Leitfaden zur Kriegsschuldfrage [Reprint 2019 ed.] 9783111490267, 9783111123769


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German Pages 212 Year 1923

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Inhaltsverzeichnis
I. Teil. Die Anklage
1. Die These von Versailles
2. Die politischen Ziele der Großmächte
3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege
II. Teil. Die Vorgeschichte
1. Die Weltlage im Jahre 1907
2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907
3. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina
4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909
5. Die Entspannung 1910
6. Die zweite Marokkokrise 1911
7. Der tripolitanische Krieg 1911
8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich zu Beginn des Jahres 1912
9. Der erste Balkankrieg Herbst 1912
10. Der zweite Balkankrieg Februar bis Mai 1913
11. Der dritte Balkankrieg Sommer 1913
12. Die Entwicklung der Meerengenfrage
13. Die Zusammenkünfte von Miramar, Konopischt und Paris
14. Oesterreich-Ungarn und Serbien
15. Die Rüstungen 1907—1914
III. Teil. Die Krise
1. Das Attentat von Serajewo
2. Die Mission Hoyos
3. Die Reise Poincarés nach Petersburg
4. Das österreichische Ultimatum
5. Lokalisierung oder Weltkrieg?
6. Sechs Tage deutsch-englischer Vermittlung
7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der deutsch-englischen Vermittlung
8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung
9. Die Entschlüsse des 31. Juli
10. Die Intrigen gegen Deutschland
11. Die englische Vermittlung am 1. August
12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und Oesterreich- Ungarns an Rußland
13. Die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich und die Frankreichs an Oesterreich-Ungarn
14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland
15. Siebenzehn Schlußthesen
IV. Teil. Einzelheiten der Krise
1. Das Telegramm Szögyénys vom 5. Juli
2. Die Legende des Kronrats vom 5. Juli
3. Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky
4. Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli
5. Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli
6. Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schiedsgericht
7. Das Extrablatt des „Berliner Lokalanzeigers"
8. Der französische Schachzug der zehn Kilometer
9. Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf bei Nürnberg
10. Die Haltung Italiens
11. Die belgische Frage
V. Teil. Belege
Belege Nr. 1—28
VI. Teil. Anlagen
Anlage 1. Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen
Anlage 2. Verzeichnis der öfter angeführten Quellen nebst abgekürzten Bezeichnungen
Nachtrage
1. Erlaß des russischen Außenministers Iswolsky über die Zusammenkunft von Reval im Januar 1908
2. Ein russisch-japanischer Geheimvertrag vom Juli 1912
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LEITFADEN ZUR KRIEGSSCHULDFRAGE GRAF MAX MONTGELAS MITHERAUSGEBER DER „DEUTSCHEN DOKUMENTE ZUM KRIEGSAUSBRUCH"

1923

WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G . J . G Ö S C H E N ' S C H E VERLAGSHANDLUNG- J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - G E O R G REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT & COMP.

BERLIN UND LEIPZIG

III

Inhaltsverzeichnis. I. TEIL. Die Anklage. 1. Die These von Versailles 2. Die politischen Ziele der Großmächte 3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege

Die

geite

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II. TEIL. Vorgeschichte.

1. Die Weltlage im Jahre 1907 2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907 a) Die Rüstungen b) Das Schiedsverfahren 8. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina 4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909 . . . 6. Die Entspannung 1910 6. Die zweite Marokkokrise 1911 7. Der tripolitanische Krieg 1911 . . . . 8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich zu Beginn des Jahres 1912 9. Der erste Balkankrieg, H«rbst 1912 10. Der zweite Balkankrieg, Februar bis Mai 1918 11. Der dritte Balkankrieg, Sommer 1913 12. Die Entwicklung der Meerengenfrage 13. Die Zusammenkünfte von Miramar, Konopischt und Paris . . 14. Oesterreich-Ungarn und Serbien 15. Die Rüstungen 1907—1914 &Ì Rüstungen zu Lande b) Rüstungen zur See c) Militär- und Marinekonventionen

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III. TEIL. 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die Krise. Das Attentat von Serajewo Die Mission Hoyos Die Reise Poincaré s nach Petersburg Das österreichische Ultimatum . Lokalisierung oder Weltkrieg? Sechs Tage deutsch-englischer Vermittlung Sonnabend, 25. Juli Sonntag, 26. Juli Montag, 27. Juli Dienstag, 28. Juli Mittwoch, 29. Juli Donnerstag, 30. Juli

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IV

Seite 7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der deutschenglischen Vermittlung 8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung . . 9. Die Entschlüsse des 31. Juli Berlin und Wien London Paris Petersburg 10. Die Intrigen gegen Deutschland a) Die Antwort des Zaren an den König von England . . . b) Der Runderlaß Vivianis vom 1. August und die Beeinflussung des britischen Botschafters in Paris . . . . c) Der Besuch. Schebekos und Dumaines bei Berchtold . . . 11. Die englische Vermittlung am 1. August a) Die zweite Sasonowsche Formel b) Das Telegramm Berchtolds vom Morgen des 1. August 12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns an Rußland 13. Die Kriegserklärung- Deutschlands an Frankreich und die Frankreichs an Oesterreich-Ungarn 14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland 15. Siebenzehn Schlußthesen

IV. TEIL. E i n z e l h e i t e n der

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Krise.

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Das Telegramm Szögyenys vom 5. Juli Die Legende des Kronrats vom 5. Juli Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky . . . Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli . Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schiedsgericht Das Extrab'att des „Berliner Lokalanzeigers" Der französische Schachzug der zehn Kilometer Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf auf Nürnberg 10. Die Haltung' Italiens 11. Die belgische Frage

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V. TEIL. B e 1 e g e Nr. 1—28.

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VI. TEIL. A n 1 a £ e n. 1. Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen . . 2. Verzeichnis der öfter angeführten Quellen nebst abgekürzten Bezeichnungen

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Nachträge. 1. Erlaß des russischen Außenministers Iswolsky über die Zusammenkunft von Reval im Januar 1908 2. Ein russisch-japanischer Geheimvertrag vom Juli 1912 . . .

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I. Teil.

Die einklage. 1. Die These von Versailles. Im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Wort Bismarcks wahr geworden von dem furchtbaren Kriege, der Europa in Flammen setzen werde von Moskau bis zu den Pyrenäen, und nach dessen Ende man nicht mehr wissen werde, warum man sich geschlagen. Wie konnte dieses Völkerringen entstehen, das weite Länderstrecken verwüstete, viele Millionen Männer im blühenden Alter dahinraffte und die wirtschaftliche Kraft unseres Erdteils auf Generationen lähmte? Es gibt eine Antwort, die' sagt: Der allgemeine Krieg war unvermeidlich, weil alle Großmächte ohne Ausnahme von imperialistischem Drange erfaßt waren, nur darauf bedacht, ihre Macht zu mehren und sie durch einen Wettlauf der Rüstungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu sichern; der Krieg mußte kommen, weil die Regierenden vergessen hatten, daß nur der Friede den wahren Interessen der Völker diene, und weil das Bewußtsein der wirtschaftlichen Solidarität aller Länder geschwunden war. Diese Erklärung deckt wohl einige der tieferen Ursachen der großen Katastrophe auf, wennschon die Hinnahme des Weltkrieges als eines unvermeidlichen Ereignisses allzu fatalistisch sein dürfte und den Einfluß der leitenden Politiker allzusehr auszuschalten scheint. Doch ist es im Rahmen dieser Schrift nicht nötig, die Berechtigung solcher Resignation nachzuprüfen. Hier handelt es sich darum, die Richtigeit einer anderen Antwort zu untersuchen, die in Versailles gegeben wurde von Anklägern, die zugleich als Richter sich aufwarfen, zu einer Zeit, da noch keines der Archive der kriegführenden Mächte völlig geöffnet war. Männer, die weder die Dokumente der Gegner noch die ihrer Verbündeten kannten, ihre eigenen Akten aber sorgfältig geheim hielten, haben in Artikel 231 des Friedensdiktats die These aufgestellt, daß der Krieg ihnen „durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen" worden sei. Und wenn man aus dem Wortschwall des Ultimatums vom 16. Juni 1919, durch das Deutschland die Unterschrift unter sein politisches I

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Die These von Versailles

und moralisches Todesurteil abgepreßt worden ist, den Kern herausschält, so geht er dahin, daß Deutschland allein von allen Mächten für einen großen Krieg g'erüstet gewesen sei, daß Deutschland seit Jahrzehnten einen Angriffs-, Eroberungsund Unterjochungskrieg planmäßig vorbereitet und diesen Krieg im Jahre 1914 mit Vorbedacht entfesselt habe, um die „Vorherrschaft in Europa" zu erlangen und seine „Weltherrschaftspläne" zu verwirklichen. Die gegnerischen Nationen aber seien nur darauf bedacht gewesen „ihre Freiheit zu retten". 2. Die politischen Ziele der Großmächte. Bei den vielen Verteilungen der Welt in früheren Zeiten war Deutschland leer ausgegangen und auch bei denen der letzten Jahrzehnte war es äußerst kärglich bedacht worden. Zählte doch das Deutsche Reich im Jahre 1914 im Mutterlande 67 Millionen Menschen, in seinen Kolonien aber nur 12. Nicht Weltherrschaft strebte das deutsche Volk an, sondern einen bescheidenen „Platz an der Sonne", ein Ziel, das ohne kriegerische Konflikte und ohne Schädigung der Interessen anderer Staaten wohl erreichbar war. Gerade im August des Unglücksjahres sollte ja das im Entwurf schon fertige Kolonialabkommen mit England unterzeichnet werden, das den berechtigten und gemäßigten deutschen Wünschen Rechnung getragen hätte. Dem gegenüber war es Frankreich mit seiner stagnierenden Bevölkerung von 39 Millionen gelungen, nach 1871 aus bescheidenen Anfängen ein mächtiges Kolonialreich mit 53 Millionen farbiger Untertanen aufzubauen. Das war nur möglich gewesen dank der moralischen und diplomatischen Unterstützung Bismarcks. Die Rückendeckung, die der erste Kanzler durch die Zusicherung gewährte, daß kein deutscher Angriff erfolgen werde, wenn noch so viele französische Truppen über See entsendet würden, gestattete der Republik in dem Zeitraum von 1879 bis 1885 den Erwerb von Tunis, Annam, Tonkin, Laos, wertvoller Gebiete in Westafrika sowie der Insel Madagaskar. Das letzte Jahrzehnt aber hatte den von Vertragsverletzung zu Vertragsverletzung schreitenden Franzosen den Besitz von Marokko gesichert, von wo, wie später gezeigt werden wird, der Anstoß zum Weltkrieg^ ausgehen sollte. Noch gewaltiger war das britische Imperium. Nur 46 Millionen wohnten auf den englischen Inseln, aber 376 Millionen, mehr als ein Fünftel der Erdbewohner, waren Untertanen Seiner britischen Majestät. Trotzdem ruhten die Pläne der englischen Imperialisten nicht. In Afrika sollte die große NordSüdlinie Cairo-Cap geschaffen, von ihr über Palästina, Arabien

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Die politischen Ziele der Großmächte

und Mesopotamien, die West-Ostverbindung über Land nach Indien hergestellt werden. Die auch im Frieden unermüdlich tätige Seestrategie der britischen Admiralität aber war bemüht, die Herrschaft über den Ozean durch Erwerb neuer Flottenstützpunkte und durch Verweigerung solcher Stützpunkte an die Gegner des Dreiverbandes immer mehr zu sichern. Wie England über alle Meeresstraßen und die zahlreichsten Völker der verschiedensten Rassen, Religionen und Sitten, so herrschte Rußland über die weitesten Ländermassen. Räumlich hingen seine unermeßlichen Besitzungen zusammen, aber fremdstämmig waren viele der Völker, die unter dem Szepter des Zaren vereinigt waren. Selbst kleine Länder wie Holland und das neutrale Belgien besaßen Kolonien, geräumiger und volksreicher als die Deutschlands. Ebenso steht es mit dem zweiten Punkt der Anklage, dem Streben nach „ V o r h e r r s c h a f t i n E u r o p a " . Deutschland begehrte in Europa nicht einen Fußbreit Landes über das hinaus, was ihm 1871 geworden war. Die Insel Helgoland, schon früher von England angeboten, war 1890 auf gütlichem Wege durch weitgehenden Verzicht auf afrikanischen Besitz hinzugekommen. Anders in Frankreich und in Rußland. Als Irrtum hat sich die Auffassung etwiesen, Frankreich habe nach 1871 nur an Elsaß und Lothringen gedacht. Wir wissen jetzt aus den Berichten des französischen Botschafters Baron Courcel, daß sogar Ende 1884, also zu einer Zeit, da Deutschland den französischen Wünschen besonders weit entgegenkam, maßgebende französische Politiker sich auch mit den Verträgen von 1815 noch nicht abgefunden hatten, sondern das im ersten Pariser Frieden von 1814 unbegreiflicherweise bei Frankreich belassene deutsche Saargebiet zurückerobern wollten.1) Die Berichte Delcasses über die im Sommer 1899 von ihm erreichte, nach seinen eigenen Worten „außerordentliche" Erweiterung des französisch-russischen Bündnisses enthüllten nach Elsaß-Lothring'en und dem Saargebiet ein drittes Ziel: im Falle der Auflösung des Habsburger Reichs sollte der Zusammenschluß Deutsch-Oesterreichs mit dem großen Stammlande verhindert werden, nötigenfalls mit Waffengewalt.2) Das Jahr 1913 wird sodann zeigen, wie anderthalb Jahre vor Kriegsausbruch Delcasse, der Vertrauensmann Poincares, mit Sasonow über territoriale Krie'gsziele Frankreichs in Europa verhandelt. Die Niederlage von Sedan hatte ebenso wenig wie die von Waterloo das französische Streben nach dauernder Vorschiebung der Grenzen gegen Osten zurückzudrängen vermocht. ») Siehe Beleg Nr. 1, S. 187. ) Siehe Beleg Nr. 2, S. 187.

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Die politischen Ziele der Großmächte

Auch Rußland hielt sein Augenmerk nicht mehr ausschließlich auf asiatisches Gebiet gerichtet. Die Ursachen, die seinen Expansionsdrang wieder nach Europa zurückleiteten, werden bei der Weltlage von 1907 erörtert werden. Nur soviel sei hier schon erwähnt, daß man in Petersburg zu Beginn des Jahres 1914 sich die Auflassung zu eigen gemacht hatte, die angestrebte Herrschaft über Bosporus und Dardanellen könne nur „im Rahmen eines europäischen Krieges" verwirklicht werden. Neben diesen weitgreifendeo Plänen der Mächte des Dreiverbandes und dem Wunsche Deutschlands nach einem Platz an der Sonne war das einzige Ziel Oesterreichs die Erhaltung des Bestehenden. Mag man auch dieses Ziel gegenüber den Wünschen gewisser Teile der Südslawen nach Schaffung eines großserbischen Nationalstaates als unberechtigten Anachronismus bezeichnen, so wird sich doch kaum ein ernsthafter Politiker finden, der dem Donaustaate Weltherrschaftspläne und Gelüste nach Vorherrschaft in Europa andichten wollte. Nicht in Berlin also und nicht in Wien hegte man Wünsche, die nur durch ein Meer von Blut und Thränen Wirklichkeit wenden konnten. Auch die hochfliegenden Ideen des englischen Imperialismus waren ja schließlich ohne Kämpfe in Europa durchzuführen, da sie sich nur gegen wehrlose Nationen in anderen Erdteilen richteten. Die territorialen Ambitionen Frankreichs, Rußlands und der russischen Schutzbefohlenen hingegell konnten nur auf europäischen Schlachtfeldern Erfüllung* finden. 3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege. Einen dritten Punkt der Anklage des Ultimatums bildet der seit Jahrzehnten vorbereitete Angrifskrieg. Der Verfasser der Anklageschrift — es soll ein Engländer sein — hat vergessen, daß knapp ein Jahrzehnt vor Ausbruch der Katastrophe Großbritannien sich eifrigst um ein Bündnis mit Deutschland beworben hat, um ein Bündnis, das gleicherweise gegen Frankreich und gegen Rußland, seine späteren Alliierten, sich richten sollte1. Zur Widerlegling ist es wohl nicht nötig, auf die Zeit Bismarcks zurückzugreifen. Die große Aktenpublikation des Auswärtigen Amts hat in einer Fülle von streng vertraulichen Denkschriften, Diktaten und Anweisungen die geheimsten Pläne und Ziele des ersten Kanzlers offen vor der ganzen Welt dargelegt, und staunend hat diese erkannt, in wie hohem Maße seine Politik seit Gründung des Reichs eine Politik des Friedens gewesen ist, dete Friedens nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa, gegründet nicht auf irgend welche pazifistische Theorien, sondern auf die realpolitische Erkenntnis, daß nur damit den wahren Interessen von Reich und Volk

Günstige Gelegenheiten zum Kriege

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gedient werde. Bismarck wollte nicht nur vermeiden, die so schwer errungene deutsch« Einheit durch kriegerische Abenteuer zu gefährden, sondern er war ebenso auch bestrebt, den wiederholt drohenden Zusammenstoß zwischen Oesterreich und Rußland, zwischen England und Rußland, zwischen England und Frankreich zu verhüten. Eines der ehrenvollsten Zeugnisse für dieses Streben ist die Weisung an den deutschen Vertreter in Paris vom 5. Oktober 1884, als in der ägyptischen Frage ein englisch-französischer Waffengang drohte, worin es heißt: „Wir haben mit Frankreich das gleiche Interesse, daß Bruch mit England und namentlich Krieg verhütet und die ägyptische Frage friedlich gelöst werde. Ein französischenglischer Krieg würde für uns, auch wenn wir unbeteiligt blieben, eine ähnliche Kalamität sein wie ein russischösterreichischer. ' '*) Lebhaft sind in den Denkwürdigkeiten des Feldmarschalls Grafen Waldersee die Klagen, daß Bismarck insbesondere iin Jahre 1887 dem Drängen gewisser militärischer Kreise zum Präventivkriege so entschiedenen Widerstand entgegensetzte.*) Sehr zutreffend schreibt das „Journal of British Institute of International Affairs" im Januarheft 1923 (Seite 2), wenn die veröffentlichten Dokumente tatsächlich alles Wissenswerte wiedergeben, so ist „unser Glaube bestätigt, daß Bismarck von 1871 bis zu seinem Sturze die Säule des europäischen Friedens gewesen ist". Es ist wohl nunmehr zu hoffen, daß endlich auch aus der englischen und französischen Geschichtsschreibung die Legenden verschwinden werden, Deutschland habe1 1875 anläßlich der raschen französischen Armeereorganisation und 1887 anläßlich des harmlosen Schnäbelezwischenfalls Frankreich mit Krieg überziehen wollen. In der Zeit nach Bismarck war die deutsche Politik zweifelsohne von weit weniger zielsicherer Hand geleitet. Mit Recht kann vieles an den Methoden dieser Wilhelminischen Epoche getadelt werden. Mancher diplomatische Schachzug geschah, den ein überlegener Spieler wie der erste Kanzler niemals gutgeheißen hätte. Unnötig starkes Hervortreten der Person des Monarchen, herausfordernde Reden, kriegerisch klingende Phrasen, theatralische Gesten gaben böswilligen Kreisen im Auslande Teichlichen Anlaß zu hetzerischer Propaganda, ohne dabei die Gesrner einzuschüchtern, da sie wohl erkannten, daß hinter diesen Worten und Gesten kein starker Wille stand. Aber nach der unter Eid vor Gericht abgegebenen Aussage von Männern, die die vielen tausend Aktenbände des Auswärtigen Amts durchforscht haben, findet sich in ihnen kein „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914", Sammlung der Akten des Auswärtigen Amts, Band in, Nr. 693, S. 431. *) Siehe Beleg Nr. 3, S. 187.

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Günstige Gelegenheiten zum Kriege

einziges Dokument, das einen Kriegswillen bekundet.5) Die einfachste Ueberlegung ergibt doch ferner, daß wenn der Wunsch nach einem Argriffskriege oder auch nur nach einem Präventivkriege seit Jahrzehnten bestanden hätte, dieser Krieg dann herbeigeführt worden wäre, als die politisch-militärische Lage dafür günstig war. An solchen günstigen Gelegenheiten hat es wahrlich nicht gefehlt. Zunächst darf an die Lage im Herbst 1898 erinnert werden. Damals mußte Frankreich auf Britanniens Geheiß bei Faschoda die Trikolore niederholen. In den englischen Häfen wurden schon die Kriegsschiffe gerüstet, um gegen Frankreichs Küste und Kolonien auszulaufen. England hatte zudem im Frühjahr Bündnisverhandlungen mit Deutschland zum Schutz gegen französische und russische Bedrohung eingeleitet und wäre daher der Berliner Regierung wohl kaum in den Arm gefallen, wenn diese die Gelegenheit ausgenützt hätte, um die Rechnung mit dem westlichen Nachbarn endgültig zu begleichen. Während der ganzen Dauer des Bürenkrieges von 1899 bis 1902 wäre England sodann nicht in der Lage gewesen, auch nur einen Mann oder ein Geschütz zur Unterstützung Frankfeichs auf den Kontinent zu entsendet. Auch setzte das Londoner Kabinett seine Werbung um ein Bündnis mit Deutschland bis Ende 1901 andauernd fort, sodaß schon aus diesem Grunde eine Stellungnahme zu Gunsten Frankreichs gegen Deutschland als ausgeschlossen angesehen werden darf. Wenn man nun einwenden kann, daß sowohl 1898 als auch während des Burenkrieges ein Anlaß zu einem deutsch-französischen Kriege nicht gegeben war, so ist darauf zu erwidern, daß für den, der den Krieg will, sich ein Anlaß leicht findet; jedenfalls aber gilt dieser Einwurf nicht für die nun folgende weitaus günstigste Gelegenheit zu einem deutschen Präventivkriege während des Marokkokonflikts von 1905/06, als Rußland durch die Niederlagen in der Mandschurei und die innere Revolution völlig gelähmt und zur Waffenhilfe an Frankreich unfähig war. Zwar bestand damals schon die' Entente cordiale der Westmächte, die Besprechungen des französischen und englischen General- und Admiralstabes hatten im Januar 1906 begonnen,") die englische Flotte konnte ebenso wie während des Weltkrieges die deutsche Flagge von allen Meeren vertreiben und die Eroberung der deutschen Kolonien ermöglichen, aber auf dem entscheidenden europäischen Kriegsschauplatz boten die wenigen Divisionen des britischen Expeditionskorps keinen irgendwie zureichenden Ersatz für die ausfallenden Millionene ) Aussagen von Dr. Friedrich Thimme und Dr. Johannes Lepsius im Prozeß Fechenbach-Coßmann (betr. die Fälschungen bayerischer Gesandtschaftsberichte). „Süddeutsche Monatshefte", Mai 1922. •) Rede Grey's im Unterhanse am 3. August 1914 (Anhang zum englischen Blaubuch) und Viscount Haldame „Before the War", S. 30—31.

Günstige Gelegenheiten zum Kriege

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heere des Zaren, sie konnten zudem nach dem Zeugnis des Kriegsministers Häldane im Jahre 1906 nicht vor zwei Monaten und selbst dann zunächst nur in der geringen Stärke von 80 000 Mann, der halben Stärke von 1914, operationsbereit auf dem Kontinent erscheinen.7) Auch im französischen Heerwesen selbst klaiften noch bedenkliche Lücken, wie die französische Presse im Frühjahr 1922 erneut bestätigt hat.8) Deutschland konnte damals den Schutz des Ostens ruhig der Landwehr und dem Landsturm überlassen, die gesamte Macht an aktiven und Reservetruppen aber nach dem Westen werfen. Nimmt man im übrigen einen ähnlichen Verlauf der Ereignisse an wie 1914, so war Frankreich völlig niedergeworfen, bevor der erste englische Soldat seinen iBoden betrat. Der Anlaß zum Kriege war in der Marokkofrage gegeben. In Paris wollte ihn Deleasse, in Berlin war Herr von Holstein zum mindesten kein unbedingter Gegner solcher Lösung. Die deutsche Politik ging jedoch ganz andere Wege. Man mag manches an ihrem Verfahren aussetzen, insbesondere die dem Kaiser gegen seinen Wunsch abgerungene Landung in Tanger scharf tadeln, aber ein Herfallen über die Nachbarn lag nicht im Plane der Berliner Regierung. Sie war davon soweit entfernt, daß sie im Gegenteil dem Phantom eines-Kontinentalbundes nachjagte. Das mag töricht, ja utopisch genannt werden, kriegslüstern war es sicher nicht. Dabei darf noch auf ein Moment hingewiesen werden. Die beiden Männer, die damals Kriegspolitik trieben, Deleasse mit entschiedenem Willen, Holstein mit schwankenden! Entschlüsse, mußten vom Schauplatz abtreten. Deleasse kam später wieder, Holsteins Rolle war mit seiner Entlassung für immer ausgespielt. Somit hat die deutsche Politik während der ersten fünfzehn Jahre nach Bismarcks Abgang, den Lehren des ersten Kanzlers getreu, nicht weniger als dreimal den Gedankeli eines Präventivkrieges trotz günstiger militärisch-politischer Lage1 abgelehnt. In der folgenden zusammenhängenden Darstellung der Ereignisse vom Jahre 1907 ab wird sich ergeben, daß noch weitere drei Gelegenheiten zu einem solchen vorbeugenden Waffengang nicht ausgenützt wurden, so während der bosnischen Krise von 1908/09, der zweiten Marokkokrise von 1911, endlich der drei Balkankriege von 1912 und 1913. Ein vierter Punkt der These von Versailles, die angeblichen übertriebenen d e u t s c h e n R ü s t u n g e n , wird gleichfalls im nachstehenden zweiten Teile behandelt werden, und zwar für die Zeit bis 1907 bei den Haager Conferenzen, fiir die Zeit von 1907 bis 1914 in einem besonderen Abschnitt. 8

Haidane loc. cit., S. 165. ) „Eclair" vom 17. und „Gaulois" vom 19. Mäxz 1922.

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II. Teil.

Die Vorgeschichte. 1. Die Weltlage im Jahre 1907. Die Jahrhundertwende zeigt eine Hochblüte des Imperialismus, der Bich damals insbesondere den Osten Asiens und Afrikas zum Ziele erkoren hat. Japan und die Vereinigten Staaten sind in die Weltpolitik und in die Reihe der großen Kolonialmächte eingetreten. Großbritannien steht im politischen Zwieifrontenkampf gegen Rußland in Ostasien und bis 1899 gegeh Frankreich in Afrika. Die englischen Bündnisangebote an Deutschland gingen nicht etwa aus von englischen Pazifisten, diese waren vielmehr Gegner einer solchen Bindung, sondern vbn den ausgeprägtesten Vertretern des Imperialismus. Die Rede Ohambe'rlains in Birmingham vom 12. Mai 1898 ist geradezu ein Hilferuf um einen Verbündeten gegen Rußland, der dann 1902 in Japan gefunden wurde. Der Burenkrieg' stieß zwar auf eine heftige Opposition in England selbst, aber gerade damals kapitulierte die Masse des englischen Liberalismus vor den Imperialisten. Asquith, Grey und Haidane, führende Mitglieder des Cobden-Clubs, wurden Vizepräsidenten der imperialistischen liberalen Liga. Im Sommer 1900 zogen alle Mächte gemeinsam nach China, wo die fortwährenden Amputationen am chinesischen Staatskörper den Anlaß zu einer sehr begreiflichen fremdenfeindlichen Bewegung gegeben hatten. Das Jahr 1904 brachte dann einerseits den Krieg Rußlands und Japans um Gebiete, auf die weder die eine noch die andere Macht Anspruch erheben konnte, andererseits den französischenglischen Vertrag gleichfalls über Länder, die Eigentum keiner der beiden Mächte waren, und zwar in den verschiedensten Teilen der Welt. Die Abmachung über Marokko und Aegypten bildete nicht nur in ihren veröffentlichten Teilen eine flagrante Verletzung eines internationalen Vertrags, der Madrider Convention von 1880, sondern war auch ein Muster von seltener Doppelzüngigkeit, da die 1911 bekannt gewordenen Geheimartikel die Aufteilung und Annexion von Gebieten vorsahen, deren Integrität und Unabhängigkeit im offenen Vertrag ausdrücklich anerkannt war. Nach dem russisch-japanischen Kriege, durch den England mittels japanischer Waffen den russischen Nebenbuhler aus

Dia Weltlage 1907

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Ostasien vertrieben hatte, gelang es 1907 der britischen Diplomatie, das so tief gedemütigte Zarenreich an sich zu ziehen und es trotzdem gleichzeitig auch im mittleren Orient vom eisfreien Meere fernzuhalten, indem Persien de facto zwischen beiden Mächten geteilt und die Küste dabei zur „Interessensphäre" Englands geschlagen wurde, das außerdem durch ein Protektorat über Tibet und ein Aufsichtsrecht über Afganistan das „Glacis" im Norden Indiens sich gesichert hatte. Japan aber durfte zum Lohne für seine Dienste die Unabhängigkeit Koreas völlig vernichten.1) So hatte' sich im Jahre 1907 eine Weltlage herausgebildet, gänzlich verschieden von der beim Abgang Bismarcks. 1890 gab es in Europa kein Bündnis, bei dem Deutschland nicht offener oder wie beim englisch-österreichisch-italienischen Mittelmeerabkomme'n stiller Teilhaber gewesen wäre, Frankreich war isoliert. Siebenzehn Jahre später besteht der fran zösisch-russisch-englische Dreiverband, Japan ist vierter Partner im fernen Osten, Italien seit 1902 durch den Neutralitätsvertrag mit Frankreich dem Dreibund innerlich entfremdet.") Deutschland und Oesterreich-Ungarn sind politisch vereinsamt. Es war schon die Gruppierung der Kräfte vollzogen, wie sie der Ausbruch des Weltkrieges zeigte. Auf der einen Seite drei Staaten, zu Lande und zur See' an Streitkräften und Streitmitteln gewaltig überlegen, insgesamt über 700, mit Japan und Italien über 800 Millionen Menschen in allen Erdteilen verfügend, auf der anderen Seite zwei Staaten in der Mitte Europas, die bei einem Kriege, in dem England als Gegner auftrat, sofort von allem überseeischen Verkehr abgeschnitten waren und auf knapp 1,20 Millionen Menschen zählen konnten. Die den Frieden gefährdenden Momente dieser Gruppierung aber waren die folgenden: Rußland, das den lange gesuchten Ausweg zum Weltmere sich nunmehr im fernen und mittleren Orient endgültig verlegt sah, wendete sich mit Naturnotwendigkeit seinen früheren Zielen im nahen Orient wieder zu, denen es seit 1897 zur Beruhigung Europas entsagt hatte: dem Balkan, den Meerengen, Constantinopel. Und diese „Rückkehr Rußlands nach Europa" war gefährlich für den Frieden insbesondere deshalb, weil Rußland beim Zurückgreifen auf seine früheren Ambitionen nicht mehr wie früher die immer abschreckend auf Petersburg wirkende Gegnerschaft Englands zu fürchteh hatte, sondern zum mindesten auf dessen Neutralität, wenn nicht sogar auf dessen aktive Unterstützung rechnen durfte. *) Die Hochblüte des Imperialismus ist ausführlicher dargestellt in ..Deutschland und die Scliuldfrage", S. 78—81 (Verlag für Politik und Wirtschaft, Berlin 1922). 3 ) Französisches Gelbbuch 1920 ..Les Accords franco-italiens 1901—02", Nr. 7.

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Die Weltlage 1907

Schlimm war ferner, daß sich seit dem Scheitern der deutsch - englischen Bündnisverhandlungen neben der Jahrhunderte alten deutsch-französischen und der Jahrzehnte alten russisch-österreichischen Gegnerschaft immer mehr ein durch die deutsche Flottenpolitik genährter deutsch-englischer Gegensatz herausbildete, der von Paris und Petersburg eifrig geschürt wurde. Und dieser Antagonismus Englands gegen Deutschland übertrug sich dann auch auf Oesterreich-Ungarn, das so oft gemeinsam mit Großbritannien der russischen Expansion auf dem Balkan entgegengetreten war, ja geradezu als dessen traditioneller Verbündeter gegen das Zarenreich gelten konnte. D,ie englisch-russische Verständigung über den nahen Orient war um so schwerwiegender, als das einzige großzügige Ziel deutscher Politik, der Bau der Bagdadbahn, das Deutsche Reich gleichzeitig in Gegensatz zu England und Rußland brachte und diese beiden alten Rivalen immer enger zusammenführte. Das Unternehmen war ja ursprünglich rein wirtschaftlich gedacht; es sollte deutscher Intelligenz und Tatkraft, deutschem Unternehmungsgeist und Schaffensdrang ein Feld der Betätigung bieten und einen Ersatz für die mangelnde koloniale Expansion. Deswegen wurde dieser „letzte offene Weg in dio weite Welt" ein Lieblingsplan aller derer, die der berechtigten Meinung waren, daß ein ständig sich mehrendes Volk von 60 Millionen nicht dauernd an die Scholle der engen Heimat gebunden sein dürfe. Doch das Unternehmen hatte politische Folgen und ging insofern über das rein Wirtschaftliche hinaus, als es die Türkei nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch kräftigen mußte. Diese Wirkung aber Wollte Rußland nicht, da es hierin ein Hindernis für seine historischen Ziele sah. England seinerseits scheint von der schwer verständlichen Besorgnis erfaßt worden zu sein, Deutschland könne Indien bedrohen, wenn es einen Schienenstrang an den Persischen Golf lege. Diese für den Frieden Europas und die Sicherheit der Mittelmächte höchst bedrohliche Lage war entstanden nicht ohne schwere Versäumnisse der deutschen Politik, als deren schwerste wohl die1 Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrags mit Rußland im Jahre 1890 und das Verschleppen der englischen Bündnisang'ebote von 1898 bis 1901 bezeichnet werden müssen. Aber die wesentlichste Ursache war doch der imperialistische Wettlauf der großen Kolonialmächte, ihr Bestreben, immer weitere Teile der Erdoberfläche sich zu unterwerfen, wobei die1 schlimmsten Sünden geg'en die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Asiens und Afrikas begangen wurden. Auch Deutschland war an diesem Wettlauf und an diesen Sünden beteiligt durch die Wegnahme von Kiautschou, den Zug nach China und die harte Unterdrückung des Herero-

Der Plan zur ersten Haager Konferenz

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Aufstandes, aber der deutsche Anteil war wahrlich bescheiden im Vergleich zur Beute und zu den Sünden der anderen. 2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907. Auf den Haager Konferenzen handelte es sich um zwei große Probleme: Herbeiführung eines Stillstandes der Rüstungen und Auffindung von Mitteln zur friedlichen Beilegung internationaler Konflikte. Ein großer Teil des Auslandes glaubt, und auch in Deutschland selbst glauben noch viele, daß einzig und allein das Deutsche Reich eine glückliche Lösung dieser beiden Probleme verhindert habe. Die Tatsachen belehren uns eines anderen. Auch die Auffassung, daß der Zar und seine Minister bei dem Vorschlage 1898 von reiner Friedensliebe geleitet gewesen seien, kann nicht mehr aufrecht erhalten wenden. Wie Dr. Thimme am 2. Mai 1923 auf Grund der deutschen Akten im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß nachgewiesen hat, strebte der damals einflußreichste russische Minister Witte einen deutsch-russisch-französischen K ontinentalbund an und setzte dem deutschen Botschafter immer wieder auseinander, daß das von den Kontinentalmächten so töricht in Rüstungen gegeneinander verschwendete Geld weit besser zu Flottenrüstungen gegen England verwendet werden könnte. Tatsächlich wurde auch gerade 1898 das russische Flottenbauprogramm erheblich erweitert. Aus den Memoiren Wittes (französische Ausgabe S. 83 f.) geht ferner hervor, daß der Abrüstungsplan mit aus dem Grunde entstand, weil Oesterreich-Ungarn eine' starke Artillerievermehrung beabsichtigte, zu der Rußland einstweilen die Mittel fehlten. An Stelle der von Kriegsminister Kuropatkin vorgeschlagenen Verständigung mit Oesterreich, die Witte für „unpraktisch" und „bizarr" hielt, schien ihm eine allgemeine Rüstungspause vorteilhafter zu sein. Unter Hinweis auf den Krieg mit Japan schreibt Witte dann noch: „Auf jeden Fall zeigten wir selbst, daß unser Gerede über Abrüstung und Frieden nur hohle Phrase war". a) D i e

Rüstungen.s)

Deutschland hat von 1871 bis 1890 an einer Heeresstärke von etwa eineta Prozent festgehalten, obwohl infolge dieses geringen Satzes viele Taugliche alljährlich vom Waffendienst befreit wurden. Die Friedensstärke betrug 1871 bei einer Bevölkerung von etwas über 40 Millionen 402 000 Unteroffiziere und Männschaften und 1890, als sich die Bevölkerung auf 49 Millionen erhöht hatte, 487 000. ') Näheres über die Abrüstungsversuche von 1899 und 1907 siehe „Deutschland und die Schuldfrage", S. 73—78 und 81—91.

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Die Frage der Rflstungseinschränlcung 1899

Frankreich hatte schon 1875 sein Heer wieder vollkommen reorganisiert und ihm eine dem deutschen gleiche Stärke gegeben. Es hielt bis 1889 an der veralteten fünfjährigen Dienstzeit fest, und als es in jenem Jahre endlich zur dreijährigen überging, wurde die allgemeine Wehrpflicht, die in Deutschland nur auf dem Papier stand, auch tatsächlich durchgeführt. So kam efe, daß in dem Zeitraum 1890—1892 im Jahresdurchschnitt an Rekruten eingestellt wurden: in Deutschland bei einer Bevölkerung von rund 50 Millionen einschließlich der Einjährig-Freiwilligen 198 000 Mann, in Frankreich bei einer Bevölkerung von nicht ganz 40 Millionen 216 000 Mann, von denen ein Teil jedoch nur ein Jahr unter der Fahne gehalten wurde. Nach weiteren drei Jahren würde Frankreich trotz einer um 10 Millionen geringeren Bevölkerung in den jüngsten Jahrgäng-en 100 000 ausgebildete Soldaten mehr ins Feld haben stellen können als Deutschland. Deswegen und mit Rücksicht auf das inzwischen vollzogene russisch-französische Bündnis entschloß man sich in Deutschland zu einer etwas weitergehenden Anspannung der Wehrkraft, jedoch unter gleichzeitiger Herabsetzung der aktiven Dienstpflicht bei den nicht berittenen Waffeh von drei auf zwei Jahre. Durch das Reichsmilitärgesetz von 1893 wurde mit 557 000 Unteroffizieren und Mannschaften bei einer Bevölkerung von 51 Millionen das Prozentverhältnis auf 1,09 gesteigert. Aber schon das nächstfolgende Gesetz von 1899 hielt mit der Volkszunahme nicht mehr gleichen Schritt. Diese betrug vier Millionen, die Heeresverstärkung indes nicht 40 000, sondern nicht einmal die Hälfte, nämlich 16 000 Köpfe. Bei Zusammentritt der ersten Haager Konferenz waren die Friedenspräsenzstärken der Heere der kontinentalen Großmächte die folgenden: Staat Deutschland Österreich Italien Frankreich Rußland

Bevölkerung Friedenspräsenzstarke in Millionen

55 45,3 32 88,5 130

Prozentsatz

Bemerkung

604 000 *) 346 000 258 000

14 0,76 0,8

574 000 896 000

1,49 0,69

*) ohne Offiziere usw. u n d o h n e Einjährige 570 000 = 1,04°/o

einschl. Offiziere, Ärzte, Beamte

Der absoluten Zahl nach stand Rußland weitaus an erster Stelle, der prozentualen Belastung der Bevölkerung nach aber weitaus Frankreich. Sehr schwach war 1899 die deutsche Rüstung zur See. In einer 1893 von der britischen Admiralität herausgegebenen Flottenübersicht stand Deutschland mit 87 Schiffseinheiten an

Die Frage der Rflstungsemschränkung 1899 und 1907

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fünfter Stelle, während Großbritannien 325, Frankreich 220, Rußland 130, Italien 93 Einheiten zählten. Erst 1897 stellte Deutschland das erste, sehr bescheidene Flottenprogramm auf. Oesterreich-Ungarn kam als Seemacht überhaupt noch nicht in Betracht. Der russische Gedanke, einen Stillstand der Rüstungen herbeizuführen, war von allen Großmächten mit der größten Skepsis aufgenommen worden, wie die Instruktionen der deutschen, amerikanischen und englischen Delegierten sowie der französische Konferenzbericht beweisen.4) Die auf der Konferenz formulierten russischen Anträge waren wenig glücklich. Sie sahen einen fünfjährigen Stillstand der Friedensstärken der Landheere und der Heeresausgaben vor, nahmen davon jedoch die Kolonialtruppen aus, worunter nach russischer Erläuterung auch die Truppen in Zentralasien und im Amurgebiet zu verstehen waren. Das war denn doch für alle Mächte, die keine Kolonialtruppen besaßen, von vornherein unannehmbar. Die Anträge fielen denn auch sowohl in der Unterkommission als in der Vollkommission mit allen Stimmen g'egen die des völlig isolierten russischen Vertreters. Die russischen Anträge über die Flotten waren ähnlicher Art und hatten kein besseres Los. Eine grausame Ironie ist die wenig bekannte Tatsache, daß die britische Admiralität Ende Juli, noch vor Schluß der Konferenz, 472 Millionen Mark für Schiiisneubauten forderte mit der Begründung, daß Rußland sein Flottenbauprogramm nicht abgeändert habe. Das russische Programm für die zweite Haager Konferenz sprach nicht mehr von Abrüstung, man war infolge des japanischen Krieges an diesem Gedanken irre geworden. Ein öffentlicher Feldzug, den der englische Premierminister Sir Henry Campbell Bannermann im Frühjahr 1907 zu Gunsten der Aufnahme der Abrüstungsfrage in das Konferenzprogramm einleitete, stieß auf Ablehnung, nicht etwa nur in Deutschland, sondern ganz besonders auch in Frankreich, wo der „Temps" eine in den schärfsten Tönen gehaltene Absage erteilte.5) Es scheint, daß Rußland schließlich aus Rücksicht auf England zu einem gewissen Entgegenkommen hinsichtlich deT formellen Behandlung der Angelegenheit bereit war, aber infolge der Stellungnahme nicht nur Deutschlands, sondern, wie nochmals betont werden muß, insbesondere auch Frankreichs wurde das Problem auf der zweiten Konferenz überhaupt nicht erörtert sodaß es wiederum bei einer nichtssagenden Resolution verblieb. 4 ) Diese Instruktionen und den französischen Konferenzbericht siehe loc. cit., S. 81—82. B ) Artikel Campbell Bannermanns in der ,.Nation" vom 1. März 1907 und die Antwort des „Temps" siehe loc. cit., S. 86—87.

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Die Frage der Rtistungseinachränfcnng 1907

Die Stärken der Landheere waren 1907: Staat

Bevölkerung Friedenspräsenzstärke in Millionen

einschl. Offiziere usw.

Prozentsatz

Deutschland

6 2

629 000 *)

1,01

Oesterreich

48,2

382

000

0,79

Italien

33,8

284000

0,84

559 000

1,43

1 254 000

0,83

Frankreich Kußland

39,2 150

Bemerkung * ) ohne Offiziere usw. und E i n j ä h r i g e 585 000 =

0,94o/o

Wiederum steht wie 1899 Rußland der absoluten Zahl nach, Frankreich der prozentualen Belastung nach weitaus an erster Stelle. Rußland ist dreimal so stark wie Oesterreich, zweimal so stark wie Deutschland, für sich allein deü. beiden Mittelmächten erheblich überlegen. In Deutschland ist der Prozentsatz an Mannschaften und Unteroffizieren bedenklich unter das 1871 bis 1890 festgehaltene eine Prozent heruntergegangen. Oesterreich vernachlässigt seine Wehrkraft in einer kaum mehr verantwortlichen Weise. Es zählt 9 Millionen Einwohner mehr als Frankreich, sein Friedensheer erreicht jedoch nur zwei Drittel der Stärke des französischen; außerdem wurden alljährlich noch eine Anzahl Ersatzreservisten einer militärischen Ausbildung unterzogen, die damals indes nur acht Wochen betrug. Zur See hatte Deutschland nun allerdings das kleine Programm von 1897 im Jahre 1900 verdoppelt, sodaß bis 1917 — nach dem 1907 bestehenden Plane — 34 Linienschiffe vor handen gewesen wären. Auch war man 1906, dem englischen Beispiele folgend, zum Bau von Großkampfschiffen übergegangen und hatte in demselben Jahre die Zahl der großen Kreuzer vermehrt. Endlich war eine Flottennovelle in Vorbereitung, die die Lebensdauer der Schiffe nach dem Muster anderer Seemächte herabsetzen und infolgedessen das Tempo für Neubauten beschleunigen sollte. Alle diese Maßnahmen bedeuteten ganz gewiß keine „Bedrohung" des immer noch gewaltig überlegenen Englands, aber da die deutschen Maßnahmen jenseits des Kanals als Bedrohung aufgefaßt wurden, würde es politisch klug gewesen sein, die öffentliche Meinung dort durch ein Flottenabkommen zu beruhigen. Zu Lande hingegen war es wahrlich nicht an Deutschland und seinem einzigen noch treuen Verbündeten, mit einer effektiven Rüstungsminderung voranzugehen. Jedoch würde es sowohl 1899 wie 1907 weise gewesen sein, diese Frage großzügig von hoher Warte aus anzufassen. Gerade die ungünstige politische Lage von 1907 hätte dazu auffordern sollen. Ein Vorschlag zum Beispiel nach dem sozialdemokratischen Erfurter

"Verhandlungen über Schiedsverfahren 1899 und 1907

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Programm „Erziehung des ganzen Volkes zur Wahrhaftigkeit" bei starker Verkürzung der Dienstzeit oder ein Vorschlag dahin, daß die Friedenspräsenzstärke einschl. Offiziere usw. ein Prozent der Bevölkerung nicht übersteigen dürfe, würde Deutschland die Sympathien der ganzen Welt erworben, seine Annahme zugleich die deutschen Lande auf immer vor französischer Besetzung1 gesichert haben. Frankreich freilich, mit seiner ungeheuerlichen Anspannung der Wehrkraft, würde schwerlich auf solche Vorschläge eingegangen sein. Aber es wäre dann der unzweideutige Beweis dafür erbracht gewesen, durch wessen Schuld der europäische Kontinent nicht von der Last der großen stehenden Heere befreit werden konnte. b) D a s

Schiedsverfahren.

Auf der ersten Konferenz erhob Deutschland zuerst Widerspruch gegen die Errichtung eines ständigen Schiedshofes, ließ seinen Widerstand aber dank der energischen Vorstellung des deutschen Delegierten, Professors Zorn fallen, sodaß ein durchaus befriedigendes Ergebnis erzielt wurde. Die letzte Sitzung trug „einen geradezu dramatischen Charakter im Sinne allgemeinen Friedenswillens" und die Konferez endete in „voller Eintracht aller Staaten". 6 ) Auf der zweiten Konferenz allerdings stimmte Deutschland zusammen mit Oestetreich-Ungarn, der Türkei, der Schweiz und vier Balkanstaateh gegen den vorgeschlagenen o b l i g a t o r i s c h e n Schiedshof, während Italien, Japan und Luxemburg sich der Abstimmung enthielten/) sodaß infolge mangelnder Einstimmigkeit das Obligatorium zu Fall kam. Dieses Obligatorium bezog sich indessen nur auf den „Schiedshof", der in erster Linie zur Schlichtung j u r i s t i s c h e r Streitfragen bestimmt war. Eine Einführung des Obligatoriums für die Institutionen, die der Schlichtung rein p o l i t i s c h e r Streitfälle dienen sollten, also für die „Vermittlung", für die „guten Dienste" und für die „internationalen Untersuchungskommissionen" kam auch auf der zweiten Konferenz nicht in Frage. Für diese Schlichtungsmittel blieb es nach allgemeiner Uebereinstimmuung bei der „Umstandsklausel" und der „Ehrenklausel", die eine Anwendung in wirklich ernsten Fällen von vornherein ausschlössen. Ferner hatte Deutschland mit zwei Schiedsverträgen, die es 1904 mit England und den Vereinigten Staaten abgeschlossen hatte, schlechte Erfahrungen gemacht. Bei der Entschädigung ") Prof. Phil. Zorn „Die beiden Haager Friedenskonferenzen' 4 , S. 39. 7 ) A. H. Fried „Handbuch der Friedensbewegung", 1911, S. 252. Zorn gibt das Stimmenverhältnis etwas anders an.

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Das Verhalten Deutschlands im Haag

deutscher Reichsangehöriger für die im südafrikanischen Kriege erlittenen Verluste lehnte England die schiedsgerichtliche Regelung ab, weil die Streitmaterie nicht eine Rechtsfrage, sondern eine politische Frage sei, auch Fragen dieser Art die Lebensinteressen der Nation berührten. Der Schiedsvertrag mit den Vereinigten Staaten aber scheiterte daran, daß der amerikanische Senat sich in jedem Einzelfalle das Recht vorbehalten wollte, den vorgeschlagenen Ausgleich anzunehmen oder zu verwerfen. In dritter Linie darf nicht übersehen werden, daß Deutschland in sehr vielen Handels- und ähnlichen Verträgen die Schiedsklausel eingeführt hat, ja mit der Anzahl solcher Verträge — siebenzehn —• an der Spitze aller Staaten stand. Endlich sind gerade 1907, dank dem deutsch-engliaejieii Zusammenarbeiten, große Fortschritte auf dem Gebiete der Schiedsgerichtsbarkeit erzielt worden. Dahin gehört die Gründung eines internationalen Prisenhofes, nach A. H. Fried des „ersten wirklichen internationalen Schiedsgerichtshofes, der ohne Einschränkung durch Ehrenklauseln zu entscheiden habe". Ebenso verdienstvoll war die Regelung des Seekriegsrechts, die als Folge der zweiten Haager Konferenz in der Londoner Seerechtserklärung vom Februar 1909 zum Ausdruck kam. Leider wurden beide Entwürfe nicht zur großen Tat, da die englische Regierung wegen der militaristisch-imperialistisch m Opposition des Oberhauses die Ratifikation nicht vorzunehmen wagte. Der Vorwurf, Deutschland habe ein auf obligatorische Schlichtung aller Streitfragen abzielendes Abkommen, gleichviel ob die Fragen juristischer oder politischer Art wären, gleichviel ob sie Lebensinteressen und Ehre beträfeil oder nicht, auf der zweiten Haager Konferenz zu Fall gebracht, ist unwahr. Er beruht auf Unkenntnis oder Lüge und. ist-ein Kind der Kriegspropaganda und des Deutschenhasses, genau so wie die Legende von den übertriebenen deutschen Rüstungen und dem einseitigen, gänzlich isolierten Widerstande des Deutschen Reichs gegen angeblich ausführbare Abrüstungsvorschläge. Daß im Einzelnen das taktische Verhalten der deutschen Regierung im Haag nicht durchweg glücklich war, soll durch Entlarvung dieser Lügen nicht bestritten werden. Wie wenig aber Rußland, Frankreich, England, die Vereinigten Staaten und Japan gerade auf Grund ihrer von 1899 bis 1907 befolgten Politik berufen sind, sich als Vertreter des Friedensg'edankens und als Beschützer der Unabhängigkeit der Nationen hinzustellen, das beweisen die Auswüchse des Imperialismus, wie sie bei Schilderung der Weltlage von 1907 (Seite 8 £f.) kurz gestreift worden sind.

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3. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina. Es war ein Moment von weittragender Bedeutung, daß Oesterreich-Ungarn sich zur Umwandlung der seit 1878 bestehenden Okkupation von Bosnien und der Herzegowina in eine Annexion erst entschloß, nachdem Rußland infolge der Verriegelung des Ausweges zum Ozean im fernen und mittleren Orient sich nach dem nahen zurückgewendet hatte, und nachdem der lange für unüberbrückbar geltende russisch-englische Gegensatz beglichen war. Auch ein Personenwechsel war wichtig. Der Mann, der im Mai 1906 die Leitung der auswärtigen Politik des Zarenreiches übernommen hatte, Minister Iswolsky, war ein besonders überzeugter Anhänger der ^europäischen Orientierung" und entschiedener Gegner aller „Abenteuer" in Mittel- und Ostasien. Schon in einem Ministerrat vom 3. Februar 1908 führte er aus, daß der britische Botschafter ihm von der Gemeinsamkeit russischer und britischer Interessen im nahen Orient gesprochen habe, und entwickelte den Gedanken, daß sich dort sehr wohl militärische Operationen beider Mächte kombinieren ließen. Aber seine Frage, ob es möglich sei, den Boden einer streng defensiven Politik jetzt schon zu verlassen, wurde sowohl vom Kriegsminister als auch vom Ministerpräsidenten Stolypin unter Hinweis auf die Nachwehen des verlorenen Krieges und der Revolution entschieden verneint.") Die ersten Früchte seiner europäischen Politik durfte Iswolsky jedoch alsbald ernten bei dem gemeinsamen Widerstande des Dreiverbandes gegen den völlig harmlosen und in den Verträgen begründeten Plan Oesterreich-Ungarns zum Bau einer Bahn durch das Sandschak Nowibazar, den zwischen Serbien und Montenegro liegenden Landstreifen, nach Saloniki. Noch größer war der Erfolg der am 9. und 10. Juni 190S stattfindenden Zusammenkunft der russischen und englischen Monarchen und ihrer leitenden Minister in R e v a 1. Dort sprach man über die Notwendigkeit starker russischer Rüstungen zu Wasser und zu Lande, übet Reformen in Mazedonien sowie über Persien und Afganistan.') Nunmehr wendete sich Iswolsky dem eigentlichen Ziel seines Ehrgeizes zu, die Durchfahrt durch Bosporus und Dardanellen in einer mit den Interessen und dem Ansehen Rußlands vereinbaren Weise zu lösen. Das schmähliche Servitut, das die Westmächte im Pariser Vertrag von 1856 dem großen Reiche aufgezwungen hatten, auf dem Schwarzen Meere als Kriegsschiffe nur Nußschalen und an seinen Küsten keine Arsenale zu unterhalten, war zwar durch die Pontuskonferenz von 1871 dank der deutschen Siege und dank der diplomatischen Unter8 ) Prof. M. Pokrowski (Vorstand des Archivs der Sowjetregierung;) „Drei Konferenzen", S. 17—30. ") B. von Siebert „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre" S. 777—79.

s

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Meerengenfrage und Annexion von Bosnien und Herzegowina

Stützung Bismarcks beseitigt worden, aber noch immer durfte kein Kriegsschiff ohne Erlaubnis des Sultans die Meerengen passieren. Die Flotte des Schwarzen Meeres mußte untätig zusehen, als die Japaner die Schwesterschiffe vernichtetet. Indes, wohl wissend, daß er in London für diesen Wunsch schwerer ein geneigtes Ohr finden werde als für mazedonische und persische Pläne, suchte der russische Minister zunächst Fühlung mit dem Wiener Käbinet. Auch in der Donaumonarchie hatte 1906 ein wichtiger Personenwechsel stattgefunden. An die' Stelle des passiven Grafen Goluchowsky war der aktive Freiherr von Aehrenthal getreten. Der neue Außenminister war schon lange det Ansicht gewesen, daß die fortwährenden großserbischen Agitationen, die eine ernste Gefahr für den Fortbestand der Habsburger Monarchie bildeten, nur dann wirksam unterbunden werden könnten, wenn die seit 1878 auf englischen Vorschlag nach Beschluß des Berliner Kongresses von Oesterreich Ungarn okkupierten und verwalteten Provinzen Bosnien und Herzegowina Bestandteile des Donaustaates würden. Auf dieser Basis: für Oesterreich-Ungarn die Annexion der genannten Gebiete, für Rußland freie Durchfahrt seiner Kriegsschiffe durch die Meerengen, sollten die beiden Staatsmänner sich finden. Schon am 2. Juli 1908, wenige Wochen nach der Revaler Zusammenkunft übersandte Iswolsky dem Wiener Kabinett ein aide-mémoire, in dem ausgeführt war, Annexion und Meerengendurchfahrt seien zwar europäische Fragen, über die endgültig nur die Gesamtheit der Großmächte entscheiden könne, aber Rußland sei bereit, über beide Punkte mit Oesterreich einen Gedankenaustausch „im Geiste freundschaftlicher Wechselseitigkeit" zu pflegen.10) Es darf hier daran erinnert werden, daß der russische Minister damit durchaus keine völlig neue Konzession machte. In den Reichstadter Abmachungen vom Juli 1876, den Konventionen vom Januar 1877 und Juli 1878, den deutsch-österreichisch-russischen Neutralitätsverträgen von 1881 und 1884 hatte Rußland immer und immer wieder dem Donaustaate das Recht zur Annexion zuerkannt. Als 1887 nur mehr ein deutsch-russisches Abkommen ohne Oesterreich zustande kam, erklärte Minister von Giers, daß die Monarchie deswegen „der Freiheit, von der Okkupation zur Annexion zu schreiten" nicht verlustig gehe; allerdings war später bei der österreichisch-russischen Vereinbarung^ von 1897 über den Balkan eine Einigung in der Annexionsfrage nicht erzielt worden.1") 10

) Heinrich FYiedjung „Das Zeitalter des Imperialismus" II. S. 220. ) Erklärung Giers siehe „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914", Band V, Nr. 1074, S. 266. Oesterreiohischrussische Vereinbarung 1897 siehe Dr. A. Fr. Pribram „Die politischen Geheim vertrage Oesterreich-Ungarns 1879—1914", S. 18 urd 57. 11

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Die Besprechungen von Buchlau

Da kam im Juli 1908 der Sturm der j u n g t ü r k i s c h e n R e v o l u t i o n , die in zweifacher Richtung die zwischsn Petersburg und London einerseits, zwischen Petersburg und Wien andererseits besprochenen Fragen beeinflußte. England sah nun plötzlich in der Türkei nicht mehr einen kranken, der Bevormundung bedürfenden Mann, sondern ein zu neuem Leben erblühendes Staatswesen, von dem man annahm, es werde die Freundschaft mit dem „autokratischen" Deutschland gerne gegen die der westlichen „Demokratien" vertauschen. Von einem scharfen Druck auf Konstantinopel war nicht mehr die Rede, die englisch-russischen Abmachungen über Mazedonien waren erledigt. Auf der anderen Seite wurde für Wien die Frage der Annexion nunmehr tatsächlich dringlich. Schon forderten die Jungtürken, deren nationales Selbstbewußtsein sich kräftig bekundete, die Rückgabe der beiden Provinzen an den Sultan. Ferner sollte der jungen Türkei eine Verfassung gegeben werden. Das mußte daher auch endlich in Bosnien und der Herzegowina geschehen. Der Kaiser von Oesterreich aber konnte das nur tun, wenn er nicht nur der Okkupant und Administrator, sondern der Suverän der beiden Länder geworden war. Am 27. August antwortete Aehrenthal auf das aide-memoire Iswolskys. Der Kuraufenthalt des russischen Ministers in Karlsbad erleichterte weitere Unterhandlungen. Schon am 4. September gab Iswolsky dort dem serbischen Ministerpräsidenten Milowanowitsch einen Wink, er möge sich in das „Unvermeidliche" fügen.12) Der Serbe war damals der Ansicht,, daß die Annexion für sein Land annehmbar sei, wenn Oesterreich auf den Sandschak verzichte, wie das Aehrenthal von Anfang an in Aussicht genommen hatte.13) Am 15. September trafen sich Aehrenthal und Iswolsky in Buchlau, dem Landsitze des Grafen Berchtold, österreichischen Botschafters in Petersburg. Die dortigen Besprechungen wurdet nicht schriftlich niedergelegt, indes stimmen die Be richte von beiden Seiten über folgende Punkte überein: Oesterreich wird in der Annexionsfrage selbständig vorgehen, jedoch den Sandschak räumen; ebenso kann Rußland die diplomatische Regelung der Meerengenfrage' nach eigenem Ermessen in Angriff nehmen, Oesterreich wird die russischen Wünsche unterstützen; nach Regelung der beiden Fragen soll der neue Zustand auf einer europäischen Konferenz sanktionniert werden; der russische Außenminister wird von der bevorstehenden Annexion vorher verständigt werden. u ) H. Friedjung „Das Zeitalter des Imperialismus 1884—1914" II. 5. 226. " ) Dr. M. Boghitschewitsch (ehemaliger serbischer Geschäftsträger m Berlin) „Kriegsursachen", S. 152.



Iswolakys Enttäuschung in London

so

Aehrenthal hatte schon vorher, Anfang September, mit Deutschland, und Italien Fühlung genommen und von beiden Widerspruch nicht erfahren.") Iswolsky aber hatte den Ententegenossen von seinen Unterhandlungen nichts mitgeteilt, ihnen auch das aide-mémoire vom 2. Juli vorenthalten.16) Erst Anfang Oktober machte er sich auf, um nunmehr in Paris und London die Meerengenfrage zu betreiben, ward aber sehr kühl aufgenommen, da man nicht mit Unrecht darüber erstaunt war, daß solche Fragen zuerst mit dem Dreibund besprochen worden seien. Deutlich läßt sich auch verfolgen, wie Iswolsky allmählich umgestimmt wurde. Noch von Paris, wo den russischem Minister der Brief seines österreichischen Kollegen über die unmittelbar bevorstehende (am 6. Oktober ausgesprochene) Annexionserklärung erreichte,16) berichtet der serbische Gesandte am 5. Oktober, Iswolsky habe ihm gesagt: „Serbien und das serbische Volk verlieren nichts, sondern gewinnen effektiv. . . . Ich habe diesen Schritt Oesterreich-Ungarns vorausgesehen, und er hat mich nicht überrascht. Deshalb habe ich unsere Zustimmung dazu von der oben ausgesprochenen Bedingung (Räumung des Sandschaks) abhängig gemacht."17) Aber acht Tage später, am 13. Oktober, als die russischen Meerengenwünsche in London eine ungnädige Aufnahme gefunden hatten, meldet der dortige Vertreter Serbiens in gegenteiligem Sinne: „Iswolsky verhehlte nicht seinen Unwillen gegan Oesterreich und protestierte auf das energischste gegen die Behauptung, als ob er der Annexion zugestimmt hätte'."18) In London war man russischer als die Russen. Der sich um die Frucht seiner geheimen Abmachungen betrogen sehende russische Minister stimmte in den Chor des Unwillens ein und erging sich, im Widerspruch mit den Verabredungen von Buchlau, in lauten und heftigen Protesten. Rußland werde nicht in die Annexion einwilligen, Oesterreich müsse zum Erscheinen auf einer Konferenz gezwungen werden. In dem nun folgenden diplomatischen Konflikt ergab sich folgende Gruppierung der Mächte: England verlangte kategorisch die für Oesterreich demütigende Konferenz. Deutschland trat entschieden für Oesterreich ein. Italien aber fiel um und leugnete sein früheres Einverständnis.18) ") ") ") ") ") ")

Friedjung II., S. 227. loc. cit, S. 220. loc. cit., S. 232 und 247. Boghitschewitsch, S. 152 f. loc. cit., S. 157. Siehe Beleg Nr. 4, S. 187.

Rußland verschiebt den Kampf

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Rußland hätte gerne gefochten, konnte aber wegen Unfertigkeit des HeeTes nicht daran denken. Frankreich endlich war damals noch nicht so wie später gewillt, für russische Balkanziele Gut und Blut seines Volkes zu opfern. Daß Rußland damals militärisch noch nicht bereit war zu kämpfen, andererseits aber auf den Kampf nicht endgiltig verzichten, sondern ihn nur auf einen späterem günstigeren Zeitpunkt verschieben wollte, bezeugen mehrere Berichte des serbischen Vertreters in Petersburg. So meldet dieser am 3. März, das einflußreiche Dumamitglied Gutschkow habe ihm gesagt: „Ist unsere Rüstung einmal vollkommen ausgeführt, dann werden wir uns mit Oesterreich-Ungarn auseinandersetzen. Beginnt jetzt keinen Krieg, denn es wäre Selbstmord. Verschweigt Euere Absichten und bereitet Euch vor. Es weiden die Tage Euerer Freuden kommen."20) Am 10. März kann der Gesandte folgende Aeußerung Iswolskys berichten: „Serbien werde solange zu einem kärglichen Leben verurteilt sein, bis der Moment des Verfalls OesterreichUngarns eingetreten sein wird. Die Annexion habe diesen Moment näher gerückt, und wenn er eintritt, wird Rußland die serbische Frage aufrollen und lösen. Iswolsky sehe ein, daß der Kampf mit dem Germanentum unausweichbaT sei, doch sei die Politik Rußlands eine rein sliwophile."") Am 19. März konnte er melden, der Zar habe zum Dumapräsidenten sich dahin geäußert: „er habe die Empfindung, daß der Zusammenstoß mit dem Germanentum unvermeidlich sei, und daß man sich darauf vorbereiten müsse." Schon im November 1908 hatte der russische Monarch dem serbischen Ministerpräsidenten Paschitsch gesagt: „die bosnisch-herzegowinische Frage werde nur durch einen Krieg entschieden werden."") Bei dieser Konstellation siegte der deutsche Vermittlungsvorschlag, der am 23. März in Petersburg mit großer Entschiedenheit vorgebracht, dort trotzdem aber nicht ungern gesehen wurde, da er dem auswärtigen Minister einen ehrenvollen Rückzug aus einer recht gefährlichen Position bot. Der Vorschlag Berlins ging dahin, daß die Mächte nicht gemeinsam auf einer Konferenz, sondern einzeln jede für sich die Zustimmung zur Annexion aussprechen sollten.23) M

) ) ") 23 ) n

Deutsches Weißbuch Juni 1919 „Deutschland Bchuldig?" S. 112. loc. cit.. S. 114. Boghitschewitsch, S. 151 und 150. Siehe Beleg; Nr. 5, S. 188.

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Rußlands Groll gegen Oesterreich

Es war für den Augenblick ein großer diplomatischer Erfolg der Mittelmächte. Schon glaubte man in Berlin und "Wien, den Kreis der Entente gesprengt zu haben. Das jedoch war ein Trugbild. Man muß im Gegenteil sagen, daß wie die Marokkokrise von 1904—06 die französisch-englische Entente, ebenso die Annexionskrise von 1908—09 den französisch,-englisch-russischen Dreiverband fest zusammengekittet hat. Besonders groß war der Haß Rußlands gegen Oesterreich. Dreimal schon hatte das mächtige Zarenreich vor der schwachen verachteten Donaumonarchie zurückweichen müssen: 1854 im Krimkriege, 1878 nach dem Frieden von San Stefano, als die russischen Heere bereits vor den Toren Konstantinopels standen, 1887 in der bulgarischen Frage. Und jetzt ein viertes Mal! Der weltpolitische Unterschied aber war der, daß die ersten drei Male Gioßbritannien auf Seite Oesterreichs, das vierte Mal hingegen auf der Rußlands gestanden hatte. Dieser Haß Rußlands übertrug sich auch auf Deutschland, das den Bundesgenossen gedeckt hatte, und fand besonders scharfen Ausdruck in der russisch-bulgarischen Militärkonvention vom Dezember 1909, deren Artikel 5 mit den Worteh begann: „In Anbetracht dessen, daß die Verwirklichung der hohen Ideale der slawischen Völker auf der Balkanhalbinsel, die dem Herzen Rußlands so nahe stehen, nur nach einem günstigen Ausgang des Kampfes Rußlands mit Deutschland und Oesterreich-Ungarn möglich ist". . . ,21) Dazu ist noch zu bemerken, daß nach Artikel 1 des Vertrags Bulgarien zur Waffenhilfe an Rußland verpflichtet war im Falle eines bewaffneten Zusammenstoßes Rußlands mit Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Rumänien oder Rußlands mit der Türkei mit dem ausdrücklichen Zusatz „ungeachtet dessen, wer die1 Initiative zu diesen Zusammenstößen ergriffen haben sollte",46) also selbst im Falle eines zweifellosen Angriffs von russischer Seite. Wie würden die Gegner es in hellem Jubel ausbeuten, wenn in deutschen Aktenschränken ähnliche Dokumente zu finden wären, die in gleicher Weise Kriegswillen und Kriegswunsch bekunden! Man mag während der Annexionskrise manches tadeln an dem Vorgehen Aehrenthals und an der bedingungslosen Unterstützung, die Deutschland ihm gewährte; denn schließlich war es immerhin, so gering auch die Aenderung des tatsächlichen Zustandes sein mochte, die einseitige Kündigung eines internationalen Vertrags. Sicherlich bestand jedoch keine Absicht, einen allgemeinen Krieg zu entfesseln. Im Gegenteil, die v i e r t e G e l e g e n h e i t z u e i n e m P r ä v e n t i v k r i e g w u r d e n i c h t e r g r i f f e n . Die militä") Boghitschewitsch, S. 117. ") loc. cit. S. 115.

Deutschland für friedliche Regelung

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rische Lage war nicht mehr ganz so günstig wie 1905/06, aber das russische Heer war noch bei weitem nicht erholt, die Balkanstaaten durch den Sieg über die Türkei noch nicht gekräftigt, vor allem Frankreich noch nicht gesonnen, für serbische Zwecke zu fe'chten. Ein Neujahrsartikel des „Temps" sprach das mit aller Deutlichkeit aus. Wie wenig Berlin damals den großen Konflikt wünschte, beweist wohl zur Genüge die Tatsache, daß es gerade zur Zeit schwerster Krise, am 9. Februar 1909, mit Frankreich einen neuen Vertrag über Marokko schloß. Der kleine Konflikt aber, der Krieg Oesterreichs gegen Serbien, wäre damals, wie aus den drei Berichten der serbischen Gesandtschaft in Petersburg vom 3., 10. und 19—März hervorgeht, aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Einmischung dritter Mächte möglich gewesen. Schwer enttäuscht war der österreichische Generalstabschef, als am 28. März der von ihm erwartete Mobilmachungsbefehl gegen Serbien nicht erteilt wurde. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Nie entschlossen, die ihm günstigen Momente zu erfassen, wankte nun das alte Reich dem Unheil zu.26) Vom rein militärischen Standpunkt wird man dem General zustimmen müssen. Politisch jedoch waren die leitenden Staatsmänner Deutschlands und Oesterreichs im Recht, wenn sie solchen Wünschen nicht entsprachen. 4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909. Schon im Jahre 1908, zwischen den Besprechungen von Buchlau und seiner Reise nach den westmächtlichen Hauptstädten, hatte Iswolsky den italienischen Außenminister und den König selbst in die Abmachungen mit Aehrenthal über Meerengen und Annexion eingeweiht. Der Umschwung in der Haltung1 des Kabinetts von Rom gegenüber Wien, der infolge des Drucks der öffentlichen Meinung Englands eingetreten war, führte nunmehr Italien und Rußland noch enger zusammen. Der gemeinsame Haß gegen Oesterreich war auch hier det einigende Kitt. Bisher hatte Nikolaus II. aus Furcht vor den Drohungen der italienischen Sozialisten den Besuch Victor Emanuels nicht erwidert. Im Herbst 1909 aber fuhr er, österreichisches Gebiet ostentativ in weitem Bogen vermeidend, von Odessa zu Schiff nach Italien und hatte in dem südlich Turin liegenden Schloß Racconigi am 24. Oktober eine Zusammenkunft mit dem König. Dort kam ein Vertrag zustande, nach dem die beiden Mächte u. a. sich zu einer wohlwollenden Haltung verpflichteten, Italien, wenn Rußland die Meerengtenfrage aufwerfe, Rußland, wenn Italien nach Tripolis gehe. Längst vergangen waren die Zeiten, da Crispi erklärte, Italien könne „unter keinen Umständen zugeben, daß Rußland am Mittellän26

) Feldmarschall Conrad „Aus meiner Dienstzeit" I., S. 174.

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Italiens Annäherung an Rußland

dischen Meere Fuß fasse" und da er Oesterreich im Falle eines russischen Angriffs auf die Monarchie oder die Türkei 100 bis 200 000 Mann zur Verfügung stellte.") Die grundsätzliche Bedeutung des Vertrags lag darin, daß Italien, das mit Großbritannien seit jeher befreundet und mit Frankreich seit 1902 eng verbunden war, nun auch mit der dritten Macht der Entente enge Beziehungen angeknüpft hatte. Schon Ende 1908 hatte der italienische Außenminister erklärt, Italien sei entschlossen, beim Dreibund zu bleiben, habe aber auch eine „althergebrachte Freundschaft zu England, eine erneuerte Freundschaft zu Frankreich und eine neue Freundschaft zu Rußland in Form einer intimen Annäherung".") 5. Die Entspannung 1910. Das Jahr 1910 schien mit einer großen Entspannung beginnen zu sollen. Nikolaus II. teilte Wilhelm II. brieflich mit, daß vier russische Armeekorps von der Westgrenze in das Innere des Reichs zurückverlegt werden sollten.29) Tatsächlich handelte es sich um etwas ganz anderes. Die 1910 in Angriff genommene russische Heeresreorganisation vermehrte die Zahl der russischen Armeekorps um sechs, von 31 auf 37. Gleichzeitig wurden allerdings zwei, nicht vier Korps aus den westlichen Grenzbezirken in das Innere verlegt, aber das geschah lediglich zu dem Zwecke, um die Truppen behufs Erleichterung der Mobilmachung in den Bezirken unterzubringen, aus denen sie ihre Ergänzungsmannschaften erhielten, und die von der Grenze weggezogenen zwei Korps wurden durch zwei neugebildete ersetzt, Es ist schwer anzunehmen, daß der Zar sich über den Vorgang so vollkommen im Unklaren gewesen, daß er so vollkommen von seinen militärischen Ratgebern hinters Licht geführt worden sei. Hat Wilhelm n . die Unaufrichtiglceit d^r Mitteilung später durchschaut? Jedenfalls war, wenn seine Briefe an den Zaren sämtlich veröffentlicht sind, der Brief, worin er für die erwähnte Mitteilung dankte, sein letztes Schreiben politischen Inhalts an Nikolaus H. Zwischen Rußland und Oesterreich trat eine äußerliche Entspannung insofern ein, als die während der Annexionskrise unterbrochenen normalen diplomatischen Beziehungen wiederhergestellt wurden. Gleichzeitig traf man eine Vereinbarung S7 ) Vollständigen Text des Vertrages von Racconigi siehe in „Un Livre Noir. Diplomatie d'Avant-Guerre d'après les Documents des Archives Russes" I., S. 357/8. Erklärung Crispis im Oktober 1887, siehe „Die Große Politik", Bd. IV. Nr. 917, S. 352. 2S ) Angeführt vom Abgeordneten Haussmann am 10. Dezember 1908 im Reichstag, Stenographischer Bericht, S. 6103. " ) Wilhelm II. dankt dafür am 11. Januar. Prof. Dr. W. Goeti „Briefo Wilhelms II an den Zaren 1894—1914" S. 258.

Die Potsdamer Abmachungen

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über Aufrechterhaltung des status quo auf dem Balkan. Serbien wurde darüber durch Iswolsky am 4. März beruhigt. Es bestehe „kein Anlaß zu Besorgnissen", es handle sich „weder um eine Aufteilung in Interessensphären noch um die Rückkehr zu früheren Verhältnissen" das hauptsächlichste Ziel sei der status quo sowie die „friedliche Entwicklung und die Unabhängigkeit der Balkanstaaten". 30 ) Etwas deutlicher hatte Tags vorher der russische Botschafter Nelidow an Iswolsky geschrieben, das Abkommen würde Rußland in den Stand setzen „in aller Sicherheit seine militärischen Kräfte auszubilden und sich für die Ereignisse vorzubereiten, die nicht vermieden werden können". 81 ) Rußland brauchte noch einige Jahre Zeit für Durchführung seines „großen Programms". Auch der Tod Eduards VII. am 6. Mai und der Rücktritt Iswolskys am 28. September vom Posten des Außenministers, den sein bisheriger „Gehilfe" Sasonow erhielt, brachten nicht die Entspannung, die man von beiden Ereignissen im Interesse des Friedens erhoffte. Die Anwesenheit Wilhelms II. bei der Beisetzung seines Oheims wurde von der öffentlichen Meinung Englands zwar hoch gewertet, aber die Leitung der Politik blieb in den Händen des gelehrigen Schülers des Königs, Sir Edward Greys. Iswolsky ging als Botschafter nach Paris und wirkte am Quai d'Orsay nicht weniger eifrig als bisher an der Sängerbrücke als Todfeind Oesterreich-Ungarns und daher auch Deutschlands. Zu einer wirklichen Entspannung kam es trotzdem im November bei einem Besuch Nikolaus II. in Potsdam durch die sogenannten P o t s d a m e r A b m a c h u n g e n . Darin gestand Deutschland den besonderen Einfluß Rußlands in Nordpersien zu, während Rußland versprach, dem deutschen Handel dort keine Schwierigkeiten zu bereiten, seinen Widerstand gegen die Bagdadbahn aufgab und der Herstellung einer deutschen Zweigbahn von Bagdad bis zur türkisch-persischen Grenze zustimmte. Außerdem, und das war das Wichtigste, erstreckten sich die Besprechungen auch auf die Verpflichtung, daß „kein Teil sich auf etwas einlassen werde, was eine aggressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte". Aber die schriftliche Fixierung gerade dieses Punktes wurde später von Sasonow verweigert, und zwar infolge des dreifachen Widerstandes, den die russische Intelligenz, die französische öffentliche Meinung und die britische Diplomatie einer ernstlichen Annäherung Rußlands an Deutschland entgegensetzten.32) 30 ) B. von Siebert (bis zum Kriegsausbruch Sekretär der russischen Botschaft in London) „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre", S". 120. 31 ) loc. cit., S. 118. ") Siehe Beleg Nr. 6, S. 188.

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6. Die zweite Marokkokrise 1911. Der deutsch-französische Vertrag von. 1909 über Marokko (S. 000) führte nicht zum angestrebten Ziele. Sobald die Regierungen von Berlin und Paris eine wirtschaftliche Verständigung angebahnt hatten, klagten Kapitalistengruppen in beiden Ländern über die Preisgabe vaterländischer Interessen. Die französischen Kolonialpolitiker wurden ungeduldig und drangen auf die Ausnützung der geheimen Verträge von 1904. England habe die Vorteile daraus in Aegypten längst geerntet, Warum solle Frankreich solange auf Marokko warten? Das Jahr 1911 brachte den ersehnten Vorwand zum Einschreiten. Im Januar wurde eine französische Kolonne überfallen, im Februar brach ein Aufstand gegen den Sultan aus. Nachdem die Regierung noch am 9. und 10. März erklärt hatte, sie werde sich mit Bestrafung der am Ueberfall Schuldigen begnügen, fordert© eine Woche später die Pariser Presse das Protektorat. Im April wurden Nachrichten verbreitet, die Hauptstadt des Scherifenlandes werde von Aufständischen belagert, die europäische Kolonie sei in Gefahr. Einen Tag nachdem die englische Regierung im Unterhause erklärt hatte (25. April) „Leib und Leben der Europäer sei nicht gefährdet" wurden diese von den Franzosen befreit".33) Als diese zunächst geheim gehaltene Tatsache der Besetzung von Fez bekannt gegeben wurde, löste sie in ganz Frankreich großen Jubel aus. Vergeblich hatte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am 30. April erklärt, daß die Unabhängigkeit des marokkanischen Herrschers „einen wesentlichen Bestandteil der Algecirasakte" bilde, und für den Fall einer Verschiebung der Verhältnisse infolge des Vorgehens Frankreichs „volle Aktionsfreiheit der Mächte" in Aussicht gestellt. In Paris hielt man es für überflüssig, mit dem politisch immer mehr vereinsamten Berlin auch nur zu sprechen. Die wachsende Unzufriedenheit der öffentlichen Meinung in Deutschland, die teilweise sogar die Erwerbung von Westmarokko forderte, veranlaßte endlich am 20. Juni die Anweisung an den französischen Botschafter Jules Cambon, mit dem Staatssekretär von Kiderlen Wächter über Kompensationen zu verhandeln. Gleichzeitig erging der Befehl zur Räumung von Fez, die erst Mitte Juli in der eigenartigen Weise zur Ausführung kam, daß an allen wichtigen Punkten von der Hauptstadt bis zur Küste französische Garnisonen zurückgelassen wurden. Inzwischen hatte auch Spanien, um der Vorteile des geheimen Vertrags nicht verlustig zu gehen, Truppen nach der ihm zugesprochenen marokkanischen Zone geworfen, worüber die französische Presse mit nicht sehr logischer Einseitigkeit heftig zürnte. Das 33 ) Bansard's „Parliamentary Debates", 1911, Bd. 24, S. 1601, und französisches Gelbbuch tlber Marokko Bd. VI, Nr. 255.

Der „Panther" vor Agadir

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lange Schweigen des Pariser Kabinetts hatte in Berlin zu dem Entschluß geführt, das Kanonenboot „Panther", ein kleines Fahrzeug von 1000 Tonnen mit 125 Mann Besatzung nach Agadir an der Westküste Marokkos zu entsenden, wo es am 1. Juli Anker warf. Erst die Veröffentlichung der deutschen Akten wird darüber Aufschluß bringen, ob anfänglich die Absicht bestan.d, sich dieses guten Hafenplatzes als Faustpfand zu bemächtigen. Tatsächlich geschah nichts dergleichen. Kein Mann wurde gelandet. Eine in Paris übergebene deutsche Note erklärte „die Auffassung der Akte von Algeciras über die Suveränität des Sultans und die Integrität Marokkos sei mit der tatsächlichen Lage unvereinbar. Die deutsche' Regierung sei bereit, in einen freundlichen Meinungsaustausch über eine Lösung der marokkanischen Frage einzutreten, und geneigt, jeden Vorschlag der französischen Regierung zu erörtern".34) Die Aufregung über das Erscheinen des „Panther" vor Agadir war in London größer als in Paris. Sir E. Grey sah in dem deutschen Vorgehen eine Bedrohung britischer Interessen und verkündete, Großbritannien müsse unbedingt an den deutsch-französischen Verhandlungen teilnehmen. Er schien also zu befürchten, daß Deutschland von Frankreich Rechte zugestanden werden könnten, die Englands wirtschaftliche oder •— durch Einräumung einer Flottenstation an der Nordküste Afrikas — strategische Interessen bedrohen würdeh.3") Auf eine französische Anfrage in London scheint sogar die Antwort erteilt worden zu sein „es dürfte sich empfehlen, den deutschen Eindringling durch eine Gegendemonstration lahmzulegen und zum Abzug zu veranlassen".30) Glücklicherweise war in Paris am 26. Juni ein neues Ministerium mit Josef Caillaux an der Spitze' ans Ruder gekommen, einem Manne, der ein wirtschaftliches Zusammengehen mit Deutschland anstrebte und daher Ratschlägen, die zum Kriege führen mußten, kein williges Ohr lieh, sondern die eingeleiteten Besprechung 3n fortsetzen ließ. Bei diesen griff Staatssekretär Kiderlen einen Gedanken auf, der schon 1905 die deutsche Diplomatie beschäftigt hatte. Er bot Jules Cambon volle Freiheit in Marokko, dazu Togo, sowie ein Stück von Kamerun und forderte als Entgelt den Teil des französischen Kongogebiets, der Kamerun vom großen Strome trennte. Wenn früher in Berlin M

) Französisches Gelbbuch über Marokko, Bd. VI. Nr. 418. Diese Folgerung ergibt sich aus der von Grey in seiner Rede vom 27. November 1911 mitgeteilten Aeußerung an den deutschen Botschafter, England habe sich Frankreich gegenüber in Marokko desinteressiert, aber gewisse „wirtschaftliche und strategische Forderungen" stipuliert. M ) Freiherr von Schoen „Erlebtes", S. 136. Das französische Gelbbuch über Marokko enthält nur in Nr. 439 eine Anfiage vom 8. Juli, ob England nicht auf eine Zurückziehung des „Panther" hinwirken

könne.

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Die Drohrede Lloyd Georges

die Absicht bestanden haben sollte, Kompensationen in Marokko selbst zu fordern, so war sie nunmehr jedenfalls aufgegeben. Frankreich wollte' jedoch nur den nicht an der Küste liegenden Teil seiner Kongokolonie abtreten. Als nach Mitte Juli die Verhandlungen stockten, griff plötzlich England mit außerordentlicher Schärfe ein. Die „Times" schlugen am 20. Juli Alarm und verstiegen sich zu der Behauptung, Deutschland erhebe Anspruch auf unbedingte Vorherrschaft in Europa (a claim for absolute European predominance). Dabei besaß Frankreich in Afrika ein nach Flächeninhalt und Bevölkerung dreimal so großes Gebiet wie Deutschland.37) Am folgenden Tage erklärte Grey dem deutschen Botschafter, man höre von unannehmbaren Förderungen Deutschlands, Gerüchte sprächen von deutschen Landungen in Agadir und ven der Absicht, dort einen Kriegshafen anzulegen, es empfehle sich, England zu den Besprechungen hinzuzuziehen. Am Abend hielt Lloyd George nach Rücksprache mit Asquith und Grey bei einem öffentlichen Festmahle eine Rede, worin er nach Verherrlichung der Friedensliebe Englands folgende Drohung ausstieß: „Wenn uns jedoch eine Lage aufgezwungen würde, in der der Friede nur erhalten werden könnte durch das Aufgeben der großen und wohltätige^ Stellung, die England sich in Jahrhunderten von erfolgreichen heldenhaften Anstrengungen errungen hat, und nur dadurch, daß Großbritannien in Fragen, die seine Lebensinteressen berühren, in einer Weise behandelt würde, als ob es kein Gewicht mehr im Rate der Nationen besäße, dann — ich betone es •— würde ein Friede um jeden Preis eine Erniedrigung sein, die ein großes Land wie das unsrige nicht hinnehmen könnte." Eine solche Sprache gegenüber einer Großmacht ist nur am Vorabend eines Krieges üblich. Die deutsche Regierung schwieg in der Oeffentlichkeit völlig und legte nur auf diplomatischem Wege Verwahrung ein. Auf die schroffen Aeußerungen Greys vom 21. war von Berlin schon die versöhnliche Antwort abgegangen, daß Deutschland keine übermäßigen Forderungen an Frankreich stelle und Landungen in Agadir weder vorgenommen habe noch auch beabsichtige. Nachdem aber der Wortlaut der Rede Lloyd Georges bekannt geworden war, wurde die Anfrage Greys, ob er diese Mitteilungen im Parlament verwerten könne, verneinend beantwortet. Ein schärfet Protest gegen die von deutsch-feindlicher Seite ausgehenden „Insinuationen" und gegen die „Halluzinationen" von der Schaffung eines deutschen Kriegshafens in Marokko S7 ) Die Besitzungen Deutschlands in Afrika umfaßten 2.7 Millionen qkm mit 11.16 Millionen Einwohnern die Frankreichs 9,58 Millionen qkm mit 35^63 Millionen Einwohnern.

Dent8ch-franggsi8ches Abkommen (November 1911)

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schloß mit dem Satze: „Sollte die englische Regierung die Absicht haben, die politische Lage zu verwickeln und zu verwirren und einer gewaltsamen Entladung entgegenzuführen, 80 hätte sie allerdings kein besseres Mittel wählen können als die Rede des Schatzkanzlers." Da manche' Ministerkollegen und viele Parteifreunde Greys mit der Drohrede durchaus nicht einverstanden waren, antwortete der britische Staatssekretär auf diese wohlverdiente Lektion sehr gemäßigt. Die Oeffentlichkeit erfuhr jedoch von diesen Auseinandarsetzungen nichts. Die Erregung dauerte fort. In Frankreich herrschte ein wahrer Freudentaumel über die Demütigung Deutschlands, aber auf die Beteiligung Englands an den Verhandlungen ging man auch am Quai d'Orsay nicht ein. Die Besprechungen zwischen Kiderlen und Cambon nahmen ihren Fortgang, stockteh indessen von neuem bald nach Mitte August. In ganz Europa steigerte' sich die Aufregung bis zur Fieberhitze; besonders über englische Rüstungen ist nachträglich viel bekannt geworden. Abkühlend aber wirkte auf London und Paris, daß man in Petersburg den Ententegenossen abwinkte und der Meinung Ausdruck gab, Deutschland wolle die Verständigung.38) Am 19. August 1911 wurden die deutsch-russischen Vereinbarungen über Persien und die kleinasiatischen Eisenbahnen unterzeichnet, die Potsdamer Abmachungen vom Vorjahre (S. 25) übten somit gerade in einem entscheidenden Moment doch eine erfreuliche Wirkung aus. Andererseits betonten halbamtliche österreichische Aeußerungen, daß der Marokkostreit die Donaumonarchie nichts angehe. Immerhin blieb die Stimmung noch lange gespannt, bis endlich am 4. November zwei Verträge zustande kamen, in denen Frankreich gegen die Zusage der Wahrung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands die freie Verfügung über Marokko, Deutschland eine Gebietsentschädigung am Kongo erhielt. Für die vorliegende Betrachtung kommt es darauf an, wio der Zwischenfall von Agadir gegenüber der These von Versailles zu bewerten ist. Der „Panthersprung" war sicher keine geschickte diplomatische Handlung. Er war geeignet, das französische Selbstbewußtsein zu verletzen und gleichzeitig als maritime Demonstration England auf den Plan zu rufen. Daß aber mit einem Boote von 1000 Tonnen mit 125 Mann Besatzung eine Kriegshandlung nicht eingeleitet werden kann, bedarf keines Nachweises. Sowie' die Lage ernst wurde, zog die Reichsregierung die diplomatische Niederlage der Störung des Friedens vor. Im übrigen mögen die Berichte der russischen Botschafter in London und Berlin sprechen."9) Am 16. August berichtete Graf Benckendorff, Grey habe ihm gesagt: M

) Französisches Gelbbuch über Marokko Band VI. Nr. 518 und 527; Siebert, S. 408 ff. 3 ») Siebert, S. 435 und 445.

Die fünfte Gelegenheit zum Präventivkrieg

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„Ich glaube nicht, daß Kaiser Wilhelm den Krieg gewollt hat, als dieser Zwischenfall entstand. Ich glaube auch nicht, daß er den Krieg heute will." Am 13. Oktober schrieb Graf Osten-Sacken: „Erstens hat Kaiser Wilhelm beim ersten Ausbruch der Krise beschlossen, es nicht zum Kriege kommen zu lassen." Ueber die Gegenseite aber meldete der serbische Geschäftsträger in London am 8. September: „Herr Cambon ist der Ansicht, daß die jetzigen Verhandlungen mit Deutschland zu Ende geführt und ein Uebereinkommen erzielt werden wird. Aber mit diesem Uebereinkommen wird und kann die Gefahr, welche durch die Ueberrumpelungspolitik Deutschlands droht, nicht auf die Dauer abgewendet werden. Dessen Ergebnis bestände nur darin, daß der Krieg' auf drei bis vier Jahre hinausgeschoben werden würde." „Frankreich ist davon überzeugt, daß ihm der Krieg aufgedrungen werden wird. Aber sowohl Frankreich wie auch seine Bundesgenossen sind der Ansicht, daß der Krieg — selbst um den Preis größerer Opfer — auf spätere Zeit, das ist auf die Jahre 1914—1915, verschoben werden müsse. Die Notwendigkeit dieses Aufschubs erheischt weniger die materielle Kriegsbereitschaft Frankreichs, weiche vollendet ist, als die Organisierung deä Oberkommandos, welche noch nicht beendet ist. Diese Frist ist auch für Rußland erforderlieh. Hiervon wird nur England keinen Nutzen haben, da sich seine Flottenübermacht gegenüber der deutschen mit jedem Jahre verringert. Mit Rücksicht auf die Bereitschaft der Bundesgenossen rät Frankreich, sich jetzt zu verständigen".40) Wie bei Rußland 1908/09, so handelte es sich 1911 bei Frankreich nicht um Verzicht auf den Krieg, sondern um dessen Verschiebung auf einen günstigeren Zeitpunkt. Die Rede Lloyd Georges aber war eine ausgesprochene Kriegsdrohung gewesen. Ein Deutschland, das den Waffengang zur Erringung der Vorherrschaft in Europa suchte, hatte die f ü n f t e G e l e g e n h e i t z u m P r ä v e n t i v k r i e g 1 . Die militärischen Kräfteverhältnisse waren zwar bei weitem nicht mehr so günstig wie 1905/06 und auch weniger günstig als 1908^09. Immerhin hatte aber Rußland eben erst sein großes Rüstungsprogramm begonnen, Serbien war erst halb so stark wie 1914, Frankreich hatte noch nicht die dreijährige Dienstzeit, das französische Friedensheer war noch-nicht um 40 000 Mann stärker als das deutsche. An der Bundestreue Oesterreich-Ungarns endlich war, wenn es Ernst wurde, trotz der lauen diplomatischen Unterstützung nicht zu zweifeln. 40

) Boghitschewitsch, S. 141—2.

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7. Der tripolitanische Krieg 1911. Das Vorgehen der Franzosen in Marokko wurde der Anlaß zur Unternehmung Italiens gegen Tripolis. Die italienischen Wünsche auf dieses Gebiet waren im zweiten Dreibundvertrag 1887, noch bestimmter im dritten 1891 von Deutschland und damit auch von Oesterreich-Ungarn zugestanden. Mit Frankreich war 1901 die Verabredung getroffen worden: Marokko für Frankreich, Tripolis für Italien.41) Vermutlich schon gleichzeitig, spätestens jedoch bei der Zusammenkunft der beiden Könige in Gaeta im April 1907 wurde die Einigung mit England erzielt. Rußland hatte sein Einverständnis 1909 in Racconigi erteilt (Seite 23). Als nun im Herbst 1911 feststand, daß das französische Protektorat über Marokko Tatsache würde, befürchtete man auf der Consulta, Frankreich könnte, der eigenen Beute sicher, Italien die seinige nicht gönnen, und entschloß sich rasch zuzugreifen. Wie Fürst Bülow erzählt, zog eines Tages Marquis von San Giuliano die Uhr und sagte zu seinen Sekretären: „Merken Sie sich diese Stunde und dieses Datum. Heute hat es sich entschieden, daß wir nach Tripolis gehen. Es bleibt uns keine andere Wahl". . .42) Am 28. September 1911 wurde der Pforte ein Ultimatum mit 24stündiger Frist gestellt, das nur die Wahl ließ zwischen italienischer Okkupation und Krieg. Es sei ein Lebensinteresse Italiens, so hieß es darin, Tripolis und die Cyrenai'ka auf eine hohe Stufe der Zivilisation zu heben; da die Türkei dieser Aufgabe nicht gewachsen sei, bleibe Italien nichts übrig als beide Provinzen zu besetzen. Die Pforte bewilligte die wirtschaftlichen Forderungen, lehnte aber die Okkupation ab. Der Krieg begann. England beschwichtigte seine 1908 so laut und heftig geäußerten Gewissensbedenken gegen dit Verletzung internationaler Verträge dadurch, daß es, vermutlich auf GTMKI früherer Abmachungen, die zu Tripolis gehörende, an der Grenze Aegyptens liegende Bucht von Sollum in Besitz nahm. Nicht so ruhig nahm Frankreich die Ausdehnung der romanischen Schwestetnation im Mittelmeerbecken hin. Man Keß sich in Paris zwar kaum mehr von dem Gedanken Napoleons III. leiten, der 1857 zu Bismarck gesagt hatte, er wolle aus dem Mitte'lmeer „nicht gerade einen französischen See, jedoch ungefähr dasselbe machen",43) man wollte aber die Stellung Frankreichs als zweite Mittelmeermacht nach England unbedingt wahren, gleichzeitig wohl auch in Italien den immer noch nominellen Verbündeten Deutschlands treffen. Eine 41 ) Französisches Gelbbuch „Les Accords franco-italiens 1901—02", Nr. 1. ") Fürst von Bülow „Deutsche Politik", Ausgabe 1917 S. 107. 4S ) „Die Große Politik", Bd. VI, Nr. 1207, S. 103.

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Die Stellung der Mächte zum tripolitanischen Kriege

offene Stellungnahme war nach dem Vertrag von 1901 nicht wohl möglich, aber insgeheim wurde der Waffenschmuggel für die Türken begünstigt, was nach der Beschlagnahme zweier französischer Schiffe durch die italienische Marine zu diplomatischen Weiterungen führte, in denen Italien, obwohl das Recht zweifellos auf seiner Seite war, sich zum Nachgeben entschloß. Während Oesterreich-Ungarn die Ablenkung Italiens nach der Südküste des Mittelländischen Meeres nicht ungern sah, bedeutete das tripolitanische Unternehmen für die Stellung Deutschlands in Konstantinopel einen schweren Schlag. Die deutschfreundlichen Politiker mußten solchen weichen, die zu England neigten. Der Kriegszug des Dreibundgenossen war in der diplomatischen Rechnung der Mittelmächte nicht als Gewinn zu buchen. Deutschland hatte weder die befreundete Türkei gegen einen Friedensbruch durch seinen Verbündeten noch das verbündete Italien gegen französische Uebergriffe zu schützen vermocht. 8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich zu Beginn des Jahres 1912. Die Ereignisse des Sommers 1911 hatten in England und Frankreich ganz verschiedene Wirkungen zur Folge. Jenseits des Kanals begann man zu erkennen, wohin die seit 1908 eingeschlagenen Wege führen müßten. Der radikale Flügel der liberalen Partei erhob Einspruch gegen ein diplomatisches System, das Europa an den Rand eines allgemeinen Krieges gebracht habe. Sogar das Verlangen nach einem Rücktritt Greys wurde laut. Einer der eifrigsten Vorkämpfer dieser Richtung war der Pazifist E. D. Morel, bekannt durch sein mutiges Vorgehen gegen die in der belgischen Kongokolonie an den Eingeborenen verübten Greuel. Der überwiegende Teil der öffentlichen Meinung billigte zwar die Richtlinien der bisherigen Politik, wollte aber doch, von der Kriegspartei der Jingos abgesehen, keinen Krieg. Grey entschloß sich, seine Methode zu ändern. In Frankreich zeigte sich die entgegengesetzte Erscheinung. Das zur wirtschaftspolitischen Verständigung mit Deutschland bereite Ministerium Caillaux stürzte. Der Januar 1912 sah das „zweite große Ministerium der dritten Republik" so genannt, weil es zehn frühere Minister, darunter zwei frühere Ministerpräsidenten, zählte. Die führenden Männer waren: Der Lothringer Poincaré als Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen, der einstige Sozialist und nunmehrige Militarist Millerand für den Krieg, für die Marine Delcassé, die Seele des Bündnisses mit Rußland, der Vater der Entente cordiale mit England, der Mann, der 1905 deh Krieg gewollt hatte.

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RalcLane in Berlin (Februar 1912)

Mit vollem Recht konnte gegen Jahresende der russische Botschafter Iswolsky schreiben: „Wenn die Krise kommt, was Gott verhütet), möge, wird die Entscheidung gefällt werden von den drei starken Persönlichkeiten an der Spitze des Kabinetts: Poincaré, Millerand und Delcassé. Und unser Glück ist es, daß wir es gerade mit diesen Persönlichkeiten und nicht mit diesen oder jenen anderen Zufallspolitikern zu tun haben werden, die sich im Laufe der letzten Jahre in der französischen Regierung gefolgt sind."") Dieser Eindruck bestand bei den Pariser Diplomaten unverändert fort, noch am 16. Januar 1914 meldete der dortige belgische Gesandte Baron Guillaume: „Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu berichten, daß es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre Freunde gewesen sind, die die nationalistische, militaristische und chauvinistische Politik erfunden und befolgt haben, deren Wiederkehr wir feststellen konnten. Sie bildet eine Gefahr für Europa."16) Die neue Richtung in London wurde eingeleitet durch eine Reise des bekannten Finanzmannes Sir Ernest Cassel nach Berlin, der dort unter Berufung auf einen gemeinsamen Auftrag von Grey, Lloyd George und Churchill eine nicht amtliche Denkschrift vorlegte, die anregte, Deutschland möge seine Schiffsbauten einschränken, England werde dann die deutschen kolonialen Wünsche unterstützen; zu weiterer Besprechung könnte ein englischer Minister nach Berlin kommen.") Die deutsche Regierung erklärte sich bereit, die neue Flottenvorlage, von der in Kapitel 15 die Rede sein wird, vor der Veröffentlichung dem Londoner Kabinett mitzuteilen; das Eingehen auf etwaige Wünsche und Einwände Englands hänge jedoch davon ab, daß dieses sich zu einem politischen Abkommen entschließe, worin Deutschland eine gewisse Sicherheit im Falle eines Festlandkrieges gegeben würde. Nach diesen Vorbesprechungen traf der englische Kriegsminiater Haidane am 8. Februar 1912 in Berlin ein. Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg war bereit, sich für äußersten Verzicht in der Frage der Flottennovelle einzusetzen, wenn in einem politischen Abkommen ein Gegengewicht geschaffen würde. Aber gerade hinsichtlich des politischen Abkommens gelang es nicht, eine beide Teile befriedigende Formel zu finden, obschon die Verhandlungen nach der Abreise Haldanete am 12. Februar noch bis Ende ") „Livre Noir" I. S. 364. Iswolsky an Sasonow 5. Dez. 1912. ") „Zur Europäischen Politik 1897—1914", herausgegeben unter Leitung vo Bernhard Schwertfeger, Bd. IV, S. 174. **) Bethmann Hollweg „Betrachtungen zum Weltkrieg" I. S. 50 ff.; Viscount Haidane „Before the War", S. 65 ff. 3

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Versuche zu einem deutsch-englischen Neutralitätsabkommen

März fortgesetzt wurden. Der erste Wunsch Deutschlands „Neutralität Englands in einem Kriege, in den Deutschland verwickelt würde", war zweifelsohne zu weitgehend, da er England auch bei einem deutschen Angriffskrieg zur Neutralität verpflichtet hätte. Das erste englische Gegenangebot „keine Teilnahme an einem unprovizierten Angriff gegen Deutschland" war hingegen allzu wenig. Als diese Formel durch den Zusatz „Enthaltung von einer aggressiven Politik gegen Deutschland" erweitert worden war, äußerte der Kanzler den als gerechtfertigt anzusehenden Wunsch, es möge noch hinzugefügt werden „wohlwollende Neutralität, sollte Deutschland ein Krieg aufgezwungen werden". Nach einem Bericht des deutschen Botschafters Grafen Metternich vom 17. März erklärte Grey jedoch „ein direktes Neutralitätsabkommen würde unbedingt die französische Empfindlichkeit reizen, dies müsse die englische Regierung vermeiden". Am 29. März meldete Mettarnich, der Staatssekretär habe gesagt: „Irgend ein Hinausgehen Deutschlands über das bestehende Flottengesetz gestatte der englischen Regierung nicht, ein politisches Abkommen mit uns einzugehen, ein völliges Aufgeben der Flottennovelle liege aber wohl nicht im Bereich der Diskussion". Darauf erfolgte von Berlin die Mitteilung, „weil kein befriedigendes Neutralitätsabkommen zu erlangen, entfalle die Möglichkeit, die Flottennovelle in einer den englischen Wünschen entgegenkommenden Weise abzuändern. Die deutsche Regierung sei bereit, den begonnenen Meinungsaustausch über territoriale und koloniale Fragen fortzusetzen."") Die am 17. März berichtete Aeußerung Greys macht es wahrscheinlich, und Meldungen des russischen Botschafters in Paris bestätigen es, daß der Staatssekretär sich mit Frankreich ins Benehmen gesetzt hatte. Nach einem Telegramm Iswolskys vom 1. März 1912 war Poincaré anfänglich einer deutsch-englischen Verständigung nicht abgeneigt, aber die französischen Militärs waren anderer Ansicht, da sie fürchteten, Deutschland werde mehr für seine Armee aufwenden, wenn es die Ausgaben für die Flotte einschränke.48) Dieser Ansicht der Militärs scheint sich Poincaré alsbald angeschlossen zu haben, denn Iswolsky meldete später auf Grund von Mitteilungen Poincarés und Paléologue's, des damaligen Direktors des politischen Departements: „Das Londoner Kabinet unterrichtete Poincaré und schwankte offenbar, ob es den Vorschlag annehmen oder ablehnen solle. Poincaré sprach sich auf das entschiedenste gegen ein solches Abkommen aus; er ,7 ) Botschafterberichte und Antwort der deutschen Regierung nach unteci ruckten Akten des Auswärtigen Amts in ,.Deutschland und der Weltkrieg" (Oncken) S. 598. ,8 ) Siebert, S. 761—2.

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Frankreichs Unversôiinlichkeit

bedeutete der englischen Regierung, daß zu einem Zeitpunkt, da zwischen Frankreich und England kein Abkommen allgemeiner politischer Art bestehe, die Unterzeichnung einer solchen Vereinbarung mit Deutschland durch England sofort den bestehenden französisch-englischen Beziehungen ein Ende machen werde. Der erwähnte Einwand hatte den erwarteten Erfolg, und das Londoner Kabinett lehnte den deutschen Vorschlag ab, was in Berlin lebhafte Verstimmung verursachte.40) Nach der Darstellung Haldanes hätte die Stimmung in England deshalb umgeschlagen, weil die britische .^Admiralität die neue deutsche Flottenvorlage als zu weitgehend ansah. In Wahrheit werden wohl beide Ursachen zusammengewirkt haben, der Einspruch des französischen Ministerpräsidenten und die Bedenken der Admiralität. Die schon länger eingeleiteten Verhandlungen zwischen Berlin und London über die eventuelle Aufteilung der portugiesischen Kolonien in Afrika und über die Bagdadbahn nahmen ihren Fortgang. Nach amtlicher französischer Quelle versuchte Deutschland bald nach dem Scheitern der Mission Haldanes sich Frankreich zu nähern, und zwar auf der Basis einer weitgehenden Autonomie für Elsaß-Lothringen. Damals sagte Poincaré dem französischen Botschafter in Berlin: „Das einzige, was an all dem interressiert, ist die Haltung der deutschen Regierung. Sie scheint mit unablässiger Hartnäckigkeit eine Annäherung zu betreiben, die doch nur durch eine völlige Wiederherstellung des früheren Zustandes möglich wäre. Wenn wir auf solche Vorschläge hörten, würden wir uns mit England und Rußland überwerfen. Wir würden aller Vorteile verlustig gehen, die wir dank der von Frankreich seit vielen Jahren verfolgten guten Politik erzielt haben."50) Somit trägt Poincaré an dem Scheitern der deutsch-englischen Annäherung zum mindesten eine Mitschuld, an dem Scheitern der deutsch-französischen Annäherung aber die Alleinschuld. Uebe'r die Haltung der deutschen Regierung in jener Zeit urteilte der durchaus nicht deutschfreundliche englische Schriftsteller Begbie: 40 ) „Livre Noir" I. S. 365—6, Iswolsky an Sasonow 5. Dez. 1912. Im Dezember bestand schon ein schriftliches französisch-englisches Abkommen allgemein politischer Art durch den Briefwechsel Cambon-Grey vom 22. und 23. November 1912, nicht aber zur Zeit der Mission Haldanes. 60 ) Bericht an den französischen Senat, Nr. 704 vom Jahre 1919 „Rapport de la Commission d'Enquête sur les Faits de la Guerre" I, S. 363. 3*

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Annäherung an England das Ziel Deutschlands

„Es ist nicht Geschichte* es ist nicht einmal ein Roman, e's ist barer Unsinn anzunehmen, daß die deutsche Regierung in diesem Augenblick nicht nach Frieden strebte. Der Kaiser wünschte Frieden, der Kanaler wünschte Frieden, und Annäherung an England war das Ziel, dem Kiderlen Wächter (wie uns der Korrespondent der „Daily Mail" versichert) seine Kräfte widmete. Die Kriegspartei arbeitete natürlich auf den Krieg hin, aber die verantwortliche Regierung des Landes wirkte ernstlich für den Frieden."") 9. Der erste Balkankrieg Herbst 1912. Das Unwetter, das sich 1909 über dem Balkan zusammengeballt hatte, ohne zur Entladung zu kommen, zog auf dem Umwege über Marokko und Tripolis von neuem dorthin. Wie die Vernichtung der Unabhängigkeit Marokkos den Zug nach Tripolis veranlaßt hatte, so löste die Verwicklung der Türkei in einen Krieg mit einer Großmacht bei den Balkanstaaten den von ihrem Standpunkt wohlberechtigten Entschluß aus, ihre noch unter türkischer Fremdherrschaft stehenden Stammesbrüder zu befreien. Auch in Petersburg drängten die Befürworter einer aktiven Politik zum Handeln. Die Mehrzahl, an ihrer Spitze der rassische Gesandte Hartwig in Belgrad, wollte einen unter russischem Schutz stehenden Bund der Balkanvölker gegen die Türkei; der russische Botschafter Tscharykow in Konstantinopel hingegen riet dazu, die Türkei gegen Zugeständnisse an Rußland in der Meerengenfrage in diesen Bund einzubeziehen. Nachrichten über die Verhandlungen mit der Pforte drangen jedoch in die Oeffentlichkeit, der Außenminister Sasonow leugnete jede Mitwissenschaft und ließ die Sache fallen.62) Die Anhänger des gegen die Türkei gerichteten Balkanbundes hatten gesiegt. Besonderen Eifer bei dessen Gründung entwickelte nunmehr der serbische Minister Milowanowitsch, der dem Bunde von vornherein auch eine Spitze gegen Oesterreich gab. Er war der Ansicht, daß der Zerfall der Donaumonarchie die Lösung der zwischen den Balkanstaaten schwebenden territorialen Streitfragen bedeutend „vereinfachen" würde. So äußerte er zum bulgarischen Ministerpräsidenten Geschow: „Wenn zu gleicher Zeit die Auflösung der Türkei und der Zerfall Oesterreich-Ungarns eintreten könnten, so wäre die Lösung bedeutend vereinfacht; Serbien erhielte Bosnien und die Herzegowina, wie Rumänien SiebenM ) 62

Harold Begbie „Vindication of England" 1916, S. 142. ) Näheres über den Plan Tscharykows siehe 12. Kapitel „Die Entwicklung der Meerengenfrage".

Bulgarisch-serbischer Vertrag (Marz 1912)

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bürgen, und wir hätten keine Einmischung' Rumäniens in unseren Krieg mit der Türkei zu befürchten."") Am 13. März wurde der unter angeblicher Mitwirkung Hartwig« vereinbarte serbisch-bulgarische Vertrag unterzeichnet, dessen zweiter Artikel lautete: „Beide vertragschließenden Seiten verpflichten sich, auch in dem Falle einander mit allen Kräften zu unterstützen, daß irgend eine der Großmächte den Versuch machen sollte, irgend ein auf dem Balkan liegendes und gegenwärtig unter türkischer Herrschaft befindliches Gebiet, wenn auch nuT zeitweilig, an sich zu reißen, zu okkupieren oder mit Truppen zu besetzen — falls auch nur einer der beiden Staaten dies als schädlich für seine Lebensinteressen oder als Anlaß zum Kriege (casus belli) betrachtet."") Das bezog sich auf eine allenfallsige Wiederbesetzung des Sandschaks durch Oesterreich-Ungarn. Eine geheime Anlage bestimmte Rußland als Schiedsrichter sowohl für den Zeitpunkt des Beginns des Krieges gegen die Türkei als auch für jede aus den Abmachungen sich ergebende, auf andere Weise nicht beizulegende Streitfrage zwischen beiden Parteien. Ein merkwürdiges Zusammentreffen war es, daß am Vortage der Unterzeichnung des Vertrags, am 12. M!ärz, in Rußland folgender Befehl ergangen war: „Laut allerhöchster Entschließung ist ein telegraphischer Befehl zur Anordnung der Mobilmachung in den europäischen Militärbezirken aus Anlaß politischer Komplikationen an den Westgrenzen gleichzeitig als Befehl zur Eröffnung- der Feindseligkeiten gegen Oesterreich und Deutschland aufzufassen. Was dagegen Rumänien betrifft, soll die Eröffnung der Feindseligkeiten erst auf direkten Befehl erfolgen."65) Im Mai und Juli wurden die bulgarisch-serbischen Abmachungen durch Militärkonventionen ergänzt, wonach Bulgarien 200.000 Mann Hilfstruppen an Serbien zu stellen hatte, nicht nur wenn Oesterreich-Ungarn dieses Land angreife, sondern auch für den Fall „daß Oesterreich-Ungarn nach Vereinbarung mit der Türkei oder ohne eine solche, unter irgend einem Vorwand seine Truppen in den Sandschak von Nowibazar einrücken lassen und hierdurch Serbien nötigen sollte, entweder M ) Ueber die Tätigkeit von Milowanowitsch siehe Friedjung III. S. 174 ff. -und die dort angeführten Quellen. M ") Boghitschewitsch, S. 130. 86 ) Schreiben des russischen Generalstabs an den Oberbefehlshaber des Militärbezirks Warschau vom 11. April 1912, Nr. 545, Original im Reichsarehiv zu Potsdam.

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Poincaré Aber den „Kriegsvertrag"

Oesterreich-Ungarn den Krieg zu erklären oder seine Truppen nach dem Sandschak zur Verteidigung seiner dortigen Interessen zu entsenden, wodurch Serbien einen Zusammenstoß mit Oesterreich-Ungarn hervorrufen würde.5") Ein Ende Mai von Bulgarien mit Griechenland geschlossener Vertrag beschränkte sich auf die Bestimmung, daß die zwei Staaten ihren Volksgenossen in Mazedonien zu ihrem Recht verhelfen und sie mit den Waffen unterstützen werden, wenn es deshalb zum Kriege mit der Türkei kommen sollte.'^ Zwischen dem Abschluß der ersten und zweiten bulgarischserbischen Militärkonvention machten im Juni die Könige von Bulgarien und Montenegro Besuche in Wien. Sie wurden dort, wo im Februar Graf Berchtold die Nachfolge Aehrenthals angetreten hatte, mit größter Vertrauensseligkeit in freundschaftlichster Weise aufgenommen. In demselben Monat fand in Baltisch-Port eine Zusammenkunft des deutschen und russischen Kaisers statt, nach der eine halbamtliche russische Erklärung verkündete, die Begegnung bezeuge einerseits die feste und dauernde Freundschaft zwischen beiden Reichen, andererseits sei sie ein Ausdruck der friedlichen Grundlinien, welche deren Politik gleichmäßig bestimme. Glaubten der Zar und seine Minister wirklich, daß die Rußland zugestandene Entscheidung über den Beginn des Krieges ihnen die Macht geben werde, den Frieden zu erhalten? Der Inhalt des bulgarisch-serbischen Vertrags ging auch dem französischen Verbündeten zu weit. Als Poincaré im August in Petersburg Einblick darein gewann, schrieb er nach Paris: „Der Vertrag enthält also im Keime nicht nur einen Krieg gegen die Türkei, sondern einen Krieg gegen Oesterreich. Er errichtet außerdem eine Hegemonie Rußlands über die beiden slawischen Königreiche, da Rußland zum Schiedsrichter in allen Fragen bestimmt ist. Ich bemerkte Sasonow, diese Vereinbarung entspreche in keiner Weise den mir darüber gegebenen Aufklärungen, sie sei geradezu ein „Kriegsvertrag" und enthülle nicht nur Hintergedanken bei den Serben und Bulgaren, sondern man müsse auch befürchten, daß Rußland ihre Hoffnungen zu ermutigen scheine, und daß die mögliche Teilung einen Anreiz für ihre Begehrlichkeiten bilde. Er (Sasonow) gibt zu, daß bei UebeTmittlung des Vertrags nach Petersburg der russische Gesandte in Sofia selbst ihn als Kriegsvertrag bezeichnete, aber da Serbien M ) Die bulgarisch - serbischen Verträge nach Boghitschewitsch, R. 180, 132, 134, 136—8. Sie sind mir teilweise wiedergegeben im deutschen Weißbuch vom Juni 1919 „Deutschland schuldig?" S. 137 und 139. •7) Friedjung III., S. 178.

Die Mobilmachung der Balkanataaten

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und Bulgarien sich verpflichtet hätten, ohne die Billigung Rußlands nicht den Krieg zu erklären und nicht einmal zu mobilisieren, könne Rußland ein den Frieden sicherndes Vetorecht ausüben und werde nicht verfehlen, das zu tun."88) Poincaj-é gab damals in Petersburg auch zu verstehen, daß die öffentliche Meinung Frankreichs der Regierung der Republik nicht gestatten werde, für Balkanfragen zu den Waffen zu greifen, wenn nicht Deutschland sich einmische,8®) drang aber nicht auf eine Aenderung der bedenklichen Verträge, obwohl er glaubte, daß Oesterreich auf keinen Fall deren Ausführung dulden würde1, wenn es davon Kenntn'13 erhielte. Diese Sorge war unbegründet, da das Wiener Kabinett, als es Mitte September das Bestehen des Balkanbundes erfuhr, sich damit begnügte, die Nachricht nach Berlin weiterzugeben. Das Vertrauen auf das Vetorecht Rußlands erwies sich als trügerisch. Nachdem seit Anfang August drohende Anzeichen den bevorstehenden Sturm angekündigt hatten, machten am 30. September Bulgarien, Serbien und Montenegro mobil, Griechenland einen Tag später. An demselben 30. September wurde der Befdhl, daß „die Verkündung der Mobilmachung auch die Verkündung des Krieg'es gegen Deutschland" sei, dem VI. Armeekorps in Warschau und sicher auch anderen Armeekorps mitgeteilt."0) Gleichzeitig wurde das russische Heer wesentlich verstärkt durch Probemobilmachungen großen Stils an der Grenze, die nicht wie in früheren Zeiten zuvor amtlich mitgeteilt worden Waren."1) Der Befehl offenbart, was eine allgemeine Mobilmachung in Rußland bedeutet haben würde; sein zeitliches Zusammentreffen mit der Kriegsbereitschaft der Balkanstaaten und die gleichzeitige Heeresverstärkung beweisen ferner, daß man in Petersburg von den Ereignissen doch nicht gänzlich überrascht gewesen sein kann. Den großen Krieg aber wollte die politische Leitung Rußlands damals nicht, sondern sie schloß sich den Bemühungen der anderen Mächte an, das nach Poincaré's Urteil „von ihr entfesselte Unheil" zu beschwören, da sie fürchtete, daß „ein sich in die Länsre ziehender Krieg für die' Balkanstaaten, deren Hilfskräfte beschränkt seien, wenig vorteilhaft wäre".62) M ) Ministère des Affaires Etrangères Documents Diplomatiques. Les Affaires Balkaniques 1913—14" I., Nr. 57, S. 38 ff. Auch der englische Unterstaatssekretär Sir A. Nicolson betrachtete die Konvention als gegen die Möglichkeit österreichischer Uebergriffe gerichtet" (Siebert, S. 552). ") Siebert, S. 549; vgl. auch „Affaires Balkaniques" I, Nr. 184, S. 111—114. «°) Siehe Beleg Nr. 7, S. 188. „Deutschland schuldig?" S. 141. ®2) „Affaires Balkaniques" I. Nr. 181 und 184. Die letztere Nummer zeigt das schlechte öewissen Poincarés gegenüber London wegen Verheimlichung der „Kriegsverträge", die er nunmehr mitteilt.

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Die grundsätzliche Schwenkung der französischen Politik

Noch nach dem 30. September wiegten sich die Großmächte in dem Wahne, durch eine die Friedensbrecher bedrohende und die Aufrechterhaltung des status quo ohne Rücksicht auf die Kriegsergebnisse dekretierende Formel den Frieden retten zu können. Als dieses Verbot am 8. Oktober in Cetinje mitgeteilt wurde, erwiderte König Nikita, er habe soeben den Krieg an die Türkei erklärt. Am 17. und 18. folgten die drei Verbündeten seinem Beispiel. Der in Berlin und Wien erwartete, in Petersburg und Paris befürchtete Sieg der osmanischen Waffen trat nicht ein. Entgegen früheren Ratschlägen des FeldmaTschalls Freiherrn von der Goltz traten die Türken, anstatt in rückwärtigen Stellungen die vollständige Versammlung ihrer aus weit entfernten Gegenden nur allmählich heranzuführenden Streitkräfte abzuwarten, an allen Grenzen dén Gregnern offensiv entgegen. Numerisch noch weit unterlegen, wurden sie in Rumelien von den Bulgaren, in Mazedonien von den Serben und Griechen entscheidend geschlagen. Zwar mißglückte Mitte November der schlecht angelegte bulgarische Angriff auf die, Konstantinopel schützende, stark befestigte Tschataldschalinie, und d«T Traum König Ferdinands, auf der Hagia Sofia das Kreuz aufzupflanzen, ging nicht in Erfüllung. Doch völlig erschöpft mußte die Pforte um Waffenstillstand nachsuchen, der am 3. Dezember mit Bulgarien und Serbien zustande kam, jedoch unter Fortdauer der Belagerung von Adrianopel und Skutari, während Griechenland die Feindseligkeiten nicht einstellte. Der bis Ende Oktober klar erkennbare Sieg der Balkanstaaten führte nun zu einer g r u n d s ä t z l i c h e n S c h w e n k u n g d e r f r a n z ö s i s c h e n P o l i t i k . Während man in Paris anfänglich bestrebt srewesen war, den Konflikt zu verhüten oder wenigstens zu lokalisieren, erkannte man nunmehr, eih wie wertvoller Bundesgenosse der siegreiche Balkanbund im Kampfe gegen die Mittelmächte werden könnte. Die französische Politik begrab sich im Gegensatz zu ihrer Haltung während der Annexionskrise 1908/09 völlig ins Schlepptau Rußlands, ja sie unterstützte die Wünsche der russischen Kriegspartei und die Pläne der Balkanstaaten mitunter eifriger als die Petersburger politische Leitung. Schon die am 30. Oktober von Poincaré vorgeschlagene Formel, die Großmächte sollten ihr „unbedingtes Desinteressement" erklären,83) hatte eine unverkennbare Spitze gegen Oesterreich. Das erhellt deutlich aus einem, wenige Tage später an Iswolsky gerichteten Schreiben des französischen Ministerpräsidenten, worin er sagt, im Einvernehmen mit dem Ministerrat halte er es für angezeigt, „jetzt schon gemeinsame Richtlinien festzulegen für den Fall, daß Oesterreich territoriale Vergrößerungen anstrebe.""*) In Peters6S M

) loc. cit. I., Nr. 210. ) loc. cit. I., Nr. 226.

Frankreich im Schlepptau Rußlands

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bürg war man für diese, russischen Wünschen zuvorkommende Initiative dankbar, bezeichnete jedoch die allgemeine Formel „grundsätzliche* Feindseligkeit gegen jede Erwerbung türkischen Gebiets durch eine Großmacht" wegen der eigenen Wünsche in der Meerengenfrage als „zu positiv".65) Aus seinen Gesprächen am Quai d'Orsay gewann der russische Botschafter immer mehr die Ueberzeugung von dev Neuorientierung der französischen Politik, sodaß er am 7. November berichtete: „Während bisher Frankreich uns erklärt hatte, daß lokale, gewissermaßen ausschließlich den Balkan betreffende Ereisrnisse seinerseits nur diplomatische Maßnahmen und keinesfalls eine aktive Intervention veranlassen könnten, scheint es jetzt anzuerkennen, daß ein Gebietserwe'rb Oesterreichs das allgemeine europäische Gleichgewicht und damit die eigenen Interessen Frankreichs gefährden würde."6") In den nächsten Tagen wurde Sasonow durch den französischen Botschafter verständigt, daß die Stellungnahme Frankreichs, falls Oesterreich gegen Serbien vorginge, von der Haltung Rußlands abhängig gemacht werde.67) Noch weiter aber ging die Erklärung, die Poincaré am 17. November Iswolsky machte: „In einer Frage, in der Rußland der Hauptinteressent isti kommt es Rußland zu, die Initiative zu ergreifen. Die Rolle Frankreichs besteht darin, ihm den wirksamsten Beistand zu leisten" und er fügte hinzu: „Schließlich kommt das alles darauf hinaus zu sageh, daß wenn Rußland den Krieg macht, Frankreich ihn auch machen wird."*8) Am folgenden Tage wurde diese Zusage zwar dahin erläutert. daß Frankreich nur marschieren werde „wenn der durch die Allianz vorgesehene Bündnisfall eintrete, das heißt, wenn Deutschland mit den Waffen Oesterreich-Ungarn gegen Rußland unterstützen würde". Diese Erläuterung enthielt aber nicht die vom Bündnisvertrag vorgesehene Einschränkung auf einen von Deutschland unterstützten A n g r i f f Oesterreich-Ungarns gegen Rußland.68) Ebenso wurde am 20. November ohne solche Einschränkung dem italienischen Botschafter mitgeteilt: w

) ì ) ") M ) 66

67

„Livre Noir", I. S. 345. loc. cit., S. 342; Siebert S. 575. „Affaires Balkanierues" I., Nr. 257. ..Livre Noir". L S. .346. Siehe Beleg Nr. 8, S. 188.

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Frankreich kriegswilliger als Rußland

„Wenn der österreichisch-serbische Konflikt zum allgemeinen Kriege führen sollte, kann Rußland völlig auf den bewaffneten Beistand Frankreichs zählen".70) Es ist sicher kein Zufall, daß gerade in dieseh Tagen, am 22. und 23. November, auf französische Initiative der Briefwechsel Cambon-Grey stattfand, durch den die seit 1906 üblichen Besprechungen der französischen und englischen General- und Admiralstäbe durch ein von Poincaré im Frühjahr noch vermißtes (Seite 35) diplomatisches Abkommen allgemeiner Art, wenn auch nur in der Form eines Notenaustausches, ergänzt wurden,71) den Lloyd George am 7. August 1918 im Parlament als einen „Pakt" und auf Zwischenrufe als eine „Ehrenverpflichtung" bezeichnete. Nicht ohne Interesse ist auch eine Meldung der deutschen Botschaft in Paris vom 11. November, daß nach Mitteilungen eines durchaus verlässigen. Gewährsmannes der französische Ministerpräsident seinen Ministerkollegen vertraulich die Notwendigkeit dargelegt habe, „in dem Augenblick, wo ein kriegerischer Konflikt unvermeidlich werde, mit einem überraschenden Vorstoß über unsere Grenzen den französischen Waffen einen Vorsprung und den für das französiche Temperament so wichtigen ersten moralischen Erfolg zu sichern. Zu diesem Zweck müsse man sich des Zeitgewinns halber kühn über konstitutionelle Bedenken hinwegsetzen und das Parlament, ohne es über Kriegserklärung zu befragen, vor ein fait accompli stellen."71) Diese spontanen Versicherungen der Bundestreue an Rußland, die Mitteilung der Kampfbereitschaft Frankreichs an Italien, das festere Knüpfen des Verhältnisses mit England sind umso auffallender, als in Petersburg die Lage weit ruhiger beurteilt wurde. Sasonow erklärte am 14. November: „Serbien dürfe nicht hoffen, Rußland mit fortzureißen, das entschlossen sei, es wegen eines serbischen Hafens an der Adria nicht zum bewaffneten Konflikt kommen zu lassen" und am 18. November, er glaube nicht an eine unmittelbare Gefahr oder an den Wunsch Oesterreichs nach einem Bruche, in Belgrad übertreibe man die (militärischen) Vorbereitungen der Donaumonarchie. Wenn er beunruhigt «ei, so sei er das im Gegenteil nur „wegen der Schwierigkeiten der endgültigen Regelung und der sehr lebhaften Empfindlichkeit eines Teiles der öffentlichen Meinung". In Paris wurde aber die Notwendigkeit, in Belgrad wegen der Stellungnahme Rußlands zum Nachgeben zu raten, fast unangenehm empfunden, und der französische Vertreter 70 ) ..Livre Noir«, I. S. 348. ") Englisches Blaubuch 1914. Nr. 105. ") Ungedruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts.

Das Österreichiso,he BaJkanprogramm Ende 1912

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angewiesen ,.die Ratschläge in freundschaftlichstem Sinne zu formulieren, Rußland den Vortritt zu lassen und nichts zu sagen, was den Glauben erwecken könnte, als ob die Haltung Frankreichs die Ursache sei, daß Rußland Mäßigung empfehle". 73 ) Die ruhige Auffassung Sasonows war durchaus gerechtfertigt. Denn Oesterreich hatte aus den Siegen der Balkanstaaten mit Resignation die Folgerung gezogen „der Balkan den Balkanvölkern". Die Aspirationen auf Saloniki, falls sie überhaupt noch in einigen Kreisen bestanden, wurden endgiltig begraben, als am 8. November die Griechen dort einzogen. Das bescheidene, am 30. Oktober in Berlin und Rom mitgeteilte, dort gebilligte und dann auch in den anderen Hauptstädten bekannt gegebene Programm Berchtolds sah nur vor: Keine Ausdehnung Serbiens bis zum Meer, Handelsabkommen mit Serbien und Montenegro als Garantie für Verzicht auf eine der Monarchie feindliche Politik, freie Entwicklung Albaniens, angemessene Kompensationen für Rumänien, rein lokale Grenzberichtigungen in Bosnien, Erklärung Salonikis zum Freihafen.74) Von diesen Forderungen kann nur der Widerstand gegen eine serbische Gebietserweiterung bis zur Adria Bedenken erregen. Doch war es neben der Schaffung eines selbständigen Albaniens gerade dieser Punkt, der in Rom die freudigste Zustimmung fand, da man dort eine Festsetzung der Südslawen am Ostufer der Adria ebenso ungern sah wie in Wien. Diese Uebereinstimmung erleichterte auch die Erneuerung des Dreibundes am 5. Dezember 1912, umsomehr als Italien gegen Frankreich wegen der Ansammlung der gesamten französischen Flotte im Mittelmeer und wegen der, durch Waffenschmuggel der tripolitanischen Unternehmung bereiteten Schwierigkeiten verstimmt war. Die Geschäftigkeit Poincares aber gegen die angebliche Absicht österreichischer Gebietserweiterungen kann nur auf bösen Willen zurückgeführt werden, denn schon Anfang November war das Berchtold'sche Programm in Paris zur Kenntnis gebracht worden. Gegenüber den nicht rückgängig gemachten nissischen Heeresverstärkungen hatte man allerdings auch in Wien Maßnahmen getroffen. Die Bestände der drei in Galizien stehenden Armeekorps sowie der Trappen an der Grenze Bosniens wurden durch Einziehung von Reservisten und Ersatzres^rvisten erhöht. Das waren die Anordnungen, die unrichtigcrweise in der Literatur und sogar in amtlichen Schriftstücken als ..Mobilmachung" bezeichnet wurden. Auch die Wiederberufung des Generals Conrad von Hötzendorf an die Spitze des Generalstabs war ein Schritt von politischer Bedeutung. 73 74

..Affaires Ralkanioues" T.. Nr. 258 und 260.

) loc. cit. I., Nr. 247.

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Deutsche Mahnungen an Oesterreich

Was nun die Haltung des Berliner Kabinetts betrifft, so stellte sich dieses keineswegs so bedingungslos in den Dienst der Wiener Politik wie die französische Republik in den des Zarenreichs, sondern übte sowohl in der Frage eines serbischen Hafens an der Adria als auch in der Frage der Ausdehnung Albaniens eine vermittelnde Tätigkeit aus. In Schreiben Kaiser Wilhelms an das Auswärtige Amt vom 7., 9. und 11. November ist zu lesen: ,,Aus der Haltung der österreichischen Presse scheint mir hervorzugehen, daß Oesterreich sich ernstlich dem Versuch Serbiens widersetzen will, sich an der adriatischen Küste festzusetzen. Serbien will auch ans Meer wie seine Nlachbarn und wie schließlich alle sich erweiternden Binnenlandsstaaten. Ich sehe absolut gar keine Gefahr» für Oesterreichs Existenz oder gar Prestige in einem serbischen Hafen an der Adria". „Habe mit Reichskanzler eingehend gesprochen und bestimmt erklärt, daß wegen Albanien und Durazzo ich unter keinen Umständen gegen Paris und Moskau marschieren werde". ..Der Dreibundvertrag sichert nur den gegenseitigen wirklichen Besitzstand der drei Staaten, nicht aber verpflichtet er zum bedingungslosen Mitgehen in Reibungen im Besitz anderer. Der casus foederis tritt allerdings ein, wenn Oesterreich von Rußland angegriffen wird. Aber nur dann, wetin Oesterreich Rußland nicht zum Angriff provoziert hat".75) Auf einer Hofjagd in Springe bei Hannover am 22. November ,,wollte Erzherzog Franz Ferdinand dem deutschen Kaiser die Notwendigkeit kräftigen Vorgehens gegen Serbien beweisen, was der Kaiser nicht bestritt: er wünschte aber dabei das Unterlassen jeden Schritts, der den Bruch mit Rußland zur Folge haben könnte".7') Bei derselben Gelegenheit antwortete der Chef des deutschen Generalstabs, General von Moltke, dem österreichischen Thronfolger auf die Frage, ob er einen Angriff Rußlands auf Oesterreich als wahrscheinlich ansehe: „Wenn Oesterreich den Krieg vermeiden will, so muß es erstens den Kabinetten klar mitteilen, welche Forderungen es an Serbien stellt, und wenn die sehr minimalen Wünsche Oesterreichs bekannt gegeben würden, so wird Oesterreich sicher die Sympathien der Mächte gewinnen. Sodann muß der Dreibundvertrag unter Zu") Ungredruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts, mitgeteilt im Prozeß Fechen-bach - Cossmann „Süddeutsche Monatsheft«" Mai 1922. S. 99—101. n ) Friedjung III., S. 228.

Französisch-russische Zeugnisse für Deutschlands Friedenswillen

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rückstellung der Sonderwünsche Oesterreichs beschleunigt erneuert werden. Das wird die Wirkung haben, daß Rußland sich zurückhält".") Der französische Gesandte in Belgrad berichtete am 27. Novetaber, man habe offiziös erfahren, daß die deutsche Regierung sich bemühe „einen Kompromiß zwischen der intransigenten Haltung Serbiens und Oesterreichs ausfindig zu machen".7") Der belgische Gesandte in Berlin, nicht mehr der sehr deutschfreundliche Baron Greindl, sondern sein reservierter Nachfolger Baron Beyens meldete drei Tage später: „Es besteht kein Zweifel, daß der Kaiser, det Kanzler und der Staatssekretär des Aeußern leidenschaftliche Anhänger des Friedens sind".™) Im Reichstage betonte der Reichskanzler am 2. Dezember, daß wenn sich entgegen seinen Hoffnungen unlösbare Konflikte ergäben, es Sache der direkt beteiligten Mächte sein würde, ihre Ansprüche zur Geltung zu bringen, und fügte hinzu: „Wenn aber unsere Verbündeten bei Wahrung ihrer Rechte gegen alles Erwarten von dritter Seite angegriffen und in ihrer Existenz bedroht würden, werden wir getreu unserer Pflicht uns mit festem Entschluß an ihre Seite stellen". Wegen dieser letzten Worte versuchte Frankreich in London und Petersburg gegen Deutschland zu hetzen, bei Grey nicht ganz ohne Erfolg, Sasonow aber erklärte, es finde sich in der Rede nichts, als was man Rußland schon gesagt habe, nämlich: „Deutschland wird sich nur dann auf Seite Oesterreichs stellen, wenn dieses angegriffen wird".80) Ein unerwarteter Zeuge erstand endlich Deutschland in der französischen Kammer während der Debatte über die Kriegsschuldfrage am 6. Juli 1922 in Poincaré, der erklärte: „Es steht außer Zweifel, daß während des ganzen Jahres 1912 Deutschland aufrichtige Anstrengungen gemacht hat, um sich mit uns im allgemeinen Interesse Europas und zur Erhaltung des Friedens zu vereinigen."81) Eine unwürdige Insinuation war der nach einer Kunstpause gemachte Zusatz „es war noch nicht bereit", — den urteilslosen Zuhörern entging der Mangel an Logik, daß Deutschland nach Poincaré im Sommer 1911 einen Krieg gewollt habe, zu dem es sich erst nach Ende des folgenden Jahres 1912 bereit machte. 77

) ) 79 ) 80 ) 81 ) 78

Ungedruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts. „Affaires Balkaniques" I., Nr. 296. Belgische Aktenstücke Nr. 96. „Affaires Balkaniques" I., Nr. 309 und IL, Nr. 8. „Journal Officiel" 6. Juli 1922, S. 2327, Sp. 1.

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10. Der zweite Balkankrieg Februar bis Mai 1913. Eine Machtverschiebung von weltgeschichtlicher Bedeutung war in den Monaten Oktober und November 1912 im Südosten Europas vor sich gegangen. Die trotz mancher Schwankungen im Grunde doch zu Deutschland hinneigeude Türkei war fast völlig nach Kleinasien zurückgeworfen, der siegreiche Bund von 15 Millionen Serben, Montenegrinern, Bulgaren und Griechen riegelte die Mittelmächte zu Lande vom Orient ab und brachte dem Dreiverband einen ansehnlichen Kräftezuwachs. Als einziger, vielleicht nur vorübergehender Ausgleich stand dem gegenüber, daß Italien wegen semer Abneigung gegen südslawische Expansion sich Oesterreich und Deutschland wieder näherte. Schon im September 1912 hatten in Frankreich die Sachverständigen die Aussichten Rußlands und Frankreichs im Falle einer allgemeinen Konflagration „mit viel Optimismus betrachtet"; 82 ) wie günstig mußten sie jetzt nach den unerwartet großen Erfolgen der russischen Hilfstruppen die Möglichkeiten eines Zusammenstoßes ansehen. Galt doch in den Augen der Welt die Niederlage der Türkei auch als eine Niederlage des deutschen Lehrmeisters, war doch angeblich die Ueberlegenheit der französischen Geschütze über das deutsche Artilleriematerial der Türketi unzweifelhaft erwiesen. Die kühnsten Hoffnungen der Panslawisten schienen der Erfüllung nahe zu sein, die französischen Nationalisten sahen den Tag der Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen in greifbare Nähe gerückt, wie der Royalist Graf de Mun in öffentlicher Rede verkündete. Rußland und damit der gesamte Dreiverband hatte in Teichem Maße seine Revanche für die diplomatische Niederlage von 1909. Diesem Einfinden gab der russische Botschafter in London Graf Benkendorff am 24. November mit folgenden Worten Ausdruck; „Wenn ich mich nicht irre, so will mir scheinen, daß die öffentliche Meinung in Rußland sich vor allem von dem Gedanken einer Revanche für 1909 leiten läßt; ich selbst hege dieses Gefühl zu sehr, als daß es mir erlaubt wäre, ein derartiges Gefühl in Rußland abfällig zu beurteilen. Aber es scheint mir auch, daß wir diese Revanche schon in weitgehendem Maße erreicht haben."83) Zur Wiederherstellung des Friedens traten in London unteT dem Vorsitze Greys zwei Konferenzen zusammen, eine der kriegführenden Staaten und eine Botschafterkonferenz, der die bescheidene Aufgabe zufiel, die künftigen Grenzen Albaniens festzusetzen und die Inseln des Ae'gäischen Meeres zu verteilen. Ein beunruhigendes Moment war es, daß nicht nur, wie selbstverständlich, die Armeen der Kriegsteilnehmer in 8a 8S

) „Livre Noir" I., S. 326. ) Siebert, S. 594.

Frankreich macht Rußland nervös

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kampfbereitem Zustand verblieben, sondern auch Rußland und Oesterreich die Erhöhungen ihrer Friedensstände nicht rückgängig machten. Besonders lebhaft beschäftigte man sich in Paris auch während der Waffenruhe mit Kriegsgedanken. Um Mitte Dezember hatte Rußland Serbien geraten, sich wegen des Adriahafens der Entscheidung der Mächte zu unterwerfen, Nikolaus II. hatte in bestimmtester Weise seinem Willen zum Frieden Ausdruck gegeben, der russische Kriegsminister war von der Aufrechterhaltung des Friedens so überzeugt, daß er ins Ausland zu reisen beabsichtigte, der russische Generalstab erklärte, daß Oesterreich an der russischen Grenze nur Verteidigungsmaßnahmen treffe, daß ein Angriff Oesterreichs auf Serbien höchst unwahrscheinlich sei, und daß Rußland selbst in diesem Falle nicht das Schwert ziehen werde. In Paris aber rechnete man auf Grund alarmierender Berichte der Vertreter in Wien und Belgrad, die in London keinen Glauben fanden, „ernstlich mit der Kriegsmöglicheit" und war über die friedliche Auffassung an der Newa „höchst bestürzt und aufgeregt", da man „vom kriegerischen Charakter der österreichischen Vorbereitungen überzeugt war und eine Ueberrumpelung Rußlands befürchtete, die ein militärisches Vorgehen Deutschlands gegen Frankreich erleichtern würde".84) Als Iswolsky auf seine Meldung vom 14. Dezember über diese Bestürzung nicht sofort Antwort erhielt, meldete er vieT Tage später: „Während noch vor kurzem die französische Regierung und Presse geneigt waren, uns der Aufhetzung Serbiens zu beschädigen, und die dominierende Note lautete: „Frankreich will nicht für einen serbischen Hafen Krieg führen", betrachtet man jetzt mit Erstaunen und unverhüllter Besorgnis unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Tatsache der österreichischen Mobilmachung" und er wiederholte, daß die' erwähnten Nachrichten aus Petersburg' bei Poincaré und allen Ministern „großes Erstaunen" hervorgerufen hätten. Er fügte hinzu, daß die französische Mobilmachung an der Ostgrenze geprüft sei und das Kriegsmaterial bereit liege.86) Die Nervosität Frankreichs übertrug sich nunmehr auch auf Rußland. Sasonow drohte mit der Verstärkung der russischen Armee, wenn Oesterreich seine „Mobilmachungsmaßnahmen" nicht zurücknehme, und erklärte, der Generalstab sei zu weit gegangen, als er sagte, Rußland werde nicht Krieg führen, auch welm Oesterreich Serbien angreife; so bestimmt habe er sich nie' ausgesprochen. Am 23. Dezember erging ferner eine Erklärung, daß die Neutralität Rußlands „nicht mehr 84 ) „Affaires Balkaniques" II., Nr. 9—14. Ferner Iswolsky an Sasonow am 14. Dezember 1912 „Süddeutsche Monatshefte", Juli 1922, S. 207. 85 ) ..Livre Noir" I., S. 369.

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Rußland gegen österreichisch-serbische Aussöhnung

gewährleistet" sei, falls die Pforte nicht auf Adrianopel, Skutari und Janina verzichte, eine Aeußerung, die später dementiert, dann aber wiederholt wurde.66) Die anfängliche Zurückhaltung Rußlands war freilich nicht in tiefwurzelnder Friedensliebe, sondern im Vertrauen auf noch günstigere Zukunftsaussichten begründet gewesen. So hatten am 13. November 1912 die Gesandten Frankreichs und Rußlands in Bukarest ihrem serbischen Kollegen in der Frage des Ausganges zur Adria deshalb zur Geduld geraten, weil es besser sei, „daß Serbien, das mindestens zweimal so groß würde, als ea bisher war, sich kräftige und sammle, um möglichst vorbereitet die gewichtigen Ereignisse abzuwarten, die unter den Großmächten eintreten müßten".87) So versicherte Sasonow am 27. Dezember dem serbischen Vertreter in Petersburg „er habe nach den großen Erfolgen Serbiens Vertrauen zur Kraft Serbiens und glaube, daß es Oesterreich erschüttern werde; deshalb solle Serbien sich mit dem begnügen, was es bekommen werde, und dies nur als eine Etappe betrachten, denn die Zukunft gehöre Serbien".88) Eine aufrichtige Versöhnung Oesterreichs mit Serbien wünschte man in Petersburg trotz des Rates zur Nachgiebigkeit wegen des Adriahafens nicht. Mit brutaler Offenheit sprach das ein Bericht Benckendorffs vom 30. Oktober aus. Der Botschafter erachtete1 insbesondere ein „als Bedingung auferlegtes" Handelsabkommen — wie das in dem österreichischen Programm vorgesehen war (S. 43) — als eine „mit den russischen Interessen unvereinbare Kompensation", aber Rußland dürfe, so sagt er weiter, nicht merkeh lassen, daß es diese Verständigung nicht wünsche, denn „wenn wir schon heute voraussehen lassen würden, daß wir in Zukunft zu verhindern suchen werden, daß Oesterreich sich in ökonomischer Hinsicht mit den vergrößerten Balkanstaaten verständigt, wären die Rollen ausgewechselt. Ich bezweifle, daß wir in diesem Falle eine wirkliche Unterstützung bei den Westmächten finden würden. Denn wenn eine ökonomische Verständigung zwischen suveränen Staaten und entsprechend ihren gegenseitigen Interessen in Zukunft der Gefahr eines europäische^ Krieges vorbeugen kann, so scheint mir, daß eine derartige Verständigung sowohl von der öffentlichen Meinung als auch von den Regierungen der Westmächte gebilligt werden wird."8') 86 ) „Affaires Balkaniques" II., Nr. 83, 34, 37, 39, 40, 45. ") Boghitsche witsch, S. 127. ») loe. cit., S. 128. 89 ) Benckendorff an Sasonow am 30. Oktober 1912, Siebert, 559—60.

S.

Poincaré Präsident der Republik

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Mit großer Spannung sah die politische Welt um die Jahreswende 1912/13 den Präsidentenwahlen in Frankreich entgegen, bei denen Poincaré kandidierte. Iswolsky war von quälender Sorge erfüllt, denn eine Niederlage des bisherigen Ministerpräsidenten bedeutete nach ihm für Rußland „eine Katastrophe und den Beginn einer neuen Aera von Combismus".9") Doch der treue Verbündete wurde zwar am 16. Januar bei der Probeabstimmung geschlagen, Tags darauf aber Dank der Unterstützung der Royalisten gewählt. Diese Entscheidung war so viel wie ein gefährliches Programm der Außenpolitik, nach Ansicht mancher Franzosen sogar geradezu „der Krieg"."1) Der neue Staatschef versicherte' dem Botschafter, daß er auch fernerhin die Behandlung der auswärtigen Fragen direkt beeinflussen könne, und betonte, „es sei für die französische Regierung von der größten Wichtigkeit, die öffentliche Meinung im voraus auf die Beteiligung auf den Krieg vorzubereiten, der wegen 1er Balkanfrage entstehen könne"."'') Iswolsky war nun sicher, daß während der kommenden sieben Jahre nicht „Männer wie Caillaux, Cruppi, Monis usw. an der Spitze der Regierung oder der politischen Leitung erscheinen würden". Unterredungen mit Poincaré und dem Außenminister Jonnart gaben ihm die Gewißheit, daß das neue Kabinet nicht nur die Bündnispflichten im ganzen Umfang erfüllen werde, sondern daß es auch „mit vollem Bewußtsein und aller nötigen Kaltblütigkeit zugibt, daß das schließliche Ergebnis der gegenwärtigen Verwicklungen vielleicht die Notwendigkeit der Teilnahme Frankreichs an einem allgemeinen Kriege sei".93) Am 18. Februar zog Poincaré ins Elysée ein, am 19. beschloß er die Abberufung des bisherigen, in beruhigendem Sinne wirkenden Botschafters in Petersburg Georges Louis, der im März Delcassé den Platz räumen mußte, ein Vorgang, der nach dem belgischen Gesandten in Paris „wie eine Bómbe" einschlug.") In einem besonderen persönlichen Schreiben an Nikolaus H. empfahl der Präsident den neuen Vertreter, der das Bündnis zwischen de* Republik und dem Zarenreich „noch fester knüpfen" und insbesondere auf die „raschere Ausführung einiger Eisenbahnlinien an der Westgrenze Rußlands" dringen solle, von denen Poincaré schon im vorigen Sommer in Peter„Livre Noir" IL, S. 9. ) Gustave Dupin „Considérations sur les Responsabilités de la Guerre" Paris 1921. M ) „Livre Noir" IL, S. 15. ") loc. cit. IL, S. 20. •*) Belgische Aktenstücke Nr. 99. 91

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Frankreich auf der Londoner Konferenz (1918)

hof gesprochen habe, und die „infolge der großen Anstrengtrng, die Frankreich zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der europäischen Kräfte zu machen beabsichtige" — gemeint ist die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit — noch nötiger geworden seien. ) Inzwischen waren die Arbeiten der beiden Londoner Konferenzen nicht vom Glück begleitet. Die Versammlung der Kriegsteilnehmer fand schon am 7. Januar ein rasches Ende, da die Türkei die Abtretung Adrianopels verweigerte, das Bulgarien erhalten sollte, damit es Serbien in Mazedonien weiter entgegenkomme, als die Verträge von 1912 vorgesehen hatten. Diese Forderung wurde nun von der Botschafterkonferenz aufgegriffen, auch Deutschland schloß sich zögernd an, um die Eintracht nicht zu stören. Schweren Herzens brachte die türkische Regierung das Opfer, wurde aber deswegen von Enver Bey gestürzt. Die Jungtürken erlangten wieder die Führung und lehnten die Friedensbedingungen des Balkanbundes ab. Am 3. Februar begann der zweite Balkankrieg. Rußland ßah den Wiederausbruch der Feindseligkeiten nicht gern, da es besorgte, die Bulgaren könnten doch noch in Konstantinopel einziehen, das sie schon „Zarigrad" nannten. Auch die Zusage König Ferdinands, er werde nur zwei Tage dort verweilen, um den Wunsch von Heer und Volk wenigstens in etwas zu befriedigen, genügte Sasonow nicht, sondern er ließ dem bulgarischen Gesandten sagen, er brauche ihn nicht zu besuchen, da seine Regierung doch tue, was ihr gut dünke.") In ein merkwürdiges Licht wird hinge'gen die Haltung Frankreichs auf der Londoner Konferenz durch einen Bericht Benckendorffs vom 25. Februar gestellt, worin es u. a. heißt: „Während man sich darüber einig war, daß die Unterstützung Englands rein diplomatischer Art sein würde, jedoch ohne Präjudiz für die schließlichen Folgen, war von Frankreich keinerlei Vorbehalt dieser Art gemacht worden. Das war so wenig der Fall, man darf sich darüber nicht täuschen, daß so groß auch die kluge', obwohl niemals rätselhafte Mäßigung Cambons in den Sitzungen war, er sich in Wirklichkeit mehr nach mir als nach seinen eigenen Eingebungen gerichtet hat; im Gegenteil, wenn ich alle seine Unterredungen mit mir, die gewechselten Worte überdenke und dazu die Haltung Poincar6s in Betracht ziehe, so kommt mir der Gedanke, der einer Ueberzeugung ähnlich ist, daß von allen Mächten Frankreich allein den Krieg, um nicht zu sagen wünscht, doch ohne großes Bedauern sehen würde. Jedenfalls hat mir nichts angezeigt, daß es aktiv zur Arbeit im Sinne eines Kompromisses ") M jjLivre Noir« IL, S. 52—54. ) Friedjung HI., S. 241.

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Delcassé über Kriegaziela (Frühjahr 1913)

beiträgt. Nun der Kompromiß ist der Friede, jenseits des Kompromisses liegt der Krieg." . . . „Die Lage, so wie ich sie beobachten konnte, scheint miT zu sein, daß alle Mächte in der Tat für den Frieden arbeiten. Aber von allen ist es Frankreich, das den Krieg mit dem größten Gleichmut hinnehmen würde.'"7) So urteilte der Bundesgenosse über das Auftreten Frankreichs in London. In Petersburg aber beschränkte sich Delcasse nicht auf die Erörterungen über den Bau strategischer Eisenbahnen als Korrelat zur Wiedereinführung der dreijährigen Dienstzeit, sondern er führte mit Sasonow auch "Verhandlungen über die Ziele eines Krieges gegen Deutschland. Ein Telegramm Iswolskys an Sasonow vom 13. Oktober 1914, das zugleich die Absichten Frankreichs schon im dritten Monat des Weltkrieges enthüllt, zu einer Zeit, da die französische Regierung nach Bordeaux geflüchtet war, und Delcassß wieder wie 1898—1905 an der Spitze der auswärtigen Geschäfte stand, sagt darüber: „Delcasse hat sehr oft und vollkommen offen mit Ihnen gesprochen und hat sich überzeugen können, daß die von Rußland und Frankreich verfolgten Ziele identisch sind. Für sich selbst sucht Frankreich in Europa keine territorialen Erwerbungen, mit Ausnahme natürlich der Rückerstattung von Elsaß-Lothringen. In Afrika erstrebt es ebenfalls keine neuen Erwerbungen und wird sich damit begnügen, die letzten Reste der Algecirasakte zu vernichten und einige koloniale Grenzen zu berichtigen. Sodann besteht das hauptsächlichste Ziel Frankreichs — und in dieser Hinsicht sind alle drei verbündeten Mächte durchaus solidarisch — darin, daß das Deutsche Reich vernichtet und die militärische und politische Kraft Preußens soviel wie möglich geschwächt wird. Man muß die Sache so machen, daß die einzelnen deutschen Staaten hieran selbst interessiert sind."98) Nach Einzelheiten über die zukünftige Gliederung Deutschlands sowie' nach allgemeinen Andeutungen über die territorialen Forderungen Rußlands und dessen Meerengenwünsche fuhr der Botschafter fort: „Hierbei berief sich Delcasse auf die Verhandlungen, die in Petersburg im Jahre 1913 stattgefunden haben, und bat inständigst, Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, daß die Forderungen und Wünsche Frankreichs dieselben geblieben sind, mit Ausnahme des notwendigen t7

) „Livre Noir" II. S. 303—306. ") Iswolsky an Sasonow 13. Oktober 1914, Nr. 347, „Berliner Tageblatt« 28. Dezember 1922, Nr. 589. 4*

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Deutach-engliache ZuBammenaxbeit in London

Wunsches, die politische und ökonomische Kraft Deutschlands zu vernichten". Mit viel weniger „Gleichmut" als in Paris stand man in Berlin der Kriegsmöglichkeit gegenüber. Am 29. Januar, am Tage, nach dem Bulgarien und Serbien den Waffenstillstand mit der Türkei gekündigt hatten, sagte Reichskanzler von Bathmann Hollweg m einem Gespräch über das Los der Türkei zu Jules Cambon: „Wenn der Krieg in Europa ausbräche, würde es ein entsetzliches Unglück für die ganze Welt sein mit Ausnahme von Japan und den Vereinigten Staaten, und die Nachwelt würde uns alle als Narren ansehen, wenn es uns nicht gelänge, ihn zu vermeiden".99) Als Staatssekretär des Auswärtigen stand dem Kanzler nach dem plötzlichen Hinscheidet Kiderlen Wächters seit Anfang 1913 Herr von Jagow zur Seite, der mehr als sein Vorgänger zur „westlichen Orientierung" neigte. Die Verhandlungen mit England über die beiderseitigen Flottenstärken scheinen infolge de'ssen lebhafter gefördert worden zu sein, da Admiral von Tirpitz am 7. Februar im Reichstag erklärte, Deutschland werde mit den Großkampfschiffen nicht über das Verhältnis 10 :16 hinausgehen. Auf der Londoner Konferenz ergab sich eine freundschaftliche deutsch-englische Zusammenarbeit im Interesse des Friedens. Grey wirkte mäßigend auf Rußland, in Berlin waren nicht nur die politischen, sondern auch die militärischen Kreise bestrebt, Wien von übereilten Schritten abzuhalten. Anfang Februar schickte Herr von Bethmann dem Chef des Generalstabs einen Brief des Herzogs Albrecht von Württemberg, wonach der österreichische Thronfolger sich sehr bestimmt gegen einen Krieg mit Serbien ausgesprochen hatte; man gewinne im besten Falle nur unzuverlässige Untertanen und „einen Haufen Zwetschgenbäume". General von Moltke antwortete, diese Auffassung des Erzherzogs stimme mit früheren Aeußerungen desselben überein, sogar der Ausspruch über die Zwetschgenbäume sei ihm erinnerlich, und er schloß seih Schreiben: „Die Hauptaufgabe E. E. dürfte sein, nach Möglichkeit österreichische Torheiten zu verhüten, keine angenehme und keine leichte Aufgabe".100) An seinen österreichischen Kollegen, General von Conrad, schrieb Moltke um dieselbe Zeit, jederman würde es verstanden haben, wenn Oesterreich die Besetzung des Sandschaks als casus belli angesprochen haben würde, ebenso wie jederman es verstand, daß Oesterreich das Entstehen eines serbischen M

} „Affaires Baücaniques" H, Nr. 90.

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) Ungedruckte Akten wurde nun doch etwas beunruhigt und unterbreitete dem Reichskanzler eine Denkschrift kurz folgenden Inhalts: „Rußland bereitet Mobilisierung von 12 Armeekorps vor, trifft militärische' Maßnahmen auch an der deutschen Grenze und droht, die 12 Korps zu mobilisieren, wenn Oesterreich in Serbien einrückt. Dann wird Oesterreich, das bisher nur acht Korps gegen Serbien aufgeboten hat, zur Mobilmachung der anderen Hälfte seines Heeres gezwungen. Der Zusammenstoß wird damit unvermeidlich, sodaß für Deutschland der BüncLnisfall eintritt. Rußland wird dann sagen, Oesterreich habe zuerst mobilisiert und damit seinen Angriffswillen bekundet. Es ist daher von größter Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu erhalten, ob Rußland und Frankreich gewillt sind, es auf den Krieg ankommen zu lassen" >— D 349") Der Gedanke, daß Rußland v o r Oesterreich zu einer Gesamtmobilmachung schreiten könnte, wurde somit nicht einmal erwogen. Immerhin war klar, daß die bisherige militärische Zurückhaltung nicht mehr andauern durfte; indessen beschränkte man sich einstweil 3n darauf, alle Truppen in die Standorte zurückzuführen, die Luftschiffanlagen zu sichern und Kriegsmaterial für Rußland uncf Serbien anzuhalten.") Der Kanzler aber wendete sich in der ersten Nachmittagsstunde mit eindringlichen Vorstellungen nach Paris und Petersburg. Herr von Schoen sollte die französischen Kriegsvorbereitungen und die Notwendigkeit deutscher Gegenmaßnahmen zur Sprache bringen: „Wir müßten „Kriegsgefahr" proklamieren, was zwar noch nicht Mobilisierung und keine Einberufungen bedeute, aber immerhin Spannung erhöhen würde" — D 341. Graf Pourtales wurde beauftragt, Sasonow „sehr ernst darauf hinzuweisen, daß weiteres Fortschreiten russischer Mobilmachungsmaßnahmen uns zur Mobilmachung zwingen würde, und daß dann europäischer Krieg kaum noch aufzuhalten sein würde" — D 342. Herr von Bethmann begnügte sich nicht mit diesen Warnungssignalen, sondern ließ wiederum den britischen Botschafter zu sich bitten, um ihm sein Bedauern auszudrücken, daß das österreichische Kabinett den von Berlin befürworteten Vorschlag, die serbische Antwort als Grundlage für Verhandlungen anzusehen (Seite 106), abgelehnt habe. Er gab Sir Edward ") D 349 dürfte schon am Vormittag verfaßt und in den „Deutschen Dokumenten" weiter vorne einzureihen sein. ") Untersuchungsausschuß, 2. Heft, S. 10.

Die deutschen Maßnahmen am Abend des 29. Juli

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Goschen ferner Kenntnis von der gestern nach Wien gerichteteu Aufforderung „Halt in Belgrad", damit die Hoffnung verbindend, man werde in London in dieser streng vertraulichen Mitteilung, von der nicht einmal Fürst Lichnowsky Kenntnis habe, einen Beweis aufrichtiger Friedensbemühungen erblicken — E 75.'") Grey ließ umgehend in waxmen Worten danken — D 353, E 77, Nunmehr wurde das Antworttelegramm an den Zaren entworfen. Es wendete sich gegen die Behauptung, daß Oesterreich einen „unwürdigen Krieg" gegen Serbien führe, und schloß: „Ich halte eine direkte Verständigung zwischen Deiner Regierung und Wien für möglich und wünschenswert und, wie ich Dir schon telegraphiert habe, setzt meine Regierung ihre Bemühungen fort, diese Verständigung zu fördern. Natürlich würden militärische Maßnahmen von Seiten Rußlands, die Oesterreich als Drohungen ansehen würde, ein Unheil beschleunigen, das wir beide' zu vermeiden wünschen, und meine Stellung als Vermittler gefährden, die ich auf Deinen Appell an meine Freundschaft und meinen Beistand bereitwillig übernommen habe" — D 359 (offen ab 6 Uhr 30 abends). Drei Stunden, bevor diese versöhnliche Botschaft abbefördert wurde, hatte Graf Pourtales gemeldet, daß Rußland heute noch die Militärbezirke an der österreichischen Grenze mobilisieren werde — D 343. Eine Täuschung über den Ernst der Lage war nicht mehr möglich. Schon auf Grund der bisherigen beunruhigenden Nachrichten hatte der Kaiser, dem dar Text des Telegramms Pourtales erst am Morgen des 30. vorgelegt wurde — D 399, für den Abend den Kanzler und die militärischen Chefs zu Vorträgen nach Potsdam berufen. Dort beantragte Moltke „entsprechende Gegenmaßnahmen" gegen die russischen und französischen Kriegsvorbereitungen — D Anhang IV, 15, also vermutlich die Erklärung des „Zustande« drohender Kriegsgefahr", drang jedoch damit gegen die entgegengesetzte Ansicht Bethmanns nicht durch. Es hat am 29. weder ein „Kronrat" stattgefunden, noch sind Anordnungen für die „Mobilmachung" getroffen worden.47) Am späten Abend würden lediglich folgende dürftige militärische Vorsichtsmaßnahmen angeordnet: militärischer Bahnschutz, Rückberufung der Urlauber, Ausbau der Armierungsstellungen der Festungen, Verstärkung der Besatzung der In§el Borkum.*8) Eine Vorbereitung für den schlimmsten Fall war, daß durch Feldjäger das Ultimatum an Belgien in verschlossenem, nur auf besonderen Befehl zu öffnenden Umschlag der Gesandt46 ) Der Satz, daß Lichnowsky nicht verständigt wurde, ist in E 75 nach Oman S. 74/75 einzuschalten. * 7 ) Monatsschrift .„Die Kriegsschuldfrage" Juli 1923, S. 8 ff. M ) Untersuchungsausschuß Heft 2 S. 12.

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Amtliche Mitteilung der russischen Teilmobilmachung

schaft in Brüssel zugestellt wurde — D 375, 376. Im Zusammenhang damit ließ der Kanzler nach Rückkehr von Potsdam noch am späten Abend den britischen Botschafter nochmals ersuchen, sich zu ihm zu bemühen. Er sprach die Hoffnung aus, daß wenn Deutschland durch einen russischen Angriff auf Oesterreich zur Erfüllung seiner Bündnispflichten gezwungen werden sollte, England neutral bleiben werde. Deutschland denke nicht an eine Zerschmetterung Frankreichs, sondern werde im Falle des Sieges kein europäisches Gebiet von Frankreich fordern. Es werde' die Neutralität und Integrität Hollands achten, solange dies von gegnerischer Seite geschehe. Was Belgien betreffe, so hänge es von den französischen Operationen ab, zu welchen Maßnahmen man genötigt sein würde. Jedenfalls werde die Integrität des Königreichs nicht angetastet werden, wenn es nicht gegen Deutschland Partei ergreife. Die Neutralität Englands in einem allenfallsigen Konflikt würde eine geeignete Grundlage für eine dauernde deutsch-englische Verständigung bilden. Auf eine Frage des Botschafters wegen der französischen Kolonien wurde die Uebernahme einer Verpflichtung abgelehnt — D 373, E 85. Der Gesandte in Kopenhagen erhielt zwar „für den Fall eines Kriegsausbruchs" Auftrag, Dänemark auf den Ernst der Situation hinzuweisen, jedoch wurde von diesem Lande nichts anders als eine neutrale Haltung erwartet — D 371, 494. Nach Schluß der Potsdamer Vorträge wurde Wilhelm II. eine Antwort des Zaren auf das Telegramm von 6*° überreicht: „Danke für Dein versöhnliches und freundschaftliches Telegramm. Dagegen war die heute von Deinem Botschafter meinem Minister übergebene offizielle1 Mitteilung in einem ganz anderen Ton gehalten. Bitte Dich, diese Verschiedenheit aufzuklären. Es würde sich empfehlen, das österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz vorzulegen. Vertraue auf Deine Weisheit und Freundschaft" — D 366 (8 Uhr 42 abends im Neuen Palais aufgenommen). Der russische Botschafter aber teilte, wenn nicht früher, so um diese Zeit im Auswärtigen Amt die Mobilmachung der vier Bezirke Kijew, Odessa, Moskau und Kasan amtlich mit, dabei betonend, daß diese Maßnahme „keineswegs gegen Deutschland gerichtet sei" — D 380, Anm. 3.") Gleichzeitig etwa (9 Uhr 45 abends) ging die Meldung des Militärattaches aus Petersburg ein, der Kriegsminister habe ehrenwörtlich versichert, daß bis drei Uhr nachmittags kein Mann und kein Pferd Siehe auch Telegramm Swerbejews Nr. 140 vom 29. Juli im „Roten Archiv" S. 177, wonach die Mitteilung der russischen Mobilmachung anscheinend während der Abwesenheit des Kanzlers in Potsdam erfolgt ist.

Die Bedeutung der russischen Teilmobilmachung

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eingezogen war — D 370. Tatsächlich hatte das Telegramm des Kaisers von 630 vorzüglich gewirkt. Es hatte den Zaren veranlaßt, die schon angeordnete allgemeine Mobilmachung in eine Teilmobilmachung gegen Oesterreich umzuwandeln.50) Das aber wußte man in Berlin nicht. Man hatte hingegen die offizielle Mitteilung der russischen Regierung tiber die Mobilmachung einer, der österreichisch-ungarischen weit überlegenen russischen Heeresmacht (55 russische gegen 28 österreichischungarische' Infanteriedivisionen, da von der Gesamtzahl 50 ja 22 durch Serbien gefesselt waren), wodurch das Ehrenwort des russischen Kriegsministers als ein Schachzug auf Zeitgewinn entlarvt war, man mußte nach zahlreichen Meldungen bezweifeln, ob die jetzige Versicherung, daß nicht gegen Deutschland mobilisiert werde, aufrichtig war, und sah endlich einen Vorschlag schiedsrichterlicher Entscheidung1, die Wochen in Anspruch nehmen und den russischen Massen reichlich Zeit gewähren konnte, sich an der österreichischen und vielleicht auch an der deutschen Grenze zu sammeln. Das Wichtigste war daher, die Mobilmachung, wenn noch möglich, anzuhalten, weshalb der Kanzler nach Petersburg drahten ließ: „Russische Mobilmachung an österreichischer Grenze wird, wie ich annehme, entsprechende österreichische Maßregel zur Folge haben. Wieweit dann die rollenden Steine noch aufzuhalten sind, ist schwer zu sagen Um, wenn möglich, drohende Katastrophe noch abzuwenden, wirken wir in Wien darauf hin, daß die österreichisch-ungarische Regierung in Bestätigung ihrer früheren Versicherung Rußland noch einmal formell erklärt, daß ihr territoriale Erwerbunsren in Serbien fernliegen, und ihre militärischen Maßnahmen lediglich eine vorübergehende Besetzung bezwecken, um Serbien zur Schaffung von Garantien für künftiges Wohlverhalten zu zwingen Wir erwarten daher, daß Rußland, falls unser Schritt in Wien Erfolg hat, keinen kriegerischen Konflikt mit Oesterreich herbeiführt" D 380. Die feindliche Propaganda hat in der „Beratung" von Potsdam und im Schritte des Kanzlers beim britischen Botschafter Beweise für den Willen Deutschlands zum Kriege sehen wollen. Wie unrichtig dieser Schluß ist, ergibt sich daraus, daß der Reichskanzler gerade jetzt seine Bemühungen tun Erhaltung des Friedens verdoppelte. Eine große Sorge hatte Bethmann den ganzen Tag gequält: das Ausbleiben einer Antwort aus Wien auf den Vorschlag „Halt in Belgrad". Mit gerechtfertigter Ungeduld ließ er zwischen der zehnten und elften Abendstunde zweimal deswegen bei Tschirschky monieren — D 377 und Anm. 3. s0

) Dobrorolski S. 26. 8*

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Ernste Nachrichten aus Petersburg und London

Dann lagen ihm wichtige Nachmittagsmeldungen aus Petersburg und London vor. Pourtalös hatte telegraphiert, Sasonow beschwere sich, daß der direkte Gedankenaustausch weder in Petersburg noch in Wien in Fluß komme — D 343. Lichnowsky hatte dieselbe Klage berichtet und eine Erklärung des serbischen Geschäftsträgers in Rom übermittelt, Serbien werde auch die beiden Punkte über Beteiligung österreichischer Agenten annehmen, wenn die Art der Beteiligung erläutert würde — D 357. Daß Grey bei diesem Gespräch erneut auf die Vermittlung zu Vieren hingewiesen hatte — E 84, kam in dem Telegramm nicht scharf zum Ausdruck. Das war jedoch nicht von erheblichem Belang, da nunmehr infolge der russischen Mobilmachung gegen Oesterreich a u s d e m ö s t e r r e i c h i s c h - s e r b i s c h e n K o n f l i k t ein ö s t e r r e i c h i s c h - r u s s i s c h e r geworden war, und Deutschland für diesen Fall, wie man in London wußte, die Vermittlung zu Vieren angenommen hatte. Auf Grund der Meldungen der beiden Botschafter gingen etwa um Mittemacht drei Depeschen nach Wien •— D 383, 884, 385. Die erste übermittelte die beiden am gestrigen Tage zwischen Kaiser und Zar gewechselten Telegramme „zur Verwertung" bei Graf Berchtold. Die zweite empfahl den eben von London gedrahteten Vorschlag aus Rom. Es war nach der Vermittlung zu Vieren, den direkten Besprechungen, der Annahme der serbischen Antwort als Basis für Verhandlungen und dem .,Halt in Belgrad" die f ü n f t e von Deutschland angenommene Vermittlungsart. Die dritte' Depesche an Tschirschky teilte die russische Mobilmachung gegen Oesterreich mit und wiederholte auf Grund der Beschwerde Sasonows den dringenden Wunsch nach Beginn und Fortsetzung des unmittelbaren Gedankenaustausches. Als diese Depeschengruppe erledigt war, wurden dem Kanzler noch ernstere Nachrichten von Downingstreet und der Sängerbrücke vorgelegt. Lichnowsky hatte eine zweite Unterredung mit Grey gehabt — D 368, E 88, 89. Darin bezeichnete der Staatssekretär als geeignete Grundlage für eine Vermittlung zu Vieren, daß „Oesterreich etwa nach Besetzung von Belgrad oder anderer Plätze seine Bedingungen kundgebe". Das war annähernd der deutsche Vorschlag, den Goschen zur Kenntnis gebracht hatte (Seite 113). Es erwies sich jetzt doch als nachteilig, daß Lichnowsky nicht gleich verständigt worden war; er würde dann in der Lage gewesen sein, zu antworten, eine ähnliche Anregung habe seine Regierung schon vor 24 Stunden gegeben. Nach diesem Vorschlag kam dann aber weiter die nicht mißzuverstehende Warnung Greys, daß England zwar in einem russisch-österreichischen Konflikt abseits stehen könne, nicht aber, wenn Deutschland und Frankreich hineingezogen würden. In diesem Falle würde die britische Regierung „unter

Energische Mahnungen Bethmanna an Wien

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Umständen, sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen" — D 368. Das war ein schwerer Schlag, doppelt schwet nach dem eben mit Goschen über die englische Neutralität geführten Gespräch. Zugleich aber war es ein Ansporn, noch energischor im Sinne der Erhaltung des Friedens zu wirken. In vollem Wortlaut ging die Meldung Lichnowskys nach Wien mit dem Zusatz: „Wir stehen somit, falls Oesterreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien allen Anzeichen nach nicht mit uns gehen würden und wir 2 gegen 4 Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu. Oesterreichs politisches Prestige, die Walfenehre seiner Armee, sowie seine berechtigten Ansprüche Serbien gegenüber könnten durch Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werdeu. Es würde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegenüber wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung das Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheimgeben, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden Folgen wäre für Oesterreich und uns eine ungemein schwere" — D 395. Damit war die V e r m i t t l u n g zu V i e r e n , über die das Berliner Kabinett bisher nur gegenüber London eine zustimmende Erklärung abgegeben hatte, auch in W i e n d r i n g e n d e m p f o h l e n . Gleichzeitig war noch eine andere Sache mit dem Ballhaueplatz zu regeln. Wie erwähnt, war schon um 3 Uhr nachm. eine Beschwerde Sasonows über österreichische Verweigerung direkter Besprechungen eingegangen. Zwei Stunden später hatte jedoch Tschirschky über eine Unterredung Schebeko—Berchtold berichtet — D 356. Nach weiteren dreieinhalb Stunden aber kam eine neue, noch schärfere Klage Sasonows über „kategorische' Ablehnung" des unmittelbaren Gedankenaustausches durch Wien — 365. Diese Meldungen waren unvereinbar — sollte ein Mißverständnis vorliegen? Der Kanzler war wegen des Ausbleibens einer Antwort auf den letzten Vorschlag, dann auch wegen unverantwortlicher Reden der österreichischen Diplomaten in London über „Niederbegeln" und Aufteilung' Serbiens — D 301, 361 — ohnehin arg verstimmt gegen den starrsinnigen Bundesgenossen und schritt nun bis zur Drohung einer Aufkündigung des Bündnisses. Das Telegramm Pourtales ging nach Wien mit dem Zusatz: „Diese Meldung steht nicht im Einklang mit der Darstellung, die Ew. pp. in dem Verlauf der Unterredung mit Herrn Schebeko gegeben haben. Anscheinend liegt Miß-

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Wien gibt mir teilweise nach

Verständnis vor, das ich aufzuklären bitte. Wir können Oesterreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhandeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jeden Meinungsaustausches mit Petersburg aber würde schwerer Fehler sein, da er kriegerisches Eingreifen Rußlands geradezu provoziert, das zu vermeiden Oesterreich-Ungarn in erster Linie interessiert ist. Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und. ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint Wien unsere Ratschläge zu mißachten. Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nachdruck und großem Ernst aussprechen" —D 396. Während die beiden langen Noten nach Wien chiffriert wurden, unterzeichnete der Kanzler noch zwei beruhigende Telegramme nach Petersburg des Inhalts, daß Deutschland weiter vermittle, solange sich Rußland jeder Feindseligkeit gegen Oesterreich enthalte, und daß die Ablehnung der direkten Besprechungen durch Wien vor dem letzten deutschen Schritt erfolgt sein müsse —• D 392, 397. Der Gedanke der Haager Konferenz wurde allerdings abgelehnt — D 391. Auf diese Anregung des Zaren wird noch gesondert eingegangen werden,") vorläufig sei nur bemerkt, daß sie niemals zwischen Sasonow und Pourtales berührt, die' Ablehnung von Seite des deutschen Botschafters auch gar nicht erwähnt worden ist» sodaß sie keinerlei Einfluß auf den Gang der Ereignisse haben konnte. Auch nach London ging noch ein Telegramm ab, daß man in Wien weiter vermittle und dringend zur Annahme der Grey'schen Vorschläge rate — D 393. Es war weitgehende Bescheidenheit, nicht anzudeuten, daß man zuvor schon einen ähnlichen Gedanken gehabt und empfohlen hatte. Fünf Mahnungen nach Wien hatten in den drei Stunden nach Mitternacht die Wilhelmstraße verlassen, fünf Mahnungeu zum Einlenken. Während dieser Zeit war endlich auch eine Antwort von Tschirschky eingetroffen, aber eine wenig befriedigende. Berchtold war zwar bereit, die Erklärung des territorialen Desinteressements zu wiederholen, aber noch nicht in der Lage, über das Anhalten der militärischen Operationen in Belgrad eine Antwort zu erteilen — D 388. Dieses enttäuschende Telegramm scheint dem Kanzler erst am Vormittag des 30. vorgelegt worden zu sein. D o n n e r s t a g , 3 0. J u l i . Mit der wenig erfreulichen Lektüre der eben erwähnten dilatorischen Antwort aus Wien begann für den Kanzler zu früher Stunde der neue Tag. Dann telegraphierte Pourtalös, das kaiser61

) Siehe IV. Absschnitt 6. Kapitel, S. 177.

Mahnworte nach Petersburg

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liehe Telegramm habe seine Wirkung nicht verfehlt, aber er fürchte, daß Sasonow „eifrig bemüht sei, daran zu arbeiten, daß der Zar fest bleibt" — D 401. Es folgten Meldungen über den Vormarsch russischer Truppen von Kowno gegen die deutsche Grenze und über den Umfang der russischen Mobilmachung nebst Bestätigung der Nachricht, daß aus den nördlichen Gouvernements Matrosen einberufen seien, die doch kaum gegen Oesterreich Verwendung finden konnten — D 404, 410. lieber die Vorgänge während der Nacht erstattete Bethmann dem Kaiser Bericht und 6andte ihm gegen Mittag das vor der Haltung Englands warnende Telegramm Lichnowskys — D 407. Dieser Vorgang zeigt, mit welcher Vorsicht von Fall zu Fall die Randbemerkungen Wilhelms IL bewertet werden müssen. Die deutsche Mahnnote nach Wien war 3 Uhr morgens abgesendet worden, dem Kaiser aber wurde das Telegramm, das Anlaß zur Mahnung gegeben hatte, erst neun Stunden später vorgelegt, sodaß seine, in diesem Fall sehr impulsiven Marginalien auf den längst gefaßten Entschluß des verantwortlichen Leiters der Politik keinerlei Einfluß haben ausüben können. Doch der Kanzler begnügte sich nicht mit referierender Tätigkeit, alle die ungünstigen Nachrichten waren für ihn nur ein Ansporn zu um so intensiverer Tätigkeit für den Frieden. Gleichzeitig mit der Meldung Lichnowkys legte er daher Jon Entwurf zu einem dritten Telegramm an den Zaren vor und bat dabei insbesondere, der Kaiser möge nicht, wie er in einer Randglosse (zu D 399) geschrieben hatte, von dem Scheitern, sondern nur von der Gefährdung seiner Vermittlerrolle sprechen >— D 408. Die den Entwurf fast wörtlich übernehmende Depesche war, obschon sie den Haager Vorschlag nicht erwähnte, in zwar ernstem, aber sehr versöhnlichem Tone gehalten und läutete: „Besten Dank für Telegramm. Es ist ganz ausgeschlossen, daß die Sprache meines Botschafters mit dem Inhalt meines Telegramms in Widerspruch gestanden haben könnte. Graf Pourtales war angewiesen, Deine Regierung auf die Gefahr und die ernsten Folgen einer Mobilmachung aufmerksam zu machen. Das gleiche sagte ich in meinem Telegramm an Dich. Oesterreich hat nur gegen S e r b i e n mobil gemacht und nur einen T e i l seines Heeres. Wenn, wie es jetzt nach Deine* und Deiner Regierung Mitteilung der Fall ist, Rußland gegen Oesterreich mobil macht, so wird meine Vermittlerrolle, mit der Du mich gütigerweise betraut hast, und die ich auf Deine ausdrückliche Bitte übernommen habe, gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Das ganze Gewicht der Entscheidung ruht jetzt ausschließlich auf Deinen Schultern, sie haben die Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen" — D 420 (3 Uhr 30 nachm. zum Haupttelegraphenamt).

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Der Preußische Ministerrat vom 30. Juli

Wie durch den Kaiser in Petersburg, so suchte der Kanzler auf diplomatischem Wege in London zu wirken. Er ließ dort sagen, daß die Hoffnung auf Vermittlung durch die russische Mobilmachung gegen Oesterreich sowie die französischen Kriegsvorbereitungen in Frage gestellt sei, und bat, Grey möge Frankreich bewegen, mit seinen militärischen Maßnahmen s o f o r t einzuhalten, und bei Rußland durchsetzen, daß der russische A u f m a r s c h gegen die österreichische Grenze verhindert werde — D 409. In ähnlichem Sinne sprach Staatssekretär von Jagow auf den britischen Botschafter ein — E 98. Die Hälfte des Tages ging vorUber, aus Wien war keine Antwort eingetroffen. Der fortschreitende Ernst der Lage veranlaßte die Einberufung eines Preußischen Ministerrats.") Dort gab der Kanzler als Ministerpräsident einen Ueberblick über die Entwicklung der politischen Lage und erklärte am Schluß seiner Darlegung, er gebe „solange seine Demarche in Wien noch nicht abgeschlagen sei, d i e H o f f n u n g e n u n d B e m ü h u n g e n a u f E r h a l t u n g des F r i e d e n s noch nicht auf". Aus dem Verlauf der Sitzung ergibt sich: 1. Deutschland wird, obwohl Rußland gegen Oesterreich mobilisiert hat, weder mobilisieren noch auch nur lau „Zustand drohender Kriegsgefahr" erklären. Lediglich die bei der Marine (nicht beim Landheer) bestehende Maßnahme der „Sicherung" darf getroffen werden. 2. Bei der Beratung am vorhergehenden Abend in Potsdam hatte der Generalstab nicht die Mobilmachung, sondern nur „drohende Kriegsgefahr" beantragt. Allerhand Gerüchte schwirrten an diesem Vormittag in den europäischen Hauptstädten umher. In Paris meldete ein Blatt C..Paris du Midi") eine Teilmobilmachung, in Berlin ward um ein Uhr ein Extrablatt des „Lokalanzeigers" mit der falschen Nachricht des kaiserlichen Entschlusses zur Mobilmachung ausgegeben. Der Zwischenfall wurde durch sofortige telephonische Benachrichtigung der drei Ententebotschafter erledigt und hat auf den Gang der Ereignisse nicht eingewirkt.") Im Laufe des Nachmittags ergaben sich einige Lichtblicke. Fürst Lichnowsky meldete, daß er Grey sofort von der dauernden deutschen Einwirkung auf Wien zur Annahme der englischen Vorschläge verständigt habe, und fügte hinzu, daß er persönlich London nicht als geeigneten Konferenzort ansehe — D 418. Daraus konnte man schließen, daß dieser Gedanke, den Grey selbst ja schon am 28. zurückgestellt hatte — E 67, in M ) Der Ministerrat fand wahrscheinlich um die Mittagszeit statt. Siehe Beleg Nr. 22 S. 198. M ) Siehe IV. Abschnitt 7. Kapitel, S. 178.

Die erste Formel Sasonows

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der englischen Hauptstadt immer mehr in den Hintergrund getreten sei. Später kam noch das Versprechen Grey's, er wolle versuchen, wegen der russischen Rüstungen „im gewünschten Sinne durch Graf Benckendorff heute noch zu wirken" — D 435, während er die französischen Kriegsvorbereitungen infolge der Pariser Falschmeldungen in Abrede stellte. Weniger erfreulich war, daß die britische Flotte die O s t k ü s t e entlang in die schottischen Häfen (ihre Kriegsstation) gefahren sei — D 438. Aus Petersburg wurde ein auf Bitte des deutschen Bot schafters von Sasonow formulierter Vorschlag1 übermittelt, — die e r s t e S a s o n o w ' s c h e F o r m e l : „Wenn Oesterreich anerkennt, daß der Streitfall mit Serbien den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat und sich bereit erklärt, aus seinem Ultimatum die Punkte zu entfernen, die den Suveränitätsrechten Serbiens zu nahe treten, veroflichtet sich Rußland, alle militärischen Vorbereitungen einzustellen" —• D 421. Der Kanzler hat anscheinend in seiner großen Versöhnlichkeit an diesem Wortlaut keinen Anstoß genommen, in gemeinsamer Beratung" kam man jedoch zu der Ueberzeugung, daß Oesterreich niemals darauf eingehen werde, von seiner vor einer Woche übetgebenen Note etwas zurückzunehmen.") Herr von Jagow erklärte dem ihn aufsuchenden russischen Botschafter, die Formel sei seiner Ansicht nach für Oesterreich unannehmbar, fügte jedoch hinzu, daß Szäpäry beauftragt sei, die' Verhandlungen mit Sasonow fortzuführen, und daß außerdem ein neuer Vorschlag Greys vorhanden sei, der aller Wahrscheinlichkeit nach in Petersburg schon bekannt sein müsse. Der Staatssekretär hat also keineswegs die Türe für Verhandlungen zugeschlagen, sondern im Gegenteil Wege zu deren Fortführung gezeigt. Die Verteidiger des Zarismus haben lange Zeit die allgemeine russische Mobilmachung mit der Ablehnung der Formel zu begründen versucht. Dieser Versuch ist gescheitert. Als die Meldung von Pourtalös gegen halb vier Uhr (halb fünf Uhr russische Zeit) in Berlin eintraf, hatte Sasonow zum zweiten Male, und dieses Mal unwiderruflich, dem Zaren den Entschluß zur allgemeinen Mobilmachung abgerungen.65) In London wurde' der Vorschlag Sasonows nicht günstiger beurteilt als in Berlin. Etwa zu derselben Zeit, da Swerbejew M ) Siehe Randbemerkungen des Kanzlers und Aktennotiz Zimmermanns — D 421 Anmerkung: 2. ") Nach Palöologue um 4 Uhr — nach Dobrorolski spätestens um 2 Uhr. Die Unterredung Jagow—Swerbejew kann, da in ihr die erst gegen 6 Uhr in Berlin bekannt gewordene Instruktion an Szäpäry erwähnt wird, erst nach 6 Uhr stattgefunden haben. Telegramm Swerbejews über die Unterredung siehe Beleg Nr. 23 S. 198.

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066terreiob au direkten Besprechungen bereit

bei Jagow vorsprach, schlug Grey in Petersburg vor, die Formel dahin abzuändern, daß wenn Oesterreich seinen Vormarsch nach der Besetzung von Belgrad einstelle, die Mächte prüfen sollten, wie Serbien ohne Schädigung seiner Rechte und Unabhängigkeit Oesterreich Genugtuung geben könne. Er hoffe ferner, daß bei derartiger Begrenzung der Operationen OesterTeichs auch Rußland seine militärischen Vorbereitungen einstellen werde. Auf Wunsch Lichnowskys war in der abgeänderten Formel der anstößige Punkt der Abänderung des Ultimatums ausgeschaltet worden — E 103, D 439, 460. Auch Poincaré war der Ansicht, daß. Oesterreich nicht darauf eingehen würde, die von Serbien nicht angenommenen Bedingungen des Ultimatums einer internationalen Diskussion zu unterstellen — E 99. Zwei Stunden nach dem russischen Vorschlag (gegen halb sechs Uhr) traf wieder eine Ablehnung aus Wien ein, sie betraf die Anregung des serbischen Vertreters in Rom (S. 116) -— D 432. Aber wenige Minuten später kam endlich, endlich eine halbwegs befriedigende1 Botschaft. Tschirschky drahtete, daß an Szàpàry Instruktion ergangen sei, die Konversation mit Sasonow zu beginnen. Ferner würde Berchtold mit Schebeko sprechen und ihm mitteilen, daß der Monarchie territoriale Erwerbungen ferne lägen, und daß sie „nach Friedensschluß" lediglich vorübergehende Besetzung serbischen Gebiets bezwecke — D 483. Das war also die Annahme der direkten Besprechungen, die in Wirklichkeit entgegen den Behauptungen Sasonows niemals eingestellt waren, und es war die Wiederholung des Verzichts auf territoriale Erwerbungen, es war aber nicht die Beschränkung der militärischen Operationen auf Belgrad und Umgebung. Nach einer weiteren Viertelstunde kam denn auch die Meldung, daß Berchtold auf diesen Punkt erst „nach Einholung der Befehle des Kaisers Franz Josef" Antwort erteilen könne — D 434. Telephonisch wurde dann noch ermittelt, daß die Antwort frühestens um Mittag des nächsten Tages zu erwarten sei 1— D 440. Das lange Zögern Wiens hatte auch Wilhelm II. ungeduldig gemacht, sodaß er beschloß, sich persönlich an Kaiser Franz Josef zu wenden. Die vom Kanzler auf Befehl im Entwurf vorgelegte und nur wenig abgeänderte Depesche lautete: „Die persönliche Bitte des Zaren, einen Vermittlungsversuch zur Abwendung eines Weltbrandes und Erhaltung des Weltfriedens zu unternehmen, habe ich nicht ablehnen zu können geglaubt und Deiner Regierung durch meinen Botschafter gestern und heute Vorschläge unterbreiten lassen. Sie gehen unter andern darauf, daß Oesterreich nach Besetzung von Belgrad oder anderer Plätze seine Bedingungen kundgäbe. Ich wäre Dir zu aufrichtigem Dank verpflichtet, wenn Du mir Deine Entscheidung möglichst

Mitteilung dea österreichischen Entgegenkommens nach London 183 bald zugehen lassen wolltest" — D 437 (ab 7 Uhr 15 abends). Sehr verstimmt über die endlose Verzögerung sandte der Kanzler noch eine eigenhändig entworfene und in den schärfsten Ausdrücken gefaßte Instruktion an Tschirschky — D 441, deren Ausführung jedoch wegen bedrohlicher Meldungen aus Rußland zunächst sistiert — D 451, dann jedoch durch einen schonenderen, aber vielleicht wirksameren Druck ersetzt wurde, nämlich durch Uebermittlung eines Telegramms des Königs von England an Prinz Heinrich von Preußen, worin der Vorschlag „Halt in Belgrad" warm empfohlen wurde. Der Botschafter wurde beauftragt, das Telegramm unverzüglich Graf Berchtold mitzuteilen und ihm auf Wunsch Abschrift zur eventuellen Verwertung gegenüber Kaiser Franz Josef zu überlassen — D 464. Kaiser und Kanzler appellierten nunmehr von dem zögernden Minister an den Herrscher des Habsburger Reichs. Auf der anderen Seite wurde jedoch das Entgegenkommen Oesterreichs in der Frage des direkten Gedankenaustausches keineswegs geringschätzig bei Seite geschoben. Wie oben erwähnt, hatte es Jagow schon gegenüber Schebeko verwertet. Die diesbezügliche Meldung Tschirschkys wurde nach London und Petersburg übermittelt, nach der englischen Hauptstadt mit dem Zusatz: „Das Telegramm bezieht sich auf unsere frühere Anregung direkter Besprechungen zwischen Wien und Petersburg und zeigt so viel Entgegenkommen Wiens, daß wir hoffen, daß England in Petersburg auf gleiches Entgegenkommen und namentlich auf Einstellung seiner Kriegsmaßnahmen wirken wird" — D 444 und Anm. 3. 'Es kam nun alles darauf an, so dachte man in Berlin, ob Grey seinem Versprechen getreu auf Einstellung der russischen Kriegsvorbereitungen dringen werde. In der milden Form, wie er es bei Abänderung der Sasonowschen Formel getan hatte, war ein Erfolg nicht denkbar. Wird er sich zu gleich enerpischer Sprache aufraffen, wie man selbst sie in Wien seit drei Tagen führte? Die ganze Rechnung war freilich auf Sand gebaut. Denn während man in Berlin Mahnung auf Mahnung nach Wien sandte und London mit Bitten bestürmte, waren in Petersburg die Würfel schon gefallen. Welches waren nun aber die Gründe für das unbegreiflich scheinende Zögern in Wien? Das vorgeschützte ..Einholen der Befehle des Kaisers" war ja selbstverständlich nötig, doch der Weg vom Ballhausplatz bis zur Hofburg, wohin Franz Josef am 30. von Ischl zurückgekehrt war. ist nicht weit. Die wahren Ursachen sind sicherlich andere gewesen. Zunächst mußt» Tisza gehört werden — D 440. Das war der Fluch der Doppelmonarchie, daß die auswärtige Politik an zwei Orten zugleich

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Militärische Passivität in Wien

gemacht werden mußte. Dann kam aller Wahrscheinlichkeit nach eine noch wenig' erörterte militärische Schwierigkeit. Die Beschränkung der Operationen auf Belgrad und Umgebung war einfach durchzuführen, wenn der österreichische Krie'gsplan den direkten Vormarsch dorthin vorsah. Conrad aber wollte auf weiten Umwegen an der Nordwestecke defe Königreichs die Offensive ansetzen, so daß er auf denkbar schlechtesten Verbindungen halb Nordserbien von West nach Ost durchziehen mußte, bis er zur Hauptstadt gelangte. In dieses strategische Geheimnis war man in Berlin nicht eingeweiht, sonst würde man vielleicht das Wort Belgrad weniger betont haben. Zur diplomatischen Passivität gesellte sich die militärische. Graf Berchtold hatte die russische Mobilmachung gegen OesterTeich am Abend des 29. erfahren — Oe III. 1, 18, D 386. Damit waren 55 aktive und Reservedivisionen der Infanterie gegen die Monarchie aufgeboten, die ihrerseits nur noch über 28 verfügte, da 22 von der vorhandenen Gesamtzahl von 50 gegen Serbien bestimmt waren."") „Mobilmachung gegen Mobilmachung" ist Regel auch für die strengsten Pazifisten. In Wien aber verstrich der ganze Tag des 80. ohne eine' solche Maßnahme. Statt dessen wünschte der österreichische Minister als „letzten Versuch, den europäischen Krieg hintanzuhalten", eine gemeinsame deutsch-österreichische warnende Erklärung in Petersburg und Paris, ähnlich derjenigen, die von Berlin in der französischen Hauptstadt schon einmal (am 29. — D 341), in der russischen aber schon dreimal (erstmals am 26., zweimal am 29. — D 219, 342, 380) abgegeben worden war. Eine Wiederholung ohne neuen dringenden Anlaß würde jedem diplomatischen Brauch widersprochen und als herausfordernde Drohung gewirkt haben, so daß man dem Wiener Kabinett anheim Ereben mußte, diese Demarche allein zu unternehmen. — D 427, 429, 442. Dazu jedoch fand man in Wien die Entschlußkraft nicht.57) Erst am Abend unterbreitete deT Generalstabschef Kaiser Franz Joseph den Antrag zur Gegenmobilmachung — D 498, Oe III 50, die am folgenden Tage (31. Juli) gegen Mittag ausgesprochen wurde und also sowohl der Zeit als der Zahl nach eine rein defensive Maßnahme war. Mit vollem Recht beunruhigt über das Zaudern, riet der deutsche Generalstabschef am Abend des 30. dem österreichischen Militärattache dringend die sofortige allgemeine Mobilmachung an. Das war die Pflicht Moltkes, seine selbstverständliche Pflicht. Nur ein völliges Hinwegsehen über alle Stärkeverhältnisse kann zu der seltsamen Auffassung führen, Oesterreich hätte seine ihm noch verbleibenden 28 Divisionen gegenM

) ") Schritt analoge

Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 22. Die k. u. k. Botschafter in Paris und Petersbure: sollten den nur dann unternehmen, wenn ihre deutschen Kollegen eine Instruktion erhielten — Oe III. 15.

Militärische Zurückhaltung in Deutschland

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über der russischen Bedrohung durch die doppelte Uebermacht von 55 in immobilem Zustand belassen sollen"). Hinsichtlich der eigenen Maßnahmen legte man sich in Deutschland wiederum die äußerste Zurückhaltung auf. Ein Antrag des 16. Armeekorps (Metz), wegen sehr viel weitergehender französischer Maßnahmen am folgenden Tage den Grenzschutz ausrücken zu laßsen, wurde abgelehnt, nur bei einigen Korps im Osten erfolgte diese Maßnahme. Eine Anregung des Kaisers, die Grenzkorps durch Einziehung von Reservisten zu verstärken, gelangte nach Vortrag des Kriegsministers nicht zur Ausführung. Wenn daher auch die aus zweiter Hand stammende Meldung Cambons, die militärischen Spitzen in Berlin drängten auf die Mobilmachung — F 105, richtig sein sollte, so haben sie jedenfalls beim Kriegsministerium und bei der politischen Leitung ihre Ansicht nicht durchgesetzt. 7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der deutsch-englischen Vermittlung. Die 6echs Tage deutsch-englischer Vermittlung zeigen Deutschland und Oesterreich-Ungarn zwar einig über zwei Ziele: militärisches Vorgehen gegen Serbien und Vermeidung eines europäischen Krieges, aber doch mit einer allmählich wachsenden Meinungsverschiedenheit darüber, welcher Umfang dem ersten Ziele gegeben werden darf, falls das zweite erreicht werden soll. Während in Berlin, je länger desto mehr, die Erkenntnis durchdringt, daß die allgemeine Konflagration nur vermeidbar ist, wenn die Aktion gegen Serbien eingeschränkt wird, glaubt man in Wien auf dem Standpunkt verharren zu können, daß den militärischen Operationen eine Grenze nicht gezogen zu werden braucht. Einheitlicher ist das Bild auf Seiten des französisch-russischen Zweibundes. Von Anfang an war Rußland entschlossen, seine schützende Hand über Serbien zu breiten, auch auf die Gefahr eines Weltbrandes. In Frankreich waren, wenn auch nicht der Stellvertreter des Außenministers, so doch Poincaré und Viviani von Anfang an zu vorbehaltloser Unterstützung Rußlands bereit und sie wurden dazu um so bereiter, je schärfér die' Krise sich aussprach, selbst dann, als Rußland zu „äußersten Maßnahmen" schritt, von denen Nikolaus n . vorhergesehen hatte, daß sie „zum Kriege führen werden". Bei der ersten Konferenz mit Sasonow nach dem Bekanntwerden des Ultimatums in Petersburg am 24. Juli gab Paléologue, zweifelsohne auf Grund der kurz vorher von Poincaré erhaltenen Direktiven, dem russischen Minister die Zusicherung, daß Frankreich alle Bündnispflichten erfüllen werde — E 6. Wie der Botschafter das meinte, hat er selbst durch die Schilderung M

) Beleg Nr. 24 S. 19».

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Fälschungen der rusaichen und französischen Dokumente

seines Abschieds von Iswolsky am folgenden Abend erläutert, als beide sich sagten: „Dieses Mal ist es der Krieg."68) Die weitere Haltung des Pariser und Petersburger Kabinetts war lange Zeit nur unvollständig bekannt, denn in den Dokumenten, die beide Regierungen nach Kriegsausbruch veröffentlichten, waren sorgfältig alle Stellen ausgemerzt, welche die Haltung Deutschlands in günstigem, die eigene in ungünstigem Lichte erscheinen ließen. Allmählich wurden jedoch manche schwer belastende Tatsachen enthüllt. Durch die im Frühjahr 1922 veröffentlichte wahre Korrespondenz Paris-Petersburg ist sodann das erste russische Orangebuch 1914 als ein geradezu unerreichtes Muster von Fälschungen entlarvt worden.60) Von 60 Dokumenten waren 29 ganz unterdrückt, 18 mehr oder minder gefälscht, nur 13 richtig wiedergegeben. Ein Vergleich zeigt, daß auch im französischen Gelbbuch wichtige Stücke ausgelassen oder entstellt sind.61) Den leichtesten Grad unwahrer Darstellung bilden die Unterdrückungen der Bestrebungen Deutschlands, den österreichisch-serbischen Konflikt zu lokalisieren. Die in dieser Hinsicht wichtigsten, bisher auf Seite der Entente verheimlichtea Tatsachen sind folgende: Am 24. Juli hatte sich der deutsche Botschafter in Paris seines Auftrags über die Stellungnahme der Berliner Regierung in einem Tone erledigt, aus dem man ersehen konnte, „daß die Hoffnung auf eine Beilegung des Zwischenfalls durch österreichisch-serbische Verhandlungen nicht verloren sei". Ein neuer Schritt Herrn von Schoens am 25. beruhigte im französischen Ministerium als ein „Anzeichen dafür, daß Deutschland nicht in jedem Falle den Krieg suche". Am 26. äußerte der Direktor der politischen Abteilung am Quai d'Orsay nochmals, daß „Deutschland und Oesterreich-Ungarn zwar einen glänzenden diplomatischen Sieg erstreben, aber nicht auf alle Fälle den Krieg wollen". Am 27. machte Herr von Schoen einen neuen Vorschlag „einer Intervention Frankreichs und Deutschlands zwischen Rußland und Oesterreich-Ungarn". Am 28. versicherte er, daß „Deutschland bereit sei, in Gemeinschaft mit den anderen Mächten für die Erhaltung des Friedens zu arbeiten". Am 29. Juli ist dann unterschlagen, daß Deutschland sich genötigt sah, wegen der „militärischen Vorbereitungen Frankreichs" vorstellig zu werden. Wichtiger als die Feststellung dieser Unwahrheiten sind die Enthüllungen über die enge Zusammenarbeit von Petersburg und Paris. Am 25. Juli hatte der französische Botschafter be") Pal6ologue S. 251. «°) Russisches Blaubuch S. 513—526, „Livre Noir" IL S. 275—300, Romberg „Die Fälschungen des russischen Orangebuohes". M ) Auslassungen oder Fälschungen sind nachzuweisen bei F 28, 36, 56, 54, 62, 78, 80, 94, 101, 102, 103, 116, 117, 120, 125, 127. Außerdem sind neun wichtige Vorgänge im französischen Gelbbuch nicht erwähnt.

Frankreich und die militärischen Maßnahmen Rußlands

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kanntlich gemeldet, daß ein Ministerrat unter Vorsitz des Zaren die Mobilmachung von 13 Armeekorps gegen Oesterreich-Ungarn beschlossen habe, für den Fall, daß dieses „mit Waffengewalt gegen Serbien vorgehe" — F 50. Doch er hatte weit mehr erfahren. Der Bericht des französischen Militärattaches über eine Besprechung mit dem Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch und dem Kriegsminister am Abend des 25.02) ruht zwar noch im Dunkel der französischen Archive, aber Palöologue sandte am 26. das folgende, im Gelbbuch unterschlagene Telegramm: „Gestern (am 25. Juli) hat mir in Krasnoje der Kriegsminister die Mobilmachung der (13) Armeekorps der vier Militärbezirke Kijew, Odessa, Kasan und Moskau bestätigt. Die Militärbezirke Wilna, Warschau und Petersburg erhalten außerdem geheime Weisungen. Ueber die Städte sowie über die Gouvernements Petersburg und Moskau wird der Belagerungszustand verhängt. In dem diesbezüglichen Erlaß folgt dann ein Verzeichnis der Gegenstände, über die die Zeitungen nicht schreiben dürfen, und die in der Tat nur militärische Fragen betreffen. Die Beförderung der jungen Offiziere, die, wie üblich, am 18. August stattfinden sollte, ist gestern. (25. Juli) abends um 6 Uhr eiligst erfolgt. Gleichzeitig wurde der Befehl gegeben, das Lager in Krasnoje abzubrechen. In diesem Augenblick treffen die Truppen wieder in ihren Standorten ein. Der Kriegsminister hat uns von neuem seine Absicht erklärt, Deutschland die Initiative eines eventuellen Angriffs zu überlassen.""3) Paris wußte also, daß Rußland auch an der deutschen Front (Petersburg—Wilna—Warschau) militärische Vorbereitungen traf, es wird ferner erfahren haben, daß nach Ansicht des russischen Generalstabs schon seit dem 24. „der Krieg beschlossene Sache war".") Das überraschend genaue Zusammenfallen der ersten umfassenden militärischen Maßnahmen in Frankreich (S. 107) mit der Erklärung der „Kriegsvorbereitungsperiode" für ganz Rußland (am 26.) ist nunmehr aufgeklärt. An eben diesem Tage begann Sasonow die von Pourtalös angeregten Besprechungen mit Szäpäry. Als der russische Minister dabei insbesondere die Punkte 4 und 5 des Ultimatums (Entlassung serbischer Offiziere1 und Beamten, Mitwirkung österreichischer Organe bei Unterdrückung der großserbischen Agitation) beanstandete, erhielt et sofort die Erläuterung, daß bei Punkt 5 nur an die Errichtung eines geheimen „bureau de w)

Pal6ologue S. 251. " 3 ) Bericht an den französischen Senat 3. 39, 127. M ) Dobrorolski S. 21.

Rußland leimt Vermittlung ab

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súretó" ähnlich den russischen Einrichtungen in Paris und Berlin gedacht sei — Oe II. 38, 73.66) Dieses außerordentlich wichtige Zugeständnis, wodurch eine Hauptdifferenz zwi3chen Petersburg und Wien beseitigt war, hat Sasonow unterschlagen — R 25. Auch die ursprüngliche Besorgnis des Ministers, daß Oesterreich Serbien „verschlingen" wolle, war inzwischen durch die Erklärung über territoriales Desinteressement behoben. Als nun, gleichfalls noch am 26., der russische Geschäftsträger in Paris meldete, der deutsche Botschafter habe bei Bekanntgabe des österreichischen Verzichts auf Gebietserwerb die Hoffnung ausgedrückt, Frankreich werde „seinen Einfluß in Petersburg in mäßigendem Sinne gebrauchen" erhielt er von Sasonow die Antwort: „es läge mir jedoch daran, rechtzeitig ein Mißverständnis zu beseitigen, welches sich in die Antwort des Verwesers des Außeüministeriums an den deutschen Botschafter eingeschlichen habe. Wenn es sich darum handelt, irgend einen mäßigenden Einfluß in Petersburg auszuüben, so weisen wir einen solchen von vornherein ab, da wir von Anfang an einen Standpunkt eingenommen haben, an dem wir nichts ändern können, da wir bereits allen annehmbaren Forderungen Oesterreich-Ungarns entgegengekommen sind".86) Jede Vermittlung beruht nun aber doch darauf, daß zwischen den verschiedenen Standpunkten ein Mittelweg gesucht wird; durch die Erklärung, an dem eigenen Standpunkte1 nichts ändern zu können, lehnte somit Rußland jede Vermittlung ab. Diese schroffe Haltung ist um so auffallender, als Oesterreich schon die zwei eben erwähnten wesentlichen Zugeständnisse ge» macht hatte. In Paris genügte' das Stirnerunzeln Sasonows, um sofort die reumütige Entschuldigung zu erwirken, der stellververtretende Außenminister habe „keinen Augenblick die Möglichkeit eines mäßigenden Einflusses in Petersburg zugelassen", vielmehr „es abgelehnt, den deutschen Vorschlag anzunehmen".'7) Iswolsky hatte richtig gesehen, als er sogleich nach Rückkehr auf seinen Posten (27. Juli) meldete, er sei ..überrascht, wie richtig der Verweser des Ministeriums des Auswärtigen und seine Mitarbeiter die Lage verstehen, und wie fest und ruhig ihr Entschluß ist, uns die vollkommenste Unterstützung zu erweisen und auch den leisesten Anschein einer Uneinigkeit mit uns zu vermeiden".68) An der Sängerbrücke war man nunmehr sicher, daß der Quai d'Orsay nicht mit unangenehmen Ratschlägen zur NachM

) Oe II. 73 ist vom 26., nicht vom 27. zu datieren. Romberg S. 18 und 19. ") loe. cit. S. 26. M ) loc. cit. S. 28.

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Sasonow will die Mobilmachung (28. Juli)

giebigkeit lästig fallen werde. Der französische StimmungsUmschlag kam auch in einem Runderlaß vom 27. deutlich zum Ausdruck — F 62. Es mag dem französischen Volke überlassen bleiben, zu ergründen, worauf der Wechsel der bisherigen versöhnlichen Haltung zurückzuführen ist, ob auf das Eingreifen Paul Cambons, der vom 25.—27. London verlassen hatte, oder auf die Rückkehr Iswolskys oder auf Weisungen von Bord der ,,France", die Poincaré und Viviani heimwärts trug. Nach der Kriegserklärung an Serbien am 28. telegraphierte Sasonow nach London, daß damit jeder Gedanke eine's direkten Verkehrs zwischen Oesterreich und Rußland erledigt sei — E 70. Am folgenden Tage aber beschwerte er sich timgekehrt bei Pourtalès und ebenso in London und Paris, daß Oesterreich die direkten Besprechungen verweigere — D 343, 365, E' 78, R 50. In Wirklichkeit hatten diese Besprechungen überhaupt nicht aufgehört, sondern am 28. hatte sowohl Berchtold mit Schebeko wie Szäpäry mit Sasonow eine Unterredung — Oe IL 95, EU. 16.6') Allerdings bestand Meinungsverschiedenheit über den Inhalt des Gedankenaustausches. Wien wollte nur eine nachträgliche E r l ä u t e r u n g seiner Note zulassen, Petersburg wollte deren A b ä n d e r u n g . Das berechtigte den russischen Minister aber nicht, so unzutreffende Anschuldigungen vorzubringen; würde er sich wahrheitsgemäß geäußert haben, so würde das Berliner Kabinett genauer haben vermitteln können. Sasonow hat jedoch am 28. noch weit Schlimmeres getan. Er wies den Generalstabschef auf die „Notwendigkeit hin, mit der Mobilmachung nicht länger zu zögern", und zwar mit Worten, aus denen General Januschkjewitsch das „Erstaunen" herauslas, daß die Mobilmachung nicht früher begonnen habe. Der Generalstab fertigte daraufhin zwei Ukase aus, einen für die allgemeine Mobilmachung gegen Oesterreich und Deutschland, einen für die Teilmobilmachung nur gegen Oesterreich.70) Oesterreich-Ungarn hatte bisher nur die Hälfte seiner Armee gegen Serbien mobilisiert (25. Juli), acht Armeekorps, und zwar ausschließlich solche, deren Bezirk nicht an russisches Gebiet grenzte. Rußland, das über 37 Korps verfügte, konnte sich in keiner "Weise bedroht fühlen. Der russische Schritt ist auch nicht durch übertriebene Nachrichteil über die österreichischen Rüstungen zu erklären, der Petersburger Generalstab war vielmehr ganz zutreffend unterrichtet.71) In Frankreich waren am 28. die ersten sieben Maßnahmen für die Zeiten politischer Spannung getroffen, im Kriegsministerium zu Paris **) In Oe HI. 16 ist statt „heute" zu lesen „gestern". Dobrorolski S. 23. Tatsächlich hatte die russische Mobilmachung mit der „Kriegsvorbereitungsperiode" schon am 26. begonnen. 71 ) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 19 ff., S. 89 ff. 9

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Erstmaliger Befehl zur allgemeinen russischen Mobilmachung

war man „entzückt", Generalissimus Joffre war hoch erfteut über die glatte Durchführung aller seiner Anordnungen.72) Am Vormittag des 29. unterzeichnete Nikolaus II. nicht den Ukas für die Teilmobilmachung, sondern den für die a l l gemeine Mobilmachung gegen OesterreichU n g a r n u n d D e u t s c h l a n d . Die weiter erforderlichen Formalien nahmen den Nachmittag in Anspruch, am Abend 9% Uhr wollte der Chef der Mobilmachungsabteilung, Oberst Dobrorolski, den Befehl eben im Haupttelegraphenamt diktieren, als eine Weisung des Zaren eintraf, statt der allgemeinen nur die M o b i l m a c h u n g g e g e n O e s t e r r e i c h vorzunehmen. Das war dem Telegramm Wilhelms II (S. 113) zu verdanken. Inzwischen hatte Szäpäry auf Grund einer schon vom 25. Juli datierten, aber nicht telegraphisch, sondern nur mit der Post abgesandten Instruktion — Oe II. 42 — Sasonow schon am 28. und auf Anregung des deutschen Botschafters nochmals am 29. die Erklärung abgegeben, Oesterreich hätte „nicht die Absicht, serbisches Territorium an sich zu bringen und gedächte auch nicht, die Suveränität Serbiens anzutasten" — Oe m . 16, 19. Damit waren alle berechtigten russischen Wünsche erfüllt. Sasonow erwiderte indessen, in territorialer Hinsicht sei er zwar überzeugt, die serbische' Suveränität aber werde durch die österreichischen Bedingungen angetastet. Diese Auffassung berechtigte ihn jedoch nicht, die Erklärung des Botschafters wiederum einfach, zu unterschlagen. Keinem der Verbündeten wurde sie mitgeteilt. Ihre rechtzeitige ehrliche Bekanntgabe würde die Lage sehr stark zu Gunsten des Friedens beeinflußt haben. Statt dessen geriet der Minister über die ihm von Pourtalès ausgerichtete Warnung aus Berlin (S. 112) in große Erregung, wollte darin einen Gegensatz zum kaiserlichem Telegramm sehen und suchte den Zaren in diesem Sinne zu beeinflussen. Die von diesem in einem dritten Telegramm — D 390 — angekündigte Sendung des Generals Tatischtschew nach Berlin unterblieb. Statt dessen wurde nach Paris gedrahtet: „Da wir dem Wunsche Deutschlands nicht Folge geben können, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere eigenen Rüstungen zu beschleunigen und mit der wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen" — R 58. Diese Nachricht, die kaum anders aufgefaßt werden konnte, als daß man sich in Rußland zur allgemeinen Mobilmachung entschlossen habe, wurde am 30. Juli 3 Uhr morgens von Iswolsky in Paris mitgeteilt, wo man schon vorher die Meldung Paléologues über die Teilmobilmachung erhalten hatte" — F 100. In einer sofort zwischen Poincaré, Viviani und dem 7S

) loc. cit. S. 75.

Endgiltiger Befehl zur allgemeinen russischen Mobilmachung

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Kriegsminister Messimy abgehaltenen Beratung wurde beschlossen, Rußland zu empfehlen, nicht etwa von seinen, den Krieg heraufbeschwörenden Maßnahmen abzusehen, sondern nur, sie insgeheim zu betreiben. Man hat uns gesagt, so drahtete der Botschafter, „wir könnten erklären, daß wir im höheren Interesse des Friedens bereit sind, unsere Mobilmachungsvorbereitungen zeitweilig zu verlangsamen, was uns nicht hindern würde, unsere Vorbereitungen fortzusetzen und sogar zu verstärken, wobei wir uns nach Möglichkeit größerer Truppentransporte zu enthalten hätten".73) Um in Paris ja keinen Zweifel über die Entschlossenheit Rußlands aufkommen zu lassen, sandte Sasonow noch ein „sehr dringendes" Telegramm: „bis wir durch die deutsche Regierung eine durchaus befriedigende Antwort Oesterreichs erhalten haben, werden wir unsere Rüstungen fortsetzen. Dieses wird Ihnen sehr vertraulich mitgeteilt."7*) Der Sieg des russischen Ministers über seinen schwankenden Herrscher wurde vollständig am folgenden Taere (30. Juli). Gegen 1 Uhr mittags, unmittelbar nachdem Sasonow deta deutschen Botschafter seine angebliche Friedensformel diktiert hatte (S. 121), telephonierte er dem Chef des Generalstabs, daß der Zar „es f ü r r i c h t i g b e f u n d e n h a b e , a u f Grund der letzten Nachrichten aus Berlin die allgemeine Mobilmachung der gesamten A r m e e u n d F l o t t e z u v e r k ü n d e n". ™) Damit die Ausführung nicht wieder durch ein Telegramm aus Berlin durchkreuzt werde, setzte der Minister hinzu: „Also, fertigen Sie Ihre Befehle aus, Herr General, und dann •— lassen Sie sich den ganzen T a g nicht mehr sehen." Zur Zeitbestimmung hat General Dobrorolski auf schriftliches Befragen kategorisch erklärt, daß der Befehl des Zaren „nicht später als 2 Uhr nachmittags" ( = 1 Uhr deutsche Zeit) ergangen sei. Der Zusatz „auf Grimd der letzten Nachrichten aus Berlin" ist willkürliche Erfindung Sasonows, denn seit dem Entschluß des Zaren zur Umwandlung der allgemeinen in eine Teilmobilmachung waren keinerlei beunruhigende Meldungen aus Berlin eingegangen. 7 ') Die sechste Stunde des Nachmittags hatte eben geschlagen, als Dobrorolski im großen Saale des Haupttelegraphenamts von Petersburg das verhängnisvolle Telegramm 7S)

Romberg- S. 37. loc. cit. S. 36. 75 ) Dobrorolski S. 28. 7 i ) „Deutsche Rundschau" Juli 1922 „Der 30. Juli in Petersburg".

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9*

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Frankreich erfährt sofort die Mobilmachung Rußlands

den ihn an einigen Dutzend Apparaten in feierlichem Schweigen erwartenden Telegraphisten und Telegraphistinnen diktierte. Die Apparate begannen zu arbeiten. „ D a s w a r d e r A n f a n g s m o m e n t der g r o ß e n E p o c h e . . . . eine A b ä n d e r u n g war n i c h t m ö g l i c h , der P r o l o g de3 g r o ß e n D r a m a s h a t t e begönnen."77) Es mag um die gleiche Zeit gewesen sein, daß Betchtold dem russischen Botschafter in Wien die tags vorher von Szäpäry über die Integrität und Suveränität Serbiens abgegebene Erklärung wiederholte >— Oe III. 45. Schebeko hat über dieses Gespräch berichtet, daß es den „freundschaftlichsten Charakter" trug und daß nach seinem Eindruck „Oesterreich wirklich den Wunsch hegt, zu einer Verständigung mit uns zu gelangen, es aber nicht für angängig hält, seine Operationen gegen Serbien einzustellen, bevor man nicht volle Genugtuung und ernste Garantien für die Zukunft erhalten habe".78) Sasonow hat auch diese Erklärung unterschlagen und im Orangebuch unterdrückt. Mehrere Jahre blieb es ein Rätsel, warum die französische Regierung, die in so innigem Kontakt mit Petersburg stand, von diesem entscheidenden Schritt der allgemeinen Mobilmachung ihres Verbündeten nicht sofort verständigt wurde. Heute wissen wir, daß noch am Abend des 30. Juli um 11 Uhr 25 ein Telegramm Paleologues in Paris eingetroffen ist, das meldete, auf Grund beunruhigender Nachrichten des russischen General- und Admiralstabes über Vorbereitungen der deutschen Armee und Flotte habe „die russische Regierung beschlossen, i n s g e h e i m die e r s t e n M a ß n a h m e n der a l l gemeinen Mobilmachung' durchzuführ e n ", 79 ) Die Vorbereitungen der deutschen Armee und Flotte waren Vorwände, die durch die eigenen Berichte des russischen Generalstabs aus jenen Tagen widerlegt sind.80) Das Telegramm aber verkündete die Befolgung des am Morgen von Frankreich erteilten freundschaftlichen Rats. Neun Jahre ist diese Tatsache verschwiegen, neun Jahre lang den Völkern der Entente vorgeredet worden, die erste allgemeine Mobilmachung sei von Oesterreich ausgegangen. Nachdem diese Lüge jetzt durch französische Forscher entlarvt ist, versucht man die Ausflucht, es habe sich ja nur um die „ersten Maßnahmen" gehandelt. Da Dobrorolski S. 29. ) „Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 20. Mai 1919, Nr. 242. " ) F 102 ist doppelt gefälscht Es ist aus zwei Telegrammen zusammengezogen und unterdrückt den oben angeführten Satz. M ) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 72 und 73. 78

Jules Gr6vy lind Alexander HL über Mobilmachung

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mau aber in Paris wußte, daß die ,,ersten Maßnahmen" schon am 25. eingeleitet worden waren, konnte man nicht im Zweifel sein, daß diese Worte hier nichts anderes bedeuteten als den tatsächlichen Beginn der allgemeinen Mobilmachung. Frankreich erhob keinen Einspruch. Sein Schweigen war vielsagend und wurde in Petersburg richtig verstanden.

8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung. Das Wort Mobilmachung wird in doppelter Bedeutung gebraucht. In engerem Sinne versteht man darunter lediglich die Ueberführung des Heeres vom Friedensfuß auf die Kriegsstärke, ohne daß die Truppen ihre Friedensstandorte verlassen. Solche Mobilmachungen fanden statt in Oesterreich-Ungarn 1908/09 gegenüber Serbien, in Oesterreich-Ungarn und in Rußland während der Spannung von 1912/13. Sie beschränkten sich auf einen Teil des Heeres und vollzogen sich in längeren Zeiträumen und in allmählicher Steigerung auf Grund einer Reihe von Einzelbefehlen. Anders geartet ist die Mobilmachung in- weiterem Sinne, in dem das Wort heutzutage gewöhnlich gebraucht wird. Da beginnt auf den Befehl „allgemeine Mobilmachung" mit einem Schlage nach genau im voraus festgesetzten Plane automatisch nicht nur die Ergänzung des Heeres auf Kriegsstärke, sondern auch der Aufmarsch, das ist die Beförderung der Truppen an die Grenze. Die russische Mobilmachung von 1914 war eine Mobilmachung mit Aufmarsch, jeder Vergleich mit den Mobilmachungen von 1908/09 und 1912/13 ist vollkommen abwegig1. Daß eine solche Mobilmachung den Krieg bedeutet, haben, französische und russische Militärs und Politiker seit langem anerkannt. Drastischen Ausdruck gab dieser Auffassung der friedliebende Präsident der Republik Jules Grevy im Frühjahr 1887, als er den Antrag des Generals Boulang'er auf Mobilmachung gegen Deutschland mit den Worten zurückwies: „Ihr Vorschlag ist verrückt, das wäre ja der Krieg", worauf der General antwortete: „Nun gut, ich bin bereit".81) Die gleiche Ansicht bekundete Kaiser Alexander HI., als er im Januar 1888 dem deutschen Botschafter von Schweinitz auf dessen Vorstellungen wegen der russischen Kavalleriemassierungen an der deutschen Grenze und auf die Bemerkung, daß diese binnen wenigen Stunden auf deutschem Boden stehen könnten, sehr offenherzig sagte: „Ja, wir müssen suchen, Ihre Mobilmachung zu hemmen".") Beim Abschluß der französisch-russischen Militärkonvention 1892 setzte der französische Unterhändler, General Boisdeffre, dem Zaren klipp und klar auseinander: M

) „Große Politik" Band VI. Nr. 1275 S. 204. ") loc. cit. VT. Nr. 1176, S. 48.

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Boisdeffre und Obrutschew über Mobilmachung

„Die Mobilmachung ist die Kriegserklärung".83) Der General meinte freilich damit die deutsche oder österreichische oder italienische Mobilmachung. Da aber die russische oder französische Mobilisierung auch nach den strengsten pazifistischen Grundsätzen automatisch die deutsche usw. nach sich ziehen muß, wirken sie genau ebenso wie diese nach Ansicht Boisdeffres als Kriegserklärung. Alexander III. bedurfte überdies nach seiner Aeußerung zu Schweinitz solcher Belehrung nicht und erwiderte: „Das ist auch ganz meine Auffassung." Der russische Unterhändler, Generalstabschef Obrutschew äußerte sich dahin, daß der russischen und französischen Mobilmachung „kriegerische Handlungen unmittelbar folgen, kurz daß sie untrennbar von einem Angriff sein sollten".8*) Wie 1888 so bestand auch 1892 ein russischer Operationsplan, nach dem sofort bei Ausspruch der Mobilmachung russische Kavallerie zum Einfall in Ostpreußen aufzubrechen hatte.86) Besonders scharf wird als Angreifer der Staat gekennzeichnet, der zuerst eine allgemeine Mobilmachung anordnet, in einer Note Boisdeffres vom 10. August: „Die Anordnung1 einer allgemeinen Mobilmachung gegen Oesterreich oder Italien allein heißt sich in Europa in die Rolle des Angreifers begeben und in eine schwierige Stellung gegenüber den Neutralen versetzen; wenn man hingegen unter Ergreifung der nötigen Vorsichtsmaßregeln wartet, bis Deutschland mobil macht, so übernimmt dieses die Rolle des Angreifers mit allen ihren Nachteilen, während Rußland und Frankreich bis zum Schlüsse ihren Wunsch nach Erhaltung des Friedens bewiesen und ihre Absichten reiner Abwehr bekräftigt haben."86) Die im Frühjahr und Herbst 1912 erlassenen russischen Befehle, daß die Verkündung der Mobilmachung auch die Verkündung des Krieges gegen Deutschland und Oesterreich bedeute (Seite 37 ff.), gingen über die Auffassung, daß die Mobilmachung den Krieg unvermeidlich mache, noch hinaus und forderten in flagrantem Widerspruch zur Haager Konvention von 1907 über die „Eröffnung der Feindseligkeiten", daß sofort nach Ausspruch der Mobilmachung, also ohne Kriegserklärung, die militärischen Operationen beginnen sollten. Diese Anordnung ist allerdings Ende 1912 wieder aufgehoben worden, aus zwei Gründen. Der erste war die Vermeidung von Mißver83 ) Französisches S. 95 f. " ) loc. cit. Nr. 42 loc. cit. Nr. 54 M ) loc. cit. Nr. 53

Gelbbuch

„L'AJliance

Aul. S. 56. S. 76. S. 68.

franco-russe"

Nr.

71,

Französ.-russ. Auffassung über Mobilmachung 1911—1914

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ständnissen mit solchen Mächten, mit denen der Krieg nicht von Anfang an beabsichtigt sei. Dagegen läßt sich nichts einwenden. Eine sehr eindeutige Kriegslist aber war der zweite Grund, der lautete: „Andererseits kann es vorteilhaft sein, den Aufmarsch durchzuführen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem Gegner nicht unwiederbringlich die Hoffnung genommen werde, den Krieg noch zu vermeiden. Die militärischen Maßnahmen Rußlands müßten dabei d u r c h g e schickte diplomatische Verhandlungen v e r s c h l e i e r t w e r d e n , um d i e B e f ü r c h t u n gen des Gegners m ö g l i c h s t e i n z u s c h l ä f e r n . Wenn solche Maßnahmen die M ö g l i c h k e i t g e b e n , e i n i g e T a g e Z e i t zu g e w i n n e n , s o m ü s s e n sie u n b e d i n g t e r g r i f f e n werden".67) Nicht davon ist also die Rede, daß man selbst glaubt, der Krieg könne noch vermieden werden, sondern nur davon, dem Gegner diesen Glauben beizubringen. Aus den drei angeführten Sätzen geht vielmehr klar hervor, daß die Verfasser von der Unvermeidlichkeit des Krieges nach einmal begonnener Mobilmachung durchdrungen sind. Sehr klug kann die Erwartung, der Gegner werde sich täuschen lassen, nicht genannt werden, der Plan jedoch war diabolisch. Die Protokolle der Konferenzen des französischen und russischen Generalstabs von 1911, 1912 und 1913 beweisen ebenfalls, daß mit dem automatischen Anschluß der kriegerischen Operationen an die Mobilmachung gerechnet wurde.88) Niemals wird in diesen Protokollen, die den politischen Stellen vorgelegt und von diesen ratifiziert wurden, auch nur die Möglichkeit erwähnt» daß auf eine Mobilmachung die Demobilmachung folgen könne. Im Jahre 1914 war die Auffassung bei den maßgebenden Stellen in Frankreich und Rußland nicht anders als 1887, 1892 und 1912. Sasonow beteuerte zwar, daß die russische Mobilmachung viel langsamer sei als die in den westlichen Ländern. Das war eine vollkommene Irreführung. Aus den Generalstabsprotokollen mußte dem Minister bekannt sein, daß die Mobilmachung' im europäischen Rußland nicht langsamer, sondern sogar rascher war als die in Oesterreich. Es war ferner klar, daß eine russische Mobilmachung automatisch die der Gegenseite hervorrufen, daher auch dieselbe Wirkung haben mußte wie eine in westlichen Ländern. Poincaré ging sogar so weit zu behaupten, daß die Mobilmachung „das beste Mittel 87 ) Schrift des deutschen Generalstabs „Die russische Mobilmachung 1914" Anlage 5; Sperrdruck vom Verfasser. B8 ) Russisches Blaubuch S. 697 ff.: deutsche Uebersetzung „Süddeutsche Monatshefte" Juli 1922, S 210 ff.

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Nikolaus II. tibér Mobilmachung

sei, den Frieden zu sichern".88) Doch wenn er das wirklich glaubte, warum hat er dann während neun Jahren die Wahrheit über die Reihenfolge der Mobilmachungen verschwiegen? Warum verkündete er nicht, daß der russische Bundesgenosse dieses Mittel der Friedenssicherung zuerst von allen ergriffen habe? Er wußte eben zu gut, daß die Völker solchen Beteuerungen keinen Glauben schenken würden, daß in Frankreich und in allen Ländern der Welt derjenige als der Angreifer dastehen würde, der zuerst die allgemeine Mobilmachung ausgesprochen hatte. Aus der verdrehten Reihenfolge der Mobilmachungen, aus der Lüge, daß Oesterreich zuerst mobilisiert habe, wurde sogar ein Hauptanklagepunkt gtegen die Mittelmächte geschmiedet. Eine große Anzahl von Zeugen aus allen Ländern erkennen direkt oder indirekt an, daß die allgemeine' Mobilmachung in Rußland den Krieg unvermeidlich machte.90) Der berufenste Beurteiler dieser Maßnahme, der Chef der Mobilöiachungsabteilung des russisc^eü Generalstabs, schreibt: „Ist dieser Zeitpunkt (die Mobilmachung) einmal festgesetzt, so ist alles erledigt, es g i b t k e i n Z u r ü c k m e h r : er b e s t i m m t m e c h a n i s c h d e n B e g i n n d e s K r i e g e s i m v o r a u s ".M) Auch Nikolaus II. war sich nicht im Unklaren, was er tat, als er den Mobilmachungsbefehl unterzeichnete. Er hatte schon am 25. Juli von den „äußersten Maßnahmen" gesprochen, die „zum Kriege führen werden". Er hat am 30., als Sasonow ihm den entscheidenden Befehl zum zweiten Male abgerungen hatte, blaß und mit zugeschnürter Kehle die Worte hervorgestoßen: „Denken Sie an die Verantwortung, die Sie mir raten, auf mich zu nehmen! Denken Sie daran, daß es sich darum handelt, Tausende und Abertausende in den Tod zu schicken".93) 9. Die Entschlüsse des 31. Juli. B e r l i n und Wien. Der ausführliche Bericht Tschirschkys über die Ausführung seines letzten Auftrags traf in der Wilhelmstraße in den ersten Morgenstunden des 31. ein. Berchtold hatte „bleich und schweigend" der zweimaligen Verlesung zugehört, tief durchdrungen von dem Ernste der deutschen Mahnung, aber — er mußte auf Tisza warten — D 465. Die Entscheidung stand also noch immer aus. 89 ) M ) w 9

G. Demartial „Comment on mobilisa les Consciences" S. 128. Untersuchungsausschuß, 2. Heft, S. 31, 32, 37, 38. ) Dobrorolski S. 10. ») Paléologue S. 260.

Berlin erfährt die allgemeine russische Mobilmachung

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Schwere Sorgen bedrückten seit Mitternacht den Chef des deutschen Generalstabs. Ihm lagen „zwei zuverlässige, von einander unabhängige Meldungen vor, wonach in Rußland die Mobilmachung der gesamten bewaffneten Macht bereits angeordnet war". Aber da er wußte, wie schwer er den Befehl zur deutschen Mobilmachung durchsetzen konnte, wollte' er noch eine dritte Bestätigung abwarten. Um die siebente Morgenstunde meldete' das Generalkommando Alienstein, die russische Grenze sei hermetisch gesperrt, die russischen Grenzwachen würden — wie das für den Mobilmachungsfall vorgesehen waT — ihre Häuser niederbrennen, in den russischen Grenzorten seien rote Mobilmachungsbefehle angeschlagen. Noch zögert Moltke. Zuerst muß ein roter Zettel über die Grenze gebracht werden. „Früher kann ich keinen Mobilmachungsbefehl erwirken".83) Die dritte Bestätigung kam zwanzig Minuten vor Mittag. Ein Telegramm der Botschaft Petersburg meldete: ,,Allgemeine Mobilmachung1 Armee und Flotte' befohlen. Erster Mobilmachungstag 31. Juli" — D 473 (aufgegeben 10 Uhr 40 — 9 Uhr 40 deutsche Zeit). So stand Deutschland also vor dem Zweifrontenkrieg, der wie ein Alpdruck schon auf Bismarck gelastet hatte. Daß Rußland nicht allein fechten würde, war klar. Eine kurze Frist, dann rückten 192 französische und russische' Divisionen gegen die deutschen und österreichischen Grenzen, die nur durch 135 geschützt waren.94) Die Zahl, die in den ersten Wochen den Gegnern an außereuropäischen russischen Truppen fehlte, fiel auf der eigenen Seite durch den österreichischen Kräfteeinsatz gegen Serbien aus. Von den im vorigen Kapitel erwähnten russisch-französischen Vereinbarungen war zwar manches damals in Berlin noch nicht bekannt, aber seit Jahrzehnten rechnete man mit dem sofortigen Einbruch der an der Grenze massierten russischen Kavallerie. Man hatte ferner während der Balkankrise 1912 von deta in Rußland erlassenen Befehl „Mobilmachung gleich Krieg gegen Deutschland und Oesterreich" Kenntnis erhalten, zwar auch von dessen Aufhebung,") aber die Weisung konnte während der jetzigen Krise erneuert worden sein. In seinem Situationsbericht vom 31. Juli sagte der deutsche Generalstab: „Russische Kavalleriedivisionen könnet, da „Kriegsvorbereitungsperiode" mehrere Tage gedauert, schon einbruchsbereit sein" — D 524. Raschester Beginn der militärischen Operationen " ) Aufzeichnungen des damaligen Majors im Generalstabe von Haeften und des damaligen Generals Hell, siehe Geschiehtskalender Schulthess i-917 S. 996/97 und 1000. " ) Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 41. " ) loc. cit. 2. Heft S. 30, 58.

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Telegramme "Wilhelms II., Georgs V. und Nikolaus H

auf der Front, wo der Kriegsplan die Entscheidung suchte, war geboten, sofortige Mobilmachung schien eine Pflicht der Selbsterhaltung. Doch nicht Mobilmachung, sondern nur „Zustand drohender Kriegsgefahr" lautete um 1 Uhr nachmittags der Befehl für das deutsche Heer. Das bedeutete, wie schon am 29. nach Paris mitgeteilt worden war (Seite 112) „noch nicht Mobilisierung und keine Einberufungen", zog auch nicht notwendigerweise die Mobilmachung nach sich.") Nochmals also wurde entgegen der militärischen Zweckmäßigkeit ein Aufschub versucht. Vielleicht traf aus Wien doch noch eine wenigstens teilweise befriedigende' Antwort ein, wie eine telephonische Nachricht hoffen ließ — D 468, vielleicht wirkte England doch endlich auf Rußland zurückhaltend ein. Wilhelm II. verständigte sofort König Georg von dem russischen Friedensbruch — D 477,97) und sandte dem Zaren ein viertes Telegramm, das mit den Worten schloß: „Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten bleiben, wenn Rußland einwilligt, die militärischen Maßnahmen einzustellen, die' Deutschland und Oesterreich-Ungarn bedrohen müssen" — D 480. Von Georg V. kam erst nach mehr als 24 Stunden die Antwort, er habe ein dringendes Telegramm an Nikolaus II. geschickt — D 574. Die Botschaft an den russischen Herrscher kreuzte sich mit einer Depesche von diesem, die nach dem Dank für die deutsche Vermittlung fortfuhr: „Es ist technisch unmöglich, unsere militärischen Vorbereitungen einzustellen, die infolge Mobilm a c h u n g O e s t e r r e i c h s notwendig waren.98) Es liegt uns ferne, den Krieg zu wünschen. Solange die Verhandlungen mit Oesterreich wegen Serbiens dauern, werden meine Truppen keinerlei herausfordernde Handlung unternehmen. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf. . % ." — D 487. Die genaue Stunde der russischen Mobilmachung war 1914 in Berlin nicht bekannt, aber soviel wußte man nach dem Telegramm des Grafen Pourtales, daß sie v o r der österreichischen erfolgt war, und daß die Mobilmachung gegen Oesterreich und D e u t s c h l a n d durch österreichische Maßnahmen nicht gerechtfertigt werden konnte. Wie kam der Zar dazu, so unwahre Behauptungen aufzustellen? War er von seiner Um96 ) Bestimmungen des 1914 giltigen deutschen Mobilmachungsplanes über „drohende Kriegsgefahr" siehe Beleg Nr. 25 S. 199. 97 ) In diesem Telegramm war ebenso wie in D 474 und in mehreren, im Auswärtigen Amt anscheinend nicht gelesenen Randbemerkungen die Annahme der direkten Besprechungen durch Wien irrigerweise als Annahme des Vorschlags „Halt in Belgrad" aufgefaßt. ,8 ) Sperrdruck vom Verfasser.

Oesterreichs Vorbehalte zum Vorschlag „Halt in Belgrad"

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gebung belogen oder wollte er selbst betrügen? In dem einen wie dem anderen Falle war sein ,-feierliches Wort" wertlos. Auch fehlte jede Ge'währ für den Fall, daß die Verhandlungen wegen Serbiens scheiterten, was Rußland jederzeit herbeiführen konnte. Der Kanzler seinerseits drahtete an erster Stelle nach Wien — D 479. Sein Appell an die Bundestreue Oesterreichs gegen die russische Bedrohung kreuzte sich mit einem Telegramm Kaiser Franz Josephs an Kaiser Wilhelm: „. . . . Gleich, nachdem Dein Botschafter meiner Regierung gestern den Vermittlungsvorschlag Sir Edward Greys übermittelt hatte1, ist mir die offizielle Meldung meines Botschafters in St. Petersburg zugekommen, wonach der Kaiser von Rußland die Mobilisierung aller Militärbezirke an meinen Grenzen angeordnet hat Im Bewußtsein meiner schweren Pflichten für die Zukunft meines Reiches habe ich die Mobilisierung meiner ganzen bewaffneten Macht angeordnet. Die im Zuge befindliche Aktion meiner Armee gegen Serbien kann durch die bedrohende und herausfordernde Haltung Rußlands keine Störung erfahren. Eine neuerliche Rettung Serbiens durch Rußlands Intervention müßte die ernstesten Folgen für meine Länder nach sich ziehen, und ich kann daher eine solche Intervention unmöglich zugeben. Ich bin mir der Tragweite mein'er Entschlüsse bewußt und habe dieselben im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit gefaßt mit der Sicherheit, daß Deine Wehrmacht in unwandelbarer Bundestreue für mein Reich und für den Dreibund einstehen wird" — D 482. Diese Bitte um Wiaffenhilfe g'egen den russischen Angriff, zu dessen Abwehr um 11 Uhr 30 vormittags die Mobilmachung det zweiten Hälfte des österreichisch-ungarischeii Heeres verfügt worden war,99) enthielt zugleich die bestimmte Ablehnung des deutsch-englischen Vorschlags „Halt in Belgrad". Ein am Vormittag in Wien nach Ankunft Tiszas abgehaltener gemeinsamer Ministerrat hatte nämlich beschlossen, den vom deutschen Botschafter vorgelegten englischen Vermittlungsvorschlag dahin zu beantworten, daß Oesterreich „zwar nicht abgeneigt sei, den Vorschlag in Erwägung zu ziehen, s e i n e k r i e g e r i s c h e Aktion gegen Serbien dürfe hierdurch keine Unterb r e c h u n g e r f a h r e n und überdies müßte es für ein Eingehen auf den Vermittlungsvorschlag zur Bedingung stellen, daß Rußland alle Mobilmachungsmaßnahmen sofort einstelle und seine Reserven entlasse" — Oe III. 80.100) ") Untersuchungssauschuß 2. Heft S. 23. 10 °) Sperrdruck vom Verfasser.

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Sommation am Petersburg, Anfrage in Paria

Trotz der Aufforderung des österreichischen Kaisers blieb man in Berlin bei dem Entschlüsse, noch nicht zu mobilisieren. Freilich durfte die deutsche Mobilmachung, falls Rußland in der seinigen fortfuhr, nur für ganz kurze Zeit aufgeschoben werden. Daher ging um 3 Uhr 30 nach Petersburg die Sommation, Deutschland sei durch die russische Mobilisierung gezwungen worden „die drohende Kriegsgefahr auszusprechen, die noch nicht Mobilisierung bedeutet. Die Mobilisierung muß aber folgen, falls nicht Rußland binnen zwölf Stunden jede Kriegsmaßnahme gegen uns und Oesterreich-Ungarn einstellt und hierüber bestimmte Erklärungen abgibt" — D 490. Die in Petersburg schon dreimal abgegebene Erklärung, daß die Mobilmachung den Krieg bedeute, wurde nicht wiederholt, um der Note keine überflüssige Schärfe zu geben. Die unabhängig voneinander beschlossene deutsche Sommation und die vom österreichischen Ministerrat aufgestellten Forderungen befanden sich in voller Uebereinstimmung. Selbstverständlich war, daß Oesterreich seine Mobilmachung gegen Rußland einetelMi würde, falls man dort die Truppen wieder auf Friedensfuß setzte. Um Klarheit über die Haltung1 Frankreichs zu erhalten, wurde Herr von Schoen von der nach Petersburg gerichteten Note verständigt und beauftragt, die französische Regierung zu fragen, „ob sie in einem deutsch-russischen Kriege neutral bleiben will". Um Antwort wurde binnen 18 Stunden ersucht. Diese Weisung hätte sich wohl auf die Anfrage beschränken können, die Mitteilung der an Rußland gerichteten Sommation nach Paris war kaum zweckmäßig.101) Obwohl kein Zweifel bestehen konnte, daß der französische Generalstab die Bedeutung der Worte „drohende Kriegsgefahr" ganz genau kannte, wurde der Berliner Botschafter der Republik durch Staatssekretär und Reichskanzler noch eingehend darüber aufgeklärt; London erhielt durch mündliche Mitteilungen an Goschen und drahtliche Weisungen an Lichnowsky Kenntnis von allen Vorgängen.10®) London. In Downingstreet fiel an diesem Tage die Entscheidung, daß man in Petersburg zunächst keine energischem Vorstellungen wegen der russischen Rüstungten erheben werde. Zwar versprach Grey dem deutschen Botschafter auf dessen Mitteilung von dem Entgegenkommen Oesterreichs hinsichtlich der direkten Besprechungen, er wolle „versuchen) in diesem Sinne zu wirken" — D 489. An Buchanan aber drahtete er 1W ) Geheimer Zusatz zu diesem Telegramm siehe Beleg Nr. 26, S. 200. "*) F 116, Bericht an den französischen Senat S. 125; E 108. D 488.

Grey erhebt keine Vorstellungen in Petersburg

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neben der Befriedigung über die Wiederaufnahme des direkten österreichisch-russischen Gedankenaustausches: „ich sagte dein deutschen Botschafter, daß ich hinsichtlich der militärischen Vorbereitungen nicht sehen könnte, wie man Rußland drängen könne, sie einzustellen, wenn nicht Oesterreich dem Vormarsch seiner Truppen in Serbien eine Grenze ziehe" — E 110. Das konnte in Petersburg doch nicht anders aufgefaßt werden als eine Zustimmung zu den dortigen Maßnahmen, um so mehr, als ja der österreichische Vormarsch in Serbien noch gar nicht begonnen war. Grey sagte zu Lichnowsky weiter, es komme alles darauf an, daß Oesterreich „ein derartiges Zugeständnis mache, daß Rußland ins Unrecht versetzt werde", und er müsse gegebenenfalls in der Lage sein, eine zurückhaltende Stellungnahme Englands mit „irgend einem greifbaren Unrecht auf russischer Seite zu begründen" •— D 489. Goschen überbrachte sodann einen neuen englischen Vermittlungsvorschlag — D 496, E 111: 1. Deutschland solle Wien, England wolle Petersburg sondieren, ob die vier nicht direkt beteiligten Mächte Oesterreich volle Satisfaktion verschaffen könnten, ohne daß dabei die serbische Suveränität« und territoriale Integrität verletzt würde. 2. Oesterreich habe bereits erklärt, beide Punkte zu respektieren. 3. Die vier Mächte könnten Rußland sagen, sie würden darauf achten, daß die erwähnten beiden Punkte nicht verletzt würdeti. 4. Alle Mächte müßten die militärischen Vorbereitungen und Operationen einstellen. Bei diesem Vorschlag fällt der zweite Punkt auf, da ja Sasonow die betreffenden Erklärungen Szäpärys und Berchtolds nicht weiter gegeben hatte.103) Da nun aber Grey auf andere Weise davon Kenntnis hatte, so war doch seine erste gegenüber Lichnowsky geäußerte Vorbedingung erfüllt, Oesterreich solle „ein derartiges Zugeständnis machen, daß Rußland ins Unrecht versetzt werde". Der vierte Punkt der Einstellung der militärischen Operationen aber mußte nunmehr in erste* Linie an Rußland gerichtet werden; denn für die Erhaltung des Weltfriedens war es wahrlich wichtiger, die russischen Vorbereitungen gegen Oesterreich und Deutschland zum Stillstand zu bringen als die österreichischen gegen Serbieh. Staatssekretär von Jagow äußerte sich daher auch in längerer Besprechung mit Goschen nach dessen Zeugnis zwar „sehr sympathisch" 103 ) Auch der österreichische Botschafter in London war noch am Abend des 30. der Ansicht, daß eine solche Erklärung nicht vorliege — Oe HI. 42.

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Yiviani leugnet die russische Mobilmachung

über den Vorschlag, betonte aber, daß zunächst eine Antwort über die Einstellung der russischen Rüstungen abgewartet werden müsse — E 121. Die von Grey ohne Kenntnis der russischen Mobilmachung aufgestellte Anregung muß als durch die Ereignisse überholt bezeichnet werden. Die Meldungen über die möglicherweise bevorstehende deutsche Mobilmachung veranlaßten weiterhin den britischen Staatssekretär, die Frage der belgischen Neutralität aufzugreifen. Der deutsche Operationsplan war höchst wahrscheinlich seit Jahren in allen Fachkreisen der Welt bekannt, jedenfalls hatte man in London seit Anfang 1906 davon Kenntnis.104) Die Anfrage Bethmanns vom 29. hatte Gewißheit darüber gebracht, daß der Plan noch bestand. Für den Fall, daß es zum Kriege käme, war hier der Grund gegeben, um das Eingreifen Englands im eigenen Lande populär zu machen. Das war um so nötiger, als nach einer Meldung Betickendorffs vom 31. Grey selbst zwar „die Lage ausgezeichnet verstand", aber durch eine gewisse Reaktion im Parlament zurückgehalten wurde.106) Der Staatssekretär richtete daher am Abend nach Paris und Berlin die Anfrage, ob man sich verpflichten wolle, die Neutralität Belgiens zu achten —• E 114. Die deutsche Antwort war ausweichend, die französische zustimmend, wie vermutlich in den bestehenden geheimen militärischen Abmachungen schon vereinbart war — E 122, 125. Paris. Der Bericht Cambons über die Erklärung „der drohenden Kriegsgefahr" in Deutschland und über deren Veranlassung bestätigte dem französischen Außenminister die ihm am Abend zuvor zugegangene erste Nachricht über die allgemeine russische Mobilmachung. Nachdem eine Havasdepesche aus Berlin die dritte Mitteilung von der russischen Totalmobilmachung gebracht hatte,108) fand sich der deutsche Botschafter gegen 7 Uhr abends bei Viviani ein, um die ihm aufgetragene Anfrage zu stellen. Das geschah nach dem französischen Bericht in so milder Form, daß niemals die Empfindung aufkommen konnte, es habe sich um eine ultimative Forderung gehandelt— F 117. Der Minister gab keine Auskunft über die Haltung Frankreichs in einem deutsch-russischen Kriege und brachte es über sich, zu behaupten, daß er „in gar keiner Weise über die russische Vollmobilmachung unterrichtet sei". Kurz darauf (8 Uhr 30 abends) traf ein 10 Uhr 45 vormittags = 8 Uhr 45 Pariser Zeit aufgegebenes Telegramm Paléologues ein, das nunmehr zum vierten Male die allgemeine Mobilmachung in Rußland mel1M

) Deutsches Weißbuch Mai 1915, kleine Ausgabe S. 106. ) „Prawda" 9. März 191a Nr. 7. 1M ) Romberg S. 40.

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Frankreichs Entschluß zum Kriege

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dete.107) Ganz abgesehen von allen früheren schon vorliegenden Nachrichten würden nunmehr Ehre und Anstand erfordert haben, dem deutschen Botschafter umgehend die entschuldigende Mitteilung zugehen zu lassen, daß die bestrittene Nachricht sich als völlig zutreffend herausgestellt habe. Statt dessen geschah das genaue Gegenteil, über acht Jahre hat es gedauert, bis die französische Regierung endlich die Unwahrheit ihrer Angaben eingestanden hat. Yiviani selbst aber leugnet weiter bis auf den heutigen Tag. Schon auf die Meldung Cambons war um 4 Uhr nachmittags ein Ministerrat zusammengetreten, der beschloß, bei den fünf Grenzkorps, die Tags zuvor schon die erste Linie des Grenzschutzes aufgestellt hatten, die „allervollständigsten Maßregeln" zu ergreifen. Nach Meldung Iswolskys würden diese Maßregeln „jedoch nicht den Charakter einer Mobilmachung tragen, aber am nächsten Tage konnte der russische Militärattaché berichten, daß alle fünf Korps sich „in voller Kriegsbereitschaft" befänden.108) Nach dem Eintreffen des Telegramms Paléologues traten die Minister wieder zur Beratung zusammen, die bis Mitternacht dauerte.109) Ueber die gefaßten Beschlüsse meldete der russische Militârattaché: „Der f r a n z ö s i s c h e K r i e g s m i n i s t e r eröffn e t e mir in g e h o b e n e m h e r z l i c h e n T o n e , daß die R e g i e r u n g zum Kriege f e s t ents c h l o s s e n sei, und bat mich, die H o f f n u n g d e s f r a n z ö s i s c h e n G e n e r a ls t ab e s zu b e s t ä t i g e n , daß a l l e u n s e r e An s t r e ng u n g e n gegen Deutschland gerichtet seien und O e s t e r r e i c h als Quantité n é g l i g e a b l e beh a n d e l t w e r d e n werde".110) Diese Meldung ging ab am 1. August 1 Uhr morgens (3 Uhr morgens Petersburger Zeit), das ist 16 Stunden vor der deutschen Kriegserklärung an Rußland und 2% Tage vor der deutschen Kriegserklärung an Frankreich. Wie Rußland das erste Land war, das die allgemeine Mobilmachung anordnete, so war Frankreich die erste Macht, die den festen Willen zum Kriege amtlich kundgab. Während des Ministerrats spielte sich noch ein anderer Vorgang ab. Graf Berthold unterrichtete am Abend des 31. die österreichischen Botschafter davon, daß die Monarchie in „Petersburg bereits offiziell mitgeteilt hätte, bei der Aktion gegen Serbien auf keinerlei territoriale Erwerbungen auszugehen und l07

> Poincarés Erklärung im „Temps" 19. Januar 1923. ) Messimy in „Revue de France" 1. August 1921; „Journal Officiel" 1. Febr. 1919 Beilage S. 353; Poincaré 18. März 1921; Romberg S. 39 und 42. 1M ) Messimy und Poincaré wie Anm. 108. 110 ) Romberg S. 41. 10a

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Rußland setzt die Mobilmachung fort

die staatliche Suveränität des Königreichs nicht antasten zu wollen" — Oe III. 62. Mit dieser Nachricht eilte der österreichische Botschafter Graf Szecsen gegen Mitternacht auf den Quai d'Orsay und erhielt dort vom Direktor der politischen Abteilung die Antwort, daß seiner persönlichen Ansicht nach „serbische Frage angesichts heutiger deutscher Demarche ganz in den Hintergrund trete" — Oe HI. 64. Petersburg. Die Sommation in Petersburg richtete Graf Pourtales um Mitternacht vom 31. Juli zum 1. August aus. Sasonow verwies auf die „technische Unmöglichkeit, Kriegsmaßnahmen einzustellen" und wiederholte sein altes Argument, daß die russische Mobilmachung mit der in anderen Ländern „nicht zu vergleichen" sei — D 536. Kurz vorher hatte der russische Minister den Botschaftern in den fünf europäischen Hauptstädten die überraschende Nachricht telegraphiert, Szäpäry habe ihm die Bereitschaft Oesterreichs mitgeteilt, in einen Meinungsaustausch über den I n h a l t seines Ultimatums einzutreten. Die diesbezüglichen Verhandlungen würden nach Ansicht Sasonows am besten in London geführt werden. 111 ) Wie nun aber aus dem sehr ausführlichen Bericht Szäpärys hervorgeht, hatte der Botschafter die Unterredung wesentlich deshalb herbeigeführt, weil es ihm „taktisch opportun erschien, noch einen äußersten Beweis guten Willens gegeben zu haben, um Rußland tunlichst ins Unrecht zu setzen", und er hatte während der Konversation fortwährend auf die „Diskrepanz" hingewiesen, die zwischen dem österreichischen und russischen Standpunkt bestehe, indem Sasonow die „Milderung" der Note wünsche, Berchtold aber nur eine „Erläuterung" zulasse •— Oe' III. 75, 97. Der österreichische Bericht spricht sich so deutlich und so eingehend aus, daß ein Mißverständnis nicht denkbar ist. Wie kam nun Sasonow, der früher den Unterschied des russischen und österreichischen Standpunktes so scharf betont und sogar wirklich entgegenkommende Erklärungen Szäpärys verschwiegen hatte, plötzlich dazu, diese „Diskrepanz" ganz zu übersehen, und warum wollte er auf einmal diesen Gedankenaustausch seiner persönlichen direkten Einwirkung entziehen und nach London verlegen? Dafür gibt es keine andere Erklärung als diese: der russische Minister hatte beim Zaren durchgesetzt, was er zunächst erstrebte, die allgemeine Mobilmachung; nun galt es im Sinne des Protokolls vom November 1912 „durch geschickte diplomatische' Verhandlungen Zeit zu gewinnen". Die Einleitung von Verhandlungen an einem neuen Orte mit neuen Instruktionen für die Verm ) Telegramm Sasonows vom 31. Juli 1914 Nr. 1592 siehe „Rotes Archiv" I. S. 186, Romberg S. 39.

Sasonow will Zeit für die Mobilmachung gewinnen

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treter aller Mächte war das beste Mittel, um dem russischen Millionenheer die Zeit zur Vollendung seiner Kriegsbereitschaft zu verschaffen. Wenn Sasonow die Mitteilung Szäpärys wirklich so völlig mißverstanden und so günstig aufgefaßt hätte, wie er in dem Telegramm an die auswärtigen Missionen vorgibt, so wäre es geradezu unbegreiflich, warum er davon nicht dem Grafen Pourtales Mitteilung machte, als dieser ihm die deutsche Sommation ausrichtete. Auf dem Entwurf des überraschenden russischen Telegramms finden sich zwei Randbemerkungen Nikolaus II. Die erste1 sagt „Eins hindert nicht das andere —• setzen Sie die Unterredungen mit dem österreichischen Botschafter fort." Das hieß offenbar, die Verhandlungen in London und die Unterredung mit Szäpäry könnten gleichzeitig stattfinden. Die zweite Bemerkung aber lautet: „Es ist sehr wichtig, das Geheimnis zu be wahren". Mit diesem „Geheimnis" können weder die Unterredungen mit Szäpäry noch die Londoner Verhandlungen gemeint sein, denn davon wurden ja alle Kabinette telegraphisch verständigt. Es bleibt nur die Erklärung, die allgemeine Mobilmachung solle unter dem Deckmantel der Teilmobilmachung gegen Oesterreich verheimlicht werden, wie denn ja auch tatsächlich kein russischer Botschafter von dieser Maßnahme unterrichtet wurde. Zar und Ministet scheinen des Glaubens gewesen zu sein, daß diese Täuschung länger vorhalten könne. 10. Die Intrigen gegen Deutschland. a) D i e A n t w o r t d e s Z a r e n a n d e n K ö n i g England.

von

Seinen zahlreichen Appellen an England hatte der deutsche Kanzler am Abend des 31. noch einen weiteren folgen lassen durch eine ausführliche Schilderung der Krise seit dem 29. Juli — D 513. Diese Darlegung machte doch endlich großen Eindruck auf Grey. Mitten in der Nacht, am 1. August 3 Uhr 30 moTgens, sandte er an Buchanan die Weisung, „sofort eine Audienz beim russischen Kaiser nachzusuchen und ihm eine persönliche Botschaft des Königs von England zu übermitteln". Diese Botschaft bestand in Wiederholung des vollen Textes von Bethmanns Telegramm mit längeren Zusätzen, wobei der König sagte: „Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß irgendein Mißverständnis diesen plötzlichen Abbruch (deadlock) herbeigeführt hat . . . . Ich appelliere daher an Deine Person, um das Mißverständnis zu beseitigen, das meinem Gefühl nach vorliegen muß, und um noch die Möglichkeit zu Unterhandlungen und Friedensaussichten zu lassen" Es kann nicht deutlicher ausgesprochen werden, als es hier durch Georg V. auf Rat seines Ministers geschieht, daß derjenige 10

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Die Antwort des Zaren an den König von England

sich ins Unrecht setzt, der zuerst zu einer allgemeinen Mobilmachung schreitet. Die Antwort des Zaren begann: „Ich hätte sehr gerne Deinen Vorschlag angenommen, wenn nicht der deutsche Botschafter h e u t e n a c h m i t t a g (this afternoon)113) meiner Regierung eine Note mit der Kriegserklärung übergeben hätte" . . . . Es folgte die Behauptung, daß „jeder Vorschlag" von Deutschland und Oesterreich verworfen worden sei, und daß Deutschland erst, als der geeignete Moment zu einem Druck auf Oesterreich vorüber war, Neigung zeigte zu vermitteln. Dann kam die weitere Behauptung, Rußland sei schließlich zur allgemeinen Mobilmachung gezwungen gewesen „wegen der österreichischen Totalmobilmachung, des Bombardements von Belgrad, der Versammlung österreichischer Truppen in Galizien und geheimer militärischer Vorbereitungen in Deutschland".1") Wegen des Zeitpunkts der österreichischen Mobilmachung mag Nikolaus II. von seiner Umgebung belogen worden sein, aber daß Deutschland keine geheimen Vorbereitungen getroffen hatte, wußte er selbst, denn in keinem seiner fünf Telegramme an Kaiser Wilhelm hat er sich darüber beschwert, auch nicht in dem letzten vom 1. August 2 Uhr nachmittags — D 546, das nur wenige Stunden vor der an König Georg gesandten Antwort abging. Der Zar mußte ferner doch auch einiges von der deutschen Vermittlung wissen, hatte er doch dem Kaiser eben noch herzlich für diese Vermittlung gedankt „die Hoffnung zu geben beginne, daß alles friedlich ende" — D 487. Das Auffallendste an dem Antworttelegramm aber ist, daß die Botschaft des Königs erst n a c h der deutschen Kriegserklärung in die Hände des Zaren gekommen sein soll. Zwischen der Weisung Grey's (3 Uhr 30 morgens = 5 Uhr 30 russische Zeit) und der Uebergabe der deutschen Kriegserklärung (7 Uhr abends) liegen über 13 Stunden. Sollte wirklich ein so dringendes Telegramm so lange unterwegs gewesen sein? Der Verdacht liegt nahe, daß die Antwort absichtlich verzögert worden ist, sei es, daß der Zar nicht wußte, was er auf den gerechtfertigten Vorwurf erwidern sollte, oder daß Sasonow die s o f o r t i g e Audienz des britischen Botschafters verhindert hat. Dieser Verdacht steigert sich zur Gewißheit durch die falsche Angabe, daß die deutsche Kriegserklärung schon a m N a c h m i t t a g ( a f t e r n o o n ) übergeben worden sei. Die wahre Zeit von 7 Uhr abends wird verschwiegen, damit man in London nicht sofort erkennen soll, daß die Botschaft Georgs V. früher eingetroffen sein mußte als die deutsche Kriegserklärung. Auch die Schilderung PalöoloSperrdruck vom Verfasser. ) Telegramme Georgs V. und Nikolaus 5. August 1914. 113

IL siehe

„Times"

Iswolsky und Poincaré über die Erklärungen Oesterreichs

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gues bestätigt, daß die Bitte Buchanans um Audienz schon v o r der Uebergabe der deutschen Kriegserklärung gestellt war.114) Gegen Sasonow muß die Anklage erhoben werden, daß er nicht nur die Sendung Tatischtschews nach Berlin verhindert1"), sondern auch die rechtzeitige Uebermittlung der Botschaft König Georgs hintertrieben hat. b) D e r R u n d e r l a ß V i v i a n i s v o m 1. A u g u s t u n d die B e e i n f l u s s u n g des b r i t i s c h e n B o t s c h a f t e r s in P a r i s . Das Telegramm Sasonows über die Bereitschaft Oesterreichs zur Erörterung des Inhalts des Ultimatums — E 133 — scheint in Downingstreet zunächst keinen besonderen Eindruck gemacht zu haben, vermutlich deshalb, weil Buchanan auf Grund der ihm vom russischen Minister selbst gegebenen Mitteilung über die Unterredung Sasonow—Szàpàry einen Bericht erstattete, der sich weit eher mit der kühlen Darstellung des österreichischen Botschafters als mit dem optimistischen Telegramm Sasonows deckte —. E 139. Erst später hat sich auch in London die Auffassung von einem besonderen Zugeständnis Oesterreichs gebildet — D 687, E Seite VIII. Der Bericht Paléologues über die Unterredung Sasonow— Szàpàry am Abend des 31. Juli ist im französischen Gelbbuch unterdrückt. Die Mitteilung des Grafen Szécsen, daß Oesterreich weder die Integrität noch die Suveränität Serbiens antasten wolle, war, wie erwähnt, am späten Abend des 31. am Quai d'Orsay zunächst als sehr nebensächlich angesehen worden. Als Poincaré am folgenden Tage mit Iswolsky darüber sprach, bezeichnete dieser, dem ja Sasonow die diesbezüglichen Erklärungen Szäpärys vom 28. und 29. vorenthalten hatte, die Versicherung Szécsens als „ganz erlogen", worauf Poincaré erwiderte: „Derartige Erklärungen seien von Oesterreich auch in London abgegeben worden, wo sie einen sehr gefährlichen Eindruck machen können, und deshalb sollte man sie auch dort dementieren".11") Bei dieser Sachlage ist es doppelt befremdend, daß das französische Gelbbuch als erste Nummer des 1. August einen Runderlaß Vivianis enthält, daß am vergangenen Abend der österreichische Botschafter in Paris einen unbestimmten, der in Petersburg einen bestimmten Schritt im versöhnlichen Sinne gemacht hätte, daß aber die von Oesterreich gezeigten friedlichen Dispositionen durch die Haltung Deutschlands zu nichte gemacht seien. Das deutsche Ultimatum an Rußland sei 114)

Paléolofpie S. 264. "») Baron Kosen „Forty Years of Diplonuacv" H S. 171. »•) Romberg S. 45/46. 10*

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Die Erfindungen Viviania, Bertheiota uni Poimcaréa

nicht gerechtfertigt, da Rußland den englischen Vorschlag angenommen habe, der „die Einstellung de* militärischen Vorbereitungen aller Mächte in sich schließe" — F 120. In diesem Erlaß werden also zum Zwecke der Anschwärzung Deutschlands zwei österreichische Demarchen verwertet: 1. ein Schritt Szäpärys, den dieser selbst nur als ein taktisches Manöver ansah, 2. eine Mitteilung Szécsens über Erklärungen, die von Szàpàry gelegentlich der auf deutschen Druck fortgesetzten direkten Besprechungen am 28. und 29. abgegeben, von Sasonow jedoch verheimlicht wordeü waren, und die Poincaré noch am 1. August als „sehr gefährlich" auch fernerhin verheimlichen wollte. Es wird ferner behauptet, daß Rußland in die Einstellung seiner militärischen Vorbereitungen eingewilligt habe, während die russische Mobilmachung ungehemmt weiterschritt, worüber man in Paris ebenso genau unterrichtet war, wie im deutschen Generalstab — D 609. Mit diesen Mitteln suchte man einen deutschen Kriegswillen zu konstruieren. In gleicher Weise wurde an demselben Tage der britische Botschafter bearbeitet. Sir F. Bertie berichtete, sowohl Berthelot als Poincaré hätten ihm gesagt, die allgemeine Mobilmachung in Rußland sei erst erfolgt, nachdem Oesterreich die seinige angeordnet habe. Der Präsident der Republik präzisierte dabei den Zeitpunkt genau „nachdem ein Dekret über die allgemeine Mobilmachung in Oesterreich ausgegeben worden sei", und fügte hinzu, daß in Deutschland militärische Maßnahmen verfügt worden seien, die in Wirklichkeit eine allgemeine Mobilmachung bedeuteten — E 126, 134. Solche Unwahrheiten oder, um den richtigen Ausdruck zu gebrauchen, solche unerhörten Lüg'en gab man nach London, obwohl man fünfmal zutreffende Nachrichten über die russische allgemeine Mobilmachung erhalten hatte, obwohl man, abgesehen von der im französischen Generalstab jedenfalls ohnehin vorhandenen Kenntnis, genau aufgeklärt worden war, was der Zustand drohender Kriegsgefahr bedeute, obwohl Rußland nicht daran dachte, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen, und obwohl man dem russischen Bundesgenossen schon 1 Uhr morgens den festeh Entschluß zum Kriege mitgeteilt hatte. c) D e r B e s u c h S c h e b e k o s u n d D u m a i n e s b e i Berchtold. Am 1. August erhielt der österreichische Minister in auffallend rascher Aufeinanderfolge die Besuche de's russischen und französischen Botschafters, die beide sich bemühten, Deutschland als den Friedensstörer hinzustellen. Berchtold antwortete dem russischen Botschafter ausweichend, dem französischen anscheinend gar nicht — Oe IH. 99. Das russische und französische Buntbuch schweigen völlig über die ergebnislose merkwürdige Demarche der beiden Diplomaten. Der öster-

Der Keil zwischefa Deutschland und Oesterreich

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reichische Minister aber verständigte den deutschen Botschafter sehr loyal von dem- Vorgefallenen, und Herr von Tschirschky konnte der Weitergabe des Berchtoldschen Briefes nach Berlin hinzufügen: Der russische Botschaftsrat habe am 2. August einen ähnlichen Versuch bei einem jüngeren Herrn des Wiener Auswärtigen Amtes gemacht, der mit der Gegenfrage antwortete, „ob die russische Mobilisierung vielleicht gegen die Mongolei gerichtet sei". Man halte am Ballhausplatz das Ganze für einen „infame'n Schwindel". Das Spiel, einen Keil zwischen Deutschland und Oesterreich zu treiben, sei in Wien „völlig durchschaut" — D 704 (vom 3. datiert, aber am 2. geschrieben). Infolge der unwahren Anschuldigungen gegen Deutschland im Telegramm des Zaren an König Georg, infolge des merkwürdigen Erlasses von Viviani, infolge des Belügens des britischen Botschafters in Paris, infolge der Ausstreuungen des russischen und französischen Botschafters in Wien entstand die Legende, die heute noch, namentlich in Frankreich, verbreitet ist, Oesterreich habe im letzten Augenblick volle Nachgiebigkeit bewiesen und sei wider seinen Willen von Deutschland zum Kriege gezwungten worden.

11. Die englische Vermittlung am 1. August. a) D i e z w e i t e S a s o n o w s c h e F o r m e l . Sir Edward Grey hatte bekanntlich die erste Formel Sasonows als ungeeignet befunden und statt dessen vorgeschlagen (Seite 122) für Oesterreich: „Halt in Belgrad" mit darauffolgender Vermittlung; für Rußland Einstellung weiterer militärischer Vorbereitungen, vorausgesetzt daß die anderen Mächte das Gleiche täten. Mit dieser Lösung war Sasonow durchaus nicht einverstanden, sondern änderte nunmehr seine frühere Formel in folgender Weise ab: „Wenn Oesterreich einwilligt, den Vormarsch seiner Truppen auf serbischem Gebiet einzustellen, und wenn es anerkennt, daß der österreichisch-serbische Konflikt den Charakter einer Frage von europäischem Interesse angenommen hat und deshalb zuläßt, daß die Großmächte prüfen, welche Genugtuung Serbien der österreichisch-ungarischen Regierung gewähren könne, ohne seine Rechte als suveräner Staat und seine Unabhängigkeit antasten zu lassen, so verpflichtet sich Rußland, seine abwartende Haltung beizubehalten" — R 67, E 120. Unter dem Vorgeben, seinen Vorschlag mit dem englischen zu „verschmelzen", wie Buchanan meldete, hatte Sasonow den

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Die zweite Saaonowsohe Fonnel

englischen Gedanken in das gerade Gegenteil verkehrt. Oesterreich solle seinen Vormarsch einstellen, von dem jederman wußte, daß er noch gar nicht begonnen hatte — er begann erst am 9. August; es durfte also n i c h t , wie Grey vorgeschlagen hatte, Belgrad besetzen, Rußland aber — und das war eine sehr erhebliche Verschlimmerung gegenüber der ersten russischen Formel, verpflichtete sich nicht mehr „seine militärischen Vorbereitungen einzustellen", sondern nur „zu einer abwartenden Haltung" also lediglich zum Aufschub des Beginns der Feindseligkeiten. Damit ja kein Zweifel bestehe, wie das gemeint sei, teilte Buchanan in seiner Meldung noch ausdrücklich mit, der Zar habe dem deutschen Kaiser telegraphiert „es sei natürlich unmöglich, eine einmal begonnene Mobilmachung einzustellen" — E 120, Absatz 3. Vielleicht durch das beschönigende Wort „Verschmelzung" getäuscht, gab Grey diese ihm am 1. August zugesandte Formel ohne Kommentar an alle Kabinette weiter — E 132. Ein Verfahren, das ein deT eigenen Auffassung widersprechendes Diktat der einen Partei einfach übernimmt, kann nicht mehr Vermittlung genannt werden. In Berlin erhielt man von der verschlechterten russischen Formel erst am 2. August Kenntnis — D 720. Auch eine frühere Mitteilung hätte einen Erfolg nicht haben können, denn Einwilligung zum ungestörten Fortgang der russischen Mobilmachung war mit der Pflicht der Selbsterhaltung unvereinbar. Beim Zustandekommen der zweiten Sasonowschen Fonnel hatte auch das Pariser Kabinett mitgewirkt. Es unterstützte am 31. Juli in einer Note nach Petersburg dem Scheine nach den Vorschlag Greys, suggerierte jedoch an Stelle der Besetzung von Belgrad das „Anhalten des österreichischen Vormarsches" — F 112, was Sasonow aufgriff. Den zweiten Teil, Einstellung der russischen Rüstungen, empfahl Viviani. Die Aufrichtigkeit dieses Rats wird beleuchtet dadurch, daß man in Paris Tag*s zuvor die geheime Fortsetzung und Beschleunigung dieser Rüstungen nahe gelegt und die Nachricht, daß die ersten Maßnahmen zur allgemeinen Mobilmachung in Rußland getroffen seien, ohne: Widerspruch hingenommen hatte. b) D a s T e l e g r a m m B e r c h t o l d s 1. A u g u s t .

vom Morgen

des

Auf Grund des Beschlusses des gemeinsamen Ministerrata vom Vormittag des 31. Juli (Seite 139) wurde am Ballhausplatz eine zwei Druckseiten füllende Note ausgearbeitet, in der nach Darlegung der ernsten Mahnungen und Warnungen Tschirschkys, Graf Szögyeny beauftragt wurde, in Berlin für die Mitteilungen zu danken und zu erklären

Das Telegramm Berchtolds vom Morgen des 1. August

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„daß wir trotz der Aenderung, die in der Situation seither durch die Mobilisierung Rußlands eingetreten sei, in voller Würdigung der Bemühungen Englands um die Erhaltung des Weltfriedens gerne bereit seien, dem Vorschlag Sir E. Greys, z w i s c h e n u n s u n d S e r b i e n 1 1 7 ) zu vermitteln, näher zu treten. Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch natürlich, daß unsere militärische Aktion gegen das Königreich einstweilen ihren Fortgang nehme, und daß das englische Kabinett die russische Regierung vermöge, die gegen uns gerichtete Mobilisierung seiner Truppen zum Stillstand zu bringen, in welchem Falle wir selbstverständlich auch die uns durch die russische Mobilisierung aufgezwungenen defensiven militärischen Gegenmaßresreln in Galizien sofort rückgängig machen würden" — Oe m . 65. Diese Note nahm, obwohl sie erst am 1. August gegen 4 Uhr morgens das Chiffrierbüro verließ, noch nicht auf die' inzwischen bekannt gewordene allgemeine russische Mobilmachung, sondern nur auf die Teilmobilmachung gegen Oesterreich Bezug. Für den Fall der Zurücknahme dieser Teilmobilmachung war, wennschon das von London und Berlin so warm empfohlene „Halt in Belgrad" nicht angenommen war, ein Eingehen auf Vermittlung in Aussicht gestellt. Wann der österreichische Botschafter im Laufe des 1. August den vom vorhergehenden Tage datierten Auftrag in der Wilhelmstraße ausgerichtet hat, läßt sich nicht feststellen, da dort Aufzeichnungen über mündliche Mitteilungen in der Regel nicht gemacht wurden. Jedenfalls war inzwischen die Tatsache der Erweiterung der russischen Teilmobilmachung zur Vollmobilmachung seit 24 Stunden bekannt, auch war das den Grey'schen Vorschlag ablehnende Telegramm Kaiser Franz Josefs an Kaiser Wilhelm (Seite 139) eingetroffen. Die Einstellung der russischen Mobilmachung, nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen Oesterreich bildete in voller Uebereinstimmung mit der Wiener Note auch nach Berliner Auffassung die unerläßliche Voraussetzung für die von Oesterreich in Aussicht gestellte Annahme einer Vermittlung. Graf Berchtold hatte sein Telegramm auch den Botschaftern in Paris und London mitgeteilt, jedoch nur zu „persönlicher Information". Graf Mensdorff, der es am Nachmittag des 1. August erhielt, entschloß sich trotzdem nach Rücksprache mit Fürst Lichnowsky dazu, Grey „informativ und vertraulich" davon Kenntnis zu geben — Oe III. 94. Auf den britischen m ) Darüber, daß statt „Serbien" zu setzen gewesen wäre „den Mächten" siehe Gooss S. 236 f.

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Grey über Berchtolcl6 Telegramm vom 1. August

Staatssekretär, der ebenso wie Mensdorff selbst das Telegramm Franz Josefs an Wilhelm II. nicht kannte, machte die Note Eindruck. Obwohl die Bedingung „Halt in Belgrad" nicht angenommen war, sah er in der bedingten Annahme der Vermittlung ein Entgegenkommen des österreichischen Ministers, und es scheint ihm endlich, endlich die Erkenntnis gekommen zu sein, daß nicht der österreichische Vormarsch in Serbien, auch nicht der von Berchtold einstweilen noch ohne Begrenzung geforderte Vormarsch, sondern die russische Mobilmachung, und zwar schon die russische Mobilmachung gegen Oesterreich allein, das Hindernis für Verständigung und Vermittlung bilde. Tags zuvor noch hatte er in Petersburg wissen lassen, er sehe nicht ein, wie Rußland seine Rüstungen einstellen solle, wenn Oesterreich seinem Vormarsch in Serbien keine Grenze ziehe — E 110, soeben erst hatte er die zweite Sasonowsche Formel, die umgekehrt wie Berchtold Einstellung des noch gar nicht begonnenen österreichischen Vormarsches und Fortsetzung der russischen Mobilmachung nicht nur gegen Oesterreich, sondern auch gegen Deutschland forderte, allen Kabinetten mitgeteilt, nunmehr aber drahtete er deh Inhalt des Wiener Vorschlags an Buchanan mit dem Zusatz: „Sie sollten dem Außenminister satren, daß, wenn in Anbetracht der Annahme der Vermittlung durch Oesterreich Rußland einwilligen kann, seine Mobilmachung einzustellen, es noch möglich erscheint, den Frieden zu erhalten" — E 135. In Petersburg wurde dieser österreichische, der Auffassung Sasonows direkt widersprechende Vorschlag abgelehnt, wie aus dem Verschweigen der russischen Antwort im englischen Blaubuch deutlich hervorgeht. In Berlin hat man von der günstigen Aufnahme der österreichischen Note in London und von der Bekehrung1 Greys zu einer richtigen Ansicht über die russische Mobilmachung erst durch das englische Blaubuch Kenntnis erhalten. Am 2. August kam lediglich ein Telegramm Lichnowskys, man habe ihm im Foreign Office mitgeteilt „Oesterreich scheine jetzt bereit, grundsätzlichen Besprechungen seiner Streitpunkte mit Serbien durch eine Viermächtekonferenz in London zuzustimmen. Die Mitteilung sei jedoch zu spät gekommen, um noch praktischen Nutzen zu haben" — D 687. Das, was in Wirklichkeit zu spät kam, war die Erkenntnis Greys. daß zur Erhaltung des Weltfriedens vor allen Dingen die Einstellung der russischen Mobilmachung notwendig sei. Unbegreiflich ist, falls Mensdorff die Note ganz mitgeteilt hat, wie Grey die darin ausführlich geschilderten Bemühungen Deutschlands, auf Oesterreich vermittelnd einzuwirken, später nicht nur verschweigen, sondern direkt ableugnen konnte.

153 12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und OesterreichUngarns an Rußland. In Frankreich schritten die Kriegsvorbereitungen am 1. August rüstig vorwärts. Seit gestern stand die Kavallerie der Grenzgarnisonen in ihren Kriegsstellungen, die aus weiter entfernten Standorten mit der Bahn herangeführten Reiterregimenter trafen heute in aller Frühe dort ein. Die fünf Grenzkorps waren kriegsbereit.118) Um die achte Morgenstunde forderte General Joflre die Mobilmachung. Falls sie nicht angeordnet würde, müsse er den Oberbefehl niederlegen. Ein von 9 Uhr bis Mittag versammelter Ministerrat beschloß, die Forderung des Generalissimus zu erfüllen und eine Antwort auf die deutsche Anfrage zu verweigern. Der Kriegsminister wurde ermächtigt, die Mobilisierungsordre noch einige Stunden zurückzuhalten, aber um 3 Uhr 30 erscheint Joffre zum zweiten Male und erhält das gewünschte Dokument. Nach einer Viertelstunde läuft der Befehl über den Draht. Da tritt Yiviani ins Kabinett Messimys, der deutsche Botschafter habe nach den, ihm von Yiviani gegebenen — unzutreffenden — Mitteilungen über die Zustimmung Rußlands zum Einstellen der Mobilmachung und über die Bereitschaft Oesterreichs zur gründlichen Erörterung seines Ultimatums geäußert, das sei ein „Schimmer von Hoffnung". Doch der Kriegsminister erwidert nach telephonischer Anfrage beim Generalstab: „Es ist zu spät, der Mechanismus ist losgelassen".11") Ein vielsagendes Zugeständnis. Selbst dann also, wenn die Einstellung der russischen Mobilmachung wahr gewesen wäre, würde es nach französischem Zeugnis infolge der französischen Mobilmachung „zu spät" gewesen sein. Noch beredter ist die nachstehende, mit Bekanntgabe der Mobilmachung von Iswolsky an Sasonow telegraphierte Meldung des russischen Militärattaches, Messimy wünsche, daß auf Serbien eingewirkt werde, damit es schneller zum Angriff übergehe, und daß er selbst über den Zeitpunkt des B e g i n n s d e r r u s s i s c h e n O f f e n s i v e g e g e n D e u t s c h l a n d auf dem Laufenden gehalten werde.120) Das waren nicht unverbindliche Aeußerungen unverantwortlicher Militärs, sondern von Regierung an Regierung gerichtete Wünsche. Nach London ging sodann die wahrheitswidrige Darstellung, die deutsche Mobilmachung' sei „in vollem Gange", die französische daher nur eine „unbedingt notwen118

) Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 77; Remberg S. 42. ) Messimy in der „Revue de France" 1. August 1921; ferner

110

F 125.

120

) Romberg S. 44.

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Nikolaus II. bestätigt nochmals die deutsehe Vermittlung

dige Schutzmaßnahme"; wenn der Krieg ausbräche, sei klar, von welcher Seite der „Angriff" (agression) komme — F 127. Wiederum ein Geständnis, daß derjenige der Angreifer ist, deT zuerst die allgemeine Mobilmachung anordnet. So wenig wie in Paris gab man sich am 1. August in Berlin einer Täuschung über die Lage hin. Der Aufmarsch der französischen Deckungstruppen längs de"r ganzen Grenze wurde bekannt — D 609. Um Mittag ermächtigte der Bundesrat den Kanzler, falls Rußland und Frankreich befriedigende Erklärungen verweigerten, beiden Mächten zu erklären, sie hätten den Kriegszustand mit dem Deutschen Reiche herbeigeführt — D 553. Da der Bericht des Grafen Pourtales über seine mitternächtige Unterredung noch nicht als die endgiltige Antwort Rußlands auf die deutsche Sommation betrachtet wurde, sah die kurz vor 1 Uhr nachmittag nach Petersburg gesandte Note sowohl den Fall eines ablehnenden Becheides als auch den der Verweigerung jeder Antwort vor — D 542. Die deutsche Kriegserklärung an Rußland war zwar nichts anderes als die öffentliche Feststellung eines infolge der russischen Gesamtmobilmachung unabwendbar gewordenen Zustandes, trotzdem aber ein politischer Fehler. Ein militärisches Interesse an einem baldigen Beginn der Operationen im Osten lag nach dem deutschen Kriegsplan nicht vor. Es scheint, daß mehr formaljuristische Gründe den Schritt veranlaßt haben, der um so bedauerlicher ist, als nach den jetzt bekannten Tatsachen bei einigem Zuwarten wahrscheinlich Frankreich, wie mit der Mobilmachung, so auch mit der Erklärung des Kriegszustandes Deutschland zuvorgekommen wäre. Etwa eine1 Stunde nach Absendung des Dokuments an Pourtales traf ein fünftes Telegramm des Zaren an Kaiser Wilhelm ein: „Ich habe Dein Telegramm erhalten. Verstehe, daß Du gezwungen bist, mobil zu machen, aber ich wünsche von Dir dieselbe Garantie zu erhalten, wie ich sie Dir gegeben habe, daß diese Maßnahmen n i c h t Krieg bedeuten, und daß wir fortfahren werden, zu verhandeln zum Heile unserer Länder und des allgemeinen Friedens, der unser aller Herzen teuer ist. Unserer langbewährten Freundschaft m u ß es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu vermeiden. Voll Vertrauen erwarte ich mit Spannung Deine Antwort" — D 546. Damit bestätigte der Zar nochmals die deutsche Vermittlungstätigkeit, erkannte die deutsche Mobilmachung, die noch gar nicht erfolgt war (!), als selbstverständlich an und gab dadurch auch die Tags vorher noch geleugnete russische Mobilmachung gegen Deutschland endlich zu. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der übrigen Beteuerungen sei an die, wenige Stun-

Englands Giarantieangeboi fflr Frankreichs Neutralität

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den später an König Georg gesandte, nichts als Unwahrheiten enthaltende Antwort (S. 146) erinnert. Als bis 5 Uhr nachmittags noch keine Antwort aus Petersburg auf die Sommation vom gestrigen Tage eingetroffen war, wurde in Deutschland, zuletzt von den vier in den Krieg eintretenden kontinentalen Großmächten, der Befehl zur Mobilmachung erlassen — D 554. Eine Stunde später traf die Antwort aus Paris ein: „Frankreich wird tun, was ihm seine' Interessen gebieten" — D 571. Die angefügte Mitteilung Vivianis über die angebliche Bereitwilligkeit Rußlands zur Einstellung seiner Mobilmachung nahm sieh um so seltsamer aus, als der Zar selbst vor vier Stunden das Gegenteil zugegeben hatte. Mit dem Empfang der französischen Antwort war der in Aussicht genommene Zeitpunkt für die Kriegserklärung an Frankreich eingetreten, doch kurz zuvor hatte Lichnowsky gedrahtet, Grey habe sagen lassen „falls Deutschland Frankreich nicht angriffe, würde England neutral bleiben und die Passivität Frankreichs verbürgen" — D 562, 570. Mit weitgehendem Optimismus, mit einer nach den nunmehr bekannten Dokumenten kaum noch begreiflichen Illusion über den Kriegswillen Frankreichs griffen Kaiser und Kanzler die Möglichkeit auf, den Krieg mit dem westlichen Nachbarn zu vermeiden. Wilhelm II. regte an, das ganze deutsche Heer im Osten aufmarschieren zu lassen, doch Moltke erwiderte, man müsse aus technischen Gründen zunächst den vorgesehenen Aufmarsch nach beiden Fronten auslaufen lassen, und könne dann erst die Truppen vom Westen nach dem Osten überführen."1) Dem entsprechend wurden umgehend sowohl König Georg als sein Minister verständigt, Deutschland gehe auf den Vorschlag ein, falls England mit seiner gesamten Streitmacht die unbedingte Neutralität Frankreichs bis zur Beendigung des deutsch-russischen Konflikts verbürge. Der schon eingeleitete Aufmarsch im Westen könne zwar nicht mehr geändert werden, doch würden die deutschen Truppen im Falle einer englischen Zusage die französische Grenze nicht vor 48 Stunden (3. August abends 7 Uhr) überschreiten — D 575, 578, 579. Der Befehl an die Regimenter, die in immobilem Zustand sofort die deutschen Bahnen in Luxemburg besetzen sollten, wurde widerrufen."2) Während dieser "Vorgänge hatte Goschen eine längere Unterredung mit Jagow. Dem Botschafter war ein Telegramm Greys zugegangen, Rußland habe die Bereitwilligkeit Oesterm ) 12S

Moltke S. 19 f. ) loc. cit. S. 22.

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Ein letzter Appell Deutschlands an Rußland

reichs zu Besprechungen mitgeteilt — über den Gegenstand der Besprechungen war in dem Telegramm nichts gesagt — und Rußland (Oesterreich?) habe sein Einverständnis zu einer Vermittlung erklärt, die nicht die gleichen Bedenken errege wie die erste Formel Sasonows. Es war für Jagow sehr leicht, zu erwidern, daß die Fortsetzung der direkten Besprechungen ja ein Verdienst Deutschlands sei, und daß für die in Frage stehende Vermittlung die Zurücknahme der russischen Mobilmachung eine selbstverständliche Vorbedingung bilde' — D 595, E 131, 138.123), Diese Auffassung1 telegraphierte Grey selbst etwa um die gleiche Zeit nach Petersburg — E 135. Die neunte Abendstunde kam, und noch immer lag keine Antwort aus Petersburg auf die Sommation vom 31. vor."*) Da scheint sich die durch die Nachricht aus London erweckte Hoffnung, den Krieg mit Frankreich zu vermeiden, dahin gesteigert zu haben, daß vielleicht auch der mit Rußland vermeidbar sei. Wilhelm II. drahtete 10 Uhr abends, der Beschleunigung halber offen und dringend, an den Zaren: „Danke Dir für Dein Telegramm. Ich habe gestern Deiner Regierung den Weg angegeben, durch den allein noch der Krieg vermieden werden kann. Obwohl ich um Antwort bis heute Mittag gebeten hatte, hat mich bis jetzt noch kein Telegramm meines Botschafters mit einer Antwort Deiner Regierung erreicht. Ich war daher genötigt, meine Armee mobil zu machen. Sofortige bejahende, klare und nicht mißzuverstehende Antwort Deiner Regierung" ist die' einzige Möglichkeit, endloses Elend zu vermeiden. Bis ich diese Antwort erhalten habe, bin ich leider nicht in der Lage, auf den Gegenstand Deines Telegramms einzugehen. Ich muß Dich ernstlich ersuchen, daß Du unverzüglich Deinen Truppen Befehl gibst, unter keinen Umständen die geringste Verletzung unserer Grenzeh zu begehen" — D 600. Doch diese Hoffnung sollte rasch zerstört werden. In zwischen war nicht nur die Nachricht von der französischen Mobilmachung eingetroffen — D 590, sondern auch eine längere Meldung Lichnowskys. Grey hatte ihm zunächst als Kabinettsbeschluß mitgeteilt, daß die deutsche Antwort wegen der belgischen Neutralität sehr bedauerlich sei. Doch die Frage des Botschafters, ob er im Falle der Achtung der Neutralität des Königreichs durch Deutschland eine bestimmte Erklärung über die Haltung Großbritanniens abgeben könne, verneinte der m ) In D 595 ist bei der Bereitwilligkeit zur Vermittlung: Rußland, in E 131 wohl irrtümlich Oesterreich genannt, das ja die erste Formeü Sasonows gar nicht kannte. "') Das Telegramm ist von den russischen Behörden angehalten worden und wurde erst vom Botschafter bei seinem Eintreffen in Berlin bekannt gegeben.

Beginn dea Kriegszustandes zwischen Deutschland und Bußland 157

Minister. Grey stellte dann seinerseits die im englischen Blaubuch unterdrückte Frage, ob sich nicht Deutschland und Frankreich im Falle eines russischen Krieges bewaffnet gegenüberstehen könnten, ohne sich anzugreifen, aber auf die Gegenfrage, ob Frankreich einen solchen Pakt eingehen würde, antwortete der Staatssekretär dilatorisch, er wolle sich erkundigen — D 596, E 123. Eine Stunde später meldete Lichnowsky, daß durch dieses Gespräch die englische Anregung1 erledigt sei — D 603. Ein Telegramm König Georgs sprach von einem „Mißverständnis" — D 612.1") Der wahre Grund aber war, daß Grey, wie er später mitteilen ließ, seine Anregung „ohne Fühlung mit Frankreich und ohne Kenntnis der Mobilmachung" gemacht hatte — D 631. Das hieß also, Frankreich habe den von Deutschland angenommenen Vorschlag zurückgewiesen, und zwar unter Berufung darauf, daß schon mobilisiert, ein passives Gegenüberstehen daher nicht mehr möglich sei."") Graf Pourtalès hatte am 1. August 7 Uhr abends ( = 6 Uhr deutsche Zeit) die in der Sommation vom 31. enthaltene Frage nochmals dreimal hintereinander an Sasonow gerichtet, der sie dreimal verneinte, worauf der Botschafter die Kriegserklärung übergab —• D 588. Sein Telegramm darüber lag in Berlin bis lium Morgen des 2. August noch nicht vor, ebenso wenig eine Antwort des Zaren auf das letzte Angebot Kaiser Wilhelms. Hingegen wurden Grenzüberschreitung'en schwacher russischer Abteilungen gemeldet — D 629. Wenn diesen Vorkommnissen auch allzu große Bedeutung nicht beizumessen war, so konnte doch im Zusammenhalt mit der offensichtlich eingetretenen Unterbindung des telegraphischen Verkehrs kein Zweifel mehr bestehen, daß die russische Antwort auf die Frage wegen Einstellung der Mobilmachung verneinend gelautet hatte. Früher als in Berlin war man über die Entscheidung Petersburgs in Paris unterrichtet, wo sie Iswolsky schon am 1. August 11 Uhr abends Poincaré mitteilen konnte. Der Präsident erklärte daraufhin dem Botschafter in der allerkategorischsten Form, daß „sowohl er selbst als auch das gesamte Kabinett fest entschlossen seien, die Frankreich durch den Bündnisvertrag auferlegten Verpflichtungen völlig und ganz zu erfüllen. Hierbei entstünden jedoch eine Reihe überaus verwickelter Fragen, sowohl politischer als auch strategischer Natur. Vor allem ist laut der französischen Verfassung zur Kriegserklärung ein Beschluß des Parlaments erforderlich, zu dessen Einberufung man wenigstens zwei Tage braucht. Obwohl 1M

) 11 Uhr abends in Berlin eingetroffen, „Deutsche Allgemeine Zeitung" 11. Oktober 1921, Nr. 477. "•) Im englischen Blaubuch fehlen am 1. August alle Telegramme von London nach Paris.

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Frankreichs Gründe für Versohiebiing der Kriegserklärung

Poincaré an diesem Beschluß nicht zweifele, würde er es vorziehen, eine öffentliche Debatte über die Anwendung des Bündnisvertrags zu vermeiden. Aus diesem Grunde und aus Erwägungen, die hauptsächlich England betreffen, wäre es besser, wenn die Kriegserklärung nicht von Seiten Frankreichs, sondern von Seiten Deutschlands erfolgte. Ferner muß man berücksichtigen, daß heute nur der erste Tag der französischen Mobilmachung ist, und daß es für beide Verbündeten vorteilhafter wäre, wenn Frankreich die militärischen Operationen erst beginnen würde, nachdem die Mobilisation schon weiter fortgeschritten wäre" . . .IST) Ein Ministerrat trat in allen Punkten der Ansicht Poincarós bei, aus der deutlich hervorgeht, daß Frankreich die sofortige Kriegserklärung an Deutschland nur unterließ in erster Linie aus Rücksicht auf England, dann deswegen, weil man eine öffentliche Debatte über die Anwendung des französisch-russischen Bündnisvertrags vermeiden wollte. Dieser Vertrag verpflichtete nämlich Frankreich zur Mobilmachung erst dann, wenn z u v o r eine Dreibundmacht mobil gemacht hatte, in der seit 1906 giltigen, dem französischen Volke bis heute verheimlichten Abänderung nur dann, wenn diese Dreibundmacht Deutschland war."8) Das französische Volk kennt heute noch den im Jahre 1914 giltigen Text der Militärkonvention nicht, lebt heute noch in dem Wahne, daß die 1914 angeordnete Mobilmachung die Erfüllung einer Bündnispflicht gewesen sei. Oesterreich-Ungarn hat sofort den Eintritt des Kriegszustandes mit Rußland als gegeben anerkannt. Schon am Tage vor der deutschen Kriegserklärung hatte der österreichische Generalstab die Versammlung des Restes der Armee in Galizien mitgeteilt, hatte Kaiser Franz Joseph zu gemeinsamem Kampfe gegen Rußland aufgerufen — D 498, 482. Dem König von Italien telegraphierte der österreichische Monarch am 1. August die bestimmte Erwartung „auf den Beistand der Verbündeten rechnen zu dürfen" — Oe m . 100 A. Am folgenden Tage forderte Graf Berchtold von Italien die Anerkennung des Bündnisfalles — Oe III. 106, am 3. August legte er dem Kaiser den Entwurf der Kriegserklärung an Rußland vor — Oe III. 124. Ausschließlich aus dem militärischen Grunde „im Aufmarsch in Galizien möglichst lange ungestört zu bleiben" — D 772 — wurde' die Absendung der Kriegserklärung bis zum 5. verschoben — D 860. Die Uebergabe verzögerte sich wegen des Umwegs über Schweden bis zum 6. August — Oe- III. 161. Romberg S. 45. ) Generalstabsprotokolle „Russisches Rlaubuch" S. 697 ff.

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159

13. Die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich und die Frankreichs an Oesterreich-Ungarn. Nachdem Frankreich, dann Deutschland mobilisiert hatten, und der Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reiche und Rußland eingetreten war, war die Erklärung des Kriegszustandes zwischen Deutschland und Frankreich eine Teine Formsache. Zudem hatten gleichzeitig mit dem Aufmarsch starker Truppenmassen an der Grenze kleinere Zusammenstöße begonnen. Wie nach vierundvierzigjährigem Frieden sehr begreiflich, trachteten auf beiden Seiten einige ehrgeizige junge Offiziere trotz strenger Gegenbefehle nach dem Ruhme, den ersten Schlag zu führen. Nach den Zusammenstellungen des deutschen Generalstabs haben deutsche Patrouillen etwa 40mal, französische Abteilungen etwa 56mal auf dem Landwege die Grenze überschritten, 11 mal ist es nach den Berichten zum Feuergefecht gekommen."8) In Paris erwog man schon am 2. August die Möglichkeit, die deutschen Grenzüberschreitungen unter Verschweigen der eigenen dazu auszunutzen, um dem am 4. zusammentretenden Parlament zu erklären, daß „Frankreich überfallen sei" und auf diese Weise „eine förmliche Kriegserklärung" zu vermeiden.180) In der französischen Hauptstadt begann außerdem auch die Hetze gegen die dort wohnenden Staatsangehörigen der Mittelmächte und das völkerrechtswidrige Verhalten gegen deren diplomatische Vertretungen. Vom Morgen des 3. August an wurden alle Zifferntelegramme des Berliner Auswärtigen Amts an die Pariser Botschaft und umgekehrt derart verstümmelt, daß sie nur teilweise oder gar nicht entziffert werden konnten.131) Der bayerische Gesandte sah sich wegen der Haltung der Bevölkerung genötigt, seine Wohnüng zu verlassen und sich mit dem Personal der Gesandtschaft in das deutsche Botschaftsgebäude zurückzuziehen, vor deta am Abend die Menge gleichfalls eine drohende Haltung einnahm.13") Deutsche und österreichisch-ungarische Staatsangehörige wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, ihre Geschäfte geplündert, die Mitglieder der beiden Botschaften konnten kaum mehr wagen, sich auf der Straße zu zeigen oder eine öffentliche Gaststätte zu besuchen — Oe IH. 119. Die Zeitungen hielten sich darüber auf, daß der deutsche Botschafter noch nicht abgereist sei, und forderten ihn auf, sich „aus dem Staube zu machen". Auch am Quai d'Orsay scheint man mit dem Verbleiben Herrn von Schoens in Paris nicht einverstanden gewesen zu sein, denn sein österreichischer Kollege berichtete am Abend des 3. August: "") 1M ) lal ) la )

Siehe Beleg Nr. 27 S. 200. Romberg S. 48. D 716, 734 a, 749, 776, 809. „Bayerische Dokumente" S. 183.

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Die Begründung der Kriegserklärung an Frankreich

„Langes Zögern deutscher Regierung, ihren Botschafter abzuberufen, wo Feindseligkeiten b e i d e r s e i t s , M ) begonnen hatten, machte hier schlechten Eindruck" — Oe

in. 120.

Auch in Berlin war man inzwischen auf den Gedanken gekommen, die Grenzverletzungen der Gegenseite als Grund für Eintritt des Kriegszustandes zu verwerten. Man übersah dabei ebenso wie in Paris, wie unzuverlässig in den Tagen äußerster Spannung derartige Meldungen sind, da die überhitzte Phantasie der an den Krieg noch nicht gewohnten Truppen und noch öfter die Einbildungskraft der erschreckten Grenzbewohner oftmals den Feind sieht, wo keiner vorhanden ist. Es wäre besser gewesen, wie ursprünglich beabsichtigt war, einfach zu sagen: Da Frankreich keine Zusicherung für eine neutrale Haltung abgibt, kann Deutschland „die Wahl des Zeitpunktes, in dem die Bedrohung seiner westlichen Grenzen zur Tat wird, nicht Frankreich überlassen" — D 608. Die am 3. August, behufs Uebergabe um .6 Uhr abends, an Herrn von Schoen gesandte Kriegserklärung traf nun wie1 alle chiffrierten Telegramme dieses Tages in so verstümmeltem Zustande auf der deutschen Botschaft ein, daß die hauptsächlich betonten französischen Grenzverletzungen zu Lande nicht entziffert werden konnten. So lautete z. B. der erste Satz der Depesche: „Deütsche Erwehrungen hatten Brennerei kel italienischer Botschafter". Hingegen waren einigermaßen zu enträtseln die späteren Stellen, wo von Fliegereinfällen im allgemeinen die Rede war, und völlig lesbar war der Satz: „Gestern warf französischer Flieger Bombe auf Bahn bei Karlsruhe und Nürnberg" — D 734a. Der Botschafter war genötigt, ein eigenes Schreiben zu verfassen, worin er von feindseligen Handlungen französischer Flieger sprach und den nicht verstümmelten Satz vollständig anführte — D 734b. Auf diese Weise entstand die Legende, Deutschland habe seine Kriegserklärung an Frankreich ausschließlich mit der bekanntlich auf Irrtum beruhenden Meldung des Bombenabwurfs bei Nürnberg begründet.134) Der Kriegszustand zwischen Oesterreich und den Westmächten war selbstverständlich, sobald er zwischen diesen und Deutschland eintreten würde, wie Graf Berchtold schon am 2. August in London erklären ließ — Oe IH. 112. Wegen Besorgnis für die noch nicht mobile österreichische Flotte verschob das Wiener Kabinett jedoch im Einverständnis mit Deutschland die Kriegserklärung bis zum 12. August, sodaß Frankreich damit zuvor kam, wobei es seinem Schritt mit der unrichtigen Behauptung begründete, daß däs Tiroler Armeekorps nach Deutschland transportiert worden sei, während es 1M ) m

Sperrdruck vom Verfasser. ) Siehe IV. Abschnitt 9. Kapitel S. 182.

Die britische Flotte bleibt mobil

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tatsächlich ohne Berührung' deutschen Bodens an die galizische Front abbefördert wurde.136) Der Irrtum Frankreichs war jedenfalls sehr viel erheblicher als der Deutschlands über die Nürnberger Bomben. 14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland. Das Verhalten der britischen Diplomatie in den Krisen von 1908/09 und 1911 hatte auf die französische und russische Kriegspartei ermutigend gewirkt. Während der Spannung 1912/13 war die Sprache des Foreign Office zurückhaltender, wennschon Poincaré auch damals behauptete, er glaube „nach Ton und Art der Versicherungen des Londoner Kabinetts im Falle eines Konflikts mit Deutschland in der gegebenen politischen Lage auf den bewaffneten Beistand Englands rechnen zu dürfen".136) Im Juli 1914 legten sich nun Grey und seine Mitarbeiter geringere Reserve auf als anderthalb Jahre vorher. Schon am 27. Juli gab Unterstaatssekretär Nicolson dem deutschen Botschafter zu verstehen, daß England sich im Falle eines europäischen Krieges nicht zur Neutralität verpflichten werde, und teilte das sofort auch dem französischen Botschafter mit — F 63. An demselben Tage wurde die Einstellung der Demobilmachung der britischen Flotte öffentlich bekannt gegeben — F 66. Am 29. wiederholte Grey persönlich zu Lichnowsky den Wink Nicolsons, er solle sich „durch den freundschaftlichen Ton der Unterredungen nicht zu dem Glauben verleiten lassen, daß England abseits stehen werde". Und wiederum wurde Cambon, diesmal sogar im voraus, von dieser Warnung an Deutschland verständigt — E 87. Die persönliche Stellungnahme des britischen Ministers für den Fall einea Krieges war somit entschieden, bevor die Frage der belgischen Neutralität aufgeworfen war. Die mobilisierte britische Flotte lief schon am Morgen dea 29. nach ihren Kriegsstationen aus, am Nachmittag wurde, zwei Tage früher als in Deutschland, das dem Zustand drohender Kriegsgefahr entsprechende „Warnungstelegramm" erlassen, und zwar für Flotte und Landheer.137) Der Umstand, daß die gewaltige britische Seemacht seit Mitte Juli infolge der Probemobilmachung kriegsbereit war, erwies sich als ein für die Entwicklung der Krise sehr ungünstiges Moment. Die frühzeitigen Maßnahmen der britischen Admiralität, das Auslaufen der größten Schiffskolosse, die das Meer noch je getragen hatte, wirkten außerordentlich stark auf die Stimmung der russischen Kriegs" 6 ) Oe III. 163, 165, 166, 169, 170, 173, 175. ) „Livre Noire" II. S. 32 f. "') Corbett „History of the Great War" S. 26 u. 28.

1M

il

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England sichert Frankreich Waffenhilfe zur See zu

partei und gaben ihr die Ueberzeugung, daß Großbritannien an Rußlands Seite kämpfen werde.138) Als am Tage nach dem Auslaufen der Flotte, am 30. Juli, der französische Botschafter an den Briefwechsel vom November 1912 erinnerte, gab Grey nach Meldung Cambons die im englischen Blaubuch unterdrückte Antwort, er teile die Auffassung, daß „der Augenblick gekommen sei, alle Möglichkeiten ins Auge zu fassen und gemeinsam zu erörtern" •—' E 105, F 108. Das Kabinett hielt jedoch auch einen Tag später (31. Juli) den Zeitpunkt für Zusicherung einer Intervention an Frankreich noch nicht für gegeben — E 119, F 110. Der britische Botschafter in Paris mußte daher verständigt werden wie folgt: „Hier ist niemand der Ansicht, daß durch diesen Streit im gegenwärtigen Stadium britische Verträge oder Verpflichtungen berührt werden. Die Stimmung ist ganz verschieden von jener während der Marokkofrage. Die damalige Krise bezog sich auf einen Streit, der Frankreich direkt anging, während jetzt Frankreich in einen Streit hineingezogen wird, der nicht sein eigener ist" — E 116. Cambon, der sich weigerte, den Beschluß des englischen Kabinetts nach Paris zu melden,130) erhielt auf sein Drängen von Nicolson die Zusicherung, die Interventionsfrage werde schon am nächsten Tage dem Kabinett wieder vorgelegt werden, und sowohl Grey als sein Gehilfe deuteten an, daß dabei die Neutralität Belgiens eine wichtige Rolle spielen werde — F 110. Tatsächlich faßte der Ministerrat auch am folgenden Vormittag (1. August) den am Abend von Lichnowsky gemeldeten Beschluß, daß die deutsche Antwort über Belgien bedauerlich sei (S. 156). Der französische Botschafter wurde hiervon gleichfalls verständigt, und zwar mit dem Beifügen, Grey werde in der Kabinettssitzung vom Montag (3. August) beantragen, daß die britische Flotte jedem Vorgehen deutscher Seestreitkräfte durch den Kanal oder gegten die französische' Nordseeküste entgegenzutreten habe. Damit gab der Staatssekretär für seine Person die Zusicherung der Waffenhilfe zur See, obwohl nach den in London vorliegenden Nachrichten die allgemeine Mobilmachung in Rußland erheblich vor det in Oesterreich angeordnet worden war — E 113, 127, und obwohl Deutschland noch gar nicht mobilisiert, geschweige eine Kriegserklärung erlassen hatte. König Georg erteilte jedoch auf die Bitte Poincarés vom vorhergehenden Tage, England möge sich mit Rußland und Frankreich solidarisch erklären, noch eine ausweichende Antwort.140) 138 ) Berichte des Petersburger Korrespondenten der „Times" von Ende Juli 1914. „Revue de France" 1. Juli 1921 S. 38. Poincaré 18. März 1921, S. 266 u. 274.

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Die Wirkung des Marineabkomniens von 1912

Statt am Montag versammelte sich das Londoner Kabinett entgegen allen Gewohnheiten schon am Sonntag (2. August). In einer ersten Sitzung drang Grey mit seiner Ansicht noch nicht durch. Da kam ein Schreiben des Führers der konservativen Opposition Bonar Law an Premierminister Asquith, worin die Führer der Konservativen die Regierung aufforderten, auf die Seite Frankreichs und Rußlands zu treten.111) In einer zweiten Sitzung beschloß das Kabinett nunmehr, unter Vorbehalt der Genehmigung durch das Parlament, die Unterstützung Frankreichs gegen allenfallsige Operationen der deutschen Flotte — E 148, F 137. Cambon sah damit „das Spiel als gewonnen" an. Ein großes Land könne, so schreibt er in seinen Erinnerungen, den Krieg „nicht zur Hälfte" führen; sobald es zur See kämpfe, müsse es auch zu Lande fechten.142) Deutlich zeigte sich jetzt, wie sehr Großbritannien durch das Marineabkommen mit Frankreich vom Herbst 1912, demzufolge Frankreich unter Entblößung seiner Nordküste auch die letzten Teile seiner Flotte nach dem Mittelmeer entsendete, sich die Hände gebunden hatte (S. 87). In einem Gespräch mit Lichnowsky wies Asquith nicht nur auf die belgische Neutralität, sondern auch auf die unbeschützte Nordküste Frankreichs hin, die dieses „in gutem Glauben auf britische Unterstützung zugunsten seiner Mittelmeerflotte entblößt hätte" — D 676. Dieser zweite Kriegsgrund wurde für England früher wirksam als der erste. Denn noch hatte kein deutscher Soldat belgischen Boden betreten, noch war das Ultimatum in Brüssel nicht übergeben. Am Abend genehmigte das Kabinett nachträglich die von der Admiralität in frühester Morgenstunde eigenmächtig als letztes Stadium der Mobilmachung angeordnete Einberufung der Flottenreserven."3) Auf den Rat seines Londoner Botschafters gab Deutschland am 3. August die Zusage, maritime Unternehmungen jeder Art gegen Frankreich zu unterlassen — D 714. Als Lichnowsky diesen Auftrag ausrichtete, erhielt er die überraschende Mitteilung, nach den Meldungen des britischen Botschafters in Wien bestehe in London die Ansicht, daß Deutschland der Angreifer, Oesterreich daheT nicht zur Anerkennung des Bündnisfalles verpflichtet sei — D 764. Die ständig'en französischen Anschwärzungen über vorzeitige deutsche Mobilmachungsmaßnahmen und über Grenzüberschreitungen hatten gewirkt. Inzwischen bemühte sich auf Drängen des Foreign Office der belgische Gesandte, von Brüssel Nachrichten über Neutralitätsverletzungen durch Deutschland zu erhalten.144) Obwohl dieses Bemühen sich 1M

) ) l ") m )

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„Times" 15. Dezember 1914. „Revue de France" 1. Juli 1921. Corbett S. 29. „Deutsche Allgemeine Zeitung" 22. Mai 1919 Nr. 246. ii*

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Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg

als vergeblich erwies, wurde 11 Uhr vormittags die Mobilmachung des britischen Expeditionskorps angeordnet.1*5) Noch vor Beginn der Sitzung des Unterhauses am Nachmittag des 3. August teilte Grey dem französischen Botschafter mit, daß die Erklärung über die britische Waffenhilfe zur See nimmehr bindend sei — F 143. Im Parlament hielt der Staatssekretär dann seine große Rede, deren Sinn war, daß England wegen der im Vertrauen auf die Freundschaft Englands bestehende1 Entblößung der französischen Küsten und wegen des eigenen Interesses an Belgien nicht neutral bleiben könne. 1 ") Die große Mehrheit des Unterhauses war derselben Ansicht. Am Abend beschloß ein Ministerrat, von Deutschland die Zurücknahme des am 2. August abends 7 Uhr mit zwölfstündiger Frist übergebenen Ultimatums an Belgien und die Achtung der belgischen Neutralität zu fordern." 7 ) Am 4. August abends 7 Uhr übergab Sir Edward Goschen in Berlin die dem Beschluß des Ministerrats entsprechenden ultimativen Forderungen Englands mit fünfstündiger Frist — D 839, E 160. Um Mitternacht war det europäische Krieg zum Weltkrieg geworden. 15. Siebenzehn Schlußthesen. 1. Deutschland verfolgte weder in Europa noch anderswo ein. nur durch Krieg zu erreichendes politisches Ziel. Oesterreich-Ungarn dachte nur an Erhaltung des Bestehenden. Die anfängliche Absicht von Grenzberichtigungen auf Kosten Serbiens wurde auf deutsches Drängen sofort aufgegeben durch bestimmte Erklärungen über territoriales Desinteressement, von denen auch Sasonow „sich überzeugen ließ" — Oe III. 19. Frankreich strebte die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen, manche führende französische Politiker auch die Annexion des Saargebiets, Rußland den Besitz von Konstantinopel und den Meerengen an, beide Mächte wohl wissend, daß sie diese Bestrebungen nur im Rahmen eines europäischen Krieges verwirklichen könnten.

2. Die Rüstungen Deutschlands zu Lande waren nach der politischen Konstellation, nach geographischer Lage, nach Länge der ungeschützten Grenzen und nach Bevölkerungsziffer wesentlich geringer als die Frankreichs, ab 1913 sogar hinsichtlich der ) Haidane S. 35. "•) Englisches Blaubuch II. S. 93 ff. " ' ) Poincaré 18. März 1921 S. 277. 1,s

Schlußthesea 3—7

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absoluten Zahl der Friedensstärke der weißen Truppen, ganz abgesehen von einer ständig wachsenden farbigen französischen Armee. Die Rüstungen Oesterreich-Ungarns waren gegenüber denen Rußlands völlig unzulänglich. Wie an Zahl der Streiter, so war der russisch-französische Zweibund auch an Menge des Kriegsmaterials den Mittelmächten weit überlegen. 3. Der Bau einer deutschen Schlachtflotte an Stelle der Vervollkommnung des defensiven maritimen Schutzes war politisch unklug, aber das schließlich von Deutschland angebotene Verhältnis von 10 zu 16 Großkampfschiffen wurde auch in London nicht als eine Bedrohung angesehen. 4. Das Deutsche Reich hat auch in der Zeit nach Bismarck wiederholt günstige Gelegenheiten zu einem Präventivkriege nicht benützt. 5. Die russische Anregung zur ersten Haager Konferenz beruhte nicht auf reiner Friedensliebe. Der Rüstungsminderung standen alle Großmächte ohne Ausnahme mit der größten Skepsis gegenüber, der russische Antrag von 1899 wurde allerseits abgelehnt, der Anregung Campbell Bannermanns von 1907 trat die öffentliche Meinimg Frankreichs in der denkbar schärfsten Weise' entgegen. Ein Vorschlag zur Regelung ernster internationaler Konflikte, welche die Ehre und die Lebensinteressen einer Nation berühren, ist weder auf der ersten noch auf der zweiten Haager Konferenz von irgend einer Großmacht angeregt oder unterstützt worden. 6. Am 5. Juli 1914 wurde in Potsdam nicht der Weltkrieg beschlossen, sondern die deutsche Zustimmung zu einem Kriege Oesterreichs gegen Serbien erteilt. Die Möglichkeit, daß der österreichisch-serbische Krieg wie jeder andere — Burenkieg, Marokkokrieg, Tripoliskrieg, Balkankrieg — weitere Verwicklungen nach sich ziehen könne, wurde dabei wohl erwogen, aber die Gefahr in Anbetracht des besonderen Anlasses als sehr gering1 eingeschätzt. 7. Nach dem Bekanntwerden der serbischen Antwortnote wollte Deutschland auch den Krieg gegen Serbien nicht mehr,

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Sdhlußtheseii &—13

sondern nur eine sehr eng umgrenzte militärische Aktion, deren Berechtigung auch in London anerkannt wurde. 8. Deutschland hat zwar die Fristverlängerung nicht unterstützt und den Konferenzgedanken abgelehnt, aber nicht nur alle übrigen von London mitgeteilten Vermittlungsvorschläge angenommen, sondern aus eigener Initiative die beiden geeignetsten Verhandlungsmethoden vorgeschlagen, nämlich die direkten Besprechungen Wien-Petersburg und das von Grey aufgegriffene „Halt in Belgrad". Die erste Formel Sasonows erachtete auch London für unannehmbar, die zweite war sogar eine wesentliche Verschlechterung der ersten. 9. Auf den beiden, zuerst von Deutschland angeregten Wegen der direkten Besprechungen Wien-Petersburg und der Beschränkung der militärischen Aktion gegen Serbien war man einer Verständigung nahe gekommen, als die russische allgemeine Mobilmachung jäh die Fäden zerriß. 10. Daß diese Mobilmachung unfehlbar den Krieg nach sich ziehen müßte, darüber waren sich die führenden Männer in Paris und Petersburg ebenso klar wie in Berlin. Daß derjenige der Angreifer ist, der zuerst zu einer allgemeinen Mobilmachung schreitet, hat Viviani noch am 1. August nach London gedrahtet, wobei er wider besseres Wissen die Priorität der Mobilisierung Deutschland zuschob. 11.

Frankreich hat in Petersburg während der Krise nicht zur Mäßigung geraten. Nachdem der erste Versuch den Unwillen Sasonows erregt hatte, verzichtete das Pariser Kabinett auf weitere Schritte in dieser Richtung. 12.

Frankreich hat Rußland von der allgemeinen Mobilmachung nicht nur nicht abgeraten, sondern ihm listige Ratschläge erteilt, wie es seine Vorbereitungen insgeheim fortsetzen könne, ohne Deutschland zu rechtzeitigen Gegenmaßnahmen herauszufordern. 13. Rußland war die erste Macht, die zu einer allgemeinen Mobilmachung geschritten ist.

Schlußthesen 14—17

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Frankreich war die erste Macht, die den Entschluß zum europäischen Kriege einer anderen Macht amtlich mitgeteilt hat. 14. England hat in Petersburg niemals mit der gleichen Entschiedenheit wie Deutschland in Wien zum Einlenken geraten. Grey hat im Gegensatz zu anderen englischen Diplomaten die Bedeutung der russischen Mobilmachung erst erkannt, als es zu spät war, und Petersburg nicht mehr damit einhalten wollte. 15. Die frühzeitige deutsche Kriegserklärung an Rußland war ein durch die ungeheuere Gefahr der Zweifrontenlage erklärlicher politischer Fehler, die an Frankreich ein rein formaler Akt. Weder die eine noch die andere war das entscheidende Ereignis. Nicht auf die Erklärung des Krieges kam es an, sondern auf die Handlung, die ihn unvermeidlich machte, und diese Handlung war die allgemeine Mobilmachung in Rußland. 16. England hat Deutschland den Krieg erklärt, weil es eine zweite Niederlage Frankreichs mit seinen Interessen nicht für vereinbar erachtete. Die Interessen Belgiens und der Vertrag von 1839, den Salisbury 1887 preiszugeben bereit war, bildeten dafür den populären Grund. Das Marineabkommen mit Frankreich von 1912 zwang England obendrein, aus seiner Neutralität herauszutreten, bevor die Belgiens verletzt war. 17. Das größere diplomatische Geschick war während der Krise auf Seite der Entente. Durch die unwahren Angaben über deutsche Kriegsvorbereitungen, insbesondere über die angebliche Priorität der deutschen Mobilmachung, durch Aufbauschung unbedeutender Grenzzwischenfälle zu Angriffen auf französisches Gebiet, und durch die Zurücknahme des Grenzschutzes um 10 Kilometer1*8) schuf Frankreich in London die Vorbedingung, die Benckendorff schon Ende 1912 als nötig für ein Eingreifen Englands bezeichnet hatte: es erzeugte in London den Eindruck, daß „die Verantwortung für den Angriff auf die Gegner der Entente falle"."1') lla ) Ueber diesen Schachzug, die öffentliche Meinung zu täuschen, siehe IV. Teil 8. Kapitel S. 180. 1U ) Siebert S. 588.

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IV. Teil.

Einzelheiten der Krise. 1. Das Telegramm Szôgyénys vom 5. Juli. Der französische Außenminister des Juli 1914 Viviani spricht in seiner „Antwort an den Kaiser" von einem „furchtbaren" Telegramm des österreichischen Botschafters in Berlin vom 5. Juli. Diese Depesche berichtet über die Unterredung des Grafen Szôgyény mit Kaiser Wilhelm am 5. Juli mittags und lautet wie folgt — Oe I. 6: „Nachdem ich Kaiser Wilhelm zur Kenntnis gebracht habe, daß ich ein allerhöchstes Handschreiben Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät, welches mir Graf Hoyos heute überbrachte, ihm zu überreichen habe, erhielt ich eine Einladung1 der deutschen Majestäten zu einem Déjeuner ins Neue Palais für heute mittags. Das allerhöchste Handschreiben und das beigeschlossene Memorandum habe ich Seiner Maiestät überreicht. In meiner Gegenwart las der Kaiser mit größter Aufmerksamkeit beide Schriftstücke. Zuerst versicherte mir Höchstderselbe, daß er eine ernste Aktion unsererseits gegenüber Serbien erwartet habe, doch müsse er gestehen, daß er infolge der Auseinandersetzungen unseres allergnädigsten Herrn eine ernste europäische Komplikation im Auge behalten müsse und daher vor einer Beratung mit dem Reichskanzler keine definitive Antwort erteilen wolle. Nach dem Déjeuner, als ich nochmals Ernst der Situation mit größtem Nachdruck betonte, ermächtigte mich Seine Majestät, unserm allergnädigsten Herrn zu melden, daß wir auch in diesem Falle auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen können. Wie gesagt, müsse er vorerst die Meinung des Reichskanzlers anhören, doch zweifle er nicht im geringsten daran, daß Herr von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Meinung zustimmen wetde. Insbesondere gelte dies betreffend eine Aktion unsererseits gegenüber Serbien. Nach seiner (Kaiser Wilhelms) Meinung muß aber mit dieser Aktion nicht zugewartet werden. Rußlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde. Rußland

Das Telegramm Sz&gyenys vom 5. Juli

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sei übrigens, wie die Dinge heute stünden, noch keineswegs kriegsbereit und werde es sich gewiß noch sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren. Doch werde es bei den anderen Mächten der Tripleentente gegen uns hetzen und am Balkan das Fetter schüren. Er begreife sehr gut, daß es Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen würde, in Serbien einzumarschieren; wenn wir aber wirklich die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien erkannt hätten, so würde er (Kaiser Wilhelm) es bedauern, wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenützt ließen. Was Rumänien betreffe, so werde er dafür sorgen, daß König Carol und seine Ratgeber sich korrekt verhalten werden. Das Eingehen in ein Vertragsverhältnis mit Bulgarien „sei ihm keineswegs sympathisch"; nach wie vor habe er nicht das geringste Vertrauen zu König Ferdinand, noch zu seinen früheren und jetzigen Ratgebern. Trotzdem wolle er nicht die geringste Einwendung gegen die Eingehung eines vertragsmäßigen Anschlusses der Monarchie an Bulgarien erheben, doch müsse dafür Vorsorge getroffen werden, daß der Vertrag keine Spitze gegen Rumänien enthalte und — wie dies auch im Memorandum hervorgehoben werde — Rumänien zur Kenntnis gebracht werde. Kaiser Wilhelm beabsichtigt, sich morgen früh nach Kiel und von dort auf seine Nordlandsfahrt zu begeben; früher wird aber Seine Majestät mit Reichskanzler in der in Rede stehenden Angelegenheit noch Rücksprache pflegen und hat er ihn zu diesem Zwecke von Hohenfinow für heute abends in das Neue Palais bestellt. Jedenfalls werde ich Gelegenheit finden, im Laufe des morgigen Tages mich mit dem Reichskanzler zu besprechen." Kaiser Wilhelm wollte also vor dem Frühstück überhaupt „keine definitive Antwort erteilen" und hat erst nachher, augenscheinlich vom Botschafter gedrängt, die volle Unterstützung Deutschlands im Falle einer europäischen Komplikation zugesagt, jedoch mit dem Hinzufügen, daß Rußland „noch nicht kriegsbereit sei" und sich den Appell an die Waffen „gewiß noch sehr überlegen" werde. Zum Schluß erwähnte er nochmals, daß er mit dem Reichskanzler Rücksprache pflegen werde. Auf Grund dieser Unterredung zwischen Kaiser und Kanzler am Nachmittag des 5. ist dann die Anweisung an Tschirschky vom 6. Juli — D 15 — entstanden, die als die maßgebende deutsche Auffassung anzusehen ist. Das Ergebnis der Unterredung, die er nach dem Fortgang des österreichischen Botschafters mit dem Kaiser führte, hat HeTr von Bethmann dem Grafen Szögyeny am folgenden Tage (6. Juli) mitgeteilt, worüber dieser in einem zweiten Bericht nun-

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Vergleich der Berichte Szögy6nys vom 5. und 6. Juli

mehr genau übereinstimmend mit der an Tschirschky erlassenen Instruktion berichtete — Oe I. 7. Wenn der Botschafter noch hinzufügte, daß er im weiteren Verlauf des Gesprächs den Eindruck gewonnen habe, auch Kanzler und Kaiser würden ein „sofortiges Einschreiten" als „radikalste und beste Lösung" der österreichischen Schwierigkeiten auf dem Balkan ansehen, so ist damit der Berliner Wunsch eines raschen Vorgehens gegen; Serbien noch unter dem frischen Eindruck des Attentats gemeint, was durchaus richtig gedacht war. Ein Vergleich der beiden Berichte Szögyenys vom 5. und 6. Juli zeigt bei dem ersteren eine schärfere' Tonart infolge des im zweiten fehlenden Satzes „Sollte es sogar zu einem Kriege zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde". Der Ausdruck Vivianis von dem „furchtbaren" Telegramm bezieht sich offenbar auf diese Worte, die jedoch nicht ohne1 die abschwächenden Nachsätze von der mangelnden Kriegsbereitschaft Rußlands gelesen werden dürfen. Jedenfalls konnte das Wiener Kabinett nach allgemein anerkannten Grundsätzen, wenn es wirklich in diesem einen Satz eine Verschiedenheit der beiden Telegramme erblickt haben sollte, nicht den ersten Bericht vom 5. Juli über ein vom Kaiser ausdrücklich als noch nicht verbindlich bezeichnetes Gespräch als maßgebend ansehen, sondern nur den zweiten Bericht vom 6. Juli über die vom Reichskanzler als verantwortlichem Leiter der Politik nach Vortrag beim Kaiser mitgeteilte Auffassung der deutschen Regierung. Graf Hoyos zieht in seiner Schrift „Der deutsch-englische Gegensatz und sein Einfluß auf die Balkanpolitik OesterreichUngarn" (S. 80f.) aus dem von ihm gewonnenen r i c h t i g e n Eindruck, daß die deutsche Regierung für „sofortiges Einschreiten" gegen Serbien war, und daß Bethmann „vom internationalen Standpunkt den gegenwärtigen Augenblick für günstiger halte als einen späteren" den u n r i c h t i g e n Schluß, daß dieser Wunsch nach Beschleunigung der Aktion gleichbedeutend sei mit einer „rückhaltlosen — gemeint ist wohl vorbehaltlosen •—• Unterstützung der österreichischen „Kriegspolitik". Gerade die Worte „unter allen Umständen" hatte der Kanzler in dem ihm vorgelegten Entwurf der Instruktion an Tschirschky gestrichen.

2. Die Legende des Kronrats vom 5. Juli. Im Juli 1917 wurde im Auslande von der feindlichen Propaganda die Nachricht verbreitet, daß am 5. Juli 1914 in Potsdam ein Kronrat unter Vorsitz des Kaisers stattgefunden habe, an dem die Spitzen der deutschen und österreichischen Zivilimd Militärbehörden teilgenommen hätten, und in dem der Krieg

Die Legende des Kronrats vom 5. Juli

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gegen Rußland und Frankreich beschlossen worden sei. Nachdem auch im Deutschen Reichstag eine Interpellation über diese Gerüchte stattgefunden hatte, richtete ein höherer Beamter des Reichsamts des Innern am 2. August 1917 an seine vorgesetzte Behörde einen nunmehr bei den Akten des Auswärtigen Amtes befindlichen Brief, worin über die Entstehung der Fabel folgender Fingerzeig gegeben wurde: „Am 5. Juli abends war der Vertreter der Frankfurter Zeitung Herr Stein in einem bekannten Restaurant in Potsdam. Es traten in das Restaurant eine Anzahl Herren, die. Stein sofort als hohe Offiziere erkannte, zumal da sich unter ihnen Conrad von Hötzendorf und Moltke befanden. Die Herren nahmen in einem reservierten Zimmer Platz. Nach einiger Zeit trat der Geschäftsführer des Restaurants an Herrn Stein in ziemlicher Erregung heran mit der Mitteilung, was er denn davon halte, soeben habe ihm der Kellner, der die Herren bediene, gesagt, daß sie von dem Kriege mit Rußland als von einer vollendetet Tatsache sprächen." Herr Stein wurde vom Auswärtigen Amt über den Vorfall befragt und hat dazu erklärt, daß die Darstellung „frei erfunden" sei. Richtig sei nur folgender Sachverhalt: „Am 5. Juli zwischen 10 und 11 Uhr abends habe er im Hotel Kaiserhof in Berlin gesessen. Da sei ein Angestellter des Hotels an seinen Nachbar herangetreten und habe ihm zugeflüstert, ein Kellner, der Potsdamer Gardeoffiziere nebenan bediene, habe gehört, daß heute in Potsdam eine Zusammenkunft von österreichischen und deutschen Diplomaten und Militärs — genannt wurden Szogyény, Bethmann Hollweg und Zimmermann — stattgefunden habe, und daß der Kaiser aus diesem Anlaß seine Nordlandsreise nicht antreten wolle." Dieses Hotelgespräch, in dem die „österreichischen Militärs" zweifelsohne die als Reserveoffiziere in Militäruniform erschienenen Mitglieder der österreichisch-ungarischen Botschaft gewesen sind, bildet den Ursprung der Legende. Da trotz der ausführlichen Darstellung in den Vorbemerkungen zu den „Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch" noch immer ab und zu im Auslande die Behauptung auftritt, daß am 5. Juli eine Beratung stattgefunden habe, der die meisten deutschen Botschafter, ferner die Spitzen der Militär- und Marinebehörden und die Direktoren der großen Banken anwohnteü, sei noch ausdrücklich festgestellt: 1. Nach den Personalakten des Auswärtigen Amtes befanden sich am 5. Juli auf ihren Posten: Herr von Tschirschky in Wien, Graf Pourtalés in Petersburg, Freiherr von Schoen in Paris, Herr von Flotow in Rom; Fürst Lichnowsky hat am 6. die Geschäfte in London wieder

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Die Legende des Kronrats vom 5. Juli

übernommen, war also am 5. auf Reise dorthin. Nur Freiherr von Wangenheim (Konstantinopel) war beurlaubt, befand sich aber nach Aussage seiner Wittwe am 5. Juli weder in Berlin noch in Potsdam. Sogar der Staatssekretär des Auswärtigen, Herr von Jagow, war auf Urlaub und hat erst am 7. die Geschäfte des Amtes wieder übernommen. 2. Von den Militärs war der Chef des Generalstabs Generaloberst von Moltke zur Kur in Karlsbad, sein Stellvertreter Oberquartiermeister I Graf Wialderse'e zur Beerdigung seiner Tante in Hannover, der Staatssekretär des Reichsmarineamts Herr von Tirpitz und der Chef des Admiralstabs von Pohl in Urlaub. 3. Bankdirektoren sind im wilhelminischen Deutschland zu Kronräten niemals zugezogen worden. 3. Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky. Am 8. Juli 1914 schrieb Graf Berchtold an Graf Tisza: „Soeben verläßt mich Tschirschky, der mir mitteilte, ein Telegramm aus Berlin erhalten zu haben, wonach sein kaiserlicher Herr ihn be'auftragt, hier mit a l l e m N a c h d r u c k zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion der Monarchie gegen Serbien erwarte, und daß es in Deutschland nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Gelegenheit vorübergehen ließen, ohne einen Schlag1 zu führen." — Oe I. 10. Der österreichische Minister spricht also nicht von einem kaiserlichen Telegramm, sondern von einem „Telegramm aus Berlin", worin der Kaiser u. s. w. Diese Ausdrücke treffen genau zu auf die vom Kanzler am 6. Juli an Tschirschky gesandte Instruktion — D 15. Sie war ein Telegramm aus Berlin, nicht aus Potsdam, dem Aufenthaltsort des Kaisers, und in diesem Telegramm bezeichnete Bethmann die Anweisungen als Aufträge des Kaisers, der nicht weniger als achtmal erwähnt wird. Eine weitere Instruktion an Tschirschky existiert nicht, wie aus Folgendem hervorgeht: 1. Aus den Akten des Berliner Auswärtigen Amts ist vom 28. Juni 1914 an jedes auf die Krise sich beziehende wichtige Dokument veröffentlicht. Ueber die von den drei Herausgebern ausgeschiedenen unwichtigen Stücke der Korrespondenz Berlin—Wien ist außerdem ein Verzeichnis angefertigt, damit über deren Inhalt jederzeit rasch Aufschluß erteilt werden kann. Die grundlegende Instruktion für Herrn von Tschirschky ist nun die vom 6. Juli, Telegramm Nr. 113 — D 15. V o r dem 6. Juli ist eine Anweisung an Tschirschky über die Aktion gegen Serbien nicht vorhanden. Das nächste Telegramm der Dokumentensammlung n a c h dem 6. Juli, Nr. 116

Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky

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vom 10. Juli '— D 28, Anm. 2 — gibt lediglich ein Bukarester Telegramm an die Wiener Botschaft weiter. Sonach fehlen in den „Deutschen Dokumenten" zwischen dem 6. und 10. Juli nur die zwei Telegramme Nr. 114 und 115, von denen das erste die bulgarische Anleihe behandelt und Bedenken des österreichischen Kabinetts wegen der allgemeinen Haltung Bulgariens beschwichtigt, während das zweite sich auf den Aufenthalt des seit lange nach dem Mittelmeer entsandten deutschen Panzerkreuzers „Goeben" in Pola bezieht. Es fehlt somit kein Telegramm des Auswärtigen Amts an den Botschafter über die serbische Frage, weder v o r noch n a c h dem 6. Juli. 2. Auch im Archiv der deutschen Botschaft in Wien ist kein, nicht veröffentlichtes Telegramm über die serbische Frage vorhanden. Die Akten der Botschaft sind von Professor Schücking und mir eingefordert und durchforscht worden, und zwar für den ganzen Zeitraum vom Attentat von Serajewo bis zum Kriegsausbruch. Diesen Akten sind ja auch die auf andere Weise nicht feststellbaren Eingangszeiten der Berliner Telegramme auf der Wiener Botschaft entnommen. Auch die handschriftlichen Notizen, die Herr von Tschirschky bei seinen Besprechungen auf dem Ballhausplatz auf den Erlassen des Berliner Amts machte, und die vom Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (1. Heft) veröffentlicht sind, wurden den Akten der Botschaft entnommen. 3. Um festzustellen, ob der Botschafter eine Instruktion vielleicht zu seinen Privatpapieren genommen habe, ist eine diesbezügliche Anfrage an die Familie gerichtet worden, die in negativem Sinne beantwortet wurde. (Aussage des Prinzen Hatzfeldt, Schwiegersohnes des Herrn von Tschirschky, liegt beim Untersuchungsausschuß.) 4. Nachforschungen sind auch angestellt worden darüber,, ob Kaiser Wilhelm nach seiner Abreise von Potsdam am 6. Juli 9 Uhr 20 vormittags, entgegen allem sonstigen Brauch, vielleicht von Bord der „Hohenzollern", auf die er sich nach Ankunft in Kiel um 3 Uhr nachmittag^ sofort begab, direkt an den Botschafter telegraphiert habe. Ein offenes Telegramm war ausgeschlossen. Ueber die Möglichkeit eines Zifferntelegramms haben die auf der „Hohenzollern" während der Nordlandreise 1914 tätigen Chiffrierbeamten angegeben: „Ziffern, für streng geheime Sachen, wie sie im vorliegenden Falle hätten verwendet werden müssen, wurden an Bord überhaupt nicht mitgeführt. Telegramme in gewöhnlichen Ziffern waren möglich, aber auch diese gingen sämtlich über das Auswärtige Amt in Berlin und müssen daher in den dortigen Akten nachzuweisen sein". Zur Nachprüfung wurde das Postbuch der „Hohenzollern" nachgesehen, das die Richtigkeit der angeführten Aussagen bestätigt.

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Der angebliehe „Verweis" an Tsohirsohky

5. Eine Uebermittlung an den Marineattache in Wien durch die Marinestation Kiel war ausgeschlossen, weil die Militär- und Marineattaches, wie aus den „Deutschen Dokumenten" hervorgeht, keinen eigenen Chiffer besaßen, sondern nur durch Vermittlung der Botschaften oder Gesandtschaften Zifferntelegramme erhalten oder absenden konnten. Es ist sodann noch zu erörtern, warum Berchtold in seinem Briefe an Tisza der Instruktion Tschirschkys eine schärfere Deutung gab, als mit dem Wortlaut von D 15 vereinbar ist. Die Erklärung1 dürfte einfach die sein, daß der deutsche1 Botschafter den Erlaß, da er nur „zu seiner persönlichen Orientierung" bestimmt war, nicht in Abschrift übergeben, sondern nur mündlich vortragen konnte, und daß der österreichische Außenminister das „Telegramm aus Berlin" und die oftmalige Erwähnung des „kaiserlichen Herrn" dazu verwertete, auf den der Aktion gegen Serbien noch abgeneigten ungarischen Ministerpräsidenten einzuwirken. Im Zusammenhang damit ist noch ein von kleinlichen Nörglern aufgegriffener Nebenpunkt zu erwähnen, Tschirschky habe wegen seiner anfänglichen lauen Haltung einen Verweis erhalten. Tatsächlich berichtete Szögyeny am 8. Juli in einem, im österreichischen Rotbuch nicht enthaltenen Telegramm Nr. 243 (aufgegeben Berlin 2 Uhr 14 nachmittags): „Staatssekretär ist gestern von seinem Urlaub zurückgekehrt. ich habe ihn bisher nicht sprechen können, doch hatte ich gestern und heute Gelegenheit, von Unterstaatssekretär und verschiedenen maßgebenden Persönlichkeiten des Auswärtigen Amtes die Anschauung vertreten zu hören, daß man hier mit Ungeduld unseren Entscheidungen entgegensehe, da man Auffassung habe, daß jetzt der richtig© Moment wäre, — ein Moment, der so günstig nicht mehr so leicht wiederkehren würde — gegen Serbien energisch aufzutreten. Im Auswärtigen Amte wurde mir erzählt, daß man aus einem Bericht Herrn von Tschirschkys ersehen habe, daß derselbe mit einer gewissen „Lauheit" gegenüber Euer Exzellenz aufgetreten sei. Man habe ihm darauf von hier aus einen Verweis erteilt" Dieses Telegramm gewährt Einblick in die Art des Verkehrs des österreichischen Botschafters in der Wilhelmstraße. Graf Szögyeny hatte nämlich die Gepflogenheit, stets bei mehreren Herren des Auswärtigen Amtes Erkundigungen einzuziehen, nicht nur beim Reichskanzler, Staatssekretär und Unterstaatssekretär, sondern auch bei den nachgeordneten Referenten. Da sich über den „Verweis" nichts in den Akten findet, bleibt nur die Erklärung, daß eine der nachgeordneten „maßgebenden Persönlichkeiten" etwas von der kaiserlichen Randbemerkung

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zum Bericht Tschirschkys vom 30. Juli — D 7 — erfahren hatte und darüber mit dem österreichischen Botschafter gesprochen hat. 4. Das Telegramm Szögy£nys vom 27. Juli. Am 27. Juli telegraphierte der österreichische Botschafter — Oe II. 68 — (aufgegeben 9 TJhr 15 abends): „Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Vermittfungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur Kenntnis Euer Exzellenz gebracht würden. Die deutsche Regierung versicherte' auf das Bündigste, daß sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben, nur um der englischen Bitte Rechnung" zu tragen, weitergebe. Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkte aus, daß es von der größten Bedeutung sei, daß England im jetzigen Momente nicht gemeinsame Sache mit Rußland und Frankreich mache. Daher müsse alles vermieden werden, daß der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland und England abgebrochen werde. Würde nun Deutschland Sir E. Grey glatt erklären, daß es seine Wünsche an Oesterreich-Ungarn, von denen England glaubt, daß sie' durch Vermittlung Deutschlands eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde eben dieser vorerwähnte unbedingt zu vermeidende Zustand eintreten. Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem einzelnen derartigen Verlangen Englands in Wien demselben auf das Ausdrücklichste erklären, daß es in keiner Weise derartige Interventionsverlangen Oesterreich-Ungarn gegenüber unterstütze und nur, um Wunsch Englands zu entsprechen, dieselben weitergebe. So sei bereits gestern die englische Regierung durch den deutschen Botschafter in London und direkt durch ihren hiesigen Vertreter an ihn, Staatssekretär, herangetreten, um ihn zu veranlassen, den Wunsch Englands betreffs unserseitiger Milderung der Note an Serbien zu unterstützen. Er, Jagow, habe darauf geantwortet, er wolle wohl Sir E. Greys Wunsch erfüllen, Englands Begehren an Euer Excellenz weiterzuleiten, er selbst könne dasselbe aber nicht unterstützen, da der serbische Konflikt eine Prestigefrage der österreichisch-ungarischen Monarchie sei, an der auch Deutschland partizipiere. Er, Staatssekretär, habe daher die Note Sir E. Greys an Herrn von Tschirschkv weitergegeben, ohne ihm aber Auftrag zu erteilen, dieselbe Euer Exellenz vorzulegen; darauf hätte er dann dem englischen Kabinett Mitteilung machen können, daß er den englischen Wunsch nicht direkt ablehne, sondern sogar nach Wien weitergegeben habe.

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Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli

Zum Schlüsse wiederholte mir Staatssekretär seine Stellungnahme und bat mich, um jedwedem Mißverständnisse vorzubeugen, Euer Exzellenz zu versichern, daß er auch in diesem, eben angeführten Fall, dadurch, daß er als Vermittler aufgetreten sei, absolut nicht für eine Berücksichtigung des englischen Wunsches sei." Sowohl Herr von Bethmann als Herr von Jagow haben auf das Bestimmteste erklärt, daß sie dem österreichischen Botschafter niemals eine solche Mitteilung gemacht haben. („Deutschland schuldig?" S. 60). Vielleicht liegt eine' Verwechslung mit einer nachgeordneten Persönlichkeit des Auswärtigen Amtjä vor. Zum Inhalt der am Morgen des 28. in Wien eintreffenden Meldung Szögyenys vom 27. ist zu bemerken: 1. Ein Vorschlag auf österreichische „Milderung det Note an Serbien" (Absatz 5 der Meldung) ist von London niemals gemacht worden. 2. Die deutsche Regierung hat niemals in Wien erklärt, daß» sie „in keiner Weise derartiges Interventionsverlangen Oesterreich-Ungarn gegenüber unterstütze und nur, um Wunsch Englands zu entsprechen weitergebe" (Absatz 4). 3. Die Meldung bezieht sich wahrscheinlich auf ein Gespräch über den Konferenzvorschlag, der am Abend des 26. von Lichnowsky gemeldet — D 236 — und im Laufe des 27. durch den britischen Botschafter vorgebracht worden war — D 304, E 43. Aber auch in diesem Falle ist das Berliner Kabinett anders verfahren als Graf Szögyeny angibt. Es hat nicht gesagt, es wolle „das Begehren Englands weiterleiten" usw. (Absatz 5), sondern hat den Vorschlag offen und aufrichtig abgelehnt — D 248, E 43 — und diese Ablehnung auch ohne unehrliche Beschönigung nach Wien mitgeteilt — D 277, Oe II. 84. 4. Das am Morgen des 28. eintreffende Telegramm vom 27. Juli könnte das Wiener Kabinett höchstens dazu veranlaßt haben, den Konferenzvorschlag abzulehnen, den es aber auch sonst wohl niemals angenommen hätte — Oe II. 90. Alle anderen deutschen Vermittlungsvorschläge sind mit solcher Deutlichkeit in Wien empfohlen worden, daß über den aufrichtigen Ernst der Mahnungen nicht der leiseste Zweifel bestehen konnte und auch nicht bestanden hat, wie der Erfolg hinsichtlich der Fortführung der direkten Besprechungen und der Teilerfolg hinsichtlich des Vorschlags „Halt in Belgrad" beweist. 5. Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli. In der Kammersitzung vom 5. Juli 1922 und in seiner „Antwort an den Kaiser" hat Viviani behauptet, Deutschland habe am 29. Juli ein Ultimatum an Rußland gerichtet. An

Da« angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli

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diesem Tage wurde um die Mittagszeit, nachdem binnen zwölf Stunden acht neue amtliche Meldungen über russische Mobilisierungsmaßnahmen, darunter fünf über solche an der deutschen Front, in Berlin eingegangen waren, Graf Pourtales beauftragt, Sasonow „sehr ernst darauf hinzuweisen, daß weiteres Fortschreiten russischer Mobilisierungsmaßnahmen Deutschland zur Mobilisierung zwingen würde, und daß dann europäischer Krieg kaum mehr aufzuhalten sein werde" — D 342. Der Botschafter hat diesen Auftrag kurz vor 8 Uhr abends ausgeführt und dabei betont, daß es „sich nicht um eine Drohung, sondern um freundschaftliche Meinung (Mahnung?)" handle — D 378. In Petersburg hatte Nikolaus II. schon am Vormittag des 29., lange bevor Pourtales mit Sasonow sprach, den Ukas zur allgemeinen Mobilmachung unterzeichnet. In letzter Stunde bewog ihn ein Telegramm Kaiser Wilhelms, die Umwandlung der allgemeinen in eine Teilmobilmachung anzuordnen (Seite 130). Der wahre Sachverhalt ist also das gerade Gegenteil der Darstellung Vivianis. Nicht ein deutsches Ultimatum war am, 29. Juli ergangen, sondern ein freundschaftlicher Schritt Kaiser Wilhelms war erfolgt. Wenn Sasonow zwischen der Mahnung Pourtales und dem Telegramm Wilhelms II. einen Gegensatz zu konstruieren suchte, so lag das daran, daß der russische Minister vom Morgen des 29. Juli an den Krieg wollte, wie das erstmalige Durchsetzen des Befehls zur allgemeinen Mobilmachung an diesem Tage beweist. 6. Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schiedsgericht. Der zweite Band des „Livre Noir" (S. 283) hat das nachstehende Handschreiben Nikolaus II. an Sasonow vom 27. Juli enthüllt: „Ich werde Sie morgen um 6 Uhr empfangen. Es ist mir ein Gedanke gekommen, und um keine Zeit zu verlieren, die Goldes wert ist, will ich ihn Ihnen mitteilen: Warum sollten wir nicht nach Verständigung mit Frankreich und England und dann mit Deutschland und Italien versuchen, Oesterreich vorzuschlagen, seinen Konflikt mit Serbien der Prüfung des Haager Schiedsgerichts vorzulegen? Vielleicht ist die Zeit dafür noch nicht vorüber, bevor Ereig 1 nisse eintreten, die nicht wieder gut zu machen sind. Versuchen Sie, um Zeit zu gewinnen, heute noch vor Abfassung Ihres Berichts diesen Schritt zu tun. In mir ist die Hoffnung auf Frieden noch immer nicht erloschen". Der russische Minister wurde also beauftragt, noch am 27. bei Frankreich und England anzufragen, ob sie dem Vorschlage zustimmen, daß Oesterreich den Streitfall im Haag vorlege. Da weder das französische noch englische noch russische Buntbuch 12

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Der Voraohlag des Zaren betr. das Haager Schiedsgericht

die leiseste Andeutung einer solchen Demarche enthalten, hat Sasonow offenbar den Befehl nicht ausgeführt. Als dann zwei Tage später, am Abend des 29., die versöhnliche Depesche Wilhelms II. die Umwandlung der russischen Vollmobilmachunsr in die Teilmobilisierung gfegen Oesterreich bewirkt hatte, griff der Zar seine Anregung in einem Telegramm an den deutschen Kaiser nochmals auf. Aber auch jetzt weigerte sich Sasonow offenbar wieder, auf den Gedanken einzugehen, denn er erwähnte ihn niemals dem deutschen Botschafter gegenüber, der daher auch seinerseits keinen Anlaß hatte, sich über das diesbezügliche Zarentelegramm zu äußern. Offenbar hielt der russische Minister die Idee seines Monarchen für unzweckmäßig und undurchführbar. Bei dieser Stellungnahme Sasonows war es wahrlich ein starkes Stück, daß er im Januar 1915 durch Veröffentlichung des Telegramms Nikolaus II- vom 29. Juli im „Messager Officiel" den Kriegswillen Deutschlands zu beweisen versuchte. Wenn die Verwerfung des Haager Gedankens wirklich einen solchen Beweis bildete, so würde der Minister ihn damit gegen sich selbst erbracht haben. Zudem wäre am 27. Juli, als der Zar das Handschreiben an Sasonow richtete, der Gedanke allenfalls noch in Erwägung zu ziehen gewesen. Zwei Tage später aber, am 29., konnte ein so zeitraubendes Verfahren nur noch in Betracht kommen, wenn Rußland gleichzeitig nicht nur die Vollmobilmachung einstellte, sondern auch die Teilmobilisierung, die Oestetreich mit doppelter Uebermacht bedrohte.

7. Das Extrablatt des „Berliner Lokalanzeigers". Am 30. Juli g'egen 1 Uhr mittags brachte ein Extrablatt des „Berliner Lokalanzeigers" die Falschmeldung der deutschen Mobilmachung. Das Blatt wurde sofort beschlagnahmt, die drei Ententebotschaften umgehend telephonisch verständigt, daß die Nachricht unzutreffend sei. Der russische Botschafter, der die Falschmeldung nach Petersburg telegraphierte, widerrief pie zunächst in einer offenen, dann noch in einer chiffrierten Depesche. Der Zar, seine Minister und sein Generalstab haben in zehn amtlichen Kundgebungen aus der Zeit vom 30. Juli bis 2. August die russische Mobilmachung niemals mit der Falschmeldung zu begründen versucht. Erst Anfang Dezember 1914, als die Wahrheit über die Reihenfolge der Mobilmachungen der verschiedenen Staaten auch in den Ententeländern durchzusickern begann, suchte Sir Edward Grey, wie aus einigen von deutscher Seite aufgefangenen Telegrammen Benckendorffs hervorgeht, dem Petersburger Kabinett zu suggerieren, die russische Mobilmachung sei durch das Extrablatt veranlaßt worden, Swerbejew habe die Nachricht zwar widerrufen, sein Widerruftelegramm sei jedoch von

Das Extrablatt des „Berliner Lokaianzeigers"

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der deutschen Regierung einige Zeit zurückgehalten worden, damit die absichtlich ausgegebene Falschmeldung inzwischen ihre Wirkung tue und Rußland zur allgemeinen Mobilisierung verleite. Sasonow scheute sich jedoch offenbar, dieser Intrige zuzustimmen, die daraufhin auch in London zwei Jahre lang zurückgestellt wurde, bis im Oktober 1916 der britische Staatssekretär in öffentlicher Rede an ausländische Journalisten seine wenig geschickte Konstruktion über den Ursprung der russischen Mobilmachung wiederholte. Da das Berliner Haupttelegraphenamt schon im Dezember 1914 auf Grund der damals aufgefangenen Telegramme Benckendorffs genaue Nachforschungen über die Beförderung der Depeschen Swerbejews am 30. Juli angestellt hatte, konnte Herr von Bethmann in seiner Rede vom 9. November 1916 den Nachweis erbringen, daß die beiden Widerrufe des russischen Botschafters ohne Verzögerung abtelegraphiert worden waren. Auf Grund der Nachforschungen vom Dezember 1914 und der inzwischen erfolgten Enthüllungen über den genauen Zeitpunkt des Entschlusses und des Befehls zur Mobilmachung sämtlicher Streitkräfte des russischen Reichs läßt sich nunmehr feststellen: 1. Das Telegramm Swerbejews mit der Falschmeldung der deutschen Mobilmachung ist am 30. Juli 1914 erst um 3 Uhr 28 nachmittags ( = 4 Uhr 28 russische Zeit) beim Haupttelegraphenamt in Berlin eingetroffen, das ist nach den Angaben des Chefs der Mobilmachungsabteilung des russischen Generalstabs Dobrorolski mehr denn zwei Stunden später, als der Entschluß des Zaren zur allgemeinen Mobilmachung zum zweiten Male und dieses Mal unwiederruflich gefaßt wurde. 2. Das Telegramm mit der Falschmeldung ist ferner wegen Massenauflieferung deutscher Staatstelegramme, und weil die Leitung nach Petersburg infolge der dort eben stattfindenden Ausgabe des Mobilmachungsbefehls zeitweise gesperrt war, erst 11 Uhr 20 abends ( = 20 Min. nach Mitternacht russische Zeit) abtelegTaphiert worden, das ist mehr denn sechs Stunden später, als der russische Mobilmachungsbefehl über den Draht lief. 3. General Dobrorolski hat auf Anfrage schriftlich bestätigt, daß die Falschmeldung des Lokalanzeigers „keinen unmittelbaren Einfluß auf den Mobilmachungsbefehl hatte, da sie zeitlich später in Petersburg- bekannt wurde". Bei ihrem Eintreffen habe die Mitteilung allerdings einen starken Eindruck hervorgerufen, sodaß man im Generalstabe dem Dementi nicht glauben wollte und in der Meldung eine Bestätigung der Richtigkeit der von der russischen Regierung getroffenen Entscheidung erblickte. Die Legende, daß ein Extrablatt einer Berliner Zeitung die russische Regierung zur allgemeinen Mobilmachung veranlaßt habe, dürfte damit für jeden ernsten Forscher endgiltig erledigt sein. (Genauen Nachweis über die im Vorstehenden angeführten 12*

180 Zeiten und die Intrige Greys siehe „Deutsche Rundschau", Mai 1922 „Der Zusammenbruch der Ententelegende über die russische allgemeine Mobilmachung".) 8. Der französische Schachzug der zehn Kilometer. (Schon veröffentlicht in der „Frankfurter Zeitung" vom 7. Januar 1923, Nr. 15). Als einen der wichtigsten Beweise dafür, daß Frankreich während der Krise 1914 bis zum Schluß eine friedfertige Politik getrieben habe, führt die offizielle französische Darstellung, und mit besonderer Vorliebe der Außenminister des Kriegsjahres, Herr Viviani, den Umstand an, daß bei der Aufstellung des Grenzschutzes am 30. Juli die Deckungstruppen 10 Kilometer von der Grenze zurückgehalten worden seien. Diese Maßnahme war allerdings wohl geeignet, großen Eindruck überall da zu machen, wo man mit den Verhältnissen nicht näher vertraut war, aber sie hat die Kriegsbereitschaft Frankreichs in keiner Weise verzögert oder vermindert und kann daher auch nicht den mindesten Beleg für friedliche Absichten bilden. Niemand anders als Viviani selbst hat in der Kammersitzung vom 31. Januar 1919 (Journal Officiel S. 297 ff.) festgestellt, daß der Kriegsminister seinerzeit „kein technisches oder militärisches Bedenken" gecen die Maßnahme erhoben habe, und nachdem der frühere Kriegsminister das durch Zwischenruf ausdrücklich bestätigt hatte, fuhr Viviani fort: „auch beim Generalstab stieß die Anordnung auf kein Bedenken." Diese Zustimmung der höchsten militärischen Autoritäten ist wohl verständlich, wenn man sich die Gestaltung der französischen Grenze gegen Deutschland vor Augen hält. Frankreich hatte sie bald nach 1871 durch eine Kette von Sperrbefestigungen gesichert, die im Norden bei Verdun begannen und mit einer einzigen, knapp 50 Kilometer breiten, zwischen Toul und Epinal liegenden Lücke ohne Unterbrechung bis zur Schweizer Grenze sich hinzogen. Vor den nördlichen Teil der Lücke war das Fort Mannonvillers vorgeschoben, das nur 10 Kilometer vom deutschen Gebiet entfernt lag und mit seinen Geschützen bis an und über die Grenze reichte. Diese gewaltige Festungsbarriere bot einen ausgezeichneten Schutz für den Aufmarsch des französischen Heeres, gleichviel ob die Deckungstruppen etwas näher an die Grenze herangeführt wurden oder nicht. Denn das Zurücknehmen des Grenzschutzes bedeutete nicht etwa eine Zurückverlegung des Aufmarsches der Massen, sondern nur ein näheres Heranziehen der darüber hinaus vorgeschobenen Sicherungen. Viviani hat in der erwähnten Kammersitzung sogar angeführt, daß die 42. Infanteriedivision, die nach dem Aufmarschplan 25 Kilometer von der Grenze entfernt hätte Stellung nehmen sollen, infolge des neuen Befehls vom 30. Juli

Der französische Sobachzng der zehn Kilometer

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nicht zurückgenommen, sondern sogar erheblich vorgeschoben wurde. Auf deutscher Seite war gleicher Schutz durch Befestigungen nur auf der Strecke Metz—DieJenhofen vorhanden, eine ähnliche Maßnahme wie in" Frankreich konnte daher nicht in Betracht gezogen werden. Viviani hat am 31. Januar 1919 abt-r nicht nur die Gutachten des französischen Kriegsministeriums und Generalstabs und das Vorrücken der 42. Infanteriedivision verraten, sondern auch den wahren Grund enthüllt, warum das scheinbare Opfer der Zurückverlegung des Grenzschutzes angeordnet wurde. Schon in dem Befehl, deü General Joffre am Morgen des 30. Juli bei Anordnung des Grenzschutzes an alle Armeekommandanten erließ, wurden „diplomatische Gründe" als Ursache der Maßnahme angeführt. Noch deutlicher sprach sich ein Telegramm aus, das der Kriegsminister am 1. August um 5 Uhr nachmittags, also kurz nach Erlaß des Mobilmachungsbefehls, an Geheral Joffre sandte: „Um uns die Mitwirkung unserer englischen Nachbarn zu sichern, bleibt es noch immer unerläßlich, die im Telegramm Nr. 129 vom 30. Juli festgesetzte allgemeine Linie durch Patrouillen irnd Detachements außer im Fall eines ausgesprochenen Angriffs nicht überschreiten zu lassen." Ein drittes Telegramm vom 1. August 10,30 Uhr abends schärft dann ein, daß die 10-Kilometer-Linie auch für die Kavalleriepatrouillen gelte, und zwar aus gewichtigen diplomatischen Gründen." (Alle Befehle nach Angaben Vivianis im „Journal Officiel".) Trotz dieser wiederholten Mahnungen ist der Befehl aber nicht eingehalten worden (Beleg Nr. 27, S. 200). Auch wurde die französische Grenze keineswegs völlig von jedem Schutz entblößt, vielmehr die im praktischen Zoll- und Forstdienst stehenden Beamten — zusammen 1500 höhere und 27 600 niedere Beamte — dort belassen. Diese Organisationen traten in Frankreich bei der Mobilmachung in den Verband der Armee und hatten die Aufgabe, beim Grenz- und Küstenschutz mitzuwirken, Nachrichten vom Feinde einzuziehen, den Truppen als Führer zu dienen und dergl. Die Mannschaften waren mit dem Armeegewehr bewaffnet und wurden schon im Frieden zu Exerzier- und Schießübungen herangezogen. Aus einer vom französischen Außenministerium herausgegebenen Schrift geht hervor, daß die Zollbeamten im Jahre 1914 in Posten in der Stärke von 4 bis 10 Mann auf 100 bis 500 Meter an die Grenze herangeschoben waren und gegen deutsche Patrouillen von der Waffe Gebrauch machten. Während so die Grenze gegen die allein in Betracht kommenden Vorstöße schwacher deutscher Patrouillen genügend

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Die wahren Gründe des 10 Kilometer-Rückzugs

gesichert blieb, wurde die Anordnung in ausgiebigster Weise gegenüber England verwertet. Yiviani teilte sie sofort am 30. Juli amtlich nach London mit, gleichzeitig eine Anzahl unrichtiger Angaben über deutsche Truppenbewegungen anfügend. Poincaré schrieb darüber am 31. Juli an den König von England. Der Erfolg der politisch-militärischen List blieb nicht aus. König Georg antwortete nach der Mitteilung Vivianis vom 31. Januar 1919, daß er die französische Mäßigung „bewundere" und der amerikanische Botschafter in London äußerte sich später zu Viviani dahin, daß Frankreich „der ganzen Welt einen klaren Beweis seiner Ehrlichkeit gegeben habe." Weiden wahren Sachverhalt und die Enthüllungeil Vivianis in der französischen Kammer kennt, wird zu wesentlich anderen Schlüssen gelangen, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: 1. In Frankreich ist der Grenzschutz am Morgen des 30. Juli angeordnet worden, obwohl das Land durch keine' Mobilmachung eines Nachbarn bedroht war. Der deutsche Grenzschutz im Westen wurde erst befohlen bei Anordnung des „Zustandes drohender Kriegsgefahr" am 31. Juli 1 Uhr nachmittags, nachdem die amtliche Nachricht über- die öffentliche Verkündigung der allgemeinen russischen Mobilmachung eingetroffen war. Noch am 30. Juli, 6 Uhr abends, als der französische Grenzschutz schon in Stellung war, wurde ein Antrag des 16. Armeekorps (Metz) auf Verfügung der gleichen Maßnahme vom Preußischen Kriegsministerium abschlägig beschieden. 2. Die Zurücknahme der französischen Deckungstruppen brachte keinerlei militärische Nachteile mit sich. Gegen deutsche Patrouillen genügten die Posten der militärisch organisierten Zollwache, die an der Grenze blieben. 3. Der Befehl, 10 Kilometer von der Grehze abzubleiben, wurde in zahlreichen Fällen von den Truppen nicht befolgt. 4. Die Anordnung erfolgte nicht aus Friedensliebe, sondern ausschließlich aus diplomatischen Gründen, vornehmlich um sich die Waffenhilfe Englands zu sichern. 9. Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf bei Nürnberg. (Schon veröffentlicht im „Berliner Tageblatt" vom 7. März 1922 Morgenblatt). Das Journal des Oberquartiermeisters I des Großen Generalstabes vermerkt am 2. August 1914 unter Nr. 38: „3. bayrisches Aimeekorps meldet, Flieger werfen bei Nürnberg Bomben ab". Aus ungedruckten Akten des Reichsarchivs ist fernet folgender Sachverhalt zu entnehmen: Der Stabschef des 3. bayrischen Armeekorps (Nürnberg) erhielt am 2. August von der Eisenbahndirektion Nürnberg

Die Meldung über den Bombenabwurf bei Nürnberg

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telephonische Nachricht über Bombenabwürfe in der Umgegend von Nürnberg und gab diese Meldung unter Vorbehalt an den Großen Generalstab in Berlin weiter. Nachdem die Eisenbahndirektion die Nachricht als unzutreffend erkannt hatte, machte der Stabschef dem Großen Generalstab auch hiervon durch Fernsprecher Mitteilung. Der Eisenbahndirektion Nürnberg war die Nachricht am 2. August sowohl von der Strecke Würzburg—Nürnberg als auch von der Strecke Ansbach—Nürnberg zugegangen. Die Linienkommandantur Nürnberg verständigte daraufhin die Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabs telegraphisch mit dem Zusatz, daß „sichere Nachricht nicht zu erlangen". Ein Widerruf oder eine Ergänzung dieser Meldung ist nach den Akten nicht erfolgt. Da alle Stationen der Strecke Würzburg— Nürnberg und Ansbach—Nürnberg von der Eisenbahndirektion durch Umlauftelegramme von dem angeblichen Vorfall in Kenntnis gesetzt wurden, dürfte die Nachricht auf diese Weise in die Presse gelangt sein. Die Kriegstagebücher des 3. bayerischen Armeekorps, der 5. Infanteriedivision (Nürnberg), des 21. Infanterieregiments (Fürth bei Nürnberg) und des 7. Infanterieregiments (Bayreuth) enthalten zahlreiche Gerüchte und Fernsprechmeldungen über feindliche Flieger. Die meisten dieser Nachrichten wurden als unglaubwürdig befunden, jedoch sind an verschiedenen Stellen Sicherheitsmaßnahmen für alle Fälle angeordnet worden, was gleichfalls den Zeitungen bekannt geworden sein wird. Die unzutreffende Nachricht über den Bombenabwurf bei Nürnberg ist somit darauf zurückzuführen, daß die [Widerrufmeldung des Stabschefs des 3. bayerischen Korps nicht oder wenigstens nicht rechtzeitig an das Auswärtige Amt weitergegeben worden ist. Das Amt hätte auch von sich aus dem Sachverhalt weiter nachgehen können, da am Nachmittag des 3. August nach Absendung der Kriegserklärung an Frankreich eine Meldung des preußischen Gesandten in München eintraf, worin der Vorfall in Zweifel gezogen wurde — D 758. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß im richtigen Text der Kriegserklärung — D 734 — das Vorkommnis bei Nürnberg eine ganz nebensächliche Rolle spielt, das nicht sonderlich beachtet und daher in der Kriegserklärung erst an letzter Stelle nach den Grenzverletzungen auf dem Landwege genannt wurde.

10. Die Haltung Italiens. Italien hatte sich im Jahre 1902, als der Dreibund abermals erneuert wurde, demselben gleichzeitig innerlich entfremdet, indem es mit Frankreich einen Vertrag abschloß, wonach die beiden Staaten sich gegenseitig zur Beobachtung strenger Neutralität verpflichteten, nicht nur wenn einer von ihnen „durch eine oder mehrere Mächte direkt oder indirekt angegriffen

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Die Haltung Italiens

würde", sondern auch dann, wenn er „infolge einer direkten Provokation gezwungen wäre, zur Wahrung seiner Ehre oder seiner Sicherheit die Initiative zu einer Kriegserklärung zu ergreifen". 1 ) Nachdem England 1904 die Entente mit Frankreich geschlossen und sich damit von Deutschland abgewendet hatte, sah Italien in dem Dreibund nur noch ein Mittel zur Erreichung ganz bestimmter Ziele, denn da seine Küsten den Angriffen der britischen Flotte sehr stark ausgesetzt waren, würde eis in einem ernsten Konflikt niemals Partei gegen England ergriffen haben. Einen deutlichen Beweis der Schwenkung erbrachte schon die Haltung des italienischen Vertreters auf der Konferenz von Algeciras 1906. Auch die anfängliche Zustimmung Italiens zur Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch Oesterreich 1908 wandelte sich sofort in das Gegenteil, als England mit auffallender Schärfe dagegen Sellung nahm. Der Vertrag von Racconigi 1909 bedeutete sodann die vorbehaltlose Billigung der russischen Ambitionen auf Konstantinopel und die Meerengen. Zwar führte die übelwollende Haltung Frankreichs gegenüber der Okkupation von Tripolis (1911) und das gemeinsame österreichisch-italienische Interesse, eine Festsetzung Serbiens an der Adria zu verhindern und als Gegengewicht gegen slawische Expansion einen selbständigen albanischen Staat zu errichten, zu einer vorübergehenden Wiederannäherung an die Mittelmächte; aber kaum war Albanien geschaffen, so ergaben sich gerade dort neue Streitpunkte zwischen Wien und Rom. Auf den Verlauf der Krise des Sommere 1914 war die Haltung des römischen Kabinetts nicht von ausschlaggebender Bedeutung. In Berlin war man sich von Anfang an klar, daß Italien im Falle eines österreichisch-serbischen Konflikts Kompensationen fordern, und daß dafür in erster Linie der Bezirk von Trient in Betracht kommen würde, während die Wiener Regierung keine Fühlung im voraus mit der italienischen nehmen wollte, da sie deren Verschwiegenheit nicht traute und ein Durchsickern des Planes nach Belgrad befürchtete. — D 87. Wie in Berlin vorausgesehen, wurde in Rom sofort nach Uebergabe des österreichischen Ultimatums der Anspruch auf Kompensationen auf Grund des Artikels 7 des Dreibundvertrags erhoben und zwar „selbst bei provisorischer Besetzung serbischen Gebiets", wogegen Graf Bcrchtold meinte, Italien habe durch die Besetzung der Inseln im Aegäischen Meere schon eine solche Entschädigung erhalten — D 212. Da Italien bei Verweigerung von Kompensationen eine antiösterreichische Haltung einzunehmen drohte, drängte man in Berlin auf Verständigung. In Wien aber war man nur im Falle „einer n i c h t als nur vorübergehend anzusehenden Okkupation" zu einem Meinungsaustausch ') ..Lee Accords franco-italiens 1901—02" Nr. 7.

Die Haltung Italiens

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bereit — D 267, 269, 328. Noch am 30. Juli hatte Berchtold die Berliner Ratschläge nicht beachtet — D 396. Erst am 1. August, nachdem die allgemeine Mobilmachung Rußlands den Krieg unvermeidlich gemacht hatte, erklärte er dem italienischen Botschafter, daß et die in Rom und Berlin dem Artikel 7 des Dreibundvertrag's gegebene Ausleguno- annehme, wonach auch im Falle einer nur vorübergehenden Besetzung serbischen Gebiets ein Anspruch auf Entschädigung bestehe — D 594.2) Aber schon an demselben Tage, noch bevor zwischen Deutschland und Rußland der Kriegszustand eingetreten war, beschloß in Rom ein Ministerrat, sich nicht am Kriege zu beteiligen. Mit auffallender Raschheit, noch am 1. August selbst, wurde Frankreich von diesem Entschluß verständigt, sodaß es sofort bei Ausspruch der Mobilmachung alle seine Truppen aus deta Süden an die Nordostgrenze werfen konnte, während der deutsche Botschafter erst vierundzwanzig Stunden später benachrichtigt wurde — F 124, D 675. Infolge der Stellungnahme Englands würde auch ein früheres Einlenken Oesterreichs in der Kompensationsfrage schwerlich Erfolg gehabt haben. Der italienische Botschafter in Wien war zwar der Ansicht, daß der Angriff Rußlands durch dessen Mobilisierung „klar dokumentiert" sei, der in Berlin brachte es nicht über sich, die Erklärung der Neutralität selbst zu überbringen — D 510, 756. Die Stimmen der beiden Diplomaten zählten jedoch nicht. 11. Die belgische Frage. Die belgische Frage ist bei Schilderung der Krise 1914 nicht behandelt worden, weil sie mit der Verantwortlichkeit für den Kriegsausbruch nicht zusammenhängt. Der deutsche Kriegs plan bestand seit dem Winter 1900/01 und hat Deutschland nicht verleitet, die außerordentlich günstige Gelegenheit von 1905/06 oder eine der späteren Gelegenheiten zu einem Präventivkrieg auszunützen. Ebenso wenig hat dieser Plan die deutsche Regierung' gehindert, im Juli 1914 ihre Bemühungen um Erhaltung des Friedens, schließlich auch um den Preis eines Zuriickweichens aus der ursprünglich eingenommenen diplomatischen Stellung, fortzusetzen. Vom völkerrechtlichen Standpunkt hat Reichskanzler von Bethinann Hollweg am 4. August 1914 das einzig zutreffende Wort .gesprochen, daß die Verletzung der Neutralität Belgiens ein Unrecht war. Die späteren Rechtfertigungsversuche müssen als verfehlt bezeichnet werden. Alles, was nach Kriegsausbruch über englische' Bestrebungen, die belgische Neutralität zu beeinflussen, bekannt geworden ist, kann nicht als Begründung für den im Winter 1900/01 entworfenen deutschen Operationsplan herangezogen werden. Auch wird eine Völkerrechtsverletzung 2

) Wortlaut des Artikels 7 siehe Bele« Nr. 28 S. 200.

Die belgische Frage

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nicht dadurch zu einem legalen Akt, daß ein anderer Staat die gleiche Verletzung plant. Die Begründung des deutschen Vorgehens liegt ausschließlich auf militärischem Gebiet. Es war damals die heutzutage nicht mehr allseitig1 geteilte Auffassung der militärischen Sachverständigen nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen Staaten, daß der deutschen Heeresleitung in einem Zweifrontenkriege keine andere Wahl bleibe, als mit tunlichster Beschleunigung einen entscheidenden Schlag im Westen zu führen. Beschleunigung aber war nicht möglich bei frontalem Ansturm gegen die stark befestigte französische Ostfront Verdun—Beifort, sondern nur bei deren Umgehung im Norden durch Luxemburg und Belgien. Die Frage, ob ein anderer Kriegsplan mit Defensive im Westen und Offensive im Osten genügende Aussicht auf Erfolg geboten hätte, könnte nur in einer militärischen Spezialstudie erschöpfend behandelt werden. Wenn abe'r das deutsche Unrecht offen zugestanden wiTd, so ist damit keineswegs den anderen Mächten das Recht eingeräumt, über Deutschland zu Gericht zu sitzen. Kriegsminister Haidane hat ehthüllt, daß er im Januar 1906, nachdem Sir Edward Grey die schon von Lord Lansdowne Frankreich gegenüber eingegangenen Verpflichtungen3) übernommen hatte, sich sofort mit dem französischen Militärattache ins Benehmen setzte, um einen Raum für die Versammlung des britischen Expeditionskorps gegenüber der belgischen Grenze auszusuchen.*) Wenn nun das französische Heer, wie in den Generalstabsprotokollen von 1911, 1912 und 1913 vorgesehen ist, nach Durchführung seiner Mobilmachung unverzüglich die Offensive ergreift, so können die auf dem Nordflügel der französischen Streitmacht gegenüber der belgischen Grenze in der Gegend von Maubeuge versammelten britischen Korps nirgends anders hinmarschieren als nach Belgien hinein. Der französisch-englische Kriegsplan führte daher ebenso wie der deutsche zu einer Verletzung der Neutralität des Königreichs. Auch hat niemand anders als der König der Belgier selbst noch im Mai 1914 dem deutschen Militärattache mitgeteilt, daß er die französische Gefahr für die größte halte und daß er die Spionage des französischen Generalstabs auf belgischem Gebiet mit Sorge verfolge.8) Nicht aufrichtige Entrüstung, sondern pharisäerhafte Anmaßung ist es, wenn von französischer und englischer Seite der deutsche Kriegsplan als ein unerhörtes Verbrechen hingestellt wird. Die Beispiele von Neutralitätsverletzungen durch ihr eigenes Land sollten die Politiken und Historiker in London und Paris zu größerer Vorsicht in ihrem Urteil mahnen. 3

) Lieut. Col. Repington „The first World War 1914—1918" S. 4. «) Haidane loc. cit. S. 31 u. 168. 5 ) Bericht des deutschen Militärattaches in Brüssel vom 7. Mai 1914 siehe Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 95.

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V. Teil.

Belege. Nr. 1. Am 3. Dezember 1884 berichtet CourceL, Bismarck habo ihm gesagt: „Ich wünsche dahin zu kommen, daß Sie uns Sedan vergeben, wie Sie Waterloo vergeben haben", und fährt dann fort: „Wenn wir darauf hörten, würde vielleicht ein Nachfolger Bismarcks unseren Enkeln sagen: Ich wünsche, daß Sie uns eine neue Niederlage und eine neue Zerstückelung verzeihen, wie Sie Sedan verziehen haben. Das beweist, wie ruchlos, verhängnisvoll und folgenschwer der Leichtsinn derer gewesen ist, die, verblendet durch vorübergehende Parteiinteressen und irregeführt durch trügerische Geschichtslehren, es versucht haben, in den Augen Frankreichs die Verträge von 1815 zu rechtfertigen und in den Herzen der Franzosen den Groll über die schmerzlichen Amputationen jener Zeit zu beschwichtigen". Auch am 20. Januar protestiert Courcel wiederum nicht nur gegen die Verträge von 1871, sondern auch gegen die von 1815. (Poincaré in der „Revue de la Semaine" vom 11. Februar 1921 S. 185—137.) Nr. 2. Delcasse erreichte damals, daß die Allianz, die ursprünglich nur der „Erhaltung des Friedens" dienen sollte, erweitert wurde durch den Zusatz „und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Kräfte in Europa". Gleichzeitig wurde die Militärkonvention, die ursprünglich nur währen sollte, solange der Dreibund bestand, auf die Dauer des diplomatischen Abkommens verlängert. Dar.u schrieb Delcassé, daß ja gerade dann die Militärkonvention notwendig wäre, wenn der Dreibund aufhörte. „Was würde geschehen, wenn der Dreibund sich auflöste, wenn z. B. Kaiser Franz Josef plötzlich verschwände, und wenn Oesterreich von einer Auflösung bedroht wäre, die man vielleicht anierswo begünstigen und von der man jedenfalls Vorteil ziehen wollte? . . . . Welches Ereignis würde dringender erfordern, daß Frankreich und Rußland nicht nur einig sind in einem gemeinsamen Ziele, sondern auch bereit, es zu erreichen?" (Französisches Gelbbuch „L'AlÜance franco-russe" Nr. 93—95.) Nr. 3. Nur einmal, am 16. Mai 1888, glaubt Waldersee, daß Bismarck endlich für den Gedanken des Präventivkrieges gewonnen sei. Er schreibt, der Kronprinz (der spätere Kaiser Wilhelm II.) habe ihm „unter dem Siegel der Verschwiegenheit" anvertraut, daß der Kanzler „sich nunmehr entschlossen habe, den Krieg nicht mehr zu scheuen" (Band I. S. 399). Auch vom Kriegsminister will Waldersee die Kriegsneigung des Kanzlers bestätigt erhalten haben (loc. cit. S. 401). Aber schon im folgenden Monat, Ende Juni, stellt Waldersee von neuem fest, seine eigene Auffassung unterscheide sich von der des Kanzlers dahin, daß dieser „uns jeden Krieg fernhalten will" (loc. cit. S. 410). Nr. 4. Der italienische Außenminister Tittoni hatte dem österreichischen Botschafter Freiherrn von Lützow gesagt: „Verraten Sie mich nicht, aber im Grunde bin ich beinahe mit Ihrer Annexion zufrieden; am meisten fürchte ich einen schlecht umschriebenen und der Klarheit entbehrenden Sachverhalt; er ist eine Quelle von Gefahr". Nur

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Bftlog Nr. 5—8

verlangte er am 4. Oktober von seinem österreichischen Kollepen ausdrückliche Erklärungen über die Meerengenfrage, Verzicht auf den Sandschak und auf Artikel XXIX des Berliner Vertrags. Aehrenthal erklärte am 6. Oktober, daß er die genannten Punkte annehme „und daher den Akkord zwischen Italien, Rußland und Oesterreich im Prinzip als abgeschlossen betrachte". (Friedjung II. S. 231—232.) Sobald aber England gegen Oesterreich Stellung nahm, änderte sich die Haltung Tittonis. Anfang Dezember erklärte er im Parlament, er habe sich Aehrenthal gegenüber zu nichts verpflichtet. Bei Lützow entschuldigte sich der Minister mit den ihm wegen der öffentlichen Meinung erwachsenen Schwierigkeiten. (Friedjung II. S. 255.) Nr. 5. Die entscheidende Wleisung an den deutschen Botschafter Grafen Pourtalès in Petersburg ist abgedruckt bei 0. Hammann „Bilder aus der Kaiserzeit" Ani. Y. S. 155. Der Wortlaut ergibt die Unwahrheit der Behauptung, daß sie eine Kriegsdrohung enthalten habe. Deutschland erklärt, daß, wenn Rußland der Annexion nicht ohne Vorbehalt zustimme, es sich zurückziehen und „den Dingen ihren Lauf lassen" werde; die „Verantwortung für alle weiteren Ereignisse würde dann schließlich Herrn Iswolsky zufallen, nachdem wir einen letzten aufrichtigen Versuch gemacht haben, Herrn Iswolsky behilflich zu sein, die Situation in einer für ihn annehmbaren Weise zu klären." Unter den Dingen, denen man „ihren Lauf zu lassen" entschlossen war, ist nun nicht etwa der allgemeine Krieg, sondern der österreichische Ein marsch in Serbien zu verstehen, gegen den Rußland damals nichts hätte unternehmen können. Nr. 6. v. Bethmann Hollweg „Betrachtungen zum Weltkrieg" I. S. 87. Zum Widerstand der russischen Intelligenz siehe Hammann „Der mißverstandene Bismarck" S. 171 und. die Aeußerung Miljukows in der Duma vom 15. März 1911. Zum Widerstand Greys siehe Siebert S. 202 und 243. Grey sah in der Vertragsklausel, daß Rußland eventuell auch den Bau der Linie von der persischen Grenze bis zur persischen Hauptstadt Teheran an Deutschland überlassen werde, gera-dezu den Zusammenbruch der ganzen englischen Politik seit sechs Jahren und dachte sogar an seinen Rücktritt. (Siebert S. 391—392.) Nr. 7. Schreiben des Stabschefs des Militärbezirks Warschau, .Sektion des Generalquartiermeisters, Mobilmachungsabteilung, vom 30. September 1912 Nr. 2450, Original im Reichsarchiv in Potsdam. Auf Seite der Entente hat man versucht, diesen Befehl als Manöverbefehl oder Befehl bei einer rein theoretischen Operationsübung u. dgl. hinzustellen. Das ist schon wegen der absendenden Stelle (Mobilmachungsabteilung), ferner wegen des Inhalts und des Datums wenig wahrscheinlich. Um solche Ausflüchte endgiltig zu erledigen, wurde an General S. Dobrorolski, 1914 Chef der Mobilm.acliungsabteilung des russischen Generalstabes, die Frage gerichtet, wie der Befehl aufzufassen sei. Der General, der ein treuer Anhänger des Zaren ¡reblieben ist und z. Z. in Belgrad lebt, hat darauf geantwortet: „Der Befehl enthält operative Anordnungen für den Fall eines Krieges, der 1912 im Zusammenhang mit der damaligen Kriegserklärung Serbiens und Bulgariens an die Türkei erwartet wurde" (Brief Dobrorolskis an Verfasser). Nr. 8. loc. cit» S. 347. In einem Telegramm an den französischen Botschafter in Peteriburg behauptet Poincaré allerdings, er habe nur gesagt, daß „Frankreich den Bündnisvertrag einhalten und Rußland auch militärisch unterstützen werde, wenn der casus foederis eintrete" („Affaires Balkaniques" I. Nr. 263). Hiernach würde sich die Zusage auf einen von Deutschland unterstützten Angriff Oesterreich-Ungarns gegen Rußland beschränkt haben. Aber abgesehen davon, daß ein solcher

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gemeinsamer Angriff der Mittelmächte auf Rußland gar nicht in Frage stand, sondern nur ein allenfaUsiges Vorgehen Oesterreichs gegen Serbien, ist zu beachten, daß das französische Gelbbuch über die Balkanangelegenheiten unter den Auspizien Poincares eigens zu dem Zwecke der Verteidigung seiner Politik zusammengestellt worden ist. Nr. 9. Siebert in den „Süddeutschen Monatsheften" Januar 1922 S. 191. Nach französischen Quellen wünschte Rußland „unauffällig" Rumänien zu unterstützen. Es solle die Bulgaren so beschäftigen, daß Seibien nicht vernichtet werde, ohne jedoch diesem einen zu großen Erfolg zu gönnen, der eine Intervention Oesterreichs herbeiführen und so einen allgemeinen Krieg entfesseln könnte. Rumänien seinerseits wünschte von Rußland Unterstützung mit Munition, von Frankreich mit Geld. In Paris hielt man das mit der abgegebenen Neutralitätserklärung nicht für vereinbar („Affaires Balkaniques" II. Nr. 368—69). Nr. 10. Dieses Urteil weicht erheblich ab von Friedjung III. S. 304 und Prof. Hoetzsch loc. cit. S. 311, die beide einen Mißerfolg der russischen Politik annehmen. Mir scheint, daß man mit Schebeko zwischen Slawentum und Rußland unterscheiden muß. Die Interessen der Balkanstaaten waren aber für die russische Politik nur das Aushängeschild, nicht das wahre Leitmotiv. Friedjung ist zu seinem Urteil auch durch die Auffassung verleitet, daß das große Rüstungsprogramm erst durch den dritten Balkankrieg veranlaßt worden sei. General Dobrorolski hat aber enthüllt, daß dieses Programm schon viel früher beschlossen war Nr. 11. a) B e r i c h t d e s d e u t s c h e n Botschafters v o n T s c h i r s c h k y v o m 2 3. M ä r z 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e i r e d u n g e n i n W i e n („Deutsche Politik" vom 11. Juni 1920). Ueber die Unterredungen, die S. M. heute hier mit S. M. dem Kaiser Franz Joseph, dem Grafen ijerchtold und dem Grafen Tisza gehabt hat, hatte Allerhöchstdieselbe die Gnade, mir nachstehendes behufs Meldung an E. E. mitzuteilen. Mit S. M. dem Kaiser Franz Joseph und dem Grafen Berchtold sei er über allgemeine Besprechungen über die politische Lage eigentlich nicht hinausgekommen. Beide hätten sich sehr besorgt in betreff Rumäniens und Rußlands gezeigt. Nach ihrer Ansicht sei Rumänien für den Dreibund 6chon so gut wie verloren. Er habe sich bemüht, sie nach beiden Richtungen hin zu beruhigen. Was Rumänien anlange, so habe er ihnen das mitgeteilt, was der Kronprinz von Rumänien jüngBt in Berlin erklärt hat«: Rumäniens Interessen wiesen es gebieterisch an die Seite des Dreibundes, eine Suprematie des slawischen Rußlands mit Serbien im Rücken sei für Rumänien unerträglich; allerdings werde infolge der Gestaltung der Verhältnisse während und nach dem zweiten Balkankriege die Verbindungsstelle zwischen Rumänien und dem Dreibunde jetzt mehr in Berlin zu suchen sein. S. M. bemerkten hier, daß er in dieser Beziehung sowohl bei K liser Franz Joseph als beim Grafen Berchtold volles Verständnis gefunden habe und beide diese Sachlage akzeptiert und die Hoffnung ausgedrückt hätten, daß Berlin in dieser Richtung alles tun werde, was möglich wäre. Er habe dann sehr eindrücklich darauf hingewiesen, daß, wenn er aucli gewiß in Bukarest nach Kräften und Tunlichkeit wirken wolle, es doch auch Sache Oesterreich-Ungarns sei, mit allen Kräften daran zu arbeiten, daß das Verhältnis zwischen Wien und Bukarest sich wieder bessere. Von beiden Seiten sei dem lebhaft zugestimmt worden. In Bezug auf die russischen Rüstungen habe er ausgeführt, daß diese gewiß nicht zu leugnen wären, und daß wir alle Ursache hätten, sie scharf zu beobachten, daß er aber nicht glaube, daß sie in erster Linie kriegerischen Absichten gegen Oesterreich oder Deutschland entsprängen. Einmal sei Rußland durch Frankreich gezwungen, gewisse

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Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Wien 1914)

militärische Maßnahmen zu treffen, weil sonst kein Geld hergegeben worden wäre, und dann Bei es sehr wahrscheinlich, daß man in Kußland Uber den traurigen Zustand, in dem sich die Türkei befinde, noch besser unterrichtet sei als in Berlin und Wien, und daß man die stärkere militärische Bereitschaft an der West- und Südwestgrenze als Deckung bei eventuellem Vorgehen gegen die Türken zu brauchen gedenke. Hierin habe ihm besonders Gral Berchtold beigestimmt. Sehr interessant habe sich seine Unterhaltung mit Graf Tisza gestaltet, der ein ganz hervorragender Mann sei mit festem Willen und klaren Ideen. Zunächst sei die rumänische Frage erörtert worden. Er habe dem Grafen Tisza gesagt, daß er mit Freuden gehört habe, daß die Verhandlungen zwischen ihm und den Rumänenführern im ganzen nicht unbefriedigend verlaufen seien, und daß er, der Minister, mit der Haltung der letzteren zufrieden sei. Graf Tisza habe das bestätigt und dann folgendes ausgeführt: Von einem Scheitern der Verhandlungen mit den Rumänen könne keine Rede sein. Im Gegenteil. Er habe sich mit den Führern sehr gut gesprochen und er werde auch in Zukunft aus eigener Initiative Maßregeln ergreifen, die geeignet die Rumänen zu befriedigen. Er sei ihnen schon in manchen Stücken entgegengekommen und beabsichtige, den Rumänen in bezug auf Kirche und Schule, auf welchen Gebieten sie in der Tat ungerechtfertigt hart behandelt worden seien, noch weitere Konzessionen zu machen. Er werde sogar den Rumänen für ihre Schulen staatliche Gelder anweisen. Der bisherige Verlauf der Verhandlungen icnd sein fester Wille, den Rumänen so weit als irgend möglich entgegenzukommen, berechtigen zu der Hoffnung, daß doch mit der Zeit die jetzt vielleicht in manchem nicht unberechtigte Unzufriedenheit der Rumänen schwinden werde. S. M. haben darauf hingewiesen, daß man auch im Königreiche Rumänien nicht eine „große Aktion" von Seiten der ungarischen Regierung für die Rumänen verlange, sondern nur ein Nachgeben in kleinen Fragen, in der Verwaltung und in der Schule für geboten und nützlich halte. Was die zukünftige Gestaltung der Verhältnisse am Balkan anbelangt, so habe Graf Tisza die Vereinigung Serbiens mit Montenegro als dasjenige Ereignis bezeichnet, welchem wohl in dieser Beziehung die größte Bedeutung beizumessen sei. Die Vereinigung an sich halte er für unabwendbar. Das Hauptinteresse Oesterreich-Ungarns bleibe nach wie vor, Serbien als Vorposten Rußlands von der Adria fernzuhalten. Man denke demnach hier daran, wenn man auch der Vereinigung des Hauptteils von Montenegro mit Serbien nicht entgegentreten werde, das Litorale Montenegros für diesen Fall Albanien zuzuweisen. Als Kompensation für Bulgarien könnten diesem Staate die Bezirke von Istip und Katschiana überlassen werden. Von ausschlaggebender Bedeutung werde es sein, in allen diesen Fragen Hand in Hand mit Rumänien zu gehen und womöglich die Vermittlung Rumäniens sowohl Serbien als Bulgarien gegenüber eintreten zu lassen. Eine Ueberrumpelung Rumäniens müsse vermieden und alles daran gesetzt werden, die Balkanpolitik der Monarchie im Einverständnis und mit der Mitwirkung Rumäniens durchzuführen. Graf Tisza habe ihn gebeten, Oesterreich-Ungarn bei dieser Politik in Bukarest möglichst beizustehen, was er dem ungarischen Ministerpräsidenten auch bereitwillig zugesagt habe. Graf Tisza habe dann noch im allgemeinen ausgeführt, daß es angesichts des planmäßigen Zusammengehens der Ententemächte auf dem gesamten Gebiete der Politik, besonders aber am Balkan, wo sie sehr geschickt mit verteilten Rollen operierten, auch für die Mächte des Dreibundes sich empfehlen würde, jeden politischen Plan vorher genau und eingehend zu besprechen und die Art und Weise seiner Ausführungen festzulegen. Für ihn, den Minister, sei es keine Frage, daß die politische Aktion der Entente-Mächte sich derzeit in erster Linie dem Balkan zu-

Beleg Nr. 11 (Wilhelm IL in Miramai 1914)

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wende, der mit der Zeit als Sturmbock gegen Oesterreich-Ungarn für den Fall eines großen europäischen Krieges verwendet werden solle. Die Monarchie solle im Ernstfall durch den Vorstoß aiis Südosten völlig beschäftigt und auf diese Weise verhindert werden, Deutschland gegen Rußland beizustehen, um es dem doppelseitigen Angriff allein zu überlassen. von Tschirschky. b) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r v o n T r e u t l e r ü b e r d e n B e s u c h i n M i r a m a r („Deutsche Politik" vom 11. Juni 1920). S. M. haben den Erzherzog-Thronfolger in ausgezeichneter Disposition gefunden. Zunächst war derselbe außerordentlich erfreut, als er hörte, daß er bei den Manövern den König von Italien treffen würde. Er hat in diesen Mitteilungen keinen Augenblick etwas Unangenehmes erblickt, sondern sofort erklärt, daß es ihm sehr lieb sei, dem König auf neutralem Boden zu begegnen und dadurch Gelegenheit zu haben, eingehend mit ihm zu sprechen. Bei der Fortsetzung des Gesprächs über Fragen der großen Politik erklärte der Thronfolger: Rumänien und Griechenland müßten im Balkan für den Dreibund wie eine Mauer gegen die Slawen stehen; wenn möglich auch die Türkei. Er nahm bei dieser Gelegenheit in der schärfsten Weise gegen Graf Berchtolds Verhalten bezüglich Bulgariens und Rumäniens Stellung, weil er nicht über Bukarest mit Sofia verhandelt habe. S. M. hat ihm gesagt, der begangene Fehler könne voraussichtlich wieder gutgemacht werden, wenn nur in Wien aufrichtige Loyalität Bukarest gegenüber beobachtet würde; denn König und Kronprinz hätten wiederholt erklärt, sie blieben treu beim Dreibund. Vor allem sei nötig, daß in Ungarn die rumänische Frage wieder so behandelt würde, wie Tisza es offenbar schon getan habe und nach seinen eigenen Erklärungen weiter zu tun beabsichtige. Bei dieser Gelegenheit hat S. M. dem Thronfolger den guten Eindruck geschildert, den er von Tisza empfangen hätte, und ihm nahe gelegt, diesem wirklichen Staatsmann sein Vertrauen zu schenken. Der Thronfolger hat zugesichert, dies in ernste Erwägung zu ziehen. Dann berührte der Erzherzog ganz spontan die innere Politik Oesterreichs und sagte mit einiger Erregung, die Slawen würden allzu herausfordernd und frech, er betrachte das für eine große Gefahr. Da ging S. M. auf diese heikle Frage ein und sagte dem Thronfolger ganz offen: seiner Ueberzeugung nach müsse die österreichische Politik germanisch orientiert werden; man solle doch die Opposition und Obstruktion der Tschechen benutzen, um ihnen einmal wirklich den Kopf zu waschen. Der Erzherzog hat darauf erwidert, daß das ganz seiner Ueberzeugung entspräche; die deutschen Politiker seien freilich größtenteils unsympathisch; er stehe auf dem Standpunkt, daß man diese wichtige Kernfrage nicht den jeweiligen Abgeordneten zu Liebe oder zu Leide regeln, sondern höheren Gesichtspunkten unterordnen müsse. Unter diesen Umständen verlief der Besuch in Miramar außerordentlich gut. S. M. besuchte von der vor dem Schloß vor Anker liegenden Flotte den Dreadnought Virivus unitis", der ihm und den anderen Herren der Marine einen sehr guten Eindruck gemacht hat. Der Thronfolger und die Frau Herzogin waren sichtlich bemüht, ihrem hohen Gast den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten. Der Abschied trug dementsprechend einen sehr herzlichen Charakter. Treutier. c) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r v o n T r e u t i e r v o m 14. J u n i 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e r r e d u n g e n i n K o n o p i s c h t („Deutsche Politik" vom 14. Mai 1920). S. M. der Kaiser und König haben am zweiten Tage des Aufenthalts in Konopischt, am 13. d. M., vor und nach dem Diner je eine politische Aussprache mit dem Erzherzog-Thronfolger gehabt.

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Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Konopiseht 1914)

Die erste Unterredung' ging- von dein kurz vorher eingetroffenen Athener Telegramm aus, nach dem die Streitigkeiten zwischen der Türkei und Griechenland einen ernsten Charakter anzunehmen drohen. Im Verlaufe dieser Gespräche wurde ich von S. M. gerufen; aUerhöchstdieselbe gab mir in Gegenwart des Erzherzogs ein Resumé über die bisher geführte Unterhaltung, welches ungefähr folgendermaßen lautete: „Ich habe dem Erzherzog den Inhalt des Athener Telegrammes mitgeteilt. Wir sind übereingekommen, daß angesichts der erfolgten Zuspitzung der Situation der König von Rumänien sondiert werden muß, wie er die Lage beurteilt und ob, bzw. mit welchen Mitteln er ver suchen wird, eine Tangierung der Abmachungen des Bukarester Friedens zu vermeiden und eventuell zu verhindern. Der Erzherzog gab lebhaft seine Zustimmung zu diesen Aeußerungen S. M. und warf die Frage auf, ob der König wohl geneigt sein werde, einzugreifen. Ich erwiderte, es sei wohl wahrscheinlich, daß der König Carol in dem von uns gewünschten Sinne tätig sein werde, da sein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Bukarester Friedens sich mit dem unserigen decke. Demgemäß wurde verabredet, daß S. M. dem Auswärtigen Amte eine entsprechende Instruktion zugehen lassen werde, während der Erzherzog den Grafen Berchtold zu ersuchen versprach, eine gleiche Demarche des österreichischen Gesandten in Bukarest anzuordnen. Zum Schluß konstatierten die beiden hohen Herren ihre übereinstimmende persönliche Ahneigung gegen den König von Bulgarien und S. M. erzählte, daß dieser einer ihm zugegangenen neueren Nachricht zufolge diese Abneigung kenne, sich aber ernstlich bemühen wolle, seine beiden Gegner zu gewinnen." Ueber das zweite Gespräch, das nach dem Diner unter vier Augen stattfand, erzählte mir S. M. am anderen Morgen das folgende: Der Erzherzog habe, von den aktuellen Fragen ausgehend, zuerst sich sehr mißbilligend über Italien ausgesprochen. Der Umstand, daß Italien einen Mann wie Aliotti nach Durazzo (Albanien) gesandt habe und dort halte, beweise seine mala fides. Auch die Ereignisse in Triest und ihr Echo in Italien zeigten, daß Italien es dem Bundesgenossen sehr schwer mache, in Frieden zu leben; auf die Dauer sei ein solches Verhältnis unmöglich. Dazu scheine es dem König von Italien an dem guten Willen zu fehlen, diese Zustände zu ändern. Er (der Kaiser) habe versucht, den Erzherzog zu beschwichtigen. Er habe besonders darauf iiingewiesen, daß in den Grenzländern wohl auf beiden Seiten durch die Unterorgane Fehler gemacht würden, die dann in weiteren Kreisen üble Folgen zeitigten. Was den König betreffe, so habe auch er jahrelang sich oft überwinden müssen und erst bei der letzten Zusammenkunft in Venedig habe sich ein wärmeres Verhältnis angebahnt. Augenscheinlich liabe der König viel gelernt, und die neuen durch den TripolisKrieg geschaffenen Verhältnisse hätten den Italienern, besonders auch gerade dem Monarchen, gezeigt, daß Frankreich der wahre Gegner sei, und dadurch eine allgemein richtigere Bewertung des Dreibundes hervorgerufen. S. M. hat sich im Hinblick auf das Zusammentreffen des Thronfolgers mit dem König bei unseren Manövern augenscheinlich sehr viel Mühe gegeben, das Mißtrauen des Thronfolgers zu zerstreuen. Das Gespräch ging dann auf Ungarn über, und hier soll der Thronfolger noch schroffer und mit ungemein deutlichen Ausdrücken seiner Abneigung Ausdruck gegeben haben. Er hat die ungarischen Zustände als völlig anachronistisch und mittelalterlich hingestellt: Ungarn sei der Tummelplatz des Kampfes einzelner Familien und die oligarchi6che Regierungsform bedeute geradezu eine Vergewaltigung aller nicht ungarischen Elemente, die weit mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Zahl der Magyaren sei immer falsch angegeben worden, in Wirklichkeit seien es vielleicht 2K Millionen. Wie der Mann an der Spitze heiße, sei meist Nebensache; jeder Ungar strebe mehr oder weniger offen danach, für Ungarn auf Kosten Oester-

Beleg Nr. i l (Wilhelm II. in Konopischt 1914)

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reiehs und zuungunsten der Gesamtmonarchie Vorteile zu erlangen. Er, der Erzherzog, wisse wohl, daß der Kaiser einen sehr guten Eindruck von Tissa gewonnen habe. Das sei aber vielleicht nicht ganz zu Recht geschehen, denn Tiszas Taten entsprächen nicht Tiszas Worten. In Wahrheit sei Tisza schon Diktator in Ungarn und strebe danach, auch in Wien als solcher aufzutreten. „Schon jetzt zittere Wien, wenn Tisza sich auf die Reise mache, und alles läge auf dem Bauch, wenn er in Wien aussteige." Dabei sei es besonders bedenklich, daß Tisza sich, offen dazu bekannt habe, er sähe die Selbständigkeit der ungarischen Armee als ein zu erstrebendes Ideal an. S. M. hat den Thronfolger unterbrochen, um ihm zu sagen, daß er selbstverständlich Tisza mißbillige, wenn er höre, daß er unbotmäßig sei und danach strebe, zuungunsten Oesterreichs das Schwergewicht der Monarchie zu verlegen. Er halte ihn aber für einen so kräftigen, seltenen Mann, daß er nur empfehlen könne, ihn nicht über Bord zu werfen, sondern ihn unter eiserner Paust zu halten und dann seine schätzenswerten Gaben auszunutzen. Ich habe den Eindruck, daß 3. M. bei dieser Gelegenheit mit Erfolg beabsichtigte, dem Erzherzog entgegenzukommen, ohne ihn durch zu rasches Aufgeben seiner bekannten guten Ansichten über Tisza mißtrauisch zu machen. Andererseits hat der Thronfolger von seinem Standpunkt aus offenbar sehr geschickt betont, daß gerade Tisza daran Schuld sei, wenn die Dreibundinteressen schlecht gewahrt würden, indem er es sei, der entgegengesetzt zu seinen Schönbrunner Versprechungen die ungarischen Rumänen drangsaliere. Der Erzherzog hat schließlich sogar S. M. gebeten, ob er nicht Tschirschky anweisen lassen könne, Tisza bei jeder Gelegenheit ins Gedächtnis zu rufen, er solle die notwendige Gewinnung der Rumänen durch angemessene Behandlung der in Ungarn lebenden Stammesbrüder nicht aus den Augen verlieren. S. M. hat das mit den Worten versprochen, er wolle Tschirschky auftragen, Tisza immer wieder zuzurufen: „Herr, gedenke der Rumänen." Damit war der Erzherzog sehr einverstanden. Zur Beleuchtung dieses Teiles der Unterhaltung darf ich vielleicht auch anführen, daß kurz vorher Oberst Bardolff mich auf Tisza angeredet und sehr vorsichtig der „in Konopischt bestehenden Befürchtung" Ausdruck gegeben hatte, wir hätten durch die jahrzehntelange Vertretung der Doppelmonarchie in Berlin durch ungarische Botschafter die Verhältnisse durch Ungarische Bri'len zu sehen gelernt. Ich wies ihn darauf hin, daß wir ja auch durch unsere eigenen Vertretungen informiert würden, man brauche lies nicht zu besorgen; ich wisse schon, daß lie Befürchtung daher käme, daß mein allergnädigster Herr sich offen und vorteilhaft über Tisza ausgesprochen habe. Dies liege aber viel einfacher, als man anzunehmen scheine. Tisza sei ein so tatkräftiger, energischer Mann, daß es ganz natürlich sei, wenn er einen starken Eindruck auf den Kaiser gemacht habe; im übrigen werde sieh S. M. sicher dem nicht entziehen, wenn der Erzherzog ihm die Gründe für eine gegenteilige Beurteilung mitteilen würde. Im Zusammenhang mit diesen Auslassungen des Erzherzogs und seines Vertrauensmannes war es von besondereem Interesse, daß Seine Kaiserliche Hoheit sich S. M. gegenüber dazu bekannte, er habe den Nachfolger Szôgyénys empfohlen und hoffe, Prinz Hohenlohe werde die besten Dienste leisten. Czernins Auftreten in Bukarest, besonders das bekannte Interview, tadelte Seine Kaiserliche Hoheit offen auf das schärfste, obgleich ja Czernin sein Protégé ist. Ueber Böhmen und die Mißerfolge des Fürsten Thun sprach der Erzherzog ebenfalls mit großer Offenheit und betonte erfreulicherweise die Notwendigkeit des Schutzes der Deutschen, die das „Ferment" bilden müßten. „Ein Ausgleich" könne nicht mehr von den Parteien erhofft, er müsse vielmehr von Wien aus oktroviert werden. IS

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Beleg Nr. lgr-17

Rußland ist nach des Erzherzogs Meinung' nicht zu fürchten; die inneren Schwierigkeiten seien zu groß, um diesem Lande eine agressive äußere Politik zu gestatten. Treutier. Nr. 12. General S. Dobrorolski (1914 Chef der Mobilmachungsabteilung des russischen Generalstabes) „Die Mobilmachung der russischen Armee 1914", deutsche Uebersetzung S. 14 (Verlag für Politik und Geschichte, Berlin 1922). Dobrorolski schreibt, daß die „Unvermeidlichkeit" einer wesentlichen Verstärkung der Streitkräfte schon seit längerer Zeit vorgesehen war, und daß nur verschiedene Umstände, darunter ständiger Wechsel der Generalstabschefs, das Projekt bis 1913 verschoben haben. Nr. 13. Am 15. Februar erschienen in „Heer und Politik" die ersten unzutreffenden Angaben über die deutsche Vorlage. Am 17. Februar kündigte der „Temps" drei militärische Gesetzentwürfe an mit dem Beifügen, daß da« Kriegsministerium für die dreijährige Dienstzeit sei. Iswolsky berichtete am 27. Februar darüber (sogen. „Russisches Blaubuch", S. 336—37). Am 10. März wurde der Gesetzentwurf über die dreijährige Dienstzeit an die französische Kammer verteilt, die deutsche Wehrvorlage wurde 18 Tage später, am 28. März, veröffentlicht. Nr. 14. Buat „L'Armée allemande pendant la Guerre de 1914 bis 1918". Buat war im Kriege Chef der 2. Abteilung des französischen Generalstabes und begleitete 1922 Briand als Sachverständiger zur Konferenz in Washington. Zahlenangaben Buats mit kritischen Bemerkungen siehe Parlamentär. Unters.-Aussch. 1. Unteraussch., Heft 2, S. 152 f. Nr. 15. Nach den Akten des früheren Preußischen Kriegsministeriums und nach den im „Journal Officiel" veröffentlichten Berichten an die französische Kammer während des Krieges war der Bestand bei Kriegsausbruch: Infanteriepatronen Feldartillerieschuß Deutschland 970 Millionen 5,2 Millionen Frankreich 1310 „ 5,68 Abschriften der Origuialberichte beim Parlamentarischen Untersuchungsausschuß. Nr. 16. Beachtung verdienen ferner noch folgende TatScachen: a) Am 14. Januar 1914 wurden die Mehlvorräte von Paris für den Fall der Verkehrssperre bei eintretender Mobilmachung erhöht. Der Militärgouverneur General Michel erklärte hierbei: „Die Zeit drängt. Dieses Jahr ist ein ganz besonderes Jahr. Wir wissen nicht, was es bringen wird. Wir wissen nicht, ob wir nicht die Mobilmachung im März oder April haben werden" („Deutsche Nation", Mai 1921, S. 361). b) Anfang Mai eröffnete Frankreich Verhandlungen wegen der Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln im Kriegsfalle, wobei angekündigt wurde, daß gegen Deutschland alsdann die Hungerblockade verhängt würde (Schoen S. 173). c) Deutschland führte noch im Juli 1914 für 67 Millionen Goldmark Getreide aus (von Schulze-Gaevernitz „England und Deutschland" S. 107). Nr. 17. Conrad III. S. 669—70. Siehe dazu auch „Weltbühne" vom 31. August 1922 „Die europäischen Generalstäbe vor dem Weltkrieg" und 12. Oktober 1922 „Diplomatie und Generalstab". — Nach der Unterredung vom 12. Mai haben sich die beiden Generalstabschefs vor Kriegsausbruch nicht mehr gesprochen, obwohl Moltke von Ende Juni bis Juli noch zu einer zweiten Kur in Karlsbad war. General von Conrad hat gegenteilige Behauptungen in einem an die „Zentralstelle

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Beleg Nr. 18 (Bericht Wiesner)

für Erforschung der Kriegsursachen" (Berlin) gerichteten Briefe als unwahr bezeichnet. Nr. 18. B e r i c h t d e s S e k t i o n s r a t s v o n Wiesner a n d a s k. u. k. M i n i s t e r i u m d e s A e u ß e r n . (Oesterreichisches Rotbuch 1919, I. Nr. 17.) Telegramm ohne Nummer. Serajewo, den 13. Juli 1914. „Daß hiesige großserbische Propaganda von Serbien aus — abgesehen von Presse — auch durch Vereine und sonstige Organisationen betrieben wird, und daß dies unter Förderung sowie mit Wissen und Billigung serbischer Regierung geschieht, ist hier Ueberzeugung aller maßgebenden Kreise. Das mir als Basis dieser Ueberzeugungen von Zivil- und Militärbehörden vorgelegte Material qualifiziert sieh wie folgt: Material aus Zeit vor Attentat bietet keine Anhaltspunkte für Förderung der Propaganda durch serbische Regierung. Dafür, daß diese Bewegung von Serbien aus, unter Duldung seitens serbischer Regierung, von Vereinen genährt wird, ist Material wenn auch dürftig, doch hinreichend. Untersuchung über Attentat Mitwissenschaft serbischer Regierung an der Leitung des Attentates oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen durch nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestehen vielmehr Anhaltspunkte, dies als a u s g e s c h l o s s e n anzusehen. Durch Aussagen Beschuldigter kaum anfechtbar festgestellt, daß Attentat in Belgrad beschlossen und unter Mitwirkung serbischen Staatsbeamten Ciganovic' und Major Tankosic' vorbereitet, von welchen beiden Bomben, Brownings, Munition und Zyankali beigestellt. Mitwirkung Pribicevic nicht festgestellt und beruhen die ersten Meldungen hierüber auf bedauerlichen Mißverständnissen erhebender Polizeiorgane. Ursprung Bomben aus serbischem Armeemagazin Kragujevac objektiv einwandfrei erwiesen, doch keine Anhaltspunkte dafür, daß erst jetzt ad hoc Magazinen entnommen, da Bomben aus Vorräten Komitadschis vom Kriege stammen können. Auf Grund Aussagen Beschuldigter kaum zweifelhaft, daß Princip, Cabrinovic, Grabez mit Bomben und Waffen auf Veranlassung Ciganovic von serbischen Organen geheimnisvoll über Grenze nach Bosnien geschmuggelt. Diese organisierten Transporte von Grenzhauptmännern Schabatz und Lozniea geleitet und von Finanzwachorganen durchgeführt. Wenn auch nicht festgestellt, ob diese Zweck der Reise kannten, mußten selbe doch geheimnisvolle Mission annehmen. Sonstige Erhebungen nach Attentat geben Einblick in Organisierung der Propaganda der „Narodna odbrana". Enthalten wertvolles verwertbares Material, das jedoch noch nicht nachgeprüft; schleunigste Erhebungen im Zuge. Falls bei meiner Abreise bestandene Absichten noch bestehen, könnten Forderungen erweitert werden: A. Unterdrückung Mitwirkung serbischer Regierungsorgane an Schmuggel von Personen und Gegenständen über Grenze. B. Entlassung serbischer Grenzhauptmänner Schabatz und Lozniea sowie beteiligter Finanzwachorgane. C. Strafverfahren gegen Ciganovic und Tankosic. Abreise heute abends, ankomme Wien Dienstag abends und begebe mich sofort ins Ministerium. Mündliche Ergänzung des Berichtes nötig." Von diesem Bericht ist von gegnerischer Seite 1919 in Versailles nur der vierte Absatz „Mitwissenschaft — anzusehen" verbreitet worden. 13»

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Beleg Nr. 19 and 20

Nr. 19. B r i e f d e s K r i e g s m i n i s t e r s von Falkenh a y n a n G e n e r a l o b e r s t v o n M o l t k e . (Original des Briefes im Reichsarchiv.) Eigenhändig und streng geheim. Berlin W. 66, den 5. 7. 1914. Sehr verehrte Exzellenz, Heute nachmittag beorderten mich Seine Majestät der Kaiser und König nach dem Neuen Palais, um mir mitzuteilen, daß OesterreichUngarn entschlossen scheine, die auf der Balkanhalbinsel gegen Oesterreich angezettelten Umtriebe nicht länger zu dulden und zu diesem Ende erforderlichenfalls zunächst in Serbien einzurücken; sollte Rußland dies nicht dulden wollen, so sei Oesterreich nicht gewillt nachzugeben. Seine Majestät glaubten diese Absicht au3 den Worten des österreichischen Botschafters entnehmen zu sollen, als dieser heute mittag ein Memorandum der Regierung zu Wien u n d ein Handschreiben des Kaisers Franz Joseph überreicht hatte. Dies Gespräch habe ich nicht mitangehört, kann mir also kein Urteil darüber erlauben. Dagegen haben Seine Majestät das Handschreiben wie das Memorandum vorgelesen, und aus ihnen habe ich, soweit es bei der Schnelligkeit des Vorganges möglich war, zu einer Ansicht darüber zu kommen, die Ueberzeugang von einem festen EntSchluß der Wiener Regierung nicht gewonnen. Beide schildern die allgemeine Lage der Doppelmonarchie infolge der panslawistischen Treibereien sehr düster. Beide halten es auch für nötig, daß schleunigst etwas dagegen geschieht. Von einem kriegerischen Austrag sprechen aber beide nicht, vielmehr deuten sie ,energische" politische Schritte z. B. den Abschluß eines Vertrages mit Bulgarien an, f ü r die sie sich die Unterstützung des deutschen Reiches sichern wollen. Diese Unterstützung soll mit einem Hinweis darauf zugesagt werden, d a ß es in allererster Linie Sache Oesterreich-Ungarns sein würde, die in seinem Interesse erforderlichen Schritte zu tun. Der Herr Reichskanzler, der auch in Potsdam war, scheint ebensowenig wie ich d a r a n zu glauben, daß es der österreichischen Regierung mit ihrer immerhin gegen früher entschiedeneren Sprache Ernst ist. Wenigstens hat er nicht nur keine Bedenken gegen den Antritt der Nordlandsreise erhoben, sondern ihn sogar empfohlen. Sicherlich wenden in keinem Fall die nächsten Wochen eine Entscheidung bringen. Ehe der Vertrag mit Bulgarien geschlossen sein wird, vergeht lange Zeit. Euerer Exzellenz Badeaufenthalt wird also kaum eine Abkürzung zu erfahren brauchen. Immerhin hielt ich es, obwold ich keinen Auft r a g dazu habe, f ü r angezeigt, Sie über die Zuspitzung der Lage zu unterrichten, damit Ueberraschungen, die schließlich immer einmal eintreten könnten, nicht ganz unvorbereitet kommen. Indem ich meinen aufrichtigen Wünschen für den Erfolg der Kur Ausdruck zu geben mir gestatte, bin ich in alter verehrungsvoller Anhänglichkeit und vorzüglicher Hochachtung wie stets Euer Exzellenz völlig ergebener gez. v. Falkenhayn. Kr. 5?0. Englische Pressestimmen zum österreichischen Ultimatum nach Frobeiiius „Schwertschrift" Heft 3 S. 27. Diu „Westminster Gazette", das Organ des Premierministers Aoiiuith, schriet). „Man h a t viel von Rußlands Haltung in dieser Frage gesprochen, aber wenn die in der Note enthaltenen Anschuldigungen substantiiert werden können, so glauben wir nicht, daß die russische Regierung sehr erheblichen Einspruch dagegen erheben dürfte, daß Serbien genötigt wird, Oesterreich-Ungarn Genugtuung zu geben." DL-V Lloyd George nahe stehende „Daily Chronicle" äußerte sich wie folgt: „Die österreichische Note ist ernst, aber kaum ernster als die begründete Selbstverteidigung der Doppeimonarchie es erfordert . . .

Beleg Nr. 20 and 21

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Oesterreich kann etwas derartiges (wie die serbische Agitation) von einem Nachbarstaate nicht dulden, ohne seine Würde und Existenz zu gefährden . . . . Serbien hat eine schlechte Sache, und Rußland, noch viel weniger die anderen Mächte der Tripleentente kann seinen Standpunkt vertreten. Rußland täte am besten, Serbien zum Nachgeben zu raten., während es über Oesterreichs Verpflichtungen wachte, das Laad nicht" zu annektieren." „Daily News" urteilte: „Oesterreichs Forderungen enthalten nichts, was wirklich unerträglich wäre. Seine Entrüstung sei natürlich und nicht ungerecht, und Serbien täte am besten, sich prompt zu unterwerfen." Die konservative Wochenschrift „Observer" meinte: „Wir hoffen, daß die öffentliche Meinung Englands sich schwer entschließen wird, die harte Entschlossenheit der österreichischen Politik zu verdammen. Wir hoffen, daß niemand einen Finger und eine Stimme erheben wird, um Serbien in seiner Halsstarrigkeit zu bestärken oder es vor dem gebührenden Maße unmittelbarer Züchtigung zu bewahren. Das Ultimatum mag selbst auf die Gefahr einer russischen Intervention und eines europäischen Krieges erzwungen werden. . . . Wir müssen Rußland helfen, Garantien gegen die Vernichtung der Unabhängigkeit Serbiens zu erhalten, ohne den schuldigen Staat vor einer ausreichenden Bestrafung zu bewahren." Besonderes Mißgeschick hatte die Wochenschrift „John Bull", die am 5. August nach der Kriegserklärung Englands an Deutschland ein Gedicht brachte mit der Ueberschrift: „Zur Hölle mit Serbien". Der Herausgeber Bottomley wurde dann einer der wildesten Kriegshetzer. Nr. 21. Die Kriegsminister Preußens und Bayerns, die stellvertretenden Chefs des General- und Admiralstabes haben auf das bestimmteste erklärt, daß in der Zeit vom 5.—23. Juli keine militärischen Rüstungen stattgefunden haben („Untersuchungsausschuß" H. 1 S. 63, 64, 65, 71). Wenn Oberquartiermeister Graf Waldersee am 17. Juli schreibt „Wir sind im Generalstab fertig" — D 74, so heißt das nichts anderes, als daß die pflichtmäßig vom Heere jederzeit zu fordernde Bereitschaft vorhanden ist. Die regelmäßigen alljährlichen Mol ilmachungsvorarbeiten waren wie stets so auch 1914 am 31. März abgeschlossen, seitdem nichts veranlaßt worden. Die falschen Anschuldigungen des französischen Gelbbuches über frühzeitige militärische Vorbereitungen in Deutschland sind schon sämtlich von der deutschen Viererkommission in Versailles aktenmäßig widerlegt worden. („Deutschland schuldig?" S. 69—71.) Zu der unrichtigen Meldung des französischen Botschafters vom 21. Juli — F 15, es sei ilrm „versichert" worden, daß die vorläufigen Benachrichtigungen zur Mobilmachung an die in Betracht kommenden Klassen verteilt worden seien, ist inzwischen bekannt geworden, daß es sich um ein „Gerücht" handelte, das der französische Marine attache von seinem englischen Kollegen erfahren, und das noch keiner von beiden nachgeprüft hatte. (Telegramm Bronewski vom 22. Juli 1914 — „Rotes Archiv" T. S. 164.) Es ist unfaßlich, wie der französische Botschafter, falls sein Telegramm richtig wiedergegeben ist, eine so unsichere Nachricht in so bestimmte Form kleiden konnte. Der Widersinn einer Einberufung von Reservisten am 21. Juli erhellt auch aus der Tatsache, daß Tags darauf, wie im Text mitgeteilt, Reservisten entlassen worden sind. Die in D 37 enthaltene Nachricht, daß Oesterreich seine Garnisonen an der serbischen und russischen Grenze unauffällig verstärke, wird von keiner Seite bestätigt. Sie beruht vermutlich darauf, daß die Trappen in Bosnien und der Herzegowina für die Ende Juni stattfindenden Manöver auf einen etwas erhöhten Stand gebracht worden •waren {Militärbericht Wien vom 28. Juli Nr. 45).

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Beleg Nr. 22 und 23

Nr. 22. Der Abdruck des Protokolls der Sitzung: des Preußischen Staatsministeruims vom 30. Juli in D 456 enthält, wie im Sommer 1922 durch Vergleich mit dem im Preußischen Staatsministerium des Innern befindlichen Original festgestellt wurde, einen, sinnstörenden Druckfehler, der hiermit im. Einverständnis mit den beiden anderen Herausgebern der Dokumente, Herrn Karl Kautsky und Professor Walter Schücking, berichtigt wird. Bethmann hat nicht als eigene Ansicht geäußert, daß „die russischen Mobilisierungsmaßnahmen mit dem westeuropäischen nicht zu vergleichen." seien. Auf S. 177 ZI. 1 v. o. ist nämlich das Wort „sei" zu streichen und dafür die im Nachstehenden gesperrt gedruckten Worte einzusehalten, sodaß der ganze Satz lautet: „Die Mobilisierung Rußlands h a b e d i e s e S c h r i t t e kontra k a r r i e r t , B u ß l a n d h a b e zwar erklärt, seine Mobilisierungamaßnahinen seien mit den westeuropäischen nicht zu vergleichen". Der Ministerrat tagte wahrscheinlich um die Mittagszeit, nicht erst am Abend des 30. Juli, da die in der Sitzung genehmigte „Sicherung" für die Marine noch an demselben Tage angeordnet wurde („Deutschland schuldig?" S. 75). Andererseits darf die Sitzung deswegen, weil der Kanzler nur je ein Telegramm des Kaisers und des Zaren ausführlich mitteilte, nicht auf den 29. verlegt werden; denn auf S. 177 Schluß von Abs. 2 ist ausdrücklich gesagt, daß wahrscheinlich „heute" die Entscheidung in. Wien über die deutschen und englischen Vorschläge fallen werde, was nicht vor dem 30. erwartet werden konnte. Nr. 23. T e l e g r a m m S v e r b e j e w s ü b e r s e i n e U n t e r r e d u n g m i t J a g o w a m N a c h m i t t a g d e s 3 0. J u l i ü b e r (..Rotes Archiv" I. die erste Sasonows''sehe Formel. S. 183). „Da ich bis zum gegebenen Zeitpunkt das Telegramm unter Nr. 2 mit Ihrem Vorschlag nicht erhalten habe, habe ich mich entschlossen, mich an den Minister des Aeußeren zu wenden, um von dem Eindruck, den Ihr Vorschlag auf Grund der Mitteilungen von Pourtalfes auf ihn gemacht hat, zu erfahren. Der deutsche Botschafter resümiert Ihren Vorschlag folgendermaßen: „Oesterreich anerkennt, daß sein Konflikt mit Serbien die allgemeinen europäischen Interessen berührt, und drückt seine Bereitwilligkeit aus, diejenigen Punkte, welche die Suveränitätsrechte Serbiens schädigen, aius seinem Ultimatum auszuschließen. In diesem Falle verpflichtet sich Rußland, die militärischen Vorbereitungen einzustellen." Der Minister des Aeußeren hält den Vorschlag für Oesterreich für unannehmbar, da er für Oesterreich erniedrigend wäre und nicht zu günstigen Resultaten führen würde; er fügte hinzu, daß im Zusammenhang mit dem Empfang der Nachricht über unsere Mobilisation gegen Oesterreich sich die Lage verschlimmert hat, und die Verhandlungen sich immer schwieriger und schwieriger gestalten. Ungeachtet dessen setzte der Minister des Aeußeren hinzu, daß Szäpäry beauftragt sei, die Verhandlungen mit Ew. Exzellenz weiter zu führen, und daß überdies ein neuer Vorschlag Grey's vorliege, der höchst wahrscheinlich schon in Petersburg bekannt sei. Es muß bemerkt werden, daß naefc der Beschießung von Belgrad die nach serbischen Mitteilungen äußerst gewesen sein soll, Oesterreich, meines Erachtens, mehr Nachgiebigkeit zeigen könnte." Im Orangebuch (Nr. 63) war das Telegramm wiedergegeben wie folgt: „Ich erhielt Ihr Telegramm vom 16./29. Juli und übermittelte den Text Ihres Vorschlags dem Staatssekretär des Aeußeren, bei dem ich soeben war. Er sagte mir, daß er ein gleiches Telegramm vom deutschen Botschafter aus S t Petersburg erhalten habe und teilte mir dann mit, daß er unseren Vorschlag für unannehmbar für Oesterreich halte."

Beleg Nr. 24 und 35

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Nr. 24. Auf den österreichischen Entschluß hat übrigens die Mahnung Moltkes schwerlich einen Einfluß ausgeübt. Tschirchky vermerkt schon beim Ausrichten der letzten Aufträge (etwa um Mittag des 30. — D 385 und 396), daß der österreichische Entschluß zur Mobilmachung gefaßt ist, und daß Conrad am Abend beim Kaiser den Antrag dazu stellen wird (Untersuchungssauschuß Heft 1 S. 98 und 99). Die Meldung über das Gespräch Moltkes mit dem österreichischen Militärattache ist zudem in Wien zu einer Stunde eingetroffen (nach 10 Uhr abends — Oe III. 34), zu der Kaiser Franz Josef bekanntlich Vorträge nicht mehr entgegenzunehemen gewohnt war. Wegen der Maßnahmen in Deutschland siehe Untersuchungsausschuß, Heft 2, S. 9, 13, 72 f. und „Deutschland schuldig?" Anl. H und HI S. 73 ff. deutNr. 25. B e s t i m m u n g e n d e s 1 9 1 4 g ü l t i g e n schen Mobilmachungsplanes über „Zustand drohender K r i e g s g e f a h r " . Nach dem Mobilmachungisplan für das deutsche Heer S. 45 § 20, B waren bei drohender Kriegsgefahr folgende Maßnahmen zu treffen: a) Schutz der wichtigsten Eisenbahn-Kunstbauten in allen Korpsbezirken, b) Bekanntgabe des „Merkblattes an die Presse", das in kurzer Uebersicht die militärischen Maßnahmen und Tätigkeiten enthielt,deren Veröffentlichung zu vermeiden war, c) die Erklärung des Kriegszustandes und das Verbot der Veröffentlichungen über Truppenbewegungen und Verteidigungemittel, I) Zurückberufung der auf Urlaub befindlichen Personen des aktiven Dienststandes bei allen Armeekorps, e) Zurückberufung der aus den Standorten abwesenden Truppen bei allen Armeekorps, f) Regelung des Verkehrs nach der Vorschrift in Anlage J des Mobilmachungsplanes (Betrifft Einstellung des Privat-Güterverkehrs in den Grenzgebieten. Ueberwachung des Postverkehrs nach dem Auslande), g) Ausführungen der vorgesehenen Grenzschutzmaßnahmen, h) Ueberftthrung der für den Schutz der Nordsee-Inseln bestimmten aktiven Truppen, des Artillerie-Gerätes, der Munition und des Verpflegungsbedarfs nach den Inseln. In d e n G r e n z b e z i r k e n a u ß e r d e m : a) Deckung der Eisenbahn, Sicherung großer Brücken und wichtiger Eisenbahnknotenpunkte, der Luftschiffhallen und Luftschiffwerften' und der für das Luftfahrwesen und den Funkenverkehr wichtigen Anlagen gegen Zerstörungsversuche — auch aus feindlichen Luftfahrzeugen; b) Rückführung der transportfähigen Kranken, deren Wiederherstellung nicht in wenigen Wochen zu erwarten ist, aus den Grenzgarnisonen in weiter rückwärts gelegene Garnisonen. Erfolgte vor ausgesprochener Mobilmachung ein feindlicher Einfall oder war zu erkennen, daß ein solcher unmittelbar bevorstand, so hatte der Kommandierende General alle Maßnahmen zu treffen, die nötig waren, um die Gestellung aller dienstpflichtigen Mannschaften und für tauglich befundenen Militärpflichtigen, sowie aller brauchbaren Pferde aus den bedrohten Bezirken nach rückwärtigen Orten herbeizuführen und zu sichern. Auch hatte er dafür zu sorgen, daß die Hilfsmittel des eigenen Landes nach Möglichkeit dem Feinde entzogen wurden, so vor allem die in Magazinen niedergelegten Verpflegungsbestände, die staatlichen Kassen, die Betriebsstoffe für Kraftfahrzeuge. Nötigenfalls waren Vorkehrungen für ihre Vernichtung zu treffen. Die Räu-

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Beleg Nr. 26 und 27

mung bedrohter Bahnstrecken ver&nlaßte er durch Vermittlung der Militär-Eisenbahin-Behörde und unterstützte sie auf Anfordern tatkräftig. Nr. 26. Die Weisung an den Botschafter in Paris enthielt folgenden Zusatz: „Geheim. Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Ew. Exz. französischer Regierung erklären, daß wir als Pfand für Neutralität Ueberlassung Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Rußland zurückgeben würden. Antwort auf letztere Frage müßte bis morgen nachmittag 4 Uhr hier sein". Diese Forderung ging von der durch die Ereignisse als richtig erwiesenen Voraussetzung aus, daß Frankreich in einem deutsch-russischen Kriege nicht neutral bleiben und selbst im Falle einer anfänglich neutralen Haltung diese nicht d a u e r n d beibehalten, sondern zu militärisch günstigem Zeitpunkt zum Angriff gegen die entblößte deutsche Westfront schreiten würde. Wenn die Möglichkeit einer d a u e r n d e n Neutralität Frankreichs bestanden hätte, würde es natürlich angezeigt gewesen sein, nicht Garantien zu fordern, sondern Kompensationen anzubieten. Daß Deutschland sich auch mit jeder anderen verlässigen Bürgschaft für eine neutrale französische Haltung zufrieden gegeben hätte, beweist das rasche Eingehen auf das Angebot Englands am Abend des 1. August, das von Frankreich abgelehnt und dann von englischer Seite als ein Mißverständnis bezeichnet wurde (S. 155). In Berlin konnte man nach den am 29. Juli von Grey gemachten drohenden Eröffnungen nicht von vorneherein mit einem solchen Angebot Englands rechnen. Im übrigen hat dieser geheime Zusatz keinerlei Einfluß auf die Entwicklung der Dinge ausgeübt, da sich kein Anlaß bot, ihn in Paris mitzuteilen. Er ist erst im vierten Kriegs jähre durch das schwarze Kabinett entziffert und dann als gewaltiges Agitationsmittel gegen Deutschland verwertet worden. Nr. 27. Die 56 Grenzverletzungen der Franzosen auf dem Landwege sind in der „Deutschen. Allgemeinen Zeitung" vom 25. Juni 1919 Nr. 297 nach Stärke der Abteilungen, Ort und Zeit genau angegeben. Dieser Zusammenstellung liegen Meldungen zugrunde, deren Originale sich im Reichsarchiv zu Potsdam befinden, und von denen hier einige Beispiele folgen: Altmtinsterol, 2. August, 10,30 vorm. —• etwa 40 Schützen •— Zusammenstellung des Generalstabes Nr. 138, 139, 160 — Meldung des Infanterieregimentes 58, I. Bataillon, Kriegstagebuch Blatt 6 vom 2. 8. 14 •— 21. Armeekorps, Kriegstagebuch Anlage 14. Schluchtpaß und Umgegend — 1. August 8 0 und 11,30 abends — Abteilungen verschiedener Stärke — Zusammenstellung des Generalstabes Nr. 44, 45, 47, 58, 59, 63, 227 — Meldungen der 4. Eskadron des Dragonerregimentes 14, Kriegstagebuch I, der 39. Infanteriedivision und des Stellvertretenden Generalkommandos 15. Armeekorps, Abteil. Ia Nr. 2660. An Verlusten werden angegeben auf deutscher Seite zwei Dragoner der 5. Eskadron des Dragonerregiments 22 gefallen, auf französischer Seite ein Offizier gefangen, zwei Mann tot. Nr. 28. A r t i k e l 7 d e s D r e i b u n d v e r t r a g s . Da OesteTreich-Ungarn und Italien nur die möglichste Aufrechterhaltung des territorialen status quo im Orient im Auge haben, verpflichten sie sich, Ihren Einfluß zu benützen, um jede territoriale Aenderung zu verhindern, die der einen oder anderen der den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnenden Mächte Schaden bringen würde. Sie werden sich zu diesem Behufe alle Nachrichten mitteilen, die geeignet sind, sich gegenseitig über Ihre eigenen Absichten wie über die

Beleg Nr. 28

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anderer Mächte aufzuklären. In dem Falle jedoch, daß infolge der Ereignisse die Aufrechterhaltung des status quo in den Gregerden des Balkans oder der ottomanischen Küsten und Inseln im Adriatischen und im Aegäischen Meer unmöglich würde, und daß, sei es infolge des Vorgehens einer dritten Macht, sei es auf andere Weise, OesterreichUngarn oder Italien sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte, durch eine zeitweilige oder dauernde Besitznahme Ihrerseits diesen status zu ändern, so soll diese Besitznahme erst nach einem vorhergehenden Uebereinkommen zwischen den beiden Mächten stattfinden; dieses Uebereinkommen soll auf dem Grundsaz einer gegenseitigen Kompensation für jeden territorialen oder sonstigen Vorteil beruhen, den jede Macht über den gegenwärtigen status quo hinaus erhalten würde, und soll den Interesen und wohlbegründeten Ansprüchen beider Parteien Genüge leisten.

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VI. Teil.

Anlagen. Anlage 1. Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen. Berlin. W i l h e l m II., Deutscher Kaiser, König' von Preußen. B e t h m a n n H o l l w e g , Dr. Th. von, Reichskanzler, Preußischer Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen. J a g o w , Gottlieb von, Staatssekretär des Auswärtigen. Z i m m e r m a n n , Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt. S t u m m , Wilhelm von, Dirigent der politischen Abteilung des Auswärtigen Amts. M o 11 k e , von, Chef des Generalstabs der Armee. B e r i r a b , von, Oberquartiermeister im Großen Generalstab und Chef der Landesaufnahme. W a l d e r s e e , Graf von, Oberquartiermeister I im Großen Generalstab. F a l k e n h a y n , von, Preußischer Kriegsminister. T i r p i t z , von, Staatssekretär des Reichsmarineamts. C a p e l l e , von, Unterstaatssekretär im Reichsmarineamt, Stellvertreter des beurlaubten Staatssekretärs. P o h l , von, Chef des Admiralstabs. B e h n c k e , Paul, Abteilungschef im Admiralstab, Stellvertreter des beurlaubten Chefs des Admiralstabs. S z ö g y e n y - M a r i c h , L. Graf von, österreichisch-ungarischer Botschafter. G o s c h e n , Sir E., englischer Botschafter. C a m b o n , Jules, französischer Botschafter. S w e r b e j e w , S. N., russischer Botschafter. T a t i s c h t s c h e w . von, russischer Militärbevollmächtigter. B o 11 a t i , R., italienischer Botschafter. J o w a n o w i t s c h , Dr. M., serbischer Geschäftsträger. B e y e n s , Baron, belgischer Gesandter. L e r c h e n f e l d , Graf Hugo von, bayerischer Gesandter. S c h o e n , Hans von, bayerischer Legationsrat. Wien. F r a n z J o s e p h L, Kaiser von Oesterreich, König von Böhmen etc., Apostolischer König von Ungarn. B e r c h t o l d , Leopold Graf von, Minister des k. u. k. Hauses und des Aeußern, Vorsitzender des k. u. k. Ministerrats. M a c e h i o , Freiherr K. von, 1. Sektionschef im k. u. k. Min. des Aeußern-

203 F o r g ä c h , Dr. J. Graf von, Sektionschef im k. u. k. Min. des Aeußern. H o y o s , Alexander Gràf von, Legationsrat und Kabinettschef des k. IL k. Ministers. W i e s n e r , von, Sektionsrat im k. u. k. Ministerium des Aeußern. T i s z &, Graf von, ungarischer Ministerpräsident. C o n r a d von Hötzendorf, Freiherr, Generalstabschef des k. u. k. Heeres. T c h i r s c h k y , Heinrich von, und B ö g e n d o r f , deutscher Botschafter. K a g e n e c k , Graf von, Militärattache an der deutschen Botschaft. D u m a i n e , A. Chilhaud, französischer Botschafter. B u n s e n , Sir M. de, englischer Botschafter. S c h e b e k o , von, ruesischer Botschafter. A v a n a , Herzog von, italienischer Botschafter. London. G e o r g V., König von Großbritannien und Irland. A s q u i t h , H. H., Ministerpräsident. G r e y , Sir E., Staatssekretär des Aeußeren. L i c h n o w s k y , Karl Max Fürst, deutscher Botschafter. M e n s d o r f f -Pouilly-, Dietrichstem, A. Graf von, österreichischungarischer Botschafter. C a m b o n , Paid, französischer Botschafter. B e n c k e n d o r f f , A. GTaf von, russischer Botschafter. E 1 1 e r , N. v., russischer Botschaftsrat. Paris. P o i n c a r é , Raymond, Präsident der Republik. V i v i a n i , René, Ministerpräsident und Minister des Aeußern. F e r r y , Unterstaatssekretär im Ministerium des Aeußern. M a r g e r i e , J. de, Kabinettschef des Ministers des Aeußern, Direktor der politischen Abteilung. B e r t h e l o t , stellvertretender politischer Direktor des Ministeriums des Aeußern. B i e n v e n u - M a r t i n , Justizminister und (vom 16.r—89. Juli) stellvertretender Ministerpräsident und Minister des Aeußern. M e 8 8 i n i y , Kriegsminister. J o f f r e , Chef des Generalstabs und Generalissimus im Kriegsfalle. S c h o e n , W. Freiherr vpn, deutscher Botschafter. S z é c s e n , N. Graf von Temerin-, österreichisch-ungarischer schafter. B e r t i e , Sir Fr. L., englischer Botschafter. I s w o l s k y , A. P., russischer Botschafter. S e w a s t o p u l o , E., russischer Botschaftsrat.

Bot-

P e t e r s b u r g. N i k o l a u s II., Kaiser von Rußland. S a s o n o w , S. D., Minister des Aeußern. S u c h o m l i n o w , W. A., Kriegsminister. J a n u s c h k j e w i t s c h , Chef des Generalstabs. D o b r o r o l s k i , S., Chef der Mobilmachungsabteüung des Generalstabs.

204 P o u r t a l e s , Friedrich Graf von, deutscher Botsehafter. C h e 1 i u s , von, deutscher Militärbevollmächtigter am russischen Hofe. E g g e l i n g , von, Militärattache bei der deutschen Botschaft. S z ä p ä r y , Graf von, österreichisch-ungarischer Botschafter. B u c h a n a n , Sir G., englischer Botschafter. P a l e o l o g u e , Maurice, französischer Botschafter. L a g u i c h e , Marquis de, Militärattache bei der französischen Botschaft.

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Anlage 2. Verzeichnis der öfter angeführten Quellen nebst abgekürzten Bezeichnungen. Abgekflrzte Bezeichnung

Genauer Titel des Budies

Ministère des Affaires Etrangères „Documents „Affaires Balkaniques" Diplomatiques" — „Les Affaires Balkaniques 1913—1914", 3 Bände. Belgische Aktenstücke 1905—1914. Berichte Belgische Aktenstücke der belgischen "Vertreter in Berlin, London und Paris an den Minister des Aeußern in Brüssel. Herausgegeben vom Auswärtigen Amt. Neudruck 1917. Bericht an den franzö- „Rapport de la Commission d'Enquête sur sischen Senat les Faits de la Guerre." Nr. 704. Sénat Année 1919. Bethmann Hollweg Th. v. Bethmann Hollweg „Betrachtungen zum Weltkriege", 2 Bände. Boghitsche witsch Dr. M. Boghitschewitsch (ehemaliger serbischer Geschäftsträger in Berlin) „Kriegsursachen". FeLdmarschall (Freiherr) Conrad (von HötzenConrad dorf) „Aus meiner Dienstzeit". 3 Bände. Sir J. Corbett "History of the Great War, Corbett. based on Officiai Documents" (Britisches Admiralstabswerk). D „Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" (Weißbuch vom Dezember 1919). Gemeinsam mit Karl Kautsky herausgegeben von Graf Max Montgelas u. Prof. Walter Schücking. Demartial G. Demartial "Comment on mobilisa les Consciences". Deutschland schuldig? Deutsches Weißbuch voon Juni 1919 „Deutschland schuldig?" Dobrorolski General Sergei Dobrorolski (1914 Oberst und Chef der Mobilmachungsabteilung des russischen Generalstabs) „Die Mobilmachung der russischen Armee 1914", Deutsche Ausgabe. Englisches Blaubuch über die Krise 1914. E „Zur Europäischen Politik 1897—1914". Herunter Leitung von Bernhard Zur Europäischen Politik ausgegeben Sehwertfeger. 5 Bände. Französisches Gelbbuch über die Krise 1914. Heinrich Friedjung „Das Zeitalter des ImF perialismus 1884—1914", H. u. HI. Band. Friedjung Otto Fürst von Bismarck „Gedanken und ErGedanken und Erinneinnerungen", 3 Bände. rungen Dr. Roderich Gooss „Das Wiener Kabinelt Gooas und die Entstehung des Weltkrieges".

206 „Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914", Sammlung der Akten des Deutschen Auswärtigen Amts. Viscount Haidane "Before the War". Haidane "Hansard's Parliamentary Debates''. OffiziHansard eller Bericht der Reden im englischen Parlament. „Livre Noir" „Un Livre Noir. Diplomatie d'Avant-Guerre d'après les Documents des Archives Russes" I. und H. Band. Messimy Erinnerungen des französischen Kriegsministers vom Juli 1914 in der „Revue de France" vom 1. August 1921. Moltke Generaloberst Helmiith von Moltke „Erinnerungen—Briefe—Dokumente". Oesterreichisches Rotbuch 1919 „Diplomatische Oe Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges 1914". 3 Bde. Oman C. Oman (Professor an der Universität Oxford) "The Outbreak of the War of 1914-1918". Erinnerungen Paléologues in der „Revue des Paléologue deux Mondes" vom 15. Januar 1921. Seeths Vorträge Poincarés in der „Revue de Poincaré la Semaine" vom 11., 18. und 25. Februar u.id 4., 11. und 18. März 1921. Professor M. Pokrowski (Vorstand des Archivs Pokrowski der Sowjetregierung) „Drei Konferenzen". Dr. A. Fr. Pribram „Die politischen GeheimPriljiam verträge Oesterreich - Ungarns 1879—1914". I. Bd. R Russisches Onangebuch über die Krise 1914. Schriftliche Mitteilungen des Reichsarchivs in Reichsarchiv Potsdam. Freiherr G. vom Romberg „Die Fälschungen Romberg des russischen Orangebuches. Der wahre Telegrammwechsel Paris-Petersburg bei Kriegsausbruch". „Rotes Archiv" Russische Aktensammlung „Krassni Archiv" I. Band. „Russisches Blau buch" „Materialien zur Geschichte der französisdhrussischen Beziehungen 1910—1914". Sammlung geheimer diplomatischer Aktenstücke. Russische Ausgabe. Moskau 1922. Freiherr von Schoen (vormaliger deutscher Schoen Staatssekretär und Botschafter) „Erlebtes". B. von Siebert (bis zum Kriegsausbruch SekreSiebert tär der russischen Botschaft in London) „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der Ententepolitik der Vorkriegsjahre". Alfred von Tirpitz „Erinnerungen" Neue AufTirpitz lage 1920. Untersuchungsausschuß Veröffentlichungen des 1. Unterausschusses des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Heft 1 und 2. Die Seitenzahlen bei Heft 2 sind in den verschiedenen Ausgaben abweichend numeriert. „Große Politik"

207

Nachtrage. 1.

E r l a ß des r u s s i s c h e n A u ß e n m i n i s t e r s I s w o l s k y ü b e r d i e Z u s a m m e n k u n f t in R e v a l im J u n i 1908. Bei der Zusammenkunft in Reval hat der britische Unterstaatssekretär Sir Charles Harlinge Rußland als den „Schiedsrichter der Lage" in den Jahren 1915—16 bezeichnet und den Wunsch der englischen Regierung zum Ausdruck gebracht, daß Rußland aus diesem Grunde „zu Wasser und zu Lande möglichst stark" werde. Wegen der Wichtigkeit dieser Besprechungen wird in Ergänzung des auf Seite 17 (II. Abschnitt 3. Kapitel) Gesagten der Erlaß Iswolskys über die Zusammenkunft angefügt (Siebert S. 777—79): „Der allgemeine Eindruck, den diese Zusammenkunft hinterlassen hat, ist in politischer Hinsicht ein äußerst günstiger; König Eduard hat seine Genugtuung offen zum Ausdruck gebracht und erblickt in der Zusammenkunft eine Bestätigung und Befestigung des zwischen Rußland und England erzielten Uebereinkommens täowie ein Pfand für die weitere Solidarität der beiden Regierungen. Mit besonderer Genugtuung betonte Seine Majestät die glückliche Wendung in unserer inneren Politik und die Zustimmung, die die Tätigkeit des Staatssekretärs Stolypin in ernsten Kreisen Englands findet Die verschiedenen Erklärungen Hardinges zusammenfassend, muß ich vor allem betonen, daß seinerseits kein Versuch gemacht worden ist, den Boden konkreter Abmachungen, sowohl der schon bestehenden, als der in Aussicht genommenen zu verlassen und uns in allgemeine poli tische Kombinationen zu ziehen. Sir Charles bestätigte, daß das Londoner Kabinett unsere Ansicht durchaus teile, daß die Entrevue in Reval den anderen Staaten keinerlei Beunruhigung einzuflößen brauche; was speziell Deutschland anbelangt, so wünscht die englische Regierung aufrichtig, die allerbesten Beziehungen zu ihm zu unterhalten, und glaubt nicht, daß in allernächster Zukunft diese Beziehungen sich aus irgendeinem Grunde verschärfen werden. „Trotzdem", sagte mir Sir Charles Hardinge, „kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur See fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst beunruhigende und gespannte Lage entstehen kann; dann wird zweifelsohne Rußland der Schiedsrichter der Lage sein; und aus diesem Grunde wünschen wir im Interesse des Friedens und der Erhaltung des Gleichgewichts, daß Rußland zu Lande und zu Wasser möglichst stark ist." Diesen Gedanken hat Sir Charles mehrere Male wiederholt, wobei er augenscheinlich zu verstehen geben wollte, daß er nicht seine persönliche Meinung, sondern die bestimmte politische Ueberzeugung des Londoner Kabinetts zum Ausdruck bringt. Zu den einzelnen Rußland und England interessierenden Fragen übergehend, sprach Sir Charles in warmen Ausdrücken von dem glücklichen Resultat der im vorigen Jahre unterzeichneten Uebereinkommen, dank denen keine einzige in letzter Zeit zwischen Rußland und England entstandene Frage einen gefährlichen oder akuten Charakter angenommen habe. Seinen Worten zufolge hat nur dank der Konvention und der absoluten Loyalität, mit der Rußland seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, der Zwischenfall an der afghanischen Grenze nicht

208 zum Einrücken der indischen Truppen in Afghanistan geführt; das Londoner Kabinett schätzt unsere Haltung um so mehr, als von rein formaler Seite betrachtet die Konvention über Afghanistan, welche bis jetzt vom Emir nicht anerkannt wurde, noch nicht in Kraft getreten ist; die Handlungsweise Rußlands hat der englischen Zentralregierung die Möglichkeit gegeben, den Eifer der angloindischen Behörden zu dämpfen; jetzt ist das Londoner Kabinett ganz sicher, daß die Ereignisse an der afghanischen Grenze nicht zum Einrücken in Afghanistan führen werden. In einigen "Wlochen hofft er das formale Einverständnis des Emirs zu erhalten und uns mitteilen zu können. Was Persien anbelangt, so hat mir Sir Charles noch einmal wiederholt, d a ß seine Regierung fest entschlossen sei, in völligem Einvernehmen mit uns zu handeln. Unser Grenzzwischenfall flößt dem Londoner Kabinett keinerlei Beunruhigung ein, und es erkennt vollkommen die Zweckmäßigkeit unserer Handlungen an. Besonders sorgsam ist die Frage der mazedonischen Reformen geprüft worden. Der lebhafte Gedankenaustausch hat zu einem Ergebnis geführt, das einer endgültigen Lösung sehr nahe scheint. Auf diese Weise sind die ursprünglichen Vorschläge Englands auf ein Maß beschränkt worden, welches, wie man hoffen darf, von den übrigen Mächten angenommen und der Pforte gemeinsam zur Kenntnis gebracht werden wird. Nachdem ein Einvernehmen mit England erzielt ist, wird das Petersburger Kabinett ein genaues Schema der Reformen ausarbeiten, welches dann gemeinsam von allen Staaten beraten und zum Ausgangspunkte eines gemeinsamen Schrittes der Botschafter in Konstantinopel gemacht werden soll." 2.

Ein

russisch-japanischer Geheimvertrag vom J u l i 1912. Während die russische Diplomatie in Europa den gegen die Türkei und auch gegen Oesterreich gerichteten Balkanbund zusammenschmiedete (Seite 36), war sie auch darauf bedacht, ihre im fernen Osten stehenden Truppen für den großen Krieg verfügbar zu machen und die Neutralität Japans sich zu sichern. Wie auf Seite 140 des deutschen Weißbuchs „Deutschland schuldig?" angeführt, wurde am 8. Juli 1912 ein russischjapanischer Geheimvertrag geschlossen, der bestimmte, daß Rußland im Falle der Verwicklung in einen europäischen Krieg seine Truppen bis auf zwei Armeekorps aus Sibirien und der Mandschurei zurückziehen würde, und daß Japan für diesen Fall den Schutz der russischen Interessen in China übernehme. Japan verpflichtete sich ferner, während der Teilnahme Rußlands an einem europäischen Kriege kein russisches Gebiet zu okkupieren, insbesondere nicht Wladiwostok. Dafür erklärte Rußland, keine Einwendungen dagegen erheben zu wollen, daß Japan im Kriegsfalle die deutsche Kolonie Kiautschou besetze. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Zustimmung des Londoner Kabinetts zu diesem Vertrag eingeholt worden war.

R o d a r d r u c k v o n C. G. R ö d e r G. m. b. H„ L e l p i l g