i e n (1912) S c h w e i z (1912) D e u t s c h e s R e i c h (1913) N i e d e r l a n d e (1913) F r a n k r e i c h (1912) . . . D ä n e m a r k (1891) Ö s t e r r e i c h - U n g a r n (1913) I t a l i e n (1912) S c h w e d e n (1912) P o r t u g a l (1913) R u m ä n i e n (1913) S p a n i e n (1912) G r i e c h e n l a n d (1912) B u l g a r i e n (1913) S e r b i e n (1913) E u r o p ä i s c h e T ü r k e i (1911) E u r o p ä i s c h e s R u ß l a n d (1913) N o r w e g e n (1912) M o n t e n e g r o (1909) V e r . S t a a t e n v o n A m e r i k a (1912) . . . J a v a (1911) J a p a n ( m i t F o r m o s a u . K o r e a , 1912) B r i t i s c h - I n d i e n (1912) Wenn mit

auch

der Zeit

ganz

angenommen

mildern

verschwinden

schwierigkeiten

werden,

werden.

verschieden

werden so

ist

Nicht sind,

9,8 16,o

203 60 133 124 116 99 95 91 69 62 32 32 28 29 23 25 18 12

14.92

16,i 17,i 21,o 20,9 21,9 28,9

32,5 62,s 6r,fi 61,8 68,2 80,5 86,3 111,1 169,8 174,3

11 9 2 50 17 14 12 darf,

daß

209,o 834,3 38,2 117,0 141,0 173,2

sich

doch

nicht

bloß

deshalb,

sondern

auch

die

Unterschiede

anzunehmen, weil

die

deshalb,

weil

jeden S t a a t eine Grenze g e b e n m u ß , w o die E r w e i t e r u n g des netzes ist.

vom

Das

hängt

Landwege und

volkswirtschaftlichen

welche

namentlich

innerhalb

der

Ausgestaltung

auch

Standpunkte davon

Maschen

ab,

des

die W a s s e r w e g e

wie

nicht sich

es

für

lohnend

ergänzenden

Eisenbahnnetzes erfahren

sie

Eisenbahn-

mehr die

daß

Gelände-

entwickeln

werden.

1 B e r e c h n e t n a c h d e r F o r m e l v o n BÖTTCHER ( G e o g r a p h . Z e i t s c h r i f t 1900, S. 6 3 5 ) : F l ä c h e n i n h a l t d i v i d i e r t d u r c h 1 / s E i s e n b a h n l ä n g e . Die F l ä c h e w i r d h i e r als-, ein Q u a d r a t g e d a c h t u n d die eine H ä l f t e d e r L i n i e n in h o r i z o n t a l e , die a n d e r e in v e r t i k a l e r R i c h t u n g in gleichen A b s t ä n d e n ( M a s c h e n w e i t e ) d a r ü b e r g e l e g t . 2 Einschließlich der Vizinalbahnen.

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In Europa und Nordamerika s t e h t die Eisenbahndichte im geraden Verhältnis zur Dichte der Bevölkerung, und das E i s e n b a h n n e t z ist d a h e r in I n d u s t r i e s t a a t e n ungleich engmaschiger als in A g r a r s t a a t e n ; f ü r Länder, die der modernen, auf N a t u r w i s s e n s c h a f t e n u n d Technik ber u h e n d e n Zivilisation noch nicht erschlossen sind, gilt dieser Satz, wenigstens derzeit, noch nicht. In China befindet sich der E i s e n b a h n b a u erst in den A n f ä n g e n ; es ist u n a b s e h b a r , welchen U m f a n g der Welthandel a n n e h m e n wird, wenn einmal dieses an N a t u r s c h ä t z e n so reiche, von mehreren h u n d e r t Millionen emsiger und intelligenter Menschen bewohnte Land einmal von etwa ebensoviel Eisenbahnen durchzogen sein wird wie E u r o p a . Das ist n u r eine Frage der Zeit, und darin liegt die ungeheure Wichtigkeit des vielverzweigten ostasiatischen Problems, dessen Lösung dem 20. J a h r h u n d e r t v o r b e h a l t e n bleibt. In den Kolonialländern, wo erst die Grundlagen einer Zivilisation gelegt werden müssen, schlägt der E i s e n b a h n b a u einen anderen E n t wicklungsgang ein. U n a b h ä n g i g von der Siedelungsdichte folgt er dem Handel nicht nach, sondern geht ihm voran. Seine Aufgabe ist, neue R ä u m e und Hilfsquellen zu erschließen. In der W e s t h ä l f t e Nordamerikas h a t sich diese Methode d u r c h a u s b e w ä h r t ; ob das auch im tropischen Afrika der Fall sein würde, w u r d e von vielen angezweifelt, bis die U g a n d a b a h n ihre Kulturmission glänzend erfüllt h a t . Gebirge schienen lange Zeit von der W o h l t a t des neuen Verkehrsmittels ausgeschlossen zu sein. Es ist ein Verdienst Österreichs, hier b a h n b r e c h e n d vorgegangen zu sein. Die S e m m e r i n g b a h n (1854) h a t bewiesen, d a ß der D a m p f w a g e n auch alpine Steigungen zu überwinden vermag. W o die H ö h e n zu groß und steil sind, werden die Bergrücken einfach mittels eines Tunnels durchbrochen. Der Montcenis gab 1871 das erste Beispiel hiervon. Seitdem sind die Hochgebirge kein Verkehrshindernis mehr. Die O r o y a b a h n in den peruanischen Andes ist, von den Bergbahnen nach A u s s i c h t s p u n k t e n , die hier nicht in B e t r a c h t kommen, abgesehen, die höchste (4769 m), die auch dem G ü t e r v e r k e h r dient. Aber nicht bloß an Intensität hat der G ü t e r a u s t a u s c h gewonnen, sondern er h a t auch einen anderen Charakter angenommen. Auf Saumtieren und Wagen konnten n u r W a r e n von mäßigem U m f a n g e t r a n s p o r t i e r t werden und da n a h m er mit der E n t f e r n u n g in geometrischer Progression ab. Nur das Schiff k o n n t e noch Massengüter weitab v o m Erzeugungsort führen, wie z. B. Getreide von Ä g y p t e n nach dem kaiserlichen Rom. Der Fern- und vor allem der Welthandel aber m u ß t e sich auf W a r e n von geringem U m f a n g und Gewicht, d a f ü r aber von hohem W e r t e beschränken, auf feine Stoffe, Edelmetalle, Pretiosen, Gewürze, kostbares Rauchwerk u. dgl.; N a h r u n g s m i t t e l und die meisten Rohstoffe blieben

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der heimischen P r o d u k t i o n vorbehalten. Auf der Eisenbahn fallen alle B e s c h r ä n k u n g e n fort. Die M a s s e n g ü t e r r ü c k e n an die e r s t e S t e l l e , u n d d i e L u x u s g ü t e r t r e t e n r e l a t i v i m m e r m e h r in den H i n t e r g r u n d . Das w i r k t wieder auf die ganze wirtschaftliche S t r u k t u r z u r ü c k ; eine so gewaltige Entwicklung, wie die der britischen Industrie, und i h r . S i e g über die Landwirtschaft wäre ohne die Eisenb a h n e n u n d e n k b a r gewesen. Doch davon noch später. W a s wir oben von den Heeresstraßen des alten römischen Reiches gesagt h a b e n , d a ß sie K l a m m e r n waren, die den breiten K ö r p e r des Reiches zusammenhielten, das gilt von den Eisenbahnen in noch höherem Maße. Die P a z i f i k b a h n e n Nordamerikas, die die atlantische Seite mit der pazifischen auf dem a n n ä h e r n d kürzesten Wege verbinden, und die australischen Ü b e r l a n d b a h n e n müssen vor allem unter diesem politischen Gesichtspunkte beurteilt werden. Gewiß stellen diese Verk e h r s s t r a ß e n nur einen ä u ß e r e n Z u s a m m e n h a n g her, aber einen von unendlicher Wichtigkeit, der dem inneren Z u s a m m e n h a n g w i r k s a m v o r a r b e i t e t . Fast noch höher ist die Bedeutung der sibirischen Eisenb a h n anzuschlagen, denn in diesem Falle war die E n t f e r n u n g des pazifischen Gestades von dem politischen Mittelpunkte des Reiches noch größer und d a h e r der Z u s a m m e n h a n g noch lockerer. Die H e d s c h a s b a h n , die K o n s t a n t i n o p e l mit den heiligen S t ä t t e n des Islam verbindet, sollte das wenig zuverlässige Arabien mit dem türkischen Reiche fest verk e t t e n und d a m i t auch eine neue S t ü t z e f ü r die religiöse Einheit der Türkei schaffen. Wichtige P r o j e k t e , wie das der panamerikanischen Bahn von H a l i f a x bis Buenos Aires, die dem politischen und w i r t s c h a f t lichen Einflüsse der Vereinigten S t a a t e n in S ü d a m e r i k a zum Siege verhelfen soll; das der B a h n v e r b i n d u n g des K a p l a n d e s - mit Ägypten ( K a p s t a d t — K a i r o ) , die die wichtigsten Teile Afrikas der englischen H e r r s c h a f t ausliefern w ü r d e ; endlich die sog. B a g d a d b a h n (Berlin—Konstantinopel—Persischer.Golf), die dem geplanten festen Bunde der m i t t e l europäischen S t a a t e n mit d e m Orient ein sicheres R ü c k g r a t geben sollte — alle diese E n t w ü r f e sind erst z u m kleinen Teil in A u s f ü h r u n g begriffen, eröffnen aber weite politische und wirtschaftliche Perspektiven. D a ß die politische B e d e u t u n g der Eisenbahnen vor allem auch darin liegt, d a ß sie, wie die S t r a ß e n des römischen Reiches, m i l i t ä r i s c h e n Zwecken dienen, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Gerade das Z u s a m m e n w i r k e n kommerzieller, politischer und s t r a t e g i s c h e r Z w e c k e m a c h t die E i s e n b a h n z u m G r u n d pfeiler der modernen menschlichen Gesellschaft. In neuester Zeit schien der Eisenbahn im A u t o m o b i l oder K r a f t w a g e n ein K o n k u r r e n t zu erstehen. Er h a t vor jener den Vorzug,

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daß er keiner Schienen bedarf und daher eine viel größere Bewegungsfreiheit besitzt. Das ist aber auch alles. Im Personenverkehre leistet er ausgezeichnete Dienste, im Güterverkehre einstweilen so gut wie keine. Wasserstraßen. Der einzige gefährliche Konkurrent der Eisenbahn ist die Wasserstraße, denn der Verkehr auf dem Schiff oder dem Floß ist unter allen Umständen am billigsten. Die Waserstraße eignet sich daher vorzüglich zur Weiterbeförderung von Massengütern, die einen großen Raum einnehmen, und die. auf Schnelligkeit keinen großen Anspruch machen. Jedoch wird sie selten unmittelbar von der Natur geboten. Freie Fahrt gewähren nur das Meer und die Seen des Festlandes, sofern sie eine genügende Tiefe besitzen. Die kanadischen Seen, eine ununterbrochene Wasserfläche von 244400 qkm, fast so groß wie Italien, sind für die Vereinigten Staaten und Kanada ein Verkehrszentrum ersten Ranges. Ihre Handelsflotte hatte 1914/15 einen Tonnengehalt von 2818000, mehr als die Hälfte der atlantischen (4310000) und mehr als doppelt soviel als die der übrigen Gewässer der Union (1 261000). Keiner der anderen großen Seen der Erde kann sich mit ihnen messen, weil keiner in einer so produktiven Umgebung liegt, und weil keiner einen so bequemen Ausgang zum Meere besitzt wie den Lorenzstrom. Den Landstraßen vergleichbar sind nur die Flüsse, weil auch hier der Verkehr sich nur in linearer Richtung bewegt. Aber selten kann die Flußschiffahrt sofort in Betrieb gesetzt werden. In den meisten Fällen muß erst der Mensch korrigierend eingreifen durch Kanalisation (Eindämmung der Ufer), durch Beseitigung von Hindernissen im Flußbette, durch Abschneidung der Serpentinen und Geradstreckung des Flußlaufes, wodurch ein größeres Gefälle erzielt und die Versandung des Bettes verhindert wird; endlich unter Umständen durch Errichtung von Querdämmen (sog. Talsperren), wodurch das Hochwasser gestaut und der Abfluß geregelt wird. Die höchste Leistung der Flußtechnik ist die Verknüpfung zweier nach entgegengesetzter Richtung fließender Gewässer, die Überwindung der Wasserscheide, sei es mit, sei es ohne Hilfe von Schleusen; im letzteren Falle hat schon die Natur vorgearbeitet. Flüsse sind also nur selten natürliche Straßen im vollsten Sinne des Wortes. Die Donau, der einzige mitteleuropäische Strom, der von W nach 0 fließt, ist wie berufen, die Verbindung zwischen dem Herzen Europas und dem Orient herzustellen, und doch, wie schlecht h a t sie diese Aufgabe bisher erfüllt. Im Vergleiche mit dem Rhein ist sie ein Öder Fluß. Die Ursache liegt in ihrer wechselnden Tiefe und in der Beweglichkeit ihrer Flußsohle. Sandbänke und' Felsriffe hindern die

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Schiffahrt vom Quellgebie't bis über das Eiserne Tor hinaus. Nach G R A T Z kann sie den Ansprüchen der modernen Großschiffahrt erst d a n n genügen, wenn sie überall so tief ist, d a ß sie auch bei Niederwasser von vollbeladenen Schiffen von 650 Tonnen befahren werden kann. H E R M . W A G N E R zählt jetzt nur vier H a u p t g e b i e t e des Wasserv e r k e h r s : den A m a z o n a s (der übrigens von den Eingeborenen nur wenig b e n u t z t wird), den Kongo, die S ü d h ä l f t e Chinas und Nordamerika. Diese B e s c h r ä n k u n g ist übrigens keineswegs durch die N a t u r bedingt, die W a s s e r s t r a ß e n sind, vielmehr durch die Eisenbahnen über Gebühr in den H i n t e r g r u n d gedrängt worden, selbst dort, wo die Verhältnisse f ü r den Wasserverkehr günstig liegen, wie in den Vereinigten S t a a t e n oder in Frankreich, wo die K a n a l v e r b i n d u n g zwischen dem Atlantischen Ozean und dem Mitelmeer so außerordentlich erleichtert ist und daher auch v e r h ä l t n i s m ä ß i g f r ü h b e n u t z t wurde. Selbst im europäischen R u ß l a n d , dem Lande der großen Ströme, die radial angeordnet sind und deren V e r k n ü p f u n g wegen der Flachheit des Geländes keine n a m h a f t e n Schwierigkeiten im Wege stehen, b e t r ä g t die Maschenweite des Wasserstraßennetzes (320 km) nur die H ä l f t e der des Eisenbahnnetzes. Indes b a h n t sich jetzt eine Reaktion gegen die einseitige Bevorzugung der Eisenbahnen an. Gerade in Deutschland treten die K a n a l p r o j e k t e immer mehr in den Vordergrund des Interesses. Es handelt sich hier um zwei Gruppen von Projekten. Die erste bezieht sich auf das norddeutsche Flachland, das von südnördlichen Flüssen d u r c h s c h n i t t e n wird, zwischen denen eine ostwestliche V e r b i n d u n g hergestellt werden soll. Die natürlichen Bedingungen sind günstig, denn in letzterer R i c h t u n g erstreckt sich eine große Mulde, in der schon seit J a h r z e h n t e n durch eine f o r t l a u f e n d e Wasserstraße Weichsel, Oder und Elbe miteinander v e r k n ü p f t sind. Zwischen Magdeburg und H a n nover klafft noch eine Lücke, d a n n aber folgt eine neue Kanallinie über Minden a. d. Weser zur E m s und von da zum Rhein, der an dem großen Flußhafen Duisburg erreicht wird. Wirtschaftlich ist diese ostwestliche W a s s e r s t r a ß e von größter B e d e u t u n g , weil sie die beiden größten Gegensätze innerhalb des Deutschen Reiches, das Ruhrkohlen- und niederrheinische Industriegebiet mit den östlichen Ackerbaubezirken in bequeme und billige V e r b i n d u n g setzt. Die zweite G r u p p e u m f a ß t alle natürlichen und künstlichen W a s s e r s t r a ß e n , die von der Donau ausgehen und zu den norddeutschen Meridionalflüssen f ü h r e n . Die Kopfstation des einen Kanals ist M ü n c h e n : er v e r l ä u f t über Nürnberg nach B a m b e r g zum Main und f i n d e t hier Anschluß an die Wasserstraße des Rheins, die seit dem Mittelalter die wichtigste Deutschlands war. Der älteste Versuch, Rhein und Donau miteinander zu v e r k n ü p f e n , und zwar

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durch Überwindung der nur 5 in hohen Wasserscheide zwischen Rezat und Altmühl oberhalb Nürnberg, wird schon Karl d. Gr. zugeschrieben. Von Bamberg geht der geplante Kanal nordwärts nach Münden a. d. Weser und mit Hilfe dieses Stromes nach Bremen und zur Nordsee. Dieses Projekt, das verhältnismäßig die geringsten Schwierigkeiten bietet, dürfte, da das zweite Hauptagrargebiet Deutschlands, die bayerische Hochebene, daran besonders interessiert ist, zuerst zur Ausf ü h r u n g gelangen; einer späteren Zeit d ü r f t e n die von Wien.ausgehenden Kanalverbindungen Donau—Elbe und Donau—Oder—Weichsel vorbehalten bleiben. 1 Immerhin, die Wichtigkeit der Binnenschiffahrt für die wirtschaftliche S t ä r k u n g der Staaten ist erkannt, und dieser Gedanke wird nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. Freilich wird das Schiff niemals den Eisenbahnwagen verdrängen, aber sie können sich ergänzen. Seeverkehr und Welthandel. Das Meer ist eine Straße eigener Art, einmal wegen seiner Größe, die nach allen Richtungen freie Bahn schafft, dann wegen seiner Allgegenwart, die nur durch insulare Landmassen verschiedenen Umfangs unterbrochen wird, endlich wegen des unmittelbaren Zusammenhanges seiner Teile mit alleiniger Ausnahme des Packeisgürtels im N des Atlantischen und des Großen Ozeans. Übertroffen wird das Meer nur von der Lufthülle der Erde, aber vom Verkehrsstandpunkt aus betrachtet, stecken Luftschiffe und Flugzeuge trotz ihrer staunenswerten Fortschritte doch noch in den Kinderschuhen und kommen hier nicht weiter in Betracht. Es ist klar, daß alle Anwohner des Meeres durch die Verkehrsmöglichkeiten, die sich ihnen ungesucht bieten, eine Vorzugsstellung einnehmen. Mit Recht hat unser großer Nationalökonom F R I E D R I C H L I S T die Binnenvölker als die Stiefkinder unseres Herrgotts bezeichnet. Man sollte erwarten, daß der Fernverkehr von jeher das Meer aufgesucht habe, und doch ist dem nicht so. Das bewegliche Element des Wassers schreckt den Menschen a b ; hinauszufahren in das weite Meer, in das Unbekannte, erweckt ihm Grauen. Daher sind viele Küstenvölker, wie in Afrika und Amerika, niemals Seefahrer geworden. Aus eigenem Antriebe werden sich verhältnismäßig wenige in das Meer hinausgewagt haben. Die hamitischen Völker am Indischen Ozean und Mittelmeer, die Normannen, die Malaien, die Feuerländer, die Eskimo d ü r f t e n als solche ursprünglichen Seevölker gelten; sie haben dann, indem sie fremde 1 E . RAGOCZY, Das Projekt eines nordsüdlichen Großschiffahrtsweges zur Verbindung des Nordens mit dem Main, der Donau und dem Schwarzen Meer; Petermanns Mitteilungen 1916, S. 321, 366 u. 405.

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Küsten besuchten, auch die Zaghafteren angeregt, und nur dadurch hat die Kunst der Meerschiffahrt eine weite Verbreitung gefunden, und viele Schüler haben ihre Meister überflügelt, wie die Phöniker, die Puna im südwestlichen Arabien, die Griechen und vielleicht auch die Chinesen und Japaner, die von R I C H T H O F E N 1 noch zu den originalen Seefahrern gerechnet werden. Zu der natürlichen Begabung eines Küstenvolkes muß sich aber noch eine günstige Küstengestaltung hinzugesellen; nur die Vereinigung beider Bedingungen kann ein großes, meerbeherrschendes Schiffervolk erzeugen. Günstig wirkt die freie, durch keine Barren verriegelte Mündung eines großen Stromes, der ein produktenreiches Hinterland durchströmt, wie die Elbe, der Ganges, der Rio de la Plata usw., oder die Aneinanderreihung von kleinen Buchten mit guten Ankerplätzen und unter dem Schutz vorgelagerter kleiner Inseln, wie die Küste Norwegens (v. RICHTHOFENS f o r t l a u f e n d e V e r k e h r s k ü s t e ) , oder endlich G e g e n k ü s t e n . Während die Verkehrsküste vor allem zur Küstenschiffahrt lockt, gibt eine Küste, der in s i c h t b a r e r Ferne eine andere Küste gegenüberliegt, Veranlassung zu wagemutigen Fahrten in das offene Meer hinaus. Nirgends hat sich der erziehende Einfluß; der Gegenküste deutlicher geoffenbart, als im Ägäischen Meer, wo im Umkreise der Kykladen immer, wenn man eine Gegenküste erreicht hat, eine neue auftaucht, und so das Schiff, von einem Zielpunkte zum anderen geleitet, endlich das ganze Meer durchmißt. Langsamer, aber schließlich doch im gleichen Sinne, wirken weiter vom Festland abliegende Inseletappen; in weiten, insellosen Meeresräumen bildeten vor Einführung der D a m p f k r a f t regelmäßige Winde und Meeresströmungen die Leitlinien der Segelschiffahrt. Es ergibt sich aus dem Obigen, daß es immer nur einige wenige große Seemächte gegeben hat, die auf dem Weltmarkte den Ton angegeben haben. Entwicklung des Weltverkehrs. Drei Ereignisse, die rasch aufeinanderfolgten, scheiden die voratlantische von der atlantischen Periode; 1 4 9 2 die Entdeckung Westindiens durch COLUMBUS, 1 4 9 7 die Wiederentdeckung Nordamerikas durch J O H N CABOT und 1 4 9 8 die Umsegelung Afrikas und die Landung des Portugiesen VASCO DA GAMA in Vorderindien. Die geistige, politische und wirtschaftliche Umwälzung, die im Gefolge dieser Ereignisse eintrat, vollzog sich im Laufe weniger Jahrzehnte. J FERDINAND V. RICHTHOFENS Vorlesungen über allgemeine Siedelungs- und Verkehrsgeographie, herausgegeben v o n OTTO SCHLÜTER, Berlin 1908, S. 254.

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Die v o r a t l a n t i s c h e P e r i o d e w u r d e d a d u r c h charakterisiert, d a ß sich der W e l t v e r k e h r auf zwei g e t r e n n t e n Schauplätzen abspielte, auf d e m mittelmeerischen und auf dem indischen. Auf jenem r u h t e der Welthandel, der in d e m Austausch nordeuropäischer Erzeugnisse mit solchen der asiatischen Tropen b e s t a n d , vorzugsweise in den H ä n d e n von Tyrus, A t h e n , K o r i n t h , K a r t h a g o , Masallia, Alexandrien u n d R o m die teils neben-, teils nacheinander ihre Rollen spielten, bis endlich Rom das Übergewicht b e k a m . Nach dem U n t e r g a n g e des weströmischen Reiches t r a t K o n s t a n t i n o p e l an die Spitze der W e l t h a n d e l s b e w e g u n g und erhielt sich diesen R a n g bis in das Zeitalter der Kreuzzüge, die Venedig in m e i s t e r h a f t e r Weise b e n u t z t e , u m sich auf die erste Stelle a u f z u schwingen. Das v e r m i t t e l n d e Glied zwischen den beiden W e l t m ä r k t e n , dem mittelmeerischen u n d d e m indischen, w a r je nach den politischen Machtverhältnissen bald Mesopotamien, Syrien und Kleinasien, bald Ägypten. In der a t l a n t i s c h e n P e r i o d e , in der wir noch leben, die sich a b e r in nicht zu ferner Zeit durch völlige Einbeziehung des Großen Ozeans zu einer a l l o z e a n i s c h e n auswachsen wird, verschmelzen und erweitern sich die ost- und westindischen W e l t m ä r k t e , und der mittelmeerische t r i t t in den H i n t e r g r u n d und wird durch den atlantischen abgelöst. D a m i t verschob sich der politische S c h w e r p u n k t nach der Westseite Europas, auf Spanien und Portugal folgte Holland und auf dieses E n g l a n d ; die Metropolen des W e l t h a n d e l s w u r d e n n a c h e i n a n d e r Lissabon, A m s t e r d a m , London. E r s t die E r ö f f n u n g des Suezkanals b r a c h t e in diese Verhältnisse wieder eine neue Note, indem sie Ä g y p t e n u n d d a s Mittelmeer wieder in den großen S t r o m des W e l t v e r k e h r s einschaltete. Die mediterranen Mächte v e r s ä u m t e n aber, diese günstige Gelegenheit zur politischen S t ä r k u n g zu benutzen, und der ganze Vorteil fiel E n g l a n d , also einer atlantischen Macht zu. W e n n es den Briten gelingen sollte, durch eine Eisenbahn ü b e r Palästina auch noch den zweiten Zugang zum indischen W e l t m a r k t zu gewinnen, so werden die Länder a m Mittelmeer den ihnen durch ihre geographische Lage zustehenden Anteil a m W e l t v e r k e h r u n d W e l t h a n d e l völlig einbüßen. Die wirtschaftliche B e d e u t u n g der K ü s t e n l a g e gegenüber der Binnenlage besteht darin, d a ß sie einen ausgedehnteren H a n d e l s v e r k e h r g e s t a t t e t . Der t r ä g t natürlich auch zur größeren politischen S t ä r k u n g der Seestaaten bei. Aber in sehr verschiedenem Grade. Drei M o m e n t e sind von entscheidendem E i n f l u ß : die K ü s t e n g e s t a l t u n g , die Beschaffenheit des Hinterlandes und die allgemeine geographische Lage. Griechenlands Ü b e r m a c h t zur See b e r u h t e z u m g r ö ß t e n Teil auf d e m H a f e n reichtum seiner gezackten Küste, u n d k a u m minder vortrefflich h a t die Natur Großbritannien ausgestattet. Aber die günstigste K ü s t e n f o r m Supan,

Leitlinien.

2. A u f l .

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bleibt wertlos, wenn Eis die Buchten und H ä f e n verschließt. Grönland h a t ebenso wie Norwegen eine F j o r d k ü s t e , aber die grönländische ist infolge Vereisung unzugänglich, die norwegische wird dagegen durch außergewöhnliche Strömungsverhältnisse im n o r d a t l a n t i s c h e n Ozean frei erhalten. Von nicht geringerer B e d e u t u n g ist es, ob das H i n t e r l a n d produktenreich oder p r o d u k t e n a r m ist, denn schließlich ist jeder Handel Tauschhandel, u n d die Schiffe laufen in der Regel keine K ü s t e an, an der sie nicht wieder a n n ä h e r n d gleichwertige R ü c k f r a c h t a u f n e h m e n können. Über den Einfluß der geographischen Lage ist schon auf S. 175 einiges gesagt worden. Hier sei besonders auf den Unterschied ozeanischer und binnenmeerischer Lage a u f m e r k s a m gemacht. Solange der Atlantische Ozean noch nicht in den W e l t v e r k e h r einbezogen war, h a t t e n das Mittelländische Meer und die Ostsee den R a n g von Ozeanen. Damals b l ü h t e im N die H a n s a und im S k o n n t e sich Venedig zu einer maritimen G r o ß m a c h t aufschwingen. Die E n t d e c k u n g Amerikas d r ü c k t e die g e n a n n t e n Meere auf die Stufe von Nebenmeeren herab, die nur noch durch den Sund u n d die Meerenge von Gibraltar mit dem W e l t m e e r in V e r b i n d u n g t r e t e n können. Die geographische Lage der baltischen und mediterranen S t a a t e n ä n d e r t e sich mit einem Male und d a m i t auch ihre wirtschaftliche und Machtstellung, wie bereits oben e r w ä h n t wurde. R u ß l a n d , das nicht einmal einen freien Ausgang in das Mittelmeer besitzt, h a t eine ebenso ausgesprochen binnenmeerische, wie Großbritannien eine ebensolche ozeanische Lage. W e n n sie beide auch gleichviel eisfreie K ü s t e n l ä n g e und gleichviel und gleichwertige H ä f e n besäßen, so wären sie, obwohl beide Seestaaten, doch nicht miteinander zu vergleichen. Für alle, die, u m aus einem Meeresteil in einen anderen zu gelangen, eine enge Wasserstraße passieren müssen, ist der Seeverkehr n u r solange frei, als es derjenigen Macht, die über die V e r b i n d u n g s s t r a ß e gebietet, gefällt. Er k a n n nicht nur durch M a ß n a h m e n verschiedener Art, z. B. durch Zölle, g e h e m m t , sondern auch zeitweise gewaltsam u n t e r b u n d e n werden. Gibraltar, die Dardanellen, der Bosporus, der Sund u. a. werden d a d u r c h M a c h t p u n k t e ersten R a n g e s ; auch die Straße von Calais k a n n , obwohl wesentlich breiter, f ü r die Anwohner der Nordsee unwegsam g e m a c h t werden, wenn England mit Frankreich im B u n d e ist. Der Weltkrieg h a t das zur Genüge bewiesen. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, d a ß England wieder die Besitznahme von Calais a n s t r e b e n wird. Der Nachrichtendienst ist eine notwendige E r g ä n z u n g des modernen Güterverkehrs. Aber seine B e d e u t u n g reicht noch weit d a r ü b e r hinaus; wie bereits a. a. St. b e m e r k t wurde, h a b e n schon die alten Perser und

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R ö m e r e r k a n n t , d a ß ein S t a a t von größerer A u s d e h n u n g nur d a n n gesichert sei, wenn seine einzelnen Teile miteinander und mit dem politischen M i t t e l p u n k t durch einen zuverlässigen und möglichst schnellen Nachrichtendienst in V e r b i n d u n g gesetzt werden k ö n n e n . Diesen versieht in unserer Zeit vor allem der T e l e g r a p h , w ä h r e n d die Post hauptsächlich den P r i v a t v e r k e h r v e r m i t t e l t . Der Telegraph ist, ebenso wie die Eisenbahn, ein Mittel, um den äußeren Z u s a m m e n h a l t der S t a a t e n zu verstärken, ist aber insofern von noch größerer Wichtigkeit, weil die Herstellung eines Telegraphennetzes mit ungleich geringerer Arbeit und weniger Kosten v e r b u n d e n ist, als die eines Eisenbahnnetzes, und daher selbst in wenig zivilisierten Ländern beträchtlich dichter ist, in R u ß l a n d z. B. mehr als dreimal dichter. Von größter politischer B e d e u t u n g ist der unterseeische Telegraph oder das K a b e l , das zuerst, seit 1851, nur im kleineren M a ß s t a b Anw e n d u n g f a n d , seit 1866 aber selbst über Ozeane hinweg Inseln und Festländer miteinander v e r b i n d e t . Um den A n f a n g des vergangenen J a h r zehnts h a t t e n folgende S t a a t e n (einschließlich ihrer Kolonien) mehr als 1000 km Kabellinien 1 : England . . . . . Frankreich Vereinigte Staaten Deutsches Reich Dänemark Japan . . Niederlande Spanien Italien . . Norwegen . . . . Die übrigen Staaten .

Anzahl der Kabel 523 134 83 108 132 126 51 16 41 627 223 Zusammen: 2064

Länge, km 254630 73168 58844 30186 17770 8084 5721 3536 1 988 1692 13229 468848

Das Übergewicht Englands ist eine der augenfälligsten Tatsachen, deren Folgen die Mittelmächte im Weltkrieg in empfindlichster Weise schädigten. F ü r E n g l a n d selbst ist ein großes Kabelnetz eine Notwendigkeit; ohne ein solches wäre fes schwierig, die weit verstreuten Glieder des britischen Reiches z u s a m m e n z u h a l t e n . Es ist eine der festesten Stützen der englischen Seeherrschaft. Als der große Krieg ausbrach, m a c h t e es es unseren Feinden möglich, uns von der überseeischen Welt abzuschneiden und durch systematische U n t e r d r ü c k u n g der W a h r h e i t und u n e r h ö r t e Lügen f a s t die ganze Menschheit gegen uns aufzureizen. 1

Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches 1910. 12*

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Deutschland h a t schwer d a f ü r b ü ß e n müssen, d a ß es diesem M a c h t mittel so wenig A u f m e r k s a m k e i t geschenkt h a t ; die V e r b i n d u n g mit seinen Kolonien h ö r t e auf, u n d d a m i t war ihr Verlust besiegelt. J e t z t ist es aller Kabel b e r a u b t . Weltwirtschaft. W i r haben gesehen, wie sich der Verkehr seit der E n t d e c k u n g Amerikas allmählich bis z u m W e l t v e r k e h r a u s d e h n t e . D a s b e d e u t e t aber noch nicht W e l t w i r t s c h a f t . Diese e n t s t e h t erst, wenn der Mensch auch zur Befriedigung seiner Existenzbedürfnisse über die Grenzen seines S t a a t e s hinausgreift und zur ganzen b e w o h n t e n W e l t in Abhängigkeit gerät. Die Voraussetzung ist 1. eine ungeheure Steiger u n g der Existenzbedürfnisse, sowohl an N a h r u n g s m i t t e l n f ü r die stetig wachsende und zugleich durch Industrie u n d H a n d e l immer m e h r von der L a n d w i r t s c h a f t abgezogene Bevölkerung, als auch — und dies fällt noch mehr ins Gewicht — d e r z u n e h m e n d e Bedarf an Roh- u n d z. T. an K r a f t s t o f f e n ; 2. die erst durch die A u s n u t z u n g der D a m p f k r a f t erworbene Fähigkeit des Verkehrs, Massengüter zu bewältigen. U n t e r diesen Bedingungen k o n n t e sich die W e l t w i r t s c h a f t bis zur a b s o l u t e n A n a u t a r k i e auswachsen, aber nur in einer Periode des Weltfriedens oder nur d a n n , wenn dieser höchstens durch örtlich bes c h r ä n k t e Streitigkeiten gestört wird. Der Weltkrieg h a t diese politische Voraussetzung widerlegt, und nun beginnt das wirtschaftliche Pendel wieder allmählich nach d e m a u t a r k i s c h e n Pol zurückzuschwingen. Aber der Begriff der A u t a r k i e h a t seinen Inhalt geändert. A b s o l u t e A u t a r k i e ist nur auf der tiefsten W i r t s c h a f t s s t u f e möglich. Schon d a n n , wenn der Einzelsiedler irgendeinen Gebrauchsgegenstand v o n einem umherziehenden H ä n d l e r k a u f t , ist der erste S c h r i t t zur A n a u t a r k i e getan. Dagegen ist relative A u t a r k i e auch h e u t e noch großen Völkern möglich. Natürlich in verschiedenen Graden. Von den G r o ß s t a a t e n stehen die Vereinigten S t a a t e n von Amerika an der Spitze. Sie besitzen, wenigstens zurzeit noch, Getreide u n d Fleisch im Ü b e r f l u ß ; ihre B a u m wollplantagen liefern ihnen den wichtigsten Rohstoff der Textilindustrie; von ihren mineralischen Schätzen b r a u c h t n u r Gold, Eisen u n d K u p f e r g e n a n n t zu werden, iim eine Vorstellung von ihrem R e i c h t u m zu erwecken; ihre ausgedehnten Kohlenfelder schaffen neben den zahlreichen Rohstoffen die Grundlage ihrer Industrie, die gerade w ä h r e n d des W e l t krieges so ungeheure Dimensionen a n n a h m , d a ß sie sogar die englische in den H i n t e r g r u n d zu drängen d r o h t . Bleibt n u r der äußere und der innere Z u s a m m e n h a l t gewahrt, so b r a u c h t die Union keinen Feind zu f ü r c h t e n ; militärisch k a n n sie unterliegen, wirtschaftlich aber niemals.

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Trotzdem ist sie von absoluter Autarkie noch weit entfernt. Ihr fehlen die Tropen mit ihren Nahrungs- und Genußmitteln und Rohstoffen. Dadurch wird ihre Politik auf das nachdrücklichste beeinflußt. Ihr Expansionsdrang geht nach Westindien und Zentralamerika, und damit ist auch ihre gespannte Stellung zu Mexiko gegeben. Übrigens wäre absolute Autarkie auch gar nicht wünschenswert. Sie würde den äußeren Handel ausschließen, das Volk isolieren und damit in seiner geistigen Entwicklung hemmen, denn nur, wo im ununterbrochenen Verkehr sich gleichsam Mensch an Mensch reibt, entzündet sich der göttliche Funke des Geistes. Das haben die ostasiatischen Staaten erfahren. China ist, weil in die Tropenzone reichend, von Natur aus noch autarkischer als die nordamerikanische Union. Das hat die Chinesen verführt, sich jahrhundertelang völlig von der Außenwelt abzuschließen. Das erstickte allen Fortschritt, und die Folge davon war, daß die reichen Gaben der Natur ungenutzt liegen blieben, und die industrielle Entwicklung, zu der sich kein Volk besser eignen würde als die Chinesen, völlig unterbunden wurde. China besitzt nur noch eine p o t e n t i e l l e Autarkie. Dadurch wird sein politisches Verhältnis zu dem industriell mächtig emporstrebenden J a p a n bestimmt, das viel weiter von Autarkie entfernt ist und der Kohlen Schantungs und des Eisens des Jangtsegebiets dringend bedarf, um die Fesseln, die es wirtschaftlich und damit auch politisch an die angelsächsischen Staaten bindet, möglichst abzustreifen. Nahezu absolut anautarkisch war England zu Anfang unseres Jahrhunderts. Nachdem es im 17. Jahrhundert durch die Navigationsakte CROMWELLS seinen Seehandel völlig unabhängig gemacht und im 18. Jahrhundert durch die Schutzmaßregeln WALPOLES und des älteren PITT seiner Industrie einen ungeheuren Aufschwung gegeben hatte, konnte es endlich 1846 alle schützenden Zollmauern niederreißen und den Freihandel proklamieren. Damit war seine einzigartige wirtschaftliche Weltstellung festgelegt. Es war die große Fabrik der Welt, die geradezu ein Monopol beanspruchte und jahrzehntelang auch festhielt, weil kein Land mit ihm erfolgreich wetteifern konnte. Seine Seeherrschaft sichert ihm den Handel, und für seine Industrieerzeugnisse holte es aus allen Ecken der Welt Nahrungsmittel und Rohstoffe. Solch eine Güterzirkulation war und ist bis zum heutigen Tage das britische Ideal, dem alles übrige untergeordnet ward. Aber in den letzten Dezennien des vorigen Jahrhunderts wurde England von banger Sorge erfaßt wegen des unvermuteten Aufblühens des Deutschen Reiches durch Handel und Industrie, die infolge der Zollgesetzgebung seit 1879, also durch dieselben Mittel, wie hundert

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J a h r e vorher die englische, mit erstaunlicher T r i e b k r a f t in die Höhe schoß. D a d u r c h sah sich die englische W e l t w i r t s c h a f t bedroht, und so e n t s t a n d jener unselige Zwist, der nicht durch friedlichen W e t t b e w e r b , sondern durch wilde, die ganze Welt in ein wirtschaftliches Chaos stürzende K ä m p f e ausgefochten werden sollte. Der Weg zur A n a u t a r k i e , den E n g l a n d eingeschlagen und einige andere S t a a t e n , d a r u n t e r Deutschland, schon betreten h a t t e n , ist nicht mehr g a n g b a r . Also z u r ü c k z u r r e l a t i v e n A u t a r k i e ! Wie k a n n aber diese von den S t a a t e n der gemäßigten Zone, vor allem Europas, erreicht w e r d e n ? 1. E i n s e i t i g e W i r t s c h a f t i s t f o r t a n u n m ö g l i c h . Den reinen Industriestaat h a t der Weltkrieg ad a b s u r d u m g e f ü h r t . Selbst England, das nach E i n f ü h r u n g des Freihandels seinen Ackerbau völlig v e r k ü m m e r n ließ, h a t eingesehen, wie gefährlich es sei, wenn ein Volk sich nicht selbst ernähren könne, und hat der L a n d w i r t s c h a f t wieder freien Spielraum gewährt. Deutschland war einst nahe daran, dem englischen Beispiel zu folgen, hat sich aber glücklicherweise noch in letzter Stunde eines Bessern besonnen, sonst h ä t t e es, durch die Blockade von f r e m d e r Getreidezufuhr a b g e s c h n i t t e n , den Krieg nicht so lange ausgehalten. Anderseits d ü r f e n auch die B e m ü h u n g e n der Agrarländer, eine selbständige Industrie zu erwecken, nicht mehr lahm gelegt werden. Wie reich oder kümmerlich ein Land auch von N a t u r a u s g e s t a t t e t sein mag, stets sollten gewisse wirtschaftliche Grundsätze im Auge behalten werden. Zunächst soll sich die W i r t s c h a f t den natürlichen Bedingungen a n p a s s e n . So selbstverständlich dies auch klingt, so ist doch zu allen Zeiten dagegen gesündigt worden. Wie oft wurden Kulturen nach Gegenden verpflanzt, wo sich weder Klima noch Boden d a f ü r eignen. Ich weise nur auf den W e i n b a u hin, der allerdings aus vielen deutschen Gauen schon verschwunden ist, aber immer noch manche Flächen sicheren und ertragreicheren E r n t e n entzieht. Selbst am Rhein ist er eigentlich nur eine künstliche Z ü c h t u n g , wie die häufigen Mißernten zeigen. Ein zweiter G r u n d s a t z ist der, d a ß sich W i r t s c h a f t auf D a u e r g ü t e r stütze, wodurch sie allein großen Schwankungen e n t r ü c k t werden k a n n . Die Geschichte der E d e l m e t a l l p r o d u k t i o n in den letzten J a h r h u n d e r t e n e n t h ä l t genug w a r n e n d e Beispiele. Im Laufe von wenigen J a h r z e h n t e n w u r d e Kalifornien von Kolorado, Amerika von Ostaustralien, dieses von W e s t a u s t r a l i e n und S ü d a f r i k a abgelöst. Wie schnell veröden besonders jene Goldfelder, wo das Gold nur in der Form von Alluvialgold ausgebeutet werden k a n n . Kalifornien h a t seinen W o h l s t a n d nur d a d u r c h gewahrt, d a ß es sich dem Weizenbau zugewandt h a t . Als d r i t t e F o r d e r u n g einer gesunden Volkswirtschaft k a n n gelten, daß sie

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möglichste V i e l s e i t i g k e i t anstrebe, auch wenn sie eine b e s c h r ä n k t e A u t a r k i e nicht erreichen k a n n . W i e d i e K r a f t e i n e s S t a a t e s in d e r H o m o g e n i t ä t s e i n e r v ö l k i s c h e n , s o l i e g t s i e in d e r Heterogenität seiner wirtschaftlichen Struktur. L a n d w i r t s c h a f t , Industrie lind H a n d e l sind die drei Säulen, auf denen das Dach jedes S t a a t s g e b ä u d e s ruhen m u ß . Harmonische E n t f a l t u n g a l l e r p r o d u k t i v e n K r ä f t e m u ß das oberste Prinzip aller gesunden S t a a t s w i r t s c h a f t sein — diese oft m i ß g e d e u t e t e Lehre v e r d a n k e n wir unserem großen N a t i o n a l ö k o n o m e n F R I E D R I C H L I S T 1 , der sie gegenüber allen alten volkswirtschaftlichen Irrlehren siegreich v e r f o c h t : gegenüber dem M e r k a n t i l i s m u s des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s , der die Quelle alles Volksreichtums in der A n h ä u f u n g von Edelmetallen sah, gegen das ihm folgende physiokratische S y s t e m , das ebenso einseitig dem A c k e r b a u die V o r m a c h t s t e l l u n g anwies, u n d endlich gegen A D A M S M I T H (1713—90), der den G r u n d s a t z der P r i v a t w i r t s c h a f t , jede W a r e dort zu kaufen, wo sie a m billigsten ist, auch auf die Volkswirtschaft übertrug. Verschwiegen darf übrigens nicht werden, d a ß , obwohl die wirtschaftliche H e t e r o g e n i t ä t f ü r den S t a a t von Vorteil ist und Vielseitigkeit in der Regel mit Mannigfaltigkeit v e r b u n d e n ist, doch auch darin u n t e r U m s t ä n d e n eine G e f a h r liegt. Zu große u n d zu ausgesprochene wirtschaftliche Differenzierung k a n n , indem sie Interessengegensätze h e r v o r r u f t , zu politischen Zwiespältigkeiten, m i t u n t e r sogar zur Trenn u n g f ü h r e n . Schon in D e u t s c h l a n d h a t der Unterschied zwischen dem agrarischen Osten und dem industriellen W e s t e n m i t u n t e r merklich das Parteileben b e e i n f l u ß t . 2 In Australien d r o h t e n zeitweise die Unionsb e s t r e b u n g e n an dem wirtschaftlichen Gegensatze zwischen dem tropischen Queensland und den südlichen, der g e m ä ß i g t e n Zone angehörigen S t a a t e n zu s c h e i t e r n ; und der Gegensatz zwischen den n o r d a m e r i k a n i schen Nord- und S ü d s t a a t e n war schon 1812 n a h e d a r a n , die Bundess t a a t e n zum Zerfall zu f ü h r e n , bis endlich nach j a h r z e h n t e l a n g e n Streitigkeiten 1860 wirklich der Bürgerkrieg die Union ihrem U n t e r g a n g entg e g e n z u f ü h r e n schien. Auch Brasilien l ä u f t Gefahr, sich in zwei S t a a t e n a u f z u l ö s e n ; Anzeichen eines solchen Prozesses haben sich schon wiederholt b e m e r k b a r g e m a c h t . 1

Das n a t i o n a l e S y s t e m der politischen Ökonomie, S t u t t g a r t 1841, 7. Aufl., mit einer historischen und kritischen Einleitung v o n K. TH. EHEBERG, S t u t t g a r t 1883. 2 Die Losreißungsbestrebungen der Rheinlande seit d e m W a f f e n s t i l l s t a n d (1919) beruhen wahrscheinlich mehr auf konfessionellen als auf w i r t s c h a f t l i c h e n Gegensätzen.

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten. Soweit sich bisher die Sachlage übersehen läßt, sind v i e r w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h e S y s t e m e f ü r die nächste Z u k u n f t als möglich ins Auge zu fassen: das National-, das Allianz-, das Universal- u n d das Föderativsystem. Das Nationalsystem und seine Voraussetzungen. Das Nationalsystem w ä r e eine Fortsetzung des bisherigen: ein Nebeneinander selbständiger S t a a t e n im freien W e t t b e w e r b miteinander. Es ist aber klar, d a ß eine solche O r d n u n g n u r d a n n möglich wäre, wenn alle Hindernisse, die der sogenannte Völkerbund im Verein mit den Friedensschlüssen der E n t e n t e a u f g e t ü r m t haben, weggeräumt sind. Allgemein ist a n e r k a n n t , daß die ganze W i r t s c h a f t der Gegenwart auf der u n u n t e r b r o c h e n e n Güterzirkulation zwischen der Tropenzone die Rohstoffe und N a h r u n g s m i t t e l , und der gemäßigten Zone, die Industrieerzeugnisse liefert, also auf einem großartigen Tauschhandel b e r u h t . Alle großen S t a a t e n müssen, um sich ihrer Selbständigkeit erfreuen zu können, t r o p i s c h e K o l o n i e n besitzen, das h a t in Deutschland endlich auch die überwiegende Mehrzahl der f r ü h e r linksstehenden Parteien eingesehen. Deutschland m u ß t e im Versailler Frieden (Art. 119) auf alle seine Kolonien verzichten, und der Völkerbund (Art. 22) stellt d a f ü r einen allgemein, auch f ü r die Türkei gültigen G r u n d s a t z auf, der den R a u b der Kolonien dadurch zu verschleiern sucht, d a ß er diese feindlichen M ä c h t e n als B e a u f t r a g t e n des Bundes ausliefert, u n d zwar als „fortgeschrittenen Nationen, die sich auf Grund ihrer Hilfsmittel, ihrer E r f a h r u n g und ihrer geographischen Lage am b e s t e n " d a z u eignen, f ü r „ d a s Wohlergehen und die E n t w i c k l u n g " der tropischen Eingeborenen Sorge zu t r a g e n ! ! Man weiß, welch eine Flut von Lügen und Verleumdungen sich d a n n über die deutsche Kolonialverwaltungen ergoß, und f ü r den Augenblick wenigstens ist die deutsche Industrie v o m tropischen Rohstoff m a r k t abgeschnitten. Ein d a u e r n d e r u n d sicherer Verkehr zwischen den Festländern und Inseln setzt die F r e i h e i t d e s M e e r e s voraus. Seit der e p o c h e m a c h e n d e n

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S t r e i t s c h r i f t des holländischen Rechtsgelehrten H U G O G R O T I U S , „Mare l i b e r u m " (1609), die dadurch v e r a n l a ß t w u r d e , d a ß Spanien den Holländern d e n V e r k e h r mit Indien verbot, w u r d e die F o r d e r u n g der Freiheit der Meere als ein „gemeinsames Bedürfnis aller Völker" immer wieder erhoben und blieb doch immer unerfüllt. W i r sehen hier ab von der Seeräuberei, die den Seeverkehr ebenso bedrohte, wie im Mittelalter, der R a u b r i t t e r den Landverkehr, und in manchen Meeresteilen die S c h i f f a h r t völlig unsicher m a c h t e . Sie ist verschwunden, aber das schlimmere Übel, der W e t t s t r e i t der großen Seemächte, ist geblieben. Als P a p s t Alexander VI. im J a h r e 1493 die nichtchristliche Welt in zwei Interessensphären teilte und die westliche H ä l f t e den Spaniern, die östliche d e n Portugiesen zuwies, zogen diese beiden Mächte d a r a u s nicht ohne einen Schein von Recht die Folgerung, d a ß ihnen auch in ihren Sphären das ausschließliche Recht des Seeverkehrs zustehe. Als d a n n auch die Holländer, Engländer u n d Franzosen anfingen, sich a m Seeverkehre mit Ostindien u n d N o r d a m e r i k a zu beteiligen, d a wurde z u m ersten Male der völkerrechtliche G r u n d s a t z von der Freiheit der Meere ausgesprochen. Aber obwohl m a n ihn gegen die Spanier und Portugiesen a n w a n d t e , war m a n doch nicht gewillt, ihn selbst zu befolgen. Schon damals erhoben die E n g l ä n d e r ihren A n s p r u c h auf ihr alleiniges Recht auf den Walfischfang itn europäischen Nordmeer. Der Oxforder Professor J O H N S E L D E N veröffentlichte 1635 ein dem König Karl I. gewidmetes ausführliches und gelehrtes Buch mit dem bezeichnenden Motto „ P o n t u s quoque serviet illi", in dem er gegen G R O T I U S die Sätze verteidigte, 1 . d a ß das Meer nach N a t u r - u n d Völkerrecht nicht allen Völkern gemeinsam sei, sondern wie das Land u n t e r besonderer H e r r s c h a f t stehen könne, und 2. d a ß ohne Zweifel die K ü s t e n u n d H ä f e n gegenüberliegender S t a a t e n die Grenzen der englischen Seeh e r r s c h a f t seien. Dabei ließen es aber die Engländer nicht b e w e n d e n ; ihre Machtgelüste steigerten sich, je weiter ihre koloniale Tätigkeit in N o r d a m e r i k a u n d Ostindien fortschritt, und schon in den Tagen C R O M W E L L S wurde der Gedanke lebendig, d a ß die Engländer das auserwählte Volk Gottes und zur W e l t h e r r s c h a f t berufen seien. Die Navigationsa k t e (1651) waren ihr erster Angriff auf die Freiheit des Meeres überh a u p t , und ihre stetig sich vermehrende F l o t t e n r ü s t u n g , die Schwäche ihrer Rivalen u n d die kluge A u s n u t z u n g der jeweiligen Weltlage, nicht z u m mindesten auch ihre Skrupellosigkeit und ihre vollendete Unempfindlichkeit im Beugen des R e c h t s 1 h a t sie in der T a t zu Herren 1

Dies g e s t e h t der klassische Vorkämpfer des britischen Imperialismus, JOHN

SEELEY, s e l b s t ein.

1916, S. 173.

Vgl.

FELIX

SALOMON, D e r

britische

Imperialismus.

Leipzig

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Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

des Weltmeeres gemacht. Die Freiheit der Meere ist jetzt ebenso ein toter Begriff wie im 16. J a h r h u n d e r t . Man h a t sie auch theoretisch zu b e g r ü n d e n versucht, indem m a n darauf hinwies, d a ß das Meer eine natürliche Einheit sei und daher auch nur e i n e n Herrn vertrage. Schon der Vordersatz dieses Schlusses ist unrichtig; obwohl das Meer eine z u s a m m e n h ä n g e n d e Masse ist, sind doch einzelne Teile, wie das Mittelmeer, von natürlichen Grenzen f a s t ganz umschlossen und d a h e r ausgesprochene geographische Individuen. Aber selbst wenn wir d a v o n absehen, k ö n n t e auch der offene Ozean durch m a t h e m a t i s c h e Grenzen ebenso in einzelne Teile zerlegt werden wie z. B. die. Vereinigten S t a a t e n oder Australien. In der Seesperre, die Deutschland 1917 auf den nordatlantischen Ozean gelegt h a t , ist ein praktisches Beispiel d a f ü r gegeben. Die Notwendigkeit der Einheit- der Seeherrschaft ist also ein Hirngespinst, u n d in der T a t h a t eine solche Einheit auch niemals bestanden. Buchstäblich g e n o m m e n ist Seeherrschaft ü b e r h a u p t ein Unding, denn nur ein von Menschen bewohnter Teil der Erdoberfläche k a n n beherrscht werden. Mag auch ein Schiff unter einer allgemein a n e r k a n n t e n Flagge in Friedenszeiten ungehindert auf dem offenen Meer spazieren fahren, sobald es sich der Küste n ä h e r t , m a c h t sich die Seeherrschaft auch im Frieden f ü h l b a r . Der K a u f m a n n , der an einer f r e m d e n K ü s t e Handel treiben will, b r a u c h t nicht einmal Gewalt zu f ü r c h t e n , er k a n n schon durch gesetzliche Beschränkungen oder durch Schikanen irgendwelcher Art gehindert werden, seine Absicht a u s z u f ü h r e n , oder vor einer Wiederholung seines Versuches abgeschreckt werden. Das ist offenbar die Methode, wie unsere Feinde nach dem Kriege unseren überseeischen Handel vernichten wollen. In Kriegszeiten ist aber auch auf offenein Meer die S c h i f f a h r t selbst der neutralen Länder gefährdet, und die Briten haben von ihrem m a r i t i m e n Übergewicht stets auf das Rücksichtsloseste Gebrauch gemacht. Der Krieg k a n n die Kolonien v o m M u t t e r l a n d e t r e n n e n und sie schutzlos dem Feinde preisgeben. Deutschland h a t das im Weltkrieg erfahren, und die niederländischen Kolonien sind wenigstens ernstlich gefährdet. D a r u m setzt der Besitz von überseeischen Ländern eine mächtige Seerüstung des K e r n l a n d e s voraus, die auch in Kriegszeiten den maritimen Verkehr offen halten k a n n . Das haben die Engländer rechtzeitig e r k a n n t , u n d darauf b e g r ü n d e t sich ihre W e l t m a c h t . Eine große Flotte allein genügt nicht, sondern sie m u ß , wenn sie weite F a h r t e n machen soll, auch passende S t ü t z p u n k t e finden, namentlich in unserer Zeit der Dampfschiffe, f ü r deren E r n ä h r u n g d u r c h E r r i c h t u n g von K o h l e n s t a t i o n e n vorgesorgt werden m u ß . In mustergültiger Weise

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haben die Briten ihre E t a p p e n s t a t i o n e n angelegt. DECKERT1 m a c h t e vor allem a u f m e r k s a m auf die drei parallelen R e i h e n : 1. Gibraltar, Malta, Zypern, die die mittelmeerische D u r c h g a n g s s t r a ß e zum Indischen Ozean, 2. Aden, Kolombo, Singapore, die die nordindische Straße und den Ausgang zu den ostasiatischen Gewässern sichern, 3. Falklandinseln, K a p s t a d t , King George Sund (an der Siidküste Westaustraliens), die die höheren a n t a r k t i s c h e n Breiten beherrschen. Dazu k o m m e n noch die westatlantischen Besitzungen: die B e r m u d a s , N e u f u n d l a n d , ' J a m a i c a und einige der kleinen Antillen, die einerseits die V e r b i n d u n g mit K a n a d a herstellen, andererseits den Zugang zu Westindien sichern, schließlich auch die Kette, die z u m britischen Reich in S ü d a f r i k a h i n ü b e r f ü h r t und deren Glieder Gambia, Sierra Leone und St. Helena sind. So sind die vier H a u p t t e i l e des überseeischen G r o ß b r i t a n n i e n : Indien, S ü d a f r i k a , Australien und K a n a d a , mit dem M u t t e r l a n d e fest verb u n d e n ; und durch den Besitz von Hongkong, der zahlreichen Kolonien in der Südsee, durch die britischen Antillen und Britisch Honduras, die den P a n a m a k a n a l bedrohen können, hat sich England auch die Möglichkeit vorbehalten, einzugreifen, wenn der K a m p f um die W e s t h ä l f t e des Weltmeeres e n t b r e n n e n wird. Trotzdem bleibt der Z u s a m m e n h a n g des britischen Weltreiches noch immer locker, es k o m m t alles darauf an, d a ß die Schnur, an der diese E t a p p e n p e r l e n angereiht sind und die sie mit England v e r k n ü p f t , nämlich die Flotte, an keiner Stelle reißt. Im J a h r e 1918 schien eine H o f f n u n g zu winken. Der 2. jener ber ü h m t e n 14 P u n k t e WILSONS, auf Grund welcher der Friede geschlossen werden sollte, verlangt „ v o l l k o m m e n e F r e i h e i t d e r S c h i f f a h r t auf dem Meere außerhalb der territorialen Gewässer i m F r i e d e n s o w o h l , w i e i m K r i e g e mit A u s n a h m e jener Meere, die ganz oder teilweise durch eine internationale H a n d l u n g zwecks D u r c h s e t z u n g internationaler Verträge geschlossen w e r d e n " . Aber — England weigerte sich, diesen G r u n d s a t z anzuerkennen, und WILSON, wie immer, s t a r k gegen Schwache und schwach gegen Starke, ließ diese Forderung fallen. Der Völkerb u n d s v e r t r a g b e r ü h r t mit keiner Silbe dieses' Problem, die englische Seeherrschaft besteht nach wie vor fort. Das Nationalsystem k a n n sich also n u r d a n n erhalten, wenn die einzelnen S t a a t e n stark genug sind, selbst f ü r ihren Schutz zu sorgen. Dieser Schutz ist aber nicht nur uns genommen, sondern allen Völkern mit A u s n a h m e der fünf siegreichen, den Vereinigten S t a a t e n , Großb r i t a n n i e n , F r a n k r e i c h , Italien und J a p a n , alle anderen sind ohnmächtig. 1

EMIL DECKERT, Das britische Weltreich. F r a n k f u r t a. M. 1916, S. 130.

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Macht ist freilich nur ein relativer Begriff. Auch der Schwache k a n n sich b e h a u p t e n , wenn den a n d e r n die überschüssigen K r ä f t e entzogen werden. D a h e r wurde gleichzeitige allgemeine A b r ü s t u n g stets als die Vorbedingung des Völkerfriedens b e t r a c h t e t . Ihr ist der W I L S O N sche Völkerbund durch seinen A r t . 8 in w a h r h a f t erheiternder Weise gerecht worden. Da lesen wir: „ D e r R a t (die oberste Behörde des Völkerbundes) h a t die Aufgabe, u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r g e o g r a p h i s c h e n L a g e u n d d e r b e s o n d e r e n U m s t ä n d e eines jeden S t a a t e s die A b r ü s t u n g s p l ä n e vorzubereiten, um sie den verschiedenen Regierungen zur P r ü f u n g und E n t s c h e i d u n g zu u n t e r b r e i t e n . " D a m i t ist der Willkür des Rates, in dem jene oben g e n a n n t e n fünf G r o ß m ä c h t e die entscheidende S t i m m e haben, Tür und Tor geöffnet. E s fällt ihnen nicht ein, a b z u r ü s t e n , aber Deutschlands L a n d m a c h t wird zu einer Polizeitruppe reduziert, und seine Flotte w u r d e einfach g e r a u b t . Aber ohne Macht keine Selbständigkeit, ohne Selbständigkeit kein nationaler W i r t s c h a f t s b e t r i e b . W e r d a r a n noch zweifelt, studiere nur die wirtschaftlichen Bestimmungen (Art. 264—312) des Versailler Friedens und die entsprechenden Artikel des Friedens von St. Germain. Aber was b e d e u t e t noch Macht, wenn es keine Kriege mehr gibt, und alle Differenzen nur auf gütlichem Wege geschlichtet w e r d e n ? Der W u n s c h des e w i g e n F r i e d e n s 1 t a u c h t begreiflicherweise in Zeiten schwerer kriegerischer Verwicklungen immer wieder a u f ; wie ü b e r h a u p t immer, wenn die N o t des Lebens den Menschen schwer bed r ü c k t , ergreift die Sehnsucht nach einer Zeit ungestörten Glückes nicht nur schwärmerische N a t u r e n , sondern richtet auch in sonst v e r s t ä n d i g e n und n ü c h t e r n d e n k e n d e n Köpfen Verwirrung an. Das Märchen v o m Schlaraffenland e n t z ü c k t nicht bloß die Kinder, sondern auch Erwachsene, ja ganze Völker erliegen dem Zauber ähnlicher P h a n t a s t e reien. Die P a r a d i e s m y t h e verlegt jene selige Zeit ewigen Friedens und Genusses in die fernste Vergangenheit, und der Chiliasmus e r w a r t e t die 1 Im politischen Sirine verstand man darunter aber nur einen Dauerfrieden zwischen den c h r i s t l i c h e n S t a a t e n E u r o p a s . Zuerst tauchte diese Idee in Frankreich zur Zeit der erbitterten inneren Religionskämpfe auf; JEAN BODIN (1577) hoffte, daß aus der Toleranz der christlichen Konfessionen sich ein allgemeiner Friede entwickeln werde. In ein System wurde der Oedanke eines politischen Friedens dann von SULLY (1638), der seinen „großen Plan" dem wenige Jahre vorher ver-

storbenen französischen König HEINRICH IV. u n t e r s c h o b v o n WILLIAM TENN (1693) LEIBNIZ ( E n d e des 17. J a h r h u n d e r t s ) und a m ausführlichsten v o n ABBE DE SAINT-

PIERRE (1715) gebracht. Alle diese Projekte fußen auf der Voraussetzung eines freiwilligen Staatenbundes. Weniger utopisch ist der Grundgedanke des Königsberger Philosophen KANT (1795), der den Weltfrieden durch allmählich fortschreitende Gesittung zu erreichen hoffte. (HANS PRUTZ, Die Friedensidee, Leipzig 1917.)

Wirtschaftspolitische

Möglichkeiten.

189

Errichtung des tausendjährigen Reiches in naher Zukunft. Dieser Wahn betörte nicht nur die ältesten christlichen Generationen, sondern ist noch immer nicht tot. Ihm verdankte die Sozialdemokratie ihre Werbek r a f t ; MARX, ENGELS und BEBEL waren nicht weniger Chiliasten, wie heute die russischen Bolschewiki und ihre deutschen Spielarten. 1 Von den Fortschritten der menschlichen Gesittung das Ende des Krieges erwarten, ist nicht minder widersinnig, als wenn man meinte, die Fortschritte der Medizin würden endlich den Tod verbannen. Immer werden die Organismen einander bekämpfen, und immer werden sie sterben, beides gehört zur Wesensart der organischen Welt. Also nicht den Krieg überhaupt ausschalten, aber ihn beschränken und vermenschlichen, das wäre die Aufgabe. Ohne Zweifel befindet sich jetzt das zwischenstaatliche Leben in einem anarchischen Zustand; wie die Völker daraus durch die Organisation gerettet wurden, so müßte man es auch mit der Menschheit oder wenigstens mit einem großen Teile derselben versuchen. Die Hauptfrage ist also die: welche Organisation verspricht den besten Erfolg oder gibt es überhaupt eine solche? Auch sie kann nur an der Hand der Erfahrung, daher erst in der Zukunft gelöst werden. Daß der V e r t r a g a n s i c h ein durchaus ungeeignetes Mittel ist, kann man aber schon jetzt erkennen. Dieser WILSON sehe Gedanke entsprang — wenn er wirklich jemals ehrlich gemeint war, — derselben totalen Verkennung der menschlichen Natur wie einst der ROUSSEAU sehe Gesellschaftsvertrag. Allianzsystem. Das Allianzsystem knüpft an die gewohnten diplomatischen Traditionen an und hat daher ein zähes Leben. Die „ H e i l i g e A l l i a n z " von 1815 zwischen Rußland, Österreich und Preußen, der dann alle christlichen Monarchien mit Ausnahme des Papstes und England beitraten, bestimmte zwar mehrere J a h r e hindurch den Gang der politischen Ereignisse in Europa, aber nicht im Sinne des „ewigen Friedens". Der WiLSONSche Völkerbund von 1919 ist in seinen wesentlichsten Zügen eine Nachahmung der Heiligen Allianz, nur auf demokratischer Grundlage; über seine Bedeutung für den angestrebten W e l t frieden lassen sich aber bisher natürlich nur Vermutungen aussprechen. Das Charakteristische des Allianzsystems besteht darin, daß es gar nicht dem Weltfrieden dienen will, daß dieser nur die pompöse Fassade bildet, hinter der sich ganz anderes verbirgt. Schon SULLYS christliche Republik war gegen die Türken gerichtet, hatte aber ein1

Den innern Z u s a m m e n g a n g aller chiliastischen

Ideen, die seit der 2. Hälfte

des 18. J a h r h u n d e r t s wieder auflebten, b e l e u c h t e t FRITZ GEHRING, Der K o m m u n i s m u s als Lehre v o m

1000jährigen

Reich.

München

1920.

190

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

gestandenermaßen die Vernichtung der Habsburgischen Macht, also besonders den Krieg gegen Spanien zur Voraussetzung. Die Heilige Allianz und der Völkerbund, die den Abschluß gewaltiger Kämpfe bilden, sind nichts anderes als Bündnisse der Sieger gegen die Besiegten, die Heilige Allianz gegen die Revolution und alle ihre Anhänger, der Völkerbund gegen die Deutschen, Ungarn und Türken und in zweiter Linie gegen die russische Revolution. Sie waren und sind Verbände zur gegenseitigen Versicherung der Starken gegen die Schwachen, der Reichen gegen die Armen, der Vollen, aber noch immer nicht Satten, gegen die Ausgehungerten. Das ist aber nur die eine Seite des Völkerbundes, Der andere Zweck ist die Fesselung der Sieger untereinander. Denn zwischen ihnen bestehen Gegensätze, die früher oder später einmal zu gewaltsamer Lösung drängen werden. Und in diesen kritischen Momenten die Entscheidung zu verzögern und zu erschweren, eine Überraschung durch den Gegner zu verhindern, das ist der eigentliche Zweck des Bundes und auch dieser wird nicht erreicht werden. Leichtfertig wird sich kein Staat mehr in einen Krieg stürzen, wenn es sich aber um Sein oder Nichtsein handelt, wird immer Schnelligkeit das erste Gebot sein. Wie schwach das Vertrauen auf die Haltbarkeit des Völkerbundes bei dessen Hauptbeteiligten selbst ist, beweisen die Geheimverträge der Vereinigten Staaten mit Frankreich und vielleicht auch mit England, anderseits Abmachungen zwischen England, Frankreich und Italien, über die ebenfalls noch ein Schleier ausgebreitet ist, und endlich der Plan, das Bündnis zwischen J a p a n und England neu und fester zu knüpfen. Eine Ausdehnung des Bundes auf alle zivilisierten Völker würde seinen Grundfehler, den latenten Zwiespalt zwischen den führenden Mächten, weder beseitigen, noch mildern, ja sogar die Gefahr heraufbeschwören, daß auch die Schwachen in den heranziehenden Wirbel neuer Weltkämpfe mit hineingerissen würden. Universalsystem. Das Universalsystem legt den Weltfrieden in die Hand eines einzigen Volkes, es verbürgt ebensowenig, wie das Allianzsystem, einen allgemeinen und dauernden Frieden, aber sichert ihn einigermaßen innerhalb der ausgedehnten und sich immer weiter ausdehnenden Grenzen eines Weltreiches. Die Pax romana schützte einst ein paar Jahrhunderte lang die ganze abendländische Kuiturwelt, das römische Reich war eine Friedensinsel inmitten einer tosenden Kriegssee. Das Heilige römische Reich glaubte sich im Mittelalter zur gleichen Sendung berufen, scheiterte aber an dem Gegensatz zwischen-Kaiser und Papst, war also im Grunde genommen ein Allianzsystem und mit allen Schwächen eines solchen behaftet. Auch die spätere Alleinherr-

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

191

s c h a f t des Papstes änderte nichts d a r a n , weil dieser, um zu reeller Macht zu gelangen, i m m e r wieder zu Allianzen g e d r ä n g t wurde. Eine ideelle M a c h t allein k a n n niemals auf längere Zeit die Widerspenstigen b a n n e n , wie h e u t e noch dem Ideologen gesagt werden m u ß . Von allen Völkern der Gegenwart wäre nur eines imstande, ein ähnliches Friedensreich aufzurichten, wie die alten R ö m e r : das b r ¡ t i s c h e . In kleinerem U m f a n g h a t es schon einmal diese A u f g a b e erfüllt, in Vorderindien, wo die P a x britannica anstelle unaufhörlicher K ä m p f e get r e t e n ist. Aber Vorderindien war nur eine E t a p p e auf seinem Eroberungszuge. „ W i r müssen uns bewußt sein", sagte Lord ROSEBERY, „ d a ß die W e l t den Stempel unseres Volkes trage und nicht den irgendeines anderen." Der Weltkrieg hat England ein gutes Stück weiter gebracht. Seine einstigen Rivalen, Deutschland und R u ß l a n d , liegen am Boden, der d r i t t e , die Franzosen, sind nur mehr eine englische Söldnertruppe u n d auf Gedeih und Verderb an Albion g e k e t t e t ; E u r o p a wird in N u n d S u m k l a m m e r t . Alle nordwesteuropäischen Schiffahrtslinien laufen in der S t r a ß e von Calais z u s a m m e n und stehen d a m i t unter englischer Kontrolle. Sollte es sich bestätigen, daß England eine Flottenbasis a n der norwegischen Küste erworben hat, so wäre durch die nach den Shetlandsinseln f ü h r e n d e Linie die Nordsee auch im N abgesperrt. Noch b e d e u t s a m e r ist die Linie S c h o t t l a n d — I s l a n d , das seit 1918 n u r m e h r lose mit D ä n e m a r k v e r b u n d e n ist und in Wirklichkeit ganz in der britischen Machtsphäre liegt. In demselben J a h r e hißten die Engländer ihre Flagge auf Spitzbergen und beschlagnahmten die dortigen Kohlenfelder. 1 Die Versuche, sich an der M u r m a n k ü s t e und a m Weißen Meer (Archangelsk) festzusetzen, scheinen zwar nicht geglückt zu sein, werden aber voraussichtlich wieder a u f g e n o m m e n werden. Sollte es den Briten gelingen, die Macht der Bolschewiki zu brechen, so wären sie Herren von ganz Nordeuropa. Die Ostsee ö f f n e t ihnen auch den W e g nach Mitteleuropa. Im Mittelmeer h a t der Sturz der Türkei ihre Machtstellung beträchtlich v e r s t ä r k t , doch läßt sich ihr Gewinn noch nicht genau angeben. Jedenfalls scheint ihre H e r r s c h a f t im westlichen Arabien u n d in Mesopotamien fest gegründet zu sein. Die militärische Besetzung der kaukasischen N a p h t h a f e l d e r und Turkestans v e r r a m m e l t alle nördlichen Zugangsstraßen, auf denen sich einst R u ß l a n d in bedrohlicher Weise gegen Indien vorschob. Da durch den V e r t r a g v o m 9. August 1919 auch Persien sich unter das britische P r o t e k t o r a t beugen m u ß t e , so ist der Bau der vorderasischen L a n d b r ü c k e nach Britisch-Indien vollendet, und die Mittelmeermächte sind von der Suezstraße nach

1

S p i t z b e r g e n soll j e t z t N o r w e g e n tiberlassen w o r d e n sein.

192

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

Indien endgültig v e r d r ä n g t . D u r c h den R a u b von D e u t s c h - O s t a f r i k a ist der Indische Ozean ein britischer Binnensee geworden und die holländische Kolonialherrschaft im malaischen Archipel höchst g e f ä h r d e t . Mit Riesenschritten geht also E n g l a n d dem W e l t i m p e r i u m entgegen. Es wäre aber nicht eine Neuauflage des römischen Reiches in größeren Dimensionen, denn die Zentralisation, die alle romanischen S t a a t e n gebilde charakterisiert, ist dem angelsächsischen Geiste f r e m d . Nur auf einem Gebiete w ü r d e London k r ä f t i g die Zügel anziehen, auf dem wirtschaftlichen, und die P a x britannica wäre mit dem w i r t s c h a f t l i c h e n Frondienst zu teuer bezahlt. Friede und Fron, beide w ü r d e n bei Völkern ebenso zur g e i s t i g e n Degeneration f ü h r e n , wie bei den H a u s t i e r e n . Diese d u r c h a u s z u t r e f f e n d e Analogie wird fast regelmäßig übersehen. Im Verfall der römischen Menschheit in der Kaiserzeit h a t uns die Geschichte durch ein großartiges E x p e r i m e n t vor Augen g e f ü h r t , d a ß d u r c h die B e m ü h u n g e n , den Kampf u m s Dasein möglichst auszuschalten, Individuen und Völker geistig nicht hinauf-, sondern h i n a b g e z ü c h t e t werden. Indes ist die Gefahr, die uns von den Briten d r o h t , nicht so groß als sich manche einbilden. Die Erweiterung ihres I m p e r i u m s zu einer tatsächlichen Universalherrschaft h ä t t e zur Voraussetzung die völlige Niederlage ihrer l e t z t e n , aber s t ä r k s t e n Rivalen, J a p a n s u n d der Vereinigten S t a a t e n . Unmöglich wäre sie an sich nicht, d e n n ihre Rivalen rivalisieren auch miteinander, aber doch im höchsten Grade u n w a h r scheinlich. England m ü ß t e jedenfalls alle seine K r ä f t e bis aufs äußerste a n s p a n n e n , und d ü r f t e durch die Buntscheckigkeit, die geographische Zersplitterung seines Weltreiches bald absorbiert werden. E s ist d a h e r nicht ausgeschlossen, d a ß sich die drei Großmächte über eine Teilung der E r d e einigen werden, und d a ß an Stelle des Universalsystems d a s Föderativsystem t r i t t . Föderativsystem. Die Oberfläche der Erde würde d a d u r c h in eine Reihe geschlossener "Kästen, zu denen nur wenige S t a a t e n den Schlüssel h ä t t e n , zerlegt werden. Die Volkswirtschaft des vergangenen J a h r h u n d e r t s w ü r d e d a n n nicht, wie von vielen erwartet w u r d e , in W e l t w i r t s c h a f t , also volle A n a u t a r k i e a u s m ü n d e n , sondern die N a t i o n e n würden sich u n t e r W a h r u n g ihrer politischen Selbständgikeit und ihrer völkischen H o m o g e n i t ä t zu a u t a r k i s c h e n W i r t s c h a f t s v e r b ä n d e n mit festen Zollgrenzen zusammenschließen. J e d e r dieser V e r b ä n d e m ü ß t e sowohl in die gemäßigte, als auch in die Tropenzone hineinreichen; nur d a d u r c h w ä r e a n n ä h e r n d absolute Selbstversorgung gewährleistet. Auf diese Weise k ö n n t e der W e t t b e w e r b zwischen den N a t i o n e n ein-

193

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

geschränkt und jedenfalls ein dauerhafterer Friede erreicht werden als durch das Allianzsystem. Eine völlige Abschließung der Verbände könnte natürlich unter den gegenwärtigen Verhältnissen niemals erreicht werden und wäre auch nicht erwünscht (vgl. S . 181), aber der innere Handel würde den äußeren doch noch weit mehr überflügeln als jetzt. Der a m e r i k a n i s c h e Doppelkontinent ist von Natur zu einem autarkischen Wirtschaftsverbande geschaffen, und die Vereinigten S t a a t e n haben sich schon seit J a h r z e h n t e n zum Ziel gesetzt, diese Gunst der Natur auszunutzen. Die Monroedoktrin von 1823 ist eigentlich schon darauf zugeschnitten. K a n a d a und Neufundland werden früher oder später als reife Frucht der Union in den Schoß fallen. J e t z t ist ihr ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, die Karibische See zu einem amerikanischen Binnenmeer zu m a c h e n . 1 Die New Y o r k e r Akademie der politischen Wissenschaften hat dieses Programm schon im J u l i 1917 offen ausgesprochen. Die Zukunft der Vereinigten S t a a t e n hängt zum guten Teil am Panamakanal, und es liegt in ihrem Interesse alle Zugänge von W her in ihre Hand zu bekommen. Der erfolgreiche Krieg mit Spanien im J a h r e 1898 öffnete ihnen den Weg zum amerikanischen Mittelmeer. Sie behielten Puertorico und übten von nun an auch eine politische Oberherrschaft über K u b a aus; 1905 geriet San Domingo, 1915 Haiti, 1916 Nikaragua in Abhängigkeit von der Union. D a ß auch das übrige Zentralamerika wirtschaftlich immer mehr in der Union aufgeht, wurde schon früher betont ( S . 181); man erwartet nur noch, daß die Engländer, Franzosen und Holländer ebenso gutwillig auf ihre westindischen Besitzungen verzichten werden, wie es die Dänen schon 1917 getan hatten. Man ist jetzt infolge der Verschuldung Englands und Frankreichs den Vereinigten S t a a t e n gegenüber diesem Ziele schon um ein gutes S t ü c k näher gerückt. In Südamerika gewinnt der wirtschaftliche Imperialismus der Vereinigten S t a a t e n auch immer mehr an Boden, die panamerikanische Union zählt schon viele Mitglieder, und in ihrem Palast in Washington haben schon wiederholt Kongresse getagt. Verdrängung des europäischen Handels und j e t z t auch des Londoner Geldmarktes ist ihr Hauptzweck. Ein o s t a s i a t i s c h e r Wirtschaftsverband wird von J a p a n mit aller Macht angestrebt, stößt aber noch in China auf Widerstand und wird 1

Die auswärtige Politik der Vereinigten S t a a t e n im Spiegel der

Geschichte

(Preußische J a h r b ü c h e r , Bd. 1 6 8 u. 169, Mai, J u n i , J u l i 1917). — E . DANIELS, Wofür kämpfen die A m e r i k a n e r ? (ebendort 1918, B d . 174, S. 5 4 ) . — W . DAASCHER, Das Vordringen der Vereinigten Staaten im westindischen Mittelmeergebiet, 1918. Supan,

Leitlinien.

2. Aufl.

13

Hamburg

194

Wirtschaftspolitische Möglichkeiten.

vor allem von den Vereinigten S t a a t e n von Amerika heftig und in der S c h a n t u n g f r a g e bereits offen b e k ä m p f t . Hier m u ß also eine entscheidende W e n d u n g erst noch a b g e w a r t e t w e r d e n . 1 Fest s t e h t bereits der b r i t i s c h e W i r t s c h a f t s v e r b a n d ; indem die englische Regierung im Sommer 1918 die Reichsschutzzölle a n g e n o m m e n h a t , scheint sie ihre universellen Tendenzen aufgegeben zu h a b e n u n d sich auf autarkischer Grundlage einrichten zu wollen. Da stehen wir vor der großen Schicksalsfrage: was soll aus d e m a u ß e r b r i t i s c h e n E u r o p a w e r d e n ? England b e t r a c h t e t es als sein legitimes H i n t e r l a n d , als das natürliche Absatzgebiet f ü r seine Industrieerzeugnisse, und zwar u m so mehr, je mehr es von den anderen M ä r k t e n v e r d r ä n g t wird. Anderseits ist es ihm Lieferant von Rohstoffen u n d von N a h r u n g s m i t t e l n , denn die englische L a n d w i r t s c h a f t wird auch in Z u k u n f t den einheimischen Bedarf nicht im E n t f e r n t e s t e n decken können. Man wird also wieder zu der wirtschaftsgeographischen A u f f a s s u n g vor h u n d e r t J a h r e n z u r ü c k k e h r e n . F ü r Deutschland wäre das eine wirtschaftliche Reaktion schlimmster A r t . Seine industrielle Tätigkeit, der es im letzten halben J a h r h u n d e r t seinen phänomenalen Aufstieg v e r d a n k t e , w ü r d e durch Ü b e r f l u t u n g seiner M ä r k t e mit minderwertigen u n d billigen W a r e n bald lahmgelegt werden, selbst wenn sich wieder die deutsche Arbeitslust zu regen beginnen würde. Die Artikel 264 bis 267 des Versailler Friedens entwinden unseren H ä n d e n auf dem Gebiete der Zollgesetzgebung alle S c h u t z w a f f e n u n d fesseln uns völlig. Die anderen Völker können zwar noch freier a t m e n , aber viel besser w ü r d e es ihnen auch nicht ergehen. Ihre wirtschaftliche O h n m a c h t würde ihnen bald schmerzlich z u m Bewußtsein k o m m e n . Ihre industrielle E n t w i c k l u n g w ü r d e bald ins Stocken geraten. In bezug auf die Rohstoffe w ä r m e r e r Himmelsstriche wären sie d e m meerbeherrschenden England auf Gnade u n d U n g n a d e ausgeliefert, ihr Handel würde überall auf geschlossene Türen stoßen. R u ß l a n d w ü r d e nicht minder leiden als Deutschland, d e n n England geht o f f e n k u n d i g mit dem Gedanken u m , auch die baltischen A u s g a n g s p f o r t e n ihm möglichst zu verrammeln. So wäre d e n n f ü r das nichtbritische E u r o p a eine wirtschaftliche Triarchie schlimmer als ein britischer Universalstaat. Man k ö n n t e ihr aber entgehen, wenn sich d i e f e s t l ä n d i s c h e n S t a a t e n E u r o p a s ( m i t o d e r o h n e F r a n k r e i c h ) zu e i n e m s e l b s t ä n d i g e n W i r t s c h a f t s v e r b a n d z u s a m m e n s c h l ö s s e n . Wird aber nicht die nationale Zersplitterung, die Vielstaaterei so viele Reibungsflächen schaffen, d a ß ein 1 T h e Isolation of J a p a n , an E x p o s é of J a p a n s P o l i t i c a l Position after the War. A m s t e r d a m 1919.

Wirtschaftspolitische

195

Möglichkeiten.

einmütiges H a n d e l n auch nur auf wirtschaftlichem Gebiet einfach unmöglich w i r d ? Vor ein p a a r J a h r e n sprach F R I E D R I C H N A U M A N N 1 von einem mitteleuropäischen W i r t s c h a f t s b u n d e , der n a c h einem siegreichen Kriege Deutschland und Österreich-Ungarn auch im Frieden enger aneinander anschließen sollte. J e t z t ist diese Idee hinfällig geworden, aber in veränderter Gestalt k a n n sie wieder aufleben. Alles h ä n g t davon ab, ob Deutschland und R u ß l a n d sich wieder a u f r a f f e n , zur O r d n u n g u n d Arbeit z u r ü c k k e h r e n , ob sie sich z u s a m m e n f i n d e n werden. D a n n wäre ein fester Kristallisationskern f ü r alle kleineren Völker geschaffen, d a n n wäre das autarkische Ideal schon h a l b erreicht, d a n n wäre m a n s t a r k genug, sich nach eigenem G u t d ü n k e n einzurichten und die Seegeltung wenigstens soweit zu gewinnen, d a ß m a n sich den W e g zu den Tropen der östlichen Halbkugel freihalten k a n n . Germanen und Slaven A r m in A r m sollten nicht kraftvoll genug sein, um Angelsachsen, Rom a n e n und J a p a n e r n das Gleichgewicht zu halten und ein neues Zeitalter der K u l t u r h e r a u f z u f ü h r e n ? So müssen wir mit lauter Fragezeichen schließen, aber es ist schon ein Gewinn^ wenn m a n die Probleme scharf ins Auge f a ß t . 1

Mitteleuropa.

Berlin

1916.

13*

Sachregister. Abessinien: Flächeninhalt 49. Ackerbau 143. Afghanistan: Flächeninhalt 49. Agrarstaaten 150, 151. Aktive Räume 47. Alaskagrenzstreit 36. Allianzen 131. Allianzsystem 189. Ältere Großstaaten 50. Archipelstaaten 15. Argentinien: Flächeninhalt 49. Äußere Staatsgrenzen 26. Äußerer Zusammenhalt der Staaten 82. Australischer Bundesstaat: Flächeninhalt 49. Bauernstädte 156. Belgien: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 76. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Bevölkerung 52. Bevölkerungsbewegung 53. Bevölkerungsdichte 154. Bevölkerungszunahme 53, 54. Bewegungsgrenzen 24. Binnenlage 74. Bolivien: Flächeninhalt 49. Brasilien: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Caprivizipfel 44. Chile: Flächeninhalt 49.

Chilenisch-argentinischer Grenzstreit China: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Chinesische Mauer 35.

32.

Dänemark: Geographischer Druckquotient 76. Maritimität 70. Danewerk 35. Deutsches Sperrgebiet im Jahre 1917 73. Deutschland: Bevölkerung 52, Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Volksvermögen 59, 60. Distanzgrenzen 34. Druckquotient 75. Dynastische Treue 107. Eigenschaftsgrenzen 24. Einfache Staaten 14. Einflüsse der wirtschaftlichen auf die völkische Struktur 154. Eingebornenkolonien 19. Einwandererkolonien 19. Einzelsiedlung 156. Einzelwirtschaft 145. Eisenbahnen 169. Ekuador: Flächeninhalt 49. Elastische Grenzen 36. Energie 60. Europäische Kolonien 134. Europäisches Gleichgewicht 62. Europäisches Rußland: Maritimität 70. Exklavenstaaten 16.

Sachregister Festlandgrenzen der europäischen Staaten 70. Fischervölker 142. Flächeninhalt der großen und mittleren Staaten 49. Flüsse als Grenzen 31. Föderativsystem 192. Folgekategorien 13. Frankreich: Bevölkerung 52. Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Volksvermögen 59, 60. Gartenkultur 143. Gebuchtete Staaten 43. G e m e i n s a m e Kulturgrundlage 102. G e m i s c h t e Siedelungen 157. Geographische Kategorien des Staates 1. Geographische Lage 67. Geographischer Druckquotient 75, 76. Geometrisch geformte Staaten 41. Geopolitik 7. Gestalt der Staaten 14. Glacistheorie von Curzon 40. Gliederung der Staaten 85. Gliederung physisch-homogener Staaten 88. Grenzen der Staaten 23. Grenzenentwicklung 44. Grenzlinie 27, 29. Grenzsaum 26, 27, 28. Griechenland: Maritimität 70. Großbritannien: Bevölkerung 52. Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Volksvermögen 59, 60. G r o ß e Staaten 49, 50. G r ö ß e der Staaten 46. G r o ß m ä c h t e 46. Großmachtstypen 61. G r o ß r ä u m i g e Völker 51. Großstadt 158.

G r u n d f o r m e n d e ; Wirtschaft 141. Grundkategorien 13. G r u p p e n s i e d l u n g 156. Hackbau 143. Hadrianswall 35. Halbinselstaaten 70. Handel 136. Hauptstädte 162. Heterogene Staaten 110. H o m o g e n e Staaten 110. Imperialismus 41. Industrie 152. Industriestaaten 150, 151. Industriestadt 160. Innere Eigentumsgrenzen 26. Innerer Z u s a m m e n h a n g 84. Innere Verwaltungsgrenzen 26. Interessensphären 21. Internationalismus 132. Isolierte Lage 69. Isthmusstaaten 70. Italien: Bevölkerung 52. Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Volksvermögen 59. Jägervölker 142. Japan: Bevölkerung 52. Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Ceographischer Druckquotient 75. Kanada: Flächeninhalt 49. Kleinräumige Völker 51. Koloniale Rä um e 12. Kolonialquoti'ent 22. Kolonialstaaten 18. Kolonien 22. Kolumbien: Flächeninhalt 49. Konföderationen 131. Konnationalismus 13J. Kreisförmige Staaten 41. Künstliche Grenzen 29. Küstenlänge 70.

197

198 Lage der Staaten 64. Landgrenzen 26. Ländliche Siedelungen 156. Landwirtschaft 152. Lebenskraft 57. Lebenslinien 3. Lebensraum 37, 38. Longitudinalstaaten 42.

Sachregister. i |

Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Volksvermögen 59. Oyabocgrenzfrage 36.

Paraguay: Flächeninhalt 49. Patriotisches Gefühl 107. Passive.Räume 47. Penkontinentale Staaten 15. ] Persien: i Flächeninhalt 49. I Peru: Flächeninhalt 49. Pflugkultur 143. Physische Heterogenität 89. Physische Struktur der Staaten 85. Physisch-homogene Staaten 85. Plan tagen Wirtschaft 143. Politische Bedeutung der physischen St-uk tur 92. Politische Geographie 1. Politische Grenzen 24, 25. Nachbarnlage 69. Politischer Druckquotient 77. "Nation 98. Politisches Gebiet 67. Nationaler Anfsaugungsprozeß 108. Politisches Gleichgewicht 62. Nationalpolitik 8, 12, 23, 121. Politische Idee 104, 105. Nationalstaaten 118. Politische Lage 69. Nationalsystem und seine Voraussetzungen Politische Räume 12. 184. Portugal: Naturgrenzen 24. Bevölkerung 52. Natürliche (naturentlehnte) Qrenzen 29, 37, Geographischer Druckquotient 76. 39, 40. Flächeninhalt 49. Niederlande: Maritimität 70. Bevölkerung 52. Produktion 136. Flächeninhalt 49. Pseudonationale Staaten 115. Geographischer Druckquotient 76. Pufferstaaten 27. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Randstaaten 70. Nomadismus 142. Raumbewältigung 51. Norwegen: Raumerweiterung 50. Flächeninhalt 49. Religion 100. Geographischer Druckquotient 76. Rumänien: Maritimität 70. Geographischer Druckquotient 76, Organisation 95. Maritimität 70. Organische Grenzen 37, 38. Rußland: Organische Staatstheorie 2. Bevölkerung 52. Österreich-Ungarn: Bevölkerungszunahme 54. Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Macht 58. Machtgrenzen 25. Mandatskolonien 21. Maritimität 70. Massachusetts: Lebenskraft 57. Mathematische Grenzen 30/ 24. Mathematische Lage 64. Meerengen 71. Meeresgrenzen 70. Mehrteilige Staaten 15. Mexiko: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Mischkolonien 19. Mittlere Staaten 49.

Sachregister. Geographischer Druckquotient 75. Volksvermögen 59. Sammelwirtschaft 141. Schweden: Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 76. Lebenskraft 57. Maritimität 70. Schweiz: Geographischer Druckquotient 75. Maritimität 70. Seeverkehr 175. Siam: Flacheninhalt 49. Siedelungen 156. Spanien: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 76. Maritimität 70. Sprache 101. Staat 1. Staatsgedanken 104. Staatslehre 6. Staatsmechanismus 3. Staatsorganismus 3. Städte 158. Sterile Räume 48. Struktur der Staaten 81. Südafrikanische Union: Flächeninhalt 49. Süddeutsche Limes 35. Territorialpolitik 8, 12, 23. Territorialstaaten 111. Theoretische Naturgrenzen 38. Trajanswälle 35. Türkei: Bevölkerung 52. Flächeninhalt 49. Übernationale Verbände 131.

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Umfassende Staaten 42. Umrißformen der Staaten 41. Universalsystem 190. Unpolitische Räume 12.

i i Vaterlandsliebe 107. ! Venezuela: Flächeninhalt 49. j Vereinigte Staaten: Bevölkerung 52. Bevölkerungszunahme 54. Flächeninhalt 49. Geographischer Druckquotient 75. Volksvermögen 59, 60. Verkehr 167. Verkehrsarten 167. Verkehrsmittel 167. Vizinalwirtschaft 145. Volk 98, Völkische Gleichartigkeit 99. | Völkische Struktur 95, 110. | Volksgrenzen 26. Volksvermögen 59, 60. Volkswirtschaft 147. i I I' ' ' •

Wachanzipfel 44. Wachstum der Staaten 23. Wasserscheide als Genze 31, 33. Wasserstraßen 173. Weltgleichgewicht 63. Welthandel 175. , Weltmächte 63. Weltverkehr 176. Weltwirtschaft 147, 167, 180. Wirtschaftliche Struktur der Staaten 136, 147. Wirtschaftspolitische Möglichkeiten 184. Wirtschaftsstufen 144. i Zukunftsräume 48. Zwischenstaatliches Leben 78.

VEREINIGUNG WISSENSCHAFTLICHER V E R L E G E R - W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. V O R M A L S G. J . G Ö S C H E N S C H E V E R L A G S H A N D L U N G / J . G U T TENTAG, V E R L A G S B U C H H A N D L U N G / G E O R G R E I M E R K A R L J. T R U B N E R / V E I T & C O M P .

B E R L I N W io UND LEIPZIG

Grundzüge der

physischen Erdkunde Von

Dr. Alexander Supan Professor der Geographie an der Universität Breslau

Sechste, umgearbeitete und verbesserte Auflage Mit 227 Abbildungen im Text und 1 9 Karten in Farbendruck Groß-Oktav. IX, 9 8 2 Seiten. Unveränderter Neudruck 1 9 2 1 Preis geh. M. 75.—, Einband M. 21 — (Zur Zeit [April 1922] gültige Preise)

Aus

den

Besprechungen;

„Eine besondere Empfehlung des altbewährten Lehr- und Handbuches erübrigt sich. Das Urteil steht in Fachkreisen ebenso u n v e r r ü c k b a r fest, wie seine B e l i e b t h e i t bei der studierenden Jugend groß i s t . " Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München. „Man sagt sicher nicht zuviel und zu wenig, wenn man dieses treffliche Werk in seiner jetzigen Gestalt als das b e s t e L e h r b u c h der physikalischen Erdkunde bezeichnet." Münchener Allgemeine Zeitung. „Es ist ein a b g e k l ä r t e s W e r k , das den gewaltigen umfassenden Stoff in überaus l i c h t v o l l e r W e i s e zwar knapp ohne Weitschweifigkeit, doch genügend t i e f , immer a n r e g e n d , ja f e s s e l n d verarbeitet." „Die Mittelschule", Halle.

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