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German Pages [305] Year 2017
Stavros Mentzos
Lehrbuch der Psychodynamik Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen
Mit 8 Abbildungen und 3 Tabellen
8., unveränderte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40123-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Punkt für Punkt GmbH · Mediendesign, Düsseldorf
Inhalt
Vorwort .......................................................................................................................
13
Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik Kapitel 1: Psychische Störungen als funktionale Gebilde ...................... 1.1 Psychische Störungen deskriptiv und psychodynamisch definiert ... 1.2 Die psychoanalytische Revolution und die ursprüngliche Krankheitslehre der Psychoanalyse ....................................................... 1.3 Die Krise der alten psychoanalytischen Neurosenlehre ..................... 1.4 Das Symptom als Bestandteil eines dynamischen Gebildes ............... 1.5 Bewusst – unbewusst, kognitive und emotionale Wahrnehmung und Motivation ........................................................................................ 1.6 Emotionen – Affekte – Gefühle ............................................................. 1.7 Meistens sind nicht die Affekte per se gestört ..................................... Kapitel 2: Der Konflikt als die zentrale Achse der Psychodynamik ... 2.1 Warum wird dem Konfliktbegriff eine zentrale Position in der Psychodynamik zugewiesen? ................................................................. 2.2 Die Variationen von Konflikten ............................................................. 2.3 Die Besonderheiten des ödipalen Konflikts ......................................... 2.4 Der Stellenwert und die Rolle der Angst innerhalb des Konflikts .... 2.5 Schamgefühle, Neidgefühle, Schuldgefühle ......................................... 2.6 Konfliktmodell versus Stressmodell ...................................................... 2.7 Konfliktmodell versus Traumatisierung ............................................... 2.8 Konfliktmodell versus erlerntes Verhaltensmuster – die behaviorale Annahme ....................................................................... 2.9 Konflikt versus struktureller Mangel .................................................... 2.10 Konflikt und Aggression ......................................................................... 2.11 Die Entstehung der Aggression – die innere Aggressionsquelle ....... 2.12 Äußere Konflikte als externaliserte innere Konflikte .......................... Kapitel 3: Abwehrmechanismen und Modi der Verarbeitung von Konflikten und Traumata ............................................................. 3.1 Abwehrmechanismen – Definition, Funktion, Klassifikation ........... Weitere Abwehrvorgänge: Psychosoziale Abwehr und Somatisierung 3.2
19 19 20 21 22 24 25 27 29 29 30 32 34 36 37 38 39 40 41 42 43
45 45 48
6
3.3 3.4
Inhalt
Abwehrmechanismen und Symptombildung ...................................... Der Unterschied zwischen Modusund Abwehrmechanismus ..........
Kapitel 4: Die innerhalb der Psychoanalyse entwickelten psychodynamischen Modelle ............................................................... 4.1 Das Triebmodell und das Drei-Instanzen-Modell .............................. 4.2 Der Ich-psychologische Ansatz und seine Erweiterung durch den Begriff des Selbst .............................................................................. Das Selbstdefizit-Modell und die Kohut’sche Selbstpsychologie .......... 4.3 4.4 Die Objektbeziehungstheorien .............................................................. 4.5 Intersubjektive bzw. relationale psychoanalytische Konzepte ........... 4.6 Funktionen des Objekts .......................................................................... 4.7 Die Bindungstheorie ............................................................................... 4.8 Der Symbolbegriff in der Psychoanalyse – früher und jetzt .............. 4.9 Mentalisierung ......................................................................................... 4.10 Internalisierung ........................................................................................ 4.11 Externalisierung .......................................................................................
49 49
51 51 52 53 54 56 57 58 59 61 62 63
Kapitel 5: Narzissmus ........................................................................................... 5.1 Entstehung und Entwicklung des Narzissmuskonzepts ..................... 5.2 Die Selbstwertgefühlregulation .............................................................. 5.3 Das Drei-Säulen-Modell ......................................................................... 5.4 Das alte Freud’sche Konzept des Ich-Ideals und das Drei-Säulen-Modell .................................................................................
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Kapitel 6: Zur Psychodynamik des Traums ..................................................... 6.1 Das ursprüngliche Traum-Modell von Freud ...................................... 6.2 Die weitere Entwicklung der Traumtheorie ......................................... 6.3 Neurophysiologische Grundlagen ......................................................... 6.4 Ein Vergleich zwischen Traum und Psychose ...................................... 6.5 Die Bedeutung von Symbolisierungsprozessen im Traum – früher und heute ...................................................................................... 6.6 Das Neue in der jungianischen Traumtheorie ..................................... 6.7 Der Traum als Inszenierung mit wichtigen Funktionen .................... 6.8 Der therapeutische Umgang mit Träumen ..........................................
73 73 74 75 75
72
76 77 77 79
Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik Kapitel 7: Nosologische versus psychodynamische dreidimensionale Diagnostik ..................................................................................................
83
Inhalt
7.1 7.2 7.3 7.4
7
Die Krise des Neurose-Konzepts ........................................................... Eine dreidimensionale Diagnostik ........................................................ Warum die Betrachtung des Modus favorisiert wir ............................ Das »Normale« und die »Störungen« bilden ein psychodynamisches Kontinuum ............................................................ Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) als Alternative zur dreidimensionalen Diagnostik ..............................
83 85 87
Kapitel 8: Hysterie und der hysterische Modus .......................................... 8.1 Eine charakteristische Vignette zur Einführung ................................. 8.2 Das deskriptive klinische Bild ................................................................ 8.3 Historische Zwischenbemerkung zum Hysteriebegriff ...................... 8.4 Die Psychodynamik hysterischer Phänomene und die Funktion des hysterischen Modus .......................................................................... 8.5 Konsequenzen des vorgeschlagenen Konzepts für Theorie und Praxis .................................................................................................
91 91 92 94
7.5
88 88
95 98
Kapitel 9: Zwangsneurose und der zwangsneurotische Modus .............. 101 9.1 Vorbemerkung zur Benennung und Klassifikation der zwanghaften Störungen .................................................................... 101 9.2 Das deskriptive klinische Bild ................................................................ 102 9.3 Psychodynamik des zwangsneurotischen Modus ............................... 102 9.4 Ein Vergleich des Zwangsneurotischen mit dem Hysterischen ......... 104 9.5 Praktische Konsequenzen ....................................................................... 105 9.6 Zwänge haben viele Funktionen – sogar dieder Geborgenheit ......... 106 Kapitel 10: Der phobische Modus und der angstneurotische Modus ... 10.1 Das deskriptive klinische Bild der Phobien ......................................... 10.2 Psychodynamik des phobischen Modus ............................................... 10.3 Wie entstehen Phobien? Die psychoanalytische und die verhaltenstherapeutische Sichtweise ..................................................... 10.4 Die Angstneurose und der angstneurotische Modus – Geschichtliche Vorbemerkungen .......................................................... 10.5 Das deskriptive klinische Bild ................................................................ 10.6 Psychodynamik des angstneurotischen Modus ................................... 10.7 Der Unterschied zwischen Phobien und angstneurotischer Störung ...................................................................................................... 10.8 Das Sicherheit bietende internalisierte Objekt bei der angstneurotischen Störung ..................................................................... 10.9 Variationen der angstneurotischen Störung ........................................ 10.10 Die Rolle der Aggression bei der Angstneurose .................................. 10.11 Weitere Variationen und Differenzierungen des Angstneurotischen ............................................................................
109 109 109 110 112 114 115 116 118 119 120 120
8
10.12 Polar entgegengesetzte Gefahren und damit korrespondierende Ängste ........................................................................................................ 10.13 Der hypochondrische Modus ................................................................ 10.14 Borderline-»Zustand« im Unterschied zur Borderline-Persönlichkeitsstörung .......................................................
Inhalt
121 122 123
Kapitel 11: Depression und der depressive Modus ....................................... 125 11.1 Die Mangelhaftigkeit der deskriptiven Definition der Depression ................................................................................................ 125 11.2 Die Funktion des depressiven Affekts ................................................... 126 11.3 Drei Circuli vitiosi ................................................................................... 126 11.4 Psychoanalytische Modelle der Depression ......................................... 128 11.5 Ergänzung und Integration der Depressionsmodelle mit Hilfe des Drei-Säulen-Modells ........................................................................ 130 11.6 Zwischenbebemerkung zum Selbstmord ............................................. 132 11.7 Die Unterscheidung zwischen schweren (früher endogenen) und leichten (früher neurotischen oder reaktiven) Depressionen .... 132 11.8 Wo bleibt der depressive Konflikt? ........................................................ 134 Kapitel 12: Der depressive Konflikt und einige häufige Variationen der Depression .......................................................................................... 12.1 Ein weiterer im Drei-Säulen-Modell beschreibbarer Aspekt des depressiven Konflikts ....................................................................... 12.2 Der depressive Konflikt in Termini des Bipolaritätsmodells ............. 12.3 Die gereizte, aggressivierte Depression ................................................. 12.4 Die masochistische Variation der Depression ..................................... 12.5 Der masochistische Modus außerhalb der Depression ...................... 12.6 Definitorische und historische Vorbemerkungen zum sogenannten Masochismus ............................................................................................ 12.7 Eine übergreifende psychodynamische Definition des sogenannten Masochismus ............................................................................................
135 135 135 139 141 144 144 145
Kapitel 13: Persönlichkeitsstörungen (allgemein) ................................... 149 13.1 Warum eine neue diagnostische Kategorie? ......................................... 149 13.2 Die deskriptive Definition und Klassifikation von DSM-IV ............. 151 13.3 Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen .................................... 152 Kapitel 14: Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen ................................ 14.1 Persönlichkeitsstörungen mit selbstbezogenen Abwehr- und Kompensationsmechanismen ................................................................ 14.2 Vorwiegend objektbezogene Persönlichkeitsstörungen ..................... 14.3 Persönlichkeitsstörungen, die sowohl selbst- als auch objektbezogen sind ..................................................................................
157 157 162 164
Inhalt
Kapitel 15: Der süchtige und der perverse Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung ...................................................................... 15.1 Deskriptive Aspekte der Sucht ............................................................... 15.2 Psychodynamik der Sucht: Triebtheoretische, Ich-psychologische, selbstpsychologische und objektbeziehungstheoretische Konzepte .............................................. 15.3 Süchtiges Ausweiten der Symptomatik ................................................. 15.4 Therapeutische Aspekte der Sucht ........................................................ 15.5 Deskriptive Definition des perversen Modus ...................................... 15.6 Vorbemerkung zur Psychodynamik der Perversionen ....................... 15.7 Historischer Überblick und kritische Betrachtung der Konzepte der Perversion .......................................................................................... 15.8 Sexualisierung der Aggression oder Aggressivierung der Sexualität? .......................................................................................... 15.9 Psychodynamik der Perversion im Allgemeinen ................................ 15.10 Einige spezielle Formen der Perversion ............................................... 15.11 Masochismus: Eine auch außerhalb der Perversion bedeutsame Abwehrstrategie ....................................................................................... 15.12 Der Sadomasochismus ............................................................................ 15.13 Exkurs über sexuelle Störungen im engeren somatischmedizinischen Sinn ................................................................................. Kapitel 16: Der psychosomatische Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung ...................................................................... 16.1 Einleitung .................................................................................................. 16.2 Die erste Aporie: Determinismus versus Finalismus .......................... 16.3 Die zweite Aporie: Warum ist manchmal eine körperliche Erkrankung »gesünder«? ........................................................................ 16.4 Externalisierungs- und Internalisierungsprozesse bei der Entstehung psychosomatischer Störungen .......................................... 16.5 Die Notwendigkeit der Psychodynamisierung der Psychosomatik .. 16.6 Differenzialpsychodynamik der körperlichen Störungen und Beschwerden .............................................................................................
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173 173
174 175 176 177 177 178 179 181 182 182 184 185
187 187 188 194 198 200 201
Kapitel 17: Der psychotische Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung ...................................................................... 205 17.1 Die deskriptive und die psychodynamische Dimension der schizophrenen und der affektiven Psychosen ............................... 205 17.2 Die Psychodynamik der schweren Depression .................................... 207 17.3 Exkurs: Ist die Depression tatsächlich vorwiegend eine Selbstwertregulationsstörung? ............................................................... 209 17.4 Manie und bipolare Störungen .............................................................. 211
10
Kapitel 18: Die Psychodynamik der Schizophrenie ..................................... 18.1 Klinische Begründung des Bipolaritäts- bzw. Dilemmakonzepts bei der Schizophrenie .............................................................................. 18.2 Psychodynamik des Wahns im Allgemeinen ....................................... 18.3 Noch einmal zum Verfolgungswahn ..................................................... 18.4 Andere Variationen von psychotischen Dysfunktionalitäten und ihre Funktionen ............................................................................... 18.5 Zusammenfassung der Variationen des schizophrenpsychotischen Modus .............................................................................. 18.6 Zwei Circuli vitiosi und die Konsequenzen für die Therapie der Schizophrenie .................................................................................... 18.7 Die therapeutische Relevanz der Unterscheidung zwischen selbst- und objektbezogener Symptomatik .......................................... Kapitel 19: Die Neurobiologie der Psychosen – Die Psychosomatosen des Gehirns ................................................................................................. 19.1 Zur Problematik der Beurteilung und Einordnung neurobiologischer Befunde .................................................................... 19.2 Somatopsychische Zusammenhänge .................................................... 19.3 Anterior cingulate cortex (ACC) – eine Schlüsselstruktur? ............... 19.4 ACC – auch bei Depressionen von Bedeutung? .................................. 19.5 Psychosomatische Zusammenhänge und die Gewichtigkeit des psychosozialen Faktors ..................................................................... 19.6 Die Psychosomatosen des Gehirns ........................................................
Inhalt
215 215 217 219 222 226 229 232
235 235 236 238 240 241 241
Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte Vorbemerkung ...........................................................................................................
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Kapitel 20: Vergleichende Psychodynamik ................................................... 20.1 Die Variationen der Dissoziation und die Verwandtschaft zwischen Zwang und Wahn ................................................................... 20.2 Ein bemerkenswertes Phobien-Paar: Klaustrophobie und Agoraphobie ............................................................................................. 20.3 Relativierung der kategorialen Diagnostik ...........................................
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Kapitel 21: Das Bipolaritätsmodell ................................................................. 21.1 Entstehung und Anwendung des Bipolaritätsmodells – zunächst bei den Psychosen und Persönlichkeitsstörungen .............................. 21.2 Zwei Aspekte im Modell der Bipolarität ............................................... 21.3 Bipolaritätskonzepte bei Sigmund Freud .............................................
249 250 251 255 255 257 258
Inhalt
21.4 21.5
Noch einmal: Agoraphobie und Klaustrophobie ................................. Racamiers Antinarzissmus, Lichtenbergs Grundmotivationen und Balints Oknophilie versus Philobatie ............................................ 21.6 Das Lacan’sche Spiegelstadium .............................................................. 21.7 Sandler und das Sicherheits- bzw. Wohlbefindensbedürfnis ............. 21.8 Die Kaskade der Wir-Bildungen ............................................................ 21.9 Noch einmal: Trauma oder Konflikt? ................................................... 21.10 Die Bipolarität bei Melanie Klein .......................................................... 21.11 Verliert das Bipolaritätsmodell seine Relevanz durch die Hervorhebung des »Mangels«? .............................................................. 21.12 Die Bedeutung des Bipolaritätsmodells für das Verständnis der Geschlechterspannung .....................................................................
11
260 261 262 262 263 264 266 268 270
Kapitel 22: Die Funktion der Dysfunktionalitäten – ein durchgehendes Prinzip ................................................................... 22.1 Das Symptom als diagnostisches Indiz und als Element einer Funktion .................................................................................................... 22.2 Finalität im Körperlichen und im Psychischen ................................... 22.3 Die symptomatische Therapie als Notbehelf .......................................
273 275 276
Kapitel 23: Einige metaphorische Konzeptualisierungen ........................ 23.1 Das Drei-Säulen-Modell ......................................................................... 23.2 Die Circuli vitiosi ..................................................................................... 23.3 Die Über-Ich-Konto-Metapher .............................................................. 23.4 Schlussbemerkung zur Vermeidung eines Missverständnisses .........
277 277 277 278 281
Kapitel 24: Anstelle eines Nachworts: Das Wesentliche in elf Punkten ...........................................................................................
283
Literatur ......................................................................................................................
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Sachregister ................................................................................................................
295
Namenregister ............................................................................................................
301
273
Vorwort
Die Dynamik psychischer Störungen, also die Summe der zum Teil unbewussten und komplizierten Prozesse, die sich hinter der Oberfläche der manifesten Symptomatik dieser sogenannten Störungen verbirgt, steht leider nur am Rande des Interesses innerhalb der heute herrschenden psychiatrischen Betrachtungsweise. Dies wird besonders in den international anerkannten großen klassifikatorischen und diagnostischen Systemen von ICD und DSM dokumentiert. Dort befasst man sich ausschließlich mit den deskriptiven psychopathologischen Merkmalen und deren quantitativen Bestimmung mittels der Operationalisierung, um schließlich nur auf diesem Weg zu der Diagnosestellung zu gelangen. Im Gegensatz dazu ist das inoffizielle Interesse, ja oft der regelrechte Hunger nach jener dahinterstehenden Psychodynamik sehr groß, wie schon die zahlreichen Einladungen zu Vorträgen und Beiträgen, die an psychodynamisch orientierte Psychiater gerichtet werden, zeigen. Ein solches Interesse findet man nicht nur bei psychoanalytisch orientierten Psychologen und Psychiatern, sondern auch anderswo. Außerdem gibt es in den Bereichen Medizinische Psychologie und Psychosomatik auch offiziell anerkannte Ausbildungsprogramme und Forschungsprojekte, die psychodynamisch orientiert sind. Dies führte dazu, dass es in den letzten Jahren eine Reihe von Lehrbüchern oder lehrbuchartigen Veröffentlichungen (z. B. Hoffmann und Hochapfel, 2004; Thomä und Kächele, 2006; Rudolf, 2006; Ermann, 1995) gegeben hat, die sowohl in der Medizin, aber auch in anderen psychosozialen Gebieten die Psychodynamik nicht nur beiläufig berücksichtigen. Im Hinblick darauf könnte man meinen, dass ein zusätzliches, neues Lehrbuch sich eigentlich erübrige, weil die psychodynamische Dimension in den erwähnten Werken mehr oder weniger ausführlich behandelt wird. Zwei Umstände und daraus entstehende Motivationen haben mich ermuntert und bewegt, trotz dieser Bedenken die hier vorliegende Systematik der Psychodynamik zu präsentieren. Mir schien es, erstens, sinnvoll, eine Koppelung der Psychodynamik an die herrschenden psychiatrischen Klassifikationen (ICD-10 und DSM) anzustreben, ungeachtet deren Problematik, die uns später näher beschäftigen wird, und zwar im Sinne der dringend notwendigen Psychodynamisierung der Diagnosen. Dieser Aufgabe ist der spezielle, zweite Teil dieses Buches gewidmet. Die darin enthaltene didaktische Intention rechtfertigt die Bezeichnung »Lehrbuch«.
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Vorwort
Die zweite Motivation, dieses Buch zu schreiben, liegt tiefer und wird im Untertitel genannt. Es geht um die Funktion der Dysfunktionalität. Was ist damit gemeint? Es handelt sich um die Vorstellung, dass die psychischen Störungen keineswegs nur »Störungen« sind. Sie sind nicht nur Ausfälle, Dysfunktionalitäten, nicht nur unlustvolle, das Wohlbefinden beeinträchtigende, schmerzvolle, ängstigende, zur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung oder Desorientierung und Desintegration führende Prozesse, sondern auch Verhaltens- und Erlebensmuster mit einer je eigenen aktiven Dynamik und, in gewissem Sinne, auch mit einer Funktion. Sie sind nicht nur passiv erlittene, sondern auch aktiv – wenn auch meistens unbewusst – mobilisierte Reaktionen, Strategien, Mechanismen, so dass man vielfach paradoxerweise von einer Funktion innerhalb der Dysfunktionalität sprechen kann. So sind beispielsweise die Zwänge des Zwangsneurotikers nicht nur eine störende Dysfunktionalität, sondern gleichzeitig auch Mechanismen, die oft dem symbolischen Ausgleichen von Schuldgefühlen oder, sogar häufiger, einer in der Not nützlichen Strategie gegen Diffusität und Inkohärenz des Selbst dienen. Oder, um ein anderes Beispiel einzuführen: Auch so schwerwiegende Symptome wie das »Ritzen« und andere Selbstverletzungen entpuppen sich als eine besonders effektive Methode gegen akute Panikangst. Es ist verblüffend, wie schnell eine solche körperliche Selbstverletzung bei einer hoch gespannten und panisch verängstigten Patientin als ein Anxiolytikum, als ein Mittel gegen die Angst wirken kann! In anderen Fällen wiederum ist diese Selbstverletzung in der Lage, ein davor bestehendes schreckliches Gefühl der Leere vorübergehend zu beheben. Schon diese wenigen Beispiele verdeutlichen die Wichtigkeit der funktionsbezogenen Analyse der Symptome, ein Aspekt, der als roter Faden in fast allen Abschnitten dieses Buches anzutreffen ist. Nicht dass diese Sichtweise etwas völlig Neues darstellt. Schon die psychoanalytische Theorie der Abwehrmechanismen, aber auch, auf der anderen Seite, sogar die Überlegungen und Ausführungen von behavioralen und kognitiven Verhaltenstherapeuten über Strategien zum Verständnis verschiedener Verhaltens- und Erlebensmuster bzw. Symptome gehen davon aus, dass es sich dabei um Prozesse mit einer gewissen Funktion handelt. Dennoch findet bemerkenswerterweise diese wichtige Perspektive, die uns bei jedem, auch bei dem schwersten Symptom veranlassen sollte zu fragen, wozu denn dieses oder jenes Verhalten »gut« sei, sehr wenig Aufmerksamkeit bzw. Anwendung; vielleicht, weil eine solche Frage – also das Wozu – unserem deterministisch orientierten Wissenschaftsverständnis zu widersprechen scheint. Ich werde später zeigen, dass Determinismus und Finalismus bei der Analyse solcher Vorgänge einbezogen werden können. Dem Prinzip der Funktion innerhalb der Dysfunktionalität gehe ich jedenfalls bei allen Störungen systematisch nach, so dass man hier auch von einem Lehrbuch der funktionsbezogenen Psychodynamik sprechen könnte. Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten, dem allgemeinen Teil, werden grundlegende Begriffe erläutert, die für die spätere funktionelle Analyse der ein-
Vorwort
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zelnen Störungen erforderlich sind: Konflikt, Selbstwertgefühlregulation, Bindung, Trauma etc. Im zweiten Teil werden dann die einzelnen Störungen als funktionale Gebilde geschildert, und zwar mit dem Ziel, die Operationalisierung der ICD-10 und des DSM-IV zu psychodynamisieren oder teilweise bestimmte diagnostische Kategorien in Frage zu stellen oder zu ersetzen. Im dritten Teil erfolgen schließlich die Erläuterung und die Begründung der eingeführten neuen Konzepte, Theorien und Metaphern. Obwohl es in diesem Buch um eine psychoanalytisch orientierte Psychodynamik geht, bemühe ich mich, komplizierte metapsychologische und hypothetische Konstruktionen zu vermeiden. Das jeweils Gemeinte wird mit Hilfe von anschaulichen Modellen und Metaphern dargestellt – ich fühle mich dabei in guter Gesellschaft, hatte doch auch Winnicott versucht, wenn auch nicht immer konsequent und mit Erfolg, ohne Metapsychologie auszukommen (vgl. Fulgencio, 2005; Winnicott, 1987, 1988). Zwar findet insbesondere im dritten Teil eine Auseinandersetzung mit Konzepten anderer psychoanalytisch und psychodynamisch orientierter Autoren statt, die vielleicht mehr für die Fachkollegen von Interesse sein dürfte. Dennoch haben auch Studenten, werdende Psychotherapeuten oder überhaupt interessierte Leser die Möglichkeit, durch solche Vergleiche und Gegenüberstellungen das im Buch Dargestellte besser einzuordnen. Bei diesem dritten Teil des Buches kann ich also nicht ganz auf eine metapsychologische Perspektive verzichten. An erster Stelle möchte ich mich bei meinen Patienten bedanken, weil die Begegnung mit ihnen und mit ihrem je eigenen individuellen Schicksal und Leid erheblich zum Verständnis psychodynamischer Zusammenhänge beigetragen hat. Ich bedanke mich des Weiteren bei den zahlreichen Kollegen, die in Diskussionen anlässlich von Seminaren und Vorträgen, aber insbesondere auch während vieler Supervisionen, die sie bei mir gemacht haben, einen sehr reichen und differenzierten Austausch gepflegt haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Gudrun Liehr-Völker. Ohne ihre jahrelange Mitarbeit, ihr Verständnis und Bemühen – Wort für Wort – und ihre bedachte Führung durch das Labyrinth der modernen Kommunikationswelten wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Schließlich bedanke ich mich ebenfalls besonders bei meiner Frau Ro, die durch ihre immer wieder auf die Lebensrealität hinweisenden kritischen Bemerkungen, aber auch durch die ständige Mahnung zugunsten eines nicht bloß wissenschaftlichen, sondern auch menschlichen Zugangs, unter Vermeidung einer rigiden Kopflastigkeit, zu einer hoffentlich lebensnahen Darstellung bei der Abfassung dieser letztlich Menschenschicksale betreffenden Buches beigetragen hat. Stavros Mentzos
Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
Kapitel 1: Psychische Störungen als funktionale Gebilde
1.1 Psychische Störungen deskriptiv und psychodynamisch definiert Die in der heutigen Psychiatrie etablierte Bezeichnung »Störung« anstelle des früher üblichen Terminus »Erkrankung« wurde zwar vorwiegend eingeführt, um die Stigmatisierung des Patienten durch die Konnotation von krank im Sinne von minderwertig zu vermeiden, sie verrät aber auch eine Sichtweise, die den Schwerpunkt auf die Dysfunktionalität – eben die Störung von Funktionen legt. Das Leiden der Betroffenen gerät so etwas aus dem Blickfeld. Diese »psychischen Störungen« werden heute in der Psychiatrie meistens rein deskriptiv durch das Vorhandensein bestimmter Symptome definiert. Symptome sind abgrenzbare und charakteristische körperliche oder psychische, von der Norm quantitativ oder qualitativ abweichende Erscheinungen, die meistens auch einen Leidenszustand implizieren. Hinzu kommen aber auch andere, ebenfalls abweichende und eine Dysfunktionalität implizierende Verhaltens- und Erlebensmuster, welche, ohne regelrechte Symptome zu sein, in ihrer jeweiligen Zusammensetzung auch Störungen darstellen und eine deskriptive diagnostische Bezeichnung erhalten, welche die Abgrenzung von »Störungen«, die durch andere Verhaltensmuster charakterisiert sind, ermöglicht. Zu diesen Letzteren gehören z. B. die Persönlichkeitsstörungen. In den inzwischen weltweit eingeführten klassifikatorischen Systemen von ICD10 und DSM-IV werden alle Störungen nach relativ strengen Regeln operationalisiert, d. h. semiquantitativ erfasst: Von neun vorgegebenen deskriptiven Merkmalen müssen zumindest fünf zutreffen, damit die Diagnose vergeben werden darf. Im Gegensatz also zur früheren relativ unsystematischen Handhabung, sozusagen weniger streng und nur aufgrund einiger charakteristischer Symptome und des gesamten klinischen Eindrucks Diagnosen zu stellen, verlangt man heute möglichst objektive Kriterien, die auch von anderen Beobachtern nachgeprüft werden können. Zu diesem Vorgehen ist kritisch zu bemerken: Auf diese Weise gestellte Diagnosen sind zwar für eine erste Verständigung unter Experten und für eine bessere Reliabilität (Übereinstimmung unter verschiedenen Beobachtern) nützlich. Im Übrigen sagen sie jedoch wenig über die Ursachen der Störung und ihre aktuelle Dynamik aus. Aber auch schon als Deskriptionen selbst sind sie hinterfragbar,
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
denn es bleibt oft die Frage offen, ob denn diese oder jene Zusammenstellung und Anzahl von Symptomen und die dadurch entstehenden diagnostischen Kategorien für die Erfassung der wesentlichen Aspekte der Störung nützlich sind. Konkret: Ist eine zwanghafte Vermeidung einer bestimmten Handlung oder eines Ortes oder überhaupt eines gewissen Verhaltens mehr den Zwängen oder mehr der Kategorie der Phobien zuzuordnen? Sind schwere Depressionen mit einem Versündigungswahn mehr der Kategorie der affektiven Störungen (ICD-10 F32.2, F32.3) oder jener der psychotischen Wahnstörungen (ICD-10 F22.0) zuzuordnen? Solche und ähnliche Beispiele zeigen, dass die bei den genannten klassifikatorischen Systemen vorgeschriebenen Cluster von Symptomen zum Teil auf einem nicht immer nachzuvollziehenden Konsens zwischen Experten und weniger auf objektiven Kriterien beruhen. Die Tatsache, dass diese Diagnosen durch Operationalisierungen im obigen Sinne zustande kommen, verleiht ihnen nur den Anschein einer eigenständigen Störung. Gravierender aber sind die Nachteile durch die bloße Deskription, also durch die Tatsache der völligen Vernachlässigung der Beschreibung und Analyse des hinter der Oberfläche stehenden Kräftespiels von bewussten und unbewussten Motivationen, Emotionen und kognitiven Prozessen, überhaupt der Dynamik des psychischen Geschehens. Die psychiatrisch-klassifikatorischen Systeme stellen so gesehen zwar einen gewissen Fortschritt im Hinblick auf ihre Eindeutigkeit dar, dennoch werden dabei viele wesentliche, auch für die Therapie relevante Aspekte genauso wenig berücksichtigt wie bei den früheren weniger systematischen und nicht operationalisierten, sondern vorwiegend intuitiven Diagnosen.
1.2 Die psychoanalytische Revolution und die ursprüngliche Krankheitslehre der Psychoanalyse Die Psychoanalyse Freuds stellte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eine Revolution dar, weil man mit ihrer Hilfe viele nur deskriptiv erfassten Symptome und Syndrome durch genetische und dynamische Hypothesen in sinnvoller Weise neu konzipieren konnte, und zwar sowohl was ihre Entstehung als auch was ihre aktuelle Dynamik betraf. So verstand z. B. die Psychoanalyse bestimmte körperliche Symptome als Ausdruck eines unbewussten Wunsches oder überhaupt einer unbewussten intrapsychischen Befindlichkeit (Spannung, Angst, Gegensätzlichkeit usw.) in einer Körpersprache. Diese Veränderung des Blickwinkels durch die Berücksichtigung von dahinterstehenden unbewussten Motivationen hatte mit einem Schlag viele bis dahin unzusammenhängende und nebeneinander stehende Beobachtungen, Feststellungen sowie Symptome in einen sinnvollen ganzen Erklärungszusammenhang erfasst – so einerseits z. B. die Zwänge als Symptome und andererseits die zwangsneurotischen Charakterzüge, wie diejenigen der Pedan-
Kapitel 1: Psychische Störungen als funktionale Gebilde
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terie, der Übersauberkeit usw. Beides wurde auf denselben Konflikt zwischen Gehorsam und Ungehorsam (damals als »analer« Konflikt benannt) sowie auf das Mobilisieren ähnlicher oder identischer Abwehrmechanismen zurückgeführt. Sigmund Freud und seine Nachfolger der ersten und zweiten Generation haben darauf aufbauend eine psychoanalytisch untermauerte Krankheitslehre erstellt, bei der die schon davor existierenden deskriptiven Kategorien zwar zum großen Teil beibehalten, aber durch psychodynamische Konzepte und Annahmen in Bezug auf die Ätiopathogenese bereichert wurden. So wurden nosologische Entitäten wie Hysterie, Zwangsneurose, Phobie nicht wie früher nur aufgrund von charakteristischen äußeren Symptomen, sondern auch unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Konflikte oder der dahinterstehenden Abwehrmechanismen oder sogar durch charakteristische therapeutische Schwierigkeiten oder Übertragungs- oder Gegenübertragungskonstellationen definiert.
1.3 Die Krise der alten psychoanalytischen Neurosenlehre Die wissenschaftliche Diskussion hat sich jedoch im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam, aber konstant von der skizzierten psychoanalytischen Krankheitslehre entfernt. Die Überzeugung vom Vorhandensein typischer »Krankheitseinheiten« – heute würde man sagen: von typischen psychischen Störungen –, die jeweils von einem bestimmten Konflikt ausgehen und durch die Auswirkungen bestimmter, immer wieder derselben Abwehrmechanismen zu einer, immer derselben, pathologischen Psychodynamik und ihren Folgen führen, wurde durch von der Theorie abweichende Beobachtungen erschüttert. Die bis dahin jeweils postulierten psychogenetischen und psychodynamischen Hypothesen konnten oft nicht mit den Beobachtungen bei dem konkreten Fall zur Deckung gebracht werden. Dies lag an einigen bis dahin nicht erkannten Mängeln dieser Hypothesen. Im Laufe des zweiten und dritten Viertels des 20. Jahrhunderts zeigten sich immer mehr Schwächen; das bis dahin solide erscheinende Theoriegebäude bekam immer mehr Risse. Nicht nur weil die sogenannten Dissidenten schon ziemlich früh auf gewisse, von der offiziellen Psychoanalyse nicht berücksichtigte Dimensionen aufmerksam machten, so etwa Alfred Adler oder C. G. Jung; und nicht nur weil die später hinzugekommene Selbstpsychologie (Kohut) und insbesondere die Objektbeziehungstheorie (Kernberg) einige früher maßgebende Grundannahmen der ursprünglich vorherrschenden Trieblehre in Frage stellten oder zumindest in erheblichem Maße modifizierten. Zusätzlich ging es dabei auch um Unstimmigkeiten im Bereich der klassischen psychoanalytischen Neurosenlehre. Hier zeigte sich, dass die zu erwartenden typischen Fälle selten zu finden waren, während die meisten Fälle hingegen »atypisch« erschienen. Diese Fragen betreffen eine spezielle Problematik und sie beziehen sich vorwiegend auf die Unterscheidung und Unterteilung psychischer Störungen. Dies wird uns
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
ausführlicher im zweiten Teil zur speziellen Psychodynamik beschäftigen. Was aber schon hier im ersten Teil vorrangig diskutiert werden soll, ist die Frage, was denn generell den wesentlichen Kern einer psychischen Störung ausmacht. Erst dann kann man zur Darstellung und Analyse der speziellen Psychodynamiken übergehen.
1.4 Das Symptom als Bestandteil eines dynamischen Gebildes Es ist eine allgemein gültige Feststellung, dass Symptome meistens als recht unangenehm, unlustbetont und schmerzhaft erlebt werden. Sie gehen mit einem subjektiven Leiden einher, weshalb sie auch Beschwerden genannt werden. Solche Symptome oder Beschwerden sollten aber nicht schon wegen der negativen Konnotation als nur passiv erlittene Leidenszustände und Störungen verstanden werden, sondern auch als Elemente von zum großen Teil aktiven Reaktionen des psychophysischen Organismus bzw. als Bestandteile von Abwehr- und Kompensationsmechanismen gesehen werden. Zu dieser Einsicht gelangte man erst allmählich, und zwar nicht zuletzt mit Hilfe verschiedener psychoanalytischer Hypothesen. Um diese Zusammenhänge verständlich zu machen, bedarf es zumindest eines kurzen Überblicks der im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten psychoanalytisch orientierten psychogenetischen und insbesondere psychodynamischen Modelle. Die in der Psychiatrie und in der akademischen Psychologie herrschenden Betrachtungsweisen vernachlässigen, wie schon oben angedeutet, meistens die psychogenetische, die psychodynamische und die psychosoziale Dimension oder sie betrachten sie als nebensächlich, so dass die Beschreibung und Analyse von Konflikten, Traumata und der zu ihrer Bewältigung mobilisierten Abwehrmechanismen bei diesen Betrachtungen zu kurz kommen. Dabei stellt etwa der intrapsychische Konflikt und seine Verarbeitung die zentrale Drehscheibe der meisten psychischen Störungen dar. Das Symptom wurde in der Psychoanalyse1 entweder a) als Kompromiss zwischen Triebimpuls und hemmender Abwehr, b) als direkte Triebentladung (z. B.
1 An dieser Stelle ist eine kurze Zwischenbemerkung erforderlich: Die psychoanalytisch inspirierte Psychodynamik verhält sich teilweise kontrapunktisch, aber nicht gegensätzlich zu der deskriptiven Psychopathologie der modernen Klassifikationen. Im Gegenteil, jede psychodynamische Hypothese setzt ja zunächst auch das direkt Beobachtbare voraus. Nun wurde zwar die Psychoanalyse, früher wichtigste Quelle des psychodynamischen Ansatzes, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Defensive gedrängt, was sich aber inzwischen geändert hat. Durch neue Entwicklungen auch in der Gehirnforschung, die die Plastizität des Gehirns und seine Beeinflussung durch Erlebbares nachgewiesen hat, ist ein Wiedererstarken der Psychoanalyse denkbar, wenn sie sich auch veranlasst sieht, frühere Postulate zu revidieren oder sogar aufzugeben.
Kapitel 1: Psychische Störungen als funktionale Gebilde
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bei einer impulsiven Handlung) oder c) als eine Abwehr (z. B. Händewaschen des Zwangsneurotikers) gesehen. Über diese mehr deterministische Betrachtungsweise hinaus ist aber sehr wichtig und in praktischer Hinsicht hilfreich, das Symptom auch als Bestandteil eines Abwehrvorgangs in seiner Funktionalität, also mehr finalistisch (auf ein bestimmtes Ziel gerichtet) zu betrachten. Dazu ein Beispiel aus der klinischen Praxis: Ein 28-jähriger Mann sucht den Therapeuten auf, weil er Angst habe, er könnte ein potenzieller Sexualmörder sein. Er werde nämlich in den letzten zwei Jahren von sehr starken Fantasien beherrscht und gequält, bei denen es sich um Folgendes handelt: Sobald er auf der Straße einer gut aussehenden, attraktiven, jungen Frau begegnet, stellt er sich vor, er würde sie in einen VW-Transporter locken und dort mit verschiedenen Mitteln psychisch und körperlich quälen. Er verstehe sich selbst nicht, er begreife nicht, wieso er, ein sonst sehr friedlicher Mensch, auf solche grausame Fantasien komme. Daraus könnte ja – so meinte er – schließlich in der Realität so etwas wie ein Sexualmord resultieren. Geht man von einem einseitig triebtheoretischen und deterministisch gedachten Modell aus, so könnte man hier einen konstitutionell überstarken sadistischen Anteil annehmen, der nur mangelhaft oder kaum von libidinösen Kräften ausgewogen werden kann. Bei einer solchen Betrachtungsweise würde man also das Symptom als direkten Ausfluss dieser scheinbar vermehrten aggressiven Triebhaftigkeit oder/und der mangelhaften Kontrolle begreifen, das Symptom wird also hier als eine bloß »mechanische« Folge eines übermäßig ausgeprägten Triebes begriffen. Tatsächlich hat sich während der längeren Analyse dieses Patienten gezeigt, dass dies nicht zutraf und dass das Symptom bzw. diese Fantasien die Funktion hatten, eine beim Patienten in der Begegnung mit besonders attraktiven Frauen auftauchende Angst abzuwehren, von diesen abhängig zu werden und seine Autonomie zu verlieren, oder gar durch den »Sog des Weibes« geschluckt zu werden und verloren zu gehen! Eine dann entstehende intensive Aggressivität war zwar tatsächlich vorhanden, aber sie war nicht die Folge eines primären, aggressiven Triebes (dem sexuellen Trieb vergleichbar), sondern das Resultat der Mobilisierung eines Schutzmechanismus für den Fall der Gefährdung des Selbst. Die heftige und sadistisch anmutende Aggression wird also innerhalb des geschilderten Szenarios mobilisiert, um den Patienten vor dieser Gefahr zu schützen. Ähnliche Konstellationen haben Therapeuten beschrieben (so z. B. Meloy, 1988, Pilgrim, 1986), die sich intensiver mit Diagnostik und auch Therapie von tatsächlichen oder potenziellen Sexualmördern beschäftigt haben. Sie fanden, dass es sich sogar auch in diesen Fällen um eine Aktualisierung des aggressiven Reaktionsmusters handelt, und zwar oft auf dem Hintergrund eines elementaren Grundkonflikts, eines Dilemmas zwischen der Sehnsucht nach Vereinigung und Bindung einerseits und der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Selbstiden-
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tität andererseits. Unabhängig jedoch von diesem speziellen Zusammenhang zeigen solche und ähnliche Beispiele, dass zumindest eine große Anzahl von Symptomen Bestandteile von Abwehr- bzw. Kompensationsmechanismen sind, die eine Funktion haben. Man könnte mich selbstverständlich hier fragen, mit welcher Berechtigung und mit welcher logischen Begründung ich es mir erlaube, psychische Vorgänge finalistisch zu begreifen und warum ich sie nicht – wie übrigens oft auch Freud (z. B. bei der Schilderung der Psychodynamik von Fehlhandlungen, Freud, 1901, S. 65, oder Freud, 1916/17, S. 35) – deterministisch ableite. Dieselbe Frage könnte man auch so formulieren: Haben Symptome oder überhaupt psychische Störungen Ursachen oder Gründe? Diese Frage ist freilich nicht neu – sie beherrscht noch heute die Debatte zwischen empirischer Wissenschaft und Hermeneutik und hat mich bereits sehr früh beschäftigt (Mentzos, 1973). Dennoch schiebe ich die Beantwortung dieser Frage von Determinismus versus Finalismus zunächst auf, weil es mir sinnvoller erscheint, diese zentrale Problematik nicht abstrakt anzugehen, sondern an konkreten Fällen zu diskutieren. Ich verweise also auf den zweiten Teil und insbesondere auf die Darstellung des psychosomatischen Modus (Kapitel 16). Dort wird dieser scheinbare Gegensatz zwischen körperlicher Kausalität und psychischer Finalität (oder sogar »Sinngebung«!) häufiger thematisiert. Diese allgemeine, man könnte auch sagen philosophische Frage wird also erst später diskutiert. Hier ging es mir zunächst darum, den Begriff der Funktion der psychischen Störung an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen.
1.5 Bewusst – unbewusst, kognitive und emotionale Wahrnehmung und Motivation Die Themen dieses Kapitels könnten mehrere Lehrbücher füllen. Dies kann aber nicht die Aufgabe des vorliegenden Lehrbuches sein. Zwar sind zumindest elementare Kenntnisse in Bezug auf die erwähnten Begriffe und Konzepte eine Voraussetzung für die Untersuchung der Psychodynamik psychischer Störungen, jedoch gehe ich davon aus, dass das Wesentliche zu diesen Themen dem Leser oder der Leserin bekannt ist und dass viele der damit verknüpften und früher umstrittenen Fragen in der Zwischenzeit beantwortet wurden. So kann man z. B. heute das Vorhandensein und die Wichtigkeit unbewusster Prozesse nicht mehr anzweifeln – schon wegen der Ergebnisse der Hirnforschung in den letzten zwei Jahrzehnten (vgl. die kurze, aber informative Übersicht über die laufende Diskussion darüber bei Gekle, 2008, S. 95–100), die in diesem Punkt praktisch die Psychoanalyse Freuds bestätigt haben. Ein großer Anteil psychischer Prozesse verläuft unbewusst, wenn auch das Verständnis vom Unbewussten der Neurophysiologen sich nicht ganz mit dem dynamischen Unbewussten Sigmund Freuds deckt.
Kapitel 1: Psychische Störungen als funktionale Gebilde
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Was früher Psychologie der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, des Denkens war, wird heute kognitiver Prozess genannt und von den kognitiven Wissenschaften intensiv untersucht. Dies hat zu einem Wissenszuwachs geführt, der vor einigen Jahrzehnten nicht vorstellbar gewesen wäre. Aber auch darüber gibt es nicht nur eine enorm gewachsene Literatur, sondern auch Lehrbücher von Autoren, die den Leser gut in diese Materie einführen können (z. B. Grawe, 2004, Kapitel über Emotionen, oder Krause, 1983). Was hier lediglich einer besonderen Erwähnung bedarf, weil es direkt unsere Thematik insgesamt betrifft, sind die Affekte, die Gefühle und das, was man in der Psychoanalyse früher Triebe nannte, sowie deren Psychodynamik, also die Summe der emotionalen Motivationen.
1.6 Emotionen – Affekte – Gefühle Emotionen sind psychische Zustände, die uns aus dem direkten Erleben sehr gut bekannt sind, aber nicht genauer begrifflich erfasst werden können. Am sichersten ist nur die Aussage, dass Emotionen (Affekte und Gefühle) nicht Kognitionen oder auf jeden Fall nicht bloße Kognitionen sind. Affekte sind mehr akute, mehr körperbezogene, wenigstens am Anfang nicht differenzierte bewusste Emotionen; dagegen sind Gefühle weniger körperabhängig (entsomatisiert), differenziertere konditionierbare und dekonditionierbare Emotionen. Während Freud Affekte und Gefühle als Triebderivate ansah, wissen wir heute, dass es zumindest sieben primäre, vom Trieb unabhängige und von Anfang an vorgegebene Affekte gibt (Tomkins, 1962/1963, Krause, 1998): Freude, Verzweiflung, Wut, Furcht, Ekel, Überraschung, Interesse – alles wurde von den Säuglingsforschern bei Babys beobachtet (z. B. Milch, 1997). Die sekundären Affekte wie Schuld, Scham, Verachtung kann man als einen Übergang zu den zahllosen Gefühlen betrachten. Freud beschäftigte sich intensiv nur mit dem Affekt der Angst, die er sogar zunächst als ein Triebderivat begriffen hat (vgl. Kapitel 10.4 über die Angstneurose) und erst ab 1926 als Signalangst, als einen vom Trieb unabhängigen Affekt erkannte. Diese relative Einengung des Blickwinkels bei Freud allein auf die Angst hatte pragmatische Gründe, weil tatsächlich die Angst eine der zentralen Achsen der Psychodynamik und der Psychopathologie darstellt. Diese zentrale Bedeutung der Angst als einer zunächst sinnvollen, dann aber auch oft dysfunktionalen Reaktion wird ausführlicher im Kapitel über den Konflikt (Kapitel 2) und dann erneut im zweiten Teil dieses Lehrbuches, im Kapitel über die Angstneurose (Kapitel 10) beschrieben und analysiert. Eine differenzierte Affektpsychologie in Bezug auf andere Emotionen als die Angst hat sich zwar zunächst außerhalb der Psychoanalyse entwickelt (vgl. Grawe, 2004 oder Krause, 1983), sie ist jedoch bald und insbesondere in den letzten Jahrzehnten zunehmend von den verschiedenen psychoanalytischen Richtungen ziem-
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
lich in den Vordergrund gestellt worden. Eine Skizzierung neuer psychoanalytischer Konzepte zur Entstehung von Gefühlen und überhaupt des Emotionalen findet der Leser im Kapitel über Psychosomatik in diesem Lehrbuch (Kapitel 16.3). Die Einsicht, dass Affekte und Gefühle keine Triebabkömmlinge sind, wie Freud anfangs angenommen hatte, bedeutet aber keineswegs, dass es den Trieb oder das, was die Psychoanalyse darunter versteht, nicht gibt. Zwischen den Triebbedürfnissen und den stark motivierenden Triebimpulsen einerseits und den Affekten und den Gefühlen andererseits bestehen intensive, enge und ständige Interaktionen. Das Lust-Unlust-Prinzip, das als eine Selbstverständlichkeit schon vor Freud bekannt war, wurde von ihm im Rahmen seiner Triebtheorie (Freud, 1911, S. 232 ff.) zum ersten Mal genauer beschrieben und definiert. Dieses Prinzip fand übrigens durch die Entwicklung der Neurobiologie in den letzten 20 Jahren, die u. a. sogar Belohnungsmechanismen und ein »Belohnungszentrum« innerhalb des Gehirns (dabei ist u. a. der Nucleus accumbens involviert) nachgewiesen hat (z. B. Spitzer, 2007, S. 166 f.), eine erstaunliche Bestätigung. Das Lust-Unlust-Prinzip, wie auch viele andere Postulate, konnte im Zuge der Entwicklung der Psychoanalyse erst allmählich aus der ursprünglichen Einengung innerhalb der Triebtheorie befreit werden. Dabei wurde deutlich, dass die große Entdeckung Freuds nicht so sehr die banale Feststellung war, dass man das Lustvolle anstrebt und das Unlustvolle meidet, sondern dass er eine Erklärung für ein diesem Prinzip scheinbar widersprechendes Verhalten, etwa bei den masochistischen Strategien, geliefert hat. Das paradoxe Streben nach dem Unlustvollen hat Freud lange beschäftigt. Auch wenn seine diesbezügliche ursprüngliche Konzeption heute teilweise korrigiert werden muss, so war sie seinerzeit sehr wichtig und innovativ. Alle diese Aspekte, insbesondere auch die Funktionen der Affekte und Gefühle, werden in verschiedenen Kapiteln dieses Lehrbuches dort, wo ihre jeweils spezielle Funktion deutlich wird, näher besprochen. Hier sei nur daran erinnert, dass Affekte und Gefühle zumindest drei wichtige Funktionen haben: Sie sind erstens Indikatoren, »rote Lämpchen«, die wichtige Aspekte des momentanen Zustandes signalisieren. Sie sind zweitens Kommunikationsmittel im Austausch mit anderen, und sie sind drittens starke motivierende Faktoren. Man sollte sich aber davor hüten, Affekte und Gefühle nur in Bezug auf ihre funktionale Dimension zu betrachten, also rein funktionalistisch. Aus diesen Indikatoren und Motivationen hat sich nämlich eine hoch differenzierte und ständig wachsende innere Welt entwickelt, welche eigentlich das Wesentliche unseres Lebens ausmacht. Dies alles nur auf Funktionen zu beschränken, wäre ein unzulässiger und fataler Reduktionismus. Trotzdem: Innerhalb der Psychopathologie erweist es sich als nützlich für unsere theoretischen und besonders therapeutischen Überlegungen, sich an dem jeweils herrschenden Affekt und Gefühl und seiner Funktion zu orientieren. Dies gilt nicht nur für den schon oben erwähnten Affekt der Angst, sondern auch, um nur drei wichtige Beispiele zu erwähnen, für die Schuldgefühle, für die Schamge-
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fühle und für die Neidgefühle. Die Schlüsselposition dieser Gefühle bei der Regulation unserer Beziehung zu den Anderen und zu uns selbst – schon im Bereich des sogenannten Normalen – braucht nicht erläutert zu werden. Die oft recht komplizierten Verwicklungen und konfliktuösen Konstellationen, in die diese Gefühle involviert sind, werden in den jeweiligen Kapiteln besprochen (u. a. in Kapitel 12 über die Depression, Kapitel 5.2 über die Selbstwertgefühlregulation und Kapitel 5.4 über das Drei-Säulen-Modell). Die bis jetzt nicht besonders erwähnten, aber gewiss in extremem Maße bedeutsamen aggressiven Affekte und Gefühle werden uns in einem besonderen Abschnitt innerhalb des Kapitels über den Konflikt (2.10, 2.11) beschäftigen. Weil ich die Aggression zwar als ein angeborenes Reaktionsmuster, aber nicht als einen Trieb betrachte, bedarf es wegen der vorhandenen Meinungsunterschiede darüber einer intensiven Diskussion.
1.7 Meistens sind nicht die Affekte per se gestört Ausdrücke wie »Affektkontrolle« oder »Affektstörung« sind in gewisser Hinsicht irreführend, weil sie die Vorstellung suggerieren, es handele sich um eine Störung der Funktion der Affekte per se, also eine Störung, die für sich eine entsprechende Korrektur bzw. Behandlung bräuchte. Dies ist aber nicht richtig. Es gibt zwar Zustände, besonders bei hirnorganischen Erkrankungen, bei denen z. B. eine erhöhte Erregbarkeit und Intensität oder umgekehrt eine Abflachung und Dumpfheit der Affekte auf einer affektiven Funktionsstörung basieren. Meistens handelt es sich jedoch – zumal bei den hier uns interessierenden nichtorganischen psychischen Störungen – um auffallend abweichende intensive oder schwache Affekte (etwa Angst, Wut, depressiver Affekt usw.), die in ihrer Funktion eigentlich natürlich und normal sind; gestört, unkontrolliert oder übermäßig kontrolliert bzw. widersprüchlich, problematisch und konfliktuös ist lediglich das, was durch den erlebbaren und zum Teil auch beobachtbaren Affekt ausgedrückt bzw. signalisiert wird. Diese Präzisierung ist von großer sowohl theoretischer als auch praktischer Bedeutung: Der in ICD-10 und DSM-IV zentrale Begriff der »affektiven Störung« z. B. wird meistens als eine Störung der Funktion der Affekte verstanden, etwa in dem Sinne, dass die Affekte hier inadäquat seien. Demgegenüber wird aber in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches gezeigt, dass es bei solchen sogenannten affektiven Störungen meistens um dahinterstehende Trennungen, Verluste, Kränkungen, Konflikte usw. geht, die eben durch die entsprechenden Affekte und Gefühle in adäquater Weise ausgedrückt werden. Die Entscheidung für die erste oder für die zweite Art des Verständnisses der vorliegenden Affekte des Patienten ist von großer Relevanz auch für die Wahl der geeigneten Therapie. Entscheidet man sich für das Erste, also für eine sozusagen instrumentalisierte, die Funktion per se betreffende Störung der Affektfunktion,
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
so wird man versuchen, pharmakologisch oder durch übende und sonstige auf das Umlernen der in Frage stehenden affektiven Reaktion zielende Verfahren dem Patienten zu helfen. Ist man aber im Gegenteil der Meinung, dass die affektive Reaktion eigentlich adäquat und in Ordnung ist, weil sie dem dahinterstehenden Inhalt genau entspricht, so wird man sein Augenmerk auf eben diese Inhalte und Problematiken richten. Man wird also nicht versuchen, dem Patienten seine depressiven oder Angstreaktionen abzugewöhnen, sondern durch eine Veränderung der dahinterstehenden Dynamik die depressiven bzw. Angstreaktionen sozusagen überflüssig zu machen. Wir werden allerdings sehen, dass dies einfacher gesagt als getan ist bzw. dass hier meistens keine Deutung oder bloße kognitive Einsicht ausreicht – wie man es früher gelegentlich in der Psychoanalyse geglaubt hat. Die hier erforderliche intrapsychische Transformation kann nicht einseitig und in objektivierender Weise, sondern mit Hilfe einer in der Begegnung mit dem Therapeuten und durch die neue Beziehungserfahrung mögliche Selbstreflexion des Patienten verwirklicht werden. Dieser therapeutische Aspekt kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es ging mir insbesondere darum, auf das irreführende Suggerieren jenes bestimmten, sehr verbreiteten Verständnisses psychischer Störungen durch manche Ausdrücke und Diagnosen aufmerksam zu machen sowie auf den Unterschied zwischen der Funktion der Affekte und dem dahinterstehenden Inhalt, und zwar nicht nur in den hier erwähnten pathologischen Beispielen, sondern auch im normalen Alltag.
Kapitel 2: Der Konflikt als die zentrale Achse der Psychodynamik
2.1 Warum wird dem Konfliktbegriff eine zentrale Position in der Psychodynamik zugewiesen? Man könnte fragen, warum stellt die psychoanalytisch inspirierte Psychodynamik den intrapsychischen Konflikt so sehr in den Vordergrund? Eine erste, auf klinischer Erfahrung basierende Antwort könnte folgendermaßen lauten: Man tut dies, weil man in der Praxis immer wieder feststellt, dass nicht irgendwelche Belastungen schlechthin (wie der berühmte, inflationär und unspezifisch verwendete »Stress«), sondern die »innere Reibung«, der »Bürgerkrieg«, die intrapsychischen Gegensätzlichkeiten es sind, die sich besonders pathogen auswirken. Es gibt aber auch eine andere, mehr theoretisch begründete Antwort auf die Frage, warum der Konflikt so zentral wichtig sein soll. Gemeint ist eine die evolutions- und kulturtheoretischen Aspekte berücksichtigende Überlegung und Grundannahme, die vielleicht zunächst aphoristisch erscheinen mag, aber später, besonders im dritten Teil dieses Buches, begründet werden soll: Der Mensch ist bipolar aufgebaut, das heißt, er wird offensichtlich von potenziell zunächst gegensätzlichen Tendenzen getrieben und bewegt. Die Entwicklung des Einzelnen stellt einen dialektischen Prozess dar, innerhalb dessen diese potenziell unvereinbar erscheinenden Gegensätzlichkeiten bzw. Bipolaritäten immer wieder integriert oder – besser gesagt – ausbalanciert werden, wodurch Erneuerung, Dynamik, Fortschritt und Differenzierung gewährleistet sind. Letzteres dürfte der Grund dafür sein, dass solche dynamischen Muster überlebt haben bzw. selektiert wurden. Solche dynamischen Prozesse implizieren jedoch auch Risiken, so. z. B. die Konfliktualisierungsgefahr, die Gefahr einer Blockierung des dialektischen Prozesses durch die Bildung von bleibenden rigiden und nur nach dem Prinzip eines Entweder-Oder zu entscheidenden Konflikten. Beim Tier ist diese Gefahr sehr gering, weil die Ausbalancierung oder schließlich Integration der entgegengesetzten Tendenzen durch festgelegtes Instinktverhalten geregelt ist. Die Katzenmutter, die ihre kleinen Kätzchen abwechselnd mit Streicheleinheiten und kleinen »Strafen« erfolgreich zu tüchtigen erwachsenen Tieren erzieht, oder die arktische Wölfin, die ihre Jungen in der Pubertät wegbeißt, wenn sie nicht von sich aus rechtzeitig sich von ihr ablösen, sorgen instinktiv dafür, dass die »Kinder« nicht in eine unlösbare Ambivalenz geraten oder dazu gezwungen werden, sich eine einsei-
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
tige oder inadäquate, rigide »Lösung« zu eigen zu machen und »neurotisch« zu werden! Dagegen ist diese Gefahr bei dem in die Freiheit entlassenen Menschen, bei dem parallel zu einer relativen Schwächung der Instinkte die hierzu erworbene Symbolisierungsfähigkeit völlig neue, breite und ungeahnte Horizonte der Fantasie und des Handelns eröffnet, sehr groß. Verschiedene Kulturen versuchen, oft mehr schlecht als recht, ihren Angehörigen bei der Lösung solcher Ambivalenzen mit rituellen Regelungen zu helfen, indem sie zum Teil sogar bestimmte »Lösungen« vorschreiben. Es würde hier zu weit führen, dies im Einzelnen zu zeigen und zu belegen. Was die praktischen Belange der hier interessierenden Psychodynamik psychischer Störungen anbelangt, ging es mir nur darum, anzudeuten, dass es gewichtige Gründe dafür gibt, warum Konflikte, zumal intrapsychische, zu den wichtigsten und am meisten verbreiteten pathogenen Konstellationen bei der Entstehung von psychischen Störungen gehören. Dass hier Unterschiede quantitativer und qualitativer Art von Kultur zu Kultur und auch von Familie zu Familie innerhalb derselben Kultur und Gesellschaft bestehen, steht ebenfalls außer Zweifel.
2.2 Die Variationen von Konflikten Wiederum die klinische Praxis zeigt, dass unter den zahlreichen biologischen und psychischen Bipolaritäten eine besonders bedeutsame zu sein scheint; es geht um diejenige zwischen den selbstbezogenen und den objektbezogenen Tendenzen, also zwischen der Tendenz zu autonomer Identität, Autarkie, Selbstständigkeit einerseits und der Tendenz zu Bindung, Kommunikation, Solidarität, Vereinigung mit dem »Objekt« andererseits. Diese Bipolarität führt zwar normalerweise und bei einer ungestörten dialektischen Aufhebung und Ausbalancierung der Gegensätze zu einer Bereicherung und Differenzierung. Oft aber kommt es durch Blockierung dieses Prozesses zur Entstehung einer psychischen Störung. Dies hängt – wenn wir jetzt die Ursachen, also die Psychogenetik betrachten – vorwiegend von den psychosozialen Bedingungen ab, zu einem anderen Teil jedoch, wenigstens bei bestimmten Störungen (wie bei den Psychosen), teilweise auch von biologisch vorgegebenen Besonderheiten. Letztere können jedoch durch günstiges psychosoziales Milieu partiell aufgewogen werden (vgl. Kapitel 19.5 und 19.6 über die Psychosen). Akzeptiert man das Vorhandensein dieser (zunächst »normalen«) Bipolaritäten und dann den daraus erwachsenden Grundkonflikt bzw. das GrunddilemmaRisiko, so bietet sich an, die in der gestörten Entwicklung auftauchenden Konflikte als die Variationen dieses Grundkonflikts anzusehen. Tatsächlich kann man eine Liste der klinisch beobachtbaren Konflikte aufstellen, wie die in der Tabelle 1 aufgezählten, die diese These stark unterstützt: Ob es um autistischen Rückzug versus Fusion mit dem Objekt, ob es um autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit, ob um Separation und Individuation versus Bindung und Abhängigkeit, ob es um Autonomie/Autarkie versus
Kapitel 2: Der Konflikt als die zentrale Achse der Psychodynamik
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Unselbstständigkeit geht, man kann immer leicht erkennen, dass es sich um eine jeweils neue Version – auf einer höheren Ebene – desselben Grundkonflikts, nämlich desjenigen zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen handelt. Die in dieser Tabelle aufgezählten drei letzten Konfliktgruppen, also Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem weiblichen Elternteil oder die verschiedenen Loyalitätskonflikte oder auch die triadischen ödipalen Konflikte, lassen sich zwar nicht ohne weiteres in dieses Schema des Selbstbezogenen versus Objektbezogenen unterbringen. Es handelt sich nämlich um Gegensätzlichkeiten innerhalb eines der Pole; so z. B. innerhalb des Selbstpols: Sehe ich mich mehr als Mann oder als Frau an? Oder innerhalb des Objektpols: Liebe ich mehr männliche oder weibliche Objekte? Liebe ich mehr meine Familie oder meine Nation? Liebe ich mehr meine Familie oder arme leidende fremde Menschen? Stehe ich mehr zu meinem Chef oder zu meinen Kollegen? (dies sind alles Beispiele von Loyalitätskonflikten innerhalb des Objekt-Pols). Tabelle 1: Konfliktart und die korrespondierenden Gefahren bzw. Ängste Konflikt
Angst vor
I
autistischer Rückzug versus Fusion mit dem Objekt
Selbstverlust durch Objektlosigkeit oder durch Fusion mit dem Objekt
II
absolut autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit
Selbstwertverlust durch Selbstentwertung oder durch Entwertung des idealisierten Objekts
III
Separation – Individuation versus Bindung – Abhängigkeit
Selbstgefährdung durch Objektverlust oder durch Umklammerung seitens des Objekts
IV
Autarkie versus Unterwerfung und Unselbstständigkeit
abgelehnt, nicht geliebt werden, Trennung oder demütigender Abhängigkeit
V
Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem Weiblichen
totalem Aufgeben des Weiblichen versus endgültigem Aufgeben des Männlichen (bzw. Geschlechtsdiffusion)
VI
Loyalitätskonflikte
Aufgeben oder Verratenmüssen des einen oder des anderen Objekts
VII
triadische »ödipale« Konflikte
Ausschluss durch das Elternpaar; Bedrohung der eigenen Integrität und Sicherheit; »Kastrationsangst«
Man könnte allerdings sogar auch diese Loyalitätskonflikte ebenfalls als Variationen des Grundkonflikts begreifen und dies dem oben beschriebenen Bipolaritätskonzept zuordnen, wenn man den einen Pol des Loyalitätskonflikts als mehr dem Selbst und den anderen Pol als mehr dem Objekt näher stehend betrachtet. Wenn
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
man z. B. in dem Loyalitätskonflikt zwischen der eigenen Familie einerseits und berufsbedingten Verpflichtungen andererseits steht, kann man diese letzteren Verpflichtungen mehr als selbstbezogen (weil sie den eigenen beruflichen Erfolg, den eigenen Ruf etc. sichern), die ersten mehr als objektbezogen, also aus einer emotionalen Bindung hervorgehend, erleben. Dasselbe gilt auch für die triadischen ödipalen Konflikte. Dies muss allerdings schon wegen seiner praktischen Relevanz etwas näher erläutert werden. Dies geschieht im folgenden Exkurs.
2.3 Die Besonderheiten des ödipalen Konflikts Unter der Bezeichnung ödipaler Konflikt verstand Freud ursprünglich den Rivalitätskonflikt des Jungen mit dem Vater in Bezug auf die Mutter (bzw. den Konkurrenzkonflikt des Mädchens mit der Mutter in Bezug auf den Vater). Wir wissen jedoch heute, dass dies keineswegs den einzigen oder den wichtigsten Anteil der ödipalen Phase, das heißt der im 4. bis 5. Lebensjahr im Vordergrund stehenden Thematik ausmacht. Schon Freud selbst hat in späteren Auflagen seiner früheren Arbeiten vermerkt, dass es bei dem Mädchen nicht nur um die Konkurrenz, sondern auch um die Liebe zur Mutter geht und dass die Brüder, die in der Urhorde (nach Freuds hypothetischer Annahme) den Vater umgebracht haben, daraufhin nicht nur Angst, sondern auch Schuldgefühle bekamen – und dies deswegen, weil sie ihn, den Vater nicht nur beneidet, gefürchtet, gehasst, sondern auch geliebt hatten! Ginge es beim Ödipalen nur um die Konkurrenz, so würde es sich um einen äußeren, nicht um einen innerlichen, intrapsychischen Konflikt handeln. Es ist aber gerade dieser, der für die Psychopathologie und für die Psychodynamik psychischer Störungen relevant wird. Tatsächlich gerät der Junge in der Beziehung zu seinem Vater innerhalb der ödipalen Konstellation in einen tiefen und fast unlösbar erscheinenden intrapsychischen Konflikt: Er möchte nämlich denjenigen besiegen und beseitigen, den er gleichzeitig besonders liebt und den er auch für seine männliche Identifikation als Vorbild dringend nötig hat. Schon daran erkennt man, dass diese Entwicklungsphase des Kindes, die die Psychoanalyse ödipal (oder genital) nennt, nicht bloß eine wichtige Station in der Reifung der Sexualität ist, sondern auch ein entscheidender – und schwieriger – Schritt in der allgemeineren Differenzierung und Reifung der Beziehungen. Dies wusste Freud freilich selbst, nur dass er unter dem Einfluss seiner Triebtheorie, innerhalb derer er der sexuellen Entwicklung per se eine zu große und bestimmende Rolle zuerkannt hat, so dass er auch die in diesem Konflikt des Jungen deutlich werdende liebende Identifizierung mit dem Vater, analog auch im Fall des Mädchens in Bezug auf die Mutter, als Folge der Homosexualität begriffen hat, was eine Einengung und einen unnötigen Reduktionismus bedeutete. Diese Bemerkungen dürfen nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich dem Sexualtrieb eine untergeordnete Rolle beimesse, wie dies in den letzten
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Jahrzehnten bei vielen Psychoanalytikern als Tendenz zu verzeichnen ist. Der Sexualtrieb und seine Verknüpfungen mit Affekten und Gefühlen stellen eine der wichtigsten Motivationsquellen dar und bestimmen maßgebend unser Leben. Es wäre ein Rückschritt, wenn diese große Entdeckung Freuds, die er mit viel Mut und Energie lebenslang vertreten hat, verloren ginge. Die späteren Entdeckungen der Selbstpsychologie, der Objektbeziehungstheorie und der intersubjektiven Psychoanalyse (alle in diesem Band intensiv berücksichtigt) haben lediglich unseren Blick auch für andere Aspekte und auch für die Bedeutung der dyadischen prägenitalen Beziehungen erweitert. Dies darf aber eben nicht zu einer Desexualisierung der Psychoanalyse führen. Die wichtige und immer noch nicht gut gelöste Aufgabe besteht meines Erachtens darin, das Dyadische und das Triadische (Ödipale) zu integrieren. Dazu ein Beispiel: Ein 35-jähriger Analysant träumt – in fortgeschrittenem Stadium seiner Analyse –, dass er einen älteren Mann (seine Assoziationen verraten nachträglich, dass es sich um seinen Analytiker handelt) nach kurzem Ringen auf den Boden wirft. Der Träumer bekommt aber sofort große Angst, er habe diesen von ihm sehr geschätzten Mann getötet, und wird voller Schuldgefühle wach. Am Anfang des Traums und vor dieser dramatischen Wende hatte der Träumer diffus mitbekommen, dass auch die Ehefrau des älteren Mannes anwesend war und dass er – der Träumer – einen Kontaktversuch mit ihr unternommen hatte. Das Beispiel illustriert, auf welche Weise ein Zweier- (dyadischer) Konflikt innerhalb einer Dreier- (triadischen) Konstellation entsteht: Das Besiegen des Rivalen steht im Gegensatz zu der Liebe zu ihm. Übrigens kann durch eine solche Rivalität und einen Kampf zwischen zwei Männern auch ohne die Frau ein dyadischer Konflikt entstehen, etwa als ein narzisstisches sich Messen, »wer ist der Stärkere, der Bessere«. In ähnlicher Weise kann innerhalb eines klassisch triadischen Konflikts, wie desjenigen im Fall der Eifersucht, das Dyadische im Vordergrund stehen. Deswegen tötet Othello die Frau – die ihn angeblich verraten hat – und nicht den Rivalen. Obwohl er sie so heftig geliebt hat, tötet er sie, weil sie ihn – angeblich – verraten hat und somit zentral in seinem Narzissmus getroffen hat. Kehren wir jetzt zu unserem obigen Beispiel (der Überwältigung des älteren Mannes im Traum des jungen Analysanten) zurück: Die objektbezogene liebende Tendenz steht also hier im Gegensatz zu der selbstbezogenen, egoistischen Motivation, den Vater zu besiegen. Analoges gilt auch für das Mädchen in Bezug auf die Mutter. Sigmund Freud hat diese Zusammenhänge, die dem klassischen Rivalitätskonzept widersprechen, geahnt und andeutungsweise auch begrifflich zu erfassen versucht, allerdings im Rahmen der damals noch allein herrschenden Triebtheorie. Die Bipolaritätskonflikte des Jungen und des Mädchens in der ödipalen Phase seien dadurch zu erklären – so Freud damals –, dass der Mensch allgemein bisexuell sei. Die latenten homosexuellen Anteile, sowohl bei jedem Jungen als auch jedem Mädchen, führten dazu, dass der Vater (analog dann im Fall des Mädchens die Mutter) nicht nur gehasst und bekämpft, sondern auch
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geliebt würde. Für Freud waren die Bisexualität des Menschen bzw. hier die homosexuellen Tendenzen des Jungen und des Mädchens das, was zu den geschilderten Verkomplizierungen innerhalb der ödipalen triadischen Konstellation führt (der sogenannte negative Ödipuskomplex). Wir wissen aber heute, dass diese Ambivalenz bei allen Beziehungen zweier Menschen – unabhängig von Homo- oder Heterosexualität und unabhängig vom Geschlecht der Beteiligten – zunächst einmal vorhanden ist, normalerweise aber dialektisch überwunden wird. Vom heutigen Gesichtspunkt aus handelt es sich also bei der früheren Auffassung Freuds um eine unnötige, sehr eingeengte Sicht des Problems (Einengung auf das Sexuelle). Die Annahme einer Bisexualität des Menschen ist sehr wahrscheinlich richtig, sie deckt jedoch nur einen relativ kleinen Teil dessen ab, was hier mit dem Begriff der Bipolarität gemeint ist. Mit diesem Exkurs über das Ödipale wollte ich andeuten, dass erstens ein Konflikt in der ödipalen Phase ein dyadischer und kein triadischer zu sein braucht; und zweitens sogar die triadischen Konflikte der ödipalen Phase wenigstens zum Teil als Variationen des Grundkonflikts verstanden werden können. Solche Überlegungen sind keine bloß theoretischen und praktisch bedeutungslosen Haarspaltereien, sondern insbesondere für das Verständnis der real vorkommenden Beziehungskomplikationen und für die Therapie wichtig. Sie können z. B. den Therapeuten davor schützen, eine den Patienten verwirrende Deutung über eine in Wirklichkeit nicht vorhandene homosexuelle Regung zu geben und dadurch das momentane Erleben des Patienten zu verfehlen.
2.4 Der Stellenwert und die Rolle der Angst innerhalb des Konflikts Die Angst ist einer der primär vorgegebenen und für das Überleben eminent wichtigen Affekte. Sie wird als Angstreaktion bei äußeren und inneren Gefahren mobilisiert und erfüllt die Funktion eines Signals, welches das Ich zu entsprechenden Maßnahmen zwecks Begegnung der Gefahr (Kampf, Flucht usw.) veranlasst. Diese für uns heute selbstverständlich erscheinende Auffassung der Angst und ihrer Funktion (analog der Funktion des Schmerzes, der ebenfalls dem Überleben dient) war innerhalb der Psychoanalyse nicht von Anfang an so selbstverständlich gewesen. Freud hatte ursprünglich im Rahmen seiner Triebtheorie die Angst als ein Umwandlungsprodukt aufgestauter Triebe verstanden, und zwar aufgrund der an sich richtigen – aber von ihm falsch interpretierten – Beobachtung, dass verdrängte und dadurch aufgestaute Triebe tatsächlich Angst erzeugen können. Erst 1926 konnte Freud in seiner wichtigen Arbeit »Hemmung, Symptom und Angst« die Funktion der Signalangst beschreiben. Die Angst sei nicht verwandelte Triebenergie – wie früher angenommen –, sondern eine Signalisierung der Gefahr. Sie
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entstehe im Ich und nicht im Es. Sie sei eine, unter normalen Bedingungen, sinnvolle Reaktion, die allerdings dort aufhört, sinnvoll und funktional zu sein – so würden wir heute sagen –, wo sie durch eine zu große und unkontrollierte Intensität das Ich überflute und dadurch, statt zweckmäßige Reaktionen zu mobilisieren, umgekehrt das Ich paralysiere. Außerdem signalisiere sie mittels bestimmter Mechanismen nicht die eigentliche, sondern eine verschobene, eine quasi künstlich – wenn auch unbewusst – vorgeschobene Gefahr. Alle im vorigen Abschnitt beschriebenen Konflikte sind meistens in ihrer Psychodynamik sehr eng mit antizipierten Gefahren und somit mit Angst und daraus entstehenden Reaktionen verbunden. Die intrapsychische Spannung im Fall des Konflikts besteht ja gerade darin, dass die Verwirklichung jeder der im Konflikt implizierten entgegengesetzten Tendenzen mit einer Gefahr und mit einer durch sie mobilisierten Angst verbunden ist. Man kann also den Konflikt auch so definieren: Sehr oft besteht er darin, dass der Betreffende zwischen zwei gleich stark befürchteten, also gleich gefährlichen Situationen quasi zu wählen hat. Zwar spielen auch andere Affekte, die ebenfalls eine Signalfunktion haben, wie Schuld, Scham, Wut, Ekel usw., eine ähnliche Rolle wie die Angst in der Dynamik des Konflikts; jedoch ist es insbesondere die Angst (allein oder in Kombination mit den eben genannten anderen Affekten), welche jede der beiden im Konflikt enthaltenen Alternativen subjektiv inakzeptabel erscheinen lässt: In beiden Fällen nämlich muss man mit einer jeweils anderen, entgegengesetzten Gefahr und damit zusammenhängenden großen Angst rechnen (vgl. Tab. 1). Nun taucht zwar Angst auch bei Gefahren auf, die überhaupt nicht in Zusammenhang mit einem Konflikt stehen (z. B. Angst vor dem Altwerden und dem Tod oder vor einer Erkrankung, einem Unfall, einer Naturkatastrophe etc.). Was uns aber hier interessiert, ist der häufige Fall von Angstzuständen, die im obigen Sinn zu einem integralen Bestandteil des Konflikts werden, weil eben solche Konflikte und Ängste besonders pathogen sind. Der Betroffene gerät sozusagen in eine Zwickmühle. Diese doppelseitige Angst ist der Grund für die beim Konflikt auftretende unerträgliche intrapsychische Spannung, denn diese Zwickmühlen-Konstellation wird als eine schreckliche Ausweglosigkeit erlebt. In der Tabelle 1, die auf der linken Seite die schon besprochenen Konfliktvariationen enthält, findet man auf der rechten Seite die damit korrespondierenden Gefahren bzw. Ängste. Beim ersten Konflikt lässt sich dies z. B. so beschreiben: Schreitet man zum autistischen Rückzug, so droht die Objektlosigkeit, also der Verlust des Objekts. Bewegt man sich dagegen in Richtung der Vereinigung mit dem Objekt, so läuft man Gefahr, in der Verschmelzung mit dem Objekt seines Selbst verlustig zu werden. In beiden Fällen wird eine extreme Angst mobilisiert, deren großes Ausmaß im Hinblick auf das, was auf dem Spiel steht, sozusagen als eine adäquate Angst zu bezeichnen wäre.
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2.5 Schamgefühle, Neidgefühle, Schuldgefühle Unsere ausführliche Beschäftigung mit dem Angstaffekt und seiner Bedeutung innerhalb der Konfliktdynamik könnte das Missverständnis aufkommen lassen, es ginge beim Konflikt – was die affektive Beteiligung betrifft – vorwiegend oder gar ausschließlich um die Angst. In Wirklichkeit verhält es sich aber anders: Zwar stellt die Angst eine zentrale Dimension in der Dynamik der gesamten Psychopathologie dar, dennoch sind andere Affekte und Gefühle ebenfalls bedeutsam. Schamgefühle signalisieren ein herabgesetztes oder bedrohtes Selbstwertgefühl und entstehen z. B. in einer Situation, in der etwas offen wird, was wir vor der Welt verbergen möchten, weil es uns wenigstens aus subjektiver Sicht bloßstellt oder lächerlich macht. Das Schamgefühl ist ein recht unangenehmes und unlustvolles Gefühl, wodurch es ja auch seine motivierende Funktion entfaltet: Es soll uns veranlassen, den Umstand, der unsere Wertigkeit und Selbstachtung gefährdet, zu vermeiden oder rückgängig zu machen. Von daher kann man, in Analogie zu der Signalangst, auch von einem Signalschamgefühl sprechen. Dies wäre aber die »normale«, die ungestörte Funktion des Schamgefühls. Es motiviert zu einer Korrektur der Umstände oder des eigenen Verhaltens, die dazu führen soll, unsere Wertigkeit zu bewahren. Sehr oft kommt es aber zu einer Störung dieser Funktion. Scham bzw. die Antizipation der Scham wird genau wie die Angst bei den Angststörungen nicht adäquat und sinnvoll mobilisiert. Sie wird unangemessen erzeugt oder sie persistiert und wird ständig größer. Und nun muss diese Scham (im Rahmen eines kurzschlüssig wirksam werdenden Lust-Unlust-Prinzips) abgewehrt, verborgen, unsichtbar gemacht werden. Bei der sogenannten sozialen Phobie, bei der der Betreffende große Angst hat, sich dem Blick der Anderen auszusetzen, weil er dann von Scham überschwemmt wird, sorgt diese Phobie halbbewusst und allmählich auch automatisch dafür, dass es zu keinen solchen Situationen, zu keiner Schamgefühle erzeugenden Exposition kommt. Bei genauer Analyse stellt man fest, dass hier ein intrapsychischer Konflikt vorliegt: Das natürliche Bedürfnis, Sozialkontakte herzustellen und Bindungen einzugehen, gerät zu einem Gegensatz zu dem Bedürfnis nach Selbstschutz durch Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit. Der Konflikt wird in der sozialen Phobie einseitig pseudogelöst, der Selbstschutz wird auf Kosten der Bindungsund Kontaktbedürfnisse, die geopfert werden, gesichert. Das Schuldgefühl, auch ein emotionaler Indikator wie die Scham, signalisiert eine stattgefundene oder bevorstehende Verletzung der Rechte und Bedürfnisse der Anderen. Auch hier kann man sich vorstellen, dass unter normalen Bedingungen das Schuldgefühl als ein Signalschuldgefühl zu einer vom »reifen Gewissen« (vgl. das Kapitel 5.4 über das Drei-Säulen-Modell) veranlassten Korrektur und Wiedergutmachung motiviert. Sehr oft jedoch verliert das Schuldgefühl diese Funktion eines angemessenen Signals. Es wird (z. B. unter dem Einfluss eines sehr strengen Über-Ich, siehe ebenfalls Kapitel 5.4) dann subjektiv als eine unerträg-
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liche Last empfunden. Es muss deswegen abgewehrt werden, also entweder verdrängt oder durch Gegenaktionen (und nicht durch adäquate Korrektur der Realität) wie etwa durch Selbstschädigung gleichsam ausgeglichen werden. Also auch hier ist ein zumindest subjektiv entstandener Konflikt – der Konflikt zwischen egoistischen Interessen einerseits und Rechten und Bedürfnissen des Anderen andererseits – nicht adäquat und realistisch geprüft und gegebenenfalls korrigiert, sondern mit Hilfe einer masochistischen Strategie quasi ausgewogen worden, wodurch das quälende Schuldgefühl eliminiert oder wenigstens gemindert werden konnte – allerdings meistens nur vorübergehend! (vgl. dazu Kapitel 23.3 über das »Über-Ich-Konto« im dritten Teil des Buches). Ein drittes und letztes Beispiel: Auch Neidgefühle sind zunächst Indikatoren und Reaktionen auf einen als Minderung des eigenen Selbstwerts empfundenen Vorteil, Vorzug oder Erfolg eines Anderen. Sehr oft bleibt es jedoch nicht bei diesem normalen Ansporn zur Verstärkung eigener Bemühungen. Der Neid verliert seine Signalfunktion und wird zu einem feindseligen Gefühl, mit eventuell auch schädigenden Folgen für den Anderen. Diese betont und extrem selbstbezogene Einstellung und Handlungsbereitschaft stehen aber im krassen Gegensatz nicht nur zu den eigenen prosozialen Tendenzen, sondern auch zu sozialen Normen. Aus diesem Grund muss das peinigende und peinlich werdende Neidgefühl versteckt, verdrängt, verleugnet werden. Dadurch wird aber eine produktive Lösung des (intrapsychischen) Konflikts unmöglich gemacht zugunsten einer krankhaften Einengung und letztlich auch Einschränkung der eigenen Entwicklung. Diese drei Beispiele ließen sich durch analoge Anwendungen in Bezug auf andere Affekte und Gefühle vermehren. Sie dürften aber zunächst ausreichen, um zu illustrieren, auf welche Weise die normalerweise als nützliche Indikatoren, als Förderer der Kommunikation und als schöpferische Motivation dienenden Gefühle unter ungünstigen Bedingungen in die Pathologie schwer lösbarer Konflikte involviert sind und eine Verzögerung oder sogar ein Sistieren der normalen psychischen Entwicklung herbeiführen.
2.6 Konfliktmodell versus Stressmodell Man könnte den hier von mir behaupteten Vorrang des intrapsychischen Konflikts in der Psychodynamik psychischer Störungen anzweifeln und stattdessen alternative Hypothesen vorbringen. So könnte man z. B. ins Feld führen, dass seelische und körperliche Überanstrengung, also Stress, am häufigsten die Anpassungsmöglichkeiten des psychophysischen Organismus übersteigen und dadurch Dysfunktionalitäten hervorrufen. Dies ist sicher richtig, doch zeigt die klinische Beobachtung, dass die durch einen Konflikt hervorgerufene intrapsychische Spannung eine der schwersten und der häufigsten Stressformen darstellt, während sonst der Mensch im Allgemeinen erstaunlicherweise in der Lage ist, bis zu einem
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gewissen Maß auch große Überbelastungen relativ gut zu überstehen, sofern sie nicht Konflikte implizieren. Insgesamt lässt sich sagen: Der Konflikt erzeugt immer Stress, Stress für sich ist aber – sofern nicht konfliktbedingt – relativ leicht zu bewältigen. Übrigens sind die meisten auch objektiv nicht mehr kompensierbaren Überforderungen und Erschöpfungszustände das Resultat von chronischen, im Rahmen der neurotischen Konfliktverarbeitung etablierten Verhaltens- und Erlebensmuster, welche zu viel »Energie verbrauchen«. So etwa die ständige Unterdrückung von Bindungswünschen und Sehnsüchten aus Angst vor einer zu großen Abhängigkeit oder, umgekehrt, die chronische Unterdrückung einer berechtigten Wut und des Protestes aus Angst vor Bestrafung oder Liebesentzug oder überhaupt Objektverlust.
2.7 Konfliktmodell versus Traumatisierung Der zweite Einwand gegen das Primat des Konfliktmodells besagt, dass Traumatisierungen, zumal während der frühen Kindheit, der hauptsächliche Grund für psychische Störungen seien. Die Überforderung und Überwältigung des Reizschutzes bei solchen seelischen Traumata seien die Ursache für die spätere Störung. Diese Feststellung ist im Prinzip richtig, dennoch muss man berücksichtigen, dass nicht das Trauma selbst und nicht der dadurch erzeugte traumatische Affekt für sich allein das an erster Stelle pathogen wirkende Moment sind, sondern die Verhinderung der Abreaktion und/oder das Ausbleiben einer adäquaten, empathischen Begleitung bei der Verarbeitung des Traumas. Diese Feststellung entspricht im Wesentlichen den ersten und bahnbrechenden Beobachtungen Freuds. Sehr oft lässt sich durch die klinische Erfahrung belegen, dass z. B. sexuell missbrauchte kleine Mädchen nicht nur durch das ängstigende und schockierende Erlebnis als solches, sondern häufiger durch die indifferente, sogar ablehnende oder auf jeden Fall nicht empathisch begleitende Mutter bei weitem nachhaltiger als durch den akuten Affekt geschädigt wurden. Ein sehr eindrucksvolles anderes Beispiel ist das folgende: Die während des Zweiten Weltkrieges stattgefundenen massenhaften Traumatisierungen der Deutschen (und nicht nur ihrer Opfer und Gegner), insbesondere der Kinder, konnten offensichtlich aufgrund von Schuldgefühlen – wegen des Holocausts und allen damit zusammenhängenden Grausamkeiten – in den Nachkriegsjahren nicht adäquat emotional verarbeitet werden. Dies hatte die bemerkenswerte Folge, dass es viel später – als die Deutschen begannen, auch über das eigene Leiden (in ihrer Kindheit) nachzudenken, und nach dem allmählichen Abklingen der bis dahin »erfolgreichen« Abwehr anfingen, sich daran zu erinnern – zu einer Anhäufung von damit zusammenhängenden psychosomatischen Störungen kam. Diese verspätete Manifestation lag nicht so sehr daran – wie oft angenommen wird –, dass die intensive Beschäftigung mit dem Wiederaufbau und die erzielten wirtschaftli-
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chen Erfolge vom Trauma abgelenkt hätten, sondern maßgebend an der Tatsache, dass erst jetzt etwas offener, sei es auch nur in einer Körpersprache, Leid ausgedrückt werden durfte. Der weitere Hauptgrund dafür, dass die frühe Traumatisierung allein und für sich noch nicht die maßgebende Bedingung für die entstehende Pathologie abgibt, ist folgender: Das psychische Trauma wirkt nicht vorwiegend per se und direkt, sondern durch die Reaktion, die es hervorruft, und insbesondere dadurch, dass es defensive und kompensatorische Mechanismen mobilisiert und auf Dauer installiert. Diese haben zwar die Vermeidung einer erneuten Traumatisierung zum Ziel und sind deshalb zunächst relativ nützlich. Sie führen aber dann in fataler Weise zu einer Vermeidung neuer, positiver Erfahrungen und zu einer Blockierung des beschriebenen dialektischen Entwicklungsprozesses. Ein massiv traumatisiertes kleines Kind wird kaum je ohne zusätzliche Begleitung und Hilfe in der Lage sein, die in der frühen Entwicklung jedes Menschen gestellte Aufgabe zu erfüllen, nämlich eine adäquate Balance zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen, zwischen narzisstischen und objektalen Tendenzen herzustellen. Es wird also sehr wahrscheinlich entweder den narzisstischen Rückzug antreten (und somit z. B. jedes Beziehungsangebot und jede Kontaktchance negativistisch zurückweisen); oder es wird, umgekehrt, sich dem Objekt oft sogar masochistisch unterwerfen respektive eine passive oder süchtige Anhänglichkeit entwickeln. Beide Haltungen sind denkbar ungünstig und hinderlich beim Versuch, die in der Entwicklung notwendige Balance zwischen Selbst und Objekt herzustellen. Auf Dauer gesehen wirkt sich also ein Trauma sehr oft vorwiegend darüber aus, dass es eine optimale Überwindung der Grundkonflikte verunmöglicht.
2.8 Konfliktmodell versus erlerntes Verhaltensmuster – die behaviorale Annahme Diese Alternativhypothese stellt die Frage: Sind psychische Störungen nicht einfach erlernte Denk-, Erlebens- und Verhaltensmuster, wie die Verhaltenstherapie und die kognitive Therapie behaupten? Könnte eine solche Auffassung nicht eine ernsthafte Alternative zum Konfliktmodell darstellen? Hierzu lässt sich sagen: Auch in der Psychoanalyse geht es um Lernen und Umlernen. Die Einsicht durch Aufhebung der Verdrängung oder durch neue Beziehungserfahrungen innerhalb der therapeutischen Beziehung stellt ja einen Umlernungsprozess dar. Im Gegensatz jedoch zu der verhaltenstherapeutischen Auffassung steht hier das, was bei der Entstehung der Störung »gelernt« wurde, sowie das, was in der Therapie umgelernt oder verlernt werden soll, in einem sehr engen Zusammenhang mit dem Konflikt und seiner Abwehr. Die damit verbundenen Lernprozesse beruhen nämlich nicht nur auf bloßen Konditionierungen, sie sind nicht zufällig gelernte Denk- und Verhaltensmuster. Dafür sind sie zu
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systematisch und weisen oft typische und charakteristische Besonderheiten auf. Man ist versucht zu sagen: Es steckt viel »System« dahinter. Die Tendenz des depressiven Patienten etwa, sich und seine Leistungen systematisch negativ zu beurteilen, beruht nicht auf einem zufällig entstandenen »basic concept« oder auf von den Anderen vorgelebtem und dann imitativ übernommenem Pessimismus, sondern diese Tendenz hat eine defensive Funktion. Sie dient der pathologischen Pseudolösung des Konflikts, sie dient dem »Ausgleich« von Schuld, der »Versöhnung« und der Beschwichtigung des eigenen Über-Ich (= des internalisierten Objekts) und wird deswegen vom Patienten auch nicht so leicht und nicht ohne weiteres aufgegeben. Dies bedeutet nicht, dass die verhaltenstherapeutische Methode bei Depressionen nicht sinnvoll und nicht teilweise wirksam sein kann. Das ist sie gewiss in vielen Fällen und bis zu einem gewissen Punkt. Dies kann jedoch dadurch erklärt werden, dass oft die ursprünglich dahinter gestandene konfliktuöse Dynamik inzwischen schwächer oder irrelevant geworden ist, so dass das, was zurückgeblieben ist, lediglich einen Automatismus, eine Gewohnheit darstellt (wogegen die Verhaltenstherapie selbstverständlich sehr wirksam sein kann). Unabhängig jedoch davon und darüber hinaus ist zu vermuten, dass bei der Anwendung der verhaltenstherapeutischen Methode die entstehende therapeutische Beziehung hier sogar auf eine für diese Therapieform spezifische Weise – wenn auch unbeabsichtigt – therapeutisch wirksam wird: Sofern nämlich der Verhaltenstherapeut in der Lage ist, nicht nur seine sachlichen Techniken anzuwenden, sondern gleichzeitig dem Patienten emotional positiv zu begegnen und ihn zu bestärken (was von der modernen Verhaltenstherapie seit der kognitiven Wende in den 1990er Jahren gefördert wird), macht der Patient eine neue Beziehungserfahrung, bei der respektvolle Distanz und sachliche Übungsarbeit einerseits sowie empathische Begleitung andererseits kombiniert werden. Dies ist jedoch ähnlich mit der in den psychoanalytischen Verfahren heute verlangten Kombination von Abstinenz und Empathie – eine Mischung, die schon per se eine therapeutische Wirkung qua neue, korrektive Beziehungserfahrung hat, weil sie eine Lockerung der festgefahrenen pathologischen rigiden Haltung dem Grundkonflikt gegenüber bewirkt. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Verhaltenstherapie und ihre Erfolge keine Relativierung oder Infragestellung des Konfliktmodells bedeuten; im Gegenteil könnte man im Sinne meiner skizzierten Betrachtungsweise auch an eine partielle Integration der beiden Modelle denken.
2.9 Konflikt versus struktureller Mangel Die Entwicklungen der psychoanalytischen Theorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass man zunehmend den Schwerpunkt der
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Pathogenese in einer mangelhaften oder fehlenden Bemutterung, in einem Mangel an empathischer Begleitung des Kleinkindes, überhaupt in psychosozialen, und zum Teil vielleicht auch in biologischen Defiziten sieht. Aufgrund dieser Verlagerung des Schwerpunktes in der Psychogenese entstand nun die Frage, ob nicht die von Freud und der frühen Psychoanalyse so stark favorisierte und in den Vordergrund gestellte Bedeutung der Konflikte zumindest relativiert werden müsste. Ich dagegen glaube, dass trotz dieser wichtigen Entwicklung innerhalb der Psychoanalyse das Konfliktkonzept weiterhin sein Primat aufrechterhalten wird, und zwar aus folgenden Gründen: Die chronifizierte Abwehr des Konflikts zusammen mit den chronifizierten Schutzmechanismen nach Traumatisierungen bestimmen entscheidend die dabei entstehenden und bleibenden sogenannten Defizite und Charakterzüge. Defizite und Mängel sind keineswegs immer oder vorwiegend das Primäre; sehr oft resultieren sie erst sekundär aus inadäquaten pathologischen Pseudolösungen von primär vorgegebenen intrapsychischen Gegensätzlichkeiten, also primären Konflikten und Dilemmata. Solche inadäquate Lösungen der Grundkonflikte beruhen wiederum ihrerseits oft auf vorgegebenen – biologisch oder psychosozial mitbedingten – Mängeln und Vulnerabilitäten; dennoch erscheint mir hier wichtig, sich die Vielfalt der möglichen Konstellationen vor Augen zu halten, um nicht der Einseitigkeit der verbreiteten Defizit- und Mangelauffassungen zum Opfer zu fallen. So ist es z. B. möglich, dass einige psychische Störungen (sogar schwerer Art wie die Schizophrenien) nicht so sehr auf einem Zuwenig, also auf einem Defizit oder auf einer Vulnerabilität beruhen, sondern umgekehrt auf einem Zuviel, also einer Übersensibilität, wodurch sich ebenfalls die Herstellung der Balance zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen sehr schwierig gestaltet. Solche auch durch klinische Erfahrung (siehe Kapitel 18.1) unterstützten Überlegungen sind dazu geeignet, die Gewichtigkeit von Defizitkonzepten erheblich zu reduzieren und die Zentralität der Konfliktdynamik wieder deutlicher werden zu lassen. So sehr auch strukturelle Aspekte, wie sie z. B. von Rudolf (2006) – auch im Rahmen der OPD (1998) – paradigmatisch formuliert und begründet wurden, nützlich sein mögen, so muss man sich davor hüten, die Störung des konkreten Patienten unbedingt in eine strukturelle Kategorie einzuzwängen und dadurch die noch vorhandene Konfliktdimension und -dynamik zu übersehen. Soweit zu den mit dem Konfliktkonzept scheinbar konkurrierenden Modellen und Hypothesen.
2.10 Konflikt und Aggression Abgesehen von den in Tabelle 1 aufgezählten Variationen des Grundkonflikts (sowie den dazu gehörigen Angstformen), welche als die primären Konflikte betrachtet werden können, gibt es nun eine Reihe anderer, sekundärer Konflikte, die
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in der Praxis ebenfalls bedeutsam sind. An erster Stelle muss man hier die mit der Bewältigung aggressiver Impulse zusammenhängenden Konflikte erwähnen. Zum besseren Verständnis muss allerdings zunächst die Aggressionsentstehung erläutert werden.
2.11 Die Entstehung der Aggression – die innere Aggressionsquelle Die lange Debatte darüber, ob die Aggression, also aggressive Impulse und Handlungen, ein biologisch vorgegebener Trieb sei, der nach seiner Befriedigung verlange – eine Debatte, die noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angedauert hat –, scheint mir aufgrund der neuen Forschungsergebnisse zugunsten der Auffassung, dass Aggression kein Trieb sei, entschieden zu sein. War man noch in den 1960er Jahren mehrheitlich vom Gegenteil überzeugt – Konrad Lorenz veröffentlichte sein berühmtes Buch »Das sogenannte Böse« (1963) und Richard Dawkins sein provokatives Buch »The Selfish Gene« (1976; dt. »Das egoistische Gen«, 1978) –, so mehrten sich in den Jahren danach die Stimmen, aber dann auch die empirischen Befunde, die eindeutig dafür sprachen, dass Aggression zwar immens verbreitet ist und sie zunächst ein sinnvolles biologisches Reaktionsmuster, aber doch keinen Trieb darstellt.1 Sie ist mehr der Angstreaktion oder der Schmerzreaktion und weniger dem Sexualtrieb vergleichbar. Evolutionstheoretisch entstand dieses Reaktionsmuster als – zunächst – notwendiges Mittel zur Verteidigung und/oder Durchsetzung eigener Interessen und Bedürfnisse, sofern sie auf Widerstand stoßen und sofern sie frustriert werden. In solchen Fällen liegt also ein äußerer Konflikt vor. Hier interessiert uns aber ein anderer, genauso häufig auftretender Fall, nämlich die Entstehung von Aggression aufgrund eines intrapsychischen Konflikts. Die Hervorhebung dieser Konstellation ist deswegen eminent wichtig, weil sie die Entstehung von Aggression in den Fällen, wo ein äußerer Anlass dafür nicht sichtbar ist, also die Fälle der scheinbar grundlosen Aggression verständlich macht. Wie ist dies zu verstehen? Bei den pathologischen Pseudolösungen praktisch aller oben geschilderten primären Konflikte entsteht zwangsläufig Frustration, denn meistens wird dabei einer der zwei Pole sozusagen vernachlässigt. So wird z. B. entweder das Liebesbedürfnis oder umgekehrt das Autonomiebedürfnis frustriert. In anderen Fällen
1 Man wurde übrigens zunehmend auf genetische Faktoren aufmerksam, die sich in der entgegengesetzten Richtung von Aggression auswirken, so dass dann z. B. Joachim Bauer 2008 sein Buch »Das kooperative Gen« (sozusagen der Kontrapunkt zum »egoistischen Gen«!) veröffentlichen konnte. Bei ihm kann man auch den interessanten Verlauf dieser Debatte und ihren Ausgang lesen.
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wird entweder das Bindungs- oder das Freiheitsbedürfnis zurückgestellt. Dadurch entstehen Unlust und dann auch Gereiztheit und Aggression. Dies macht auch die Hauptquelle der scheinbar spontan und grundlos entstehenden Aggression aus und nicht der früher hypothetisch angenommene destruktive Aggressionstrieb. Biologisch vorgegeben ist lediglich ein Aggressions-Reaktions-Muster, dessen Mobilisierung durch äußere, aber eben auch durch innere Frustration entstehen kann. Die auf diese Weise produzierte Aggression ist gleichsam sekundär bzw. reaktiv, aber trotzdem von einer enorm großen Verbreitung und Bedeutung. Sie trägt erheblich zur Entstehung von sekundären intrapsychischen und äußeren Konflikten bei. Dies geschieht z. B. dadurch, dass nunmehr die Aggression selbst oft zurückgestellt, zurückgedrängt werden muss, und zwar entweder aufgrund von Über-Ich-Verboten oder aber auch, weil sie zur Beschädigung oder Vernichtung des (nicht nur gehassten, sondern auch geliebten) Objekts führen könnte. Soweit zu der innerlich produzierten Aggression. Da jedoch alltäglich die Befriedigung von Wünschen und Bedürfnissen auch von außen verhindert wird, entsteht zusätzlich, nunmehr von außen veranlasste Frustrationsaggression, die ebenfalls zurückgestellt werden muss, allerdings hier aus der Angst vor dem Gegner oder Unterdrücker. In diesem Fall handelt es sich freilich um einen äußeren Konflikt – an erster Stelle hier wohl um die alltäglichen Konkurrenzkonflikte, insbesondere auch um den Sozialkonflikt im Allgemeinen.
2.12 Äußere Konflikte als externaliserte innere Konflikte Die Unterteilung in intrapsychische und äußere Konflikte ist zwar aus didaktischen Gründen nützlich, um eine begriffliche Klarheit herzustellen. In der Realität sind die Zusammenhänge jedoch viel komplizierter, weil vielfach intrapsychische (primäre und sekundäre) Konflikte unbewusst auf äußere, reale Konflikte aufgepfropft und in dieser verschobenen, externalisierten Form ausgefochten werden. Solche nach außen projizierten, also externalisierten Konflikte sind recht häufig. Ihre richtige Erfassung kann von praktischer Bedeutung für das Verständnis von Ehe- und Partnerproblemen, von intergruppalen und ethnischen Konflikten sein. Es geht überhaupt um innere Konflikte, die bei kollektiven Auseinandersetzungen, bis hin zum Krieg, eine große Rolle spielen, weil sie teilweise indirekt und unerkannt die äußere Auseinandersetzung mitbedingen. Diese psychosoziale Thematik wird aber hier nicht weiter verfolgt (vgl. Mentzos, 1976/1988 und insbesondere 1993/2002). Ihre Erwähnung dient nur der begrifflichen Klärung und der Abtrennung dieser äußeren, bewussten Interessenkonflikte von den in der Psychopathologie des Einzelnen vorkommenden intrapsychischen Gegensätzlichkeiten. Darüber hinaus sollte auf die wichtige Tatsache hingewiesen werden, dass sehr viele sich wiederholende Streitigkeiten und Kämpfe, in der Familie, in der Gesellschaft etc., in Wirklichkeit externalisierte innere Konflikte sind.
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Diese Erkenntnis ist von sehr großer praktischer Relevanz, und zwar nicht nur für den Therapeuten, sondern auch für Personen der Umgebung des Patienten. Manchmal wundert sich auch der Patient selbst über die Unverhältnismäßigkeit von in der alltäglichen Kommunikation ad hoc entstehenden heftigen Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten aus geringem oder aus keinem Anlass. Oft sind es z. B. relativ bedeutungslose semantische Missverständnisse, die zu solchen unverhältnismäßig intensiven verbalen Auseinandersetzungen Anlass geben. Das Erkennen der dahinterstehenden Dynamik ist meist schwierig, weil diese Missverständnisse und daraus entstehenden starken Affekte zwar übertrieben, aber in ihrer momentanen Form ansonsten verständlich erscheinen. In Wirklichkeit handelt es sich aber oft um Gegensätzlichkeiten und affektiv hoch beladene Kämpfe zwischen inneren und aus der frühen Kindheit des Betreffenden stammenden Repräsentanten von wichtigen Bezugspersonen bzw. primären Objekten. In ausgeprägter Form kann man dies z. B. bei Borderline-Patienten sehen, wenn sie in ihrer aktuellen Umgebung und aus geringstem Anlass Personen kritisieren oder sogar heftig angreifen. Diese Letzteren werden sozusagen zu Stellvertretern jener anderen inneren Gegner und feindselig besetzten Eltern etc., ohne dass dies dem betreffenden (und zu solchen zornigen Ausbrüchen neigenden) Menschen bewusst wird. Es besteht offensichtlich aufgrund der intrapsychischen Spannung innerhalb der Beziehung mit diesen inneren Objekten eine erhebliche Tendenz zur Reinszenierung des damaligen und inzwischen längst verdrängten und/oder dissoziierten Konflikts. Bei der Rollenverteilung solcher Reinszenierungen werden dann bevorzugt Personen »gewählt«, die auch in der aktuellen Situation dem Betreffenden sehr nahe stehen. So erklärt sich auch die Häufigkeit solcher Reinszenierungen von Auseinandersetzungen zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern oder in anderen Partnerschaften. Die direkte Deutung solcher Reinszenierungen durch den Therapeuten, in den Fällen, wo er diese Zusammenhänge zu sehen beginnt, haben meistens keine Aussicht auf Erfolg. Der Betreffende ist der festen Überzeugung, dass es sich um jetzige reale Differenzen handelt, z. B. um eine tatsächlich ungerechte Behandlung durch den Anderen. Trotzdem ist es für den Therapeuten zunächst einmal sehr nützlich, solche sonst unerklärlich erscheinenden heftigen Auseinandersetzungen und Ausbrüche zu verstehen und dadurch seine eigene Gegenübertragung besser und schneller zu bewältigen. Dadurch ist er in der Lage, bei Situationen und Wendungen in der späteren Therapie auf diese Zusammenhänge einzugehen und sie mit dem Patienten zu reflektieren.
Kapitel 3: Abwehrmechanismen und Modi der Verarbeitung von Konflikten und Traumata
3.1 Abwehrmechanismen – Definition, Funktion, Klassifikation Die in den früheren Abschnitten geschilderten durch Konflikte, Traumata oder andere Belastungen bedingten, emotionellen Reaktionen bzw. unlustvollen intrapsychischen Spannungen werden oft durch psychische Mechanismen, sogenannte Abwehrmechanismen, abgewehrt, das heißt zwar nicht gelöst, aber weniger bewusst spürbar und dadurch erträglicher gemacht. Die Theorie der Abwehrmechanismen ist eine der fruchtbarsten und am meisten, auch außerhalb der Psychoanalyse, akzeptierten Teile der psychoanalytischen Theorie. Um einen Überblick über die große Vielfalt der Abwehrmechanismen zu gewinnen, bedarf es einer sinnvollen Einordnung. Am besten hat sich eine Einteilung der Abwehrmechanismen – zunächst theoretisch – nach dem Grad ihrer Reife bewährt, wobei die Unreife eines Abwehrmechanismus daran gemessen wird, welcher Grad der Regression (das Zurückgreifen auf entwicklungspsychologisch frühere Stufen) vorliegt. Pragmatisch lässt sich der Grad der Unreife eines Abwehrmechanismus aber schneller dadurch abschätzen, was ein Abwehrvorgang dem psychophysischen Organismus »kostet«, das heißt: Welche Art und welches Ausmaß von Nachteilen sind es, die für diese Abwehr – um die intrapsychische Spannung zu reduzieren und dadurch Angst, Scham, Schuld etc. zu mildern – in Kauf genommen werden müssen? Ist also im Abwehrvorgang beispielsweise eine kleinere oder eine größere Vernachlässigung der Realität, eine kleinere oder eine größere Einschränkung der Freiheitsgrade usw. impliziert? Die Abwehrmechanismen lassen sich in folgende Ebenen ordnen (zusammengefasst in Tabelle 2, S. 47): a) Zu den unreifen Abwehrmechanismen gehört z. B. die psychotische Projektion (projektiv entstandener Wahn, z. B. der Verfolgungswahn), die psychotische Introjektion (der durch pathologische Identifizierung entstandene Wahn, z. B. die Überzeugung, Napoleon zu sein), die psychotische Verleugnung der eigenen Mängel und Schwächen (wie in der Manie), die psychotische Abspaltung (wie z. B. bei der psychotischen Depersonalisation). Bei der projektiven Identifizierung kommt es neben der Projektion eigener »böser« Persönlichkeitsanteile in den Anderen (das Objekt) auch zusätzlich zu einer manipulativsuggestiv erzeugten tatsächlichen Veränderung dieses Anderen im Sinne der Projektion (siehe Näheres in Kapitel 14.3.4 über die Borderline-Störungen
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oder auch die Ausführungen zu dem verwandten und von mir vorgeschlagenen Terminus der Real-Externalisierung in Kapitel 4.11). b) Auf der zweiten Ebene trifft man die nichtpsychotischen Projektionen, nämlich Spaltungen, Verleugnungen, wie man sie öfters etwa bei der Entstehung von Feindbildern oder bei der – in der Vorstellung des Betreffenden entstehenden – Spaltung der Welt in Gut und Böse vorfindet. Aber auch die nichtpsychotische Identifikation, ein an sich sonst normaler und wichtiger Vorgang in der psychischen Entwicklung und bei der Identitätsfindung aller Menschen, kann unter Umständen als Abwehrmechanismus benutzt werden. Dies geschieht sehr häufig bei der hysterischen Symptombildung, also bei der Quasi-Veränderung der Selbstrepräsentanz im Rahmen von unbewussten Inszenierungen, die das eigene Selbst in einem besonderen Licht erscheinen lassen (als schwach in der Identifikation mit dem Kranken oder umgekehrt als stark und potent, z. B. im Don-Juanismus). c) In der dritten Ebene findet man die reifen und sehr verbreiteten Abwehrmechanismen, die wir – sowohl bei allen psychoneurotischen Störungen als auch im Grenzbereich zu dem sogenannten Normalen – schon im Alltag antreffen: Intellektualisierung meint die Tendenz, alles unter kognitiven Aspekten zu betrachten und dadurch Emotionales abzudrängen, Rationalisierung bedeutet die nachträgliche Rechtfertigung durch pseudorationale Argumente, Affektisolierung beschreibt eine defensive Technik, die darin besteht, dass zwar der kognitive Inhalt bewusst ist und bleibt, der dazu gehörige Affekt jedoch verdrängt und dadurch unbewusst wird. Verschiebung findet statt, wenn z. B. eine Selbstverlustgefahr und die dazugehörige Angst auf eine andere, kleinere, nur angebliche und äußerliche Gefahr (und dazugehörige Angst) verschoben wird (Tierphobie, Klaustrophobie usw.). Verlagerung meint dagegen das Abreagieren, die Entladung eines Impulses auf eine andere und nicht die ursprünglich gemeinte Person (etwa Ausschimpfen der Ehefrau durch den Ehemann, wenn er Ärger mit seinem Vorgesetzten hatte). Verdrängung im engeren Sinne ist ein erst von Freud näher beschriebener, wenn auch wahrscheinlich schon vor ihm bekannter Mechanismus, bei dem bestimmte Namen, Situationen, Zeiträume usw. aktiv – wenn auch unbewusst – »vergessen« werden (das »dynamische« Unbewusste nach Freud, im Gegensatz zum passiven bloßen Vergessen). Dadurch entstehen Amnesien (Erinnerungslücken) oder Fehlhandlungen. Verdrängung ist der häufigste und auch dem Laien bekannteste Abwehrmechanismus. Ungeschehenmachen ist eine defensive Technik, durch die ein unangenehmer, verpönter, unlustvoller Gedanken oder entsprechendes Handeln durch Aktivierung des entgegengesetzten Gedankens oder Handelns neutralisiert bzw. rückgängig gemacht wird. Beispiel: Ein zwangsneurotischer Patient, der glaubte, dass jedes Mal, wo er den elektrischen Lichtschalter betätigte, um das Licht auszuschalten, sein Vater womöglich sterben würde (magisches Denken), pflegte den Schalter dreimal in die Gegenrichtung zu drehen. Er machte dadurch den Tod des Vaters ebenfalls in magischer Weise für sich ungeschehen.
Kapitel 3: Abwehrmechamismen und Modi der Verarbeitung
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Die Wendung gegen das Selbst, also ein autoaggressives Verhalten, ist ein sehr häufiger Abwehrmechanismus, um Aggressionen gegen andere zu verhindern, und zwar entweder aus Über-Ich-Gründen (innere Verbote), um die damit verbundenen und drohenden inneren oder äußeren Strafen zu vermeiden; oder aber um das Objekt (den wichtigen inneren oder äußeren Anderen) zu schützen, um ihn also nicht mit der Aggression zu zerstören. Die Reaktionsbildung ist ein Abwehrmechanismus, der ähnlich wie das Ungeschehenmachen arbeitet, also mit der Aktivierung eines dem ursprünglich aggressiven Impuls entgegengesetzten Verhaltens; allerdings nicht punktuell und einmalig und nicht nur in Bezug auf eine bestimmte Situation, sondern dauerhaft als eine einprogrammierte Haltung – man könnte auch sagen: als Charakterzug. Bei zwangsneurotischen Patienten trifft man oft eine übertriebene Pedanterie und Aggressionshemmung sowie die Überhöflichkeit usw. als Dauerhaltungen zur Vorbeugung entgegengesetzter Impulse und Verhaltensweisen. d) Bei den Mechanismen der vierten Ebene handelt es sich eigentlich nicht um pathologische, sondern um reife Bewältigungsmechanismen, die neuerdings auch mit dem Terminus Coping bezeichnet werden. Tabelle 2: Abwehrmechanismen I. Ebene a. psychotische Projektion (z. B. Verfolgungswahn) b. psychotische Introjektion (z. B. Glaube, Jesus zu sein) c. psychotische Verleugnung (z. B. in der Manie) d. psychotische Abspaltung (z. B. bei der psychotischen Depersonalisation) II. Ebene a. die nichtpsychotische Projektion, Spaltung, Verleugnung usw. b. Identifikation als Abwehr, insbesondere projektive Identifikation: zu der Projektion des Negativen auf das Objekt kommt – per Induktion – ein interaktioneller Druck hinzu, der Andere soll sich der Projektion entsprechend verhalten! III. Ebene a. Intellektualisierung, Rationalisierung, Affektualisierung usw. b. Verschiebung, Verlagerung, Verdrängung i. e. S. usw. c. Ungeschehenmachen, Wendung gegen das Selbst, Reaktionsbildung IV. Ebene Reifes Coping; Sublimierung, Humor usw. V. Zusätzlich: Psychosoziale Abwehr und Somatisierung
Früher betrachtete man die sogenannte Sublimierung – die Umlenkung der Triebwünsche von ihrem ursprünglichen Triebziel weg und hin zur Verwirklichung sozial hoch bewerteter Ziele – als Hauptvertreterin der reifen Abwehrformen. Dies hat sich geändert. Es handelt sich bei der Sublimierung um einen alten, von
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Freud stammenden Begriff, der allerdings in der letzten Zeit vielfach in Bezug auf die von Freud gemeinte sozial positive Funktion hinterfragt wird. Denn was als sozial »positiv« zu bewerten ist, ist nicht ohne weiteres eindeutig zu definieren. Außerdem ist – unabhängig davon – mit der erheblichen Relativierung der Triebtheorie auch die darauf sich stützende Begriffsbildung der Sublimierung weniger sinnvoll geworden. Dagegen gilt Humor weiterhin als einer der wichtigsten reifen Bewältigungsmechanismen, der sich öfters sogar in sehr schwierigen und spannungsreichen Situationen bewährt.
3.2 Weitere Abwehrvorgänge: Psychosoziale Abwehr und Somatisierung Zwei große Gruppen von Abwehrvorgängen, nämlich die psychosoziale Abwehr und die Somatisierung, wurden bis jetzt nicht berücksichtigt, weil sie nicht ohne weiteres in die obige Einordnung passen. Alle bis jetzt dargestellten Abwehrmechanismen können sowohl als intrapsychische oder auch als interaktionell organisierte Prozesse vorkommen. Letztere werden nun unter den Terminus der psychosozialen Abwehr zusammengefasst und sind für das Verständnis der Psychodynamik von Paaren, von kleinen und größeren Gruppen, aber auch von makrosozialen Gruppierungen und ihrer Beziehungen von großer Relevanz. Auch in der Analyse von Institutionen, in der Psychologie und Psychopathologie des Krieges wie auch in anderen Pathologien sozialer Systeme kommt man ohne die Konzepte des psychosozialen Arrangements und der Kollusion nicht aus (vgl. auch Mentzos, 1976/1988, 1993/2002). Bei solchen Kollusionen werden vielfach z. B. die neurotischen »Bedürfnisse« und Abwehrmechanismen zweier Partner gegenseitig bedient. Eine Ehefrau erlebt ihren Ehemann quasi als ihr externalisiertes Über-Ich (man kann auch sagen: Sie hat ihn dazu instrumentalisiert). Sie verhält sich deswegen ihm gegenüber submissiv, aggressionsgehemmt, ist sehr unfrei und abhängig. Dadurch gelingt es ihr aber, einen inneren Konflikt (mit ihrem Über-Ich) bzw. eine möglicherweise daraus entstehende Angststörung, Depression oder Zwangsneurose zu vermeiden. Der Ehemann wiederum genießt seine Überlegenheit, um eigene Insuffizienzgefühle und Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Diese pathologische Kollusion kann jedoch nur für eine beschränkte Zeit funktionieren. Irgendwann kann die Ehefrau die implizierten Demütigungen nicht mehr ertragen und versucht allein oder mit psychotherapeutischer Hilfe sich zu befreien. In diesem konkreten Fall ist die Befreiung der Frau gelungen, wobei aber der Ehemann in eine schwere Krise geriet und depressiv bzw. suizidal wurde. Die Abwehrmechanismen, die sich hauptsächlich der Somatisierung bedienen, sind charakteristisch für die psychosomatischen Störungen im engeren Sinne und werden deswegen im zweiten, dem speziellen Teil des Buches (Kapitel 16) besprochen.
Kapitel 3: Abwehrmechamismen und Modi der Verarbeitung
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3.3 Abwehrmechanismen und Symptombildung Das detaillierte und systematische Wissen um die Abwehrmechanismen erleichtert sehr das Verständnis der Dynamik und Funktion des einzelnen Symptoms. So führt z. B. die Verschiebung zur Bildung von Phobien, also von Ängsten vor – objektiv betrachtet – relativ geringfügigen äußeren »Gefahren«, anstelle der dahinterstehenden und dadurch nicht bewussten eigentlichen Gefahren und Ängste. Auch in Bezug auf die Abwehrmechanismen der Identifikation oder der Projektion wurden die dabei eventuell entstehenden Symptome (hysterische Pseudolähmungen oder Verfolgungswahn usw.) erwähnt. Wichtig ist an dieser Stelle ergänzend zu vermerken, dass die Abwehrmechanismen nicht nur der Verminderung der intrapsychischen Spannung und der Reduzierung der dadurch entstehenden Unlust, sondern oft auch einer kompromisshaften Befriedigung dienen. Erst im »Schutze« der Verleugnung, der Verdrängung, der Spaltung usw. können nämlich verbotene und gefährlich erscheinende Bedürfnisse und Wünsche wenigstens gelegentlich kompromisshaft – sei es auch manchmal nur symbolisch – befriedigt werden.
3.4 Der Unterschied zwischen Modus und Abwehrmechanismus Der Terminus (defensiver) Modus soll die für jede psychische Störung charakteristische und im Vordergrund stehende Art der pathologischen Verarbeitung und/oder Kompensation von Konflikt, Trauma oder anderen Überforderungen bezeichnen. Der Modus enthält zwar einen oder mehrere Abwehrmechanismen, er ist jedoch nicht mit einem von ihnen oder mit ihrer bloßen Summe identisch, weil er einer übergeordneten Funktion und Struktur der Abwehr und Kompensation dient. Ein gutes Beispiel zur Erläuterung des Gemeinten ist der hysterische (histrionische) Modus: Er bedient sich zwar der Abwehrmechanismen der Verdrängung: der Identifikation, der Emotionalisierung, der Dramatisierung; seine übergeordnete und die einzelnen Abwehrmechanismen verbindende Funktion und Struktur ist jedoch die Herstellung einer unbewussten Inszenierung, durch die der Betreffende selbst oder seine Beziehungen und die Gesamtsituation, in der er sich befindet, anders erscheinen sollen, als sie tatsächlich sind. Diese QuasiVeränderung der Selbstrepräsentanz und der Situation, die ja die Funktion des hysterischen Modus ausmacht, wird vom Betroffenen im Vergleich zu der vorher unerträglichen Spannung als eine Erleichterung, als eine partielle, scheinbare Befreiung von der Ausweglosigkeit des Konflikts empfunden. In ähnlicher Weise kann man von einem zwangsneurotischen, einem phobischen, einem depressiven Modus sprechen. Die spezifische und charakteristische Art, Gestalt und Funktion jeder dieser Modi wird ausführlich im speziellen, zweiten Teil dieses Buches behandelt werden. Hier sollten nur die Notwendigkeit und
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die praktische Nützlichkeit dieses von mir vorgeschlagenen Konstrukts des Modus für das psychodynamische Verständnis begründet werden. Derselbe Modus kann durch verschiedene Konflikte (oder andere Belastungen) mobilisiert werden; umgekehrt kann ein bestimmter Konflikt (oder eine bestimmte Belastung) durch verschiedene Modi beantwortet werden. Es ist also zu betonen, dass die Modi relativ unspezifisch (in Bezug auf den Konflikt oder das Trauma) sind. Dies ist von großer praktischer Bedeutung. Da nämlich das deskriptiv fassbare klinische Bild einer psychischen Störung mehr dem jeweils mobilisierten Modus und weniger dem dahinterstehenden Konflikt oder Trauma entspricht, empfiehlt es sich, bei der diagnostischen Einschätzung zunächst auf diese leicht feststellbare funktionelle Einheit, eben den Modus, zu fokussieren und noch nicht – vorschnell – sich auf einen speziellen Konflikt oder ein bestimmtes Trauma festzulegen. Ein ausgeprägter hysterischer Modus kann zwar der Verarbeitung eines ödipalen Konflikts dienen, genauso gut aber – wenn nicht sogar häufiger – wird er aufgrund anderer intrapsychischer Gegensätzlichkeiten und Bedürftigkeiten mobilisiert. Dasselbe gilt auch für den zwangsneurotischen Modus. Nach der alten psychoanalytischen Auffassung dient er nur der Verarbeitung eines (früher »anal« genannten) Gehorsam-Ungehorsam-Konflikts. Heute wissen wir, dass er genauso gut der notdürftigen Stabilisierung bei einer drohenden Selbstdesintegration, gleichsam als ein stabilisierendes Korsett, dienen kann. In einem solchen Fall kann es nun vorkommen, dass ein Therapeut, der diese Zweigesichtigkeit des zwangsneurotischen Modus nicht kennt, den Patienten nicht richtig versteht und z. B. eine Deutung gibt, die sich nur nach dem alten Prinzip richtet, wonach Zwang immer mit einem »analen« Konflikt – Gehorsam gegen Ungehorsam – und mit einer Hemmung einer nicht »erlaubten« Aggression zu tun habe. Dieser Therapeut läuft Gefahr, den eigentlichen Konflikt, die eigentliche Traumatisierung und insbesondere die damit zusammenhängende eigentliche Not des Patienten völlig zu übersehen und falsch zu interpretieren – und der Patient fühlt sich nicht verstanden.
Kapitel 4: Die innerhalb der Psychoanalyse entwickelten psychodynamischen Modelle
Um das Verständnis der bis jetzt dargestellten psychodynamischen Konzepte und Hypothesen zu vertiefen, empfiehlt sich ein historischer Exkurs zu den im 20. Jahrhundert entwickelten wichtigsten psychoanalytischen Modellen. Unser heutiges psychodynamisches Denken und Handeln stammt nämlich zu einem großen Teil aus der selektiven Übernahme, Korrektur, Ergänzung und Transformierung dieser Modelle.
4.1 Das Triebmodell und das Drei-Instanzen-Modell Unter Trieb verstand Freud einen intrapsychischen Drang, der zwar mit körperlichen Vorgängen gekoppelt sei, der aber – mittels der sogenannten Triebabkömmlinge – die Grundlage von Verhaltensweisen und entsprechenden Erlebnissen einer Person ausmache. Im Gegensatz dazu steckt hinter dem Begriff Instinkt ein vollständig an das Körperliche gebundener und nur sekundär, wenn überhaupt, psychisch relevanter Prozess. Das Triebmodell von Freud war am Anfang dualistisch, indem es die Existenz von zwei Trieben postulierte: Von 1894–1911 ging es um das Paar Arterhaltungs- bzw. Sexualtrieb einerseits und Ich- bzw. Selbsterhaltungstrieb andererseits. Von 1915–1920 handelte es sich um den Gegensatz zwischen Sexualund Aggressionstrieb (bzw. ab 1920 Lebens- und Todestrieb). In der Zeit dazwischen, also 1911 bis 1914, kam es vorübergehend mit dem von Freud aufgestellten Konzept des Narzissmus (der Sexual- und Ich-Trieb gehen aus derselben libidinösen Quelle hervor) zu einem monistischen, also nichtdualistischen Triebmodell – sowohl das Objekt als auch das Ich wurden libidinös besetzt. Dies wurde jedoch vom Dualismus der Lebens- und Todestriebe (Eros und Thanatos) abgelöst. Die wichtigen Bezugspersonen sind innerhalb dieser verschiedenen Triebmodelle vorwiegend als potenzielle Sexualobjekte oder Aggressionsobjekte der Befriedigung begehrte, erreichbare oder umgekehrt unerreichbare, erlaubte oder verbotene – eben immer Objekte. Dies alles aber nur in der Theorie. In der Praxis geht es von Anfang an bei Freud und den Nachfolgern um Beziehungspersonen. Erst allmählich bekam der Terminus »Objekt« auch in der Theorie die Charakteristiken einer Person bzw. eines anderen Subjekts. Der Terminus ist aber trotzdem geblieben und dies führt bei Lesern, die nicht in der psychoanalytischen Tradition
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stehen, zu Missverständnissen. Deswegen finde ich den Versuch von Zima (2009) verständlich, statt von Objekten von »Ko-Subjekten« zu sprechen. Der pathogene Prozess wird zunächst als eine Traumatisierung ohne die Möglichkeit der affektiven Abfuhr konzeptualisiert, bald aber vorwiegend auch als Folge eines Konflikts durch die Blockierung und Hemmung der Triebbefriedigung. Es entsteht das Drei-Instanzen-Modell von Es/Ich/Über-Ich. Im Es sind – nach dem frühen Freud – die körpernahen Impulse enthalten, die aus den Trieben hervorgehen. Das Es hat aber kaum eine Organisation; für die Vorgänge im Es gelten die logischen Denkgesetze nicht. Im Es findet sich nichts, was der Zeitvorstellung entspräche. Wunschregungen, die das Es nie überschritten haben, aber auch Eindrücke, die durch Verdrängung im Es versenkt worden sind, seien virtuell unsterblich. Das Ich dagegen sei eine organisierte, strukturierte psychische Instanz, die der Anpassung an die innere und äußere Realität dient. Das Über-Ich sei die Summe der von wichtigen primären Bezugspersonen (Objekte) übernommenen Verbote und Gebote.
4.2 Der Ich-psychologische Ansatz und seine Erweiterung durch den Begriff des Selbst Wenn innerhalb der Triebtheorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer häufiger von einem Triebkonflikt die Rede war, so meinte man damit nicht den Konflikt zwischen den Trieben, sondern den Konflikt zwischen den Trieben einerseits und den Anforderungen des Ich und/oder des Über-Ich andererseits bzw. den Konflikt zwischen Trieb und Kultur aufgrund der kulturell stattfindenden notwendigen Einschränkungen der Triebbefriedigung. Der Triebkonflikt war jetzt der Konflikt zwischen den Instanzen im Drei-Instanzen-Modell, damals und auch heute noch gelegentlich Strukturmodell genannt. Dieses Modell stand zwar in den ersten Jahrzehnten der psychoanalytischen Entwicklung im Vordergrund, es hat jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung eingebüßt, weil durch die hinzugekommenen Erfahrungen seine Bestandteile relativiert und aufgeweicht wurden. Dadurch waren sie nun in ihrer ursprünglichen Form wenig brauchbar geworden. Der strukturelle Ansatz wurde jedoch deswegen nicht etwa verlassen, sondern erreichte innerhalb der in den 1940er und 1950er Jahren herrschenden Ich-Psychologie seinen Höhepunkt. Das Hauptgewicht lag jetzt auf der Instanz des Ich. Aber auch das Es wurde anders konzipiert. Das Es enthält jetzt, wenn man noch den Begriff benutzen will, nicht nur die Triebe, sondern wichtige unbewusste Fantasien, Repräsentanzen von Objekten und Objektbeziehungen, also nicht nur die unorganisierten, chaotischen und nur nach Befriedigung drängenden Triebe, sondern auch viele andere verhaltens- und erlebensbestimmende Tendenzen. Unter
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dem maßgeblichen schöpferischen Einfluss besonders von Hartmann (1939), Rapaport (1957) wie auch von vielen anderen kam es zu einer grundlegenden Ergänzung und Modifizierung, die zum späteren reifen Ich-psychologischen Modell führten. Das Ich wird also in den Vordergrund gestellt, es wird als eine in gewissem Maß autonome und übergreifende Struktur betrachtet. Der Terminus Struktur bezieht sich jetzt nicht automatisch auf das Es/Ich/Über-Ich-Modell, sondern mehr auf den Aufbau und die Beschaffenheit des Ich. Man versuchte, die Psychoanalyse zu einer allgemeinen Psychologie zu erweitern. Wichtig bei dieser Entwicklung war, dass besonders durch Hartmann das Selbst neu und klarer definiert wurde: Es handele sich dabei nicht um eine neue, vierte Instanz, sondern um einen übergreifenden, alle Instanzen bzw. die gesamte Person erfassenden subjektiven Aspekt; man könnte auch sagen, das Selbst sei die Summe aller Selbstrepräsentanzen, also wie man sich selbst bewusst und unbewusst sieht und erlebt. Das Über-Ich wird als Begriff in den 1950er bis 1970er Jahren seltener benutzt, gewinnt aber danach und bis heute an Bedeutung, wenn auch in einer viel differenzierteren Gestalt und Funktion, zumal im Zusammenhang mit den benachbarten Konzepten von Idealobjekt (»wie ich mir mein ideales Vorbild vorstelle«) und Idealselbst (»wie ich idealiter sein möchte«). Insgesamt ist also festzustellen, dass das ursprüngliche Drei-Instanzen-Modell seine Aussagekraft eingebüßt hat. Einer der Hauptgründe dafür war die Tatsache, dass es nicht in der Lage war, außer den von Freud ursprünglich beschriebenen Konflikten zwischen den einzelnen Instanzen auch jene anderen, gleichsam innerhalb der jeweiligen Instanz entstehenden intrasystemischen Gegensätzlichkeiten zu erfassen (z. B. Aktivität versus Passivität, homosexuelle versus heterosexuelle Wünsche etc.), die aber zumindest genauso wichtig sind. Darüber hinaus hat das im nächsten Abschnitt besprochene Selbstdefizit-Modell den Schwerpunkt vom Konflikt auf das Defizit verlegt und dadurch sozusagen die Hauptfunktion des Drei-Instanzen-Modells, nämlich die Beschreibung der Konflikte, teilweise überflüssig gemacht oder auf jeden Fall relativiert.
4.3 Das Selbstdefizit-Modell und die Kohut’sche Selbstpsychologie Schon Freud hat mit der Einführung der Theorie des Narzissmus nicht nur die Blickrichtung vom Objekt auf das eigene Selbst erweitert, sondern direkt und indirekt sich mit den dadurch entstehenden Veränderungen in der Triebtheorie beschäftigt. Alfred Adler wiederum hatte mit der Betonung der Rolle und Relevanz von Minderwertigkeitsgefühlen auch auf die Bedeutung von Defiziten aufmerksam gemacht. Triebkonflikte des »alten Typs« wurden dadurch in ihrer Bedeutung relativiert. Ebenfalls hat C. G. Jung andere intraspsychische Gegensätzlichkeiten in den Vordergrund gestellt. Ihm ging es um die Gegensätze zwischen Animus und Anima, zwischen bewusstem Selbstbild und unbewussten Schatten, zwischen offen erlebten und im Hintergrund ein Schattendasein fristenden tieferen Sehnsüchten.
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Dies alles geschah schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dann hat Kohut in den 1960er und 1970er Jahren in seiner Selbstpsychologie den Kohärenzmangel des Ich beim Ausbleiben der für das Kleinkind notwendigen Spiegelung in den Vordergrund gestellt. Aber auch schon davor gerieten die durch den Mangel entstandenen Selbstpathologien – etwa Mitte des 20. Jahrhunderts – ins Zentrum des Interesses. Jetzt erschienen Mangel und Defizite wichtiger als der Konflikt. In der Kohut’schen Selbstpsychologie ist dieser Mangel in seinen Folgen differenzierter, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung des Narzissmus (siehe weiter unten Kapitel 5) erfasst.
4.4 Die Objektbeziehungstheorien Parallel zu der Entwicklung der Selbstdefizit-Modelle – und teilweise schon davor – kann man die ersten Vorstöße der später besonders einflussreichen Objektbeziehungstheorien registrieren (ab den 1940er Jahren). Angefangen mit Balint und Winnicott, über Melanie Klein, Guntrip u. a. machte sich die Tendenz bemerkbar, auf die frühen Objektbeziehungen als solche (unabhängig von den Trieben) zu fokussieren sowie auf die inneren Konflikte innerhalb dieser Beziehungen. Somit gerieten wiederum die Konflikte in den Vordergrund, es waren aber jetzt andere Konflikte als diejenigen der früheren Triebtheorie. Das Objekt war nicht mehr das Mittel zur Befriedigung (zur Erreichung des Zieles des Triebes, wie der frühe Freud sagen würde). Man erkannte, dass es ein primäres Bedürfnis nach Bindung mit dem Objekt, auch jenseits und unabhängig von der Sexualität, von der Nahrung, von dem Hunger etc. gibt. Dadurch verlor das alte Triebmodell noch mehr an Relevanz. Die damit oft verbundene übertriebene und unbegründete Vernachlässigung der Sexualität als einer der wichtigsten motivationellen Kräfte musste allerdings später korrigiert werden. Schon der Plural im Titel »Objektbeziehungstheorien« dieses Abschnittes deutet darauf hin, dass es sich hier um in gewisser Hinsicht verwandte, aber auch in wesentlichen Punkten recht unterschiedliche und heterogene Theorien handelt. Das Gemeinsame ist die zentrale Position und Hochschätzung der Funktion des (intrapsychischen oder externen) Objekts. Aufgrund dieses Kriteriums könnte man aber auch Autoren, die sich im Ich-psychologischen bzw. strukturtheoretischen Bezugsrahmen bewegten, als Objektbeziehungstheoretiker bezeichnen (vgl. Fonagy und Target, 2006, S. 153), so z. B. Edith Jacobson, die geschrieben hat, dass das Kind lieber eine schlechte Mutter als gar keine Mutter hat und dass es unter Umständen lieber sich selbst zerstört als jenes »böse« innere Objekt (zitiert bei Fonagy und Target, 2006, S. 153). Aber auch wenn man den engeren, zentralen Bereich der verschiedenen Objektbeziehungstheorien betrachtet, so ist eine große Vielfalt von Richtungen festzustellen, die schwer exakt zu definieren und abzugrenzen sind. Versucht man
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trotzdem eine grobe und auch für die Praxis brauchbare und nützliche Ordnung herzustellen, so kann man unterscheiden zwischen Objektbeziehungstheorien, die sich mit intrapsychischen (in der Fantasie und in der Repräsentation vorhandenen) Objekten beschäftigen einerseits und andererseits denjenigen, bei denen reale Bezugspersonen im Vordergrund stehen. Eine andere Unterteilung schlug Friedmann vor, der zwischen »harten« und »weichen« Objektbeziehungstheorien unterscheidet (zitiert bei Fonagy und Target, 2006, S. 155). »Harte Theorien, zu denen er jene von Melanie Klein, Fairbairn und Kernberg zählt, gehen von einem – im Menschen vorhandenen – hohen Maß an Hass, Wut und Aggression aus, während die weichen Objektbeziehungstheorien, wie sie etwa von Balint, Winnicott und Kohut vertreten werden, sich auf Liebe, Schuldlosigkeit, Entwicklungsbedürfnisse, Befriedigung und progressive Entfaltung konzentrieren.« Offenbar hängt diese pragmatische, aber auch richtige Unterteilung damit zusammen, dass die Vertreter der ersten Gruppe von einer primären Destruktivität, von einem Aggressions- bzw. Todestrieb ausgehen, was bei den Vertretern der zweiten Gruppe nicht der Fall ist. Die Letzteren, so könnte man wiederum kritisch feststellen, unterschätzen sicher das Ausmaß und die Ausbreitung aggressiver und regelrecht destruktiver Tendenzen, Impulse und Handlungen. Trotzdem meine ich, ist dies kein zwingender Grund und kein überzeugendes Argument für die Annahme eines Aggressions- bzw. Todestriebes: Man kann diese (aggressiven) Phänomene auch ohne diese recht hypothetische Annahme des Todestriebes erklären, wie ich in anderen Abschnitten des Lehrbuches zeige. Auf jeden Fall ist die Beantwortung dieser Frage (destruktiver Trieb ja oder nein) nicht nur von theoretischer, sondern von sehr großer praktischer und therapeutischer Bedeutung. Übertragung und Gegenübertragung, therapeutische Haltung und auch viele technische Einzelheiten der Therapie gestalten sich anders, je nachdem ob man den Säugling, das kleine Kind und den Erwachsenen als Träger eines primären destruktiven, »bösen« Triebes ansieht oder ob man die sicher immense Verbreitung aggressiver Phänomene als Reaktion auf massive Traumatisierungen, Kränkungen etc. oder aber ob man sie – auch und insbesondere – als Resultat pathologischer Pseudolösungen der Grundkonflikte begreift (vgl. Kapitel 2.7). Schon an dieser Stelle möchte ich meine Überzeugung, die ich im Abschnitt über das Bipolaritätsmodell im dritten Teil des Buches begründen werde, zum Ausdruck bringen, dass man eine Objektbeziehungstheorie vertreten kann, die weder zu den »harten« noch zu den »weichen« Objektbeziehungstheorien zu gehören braucht. Damit meine ich keine oberflächlichen Kompromisse zwischen »hart« und »weich«, denn ich habe gegen beide Bedenken. Die zweite Gruppe vernachlässigt meines Erachtens die zentrale und durchgehende Rolle vom Konflikt, während in der ersten Gruppe zwar der Konflikt die ihm gebührende zentrale Position einnimmt, er jedoch ein anderer ist als der von mir gemeinte: Er ist dort der Gegensatz zwischen Eros und Thanatos, während ich den Gegensatz zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen als den maßgebenden Konflikt betrachte.
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4.5 Intersubjektive bzw. relationale psychoanalytische Konzepte Schon Michael Balint (1969) hat in der 1930er Jahren anstelle des von Freud behaupteten primären Narzissmus die Existenz einer primären Objektbeziehung postuliert, was später von Winnicott (1965) als »haltende Umwelt« begriffen wurde. »Das änderte nichts daran, dass bis in die 1970er Jahre hinein die IchPsychologie mit ihrer Doktrin vom ›abgegrenzten Selbst‹ den Ton angab« (Altmeyer und Thomä, 2006, S. 12). In dieselbe Richtung wie Balint, wenn auch auf recht unterschiedlichen Wegen, sind schon viele andere vor und nach ihm gestoßen: Harry Stack Sullivan, William R. D. Fairbairn, Sándor Rado oder auch Erich Fromm. Die endliche Anerkennung und Berücksichtigung des Anderen, des realen sogenannten Objekts, das von Anfang an für die Entstehung des Selbst unabdingbar ist, hat aber auch viele andere, außerhalb der Psychoanalyse liegende Quellen, so in der Philosophie bei Martin Buber oder Emmanuel Levinas (Philosophie der Alterität; vgl. Bohleber, 2006). Den Ausschlag gab aber wahrscheinlich die Säuglingsforschung der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, innerhalb derer die primäre Intersubjektivität sozusagen handgreiflich wurde. Daraus entstand schließlich auch innerhalb der Psychoanalyse ein Paradigmenwechsel (Altmeyer und Thomä, 2006), der seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattfindet und welcher quer zu den verschiedenen psychoanalytischen Strömungen verläuft und inzwischen all ihre Schulen ergriffen hat. »Auf eine knappe Formel gebracht, bedeutet Intersubjektivität, dass der Mensch sich von Geburt an mit anderen Menschen verbunden fühlt und dass sich diese Verbundenheit in seiner psychischen Struktur niederschlägt: Innen und außen sind miteinander aufs Engste vernetzt« (Altmeyer und Thomä, S. 5). Wie bei allen neuen Strömungen in der Wissenschaft und hier speziell in den psychosozialen Wissenschaften und in der Psychoanalyse gibt es Übertreibungen, Missverständnisse, berechtigte und unberechtigte Kritiken. Ich kann in dem hiesigen Rahmen nicht darauf eingehen. Zur Information über die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse empfehle ich das oben zitierte Buch von Altmeyer und Thomä: »Die vernetzte Seele«. Aber auch in diesem Lehrbuch wird an vielen Stellen Bezug auf intersubjektive Aspekte genommen, zumal sie für das Verständnis der Psychodynamik und der daraus resultierenden therapeutischen Praxis von zentraler Bedeutung sind. Ebenfalls aus Platzgründen können viele andere interessante Strömungen und Konzepte (z. B. der französischen Psychoanalyse oder der Kleinianer) nicht ausführlich referiert werden (vgl. hierzu Lempa und Troje, 2006, sowie Mentzos und Münch, 2007). Aber einige dieser Aspekte finden im dritten Teil Erwähnung anlässlich eines Vergleichs mit dem Modell dieses Lehrbuchs.
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4.6 Funktionen des Objekts Um die Besonderheiten der oben skizzierten Modelle noch einmal im Überblick darzustellen und miteinander zu vergleichen, soll die Aufmerksamkeit auf die Rolle bzw. die Position gerichtet werden, die in jedem von diesen Modellen dem Objekt zugewiesen wird. Ich erläutere dies an dreien dieser Modelle: a) Im Triebmodell geht man also davon aus, dass das Objekt im normalen Fall der Triebbefriedigung dienen soll. Die Störung entstehe durch Frustration bzw. Verunmöglichung dieser Befriedigung (z. B. durch innere Hemmungen). b) Im Selbstdefizit-Modell begreift man das Objekt als ein Selbstobjekt (also ein Objekt, das hauptsächlich den psychischen Bedürfnissen und Zielen des Selbst dient), was für die Selbstkohärenz und für die narzisstische Selbststabilisierung eminent wichtig sei. Die Störung entstehe durch ein Versagen des Selbstobjekts (es steht nicht ausreichend zur Verfügung); später durch das einseitige und absolute Angewiesensein auf dieses Selbstobjekt. c) Im Modell der Objektbeziehungstheorie geht man davon aus, dass das Objekt dem zentralen Bedürfnis nach Bindung dient. Die Störung entstehe, wenn die Bindung verunmöglicht wird (sei es, weil das Objekt nicht da ist oder weil es sich verweigert oder stark ambivalent besetzt ist). Keines dieser drei Modelle sollte aber ad acta gelegt werden oder umgekehrt ein Monopol beanspruchen. Obwohl das Triebmodell und das damit zusammenhängende Drei-Instanzen-Modell deutlich an Aussagekraft und Gültigkeit verloren haben und obwohl man sowohl die Selbstpsychologie als auch die Objektbeziehungstheorie in gewisser Hinsicht als einseitig, mit einem Absolutheitsanspruch behaftet, kritisieren muss, sollte man den Fehler vermeiden, alle Aussagen eines der Modelle zugunsten eines anderen völlig zu vernachlässigen. Zum Beispiel bleibt die Verhinderung, Unterdrückung oder Verdrängung der Triebbefriedigung, egal aus welchen Gründen und in welchem allgemeineren Zusammenhang, weiterhin pathogen; sie kann zur Entstehung von psychischen Störungen beitragen. Trotz gewisser Bedenken wegen des Absolutheitsanspruchs der Selbstpsychologie muss man feststellen: Die pathogene Rolle einer mangelhaften Spiegelung in frühester Kindheit sowie die negative Wirkung anderer narzisstischer Defizite und die daraus resultierenden Störungen der Selbstwertgefühlregulation sind so häufig und so eindeutig, dass ihre große Relevanz nicht in Abrede gestellt werden kann. Diese im zweiten, im Selbstdefizit-Modell berücksichtigten Erfahrungen sprechen für den Wert dieses Modells. Die praktischen Anwendungen und Bestätigungen der Objektbeziehungstheorie sind nicht zuletzt durch die in den letzten Jahren stärker und viel differenzierter entwickelte Bindungstheorie von nicht zu überschätzender Bedeutung. Die Bindungstheorie wird uns im folgenden Abschnitt beschäftigen.
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Die Frage, ob diese skizzierten Modelle bzw. die in ihnen enthaltenen durch die Erfahrung bestätigten Aspekte in einem übergeordneten Modell integriert werden können, ist noch offen. Das später, im dritten Teil des Buches dargestellte Bipolaritätsmodell könnte als ein Ansatz zu einer solchen Integration betrachtet werden.
4.7 Die Bindungstheorie Das universelle menschliche Bedürfnis nach emotionaler Bindung und Zusammengehörigkeit wird sicher nicht nur von Bowlby (1969, 1973), dem Begründer der Bindungstheorie, sondern auch von anderen Therapeuten berücksichtigt. Lange Zeit wurde dieses Bedürfnis im Gefolge Freuds als eine gehemmte oder sublimierte sexuelle Triebregung betrachtet. Das Verdienst Bowlbys ist, dass er die schon beim Säugling beobachtbare starke Bedürftigkeit nach einer solchen Bindung als ein primär vorgegebenes Muster, mit der Funktion der Herstellung von Nähe, erkannt hat. Gerade in Gefahrensituationen wird dieses Muster aktiviert oder wenn das Kind spürt, dass die Erreichbarkeit einer Bindungsperson nicht gesichert ist. Unter diesen Umständen werden viele andere Verhaltensmuster zurückgedrängt und es wird alles darauf ausgerichtet, Nähe wiederherzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Dagegen wird dieses Muster deaktiviert, sofern ein Zustand von Sicherheit erreicht worden ist. Das Kind wendet sich anderen Aktivitäten zu. Die theoretischen Annahmen der Bindungstheorie konnten insbesondere durch die Arbeiten der Schülerin von Bowlby, Mary Ainsworth, empirisch zum Teil bestätigt werden. Mit Hilfe einer experimentell eingesetzten speziellen Situation, der »fremden Situation« (die Mutter ist abwesend und kommt nach einer Zeit zurück in den Raum), konnte sie das Verhalten von 11 bis 20 Monate alten Kindern untersuchen. Aufgrund solcher Beobachtungen unterschieden Ainsworth (Ainsworth u. a., 1978) und andere Autoren drei Klassen von Bindungsqualitäten bei Kleinkindern (Strauss, 2000, S. 98 ff.): a) Kinder mit sicher gebundenem Verhaltensmuster sind in der fremden Situation beunruhigt, also so lange die Mutter von ihnen getrennt ist; aber nach der Rückkehr der Mutter wenden sie sich ihr unmittelbar zu. b) Kinder mit unsicher-vermeidend gebundenem Verhaltensmuster bieten zwar keine offenen Zeichen von Beunruhigung während der Trennung von der Mutter, dafür aber eine Vermeidung von Nähe und Kontakt, nachdem die Mutter zurückgekommen ist. c) Kinder mit unsicher-ambivalent gebundenem Verhaltensmuster sind während der Trennung von der Mutter verängstigt und lassen sich im Gegensatz zu den sicher gebundenen Kindern nur langsam durch die zurückgekehrte Mutter beruhigen. Sie wechseln dabei zwischen Suche nach Nähe und aggressiver Ablehnung des Kontaktes.
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Die Mainstream-Psychoanalyse zeigte sich bis zuletzt eher sehr zurückhaltend gegenüber der Bindungstheorie. Köhler (zitiert bei Strauss, 2000, S. 101) spricht sogar von einer unüberbrückbaren Abgrenzung. Er ist aber selbst der Meinung, dass der längst fällige Erkenntnisfortschritt durch eine wechselseitige Akzeptanz möglich wäre. Die deutlichen Bezüge zu den Objektbeziehungstheorien Winnicotts und Fairbairn, zu Melanie Klein und zur Selbstpsychologie – meint Strauss – seien nicht zu verkennen. Es bestünden prinzipiell Ähnlichkeiten zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie beispielsweise bei dem psychoanalytischen Empathiekonzept und dem Konzept der Feinfühligkeit in der Bindungsforschung. Es gibt mehrere Untersuchungen zur Bedeutung der Bindungstheorie für das Verständnis von psychischen Störungen bei Erwachsenen (z. B. eine Verbindung zwischen desorganisierten Bindungsmustern in der Kindheit und dem Auftreten dissoziativer Störungen im Erwachsenenalter (vgl. Strauss, 2000, S. 102). Insgesamt ist es angesichts der offensichtlichen Bedeutung dieses auch bei Tieren nachweislichen Bedürfnisses nach Bindung erstaunlich, dass die Psychoanalyse so lange Zeit diese – übrigens auch von der Säuglingsforschung unterstützten – Einsichten nicht zur Kenntnis genommen hat. Kritisch könnte man andererseits vermerken, dass die Bindungstheorie sehr viele, wenn nicht sogar alle psychischen Störungen in einseitiger Weise auf Defizite und Mangel an Empathie und Befriedigung des Bindungsbedürfnisses zurückführt und dabei die Bedeutung von ebenfalls primär – wie das Bindungsbedürfnis –, zumindest als Potenzialität installierten intrapsychischen Gegensätzlichkeiten oft unberücksichtigt lässt. Trotzdem könnte die Bindungstheorie, zumal bei einer angemessenen Berücksichtigung des intrapsychischen Konflikts, von großer Bedeutung und Relevanz sein, weil offensichtlich mangelhafte Bemutterung und fehlende empathische Begleitung die dialektische Überwindung solcher vorgegebenen Gegensätzlichkeiten und die Herstellung einer Balance zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen erheblich erschweren. Im Weiteren wird meine Kritik dadurch relativiert, dass wichtige Annahmen und Postulate der Bindungstheorie dahingehend interpretiert werden können, dass auch bei ihr von gewissen biologisch vorgegebenen – in der Evolution entstandenen – Gegensätzlichkeiten ausgegangen wird: so etwa bei Sicherheit (durch Bindung) versus Explorationsbedürfnis. Dies entspricht in etwa dem Dilemma Bindung versus Autonomie in unserem Konzept. Ein anderes Dilemma berichtet Hartmann (2007), nämlich von Menschen, die als Kinder ihre Eltern gleichzeitig als Quelle ihrer Angst und als Mittel zur Auflösung der Angst in verunsichernden Situationen erlebten.
4.8 Der Symbolbegriff in der Psychoanalyse – früher und jetzt Bei der Symbolisierung wird ein Element durch ein anderes Element vertreten. Ein Symbol ist ein Wort, eine Person, ein Gegenstand, ein Zustand, eine Figur,
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eine Gestalt usw., welche auf einen anderen Zustand, Begriff, Person, Gegenstand etc. verweist und es dadurch repräsentiert. Diese Möglichkeit und Fähigkeit der Repräsentation aller möglichen Bestandteile und Elemente der materiellen und immateriellen Welt durch andere Elemente ist vielleicht die größte Errungenschaft des Menschen, weil sie einen immensen Zuwachs der Freiheitsgrade beim Denken, Fühlen, Handeln ermöglicht, was Cassirer (1959) veranlasst hat, vom Menschen als animal symbolicum zu sprechen. Freud und die frühe Psychoanalyse benutzten allerdings den Symbolbegriff in einem sehr beschränkten Sinn und eingeengten Bereich. Dort ging es um die Symbolisierung verdrängter, verleugneter, abgespaltener Inhalte, sei es im Traum – bei dessen Untersuchung Freud zum ersten Mal auf das Symbol gestoßen ist – oder bei der neurotischen Symptombildung; somit bedeutete für Freud die Symbolisierung nur eine Verschiebung, nur ein – eben symbolischer – Ersatz im Dienste der Abwehr bzw. der nur versteckten Darstellung des zunächst nicht erkennbaren und dahinterstehenden Inhalts. Die weitere Entwicklung und Geschichte der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Symbolbegriff ist durch eine starke Akzentverschiebung gekennzeichnet. Dieser Prozess hat aber lange Zeit in Anspruch genommen. Durch die Beiträge der ersten Psychoanalytikergeneration wurde zwar der Bezug zum intrapsychischen Konflikt differenzierter herausgearbeitet, dennoch war das psychoanalytische Symbolverständnis weiterhin nur auf den Bestandteil der neurotischen Symptombildung beschränkt. Erst allmählich gelang es den Psychoanalytikern, diesen sehr mit der Verdrängung gekoppelten Begriff der Symbolbildung, der bis dahin praktisch nur als ein zusätzlicher Hilfsabwehrmechanismus verstanden wurde, zu sprengen und den größeren, übergreifenden Rahmen der Symbolisierungen als universelle, auch an der Kulturentstehung maßgebend beteiligte, sehr bedeutsame Prozesse in Sprache, Mythologie, Religion, Kunst, Technik und Wissenschaft zu erkennen. Jene ursprüngliche Reduzierung des Symbols auf einen defensiven Vorgang erinnert an ähnliche, wahrscheinlich zwecks klinischer Brauchbarkeit zustande gekommene Einschränkungen bei Internalisierungs- und Externalisierungs- bzw. identifikatorischen Prozessen: Auch bei ihnen hatte man lange Zeit übersehen, dass es sich dabei um bedeutsame, universelle und normale Prozesse handelt, welche maßgeblich an der normalen Entwicklung und Differenzierung des Menschen beteiligt sind. Man hat früher auch bei ihnen, zunächst in einer sehr einschränkenden Sichtweise, nur die gelegentliche Verwendung und Instrumentalisierung der Identifikation oder der Projektion für defensive Ziele registriert und dabei die erst heute in der Entwicklungspsychologie sichtbar gewordenen Themen von Internalisierungs- und Externalisierungsprozessen übersehen. Solche provisorischen Zwischenphasen im wissenschaftlichen Fortschritt sind aber keine Seltenheit und vielleicht sind sie vorübergehend nötig und unvermeidbar. Ein zunächst als solitär erfasstes Phänomen erweist sich später als ein spezieller Fall eines viel allgemeineren Prozesses. Aber immerhin hat die psychoana-
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lytische Ich-Psychologie zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen, das Symbol als universelle menschliche Errungenschaft zu erkennen bzw. das Symbolisieren nicht als eo ipso neurotisch, sondern umgekehrt das Fehlen von differenzierten Symbolisierungen als das Pathologische zu betrachten. Auch innerhalb der psychodynamisch orientierten Psychosomatik wurde immer deutlicher, dass zum Beispiel bei der hysterischen, unbewussten Inszenierung Symbolisierungsprozesse stattfinden, welche entwicklungspsychologisch und vom Gesichtspunkt der Ich-Entwicklung aus gesehen höher stehen als die psychosomatische Abwehr im engeren Sinn. Denn bei Letzteren kommt es zu einer regelrechten Resomatisierung, also zu einer Rückgängigmachung der (normal stattfindenden) Desomatisierung, bei der die am Anfang nur körperlich empfundenen Zustände durch psychische Repräsentanzen, also durch Symbole, »seelisch« werden und dann als Gefühle erlebt werden.
4.9 Mentalisierung Die experimentelle Entwicklungspsychologie untersucht insbesondere die kognitiven Aspekte bei der Entstehung und Entwicklung der (symbolischen) Repräsentation. Eine Wende in der Erfassung der Symbolisierungsprozesse trat durch die Einführung des Konzepts der Mentalisierung in den 1990er Jahren ein (vgl. Fonagy und Target, 2006). Unter diesem Terminus versteht man den Umstand, dass das Kind von einem gewissen Zeitpunkt an, etwa um den 9. Monat herum, entdeckt, dass es selbst und andere Wesen mit der Fähigkeit zu mentalen (psychischen) Zuständen versehen sind (Fonagy und Mitarbeiter haben diesen Zusammenhang innerhalb des Konzepts der schon davor bestandenen Theory of Mind entwickelt). Auch die Affektspiegelung beim spielerisch markierenden Umgang der Eltern mit den Affekten des Säuglings trägt zur Entstehung solcher Symbolisierungsprozesse bei. Überhaupt scheint es sich so zu verhalten, dass die bei jedem Neugeborenen und Säugling ursprünglich diffusen, dumpfen, halbbewussten oder unbewussten Inhalte erst dadurch wahrgenommen und erlebbar werden, dass sie psychisch repräsentiert bzw. im weitesten Sinne symbolisiert werden. Bion (1962) hat wahrscheinlich Ähnliches mit seiner Annahme der Umwandlung der diffusen BetaElemente unter der Mitwirkung der Mutter zu den klaren Alpha-Elementen beschrieben. Doch erscheint mir die Terminologie und die Forschung der modernen Mentalisierungstheorie überzeugender und präziser (vgl. auch Münch, 2007). Diese Forschungsrichtung hat bis dahin – außerhalb der Psychoanalyse – vorwiegend kognitive Aspekte berücksichtigt. Jetzt beginnt man auch systematisch die Folgen von emotionalen und kommunikativen frühen Erfahrungen des Säuglings zu untersuchen. Es ist das besondere Verdienst der Gruppe um Fonagy und Target, gezeigt zu haben, dass die Mentalisierung kein rein kognitiver Vorgang ist
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und dass sie nur innerhalb der auch emotionalen Kommunikation von Mutter und Säugling stattfinden kann. Dabei ist das Entstehen von Kontingenzerfahrungen1 beim Kind – wie uns lange davor die Säuglingsforschung gezeigt hat – wichtig. Dies haben Vertreter der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie schon seit längerer Zeit bemerkt, wenn auch mehr unsystematisch und intuitiv. Sehr eindeutig kann übrigens die Bedeutung der Symbolisierung nicht nur bei der Resomatisierung und der resultierenden Alexithymie bzw. pensée opératoire (vgl. Abschnitt über den psychosomatischen Modus in diesem Buch) gezeigt werden, sondern auch bei autistischen Kindern stellt man fest, dass für sie die Welt so ist, wie sie ist, und keine symbolische Dimension besitzt. Eine Tasse ist eine Tasse und kann nicht (spielerisch) als ein Hut verwendet werden; und eine Banane kann durch diese Kinder nicht – symbolisch, spielerisch – als Telefonhörer benutzt werden (vgl. Dornes, 2004). Wie die in den letzten Jahren wachsende Literatur über das »enactment« zeigt, sind die symbolischen Prozesse und die darauf aufbauende Kommunikation nicht nur sprachlicher, sondern auch nonverbaler Natur. Eine dichte Schilderung dieser Thematik sowie praktische Anwendungen in der Therapie findet man bei Christian-Widmaier (2008).
4.10 Internalisierung Der Terminus Internalisierung bezeichnet einen Vorgang (und sein Produkt), bei dem Begegnungen mit der äußeren Realität und dabei gemachte Erfahrungen, insbesondere innerhalb von Objektbeziehungen, nicht bloß wahrgenommen werden, sondern sich in intrapsychischen Strukturen niederschlagen. Es handelt sich also nicht einfach um Abbildungen und nicht bloß um Imitation, sondern um eine Art Assimilation, die den Betroffenen, sei es auch geringfügig, innerlich verändert. Die auf diese Weise entstehenden Strukturelemente können dann durch eine zunehmende Entkoppelung von der konkreten Situation und von der bestimmten Beziehungsperson, auch als abstrakte Funktionen, also als Charaktermerkmal oder Kompetenz, zurückbleiben; so etwa die Fähigkeit, sich selbst trösten und aufmuntern zu können (eine Fähigkeit, die sozusagen vom empathischen Partner, z. B. der Mutter, per Internalisieren übernommen wird). Dies ist mit dem Terminus Assimilation gemeint. Während die Internalisierung der Oberbegriff ist, unterscheidet man je nach Reifegrad dieses Prozesses drei Stufen: die Inkorporation (z. B. die Übernahme einer bestimmten Bewegungsart), die Introjektion (z. B. die noch undifferenzierte, 1 Darunter versteht man in der Säuglingsforschung Erfahrungen der Bestätigung positiver emotionaler Erwartungen des Säuglings in seiner Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt und insbesondere mit dem Objekt.
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globale und nicht selektive Übernahme der Art des Verhaltens und des Auftretens des Objekts) und die Identifizierung (die differenzierte Übernahme der Erlebensart oder der Stimme einer Bezugsperson – eine relativ reife Form der Internalisierung, die deswegen auch eine selektive und nicht eine globale und undifferenzierte Übernahme, wie bei der Introjektion, impliziert). Trotz dieser oben erwähnten Entkoppelung von konkreten Bezugspersonen besteht oft lebenslang weiterhin eine Art Dialog mit diesem nunmehr internalisierten Objekt. Wichtig ist zu bemerken, dass auch der Spracherwerb zu einem großen Teil auf einem Internalisierungsprozess basiert. Mit diesen kurzen Bemerkungen sind zunächst vorwiegend der normale entwicklungspsychologische Vorgang und die Funktion von Internalisierung charakterisiert. Oft wird aber die Internalisierung zu einem Abwehrmechanismus umfunktioniert (so z. B. bei der Bulimie). Besonders die undifferenzierte, globale Introjektion eines sowohl geliebten als auch gehassten, also eines ambivalenten Objekts (meistens unter dem Druck eines sogenannten Objekthungers aufgrund fehlender oder problematischer emotionaler Zuwendung), führt zur bleibenden Internalisierung, aber nicht Assimilierung dieses »Fremdkörpers«, eines »bösen« Introjekts mit verheerender Wirkung, z. B. bei der Depression.
4.11 Externalisierung Bei den Externalisierungsprozessen werden psychische Inhalte nach außen versetzt. Hier werden drei Stufen unterschieden: die Exkorporation, die Projektion und die Selbstobjektivierung. Zur Letzteren gehört das schöpferisch Objektivierende, das Expressive in Kunst, Handwerk, Theater, aber auch im Alltagsleben. Aber auch die Externalisierung kann häufig als Abwehrmechanismus benutzt bzw. dazu verwandelt werden. Es handelt sich dann um einen Prozess, der schon beim Abwehrmechanismus der Projektion angesprochen wurde (Kapitel 3.1). Bei der Projektion z. B. wird ein eigener unerwünschter oder unerlaubter Wunsch, Impuls oder Selbstanteil externalisiert, das heißt einer anderen Person sozusagen zugeschoben. Ein besonderer Fall liegt beim Vorgang der von mir so bezeichneten RealExternalisierung vor. Bei diesem Vorgang kommt es zu einer Verankerung und quasi Zementierung der Projektion eines intrapsychischen Inhalts in die Realität. Dies geschieht entweder durch eine ad hoc geschaffene »Realität« oder durch eine schon davor zufällig existierende und zu diesem Zweck unbewusst gewählte und umfunktionierte reale Situation, Person usw., wodurch die Projektion eine besondere Stärke und dadurch auch Therapieresistenz erhält. Projiziert man z. B. die einem selbst unangenehme Aggression auf einen tatsächlich böswilligen Menschen, so gewinnt diese Projektion sozusagen an Glaubwürdigkeit. Im größeren
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Rahmen spielen solche Prozesse besonders bei der Feindbildung im sozialen und politischen Feld, etwa auch bei der Entstehung und Durchführung von Kriegen, eine noch größere Rolle (vgl. Mentzos, 1993/2002). Zurück zum Bereich des Normalpsychologischen: Das Zusammenspiel von Internalisierungs- und Externalisierungsprozessen ist ein normaler, notwendiger, universeller Prozess, der u. a. eminent wichtig für die Selbstkonstituierung ist. Am besten kann man dies am Tun des Bildhauers darstellen, der einen Teil von sich selbst in eine äußere Form objektiviert, um anschließend nach vorgeführten Korrekturen wieder zu internalisieren, um dann wieder zu externalisieren usw. Ähnliche Vorgänge spielen sich auch im Traum ab. Besonders das Verstehen und die Analyse des Traums auf der Subjektstufe nach C. G. Jung machen dies deutlich: Auf der Traumbühne erscheinen Akteure und Personen, die eigentlich Selbstanteile des Träumenden darstellen. Oft dient dann diese Trauminszenierung (wie auch im realen Theater) dem besseren Verständnis der zuvor unklaren oder schwer beschreibbaren Zusammenhänge.
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5.1 Entstehung und Entwicklung des Narzissmuskonzepts Eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs »Narzissmus« ist kaum möglich, weil im Laufe des 20. Jahrhunderts viele aufeinanderfolgende oder auch gleichzeitig bestehende Auffassungen und Schwerpunktlegungen, die oft entgegengesetzt sind, angeboten wurden. Freud selbst hat schon vor der Veröffentlichung seines maßgebenden Beitrags »Zur Einführung des Narzißmus« (1914) mehrfach den Begriff »Narzissmus« benutzt, um z. B. die Konzentrierung der Libido, also der sexuellen Energie des Individuums auf sich selbst, als den Zustand des primären Narzissmus zu beschreiben. Diese triebtheoretische Auffassung wird lange noch beibehalten (Laplanche und Pontalis definieren noch 1973 den Narzissmus als die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt! – 1973/1989, S. 317), obwohl schon in der ersten und noch viel mehr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele andere Auffassungen die ursprüngliche, mit der Sexualitätsentwicklung (inklusive Autoerotismus des primären Narzissmus in den ersten Lebensmonaten) verknüpften Annahme von Freud zunehmend relativiert und schließlich zum großen Teil ersetzt haben. Schon Balint (1969) sprach in Anlehnung an Ferenczi nicht mehr von dem primären Narzissmus, sondern von der »primären Liebe«, also von einer von Anfang an bestehenden Beziehung zwischen dem Säugling und seiner Mutter. Überhaupt begann man zu realisieren, dass der Rückzug in sich, die Selbstbezogenheit, viel mehr Bedeutungen und Funktionen als nur die (sexuell gefärbte) Selbstliebe hat, so etwa eine normale Erholungsfunktion wie in dem vorübergehenden Rückzug im Schlaf oder wie im pathologischen und sehr verbreiteten Abwehrmechanismus des narzisstischen Rückzugs, um das womöglich attraktive, aber »gefährliche« Objekt zu vermeiden. Ähnliches treffen wir schließlich auch bei dem Größenwahn und dem grandiosen Selbst als Rettung von einem drohenden Selbstwertgefühlverlust an. So versteht man, warum Zima (2009) durchgehend die Position verteidigt: »Narzissmus ist nicht nur die Selbstliebe.« Nun gibt es auch andere Aspekte des Narzissmus. Während Narzissmus ursprünglich mit Abwehr und Isolierung des Objekts in Zusammenhang gebracht wurde und in gewisser Hinsicht auch als ein moralisch zu verurteilender Egoismus aufgefasst wurde, musste man zunehmend sowohl die positiven Funktionen eines »gesunden« Narzissmus (einer gesunden Selbstbildung) als auch insbesondere die Tatsache berücksichtigen, dass in Wirklichkeit Narzissmus, ob gesund oder patholo-
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gisch, ständig auch vom Objekt in positivem oder negativem Sinne abhängig ist. Der monologische Narzissmus wurde von der Vorstellung eines dialogischen Narzissmus (Zima) ersetzt. Martin Altmeyer sprach schon 2000 über eine intersubjektive Auffassung des Narzissmus und auch in der von Naumann (2010) entworfenen kritischen psychoanalytischen Pädagogik wurde die Ermutigung zur Selbstreflexion in den Vordergrund gestellt, und zwar innerhalb des allgemeineren Ziels einer Pädagogik, die Selbstbildung und – gleichzeitige – Bindung zu fördern hat. Auch hier findet die freie Selbstbildung nur im Rahmen einer emotionalen Beziehung zum Objekt statt. Ob man dies alles noch »narzisstisch« oder »Narzissmus« nennen soll, ist eine andere und eher nomenklatorische Frage. Im Hinblick auf die oft pejorativen Ausdrücke (der »böse«, »egoistische« Narzisst) vermeidet die Selbstpsychologie Kohuts den Terminus »Narzissmus«. Ich selbst habe in diesem Buch teilweise Ähnliches getan, als ich mich dazu entschlossen habe, nicht von narzisstischen, sondern von selbstbezogenen Tendenzen und Bedürfnissen (im Gegensatz zu objektbezogenen) zu sprechen. Auf der anderen Seite ist der Terminus »Narzissmus« so stark in der Vorgeschichte, nicht nur der Psychoanalyse, sondern auch der Psychiatrie und überhaupt der Sozialpsychologie und der Literatur insgesamt verwurzelt, dass es unrealistisch wäre, ihn einfach zu ignorieren. Es ist wahrscheinlich sinnvoller, dort, wo die gemeinte Bedeutung der Termini »Narzissmus« und »narzisstisch« nicht eindeutig ist, durch zusätzliche adjektivische Bezeichnungen zu präzisieren (z. B. maligner Narzissmus bei Kernberg (1988) oder gesunder Narzissmus bei Zima (2009) oder narzisstische Persönlichkeit als Persönlichkeitsstörung in der ICD-10 und dem DSM-IV usw.). Völlig verzichten kann man also (wie sicher auch im Fall von »Hysterie« und »hysterisch«, siehe dort) auf die Bezeichnung »Narzissmus« nicht. Ich spreche auch selbst z. B. von der narzisstischen Homöostase, was ja eigentlich Selbstwertgefühlregulation heißt. Die hier klinisch und therapeutisch sehr wichtigen und aufgrund der oben skizzierten Entwicklung oft recht komplizierten und widersprüchlichen Formulierungen versuche ich in den folgenden Abschnitten mit Hilfe eines entsprechenden Bildes, nämlich des Drei-Säulen-Modells, übersichtlicher darzustellen.
5.2 Die Selbstwertgefühlregulation Das von Freud 1923 eingeführte Konzept des Über-Ich (innerhalb des Drei-Instanzen-Modells von Es/Ich/Über-Ich) dürfte heute in vieler Hinsicht revisionsund ergänzungsbedürftig sein. Trotzdem kann dieses Freud’sche Konstrukt – inklusive des in ihm integrierten und viele Jahre davor von Freud geschaffenen Begriffs des Ich-Ideals – als eine ungewöhnlich originelle und wertvolle Schöpfung Freuds betrachtet werden. Das Über-Ich war nicht nur eine »Abteilung« innerhalb des Ich, also eine – zumeist unbewusst wirksame – Substruktur, welche aus der Summe der von den Eltern übernommenen Verbote und Gebote besteht und das
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Verhältnis des Kindes zu den Eltern reguliert. Es erfüllt auch andere Funktionen und nicht nur diese. Denn offensichtlich werden Normen vom Kind nicht einzig aus Angst vor Bestrafung befolgt (so die ursprünglich übliche psychoanalytische Auffassung), sondern auch aus Liebe und Hochschätzung des Ich-Ideals und weil diese Befolgung von Normen als wertvoll und selbstwerterhöhend erlebt wird. Es ist auch nicht zufällig, dass Freud lange Jahre vor der Einführung des Terminus Über-Ich den Begriff des Ich-Ideals beschrieben hat, der später sozusagen in das Über-Ich übernommen wurde. Nach Freud (1914) war das Ich-Ideal die Reaktion auf den verloren gegangenen kindlichen Narzissmus: Dem Ich-Ideal – so drückte sich Freud aus – gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoss. Der Narzissmus erschien auf dieses neue Ideal-Ich verschoben. Nun noch einmal zum Über-Ich im engeren Sinne. Freud betrachtete es als das Erbe des Ödipuskomplexes. Das Kind, das auf die Befriedigung seiner mit Verbot belegten inzestuösen/ödipalen Wünsche verzichtet, wandle die libidinöse Besetzung der Eltern in eine Identifizierung mit ihnen um. Die Furcht vor dem ÜberIch sei ein Überbleibsel der Kastrationsfurcht. Wie steht man heute zu diesem Konzept? Mertens vermerkt zu Recht, dass das große Verdienst der Freud’schen Überlegung zum Ich-Ideal und Über-Ich sicherlich darin zu erblicken sei, dass seit Freud keine naive bewusstseinspsychologische Betrachtung moralischen Handelns mehr möglich ist, die davon ausgeht, dass unsere moralischen Prinzipien für jeden jederzeit reflexionsfähig seien. Die verinnerlichten Über-Ich-Normen der Eltern sind nämlich nur partiell bewusst, bestimmen aber im erheblichen Umfang unser Handeln (Mertens, 1992, S. 269). Nichtsdestoweniger aber geriet das Über-Ich-Konzept in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine Krise. Zunächst wurde angezweifelt, dass das ÜberIch erst mit der Auflösung des Ödipuskomplexes entstehe. Viele klinische Beobachtungen sprechen dafür, dass zumindest präödipale Vorläufer des Über-Ich existieren. Das Kind sei schon am Ende des ersten Lebensjahres, meint Spitz (1958), in der Lage, die Verbote der Eltern zu übernehmen, die mit einem »nein, nein«, mit erhobenem Zeigefinger und Kopfschütteln das Verbot oder Gebot sozusagen vorführen. Auch Melanie Klein postulierte die Existenz vom Vorläufer des Über-Ich (z. B. in der Dynamik archaischer Objektbeziehungen). Des Weiteren begann man gleichzeitig auch die positiven Seiten des Über-Ich zu sehen (Sandler, 1960) und seine positiven Funktionen zu unterstreichen, so die identitätserhaltende Funktion. Sandler hat daran erinnert, dass das Über-Ich auch eine vorzügliche Quelle der Liebe und des Wohlbefindens sein kann. Bei Kohut steht die Aufrechterhaltung der narzisstischen Identität durch die Schaffung eines grandiosen Selbst und der omnipotenten Elternimagines sogar noch mehr im Vordergrund. Interessant sind auch die Befunde von Buchsbaum und Emde (1990) bei kleinen Kindern. Die Autoren zeigten in einer quasi-experimentellen Anordnung, dass die Kinder, obwohl sie erst drei Jahre alt waren, über ein empathisches, prosoziales Verhalten und ein Regelverständnis verfügten, welche die Lösung moralischer Dilemmata und die
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Einfühlung in familiäre dynamische Beziehungen ermöglichten (zitiert nach Mertens, 1992, S. 268). Mertens meint dazu, dass man deswegen auch an den anthropologischen Prämissen der klassischen Psychoanalyse zweifeln müsse, nach denen ein ursprünglich unmoralisches Menschenkind imperativ die Befriedigung egoistischer Triebbedürfnisse verlangte und sich nur aus Angst vor Liebesverlust und des Verlusts der narzisstischen Identitätssicherung der Moral seiner Eltern unterwerfe (S. 268). Alles in allem ist die Revisionsbedürftigkeit des alten Über-Ich-Konzepts nicht zu leugnen. Dabei bedarf es einer radikal neuen Konzeptualisierung, wie sie z. B. von Wurmser in einer Reihe von Veröffentlichungen vorgeschlagen wurde. Dabei sollte insbesondere die differenzielle Psychodynamik von Schuld und Scham berücksichtigt werden. Wichtig seien nach Wurmser auch Konflikte zwischen sich heftig widersprechenden und nicht integrierten Erwartungen aufgrund von Loyalität gegenüber einem anderen Ideal, wodurch loyales Verhalten in Bezug auf ein Ideal den Verrat in Bezug auf ein anderes Ideal bedeuten kann. Zum Beispiel könne das Ideal bzw. das idealisierte Bild eines Vaters von seiner Tochter das eines reinen, vergeistigten Engels sein, wohingegen die Mutter von ihr erwartet, dass sie die mutige Rächerin ihrer eigenen Demütigung werde (Wurmser, 1985, S. 134). Auf welche Weise könnten wir die hier angedeuteten Aspekte, Funktionen, Entwicklungslinien innerhalb eines überschaubaren, aber auch genügend differenzierten Über-Ich-Konzepts oder Bezugsrahmens anschaulich darstellen? Beim Versuch, die wichtigsten Dimensionen integrativ zu berücksichtigen, kam ich auf das Drei-Säulen-Modell, das auf der einen Seite eine klare und einfache Abgrenzung von Über-Ich im engeren Sinne, Ideal-Objekt und Ideal-Selbst ermöglicht und auf der anderen Seite die Dynamik der Selbstwertgefühlregulation bzw. der narzisstischen Homöostase mittels dieser drei Strukturen (Säulen) verdeutlicht.
5.3 Das Drei-Säulen-Modell Abbildung 1 zeigt eine runde, robuste waagerechte Plattform, die auf drei Säulen steht. Die Plattform repräsentiert, sofern sie horizontal und stabil bleibt, die adäquate Selbstwertgefühlregulation, also eine relativ ausgeglichene narzisstische Homöostase. Sie stützt sich auf die drei Säulen. Die von rechts nach links erste Säule, also die rechte, repräsentiert in ihrer Basis das Größen-Selbst, also die beim Kind noch normale, vorübergehende grandiose Vorstellung vom eigenen Selbst, und die nunmehr pathologische Vorstellung des Erwachsenen in der Manie. Etwas höher, darüber, sind die bei allen Menschen mehr oder weniger lebenslang vorhandenen halbbewussten Größenfantasien positioniert. Schließlich, zur Spitze hin, findet man das reife Ideal-Selbst, also die realistisch korrigierte positive Vorstellung von sich selbst, das uns trotz unvermeidlicher Fehler, Mängel, negativer Kritik etc. ein gewisses Maß an konstantem Selbstvertrauen und einen Puffer gegen Erschütterungen (durch Kränkungen und Misserfolge) garantiert. Die Voraussetzungen für eine
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günstige Entwicklung, also für einen guten, stabilen Aufbau und ein adäquates Funktionieren, besonders in schwierigen Situationen, sind ein körperliches wie auch seelisches »Grundkapital« (Gesundheit, Vollständigkeit, Sättigung, körperliches Wohlbefinden, Begabungen etc.), aber maßgebend auch eine ausreichende positive Spiegelung und Bewunderung, also narzisstische Zufuhr durch das Primärobjekt (»der Glanz in den Augen der Mutter«, Kohut). In gewissem Umfang wird dies alles auch durch die nachfolgenden Beziehungen zu anderen wichtigen Bezugspersonen gesichert. Diese Bewunderung und positive Spiegelung – und nicht nur die Anerkennung für gute Leistungen, wie wir sie bei der dritten (der linken) Säule treffen werden –, also diese sozusagen gratis erhaltene Akzeptanz, sind die Garanten für die Entstehung eines gesunden und widerstandsfähigen Ideal-Selbst (»auch wenn ich manchmal Mist baue, bin ich im Grunde ein guter Kerl!«; Henseler, 1974).
Abbildung 1: Das Drei-Säulen-Modell
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Die zweite, die mittlere Säule repräsentiert in der Basis die symbiotische Bindung, aber dann bald auch die identifikatorische Partizipation an den idealisierten Eltern-Imagines. Im mittleren Abschnitt dieser Säule wird die Identifikation mit anderen Leitbildern repräsentiert, die zum Teil die Eltern in ihrer Funktion ergänzen und/oder ablösen. Im oberen Abschnitt stellt die Säule das reife (assimilierte und nicht nur introjizierte) Ideal-Objekt – wonach man sich orientiert – dar. Hier wird also der sich entwickelnde Mensch nicht wie bei der Dynamik der ersten Säule bewundert, sondern umgekehrt, er bewundert seinerseits das Ideal-Objekt und möchte auch selbst so sein, indem er sich mit den idealisierten Eltern und später mit den anderen Leitbildern identifiziert. Die dritte, linke Säule entspricht in der Basis dem archaischen, unreifen, vorwiegend auf der Zweierbeziehung basierenden Über-Ich, im mittleren Abschnitt dem sogenannten ödipalen Über-Ich (also die während der ödipalen, triadischen Konflikte und ihrer Verarbeitung übernommenen Verbote und Gebote). Im oberen Drittel findet sich das reife Gewissen. Dies umfasst zwar zum Teil die früher übernommenen Verbote und Gebote, welche jedoch nunmehr bewusst akzeptiert und bewusst bejaht werden. Zum anderen Teil aber besteht dieses reife Gewissen auch aus eigenen, neu entstandenen Maßstäben und Werten. Die Stabilität dieser Säule beruht auf der Anerkennung durch erbrachte Leistungen. Die Funktion der Säule ist somit handlungs- und leistungsorientiert, sie garantiert die Erfüllung von Pflichten und die Einhaltung von Verboten und Verpflichtungen, die die Rechte und das Wohl der Anderen betreffen, aber dadurch gleichzeitig auch der zusätzlichen Stärkung der eigenen Selbstwertigkeit dienen. Die Reifung innerhalb dieser Säule und die dadurch garantierte zuverlässige Funktion stellen jenseits des Individualpsychologischen einen der mächtigsten und erfolgreichsten Regulatoren sozialen Zusammenlebens dar. Die internalisierten und fest verankerten Normen tragen erheblich, von innen heraus, zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und Solidarität bei. Ohne diese Verinnerlichung der Normen und nur mit der äußeren Gewalt des staatlichen Gewaltmonopols allein könnten die Ordnung des Gesetzes, aber auch die sonstigen sozialen Bindungen auf keinen Fall aufrechterhalten werden. Dennoch hat nicht nur dieses Über-Ich bzw. Gewissen im engeren Sinne eine große sozialpsychologische Bedeutung. Auch die in den zwei anderen Säulen repräsentierten Strukturen sind in dieser Hinsicht sehr bedeutsam, wie ich am Beispiel des psychosozialen Arrangements (Mentzos, 1976/1988) und der psychosozialen Funktionen des Krieges gezeigt habe (Mentzos 1993/2002). Die Dynamik, die in allen drei Säulen repräsentiert wird, ist übrigens auch für das Verständnis des normalen und des pathologischen Narzissmus der Eliten sehr nützlich. Ebenfalls aber ist die Kenntnis dieser Dynamik und der Prozesse, die in den Säulen repräsentiert sind, unerlässlich, um das Bedürfnis der Vielen nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer Nation, zu einer Ethnie, zu einer Ideologie, zu einer Bewegung usw. zu verstehen. Die daraus entstehenden immensen Motivationen werden sowohl zum Guten als auch, häufiger, zum Schlechten von Demagogen und Führern mit einem pathologischen Narzissmus ausgenutzt.
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Das Drei-Säulen-Modell erlaubt auch eine differenzierte Beschreibung der komplizierten Dynamik verschiedener narzisstischer Störungen, insbesondere auch der Depressionen. Darauf werde ich in den Kapiteln über den depressiven Modus und über affektive Psychosen näher eingehen. Hier nur noch folgende klinisch relevante Erläuterungen. Das Modell erfasst präziser und trotzdem einfacher als sonst in der Psychoanalyse viele Formen der Depression. So bedeutet eine durch Verminderung der körperlichen und psychischen Vitalität auftretende »Schwäche« der Funktion der rechten Säule den womöglichen Kern einer Depression in der Involution oder im Alter oder nach schwererer körperlicher Erkrankung, Amputation, Herzinfarkt usw. Das Modell erfasst also zusätzlich Erschütterungen der narzisstischen Homöostase, die anderer Genese sind als die von der Psychoanalyse berücksichtigten, konfliktbedingten neurotischen Depressionen. Innerhalb der jeweiligen Säule bietet sich übrigens die Möglichkeit, auch die defensive Überkompensierung darzustellen, so z. B. in der rechten Säule jene künstliche Aufblähung des Selbstwertgefühls, die klinisch als eine manische Phase erkennbar wird. Es geht um eine regressive Mobilisierung des Größen-Selbst (Basis der ersten, der rechten Säule). Die mittlere Säule eignet sich wiederum gut zur Beschreibung der Abhängigkeitsdepression. Kommt es z. B. durch einen Objektverlust zu einer Schwächung dieser Säule, so erfolgt oft zunächst eine überkompensierende Reaktion in Form einer pseudounabhängigen Haltung (um die ausgefallene Sicherheitskomponente zu ersetzen), die jedoch meistens nicht sehr lang die Depression verhindern kann. Daraufhin entwickelt sich unter Umständen eine Regression zur Basis der Säule hin mit dem klinischen Bild einer extremen Hilflosigkeit, Anhänglichkeit, Abhängigkeit, die schließlich auch die Form einer anaklitischen Depression annehmen kann. Anders im Fall der Schwächung der dritten, linken Säule durch eine Herabsetzung der Leistungsfähigkeit aufgrund einer konfliktbedingten Blockierung der Handlungsfreiheit und Motivation und somit der Funktion der Säule. Auch hier kommt es zunächst zu einer überkompensatorisch forcierten »Leistungswut«, die jedoch meistens bald versagt und von einer Regression und Unterwerfung gegenüber dem strengen Über-Ich gefolgt wird (Schulddepression). Ein weiterer Vorteil des Modells ist, dass es uns ermöglicht, relativ einfach und präzise diejenigen Formen von depressiven Störungen zu beschreiben, bei denen es zu »vikariierenden«, also von künstlichen Hypertrophien der einen Säule bei Brüchigkeit der anderen Säulen kommt, um notdürftig die narzisstische Homöostase zu retten. So gibt es Menschen, die als kleine Kinder keine Spiegelung erfahren haben (Brüchigkeit der rechten Säule) und/oder sowohl aus der Symbiose zu früh entlassen wurden oder sie sogar von Anfang an nicht genießen durften und auch später die geeigneten Identifikationsfiguren vermisst haben (Brüchigkeit der mittleren Säule). Es ist nun bemerkenswert, dass solche Menschen oft trotzdem über Jahrzehnte erfolgreich bleiben, obwohl sie eigentlich aufgrund dieser negativen Voraussetzungen depressiv hätten dekompensieren müssen. Dies gelingt ihnen durch eine strenge Selbstdisziplin und durch eine intensive, Anerkennung bringende soziale Leistung,
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
das heißt durch Hypertrophie der linken Säule! Allerdings funktioniert diese Überkompensierung nur für eine bestimmte Zeit; danach kommt es zu einer depressiven Dekompensation – die bis dahin versteckte Problematik bricht auf. Ein Teil der sogenannten Midlife-Crisis sind solche verspätet manifestierten Depressionen. Diese wenigen Beispiele mögen die Nützlichkeit des Drei-Säulen-Modells deutlich gemacht haben (siehe auch Kapitel 23.1 über das Drei-Säulen-Modell). Ich möchte darüber hinaus im Folgenden kurz schildern, auf welche Weise das Modell zu einer befriedigenden Klärung einer gewissen Verwirrung in der Psychoanalyse, die das alte und im Prinzip sehr wichtige Freud’sche Konzept des Ich-Ideals betreffen, nützlich sein kann.
5.4 Das alte Freud’sche Konzept des Ich-Ideals und das Drei-Säulen-Modell Die im Laufe des 20. Jahrhunderts in der psychoanalytischen Theorie deutlich gewordene störende Ambiguität des Begriffs des Ich-Ideals kann durch eine Dreiteilung (wie im Drei-Säulen-Modell), also durch Aufteilung der in ihm ursprünglich enthaltenen Funktionen behoben werden. a) Dort, wo es sich um die von den Eltern übernommenen Verbote und Gebote, also um die beurteilende und kritische Funktion des (alten) Ich-Ideals handelt, kann man diesen normativen Anteil des Ich-Ideals zwanglos in der Dynamik und der Symbolik der dritten (linken) Säule, also der Säule des Über-Ich im engeren Sinne, unterbringen. b) Das (alte) Ich-Ideal enthält aber in seiner ursprünglichen Fassung viele andere, eben nichtnormative Aspekte und Dimensionen, wie diejenigen der Idealisierung, der Identifikation, der Partizipation am inneren und äußeren idealisierten Objekt. Diese Aspekte des Ich-Ideals würde ich deswegen den nichtnormativen, aber dennoch objektbezogenen Anteil nennen und eindeutig der »Zuständigkeit« der mittleren, der zweiten Säule übergeben. c) Den restlichen dritten Teil kann man sinnvollerweise als den zwar ebenfalls nichtnormativen, aber eindeutig selbstbezogenen Anteil des Ich-Ideals betrachten. Er gehört zur Dynamik und Symbolik der ersten (rechten) Säule, bei der es um das Ideal-Selbst in unserer Terminologie geht. Schließlich noch eine Bemerkung zur Anwendung des Modells außerhalb der Psychopathologie: Es hat sich herausgestellt, dass die mit Hilfe des Drei-Säulen-Modells erreichbare terminologische Differenzierung auch dem nichtpsychoanalytischen Fachkollegen sowie sogar dem interessierten Laien sehr nützlich sein kann. Es ist ein gutes Instrumentarium zur Selbstreflexion und zum kommunikativen Austausch, das angesichts der heutigen extremen allgemeinen Verunsicherung und Desorientierung in Bezug auf Wertsysteme, Identitätzugehörigkeit, Loyalität usw. einen gemeinsamen begrifflichen Bezugsrahmen zur Verfügung stellt, der die gegenseitige Verständigung erleichtern kann.
Kapitel 6: Zur Psychodynamik des Traums
6.1 Das ursprüngliche Traum-Modell von Freud Das im Jahr 1900 erschienene monumentale Werk von Freud über Traumpsychologie und Traumdeutung gilt zu Recht als eines seiner wichtigsten und originellsten Schöpfungen, wenn auch viele der dort vertretenen Thesen zur Traumpsychologie und Traumdeutung später korrigiert, ergänzt oder revidiert werden mussten. Es war der erste und in gewisser Hinsicht ein revolutionärer Versuch, den Traum, dieses universelle und schon in vorgeschichtlichen Zeiten der Menschheit eminent wichtige Phänomen, wissenschaftlich zu erfassen und im Hinblick auf die zu vermuteten Gesetzmäßigkeiten zu untersuchen. Freud kam zu der Schlussfolgerung, dass der Traum die verkappte Erfüllung eines verdrängten Wunsches sei. Dadurch ermögliche der Traum die Fortsetzung des Schlafes, der sonst durch die Mobilisierung solcher Wünsche gestört zu werden drohe (Der Traum als Hüter des Schlafes). Der Traum, meinte Freud weiter, sei in gewisser Hinsicht mit dem neurotischen Symptom vergleichbar, denn auch im Traum findet eine Kompromissbildung statt zwischen dem Anspruch eines verdrängten Impulses auf Befriedigung einerseits und den Widerständen dagegen andererseits. Letztere machen sich in einer Reihe von im Traum nachweisbaren Vorgängen bemerkbar, die Freud mit der Tätigkeit des Zensors eines Textes verglich. Dieser Zensor mache gewisse ursprünglich enthaltene Informationen durch Auslassungen, Verlagerungen, Umdeutungen, Symbolisierungen unkenntlich. Die Funktion der Abwehrmechanismen bei der Entstehung des neurotischen Symptoms entspreche der Funktion der Mechanismen bei der »Traumarbeit«: Es komme sehr oft zu einer Verdichtung und/oder Verschiebung des Gemeinten, nicht zuletzt auch vorwiegend durch eine symbolische Verkleidung. Der so entstehende manifeste Traum gewinne durch die anschauliche Darstellung an Überzeugungskraft für den Träumenden. Hinzu kommen viele sekundäre Bearbeitungen. Freud und andere Analytiker haben verschiedene spezifische und/oder typische Traumtypen beschrieben wie z. B. den Initialtraum (zu Beginn einer psychoanalytischen Behandlung), den Angsttraum (der meistens seine Funktion als Hüter des Schlafes nicht erfüllen konnte und durch das Aufwachen unterbrochen wird) oder den Straftraum, also einen Traum, in dem der Träumende etwas Peinigendes, Schmerzliches, Bedrückendes usw. erlebt.
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
Träume des letzteren Typus haben Freud zunächst gewisse theoretische Schwierigkeiten geboten, weil sie ja dem Prinzip der Wunscherfüllung im Traum bzw. – allgemeiner betrachtet – dem Lust-Unlust-Prinzip zu widersprechen scheinen. Dennoch, so Freud, handele es sich letztlich nur um einen scheinbaren Widerspruch. Denn auch die Strafe, der Schmerz, das negative Erlebnis dienen dem Ausgleich des Schuldgefühls und der Aussöhnung mit dem Über-Ich und somit der Linderung der unlustvollen Spannung. Gemeint war wohl das, was später eine masochistische Strategie genannt wird (siehe Kapitel 12).
6.2 Die weitere Entwicklung der Traumtheorie Nachdem Freud das Strukturmodell der Psychoanalyse (Drei-Instanzen-Modell) eingeführt hatte, formulierte er sich selbst korrigierend, dass der Traum auch vom Ich ausgehe (und nicht nur vom Es) und dass der Traum unter Umständen Hinweise auf die Lösung eines Konflikts oder auf einen Vorsatz darstelle. Auf einen weiteren Gesichtspunkt haben Arlow und Brenner (1976) aufmerksam gemacht, in dem sie den allgemein in der psychoanalytischen Theorie eingeführten Begriff der »Regression im Dienste des Ich« auch im Fall des Traums als eine klassische Form einer solchen Regression herausgestellt haben. Eine weitere Entwicklung des psychoanalytischen Verständnisses in der Traumpsychologie führte dazu, dass nun der manifeste Traum an Gewicht und Bedeutung gewonnen hat, während der frühe Freud den latenten Traum, also die von ihm angenommene ursprüngliche und noch nicht durch die Traumarbeit verschleierte Triebregung als das Wichtigste ansah – der manifeste Traum war für Freud sozusagen nur eine wertlose Hülle. Meltzer (1984), der sich intensiv mit dem manifesten Traum beschäftigt hat, konnte dagegen überzeugend eine formale Kontinuität verschiedener Träume desselben Menschen zeigen. Auch in meiner Erfahrung findet man tatsächlich oft einen bemerkenswert spezifischen, persönlichen Stil hinsichtlich der formalen Elemente in den verschiedenen Träumen eines Träumers. Eine weitere Einsicht war, dass die beim Traum stattfindende Regression von Ich-Funktionen eine selektive ist, so dass Teile des Traums logisch und rational aufgebaut erscheinen. Die seit den 1960er Jahren aufgekommene Objektbeziehungstheorie hat auch für das psychoanalytische Verständnis des Traums eine überragende Bedeutung gewonnen. Schon die Aussage, dass die Libido nicht auf Lustsuche, sondern auf Objektsuche ausgerichtet sei, lässt erkennen, dass diese allgemeingültige Aussage selbstverständlich auch in Bezug auf den Traum und das Traumverständnis von großer Relevanz sein muss. Die Objektsuche, die Nähe oder Distanz, der Umgang mit dem Objekt und nicht so sehr die direkte Triebbefriedigung stehen jetzt bei der Analyse des Traums im Vordergrund. Dies macht auch verständlich, warum fast in jedem Traum während einer psychoanalytischen oder sonstigen psycho-
Kapitel 6: Zur Psychodynamik des Traums
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therapeutischen Behandlung deutliche Übertragungsaspekte sowohl im Inhalt als auch in der Entwicklung und Dramatik des Traums enthalten sind. Auch andere Aspekte und früher schwer analysierbare Traumsequenzen werden mit Hilfe der Objektbeziehungstheorie in ihrer Funktion besser verständlich.
6.3 Neurophysiologische Grundlagen Die Aufsehen erregenden Aufdeckungen der Neurophysiologie des Schlafes und des Traums seit den 1950er Jahren schienen zunächst die Relevanz der psychologischen und insbesondere der psychoanalytischen Traumtheorien erheblich zu relativieren. Träume entstehen nur unter bestimmten im Elektroenzephalogramm fassbaren neurophysiologischen Bedingungen. Sie treten auch, und zwar sehr häufig, bei ganz kleinen Kindern und auch bei Tieren auf. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit den für den Schlaf charakteristischen Phasen. Im nächtlichen Schlaf jedes Menschen findet man vier bis fünf REM (Rapid Eye Movement)-Schlafphasen von ca. zwanzig Minuten, die von längeren Nicht-REM-Phasen unterbrochen werden. Die Traumtätigkeit scheint in enger Verbindung mit den Schlafphasen (häufig während der REM-Phasen) zu stehen. Die meisten Träume seien verwirrende Abfolgen von Traumbildern, aus denen keine psychologische Funktion, geschweige ein »Sinn« abzuleiten sei – so die Kritik gegen die Freud’sche Traumtheorie. Diese Kritik gegenüber der psychologisch-psychoanalytischen Traumdeutung gipfelte in den 1970er Jahren etwa in den Auffassungen von Crick, Hobson u. a. (siehe Literatur bei Leuschner, 2000), wonach der Traum nur ein »Elektro-Gewitter« sei, das dazu diene, die zerebralen Leitungen von »Tages-Schlacken« zu reinigen. Diesem »Physikalismus« widersprach schon damals die alltägliche Erfahrung mit Träumen innerhalb und außerhalb der Therapie, bei denen der Sinn bzw. die Funktionen des Traums zum Greifen nahe und nicht zu verkennen waren. Inzwischen sprechen jedoch auch die neuesten Ergebnisse der Hirnforschung und der auf der ganzen Welt intensiv betriebenen Schlaf- und Traumforschung eindeutig gegen diese reduktionistische Auffassung des Traums. Unabhängig davon hatte man auch schon in den beginnenden 1980er Jahren entdeckt, dass viele neurophysiologische Befunde und Modelle mit der psychoanalytischen Auffassung des Traums zumindest kompatibel sind. Dies gilt z. B. für die funktionelle Regression im Schlaf sowie für die Tatsache, dass auch experimentell festzustellen war, dass ältere Erfahrungen mit neuen Strategien bearbeitet werden.
6.4 Ein Vergleich zwischen Traum und Psychose Der Traum kann wegen der bei ihm herrschenden Vernachlässigung von rationalen, räumlichen und zeitlichen Gesetzmäßigkeiten mit einem psychotischen Zu-
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
stand verglichen werden. In beiden Zuständen, also sowohl im Traum als auch in der Psychose, stellt man eine funktionale Regression fest. Beide stellen in gewisser Hinsicht Abwehr- und Schutzstrategien dar, die die Realitätsprüfung einem sozusagen dringenderen Ziel, also einer Not »opfern«. Des Weiteren werden beide durch das Vorherrschen projektiver bzw. Externalisierungsmechanismen charakterisiert, wenn auch gelegentlich Internalisierungen stattfinden. Die Unterscheidung zwischen Selbst und Nichtselbst ist zum großen Teil aufgehoben. Sowohl der Psychotiker als auch der Träumende wissen oft nicht, was innen und was außen ist. In beiden Fällen verläuft der intrapsychische Prozess nicht nach den üblichen Gesetzmäßigkeiten und innerhalb des gewohnten räumlichen und zeitlichen Bezugsrahmens. Das hängt offenbar teilweise davon ab, ob es sich um ein Träumen innerhalb einer REM-Phase oder zwischen zwei solcher Phasen handelt. Glaubte man früher, zu Anfang, also nach den ersten neurophysiologischen Entdeckungen, dass man nur während des REM-Schlafes träumt, so weiß man heute, dass auch in den Non-REM-Phasen Träume vorkommen. Allerdings sind normalerweise nur die-jenigen Träume erinnerlich, die innerhalb einer REM-Phase stattfinden.
6.5 Die Bedeutung von Symbolisierungsprozessen im Traum – früher und heute Freud sah die Symbolbildung innerhalb des Traums, z. B. die symbolische Darstellung des Penis durch einen länglichen Gegenstand, als einen Abwehrvorgang, also als eine Methode der zensierenden und verdeckenden Traumarbeit. Dagegen gehen wir heute, nach einer langen Entwicklung der Theorien und Auffassungen darüber, davon aus, dass die Bildung von Symbolen, also die repräsentative Darstellung eines Inhalts, keineswegs zwangsläufig eine solche defensive Funktion haben muss. Wir nehmen im Gegenteil an, dass Symbolisierungsprozesse zu den wichtigsten, universellen und ursprünglichsten Fähigkeiten des Menschen gehören und dass viele und gerade schwere psychische Störungen darin bestehen, dass bei ihnen Symbolisierungsprozesse mangelhaft oder überhaupt nicht entwickelt werden konnten (vgl. auch Kapitel 4). Allerdings kann eine Umsymbolisierung, also das Ersetzen des allgemein akzeptierten repräsentativen Symbols eines Inhaltes durch ein anderes, wie etwa bei der Neuwortbildung (Neologismus) des Schizophrenen, oder eine Desymbolisierung (das Fehlen oder die Abschaffung eines bis dahin vorhandenen Symbols) als Abwehrmechanismen benutzt werden, und zwar sowohl im wachen Zustand als auch im Traum. Diese fast banal wirkenden Bemerkungen zum heutigen Verständnis von Symbolisierungsprozessen erschien mir trotz ihrer Selbstverständlichkeit erforderlich, weil einige Analytiker sozusagen gewohnheitsmäßig heute noch Symbolisierungsprozesse, zumal im Traum, automatisch als fast pathologische Abwehrprozesse betrachten.
Kapitel 6: Zur Psychodynamik des Traums
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6.6 Das Neue in der jungianischen Traumtheorie C. G. Jung gehört zweifelsohne zu den Therapeuten, die in der Zeit nach dem ersten maßgebenden, genialen Entwurf Freuds (1900) eindeutig Neues und Schöpferisches für das Verständnis des Traums entdeckten und es weiterentwickelten. Nach Jung sei der Traum eine spontane Selbstdarstellung des aktuellen Unbewussten in einer symbolischen Ausdrucksform. Die wichtigste Funktion des Traums sei eine kompensatorische bzw. homöostatische. Der Traum sei also nicht nur der Hüter des Schlafes (was er auch sein kann), sondern er sorge an erster Stelle für den Ausgleich zwischen der bewussten und der unbewussten Seite der Psyche, und darüber hinaus sei er auf neue Entwicklungsmöglichkeiten der Persönlichkeit gerichtet. Nach Jung gibt es persönliche, aber auch kollektive Symbole. Diese archetypischen Symbole erscheinen im Traum innerhalb eines Prozesses, den Jung als den Weg zur Individuation betrachtet. Individuation werde durch Wandlungs- und Selbstsymbole angezeigt (Jung, 1948). Symbole seien Transformatoren psychischer Energie und dienten der Synthese zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Der größte und originellste Beitrag von C. G. Jung besteht jedoch in der Entdeckung der Funktion des Traums auf der Subjektstufe: Viele, vielleicht die meisten der im Traum vorkommenden Personen, Gegenstände, Zustände, Handlungen etc. repräsentieren nicht, wie man zunächst glauben könnte, andere Personen, Gegenstände usw., sondern sind sehr oft als projizierte Selbstanteile zu verstehen. Entsprechend werden sie auch während der Therapie als solche gedeutet, was dazu führt, dass das Verständnis des Patienten über sich selbst erheblich gefördert wird. Die auf der Traumbühne agierenden Personen repräsentieren also die eigenen Persönlichkeitsanteile und ihre Interaktionen entsprechen den oft konflikthaften und miteinander rivalisierenden Tendenzen in einem selbst.
6.7 Der Traum als Inszenierung mit wichtigen Funktionen Nicht der Zensor (der die unerlaubten Stellen des Traumtextes verkleidet bzw. aussortiert), wie Freud annahm, sondern der Dramaturg und Regisseur des Traums sind nach unserem heutigen Verständnis maßgebend. Die Grundannahme Freuds, der Traum sei der Hüter des Schlafes, kann zwar zum Teil bestehen bleiben. Dennoch gehen wir heute davon aus, dass man den Traum nicht vorwiegend zum Schutz des Schlafes braucht, sondern aufgrund vieler anderer Bedürfnisse und Notwendigkeiten. Anders ausgedrückt: Der Traum hat auch viele andere Funktionen. So dient er als Selbstdarstellung für das Durchspielen von Selbstentwürfen, aber auch von Objektbeziehungsentwürfen und Konfliktausgängen bzw. -lösungen. Eindrucksvoll sind in dieser Hinsicht Traumsequenzen aus derselben Nacht,
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Erster Teil: Allgemeine Psychodynamik
also Serien von zwei, drei oder vier Träumen: Während man bei einer ersten oberflächlichen Betrachtung wenig inhaltlich Verwandtes und Gemeinsames in diesen Träumen wahrzunehmen glaubt, zeigt sich bei einer näheren Analyse, dass wahrscheinlich ein innerer Zusammenhang, ein roter Faden nachzuweisen ist. Dabei geht es meistens darum, dass eine in eine Sackgasse führende Handlungsweise im ersten Traum unterbrochen wird, der Betreffende wird sogar kurzfristig wach. Er schläft wieder ein und nun wird ein entgegengesetzter Modus des Kompromisses oder der Lösung durchgespielt. In einem dritten Traum wird gelegentlich dann ein neues, alternatives Szenario durchgespielt (Mentzos, 1995a). Unabhängig von diesen Sequenzen und der geschilderten Arbeitshypothese dazu findet man des Öfteren im Traum die Darstellung der eigenen Notlage, der Konflikte und Dilemmata und insbesondere der Sehnsüchte des Träumers. Diese Bedürfnisse können durch die szenische Darstellung indirekt zum Ausdruck kommen. Dies dürfte übrigens auch einer der Gründe für die Entstehung des realen Theaters sein, das offensichtlich ähnliche Funktionen erfüllt wie der Traum. Eine weitere Funktion ist die von den Jungianern genannte »Selbstwahrnehmung in die Tiefe«. Außerdem werden Lebensqualitäten stimuliert, die im wachen Leben nicht zugänglich sind, etwa weil die entsprechenden symbolischen Vorgänge unterentwickelt sind. Man könnte insgesamt mit guten Gründen behaupten, dass die Externalisierung (und oft die daraufhin folgende Internalisierung) im Traum einen wichtigen Weg der Selbstentstehung und -differenzierung darstellt. Das Träumen, ob erinnerlich oder nicht, scheint somit für die Aufrechterhaltung psychischer Gesundheit von Bedeutung zu sein. Diese Behauptung wird auch durch Traumentzugsexperimente unterstützt, bei denen die Probanden im Schlaflabor systematisch geweckt werden, wenn die laufenden elektrophysiologischen Aufzeichnungen den Beginn eines Traums signalisieren. Ein solcher kontinuierlicher Traumentzug kann zu psychischen Störungen führen. Evolutionstheoretisch betrachtet kann man davon ausgehen, dass zwar die neurophysiologischen Bedingungen des Schlafes sowie die Periodizität von REMund Non-REM-Phasen zunächst biologischer Herkunft sind und sich als nützliche Überlebensstrategie entwickelt haben. Man vermutet z. B., dass in der Phase des oberflächlichen REM-Schlafes das Tier eher für äußere Reize empfänglich wird und dadurch eventuelle Gefahren rechtzeitig wahrnimmt. Dennoch ist es in der Entwicklung des Menschen offensichtlich zu einem Funktionswandel gekommen. Die in den neurophysiologischen Bedingungen des Schlafes und des Traums implizierte extreme regressive Abschwächung äußerer Reize schwächt die Realitätsprüfung wahrscheinlich zugunsten einer vermehrten tieferen Wahrnehmung, die neue, vorteilhafte Erlebensweisen ermöglicht. Ob diese Formulierung, die eine Synthese zwischen biologisch-neurophysiologischen und psychologisch-psychoanalytischen Daten anstrebt, in jeder Hinsicht richtig ist, kann man freilich nicht beweisen. Tatsache ist aber, dass, je mehr man die Gesamtstruktur und die
Kapitel 6: Zur Psychodynamik des Traums
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Details eines Traums berücksichtigt, desto mehr erstaunt ist, wenn nicht sogar begeistert, über die Fähigkeiten des Traum-Dramaturgen und Traum-Regisseurs, die es oft fertig bringen, in kunstvollen Verdichtungen und Symbolisierungen Wesentliches zum Ausdruck zu bringen.
6.8 Der therapeutische Umgang mit Träumen Latenter und manifester Traum sind diagnostisch und therapeutisch gleichermaßen von Bedeutung. Auch wenn die von Freud empfohlene minutiöse Anwendung der Assoziationsmethode heute selten angewandt wird, so empfiehlt es sich auf jeden Fall, zunächst auf Einfälle des Patienten zu warten bzw. ihn dazu zu ermuntern. Mit Hilfe des Traums kann man oft die momentane Behandlungssituation, zumal auch die Übertragungs-Gegenübertragungs-Konstellationen, schneller und besser erfassen. Der Traum ermöglicht als Kommunikationsmittel einen Austausch auf Ebenen und Gebieten, die man sonst sehr schwer erreichen kann. Er führt sowohl den Patienten als auch Therapeuten oft zum verdeckten Kern. Von daher hat auch nach der neueren Forschungsentwicklung die Formulierung Freuds, der Traum sei die via regia zum Unbewussten, nicht an Gültigkeit verloren. In ähnlicher Weise wie bei der Interpretation von Symptomen empfiehlt sich auch bei der Traumdeutung eine »Positivierung« des Trauminhaltes, also eine gelegentlich angemessene Anerkennung der »Inszenierungsleistung« des Patienten, also eine Anerkennung der darin enthaltenen Ich-Leistung. Dies kann z. B. dadurch geschehen, dass der Therapeut die mit dem Patienten gemeinsam gewonnene Einsicht und Bewusstmachung mit Hilfe der Symbolisierungssprache des Traums auch später in anderen Situationen im Gespräch mit dem Patienten als ein neu gewonnenes Kommunikationsmittel benutzt.
Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Kapitel 7: Nosologische versus psychodynamische dreidimensionale Diagnostik
7.1 Die Krise des Neurose-Konzepts Die spezielle Psychodynamik beschäftigt sich mit der je eigenen Dynamik der einzelnen psychischen Störungen. Auch wenn der individuelle Fall, also das Leiden des konkreten Menschen zum großen Teil etwas Einmaliges ist, müssen wir zwecks einer besseren und schnellen Orientierung versuchen, die doch vorhandenen Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Fällen zu erfassen und womöglich bestimmte Typen von Störungen sichtbar zu machen. Diese Suche sollte sich gerade nicht auf das Deskriptive beschränken, sondern auch eine Klassifikation der Variationen der Psychodynamik zum Ziel haben. Worauf kann aber eine solche Systematik basieren? Die bloße deskriptive Schilderung und Einteilung, wie sie uns die Psychiatrie schon früher bot und besonders heute mittels DSM und ICD bietet, reichen nicht aus. Sie erlauben zwar eine erste Orientierung, eignen sich jedoch für sich allein bei weitem nicht zur Erfassung der je spezifischen Problematik. Angesichts dieser Tatsache ist es verständlich, dass man die hier notwendige psychodynamische Ergänzung bei der Psychoanalyse suchte, die ja ihre Entstehung und ihre Existenzberechtigung gerade der Beschäftigung mit den hinter den Phänomenen stehenden psychischen Kräften, den unbewussten Motivationen, verdankt. Die im ersten, allgemeinen Teil dieses Buches beschriebenen Konzepte der Abwehrmechanismen, der primären und sekundären Konflikte, des älteren Drei-Instanzen-Modells und des neueren Bipolaritätsmodells stellen solche psychodynamischen Begriffe und Konzepte dar. Sie sind vorwiegend psychoanalytischen Ursprungs, wenn sie auch zum Teil schon vor der Entstehung der Psychoanalyse existierten und auf der anderen Seite im Laufe des 20. Jahrhunderts erheblich modifiziert und ergänzt werden mussten. Freud glaubte, eine Systematik nach einem von der Medizin übernommenen Paradigma leisten zu können. Er ging vom Konzept der nosologischen Einheiten, also von Krankheitseinheiten wie z. B. einer Lungenentzündung oder Hepatitis aus. Diese gehen mit jeweils bestimmten und immer denselben Ursachen, Pathogenesen, Erscheinungsbildern, Verläufen und therapeutischen Besonderheiten einher. Bei der Herstellung und Benennung solcher Krankheitsentitäten im Bereich des Psychischen gab es eine große Gruppe von Erkrankungen, bei denen nach Freud die Annahme eines je spezifischen, der jeweiligen Störung zugrunde liegenden intrapsy-
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
chischen Konflikts eine große Rolle spielte. Die dadurch definierbaren psychischen Störungen hießen Neurosen, d. h. auf einem unbewussten inneren Konflikt basierende Erkrankungen. Zwar hat es den nosologischen Begriff der Neurose schon lange vor der Psychoanalyse gegeben, doch erst Freud begriff jene die Neurosen ausmachenden Symptome und Syndrome als Bestandteile von Abwehr-, Schutz- und Kompensationsmechanismen und dadurch auch als (inadäquate) kompromisshafte Konfliktlösungsversuche. Dies war ein neuer, origineller und schöpferischer Schritt. Was sind aber die Neurosen? Wie lassen sie sich von anderen psychischen Störungen abgrenzen und unter sich aufteilen? (vgl. dazu z. B. Hoffmann, 1994). Ich will die lange Diskussion darüber nur ganz kurz umreißen: Man ging davon aus, dass innerhalb der großen Gruppe psychogener, also durch psychische Vorgänge, Erlebnisse und Reaktionen hervorgerufener Störungen diejenigen als Neurosen zu bezeichnen wären, denen unbewusste Konflikte und deren inadäquate oder auf jeden Fall nicht ausreichende Verarbeitung zugrunde liegen. Innerhalb dieser Neurosen trennte man die große Gruppe der Psychoneurosen ab, die nach Laplanche und Pontalis diejenigen neurotischen Störungen sind, deren Erscheinungen sich des symbolischen Ausdrucks von psychischen Konflikten bedienen. Diese Konflikte haben ihre Wurzeln in der Kindheit. Diese Hervorhebung der Symbolik als wichtigstem Unterscheidungsmerkmal der Psychoneurosen gegenüber anderen Neurosenformen war zwar treffend, aber nicht ausreichend. Gerade an diesem Problem zeigt sich, wie schwer es ist, psychodynamisch inspirierte Kategorien von Störungen zu definieren: Symbolik ist nämlich auch bei vielen anderen psychischen Störungen im Spiel und nicht nur bei denen, die man Psychoneurosen nannte, also z. B. nicht nur bei der Zwangsneurose (eine Psychoneurose), sondern auch bei der Magersucht oder bei psychosomatischen Hauterkrankungen oder auch bei den Psychosen. Die von Laplanche und Pontalis bezweckte Abgrenzung der Psychoneurosen von anderen »schwereren« Störungen kann also nicht allein durch die Feststellung geleistet werden, ob bei der Symptombildung Symbolisierung stattfindet oder nicht. Um die Psychoneurosen ausreichend abzugrenzen, muss man zwischen unterschiedlichen Reifestufen der Symbolik differenzieren, das heißt die Reife der Persönlichkeitsorganisation und der Abwehrmechanismen und auch die Art des Konflikts berücksichtigen. Denn auch der Konflikt kann eine reifere oder eine unreifere Variation des Grundkonflikts sein. Dies bedeutet aber wiederum nicht, dass bei den Psychoneurosen, also bei den »reiferen« neurotischen Störungen, nur die früher als Triebkonflikte beschriebenen, z. B. die ödipalen Konflikte, relevant seien. Die innerhalb der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie erst später hinzugekommenen selbstpsychologischen, objektbeziehungstheoretischen und intersubjektiven Aspekte weisen auf viele, weit über den Triebkonflikt hinausgehende Problematiken hin, welche heute auch bei den Psychoneurosen relevant sein können. Dies soll näher erläutert werden. Die Annahme eines Triebkonflikts im Sinne des alten Drei-Instanzen-Modells – etwa Triebimpuls versus Über-Ich-Verbot – reicht allein meistens auch bei diesen
Kapitel 7: Nosologische versus psychodynamische dreidimensionale Diagnostik
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sogenannten reifen Neurosenformen nicht aus, um den konkreten Fall adäquat zu erfassen. So liegen z. B. oft einer von außen betrachtet inzestuös anmutenden, übertriebenen Bindung zwischen Vater und Tochter bzw. zwischen Mutter und Sohn (sowie ihrer neurotischen Entsprechungen in späteren Beziehungen im Erwachsenenalter) keineswegs immer ein triebhafter, libidinöser Wunsch und ein ihn verbietendes Inzesttabu zugrunde (für eine detaillierte Schilderung solcher Fälle siehe z. B. Mentzos, 1980/2004). Oft geht es um eine emotionale Abhängigkeit vom Primärobjekt und/oder um das Bedürfnis der Selbststabilisierung durch Identifikation. Der Konflikt ist also in einem solchen Fall nicht ein ödipaler im engeren Sinne des Terminus (vgl. auch Kapitel 2.3). Diese und ähnliche Nachteile des früheren diagnostischen und klassifikatorischen Vorgehens in der Psychoanalyse zeigten sich besonders krass im Fall der Hysterie, so dass eine Krankheitseinheit »Hysterie«, bei der nach der alten Auffassung immer ein ödipaler Konflikt involviert sei, auf die Dauer nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Die bei ihr früher angenommene obligatorische Koppelung der hysterischen Symptomatik an einen ödipalen Konflikt konnte sich in vielen Fällen nicht bestätigen. Analoges hat sich dann bei der Zwangsneurose, bei der neurotischen Depression, bei der Phobie, also bei allen Psychoneurosen gezeigt. Man fand zwar in allen diesen Störungen viele der im ersten Teil dieses Buches beschriebenen psychodynamischen Zusammenhänge (und Abwehrvorgänge), man konnte jedoch die nach der alten Krankheitseinheiten-Lehre zu erwartenden Konstellationen von Konflikt, Abwehr und Krankheitsbild nicht bestätigen. Die obigen Beispiele und Überlegungen könnten zu einer Übertreibung in die Gegenrichtung führen, also zu der – übrigens in den letzten Jahren sehr verbreiteten – Tendenz innerhalb der heutigen Psychoanalyse, nur dyadische »frühe« präödipale Konflikte glauben zu sehen und zu entdecken. Dies entspricht nicht der Realität. Die triadischen bzw. ödipalen Konflikte behalten trotz allem ihre zentrale Bedeutung
7.2 Eine dreidimensionale Diagnostik Im Hinblick auf diese diagnostischen und klassifikatorischen Schwierigkeiten könnte man resignieren und meinen, man sollte lieber auf Klassifikationen verzichten. Dies ist jedoch nicht sinnvoll, da eine gewisse ordnende Orientierung nicht nur aus theoretischen, sondern auch aus praktischen Gründen erforderlich ist. Angesichts der geschilderten Problematik schlug ich schon vor längerer Zeit eine mehrdimensionale (zumindest dreidimensionale) Diagnostik vor (Mentzos, 1982), in der jeder konkrete Fall in Bezug auf drei Dimensionen, also nach drei Kriterien eingeordnet werden kann (Abb. 2). Das erste Kriterium bezieht sich auf die Art der Abwehr und Kompensation der Störung, also auf den Modus der Verarbeitung des Konflikts und/oder des Traumas (der Modus beinhaltet auch die Funktion dieser Abwehr; vgl. Kapitel 3.4).
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
A. Art und Reifegrad des Modus der Abwehr und Kompensation des Konflikts und/der des Traumas und/oder der Deprivation bzw. des Mangels B. Art des (frühen) Dilemmas oder des (späteren) Konflikts inklusive der jeweils involvierten Traumata
C. Reifegrad der psychischen Struktur, aber insbesondere auch der Beziehungen zum Objekt und zum Ich Abbildung 2: Dreidimensionale Diagnostik psychischer Störungen (A, B, C)
Die zweite Dimension bezieht sich auf die Art, man könnte auch sagen, die Reife des Konflikts oder Dilemmas (also z. B. Selbstidentität versus Verschmelzung als unreifer Konflikt im Gegensatz zu einem reifen ödipalen Konflikt; vgl. Kapitel 2.2). Die dritte Dimension bezieht sich auf die Reife der Persönlichkeitsorganisation insgesamt (vgl. dazu die in der OPD, 1998, bzw. von Rudolf, 2006, vorgeschlagene Einteilung in vier Stufen: gut integriert, mäßig integriert, gering integriert, desintegriert). Oft überschneidet sich diese dritte Dimension mit der zweiten Dimension (Art des Konflikts), jedoch ist dies nicht immer der Fall. So kann z. B. in der Adoleszenz die Wiederbelebung eines »frühen« elementaren Dilemmas vorliegen bei einem Jugendlichen, der eine relativ gute Organisation der Persönlichkeit erreicht hat, der aber aufgrund von anderen, z. B. extrem ungünstigen äußeren Bedingungen in eine Identitätskrise fast psychotischen Ausmaßes gerät. Die Diagnostik eines solchen Falles nur aufgrund des psychotisch anmutenden Bildes (erste und zweite Dimension), ohne Berücksichtigung der relativen Reife der Persönlichkeitsorganisation insgesamt, würde zu einer ungünstigeren als der tatsächlich berechtigten Einschätzung und Prognose führen, was sicher von großer praktischer Relevanz ist. Der erfahrene Jugendpsychiater würde mit Recht sagen: Eine Adoleszenzkrise wurde fälschlicherweise als eine beginnende Psychose diagnostiziert. Aufgrund solcher und ähnlicher Feststellungen erscheint es mir sinnvoll, alle drei Dimensionen bei jedem Fall zu berücksichti-
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gen. Trotzdem erscheint mir andererseits geboten, die erste Dimension, also den Modus der Abwehr zu favorisieren.
7.3 Warum die Betrachtung des Modus favorisiert wird Entschließt man sich – mit guten Gründen – zu einem dreidimensionalen diagnostischen und klassifikatorischen System, so ist man trotz der Dreidimensionalität gezwungen, bei der Grundeinordnung und Beschreibung der psychischen Störungen (wie z. B. beim Aufbau dieses Lehrbuches) einer der drei Dimensionen (Modus, Konflikt, Organisationsniveau) den Vorzug zu geben, um überhaupt eine übersichtliche Einteilung vornehmen zu können. Die Überlegungen, die zu der Entscheidung führten, dieses Primat dem Modus der Abwehr und der Kompensation zu gewähren, sind folgende: a) Das Erscheinungsbild, die Symptomatik hängt vorwiegend mit dem jeweiligen Modus zusammen. Von daher ist die hier gewünschte Kliniknähe und Kongruenz mit der deskriptiven Erfassung am größten – dies trotz der intensiven Berücksichtigung der Psychodynamik. Die Favorisierung des Modus ist dennoch grundverschieden von der einseitig deskriptiven psychiatrischen Diagnostik, wie es auch am Nachfolgenden deutlich wird. b) In dem Modus drückt sich in charakteristischer Weise sowohl die intrapsychische Abwehrkonstellation als auch die herrschende Art der Beziehungen des Einzelnen zu sich und zum Objekt aus. Der aktuelle interpersonale Aspekt lässt sich also beim Modus am leichtesten erkennen. Es gibt zwar eine relativ breite Streuung der einzelnen Modi innerhalb der c) Organisationsstufen (also entlang den Reifestufen der Persönlichkeitsorganisation) sowie innerhalb der verschiedenen Konfliktarten; man kann z. B. den hysterischen oder den zwangsneurotischen Modus auf allen Stufen, vom Borderline-Niveau bis zum reifen Level des sogenannten Neurotischen, treffen. Trotzdem muss man berücksichtigen: Es gibt statistische Anhäufungen der Fälle mit einem bestimmten Modus auf einem bestimmten Niveau, die eine – wenn auch lockere und relative – Systematik erleichtern. So trifft man das Hysterische, den hysterischen Modus tatsächlich häufig auf dem ödipalen Niveau, Spaltung und Projektion häufig auf dem Borderline- oder dem psychotischen Niveau usw. Auch von daher ist der Vorrang des Modus zu begründen. Soweit zu der Favorisierung des Modus bei der diagnostischen Einordnung – und dadurch auch bei dem Aufbau dieses zweiten, speziellen Lehrbuchteils. Abgesehen von den erwähnten drei Dimensionen der Diagnostik werden zwei weitere Zuordnungskriterien bei der Einteilung der immensen Materie der Psychodynamiken berücksichtigt: Erstens werden diejenigen psychischen Störungen, bei denen die Somatisierung, also die körperlichen Symptome oder Beschwerden,
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
im Vordergrund stehen (in den neuen psychiatrischen Klassifikationssystemen die »somatoformen« Störungen) in einem eigenen Kapitel (16) zum psychosomatischen Modus behandelt. Zweitens: Die von ICD und DSM seit den 1980er Jahren eingeführten »Persönlichkeitsstörungen«, heute eine der umfangreichsten diagnostischen Gruppen, werden ebenfalls getrennt behandelt, obwohl sie viele Überschneidungen aufweisen sowohl mit den früher sogenannten Psychoneurosen als auch am anderen Ende des Spektrums mit den Borderline-Zuständen (die jetzt auch in die Gruppe der Persönlichkeitsstörungen übernommen wurden). Die Gründe für diese getrennte Darstellung werde ich in dem dortigen einführenden Kapitel erläutern.
7.4 Das »Normale« und die »Störungen« bilden ein psychodynamisches Kontinuum Die ausführliche Diskussion und Begründung einer – wenn auch relativierten – kategorialen Einordnung und Klassifikation könnten den falschen Eindruck entstehen lassen, dass ich zwischen »Normalem« und »Gestörtem« (aber auch zwischen den einzelnen Störungen unter sich) nur das Unterscheidende und nicht die tieferen Gemeinsamkeiten sehen würde. In Wirklichkeit gehe ich aber umgekehrt davon aus, dass es nicht nur fließende Übergänge, sondern auch viele Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Teilgruppen und Individuen sowie zwischen dem sogenannten Normalen und dem sogenannten Gestörten gibt. Die Kategorien sind größtenteils künstliche Konstruktionen, um einen ersten Überblick zu gewinnen und vielleicht auch Prognosen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu stellen. Im Übrigen gibt es viele – biologisch-metaphorisch gesprochen – »homologe Strukturen« und Übergangsformen, die genau so wichtig und interessant sind wie die »typischen« Fälle, weil wir erst durch sie manche bedeutsame Gemeinsamkeiten entdecken können. Diesem Thema ist ein eigenes Kapitel im dritten Teil dieses Buches gewidmet.
7.5 Die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) als Alternative zur dreidimensionalen Diagnostik Die gewisse Sterilität und Mangelhaftigkeit der rein deskriptiven psychiatrischen Diagnostik von DSM und ICD hat nicht nur mich, sondern auch viele andere Psychoanalytiker bzw. psychodynamisch orientierte Mediziner und Psychologen schon früher gestört und zum Widerstand dagegen motiviert. So entstand in den 1980er Jahren – u. a. unter der Leitung von S. O. Hoffmann (damals Lehrstuhlinhaber der psychotherapeutischen und psychosomatischen Abteilung der Universität Mainz) – die Arbeitsgruppe Operationalisierte Psychodynamische Dia-
Kapitel 7: Nosologische versus psychodynamische dreidimensionale Diagnostik
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gnostik (OPD) mit dem Ziel, die DSM- und ICD-Diagnostik mit Hilfe einer psychodynamisch-psychogenetisch orientierten Operationalisierung der zu dieser Dimension gehörenden Daten zu ergänzen. Die großen und systematischen Bemühungen dieser Gruppe, zu der ich lange Zeit selbst gehörte, führte zur Entwicklung eines beachtlichen diagnostischen Instrumentariums, das heute an vielen Orten angewandt wird. Doch hat es auch kritische Stimmen und Befürchtungen gegeben. So fragte man sich, ob nicht die »weichen« Begriffe der Psychoanalyse bei der Operationalisierung durch reduktionistische »Züge« denaturiert (Meyer, 1990) werden könnten. So könne bei ausschließlicher Nutzung von Klassifikationssystemen eine Barriere entstehen, die die Gesamtgestalt einer Krankheit in ihrer individuellen, lebensgeschichtlichen Ausgestaltung verstellt (Pouget-Schors, 2000, S. 555). Trotz dieser Bedenken kommt Pouget-Schors zu der Schlussfolgerung, dass die Vorteile des OPD insgesamt überwiegen. Zwar teile ich die Bedenken von Meyer, glaube aber, in Übereinstimmung mit Pouget-Schors, dass die OPD-Methodologie und inzwischen auch die OPDPraxis zur Präzisierung unserer psychodynamischen Begriffe beitragen und dass sie mit unserer dreidimensionalen Diagnostik nicht nur kompatibel, sondern oft auch komplementär sein können. Dies umso mehr, als unsere drei Dimensionen auch im OPD enthalten sind. Ob allerdings die OPD-Methodologie – trotz ihrer weiteren Entwicklung in den letzten Jahren – alle mir wichtig erscheinenden psychodynamischen Aspekte erfassen kann, erscheint mir zweifelhaft.
Kapitel 8: Hysterie und der hysterische Modus
8.1 Eine charakteristische Vignette zur Einführung Ein ca. 40-jähriger Patient, der sich wegen Angstzuständen und häufigen depressiven Verstimmungen seit über zwei Jahren in einer psychoanalytisch orientierten Behandlung befand, berichtete eines Tages Folgendes: Vor einigen Tagen erlebte er mal wieder einen inneren Zustand, den er früher öfter, aber in der letzten Zeit – vielleicht auch als Folge der Therapie – nicht mehr oder seltener hatte. In Situationen, in denen er die Angst bekam, er könnte sich blamieren und durch sein Verhalten in der Öffentlichkeit wahrscheinlich belächelt oder mitleidig und verächtlich betrachtet werden, wusste er zunächst keinen Ausweg. Seine Angst wurde in Minuten immer stärker und dann spürte er in sich die Tendenz, ja – vorsichtig ausgedrückt – fast die »Versuchung«, ohnmächtig zu werden. Dies sei ihm früher gelegentlich auch tatsächlich passiert; diesmal konnte er aber – zum Glück – der »Versuchung« widerstehen, der Versuchung also, auf diese Weise durch die Ohnmacht der ihm subjektiv bedrohlichen Situation zu entfliehen. Es gelang ihm, diesmal die Angst anders zu überwinden. So weit der Bericht des Patienten, der insofern eine Ausnahme darstellt, weil der hysterische Patient in der Regel nicht in der Lage ist, den inneren, psychologischen Zusammenhang bewusst zu erleben und zu verstehen. Aber hier handelt es sich um einen Patienten, der schon eine längere Therapie und intensive Arbeit mit sich selbst geleistet hatte. Es handelt sich bei solchen »Ohnmachtsanfällen« um keinen echten körperlich bedingten Bewusstseinsverlust, aber auch nicht um bewusst simulierte Anfälle (wie von Thomas Mann in seinem Roman »Felix Krull« beschrieben), sondern um eine psychogene, hysterische Konversionssymptomatik. Derart offene Berichte über solche Anfälle sind selten, aber dafür nicht nur als Zeichen der Vertrautheit in der Beziehung zum Therapeuten wichtig, sondern auch für unsere wissenschaftliche Theoriebildung wertvoll. Sie illustrieren den hysterischen Modus als eine halbbewusste Inszenierung überzeugend und eindrucksvoll und sie zeigen die Funktion, dieser Inszenierung. In diesem konkreten Fall geht es um die Rettung vor der Blamagegefahr, also um die Abwendung einer starken Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls. Übrigens wird hier demonstriert, dass der hysterische Modus nicht nur bei ödipalen Konfliktspannungen im Bereich der Sexualität – wie Freud annahm –
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
mobilisiert werden kann, sondern auch bei anderen Gefahren und Spannungen. Der Inhalt des Konflikts oder der anderswie – ohne Konflikt – entstehenden Spannungen ist offenbar relativ ubiquitär, das heißt, man trifft ihn bei verschiedenen Konflikten oder aber auch bei anderen Belastungen. Die Beobachtung des Phänomens durch Freud und die Erfassung der Psychodynamik waren zwar richtig und revolutionär (sie führten zur Entstehung der Psychoanalyse!). Die von ihm angenommene obligatorische Koppelung an das Ödipale war jedoch eine unnötige Einengung. Die Mobilisierung des hysterischen Modus innerhalb der ödipalen Thematik ist nur eine von vielen anderen möglichen »Anwendungen« dieser Art neurotischer »Lösung«. Dies alles soll im Folgenden näher und systematisch dargestellt werden.
8.2 Das deskriptive klinische Bild Die Symptome sowie die Erlebens- und Verhaltensweisen, welche früher »hysterisch«, heute zum großen Teil mit Hilfe anderer Termini wie dissoziativ, histrionisch usw. benannt werden, können in drei Gruppen unterteilt werden (vgl. Tab. 3): Tabelle 3: Hysterischer Modus Das klinische Bild Symptome, Syndrome körperliche Konversionssymptomatik ? – funktionelle Sehstörungen – Atembehinderungen – Schwindelzustände – Astasie – Abasie – »Lähmungen« – Kloßgefühl – Herzsensationen – Schmerzen etc. Die Hysterie als der Imitator aller, insbesondere der neurologischen Erkrankungen.
Charakterzüge, Erlebensund Verhaltensmuster psychische Dissoziationsphänomene ? – »Amnesien« – Dämmerzustände – Fugue (Weglaufen, Poriomanie) – dissoziativer Stupor – Ganser-Snydrom – Multiple Persönlichkeit
histrionische Persönlichkeitsstörung ? – Dramatisierungstendenz bzw. Affektualisierung bzw. Emotionalisierung – verführerisches Verhalten – Suggestibilität – emotionale Labilität – impressionistischer kognitiver Stil
a) Es geht erstens um körperliche Symptome, also um die Konversionssymptomatik: funktionelle (nicht organisch bedingte) Sehstörungen, Atembehinderun-
Kapitel 8: Hysterie und der hysterische Modus
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gen, Schwindelzustände, Unfähigkeit zu stehen (Astasie), Unfähigkeit zu gehen (Abasie), Pseudolähmungen der Extremitäten, Kloßgefühl im Hals, Herzsensationen, Schmerzen der verschiedensten Art. Wegen dieser Körperbezogenheit, die zunächst das Vorliegen eines echten somatisches Leiden suggeriert, wurde die Hysterie früher der große Imitator aller, insbesondere der neurologischen Erkrankungen genannt. Auch Pseudoohnmachtszustände – wie im obigen Beispiel – gehören hierher, wobei aber das in diesem Fall auftretende halbbewusste Wissen über die psychogene Komponente (bis sogar zur Ahnung, dass es sich um eine »Versuchung« handele, ohnmächtig zu werden) in der Regel nicht zu einem solchen Konversionssymptom gehört. Das Halbwissen darüber ist in diesem Fall ist als ein als ein Fortschritt in der therapeutischen Behandlung zu sehen. b) Zweitens geht es um psychische Phänomene, die als Dissoziationsvorgänge, also auf einer Spaltung im Intrapsychischen beruhenden Vorgänge, zusammengefasst werden. Hierbei handelt es sich im Einzelnen um Gedächtnislücken in Bezug auf Situationen oder bestimmte Zeitabschnitte, Personen usw. (Amnesien), Dämmerzustände (also Veränderungen des Bewusstseins mit örtlicher und zeitlicher Desorientierung sowie subjektivem Empfinden eines »diffusen Schwimmens« in Zeit und Raum), Fugue, Poriomanie, also Zustände, bei denen der Betreffende im veränderten Bewusstseinszustand wegläuft oder sogar verreist, dissoziativer Stupor (eine psychomotorische Blockierung, die nicht auf psychotischen oder hirnorganischen, sondern auf psychogenen Spaltungsvorgängen basiert), Ganser-Syndrom (inadäquate Beantwortung von Fragen, auch einfachster Art, die jedoch dadurch, dass die Antwort immer »scharf daneben« liegt (2 + 2 = 5), eindeutig den Verdacht des Unechten und auf jeden Fall des Nichtorganischen erwecken, multiple Persönlichkeit (der Betreffende erlebt sich zu verschiedenen Zeiten als eine jeweils andere Person und verhält sich entsprechend, auch hier spielen Spaltungsprozesse die Hauptrolle). c) Drittens gibt es die hysterischen Charakterzüge und Verhaltensmuster, die früher unter der Bezeichnung hysterische Charakterneurose, heute in der psychiatrischen Klassifikation als die histrionische Persönlichkeitsstörung zusammengefasst werden. Näheres zur histrionischen Persönlichkeit wird im Kapitel über die Persönlichkeitsstörungen (14.3.1) aufgeführt; hier seien nur die wichtigsten deskriptiven Merkmale kurz erwähnt: Theatralik bzw. Dramatisierungstendenz, Übererregbarkeit, Affektualisierung, Emotionalisierung, verführerisches Verhalten (dieses Merkmal wurde in der ICD-10 nachträglich gestrichen), Suggestibilität, emotionale Labilität, impressionistischer kognitiver Stil. Die heutige deskriptive psychiatrische Diagnostik und Klassifikation meidet innerhalb des DSM-IV ganz den Terminus der Hysterie; im DSM-IV findet man bei 300.81, also unter den Somatisierungsstörungen, die Diagnose »Hysterie poly-
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
symptomatischen Typs« und bei 300.11 die »Konversionsstörung«, also die Hysterie vom Konversionstyp. Schließlich unter 300.12 ff. trifft man die Variation »Hysterie des dissoziativen Typs«. Dies alles entspricht den oben geschilderten Symptomatiken (a und b). Die hysterische Persönlichkeit taucht unter der Nummer 300.50 als histrionische Persönlichkeitsstörung auf.
8.3 Historische Zwischenbemerkung zum Hysteriebegriff Hysterie stammt aus dem griechischen Wort hystera (= Gebärmutter). In der Antike glaubte man vielfach, dass die hysterischen Symptome mit einer Austrocknung der Gebärmutter in Zusammenhang stehen. Aber auch unabhängig davon brachte man bis zum 18. Jahrhundert das Hysterische (was man nur bei den Frauen zu erkennen glaubte) mit der Gebärmuter in Zusammenhang. In der naturwissenschaftlichen Medizin des 19. Jahrhunderts wurden solche Vorstellungen obsolet, man glaubte nun zu wissen, die Hysterie sei eine neurologische Erkrankung. Erst um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde in der Psychoanalyse durch die psychogenetischen Studien Freuds die Dynamik des Leidens entdeckt. Die Termini »Hysterie« oder »hysterische Neurose« waren noch bis in die 1960er Jahre nicht nur innerhalb der Psychoanalyse, sondern auch in vielen psychiatrischen Lehrbüchern eine gelegentlich benutzte diagnostische Kategorie, obwohl der Terminus »hysterisch« oft durch »psychogen« ersetzt wurde und obwohl schon nach dem Ersten Weltkrieg die »Hysterie« bei den Psychiatern zunehmend in Misskredit geraten war (vgl. Mentzos, 1980/2004), und zwar deswegen, weil inzwischen Hysterie auch bei Männern häufiger zu beobachten war (etwa als »Zitterer-Syndrom« bei den Soldaten) – eine für die Männer unangenehme Feststellung. Auch wenn die Ansichten in Bezug auf die Pathogenese sich in der Psychiatrie sehr von denjenigen der Psychoanalyse unterschieden, bestand noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in deskriptiv-psychiatrischer Sicht ein unausgesprochener Konsens darüber, dass sowohl Konversionssymptome als auch dissoziative Störungen sowie die hysterische Persönlichkeit in irgendeiner Weise zusammengehören. Diese zunächst aus historischen Gründen und vielleicht auch unter dem Einfluss der Psychoanalyse teilweise noch geduldete Zusammengehörigkeit wurde im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegeben; sie erschien den Psychiatern fragwürdig. Bei der jetzt konsequent angewandten operationalisierenden Diagnostik war kein gemeinsamer Nenner mehr bei den bis dahin hysterisch genannten Störungen auszumachen. Auch der zunehmende Prestigeverlust der Psychoanalyse in dieser Zeit trug dazu bei, dass die Termini »Hysterie« und »hysterisch« nicht mal aus traditionellen oder Loyalitätsgründen aufrechterhalten werden konnten.
Kapitel 8: Hysterie und der hysterische Modus
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8.4 Die Psychodynamik hysterischer Phänomene und die Funktion des hysterischen Modus Im Gegensatz zu der deskriptiven Dimension ist auf der psychodynamischen Ebene sehr wohl eine Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen, früher hysterisch genannten Erscheinungen festzustellen. Hier kann man tatsächlich einen gemeinsamen Nenner der verschiedenen Variationen dieser Störungen erkennen. Dieses Gemeinsame ist allerdings nicht mehr die Art des Konflikts, nicht der ödipale Konflikt, wie Freud und die frühe Psychoanalyse angenommen hatten. Diese lange Zeit herrschende psychoanalytische Annahme musste aufgrund von zahlreichen ihr widersprechenden Beobachtungen (vgl. Mentzos, 1980/2004) im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich revidiert und umgewandelt werden.
8.4.1 Vergebliche Versuche, den alten Hysteriebegriff zu retten Angesichts dieser allmählich in der Psychoanalyse entstandenen Unsicherheit in Bezug auf die Brauchbarkeit der alten diagnostischen Kategorie der Hysterie unternahm man vielerorts verschiedene Versuche, die Hysterie und insbesondere den bei ihr angeblich vorliegenden Konflikt anders zu konzipieren. Die in solchen Beiträgen verarbeiteten Erfahrungen aus psychoanalytischen Behandlungen stellen zwar meistens sehr anspruchsvolle, differenzierte Analysen dar, die unser Wissen über intrapsychische Prozesse in wertvoller Weise erweitern; eines können sie aber nicht: Sie sind nicht in der Lage, eine spezifische Problematik, einen spezifischen Konflikt für die ehemalige diagnostische Kategorie der Hysterie nachzuweisen. Sie sind sozusagen vergebliche Rettungsversuche der nosologischen Entität Hysterie. Da sie aber wertvolle Differenzierungen der Psychodynamik verschiedener Störungen darstellen, werde ich einige von ihnen kurz erwähnen. André Green (1976) hat treffend einen häufigen Konflikt herausgearbeitet zwischen dem Wunsch nach Erhaltung der elterlichen Liebe (die Bindung zum primären Objekt) einerseits und der innerhalb der sexuellen Erfahrung entstehenden intensiven Bindung zu einem neuen Objekt andererseits. Dennoch macht meiner Meinung nach auch dieser von André Green sehr gut geschilderte Konflikt nicht das Spezifikum der Hysterie aus. Man findet diesen Konflikt keineswegs bei allen, nicht einmal bei der Mehrheit der hysterischen Patienten, und auf der anderen Seite gibt es viele Patienten, die denselben zentralen Konflikt auf einem anderen Weg »lösen« oder auch nicht lösen (z. B. in der Perversion). Rupprecht-Schampera (2001) fand bei Patientinnen mit einer hysterischen Symptomatik, dass diese Symptomatik mit einem in der Vergangenheit missglücktem Separationsversuch zusammenhing, und zwar in dem Sinne, dass das
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Kind, das später eine hysterische Störung entwickelt, innerhalb der Mutter-KindBeziehung den Vater in seiner triangulären Hilfsfunktion nicht ausreichend zur Verfügung hatte, so dass die Separation von der Mutter und damit der ganze Separations-Individuations-Vorgang sich als eine kaum lösbare Entwicklungsaufgabe herausstellte. Aber auch diese Problematik und diese treffend geschilderte Konstellation erweist sich für mich nicht als spezifisch für Patienten mit einer hysterischen Symptomatik. Kohon (1999) meint, dass Hysterikerinnen einer endgültigen Festlegung ihrer Geschlechtsidentität aus dem Weg gehen und auf der Ebene der Bisexualität verharren. Aus diesem Grund können sie auch das Objekt ihres Begehrens nicht eindeutig bestimmen. Die Realität wird hier verleugnet und durch eine Illusion ersetzt. Diese illusionäre Lösung ist mir auch bei der Analyse vieler Patienten begegnet – sie betrifft aber keineswegs immer die Geschlechtsidentität und wird keineswegs immer von einer hysterischen Symptomatik begleitet. Israël (1976/1983) stellt eine Idealisierung des Vaters in den Vordergrund der anzunehmenden Psychodynamik bei der Hysterie. Diese Idealisierung muss bei der Hysterie aufrechterhalten werden, weil von ihr auch die eigene Vollkommenheit hergeleitet wird. Auch diese Konstellation ist treffend geschildert, sie geht aber keineswegs immer mit einer hysterischen Symptombildung einher. Rohde-Dachser (2008) geht davon aus, dass die Hysterie eine pathologische innere Organisation an der Schwelle zur symbolischen Ordnung ist, wobei die Phantasmen, die um die »unsichtbare« Urszene kreisen, dazu dienen, die Trennung der Mutter-Kind-Einheit zu verleugnen. Das Kind identifiziert sich dabei abwechselnd projektiv mit Vater oder Mutter als Protagonisten der Urszene. Das damit verbundene Gefühl der Erregung überdeckt die katastrophischen Ängste, die die Abwesenheit der Mutter hervorruft. Unter wachsendem Konfliktdruck wird dieses »innere Theater« auch später (beim Erwachsenen) in Szene gesetzt. Die Hysterie sei eine doppelte Verleugnung, mit der sowohl die symbolische Kastration als auch die eigene Sexualität verleugnet würden (Rohde-Dachser, S. 331). Rohde-Dachser belegt ihre Thesen mit eigenen Erfahrungen, aber auch durch integrierende Verwertung von Überlegungen und Ergebnissen mehrerer mit dieser Thematik beschäftigten Autoren (Bollas, 1997, Britton, 2001, Fonagy und Target, 2000, Küchenhoff, 2002 u. a.). Man könnte ihren Beitrag als einen der bemerkenswertesten Rettungsversuche im obigen Sinne bezeichnen, zumal sie in ihrer Detailanalyse viele ödipale Aspekte berührt, indem sie sich mit der Urszene, mit dem Verrat der Tochter durch die Mutter in deren Beziehung zum Vater, mit den daraus entstehenden Rachewünschen der Tochter gegen die Mutter, aber auch mit den dabei entstehenden Schuldgefühlen, mit der Identifizierung der Tochter mit dem Vater usw. beschäftigt. Rohde-Dachser bleibt also trotz der Vermutung einer relativ frühen Störung doch im Bereich der ödipalen Thematik und Problematik und steht somit der ursprünglichen Konzeption der Hysterie am nächsten. Dabei betrachtet sie die Hysterie als eine spezifische pathologische
Kapitel 8: Hysterie und der hysterische Modus
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Organisation im Rahmen einer ebenfalls spezifischen Konfliktkonstellation. Das ist aber eine These, die ich aufgrund der Variabilität der Konfliktkonstellation bei verschiedenen Menschen, die alle eine hysterische Phänomenologie aufweisen, anzweifeln möchte. Damit meine ich, dass auch dieser, einer der besten Rettungsversuche des nosologischen Hysteriebegriffs, nicht erfolgreich gewesen ist.
8.4.2 Das Gemeinsame aller hysterischen Phänomene Dass das psychodynamisch Gemeinsame nicht in der Art des Konflikts liegen kann, erkennt man schon daran, dass der hysterische Modus auch bei einer Fülle anderer, nichtödipaler Konflikte anzutreffen ist. So z. B. bei den BorderlineStörungen, bei Selbstwertgefühlstörungen, bei Störungen aus einer oralen Bedürftigkeit bzw. bei Depressionen. Aber auch bei Traumafolgen sowie bei anderen kompensierungsbedürftigen Zuständen wird der hysterische Modus mobilisiert; oder sogar gelegentlich bei nicht einmal intrapsychischen Konflikten, sondern bei äußeren Belastungen und Gegensätzen (z. B. »Zitterer-Syndrom« bei den Soldaten im Ersten Weltkrieg oder Haftreaktionen). Das psychodynamisch Gemeinsame in allen hysterisch genannten Störungen ist nur der Modus, also eine charakteristische unbewusste Inszenierung, innerhalb derer der Betreffende, das Objekt und die Situation sowohl für die anderen, aber auch insbesondere für sich selbst anders erscheinen sollen, als sie sind. Diese Inszenierung stellt den Betreffenden in ein anderes Licht: Er soll besser, stärker, schöner, gewinnender oder aber auch umgekehrt schwächer, hilfsbedürftiger, kränker, kindlicher, ahnungsloser erscheinen, als er tatsächlich ist. Die auf der deskriptiven Ebene so unterschiedlichen Erscheinungen der Konversionssymptome, der dissoziativen Störungen oder der dramatisierenden, theatralischen, histrionischen Persönlichkeit werden in dieser Sicht als Bestandteile einer unbewussten Inszenierung konzeptualisiert. Diese Inszenierung hat letztlich die bereits beschriebene Funktion, den Betreffenden oder die Situation anders erscheinen zu lassen, als sie sind, und zwar dergestalt, dass dadurch die Unerträglichkeit des Konflikts oder der anderen Belastungen gemildert wird. Die höchst unlustvolle intrapsychische Spannung, die Schuldgefühle, die Scham, die Minderwertigkeitsgefühle, die Verlassenheit, die Leere, der Verlustschmerz, die Sinnlosigkeit werden dadurch, dass sie mittels der Inszenierung in einem anderen Licht erscheinen, relativiert und reduziert. Eine Fülle von einschlägigen klinischen Beispielen sind in meinem Buch über die »Hysterie« (Mentzos 1980/2004) zu finden. Ob es um den dramatischen Auftritt des histrionischen Menschen oder um die (unbewusste) Darstellung von Krankheit, Ohnmacht und Schwäche geht – es handelt sich immer um eine unbewusste Inszenierung. Diese gleichsam tendenziöse Inszenierung arbeitet und entsteht mit Hilfe einer Reihe von Abwehrmechanismen wie Verdrängung (z. B. Auslassung
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
und Ignorierung störender Komponenten der Situation), Identifizierung mit Personen oder Rollen (z. B. Kranksein), symbolische und/oder kompromisshafte Befriedigung. Nicht immer besteht die unbewusste Inszenierung aus einem übertrieben starken, sondern auch aus einem übertrieben schwachen affektiven Ausdruck wie z. B. bei leisem und praktisch kaum verständlichem Sprechen, ein Verhalten, das der unbewussten Darstellung einer Schwäche, einer Hilflosigkeit dient. Das Mobilisieren des hysterischen Modus setzt gewisse Fähigkeiten und Begabungen voraus, z. B. Fantasie oder die Fähigkeit, sich in Rollen hineinzuversetzen. Hierzu gehört auch die Fähigkeit, das symbolische Potenzial bei sich, beim Anderen und überhaupt in der Situation schnell zu erkennen und auszunutzen, um die geeignete Inszenierung herzustellen; eine Inszenierung, in der etwas für den Betreffenden Wichtiges ausgedrückt wird, ohne dass er sich dessen bewusst wird. Freilich kann diese Art der Ausdrucksgebung nur teilweise und nur vorübergehend eine gewisse Entlastung herbeiführen, denn sie ist nur ein Ersatz für die echte, aber nicht mögliche Kommunikation und Lösung.
8.5 Konsequenzen des vorgeschlagenen Konzepts für Theorie und Praxis a) Den Begriff »Hysterie« sollte man am besten meiden, denn eine nosologische Krankheitseinheit »Hysterie« gibt es nicht; man könnte allenfalls in bestimmten Fällen, bei denen sowohl der hysterische Modus als auch eine ödipale Problematik im Vordergrund stehen, von einer hysterischen Neurose mit ödipaler Problematik sprechen. Dies wäre der »klassische«, »typische« Fall, der heute relativ selten vorkommt, während man im Übrigen den hysterischen Modus bei »frühen« Störungen, z. B. Borderline-Störungen, bei Depressionen, Existenzkrisen oder anderen, auch äußeren Konflikten findet. b) Sehr oft bedient sich der hysterische Modus eines realen Kerns, die Inszenierung baut sich teilweise um eine reale Begebenheit oder um ein – meistens geringfügiges – organisches Leiden auf. Ich spreche dann von einer sekundären Hysterisierung etwa bei den Folgen eines Unfalls oder bei einer relativ geringfügigen Wirbelsäulenveränderung. Diese sekundäre Hysterisierung scheint eine große Rolle auch im psychosozialen Feld und bei den Medien zu spielen: Ein womöglich tragisches, schmerzliches Ereignis wird noch mehr und immer sensationeller dargestellt. Dies tun die Medien größtenteils bewusst, in der Absicht, dadurch unbewusste, zum Teil neurotische Bedürfnisse zu befriedigen, indem sie den Medienkonsumenten durch die indirekte Ausdrucksgebung eines unbewussten Inhaltes an einem fremden »Drama« (wie im Theater) partizipieren lassen, wodurch sie wiederum höhere Einschaltquoten bzw. Publikationsauflagen erreichen. Die
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Medien sind hier freilich nicht selbst »hysterisch«, sie nützen lediglich die hysterischen Potenziale und Bedürfnisse der Konsumenten aus. c) Der hysterische Patient erzeugt beim Therapeuten eine charakteristische Gegenübertragung (Mischung aus Faszination und Verärgerung durch die echt/ unecht wirkende Inszenierung). Diese Gegenübertragung erweist sich als ein weiteres wichtiges gemeinsames Merkmal der verschiedenen Variationen des Hysterischen. d) Um die notwendige begriffliche Klarheit aufrechtzuerhalten und eine Verwirrung, wie sie früher öfters vorkam, zu vermeiden, empfiehlt sich bei der diagnostischen und klassifikatorischen Einordnung im konkreten Fall, sich zunächst zwar an die Art des Modus (hier des hysterischen) zu halten, dann aber in Anwendung und gemäß der dreidimensionalen Diagnostik nicht zu versäumen, die gleichgewichtigen Informationen zur Art des Konflikts und zur Organisationsstufe der Persönlichkeit zu eruieren. Dies ist keine unnötige Haarspalterei, sondern eine praktische Notwendigkeit aus folgenden Gründen: Einige Psychoanalytiker haben sich in den letzten Jahren in verdienstvoller Weise bemüht, die Konflikte und Problematiken herauszuarbeiten, die, obwohl sie nicht ödipal (im früheren Sinne) sind, doch sehr oft mit Hilfe hysterischer Inszenierungen angegangen und ausgedrückt werden. So hat André Green (1976) auf die Schwierigkeiten von Menschen aufmerksam gemacht, die bei der sexuellen Vereinigung offensichtlich eine halbbewusste Angst entwickeln, nämlich die Angst, das primäre Objekt durch diese Vereinigung mit einem anderen Menschen für immer zu verraten und/oder zu verlieren. Dadurch können sie blockiert werden und eine sexuelle Störung, ein hysterisches Symptom (z. B. Impotenz oder Frigidität) entwickeln. King (2001) hat wiederum gezeigt, auf welche Weise hysterische Inszenierungen häufig dort mobilisiert werden, wo besonders in der Pubertät und Adoleszenz eine schon davor brüchige Balance zwischen Selbst und Objekt – gerade unter den besonderen Bedingungen der Genitalität – gefährdet wird. Dies führt nicht nur zu sexuellen Störungen, sondern auch zu anderen, schwereren Dekompensationen des seelischen Gleichgewichts. Schließlich hat Rupprecht-Schampera (2001) dargelegt, auf welche Weise »hysterische« Störungen beim Versuch entstehen, eine früher nicht richtig stattgefundene Triangulierung zu kompensieren. Unter Triangulierung versteht man die in der Entwicklung des kleinen Kindes notwendige Relativierung der engen Beziehung zur Mutter durch das Auftreten des Dritten, im Regelfall des Vaters. Das Ausbleiben dieser Triangulierung oder ihre Mangelhaftigkeit können schwere pathologische Folgen haben, die bei vielen Fällen zur Mobilisierung des hysterischen Modus führen, in dem Versuch, auf diesem Weg diese Folgen zu kompensieren. Es sind sozusagen Quasi-Lösungen. Dies alles sind häufig vorkommende Konfliktkonstellationen, die tatsächlich oft mit Hilfe des hysterischen Modus pseudogelöst (also nicht gelöst) werden.
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Es wäre aber verwirrend zu behaupten, dass ausschließlich diese Konflikte charakteristisch für das Hysterische seien, und zu glauben, dass man dadurch den im Laufe des 20. Jahrhunderts abhanden gekommenen gemeinsamen Konflikt bei allen hysterischen Störungen nun wiedergefunden hätte! Dies ist nicht der Fall, denn die oben genannten und verdienstvollerweise sehr gut herausgearbeiteten Konfliktarten werden gelegentlich auch durch andere Modi (z. B. der Perversion) verarbeitet. Und umgekehrt wird der hysterische Modus bei Störungen mobilisiert, bei denen keiner dieser Konflikte vorliegt, sondern bei denen es um triadische ödipale Konflikte des alten Typs, um depressive narzisstische Krisen oder um reale existenzielle Belastungen und Konflikte usw. geht. Deswegen noch einmal abschließend die Schlussfolgerung: Das Substantiv »Hysterie« sollte man auch aus psychodynamischer Perspektive nicht mehr benutzen. e) Das Adjektivum »hysterisch« dagegen sollte man als den wertvollen Oberbegriff für eine sehr verbreitete Art der pathologischen Verarbeitung des Konflikts und des Traumas mit Hilfe einer unbewussten Inszenierung beibehalten. Der Terminus »hysterisch« sollte also nicht als nosologisches Konzept, sondern nur zur Bezeichnung des Verarbeitungsmodus bei verschiedenen Störungen benutzt werden, die im Hinblick auf Konflikt und Reife der Persönlichkeit recht breit streuen. Die praktische Bedeutung dieser Feststellung ist offensichtlich. Die Prognose und insbesondere die Therapie müssen nicht nur den Modus der Verarbeitung (hier den hysterischen), sondern auch die Art des Konflikts und insbesondere auch die Struktur und Reife der Persönlichkeit berücksichtigen. Unabhängig jedoch von diesen diagnostischen Differenzierungen gilt bei allen Erscheinungsformen des Hysterischen: Es geht dabei, seitens des Patienten, um den Versuch einer Kommunikation, einer Mitteilung der echten Not, sei es auch in dieser verkappten Form, die oft die Umgebung und den Therapeuten wegen der Unechtheit der Mittel sehr irritiert. Das therapeutische Ziel besteht in dem Versuch, die darin versteckt enthaltene Mitteilung zu verstehen und zu beantworten. Die therapeutisch-technisch schwierige Aufgabe ist es, nicht auf die unechte Dramatisierung, sondern auf die dahinterstehende echte Not zu reagieren (vgl. Mentzos, 1980/2004).
Kapitel 9: Zwangsneurose und der zwangsneurotische Modus
9.1 Vorbemerkung zur Benennung und Klassifikation der zwanghaften Störungen Im Gegensatz zu der Situation bei der Hysterie haben ICD-10 und DSM-IV das Konzept eines einheitlichen Syndroms, also der Zwangsneurose, beibehalten, wenn auch in etwas veränderter Terminologie. Dies hängt damit zusammen, dass sich die Psychoanalyse von Anfang an bei der Namensgebung (Zwangsneurose) am Deskriptiven orientiert hat, was bei der Hysterie nicht der Fall war. Dort hatten Freud und die anderen Psychoanalytiker (zunächst auch die Psychiatrie selbst) an der Tradition des altehrwürdigen Terminus »Hysterie« festgehalten und ihm somit unbeabsichtigt einen ätiologischen Dreh gegeben. Es wurde schon durch die Benennung (griechisch hystera = Gebärmutter) ein Zusammenhang mit der Sexualität und mit dem Weiblichen zumindest angedeutet. Dies konnte in der neuen Diagnostik, die jede ätiologische Aussage prinzipiell zu vermeiden versucht, nicht mehr geduldet werden. Anders verhält sich dies aber bei der Zwangsneurose, bei der der Terminus »Zwang« zunächst keine ätiologische Konnotation enthält. Obwohl man nun auch in der Psychoanalyse das Zwangsneurotische zunächst als eine quasi-nosologische Entität beibehielt, erscheint es mir sinnvoll, auf die Krankheitseinheit »Zwangsneurose« ebenfalls, also wie im Fall der Hysterie und der anderen ehemaligen Psychoneurosen, zu verzichten (oder mindestens dadurch zu relativieren, dass man den Terminus in Anführungszeichen setzt) und auch hier den Modus der Verarbeitung in den Vordergrund zu stellen. Dies u. a. deswegen, weil der Modus das Konstante und Gemeinsame aller Zwangserscheinungen ist, während Konfliktart und Organisationsniveau der Persönlichkeit erheblich variieren können. Das heißt, dass auch hier, wie bei der Hysterie, der Modus relativ unspezifisch ist in Bezug auf den Konflikt und die Reife der Persönlichkeit. So kommt es vor, dass eine zwangsneurotische Symptomatik nicht als eine »reife Psychoneurose«, sondern häufig als ein intermittierendes Syndrom vor Ausbruch einer schizophrenen Psychose auftreten kann, sozusagen als der letzte Versuch, mit Hilfe des zwangsneurotischen Korsetts die Psychose hintanzuhalten. In anderen Fällen begleitet die zwangsneurotische Symptomatik depressive Syndrome oder andere Störungen, und zwar als eine Art zusätzlicher Abwehrmechanismus.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
9.2 Das deskriptive klinische Bild Diese Störung wird durch sich aufzwingende, stereotyp sich wiederholende Denkinhalte (Obsessionen, z. B. bestimmte Zahlen immer wieder innerlich wiederholen zu müssen) und/oder sich aufdrängende Impulse und Handlungen (Kompulsionen, z. B. Waschzwang) charakterisiert. Es besteht ein starker Drang zur Durchführung dieser Zwangshandlungen. Beim Versuch, diesem Drang entgegenzuwirken, entstehen eine starke, unlustvolle innere Spannung und Angst. Oft wird dieser Zustand von der Befürchtung begleitet, es könnte bei Nichtdurchführen des drängenden Impulses einer anderen Person etwas Schlimmes passieren. Durch dieses Versäumnis würde sich der Patient schuldig machen. Dazu gehören Kontroll- und Gegenmaßnahmen, um dies zu vermeiden. Aber auch unabhängig davon werden vom Patienten ständig Bemühungen unternommen, Bevorstehendes durch präzise vorsorgende Maßnahmen zu kontrollieren, die Ordnung aufrechtzuerhalten oder sie wieder herzustellen. Die hierfür mobilisierten Gegenmaßnahmen haben oft symbolischen oder magischen Charakter. Zum Beispiel wird das Ausschalten des Lichtes von einem Patienten als gleichbedeutend mit dem Tod seines Vaters empfunden. Daraufhin dreht er zwanghaft den elektrischen Schalter dreimal in die Gegenrichtung, um diesen symbolischen Tod ungeschehen zu machen. Alle diese Symptome machen die in der Psychoanalyse Symptom-Zwangsneurose genannte Neurose aus. In der offiziellen psychiatrischen Nomenklatur von DSM und ICD spricht man von einer obsessiven Störung. Die parallel dazu früher in der Psychoanalyse beschriebene Charakter-Zwangsneurose wird in den heutigen psychiatrischen Klassifikationen als die anankastische Persönlichkeitsstörung (aus dem griechischen anank – Zwang) bezeichnet. Sie wird durch Merkmale wie übertriebene Ordentlichkeit und Sauberkeit, Sparsamkeit, Rigidität, Überkorrektheit operational definiert. Die anankastische Persönlichkeitsstörung wird uns erneut im Kapitel über die Persönlichkeitsstörungen begegnen.
9.3 Psychodynamik des zwangsneurotischen Modus Für die reiferen, klassischen ehemaligen Zwangsneurosen (die zu den – inzwischen ebenfalls ehemaligen – Psychoneurosen gehörten) scheint weiterhin zu gelten: Sowohl Symptome als auch Charakterzüge sind Kompromissbildungen zwischen Impulsen, die nicht zugelassen werden dürfen, und der Abwehr gegen diese Impulse. Im manifesten Bild überwiegt mal der Impuls (z. B. der Drang, in der Kirche laut unflätige Worte auszusprechen) und mal (häufiger) die Abwehr, so z. B. beim Reinigen der Hände (»ich wasche mir die Hände in Unschuld«). Dennoch findet man oft unbeabsichtigte Komponenten des Gegenteiligen, also des Verbotenen; der abgewehrte Impuls sickert sozusagen trotz Abwehr durch. So kommt
Kapitel 9: Zwangsneurose und der zwangsneurotische Modus
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es vor, dass der überhöfliche und betont unaggressive zwangsneurotische Patient durch sein zwanghaftes Verhalten, durch seine Pedanterie und Zögerlichkeit in Wirklichkeit die Mitmenschen quält. Seine aggressiven Impulse kommen auf diese Weise, als eine Art passiver Aggressivität, indirekt zur Wirkung. Oder es ist des Öfteren festzustellen, dass der übertrieben saubere und ordentliche zwangsneurotische Mensch nicht ganz saubere Unterwäsche trägt. Diese Mikrodynamik des Zwangsneurotischen ist von der Psychoanalyse als kompromisshafte Pseudolösung, besonders bei reifen Konflikten wie z. B. denjenigen zwischen Über-Ich und Triebimpulsen, beschrieben worden. Jenseits dieser gleichsam reifen, klassischen zwangsneurotischen Psychodynamik findet man eine andere Dynamik und Funktion dieses Modus, und zwar in einem breiten Spektrum psychischer Störungen, die bis an die Grenzen der Psychose reichen. Bei der Mobilisierung dieser zwanghaften Wiederholungen und Kontrollen geht es psychodynamisch offensichtlich um den Anteil eines ontogenetisch älteren Kontroll- und Schutzsystems für den Fall einer ernsthaft gefährdeten Selbstkohäsion und Identität. Das harmlose, normale Pendant dieser Prozesse finden wir bei den geläufigen Wiederholungen in Kinderspielen – wo sie innerhalb der Entwicklung noch völlig normal, ja sogar notwendig und fördernd sind. Bei den schwereren Störungen im Erwachsenenalter dagegen hat die ständige Wiederholung notdürftig stabilisierende Funktionen. Auch die vorwegnehmende magische Handlung, die Überordentlichkeit usw. dienen nicht so sehr der Pseudolösung eines Konflikts, sondern der Stabilisierung des Selbst bzw. der Abwehr tieferer innerer und äußerer Gefahren. So pflegte z. B. ein schizophrener Patient von mir, wenn sein Vater auf einer Flugreise war, über die Straße zu gehen, ohne nach rechts und links zu schauen, ob ein Auto kommt! Dadurch, meinte er, versetze er sich – wie sein Vater mit der Flugreise – in Lebensgefahr und konnte vermutlich die ihn sehr verwirrenden Todeswünsche (in Bezug auf den Vater) ausgleichen. Dieses Beispiel ist insofern sehr interessant, weil man in ihm sehr gut die Mischung zwischen einer reiferen, ödipalen, abzuwehrenden Schuld und einer tieferen, elementaren Bedrohung beobachten kann: Im Vordergrund der Psychodynamik stehen zwar hier der sicher vorhandene Konflikt mit dem Vater und die Schuldgefühle wegen eventueller Todeswünsche. Die Analyse des Falles zeigte aber, dass darüber hinaus der potenzielle Verlust des Vaters eine viel weiter führende Destabilisierung des Selbst bedeuten würde, so dass besondere dramatische Gegenmaßnahmen eingeleitet werden mussten, Maßnahmen also, die seinen eigenen Tod durch einen Verkehrsunfall in Kauf nahmen, was bei »reifen« Zwangsneurotikern kaum je der Fall ist. In dieser Sichtweise könnte die oben beschriebene klassische Zwangsneurose nur als ein spezieller Fall dieses allgemeineren Schutz- und Stabilisierungsmechanismus konzeptualisiert werden. Eine solche Annahme steht nicht im Widerspruch zu der psychoanalytischen Auffassung, wonach das Entstehen von Zwän-
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gen in Zusammenhang mit einem strengen Über-Ich steht, denn auch das Über-Ich stellt ein stringentes System von Regeln, von Verboten und Geboten dar, das in der Art eines komplizierten und ausgeklügelten Software-Programms Gefahren (Strafe, Liebesentzug usw.) signalisiert und Maßnahmen dagegen verordnet – nur dass diese Gefahren z. B. beim präpsychotischen Patienten viel existenzieller sind. Die Zwangssymptome sind also Sicherungsmaßnahmen. Dies ist sozusagen ihre Funktion. Dass diese Maßnahmen jedoch nicht in adäquate, realistische Handlungen führen, sondern aus irrationalen, oft magischen Aktionen und Ritualen bestehen, war lange Zeit rätselhaft, bis Freud und die Psychoanalyse überzeugend zeigen konnten, dass es sich dabei um eine in der Not regressive Mobilisierung von früheren Verhaltensmustern handelt, die uns aus der Welt des Kindes, aber auch aus der Welt der Völker sehr gut bekannt sind. Man denke an die unzähligen Variationen von magisch abwehrenden Ritualen bei bestimmten Völkern. Die Ergänzung zur ursprünglichen psychoanalytischen Auffassung, die ich hier vorschlage, besteht darin, die in dem Zwang durch Freud entdeckte Funktion der Abwehr von Aggression und Schuldgefühlen bei analen (und auf das anale zurückregredierten ödipalen) Konstellationen lediglich als Spezialfälle eines allgemeineren Prinzips und einer allgemeineren Funktion des Zwangs zu sehen, die in einer Stützung des Selbst und Abwendung potenzieller Gefährdung bestehen. Diese Gefährdung kann durch reifere Konflikte, oft aber auch von anderen elementaren Dilemmata oder sogar realen, existenziellen Gefahren stammen.
9.4 Ein Vergleich des Zwangsneurotischen mit dem Hysterischen Obwohl der zwangsneurotische Modus, ähnlich dem hysterischen, die Funktion hat bzw. das Ziel verfolgt, eine intrapsychische Spannung erträglicher zu machen, arbeitet er mit zum großen Teil geradezu entgegengesetzten Mitteln wie dem hysterischen Modus. Letzterer bedient sich der Emotionalisierung der Identifikation, der Verdrängung usw. Dagegen arbeitet der zwangneurotische Modus mit Affektisolierung, Intellektualisierung, Verschiebung, magischem Denken, Ungeschehenmachen, Reaktionsbildung usw. (siehe Kapitel 3 über Abwehrmechanismen). Der Mensch, der sich habituell mehr des hysterischen Modus bedient, besitzt einen mehr impressionistischen kognitiven Stil. Er denkt sozusagen emotional und weniger mit kognitiv scharf abgegrenzten Begriffen; der zwangsneurotische Mensch dagegen erweckt den Eindruck, dass er emotional »trocken« ist, er bemüht sich um begriffliche und kognitive Präzision. Er entspricht mehr dem Wissenschaftler, während der hysterische Mensch dem Künstler näher steht. Bei der Beschreibung des hysterischen Modus erwähnte ich, dass man auch positive Seiten dieses Modus sehen kann, der gewisse Fähigkeiten und »Begabun-
Kapitel 9: Zwangsneurose und der zwangsneurotische Modus
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gen«, bestimmte psychische Qualitäten wie z. B. Fantasie voraussetzt. Man kann analog dazu behaupten, dass der zwangsneurotische Modus trotz der implizierten Pathologie und Inadäquatheit der produzierten Pseudolösungen immerhin eine wichtige Ich-Leistung in Notsituationen darstellt, die bestimmte kognitive Fähigkeiten und eine ordnende Selbstdisziplinierung verlangt. Man macht übrigens in der Therapie die Erfahrung, dass diesbezügliche gelegentliche Nebenbemerkungen des Therapeuten (»wir dürfen nicht vergessen, dass diese ihre übertriebene Präzision und das Kontrollbedürfnis nicht nur als etwas Negatives, sondern auch als eine sehr gute, oft ausgezeichnete Leistung betrachtet werden können«) sehr dankbar vom Patienten in Empfang genommen werden. Er fühlt sich verstanden. Wir müssen andererseits deutlich machen, dass diese früher und in bestimmten Situationen, in der Not stärker entwickelten und dort vielleicht nützlichen Mechanismen sich auf Dauer für die Lösung der jetzigen Probleme des Patienten ungeeignet, anachronistisch, dysfunktional geworden sind und sein Leben erheblich belasten, weswegen er auch therapeutische Hilfe suchte.
9.5 Praktische Konsequenzen Die hier favorisierte erweiterte Auffassung des zwangsneurotischen Syndroms als eines schützenden, stabilisierenden und Struktur schaffenden (ontogenetisch verankerten) Musters erscheint mir auch für die Therapie von Bedeutung. Obwohl der sich verselbstständigende Zwang letztlich weniger entlastend und stützend und sich mehr belastend auswirkt, ist es für den Therapeuten nützlich zu wissen, dass der Zwang zunächst einmal als ein das Ich stützender Mechanismus gedacht war. Sein jetziges Auftreten signalisiert also vielleicht nicht nur einen womöglich dahinterstehenden schwierigen Konflikt, sondern auch die Tatsache, dass es sich um ein zu schützendes und zu stärkendes Ich (Selbst) handelt. Man gewinnt als Therapeut den Eindruck, dass dem Patienten weniger durch Vermittlung von Einsicht in die Dynamik des Symptoms (so die Psychoanalyse) oder durch Reizexposition und Response-Prävention (so die Verhaltenstherapie) geholfen werden kann, sondern mehr durch neue positive Erfahrungen innerhalb und außerhalb der Therapie. Gemeint sind vorwiegend Beziehungserfahrungen, die sein Selbst kohäsiver, stärker und freier machen. Doch sind auch die genannten therapeutischen (psychoanalytische, verhaltenstherapeutische und andere) Techniken für die Durchbrechung festgefahrener Circuli vitiosi nützlich. Die von mir hier in den Vordergrund gestellte Stärkung des Selbst sollte also nicht dazu führen, dass jene andere von der Psychoanalyse treffend beschriebene Funktion des Zwangs in der Auseinandersetzung des Ich mit einem überstrengen Über-Ich geringgeschätzt wird. Zumal der Zwang in diesen Fällen und in dieser seiner Funktion recht »effektiv« sein kann: Ihm gelingt ja durch die »Versöhnung« des Über-Ich mittels des in den Zwängen enthaltenen symbolischen Gehorsams oder
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durch die symbolische Übernahme der Schuld (Händewaschen) eine gewisse Reduzierung der intrapsychischen Spannung. Dies macht die Analyse des »reifen« Zwangs zunächst schwerer: Der Patient ist weniger motiviert, dieses überstrenge Über-Ich mit Hilfe des Therapeuten in Frage zu stellen, weil er mit Hilfe seiner Symptome sich mit diesem Über-Ich – wenn auch vorübergehend – versöhnen kann (die Durchführung des Waschzwangs z. B. führt zunächst zu einer Erleichterung). Dagegen sieht es bei schweren, nicht mehr bloß neurotischen Fällen, bei denen der Zwang der Stützung des Selbst dient, oft anders aus – wie im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.
9.6 Zwänge haben viele Funktionen – sogar die der Geborgenheit Die im »reiferen« Zwang offensichtlichen Funktionen der Versöhnung des strengen Über-Ich ist also bei »unreifen« Störungen (schwere Persönlichkeitsstörungen und Psychosen) weniger wichtig. Hier steht mehr die Funktion der Korsettierung des Selbst im Vordergrund. Dazu ein Beispiel: Eine 35-jährige Patientin litt an einer schweren, paranoidhalluzinatorischen Psychose. Das Krankheitsbild schlug während der Behandlung zu einem gewissen Zeitpunkt, im Rahmen dessen, was ich den Syndromwechsel nenne (vgl. auch Kapitel 18.3), in ein zwangsneurotisches Syndrom um: Die Patientin bot jetzt, über mehrere Monate, eine stark zwangsneurotische Symptomatik, verbrachte einen großen Teil des Tages mit »Waschungen« und anderen Ritualen; sie zeigte aber keine psychotischen Symptome mehr. Eines Tages musste ich die therapeutische Sitzung aus zwingenden Gründen etwas abrupt beenden. Die Patientin, wie sie später erzählte, fühlte sich dadurch brüskiert, im Stich gelassen, schlecht behandelt. Sie sagte bei der schnellen Verabschiedung nichts, jedoch entwickelte sie auf dem Heimweg, nach einer jetzt mehrmonatigen Pause, wieder eine psychotische Symptomatik. Sie glaubte, eine Coca-Cola, die sie trank, sei vergiftet gewesen! Dies quälte und ängstigte sie, auch als sie zu Hause ankam. Daraufhin stürzte sie sich mit voller Kraft in ihre zwangsneurotischen Rituale und Waschungen im Badezimmer und war durch diese zwangsneurotische Kur von der Wahnidee und von ihrem Kummer befreit. Man kann diesen Vorgang auf verschiedene Weise interpretieren. Aufgrund dessen, was ich in den nächsten Stunden hörte und mit der Patientin diskutieren konnte, kam ich zu folgender Hypothese: Die Patientin fühlte sich nach der von ihr so negativ empfundenen Verabschiedung verlassen, aber auch erheblich verärgert, ja wütend (auf mich) und bekam daraufhin heftige Schuldgefühle und die Angst, sie könnte mich verlieren. Diese prekäre Situation mobilisierte den ihr von früher gut bekannten tiefsten Abwehrmechanismus, den Verfolgungswahn (wie
Kapitel 9: Zwangsneurose und der zwangsneurotische Modus
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es dazu kommt, erläutere ich im Kapitel 18.3). Doch ein bis zwei Sitzungen später gelang es ihr, einen Mechanismus auf einer höheren Stufe zu mobilisieren, nämlich den zwangsneurotischen Modus, der ihr ebenfalls gut bekannt war und der sicher eine bessere Strategie als der psychotische Modus darstellt. Die erfolgten Waschungen und sonstigen Rituale verschafften ihr eine deutliche Beruhigung, sie versöhnte sich mit ihrem Über-Ich und mit dem bösen Analytiker, der vorübergehend für sie ein böses Objekt war. Die Zwänge verschafften ihr, so paradox es auch erscheinen mag, eine Gelegenheit zur Wiedergewinnung des Vertrauens zum Objekt. Diese Arbeitshypothese von mir wurde später bei anderen, auch reiferen zwangsneurotischen Fällen bestätigt. Eine Patientin, die jahrelang von den zwanghaften Befürchtungen gequält wurde, ihre kleine Tochter könne durch irgendwelche Geräusche einen irreparablen Ohrschaden erleiden, musste deswegen fast groteske Vorsichtsmaßnahmen gegen solche in Wirklichkeit harmlosen Geräusche ergreifen. Eines Tages kam sie von sich aus – nachdem wir ihre Gefühle bei solchen Aktionen diskutiert hatten – auf die Formulierung: Sobald sie die Maßnahmen durchgeführt habe, fühle sie sich zumindest über kurze Zeit nicht nur beruhigt, sondern geborgen. Bald taucht aber die nächste Befürchtung auf. Offenbar verwandelt die Befolgung der Zwänge das böse Objekt in ein gutes, verzeihendes – aber eben leider nur für eine kurze Zeit. Offenbar, so dachte ich, fühlt sich die Patientin bei dieser kurzfristigen Geborgenheit so gut, dass sie sie immer wieder herstellt, indem sie neue Gefahren und neue Gegenmaßnahmen erfindet! Dieses Beispiel zeigt, wie offen man beim Versuch, eine Zwangssymptomatik zu verstehen, und wie vorsichtig bei der Deutung sein muss.
Kapitel 10: Der phobische Modus und der angstneurotische Modus
10.1 Das deskriptive klinische Bild der Phobien Eine Phobie ist eine unbegründete oder auf jeden Fall in ihrer Intensität objektiv nicht gerechtfertigte Furcht vor bestimmten Situationen oder Objekten. Phobien sind sehr häufig und auch für Laien oft sogar mit ihren aus dem Lateinischen oder Griechischen abgeleiteten Benennungen bekannt. Es gibt also eine Klaustrophobie (Angst, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten, zumal bei Anwesenheit von vielen anderen Personen, so etwa im Fahrstuhl oder auch im Theater, sofern der Betreffende einen Platz in der Mitte der Reihe hat). Und es gibt eine Agoraphobie (also Angst vor offenen Plätzen, Märkten, Supermärkten) oder eine Brückenphobie (also die Angst, über eine Brücke zu gehen), eine Höhenphobie (die Angst, auf einer höheren Stelle oder auf einem hohen Gebäude, etwa auf dem Balkon, zu stehen), eine Tierphobie (und zwar nicht nur vor Mäusen und Schlangen, was allgemein als »normal« gilt) und andere mehr. Phobien finden sich als herrschendes Symptom oft innerhalb eines relativ abgegrenzten phobischen Syndroms. Häufiger jedoch sind sie ein begleitendes oder koexistierendes Symptom bei den verschiedensten Störungen (z. B. auch bei Borderline-Störungen). Ein besonderer Zusammenhang besteht, allein schon deskriptiv, mit dem zwangsneurotischen Syndrom bzw. zur (früheren) Zwangsneurose: Es gibt kaum eine Zwangsneurose ohne phobische Elemente (d. h. Angst und Vermeidung bestimmter Situationen) und es gibt keine phobische Vermeidung der gefürchteten Situation ohne eine allmählich eintretende zwanghafte Ritualisierung dieser Vermeidung.
10.2 Psychodynamik des phobischen Modus Auch hier, wie bei der Hysterie, haben Freud und die frühe Psychoanalyse das Phobische nur in Zusammenhang mit einem ödipalen Konflikt gesehen. Dies war der Grund, warum die Phobie bei Freud und den Psychoanalytikern der ersten und zweiten Generation oft auch »Angsthysterie« genannt wurde. Dennoch, schon relativ früh, also etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts, hat man diese obligatorische Verknüpfung mit einem ödipalen Konflikt angezweifelt und dann auch aufgegeben. So fand z. B. der international bekannte Psychoanalytiker Greenson (1959) bei vier
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lang analysierten Fällen von Phobie nicht die von der ursprünglichen psychoanalytischen Theorie vorgesehene ödipale Problematik, sondern vorwiegend präödipale Konflikte. Solche Beobachtungen wurden später vielfach bestätigt: Man fand Phobien bei den verschiedenen Konfliktarten und Persönlichkeitsorganisationslevels, wodurch die Unspezifizität der Phobie im Hinblick auf den jeweils relevanten Konflikt oder die anderen Belastungen und Problematiken deutlich wurde. Dies hat jedoch den hohen Wert und die Originalität des Freud’schen Verständnisses über den Mechanismus der Phobieentstehung nicht beeinträchtigt. Das psychoanalytische Verständnis der Phobien lässt sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Der psychodynamische Modus der Phobie besteht in einer – der Entstehung der Phobie vorausgehenden – Verdrängung des ursprünglichen Angst erzeugenden Inhalts und in einer dann anschließenden Verschiebung der dazugehörigen »Gefahr« bzw. der Angst auf eine relativ belanglose Äußerlichkeit. Greenson hat diese Symptombildung bei der Phobie so formuliert: Eine Form der Angst wird als Abwehr gegen eine andere Angst benutzt. Wichtig ist aber nun, dass es nicht bei der Verschiebung bleibt: Ein zentraler Bestandteil dieses Modus besteht gerade in der dann folgenden Vermeidung, also die systematische, vorbeugende Vermeidung der durch die Verschiebung konstruierten ängstigenden Situation. Je nachdem werden also geschlossene Räume, offene Plätze, bestimmte Tierarten usw. systematisch vermieden. Die phobische Symptombildung gilt, sofern der geschilderte defensive Vorgang funktioniert, psychoökonomisch betrachtet als ein relativ günstiger Modus der Abwehr. Durch die Vermeidung der phobischen Situation oder des phobischen Objekts, also mit Hilfe einer relativ geringen Einschränkung der Erlebens- und Bewegungsfreiheit, treten zunächst Beruhigung und Entlastung ein. Meistens erweist sich allerdings diese Lösung wiederum als nicht so erfolgreich, weil die Phobien die Tendenz haben, sich auszuweiten. Wurde z. B. zunächst eine bestimmte Straße phobisch vermieden, so taucht oft bald eine Phobie in Bezug auf andere Straßen oder andere Personen mit ähnlich klingenden Namen auf. Die Bewegungsfreiheit wird weiter und immer mehr reduziert, der Preis für die relative Entlastung steigt immer höher. Diese zwei häufigsten Phobieformen, nämlich die Agoraphobie und die Klaustrophobie, scheinen trotz der Gegensätzlichkeit ihres Inhalts psychodynamisch zusammenzugehören, indem sie gleichsam eine reifere, eine psychoneurotische Variation des Grunddilemmas von Nähe und Distanz darstellen, eines Dilemmas, das sonst besonders bei den Psychosen – dort auf einem viel »tieferen« Niveau – bekannt ist.
10.3 Wie entstehen Phobien? Die psychoanalytische und die verhaltenstherapeutische Sichtweise Die Verhaltenstherapie akzeptiert nicht die geschilderte Art der Entstehung der Phobie über Verdrängung, Verschiebung, Vermeidung und geht von einem an-
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deren, von der Lerntheorie inspirierten Modell aus. Phobien entstünden durch (zufällige?) Konditionierung, sie seien erlernte Erlebens- und Verhaltensmuster. Historisch betrachtet stellen die Phobien übrigens die ersten mittels Verhaltenstherapie behandelten Störungen dar. Phobien sind sozusagen das, womit Verhaltenstherapie begonnen hat, so wie die Psychoanalyse anlässlich der Behandlung von Hysterien durch Freud entstanden ist. Bei der Auseinandersetzung von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie über die »Feinmechanik« des Phobiesymptoms geht es vorwiegend um die Frage der phobischen Wahl: Warum entwickelt ein Patient eine Phobie vor geschlossenen Räumen oder vor offenen Plätzen oder vor bestimmten Tieren und nicht eine andere Angst? Wie kommt es, dass aus der großen Anzahl von möglichen Ängsten nur gewisse phobische Inhalte auffällig häufig und regelmäßig bei verschiedenen Menschen auftreten, und wie kommt es, dass sie so typisch sind, dass man sie als solche erkannt und auch mit den entsprechenden Termini benannt hat? Die psychoanalytische Antwort auf diese Frage könnte lauten: Da die in Frage kommenden Konflikte und Traumata und die daraus entstehenden Ängste in ihrer Anzahl überschaubar und relativ typisch sind, kann man erwarten, dass auch ihre symbolische Konkretisierung während der phobischen Symptombildung ebenfalls zu einer überschaubaren Anzahl von typischen Phobien führt: Die Wahl des phobischen Objekts erfolgt innerhalb eines naturgemäß beschriebenen symbolischen Potenzials (z. B. Gestaltähnlichkeit mit der ursprünglichen Angst). Während die Psychoanalyse auf die Bedeutung einer symbolischen Metaphorik fokussiert (z. B. die Furcht vor geschlossenen Räumen, also die Klaustrophobie, symbolisiere die Furcht vor Einengung und Einschränkung der Freiheit innerhalb einer zu engen und aus bestimmten Gründen unerwünschten oder gefürchteten Beziehung), geht die Verhaltenstherapie davon aus, dass es sich dabei um eine mehr oder weniger zufällige Konditionierung, z. B. durch zeitliche Koinzidenz, handelt. Um die Anhäufung bestimmter typischer Formen von Phobien zu erklären, nimmt man nun in der Verhaltenstherapie zusätzlich an, dass es sich um den Einfluss bestimmter in der Phylogenese erworbener und weitergegebener Reaktionsmuster handelt. Die weiterführende Frage – jetzt wiederum der Psychoanalyse – lautet: Reichen die bloß zufällige Konditionierung (und die ausbleibende Extinktion wegen der einsetzenden Vermeidung) sowie die Annahme konstitutionell vorgegebener Bereitschaften aus, um die Entstehung bestimmter, immer wieder anzutreffender phobischer Reaktionen zu erklären? Reicht dies, um die Festigung der Phobie zu begründen? Oder bedarf es doch (zusätzlich oder allein) der Annahme eines aktiven, gegen die Aufhebung der Verdrängung und der Verschiebung gerichteten defensiven Mechanismus, der die Funktion hat, die ursprüngliche und tiefere eigentliche Angst abzuwehren? Tatsache ist, dass beide Methoden (Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) Erfolge bei der Behandlung der Phobien vorzuweisen haben. Eine endgültige
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Erklärung für diese bemerkenswerte Tatsache existiert meines Erachtens noch nicht. Es ist möglich, dass viele zunächst als defensive Vorgänge entstandenen Phobien allmählich ihren dynamischen Hintergrund verlieren, so dass auf der Verhaltensebene eine nunmehr tatsächlich nur gewohnheitsmäßige, konditionierte Angsterzeugung und entsprechende Vermeidung zurückbleiben. In diesem Fall dürfte die Verhaltenstherapie von Vorteil sein. Freud hat übrigens selbst Patienten mit einer Phobie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Behandlung aufgefordert, sich der »Gefahr« auszusetzen, verhaltenstherapeutisch gesprochen: sich zu exponieren. So forderte er z. B. einen Patienten mit einer Straßenphobie auf, auf die Straße zu gehen. Eine andere Erklärungsmöglichkeit besteht darin, dass, wie schon bei der Besprechung der hysterischen und zwangsneurotischen Störungen erwähnt wurde, es nicht so sehr die psychoanalytische Einsicht oder die verhaltenstherapeutische Dekonditionierung per se sind, die die gewünschte therapeutische Veränderung mit sich bringen, sondern die innerhalb der Behandlung stattfindenden neuen Beziehungserfahrungen und eine damit einhergehende Stabilisierung des Selbst, wodurch Phobien sich sozusagen erübrigen. Ich habe kaum je erlebt, dass eine Phobie dadurch geheilt wurde, dass man dem Patienten die Funktion und die »Mechanik« dieser Phobie erläutert bzw. gedeutet hat. Meistens verschwinden Phobien in einer erfolgreichen Therapie, ohne dass wir sagen können, warum dies zu diesem bestimmten Zeitpunkt geschah. Offenbar kommt es dazu, wenn die dahinterstehende konfliktbedingte intrapsychische Spannung – die der Grund der Entstehung der Phobien war – sich gelockert, sich gelöst hat. Die in den letzten Jahren, wenn auch langsam, begonnene Diskussion und der Erfahrungsaustausch zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie in Bezug auf diese Problematik wird hoffentlich in der Zukunft eine genauere Beantwortung solcher Fragen ermöglichen.
10.4 Die Angstneurose und der angstneurotische Modus – Geschichtliche Vorbemerkungen Auch hier, wie bei der »Hysterie«, der »Zwangsneurose« und den Phobien, ist der Vorgänger dieses heutigen Konzepts eines angstneurotischen Modus eine von Freud ausführlich beschriebene Neurose, nämlich die Angstneurose gewesen. Die gehörte aber ursprünglich nach Freud nicht zu den Psychoneurosen, also nicht zu den rein psychisch bedingten neurotischen Störungen. Er sah sie, neben der Hypochondrie und der Neurasthenie, als eine der drei von ihm kreierten Aktualneurosen an, die nach Freud direkt biologisch, also somatisch bedingt seien. Die Angst entstehe – nach diesem früheren aktualneurotischen Konzept – direkt aus der Verwandlung der libidinösen Triebenergie, die in ihrer Abfuhr blockiert und
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aufgestaut wurde. Zwar ist dieses Konzept Freuds längst verlassen worden, es erfuhr jedoch viel später im Rahmen der dann entstandenen Psychosomatik (siehe Kapitel 16 über den psychosomatischen Modus) eine partielle Wiederentstehung. Überhaupt hat die »Angstneurose« genannte Störung zwei Dimensionen, eine psychologische und eine somatische, so dass man sie nicht – wie in diesem Lehrbuch geschehen – eindeutig unter den Psychoneurosen, sondern eher unter den psychosomatischen Störungen einordnen könnte. Diese Zweigesichtigkeit der Angstneurose hat dazu geführt, dass geschichtlich gesehen die hier gemeinte Störung zeitweise als zwei voneinander unabhängige Erkrankungen beschrieben wurde, obwohl sie in Wirklichkeit als eine Einheit zu betrachten ist. Eine dichte Zusammenfassung der heute diskutierten Ansichten zu dieser unter der Überschrift »Angststörung« stehenden Thematik findet man bei S. O. Hoffmann und Hochapfel (2004, S. 79–127). Ebenfalls Hoffmann (2004a) hat in einem bemerkenswerten Vortrag bei den Lindauer Psychotherapiewochen im Jahr 2004 diese geschichtlichen Zusammenhänge überzeugend anhand der Entwicklung der Auffassungen über das Angstneurotische innerhalb der Militärmedizin der letzten zwei Jahrhunderte gezeigt. Die Militärärzte, angefangen von den Ärzten der amerikanischen Armee im Sezessionskrieg im 19. Jahrhundert, haben mehr die sogenannte neurozirkulatorische Asthenie oder das Da-Costa- oder das Effort-Syndrom der Soldaten gesehen (alle praktisch als Synonyme zu verstehen) und beschrieben. Dagegen fokussierten die nichtmilitärischen Ärzte, also mehr Psychiater und später Psychoanalytiker und Psychotherapeuten, auf die das ganze Syndrom beherrschende Angst. Es gab dabei die Tendenz, im angelsächsischen Sprachraum mehr die erstgenannte Dimension, im europäisch kontinentalen Raum mehr die psychische, also die Angstsymptomatik in den Vordergrund zu stellen. Freud selbst hat, was die Deskription betrifft, in einer ausgewogenen Weise sowohl das eine als auch das andere beschrieben und das Ganze »Angstneurose« genannt. Die in der heutigen offiziellen psychiatrischen Nomenklatur fast inflationistisch diagnostizierten Panikattacken entsprechen weitgehend der Schilderung Freuds über die Angstneurose. Ändern bzw. korrigieren musste Freud lediglich seine Hypothesen zur Verursachung und Dynamik dieser Störung (siehe weiter unten). Seine Beschreibung des Syndroms aber ist heute noch genauso gültig wie vor hundert Jahren. Die Angst der Angstneurose versteht man in der heutigen Psychoanalyse zwar zunächst in ähnlicher Weise wie bei den anderen Neurosen. Sie entstehe durch die Verschiebung und/oder Somatisierung einer anderen, der eigentlichen, aber in der Symptombildung unsichtbar und unbewusst bleibenden Gefährdung und Angst. Trotzdem ist aber der ursprüngliche Versuch Freuds, diese Neuroseform abzutrennen und mehr in der Nähe des Körperlichen anzusiedeln, deshalb verständlich, weil die hier gemeinten Zustände (die heute in der deskriptiven Psychiatrie als die Panikzustände bekannt sind) gerade durch eine ausgeprägte, dramatische körperliche Beteiligung, besonders des Vegetativums, gekennzeichnet sind.
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10.5 Das deskriptive klinische Bild Während des angstneurotischen Anfalls hat der Patient nicht nur große Angst, sondern er hat Herzklopfen (Tachykardie), er schwitzt, zittert, hat weite Pupillen, atmet tief und schnell. Diese körperliche Symptomatik findet man kaum bei anderen, besonders chronischen Angstzuständen oder bei den beschriebenen Phobien, die ja nicht auf diese Weise körpernah erlebt und auch objektiv nicht von körperlichen Erscheinungen begleitet werden. Das deskriptive klinische Bild der Angstneurose wird also durch diese körpernah erlebten panischen Zustände charakterisiert, die einige Minuten bis Stunden dauern können, sich oft einmal oder mehrmals wöchentlich (oder monatlich) wiederholen, also relativ häufig auftreten. Die Patienten suchen zunächst meistens nicht einen Psychiater oder einen Psychotherapeuten auf, sondern einen Arzt, einen Internisten, oft einen Kardiologen, weil sie glauben, sie hätten eine schwere Herzerkrankung. Dies ist bemerkenswert im Hinblick darauf, dass eigentlich der psychische Anteil dieses Syndroms, also die Angst, trotz der körperlichen Beteiligung doch das vorherrschende Symptom der Störung ausmacht. Die neuen internationalen psychiatrischen Klassifikationen von ICD-10 und DSM-IV haben auf den Terminus »Angstneurose« sowie das Adjektiv »angstneurotisch« weitgehend verzichtet. Dies ist vom deskriptiven Gesichtspunkt aus konsequent, weil die Initiatoren dieser Klassifikationen die dabei möglichen Assoziationen mit der alten »Angstneurose« (als einer der Aktualneurosen der frühen Psychoanalyse) vermeiden wollten. Aber auch nachdem die Psychoanalyse das aktualneurotische Modell verlassen hatte, wollten sie jede Verbindung zum Neurotischen im Sinne einer defensiven, einer Abwehrreaktion gegen dahinterstehende Ängste und Konflikte ausschließen. Allerdings, wenn ich hier ebenfalls meistens den Terminus Angstneurose meide und lieber vom angstneurotischen Modus der Konfliktverarbeitung spreche, so geschieht dies aus ganz anderen Gründen, die ich gleich bei der Besprechung der Psychodynamik erörtern werde. Die deskriptive Diagnostik und Klassifikation von DSM-IV und ICD-10, die absichtlich und prinzipiell auf psychodynamische Überlegungen verzichtet, sieht nun eine eigene große Gruppe der Angststörungen vor, die alle Syndrome erfasst, bei denen das Symptom der Angst im Vordergrund steht, also überall dort, wo manifeste Angst im klinischen Bild herrscht. Die dort vorgenommene weitere Differenzierung richtet sich mehr nach formalen Kriterien, z. B. ob es sich um akute oder chronische (also kurz dauernde oder lang anhaltende) Angst, ob um generalisierte oder eingegrenzte Angstzustände usw. handelt. Dies mag zum Zweck einer ersten Verständigung und Kommunikation unter Experten und bei der Durchführung epidemiologischer Untersuchungen sinnvoll sein. In Bezug jedoch auf ein vertieftes Verständnis der Störung und eine darauf aufbauende Therapie erscheint mir, dass eine solche bloß formale Diagnostik das Wesentliche vernachlässigt. Sie ist im Vergleich zu früher verarmt und deswegen dringend ergänzungsbedürftig.
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Zu der Operationalisierung muss also auch die Psychodynamisierung hinzukommen, wobei auch die Psychodynamik – wie die Bemühungen der OPD zeigen – ebenfalls operational, wenigstens teilweise, abgesichert werden könnte.
10.6 Psychodynamik des angstneurotischen Modus Wie schon im ersten Teil geschildert, ist die Angst eine weit verbreitete, zum großen Teil normale und vorgegebene sowie zunächst einmal sinnvolle und für das Überleben wichtige affektive Reaktion, welche bei den verschiedensten äußeren und inneren Gefährdungen des Individuums mobilisiert wird. Diese Angstreaktion ist von Freud nach Revidierung, Korrektur und Ergänzung seiner früheren Angsttheorien 1926 mit dem Terminus »Signalangst« bezeichnet worden. Diese normale Angst ist also weder ein umgewandelter, zuvor aufgestauter Trieb (so die ursprüngliche Vorstellung Freuds im Konzept der Aktualneurosen) noch eine defensive, neurotische, durch Verschiebung auf eine bedeutungslose Gefahr entstehende Furcht (Phobie), sondern eine normale Angst, die als emotionaler Indikator und emotionales Signal der Alarmierung und somit auch der Mobilisierung entsprechender Gegenmaßnahmen dient. Worin besteht aber dann die pathologische Angst? Pathologisch kann zunächst und an erster Stelle eine Angstreaktion genannt werden, wenn sie quantitativ inadäquat stark ausgeprägt und übermäßig intensiv und somit schließlich dysfunktional wird. Diese übermäßige Angst kann also keine Signalfunktion zur Mobilisierung von Maßnahmen gegen die Gefahr erfüllen. Im Gegenteil erzeugt sie eine chaotische Desorganisierung und eine Diffusität im Erleben und Verhalten, womit sie sozusagen selbst zur Gefahr wird (dies entspricht in etwa der »traumatischen Angst« Freuds im Gegensatz zu seiner »Signalangst«). Solche Formen der dysfunktional gewordenen Angst trifft man nicht nur bei psychischen Störungen, sondern auch als Reaktion des sonst nicht psychisch gestörten Menschen, bei Naturkatastrophen und anderen plötzlich eintretenden extremen Ereignissen bzw. Erlebnissen, die den psychophysischen Organismus unvorbereitet treffen. Dies alles ist aber noch nicht die neurotische Angst. Sie ist schon äußerlich, also deskriptiv betrachtet, meistens tatsächlich inadäquat, was auch bei den Phobien der Fall ist. Es gibt keinen realen Grund, Angst vor geschlossenen oder offenen Räumen, vor harmlosen Tieren und höheren Gebäude zu haben. Aber – um jetzt von den Phobien auf das Angstneurotische im engeren Sinne zu kommen – es gibt auch keinen Grund, Angst ohne Grund zu haben, was ja regelmäßig zu Beginn einer Angstneurose der Fall ist. Der typische akute angstneurotische Anfall ist gerade eine solche plötzliche Angst scheinbar ohne Anlass, wenn auch der Patient bald aus dieser zunächst diffusen und unbegründeten Angst eine Art Phobie entstehen lässt, z. B. eine Herzphobie, also die Angst vor einem bevorstehenden Herzinfarkt oder einer bevorstehenden akuten Psychose usw. Im Laufe der Zeit wird es
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allerdings für den Patienten immer schwerer, die diffuse Angst mit der konkreten angeblichen Gefahr, z. B. des drohenden Herzinfarkts, zu verknüpfen und Angst mit dem Herzinfarkt zu begründen; er hört nämlich ständig von seinen Ärzten, dass sein Herz völlig in Ordnung sei. Die Folge davon ist oft, dass dann andere angeblich lebensgefährliche körperliche Erkrankungen oder gefährliche Situationen im Umfeld als der Grund für die Angst erlebt und in Zusammenhang mit dieser sonst grundlosen Angst gebracht werden. Schließlich, wenn dies alles als potenzielle Gefährdung wiederholt ausgeschlossen wird, entwickelt sich sehr oft eine Angst vor der Angst. Der Patient hat in typischer Weise in den fortgeschrittenen, sozusagen ausgereiften Formen der angstneurotischen Störung eine große Angst, er könnte bald einen neuen Angstanfall bekommen. Der Angstanfall ist ein medizinisch anerkanntes Syndrom (für das sogar eine entsprechende Ziffer in der ICD und dem DSM vorgesehen ist), mit dem man sowohl sich selbst gegenüber die Angst begründen kann als auch den Arzt um Hilfe bitten darf. Außerdem verbinden sich auch soziale Ängste mit dem Anfall, so dass es viele angstneurotische Patienten gibt, die vorwiegend Angst davor haben, dass, wenn sie z. B. im Theater oder in einer Konferenz oder in einem Vortrag oder im Fahrstuhl oder im Flugzeug einen angstneurotischen Anfall bekommen sollten, dem Publikum, den Bekannten, den Vorgesetzten auffallen und dadurch sozialen Schaden erleiden würden. Gegen diese Befürchtungen lässt sich auch in der Therapie schwer argumentieren, weil sie zum Teil der Realität entsprechen können. Sie lassen sich nicht, wie die Angst vor dem Herzinfarkt, mit einem EKG zerstreuen.
10.7 Der Unterschied zwischen Phobien und angstneurotischer Störung Da die angstneurotische Störung recht verbreitet ist, findet man sehr viele Betroffene, die gelernt haben, in solchen Situationen, zumal in der Öffentlichkeit, einen Anfall zu kaschieren oder durch Vermeidung der Situation eine Blamage oder sozialen Schaden auszuschließen. Dazu gehören die Menschen, die im Theater immer einen Platz am Rand suchen oder sogar in der Nähe der Tür sitzen, damit sie schnell »im Fall des Falles« hinauslaufen können; oder die Autofahrer, die die Autobahn meiden, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie bis zur nächsten Ausfahrt höllische Angst durchstehen müssten, wenn der angstneurotische Anfall auftaucht. Besonders angstfördernd wirkt hier die Tatsache, dass die Autobahn eine Einbahnstraße ist – es gibt also kein Zurück. Und trotzdem hat ein angstneurotischer Patient von mir – ein intelligenter, sachlicher und erfolgreicher Mann – einmal, als er einen Angstanfall während einer Autobahnfahrt erlebte, und zwar kurz nachdem er an einer Ausfahrt vorbeigefahren war, folgendermaßen reagiert: Er fuhr auf die Standspur und hielt dort an, um dann rückwärts bis zu dieser Ausfahrt zurückzufahren! Dabei war es dunkel und ziemlich neblig. An diesem Bei-
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spiel kann man das schreckliche Ausmaß der angstneurotischen Angst ermessen: Die reale Gefahr, also die hohe Wahrscheinlichkeit, mit der er mit seinem Verhalten einen schweren Unfall hätte herbeiführen können, wog sozusagen weniger als die angstneurotische Angst. Es erübrigt sich zu sagen, dass der Patient, nachdem er rückwärts fahrend die Ausfahrt erreicht hatte und sich aus der »Autobahnfalle« gerettet hatte, die Angst genauso plötzlich wich, wie sie gekommen war. Worum handelt es sich eigentlich psychodynamisch betrachtet bei einem solchen angstneurotischen Anfall? Es geht um unbewusste, intrapsychische Gefährdung. Der Vorgang hat auf den ersten Blick große Ähnlichkeit mit der phobischen Symptombildung: Der Mensch mit der Angst, er könnte bald den Herztod erleiden, hat in Wirklichkeit keine Angst vor dem materiellen, sondern vor dem psychischen Tod. Er hat Angst vor dem Selbstverlust oder in anderen Fällen Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die eigenen unbewussten oder halb bewussten Impulse. Mit Hilfe der symbolträchtigen Dramatik der Angst vor dem Herztod kann er aus der zunächst diffusen, unnatürlichen Angst eine Art Phobie herstellen und dadurch indirekt die dahinterstehende elementare Angst ausdrücken, ohne sie sich selbst und den anderen einzugestehen, ohne dass es deutlich wird, dass es sich eben um jene schrecklichere Gefahr handelt, die für ihn bei weitem bedrohlicher oder beschämender ist, weil sie mit dem totalen Versagen gleichzusetzen wäre. Trotz dieser Ähnlichkeit des Angstneurotischen mit der Phobie gibt es deutliche Unterschiede. Der erste Unterschied zu den echten Phobien ist, dass am Anfang des angstneurotischen Anfalls diese Konkretisierung, diese quasi-phobische Umwandlung in eine konkrete Furcht, noch nicht stattgefunden hat, so dass der Patient an einem diffusen, grundlosen, panikartigen und somit unerträglichen – und mit der relativ milden Angst der Phobie unvergleichbaren – Zustand leidet. Dennoch ist auch das nicht der Anfang, der eigentliche Beginn der Attacke. Der Beginn ist ein psychosomatischer, er ist auf eine primäre Somatisierung der ursprünglichen, unbewussten, elementaren Angst zurückzuführen. Die körperlichen, vegetativen Erscheinungen sind nicht bloße Korrelate, also normale psychophysiologische Begleiterscheinungen einer bewussten Angst, sondern Äquivalente einer unbewussten Angst, sie treten also anstelle der Angst auf (siehe auch Kapitel 16 über Psychosomatik). Die ursprüngliche Angst wird hier in einer Körpersprache ausgedrückt, die sich auf einem viel tieferen Symbolisierungsniveau als bei der Hysterie abspielt. Ein gutes Beispiel dafür stellt der sympatikovasale Anfall dar, der blitzartig als Äquivalent einer elementaren Angst (manchmal mitten aus dem Schlaf, vermutlich aus einem Traum heraus) auftritt und dann später zum Kristallisationskern einer Konkretisierung der bis dahin mühsam verdrängt gehaltenen ursprünglichen Gefahr wird. Noch mehr: Im Laufe dieses Prozesses entsteht ein Circulus vitiosus, weil die jetzt auch offen und bewusst erlebte phobische Angst (vor dem Herzinfarkt usw.) eine Verstärkung dieser vegetativen Erscheinungen mit sich bringt (diesmal sind es tatsächlich Korrelate einer nunmehr bewussten Angst), die ihrerseits zur Erhöhung der Angst beitragen.
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Die zunehmende körperliche Symptomatik ermöglicht eine immer intensivere und als real begründet erlebte Angst. Die Funktion dieser Koppelung besteht darin, immer mehr Angst auszudrücken und zu erleben, ohne die eigentliche Quelle zu »verraten«. Im Hinblick auf diesen eindeutig psychosomatischen Aspekt bei dem angstneurotischen Anfall könnte man die schon erwähnte Frage stellen, warum die Besprechung dieser Störung nicht innerhalb des Kapitels über die psychosomatischen Störungen erfolgt – wo auch der Unterschied zwischen Korrelat und Äquivalent der Angst genauer besprochen wird –, sondern hier bei den früher sogenannten Psychoneurosen. Diese Frage ist berechtigt. Und es gibt tatsächlich viele psychoanalytisch ausgebildete Fachkollegen, die gleichzeitig Experten für Psychosomatik sind, die die Angstneurose für ihr spezielles Fachgebiet der Psychosomatik beanspruchen. Dies ist in gewisser Hinsicht berechtigt, weil das Auftreten von körperlichen Äquivalenten anstelle eines Affekts charakteristisch für psychosomatische Störungen ist. Ich habe mich dennoch für die Einordnung der Angstneurose in die Psychoneurosen entschieden, weil trotz der nicht zu leugnenden Bedeutung der geschilderten psychosomatischen Mechanismen mir die Verwandtschaft mit den Phobien, der Mechanismus der Verschiebung und die Tatsache, dass hier bis zu einem gewissen Grad die Angst als echtes psychoneurotisches Symptom zu verstehen ist, mehr ins Gewicht fallen. Der Ausdruck »Angst als Symptom« muss kurz erläutert werden, weil er sonst zu Missverständnissen führen könnte. Gemeint ist die Tatsache, dass hier die Angst weder als eine normale, funktionale Signalangst noch als eine überschießende und lediglich durch ihr Ausmaß dysfunktional werdende Angst zu betrachten ist. Sie ist vielmehr als das Resultat eines defensiven Mechanismus zu verstehen. Sie wird anstelle einer anderen Angst mobilisiert und das heißt, sie hat nicht die Funktion einer normalen oder übertriebenen Signalisierung einer bewussten Gefahr, sondern, umgekehrt, die defensive Funktion des versteckten bzw. verschleierten Ausdrucks einer anderen, verdrängten Angst.
10.8 Das Sicherheit bietende internalisierte Objekt bei der angstneurotischen Störung Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der oben beschriebenen Arten von Angststörung entsteht, ist dort groß, wo ein Sicherheit bietendes, benignes internalisiertes Objekt (= die Summe der Niederschläge positiver Beziehungserfahrungen in der Kindheit) im Laufe der Entwicklung des Patienten nicht gebildet werden konnte. Dies ist auch der Grund dafür, dass der Betroffene auffällig oft von einer Person stark abhängig wird, die ersatzweise diese Funktion des guten internalisierten Objekts erfüllt. Fällt eine solche Person durch Tod oder Trennung oder dadurch aus, dass sie diese Funk-
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tion nicht mehr übernimmt, so tritt im engen zeitlichen Zusammenhang der erste angstneurotische Anfall auf – eine vielfach bestätigte Tatsache, die in eklatanter Weise die hier vertretene psychoanalytisch orientierte psychodynamische Auffassung des Angstneurotischen unterstreicht. Im Hinblick darauf ist es verwunderlich, dass bei einseitig biologistisch orientierten Psychiatern die Panikattacken als nur somatisch bedingte Störungen betrachtet werden. Solche Fälle von Panikattacken, die durch das Wegbleiben des stützenden Objekts entstehen, sind mir öfters begegnet. So z. B. bei einer Frau, deren gutmütige, reizende Großmutter, auch wenn sie einige hundert Kilometer entfernt lebte, der Patientin eine (symbolische) Dauersicherheit gab. Kurz nach dem Tod der Großmutter bekam diese Frau ihren ersten angstneurotischen Anfall. Von da an war sie sehr von ihrem Ehemann abhängig; sie konnte kaum ohne ihn aus dem Haus gehen. Solche und ähnliche Fälle sind so zahlreich und so bekannt, dass es hier keiner weiteren Aufzählung oder Erläuterung bedarf. Sinnvoll erscheint mir dagegen, kurz auf die Analogien zur Psychodynamik der Depression in Bezug auf die Bedeutung des internalisierten Objekts einzugehen. Auch bei der Depression hängt nämlich oft die Manifestation dieser Störung von der Qualität des internalisierten Objekts ab. Nur dass bei der depressiven Störung nicht so sehr die Sicherheit bietende Funktion (wie bei der Angstneurose), sondern die Wertigkeits- und Geborgenheitsvermittlung im Vordergrund steht (siehe darüber mehr in Kapitel 11.2 über den depressiven Modus). Folgende terminologische Zwischenbemerkung erscheint mir wichtig: Da latente chronische Angst praktisch der Psychodynamik fast aller psychischen Störungen unterliegt, ist es nicht sinnvoll, alle diese Ängste unter dem Begriff des Angstneurotischen unterzubringen. Vielmehr sollte zweckmäßigerweise der Terminus für die Gruppe von Patienten mit akuten manifesten Angstzuständen, begleitet von Erwartungsangst (Angst vor der Angst) und/oder insbesondere von einer starken Somatisierung der Angst, reserviert bleiben. Diese Patienten machen übrigens die Gruppe aus, die auch Freud gemeint hat, als er über die Angstneurose schrieb, auch wenn er deren Psychodynamik zunächst innerhalb seines damaligen aktualneurotischen Konzepts verstanden hatte, was er später selbst revidieren und korrigieren musste.
10.9 Variationen der angstneurotischen Störung Der angstneurotische Modus ist, genau wie der hysterische oder der phobische, bis zu einem gewissen Grad konfliktunspezifisch, das heißt, er wird bei verschiedenen Konfliktarten (aber auch bei verschiedenen Levels der Persönlichkeitsorganisation) sowie bei Traumatisierungen und anderen Belastungen mobilisiert und manifestiert. Je nach Art des dahinterstehenden Konflikts oder Traumas und je nach Niveau der erreichten Reife der Persönlichkeitsorganisation entstehen unterschiedliche, »reifere« und »weniger reife« Formen von angstneurotischen Störungen. Einige der Variationen werden weiter unten besprochen.
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10.10 Die Rolle der Aggression bei der Angstneurose Zwar deutet alles darauf hin, dass der angstneurotische Modus vorwiegend dann mobilisiert wird, wenn das zentrale Selbstsicherheitsgefühl bedroht oder erschüttert wird; dennoch können die Gründe für diese Erschütterung recht unterschiedlich sein und sich über ein breites Spektrum erstrecken, von der elementaren Gefahr des Objektverlustes oder der Gefahr des Verlassenwerdens (vom Objekt) bis zu der Angst z. B. vor der eigenen Aggression. Diese eigene Aggression könnte nämlich dieses – trotz allem nicht nur gehasste, sondern auch lebenswichtige – Objekt vernichten. Diese Variation der Psychodynamik der Angstneurose wird oft übersehen. Ein Beispiel: Eine 30-jährige Frau, die seit 8 Jahren an häufigen Panikattacken leidet und die bis dahin drei erfolglose sowohl psychodynamisch als auch verhaltenstherapeutisch orientierte Therapien hinter sich hatte, beginnt eine vierte Behandlung in einer von mir geleiteten Gruppe. Schon nach etwa zwei Monaten kommt es dazu, dass diese Frau in ihr offenbar seit sehr langer Zeit schlummernde Aggressionen gegen die Mutter und den Vater in der Gestalt heftiger, mörderischer Fantasien auf den Gruppenleiter übertrug, ohne jedoch dies ganz bewusst zu erleben, geschweige mitteilen zu können. Schließlich gelingt es ihr aber, diese starken aggressiven Fantasien offen und massiv während der Gruppensitzung bewusst zu erleben, wahrscheinlich auch durch das Verhalten anderer Gruppenmitglieder ermutigt. Daraufhin verließ sie – offenbar im Zustand einer hohen inneren Erregung – die Sitzung ohne eine Äußerung, um jedoch fünf Minuten später zurückzukehren und ihre Wut offen auszudrücken. Dies führte zu dem verblüffenden Resultat, dass sie in der Zeit danach keine Panikattacken mehr hatte. Dies geschah offenbar deswegen, weil sie während dieser dramatischen Wendung die Erfahrung gemacht hatte, dass es möglich ist, heftige mörderische Wut gegen das nicht nur gehasste, sondern auch geliebte und für sie lebenswichtige Objekt auszudrücken, ohne es zu zerstören.
10.11 Weitere Variationen und Differenzierungen des Angstneurotischen Eine angstneurotische Symptomatik mit der oben geschilderten Dynamik entspricht einer »reiferen« Entwicklungsstufe als die elementare Verlassenheitsangst aufgrund von frühen Erfahrungen der Unzuverlässigkeit oder des Verlassenwerdens durch das primäre Objekt. Im letzten Fall ist also der Konflikt bzw. das Trauma ein früheres. Kommen nun auch eine Unreife der gesamten Persönlichkeitsorganisation oder zusätzlich belastende äußere Umstände hinzu, so befindet sich der Betroffene in der Nähe der Psychose oder wird sogar psychotisch. Es geht nicht mehr um eine Angstneurose, sondern schon um eine Psychose. Dies ist der
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Grund, warum oft der ersten Manifestation einer Psychose lange Zeit vorher eine als »Angstneurose« diagnostizierte Angstsymptomatik vorausgeht. Soweit zu den Variationen, deren Unterschiede auf die jeweiligen Konflikte und Traumata sowie auf die unterschiedliche »Reife« der Persönlichkeitsorganisation zurückzuführen sind. Es gibt aber eine weitere Variabilität (sowohl des manifesten Bildes als auch der dahinterstehenden Dynamik) in Abhängigkeit davon, ob der angstneurotische Modus sich mehr selbstbezogen oder mehr objektbezogen gestaltet. Wie schon im ersten Teil dieses Buches dargestellt, kann man bei fast allen psychischen Störungen die mobilisierten Abwehrmechanismen und Modi der Verarbeitung in zwei Gruppen unterscheiden, die zwar zunächst in ihrer Funktion gegensätzlich erscheinen, in Wirklichkeit jedoch Alternativlösungen desselben Problems darstellen. Die erste Gruppe oder Form wird dadurch charakterisiert, dass bei ihr die Abwehr mit selbstbezogenen, wenn man so will »narzisstischen« Mechanismen und Strategien arbeitet. Hierzu gehören z. B. der autistische Rückzug oder die manische Selbstüberhöhung. Dagegen überwiegen bei der zweiten Form Mechanismen, die immer das Objekt implizieren, es mit einbeziehen, es benutzen, sich ihm unterwerfen usw. Dazu zählen z. B. extreme Abhängigkeit oder hysterisches, dramatisierendes Zur-Schau-Stellen. Ich nenne die erste Form selbstbezogene Abwehr (oder Modus), die zweite objektbezogene Abwehr (oder Modus). Nun zeigt sich, dass auch bei der angstneurotischen Störung zwei solcher Variationen bzw. Formen tatsächlich anzutreffen sind. Es gibt die stark vom Therapeuten oder dem Partner abhängigen Angstneurotiker, die z. B. nie allein aus dem Haus gehen, und diejenigen, die in kontraphobischer Art Furchtlosigkeit und Pseudounabhängigkeit (vor sich und den Anderen) demonstrieren und nur selten kurzfristig eine manifeste Angstsymptomatik bieten. Diese Unterscheidung basiert zwar auf eigenen Beobachtungen bei zahlreichen Angstneurotikern, ist aber vor sehr langer Zeit, zumindest in ihrer deskriptiven Dimension, von Richter und Beckmann (1969) vorweggenommen. Die beiden haben schon in den 1960er Jahren in einer der ersten großen empirischen Untersuchungen zu diesem Thema aufgrund ihrer Befunde eine Teilung zum Typ A und B (analog meiner Unterscheidung von zwei Patientengruppen, je nach Selbstbezogenheit oder Objektbezogenheit der Abwehr) vorgeschlagen und in ihrer Monografie über die »Herzneurose« (dieser damalige Terminus entspricht in etwa der heutigen Angstneurose mit Panikattacken) überzeugend dargestellt.
10.12 Polar entgegengesetzte Gefahren und damit korrespondierende Ängste In der Ontogenese, also in der normalen Entwicklung des Individuums, kann man eine Art Reifung der Angstreaktion feststellen, und zwar von der diffusen,
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stark körperbezogenen Angst des Säuglings bis zu der reifen entsomatisierten Furcht des Erwachsenen. Es ist nun bemerkenswert, dass man bei den verschiedenen Stufen der Entwicklung charakteristische Polaritäten sowohl bei den potenziellen Konflikten als auch bei den implizierten Ängsten findet. So entspricht dem Paar Selbstidentität versus Bindung das Paar Angst vor Selbstverlust versus Angst vor Objektverlust. Dem Paar Selbstbehauptung und Autarkie versus Geborgenheit und Sicherheit durch das Objekt entspricht das Paar Angst vor Zerstörung des Objekts versus Angst vor der Unterwerfung und dem Misslingen der Selbstbehauptung, wie bei der oben erwähnten Patientin mit der unterdrückten Aggression, die sie gegen den Gruppenleiter richtet (vgl. Tab. 1, S. 31). Diese Dilemmatik scheint eine große Rolle bei der Entstehung, Verkomplizierung und Chronifizierung von Angststörungen zu spielen, die bis jetzt nicht ausreichend beachtet wurde. Nur vereinzelt findet man in der Literatur diesbezügliche Bemerkungen, so z. B. bei Rey (1979), der von einem agora-klaustrophobischen Dilemma spricht und sich somit – wenn auch im Rahmen eines kleinianischen Konzepts – in der Nähe dieser Überlegungen befindet. Offenbar steht ein angstneurotischer Patient oft, wenn nicht sogar regelmäßig, vor einem solchen Dilemma zwischen zwei gleich großen »Gefahren«. Hier kann ihm die normale Signalangst nicht viel helfen, die Signale werden angesichts des Dilemmas für den Patienten zweideutig und letztlich verwirrend. Vielleicht wird das Angstsignal deswegen abgewehrt, somatisiert, verschoben auf etwas Äußeres und in Wirklichkeit Harmloses. Diese Überlegungen haben große praktische Bedeutung, weil ein solches Verständnis, also die zusätzliche Berücksichtigung der hinter der Angst stehenden Dilemmatik und Ambivalenz, oft einen besseren, überzeugenderen Zugang zum Patienten erlaubt. Auf jeden Fall habe ich die Erfahrung gemacht, dass während der therapeutischen Zusammenarbeit der Patient durch die Berücksichtigung der Ambivalenz besonders angesprochen und motiviert wird, die Dilemmatik seiner Angst auch selbst zu analysieren und zu verstehen.
10.13 Der hypochondrische Modus Aus deskriptiver Perspektive versteht man unter Hypochondrie eine extreme und unbegründete Besorgtheit um den eigenen Körper in Form ständiger Befürchtungen und Klagen um angebliche die Gesundheit ernsthaft gefährdende Erkrankungen. Es besteht also bei dem Betroffenen die starke bis wahnhafte Überzeugung, dass eine lebensgefährliche Erkrankung bei ihm vorliege. Diese eingebildete Erkrankung kann nicht nur den Körper, sondern oft auch die Psyche betreffen: Der Patient glaubt z. B., dass er an einer unheilbaren psychischen Erkrankung leide. Die Bezeichnung »Hypochondrie« leitet sich aus dem Altgriechischen Hypochondrion (das unter dem Brustknorpel Liegende) ab. Man glaubte nämlich frü-
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her, dass es sich um eine Erkrankung der inneren Organe unter dem Brustknorpel (unter dem Rippenbogen) handelte. Es besteht zwar eine deskriptive Ähnlichkeit der Hypochondrie zur Hysterie, jedoch stellt der Hypochonder sein Leiden nicht zur Schau, wenn er es auch beklagt, und ist nicht wie der Hysteriker mit seinem Leiden sozusagen identifiziert, sondern im Gegenteil, er will dieses »Böse« aus seinem Körper entfernen lassen. Freud hatte die Hypochondrie samt Neurasthenie und Angstneurose als die Aktualneurosen zusammengefasst, in der Überzeugung, dass es sich dabei nicht um Psychoneurosen, also nicht um neurotische Störungen handelt, die psychisch bedingt sind. Die aktualneurotische Hypothese in Bezug auf die Hypochondrie ist aber längst, wie auch im Fall der Angstneurose, überholt. Ebenfalls ist die spätere psychoanalytische Annahme, dass es sich bei der Hypochondrie um den Abzug der Libido aus dem Körper handele, verlassen worden. Die noch später entwickelte psychoanalytische Hypothese, nach der es bei der Hypochondrie um die Darstellung einer intrapsychischen Problematik in einer symbolischen Körpersprache gehe, ist im Prinzip richtig, aber recht unspezifisch, denn eine solche Verwendung der symbolischen Körpersprache findet man auch bei vielen anderen Somatisierungsprozessen. Ähnlich unspezifisch ist auch die Hypothese, dass es sich bei der Hypochondrie um eine Ablenkung vom eigentlichen relevanten Konflikt handele. Auch dies ist kein Spezifikum der Hypochondrie. Am besten bewährt sich die Annahme einer Projektion des Negativen, des Bösen in den Körper, also im somatischen Projektionsfeld, und zwar analog der Projektion in die Welt der inneren Objekte im Fall der Wahnbildung, zu der übrigens die Hypochondrie viele Parallelen aufweist (französische Autoren sprechen oft von der Hypochondrie als dem délire corporel, also dem körperlichen Wahn). Hier wird also der eigene Körper als ein ambivalentes Objekt empfunden, in das man den bösen eigenen Anteil projiziert.
10.14 Borderline-»Zustand« im Unterschied zur Borderline-Persönlichkeitsstörung Die Darstellung der Entstehung, des Erscheinungsbildes und der Psychodynamik der Borderline-Persönlichkeitsstörung erfolgt im Kapitel über die Persönlichkeitsstörungen (14.3.4). Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass die Beschäftigung mit diesen »Grenzfällen« (borderline) mit der Beschreibung von »Zuständen« (states), also zeitlich abgegrenzten Symptomatiken, begonnen hat. Später (etwa ab den 1960er Jahren) merkte man, dass diese charakteristische Symptomatik und Psychodynamik meistens als eine dauerhafte Persönlichkeitsbesonderheit auftritt, deswegen auch ihre Einordnung unter die Persönlichkeitsstörungen. Trotzdem gibt es – nicht einmal so selten – leichtere Fälle mit nur zeitlich abgegrenzten »Zuständen« (states) bei verschiedenen anderen, und nicht nur Borderline-Persönlichkeiten (vgl. dazu Weiß u. Horn, 2009, S. 20).
Kapitel 11: Depression und der depressive Modus
Obwohl ein Teil der zu beschreibenden Depressionen zu den früheren »neurotischen Depressionen«, also zu den »Psychoneurosen« gehört, erschien es mir sinnvoll, für die Depression – also für die epidemiologisch betrachtet bei weitem größte Gruppe »psychischer Störungen« – ein eigenes Kapitel vorzusehen.
11.1 Die Mangelhaftigkeit der deskriptiven Definition der Depression Schon auf der deskriptiven Ebene ist die Vielfalt der klinischen psychopathologischen Bilder, die alle depressiv genannt werden, so groß, dass es sinnvoller wäre, nicht von der Depression, sondern von der Gruppe der Depressionen zu sprechen. Das Wort Depression bedeutet ursprünglich Bedrückung, bedrückte Stimmung. Tatsächlich ist die gedrückte Stimmungslage, der depressive Affekt, der gemeinsame Nenner aller Variationen der Depression, während die anderen Symptome unterschiedlich ausgeprägt sein können. Zu diesen verschiedenen Symptomen der Depression gehören die psychomotorische Hemmung, die Antriebslosigkeit, das Absinken der Leistungsfähigkeit des Ich, die Minderung der Konzentrationsfähigkeit, die Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, die Anhedonie (die Unfähigkeit, Lust zu empfinden), die Herabsetzung des Selbstwertgefühls, die Selbstvorwürfe, das Gefühl der Leere oder das Gefühl der Gefühllosigkeit, die Schuldgefühle bis zum Versündigungswahn, der Kleinheits- und Verarmungswahn, die hilflosen Anklammerungstendenzen, die Selbstdestruktivität und Suizidalität. Jedes dieser Symptome kann bei den verschiedenen Formen von Depression mit unterschiedlicher Intensität oder aber auch überhaupt nicht auftreten Die auf wenigen formalen Kriterien basierende Definition und Klassifikation der Depressionen im DSM-IV und in der ICD-10 werden also schon deskriptiv bei weitem nicht allen diesen Unterschieden gerecht und beschränken sich vorwiegend auf einige formale Merkmale wie Intensität, Dauer und Wechsel mit manischen Zuständen (monopolare und bipolare Depression). Aber noch viel weniger berücksichtigen diese formalen Diagnosen die dahinterstehende Psychodynamik und die Ätiologie. Von der normalen Trauerreaktion unterscheiden sich die Depressionen dadurch, dass sie fast regelmäßig von einer mehr oder weniger ausgeprägten
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Beeinträchtigung auch des Selbstwertgefühls begleitet werden, was bei der Trauer nicht der Fall ist (auf diesen bedeutsamen Unterschied hat Freud schon 1917 aufmerksam gemacht; Freud, 1916/17).
11.2 Die Funktion des depressiven Affekts Der Grund, warum ich auch bei den Depressionen meistens lieber von dem depressiven Modus spreche, ist folgender: Auch wenn die depressiven Zustände auf den ersten Blick als passives Leiden imponieren, so zeigt sich bei genauer Betrachtung und insbesondere durch die Erfahrungen in längeren Behandlungen, dass es sich auch hier, so wie bei der Hysterie, bei der Zwangsneurose, bei der Phobie und der Angstneurose, um aktive Reaktionen, um aktive – wenn auch pathologische – Verarbeitungsmodi von Konflikten, Traumata und anderen Belastungen handelt. Der depressive Affekt mag ein recht unlustvoller, schmerzlicher Affekt sein, er hat aber, wie etwa auch die Angst, zunächst die Funktion eines Indikators, er signalisiert auf sehr eindrückliche und schmerzhafte Weise einige für den psychophysischen Organismus sehr negative, ungünstige, gefährliche Situationen. Dazu gehören die Herabsetzung des Selbstwertgefühls, die Reduzierung von Entwicklungsmöglichkeiten in der Zukunft, der Verlust von wertvollen Objekten, die hoffnungslose Verstrickung in unlösbar erscheinende Konflikte u. a. m. Der depressive Affekt ist also in gewisser Hinsicht mit der Angst vergleichbar. Auch er mobilisiert Mechanismen der Abwehr oder, in günstigen Fällen, sogar auch relativ realitätsgerechte Bewältigungsmechanismen. Der depressive Affekt signalisiert übrigens auch einen drohenden Stillstand des sich sonst ständig in Bewegung befindenden psychischen Prozesses. Der wichtigste Grund, warum ich die Depression einen Modus der Abwehr nenne, ist aber – unabhängig von ihrer Funktion als Indikator – die Tatsache, dass sie eine Rückzugsstrategie ist, welche zunächst als Schutzmechanismus zu verstehen ist, wenn sie auch sehr oft durch Verwicklung in den im Folgenden zu schildernden Circuli vitiosi fatal werden kann. Man merke: Nicht der depressive Affekt ist der dynamische Kern der Depression, sondern diese fortschreitende Einengung, Einschränkung, Stilllegung des Selbst. Der depressive Affekt ist lediglich die dringende Signalisierung des negativen Vorgangs.
11.3 Drei Circuli vitiosi Die dynamisierte Konzeptualisierung des depressiven Affekts mag vielleicht auf den ersten Blick als eine unzulässige Positivierung eines für Millionen von Menschen unerträglichen und unerwünschten Krankheitszustands erscheinen. Der depressive Affekt für sich ist aber noch nicht die voll entwickelte Depression. Diese entsteht erst dadurch, dass die unter dem Druck des depressiven Affekts
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mobilisierten Abwehr- und Schutzmechanismen – welche zunächst sinnvoll erscheinen mögen – sehr oft und sehr schnell in verhängnisvolle Circuli vitiosi führen, welche das mit der Depression einhergehende Leiden des Patienten nicht nur nicht leichter und erträglicher machen, sondern im Gegenteil es noch mehr vertiefen. Es handelt sich vorwiegend um folgende drei Teufelskreise: a) Der zunächst sozusagen gut gemeinte Rückzug von der Außenwelt zwecks Vermeidung neuer Verluste, Traumatisierungen und Frustrationen, welche eine Verschlechterung der intrapsychischen Ökonomie, eine Erhöhung der Spannung und Belastung und somit der Depressivität bedeuten würden, erweist sich als verhängnisvoll. Die implizierte Vermeidung von Kontakten, Kommunikation und Bindungen zeigt sich schließlich als recht ungünstig. Sie geht mit einer Reduzierung nicht nur der Belastungen und Retraumatisierungen einher – was ja wünschenswert ist –, sondern auch mit der üblicherweise im täglichen Leben (etwa bei der Arbeit oder auch bei sonstigen Begegnungen mit Menschen) erhältlichen positiven Zuwendung (narzisstische Zufuhr). Diese ist schon unter normalen Umständen, umso mehr aber in einer solchen Situation unerlässlich für die Stützung des labilisierten narzisstischen Gleichgewichts. b) Dem unter a) beschriebenen Rückzug geht hier der Versuch voraus, den oft zu Beginn der Depression stattgefundenen realen oder symbolischen Objektverlust durch eine Introjektion (ein In-sich-Hineinnehmen) dieses Objekts (vgl. weiter unten unter 11.4.1), aber auch äußerlich durch Anklammerung und Vereinnahmung der zur Verfügung stehenden realen Personen zu kompensieren. Doch auch dieser Mechanismus führt letztlich nicht zu einer Erleichterung und Milderung des depressiven Zustands, sondern umgekehrt zu einer erheblichen Verschlechterung. Diese Introjektion (eine undifferenzierte, globale und nichtselektive Identifizierung) betrifft nämlich meistens ein ambivalentes, also auch negativ und nicht nur positiv besetztes Objekt. Aber auch die Anklammerung an reale (Ersatz-)Objekte hilft wenig; im Gegenteil wehren sich auf die Dauer diese Bezugspersonen gegen die zu massive Vereinnahmung. Dadurch entsteht eine erneute Frustration, die wiederum die Depression verstärkt. c) Die Unterdrückung der zusätzlich unter diesen Bedingungen bestehenden Frustrationsaggression führt zu einer immer größer werdenden Aggression, die aber ihrerseits wiederum unterdrückt werden muss, um das frustrierende, aber lebenswichtige Objekt nicht zu verlieren – oder sogar, um es nicht zu vernichten. Dadurch ist aber auch dieser, also der dritte Teufelskreis, geschlossen. Die Berücksichtigung der drei Circuli vitiosi kann zwar die regelmäßig zu beobachtende Verschlechterung und die häufige Tendenz der Chronifizierung der Depression erklären, sie besagt aber noch nichts über die Umstände, über die psychogenetischen und psychodynamischen Konstellationen, die überhaupt erst zu der Bedrückung und Notlage geführt und somit den depressiven Affekt mobilisiert haben und diese Rückzugsstrategien zwangsläufig einleiten.
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11.4 Psychoanalytische Modelle der Depression Die Psychoanalyse hat im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrere Modelle zur Erklärung der Entstehung der Depression entwickelt, welche sehr unterschiedliche Schwerpunkte betreffen, aber sich trotzdem nicht gegenseitig ausschließen. Sie können entweder kombiniert oder parallel berücksichtigt werden und nach einigen Korrekturen weiterhin aussagekräftig bleiben.
11.4.1 Objektverlust und Introjektion Ein realer oder symbolischer Objektverlust führt, wie Freud schon 1917 darstellte (Freud 1916/17), zu einer kompensatorischen Introjektion, d. h. zu einer undifferenzierten, globalen Vereinnahmung des Objekts zwecks Kompensierung des Objektverlustes. Es handelt sich aber um eine Vereinnahmung, die schon aufgrund der ambivalenten Besetzung des Objekts zu weiteren Komplikationen führen muss (z. B. zu aggressiven und autoaggressiven Reaktionen).
11.4.2 Frustrationsaggression und ihre Hemmung – Schuldgefühle Das zweite Modell fokussiert noch stärker auf die Relevanz der Aggressionshemmung (Abraham, 1912) sowie auf die Schuldgefühle und die Erfahrungen des Kindes mit der Sequenz Schuld – Buße – Verzeihung (Rado 1927/1956). Hier wird also die zentrale Bedeutung des depressiven Konflikts hervorgehoben, d. h. der Umstand, das Objekt zu hassen, das man am meisten nötig hat oder sogar am meisten liebt.
11.4.3 Von der Strukturtheorie inspirierte Modelle Schon mit Rado (1956) aber wird zunehmend der strukturelle Gesichtspunkt berücksichtigt: In der Depression wütet das Über-Ich gegen das Ich, statt dass das Ich gegen das Objekt wüten würde. Dies gilt umso mehr für die maßgebenden Arbeiten von Jacobson (1971), in denen sie zwischen neurotischen, Borderlineund psychotischer Depression unterscheidet und somit eine neue, sinnvolle Differenzierung zwischen verschiedenen Depressionsformen aufgrund des Niveaus und der Reife der dabei involvierten Abwehrmechanismen ermöglicht (ein modernes formuliertes Konzept dieser Erfassung der Depression findet man bei Will 2008, S. 132).
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11.4.4 Melanie Klein und die depressive Position Auch nach Melanie Klein (1935, 1940) steht die Aggression – wie bei Abraham – im Zentrum der Psychogenese der Depression, allerdings als Bestandteil des Gegensatzes zwischen Libido und Agressionstrieb (Eros und Thanatos), also anders als bei der von mir vorgeschlagenen Gegenüberstellung von Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit. Innovativ und klinisch interessant ist jedoch bei Melanie Klein die Fokussierung auf die Pathologie der Beziehungen zum primären Objekt. Die Problematik der Depression beruhe u. a. auf der ausbleibenden oder mangelhaften Integration der bösen und guten Anteile innerhalb dieser Beziehung. Im normalen Fall, also beim Überwiegen der guten Anteile – so Melanie Klein –, wird durch die bewusste Verarbeitung der aufgrund der Aggression gegen das Objekt entstandenen Schuldgefühle jene reife Stufe, nämlich die depressive Position erreicht. Dagegen entstehe beim Ausbleiben einer solchen günstigen Entwicklung die regelrechte Depression (eine dichte und zugleich klare Darstellung der kleinianischen Annahme zu diesem Punkt findet man bei Weiß und Horn, 2007).
11.4.5 Die Erschütterung der narzisstischen Homöostase in der Dynamik der Depression Die Selbstwertgefühlregulationsstörung wurde erst von Bibring (1953), später auch von Sandler (Sandler und Joffe, 1965) und Kohut (Kohut und Wolf, 1980) und anderen in den Vordergrund der Bemühungen gerückt, depressive Zustände zu verstehen. Dabei hat Kohut darauf hingewiesen, wie bedeutend die ausreichende, positive Spiegelung des Kindes durch die wichtige Bezugsperson in sehr frühen Entwicklungsstadien ist (»der Glanz in den Augen der Mutter«). Bibring und Sandler haben überzeugend gezeigt, welche zentrale Stellung das Selbstwertgefühl und das »well being« (Sandler) bei der Aufrechterhaltung der narzisstischen Homöostase besitzen (»narzisstisch« meint hier nicht einen pathologischen Zug oder Zustand, sondern einfach »das den Selbstwert Betreffende«). Freud hatte schon 1917 auf die starke Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls in der Depression aufmerksam gemacht.
11.4.6 René Spitz und John Bowlby – Bindungstheorie Schon bei der Darstellung der Bindungstheorie im ersten Teil des Buches ist die Bedeutung von Trennung und Bindungslosigkeit sowie der damit zusammenhängenden Traumatisierungen (sogar schon im Tierexperiment) erwähnt worden. Die bleibende Beeinträchtigung der Bindungsfähigkeit trägt erheblich zur Entstehung der Depression bei.
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11.5 Ergänzung und Integration der Depressionsmodelle mit Hilfe des Drei-Säulen-Modells Es ist schwierig, die verschiedenen deskriptiven Bilder mit den verschiedenen Hypothesen zur Psychogenese und Psychodynamik der Depression in ein übersichtliches und überzeugendes Modell zusammenzufassen. Im Rahmen meiner Bemühungen, ein anschauliches und handhabbares Modell (unter Verzicht auf komplizierte, metapsychologische Annahmen) zu konzipieren, entstand das DreiSäulen-Modell (Abb. 1), das nicht nur viele der geschilderten psychodynamischen Hypothesen teilweise berücksichtigt, sondern auch andere, in den bisherigen psychoanalytischen Konzepten nicht vorgesehene, aber für die Depression relevante Faktoren (z. B. äußere Anlässe wie Schicksalsschläge) erfasst. So wie bei der deskriptiven Betrachtung der Depression der depressive Affekt als gemeinsamer Nenner sich nützlich erwies, so scheint es mir sinnvoll, die Beeinträchtigung der narzisstischen Homöostase, also die Störung der Selbstwertgefühlregulation, als das wichtigste Element der Dynamik der Depression zu sehen und es ins Zentrum der Betrachtung zu stellen. Dadurch wird es mit Hilfe des Drei-Säulen-Modells möglich sein, die Komponenten und die Variationen der Psychodynamik der Depression zu erfassen und dabei zu zeigen, auf welche Weise die verschiedenen psychogenetischen Konstellationen (wie Objektverlust, Schicksalsschläge, mangelnde Spiegelung, malignes Introjekt etc.) das narzisstische Gleichgewicht beeinträchtigen und dadurch auch zur Depression führen können. Die einzelnen in den drei Säulen repräsentierten Strukturen, Funktionen, Abwehr- und Kompensationsmechanismen sowie die Nützlichkeit dieses Modells bei der Beschreibung der komplizierten Zusammenhänge – auch unter »normalen« Bedingungen – wurden bereits in Kapitel 5.3 erörtert. Hier soll lediglich noch einmal daran erinnert werden, auf welche Weise man mit Hilfe dieses Modells wenigstens einige der wichtigsten Depressionsformen in ihrer jeweiligen Phänomenologie und Psychodynamik anschaulich, übersichtlich und differenziert beschreiben kann. So führen Störungen der in der ersten (der rechten) Säule repräsentierten Strukturen und Funktionen (also derjenigen, die normalerweise die Entstehung des reifen, stabilen und realitätsgerechten Ideal-Selbst ermöglichen) zu depressiven narzisstischen Krisen, die etwa den von Glaser (1979) beschriebenen narzisstischen Depressionen entsprechen. Auch in meiner Erfahrung sind solche auf die direkte Erschütterung des Selbstvertrauens durch Misserfolge, Kränkungen, Nachlass der körperlichen Vitalität, der Potenz usw. zurückgehende Depressionen recht häufig (so z. B. bei Männern zwischen 50 und 60 Jahren). Glaser hat diese narzisstische Depression der mehr objektbezogenen Depression gegenübergestellt. Diese Letztere entspricht also einer Störung der Strukturen und Funktionen, die in unserem Modell in der zweiten, der mittleren Säule,
Kapitel 11: Depression und der depressive Modus
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repräsentiert werden. Diese Störung führt zu Depressionen, deren Entstehung mit dem Objektverlust, mit Trennungen, insbesondere mit Enttäuschungen durch das idealisierte Objekt in Zusammenhang stehen. Es handelt sich oft um eine Abhängigkeits- oder um eine aggressivierte Depression (siehe weiter unten). Während im normalen Fall die in dieser Säule repräsentierte Entwicklung mittels Bindung, Vertrauen, Idealisierung zur Bildung eines reifen, benignen, stabilen, internalisierten Objekts führt, gelingt dies im pathologischen Fall nicht. Es bildet sich ein malignes inneres Objekt, was die spätere Entstehung der Depression wesentlich mitbedingt. Die dritte (die linke) Säule repräsentiert die Entwicklung des Über-Ich im engeren Sinne (vom archaischen über das ödipale Über-Ich bis zum reifen Gewissen). Ihre Störung führt zu der klassischen Schulddepression bei einem strengen Über-Ich, das sozusagen schwer zufriedenzustellen ist. Daraus resultieren Selbstvorwürfe, schwere Schuldgefühle, Autodestruktion, Suizidalität. Es handelt sich um eine Schulddepression. Je schwerer die hier dargestellten drei Typen von Depressionen sind, desto stärker treten jene, normalerweise längst überwundenen defensiven Muster aus früheren Entwicklungsstufen hervor: In der ersten Säule, wo es um den direkt drohenden Zusammenbruch des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls geht, kann es zur Reaktivierung des Größenselbst (Manie) kommen. Bei einer Störung in der zweiten Säule kommt es entweder zu der Aktivierung einer starken symbiotischen Abhängigkeit und klinisch zum Bild einer anaklitischen Depression oder umgekehrt zu einer »künstlich« forcierten, aber naturgemäß nur vorübergehenden oder auf jeden Fall labilen Pseudounabhängigkeit. Bei einer Störung der dritten (der linken) Säule kommt es zu einer Reaktivierung des archaischen ÜberIch mit übertriebenen, fast wahnhaften Schuldgefühlen bis hin zum Versündigungswahn, begleitet von gravierenden Selbstbestrafungstendenzen. Dem geht oft ein Stadium übertriebener Leistungsanstrengungen oder masochistischer Opferbereitschaft voraus, um eben diese Entwicklung dadurch zu verhindern, dass das Über-Ich rechtzeitig, vorweg »versöhnt« werde. Das Modell dient der anschaulichen Darstellung der ausgesprochen wichtigen Funktion des internalisierten Objekts, also des Niederschlags der frühen Beziehungserfahrungen, und der Bedeutung seiner Qualitäten (benignes versus malignes internalisiertes Objekt) für die Entstehung der Depression allgemein. Ein benignes internalisiertes Objekt kann nämlich durch seine stärkende und tröstende Wirkung die Depression verhindern oder mindestens mildern. Des Weiteren gibt das Modell Hinweise auf die verschiedenen Funktionen der wichtigen Bezugspersonen im sozialen Umfeld. So ist für die Stabilität und Funktionalität der ersten Säule die positive Spiegelung und die Bewunderung durch die Eltern, aber später auch durch die gesamte soziale Umgebung unerlässlich. Dagegen zeigt sich in der zweiten Säule, dass der Betreffende hier nicht so sehr darauf wartet, von anderen bewundert zu werden; vielmehr ist es er selbst, der die idealisierte
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Figur bewundert und sich mit ihr identifizieren will. Hier sind die idealisierende Bindung und die Identifikation zunächst von großer, positiver Bedeutung für Stabilität und Funktionalität der Selbstwertgefühlregulation. Bei der dritten, der linken Säule ist vorwiegend die Anerkennung durch die Anderen von großer Relevanz. Also hier ist nicht die – gratis gebotene – Bewunderung, sondern eben die Anerkennung für »gute« Leistungen, »erfolgreiches« Handeln im sozialen Feld maßgebend für die Aufrechterhaltung der Selbstwertgefühlregulation. Mit Hilfe der drei Säulen können die auftretenden Erschütterungen und Zusammenbrüche dieser Selbstwertgefühlregulation differenziert dargestellt werden.
11.6 Zwischenbebemerkung zum Selbstmord Selbstmord ist keineswegs immer als Aggression bzw. als Wendung der Aggression nach innen – wie Freud annahm – zu verstehen. Es gibt viele Fälle, bei denen der Selbstmord die letzte, extreme Maßnahme darstellt, um das Selbst vor Vernichtung, Scham, Schuld, unerträglichem Schmerz zu schützen. Die physische Existenz wird geopfert, um die Integrität des Selbst zu retten – so paradox es auch erscheinen mag. Die von Freud gemeinten Fälle gibt es unabhängig davon auch. So hat sich z. B. eine Frau an einer Stelle hinter der Eingangstür zur Wohnung aufgehängt, wo der 14-jährige Sohn, wenn er aus der Schule kommt, sie plötzlich sehen wird. Hier haben Aggressivität und Autoaggression ihren Höhepunkt erreicht. Dennoch überwiegt in den meisten Suizidfällen die narzisstische Dynamik – und damit der Versuch, das Selbst zu retten (vgl. Henseler, 1974)
11.7 Die Unterscheidung zwischen schweren (früher endogenen) und leichten (früher neurotischen oder reaktiven) Depressionen Die Unterscheidung zwischen einer leichteren (früher als »neurotisch«, heute oft als »minor depression« oder »Dysthymie« definierten) und einer schwereren (früher psychotisch oder endogen, heute »major depression« genannten) Depression stellt ein immer schon diskutiertes und bis heute noch nicht endgültig abgeschlossenes Thema dar. Die deskriptiven klassifikatorischen Systeme von DSM-IV und ICD-10 haben das Problem einfach durch die oberflächliche, formale Unterscheidung zwischen »leichten« (minor) und »schweren« (major) affektiven Störungen bzw. Depressionen »gelöst« (was ja fast tautologisch ist). Eine Unterscheidung, die mir sinnvoller erschiene und auch für die therapeutische Praxis nützlich wäre, sollte folgende zwei Aspekte berücksichtigen:
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a) Vom Neurobiologischen her implizieren die schweren, die psychotischen Depressionen eine stärkere Beteiligung und Beeinträchtigung der Funktion gewisser neuronaler Systeme, und dies sowohl aufgrund einer konstitutionell mitbedingten, aber wahrscheinlich auch aufgrund einer sekundären, nachträglich erworbenen und psychosomatisch entstandenen Prädisposition. b) Vom Psychodynamischen her könnte man mit guten Gründen die Unterscheidung aufgrund der Art, der Schwere, der Reife (oder der Unreife) der mobilisierten und jeweils im Vordergrund stehenden Abwehrmechanismen vornehmen. Unreife Abwehrmechanismen wären charakteristisch für die schweren, reife Abwehrmechanismen dagegen für die leichten (früher neurotisch genannten) Depression. Mit den Termini des Drei-Säulen-Modells könnte man der Anschaulichkeit halber dies so formulieren: Störungen, die die obere Hälfte der jeweiligen Säulen betreffen (die deswegen ontogenetisch die späteren bzw. reiferen Strukturen und Funktionen repräsentieren), gehören der leichteren (»neurotischen«) Depression an; solche, die die untere Hälfte der jeweiligen Säulen betreffen, wären die schweren, die major depressions. Warum auch hier die Hervorhebung des Abwehrmodus und nicht z. B. der Art des Konflikts? Die Art des Konflikts, des Traumas oder der sonstigen Belastung, die jeweils zu der Depression führen, kann deswegen nicht ein solches Unterscheidungsmerkmal sein, weil es sich sowohl bei den leichten als auch bei den schweren Depressionen um ähnliche Konflikte, Traumata und Belastungen handelt. Der Modus der Verarbeitung, die Massivität und die Unreife der mobilisierten Mechanismen sind es, die den beobachtbaren Unterschied ausmachen. Schweregrad des Konflikts und der Persönlichkeitsorganisation sind zwar auch von Bedeutung; was man aber direkt beobachten kann, ist der Modus. Von ihm ausgehend kann man die infrage kommende Ätiologie diskutieren. Wie sieht dies im Einzelnen aus? a) Eine leichte Depression aufgrund einer leichten Störung bei der Bildung des angemessenen, realistischen und relativ stabilen Ideal-Selbst (oberer Teil der rechten Säule) ist durch eine nur mäßige Labilisierung der Selbstwertgefühlregulation und durch nur diskrete kompensatorische Größenfantasien und/ oder hyperthyme Verhaltensweisen (abwechselnd mit Minderwertigkeitsgefühlen) charakterisiert. Dagegen wird eine schwere Form der Ideal-Selbst-Bildung sich als eine ausgeprägte narzisstische Krise mit Suizidalität oder umgekehrt als eine Manie mit (künstlicher) Selbstüberhöhung, also in beiden Fällen als eine affektive Psychose manifestieren (rechte Säule unten). b) Eine leicht gestörte Bildung des Ideal-Objekts und der angemessenen konstanten Bindung an es (betrifft die zweite Säule oben) würde sich klinisch z. B. als eine nur angedeutete Abhängigkeit und als ein (oft aggressivierter) Anspruch auf Versorgung, also als Passivität oder aber umgekehrt – im Fall der Abwehr und Verleugnung dieser Schwäche – als eine moderate Pseudounabhängigkeit zeigen.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Dagegen ist die schwere, psychotische Form der Depression – mit dem Schwerpunkt einer Störung der Beziehung zum internalisierten Objekt (wiederum die zweite Säule) durch eine massive Introjektion, durch dramatische Ambivalenz (Rückzug versus massive Anklammerung, Hass versus Liebe) – durch eine ausgeprägte Hilflosigkeit und/oder Anaklise charakterisiert. c) Schließlich ist eine Störung im Bereich der Über-Ich-Entwicklung und Reifung (repräsentiert in der linken Säule) durch einen Wechsel zwischen mäßig ausgeprägten Anklagen und Selbstvorwürfen, durch Leistungsbezogenheit und Überforderung charakterisiert. Bei der schweren, psychotischen Form (unterer Teil der linken Säule) dagegen treffen wir auf Versündigungsideen oder sogar Versündigungs- und Kleinheitswahn, Verzweiflung und Suizidalität sowie schwere masochistische Strategien, Selbstdestruktivität etc. Ein weiterer Vorzug des Drei-Säulen-Modells in Bezug auf die Depression besteht darin, dass es die von verschiedenen Schulen und Richtungen der Psychoanalyse im Laufe des 20. Jahrhunderts vorgeschlagenen Konzeptualisierungen der Depression in knapper Form zusammenfasst und integriert: So entspricht die in der rechten Säule repräsentierte Theorie der Depression im Wesentlichen der selbstpsychologischen Schule von Kohut und Nachfolgern. In der zweiten, in der mittleren Säule sind die Kernaussagen von der Objektbeziehungstheorie, von der Bindungstheorie, von der Freud’schen Betonung des Objektverlustes usw. enthalten. Schließlich werden in der dritten (linken) Säule die klassischen psychoanalytischen Vorstellungen und Theorien über die Bedeutung eines strengen Über-Ich für die Entstehung der Depression berücksichtigt.
11.8 Wo bleibt der depressive Konflikt? Das geschilderte Drei-Säulen-Modell eignet sich zwar sehr gut zur anschaulichen Darstellung der Unterschiede zwischen Ideal-Selbst, Ideal-Objekt und Über-Ich bzw. reifem Gewissen sowie zur Abgrenzung der jeweils damit zusammenhängenden Psychodynamiken. Es ist aber nicht dazu geeignet, um die so oft in der Depressionsdynamik wirksamen Konflikte sowie den Gegensatz zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Abwehrmechanismen präzise zu beschreiben. In dieser Hinsicht erweist sich das Bipolaritätsmodell (Näheres siehe Kapitel 21) als effizienter und praktisch relevanter.
Kapitel 12: Der depressive Konflikt und einige häufige Variationen der Depression
12.1 Ein weiterer im Drei-Säulen-Modell beschreibbarer Aspekt des depressiven Konflikts Bevor ich auf die Vorzüge des Bipolaritätsmodells bei der Beantwortung der Frage nach dem depressiven Konflikt eingehe, möchte ich auf einen letzten Vorzug des Drei-Säulen-Modells aufmerksam machen, der doch einen Konflikt betrifft. Es geht um einen oft zur Depression führenden, aber schwer beschreibbaren Konflikt, zu dessen einfacher Erfassung und Schilderung das Drei-Säulen-Modell sozusagen prädisponiert ist. Sehr oft kommt es nämlich zu einem Gegensatz, zu einem Konkurrieren zwischen dem gewünschten Selbstbild, dem Selbstideal einerseits und dem moralischen Anspruch des Gewissens, also dem reifen ÜberIch andererseits. Man möchte zwar einerseits, ob seiner Großartigkeit, Schönheit, Abstammung etc. bewundert, aber andererseits auch wegen seines pflichtbewussten Handelns, ob seiner Bescheidenheit, seiner Selbstaufopferung, seines sozialen Engagements anerkannt werden. Diese zwei Tendenzen können in Konflikt geraten. Dieser Konflikt ist zwar auch mit Hilfe des Bipolaritätsmodells (sebstbezogen versus objektbezogen) zu beschreiben, jedoch sozusagen eleganter als ein Konflikt zwischen der ersten (der rechten) und der dritten (der linken) Säule darzustellen. Viele Schriften von Léon Wurmser beschäftigen sich praktisch mit dieser oder einer ähnlichen Problematik. Ich kenne auch viele Fälle, bei denen diese »Konkurrenz der Säulen« zu einer Überforderung und somit zur Depression führt.
12.2 Der depressive Konflikt in Termini des Bipolaritätsmodells Zurück zum Bipolaritätsmodell. Es fokussiert auf die Gegenüberstellung eines Selbstpols und eines Objektpols und erfasst das Kernproblem bei denjenigen Depressionen, die einem Konflikt entspringen – was wahrscheinlich für die Mehrheit der Depressionen gilt, wenn auch nicht für alle. Ebenfalls wird im Bipolaritätsmodell der für die schwere, psychotische Depression charakteristische Konflikt bzw. das Dilemma gerade in der Gegenüberstellung mit dem schizophrenen Dilemma schärfer herausgestellt. Bei der Schizophrenie geht es um den Gegensatz, das Di-
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
lemma zwischen autonomer Selbstidentität versus Bindung und Vereinigung mit dem Objekt. Dagegen handelt es sich bei der schweren Depression – und bei der Manie – um den Gegensatz zwischen einer absolut selbstzentrierten, also einer extrem selbstbezogenen Selbstwertigkeit versus einer vom Objekt ebenfalls absolut abhängigen Selbstwertigkeit. In beiden Fällen, also sowohl bei der Schizophrenie als auch bei der Depression bzw. den affektiven Störungen überhaupt entsteht das Dilemma dort, wo die normale Balance zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit nicht erreicht wurde (vgl. auch Kapitel 17 über die Psychosen). An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, diese ziemlich allgemein und abstrakt gehaltene Definition des depressiven Konflikts mit Hilfe von drei kurzen Beispielen zu erläutern bzw. zu konkretisieren. Dabei geht es zunächst um die Psychogenetik – und nicht die Psychodynamik – des Konflikts, also die Art seiner Entstehung, und es geht auch um die Variationen der Entstehung des depressiven Konflikts. Erstes Beispiel: Der ca. 30-jährige erfolgreiche Computerspezialist suchte mich auf, weil er Angst hatte, er könnte wieder »das« bekommen, und damit meinte er, er könnte wieder in eine depressive Phase hineingeraten. Er hat in den letzten 15 Jahren mehrmals solche, nach seiner Beschreibung als mittelschwer zu bezeichnende, depressive Phasen mitgemacht und dabei sehr gelitten. Momentan, also als er mich zum ersten Mal besuchte, war er nicht depressiv; ihn beschäftige nur – er lacht dabei – eine andere Sache, er sei nämlich leidenschaftlich verliebt in eine junge Frau, mit der er täglich beruflichen Kontakt habe. Er habe bis jetzt nicht gewagt, ihr gegenüber seine Gefühle zu äußern, was allerdings bei ihm keine Seltenheit sei, weil er auf diesem Gebiet immer schon sehr zurückhaltend gewesen sei. Er habe Angst, abgewiesen oder später verlassen zu werden. In der nächsten Sitzung kam er und berichtete als Erstes, dass er es doch gewagt habe, aber er sei abgewiesen worden. Die Frau habe ihm zwar höflich, aber entschieden mitgeteilt, dass sie ihrerseits keine solchen Gefühle spüre. Ich war nun darüber verblüfft, dass der Patient ob dieser Abweisung nicht bedrückt, unglücklich oder sogar depressiv war, sondern umgekehrt, wie erleichtert und ruhig wirkte. Er hat mir meinen Eindruck bestätigt. Wir haben in dieser Stunde versucht, dieses eigentlich paradoxe Verhalten zu verstehen, und bald wurde deutlich, dass er zwar wegen dieser Abweisung etwas unglücklich, er aber auf der anderen Seite wegen des Ausbleibens der mit einer engen Beziehung einhergehenden unvorhergesehenen Gefährdungen erleichtert war. Sicherheit war ihm wichtiger. Nun zeigte sich, dass dies ein durchgehendes Verhaltensmuster in seinem Leben war und dass er dieses Prinzip nolens volens von seinen Eltern, besonders von seinem Vater übernommen hat, der immer Ordnung und Sicherheit den Vorrang gab. Der Patient hat im Laufe der Jahre gegen dieses Prinzip zu kämpfen versucht, was ihm aber nur im Sinne einer ebenfalls geordneten Zwischenlösung gelungen ist. Schließlich gelangten wir in der folgenden Sitzung zur Schlussfolgerung, dass er in diesem Gegensatz von Sicherheit einerseits und spontanem, freiem, aber auch risikoreichem, zumal emotional getragenem Verhalten andererseits hin und her schwankte und dass wahrscheinlich seine Depression,
Kapitel 12: Der depressive Konflikt
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wenigstens teilweise, mit diesem Rückzug und seiner Selbsteinschränkung in diese sichere, aber erzwungene Position zusammenhing. Die von den Eltern übernommenen und zum Teil internalisierten Normen standen in einem dauerhaften Konflikt zu seinen eigenen, also selbstbezogenen Wünschen, Träumen, Fantasien und Sehnsüchten, die er immer zurückstellen musste. Zweites Beispiel: Der 55-jährige Wirtschaftsexperte hatte, als er mich aufsuchte, eine Reihe von depressiven und manischen Phasen hinter sich, er litt also unter einer bipolaren Störung. Die letzte Manie lag sechs Monate und die letzte Depression zwölf Monate zurück. Er habe zwar eine erfolgreiche berufliche Karriere hinter sich, dies war jedoch nur mit extremen Leistungsanstrengungen möglich gewesen, Anstrengungen, die durch eine entsprechend zwingende Delegation von Seiten seiner Eltern motiviert wurde und die er immer schon als große Last empfunden hat. Seine Erfolge haben ihn zwar immer wieder, aber nur kurzfristig und vorübergehend, glücklich gemacht, in Wirklichkeit glaubte er, dass er ein potenzieller Versager sei. Seine depressiven Phasen bekam er übrigens fast regelmäßig in Situationen, wo die von ihm erwartete und sonst regelmäßig auftretende positive Spiegelung und Bewunderung seiner Umgebung ausblieb. Er war also in Bezug auf seine narzisstische Homöostase sehr vom »Import«, von der narzisstischen Zufuhr abhängig. Im Gegensatz zum ersten Fall war in der Familie keine Belastung mit affektiven Störungen festzustellen. Drittes Beispiel: Ein 50-jähriger, ebenfalls erfolgreicher Akademiker suchte mich auf, weil er seit langem, eigentlich schon seit seiner Kindheit, unter einer unterschwelligen Ängstlichkeit und unter häufigen depressiven Verstimmungen litt. Er hatte immer Angst, schon als Kind und in der Schule, dass er den Erwartungen seiner Mutter nicht gewachsen sei, und dies, obwohl er in Wirklichkeit ein sehr guter Schüler war und auch ein Universitätsstudium glatt absolviert hatte. Vor einigen Jahren unterbrach er seine früheren, ohnehin sehr spärlichen Kontakte mit der Mutter, und zwar wegen dieser unterschwelligen Spannung zwischen ihm und ihr. Im Laufe der begonnenen Psychotherapie und als es ihm richtig bewusst wurde, warum er auch als erwachsener und erfolgreicher Mensch diese Ängstlichkeit und Depressivität beibehielt, gelang es ihm, die Missverständnisse und die in der Zwischenzeit entwickelten Circuli vitiosi in der Beziehung zu der Mutter zu unterbrechen und zum ersten Mal nach mehreren Jahren wieder eine gute Beziehung aufzunehmen. Er fühlte sich befreit und hat auch seine Symptome verloren. In deskriptiver Hinsicht würde man in der ICD-10 beim ersten Fall von einer mittelschweren, beim zweiten Fall von einer schweren bipolaren Störung und bei dem letzten Fall von einer leichten Depression sprechen. Über diesen formalen und wenig ergiebigen Gesichtspunkt hinaus ermöglichen uns der psychogenetische Hintergrund und die psychodynamische Einsicht in einen in allen drei Fällen vorhandenen chronischen Konflikt nicht nur ein vertieftes Verständnis, sondern auch eine psychodynamische Differenzierung. Zwar ist der Konflikt in den drei Fällen in gewisser Hinsicht ähnlich, aber nicht identisch. Im ersten Fall ging es um Sicherheit versus Freiheit bzw. Rückzug versus
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Lebendigkeit und Freiheit in der Bindung mit dem Objekt. Im zweiten Fall ging es um leistungsbezogenes und somit mühsam erworbenes Selbstwertgefühl versus von der Spiegelung und Bewunderung der Umgebung abhängiges (also objektbezogenes) und somit labiles und gefährdetes Gleichgewicht. Im dritten Fall ging es um sklavische Unterwerfung unter das missgünstige internalisierte Objekt (Über-Ich) versus Sehnsucht nach Freiheit und selbstbestimmte Wertigkeit. Nach dieser Erläuterung des Gegensatzes zwischen dem Selbstbezogenen und dem Objektbezogenen in Bezug auf die Entstehung und die Psychogenetik des Konflikts komme ich jetzt erneut zu der aktuellen Psychodynamik insgesamt, also zu dem aktuellen klinischen Bild, welches maßgebend von den involvierten defensiven Mechanismen bestimmt wird, die – und dies erscheint mir sehr wichtig – mal mehr selbst- oder mal mehr objektbezogen sein können. Hier lassen sich also Variationen feststellen, die eben von diesem Unterschied abhängig sind. Diese Reihe der möglichen Ausformungen der Auseinandersetzung mit dem Konflikt ermöglicht einen guten Überblick über die einzelnen Variationen der Psychodynamik, die bemerkenswerterweise meistens den klinischen Bildern entsprechen, die schon seit langem deskriptiv innerhalb der Psychiatrie beschrieben worden sind. Während aber diese psychiatrischen klinischen Bilder wie zufällige Cluster von Symptomen erscheinen, stellen die entsprechenden Psychodynamiken Variationen der Beantwortung desselben Problems dar. Je nach Art der mobilisierten Abwehrmechanismen resultieren also die unterschiedlichen psychodynamischen Variationen der Depression. Übrigens erscheinen viele psychoanalytische Beiträge zur Depression wahrscheinlich etwas einseitig und »monolithisch«, weil sie nicht dieses ganze Spektrum der möglichen Variationen berücksichtigen und meistens nur auf eine der vorkommenden Psychodynamiken fokussieren. Wie sieht diese zusätzliche Differenzierung nun im Einzelnen aus? Die Manie und die früher sogenannte »endogene« Depression (heute: schwere affektive Störung) sind die Hauptvertreter der extremen Positionen der psychotischen Pseuolösungen des depressiven Konflikts. Doch praktisch relevanter sind die dazwischenliegenden kompromisshaften Formationen, weil sie, nicht nur durch ihre große Häufigkeit, sondern auch durch ihre – weiter unten zu diskutierenden – Besonderheiten ungünstige Gegenübertragungsreaktionen hervorrufen. Gemeint sind einmal die gereizt aggressivierten, überkritischen, anklagenden Haltungen vieler depressiver Patienten einerseits und umgekehrt die sogenannten masochistischen depressiven Patienten andererseits, wobei das »Masochistische« von mir als eine defensive Strategie und nicht als der Ausdruck eines masochistischen Triebes (wie in der früheren Psychoanalyse) aufgefasst wird (diesbezüglich siehe auch Kapitel 12.5 und 12.6 über den masochistischen Modus). Zwar bewegen sich die aggressivierten, depressiven Patienten mehr in der Nähe des Selbstpols (nach dem Bipolaritätsmodell bedienen sie sich eines selbstbezogenen Mechanismus) und die masochistisch gefärbten Bilder liegen mehr in
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der Nähe des Objektpols; dennoch enthalten beide auch Elemente des anderen Pols und das ist der Grund, warum ich sie in die kompromisshaften Variationen der Konflikt- und Traumaverarbeitung in der Depression einreihen würde. Diese zwei Formen, die aggressivierte und die »masochistische« Depression, sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden, weil sie therapeutisch am schwersten angehbar sind. Bei dieser eingehenderen Betrachtung zeigt sich übrigens (was mir erst nachträglich bewusst wurde), dass die erste, die aggressivierte Depression auf selbstbezogenen defensiven Mechanismen beruht, während die zweite, die masochistische, die mit der Unterwerfung unter das Objekt »arbeitet«, sich offensichtlich einer objektbezogenen Abwehr bedient. Der aggressivierte Depressive versucht durch die Aggression und Kritik des Anderen den drohenden Zusammenbruch seiner Selbstwertigkeit zu vermeiden. Der masochistisch Depressive wiederum versucht durch Unterwerfung und Selbstkritik das ÜberIch zu versöhnen und somit die drohende Verurteilung abzuwenden.
12.3 Die gereizte, aggressivierte Depression Die Patienten mit der überkritischen, aggressivierten depressiven Haltung »bombardieren« regelrecht ihre Umgebung und den Therapeuten mit Klagen und Anklagen. Dieses Verhalten, das in leichteren Formen sich als ein relativ harmloses, aber irritierendes ständiges »Meckern« über alle möglichen Umstände und Personen äußert, steigert sich bei den schwereren Formen bis zu ernsthaften Anschuldigungen gegen den Partner, die Behörden, die Ärzte, den Therapeuten. Es ist kaum möglich, auf normalem psychologischem Wege dieser Haltung beizukommen, ohne schließlich die Geduld und die Bereitschaft zur sachlichen Hilfe zu verlieren. Die Patienten scheinen mit nichts zufrieden, lassen sich auch nicht zufrieden stellen. Auch eindeutige, für sie günstige Vorschläge und Lösungen werden meistens allenfalls zögernd hingenommen. Dies alles erzeugt selbstverständlich auf die Dauer nicht nur recht ungünstige Gegenübertragungsgefühle, sondern auch agierende Gegenübertragungsreaktionen, die die therapeutische Situation noch mehr belasten, weil sie nunmehr dem Patienten sozusagen Beweise zur Rechtfertigung seiner Anklage liefern. Eine Linderung dieser für Patienten und Therapeuten unerträglichen Konstellation kann unter Umständen dadurch erreicht werden, dass der Therapeut die Psychodynamik dieses kritisierenden, gereizt-aggressiven, jammernden, anklagenden Verhaltens des Patienten rechtzeitig versteht und dadurch zunächst seine Gegenübertragung mildern und dann auch abbauen kann. Dieses Verständnis seitens des Therapeuten besteht im Begreifen der Funktion dieser durch ihre Hartnäckigkeit und häufige Grundlosigkeit irritierenden und verärgernden Aggressivität: Es ist zu vermuten, dass die Aggressivität den Versuch der Kompensierung und Abwehr einer drohenden Depressivität darstellt. Diese drohende Depressivität erwächst aus einer bestehenden oder drohenden Herabsetzung des Selbstwertgefühls und der
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Zukunftsperspektive für ein »sinnvolles« Leben (die häufigste verzweifelte Frage des in die Depression sinkenden Menschen an den Therapeuten ist: Wofür, für wen, aus welchem Selbstgefühl und mit welcher Zielsetzung soll ich weiter leben?). Gegen das fatale Abgleiten in eine solche depressive Dekompensation voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit schützt nun in gewissem Ausmaß das chronisch aggressivierte Verhaltens- und Erlebensmuster, erstens indem sich der Patient mittels Verurteilung des Anderen (oder der Welt) in eine bessere Position hebt; zweitens dadurch, dass er anstelle der hoffnungslosen Passivität eine, wenn auch gequälte, Aktivität produziert, die eine potenzielle positive Veränderung verspricht; drittens dadurch, dass der Patient jene beim Abgleiten in die Depression fast regelmäßig auftauchende Tendenz zur Selbstanklage und zu Selbstvorwürfen mit Hilfe dieser Wendung der Anklage nach außen konterkariert und im Voraus abwehrt. Diese Zusammenhänge sollen dem Patienten nicht gedeutet werden. Dies wäre falsch. Aber folgendes Positivum ergibt sich aus diesem Verständnis für den Therapeuten: Gelingt es ihm nämlich, dieses unangenehme und irritierende Verhalten des Patienten auf diese Weise für sich zu verstehen und dadurch der negativen Gegenübertragung zu entrinnen, vermeidet er erstens einen Circulus vitiosus, der darin besteht, dass der Patient einen Grund mehr hat, aggressiv zu sein, wenn nämlich der Therapeut selbst aggressiv wird. Zweitens: Diese Einsicht erlaubt dem Therapeuten, der Tendenz und der Versuchung zu widerstehen, durch eine – naheliegende – belehrend verurteilende, moralische Bemerkung zu dieser Aggressivität den Patienten noch mehr in seinem Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Drittens findet der Therapeut durch das Verständnis der Psychodynamik die Kraft, diesen aggressiv anklagenden Patienten adäquat (d. h. weder aggressiv noch submissiv sich unterwerfend) zu begleiten. Das bedeutet, dem Patienten zu signalisieren und ihn spüren zu lassen, dass sein Therapeut bemüht ist, hinter dieser Fassade und diesem Sturm der Anklagen die eigentliche Not des Patienten zu begreifen. Erst auf diesem Weg hat der Therapeut eine Chance, bei diesen therapieresistenten Fällen dem Patienten zu helfen, sich aus diesem Teufelskreis zu befreien. Aber was steckt hinter dieser Fassade der Aggression? Meine Konzeption zur Erfassung der Psychodynamik der agitierten, aggressivierten Depression steht in einigen wichtigen Punkten im Gegensatz zu der herrschenden psychoanalytischen Auffassung. Letztere betrachtet die voll entwickelte Depression als das Resultat einer massiven Unterdrückung der triebhaften Aggression. Die relativ gering ausgeprägte depressive Symptomatik bei der aggressivierten Depression sei eben – so jene psychoanalytische Auffassung – auf diese hier erfolgte Entlastung und Ausdrucksgebung der Aggression zurückzuführen. Je stärker die manifeste Aggression, desto geringer werde die Depressivität. Deswegen versucht man auch die versteckte und verdrängte, noch nicht ausgedrückte Aggression bewusst zu machen, in der Hoffnung, dass dadurch die Depression sich bessern wird. In meinem Modell wird dagegen diese – als objektiver Befund richtige – Beobachtung der Reduzierung der Depressivität durch die Aggressivität anders, fast
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umgekehrt erklärt: Das ursprüngliche »Hauptübel« ist nach meiner Auffassung nicht die primäre Aggression und ihre Unterdrückung, sondern die drohende Herabsetzung des Selbstwertgefühls, und zwar durch die konfliktbedingte Blockierung der eigenen autonomen Entwicklung, durch Kränkung, durch den Verlust eines für die narzisstische Homöostase wichtigen Objekts oder durch ausbleibende narzisstische Zufuhr. Gegen diese Beeinträchtigung des Selbstwerts wird dann aggressives, kritisierendes Anklagen als kompensierende, abwehrende Strategie aktiv eingesetzt. Die Aggression ist also nicht eine sinnlos produzierte und aufgestaute Energiemenge und sie ist nicht das Primäre, sondern eine durch den inneren Konflikt (an zweiter Stelle auch durch äußere Bedingungen) ständig reproduzierte Frustrationsaggression. Diese wird zwar zunächst unterdrückt und verdrängt, da sie für sich und für das Objekt gefährlich ist; auf die Dauer kann sie jedoch nicht zurückgehalten werden, sie macht sich auf verschiedene Weise bemerkbar, sei es als Wendung nach innen (autodestruktiv) oder als indirekte passive Aggressivität (die man bei den meisten Depressiven irgendwo als eine unausgesprochene Feindseligkeit spürt) oder schließlich in der Form der aggressivierten Depression. Diese Aggression ist jedoch nicht die aus einer Befreiung vom Über-Ich stammende Feindseligkeit gegen den hauptsächlich inneren Feind, also das böse internalisierte Objekt – was ja einen Fortschritt in Richtung Autonomie bedeuten würde! Sie ist eine Aggression gegen beliebig aufgebaute und zum Teil auch stark konstruierte Angriffsziele. Die darauf folgende Entladung von Aggression bedeutet für den Patienten zwar eine relative Erleichterung, die jedoch, weil sie nur einen Ersatz für die echte Befreiung von der Sklaverei des Über-Ich darstellt, vorübergehend ist und sich ständig wiederholt, so dass schließlich eine suchtartige Ausweitung resultiert (das Wort »Streitsucht« scheint hier teilweise das Richtige zu treffen). Ein solches Verständnis entspricht der psychischen Realität des Patienten und hat auch folgende praktische Nützlichkeit: Der Therapeut fokussiert nicht seine Aufmerksamkeit auf die Aufdeckung und Deutung der Aggression, die ohnehin dem Patienten – in dieser umfunktionierten Form – bewusst ist. Der Therapeut wird den Patienten nicht mit dessen Aggression konfrontieren, sondern nur mit der Frage, woher denn diese Aggression komme und wozu sie womöglich früher notwendig und nützlich gewesen sein mag. Eine solche »Positivierung« der Aggression und eine solche Analyse ihrer ursprünglichen Funktion wird in vielen Fällen zu einer positiven Veränderung der intrapsychischen Dynamik beim Patienten führen, die letztlich die potenzielle Depressivität reduziert und auch die Aggressivität erübrigt.
12.4 Die masochistische Variation der Depression Die der aggressivierten entgegengesetzte Pseudolösung der depressiven Problematik kann innerhalb des Bipolaritätsmodells als ein mehr objektbezogener
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Abwehrmodus bezeichnet werden, weil hier die Unterwerfung unter das Objekt und die Vernachlässigung oder sogar systematische Blockierung der Befriedigung eigener Bedürfnisse und Interessen im Vordergrund stehen. Dieser bemerkenswerte Widerspruch zum Lust-Unlust-Prinzip, ein Widerspruch, der schon Freud intensiv beschäftigt hatte, wird im Folgenden genauer eruiert und analysiert. Hier geht es zunächst lediglich um die Beteiligung des masochistischen Modus bei der Ausformung bestimmter, recht häufiger depressiver Zustände, die in therapeutischer Hinsicht ernsthafte und schwer überwindbare Probleme bieten. An dieser Stelle bespreche ich noch nicht die schwer depressiven (früher endogen genannten) Bilder, die mit solchen massiven Symptomen wie Versündigungswahn, Kleinheitswahn oder sogar massiven selbstdestruktiven Handlungen wie Selbstverletzungen oder Selbstmord einhergehen und die man auch masochistisch nennen muss. Diese Formen werden uns im Kapitel 17 über die Psychosen beschäftigen. Hier handelt es sich um die viel häufigeren, feineren Formen von »masochistischen« Strategien, die ebenfalls wie die aggressivierte Depression, aber in umgekehrter Weise, zu einer Milderung und Abwendung einer drohenden Depression beitragen. Bei der masochistischen Pseudolösung des depressiven Konflikts wird die Schuldentlastung, die notdürftige Stabilisierung des Selbstwertgefühls, die Wiederherstellung einer abgebrochenen Bindung und Beziehung durch die vorwegnehmende und selbst initiierte Übernahme von Schuld, Leid, Strafe oder durch Selbstverkleinerung angestrebt. Die verschiedenen Gesichter, die eine solche masochistisch gefärbte Psychodynamik annehmen kann, variieren sehr. Häufig trifft man eine hartnäckige, wie fast absichtlich herbeigeführte Aneinanderreihung von – angeblichen oder tatsächlichen – Misserfolgen oder auch ganz einfach eine unbewusste systematische Weigerung, jene, im Leben auch anfallenden, positiven Chancen auszunutzen und zu verwerten. Dies kann verschiedene Gründe haben. Es kann damit zusammenhängen, dass der Betreffende sich mit einer für ihn wichtigen Person verbunden fühlt, die unglücklich, depressiv, vom Schicksal geschlagen oder durch eine psychische Störung gehandicapt ist. Diese Konstellation trifft man z. B. bei Töchtern von depressiven Müttern. In einem solchen Fall kann unser Patient es sich sozusagen nicht leisten, den leidenden Partner, die eigene Mutter oder den eigenen Vater zurückzulassen. Der Patient hat das Gefühl, er würde, wenn er es täte, über Leichen gehen, er darf nicht auf diese Weise »rücksichtslos« sein. Aufgrund dieser Loyalität bleibt er in einem Zustand der chronischen Subdepressivität und des Unglücklichseins. Man kann fast sagen, er darf nicht glücklich sein. Zwar leidet er sehr darunter; der neurotische Gewinn aber besteht darin, dass er dadurch eine schwere Schuld und insbesondere eine sehr schmerzliche Trennung, die er nach seinem subjektiven Empfinden nie hätte überstehen können, für alle Zeiten meidet. Hier ist also die Angst vor einem unerträglichen Schmerz und einer damit potenziell verbundenen unermesslichen Depressivität, die dazu führt, dass der Patient durch diese Identifikation mit dem leidenden Objekt in einem Zustand
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der chronischen Selbstdepressivität verharrt. Von außen gesehen wird ein solches Verhalten als unbegründet und eigenwillig, irrational und selbstschädigend empfunden oder sogar tatsächlich als »masochistisch« (hier eher im pejorativen Sinne des Wortes) bezeichnet; in Wirklichkeit handelt es sich um eine Strategie mit der beschriebenen Abwehrfunktion, die ihre eigene Logik hat. Andere depressiv-masochistische Zustände beruhen auf einer Psychodynamik, die mit der – unter Umständen sich wiederholenden – Reinszenierung von negativen biografischen Konstellationen und damit zusammenhängenden Leidenszuständen in Verbindung stehen. So trifft man z. B. häufig auf Menschen, die sich wiederholt wegen Unverträglichkeit mit dem Partner scheiden lassen, um dann bald wieder denselben oder einen ähnlichen Menschen zu heiraten, wobei jeweils der neue Partner unbewusst nach einem bestimmten Muster (das zu der Reinszenierung passt) gesucht, gefunden bzw. ausgewählt oder sogar in die Richtung gedrängt und manipulativ beeinflusst wird. Die ungünstige, unglückliche Entwicklung der jeweils neuen Beziehung ist sozusagen vorprogrammiert. Hatte dieser Mensch in seiner Kindheit eine unglückliche, problematische Beziehung zu der eigenen Mutter oder zu dem eigenen Vater und hat er oder sie diese Mutter oder diesen Vater als hart, uneinfühlsam, »schwierig« usw. erlebt, so sucht er – nur scheinbar paradoxerweise – einen Partner mit zum Teil ähnlichen Charakterzügen. Dies geschieht entweder, weil der Patient dieses negativ besetzte Objekt trotz allem nicht aufgeben kann oder aus folgendem Grund: Der jeweils neue Partner wird so gewählt, dass er in der Fantasie des Betreffenden »umzumodeln«, also potenziell »verbesserungsfähig« wäre! Solche Partner werden aufgrund des starken Wunsches des Patienten nach dieser Wiedergutmachung des damaligen Unglücks aus der Kindheit bevorzugt; sie werden bemerkenswerterweise anderen, unproblematischen, freundlichen potenziellen Partnern vorgezogen. Als ob die Wiedergutmachung der damals erlittenen Kränkung oder Trennung nur dann möglich, ausreichend und »echt« wäre, wenn es gelänge, gerade diesen »schwierigen« Menschen für eine gute, harmonische Beziehung zu gewinnen; also, wenn es gelänge, das damalige negative Bild der Mutter und des Vaters bzw. die damit verbundenen negativen Beziehungserfahrungen nur auf diesem Weg rückgängig zu machen. Es handelt sich also zwar um Reinszenierungen des negativen Damaligen, aber offenbar mit der illusionären Hoffnung, dass diesmal alles anders, also gut ausgehe. Solche Prozesse und Sequenzen hat Freud mit dem Konzept des Wiederholungszwangs, den er vom Todestrieb ableitete, zu erfassen versucht. Ich glaube, dass diese Verknüpfung des Phänomens mit einem Zwang oder gar mit dem angeblichen Todestrieb ein unnötiger Umweg und eine unnötige metapsychologische Verkomplizierung war: Solche sich hartnäckig im Leben eines Menschen wiederholenden und masochistisch anmutenden Muster lassen sich einfacher unter Berücksichtigung des starken Wunsches nach einer nachträglichen Rückgängigmachung schmerzhafter Erfahrungen durch die geschilderten Inszenierungen erklären, wenn sie sich auch leider meistens als fatal erweisen.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Insgesamt lässt sich sagen: Solche aggressiven, sadistischen oder umgekehrt masochistischen Verarbeitungen der drohenden depressiven Dekompensation (also des Zusammenbruchs des Selbstwertgefühls, der Sinngebung usw.) sind recht häufig und machen einen großen Teil der Symptomatik und – psychoanalytisch betrachtet – der kompromisshaften Pseudolösungen bei den nichtpsychotischen Depressionen aus. Im Kapitel über die affektiven Psychosen bzw. die schweren affektiven Störungen, wie man sie heute nennt, werden uns andere, nämlich die psychotischen Formen von Kompromisslösungen des depressiven Konflikts begegnen; z. B. die Mischung oder das Alternieren zwischen Depression und Manie oder die »Mischzustände« (der älteren psychiatrischen Literatur) oder die »modernen« bipolaren Störungen. Alle diese psychotisch affektiven Störungen beruhen zwar auf einer ähnlichen Problematik wie diejenige der leichteren, früher neurotisch genannten Depressionen. Bei den Psychosen sind aber die involvierten Abwehrmechanismen deutlich unreifer und in der Pathogenese sind biologische, zum Teil vorgegebene Faktoren von Bedeutung (vgl. Kapitel 19.6 über die Psychosomatosen des Gehirns).
12.5 Der masochistische Modus außerhalb der Depression Das im vorigen Abschnitt über masochistische Depressionsvariationen Geschilderte erschöpft bei weitem nicht die Thematik des sogenannten Masochismus, also der masochistischen Strategien im Allgemeinen. Dort ging es nur um die spezielle Verwendung solcher Strategien innerhalb der Abwehr der Depression, d. h. der mit der Selbstwertreduzierung und dem Objektverlust zusammenhängenden unerträglichen intrapsychischen Spannungen und seelischen Schmerzen. Masochistisches trifft man aber sehr häufig auch außerhalb dieses Bereiches der manifesten oder abgewehrten Depressivität.
12.6 Definitorische und historische Vorbemerkungen zum sogenannten Masochismus Der Terminus »Masochismus« wurde vom Krafft-Ebing (1890) zur Beschreibung eines sexuellen Verhaltens, bei dem die Lust am Schmerz im Vordergrund steht, geprägt, und zwar anlässlich der Beschreibung von Erlebens- und Verhaltensweisen im Leben und Werk des Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895). Die ursprünglichen neuronalen Erklärungsversuche – Steigerung der sexuellen Erregung durch parallele Innervation der Schmerzfasern – trat bald zugunsten der Annahmen zurück, die die Fantasie in den Vordergrund stellten. Diese Fantasie, zumal die Lust beim Masochismus, ist nicht so sehr an das körperliche Geschehen, sondern mehr an die Unterwerfung und Demütigung gebunden. Zwar ent-
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spricht die Kulmination eines solchen Verhaltens der regelrechten Perversion, also dem erogenen Masochismus (bei dem sexuelle Lust nur unter dem gleichzeitigen körperlichen oder psychischen Leiden möglich ist); dennoch sind die nichtsexuellen Formen masochistischen Erlebens und Verhaltens viel häufiger und in die Psychodynamik vieler anderer psychischer Störungen involviert. Dieser von Freud moralisch genannte Masochismus wurde von ihm zunächst in Verbindung mit der Abwehr oder Kompensierung eines Schuldgefühls gesehen. Nach 1920 aber, also nach Entstehung der Todestriebtheorie, führte Freud das Postulat des primären Masochismus ein, der als eine Mischung aus selbstdestruktiven Tendenzen und Libido entstehe. Der Sadismus sei dagegen sekundär und entstehe durch Wendung des Masochismus nach außen, also auf andere Objekte. Im Gegensatz zum primären Masochismus gebe es nach Freud auch einen sekundären Masochismus, bei dem die Aggression wiederum nach innen gerichtet werde. Die Mehrheit der Psychoanalytiker konnte Freud bei dieser komplizierten und recht hypothetischen metapsychologischen Konzeptualisierung und Postulierung eines masochistischen Triebs nicht folgen. Die Annahme der zentralen Bedeutung von Schuldgefühlen (die der ursprünglichen Auffassung Freuds entsprach) gewann dagegen zunehmend an Glaubwürdigkeit. Innerhalb der selbstpsychologischen Richtung, die die destruktive Aggressivität als eine Reaktion auf frühe nicht erfüllte Entwicklungsbedürfnisse betrachtet, wird auch der Masochismus, wie ja auch die Aggression, nicht aus einem ursprünglichen Trieb heraus erklärt, sondern als eine Wiederholung der in der frühesten Kindheit erlebten Gewalt, und zwar in dem Sinne, dass das Schmerzerleben immer noch besser sei, als keine Empfindung zu haben; also besser, als das Alleingelassen werden.
12.7 Eine übergreifende psychodynamische Definition des sogenannten Masochismus Der masochistische Modus, die masochistischen Strategien kommen in ihren differenzierteren und nicht sofort als solche erkennbaren Formen sehr häufig vor. Sie stehen im Dienste verschiedener pathologischer Verarbeitungsweisen von Konflikt und Trauma. An erster Stelle geht es durchaus um die Abwehr und Kompensierung von Schuldgefühlen, also um das Hinnehmen von Leid gleichsam als Strafe und Sühne, um sich von der Last des Schuldgefühls zu befreien. Dies dürfte allerdings nicht so verstanden werden, dass solche Schuldgefühle immer schon vorexistierten. Oft geht es um eine der Entstehung von Schuldgefühlen vorbeugende Strategie oder noch häufiger um ein unbewusstes Sammeln, Zusammentragen oder sogar um ein unbewusstes Produzieren von Schmerz und Leid. Dies alles, um sozusagen einen Vorrat von Erlittenem anzuhäufen zwecks einer vorbeugenden moralischen Verteidigung gegen potenzielle zukünftige Anklagen des Über-Ich. Schon meine etwas merkwürdige und »gequälte« Formulierung
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
zeigt, wie schwierig es ist, das hier Gemeinte klar zu beschreiben. Es ist aber wichtig für den Therapeuten, ein differenziertes Konzept über solche feinen Verwicklungen der masochistischen Strategien zu besitzen, um seine Patienten, bei denen häufig solche Strategien anzutreffen sind, richtig zu verstehen. Es geht übrigens nicht nur um Schuldgefühlkompensierung (sei es nachträglich oder vorwegnehmend), sondern auch um viele andere Bedürfnisse und dazu gehörende Funktionen solcher Strategien. Es wird z. B. oft nicht nur eine Versöhnung mit dem Über-Ich angestrebt, sondern sich auch bemüht, die Zuwendung vom Objekt zu sichern oder sogar einen drohenden Objektverlust abzuwenden (vgl. dazu das Kapitel 23.3 über das Über-Ich-Konto). Auch zufällig anfallende körperliche Verletzungen und Krankheiten können in diesem Sinne verwertet, d. h. zur Verhinderung einer drohenden Trennung, eines Verlassenwerdens instrumentalisiert werden. Der Andere soll Schuldgefühle bekommen, wenn er einen verlässt, dem es so schlecht geht und der so leidet aufgrund des erlittenen Traumas, Unglücks, Unfalls. In anderen Fällen erhält das Selbstdestruktive eine aggressive Funktion und dient der Bestrafung des frustrierenden Objekts. Nicht selten kommt es z. B. bei Jugendlichen zu einer negativen Identifizierung, etwa mit der eines Versagers oder »schlechten« Menschen, um dadurch indirekt die Eltern zu treffen, um sie zu bestrafen. Hier dient der Misserfolg in der Schule oder im Beruf, das Dick- und Hässlich-Sein oder Drogenabhängig-Werden usw. der indirekten Bestrafung der Eltern (»wenn Ihr mich nicht liebt, so lasse ich meine Hände erfrieren«). Dass dabei ein solcher Jugendlicher gleichzeitig sich selbst am meisten schädigt, führt nicht dazu, dass er seine Taktik ändert. Diese Selbstschädigung hat übrigens eine weitere Funktion, weil sie auch die Strafe für das aggressive/ selbstdestruktive Verhalten enthält (z. B. den Eltern gegenüber, die ja durch das herbeigeführte Versagen schwer getroffen werden) und somit potenzielle Schuldgefühle vorweg neutralisiert. Noch massivere selbstdestruktive Handlungen, wie z. B. das sich selbst Schneiden (das der Patientin wenigstens zunächst eine große Erleichterung von einer extremen intrapsychischen Spannung verschafft), dient nicht nur der Schuldentlastung, sondern auch dem Ziel, die eigenen Grenzen zu erfahren, das fließende warme Blut als Trost und wohltuende Berührung zu empfangen usw. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die innerhalb der Psychoanalyse aufgedeckte Funktion der Schuldentlastung beim Masochismus zwar sehr treffend erfasst wurde, dass man aber damit nur einen speziellen Aspekt durchschaute. In Wirklichkeit hat die masochistische Strategie auch viele andere Verwendungen. So wird mit dem masochistischen Modus Schmerz und Leiden als ein wertvolles Kapital gesammelt und zur Stabilisierung der Selbstwertregulation, zur Stärkung der Identität, zur vorwegnehmenden Regulierung des Umgangs mit dem eigenen Über-Ich usw. verwendet. Alle diese Funktionen machen sich übrigens auch im Grenzbereich zum sogenannten Normalen bemerkbar, besonders auch in vielen, für bestimmte Kulturen wichtigen Ritualen: von der
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Opferung von Tieren bis zur Opferung der eigenen Kinder (um die Götter zu versöhnen) und von der kollektiven Selbstpeitschung im Mittelalter bis zum rituellen Fasten. Die durch die masochistischen Strategien erreichte Milderung der intrapsychischen Spannung und die Befreiung von vorhandenen oder drohenden Schuldgefühlen ist so durchschlagend und »erfolgreich«, dass es dabei leicht zu einer süchtigen Entwicklung kommen kann. Da diese Ersatzaktionen das eigentliche Problem nicht lösen, muss der Betreffende die Dosis erhöhen. Es gibt bemerkenswerte Formen solcher Extremisierung von Perversionen, die sich bis zur Selbstkastration oder sogar zum Anbieten des eigenen Körpers zum Verzehr erstrecken (wie in dem 2005 bekannt gewordenen erschütternden Fall von Kannibalismus auf Wunsch des Opfers). Hierbei handelt es sich freilich um seltene, extreme Fälle (die allerdings nach neuesten Angaben offenbar doch nicht so selten sein sollen). Viel wichtiger für den praktizierenden Psychotherapeuten ist aber die Tatsache, dass feinere, kaum als solche sichtbare masochistische Mechanismen, nicht nur bei vielen Depressionen, sondern auch bei anderen psychischen Störungen eine sehr zentrale Rolle spielen. Sie sind meistens auch der Grund für die Hartnäckigkeit und die Therapieresistenz der Symptomatik. Die sogenannte negative therapeutische Reaktion, bei der eine Besserung in der Therapie prompt von einer Verschlechterung gefolgt wird, ist wohl als Folge einer masochistischen Strategie zu verstehen: Es darf dem Patienten nicht gut gehen. Aber es gibt viele andere, außerhalb der Therapie beobachtbare Sequenzen, bei denen eine gute, günstige Entwicklung im Leben des Betreffenden plötzlich gestoppt und ins Gegenteil, ins Negative, in den Misserfolg gewendet wird. Ein von mir behandelter depressiver Patient sagte mir eines Tages: Wenn er Gutes, Freundliches, Fürsorgliches von seiner Umgebung erfährt, so werde es ihm eigenartig unangenehm zumute, er bekomme leichte Angst und werde auch verunsichert; etwas stimme nicht! Die Umgebung, die Welt insgesamt muss also bei diesem Patienten unfreundlich, negativ, böse sein, damit die inzwischen habituelle Regulation des Selbstwertgefühls über eigenes Leid möglichst stabil und in dieser Form aufrechterhalten bleibt. Die direkte Deutung solcher Zusammenhänge dem Patienten gegenüber ist meistens nicht möglich und nicht ratsam. Gerade weil es sich um eine richtige Deutung handelt, »darf« sie vom Patienten nicht angenommen und verwertet werden, denn das würde wiederum der masochistischen Taktik widersprechen und ihre Funktion sabotieren. Es ist aber sinnvoll und erforderlich, dass der Therapeut zunächst einmal für sich selbst ein klares Konzept über diese Zusammenhänge zur Verfügung hat. Er wird dann im individuellen Fall und zum richtigen Moment eine Möglichkeit finden, zusammen mit dem Patienten diesen Teufelskreis zu unterbrechen oder wenigstens mit dem allmählichen Abbau dieses Circulus vitiosus zu beginnen.
Kapitel 13: Persönlichkeitsstörungen (allgemein)
13.1 Warum eine neue diagnostische Kategorie? In der ICD-10 und im DSM-IV nehmen die unter der Bezeichnung »Persönlichkeitsstörungen« (personality disorders) aufgeführten psychischen Störungen eine bedeutende Stellung ein. Sie wurden in der psychiatrischen Praxis und in der psychiatrischen und klinisch-psychologischen Forschung der letzten Jahre zu einer zunehmend häufiger benutzten diagnostischen Kategorie. Nicht nur sind sie Gegenstand zahlreicher Kongresse, sondern sie gaben auch Anlass zur Herausgabe von speziell mit ihnen sich beschäftigenden Fachzeitschriften (so z. B. seit Anfang der 1990er Jahre einer englischsprachigen und seit 1997 auch einer deutschsprachigen). Dieses große Interesse und diese Hochschätzung der »Persönlichkeitsstörungen« als Diagnose und klassifikatorische Kategorie beruhen zunächst auf der Tatsache, dass es immer schon eine Reihe von psychischen Störungen gab, die weder zu den Psychosen noch zu den (damaligen) Neurosen gehörten und die nur teilweise und auch recht unscharf und unbefriedigend als »Borderline-Zustände« oder »Psychopathien« oder »abnorme Persönlichkeiten« oder Ähnliches erfasst wurden. Die neu geschaffene Kategorie war also innerhalb der Psychiatrie gerechtfertigt. Die Persönlichkeitsstörungen werden nicht durch besondere Symptome oder Kombinationen von Symptomen (Syndromen) – wie die Erkrankungen in der Medizin – definiert. Vielmehr stellen sie überdauernde Muster von Erlebens- und Verhaltensweisen dar, welche erstens merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen und zweitens mehr durch Charakterzüge und weniger durch Funktionsstörungen definiert werden. Viele Psychoanalytiker haben in den 1970er und den 1980er Jahren auf die Einführung dieser neuen großen psychiatrischen Kategorie negativ und mit dem Einwand reagiert, die Psychoanalyse habe schon seit langem diese auffälligen Erlebens- und Verhaltensweisen beschrieben und unter der Kategorie »Charakterneurosen« erfasst, und zwar in Abgrenzung von den »Symptomneurosen«. Die Charakterneurosen seien dadurch gekennzeichnet, dass sie eben keine diskreten, konkreten Symptome, sondern Auffälligkeiten des Charakters aufweisen. Dieser Einwand konnte jedoch aus folgenden zwei Gründen nicht greifen: Die Definitionen der einzelnen Charakterneurosen durch die Psychoanalyse basierten auf psychodynamischen und psychogenetischen Hypothesen, ein Vor-
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
gehen also, das von der programmatisch atheoretisch konzipierten und betont deskriptiv aufgebauten Methodik von ICD-10 und DSM-IV nicht akzeptiert werden kann. Der hauptsächliche Grund für die Ablehnung des Konzepts der Charakterneurose war jedoch die Tatsache, dass es weit mehr nichtpsychotische und nichtneurotische Störungen gibt, als die Psychoanalyse bis dahin mit Hilfe des Konzepts der Charakterneurosen beschreiben konnte. Einige der Persönlichkeitsstörungen könnten zwar bei einer entgegenkommenden Betrachtung seitens der Psychiatrie noch als Charakterneurosen »durchgehen« (so z. B. die anankastische, die Angst vermeidende, die histrionische Persönlichkeitsstörung). Dennoch würde es auch dem »treuesten« Psychoanalytiker schwerfallen, solche Persönlichkeitsstörungen wie die schizoide, die schizotypale, die paranoide, die antisoziale und noch weniger die Borderline-Persönlichkeitsstörung als Charakterneurose zu bezeichnen. Damit war diese Frage entschieden und der Siegeszug der neuen großen Kategorie der Persönlichkeitsstörungen gesichert. Der Versuch der Vereinnahmung unter die Neurosen bzw. Charakterneurosen war endgültig gescheitert. Außerdem wurde der Terminus der Neurose überhaupt als zu theorielastig abgelehnt. Dies alles bedeutet aber nicht, dass die früher unter der Bezeichnung »Neurose« und »neurotisch« gemeinten psychopathologischen Erscheinungen und Zusammenhänge nicht mehr existierten. Sie wurden lediglich jetzt unter anderen Bezeichnungen geführt, zum Teil auch als besondere Formen von Persönlichkeitsstörungen beschrieben oder schließlich zu einem Teil auch übersehen bzw. ignoriert. Dadurch entsteht bei dem Nicht-Eingeweihten leicht eine Verwirrung, der ich durch eine begriffliche Klarstellung entgegenwirken möchte. Ich möchte nur kurz vermerken, dass, obwohl beide diagnostische Systeme programmatisch eine neutrale und atheoretische Vorgehensweise versprochen haben, in Wirklichkeit, indirekt, einseitige, biologistische Vorannahmen favorisierten. Streng atheoretisch und deswegen kritisch ablehnend verhielten sie sich lediglich in Bezug auf die psychoanalytisch orientierten psychogenetischen und psychodynamischen Konzepte. Ich will aber meine Kritik hier nicht weiterführen, sondern durch die Skizzierung der Vorläufer des Konzepts der Persönlichkeitsstörungen eine Orientierungshilfe bieten. Dies kann am einfachsten mit Hilfe der Abbildung 3 erfolgen. Der Kreis in der Abbildung stellt die Gesamtheit der Persönlichkeitsstörungen dar. Es wird deutlich, dass in diesem Kreis sowohl die »Charakterneurosen« der älteren Psychoanalyse (I) als auch die »Psychopathien« oder die »abnormen Persönlichkeiten« der älteren Psychiatrie (II) als auch die narzisstischen Persönlichkeitsstörungen der späteren Psychoanalyse Kohuts und Kernberg (III) enthalten sind. Darüber hinaus gibt es Persönlichkeitsstörungen, die von keinem dieser drei früheren Konzepte erfasst wurden (in Abb. 3 entsprechen sie den leeren Flächen um die drei Kreise). Es ist deutlich, dass es unter den drei früheren Konzepten Überschneidungen gegeben hat, also Fälle, die sowohl von dem einen als auch von dem anderen Konzept in jeweils anderen Termini beschrieben wurden.
Kapitel 13: Persönlichkeitsstörungen (allgemein)
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I = Charakterneurosen (der älteren Psychoanalyse) z. B. Zwangscharakter Hysterische Charakterneurose Phobische Charakterneurose (Freud, Reich etc.) usw.
II = Psychopathien oder »abnorme Persönlichkeiten« (der älteren Psychiatrie) z. B. Schneider, 1960er Jahre
I II
III IV
III = Narzisstische Persönlichkeitsstörungen (der späteren Psychoanalyse – Kohut / Kernberg)
IV = Persönlichkeitsstörungen nach ICD bzw. DSM, inkl. Borderline (zuletzt ICD-10 und DSM-IV der gesamte, der ganze Kreis)
Abbildung 3: Vorläufer des Konzepts der Persönlichkeitsstörungen
13.2 Die deskriptive Definition und Klassifikation von DSM-IV Bei den Persönlichkeitsstörungen handelt es sich nach dem DSM-IV um überdauernde Muster von innerem Erleben, die merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweichen. Diese Muster manifestieren sich in mindestens zwei der folgenden vier Bereiche: Kognition, Affektivität, Gestaltung zwischenmenschlicher emotionaler Reaktionen, Impulskontrolle. Diese Muster
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen oder beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen. Die Muster sind stabil und lang dauernd und beginnen spätestens in der Adoleszenz. Die hier gemeinten Auffälligkeiten lassen sich nicht besser als Manifestation oder Folge einer anderen psychischen Störung erklären, und sie sind auch nicht die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. einer Droge oder eines Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hirnverletzung). Im Rahmen des DSM-IV gibt es eine Einteilung in drei Hauptgruppen: – Gruppe A mit der gemeinsamen Charakterisierung »sonderbar und exzentrisch« (paranoide, schizoide und schizotypale Persönlichkeitsstörung); – Gruppe B mit der gemeinsamen Charakteristik »dramatisch, emotional, launisch« (histrionische, narzisstische, antisoziale, Borderline-Persönlichkeitsstörung); – Gruppe C mit der gemeinsamen Charakteristik »ängstlich und furchtsam« (selbstunsichere, depedente, zwanghafte und depressiv-aggressive Persönlichkeitsstörung). Weder die obige ausschließlich deskriptive Definition der Persönlichkeitsstörungen und noch weniger die vorgeschlagene deskriptive Einteilung kann vom theoretischen und praktischen Gesichtspunkt aus als befriedigend bezeichnet werden. Im Folgenden wird deshalb der Versuch einer Psychodynamisierung dieser deskriptiven Diagnostik der Persönlichkeitsstörungen unternommen.
13.3 Psychodynamik der Persönlichkeitsstörungen Zunächst zu dem letztlich vergeblichen Versuch, die Persönlichkeitsstörungen als »Charakterneurosen« zu betrachten. Es verhält sich zwar tatsächlich so, dass viele der klassischen psychoanalytischen Konzepte weiterhin bei der Diagnose und Behandlung der »reifen« neurotischen Störungen und somit für manche leichteren Persönlichkeitsstörungen zutreffend und nützlich sind. Mit Sicherheit sind sie aber nicht ausreichend, um die gravierenden Auffälligkeiten der Mehrheit der schweren Persönlichkeitsstörungen adäquat zu erfassen. Unabhängig davon hat aber die Frage der Nützlichkeit des alten Begriffs der Charakterneurose auch innerhalb der Psychoanalyse ihre Bedeutung eingebüßt. Die heutige, inzwischen weiterentwickelte Psychoanalyse ist mit Hilfe ihrer neuen Konzepte wohl auch bei den Persönlichkeitsstörungen in der Lage, sie psychodynamisch zu begreifen und definieren, und zwar als dauerhafte Abwehr und Kompensationsmechanismen. So stellt z. B. die narzisstische Persönlichkeitsstörung ein solches Abwehr- und Kompensationssystem dar. Dieses System dient der Regulation einer brüchigen oder gefährdeten Selbstwertigkeit. Die Abwehr erfolgt mittels Selbstüberhöhung, Aktivierung des Größenselbst, Idealisierung des eigenen Selbst, identifikatorischer
Kapitel 13: Persönlichkeitsstörungen (allgemein)
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Teilnahme an einem stark idealisierten Objekt und/oder mittels einer übertriebenen Suche nach narzisstischer Zufuhr, also nach Lob, Bestätigung, Ruhm. In anderen Fällen erfolgt die Kompensierung auch mittels Objektabwertung (Verachtung des Anderen usw.). In ähnlicher Weise kann man auch die anderen Persönlichkeitsstörungen psychodynamisch versuchen zu verstehen, wodurch diese uns zunächst rätselhaft oder unerklärlich erscheinenden Muster des Erlebens und Verhaltens sich als in gewisser Hinsicht sinnvolle, zur Zeit ihrer Entstehung sogar wahrscheinlich notwendige, wenn auch leider auf Dauer nicht nur fehlerhafte, sondern auch Leid hervorrufende Pseudolösungen von Grundkonflikten erweisen. Somit sind sie auch als Modi der Konflikt- und Traumaverarbeitung zu verstehen. Bevor ich zur Darstellung des deskriptiven Bildes und der Psychodynamik der einzelnen Persönlichkeitsstörungen übergehe, möchte ich auf eine Möglichkeit ihrer Klassifikation hinweisen, die sich mir bei weitem sinnvoller und auch nützlicher als die oben geschilderte rein deskriptive erscheint. Diese Klassifikation erfolgt durch die Extrapolation eines Modells, das zum besseren Verständnis des psychotischen Prozesses und zu einer psychodynamisch orientierten Klassifikation psychotischer Störungen konstruiert und in den letzten Jahren mit großem theoretischen und praktischen Erfolg verwendet werden konnte. Dieses Modell konnte dann auch auf die Persönlichkeitsstörungen angewendet werden.
13.3.1 Vorwegnehmende Darstellung der Psychodynamik der Psychosen Zu dem oben erwähnten psychodynamischen Modell der Psychosen kamen wir zunächst aufgrund der Beobachtung, dass psychotische Patienten sich nicht so sehr, wie allgemein angenommen, durch eine Ich-Schwäche und durch einen Defekt auszeichnen, sondern vielmehr dadurch, dass sie in unlösbaren Antinomien, in intrapsychischen Gegensätzlichkeiten verfangen sind, aus denen sie sich nicht zu befreien vermögen. Die psychotischen Symptome können zum großen Teil als eine – wohl elementare – Abwehr und Kompensation solcher intrapsychischen Gegensätzlichkeiten, solcher Dilemmata begriffen werden. Diese Abwehr dient der Reduzierung jener unerträglichen intrapsychischen Spannung in der Psychose. Diese Betrachtungsweise steht nicht im Gegensatz zu den sicher vorhandenen erbgenetischen und anderen biologischen Faktoren bei Psychosen (siehe Näheres im Kapitel 19 über die Neurobiologie der Psychosen). Besonders interessant ist nun die Tatsache, dass die einzelnen von der Psychiatrie seit langem beschriebenen und sehr gut bekannten psychotischen Syndrome erst innerhalb dieses psychodynamischen Modells der Psychosen in sinnvoller Weise als alternative Lösungen jener intrapsychischen Dilemmata betrachtet werden können. Sie lassen sich in zwei Gruppen unterscheiden, und zwar je nach-
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
dem, ob es sich um mehr selbstbezogene oder wiederum mehr objektbezogene Abwehr bzw. Kompensationskonstellationen handelt. In der Abbildung 4 sind auf der senkrechten Achse des zweidimensionalen Koordinatensystems diese Alternativlösungen entsprechend positioniert: Es gibt die extrem selbstbezogenen (z. B. Autismus, Katatonie) und die extrem objektbezogenen (Fusion mit dem Objekt, z. B. in der ekstatischen Psychose) Variationen. Die dazwischenliegenden Syndrome stellen gleichsam Kompromisslösungen dar. Selbst-Pol Schizophrene Psychosen Autismus
Schizoaffektive Psychosen z. B. maniform-schizophren
Manisch-depressive Psychosen Manie
Katatonie Verfolgungswahn
z. B. paranoid-depressiv
Halluzination (z. B. Stimmen als Ersatz für Beziehung, Stimmen als Objekt-Ersatz) Beziehungswahn Liebeswahn
z. B. depressiv-ängstlichmisstrauisch
Zerfließen der Ich-Grenze Fusion
Schulddepression Objekt-Pol
Abbildung 4: Einordnung psychotischer Bilder nach ihrer Nähe zum Selbst-Pol oder zum Objekt-Pol
Die einzelnen Syndrome werden aber nicht nur nach diesem Kriterium (Selbstbezogenheit versus Objektbezogenheit), sondern auch nach dem im Vordergrund stehenden Dilemma bzw. der Problematik unterteilt und entsprechend auf der horizontalen Achse positioniert: Handelt es sich im konkreten Fall um eine Identitätsproblematik (Autonomie versus Bindung), so wird dieser Fall mehr nach links eingeordnet, er gehört zu den schizophrenen Psychosen. Handelt es sich dagegen um eine Selbstwertigkeitsproblematik (vom Objekt völlig unabhängige versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit), so wird der Fall mehr nach rechts positioniert. Hier geht es um eine affektive Psychose (früher manischdepressiv genannt).
Kapitel 13: Persönlichkeitsstörungen (allgemein)
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13.3.2 Die Extrapolation auf die Persönlichkeitsstörungen Versucht man in einem in ähnlicher Weise konstruierten zweidimensionalen System nunmehr anstelle der psychotischen Zustände die Persönlichkeitsstörungen zu positionieren, so stellt man mit Verblüffung fest, dass auch hier, in ähnlicher Weise wie bei den Psychosen, tatsächlich eine sinnvolle Einordnung aufgrund dieser zwei Kriterien (erstens Selbstbezogenheit oder Objektbezogenheit der Abwehr und zweitens Identitäts- oder wiederum Selbstwertigkeitsproblematik) möglich ist und sich als sehr einleuchtend erweist. Wie aus Abbildung 5 zu entnehmen ist, wird also z. B. die schizoide und die schizotypale Persönlichkeitsstörung im linken oberen Feld (selbstbezogene Abwehr bei einer Identitätsproblematik), dagegen die hyperthyme Persönlichkeit im rechten oberen Feld (selbstbezogene Abwehr bei einer Selbstwertproblematik) und die depressive Persönlichkeit (objektbezogene Abwehr bei einer Selbstwertproblematik) im unteren rechten Feld eingeordnet. Die Borderline-Störungen werden entsprechend der charakteristischen Art der Abwehr in der Mitte zwischen Selbstpol und Objektpol positioniert, was zu dem typischen Pendeln zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit bei der Borderline-Symptomatik passt. Darüber hinaus ergibt sich hier die Möglichkeit, drei Untergruppen des Borderline zu unterscheiden: Von links nach rechts findet man das Schizo-Borderline, das schizoaffektive Borderline und das Thymo-Borderline – je nach Art der Problematik (Identitäts-, gemischte Identitäts- und Wertigkeits- und drittens nur Wertigkeitsproblematik; weitere Erläuterungen siehe Kapitel 14.3.4 über die Borderline-Störungen). Die Vorteile der psychodynamisch orientierten Einteilung der Persönlichkeitsstörungen sind offensichtlich. Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen stellen innerhalb dieses Bezugsrahmens keine zufälligen oder aus unbekannten Gründen entstandenen Anhäufungen (Cluster) von Merkmalen dar wie bei den deskriptiven Klassifikationen. Vielmehr sind sie gleichsam Alternativlösungen eines der beiden Grunddilemmata und stehen somit zueinander in einem organischen Zusammenhang. Ihre häufig vorkommenden Kombinationen, also das Hinzutreten von Merkmalen einer anderen, »benachbarten« Persönlichkeitsstörung, braucht nicht als das Hinzutreten einer zweiten oder dritten Störung, also als eine Komorbidität konzeptualisiert zu werden, wie dies bis jetzt üblich ist. Es handelt sich bei solchem kombinierten Auftreten lediglich um zusätzliche, »benachbarte« und aus der Situation notwendig gewordene Abwehr- oder Schutzstrategien, wenn z. B. eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zusätzlich paranoide Züge enthält. Im folgenden Kapitel werden die einzelnen Persönlichkeitsstörungen erst deskriptiv und dann in Bezug auf ihre Psychodynamik dargestellt. Bei der Deskription richte ich mich nach den Kriterien und Merkmalsaufstellungen von DSM-IV und ICD-10. Die Ausführungen zur Psychodynamik basieren zum Teil auf Elementen der in den letzten Jahren entwickelten psychoanalytischen Konzepte, zu einem anderen Teil aber auch auf eigenen langjährigen therapeutischen Erfahrun-
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gen und sich darauf stützenden Hypothesen. Dabei erschien es mir sinnvoll, neben den offiziell im DSM-IV und in der ICD-10 anerkannten Persönlichkeitsstörungen auch Erlebens- und Verhaltensmuster zu berücksichtigen, die entweder noch »Kandidaten« für die Übernahme in diese offiziellen klassifikatorischen Systeme sind oder seit langem bekannte häufige und charakteristische Formationen darstellen, die aus verschiedenen Gründen noch nicht in die allgemein anerkannte Liste der Persönlichkeitsstörungen aufgenommen wurden. SELBST-POL (antisoziale DSM) Dissoziale KD - PS Schizotypale PS
Schizoide PS
Hyperthyme PS
Narzisstische PS P
Anankastische PS
S Y C H O S E
Paranoide PS Schizo-Borderline
Passiv-agressive PS
Schizoaffektives
Thymo-Borderline
Borderline Identitätsproblematik
Ängstlich vermeidende
N
E U R
Wertigkeitsproblematik
Sensitive PS (nach Kretschmer)
N
Histrionische PS (Hysterische)
O S E N
Depressive PS Abhängige PS Masochistische PS OBJEKT-POL
Abbildung 5: Psychodynamische Einteilung der Persönlichkeitsstörung nach Art des Dilemmas und der Selbst- bzw. Objekt-Bezogenheit der Abwehr
Kapitel 14: Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen
14.1 Persönlichkeitsstörungen mit selbstbezogenen Abwehr- und Kompensationsmechanismen 14.1.1 Paranoide Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Der Betroffene ist konstant misstrauisch, er neigt dazu, auch neutrale oder sogar freundliche Äußerungen und Handlungen anderer als aggressiv und feindlich gegen seine Person zu empfinden. Verschiedene Ereignisse in seiner Umgebung werden oft als Verschwörung gegen ihn gedeutet und erlebt, allerdings nicht mit derselben Intensität wie bei der paranoiden Psychose. Er ist aber nicht nur misstrauisch, sondern auch sehr kritisch und intolerant gegenüber anderen und neigt dazu, bei Zurückweisung übertrieben empfindlich zu reagieren. Er ist darüber hinaus oft expansiv oder querulatorisch oder sogar regelrecht fanatisch. Psychodynamik Die traditionelle psychoanalytische Auffassung nimmt an, dass hier eine Projektion eigener aggressiver Impulse nach außen vorliegt. Obwohl dies für einige Fälle zutreffen mag, handelt es sich nach meiner Erfahrung aber meistens um eine chronische Abwehrform mit zwei Funktionen. Es geht erstens um einen Distanz schaffenden Abwehr- und Schutzmechanismus, der den Betreffenden vor einer subjektiv als gefährlich und gleichzeitig anziehend empfundenen und antizipierten Beziehung schützen soll. Oder es geht – vielleicht häufiger – um die Verschiebung einer – aus dem inneren Objekt tatsächlich oder angeblich stammenden – Feindseligkeit gegenüber äußeren Personen und Umständen. Dadurch wird die Auseinandersetzung mit dem »inneren Feind« vermieden; denn sie wird externalisiert bzw. in eine Auseinandersetzung mit dem äußeren Feind verwandelt. Noch einmal zu der distanzierenden Funktion: Die aus verschiedenen Gründen nicht mögliche, nicht zu riskierende, nicht erlaubte Beziehung wird hier nicht wie bei der schizoiden Persönlichkeit vermieden und mit Abspaltung abgewehrt, sondern durch eine negative feindliche Einstellung unmöglich gemacht. Es handelt sich also eigentlich oft nicht nur um eine Projektion, sondern auch um eine Art Umkehr, wie sie etwa von Sigmund Freud im Fall Schreber beschrieben wurde, allerdings nicht in
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einer psychotischen Dimension und nicht spezifisch in Bezug auf die Beziehung zum homosexuellen Objekt (wie Freud annahm), sondern zum Objekt im Allgemeinen. Über die geschilderte Projektion und Umkehr hinaus findet oft auch ein sich darauf aufbauendes Schlechtmachen, eine Verteufelung des Anderen statt. Die dabei entstehenden Feindbilder dienen zusätzlich – als Kontrast – der (sicher fragwürdigen) Identitätsbildung und der Stützung der Selbstwertigkeit (freilich auf eine pathologische Art). Auch die gelegentlich bei solchen Persönlichkeiten anzutreffenden expansiven, querulatorischen und fanatischen Komponenten haben ähnliche Funktionen. Außerdem sind oft auch eine nachträgliche Recht fertigungs- und Rationalisierungstendenz sowie eine aus Neid oder aus Rachebedürfnis (wegen einer erlittenen Kränkung) erwachsene wahnhafte Destruktivität zu beobachten.
14.1.2 Schizoide Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Ungeselligkeit, Introvertiertheit, Tendenz zur Distanzierung und Isolierung sowie eine Unfähigkeit, gefühlsmäßige Wärme auszustrahlen, charakterisieren den Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung. Psychodynamik Es geht nicht um eine bloße Scheu und Vermeidung von Kontakten und Bindungen (wie bei der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung), sondern um eine Gleichgültigkeit und fast Aversion dem Objekt gegenüber. Diese basiert auf einem tieferen, elementaren Abwehrvorgang, nämlich der Spaltung. Durch sie werden die – in Wirklichkeit potenziell vorhandenen – objektbezogenen Tendenzen (Wünsche, Interessen, Sehnsüchte nach Bindung etc.) abgespalten. Dieser gravierende Abwehrmechanismus wird durch die – offenbar halbbewusst antizipierte – Gefährdung des Selbst aufrechterhalten. Es liegt eine daraus resultierende Angst vor, die ihrerseits wahrscheinlich mit einer Sensibilisierung durch eine sehr früh erlittene Enttäuschung und Traumatisierung zusammenhängt und später jeweils anlässlich einer zu großen Nähe innerhalb von Beziehungen mobilisiert und verstärkt wird. Dabei geht es in erster Linie um die Gefährdung der Selbstidentität und Selbstkohäsion, oft aber auch zusätzlich um die Gefährdung der Selbstwertigkeit.
14.1.3 Schizotypische Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Es bestehen Beziehungsideen ohne regelrechten Beziehungswahn; des Weiteren entsteht oft ein extremes Unbehagen in sozialen Situationen. Es fällt auf, dass die Betreffenden keine Freunde haben. Des Weiteren fallen sie durch seltsame Verhal-
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tensweisen, durch exzentrisches, manchmal skurriles Erscheinen und eine eigenartige Sprache auf, allerdings ohne Assoziationslockerung bzw. ohne Inkohärenz oder inadäquate Affekte (wie bei der Schizophrenie). Zwischenbemerkung Es wird in der psychiatrischen Literatur darüber gestritten, ob das »Schizotypale« eine Persönlichkeitsstörung oder ein schizophrenes Syndrom sei (das ist der Grund, warum es in der ICD-10 nicht als Persönlichkeitsstörung vorgesehen ist). In den 1940er Jahren wurden wahrscheinlich solche Fälle als eine besondere Form des Borderline gesehen, es waren aber Fälle, bei denen die »reiche Emotionalität« und die typische affektive Instabilität sowie die Kontaktfähigkeit des Borderline fehlten. Vielleicht könnte man sagen, dass es sich um »Schizo-Borderline« in unserem Sinne handelt (siehe weiter Kapitel 14.3.4 über die Borderline-Persönlichkeitsstörung). Psychodynamik Der Unterschied zu der schizoiden Persönlichkeitsstörung besteht darin, dass bei der schizotypalen Persönlichkeitsstörung die Abwehr, also das Schützen des in einer Beziehung gefährdeten Selbst, sich nicht auf die einfache Distanzierung und Isolierung (durch schizoide Abspaltung) beschränkt, sondern durch zusätzliche projektive und sonstige psychosenahe Mechanismen verstärkt wird. Es geht vorwiegend um die Problematik der gefährdeten Selbstidentität und die damit zusammenhängenden tiefer gehenden Ängste und weniger um die Wertigkeitsproblematik. Die oft fremdartigen, skurrilen Verhaltensweisen könnten zum Teil durch soziale Isolation hervorgerufen sein, zu einem größeren Teil aber sind sie negativistische defensive Mechanismen mit einer die soziale Anpassung aktiv sabotierenden Funktion, ein ähnlicher Vorgang, wie wir ihn beim Schizophrenen kennen.
14.1.4 Dissoziale (ICD-10) bzw. antisoziale (DSM-IV) Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Hier liegt ein von der sozialen Norm abweichendes Verhalten (ICD-10) bzw. eine Unfähigkeit vor, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen (DSM-IV). Es herrscht ein tief greifendes Muster von Missachtung der Rechte anderer (ähnlich wie bei den »gefühlskalten Psychopathen« in der alten Terminologie von Schneider, 1923). Es besteht ein Mangel an Empathie, Verantwortungslosigkeit, eine geringe Frustrationstoleranz, Impulsivität, Aggressivität und eine andauernde Reizbarkeit. Charakteristisch sind auch die geringe Ausprägung oder sogar das Fehlen von Gewissensbissen sowie die Tatsache, dass kaum Angst bewusst erlebt wird. Im Gegenteil fallen die Betreffenden durch Abgebrühtheit, schadenfrohe Unehrlichkeit und ein Unvermögen zu längerfristigen Beziehungen auf.
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Psychodynamik Die ursprüngliche Auffassung der Psychoanalyse, wonach es sich um Menschen mit sehr ausgeprägten Trieben handele, trat ab den 1940er Jahren zugunsten der Annahme einer einer narzisstischen Pathologie zurück. Aber auch die ursprüngliche Hypothese, es handele sich um Menschen, bei denen sozusagen das ÜberIch fehle, wurde dahingehend korrigiert, dass man nunmehr kein Fehlen des Über-Ich, sondern eine spezifische Über-Ich-Pathologie erkannte. Ein Vergleich mit der Psychodynamik des Borderline kann diese spezifische Störung deutlicher werden lassen. Während nämlich bei der Borderline-Störung das unintegrierte »böse« Introjekt ständig nach außen projiziert wird (die Anderen sind die »Bösen«), findet bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung umgekehrt geradezu eine Art der Identifikation mit dem »Bösen« statt. Es handelt sich gleichsam um eine frühe Identifikation mit dem Angreifer, analog zu dem, was man auch bei Neurosen – allerdings auf einem reiferen Organisationslevel – beschrieben hat. Psychogenetisch betrachtet geht man davon aus, dass der Betreffende in seiner frühen Kindheit Opfer sadistisch-grausamer körperlicher und/oder psychischer Misshandlungen war. Seine Überlebensstrategie (Überleben seines Selbst und insbesondere die notdürftige Rettung seiner Selbstachtung) bestand eben in dieser Identifikation mit dem »Bösen« (vgl. z. B. Meloy, 1988). Alles, was im Rahmen der deskriptiven Definition dieser Störung als »Unfähigkeit« bezeichnet wird (Gewissenlosigkeit, Fehlen von Angst usw.), muss man psychodynamisch mehr als eine Reihe von aktiven defensiven Mechanismen begreifen mit der Funktion, den Betreffenden emotional unangreifbar zu machen.
14.1.5 Narzisstische Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Charakteristisch sind Verhaltens- und Erlebensmuster der Grandiosität, das starke Bedürfnis, bewundert zu werden, Größenfantasien und zwischendurch Minderwertigkeitsgefühle. Der Betreffende reagiert auf Kritik mit Wut und Scham. Er legt ein Anspruchsdenken an den Tag, er glaubt, seine Probleme seien einzigartig, er nutzt zwischenmenschliche Beziehungen für egoistische Ziele. Ihm fehlt Einfühlungsvermögen (Empathie). Er ist innerlich sehr mit Neidgefühlen beschäftigt. Psychodynamik Es handelt sich einerseits um den pathologische Regulationsversuch einer brüchigen oder gefährdeten Selbstwertigkeit mittels Selbstüberhöhung, Mobilisierung des Größenselbst, übertriebener Idealisierung des eigenen Selbst; andererseits findet oft eine identifikatorische Partizipation (Anteilnahme) an einem stark idealisierten Objekt statt. Parallel dazu besteht eine übertriebene Suche und ein starkes Verlangen (fast eine Sucht) nach narzisstischer Zufuhr, also nach Lob, Be-
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stätigung, Ruhm etc. Die narzisstische Pseudostabilisierung findet zusätzlich auch durch Objektabwertung, Objektverachtung, Aktivierung eines vorwegnehmenden aggressiven Verhaltens statt. Diese Persönlicheitsstörung ist so charakteristisch, dass ich sie schon in der allgemeinen Einführung zu der Psychodynamik der Persönlichkeitsbelastungen als klassisches Beispiel erwähnt habe (vgl. Kapitel 13.3).
14.1.6 Hyperthyme Persönlichkeitsstörung Die hyperthyme Persönlichkeitsstörung ist weder in der ICD-10 noch im DSM-IV vorgesehen. Deskriptive Definition Das Erleben und Verhalten bei diesen Menschen werden fast konstant durch eine heitere Stimmung, einen Tätigkeits- und Rededrang beherrscht. Der Betreffende erscheint selbstsicher, großspurig, überengagiert, ungehemmt, Risiko suchend. Nach meiner Erfahrung tendieren diese Menschen dennoch dazu, beim Abklingen der biologischen Vitalität für eine bestimmte Zeit depressiv zu dekompensieren, und sie machen eine depressive, narzisstische Krise durch. Psychodynamik Das Negative, das Nachteilige, das Schwache, das Minderwertige des eigenen Selbstbildes werden überspielt und systematisch verleugnet. Die Hyperthymie ist ein so eindeutiger Modus der Pseudoselbststabilisierung und der Pseudoselbstkomplettierung, dass auch der Laie sie leicht erkennen kann. Ein primär biologisch vorgegebenes entsprechendes Temperament trägt wahrscheinlich zur Wahl dieses Modus der narzisstischen Kompensierung bei. Dieser mögliche biologische Faktor scheint aber nicht eine conditio sine qua non darzustellen, denn gelegentlich trifft man diese hyperthyme Überkompensation auch bei nicht vital oder temperamentvoll wirkenden Personen. Die Betreffenden wirken sehr kontaktfreudig, sind aber nicht zu konstanten tragfähigen Bindungen fähig. Die Beziehungen werden zwar nicht durch Misstrauen und Feindseligkeit vergiftet (wie bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung) oder durch Verachtung und Überheblichkeit zerstört (wie bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung). Die Hyperthymie stellt sozusagen eine gutartige Variation des pathologischen Narzissmus dar. Die Betreffenden sind jedoch trotzdem auffällig, oberflächlich und letztlich auch zerbrechlich. In der Kombination mit einer guten Intelligenzbegabung erweist sich aber eine nicht zu stark ausgeprägte Hyperthymie sogar oft als sehr erfolgsfördernd, wodurch vielleicht zu erklären wäre, warum man oft solche hyperthymen Persönlichkeiten in gehobenen Positionen als Direktoren, Manager, Politiker usw. trifft.
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14.1.7 Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung Die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung ist in der ICD nicht vorgesehen, im DSM-IV ausgeschieden, weil sie aufgrund ihrer großen Verbreitung und Unspezifität nicht eine eindeutige Kategorie abgeben konnte. Deskriptive Definition Es handelt sich um einen passiven Widerstand, z. B. durch Versäumnisse, halb absichtliche Verlangsamung und Verzögerung bei der Erfüllung von Wünschen oder Befehlen des Anderen. Psychodynamik Es handelt sich um eine der häufigsten Kompromisslösungen aggressiver Konflikte, wobei Aggressivität, Feindseligkeit, Groll in der Interaktion agiert, jedoch kaum bewusst erlebt werden. Das dahinter vorhandene stark aggressive Potenzial macht sich nur in der Gegenübertragung des Partners oder des Therapeuten bewusst bemerkbar, aber kaum bei den Betreffenden selbst. Die Herkunft dieser versteckten Aggressivität kann recht verschieden sein – in diesem Lehrbuch wird an mehreren Stellen und bei vielen Störungen die aggressive Komponente diskutiert. Auf jeden Fall kann man nicht allein aufgrund ihrer spezifischen Form (als passive Aggressivität) die Art ihrer psychogenetischen Ableitung erschließen.
14.2 Vorwiegend objektbezogene Persönlichkeitsstörungen 14.2.1 Abhängige Persönlichkeitsstörung Vorbemerkung In der ICD-10 wird in Klammern auch die Bezeichnung »asthenisch« hinzugefügt, wodurch die historische Verbindung zu der »asthenischen Persönlichkeit« der älteren psychiatrischen Literatur angedeutet werden soll. Die »Asthenie« wurde früher sehr oft in der Psychiatrie bei verschiedenen Störungen diagnostiziert und hat ihren historischen Ursprung in den inzwischen nicht mehr gebräuchlichen diagnostischen Kategorien der Neurasthenie und Psychoasthenie. Deskriptive Definition Der Betreffende überlässt die Verantwortung für wichtige Bereiche des Lebens anderen. Er ist unverhältnismäßig nachgiebig und ordnet eigene Bedürfnisse denen der anderen unter. Er erlebt sich selbst als hilflos, inkompetent und schwach. Er hat Ängste vor Verlassenwerden und fühlt sich allein meist unwohl und hilflos. Eine besondere – therapeutisch schwierige – Variation stellt die Gruppe der Patienten dar, die früher in der amerikanischen Literatur »dependent-demanding« genannt wurde, also Menschen,
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die zwar extrem abhängig, aber gleichzeitig nicht passiv unterwürfig, sondern sehr fordernd sind und viele Ansprüche haben. Sie bringen den Therapeuten durch die hartnäckige Forderung nach ständiger Zuwendung in eine schwierige Situation. Psychodynamik Es handelt sich um einen ausgesprochen objektbezogenen Modus der schützenden Abwehr, und zwar durch die Unterwerfung unter das Objekt bei Vernachlässigung eigener Bedürfnisse oder durch die symbiotische Abhängigkeit vom unter Umständen idealisierten und auf jeden Fall als stark und stabil empfundenen Objekt. Der Grundkonflikt wird also durch Unterwerfung und sich Abhängigmachen vom Objekt pseudogelöst. Beim »dependent-demanding«-Patienten kommt es aber hinzu, dass jene bei allen Abhängigen doch latent vorhandene Aggression (wegen der sie narzisstisch kränkenden Abhängigkeit) durch den ständigen Anspruch auf Hilfe, also durch diese drängende Ansprüchlichkeit, indirekt ausagiert wird. Auf diese Weise setzen diese Patienten den Partner, andere Menschen und schließlich auch den Therapeuten unter Druck.
14.2.2 Depressive Persönlichkeitsstörung Vorbemerkung Die depressive Persönlichkeitsstörung ist weder in der ICD-10 noch im DSM-IV vorgesehen. Im für die Weiterentwicklung von DSM-IV zuständigen Gremium wird immerhin die Einführung einer solchen Persönlichkeitsstörungs-Kategorie diskutiert, wobei die Ansichten von Schneider (1923), Tellenbach (1961) (Typus Melancholicus) und Kernberg (1988) berücksichtigt werden sollen. Auf jeden Fall werden heute noch die hier gemeinten lang andauernden depressiven Verstimmungen von den Psychoanalytikern als eine neurotische Depression und von den Psychiatern entweder im Rahmen der ICD-10 als Dysthymien (F34.1), und zwar unter dem Oberbegriff der Zyklothymia (F34.0), oder im DSM-IV als »minor depression« diagnostiziert. Deskriptive Definition Lang anhaltende depressive Verstimmungen, die niemals so ausgeprägt sind, dass sie die deskriptiven Voraussetzungen einer depressiven Störung nach ICD-10 oder DSM-IV erfüllen. Die Betreffenden kennen zwar gelegentlich Perioden von Tagen oder Wochen, in denen sie sich wohl fühlen, im Übrigen jedoch sind sie konstant müde und deprimiert. Psychodynamik In Wirklichkeit handelt es sich um eine gering ausgeprägte, aber dafür hartnäckige chronische Depression, die identisch ist mit der früheren – in der offiziel-
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len psychiatrischen Diagnostik heute nicht vorgesehenen – neurotischen Depression. Sie beinhaltet einen chronischen Konflikt zwischen einer absolut selbstbezogenen und einer absolut objektbezogenen Selbstwertigkeit; man könnte auch sagen: Autonomie versus Heteronomie in Bezug auf das Selbstwertgefühl. Sie kann aber auch aus anderen Dysregulationen des narzisstischen Gleichgewichts, also der Selbstwertregulation, hervorgehen (siehe detaillierte Darstellung im Kapitel 11.2 zum depressiven Modus).
14.3 Persönlichkeitsstörungen, die sowohl selbst- als auch objektbezogen sind 14.3.1 Histrionische (hysterische) Persönlichkeitsstörung Vorbemerkung Schon beim DSM-III wurde der Terminus »hysterisch« in Klammern gesetzt, im DSM-IV und in der ICD-10 wurde er (mit wenigen Ausnahmen im Letzteren) gestrichen. Hysterisch wurde durch »histrionisch« ersetzt von Histrion, ein besonders dramatisch auftretender Schauspieler im alten Rom.1 Deskriptive Definition Der Betreffende verlangt ständig Aufmerksamkeit. Dramatisierung, Theatralik, Egozentrik, expressionistischer Sprach- und Denkstil, Stimmungslabilität stehen im Vordergrund seines Verhaltens. Bei DSM-IV findet man zusätzlich auch den Vermerk, dass der bzw. die Betreffende verführerisch, übertrieben besorgt um sein/ihr Äußeres sei. Die Unterscheidung vom Borderline ist öfters wegen der vielen Überlappungen schwierig. Psychodynamik Im Folgenden werden nur einige wichtige Aspekte der Psychodynamik kurz skizziert. Eine ausführliche Darstellung des Hysterischen (Histrionischen) findet man im Abschnitt über den hysterischen Modus« (Kapitel 8.1 ff.). Die klassische Psychoanalyse sah das Hysterische immer im Zusammenhang mit dem Ödipalen. In Wirklichkeit aber stehen nicht nur ödipale, sondern auch orale (z. B. Trennung
1 Das Wort stammt ursprünglich aus dem griechischen oistros, was eigentlich »Brunst« bedeutet. Aus dem griechischen oistros ist schon vor längerer Zeit das Wort »Östrogen« abgeleitet worden. Der Versuch also, das Hysterische vom Weiblichen (hystera = Gebärmutter) abzukoppeln – dies war einer der Gründe der Umbenennung –, ist misslungen. In dem Bemühen, von der Gebärmutter wegzukommen, geriet man zu den weiblichen Hormonen! Diese terminologische Panne ist offenbar in der internationalen Literatur noch nicht bemerkt worden.
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und Abhängigkeit) oder narzisstische (z. B. den Selbstwert betreffende) Konflikte und Themen in Verbindung mit dem Hysterischen (Histrionischen). Am besten kann man von einem spezifischen Modus, nämlich von dem hysterischen Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung sprechen. Dieser bedient sich zwar Mechanismen, die auch bei anderen Modi vorkommen, wie diejenigen der Affektualisierung, der Identifikation, der Verdrängung usw. Er kann also nicht durch diese Mechanismen (oder ihre Summe) definiert werden, sondern erst durch Folgendes: Es handelt sich um eine unbewusste Inszenierung mit der Funktion, den Betreffenden anders erscheinen zu lassen, nämlich besser, stärker, schöner oder umgekehrt schlechter, schwächer, hilfloser, als sie oder er ist. Man könnte hier von einer unbewussten Veränderung der Selbstrepräsentanz sprechen, wodurch der Konflikt, die intrapsychische Spannung, der Schmerz vorübergehend erträglicher werden (siehe ausführlicher in Kapitel 8.1 ff.). Es ist übrigens für die Funktion des histerischen Modus unerheblich, ob er mit Symptomen (Konversion, Dissoziation usw.) oder (wie bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung) mit Verhaltensmustern oder Charakterzügen arbeitet.
14.3.2 Selbstunsichere, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Soziale Hemmungen, Minderwertigkeitsgefühle, Übersensibilisierung negativen Äußerungen anderer gegenüber sind charakteristisch für diese Persönlichkeitsstörung. Die Betroffenen wünschen sich zwar zwischenmenschliche Nähe, sie vermeiden sie jedoch und gehen engeren Beziehungen aus dem Wege, um nicht abgelehnt zu werden. Ebenfalls werden unabhängige Entscheidungen vermieden. Psychodynamik Die hier durch das vermeidende Verhalten abgewehrte Angst kann aus recht unterschiedlichen intrapsychischen Konflikten, aber auch aus äußeren Gefahren und Belastungen herstammen. Vielfach hat man zu Recht kritisch bemerkt, dass die gemeinten Fälle psychodynamisch, aber auch deskriptiv so unähnlich sind, dass die hier konstruierte diagnostische Kategorie nicht gerechtfertigt erscheint.
14.3.3 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung Deskriptive Definition Übertriebene Ordentlichkeit, Pedanterie, Geiz, Perfektionismus, vermehrtes Bedürfnis nach Absicherung, Übergewissenhaftigkeit, Eigensinn, eingeschränkte Fähigkeit, Wärme und Gefühle der Zärtlichkeit auszudrücken, Leistungsbezogenheit charakterisieren diese Persönlichkeitsstörung.
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Zwischenbemerkung Menschen mit einer leicht ausgeprägten zwanghaften Persönlichkeitsstörung werden in einer leistungsorientierten Gesellschaft gefördert, weil sie der in solchen Gesellschaften herrschenden Erwartung nach Leistung, Präzision und Perfektion entgegenkommen. Ab einem gewissen Grad der Störungsausprägung wirkt sich aber die aus der Umständlichkeit resultierende Verlangsamung der Durchführung negativ auf effektive Leistung und auf den sozialen Erfolg aus. Psychodynamik Auch hier, ähnlich wie bei der Darstellung der histrionischen Persönlichkeitsstörung, wird für eine ausführliche Beschreibung der Psychodynamik auf den Abschnitt über den zwangsneurotischen Modus (Kapiel 9.3) verwiesen. Die klassische psychoanalytische Auffassung geht von der Annahme aus, dass die »Zwangsneurose«, der Zwang zur Abwehr des (»analen«) Konflikts von Gehorsam versus Ungehorsam eingesetzt wird. Er benutzt mit Abwehrmechanismen wie Affektisolierung, Verschiebung, magisches und symbolisches Denken, Intellektualisierung, Reaktionsbildung usw. (vgl. Kapitel 3 über die Abwehrmechanismen). Die zwanghaften Verhaltensmuster dienen also der neurotischen Pseudobewältigung der bei solchen Konflikten entstehenden Aggressionen, Schuldgefühle etc. Die weitere Entwicklung innerhalb der psychoanalytischen Theorie und Praxis machte aber eine drastische Erweiterung unserer Vorstellungen über die Funktionen des Zwanghaften erforderlich: Der zwangsneurotische Modus (wie wir hier die Zwangsneurose nennen) dient z. B. auch der narzisstischen Pseudostabilisierung bei drohender (unter Umständen psychotischer) Dekompensation. Man findet ihn also nicht nur bei »reiferen« Störungen, wie früher angenommen, sondern auch bei schwereren Störungen.
14.3.4 Borderline-Persönlichkeitsstörung In der ICD-10 ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung als der Borderline-Subtypus der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F 60.31) neben dem impulsiven Typus (F 60.30) vorgesehen (im DSM-IV: 301.83). Kritische Vorbemerkungen zum inflationistischen Gebrauch des Borderline-Konzepts Die Borderline-Störungen bzw. die Borderline-Zustände waren in den frühen Stadien der Entwicklung des DSM nicht unter die Persönlichkeitsstörungen eingeordnet. Erst seit den 1970er Jahren erkannte man, dass es sich bei den »Borderline« genannten Fällen nicht bloß um zeitlich abgegrenzte, sozusagen anfallsartig auftretende pathologische Zustände, sondern gleichzeitig um dauerhafte, poten-
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ziell lebenslange Auffälligkeiten des Verhaltens und Erlebens handelt, die somit zu den Persönlichkeitsstörungen gehören. Sie werden deswegen jetzt den anderen Persönlichkeitsstörungen gleichgesetzt. Dies war zwar im Prinzip berechtigt, jedoch in gewisser Hinsicht auch bedenklich. Meine Bedenken hängen einmal mit der Tatsache zusammen, dass der Terminus »Borderline« weiterhin in manchen Fällen mit einer gewissen Berechtigung auch zur Bezeichnung zeitlich abgegrenzter, syndromaler, krankhafter Zustände benutzt wird, die genauso gut auch der ersten Achse des DSM hätten zugeordnet werden können, die ja Syndrome und nicht Persönlichkeitszüge erfasst. Zum zweiten beruhen meine Bedenken insbesondere auf der Feststellung, dass schon auf der deskriptiven Ebene ein wichtiger qualitativer Unterschied zwischen Borderline und den anderen Persönlichkeitsstörungen existiert, der bei einer solchen Gleichsetzung übersehen werden könnte: Bei dem Borderline handelt es sich per Definition um labile Zustände und Strukturen, während die anderen Persönlichkeitsstörungen (auch die schwersten darunter) sich durch eine bemerkenswerte rigide Stabilität auszeichnen. Ein Therapeut kann das Verhalten eines Menschen mit einer paranoiden oder dissozialen Persönlichkeitsstörung in der kommenden Therapiestunde leichter voraussagen als das eines Patienten mit einer Borderline-Störung. Das Wechselhafte, das Oszillierende gehört spezifisch zum Borderline. Es stellt sein zentral konstituierendes Element und sein wichtigstes Charakteristikum – sowohl deskriptiv als auch psychodynamisch betrachtet – dar. Zwar ist auch diese Wechselhaftigkeit konstant vorhanden (man spricht deshalb von einer stabilen Instabilität des Borderline). Aber immerhin geht es eben um eine Instabilität, die auch in Bezug auf die Therapie wegen der durch sie erzeugten negativen Gegenübertragung relevant wird. Nicht, dass die anderen Persönlichkeitsstörungen leichter zu behandeln wären. Eine schwere narzisstische oder dissoziale Persönlichkeitsstörung kann bekanntlich eine große Herausforderung für den Therapeuten bedeuten. Der Borderline-Patient ist aber auf eine andere Weise schwer zu behandeln. Er stellt uns vor andere Probleme und Aufgaben als der Paranoide, der Schizotypale, der Dissoziale, der Hyperthyme. Auch aus einem weiteren, dritten Grund, erscheint mir eine gewisse Abtrennung des Borderline von den anderen Persönlichkeitsstörungen sinnvoll: Kernberg (2000), einer der maßgebenden Autoren und Forscher auf dem Gebiet des Borderline, hat innerhalb der Gesamtheit aller psychischer Störungen drei Formen oder Variationen der Persönlichkeitsorganisation oder der Strukturreife unterschieden, nämlich die psychotische, die Borderline und die neurotische Persönlichkeitsorganisation. Durch diese indirekte »Erhebung« des Borderline zu einer umgreifenden Kategorie der Psychodynamik aller Persönlichkeitsstörungen ist aber der Eindruck entstanden, dass praktisch alle Persönlichkeitsstörungen eine Borderline-Organisation der Persönlichkeit aufweisen. Dies wäre jedoch sowohl unzutreffend als auch verwirrend. Denn erstens lässt sich keineswegs bei allen Persönlichkeitsstörungen jene für das Borderline charakteristische wech-
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selnde Spaltung (siehe weiter unten) feststellen. Zweitens trifft man zwar tatsächlich bei vielen Persönlichkeitsstörungen einen Integrationsmangel, aber nicht denjenigen, der für das Borderline spezifisch ist. Es gibt übrigens auch andere schwere psychische Störungen – und nicht nur Persönlichkeitsstörungen –, denen ebenfalls ein Integrationsmangel zugrunde liegt. Das Borderline hat nicht das »Monopol« darauf. Ich plädiere deswegen gegen eine inflationistische Verwendung des Borderline-Begriffs, also gegen eine Auffassung, nach der alle Fälle mit einer schlechten Integration der »guten« und »bösen« Anteile dieselbe Organisation, dieselbe Struktur, nämlich eine Borderline-Organisation besitzen. Ich finde eine engere Definition des Borderline sinnvoller, die zwar von dieser richtigen Feststellung Kernbergs in Bezug auf die zugrunde liegende mangelhafte Integration ausgeht, die aber dies nicht zum exklusiven Spezifikum des Borderline erhebt. Man sollte stattdessen versuchen, das Borderline in differenzierter Weise, und zwar aufgrund des Modus der Abwehr und Kompensation dieses Integrationsmangels und des dahinterstehenden Dilemmas zu definieren, denn dieser Modus ist tatsächlich das besonders Charakteristische und Spezifische für das Borderline (siehe übernächsten Abschnitt »Psychodynamik des Borderline«). Deskriptive Definition des Borderline Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird durch eine vermehrte Impulsivität, ein Schwarz-Weiß-Denken, vielfache und stark ausgeprägte Ängste, Intoleranz, eine gewisse Diffusität der Wahrnehmung und Beurteilung des eigenen Selbst, bei eigenartigerweise erhaltener Realitätsprüfung, charakterisiert. Es besteht des Weiteren eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, eine ständig abrupt wechselnde Werteinschätzung von sich und vom Objekt bei gut erhaltener Kontaktfähigkeit. Die Kontaktfähigkeit ermöglicht dem Borderline-Patienten, Beziehungen herzustellen, die aber bezeichnenderweise immer von kurzer Dauer sind und von dramatischen Auseinandersetzungen und unbegründet erscheinenden Wutausbrüchen und Raserei sowie einem ständigen Stimmungswechsel gestört werden. Die paradox erscheinenden Reaktionen hängen auch mit dem schnellen emotionalen Shifting und dieser wiederum mit dem Wechsel zwischen Idealisierung und Verurteilung des Objekts (und in umgekehrter Weise auch des eigenen Selbst) zusammen. Trotz dieser Instabilität und trotz der sich wiederholenden Angriffe auf das Objekt ist das heftige Bemühen bemerkenswert, reales oder vorgestelltes Verlassenwerden durch das Objekt auf jeden Fall und mit allen Mitteln zu verhindern. Verwirrend, anstrengend und zu Ratlosigkeit des Gegenübers führend (nicht nur des Partners, sondern auch des Therapeuten) ist die Tatsache, dass der Borderline-Patient trotz dieser seiner Verlassenheitsangst den Partner oder den Therapeuten immer wieder angreift und dass er sich auch sonst wenig um die Konsistenz- und Widerspruchslosigkeit seines Denkens, Fühlen und Handelns kümmert.
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Psychodynamik des Borderline Während man bei der Psychose von einer sehr schwachen oder fehlenden Fähigkeit (oder Bereitschaft), das Selbst vom Nicht-Selbst zu unterscheiden, ausgeht, findet man bei dem Borderline immerhin einen gewissen Grad dieser Unterscheidungsfähigkeit und auch in gewissem Maße gut abgegrenzte Selbst- und Objektrepräsentanzen (Kernberg, 2000). Gleichzeitig stellt man aber die schon erwähnte mangelhafte Integration zwischen den bösen und den guten Aspekte sowohl des Selbst als auch des Objekts fest. Diese hier etwas apodiktisch von Kernberg (vielleicht in Anlehnung an Melanie Klein) eingeführte Begrifflichkeit eines Gegensatzes zwischen dem »Bösen« und dem »Guten« könnte man im Rahmen des Bipolaritätsmodells anders definieren bzw. benennen und dadurch auch die sonst zwangsläufig auftauchenden moralisierenden Konnotationen vermeiden. Das sogenannte Böse könnte also teilweise als selbstbezogen, das sogenannte Gute dagegen als objektbezogen verstanden werden. Die durch die intrapsychische Widersprüchlichkeit des Borderline entstehende unerträgliche intrapsychische Spannung wird durch Verleugnung, projektive Identifikation, Deckabwehr, Idealisierung und insbesondere durch die Spaltung abgewehrt. Allerdings erscheint mir hier und in Abänderung der Kernberg’schen Position folgende Ergänzung erforderlich: Besonders charakteristisch für das Borderline ist nicht die Spaltung schlechthin, sondern die wechselnde, die alternierende Spaltung. Bei ihr wird abwechselnd – in Termini unseres Bipolaritätskonzepts – einmal die Selbstbezogenheit, dann aber wiederum, umgekehrt, die Objektbezogenheit, also der jeweilige Gegenpol abgespalten und vorübergehend nicht gesehen und nicht berücksichtigt. Dies erscheint mir wichtig und für das Borderline spezifisch, denn bei allen anderen Persönlichkeitsstörungen, bei denen Spaltungsprozesse ebenfalls stattfinden, handelt es sich meistens um eine konstante, sozusagen um eine erfolgreiche Spaltung, so z. B. bei der antisozialen oder bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung. Die Variationen des Alternierens auf verschiedenen Niveaus der Persönlichkeitsorganisation Dieses Phänomen des schnellen Alternierens zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit trifft man zwar auch bei anderen psychischen Störungen, allerdings auf verschiedenen Organisationsniveaus. Man könnte so weit gehen und von einem Modus des Alternierens sprechen, der auf den verschiedenen Stufen der Persönlichkeitsorganisation jeweils in verschiedener Art manifest werden kann. So trifft man auf der psychotischen Ebene die von mir mischbildhaft (Mentzos, 1967) genannten Psychosen. Dabei handelt es sich oft um affektive, aber gelegentlich auch schizophrene und besonders häufig um schizoaffektive Psychosen, die durch ein verwirrendes, ständiges Alternieren zwischen Zuwendung und Ablehnung des Objekts (spiegelbildlich gleichzeitig auch des eigenen Selbst) charakterisiert werden. Des Weiteren findet man den Modus des Alternie-
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rens auf der nächsten Ebene, nämlich derjenigen der Persönlichkeitsstörungen und hier charakteristischerweise bei den Borderline-Störungen. Schließlich gibt es ein Alternieren auf der psychoneurotischen Ebene, und zwar vorwiegend im Rahmen des histrionischen (hysterischen) Modus. Hier zeigt sich die Wechselhaftigkeit als das typisch Launische, das Unberechenbare des hysterischen Patienten, also jenes oft beschriebene »zwischen Dichtung und Wahrheit« Schweben. Der psychodynamische »Nutzen« dieses Modus des Alternierens besteht darin, dass der Patient dadurch die extremen Positionen der absoluten Selbstbezogenheit mit der implizierten Objektlosigkeit oder wiederum des Selbstverlustes (z. B. in der endgültigen Verschmelzung mit dem Objekt) meidet. Er kann im Gegensatz zu der Situation bei denjenigen Persönlichkeitsstörungen, bei denen eine konstante Spaltung vorliegt (z. B. bei der schizoiden oder dissozialen Persönlichkeitsstörung), doch zum Objekt Kontakt aufnehmen und kurzfristig eine Beziehung aufbauen. Er braucht also nicht völlig und dauerhaft auf sie zu verzichten. Andererseits kann er es sich aber nicht leisten, diese Beziehung auf Dauer aufrechtzuerhalten, weil sie – je enger sie wird – (in der Fantasie, in der Antizipation) gefährlich erscheint. Er muss sie also abbauen und meistens geschieht dies relativ abrupt, wodurch jene Unberechenbarkeit und Wechselhaftigkeit beim Borderline resultieren. Das ist der Preis für diese immerhin noch mögliche Fähigkeit zu – allerdings kurzen – Beziehungen. Eines der therapeutischen Ziele muss deswegen (neben der Förderung der Integration zwischen den »bösen« und den »guten« Anteilen) die Ambivalenztoleranz sein, also die Förderung der Fähigkeit, vorübergehend entgegengesetzte Tendenzen auszuhalten, ohne in die Versuchung zu geraten, eine der beiden abzuspalten, um die intraspychisch unerträgliche Gegensätzlichkeit und Spannung zu beenden. Dieses vorübergehende Ertragen der Gegensätze ist eine wichtige Voraussetzung bei der therapeutisch unterstützten dialektischen Aufhebung dieses Konflikts. Ist Borderline nur eine posttraumatische Belastungsstörung? Aufgrund der empirisch festgestellten Anhäufung schwerer Traumatisierungen in früher Kindheit (sexueller Missbrauch, aber auch nichtsexuelle Misshandlungen, und zwar nicht nur bei Mädchen, sondern auch bei Jungen) in der Biografie späterer Borderline-Patienten entstand die Hypothese, dass es sich bei dem Borderline um eine komplexe chronische posttraumatische Belastungsstörung handele, bei deren Behandlung auch die moderne Psychotraumatologie wenigstens eine partielle Kompetenz und Zuständigkeit beanspruchen dürfe. Auch wenn solche Zusammenhänge des Borderlines mit frühen Traumatisierungen heute nicht mehr abgestritten werden können, so darf man die Bedeutung des Traumas als solchen nicht verabsolutieren: Es gibt sehr viele traumatisierte Menschen, die keine Borderline-Störung oder eine andere psychische Störung entwickeln. Es muss also immer daran gedacht werden, welche anderen, zusätzli-
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chen Bedingungen zur Entwicklung des Borderline beigetragen haben bzw. umgekehrt, welche günstigen Bedingungen eine solche Entwicklung – trotz Traumatisierung – verhindern konnten (zu der Problematik vgl. auch Rohde-Dachser, 2001 und 2004). Unterschiedliche Schwere der Borderline-Störung Es gibt offensichtlich schwere, mittelschwere und leichte Borderline-Zustände bzw. Persönlichkeitsstörungen, wobei die Ersteren an der Grenze zu Psychosen und die Letzteren an der Grenze zu Neurosen liegen. Es ist anzunehmen, dass viele leichte oder mittelschwere Fälle zu keinem Zeitpunkt klinisch relevant werden und dass die Betreffenden nie einen Therapeuten oder eine Klinik aufsuchen, obwohl die Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens für sie und die Umgebung (Partner, Kinder, Kollegen, Fremde etc.) großes Leid hervorrufen können. Schizo-Borderline, schizoaffetkives Borderline, Thymo-Borderline Schließlich muss man bei den mittelschweren und insbesondere bei den schweren Borderline-Persönlichkeitsstörungen immer auch die Frage stellen: Wenn die Borderline-Fälle tatsächlich an der Grenze (border) zur Psychose stehen, auf welcher Grenze stehen sie eigentlich? Es gibt verschiedene Arten der Psychosen. Welcher Art ist die Psychose, an deren Grenzen sich der jeweilige konkrete Borderline-Fall befindet? Zwar wissen wir, dass Borderline selten in die Psychose übergeht und wenn überhaupt, dann meistens nur vorübergehende mikrospychotische Episoden aufweist (vgl. Mentzos, 2000). Dennoch ist bei den schweren Fällen die Psychosennähe nicht zu verkennen. Die Frage, auf welchen Grenzen sie steht, möchte ich mit einem Vorschlag beantworten, der von drei Arten von Borderline ausgeht: das Schizo-Borderline (an der Grenze zu den Schizophrenien), das schizoaffektive Borderline (an der Grenze zu den schizoaffektiven Psychosen) und schließlich das Thymo-Borderline, also das affektive Borderline, das an der Grenze zu den affektiven Psychosen steht, was freilich metaphorisch gemeint ist. Es geht eigentlich darum, an welche Psychose uns die feststellbare Symptomatik erinnert. Eine solche Einteilung ist nicht nur theoretisch denkbar; sie lässt sich durch konkrete klinische Befunde begründen (vgl. Mentzos, 2000). Diese drei Arten von Borderline lassen sich also tatsächlich deskriptiv voneinander trennen. Die dadurch zu gewinnende bessere Differenzierung der Diagnostik ist auch für praktische Zwecke und zu einem besseren Verständnis des Patienten von großer Bedeutung. Eigene Untersuchungen bei zwanzig Fällen von Borderline (Mentzos, 2000) zeigen, dass sich die meisten an der Grenze zu der schizoaffektiven Psychose befinden. Aber auch das ThymoBorderline, also das an der Grenze zu den affektiven Psychosen, ist offensichtlich zahlreich, wie auch neuere psychiatrische statistische Untersuchungen, insbesondere von Akiskal (2000, S. 261 ff.), deutlich machten. Am seltensten scheint das Schizo-Borderline zu sein, es sei denn, man rechnet auch alle solche Fälle dazu,
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
die heute noch als schizotypische Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden und die wahrscheinlich genauso gut als Schizo-Borderline zu konzeptualisieren wären. Diese ausführlichere Beschäftigung mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung ist deswegen notwendig, weil das Borderline, auch wenn man die von mir vorgeschlagene engere Definition zugrunde legt, offensichtlich die häufigste Form von Persönlichkeitsstörung darstellt und auch diejenige ist, bei der man trotz erheblicher Schwierigkeiten intensive und systematische Behandlungsversuche in den letzten Jahren unternommen hat.
Kapitel 15: Der süchtige und der perverse Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung
15.1 Deskriptive Aspekte der Sucht Innerhalb der deskriptiven Psychiatrie ist »Sucht« nicht nur die Bezeichnung für ein bestimmtes (eben das süchtige) Verhalten, sondern auch für eine Erkrankung, für eine nosologische Einheit, für eine Störung mit charakteristischer Symptomatik, Vorgeschichte und Verlauf. Wir werden aber sehen, dass eine solche Konzeptualisierung zu kurz und zu eng greift und deswegen modifiziert oder wenigstens relativiert werden muss. Im Hinblick nämlich auf die Tatsache, dass das Süchtige bei sehr vielen psychischen Störungen und bei sehr vielen Erlebens- und Verhaltensformen menschlichen Lebens überhaupt anzutreffen ist, erscheint es mir nicht sinnvoll, die Sucht als eine nosologische Einheit, als eine spezielle Erkrankung zu betrachten. Nichtsdestoweniger soll aber zunächst das Phänomen der Sucht rein deskriptiv kurz beschrieben und definiert werden. Das süchtige Verhalten besteht in dem anhaltenden, starken, unwiderstehlichen Drang, bestimmte durch Drogen bzw. andere Substanzen oder auch durch Tätigkeiten, wie leidenschaftliches Glücksspielen etc., hervorgerufene innere Zustände und Befindlichkeiten von Entspannung oder Anregung immer wieder aufzusuchen oder herbeizuführen. Dabei besteht die Tendenz der ständigen Erhöhung der Dosis (nicht nur der Droge oder des Genussmittels, sondern eben auch jener anderen süchtig machenden Tätigkeiten). Daraus resultiert eine starke Abhängigkeit von diesen Zuständen. Solches suchtartige Verhalten kann im Prinzip in allen Bereichen menschlichen Erlebens und Verhaltens entstehen, so z. B. auch bei perversen, süchtig sich wiederholenden sexuellen Verhaltensweisen oder bei übertriebenem Essen oder umgekehrt beim Magersein-Wollen, beim pathologischen Stehlen, Brandstiften, Fernsehen, Computerspielen oder auch bei der Arbeitssucht. Es gibt fließende Übergänge zwischen normalem Gebrauch und Missbrauch des Suchtsmittels bis zu der regelrechten psychischen Abhängigkeit und noch mehr bis zu einer körperlichen Abhängigkeit von ihm. Allerdings besagt diese Deskription des süchtigen Verhaltens noch nichts über das Spezifische der Sucht. Erst in der psychoanalytischen Betrachtung wird deutlich, dass das Suchtmittel ein Ersatz für ein anderes, echtes Bedürfnis ist.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
15.2 Psychodynamik der Sucht: Triebtheoretische, Ich-psychologische, selbstpsychologische und objektbeziehungstheoretische Konzepte Die Psychoanalyse hat in ihren Anfängen die Sucht als einen (Sexual-)Triebbefriedigungs-Ersatz verstanden: Bei Blockierung, Verdrängung, Verunmöglichung der normalen Triebbefriedigung aus inneren oder äußeren Gründen komme es zu einer Ersatzbefriedigung durch das Suchtmittel. So wurde der drogenbedingte Rausch als ein Äquivalent bzw. Ersatz für einen nicht möglichen Orgasmus betrachtet. Diese Auffassung berücksichtigte aber nur den triebpsychologischen Aspekt, war nur sehr beschränkt brauchbar und wurde praktisch verlassen. In der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Theorie der Sucht wurde der Ich-psychologische Aspekt mehr in den Vordergrund gestellt. Jetzt betrachtete man die Sucht als Schutz gegen eine unerträgliche intrapsychische Spannung. Der Süchtige versuche durch das Suchtmittel diese Spannung zu unterdrücken, zu verdrängen, sie wettzumachen oder von ihr abzulenken. Man trinke z. B., um seinen Kummer, seine Angst, seine Schuld- oder Schamgefühle zu »vergessen«. Doch auch diese Ich-psychologische Betrachtung erwies sich als nicht ausreichend. Es gab viele Fälle, die nicht mit diesem einfachen Konzept zu begreifen waren. Die dritte, die selbstpsychologische Auffassung begreift zwar die Sucht – ähnlich wie die zuerst genannte triebpsychologische Sichtweise – als eine Ersatzbefriedigung. Allerdings handele es sich dabei nicht um die Befriedigung von Triebimpulsen und Wünschen, sondern um die Ersatzerfüllung von narzisstischen Bedürfnissen. Diese narzisstische Ersatzbefriedigung stelle eine pathologische Regulierung narzisstischer Defizite dar. Das Suchtmittel werde zum Mittel der notdürftigen Kompensation einer gestörten Selbstwertgefühlregulation. Dies ist tatsächlich häufig der Fall und kann auf zwei entgegengesetzten Wegen geschehen, nämlich entweder regressiv oder pseudoprogressiv. Der erste Weg entspricht in etwa einer Regression des Ich zu einem Zustand, den Freud »NirwanaZustand« nannte, also jene von ihm angenommene wunschlose, diffuse Zurückgezogenheit, die von einer Auflösung der Ich-Grenzen charakterisiert ist. Unerträgliche narzisstische Kränkungen, Minderwertigkeitsgefühle, Selbstverachtung, Hass werden nach dieser Hypothese durch die Wirkung des Suchtmittels bzw. des mit seiner Hilfe erzeugten diffusen Zustands nicht mehr als solche unlustvollen Befindlichkeiten empfunden. Eine solche Entlastung von der intrapsychischen Spannung kann jedoch auch umgekehrt auf dem pseudoprogressiven Weg erreicht werden, also durch die anregende, berauschende Wirkung anderer Suchtmittel. Hier komme es zu einer berauschenden Selbstüberhöhung bei gleichzeitiger Mobilisierung des Größenselbst. In ähnlicher, wenn auch feineren, milderen Weise wird das Selbstwertge-
Kapitel 15: Der süchtige und der perverse Modus
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fühl durch große »Erfolge« oder »Leistungen« bei Tätigkeiten wie dem Glücksspiel oder der Arbeit hochgepuscht. Die genannten drei Hypothesen zur Entstehung der Sucht, also die triebpsychologische, die Ich-psychologische und die selbstpsychologische, sind sicher alle in gewissem Umfang relevant, sie reichen aber noch nicht aus, um alle klinisch beobachtbaren Besonderheiten und alle in der Psychotherapie aufdeckbaren Zusammenhänge adäquat zu erfassen. Dies gelingt erst, wenn man zusätzlich dazu einen vierten, nämlich den objektbeziehungstheoretischen Aspekt berücksichtigt und dabei die Entdeckung macht, dass der Süchtige das Suchtmittel in gewisser Hinsicht als ein Beziehungsobjekt erlebt, behandelt und von ihm Gebrauch macht. Allerdings ist dieses Beziehungsobjekt ein extrem ambivalent besetztes Objekt, indem es zwei »Gesichter« hat: Auf der einen Seite wirkt es tröstend, beruhigend, entängstigend oder berauschend und anregend; auf der anderen Seite aber bringt es dem Süchtigen Leid, Schuldgefühle, körperliche und seelische Zerstörung bis hin zum Tod. In gewisser Hinsicht hat also diese Objektbeziehung zum Suchtmittel einmal Ähnlichkeiten mit einer sadomasochistischen Beziehung bzw. mit dem sadomasochistischen Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung; auf der anderen Seite erinnert es auch an die widersprüchlichen und ambivalenten sowie wechselnden Beziehungen des BorderlinePatienten.
15.3 Süchtiges Ausweiten der Symptomatik Bei dieser Konzeptualisierung der Psychodynamik der Sucht müssen folgende weitere Gesichtspunkte sowie klinische und psychotherapeutische Erfahrungen berücksichtigt werden. Der süchtige Modus ist in Bezug auf den abzuwehrenden Konflikt oder den zu kompensierenden narzisstischen Mangel relativ unspezifisch, auch wenn es sich häufig um Konflikte, Traumata oder Mängel aus der frühen Entwicklung handelt. Fast jeder der in diesem Buch beschriebenen Modi der Konflikt- und Traumaverarbeitung kann sich suchtartig entwickeln: Ein zwangsneurotischer Patient, der an einem Waschzwang leidet, kann sich – in schweren Fällen – sechs bis acht Stunden täglich mit seinen Waschungen beschäftigen. Er verhält sich in Bezug auf die kurze Erleichterung, die ihm jede Waschung bringt, wie ein Süchtiger – er ist nicht davon abzubringen. Oder ein histrionischer (hysterischer) Patient kann überall, im gesamten privaten und beruflichen Feld, zum Zweck der Reinszenierung seines Konflikts jene für die dramatische Darstellung geeigneten Umstände, Personen, Anlässe immer wieder, unermüdlich, unbewusst suchen und finden. Die dabei jeweils erfahrene kurzfristige Entlastung und Entspannung führen dazu, dass seine Suche suchtartig wird. Der phobische Patient findet immer mehr und immer neue Phobien. Der Fetischist hängt sich immer leidenschaftlicher an
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
seinen Fetisch und der Wahnkranke schließlich imponiert oft tatsächlich wie ein »Wahnsüchtiger« (vgl. Mentzos, 2003). Für die Magersüchtigen und Fettsüchtigen hat die deutsche Sprache ohnehin das richtige Wort »süchtig« gefunden: Das Suchtartige in der Entwicklung der Symptomatik wird hier schon durch die Namensgebung in den Vordergrund gestellt, während die Bezeichnung »Anorexia nervosa« (Appetitlosigkeit) regelrecht irreführend ist – die Magersüchtigen sind nicht appetitlos, sie verspüren oft Heißhunger. Diese fast ubiquitäre Ausbreitung des Süchtigen bzw. die potenzielle süchtige »Färbung« fast jeder Störung könnte zu einer Problematisierung der Sucht als einer abgrenzbaren psychischen Störung und zu der Frage führen, ob das Postulieren einer nosologischen Krankheitseinheit »Sucht« sinnvoll sei. Trotz dieser Bedenken empfiehlt es sich, wenn auch mehr aus praktischen, therapeutischen und weniger aus theoretischen Gründen, die Sucht als eine solche abgrenzbare Störung aufrechtzuerhalten, sofern folgende Bedingungen erfüllt sind: erstens, dass das Süchtige eindeutig im Vordergrund steht; zweitens, dass durch Teufelskreise und Gewöhnung eine Verselbstständigung und eine eigene Gesetzmäßigkeit des Prozesses entstanden ist; drittens und insbesondere, dass sich über die Ersatzbefriedigung hinaus eine pathologische Objektbeziehung zum Suchtmittel als grob pathologische Kompromisslösung etabliert hat. Diese drei Kriterien erlauben auch die Abgrenzung vom relativ harmlosen, gewohnheitsmäßigen Gebrauch von Genussmitteln. Aufgrund dieser Psychodynamik, nämlich der Bildung einer pathologischen Beziehung zum Suchtmittel, tauchen hier auch die größten therapeutischen Probleme auf.
15.4 Therapeutische Aspekte der Sucht Die Therapie muss alle genannten Aspekte berücksichtigen. Obwohl die Entwöhnung vom Suchtmittel sehr wichtig ist, stellt sie nicht das wesentliche Therapieziel dar. Außerdem ist sie auf die Dauer oft nur beschränkt effektiv. Dasselbe gilt auch für die aversive Dekonditionierung, für die Strafandrohungen oder für die Konfrontierung mit den destruktiven Folgen der Sucht. Alle diese, wohl begründeten und verständlichen therapeutischen Versuche haben offenbar deswegen nur einen geringen Erfolg, weil – zumindest bei den schweren Fällen – sie sozusagen zur Sucht passen oder, genauer gesagt, zu dieser in gewisser Hinsicht »masochistisch« zu nennenden Beziehung zum Suchtmittel konform sind und dadurch die pathologische »Lösung« eher fördern. Der Entzug und die verhaltenstherapeutischen Verfahren sind sicher trotzdem nützlich, aber nur, um die Circuli vitiosi zu unterbrechen. Manchmal kann dies auch ausreichend sein. Meistens bringen aber erst neue Beziehungserfahrungen in Einzel- und Gruppentherapien – als Alternative für das bis dahin Erlebte – eine wesentliche und anhaltende Besserung.
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15.5 Deskriptive Definition des perversen Modus Unter Perversionen versteht man, rein formal-deskriptiv, Abweichungen vom normalen sexuellen Verhalten in Bezug sowohl auf die Objekte als auch die Handlungen, die zur sexuellen Erregung und Befriedigung führen. Synonym verwendet man die Bezeichnung sexuelle Deviation oder sexuelle Verhaltensstörung. Im DSM-IV werden sie Paraphilien genannt, während in der ICD-10 die Bezeichnung »Abweichungen des sexuellen Erlebens- und Verhaltens« gewählt wurde. Alle diese Definitionen sind aus mehreren Gründen – schon auf dieser deskriptiven Ebene – unbefriedigend: In verschiedenen Kulturen und Epochen wurde das vom normalen sexuellen Verhalten Abweichende recht unterschiedlich definiert. Des Weiteren ist es bei der rein deskriptiven Betrachtung unbefriedigend, dass der Unterschied oft zwischen perversem und sogenanntem normalen Sexualverhalten nur nach der Ausprägung der Abweichung und nach ihrer Vorkommenshäufigkeit beurteilt wird. Erst das psychodynamische Verstehen der Perversion als eines Modus der Abwehr und Kompensation (siehe weiter unten) lässt sie besser abgrenzen und gleichzeitig auch in ihrer Funktion erfassen. Perversionen kommen vorwiegend bei Männern vor. Es besteht meistens kein primäres Krankheitsgefühl, allerdings entstehen sekundär, nachträglich, oft erhebliche Schuld- und Schamgefühle.
15.6 Vorbemerkung zur Psychodynamik der Perversionen Zwar behält die Freud’sche Formulierung, die Perversion sei das Gegenteilige der Neurose, heute noch partiell ihre Gültigkeit insofern, als tatsächlich die Perversion eine sexuelle, sogar eine sehr intensive sexuelle Befriedigung ermöglicht, während dem Menschen mit der neurotisch arbeitenden Abwehr die Befriedigung mehr oder weniger versagt bleibt. Diese Formulierung Freuds bedarf aber zumindest zweier wichtiger Ergänzungen. Erstens muss erklärt und spezifiziert werden, auf welche Weise und mit welchen »Kosten« diese perverse Kompromisslösung und diese tatsächlich stattfindende Triebbefriedigung möglich werden. Zweitens muss klargestellt werden, dass es bei der Perversion, bei ihrer Funktion, eigentlich nicht in erster Linie um die sexuelle Befriedigung per se geht, sondern um Folgendes: Eine offenbar vorliegende Brüchigkeit der Selbstkohäsion und Selbstidentität führt dazu, dass die bei einer sexuellen oder erotischen Beziehung antizipierte Begegnung mit dem ganzen Objekt als eine Gefährdung erlebt wird. Die Perversion schützt das Selbst vor dieser Gefahr, indem sie diese Begegnung mit einer anderen, weniger bedrohlichen ersetzt. Um dies alles sowie einige weitere wichtige Differenzierungen der Psychodynamik verständlich und glaubwürdig zu machen, bedarf es zunächst eines kurzen historischen Überblicks.
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15.7 Historischer Überblick und kritische Betrachtung der Konzepte der Perversion Freud hat 1905 zunächst die Perversion, vom Biologischen ausgehend, als eine anatomische Überschreitung der für die geschlechtliche Vereinigung vorgesehenen Körperzonen und im Weiteren als eine »Verweilung« (also eine Fixierung) bei den normalerweise vorgesehenen intermediären Stufen auf dem Weg zum endgültigen Sexualziel der Vereinigung der Sexualorgane verstanden. Diese Zwischenstufen werden in der Kindheit normalerweise rasch durchschritten, während im Fall der Perversion – so Freud damals – die Tendenz der Einschränkung und der Ausschließlichkeit eines solchen Interesses an anderen Körperstellen als den Genitalien sowie das Festhalten, das Fixiertbleiben auf intermediären Sexualzielen, wie z. B. dem sexuellen Vorspiel, bestehe. Aus diesem Verständnis heraus hat übrigens die Psychoanalyse schon damals die »Inversion« – und damit meinte sie die Homosexualität – wegen der bei ihr implizierten Abweichung lediglich in Bezug auf das Sexualobjekt (und nicht in Bezug auf das Ziel) von den Perversionen abgegrenzt. Freud ist nicht bei dieser somatisch orientierten Hypothese geblieben. Er beschrieb später in den »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1916/1917) und in dem Aufsatz über den »Fetischismus« (1927) sowie im Beitrag »Ich-Spaltung im Abwehrvorgang« (1940) weitere, nunmehr rein psychodynamische Aspekte der Perversion, die zum großen Teil von den Psychoanalytikern der zweiten Generation übernommen wurden. Man ging jetzt ausdrücklicher von einer Regression auf infantile Formen der Sexualitätsbetätigung aus, man nahm also einen Rückgriff auf frühere Stadien der Entwicklung der Sexualität an. Diese Regression erfolge unter dem Druck des ödipalen Konflikts bzw. der ödipalen Kastrationsangst. Dabei spielten aber nicht die einfache Verdrängung, sondern insbesondere die Verleugnung und Spaltung als Abwehrformen die Hauptrolle, was Freud dazu veranlasst hat, von einem »pseudopsychotischen« Weg der Abwehr zu sprechen (Freud, 1927). Diese Verleugnung werde u. a. durch die Idealisierung eines – meist unlebendigen – Fetischs gesichert; es gehe vorwiegend um die Verleugnung des Geschlechtsunterschieds, weswegen diese Fetische auch für den Phallus der Frau stehen. Freud hat also, trotz der Relativierung des Biologischen, doch eine ausschließlich triebtheoretische Position beibehalten und dabei mit vielen recht unsicheren metapsychologischen Annahmen argumentiert. In den letzten Jahrzehnten haben aber die meisten Psychoanalytiker neue Aspekte der Perversion in den Vordergrund gestellt und somit die vorwiegend triebtheoretisch orientierte Definition Freuds relativiert. Dabei wurden die für den Betreffenden extreme subjektive Wichtigkeit des Fetischs und damit auch die Vernachlässigung des Sexualpartners als Person hervorgehoben. Dies führte auch dazu, dass Homosexualität (bei der der Partner oft von zentraler Bedeutung ist) nunmehr aus anderen als den oben erwähnten Gründen – und diesmal endgültig – von den
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Perversionen abgetrennt wurde. Diese partielle Revision der ursprünglichen Auffassungen Freuds über die Perversion darf nicht dazu führen, dass man die große Entdeckung Freuds – nämlich die Regression zu früheren Stufen der sexuellen Entwicklung – übersieht: Denn diese Verknüpfung der Perversion mit früheren Stadien der sexuellen Entwicklung war eine sehr originelle und fruchtbare Hypothese, die wie keine vor ihr in der Lage war, die Ausgestaltung der verschiedenen Perversionen verständlich zu machen. Was man heute kritisieren muss, ist lediglich die Tatsache, dass Freud nicht überzeugend erklären konnte, wozu die Regression, diese Koppelung mit früheren Formen, stattfinden muss. Seine Annahme, der Grund dafür sei der Druck der drohenden Kastrationsangst, griff zu kurz.
15.8 Sexualisierung der Aggression oder Aggressivierung der Sexualität? Versteht man die Tendenz zur Fetischisierung als eine Ignorierung der Person des Partners, als Gegner in der Perversion, so bedeutet dies eine Verachtung und Feindseligkeit ihm gegenüber und die dahinterstehende Aggression wird recht deutlich. Dadurch erscheint die auf den ersten Blick etwas befremdliche Konzeptualisierung von Stoller (1979) zunächst berechtigt: Er definiert nämlich Perversion als die erotische Form von Hass; es handele sich um eine Mischung aus Erotik und Hass. »Je größer allerdings die Objektfeindlichkeit in der gesuchten sexuellen Erregung (wie etwa beim Sadismus oder dem Kindesmissbrauch) wird, desto geringer ist die Fähigkeit, auf die Interessen des Objekts Rücksicht zu nehmen« (Berner, 2000, S. 358). Aus dieser Sicht werden also von Stoller (1979) die Perversion des Sadismus, in gewissem Umfang aber auch viele andere Perversionen als eine Kompromisslösung eines im Wesentlichen aggressiven Konflikts konzeptualisiert: Die primär vorgegebene oder die aufgrund einer frühen narzisstischen Kränkung entstandene reaktiv übermäßige Aggression werde nicht – wie man hätte denken können – zu einem absoluten Hindernis bei einer sexuellen Beziehung, und zwar laut Stoller deswegen nicht, weil die Aggression und der Hass in dieser erotisierten Form eine durch das Sexuelle gemilderte Ausdrucksgebung und Befriedigung finden. Diese bei den meisten Psychoanalytikern akzeptierte und heute noch herrschende Auffassung Stollers – die ich weiter unten kritisch hinterfragen werde – lautet also in etwa so: In der Perversion sei die Aggression das Primäre, während die Sexualität eine Abmilderung mittels der perversen »Lösung« bewirke – wenn auch in bestimmten extremen Fällen (z. B. Lustmörder) die sexuelle bzw. libidinöse Komponente nicht mehr in der Lage sei, die sich aufdrängende massive Destruktivität zu blockieren. Aufgrund meiner therapeutischen Erfahrungen und theoretischen Überlegungen vermag ich nicht diesem Konzept zu folgen. Ich möchte eine Alternativhypo-
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these erläutern. Diese geht davon aus, dass, im Gegensatz und in Umkehrung des eben geschilderten Konzepts, die Aggression nicht das Primäre, sondern das Sekundäre ist. Es geht z. B. beim Sadismus nicht um eine Sexualisierung der Aggression, sondern um eine Aggressivierung der Sexualität. Diese sekundäre Aggressivierung hat eine defensive, eine Abwehrfunktion. Sie drückt sich keineswegs immer als eine offene Aggression aus wie im Fall des offenen Sadismus, sondern auch als eine Zerteilung des Objekts, als eine Ignorierung des Gesamtobjekts, als eine Vernachlässigung der Person des Partners. Sie dient der Abwehr der antizipierten Gefährdung der Angst vor einer zu starken Bindung, etwa bei einer verschmelzenden Vereinigung mit dem Objekt, und vor dem antizipierten Verlust der Ich-Kontrolle oder der Angst, vom Objekt verlassen zu werden (nachdem man von ihm abhängig geworden ist). Alle diese empfundenen Gefahren und Ängste sind partiell real begründet, wenn tatsächlich davor eine Brüchigkeit der Selbst-Kohäsion bestanden hat. Dabei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Im Menschen, der dazu übergeht, die perverse Sexualität vorzuziehen, wird die sonst normale, vorübergehende Verschmelzung innerhalb der sexuellen Vereinigung mit dem Ganzobjekt als eine extreme Gefährdung erlebt und deswegen abgewehrt. Zweitens: Die unter dem Schutz dieser Abwehrmechanismen möglich gewordene sexuelle Erregung und Befriedigung als direktes Erlebnis der eigenen Lebendigkeit wirkt darüber hinaus wie ein das Selbst stabilisierender Faktor. So ist auch die Formulierung Morgenthalers (1974) zu verstehen, wonach die Perversion die »Plombe« sei, die ein brüchiges Selbst noch zusammenhält und seinen Zusammenbruch verhindert. Es braucht nicht immer eine drohende psychotische Dekompensation vorzuliegen; in leichteren Fällen könnte es sich um leichtere Störungen der Identität oder häufiger der Selbstwertigkeit handeln. Gegen diese Arbeitshypothese zur Funktion der Perversion könnte man einwenden, dass sie vielleicht bei schweren Perversionen richtig sein mag, bei denen es sich um eine »frühe Störung« im Sinne des Borderline handelt; aber sie gelte nicht für das, was Kernberg (1997) eine gut und »reif« organisierte Perversion bei einer neurotischen Persönlichkeitsorganisation genannt hat. Dieser Einwand ist nur in dem Sinne berechtigt, dass tatsächlich der perverse Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung sich auf einem breiten Spektrum von Konflikten und Persönlichkeitsorganisationen recht unterschiedlicher Schwere erstreckt. Es geht also auf der einen Seite um Perversionen, die z. B. für die Abwehr und die Kompromisslösung von relativ reiferen, neurotischen Triebkonflikten nützlich sind (etwa durch die Ermöglichung einer Triebbefriedigung ohne Schuldgefühle mit Hilfe des masochistischen Geschlagenwerdens). Am anderen Ende des Spektrums geht es um schwere Perversionen, die dem Schutz und der Stabilisierung eines zentral gefährdeten Selbst dienen. Es gibt also tatsächlich unterschiedliche Variationen der Schwere und der pathologischen Funktion der Perversionen, so dass es falsch wäre, jede Perversion eo ipso und allge-
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mein als eine schwere Störung zu betrachten. Im Übrigen besteht aber kein Grund zu der Annahme, dass das oben von mir formulierte Alternativkonzept (bei der Perversion finde nicht eine Sexualisierung der Aggression, sondern allenfalls eine Aggressivierung der Sexualität statt) nicht für alle Perversionen, also nicht für das Gesamtspektrum zutreffen sollte. Die Beobachtung von Stoller, wonach direkte oder indirekte Aggressivität in fast jeder Perversion existiert, ist sicher richtig – von der Geringschätzung der Person des Anderen bei Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus usw. bis zu der tödlichen Destruktivität beim Sexualmörder. Diese richtige Feststellung rechtfertigt jedoch keineswegs die Annahme Stollers, wonach die Perversion eine durch Sexualität »abgemilderte Aggression« sei. Umgekehrt sprechen die meisten Beobachtungen und Erfahrungen bei Therapien dafür, dass das Gegenteilige zutrifft: Die Aggressivität als »Beimischung« dient dem Schutz des Selbst vor dem attraktiven, begehrten, aber gleichzeitig subjektiv als sehr gefährlich erlebten Objekt. Dies gilt nicht nur dort, wo in schweren Fällen Selbstverlust droht, sondern auch bei jenen leichteren Fällen, bei denen es z. B. um die Abwehr von angedeuteter Kastrationsangst geht. Nach dieser vorwegnehmenden kritischen Stellungnahme zu einem heute noch herrschenden psychoanalytischen Konzept möchte ich nun die Psychodynamik der Perversion systematischer und differenzierter darstellen.
15.9 Psychodynamik der Perversion im Allgemeinen Der Mensch mit einer Perversion weicht unbewusst von der reifen, integrierten, das Gesamtobjekt umfassenden genitalen Sexualität in die desintegrierte, partielle sexuelle Erregung und Befriedigung aus. Aus welchen Gründen kommt es zu diesem Ausweichen? Die ursprüngliche Antwort der Psychoanalyse war: Der Betreffende verhalte sich aufgrund der Kastrationsangst auf diese Weise; er versuche, alles zu vermeiden, bzw. er verdränge alles, was ihn an den Geschlechtsunterschied, an das Genitale erinnere. Diese Antwort war partiell richtig, dennoch musste sie in der weiteren Entwicklung der Perversionstheorie korrigiert und ergänzt werden. Menschen mit einer Perversion haben viel mehr Gründe, der reifen genitalen Sexualität auszuweichen, als nur den einen nämlich, die antizipierte Konfrontation mit der Kastrationsangst. Denn die Perversion stellt keineswegs immer, oder nicht einmal regelmäßig, einen Modus des Umgangs mit der Kastrationsangst dar. Häufiger und in erster Linie hat die Perversion die Funktion der Stabilisierung und Komplettierung des Selbst, nicht zuletzt gerade durch das – trotz Angst – doch zu ermöglichende Sexualerleben. Das ist der Grund, warum dieses Sexualerleben immer wieder vom Perversen süchtig-zwanghaft gesucht und mit besonderer Intensität erlebt wird. Diese starke Abhängigkeit von der perversen Handlung ist also nicht auf die angeblich vorgegebene zu starke Triebhaftigkeit zurückzuführen. Das sexuelle
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Erleben ist wegen seiner das Selbst bestätigenden Wirkung wichtig und somit für den Betreffenden sozusagen lebensnotwendig. Deswegen auch die oft dabei zu beobachtende forcierte Sexualisierung, eine Art Ankurbelung des beschriebenen Erlebens. Diese Konzeptualisierung erklärt das Suchtartige im perversen Verhalten, welches fälschlicherweise oft auf eine primär starke Triebhaftigkeit zurückgeführt wird. Sogar Lustmörder, wenn man sie näher kennenlernt, erweisen sich meistens nicht als primär besonders triebhafte Personen, sondern als unter dem Zwang der ständigen Sexualisierung (aus den genannten Gründen) stehende Menschen, die deswegen nur scheinbar als triebstark imponieren.
15.10 Einige spezielle Formen der Perversion – Der Exhibitionismus hat die mehr oder weniger unbewusste Funktion, dem Betreffenden selbst und der Umgebung zu demonstrieren, dass die Kastrationsangst – oder andere, noch tiefer liegende Ängste um die eigene Selbstintegrität – unbegründet sei. Hinzu kommt eine durch die räumliche Distanz erzielte zusätzliche Absicherung. Demselben Ziel dienen auch die ritualisierten Drohgesten. – Beim Voyeurismus besteht ein perverser Funktionswandel der normalen sexuellen Neugierde und der sexuellen Erregung beim Anschauen des Sexualobjekts, wobei die Distanz jene auch hier die für den Betreffenden dringend erscheinende Sicherheit garantiert. – Beim Fetischismus wird die präödipale Problematik besonders deutlich: Die Gefahr der Verschmelzung mit dem weiblichen (mütterlichen) Ganzobjekt wird hier durch das Begehren nur des (symbolischen) Teilobjekts abgewehrt. – Beim Sadismus garantiert die offen aggressiv-überlegene Haltung eine herrschende dominierende Position, die den Betreffenden vorwegnehmend von den Gefahren schützt, die für ihn mit der sexuellen Kontaktaufnahme und Vereinigung verbunden sind (nicht nur Kastration, sondern auch Kontrollverlust oder das Verschlungenwerden). Um Wiederholungen zu vermeiden, verzichte ich hier auf eine weitere Analyse des Sadismus, weil ich mich in den vorangehenden Abschnitten und insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Theorie von Stoller – indirekt – mit dem Sadismus oder seinen Äquivalenten bei allen Perversionen beschäftigt habe.
15.11 Masochismus: Eine auch außerhalb der Perversion bedeutsame Abwehrstrategie Die »masochistischen« Phänomene, also das Aufsuchen oder sogar Genießen des eigenen Leids, haben uns schon an verschiedenen Stellen dieses Buches beschäf-
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tigt (u. a. bei der Besprechung der Depression). Diese Phänomene stellen ein besonderes Problem dar, weil sie einen, allerdings nur scheinbaren, eklatanten Widerspruch zu dem von Freud postulierten Lust-Unlust-Prinzip darstellen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man berücksichtigt, dass der Schmerz, den der Masochist erleidet, sehr oft die Bedingung dafür ist, dass er Lust überhaupt empfinden kann oder darf. Dabei ist dies nur eine von den vielen Funktionen des Masochismus. Heigl-Evers und Weidenhammer (1987) haben die hier wichtigen Gesichtspunkte in einer dichten, klaren Formulierung zusammengefasst: »Wir halten masochistische Verarbeitungsformen [...] nicht für die Manifestation eines Todestriebes oder den unmittelbaren Ausdruck selbstdestruktiver Neigungen, sondern für eine innere und interpersonelle Inszenierungsform, die erstens der Regulierung von Lust, Spannung und Schmerz, zweitens der Überwindung von Angst, drittens der Verwandlung eines schwachen, gleichgültigen Liebesobjekts in ein starkes, anteilnehmendes, dient« (S. 193). Diese Definition und Beschreibung des Masochismus entspricht einer späten Entwicklungsstufe der psychoanalytischen Masochismustheorie. Freud, der offensichtlich sehr von dem schrecklichen masochistischen Leiden vieler seiner Patienten beeindruckt war und sich intensiv über lange Jahre mit diesen zunächst unverständlichen Erlebens- und Verhaltensweisen beschäftigt hat, entwickelte nach 1920 das Konzept des primären Masochismus. Diese Entwicklung wurde bereits in einem früheren Abschnitt erwähnt, in dem auch der moralische Masochismus kurz geschildert wurde. Auch bei diesem Letzteren geht es oft um Schuldausgleich. Dieser Zusammenhang ist auch einem breiteren Publikum von Nichtexperten wenigstens andeutungsweise bewusst und bekannt. Sonst wäre auch nicht verständlich, warum z. B. der griechische Autor Kazantzakis (in einem Interview) folgende (wahrscheinlich erfundene!) Anekdote erzählte: »Als er einen hoch dotierten Literaturpreis bekam, entschloss er sich, mit dem Geld drei Monate lang in Italien herumzureisen und sich endlich auch zu erlauben zu faulenzen. Zu Beginn seiner Reise entschloss er sich aber, während dieses Urlaubs zumindest vormittags ein Paar Schuhe, die eine Nummer zu klein waren, zu tragen, damit er ein bisschen darunter leide! Er dachte, das wäre sinnvoll, um die Götter günstig zu stimmen und eine eventuelle Strafe wegen seiner Faulheit abzuwenden!« Ein depressiver Künstler, der sich bei mir in Behandlung befand, sorgte durch sein Verhalten dafür, dass er trotz seiner großen Fähigkeiten Misserfolge erntete, und dies offensichtlich, um die bei ihm bestehenden starken Schuldgefühle auszugleichen. Die ständige Unterwürfigkeit den Mitmenschen gegenüber diente einem anderen Patienten offensichtlich als Besänftigungsstrategie, besonders gegenüber Autoritäten. Im dritten Teil dieses Buches wird diese Thematik in einem größeren Bezugsrahmen im Kapitel 23.3 über »Das Über-Ich-Konto« erneut aufgegriffen. Eine etwas anders gestaltete Strategie, mit einer ähnlichen Funktion, ist folgende: Studenten, die trotz ihrer Begabung und ihres Fleißes im Abschluss examen
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wiederholt versagen oder überhaupt nicht zur Prüfung gehen, tun dies – wie in ihren Behandlungen deutlich wird – damit sie nicht mit ihrem zu erwartenden Erfolg den Vater beruflich übertrumpfen bzw. als Aufsteiger den Vater zurücklassen. Die große Vielfalt und Verbreitung masochistischer Strategien verführen manchmal dazu, alle Formen selbsterzeugten Leidens als masochistisch zu bezeichnen. Dies erscheint mir eine unzulässige und die Besonderheiten des masochistischen Modus verwischende Konzeptualisierung. Nicht jede Form von Autoaggression ist masochistisch. Es ist sinnvoll, nur diejenigen Formen des selbst erzeugten, provozierten oder sonstwie freiwillig erlittenen Leidens als masochistisch zu bezeichnen, die von einer direkten oder indirekten Befriedigung bzw. Entspannung und insbesondere Entlastung begleitet werden. Dagegen gibt es Leid, das von außen erzwungen wird, oder auch Leid infolge von einer Autoaggression, die aus einer Wendung der ursprünglich nach außen gerichteten Aggression nach innen stammt. Eine solche Wendung der Aggression nach innen erfolgt entweder aus Angst vor Strafe und vor der Niederlage – im Fall einer offenen Auseinandersetzung – oder aber (was oft übersehen wird), um das Objekt vor dieser eigenen Aggression zu schützen. Es empfiehlt sich, alle diese Formen von Leid nicht masochistisch zu nennen und den Terminus für Prozesse mit der oben beschriebenen Dynamik zu reservieren. Diese etwas längere Beschäftigung mit dem Masochismus am Ende des Kapitels über Perversionen erschien mir deswegen sinnvoll, weil gerade am Beispiel des Masochismus sich sehr gut demonstrieren lässt, dass die von Stoller formulierte, aber auch von sehr vielen Analytikern vertretene These, wonach die Perversion die sexualisierte Form der Aggression und des Hasses sei, nicht zutreffen kann. Zwar enthält jedes masochistische Verhalten in seiner dialektischen Dynamik auch das Gegenteilige, nämlich sadistische Elemente; so z. B. indirektes Quälen des Quälers durch das passive Erleiden, also durch das Ausbleiben der natürlichen, offen aggressiven Gegenreaktion beim masochistischen »Opfer«. Dennoch ist auch diese versteckte Aggression keine primäre, sondern eine reaktive. Und sie stellt nicht etwa die endlich – wenn auch versteckt – möglich werdende Befriedigung einer angeblich primären Aggression des Masochisten dar, sondern sie hat die Funktion, seinen Stolz und seine Autonomie einigermaßen zu retten. Dadurch wiederum, dass sie nur halbbewusst ist, stört sie nicht die Hauptfunktion des Masochisten, nämlich das Objekt zu gewinnen und zu erhalten.
15.12 Der Sadomasochismus Die eben beschriebene feine Mikrodynamik des Ineinandergreifens masochistischer und sadistischer Komponenten ermöglicht einen geeigneten Übergang zur Thematik des manifesten und offenen – erogenen und nichterogenen – Sadoma-
Kapitel 15: Der süchtige und der perverse Modus
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sochismus. Es handelt sich um die vielleicht häufigste Form eines interpersonellen Abwehrmechanismus (vgl. Mentzos, 1976/1988 und Kapitel 3 über die Abwehrmechanismen in diesem Lehrbuch). Es geht um einen interaktionell organisierten defensiven Prozess, in dem die neurotischen Bedürfnisse des sadistischen Partners ganz genau zu den neurotischen Bedürfnissen des masochistischen Partners passen, das heißt von ihm bedient werden und umgekehrt. Hier spreche ich von einer sadomasochistischen Kollusion. Welche ist die besondere und zunächst sichtbare »Leistung« und Funktion des Sadomasochismus? Er ermöglicht beiden Partnern eine intensive Beziehung und eine intensive sexuelle Befriedigung, unter Vermeidung der Gefahr des Selbstverlustes. Die direkte Aggressivität des Sadisten und die indirekte Aggressivität des Masochisten sorgen dafür: Im Fall des Masochisten stellt die unterwürfige Haltung und das Herbeisehnen des Leidens eine nur scheinbar liebende und hingebungsvolle Zuwendung dar, die aber in Wirklichkeit durch die Verweigerung der echten Hingabe innerhalb einer authentischen Begegnung zwei sich respektierender, autonomer Individuen solch eine Hingabe unmöglich macht. Hier wird also auch der sadistische Partner der Befriedigung solcher tieferen Sehnsüchte beraubt. Auch er geht – wie der Masochist – »leer« aus, was diese tieferen Bedürfnisse betrifft. Trotzdem sind offensichtlich die defensiven und kompensatorischen Gewinne so notwendig, dass beide Partner bei dieser qualvollen »Lösung« stehenbleiben, sogar oft süchtig danach werden, und dies für eine sehr lange Zeit!
15.13 Exkurs über sexuelle Störungen im engeren somatisch-medizinischen Sinn Auf das ausgedehnte Gebiet der Störungen der sexuellen (somatischen) Funktionen kann ich im Rahmen dieses Lehrbuches nicht eingehen. Lediglich möchte ich daran erinnern, dass viele dieser Störungen (wie z. B. Impotenz, Frigidität, Vaginismus) Folgen oder Begleiterscheinungen von psychischen Störungen, also eigentlich psychosomatische Erkrankungen sind. Es darf wiederum nicht übersehen werden, dass viele sexuelle Störungen somatische Ursachen und allenfalls sekundär auch psychoreaktive Folgen haben. Wichtig erscheint mir auf jeden Fall, dass die Sexualität allgemein nicht nur einen somatischen, sondern auch einen psychischen und insbesondere einen Beziehungsaspekt hat, der in der inzwischen entwickelten differenzierten Fachdisziplin der Sexualmedizin wenigstens teilweise adäquat berücksichtigt wird (spezielles Wissen zu diesem Gebiet findet man z. B. bei Beier und Ahlers, 2007, oder bei Sigusch, 2008, 4. Aufl.).
Kapitel 16: Der psychosomatische Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung
16.1 Einleitung Die Psychosomatik sei – so die übliche Definition – eine Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung und Analyse psychosomatischer Phänomene beschäftigt, das heißt solcher Vorgänge, die auf den engen Zusammenhang zwischen körperlichen und seelischen Prozessen beruhen. Die systematische Klärung dieser Zusammenhänge sei eines der Hauptziele der Psychosomatik. Eine solche Definition war schon früher etwas problematisch, weil wir zwar einigermaßen zu wissen glaubten, was das Körperliche sei, wir aber vor erheblichen Schwierigkeiten standen, wenn wir das sogenannte »Seelische« näher zu definieren versuchten. In einer ersten pragmatischen Annäherung gingen wir wohl davon aus, dass ein Gedanke, ein Wunsch, eine Absicht, eine Sehnsucht, eine Ahnung, ein Trauergefühl usw. etwas Psychisches sei, während der Körper insgesamt und in seinen Teilen, wie er sich uns in der einfachen naiven Beobachtung präsentiert, durch die Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie präziser beschrieben wird. Die Hinterfragung dieser Definition erreichte jedoch in den letzten Jahren einen krisenhaften Höhepunkt, insbesondere seitdem wir mittels der bildgebenden Verfahren wissen, dass auch eindeutig psychische Vorgänge (wie Rechnen oder sich Freuen etc.) von im Gehirn lokalisierbaren Prozessen begleitet werden, die sogar mit Hilfe eben dieser neuen Verfahren in ihrem Ablauf sichtbar gemacht werden können. Diese Unterscheidung also zwischen dem Psychischen und dem Somatischen scheint – so meinen viele – fragwürdig geworden zu sein. Das damit angedeutete alte, aber neu formulierte Leib-Seele-Thema stellt ein noch nicht befriedigend gelöstes philosophisches Problem dar. Denn auch wenn wir heute viel besser über die körperlichen Bedingungen, also über die körperliche conditio sine qua non bewusster und unbewusster psychischer Prozesse informiert sind als früher, so bleibt dieser bemerkenswerte Unterschied zwischen res extensa und res cognitans (Descartes) ausgesprochen rätselhaft. Dies bedeutet freilich nicht, dass wir deswegen den naiven ontologischen Dualismus von Descartes und damit die unabhängige Existenz der Seele akzeptieren müssten. Das Rätselhafte bleibt aber trotzdem bestehen. Dieses philosophische Problem kann und wird uns an dieser Stelle nicht weiter beschäftigen.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Für die hier interessierende Analyse der vielfältigen und recht komplizierten Zusammenhänge könnte man sich zunächst mit folgendem Kompromissvorschlag als Arbeitshypothese begnügen: Das Seelische ist das auch subjektiv Erlebbare bzw. Bewusste (oder noch breiter: das potenziell bewusst Erlebbare). Die auch nach dem Ausklammern des Leib-Seele-Problems offen bleibenden Fragen sind zahlreich wegen der Kompliziertheit der ineinandergreifenden Prozesse. Die zu deren Erfassung und Erklärung entwickelten Theorien und Modelle sind ebenfalls so zahlreich und so verwirrend, dass es nicht möglich ist, eine systematische Beschreibung in dem hier zur Verfügung stehenden Platz zu bieten. Stattdessen versuche ich das Wesentlichste aus diesem Bereich anhand zweier wichtiger und schwieriger Fragestellungen zu illustrieren, die in gewisser Hinsicht auch zwei Aporien darstellen. Jede dieser Aporien enthält eine antinomische Gegensätzlichkeit, das heißt, sie enthält zwei schwer integrierbare Annahmen.
16.2 Die erste Aporie: Determinismus versus Finalismus Psychosomatische und somatopsychische Interaktionen und Zusammenhänge beherrschen unser Leben, sowohl im normalen, gesunden als auch im gestörten, kranken Zustand. Zum Beispiel wird Angst – ein seelischer Zustand – von einer Erhöhung der Herz- und Atemfrequenz, von Schwitzen, Zittern, Erregung des Sympathikus, aber auch von der Aktivierung bestimmter cerebraler Strukturen (z. B. Amygdala) begleitet. Andererseits gehen körperliche Entspannung oder umgekehrt Förderung der Durchblutung unserer Muskeln durch Bewegung mit angenehmen seelischen Zuständen, mit einer positiven Befindlichkeit und den damit korrespondierenden cerebralen Veränderungen einher. Dies wären Beispiele für normale psychosomatische und somatopsychische Zusammenhänge. Betrachten wir aber jetzt das ebenfalls einfache Beispiel einer psychosomatischen Störung: Eine ständige innere, also intrapsychische Spannung wird oft von einer Beeinträchtigung des Magen-Darm-Kanals (»nervöse« Gastritis, Reizcolon, Durchfälle oder Verstopfung usw.) begleitet. Nun entsteht die Frage, wie es zu diesen somatischen Störungen kommt. Wie ist es also überhaupt möglich, dass intrapsychische Spannungen, unlustvolle Gefühle, unlösbar erscheinende Konflikte, tief greifende seelische Traumatisierungen, also psychische (d. h. subjektiv erlebte oder potenziell erlebbare) Vorgänge zu fassbaren körperlichen Symptomen führen? Seitdem wir wissen, dass alle psychischen Vorgänge von damit korrespondierenden cerebralen Prozessen begleitet werden, bietet sich an, anzunehmen, dass die somatischen Veränderungen bei den verschiedenen Organen und körperlichen Systemen durch neuronale Aktivierung des Gehirns und deren Leitung in die Peripherie zustande kommen. Nicht das ist es also, was uns Schwierigkeiten macht, sondern jene zwar feststellbare, aber begrifflich nicht fassbare Korrespondenz dieser
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Parallelität zwischen psychischen und cerebralen Prozessen. Dies ist das eigentlich Rätselhafte, auf dessen Klärung wir aber – zunächst einmal – verzichten. Wir können aber dafür manche andere, grundlegende Fragen doch diskutieren. Betrachten wir z. B. die »nervöse« Gastritis im Gefolge einer psychischen Störung: Handelt es sich dabei um die Ausdrucksgebung solcher psychischen Spannungen und Konflikte in einer Körpersprache – analog der hysterischen Konversionssymptomatik – und handelt es sich somit auch hier um indirekte Kommunikation? Oder stellen die körperlichen Symptome bloß kausal hervorgerufene Dysfunktionalitäten oder sogar Organschädigungen dar, die weder als unbewusste Inszenierungen noch als Ausdruck des Intrapsychischen zu verstehen wären, sondern einfach als eine mechanische Auswirkung der vorgegebenen psychophysiologischen Gegebenheiten innerhalb des Organismus zu erklären sind? Haben diese körperlichen Veränderungen einen Grund, vielleicht sogar einen Sinn, oder haben sie nur Ursachen? Ich habe es früher und gelegentlich noch heute als widersprüchlich empfunden, wenn in benachbarten Abschnitten psychoanalytischer Texte eine als psychosomatisch bezeichnete Störung, z. B. ein Asthmaanfall, sowohl als körperlicher Ausdruck einer intrapsychischen Spannung, eines Konflikts, aber parallel dazu auch als ein kausal determinierter Prozess, z. B. als allergische Reaktion auf ein Allergen, dargestellt wurde. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, ich empfand es inkonsequent, wenn einerseits behauptet wird, eine psychogen mitbedingte Erkältung hätte eine psychische Abwehrfunktion, indem sie es z. B. ermögliche, die Konfrontation mit einer unangenehmen Situation zu vermeiden, oder indem sie durch die implizierte Ausdrucksgebung immerhin bewirke, eine intrapsychische Spannung zu reduzieren; andererseits wurde aber gesagt, dass dieselbe Erkrankung kausal hervorgerufen worden sei, und zwar dadurch, dass seelische Spannung oder eine depressive Verstimmung zu einer Minderung der körperlichen Abwehr gegen bakterielle Infektionen führe – eine Annahme, die durch empirische Befunde unterstützt und erhärtet wurde. Untersuchungen zeigten, dass der seelische Zustand der Hoffnungslosigkeit mit einer messbaren Minderung der zellulären und humoralen, immunologischen Abwehrtätigkeit des Körpers einhergeht. Nehmen wir zunächst einmal an, dass diese Ergebnisse auch heute noch Gültigkeit haben. Man fragt sich nun, welche von den beiden obigen Annahmen stimmt. Handelt es sich um einen sinnvollen Vorgang mit einer (unbewussten) Intentionalität und Finalität? Oder geht es – deterministisch betrachtet – nur um einen sinnlosen, funktionslosen (wenn auch oft psychogen entstandenen) und mehr oder weniger passiv erlittenen Zusammenbruch der Körperabwehr? Es besteht freilich die Möglichkeit, diese schwierige Frage mit Hilfe der hypothetischen Annahme zu beantworten, dass in einigen Fällen die erste, in anderen die zweite, also die deterministische Annahme zutreffe. Ohne diese Alternativannahme expressis verbis auszusprechen, hat Franz Alexander (1951) in den 1940er Jahren mit seinem in gewisser Hinsicht genialen Modell im Prinzip das Problem auf diese Weise zu lösen versucht.
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16.2.1 Exkurs über das Franz-Alexander-Modell Nach Alexander gibt es zwei große Gruppen von psychosomatischen Erkrankungen. In die erste Gruppe gehören die früher »vegetative Neurosen« genannten, also die im engeren Sinne psychosomatischen (funktionellen oder mit einer Organschädigung einhergehenden) Erkrankungen. Es sind diejenigen, die von Uexküll (1963) später »Bereitstellungserkrankungen« nannte. Was war damit gemeint? Es gibt bestimmte grundlegende, universelle, bei allen Menschen vorhandene, normale Reaktionsbereitschaften (z. B. Bereitschaft zur Flucht oder umgekehrt zum Kampf). Diese werden in bestimmten Situationen dadurch dysfunktional, dass sie nicht zu der vorgesehenen vegetativen Umstellung und zu sonstigen entsprechenden Reaktionen führen (diese Reaktionen wurden in diesen Fällen sozusagen blockiert). Die ursprüngliche vegetative Umstellung bleibt aber bestehen, so dass jene körperlichen Bereitschaften zu sehr und zu lange, chronisch, in Anspruch genommen wurden, wodurch es schließlich zu einer funktionellen oder sogar Organschädigung kommt. Die Reaktionsbereitschaft zum Angriff oder zur Flucht in Gefahrsituationen wird normalerweise von einer vermehrten Sympatikotonie, von einer Adrenalinausschüttung und damit einhergehenden anderen Veränderungen begleitet, die eine körperliche Vorbereitung für Angriff oder Flucht darstellen. Sofern aber dieser Angriff oder diese Flucht aufgrund von bestehenden Hemmungen, also aufgrund von inneren oder auch äußeren Blockierungen, nicht stattfindet, führen diese anhaltende Sympatikotonie, Adrenalinausschüttung etc. auf die Dauer zu Dysfunktionen und Schädigungen (z. B. Bluthochdruck). Man sieht: Obwohl auch hier ein zentraler psychogenetischer Faktor (die Hemmung, die Deprivation, der Zwang usw.) am Werk ist, resultiert die psychosomatische Störung sozusagen als eine mechanische, passiv erlittene Folge und kann aus diesem Grund auch kausal-deterministisch erfasst werden. In die zweite Gruppe gehören nach Alexander die Störungen mit symbolischem Charakter (nach von Uexküll »Ausdruckserkrankungen«), bei denen die Symptome eine symbolische Bedeutung und Funktion haben. Eine hysterische Pseudolähmung der Extremitäten (Konversionssymptom) ist nicht eine kausal-deterministisch fassbare neurologische Störung, sondern sie stellt eine unbewusste Inszenierung dar, in der ein schmerzlicher, unerträglicher, unlustvoller Zustand nicht offen und bewusst, sondern versteckt in einer Körpersprache ausgedrückt wird. Symbolisierungsprozesse und eine unbewusste Quasi-Intention sind also hier die zentralen Elemente eines Prozesses, der eher finalistisch zu erfassen wäre. In die erste Gruppe der »vegetativen Neurosen« bzw. der »Bereitstellungserkrankungen« hat Alexander sieben bekannte, sehr häufige medizinisch-internistische Erkrankungen eingeordnet, darunter das Ulcus duodeni, das Asthma bronchiale, die Hypertonie, die Colitis ulcerosa. Dieses Modell, das über lange Jahre eine ganze Generation von Psychoanalytikern und Psychodynamik-freundlichen Medizinern maßgebend beeinflusst hat,
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konnte auf Dauer nicht in seiner Gesamtheit aufrechterhalten werden. So hat sich gezeigt, dass z. B. auch bei den Bereitstellungserkrankungen eine, wenn auch viel »ältere«, Körpersprache am Werke ist. Des Weiteren sind die körperlichen Voraussetzungen und vorgegebenen Dispositionen bei der Entwicklung solcher schweren Erkrankungen wie Asthma bronchiale, Colitis ulcerosa, Ulcus duodeni keineswegs immer durch eine nur psychische, also psychogenetisch erzeugte chronische Überbelastung dieser Reaktionsbereitstellungen entstanden. Sie basieren auch auf vielen anderen Dispositionen oder auch auf biologischen Noxen (so z. B. der Infektion mit dem Helicobakterium im Fall des Ulcus oder mit allergischen Reaktionen beim Asthma usw.). Außerdem konnte die vermutete obligatorische Koppelung bestimmter Konflikte (oder bestimmter Persönlichkeitstypen) mit bestimmten psychosomatischen Störungen nicht bestätigt werden. Das Alexander’sche (bzw. Uexküll’sche) Paradigma hat aber heute noch einen zumindest didaktisch hohen Wert, weil es in einer einfachen Weise auf eine Fülle (wenn auch nicht alle) der denkbaren, möglichen oder auch faktisch anzutreffenden Prozesse hinweist. Eine befriedigende Antwort auf die eingangs gestellte Frage, nämlich wie sich die deterministische mit der finalistischen Annahme vereinbaren lässt, eine Lösung also der ersten Aporie, vermag aber auch dieses Modell nicht zu geben. Ähnliches gilt auch für das von Mitscherlich (1970) vorgeschlagene Modell der zweiphasigen Abwehr: In einer ersten Phase versuche der Patient mit psychoneurotischen Abwehrmechanismen den Konflikt zu lösen. Ab einem gewissen Punkt – wenn das Problem nicht auf diese Weise gelöst werden kann – komme es zum Zusammenbruch des Sinnzusammenhangs; jetzt verläuft der Prozess nach einer eigenen, gleichsam deterministischen Gesetzmäßigkeit (bei den eigentlichen psychosomatischen Erkrankungen). Auch hier gelangt man aber nicht zu einer Integration des deterministischen und des finalistischen Gesichtspunkts. Die Notwendigkeit der Beantwortung der ersten Aporie besteht dennoch weiterhin, weil es sich dabei nicht um eine nur theoretische, akademische Angelegenheit, sondern um ein auch praktisch, therapeutisch relevantes Problem handelt. Man trifft sehr häufig Patienten mit körperlichen Störungen, bei denen sowohl Ursachen als auch Gründe, sowohl objektiv feststellbare Bedingungen als auch unbewusste Motivationen, die mit dem Symptom verbunden sind, aufgedeckt werden. Und dies gilt sowohl für die früher Ausdruckskrankheiten als auch Bereitstellungskrankheiten genannten Störungen. So sieht man Patienten, die an hartnäckigen Kopfschmerzen oder Rückenbeschwerden oder generalisierten Muskelschmerzen leiden, bei denen man schon nach der ersten Begegnung den Eindruck gewinnt, dass diese Symptome etwas ausdrücken. Man gewinnt also den Eindruck, dass die Betroffenen durch ihre körperlichen Beschwerden manche dahinterstehenden halbbewussten oder unbewussten, konfliktbedingten Spannungen oder einen Trennungs- oder sonstigen seelischen Schmerz oder alte, unerfüllte Sehnsüchte symbolisch zum Ausdruck bringen. Die genaue Anamnese
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und insbesondere auch die differenzierte, klinische und labormäßige, körperliche Untersuchung ergeben aber – und das ist der zunächst verwirrende und »skandalöse« Umstand – Hinweise dafür, dass tatsächlich auch organische Ursachen für diese Beschwerden bestehen. Die Röntgenaufnahme oder das Elektroenzephalogramm verweisen z. B. auf noch vorhandene Folgen eines kürzlich erlittenen Autounfalls. Wie kommt es nun, dass der Patient neben seinen tatsächlich vorhandenen psychischen inneren Nöten, Schmerzen, Depressionen auch körperliche Befunde aufweist, wobei er ausgerechnet die Symptome erhält, die er zu einer passenden, symbolischen Ausdrucksgebung seines inneren, seines seelischen Leidens »braucht«? Wir stehen also immer noch vor der ersten Aporie.
16.2.2 Eine Arbeitshypothese zur Lösung der ersten Aporie: Das passende Zusammentreffen Bei der genaueren Analyse solcher psychosomatischen Fälle bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass dieses bemerkenswerte Zusammentreffen von Kausalität und Finalität eigentlich relativ einfach mit Hilfe einer darwinistisch inspirierten Überlegung zu lösen ist. Darwin hat in seinem genialen Entwurf nicht nur die Entstehung der Arten sehr überzeugend erklärt, sondern gleichzeitig – und vielleicht ohne es selbst gemerkt zu haben, wie nebenbei – eine viel wichtigere Entdeckung gemacht: Die Finalität und Gerichtetheit in der Natur können mit Hilfe der Annahme erklärt werden, dass von den zahlreichen zufälligen Mutationen – oder über andere Wege entstehenden Variationen – diejenigen zurückbleiben, überleben und selektiert werden, die »the fittest« waren, also diejenigen, die zu den vorhandenen, zu den gegebenen Bedingungen und Bedürfnissen passten. In analoger Weise könnte man auch sagen, dass von den zahlreichen im Leben vorkommenden körperlichen Erkrankungen und daraus entstehenden Beschwerden oft diejenigen unbewusst selektiert und länger als andere als »Leidensquelle« beibehalten werden, die für die Ausdrucksgebung eben des inneren Leidens »geeignet« sind, die also zu diesem Leiden Analogien respektive Homologien aufweisen und somit zu ihnen passen. Die kausal determinierten körperlichen Vorgänge einerseits und das vom Intrapsychischen her stammende Ausdrucksbedürfnis andererseits treffen sich also sozusagen auf halbem Wege, und dies in einer Kette von aufeinanderfolgenden und zueinander führenden Schritten. Das Bedürfnis, von dem ich hier spreche, ist einmal dasjenige der Ausdrucksgebung und der Externalisierung per se und zweitens das Bedürfnis nach Entlastung von der speziellen Konfliktspannung, die jeweils dahintersteht. Die automatische Suche nach Milderung der Unlust und Frustration aus dem neurotischen (oder auf andere Weise entstandenen) Ausbleiben der Befriedigung findet hier eine »Lösung«. Die Externalisierung von Spannung und Konflikt dient oft der Aufrechterhaltung der Selbstkohäsion, die sonst unter der dauerhaften intrapsychischen Widersprüchlichkeit zusammenzubrechen drohte.
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Dieses Prinzip der Externalisierung jener inneren unerträglichen psychischen Spannung in den Körper, und zwar meistens anlässlich einer sich bietenden »Gelegenheit« (also eines dazu passenden realen körperlichen Leidens), scheint sehr verbreitet zu sein und den zentralen Mechanismus bei dem Vorgang der Somatisierung darzustellen. Dieser Prozess der Somatisierung, der in den modernen psychiatrischen diagnostischen Systemen als somatoforme Störung lediglich deskriptiv erfasst wird, kann mit Hilfe dieser Überlegungen viel besser psychodynamisch begriffen werden. Die Koppelungen zwischen körperlicher Störung und psychischem Bedürfnis nach Ausdrucksgebung und Entlastung können selbstverständlich sehr unterschiedliche Ausprägungen und Formen annehmen. Im Wesentlichen handelt es sich aber immer um dasselbe Prinzip des passenden Zusammentreffens zweier Prozesse. Diese Arbeitshypothese erweist sich als besonders fruchtbar, z. B. bei Schmerzen verschiedener Arten (vgl. Mentzos, 2006). Ich will dies an einer speziellen Form von vasomotorischen (gefäßbedingten) Kopfschmerzen illustrieren. Einige Menschen, die an solchen Kopfschmerzen leiden, pflegen bemerkenswerterweise ihre Beschwerden über das Wochenende zu bekommen. Dies hat wahrscheinlich zunächst eine rein physiologische, körperliche Ursache: Da es sich bei diesen Menschen oft um arbeitsüberlastete und leistungsbezogene Menschen handelt, sorgt während der Woche die hierzu gehörige anhaltende Sympathikotonie, die von einer Engstellung der Gefäße begleitet wird, dafür, dass es nicht zu einer Gefäßerweiterung kommt, die den Schmerz bei migräneartigen Kopfschmerzen hervorruft. In dem Moment aber, wo die Betreffenden sich Freitagabend in ihrem Sessel zurückfallenlassen, um die verdiente Ruhe des Wochenendes zu genießen, lässt, wiederum rein physiologisch, der Sympathikotonus nach. Die resultierende Parasympathikotonie1 führt vermutlich zu einer Gefäßerweiterung, wobei die sich erweiternden Gefäße die Kopfschmerzen verursachen. Nun kann man davon ausgehen, dass es bei einem Teil dieser Menschen, die ihre Kopfschmerzen auf diese Weise bekommen, dabei bleibt. Sie nehmen eine Tablette oder sie warten einfach ab, bis die Schmerzen nachlassen. Bei anderen Betroffenen kann es aber dazu kommen, dass dieser Kopfschmerz, so unangenehm er auch ist, unbewusst zum Ausgleich von Schuldgefühlen eingesetzt wird, etwa wenn die Anstrengung nachlässt, die die sonst konstant vorhandenen Schuldgefühle ausgleicht (vgl. auch Kapitel 23.3 über das »Über-Ich-Konto«). Oder es kann sein, dass diese Schmerzen der Externalisierung eines inneren, see-
1 Der Parasympathikus ist der Gegenspieler des Sympathikus im vegetativen System. Ich benutze hier die altmodischen Termini Sympathikotomie und Parasympathikotomie und versuche nicht, sie in gegenwärtige, aber noch nicht gesicherte Konzepte und Begriffe wie dopaminerge und cholinerge neuronale Aktivierungen etc. zu übersetzen, um dem Leser eine Verkomplizierung zu ersparen.
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lischen Schmerzes dienen. Diese Rückkopplung, sei es durch Schuldgefühlentlastung oder durch die Möglichkeit der Ausdrucksgebung eines anderen Schmerzes, die zur Verlängerung und Fixierung des Symptoms über das ganze Wochenende beiträgt, ist nicht die einzige Variation. Es gibt Patienten, bei denen durch die Rückkopplung andere »Gewinne« zustande kommen, etwa dass diese Kopfschmerzen Anlass werden, unangenehme Handlungen wie z. B. gefürchtete sexuelle Intimität ablehnen zu dürfen. Die Funktion der Ausdrucksgebung der inneren Not durch das Symptom hat sogar weiterführende Vorteile. Sie ermöglicht dem Patienten, seinen Bezugspersonen sichtbar, fassbar, spürbar zu machen, dass er leidet, ohne dass er ausdrücklich über seinen seelischen Zustand zu sprechen bräuchte. Die Kompromissleistung dieser Symptombildung, also ihre Funktion, besteht darin, dass der Patient einen Teil des inneren Drucks reduzieren kann, ohne vor anderen Menschen und sogar vor sich selbst den eigentlichen Schmerz zu verraten. Das Vermeiden, den eigentlichen Schmerz zu offenbaren, ist nicht nur willkommen, weil der Patient Schwierigkeiten hat, seine seelische Not einem anderen anzuvertrauen, sondern auch, weil dieser innere Zustand oft für den Betroffenen selbst schwer fassbar und schwer artikulierbar ist. Das Symptom bietet also auch die Möglichkeit der Konkretisierung und der indirekten Mitteilung, was nicht nur den beschriebenen (primären), sondern auch einen sekundären Krankheitsgewinn mit sich bringt wie Nachsicht oder Fürsorge seitens der Umgebung. Man beachte, dass diese Externalisierung und Konkretisierung des Innerseelischen mit Hilfe des körperlichen Symptoms unter Nutzung sowohl einer psychogen erzeugten (z. B. Durchfall aus Angst), aber auch einer nicht psychogen erzeugten, also primär auf einem organischen Leiden basierenden Symptomatik (z. B. ein Knochenbruch bei einem nichtverschuldeten Autounfall) zustande kommen können. Damit ist die in der ersten Aporie enthaltene Frage beantwortet. Auch wenn das geschilderte Beispiel der mit dem Wochenende verknüpften Kopfschmerzen nicht statistisch-empirisch nachgeprüft wurde – was prinzipiell durchaus möglich wäre –, so könnte es als Modell benutzt werden, um zu illustrieren, auf welche Weise die deterministischen und die finalistischen Aspekte integrierbar sind.
16.3 Die zweite Aporie: Warum ist manchmal eine körperliche Erkrankung »gesünder«? Um den hier gemeinten scheinbaren Widerspruch, die zweite Aporie, zu beschreiben, müssen zuvor einige weitere wichtige psychosomatische Modelle, außer derjenigen von Alexander, von Uexküll oder Mitscherlich, skizziert werden, die ebenfalls über lange Zeit und teilweise auch noch bis heute sehr einflussreich innerhalb der Psychosomatik waren bzw. sind. Es geht erstens um das Konzept der regressi-
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ven Resomatisierung von Max Schur (1966), zweitens um das Konzept der Alexithymie1 von Peter Sifneos (1975) und drittens um das Konzept der pensée opératoire von Pierre Marty (Marty und M’Uzan, 1963). Alle diese Modelle gehen mehr oder weniger davon aus, dass beim Menschen mit psychosomatischen Störungen eine mangelhafte Symbolisierungsfähigkeit vorliegt, sei es durch eine sekundäre defensive Resomatisierung und Desymbolisierung (so Schur) oder durch eine primär defekte Symbolisierung. Im ersten Fall geht es um eine Rückgängigmachung der normalerweise im Laufe der frühen Entwicklung stattgefundenen Desomatisierung (Schur), bei der aus reinen Körperempfindungen »psychische« Gefühle, Affekte etc. entstehen (heute würde man auch von Mentalisierung sprechen, vgl. Fonagy und Target, 2006). Nach der zweiten Annahme besteht von Anfang an eine Unterentwicklung der Fähigkeit, psychische Repräsentationen emotionaler Zustände zu bilden, es handle sich also um einen primären Defekt (so Sifneos oder Marty). In diesen Modellen wird das Entstehen körperlicher Symptome als ein Indikator für eine schwere Beeinträchtigung der Symbolisierungsfähigkeit betrachtet; es handle sich demnach um eine schwere Störung. Den Vorgang der Desomatisierung hat man später in der Psychoanalyse differenzierter zu erfassen versucht. Küchenhoff fasst einige dieser Bemühungen folgendermaßen zusammen: »Die Ausbildung eines inneren psychischen Raums ist [...] von sukzessiven generalisierten Interaktionserfahrungen abhängig; aus ihnen bilden sich die psychischen Repräsentanzen, die Innenwelt des Kindes (Stern, 1992). Die Interaktionen müssen so beschaffen sein, dass [...] Neues entstehen kann, auf der anderen Seite [müssen sie] tragfähig und haltgebend sein. Ein vom Begehren der Eltern, von ihrer Überfürsorglichkeit etc. überfüllter Raum [kann] seine Funktion ebenso wenig erfüllen wie ein Raum, der von Verlust und beziehungsloser Leere bedroht ist. Beide Vereinseitigungen führen zu einem Intrusions-Seperations-Dilemma (A. Green, 1990), zu den existenziellen Bedrohungen von Übermacht oder fallen gelassen zu werden. Werden im Verlauf des Lebens diese Bedrohungen reaktiviert, werden die zugehörigen Repräsentanzen aus dem seelischen Erleben ausgeschlossen. Diese Zerstörung der Repräsentanzen ist ein Abwehrprozess, dessen Mechanismus als Verwerfung (McDougall, 1985) beschrieben worden ist« (Küchenhoff, 2008, S. 620). Diese neuen psychoanalytischen Konzeptualisierungen machen deutlich, dass der von Schur als Resomatisierung oder von Sifneos als Alexithymie bezeichnete emotionelle Mangel das Resultat eines Abwehrvorgangs ist. Nun ergibt sich, unabhängig davon, welche der beiden Annahmen in Bezug auf die Herkunft dieses Symbolisierungsmangels als die richtige anzusehen ist, folgende (zunächst theoretische) Schwierigkeit: Geht man davon aus, dass psycho-
1 Es müsste eigentlich im richtigen Griechisch Thymalexie heißen.
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somatische Störungen aus einer solchen schweren Symbolisierungsschwäche (egal welcher Herkunft) hervorgehen, was alle diese Theorien behaupten, so müsste es sich so verhalten, dass, je stärker die körperliche Beteiligung, also je »lauter« die Organsprache (anstelle der höher organisierten und symbolischen psychischen Sprache) ausgeprägt ist, desto schwerer die anzunehmende Regression (oder der Defekt) ist. Und umgekehrt, je schwächer die somatische Beteiligung, desto leichter und günstiger wäre die Störung einzuschätzen. Somit wäre z. B. eine Zwangsneurose leichter als eine Colitis ulcerosa. Dies mag zunächst auch noch angehen. Wie steht es aber mit den Borderline-Störungen und mit den Psychosen? Nicht nur sind besonders die Psychotiker auffallend oft körperlich gesund, sondern es kommt gelegentlich vor, dass gerade bei Ausbruch der Psychose eine vorhandene psychosomatische, körperliche Erkrankung sich zurückbildet, um dann nach Abklingen der Psychose unter Umständen wieder aufzutreten! Folgendes Beispiel illustriert das Gemeinte: Eine 36-jährige Frau, die früher weder körperlich noch seelisch stärker auffällig war, sondern nur gelegentlich leichte urtikarielle Exantheme (Nesselsucht) in Belastungssituationen entwickelte, hatte in ihrer Kindheit, aber in gewissem Umfang auch noch bis zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr ungünstige, stark ambivalente Beziehung zu ihrer Mutter. Sie konnte allerdings offenbar die daraus entstehenden Konflikte und unterschwelligen Depressionen durch eine sehr aktive Haltung sowie eine fast übertriebene Hilfsbereitschaft (Helfersyndrom) u. a. in ihrem Beruf relativ gut kompensieren. Unter dem Einfluss einer Reihe gravierender Trennungen und Verlusterlebnisse in kurzen Abständen kam es allerdings zu einer akuten Verschlechterung ihres Hautleidens mit nunmehr generalisierten Exanthemen, quälendem Juckreiz und, damit in Zusammenhang, zu einer Demoralisierung der sonst nicht so leicht zu entmutigenden Patientin. Sie lief nunmehr von Arzt zu Arzt, musste dann auch in die Hautklinik übernommen werden. In einem nur geringfügig gebesserten, von der Klinik entlassenen Zustand war sie aufgrund ihres schlechten Zustands gezwungen, bei ihrer Mutter – zu der sie in den letzten Jahren kaum Kontakt hatte – Zuflucht zu suchen, um körperlich intensiv wegen des Hautleidens versorgt werden zu können. Nach drei oder vier Wochen des Aufenthalts bei der Mutter wurde sie zum ersten Mal in ihrem Leben akut psychotisch. Sie musste in die Psychiatrie mit einer paranoid-halluzinatorischen Psychose aufgenommen werden. Zum Zeitpunkt des Psychoseausbruchs bildeten sich erstaunlicherweise die Exantheme rasch zurück, und zwar so weit, dass sie während des Aufenthalts in der psychiatrischen Klinik nicht hautärztlich behandelt werden musste. Solche relativ seltenen, aber dafür im Hinblick auf Theorie und Forschung psychotischer und psychosomatischer Erkrankungen hochinteressanten Fälle habe ich deskriptiv mit dem Terminus »Syndromwechsel« (Mentzos, 1992) erfasst und psychodynamisch mit der Annahme einer aus verschiedenen Gründen notwendig werdenden Änderung der Abwehr und Kompensationsstrategie erklärt.
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Hier wird also die zunehmende Verschlechterung (denn es gibt wohl keinen Zweifel daran, dass die psychotische Störung wohl die schwerere Störung ist) nicht von einer Intensivierung, sondern umgekehrt von einer ausgeprägten und erstaunlichen Reduzierung, also einer Besserung der psychosomatischen Symptomatik begleitet. Dieser Widerspruch innerhalb der Resomatisierungstheorie von Schur, analog auch in den Konzepten der Alexithymie oder der pensée opératoire, ist ein nur scheinbarer. Er entsteht nur dann, wenn man Somatisierung als bloße Störung, als Ausfall von Symbolisierungsprozessen und nicht gleichzeitig auch als einen Abwehr- und Kompensationsmechanismus betrachtet. Sobald man die Funktion der Somatisierung in den Vordergrund stellt, wird es möglich, diesen Widerspruch aufzulösen. Es gibt nämlich Fälle, bei denen die Somatisierung – weit davon entfernt, ein Indikator für einen vorliegenden Defekt zu sein – sich im Gegenteil als eine unter den gegebenen Umständen sinnvolle Abwehr- und Kompensationsstrategie erweist. Mitscherlich berichtete einmal anlässlich eines Interviews in den 1970er Jahren, dass er ohne die zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens aufgetretene internistische Erkrankung nicht in der Lage gewesen wäre, seine damalige schwere persönliche Lebenskrise zu überwinden und zu überleben. Im Fall der erwähnten Frau mit der Urtikaria und der Psychose hat sich gezeigt, dass sie offensichtlich in einer ersten langen Phase in ihrem Leben (also über Jahrzehnte) mit Hilfe ihres überkompensierenden Helfersyndroms, aber auch ihrer gelegentlich auftretenden Hauterkrankung, über lange Zeit einen in ihr schlummernden schwerwiegenden Konflikt gut überstehen und kompensieren konnte. Erst als zusätzliche gravierende Belastungen durch viele Trennungen und Verluste hinzukamen, wurde die regelrechte psychosomatische Abwehr, also der psychosomatische Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung, in extremer Weise intensiviert, so dass klinische hautärztliche Behandlung erforderlich war. Als jedoch auch dies nicht mehr ausreichte und die zusätzliche Belastung einer durch die Umstände erneut erzwungene Abhängigkeit von der Mutter hinzukam, war auch diese extrem intensive psychosomatische Abwehr nicht mehr »effektiv«, sie konnte nicht mehr greifen. Die Externalisierung und Konkretisierung in den Körper (in diesem Fall in die Haut), also in das somatische Projektionsfeld, reichte nicht mehr aus, so dass die Patientin psychotisch wurde. Jetzt wurde eine die Realität vernachlässigende, paranoid-halluzinatorische Projektion – sozusagen als das letzte Mittel – eingesetzt. Es ist üblich, dass in einem solchen Fall auch psychoanalytisch orientierte Therapeuten und Psychiater von einem endgültigen Versagen der Abwehr und von einer psychotischen Dekompensation sprechen. Ich versuche diese Formulierungen zu vermeiden, weil ich glaube, dass sogar diese schweren psychotischen Symptome Teil von – allerdings noch früheren, primitiveren – Abwehr- und Kompensationsmechanismen sind. Man könnte etwas salopp sagen: In der höchsten Not und wenn alles andere versagt, muss die schwere Artillerie des Wahns und der Halluzination eingesetzt werden, um die Selbstkohäsion – des Menschen wertvollstes
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Gut – notdürftig zu retten. Im Kapitel über die Psychosen werde ich diese Funktion des Wahns und der Halluzination näher erläutern. Hier zunächst nur so viel: Mit Hilfe der psychotischen Projektion gelingt es, jene unerträgliche und die Kohäsion des Selbst gefährdende intrapsychische Spannung deutlich zu reduzieren. Man sieht: Bei einer psychodynamischen Betrachtung des Psychopathologischen werden diese sogenannten Störungen nicht vorwiegend als Funktionsausfälle (was sie sicher auch sind), sondern gleichzeitig auch als »Verteidigungslinien« aufgefasst. Dadurch kann die Schwere einer Störung differenzierter eingeschätzt und in gewisser Hinsicht auch relativiert werden. So versteht man auch, warum Somatisierung unter Umständen weniger eine »Störung« und mehr eine »Fähigkeit« darstellt und warum manchmal körperlich krank werden gesünder sein kann, als nicht krank zu werden! Die genannte Patientin hat nach Abklingen der Psychose in einer dann begonnenen zweijährigen psychotherapeutischen Behandlung große Fortschritte gemacht und konnte einen Teil ihrer intrapsychischen Spannungen ohne die »Hilfe« ihrer früheren psychosomatischen Störungen und ohne die Mobilisierung psychotischer Mechanismen abbauen und überwinden. Eines Tages kam sie in die Stunde mit einer schweren Erkältung und sagte mir halb lachend: »Sie werden es nicht glauben, es ist seit Jahren das erste Mal, wo ich mir mal wieder einen richtigen, vernünftigen Schnupfen erlaubt habe!« Zusammenfassend zu der Thematik der zweiten Aporie lässt sich Folgendes sagen: Die obigen Überlegungen und die geschilderten Beispiele sollten keineswegs den falschen Eindruck erwecken, dass die Konzepte der Resomatisierung von Max Schur und der Alexithymie bzw. der pensée opératoire nutzlos und unbrauchbar seien. Sie mussten lediglich, genau wie auch das weiterhin partiell nützliche Alexander’sche, Modell relativiert und durch die neuen Erfahrungen und Entwicklungen der Theorie der Psychosomatik korrigiert werden. Diese Feststellung ist insofern von sehr großer Relevanz, weil viele Psychoanalytiker, aber insbesondere auch viele psychodynamisch orientierte Mediziner, die sich alltäglich mit der Diagnostik und Therapie psychosomatischer Störungen beschäftigen, resignieren beim Versuch, ein kohärentes Konzept der Psychodynamik psychosomatischer Störungen zu formulieren. Dies ist nicht berechtigt. Die partiell noch gültigen Anteile der geschilderten Modelle, zusammen mit den von mir formulierten Arbeitshypothesen, geben Anlass zu einem angemessenen Optimismus.
16.4 Externalisierungs- und Internalisierungsprozesse bei der Entstehung psychosomatischer Störungen Externalisierung ist der zusammenfassende Oberbegriff für alle diejenigen Prozesse, bei denen das Intrapsychische (Gefühle, Vorstellungen, Befindlichkeiten etc.) nach außen verlagert, also anderen Menschen, Situationen etc. zugeordnet,
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attributiert oder sogar regelrecht zugeschoben wird. Alle diese Externalisierungsprozesse wurden schon im ersten Teil des Buches (Kapitel 2.12 und 4.11) skizziert. Umgekehrt werden bei dem psychischen Prozess der Internalisierung viele äußere Ereignisse, Bilder, Vorbilder, Stimmungen, Verhaltens- und Handlungsmuster nach innen übernommen und zu eigen gemacht. Bei den Externalisierungen ist die Exkorporation (z. B. bestimmte Formen psychogenen Erbrechens), die Projektion im engeren Sinne (z. B. beim Wahn oder bei den unzähligen alltäglichen Formen des Projizierens eigener unerwünschter intrapsychischer Zustände und Inhalte nach außen) und drittens die reifere Form der Externalisierung, die Selbstobjektivierung oder die äußere Formgebung des eigenen Selbst zu unterscheiden. Analog und sozusagen symmetrisch dazu lassen sich die Internalisierungen unterteilen in erstens die unreife Inkorporation (z. B. das Verschlingen des Essens bei der Bulimie), zweitens die Introjektion im engeren Sinne als die relativ unreife, nicht selektive, sondern undifferenzierte Vereinnahmung des Objekts und drittens die reifere Form der Identifikation, als das zunächst normale, alltägliche sich Identifizieren mit dem Anderen oder mit Teilen des Anderen. Dieser Vorgang wird sehr oft in einen Abwehrmechanismus verwandelt, wodurch manche Mängel kompensiert und viele Konflikte pseudogelöst werden; so z. B. wenn anstelle der nicht möglichen echten Objektbeziehung lediglich eine Identifikation mit dem unerreichbaren, gefürchteten oder verloren gegangenen Objekt stattfindet. Es handelt sich um einen Mechanismus, der ziemlich früh von Freud beschrieben wurde und, wie wir heute wissen, vielen, insbesondere depressiven Störungen zugrunde liegt (vgl. Kapitel 11 über die Depression).
16.4.1 Der Körper als Beziehungsobjekt Es versteht sich von selbst, dass wir gerade auf dem Gebiet der psychosomatischen Störungen ständig mit solchen Externalisierungen und Internalisierungen zu tun haben. Dies ist selbstverständlich, wenn man Folgendes berücksichtigt: Unter den drei möglichen Projektionsfeldern – also die Welt der realen Objekte und dann die Welt der fantasierten Objekte mit der Variation der Welt des Traums – nimmt das dritte Projektionsfeld, nämlich der eigene Körper, einen zentralen Platz ein. Dies erklärt sich dadurch, dass der Körper ständig zur Verfügung steht und ständig direkt, also von innen, vom Seelischen her beeinflusst und sozusagen im Sinne der jeweils notwendigen Internalisierung oder Externalisierung verwendet wird. Man kann sich z. B. mit dem wunden und schmerzenden, mit dem juckenden, schrecklich oder schön aussehenden Körperteil identifizieren; oder aber man kann manche eigenen seelischen Inhalte und Qualitäten in den Körper externalisieren (z. B. wenn der Hypochonder das »Böse« in einen Körperteil lokalisiert mittels der Überzeugung, an einem Tumor zu leiden).
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So versteht man, warum diese vielfältigen und komplizierten Interaktionen zu einem Modell zusammengefasst wurden, innerhalb dessen der eigene Körper als ein Objekt im psychologischen Sinne aufgefasst und der Umgang mit ihm als eine Objektbeziehung konzeptualisiert wurde (vgl. z. B. Hirsch, 1989). Dieses Modell erweist sich als nützlich, um auf eine einfache und anschauliche Weise das Verhältnis zum eigenen Körper, z. B. bei der magersüchtigen oder der bulimischen Patientin oder bei der Patientin, die sich selbst schneidet, oder bei dem Patienten, der seinen Körper malträtiert, usw. zu verstehen. Besonders eindrucksvoll sind die Fälle, bei denen dieser Umgang mit dem eigenen Körper, z. B. im Rahmen masochistischer Strategien, sich eben nicht auf den eigenen Körper beschränkt, sondern auf den Körper naher Verwandter, meistens der eigenen Kinder, ausdehnt. Manche Mütter bringen ihre jungen Töchter nachts in die Chirurgieabteilung und drängen darauf, dass ihr Kind etwa wegen einer angeblichen Blinddarmentzündung operiert werden müsse! Oft gelingt es diesen Müttern, den Chirurgen zur Operation zu überreden, obwohl die Befunde nicht eindeutig für eine akute Appendizitis sprechen und sich nach der Operation tatsächlich zeigt, dass gar keine Entzündung vorgelegen hatte. Solche und ähnliche Fälle sind in den letzten Jahren, zunächst in der amerikanischen und dann auch in der europäischen Fachliteratur, als eine Variation des Münchhausen-Syndroms (artifizielle Selbstverletzungen durch den Patienten selbst, in der halbbewussten Absicht, eine Erkrankung vorzutäuschen) beschrieben. Diese bemerkenswerte spezielle Ausformung des Münchhausen-Syndroms wird unter der Bezeichnung Proxy-Syndrom (das Wort deutet auf die nahen, also die »proximalen« Verwandten hin) diagnostiziert.
16.5 Die Notwendigkeit der Psychodynamisierung der Psychosomatik Es wurde schon oben angedeutet, dass, obwohl viele der früher sehr einflussreichen psychosomatischen Modelle erheblich relativiert und korrigiert werden mussten, es keinen Anlass zur Resignation gibt in Bezug auf die Chancen, ein brauchbares, stringentes, wenigstens zum Teil empirisch gestütztes Modell psychodynamischer Psychosomatik zu entwickeln. Ein solches Modell ist nicht nur durchaus verwirklichbar, sondern auch aus folgendem Grund dringend erforderlich: Der weltweite Siegeszug der großen klassifikatorischen Systeme von DSM-IV und ICD-10 beruht sicher auf der Tatsache, dass die operationalisierte Diagnostik zu einer erheblichen Besserung der früher sehr schlechten Reliabilität (der Übereinstimmung zwischen verschiedenen Beobachtern) geführt hat. Ob jedoch diese Erhöhung der Reliabilität auch eine Besserung der Validität bzw. eine Garantie
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bedeutet, das Wesentliche in Bezug auf Genese, Psychodynamik und Psychotherapie zu erfassen, muss stark angezweifelt werden. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, dass die intensive, dennoch bloß deskriptiv operationalisierte Diagnostik in der Praxis schon aufgrund ihrer sehr eingeschränkten Zielsetzung, aber auch aus arbeitsökonomischen Gründen zu einer Vernachlässigung wichtiger psychodynamischer Aspekte führt. Aus allen diesen Gründen bedarf es einer Psychodynamisierung nicht nur in der Psychiatrie, sondern auch in der Psychosomatik. Unter anderem ermöglicht die Berücksichtigung der Externalisierungs- und Internalisierungsprozesse einen zusätzlichen Fortschritt bei den schon seit einigen Jahren laufenden Bemühungen einer Psychodynamisierung durch die OPD (Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik).
16.6 Differenzialpsychodynamik der körperlichen Störungen und Beschwerden Versucht man eine gewisse Ordnung in der großen Vielfalt der infrage kommenden Kombinationen von Faktoren bei Patienten mit körperlichen Beschwerden überhaupt herzustellen, so bietet sich eine Aufzählung folgender Möglichkeiten an:
16.6.1 Rein organisch bedingte Symptomatik Die körperliche Symptomatik, mit der der Patient zum Arzt kommt oder den Therapeuten aufsucht, ist hier mit Sicherheit nur auf organische Ursachen zurückzuführen. Zwar implizieren alle Erkrankungen immer eine Reaktion und eine Antwort des psychophysischen Organismus in seiner Gesamtheit auf eine Noxe (Infektion, Unterernährung, Avitaminose, degenerative Alterserscheinungen, Körperverletzungen, natürliche Abnutzung der verschiedenen Organe und Organsysteme usw.); dennoch stellt bei dieser, also bei der ersten Kategorie von somatischen Störungen und Symptomen jene chemische, bakterielle, mechanische, stoffwechselbezogene Noxe die eigentliche Ursache dar, ohne die die Erkrankung und die Symptomatik nicht zustande gekommen wären. Die Benennung und Abgrenzung dieser ersten Möglichkeit ist für die Mediziner – im Hinblick auf die Tatsache, dass sich die somatische Medizin hauptsächlich mit diesen rein organischen Krankheiten beschäftigt – freilich eine banale Feststellung. Diese musste hier jedoch ausdrücklich erwähnt werden, weil viele Psychoanalytiker, aber auch Nicht-Psychoanalytiker sich sozusagen verpflichtet fühlen, bei allen Erkrankungen einen psychogenetischen Faktor aufzudecken.
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16.6.2 Organische, aber indirekt psychisch bedingte Erkrankung Die direkte Symptomatik bzw. die körperliche Erkrankung ist in dieser zweiten Kategorie zwar ebenfalls direkte Folge mechanischer, chemischer usw. Noxen; es lassen sich aber indirekte psychische Faktoren aufdecken, die die organische Erkrankung herbeigeführt haben, so z. B. in solchen Betriebs- oder Autounfällen, bei denen eine Unfallneigung (accident proneness) in der Anamnese deutlich wird. Man erfährt z. B., dass der Betreffende öfters solche Unfälle erlitten hat, so dass unter Umständen der Verdacht auftaucht, ob hier wenigstens partiell Fehlhandlungen und unbewusste Inszenierungen vorliegen. Diese können z. B. mit einem indirekten Selbstbestrafungsbedürfnis zum Ausgleich von Schuldgefühlen oder mit der Loyalität gegenüber einem verlorenen Partner zusammenhängen (in der unbewussten Absicht, dasselbe zu erleiden wie die geliebte und verlorene Person). Gelegentlich geht es auch um eine latente Suizidalität.
16.6.3 Sekundäre Hysterisierung Bei dieser dritten Kategorie findet man zwar sowohl in der Anamnese als auch in der klinischen und Laboruntersuchung eindeutige objektive körperliche Befunde und Ursachen der körperlichen Symptome. Es fällt jedoch eine Diskrepanz zwischen der relativen Geringfügigkeit der organischen Störung oder Schädigung und des subjektiv beklagten Leidens des Patienten auf. Es wird einem bei näherer Betrachtung deutlich, dass die ursprüngliche, meistens relativ geringfügige objektive körperliche Ursache und Symptomatik zum Kristallisationskern einer sich darum herum entwickelnden unbewussten Ausdrucksgebung des psychischen Leidens wird, wenn auch dieser Prozess nicht immer die eindeutigen Charakteristika einer hysterischen Inszenierung aufweist. Die große Verbreitung und Häufigkeit eines solchen psychosomatischen Vorgangs sind mir besonders anlässlich meiner Supervisionstätigkeit in großen psychosomatischen und Rehabilitationskliniken bewusst geworden. Ich nenne diesen Vorgang eine sekundäre Hysterisierung, um anzudeuten, dass, wie auch sonst bei der Konversionshysterie, das Bedürfnis nach einer indirekten Ausdrucksgebung der Not und Spannung in einer Körpersprache besteht, dass hier aber der hysterische Modus sozusagen das Angebot der objektiven, wenn auch oft nur geringfügigen körperlichen Störung benutzt. Durch diese Anknüpfung an die Realität wird diese – freilich unbewusst – besonders »effizient«. Gefördert wird ein solcher Vorgang durch eine formelle oder inhaltliche Gestaltähnlichkeit zwischen dem Körperlichen und dem Psychischen (z. B. seelischer und realer körperlicher Schmerz). Dadurch kommt es schneller zum »passenden Zusammentreffen« (vgl. Kapitel 16.2.2).
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16.6.4 Die reine Konversionssymptomatik (hysterische Inszenierung) Es gibt auch die rein hysterischen Störungen mit einer pseudokörperlichen Symptomatik (Lähmungen, Schwindelzustände, Schmerzsyndrome usw.) ohne jeglichen objektivierbaren organischen Befund. Hier kommt also die unbewusste hysterische Inszenierung ohne organischen Kristallisationskern aus, also ohne somatische Störung, ohne körperlichen Schaden. Dies geschieht mittels Identifikation mit einem Krankheitsbild (man nannte früher die Hysterie den großen Imitator aller, insbesondere der neurologischen Erkrankungen). Eine objektive organische Störung bzw. Schädigung liegt hier also nicht vor (vgl. Kapitel 8.1 ff. über den hysterischen Modus sowie Tab. 2).
16.6.5 Nichthysterische, somatoforme, insbesondere hypochondrische Symptomatik In diese Kategorie muss man nicht nur die heute offiziell nicht mehr hysterisch, sondern somatoform genannte Symptomatik, sondern an erster Stelle die Hypochondrie einreihen, die ebenfalls durch eine Fülle von Beschwerden ohne objektive körperliche Befunde charakterisiert ist und die sich jedoch von der hysterischen Symptomatik eindeutig unterscheidet. Deskriptiv besteht dieser Unterschied darin, dass bei der Hypochondrie Ängste und Befürchtungen (die bei den hysterischen Patienten nicht vorhanden sind) im Vordergrund stehen. Psychodynamisch handelt es sich um folgenden Unterschied: Während bei dem hysterischen Modus der Abwehrmechanismus der Identifikation eine sehr große und zentrale Rolle spielt, steht bei der Hypochondrie umgekehrt die Projektion in den eigenen Körper im Vordergrund.
16.6.6 Funktionelle Syndrome und Psychosomatosen Nun komme ich zu den eigentlichen psychosomatischen Störungen im engeren Sinne. Es geht erstens um die funktionellen Syndrome (also die funktionellen Störungen verschiedener Körperorgane) und zweitens um die von Organveränderungen und -schädigungen begleiteten psychosomatischen Erkrankungen, also um die Psychosomatosen. In dieser Kategorie fasse ich somit diejenigen Störungen zusammen, bei denen die Konflikt- oder Traumaverarbeitung durch eine Somatisierung erfolgt, welche zu objektiven körperlichen Störungen oder sogar Schädigungen führt. Der Weg dahin führt über die psychosomatischen Mechanismen, die ich in vorangehenden Abschnitten skizziert habe, und zwar anlässlich der Diskussion über Bereitschafts-
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erkrankungen, Resomatisierung, Alexithymie, pensée opératoire und der von mir vorgeschlagenen Konzeption des passenden Zusammentreffens und der Verknüpfung zwischen quasi homologer körperlicher und psychischer Strukturen und Prozesse. Das Bedürfnis nach Ausdrucksgebung des inneren Leidens bzw. der intrapsychischen Spannung stellt das hauptsächliche – unbewusste – Movens für diese Verknüpfung dar. Allerdings findet hier die Ausdrucksgebung auf einem viel tieferen Niveau der Symbolisierung statt im Vergleich zu den Verhältnissen beim hysterischen Modus, und dies unterscheidet das hier Gemeinte von der beschriebenen sekundären Hysterisierung. Man spricht hier von einer Organsprache. Es sind die zahlreichen Fälle, welche die Hauptgruppe der psychosomatischen Störungen im engeren Sinne ausmachen. Man könnte eine zusätzliche Differenzierung vornehmen, je nachdem ob diese Ausdrucksgebung (in der Organsprache) sich vorwiegend Internalisierungs- oder Externalisierungsmechanismen bedient. Im Fall der Bulimie z. B. handelt es sich in der ersten Phase des bulimischen Anfalles um eine massive Inkorporation, dann, in der zweiten Phase beim Erbrechen, um eine massive Exkorporation des stark ambivalent besetzten Objekts.
16.6.7 Die Psychosomatik der Psychosen Obwohl die Psychosen keine äußeren körperlichen Symptome und Beschwerden bieten, gehören sie doch in diese zusammenfassenden Darstellung der Störungen mit einhergehenden körperlichen Auffälligkeiten. Einmal, weil sie sehr wahrscheinlich schon primär eine somatische, eine cerebrale Prädisposition – Vulnerabilität (oder Hypersensibilität) – zur Voraussetzung haben; dies wäre der somatopsychische Aspekt. Dann aber auch, weil sie von einer psychosomatisch entstehenden Veränderung der Funktion und Struktur des Gehirns begleitet werden – dies wäre der psychosomatische Aspekt. Ich meine, dass die Psychosen als die Psychosomatosen des Gehirns bezeichnet werden können. Auch hier trifft eine biologisch vorgegebene Vulnerabilität (oder wahrscheinlich nur Übersensibilität) mit dem starken Bedürfnis nach Reduzierung der intrapsychischen Spannung zusammen. Es handelt sich um eine Spannung, die durch das psychotische Dilemma hervorgerufen ist, wobei beide Seiten, die cerebrale und die psychische, im Verlauf sich gegenseitig beeinflussen (siehe Näheres im Kapitel 17 über die Psychosen und 19.6 über die Psychosomatosen des Gehirns).
Kapitel 17: Der psychotische Modus der Konfliktund Traumaverarbeitung
17.1 Die deskriptive und die psychodynamische Dimension der schizophrenen und der affektiven Psychosen Anders als in der ICD-10 und im DSM-IV werden hier auch die schweren affektiven Störungen (major depression, Manie und bipolare Störungen) den Psychosen zugeordnet, und zwar unter dem Oberbegriff der affektiven Psychosen. Dies geschieht nicht nur aus historischen Gründen (diese Störungen wurden früher endogene Psychosen genannt), sondern auch, um den gravierenden Charakter der Symptomatik der affektiven Psychosen zu unterstreichen. Übrigens sprechen gerade diejenigen Psychiater, die die größte Erfahrung mit den bipolaren Störungen haben, wie selbstverständlich und trotz ICD-10 immer bei diesen Störungen von Psychosen (vgl. z. B. Wiesbeck, 2003, in seiner detaillierten Wiedergabe eines einschlägigen Kongresses in Würzburg, 2002). Psychosen (schizophrene und affektive Psychosen) bestehen in ihrem Erscheinungsbild aus gravierenden psychischen Symptomen, die im Fall der Schizophrenien u. a. in Wahnideen, Halluzinationen, Beeinflussungserlebnissen, Autismus oder fusionellen Zuständen, überhaupt in der Beeinträchtigung der Fähigkeit, zwischen Selbst- und Nicht-Selbst zu unterscheiden, bestehen. Die affektiven Psychosen (früher manisch-depressive Erkrankungen und jetzt im Rahmen von ICD-10 und DSM-IV »schwere affektive Störungen« genannt) wiederum fallen durch ausgeprägte affektive Störungen auf: Massive Beeinträchtigungen der Stimmung, des Antriebs und der Affekte in Richtung der Depression oder der Manie (depressiver Affekt, psychomotorische Hemmung etc. oder umgekehrt manische Heiterkeit und/oder Erregung, Betriebsamkeit), Störung der Fähigkeit des Betroffenen, sich selbst und die anderen auf der emotionalen Ebene adäquat zu erleben bzw. die emotionalen Aspekte der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen richtig einzuschätzen. In manchen Fällen treten auch bei den affektiven Psychosen paranoide Ideen, Versündigungs- und Kleinheitswahn auf oder umgekehrt eine megalomane Überschätzung der eigenen Wertigkeit bis hin zum Größenwahn. Im Hinblick auf diese Ausprägung der emotionalen Veränderung und der gelegentlich zusätzlichen gravierenden Symptome bin ich der Meinung, dass auch die in ICD und DSM affektive Störungen genannten Zustände doch weiterhin als (affektive) Psychosen bezeichnet werden sollten.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Psychosen imponieren also auf den ersten Blick als schwere Ich-Erkrankungen sowohl in kognitiver als auch in emotioneller Hinsicht. Sie weisen schwere Dysfunktionalitäten verschiedener Ich-Funktionen auf. Dennoch: Bei näherer Betrachtung, zumal im Laufe längerer Behandlungen, zeigt sich, dass diese Dysfunktionalitäten zu einem großen Teil keine passiv erlittenen Ausfälle oder Mängel oder Defizite sind, sondern umgekehrt Bestandteile von aktiv, wenn auch unbewusst mobilisierten Schutz-, Kompensierungs- und Abwehrmechanismen. Diese richten sich gegen eine unlustvolle, schwer erträgliche intrapsychische Spannung und Erregung. Sie haben die Funktion, diese Spannung zu mildern, zu reduzieren. Worin besteht aber diese innere Spannung und wie entsteht sie? Im Fall der Schizophrenie dürfte es sich um eine zunächst diffuse, inhaltslose elementare Angst handeln, wie wir sie bei akut psychotischen und deswegen in die Klinik aufgenommenen Patienten kennen. Es geht um die Angst vor einer akut gefährdeten Selbstintegrität, also um die Gefahr der Selbstauflösung. Diese Angst wird von großer Erregung begleitet. Diese immense, diffuse Erregung ist so charakteristisch für die akute schizophrene Psychose in diesem Stadium, dass die meisten Psychiater glaubten, dass es sich dabei um eine primäre und wohl somatisch-biologische Störung handelt, welche deswegen nicht psychologisch ableitbar sei; sie geht ja auch mit einer erhöhten dopaminergen Aktivierung bestimmter neuronaler Systeme einher. Zumindest genauso gut kann man aber die psychodynamische Hypothese vertreten, dass diese den Patienten treibende Erregung und Spannung als Reaktion auf eine inhaltlich definierbare intrapsychische Gegensätzlichkeit, ein unlösbares Dilemma entstehen. Die Erregung, inklusive ihres cerebralen Korrelats (dopaminerge Erregung), könnte also sekundär durch die implizierte Bedrohung der Selbstkohäsion entstehen. Die klinischen Beobachtungen, die für diese zweite, die psychodynamische Hypothese sprechen, werde ich später (siehe Kapitel 18.1) erläutern. Anders sieht das akute Stadium bei den affektiven Psychosen aus. Das Bild wird nicht so sehr von Angst, sondern von der Bedrückung, Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit – oder umgekehrt, im Fall der Manie, von massiv gehobener oder gereizter Stimmung, Bewegungs- und Rededrang, Ideenflucht, megalomanen Ideen beherrscht. Aber auch bei den affektiven Psychosen zeigt sich, dass diese Veränderungen nicht nur passiv erlittene – diesmal emotionale – Störungen, sondern auch gleichzeitig aktiv mobilisierte Reaktionen und Abwehrmechanismen sind, Reaktionen auf einen drohenden Verlust des Objekts oder der Selbstwertigkeit, der narzisstischen Homöostase sowie dadurch Verlust des Lebenssinns. Psychodynamisch betrachtet zeigt sich also – und dies wird weiter unten im Detail beschrieben werden –, dass bei den Psychosen allgemein hinter der deskriptiv fassbaren Oberfläche eine gravierende Problematik mit einer oft dilemmatischen Dynamik, das heißt mit einer grundlegenden intrapsychischen Gegensätzlichkeit steht, welche charakteristisch für sie ist. Diese Gegensätzlichkeit ist,
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wie wir sehen werden, eine jeweils andere für die schizophrenen und für die affektiven Psychosen. In der Schizophrenie geht es um die Identität, in der affektiven Psychose um die Selbstwertigkeit. Da in den Kapiteln 11 und 12 über den depressiven Modus anlässlich der Schilderung der »nichtpsychotischen« Depression (früher »neurotische«, jetzt »leichte«, »minor depression« genannt) das Wesentliche der depressiven Dynamik schon skizziert und ihre Darstellung dort sozusagen vorbereitet wurde, bietet sich an, hier mit der Psychodynamik der Depression (und der Manie) zu beginnen bzw. sie hier zu ergänzen. Die der Schizophrenie folgt darauf im Kapitel 18.
17.2 Die Psychodynamik der schweren Depression Die Depression kann auch als Abwehrmodus betrachtet werden, weil sie gleichsam eine Rückzugsstrategie darstellt. Was wird nun aber mit ihrer Hilfe abgewehrt? Wie im Kapitel 11 über den depressiven Modus gezeigt wurde, ist es keineswegs so, dass jede Depression auf einen Konflikt bzw. ein Dilemma zurückzuführen ist. Sofern jedoch ein solcher intrapsychischer Konflikt – was in der Mehrzahl der Depression zutrifft – involviert ist, so geht es meistens um Folgendes: Während bei der Schizophrenie das grundlegende Dilemma zwischen Selbstidentität versus Bindung (und durch sie drohende Fusion) besteht, geht es bei dem manisch Depressiven um eine Gegensätzlichkeit zwischen einer absolut selbstbezogenen Selbstwertigkeit und einer vom Objekt absolut abhängigen Selbstwertigkeit. Diese Formulierung mag zunächst befremdend erscheinen, da wir ja wissen, dass Objektverlust und aggressive Konflikte bei der Depression die maßgebenden Probleme sind. Bei der ausführlichen Besprechung des depressiven Modus konnte aber gezeigt werden, dass solche Belastungen und Ereignisse (Objektverlust und/oder Frustrations- und Kränkungsaggression) nur dann zur Depression führen – und nicht bloß zu Traurigkeit, Wut oder Aggression –, wenn sie mit einer massiven Beeinträchtigung der Selbstwertgefühlregulation einhergehen (siehe auch Kapitel 17.3). Bei uns allen stützt sich das Selbstwertgefühl sowohl auf ein eigenes – sozusagen selbst geschaffenes – Selbstvertrauen als auch auf die Zuwendung, Anerkennung, Liebe der anderen. Dem potenziell affektiv-psychotischen Menschen (dem früher manisch-depressiv genannten Patienten) gelingt aber die Aufrechterhaltung dieser normalerweise doppelt entstehenden und getragenen, konstanten, balancierten und stabilen Selbstwertigkeit nicht. Hier sind zwei mögliche Konstellationen in der Vorgeschichte des depressiven Patienten zu unterscheiden: a) Ist er aufgrund negativer Beziehungserfahrungen schon als Säugling zu sehr nur auf sich gestellt und musste deswegen lebenslang auf echte, bedingungslose Liebe verzichten und musste er stattdessen versuchen, allenfalls durch Anerkennung aufgrund von Leistungen sein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, so ist er
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
dadurch sehr gefährdet: Bei späteren Misserfolgen und schweren Kränkungen gerät er unter Umständen in katastrophale depressive, narzisstische Krisen. b) Ist aber der depressive Mensch umgekehrt aufgrund ungelöster symbiotischer Bindungen zu sehr vom Objekt abhängig, so bleibt er womöglich lebenslang in der Unterwerfung, in der ständigen Bemühung, das Objekt für sich zu gewinnen und zu behalten, u. a. auch durch ständige Pflichterfüllung. Kommt es später zu einem realen oder symbolischen Verlust dieses Objekts, von dem er auf diese Weise abhängig ist, so resultiert eine mit unterdrückter Wut, aber auch mit Schuld beladene Depression. In der akut manifesten Störung versucht nun der Patient verzweifelt eine Lösung in die eine oder in die andere Richtung zu finden. Also entweder kommt es zu einer selbstherrlichen Aufgabe des Objekts – wie in der Manie – oder zu einer noch stärkeren Unterwerfung unter das Objekt mit Selbstanklagen, Selbstverkleinerung, Versündigungswahn. Es gibt allerdings eine dritte Möglichkeit: Der Patient kann ständig schwanken zwischen einerseits dem Verzicht auf das Objekt (oder sogar Ablehnung und Hass ihm gegenüber) und andererseits der Unterwerfung und Abhängigkeit vom Objekt. Dies ist die Dynamik der bipolaren Störung. Das Bipolaritätskonzept, das zunächst aufgrund von therapeutischen Erfahrungen mit schizophrenen Patienten entwickelt wurde, wird hier nunmehr auch bei den affektiven Psychosen angewandt. Diese Extrapolation mag auf den ersten Blick willkürlich und in der kurzen, plakativen Form, in der es hier zunächst formuliert ist, etwas künstlich und womöglich der Symmetrie wegen konstruiert erscheinen. Um diesem Anzweifeln vorzubeugen, versuche ich im Folgenden zu zeigen, dass die verschiedenen im Laufe der Zeit in der Psychoanalyse aufgestellten Depressionsmodelle zum Teil mit dem Bipolaritätsmodell kompatibel oder sogar mit seiner Hilfe untereinander integrierbar sind. Die im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten psychoanalytischen Modelle der Depression habe ich in Kapitel 11.4 geschildert: erstens der Objektverlust und die Introjektion des Objekts (um diesen Verlust zu kompensieren), zweitens die Aggressionshemmung, drittens die mangelhafte Bemutterung und insbesondere viertens die Störung der Selbstwertgefühlregulation. Der »depressive Konflikt«, ein oft in der Psychoanalyse benutzter Begriff, kam bei dieser Darstellung etwas zu kurz, wie überhaupt dieser Konflikt in der Psychoanalyse im Allgemeinen etwas unklar bleibt und zum Teil auch unterschiedlich definiert wird. Der Vergleich und die Gegenüberstellung mit der Dynamik der Schizophrenie bietet nun die Möglichkeit, den sogenannten depressiven Konflikt präziser zu erfassen, obwohl dies zum Teil schon in Kapitel 12.2 geschehen ist. Zunächst aber eine Stellungnahme zu einer möglichen Hinterfragung, ob es nützlich ist, das Konzept der Selbstwertgefühlregulationsstörung bei der Depression zu favorisieren.
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17.3 Exkurs: Ist die Depression tatsächlich vorwiegend eine Selbstwertregulationsstörung? Ist eine solche Annahme nicht zu hypothetisch oder sogar willkürlich? Hat man nicht innerhalb, aber auch außerhalb der Psychoanalyse immer schon und noch bis heute die zentrale Bedeutung des Objektverlustes als die psychogenetische Achse in der Dynamik der Depression gesehen? Hat nicht Freud selbst die Introjektion des ambivalent besetzten Objekts als den hauptsächlichen pathogenetischen Faktor betrachtet und hat man dann nicht deswegen den depressiven Konflikt in dem Satz zusammengefasst: Der Depressive möchte das Objekt schädigen oder sogar ermorden, das er am meisten nötig hat? Lassen sich die bei der Depression massiv auftretenden Schuldgefühle bzw. die bei der Manie ebenfalls massive Verleugnung der Schuldgefühle nicht viel besser aus dieser Ambivalenz und dieser Aggression und diesen mörderischen Fantasien ableiten? Hat nicht Melanie Klein den Fortschritt in Richtung der depressiven Position darin gesehen, dass der Betreffende nunmehr in der Lage ist, Schuld zu empfinden und zu akzeptieren, um sie hoffentlich dann adäquat zu verarbeiten? Kann man – wird man möglicherweise weiter fragen – die Aggression und ihre massive Hemmung in der Depression sowie die Autodestruktion nicht besser auf diesem eben genannten Hintergrund verstehen? Läuft man bei einer einseitigen Überbetonung der Selbstwertgefühlregulationsstörung nicht Gefahr, dies alles zu vergessen oder zumindest zu minimalisieren? Die meisten dieser Feststellungen sind nicht in Abrede zu stellen. Ich vermute jedoch, dass diese von der Mehrheit vertretene Position der absoluten und fast ausschließlichen Rolle des Objektverlustes per se bei der Entstehung der Depression auf die Verwechslung der Depression mit der Trauerreaktion zurückzuführen ist. Dabei hat Freud schon 1917 in seinem Werk über Trauer und Melancholie sowohl die Ähnlichkeit als auch den wichtigen Unterschied zwischen beiden unterstrichen: Zwar seien auch bei der Trauer Bedrückung, Rückzug und seelischer Schmerz vorhanden, dennoch keine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls wie bei der Depression. Außerdem: Keineswegs führt jeder reale oder symbolische Objektverlust zu einer Depression, wohl aber zu einer Trauerreaktion, was ein normaler Vorgang ist. Der Objektverlust erzeugt wahrscheinlich erst dort eine Depression, wo das verloren gegangene Objekt eine ausgesprochen starke und einseitige, fast monopolartige Bedeutung für die Aufrechterhaltung der narzisstischen Homöostase (Selbstwertregulation) bei dem Betreffenden hatte, oder/und dort, wo dieses Objekt stark ambivalent besetzt war. Die nach dem Verlust oft folgende kompensatorische, undifferenzierte massive Introjektion (zur Bekämpfung der eingetretenen »Lücke« und der daraus entstehenden narzisstischen Erschütterung) führt zu den beschriebenen Komplikationen inklusive Aggression, Schuldgefühlen und autodestruktiven Tendenzen (vgl. auch die in Kapitel 11.3 geschilderten drei Circuli vitiosi in der Depression). Wenn es nämlich heißt, dass der Depressive den-
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jenigen hasst und bildlich ermorden möchte, den er am meisten nötig hat, so könnte man fragen, warum und wozu er ihn so nötig hat. Er hat ihn nötig, um geliebt, gemocht, bewundert, anerkannt zu werden. Schon dies alles würde ausreichen, um die These der Bedeutung der narzisstischen Homöostase zu stützen. Hier schließlich eine grundsätzliche Überlegung: Die zentrale Achse der Depression ist der depressive Affekt. Dieser Affekt hat – wie alle Affekte – eine Indikator- und Signalfunktion. Er signalisiert einen desaströsen Zustand der narzisstischen Homöostase und den seelischen Schmerz nach einem Verlust oder einer Trennung. Für Letzteres ist der Affekt der Trauer zuständig. Eine andere Frage: Was ist mit der Depression bei der Schizophrenie? Sicher besteht auch bei dem Schizophrenen eine Selbstwertproblematik (die ihn u. a. zeitweise depressiv werden lässt), die jedoch in der akuten Phase weniger im Vordergrund steht und eigentlich erst nach einer Stabilisierung manifest wird. Häufig tritt nämlich nach Abklingen der akuten schizophrenen Episode eine depressive Symptomatik auf. Auf der anderen Seite gibt es Depressive oder manisch Depressive, denen keine absolut krisensichere Selbstabgrenzung und Identität gelungen ist, so dass sie gerade auf dem Höhepunkt der depressiven Phase beginnen, sozusagen auch an ihrer Identität zu zweifeln und allmählich (meistens nur vorübergehend) in Richtung Schizophrenie abzudriften, indem sie die für das schizophrene Dilemma und die schizophrene Problematik typischen Abwehr- und Kompensationsmechanismen produzieren. Analoges gilt für die Manie. Auch bei ihr kann es auf dem Höhepunkt zu einer Beeinträchtigung nicht nur der Selbstwerteinschätzung, sondern auch der Identität kommen: Der Patient entwickelt einen megalomanen Wahn. Dies alles ist der Prozess, der zur Entstehung der Psychodynamik der schizoaffektiven Psychosen führt (vgl. Hering, 2006). Noch einmal abschließend zu der Argumentation gegen eine Hervorhebung der Selbstwertgefühlregulationsstörung bei den affektiven Störungen. Ich habe schon ausgeführt, warum meine Position nicht im Widerspruch zu der Rolle des Objektverlusts, der Schuldgefühle, der klassischen depressiven Konflikte betreffend die Aggression steht. Darüber hinaus möchte ich darauf hinweisen, dass eine Betrachtungsweise der Dynamik der Depression, die die Selbstwertgefühlproblematik vernachlässigt oder gering schätzt, nicht in der Lage ist, die Dynamik derjenigen Depressionen zu erfassen, die bei Misserfolgen, eigenem Versagen, narzisstischen Kränkungen entsteht. Auch die erhebliche, irrationale Selbstüberschätzung in der Manie – als Abwehr der Depression – rechtfertigt zusätzlich die Hervorhebung der Selbstwertthematik. Wenn es nur um den Objektverlust per se ginge, so müsste die Manie eigentlich nur aus der Verleugnung dieses Verlustes bestehen, nicht aber aus dieser überschießenden Selbstüberschätzung bis hin zum Größenwahn. Ich verzichte hier auf eine Besprechung der praktisch so wichtigen Differenzierungen zwischen leichten und schweren (minor und major bzw. »neurotischen« und »endogenen« Depression), um Wiederholungen zu vermeiden. Diese Frage
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wurde bereits in Kapitel 11 über den depressiven Modus diskutiert. Auch die Nützlichkeit des Drei-Säulen-Modells für die gleichermaßen differenzierte, aber auch anschauliche Darstellung der verschiedenen Depressionsformen wurde dort erläutert.
17.4 Manie und bipolare Störungen 17.4.1 Deskriptives Bild der Manie Schon oben habe ich begründet, warum ich, im Gegensatz zu der Empfehlung von ICD-10 und DSM-IV, aber in Übereinstimmung mit vielen anderen (auch nicht psychoanalytisch orientierten) Psychiatern nicht bloß von affektiven Störungen, sondern von affektiven Psychosen spreche. Die Beibehaltung des Terminus Psychose bei den manischen und bipolaren affektiven Störungen lässt sich sogar leichter als im Fall der Depression begründen. Es handelt sich hier nämlich im Vergleich zu bloß neurotischen oder sogenannten »normalen« Abweichungen um äußerst auffällige und ausgeprägte Verhaltens- und Erlebensveränderungen. Dies gilt besonders für die Manie: Die eindeutig stark gehobene (vorwiegend heitere, gelegentlich aber auch gereizte) Stimmung, der gesteigerte Bewegungs- und Rededrang, die Lockerung der Assoziationen mit daraus resultierender Ideenflucht, die den Beobachter frappierende Enthemmung, die unsinnigen Einkäufe beim Kaufrausch, das verminderte Schlafbedürfnis, die Tendenz zu Selbstüberschätzung, der kritiklose Überoptimismus, der bagatellisierende Umgang mit Problemen und die starke Verleugnung der intrapsychischen und der äußeren Realität sind zusammengenommen unverkennbare Charakteristika der Manie. Die Selbstüberschätzung kann sich bis zum Größenwahn steigern, oft wird der Betreffende durch seine Impulsivität, Enthemmung und Kritiklosigkeit gefährlich für sich und für die Umgebung. In vielen Fällen kann ein solches Verhalten zunächst einmal als pure Geselligkeit, Heiterkeit und Erregung missverstanden werden, die gewisse Ähnlichkeit mit einem beginnenden Alkoholrausch bietet. Solche manischen Phasen dauern einige Wochen oder Monate und pflegen periodisch aufzutreten, sie sind jedoch als reine Manien (ohne depressive Elemente oder ohne dazwischenliegende depressive Phasen) recht selten. Meistens treten die manischen Phasen abwechselnd mit depressiven Phasen auf, sie gehören also zu dem Bild der bipolaren Störungen (früher manisch-depressive Erkrankung). Bei den bipolaren Störungen sind die depressiven Phasen häufiger als die manischen. Erst ab Mitte der 1970er Jahre erkannte man, dass es abgesehen von den besonders ausgeprägten, klaren Formen mit eindeutigen manischen und depressiven Phasen eine größere Anzahl von schwächer ausgeprägten, dafür aber lang anhaltenden Fällen gibt, bei denen eine kontinuierliche depressive Stimmung von
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
hypomanischen Symptomen überlagert wird. Diese zweite Gruppe nennt man heute bipolare Störungen II, während die erste, die alte klassische manisch-depressive Erkrankung, jetzt bipolare Störungen I heißt. So ergibt sich, dass die Häufigkeit der bipolaren Störungen insgesamt eine viel größere ist, als man noch vor wenigen Jahren angenommen hatte. Dies gilt umso mehr, wenn man auch die weiter ausdifferenzierteren leichteren Formen von bipolaren Störungen III und IV (die hier nicht weiter erläutert werden sollen) mitzählt. Die bipolaren Störungen sind dann wahrscheinlich häufiger als die schizophrenen Psychosen (siehe epidemiologische und sonstige deskriptive Einzelheiten sowie die Ergebnisse der genetischen Forschung in dem zusammenfassenden Bericht von Wiesbeck, 2003).
17.4.2 Psychodynamik der Manie und der bipolaren Störungen Während viele auch nicht psychodynamisch orientierte Psychiater bereit sind, Überlegungen zur Psychogenetik und Psychodynamik der Depressionen zu diskutieren und auch teilweise zu übernehmen, sind diese Kollegen in Bezug auf eine mögliche wichtige psychodynamische Dimension bei der Manie und bei den bipolaren Störungen sehr skeptisch bis ablehnend: Zu viele Daten und Beobachtungen sprechen nach ihrer Meinung für eine primär körperliche Hirnfunktionsstörung bei diesen Erkrankungen. Nicht nur erinnere das manische oder hypomanische Bild an viele eindeutig hirnorganisch bedingte Zustände, wie z. B. an den Alkoholrausch oder die progressive Paralyse (das vierte Stadium der Syphilis), sondern die epidemiologischen Untersuchungen und die Ergebnisse der Genetik sprächen für einen eindeutigen vererbbaren Faktor. Eine Manie sei nicht psychologisch ableitbar, sie trete oft aus heiterem Himmel auf; die bipolare Störung wiederum biete eine Periodizität, die oft chronobiologische Zusammenhänge verrate, usw. Die meisten Symptome lassen sich – so die Meinung dieser Psychiater – direkt oder indirekt durch eine offensichtlich organisch bedingte Übererregung erklären. Intrapsychische, psychologische Zusammenhänge, welche manchmal die Störung verständlich zu machen scheinen, seien offensichtlich zufällige Inhaltsbesetzungen, die der herrschenden (manischen oder depressiven) Stimmungslage entsprechen. Zu dieser biologischen Auffassung gelangt man zusätzlich dadurch, dass erstens die Umschwünge von Depression zur Manie und umgekehrt psychologisch unableitbar erscheinen und zweitens wegen der unzweifelhaften Wirkung der Medikation, die hier besonders eindrucksvoll ist. Bei näherer Betrachtung und besonders bei der Beobachtung von Patienten anlässlich längerer psychotherapeutischer Begleitbehandlungen ergibt sich jedoch ein ganz anderes Bild. Depressionen und Manien brechen oft nicht aus heiterem Himmel aus, sie werden zumindest teilweise durch schwerwiegende Trennungen,
Kapitel 17: Der psychotische Modus der Konflikt- und Traumaverarbeitung
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Erkrankungen, Verluste ausgelöst. Solche negativen Ereignisse sind sowohl zu Beginn von Depressionen wie auch vor manischen Phasen festzustellen. Sofern eine begleitende psychotherapeutische Behandlung stattfindet, deckt man typische Konfliktsituationen auf sowie eine unabhängig von der manifesten Erkrankung bei den betreffenden Personen schon immer bestandene fragile Selbstwertgefühlregulation (wie sie anlässlich der Psychodynamik des depressiven Modus und auch mit Hilfe des Drei-Säulen-Modells eruiert wurde). Zu Beginn einer manischen Phase findet man bei Patienten, die man gut kennt, oft eine extrem kurze depressive Symptomatik, die aber durch die dann aufbrechende Manie überlagert bzw. überkompensiert wird. Die Manie ist hier als antidepressive Abwehr aufzufassen. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass in der Kindheit erlittene Traumatisierungen, Enttäuschungen und Frustrationen eine Überempfindlichkeit gegenüber den genannten Auslösern im Erwachsenenalter hinterlassen und bei entsprechenden neuen Anlässen zum Ausbruch von depressiven oder manischen Phasen führen. Die geeignete psychotherapeutische Begleitung wirkt oft wie ein Antidepressivum oder sogar prophylaktisch zur Verhinderung von Rückfällen. Trotzdem kann man und sollte man nicht auf eine angemessene Medikation verzichten, weil diese Störung letztlich auf das Zusammentreffen einer bestimmten biologischen Disposition mit den negativen Erfahrungen in der Vergangenheit und zurückbleibenden Überempfindlichkeiten zurückzuführen ist. Psychodynamisch betrachtet besteht also die Grundstörung einer Depression, ihre Hauptdynamik in einer direkten oder indirekten Erschütterung der Selbstwertgfühlregulation. Die Manie ist aber nicht ein bloßer oberflächlicher antidepressiver Mechanismus, sondern der – leider unrealistische und deswegen nur kurzfristig mögliche – Versuch einer anderen Lösung. Die Abfolge von Depressionen und Manien entspricht der sich wiederholenden Sequenz einer sich selbst erniedrigenden Unterwerfung gegenüber dem Über-Ich und dem Schicksal einerseits und der illusionären manischen Verleugnung und exzessiven Selbstüberschätzung, die aber nur kurz dauern kann, andererseits. Sicher können nicht alle von einer Depression bedrohten Patienten und überhaupt nicht alle Menschen nach Bedarf eine solche manische Flucht in die geschilderte irreale Pseudolösung zustande bringen. Dazu bedarf es offenbar einer Disposition, z. B. in Form einer vermehrten Labilität des limbischen Systems, die aber für sich allein nicht unbedingt als etwas Pathologisches betrachtet werden sollte. Es gibt Menschen, die lebenslang solche leichten Schwankungen der Stimmung und des Antriebs nach oben und nach unten aufweisen, ohne dass dies zu einer klinisch relevanten Symptomatik zu führen braucht. Im Gegenteil, sie können die Zeiten leicht gehobener Stimmung sogar produktiv nutzen. Es ist auf jeden Fall eine erstaunliche und im Hinblick auf das Dargestellte sehr interessante Feststellung, dass viele Patienten nach einer erfolgreichen, auch psychodynamisch orientierten
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
psychotherapeutischen Behandlung der bipolaren Störung ihre leichten Schwankungen beibehalten, ohne jedoch noch die früher so sehr für sie und für die Umgebung belastende Symptomatik zu entwickeln. Solche Fälle sind vielleicht der beste Hinweis für die Richtigkeit der oben formulierten Hypothese: Es handelt sich um das Zusammentreffen einer biologisch bedingten Labilität (die sich nicht unbedingt negativ, sondern manchmal sogar positiv auswirken kann) mit einer gravierenden, biografisch begründeten intrapsychischen Problematik. Eine weiterführende, wenn auch noch gewagtere Hypothese ist die Annahme, dass der unter dieser biografisch bedingten Problematik leidende Mensch unbewusst automatisch lernt, die vorgegebene biologische Labilität sich zunutze zu machen, um sein Leiden erträglicher zu gestalten, sei es durch die Unterwerfung im Fall der Depression oder durch die vorübergehende Auflehnung im Fall der Manie. (Eine ausführliche Darstellung, auch mit klinischen Therapiebeispielen, findet man bei Mentzos, 1995a.)
Kapitel 18: Die Psychodynamik der Schizophrenie
18.1 Klinische Begründung des Bipolaritäts- bzw. Dilemmakonzepts bei der Schizophrenie Das Konzept der dilemmatischen Struktur der psychotischen Dynamik (das schon in Kapitel 17.1 vorwegnehmend skizziert wurde) mag zunächst recht hypothetisch erscheinen. In Wirklichkeit hat sich aber gezeigt, dass es am besten geeignet ist, um eine sehr große Fülle klinischer Beobachtungen und therapeutischer Erfahrungen in sinnvoller Weise zu erfassen. Des Weiteren erweist sich dieses Konzept als sehr gut vereinbar mit der deskriptiven operationalisierten Diagnostik und Klassifikation des DSM-IV und der ICD-10. Und schließlich ist es mit den neuen Ergebnissen der Gehirnforschung zumindest kompatibel, wenn nicht sogar komplementär, wenn man berücksichtigt, dass die Dysbalance der neuronalen Systeme in der Psychose stark an die gestärkte psychologische Balance aufgrund der dilemmatischen Struktur der Psychosendynamik erinnert (vgl. Kapitel 19 über die Neurobiologie der Psychosen). Dies alles soll im Folgenden erläutert und durch klinische Beispiele untermauert werden. Zunächst ein Beispiel. Eine in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung aufgenommene, florid psychotische Patientin beruhigte sich bis zum nächsten Tag unter der Wirkung von Psychopharmaka zusehends und war in der Lage, mit mir, an ihrem Bett, ein normales, wenn auch äußerlich belangloses Gespräch zu führen. Sie lädt mich sogar ein, mich auf den Bettrand zu setzen – damit ich es bequemer habe –, was ich auch getan habe. Als ich jedoch etwa 3 bis 4 Minuten nach Beginn des Gesprächs, ohne es zu merken und offenbar, um mein Bein zu entlasten, mich etwas zu ihr bewegt habe, veränderte sich plötzlich ihr Gesichtsausdruck; sie blickte hasserfüllt auf mich und spuckte mir drei Mal ins Gesicht. Daraufhin zog ich mich etwas erschrocken zurück und wollte aufstehen. Die Patientin hielt mich jedoch am Unterarm fest und signalisierte mir, doch bei ihr sitzen zu bleiben. Sowohl mein sofortiger direkter Eindruck, aber auch spätere Begegnungen mit dieser Patientin überzeugten mich, dass ich bei dieser ersten Begegnung offensichtlich die für sie zu diesem Zeitpunkt optimale Distanz unterschritten hatte. Die Patientin wünschte sich zwar eine Kontaktaufnahme und eine Bindung, gleichzeitig fürchtete sie sich aber vor einer zu großen Nähe.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Ein zweites Beispiel: Ein etwa 22-jähriger schizophrener Mann wird mir von seinen Eltern zu Diagnostik und Therapie gebracht. Er kommt widerstrebend, zeigt sich jedoch bei unserem ersten Gespräch bald zugewandt, mitteilungsbedürftig und wirkt am Ende der Stunde »gebessert«. Er bietet kaum mehr eine psychotische Symptomatik und erklärt sich damit einverstanden, dass wir schon nach ein paar Tagen mit der psychotherapeutischen Arbeit beginnen. Zum vereinbarten Termin erscheint er jedoch nicht, stattdessen erhalte ich einen Brief von ihm, in dem er mich anklagt, ich sei uneinfühlsam, ich sei ein schlechter Psychiater, er denke überhaupt nicht daran, bei mir eine Psychotherapie zu machen etc. Erst nach weiteren drei Wochen ruft er an, stammelt eine kurze Entschuldigung und fragt, wann er wieder kommen könne. In der dann begonnenen und weiterhin über lange Zeit durchgeführten, relativ positiv verlaufenden Behandlung wird es mir deutlich, dass sein bemerkenswertes Verhalten nach unserer ersten Begegnung damit zusammenhing, dass er im Gegensatz zu dem, was er im Brief schrieb, mich durchaus als einfühlsam und sehr zugewandt empfand, dass er aber die Gefahr spürte, sich dabei selbst zu verlieren, indem er zu sehr seine Autonomie aufgäbe. Später berichtete er, dass er öfters am Mittagstisch die Hände seines Vaters mit den eigenen Händen verwechselte, er wusste oft nicht, wem welche Hände gehören. Diese als eine Durchlässigkeit der Ich-Grenzen und als eine Unfähigkeit, Selbst von Nicht-Selbst zu unterscheiden, bekannte psychotische Störung verstehe ich psychodynamisch als das Schwanken zwischen der Notwendigkeit einerseits, die Selbstidentität aufrechtzuerhalten, und andererseits dem Drang, sich mit dem dem Objekt identifikatorisch zu vereinigen. Ein drittes Beispiel: Eine junge Frau wird mit Verfolgungsideen und Halluzinationen, also im akuten psychotischen Zustand, stationär vorwiegend mit Psychopharmaka behandelt und wird – relativ gut gebessert – nach Hause entlassen. Sie zieht es jedoch vor, in eine weit entfernte Stadt umzuziehen, weil sie zu Hause, bei den Eltern, sich »nicht wohl fühle«. Ihr gelingt es auch, mit Hilfe von gering dosierten Medikamenten ein gewisses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und halbtags zu arbeiten. In den nächsten sechs Jahren kommt sie, nur einmal im Jahr, über Weihnachten nach Hause, um ihre Eltern zu besuchen. Dabei spielt sich jedes Mal Folgendes ab: Die Patientin fühlt sich schon nach einigen Stunden unwohl, sie wird, wie sie sagt, »diffus«, sie weiß nicht, was sie eigentlich hier soll, sie beginnt auch an sich selbst zu zweifeln, wird zunehmend ängstlich, packt deswegen nach ca. 12 Stunden ihre Sachen zusammen und fährt wieder ab. Als sie aber das sechste Mal nach Hause kam, war sie entschlossen, diesmal doch zu versuchen, etwas länger zu bleiben. In der Nacht kam es aber dazu, dass, als sie Durst hatte, in die Küche ging und ein Glas Milch trinken wollte, es ihr »plötzlich klar« wurde: Die Milch – sie war sich dessen sicher – sei vergiftet! Man wolle sie vergiften. Bemerkenswerterweise war es ihr diesmal möglich, fünf oder sechs Tage zu Hause zu bleiben, bis man sie mit dieser nunmehr manifesten, akuten psychotischen Symptomatik in die Klinik brachte.
Kapitel 18: Die Psychodynamik der Schizophrenie
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Ich verstehe psychodynamisch diesen Verlauf und Vorgang folgendermaßen: Jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, wurde das alte Dilemma, nämlich der Ambivalenzkonflikt, besonders mit der Mutter reaktiviert und mobilisiert. Die intrapsychische Spannung wuchs, ebenfalls die Diffusität (durch die spannungsbetonte Beeinträchtigung der Selbstkohäsion) und die Unfähigkeit, Selbst von Nicht-Selbst zu unterscheiden. Daraufhin entfernte sie sich schnell vom Elternhaus und gewann wieder ihr seelisches Gleichgewicht. Die Sehnsucht nach Nähe und Kontakt zwang sie aber, nach einer gewissen Zeit wieder das Zuhause aufzusuchen. Als sie sich das letzte Mal entschloss, länger zu Hause zu bleiben, wurde die Spannung unerträglich. Der Verfolgungswahn, die Vorstellung, man wollte sie vergiften, führte – nur scheinbar paradoxerweise – zu einer Reduzierung der Spannung, ein Phänomen, das nicht nur mir, sondern allen Psychiatern bekannt ist, dass nämlich beim Auftreten eines eindeutigen und strukturierten Verfolgungswahns die diffuse, unerträgliche Angst sich zurückbildet. Die Patientin konnte nun bei ihrer Mutter einige Tage bleiben. Warum dies möglich war, können wir nicht genau wissen. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Man kann vermuten, dass die Patientin jetzt die Gefahr spürte, mit der Mutter zu verschmelzen, von ihr verschlungen zu werden oder von ihr abhängig und dann fallengelassen zu werden. Ob gleichzeitig eine Projektion aggressiver Impulse gegenüber der Mutter dabei stattgefunden hat (eine Deutung, die die meisten Psychoanalytiker, zumal Kleinianer, vorziehen oder auf jeden Fall in den Vordergrund stellen würden), kann man nicht ausschließen. Auf jeden Fall erscheint mir die Distanzierungsfunktion des Verfolgungswahns sehr wichtig. Projektive Prozesse könnten tatsächlich stattfinden, aber auf andere Weise, als üblicherweise angenommen. Ich vermute nämlich, dass das, was (in den äußeren Feind) projiziert wird, der abgespaltene böse Anteil des ambivalent besetzten inneren Objekts ist, das auf diese Weise sozusagen entsorgt wird. Das Objekt wird dadurch verschont. Eine andere, aber ähnliche Hypothese lautet: Es könnte sich auch um die Verschiebung einer Verfolgung, einer Bedrohung durch ein inneres Objekt auf eine äußere, reale Person handeln (vgl. Kapitel 18.3), wodurch der Hass seitens des Objekts relativiert oder total verleugnet wird, was ebenfalls eine Milderung des erlebten Konflikts bedeutet (nicht die Mutter, sondern die CIA-Agenten sind hinter einem her!).
18.2 Psychodynamik des Wahns im Allgemeinen Die mit Hilfe der geschilderten drei Fallbeispiele skizzierten möglichen Funktionen des Verfolgungswahns sollten zunächst eine erste Annäherung an die von mir gemeinte Psychodynamik sein. Der Verfolgungswahn ist zwar eine eklatant häufige, eindrucksvolle und von verschiedenen Seiten in der Psychiatrie und Psychoanalyse untersuchte Wahnform. Sie ist aber sicher bei weitem nicht die Einzige.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Nicht umsonst spricht man oft von Wahnwelten und nicht umsonst ist im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende das Phänomen des Wahns nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Kunst wie auch im alltäglichen Leben und in der Sprache des Laien immer schon ein hochbrisantes Thema gewesen. Der Wahn ist nicht ein Irrtum, wie die alte Psychiatrie annahm, er ist aber auch nicht nur eine Störung der Realitätswahrnehmung, wie die moderne Psychiatrie glaubt, sondern eine stark emotional beladene und intensiv vom Betreffenden verteidigte Überzeugung, ein Glaube. Schon das jedem Psychiater bekannte Phänomen der doppelten Buchführung spricht dafür. Gemeint ist die Fähigkeit vieler Schizophrener, neben der psychotisch-paranoid verzerrten Wahrnehmung einer Situation oder eines Vorgangs auch die »normale«, realitätsgerechte Einschätzung der Situation zu erfassen (nur dass sie nicht an sie glauben!). Dies zeigt, dass es sich um eine Überzeugung, nicht aber um eine Unfähigkeit, geschweige um einen Irrtum handelt. Eine schizophrene Patientin, deren Fall ich an einer anderen Stelle veröffentlicht habe (Mentzos, 1991), deutete alle Tafeln des Rorschach-Tests in paranoider, psychotischer selbstbezogener Weise. Sie war jedoch im Anschluss daran in der Lage, bei fast allen Tafeln normale, übliche Deutungen zu geben (an deren Wahrheit sie aber nicht glaubte!), womit sie aber bewies, dass sie prinzipiell auch zu einer realitätsgerechten Wahrnehmung und Deutung fähig war. Ich habe bereits vermerkt, dass es sich beim Wahn keineswegs nur um Verfolgungswahn handelt. Auch in diesem Fall ging es um Wahninhalte, die überhaupt nichts mit Verfolgung zu tun hatten, sondern um verschiedene, meistens ins Imaginativ-Positive gewendete Facetten ihres Selbstbildes, so z. B. die Vorstellung, dass die letzte Rorschach-Tafel das Jüngste Gericht darstellte, wobei sich die Patientin selbst im Zentrum des Geschehens und neben Jesus stehen zu sehen glaubte. Es gibt andere Fälle, bei denen der Patient Zeuge einer dramatischen Weltuntergangsszenerie wird oder – etwas bescheidener – glaubt, dass er ein verkanntes Mitglied einer berühmten Familie sei, oder – etwas weniger bescheiden – der Überzeugung ist, ein Abkömmling der russischen Zaren zu sein. Man sieht, es geht nicht allgemein nur um Verfolgung, sondern allgemeiner um eine veränderte Sicht der Realität, allerdings nicht in beliebiger Weise und ubiquitär, sondern bezeichnenderweise dergestalt, dass immer der Betreffende selbst in einem anderen Licht, in einer anderen Position und Rolle als die real gegebene erscheint. Dies erinnert zwar an die Dynamik der hysterischen Inszenierung. Trotzdem handelt es sich hier selbstverständlich nicht um eine solche Inszenierung und um eine Quasi-Veränderung der Selbstrepräsentanz. Die hysterische Inszenierung respektiert nämlich durchgehend die Realität; ihr gelingt es mit viel feineren, reiferen Symbolisierungen, eine tendenziöse Inszenierung zustande zu bringen, die auch real hätte sein können. Ihre Funktion ist nicht, wie bei der psychotischen Wahrnehmungs- und Realitätsverzerrung, der völlig unrealistische Versuch, die
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intrapsychische Spannung zu lösen oder erträglicher zu machen. Die psychotische Darstellung nimmt also im Gegensatz zum Hysterischen keine Rücksicht auf die Realität und ist deswegen sozusagen eine kostspielige Pseudolösung. Sie impliziert die grobe Dysfunktionalität der Realitätswahrnehmung. Trotzdem stellt der Wahn ein eindrucksvolles Beispiel von Funktion innerhalb der Dysfunktionalität dar. Es handelt sich wohl um die Funktion eines psychischen Abwehrmechanismus. Hartwich (Hartwich und Grube 1999) meint allerdings, dass die hier stattfindende Verzerrung der Realität so grob und elementar sei, dass es nicht gerechtfertigt erscheine, den Terminus der Abwehr zu benutzen und damit diese Vorgänge mit der neurotischen Abwehr gleichzusetzen. Er schlägt deswegen einen neuen Terminus vor und spricht bei den Wahnbildungen von Parakonstruktionen in der Psychose.
18.3 Noch einmal zum Verfolgungswahn Die zuletzt skizzierten Überlegungen führen zwangsläufig zu der Feststellung, dass der Verfolgungswahn unter den gegebenen Umständen für den Betreffenden, wenigstens zu bestimmten Zeiten seines Lebens, existenznotwendig wird. Dies muss zusätzlich verdeutlicht werden: In den beiden schizophrenen extrem defensiven Positionen, also derjenigen des extrem selbstbezogenen Autismus einerseits und der extremen Verschmelzung mit dem Objekt andererseits, gerät der Betreffende in einen Zustand, in dem er zwar den für ihn bedrohlichen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt eliminiert hat, dafür aber entweder unter der Objektlosigkeit des Autisten oder dem Selbstverlust in der Diffusität der Verschmelzung sehr leidet. Um das subjektive Gefühl der eigenen unabhängigen Existenz, also der normalen Selbstidentität zu bewahren, braucht aber jeder Mensch sowohl in seiner psychischen Entwicklung als auch im Hier und Jetzt in gewissem Umfang die Bestätigung, dass er gesehen wird wie auch dass er selbst sich sehen kann. In der selbstbezogenen extremen Position gibt es aber kein Objekt, von dem man gesehen werden kann. In der zweiten, in der extrem objektbezogenen Position ist man mit dem Objekt fusioniert und somit kann man ebenfalls nicht als eine eigene autonome Person gesehen werden; man kann auch nicht sich selbst sehen. Im Zustand des Verfolgungswahns gewinnt man dagegen die absolute subjektive Gewissheit, dass man vom Verfolger sehr genau gesehen wird (weil man ja Ziel seiner Anfeindungen ist); auf der anderen Seite kann man auch sich selbst sehr gut sehen, sich spüren und sich als »Verfolgter« benennen. Auch die Beziehung zwischen Verfolger und Verfolgtem ist eindeutig. Das heißt, mit Hilfe des Verfolgungswahns gewinnen die Selbstrepräsentanz, die Objektrepräsentanz und die Beziehungsrepräsentanz eine eindeutige Kontur (wenn auch eben in dieser imaginären Weise). So betrachtet stellt also der Verfolgungswahn fast ein
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
spezifisches Antidot (ein gegen das Gift wirkendes Heilmittel) dar. Denn diese eben beschriebenen Charakteristika des Verfolgungswahns und seine damit zusammenhängenden Funktionen richten sich genau gegen die beschriebenen Gefahren und Ängste des Patienten in der Psychose, also gegen die Gefahren des Zusammenbruchs der Ich-Grenzen und der Ich-Kohäsion, aber auch letztlich gegen die Gefahr des Selbstverlustes, sei es durch Fusion oder durch Objektlosigkeit. Diese Gefahr ist die gefürchtete Folge des autistischen Modus der Abwehr oder des fusionellen Modus der Abwehr. Diese beiden Formen sind also zwar auch defensive Prozesse, jedoch, wenn man es so ausdrücken darf, bei weitem die schlechteren Abwehrmodi im Vergleich zum Verfolgungswahn. Wir gelangen damit zu der paradox klingenden Folgerung, dass eigentlich der Verfolgungswahn in dieser Hinsicht ein Fortschritt ist! Das ist er auch tatsächlich, wenn man ihn mit der absoluten Objektlosigkeit oder mit dem Verlust der Selbstidentität oder mit dem Abbau der Ich-Grenzen und dem Zusammenbruch der Kohäsion des Selbst vergleicht. Mit seiner Hilfe gelingt es, sowohl den Autismus als auch die Verschmelzung zu vermeiden. Er ist wahrscheinlich auch deswegen so verbreitet, weil er sich im Laufe von Jahrtausenden als das probate Mittel gegen die Gefahren für das Selbst erwiesen hat. Die beste Untermauerung und Unterstützung erfährt diese zunächst hypothetisch erscheinende Annahme durch die jedem Psychiater bekannte klinische Beobachtung, dass sich die initiale, diffuse, schreckliche Angst – auch ohne Medikamente – zurückbildet, indem es dem Patienten gelingt, einen gut strukturierten Wahn zu entwickeln! Man wird nun fragen, wie, also auf welche Weise ist der Mensch auf dieses »Antidot« gekommen? Dazu kann man nur Hypothesen formulieren (die auch miteinander kombinierbar sind), von denen mir zwei als nicht unwahrscheinlich erscheinen. a) Wie bei fast allen neurotischen, psychosomatischen und psychotischen Symptomen ist auch hier zu vermuten, dass der Verfolgungswahn (als der psychotische Mechanismus par excellence mit den geschilderten defensiven bzw. Antidot-Funktionen) nicht aus dem Nichts entsteht. Wie die meisten Abwehrmechanismen stammt er wahrscheinlich aus der Modifikation und Intensivierung vorhandener Ich-Funktionen und Ich-Mechanismen. Das teilweise schon beim Tier beobachtbare Verhaltensmuster einer verstärkten Wahrnehmung der Umgebung und einer fast misstrauisch wirkenden Suche nach potenziellen äußeren Gefahren an Orten und in Zeiten, die tatsächlich eine risikoreiche Konstellation darstellen, dürfte wohl als ein sinnvolles, in der Evolution aus verständlichen Gründen selektiertes, normales Reaktionsmuster gelten. Dieses Reaktionsmuster kann aber in einen pathologischen, defensiven Mechanismus umfunktioniert und nunmehr bei intrapsychischen risikoreichen Konstellationen sowie bei konfliktbedingten Spannungen und Bedrohungen der inneren Kohäsion eingesetzt werden.
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b) Die zweite, zusätzliche Hypothese: Diese Wendung nach außen, diese Suche nach dem äußeren Feind, diese potenzielle projektive Feindbildung, erweist sich als sehr entlastend. Sie dient der »Entsorgung« des abgespaltenen bösen Anteils des ambivalent besetzten inneren Objekts. Nun könnte man aufgrund dieser Überlegungen mit einer gewissen Berechtigung annehmen, dass jenes ursprüngliche, biologisch verankerte Muster wegen dieser quasi nützlichen Nebeneffekte im Sinne des Antidots benutzt wird. Es findet also in gewisser Hinsicht ein Funktionswandel statt: Das zunächst sachlich begründete misstrauische und dann erst recht paranoide Reaktionsmuster schützt jetzt nicht vor äußeren Gefahren, sondern vor der inneren Gefahr durch die unerträgliche, intrapsychische Spannung sowie vor der Gefahr des Verlustes der Ich-Grenzen aufgrund von Diffusität, schließlich auch vor der Gefahr der Objektlosigkeit und des Selbstverlustes. Ich möchte diese zwei – zunächst paradox oder sogar abenteuerlich erscheinenden – Hypothesen mit einem Beispiel illustrieren. Eine Patientin, die einen typischen Syndromwechsel (vgl. Mentzos, 1992) zwischen paranoid-halluzinatorischer Psychose und einem ausgeprägten zwangsneurotischen Syndrom bot, befand sich in psychotherapeutischer Behandlung zu einer Zeit, als sie seit über zwölf Monaten keine psychotische Symptomatik mehr, dafür aber intensive Zwänge zeigte. Als sie eines Tages in einer Therapiestunde (zu Recht oder Unrecht) sich vom Therapeuten schlecht und uneinfühlsam behandelt gefühlt und auch bei der Verabschiedung den Eindruck gewann, dass der Therapeut sie nur »los haben wollte«, entwickelte sie auf dem Weg nach Hause – zum ersten Mal nach langer Zeit – wieder eine Verfolgungswahnidee: Sie glaubte plötzlich, dass ein Glas Coca-Cola, das sie auf dem Rückweg in einem Bistro trank, vergiftet sei und dass man sie umbringen wolle. Diese mikropsychotische Episode dauerte nur ein bis zwei Stunden und sie wurde von intensiven Zwangssymptomen abgelöst. Zwei Behandlungsstunden später erfuhr ich, dass die Patientin durch meine (des Therapeuten) angebliche »Abweisung« in eine innere »Unordnung« geraten war und auf dem Weg nach Hause sehr ängstlich wurde; sie wusste nicht, was mit ihr los war, bis dann endlich diese wahnhafte Vorstellung auftauchte, die Coca-Cola sei vergiftet, wodurch alles in ihr selbst wieder klarer und ruhiger wurde. Die Funktion dieses Mikrowahns, also die Beruhigung der sehr verunsicherten Patientin, kann nicht angezweifelt werden. Die Mikrodynamik des Vorgangs ist aber im Detail eine jeweils andere: Man kann vermuten, dass eine durch das als abweisend empfundene Verhalten des Therapeuten erzeugte Aggression auf einen unbekannten Verfolger projiziert wurde. Oder man kann zusätzlich annehmen, dass die als feindlich wahrgenommene Haltung des Therapeuten auf einen unbekannten Verfolger verschoben wurde; dadurcht wäre der Therapeut für die Patientin weiterhin ein freundlicher Therapeut geblieben! Die skizzierten Arbeitshypothesen zur Psychodynamik des Verfolgungswahns erheben nicht den Anspruch, alle anderen psychodynamischen Konzeptionen des
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Wahns zu ersetzen oder zu integrieren (vgl. dazu ähnliche Konzeptualisierungen bei Kapfhammer, 2000, der ebenfalls bei der Psychodynamik der Paranoia Spaltung und Projektion in den Vordergrund stellt). Sie stellen nur eine Sichtweise dieses universellen und offensichtlich in der Psychodynamik der Psychose zentralen Prozesses dar. Interessanter wäre zu prüfen, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede zu anderen Auffassungen und Theorien über den Verfolgungswahn bestehen. Ein kurzes Beispiel habe ich eben geliefert mit dem Vergleich zu Melanie Klein (s. drittes Beispiel in Kapitel 18.1). Ich vermute aber, dass nach Aufhebung der terminologischen Verschiedenheiten eine viel größere Kompatibilität besteht, als man gewöhnlich annimmt. Die Auffassung Freuds z. B. von Umkehr und Projektion in der Psychodynamik der Paranoia (im Fall Schreber), wobei ich die Betonung auf die Umkehr der gefährlichen Anziehung in die feindliche Verfolgung lege, sowie seine andere Vorstellung von der Rekonstruktion der Welt im Wahn (die Wiederherstellung einer gewissen Ordnung, mit der der Patient leben kann) sind nicht so weit entfernt von meiner Hypothese. Aber auch die Melanie Klein’sche Annahme der Projektion der eigenen Aggression ist nicht so konträr, wie sie zunächst erscheint. Der strittige Punkt ist nur die Herkunft, das Woher und Wozu der Aggression. Ich gehe von einer Frustrationsaggression aus, unabhängig davon, ob es sich um eine äußere oder eine innere Frustration handelt. Letztere ist häufiger und resultiert aus der konfliktbedingten Frustrierung entweder der Liebe oder der Autonomie. Melanie Klein postuliert einen vorgegebenen destruktiven Trieb, obwohl sie nicht immer dabei bleibt und z. B. gelegentlich auch von Frustration oder auch Neid wegen der verweigerten oder leeren Brust spricht. Die Vorstellungen von Gaetano Benedetti lassen sich über eine schöpferische positive Funktion des Wahns relativ leicht in Einklang mit meiner Auffassung bringen, welche den Verfolgungswahn als einen notdürftigen Stabilisator der zerfließenden Ich-Grenzen und als eine Abwendung des drohenden Selbstverlustes sowie als eine Vermeidung der drohenden Objektlosigkeit versteht. Eine noch nicht voll ausgereifte Überlegung zum Verfolgungswahn möchte ich nicht unerwähnt lassen. Mir ist aufgefallen, dass die meisten Psychoanalytiker von einer Projektion der eigenen Aggression nach außen sprechen. Ich pflege von einer Entsorgung des bösen Anteils des inneren Objekts mittels der Projektion – im Verfolgungswahn – zu sprechen. Könnte es nicht so sein, dass hier der böse Anteil des Objekts nach außen projektiv verschoben wird, und zwar um das innere Objekt zu schonen? Das Beispiel der Patientin mit der vergifteten CocaCola-Flasche spricht eindeutig dafür.
18.4 Andere Variationen von psychotischen Dysfunktionalitäten und ihre Funktionen Oft neigt man – auch unter Experten – dazu, die Psychose fast ausschließlich mit Wahn und Halluzination in Verbindung zu bringen. In Wirklichkeit stellt jedoch
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diese paranoid-halluzinatorische, oft auch »produktiv« genannte Symptomatik nur einen Teil des Psychotischen dar. Insgesamt gesehen sind die Fälle und die Zeiten ohne paranoid-halluzinatorische, also ohne produktive Symptomatik, eher häufiger. Andere Symptome stehen dann im Vordergrund, so die sogenannte Minussymptomatik mit der Antriebsarmut, der Leere, der Inaktivität; oder die Beeinträchtigungen des Selbsterlebens wie z. B. das Gefühl, von außen manipuliert oder hypnotisiert zu werden. Dazu kommen körperliche, koenästhetische Missempfindungen vor oder das unangenehme Gefühl, ständig durchschaut zu werden. In anderen Fällen überwiegen die Denkstörungen wie Gedankenabriss, irrationale, unzusammenhängende Verknüpfungen, Neologismen, andere Paradoxien in der Sprache und im Handeln. Das klinische Bild kann von einem autistischen Rückzug und einer Verweigerung jeder Kontaktaufnahme beherrscht sein oder auch von sonstigen Formen des recht häufigen Negativismus mit der Tendenz, immer das Gegenteilige von dem zu tun, was voraussichtlich der Andere von dem Patienten erwartet. Es ist hier nicht meine Absicht, die unzähligen Formen psychotischen Verhaltens und Erlebens detailliert und systematisch zu beschreiben, zumal man leicht solche systematischen und jetzt auch operationalisierten Beschreibungen und Klassifikationen in den gängigen psychiatrischen Lehrbüchern findet. Mir geht es mehr darum zu zeigen, dass auch bei diesen nicht mit Wahn und Halluzinationen zu tun habenden Symptomen meistens eine Funktion des scheinbar psychologisch unableitbaren, irrationalen, verrückten, nicht »normalen« Erlebens und Verhaltens zu entdecken ist. Im Negativismus z. B. besteht wahrscheinlich die Funktion darin, dass der Patient seine ständig bedrohte Autonomie und Selbstidentität durch Verweigerung zu verteidigen versucht. (Die Frage, warum die Autonomie ständig bedroht wird, ist leicht zu beantworten: Die defensive Verunmöglichung von Kontakten zum Objekt lässt einen regelrechten Objekthunger entstehen, der vom Patienten sozusagen als gefährliche Versuchung empfunden wird.) Das Gefühl des Durchschaut- oder Hypnotisiertwerdens stellt wahrscheinlich einen Kompromiss dar zwischen einerseits dem Wunsch, gesehen, gemocht, angefasst, gelenkt zu werden, und andererseits der Angst vor einer solchen Beeinflussbarkeit und vor der Nähe, also vor der Anziehung durch das zwar attraktive und ersehnte, aber höchst gefährliche (weil verschlingende, nicht vertrauenswürdige usw.) Objekt. Oft geht es auch um die Angst, von anderen im eigenen Kern gesehen und somit vereinnahmt zu werden.
18.4.1 Eine zweidimensionale psychodynamische Klassifikation Versucht man vom Psychodynamischen her eine Klassifikation und Einordnung dieser zahlreichen Phänomene zustande zu bringen, so zeigt sich, dass die Unterscheidung zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen psychotischen Abwehrmechanismen eine nützliche und einleuchtende Perspektive eröffnet. Die Abbildung 4 (s. S. 154) verdeutlicht eine solche psychodynamisch orientierte
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Klassifikation einiger der bekannten psychotischen Syndrome in einer Anordnung, die auf einem zweidimensionalen System basiert. Die erste Dimension, die senkrechte Achse, erstreckt sich zwischen den zwei Polen Selbstpol und Objektpol. Sie erfasst die Selbst- oder umgekehrt die Objekt-Bezogenheit der jeweils involvierten Abwehrmechanismen. Sie beginnt oben in der Nähe des Selbstpols (mit Autismus und Katatonie) und endet unten bei den psychotischen fusionellen Zuständen. Die zweite Dimension, die horizontale Achse dieses zweidimensionalen Systems, repräsentiert nicht mehr die Art der Abwehr – also ihre Selbst- oder Objektbezogenheit –, sondern die Art des Dilemmas selbst: Auf der linken Hälfte der horizontalen Achse findet man die Psychosen, bei denen die Selbstidentitätsproblematik im Vordergrund steht. Es handelt sich hier um die schizophrenen Psychosen mit dem Dilemma Identität versus Bindung. Auf der rechten Hälfte dieser horizontalen Achse stehen die Psychosen, bei denen die Selbstwertproblematik im Vordergrund steht (absolute Selbstbezogenheit versus absolute Abhängigkeit vom Objekt in Bezug auf Selbstwertigkeit). Es sind dies die affektiven Psychosen. Die zwei Achsen ermöglichen eine klare Positionierung der einzelnen psychotischen Syndrome, z. B. eine Psychose mit Selbstidentitätsproblematik und betont selbstbezogener, z. B. autistischer Abwehr erscheint im linken oberen Feld. Die Depression (Selbstwertproblematik und objektbezogene Abwehr) wird im rechten unteren, die Manie dagegen im rechten oberen Feld positioniert. Dies alles habe ich schon skizziert bei dem Versuch, dieses zweidimensionale System von den Psychosen auch auf die Persönlichkeitsstörungen anzuwenden (siehe Kapitel 13.3.2). Die schizoaffektiven Psychosen schließlich nehmen eine mittlere Position auf der horizontalen Achse ein. Ihre Psychodynamik basiert auf folgendem Prozess: Bei Menschen mit einer vorwiegend affektiv-psychotischen Selbstwertproblematik, bei denen aber auch die Identitäts-, also die schizophrene Problematik nicht völlig und nicht endgültig »stabil« erledigt ist, kommt es vor, dass eine anfänglich vorwiegend affektive Psychose unter Belastung »nach links« (in unserem Modell) abdriftet: Es entsteht die gemischte Symptomatik der schizoaffektiven Psychosen. Äußerlich bietet diese psychodynamische Klassifikation große Ähnlichkeiten und Analogien zu der deskriptiven Klassifikation der Psychiatrie. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass bei Letzterer die einzelnen Syndrome mehr oder weniger zufällig zusammenstehende statistische Cluster darstellen, während in der psychodynamischen Klassifikation diese einzelnen Syndrome alternative »Lösungen« desselben Problems, desselben Dilemmas sind, und zwar entweder als einseitige Extremisierungen oder als – ebenfalls pathologische – Kompromisslösungen. Bei der psychodynamischen Klassifikation besteht ein innerer, organischer Zusammenhang, welcher übrigens das nicht seltene Phänomen des Symptomwechselns oder der Kombination dieser einzelnen Syndrome erklärt, ohne die Notwendigkeit, jeweils neue Erkrankungen bzw. Diagnosen für eine angebliche Komorbidität zu postulieren.
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Diese hier präsentierte psychodynamische Klassifikation beruht letztlich auf objektbeziehungstheoretischen Grundannahmen, indem sie die potenzielle Autonomie versus Bindungsdilemmatik bzw. die Nähe-Distanz-Problematik und die Unterscheidung zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Abwehrmechanismen ins Zentrum der Betrachtung stellt.
18.4.2 Eine ergänzende Ich-psychologische psychodynamische Klassifikation Es gibt eine zweite Möglichkeit, diese psychodynamische Diagnostik durch eine andere Perspektive zu ergänzen, nämlich indem man einen mehr Ich-psychologischen Aspekt in den Vordergrund stellt. Damit meine ich nicht das alte, schlecht und unscharf definierte und im Wesentlichen überholte Konzept der Ich-Schwäche, sondern die Berücksichtigung einer zusätzlichen Polarität, nämlich derjenigen zwischen Überstimulation bzw. Emotionalisierung einerseits und Unterstimulation, emotionaler Armut und Rigidität andererseits. Auch diese Gegenüberstellung stammt aus einer ursprünglich vorgegebenen Bipiolarität: Der eine Pol enthält Elemente wie Emotionalität, Fantasie, primärer Denkvorgang, analoges Denken, Traum, Rechtshirnigkeit etc.; der andere Pol Elemente wie digitale Kognition, sekundärer Denkvorgang, Entemotionalisierung, linke Hirnhemisphäre etc. Diese normale Bipolarität wird aber unter dem Druck und der Not der aus dem Dilemma hervorgehenden unerträglichen intrapsychischen Spannung auf die »Spitze getrieben« (in die eine oder die andere Richtung) und zu einem Abwehrprozess instrumentalisiert: Aus dem erstgenannten Pol entwickelt sich eine übertriebene Fantasietätigkeit, eine Überstimulierung und schließlich eine produktive psychotische Symptomatik (z. B. Wahn und Halluzination); die Elemente des zweiten Pols verwandeln sich dagegen in Richtung einer entemotionalisierten Rigidität und schließlich einer Minussymptomatik (vgl. Abb. 6). Beide Bewegungen dürfen nicht nur als Störungen, als Dysfunktionalitäten, sondern sollten auch als defensive Mechanismen betrachtet werden. Wie diese defensive Funktion aussieht und wie sie arbeitet, wurde hinsichtlich des Produktiven, also des Wahns, schon beschrieben. Was dort noch nicht expressis verbis erläutert wurde, ist die Frage der Funktion der Minussymptomatik: Ob sie nur als ein Defekt, als ein Ausfall zu gelten hat oder ob sie nicht doch auch eine defensive Funktion besitzt, ist eine noch offene Frage. Dennoch neigen immer mehr psychodynamisch orientierte Psychiater dazu, eine Funktion der Minussymptomatik anzunehmen, was auch meiner Überzeugung entspricht. So könnte sie als ein aktiver Rückzug zur Vermeidung der Berührung mit dem Dilemma bzw. zur Vermeidung des Kontakts mit dem Objekt betrachtet werden und nicht als eine bloße passiv erlittene »Entleerung«, als eine nicht wiedergutzumachende Entemotionalisierung und als unwiederbringlicher Verlust von Vitalität bzw. als ein endgülti-
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ger Verzicht auf Lebendigkeit und Zukunft. Einige Fälle, bei denen aus dem nach langer Zeit bestehenden Zustand der Minussymptomatik erneut eine floride Psychose mit produktiver Symptomatik entsteht, könnten auf jeden Fall für diese letztere Annahme sprechen.
Selbst-Pol Expansiver narzisstischer Rückzug
Produktive Symptomatik
Leerer Autismus A
Überstimulation
Unterstimulation Restriktion Minussymptomatik
Diffusität
Leere konformistische Anpassung A’ Objekt-Pol
Abbildung 6: Einteilung der psychotischen Bilder auf der Achse Über- bzw. Unterstimulation (eine Ich-psychologische Klassifikation)
Besonders interessant erscheinen mir neurobiologische Befunde, die zeigen, dass in der Psychose eine Dysbalance zwischen subkortikaler, dopamigener Erregung und einer kortikalen Hemmung besteht. Die in dem hier geschilderten psychologischen Modell vorgesehenen zwei Pole (Überstimulation vs. Unterstimulation) könnten eben diesem neurobiologischen Korrelat (Striatum vs. präfrontaler Kortex) entsprechen (siehe auch Kapitel 19.3 und 19.6 sowie Mentzos, 2008).
18.5 Zusammenfassung der Variationen des schizophrenpsychotischen Modus Versucht man das bis jetzt Dargestellte zusammenzufassen und mit einigen wichtigen zusätzlichen Elementen zu ergänzen, so ergibt sich folgende Auflistung der möglichen Variationen psychotischer Abwehr und Kompensation: a) Das Objekt wird minimalisiert oder sogar völlig ignoriert. Dies ist der Fall erstens bei dem schizophrenen Größenwahn (in leichteren Fällen bei der gele-
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b)
c)
d)
e)
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gentlichen Quasi-Überheblichkeit und -Arroganz mancher Schizophrener) und zweitens bei dem leeren Rückzug des Autismus. Das Dilemma zwischen Selbstverlust und Objektverlust wird hier dadurch pathologisch gelöst, dass das Objekt verschwindet oder auf jeden Fall irrelevant wird. Der Unterschied und die Abgrenzung zwischen Selbst und Objekt werden aufgehoben, wodurch ein Dilemma sozusagen nicht entstehen kann. Dies ist der Fall bei den psychotischen fusionellen Zuständen, aber auch bei chronischen, früher meistens »hebephren« genannten Formen. Bei ihnen findet wahrscheinlich eine massive pathologische Vereinnahmung des Therapeuten und allgemeiner des Objekts statt. Im extremen Fall hat darum der Partner (oder der Therapeut) das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. In wenigen extremen Fällen führt das zu einem Zustand, der vom Therapeuten als eine Art »Klebrigkeit« der Beziehung, die eigentlich keine Beziehung ist, erlebt wird. Eine andere Ausgestaltung besteht in einer stereotypisierten Chronifizierung der produktiven Symptomatik, die dadurch ihre ursprüngliche Dynamik und Funktion einbüßt. Körperbezogener Rückzug zum Selbst-Pol hin, wie z. B. bei der Katatonie, bei der sich widersprechende Innervationen der Muskulatur – als elementarste Somatisierung des Dilemmas – zu einer immensen allgemeinen, auch körperlichen Spannung und somit wahrscheinlich auch zur Entstehung von fieberhaften Zuständen (febrile Katatonie) oder sogar gelegentlich auch zum Tod führen können. Hier heißt die Lösung Verfolgungswahn: Die Funktionen des Verfolgungswahns sind schon beschrieben worden, es geht einmal um die Abgrenzungsund Distanzierungsfunktion, Distanzierung und Abgrenzung vom Objekt durch die eingebaute Feindseligkeit. Zweitens geht es um die Funktion der Projektion, das heißt die Entsorgung des abgespaltenen bösen Anteils. Es geht aber, drittens, auch – oder vorwiegend – um die Stärkung der Kohäsion des Selbst durch diese Feindbildung und durch die mit ihr einhergehende Stärkung und die Strukturierung der Ich-Grenzen gegenüber der Umgebung. Schließlich, viertens, findet oft auch das ambivalent besetzte innere Objekt eine Verschiebung der vom inneren Objekt ausgehenden Feindseligkeit auf andere, unbekannte Verfolger, was ja der Schonung des inneren Objekts dient (es bleibt dem Patienten erhalten). Halluzinationen: Die Funktionen dieses Externalisierungsmechanismus sind ähnlich derjenigen des Wahns, nur dass hier die bildliche Darstellung die Vortäuschung einer Realität überzeugender erscheinen lässt und auch die Ausdrucksgebung der emotionalen – womöglich unbewussten – Zustände stärker ist. Die Stimmen und die Gestalten stehen für böse und gute Objekte. Deswegen geht es hier auch um eine Art von Objektbeziehung. Wie ist dies zu verstehen?
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Viele der beschriebenen defensiven Mechanismen gehen oft mit einer Blockierung der Beziehungen und somit mit einer potenziellen Objektlosigkeit, einer Verwüstung der Objektwelt einher. Der dadurch entstehende Objekthunger wird u. a. durch die Stimmen – gute und schlechte – ersetzt. Dies ist einer der möglichen Erklärungen des oft hartnäckigen Weiterbestehens von Halluzinationen. Es gibt aber wahrscheinlich auch andere Wege bei der Entstehung von Halluzinationen. Im Gegensatz zu der immensen Literatur über den Wahn sind die Veröffentlichungen über Halluzinationen weniger zahlreich. Wahrscheinlich ist in naher Zukunft – zumal unter dem Einfluss der bildgebenden Verfahren – eine Intensivierung der Halluzinationsforschung zu erwarten. Schon jetzt lässt sich sagen, dass ähnliche Phänomene – meistens als Pseudohalluzinationen bezeichnet – sehr häufig auch bei »Gesunden« vorkommen und dass die Halluzinationen oft die Funktion haben, eine Leere zu füllen, eine Lücke zu schließen, analog zu der Situation bei dem Astronauten, wenn er sich allein im Weltall befindet, aber doch anders für den Psychiater, für den die echten Halluzinationen der Befriedigung des Objekthungers dienen. f) Die notdürftige Rettung des Selbst und des Objekts geschieht aber nicht nur durch Verfolgungswahn, sondern auch durch andere Veränderungen der Objektbeziehung, wie z. B. durch die projektive Identifikation, das heißt durch die vom Patienten ausgehende unbewusste und meistens auch erfolgreiche Manipulation des Objekts. Letzteres wird dahingehend manipulativ verändert, dass es vom Patienten gleichsam angegriffen werden kann. Dieses Phänomen habe ich an anderer Stelle auch als die reale Externalisierung, das heißt die Verankerung der Projektion in der Realität, beschrieben. Das ist ein Vorgang, der z. B. auch allgemeiner, außerhalb der Psychose, bei der Feindbildung eine sehr große Rolle spielt (vgl. Mentzos, 2002). g) Die Kompromisslösung erfolgt hier nicht durch den Verfolgungswahn und nicht durch die projektive Identifikation und die sich anschließende Kritik, sondern durch das Gefühl des Durchschautwerdens, des Manipuliertwerdens vom Anderen, des Beziehungswahns oder des Gefühls der Beeinflussung von außen, des Hypnotisiertwerdens usw. Der Kompromiss besteht darin, dass zwar der Zustand als unangenehm, als störend empfunden wird und mit dem Wunsch, davon befreit zu werden, erlebt wird; gleichzeitig besteht jedoch auf einer unbewussten Ebene doch ein Bedürfnis nach einem Kontakt und einer Beziehung mit dem Objekt, sei es auch nur auf diesem versteckten Weg, der offenbar der einzig mögliche ist. Es handelt sich also um ein Eindringen in den Patienten, welches sowohl abgelehnt und gehasst als auch irgendwie erwünscht wird. h) Der schizophrene Liebeswahn dient wahrscheinlich nicht der bloßen wahnhaften Befriedigung erotischer Wünsche (dies gibt es freilich auch, aber nicht in der Psychose), sondern der Linderung einer tieferen existenziellen Not. Wie wenn der Betreffende oder die Betreffende denken würde: Ich werde leidenschaftlich geliebt, ergo existiere ich als wertvoller Mensch! Diese Deutung er-
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scheint schon deswegen wahrscheinlich, weil dort, wo der angeblich in die Patientin (oder in den Patienten) unsterblich verliebte Andere, sei es aus Neugierde oder aus Mitleid mit dem Patienten, positiv auf dessen Ansinnen reagiert und auf die Wünsche des Patienten eingeht, dieser sofort die Flucht ergreift. Denn er begehrt nicht den Kontakt, sondern er sucht die Stärkung seiner Identität und seiner Wertigkeit. Er möchte gesehen, bewundert, gemocht und begehrt werden. i) Im Fall der koenästhetischen Schizophrenie dienen wahrscheinlich die wahnhaft veränderten oder neu entstehenden körperlichen Empfindungen und Sensationen einer Korrektur oder Komplettierung des Körperbildes, und zwar dergestalt, dass dadurch eine Spannung, eine existenzielle Angst, ein Wunsch oder eine Befürchtung in einer Körpersprache ausgedrückt werden. Diese Körpersprache findet jedoch auf einem eindeutig tiefer liegenden Niveau statt als dasjenige der hysterischen Ausdrucksweise, etwa bei der Konversion. Bei der Letzteren ist die Symbolsprache so weit dem normalen Niveau nahe, dass man sie relativ schnell begreifen und eventuell auch deuten kann. Dagegen geht es in der schizophrenen Koenästhesie um viel tiefer liegende archaische Körperrepräsentationen, so dass es sehr schwerfällt, sie zu entschlüsseln. Auf jeden Fall gelingt es dem Patienten offensichtlich auch auf diesem Wege, durch die Ausdrucksgebung, das Problem und das Dilemma etwas erträglicher zu machen. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass solche Sensationen so hartnäckig persistieren. Auch in diesem Fall erkennt man also das Prinzip der Funktion des Dysfunktionalen.
18.6 Zwei Circuli vitiosi und die Konsequenzen für die Therapie der Schizophrenie Die leider häufige Tendenz der schizophrenen Psychosen – ohne Therapie – zur Chronifizierung und progredienten Verschlechterung beruht zum großen Teil auf einem primären und einem sekundären Circulus vitiosus. Die in den vorangehenden Abschnitten geschilderten Abwehr- und Kompensierungsmechanismen implizieren nämlich meistens eine fatale Isolierung des Patienten: Auch dort, wo die Mechanismen primär keinen regelrechten Rückzug und keine systematische Vermeidung von sozialen Kontakten implizieren, bewirken sie trotzdem generell eine ständige Verschlechterung der Möglichkeiten zur Herstellung neuer, echter und dadurch korrigierender Beziehungen. Dies ist deswegen fatal, weil solche Beziehungen der einzige Weg zur Besserung, und das heißt hier zur Lockerung des Dilemmas wären. Das Herstellen einer Balance zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen und Bedürfnissen – eine der wichtigsten Aufgaben jedes Menschen – kann also nicht erreicht werden. Je mehr der Schizophrene sich vor dem Objekt schützt, desto weniger ist er in der Lage, neue korrigierende Beziehungserfahrungen nachzuholen. Dies ist der primäre Circulus vitiosus.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Wie wenn dies nicht schlimm genug wäre, entsteht ein zweiter, sekundärer Circulus: Je mehr der Patient innerhalb des geschilderten zirkulären Prozesses soziale Fertigkeiten und kognitive sowie emotionale Fähigkeiten verliert, desto seltener wird er korrektive Beziehungserfahrungen erleben. Der in diesem Kreis verfangene Patient kann sich sehr schwer ohne äußere geeignete Hilfe befreien (vgl. Abb. 7 und 8). Biologische Vulnerabilität und ungünstige psychosoziale Konstellation
Konfliktualisierung der Bipolarität
Dilemma
Objektverlust bei selbstbezogenem Abwehrmodus
Objektverlust bei objektbezogenem Abwehrmodus
Verunmöglichung neuer positiver Beziehungserfahrungen Abbildung 7: Der primäre Circulus vitiosus bei der Schizophrenie Psychologische, defensive und cerebrale Ich-Einschränkungen durch
Verlernen sozialer Fertigkeiten
inaktivitätsbedingte Minderung der synaptischen Dichte
und dadurch
und dadurch
psychosozial bedingte Erschwerung der Kommunikation
rein somatisch bedingte Erschwerung der Kommunikation
Verunmöglichung neuer positiver Beziehungserfahrungen und damit Verfestigung des Dilemmas Abbildung 8: Der sekundäre Circulus vitiosus bei der Schizophrenie
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Die therapeutische Unterbrechung dieser Circuli vitiosi scheint ein gemeinsames Element verschiedener und unterschiedlicher erfolgreicher Behandlungsmethoden zu sein. Es zeigt sich nämlich, dass verschiedene therapeutische Verfahren von der Psychopharmakologie über die Psychoedukation die sonstigen kognitiven Verfahren, die therapeutische Gemeinschaft, die Körpertherapien bis hin zu den psychodynamisch orientierten Einzel- und Familien- sowie Gruppentherapien (inklusive Gestaltungstherapie) alle in gewissem Umfang durch die Unterbrechung dieser Teufelskreise wirksam sein können. Offenbar ist die bemerkenswerte Tatsache, dass so verschiedene Verfahren effektiv werden können, dadurch zu erklären, dass jedes von ihnen jeweils an einem anderen Punkt der beschriebenen Circuli vitiosi eine Unterbrechung herbeiführen kann und somit eine Förderung des therapeutischen Prozesses bewirkt. So glaube ich, dass die kognitiven Verfahren mehr beim sekundären Circulus vitiosus ihren Hauptansatzpunkt und ihre Stärke haben, etwa an dem Punkt, wo die kognitiven und sozialen Fertigkeiten verloren gehen; die Psychopharmakotherapie dagegen wirkt mehr durch die Vermeidung einer Fortsetzung der akuten psychotischen Schübe mit verheerenden Folgen für die cerebrale Mikrostruktur (der Einfluss von Stresshormonen etc. ist nachgewiesen und dürfte im akuten Stadium am stärksten sein; vgl. das nächste Kapitel über die Neurobiologie). Je mehr das Gehirn psychopharmakologisch einigermaßen geschützt werden kann, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen für neue Beziehungen gefördert werden. Auf der anderen Seite setzt die psychodynamisch orientierte Therapie direkt bei der Ermöglichung korrektiver Beziehungserfahrungen an (erster Circulus vitiosus). Außerdem muss man davon ausgehen, dass auch alle anderen genannten Methoden, je nachdem in welcher Art und innerhalb welchen Beziehungsrahmens sie geboten werden, Elemente der »Beziehungstherapie« enthalten und somit auch zu einem Abbau der Abwehrmauer und zu einer Förderung der Entstehung neuer, korrektiver Beziehungserfahrungen beitragen. Von daher bietet sich an, dieses Modell als einen größeren Bezugsrahmen zur Verständigung und Verortung der einzelnen Verfahren zu nutzen. Meine eigenen therapeutischen Erfahrungen beziehen sich vorwiegend auf Einzelbehandlungen. Andere Therapeuten, die auch mit Familientherapien umfangreiche Erfahrungen haben, wie z. B. Alanen (1997/2006) in Finnland, haben empirische Ergebnisse veröffentlicht, aus denen zu ersehen ist, dass solche psychodynamisch orientierten Verfahren eindeutig gute Resultate zeigen, sofern sie innerhalb eines integrierten Programms und in einer Kombination mit anderen Verfahren stattfinden. Bei der von mir favorisierten und durchgeführten psychodynamischen Einzelbehandlung geht es nicht um eine klassische psychoanalytische Therapie, die etwa aus tiefer gehenden Deutungen bestünde (die nicht nur unmöglich, sondern hier auch oft schädlich sein können). Es geht vielmehr um solche therapeutische Verfahren wie den Handlungsdialog, sonstige verbale und nonverbale Kommunikation, die Benennung von Gefühlen im Hier und Jetzt, das
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Benutzen von Metaphern und Bildern und Ähnliches mehr. Das Wichtigste ist aber die adäquate therapeutische Haltung: eine Mischung aus intensivem Einfühlen und respektvoller Distanz. Der Therapeut ist dabei echt engagiert, aber nicht intrusiv. Er ist in der Lage, die Paradoxien im Verhalten und Erleben des Patienten zu verstehen und dadurch zu ertragen, ohne unbedingt zu versuchen, sie zu deuten (vgl. Mentzos, 2002). Der therapeutische Beitrag des psychodynamischen Modells der Psychosen soll jedoch nicht nur in der Anwendung der erwähnten speziellen individuellen oder Familien- oder Gruppentherapien, sondern auch in der Kultivierung eines entsprechenden psychodynamisch inspirierten Klimas in allen Begegnungen mit den Patienten verwendet werden. Dies ist leichter gesagt als getan, weil man hier mit erheblichen Hindernissen nicht nur organisatorischer Art zu rechnen hat, sondern auch solchen, die von den Besonderheiten des psychotischen Prozesses her stammen: der defensiv entweder zurückgezogene oder diffus verschmelzende oder paranoid umdeutende usw. Patient erzeugt oft erhebliche negative Gegenübertragungsgefühle, nicht nur bei seinem Therapeuten. Auch bei allen Mitmenschen in seinem Leben, aber auch speziell in der Klinik bei allen Mitgliedern des Teams, bei allen Angehörigen des Pflegepersonals, also gerade bei denjenigen Personen, die ständig mit dem Patienten den ganzen Tag leben und mit ihm in Berührung kommen, entstehen solche negativen Gegenübertragungsreaktionen. Von daher erscheint mir sehr wichtig, dass eine Fortbildung und eine systematische Supervision des Teams dafür sorgen sollen, dass alle hier Beteiligten ein besseres, eben ein psychodynamisches Verständnis des Zustandes des Patienten und der Interaktionen, die mit ihm stattfinden, bekommen. Dies nicht etwa, um dem Patienten Deutungen seines Verhaltens zu geben, sondern um besser mit den genannten Gegenübertragungsgefühlen fertigzuwerden und um die von jedem Menschen, der mit Schizophrenen zu tun hat, verlangte schwierige Mischung zwischen empathischem Einfühlen und respektierender Distanz, also Zuwendung ohne Intrusion herzustellen. Denn diese Mischung ist eigentlich das Beste, was man dem Patienten bieten kann, es ist ja auch im Hinblick auf das im psychodynamischen Modell geschilderte Problem des Schizophrenen ein regelrechtes spezifisches – und diesmal echtes und gesund machendes – Antidot, also das richtige Gegenmittel. Es ermöglicht dem Patienten, zu beginnen, das Grunddilemma zu überwinden.
18.7 Die therapeutische Relevanz der Unterscheidung zwischen selbst- und objektbezogener Symptomatik Symptome sind nicht nur Ausfälle, Defizite, Störungen, sondern in gewisser Hinsicht auch Ich-Leistungen, weil sie Bestandteile von Abwehr- und Kompensationsmechanismen im Notfall darstellen. Diese Mechanismen und diese Symptome
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sind zwar inadäquate und oft leidvolle »Lösungsversuche«, aber sie stellen gleichzeitig wichtige Zeichen und Indikatoren dar. Innerhalb der Therapie sollen sie deswegen nicht einfach direkt bekämpft und niedergeschlagen werden, sondern lediglich – bei einer Besserung der dahinterstehenden pathologischen Dynamik – sich erübrigen. Innerhalb des Bipolaritätsmodells, der dilemmatischen Psychodynamik der Psychosen, unterscheiden sich, wie wir schon in früheren Kapiteln gesehen haben, diese Symptome bzw. Abwehrmechanismen in dem Selbstbezogenen einerseits und dem Objektbezogenen andererseits. Nun ist die Beobachtung wichtig, dass dort, wo selbstbezogene Mechanismen bzw. Symptome (z. B. Autismus, Wahn etc.) überwiegen, eine – subjektive – stärkere Gefährdung von Identität und Autonomie vorliegt, überwiegen dagegen die objektbezogenen Symptome bzw. Abwehrmechanismen (z. B. hebephrene »Klebrigkeit« und die sogenannte pathologische Identifikation mit dem Objekt, Diffusität und Durchlässigkeit der IchGrenzen, Liebeswahn etc.), so ist eher ein – subjektiver – Mangel an Bindung, Kontakt, verschmelzender Vereinigung etc. zu vermuten. Diese Unterscheidung ist deswegen von praktischer therapeutischer Relevanz, weil schizophrene Patienten mit der ersten Art der »selbstbezogenen« Symptombildung den Therapeuten vor andere Schwierigkeiten, Aufgaben und stellen und ihm eine andere therapeutische Haltung abverlangen als diejenigen Patienten, bei denen eine objektbezogene Symptomatik überwiegt. Dies macht auch verständlich, warum in der Psychosentherapie von Schizophrenen tätige Therapeuten des Öfteren Schwierigkeiten haben, sich in gewissen Punkten in Bezug auf eine detaillierte Diagnostik und insbesondere auf indizierte und überhaupt mögliche Therapie zu einigen. Dabei dürfte es jedem in diesem Gebiet tätigen Therapeuten und Psychoanalytiker einleuchtend sein, dass ein autistischer oder ein katatoner oder ein Patient mit Verfolgungswahn nicht in derselben Weise zu behandeln ist wie ein Patient mit Diffusität und Durchlässigkeit der Ich-Grenzen, mit Liebeswahn oder sogar mit einer ekstatischen Psychose. Bei der ersten Gruppe handelt es sich oft um Patienten, die z. B. eine dominante, in ihrer Liebe besitzergreifende, überfürsorgliche Mutter und einen abwesenden, schwachen oder gehemmten Vater hatten und somit mit ihrer selbstbezogenen Symptomatik ihre Selbstidentität, Integrität und Autonomie zu verteidigen versuchen; dabei findet man bei den Patienten der zweiten Gruppe Menschen, die eine indifferente, kühle, nicht emotional engagierte Mutter und einen entweder abwesenden oder den Mangel der Mutter nicht kompensierenden Vater hatten und somit dazu tendieren, vom Therapeuten, dem in der aktuellen Situation wichtigsten Objekt, das zu erhalten, was sie in ihrer psychosozialen Vorgeschichte entbehrt haben, aber dies in einer pathologischen und auf jeden Fall die erwünschte Balance zwischen Selbst- und Objekttendenzen vermissenden Art. Eine andere, von der Selbst- bzw. Objektbezogenheit der Symptomatik unabhängige notwendige Differenzierung bei der Therapie der Schizophrenen ist auch die Auswahl des geeigneten Settings in Bezug auf Frequenz, Dauer der Sitzung
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
und inhaltliche Vertiefung beim Umgang mit Übertragung und Gegenübertragung. Auch auf diesem Gebiet befindet sich die psychodynamisch orientierte Therapie noch in ihren Anfängen. In einer ersten Annäherung versuchte ich drei Typen von Settings zu beschreiben, die mir für die ambulante Behandlung von schizophrenen Patienten geeignet erschienen. In dem ersten, dem einfacheren Setting Typ A (30 Minuten alle 3 bis 4 Wochen) herrscht eine milde positive Übertragung, die überhaupt nicht thematisiert wird, es findet kein vertieftes Gespräch statt, wichtig ist hier die jeweilige Begegnung mit einem zwar äußeren, aber sehr stabilen und vertrauenswürdigen Objekt. Diese Methode bewirkt zwar keine radikale Veränderung oder Heilung, erweist sich aber in erstaunlicher Weise als sehr nützlich für den Patienten, für seine Stabilisierung und Orientierung. Sie muss aber über sehr lange Zeit sozusagen als Erhaltungstherapie eventuell auch in größeren Abständen durchgeführt werden. Wenn man sie unterbricht, tauchen oft wieder Symptome auf. Im Setting Typ B (1 Stunde wöchentlich) wird aktuelle Beziehungsproblematik diskutiert, die Beziehungserfahrung mit dem Therapeuten ist auch hier wie bei Setting A das wirksamste. Sie wird aber auch hier nicht direkt angesprochen. Im Setting Typ C (1 bis 2 Stunden wöchentlich) wird die therapeutische Beziehung teilweise direkt thematisiert, es gibt oft einen starken Wechsel zwischen einer sehr positiven und ein sehr negativen Übertragung, die die Beziehung des Patienten zu seinen inneren Objekten widerspiegelt. Oft ist dadurch innerhalb einer meistens relativ turbulenten Behandlung eine bleibende Änderung möglich.
Kapitel 19: Die Neurobiologie der Psychosen – Die Psychosomatosen des Gehirns
19.1 Zur Problematik der Beurteilung und Einordnung neurobiologischer Befunde Die Entwicklung grundsätzlich neuer Methoden und Techniken bei der Untersuchung der Struktur und der Funktion des Gehirns brachte in den letzten zwei Jahrzehnten eine Fülle von faszinierenden Befunden zutage. Man erlebt eine bis dahin unvorstellbare Expansion unseres Wissens auf diesem Gebiet. Die darauf erfolgte verständliche Begeisterung führte dazu, dass man die 1990er Jahre das Jahrzehnt des Gehirns genannt hat. Diese Begeisterung hatte aber leider auch die negative Folge, dass die Ergebnisse der Neurobiologie in ihrer allgemeineren Bedeutung und insbesondere im Hinblick auf ihre Anwendung und Verwendung zum Verständnis intrapsychischer und sozialer Prozesse, inklusive kultureller Errungenschaften, maßlos überschätzt wurden. Die noch heute tobende Debatte um die Entstehung des Bewusstseins oder über den freien Willen sind einige der daraus entstandenen Überinterpretationen. Hier ist nicht der Ort, um diese Probleme zu diskutieren. Nur punktuell werden gewisse Aspekte skizziert. Zum Zweck der Darstellung einiger für die Psychosen relevanten neurobiologischen Befunde gehe ich zunächst von der unhinterfragten Annahme aus, dass parallel zu den psychischen Prozessen elektrische und chemische Vorgänge innerhalb neuronaler Systeme des Gehirns stattfinden. Ohne die Frage der Kausalität aufzuwerfen, kann man schon heute aufgrund der vorliegenden Beobachtungen davon ausgehen, dass auch die feinsten und kompliziertesten psychischen Vorgänge, von parallel dazu laufenden und mit ihnen korrespondierenden neuronalen Prozesse begleitet werden, die allerdings zum überwiegenden Teil bei weitem nicht (noch nicht?) mit den zur Verfügung stehenden Untersuchungsmethoden erfasst werden können. Was also hier erfasst und als Befund präsentiert wird, ist nur ein kleiner Teil des mit dem Psychischen korrelierenden neuronalen Geschehens, wobei man nicht wissen kann, was da eigentlich dargestellt oder sogar gemessen wird: Handelt es sich um das direkte Korrelat eines psychischen Vorgangs oder um Folgen desselben oder um dadurch aktivierte Reaktionen oder sogar entgegengesetzte Defensivmechanismen oder um indirekte, unspezifische Aktivierungen neuronaler Netze? Der Übersichtsartikel von Gerhard Schüßler (2004, S. 420 ff.) macht genau auf diese Problematik aufmerksam. Man müsse sich
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
bei der Beurteilung von Ergebnissen der funktionellen Magnetresonanztomographie immer fragen, ob es sich bei einem bestimmten Befund um ein cause, eine consequence oder um eine compensation handelt (die »drei C«). So weit zunächst allgemein zu den problematischen Aspekten des neurobiologischen Fortschritts (zur Forschung und Diskussion vgl. u. a. Kandel, 2006). Im Folgenden fokussiere ich auf die Neurobiologie der Psychosen, indem ich eine kurze Zusammenfassung gebe sowohl der Befunde, die für einen somatopsychischen Zusammenhang, als auch umgekehrt der Beobachtungen, die für einen psychosomatischen Zusammenhang sprechen.
19.2 Somatopsychische Zusammenhänge Zahlreiche Untersuchungen haben deutliche Hinweise für eine erbgenetisch übertragbare Prädisposition zutage gebracht, so z. B. eine familiäre Anhäufung von psychotischen Störungen oder eine erhöhte Konkordanz bei Monozygoten (eineiigen Zwillingen). Besonders interessant sind die Adoptivkinder-Untersuchungen: Adoptierte Kinder von schizophrenen Müttern erkranken häufiger an einer Psychose als ebenfalls adoptierte Kinder, die nicht auf diese Weise biologisch vorbelastet sind. Allerdings wird in der finnischen Adoptivkinder-Untersuchung (Tienari, 1991, Wynne u. a., 2006) auch die große Bedeutung des psychischen Faktors eindrucksvoll deutlich (siehe weiter unten). Es geht zweitens um biochemische und pharmakologische Befunde (u. a. Dopamin und Serotonin). Ich kann im Rahmen eines Lehrbuches für Psychodynamik nicht auf Einzelheiten der im Moment sehr intensiv auf der ganzen Welt laufenden Forschung eingehen. Ich möchte aber trotzdem zunächst aus der Übersichtsarbeit von Heinz u. a. (2003) einige zusammenfassende Feststellungen wiedergeben. Die Autoren sind in ihren Formulierungen im Hinblick auf die Vorläufigkeit und partielle Widersprüchlichkeit der Ergebnisse sehr vorsichtig. So wird heute hypothetisch angenommen, dass die Schizophrenie in einem Zusammenhang mit einer Dysfunktion der temporal-limbischen, präfrontalen neuronalen Netze stehe. Bei der Schizophrenie komme es zu einer unbeherrschten dopaminergen Aktivierung (im Striatum), was mit einer psychotisch produktiven Symptomatik in der akuten Psychose einhergeht. Auch bildgebende Studien unterstützen die Annahme von präfrontalen Dysfunktionen in der Schizophrenie, welche mit einer präsynaptischen starken Dopamin-Aktivierung des Striatums korrelieren. Die dazugekommenen neueren Studien von molekularem »Brainimaging« tragen zu einer weiteren Differenzierung des Wissens bei. Eine neue und vielversprechende Forschungsrichtung und Strategie versucht die genetischen und Umgebungsfaktoren festzustellen, die bei der Entstehung bestimmter dazwischen oder davor liegender Phänotypen involviert sind, wie z. B. Defizite des arbeitenden Gedächtnisses, welche auch in der Schizophrenie vorkommen. Insbesondere versucht man,
Kapitel 19: Die Neurobiologie der Psychosen – Die Psychosomatosen des Gehirns
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die komplexen Interaktionen zwischen Genen und Umgebung sowie ihre Verbindung mit neuronalen Dysfunktionen aufzudecken (Heinz u. a., 2003, S. 152). In späteren Berichten anderer Autoren wird allerdings die Kompliziertheit der hier vorliegenden Prozesse deutlich sowie eine gewisse Zurückhaltung in Bezug auf die spezifische Bedeutung von Dopamin (Goto und Grace, 2007). Zu der Neurobiologie der affektiven Psychosen möchte ich hier nur kurz Folgendes vermerken: Obwohl der therapeutische Erfolg der Antidepressiva (wenigstens bei einem Teil der Patienten und für eine bestimmte Zeitspanne) nicht angezweifelt werden kann, lässt sich bis jetzt kein umfassendes Modell aufstellen, innerhalb dessen alle Befunde – inklusive der Bedeutung von Serotonin – widerspruchslos untergebracht werden könnten. Auf jeden Fall wäre es nach dem heutigen Stand eine unzulässige Versimplifizierung zu behaupten, Depression beruhe auf einem Serotoninmangel (Mentzos, 2008). Interessant sind aber strukturelle Befunde (auch bei der Depression), über die weiter unten berichtet wird. Die früher aufgrund pneumoenzephalografischer Untersuchungen festgestellte Ventrikelerweiterung bei einem Teil der schizophrenen Patienten konnte auch mit den neuen Verfahren bestätigt werden. PET- und SPECT-Studien zeigten darüber hinaus, dass oft die schizophrene Minussymptomatik von einer neuronalen Unteraktivität des Frontalhirns begleitet wird. Diese Hypofrontalität gilt heute als ein relativ sicherer Befund – man kann aber bis jetzt nicht feststellen, ob es sich um eine primäre oder eine sekundäre Störung handelt bzw. welchen Stellenwert solche Befunde für die Beurteilung der Balance zwischen Striatum und präfrontalen Arealen haben. Auf jeden Fall scheint diese Balance zwischen Dopamin-aktiviertem Striatum und präfrontaler Kontrolle dieser Erregung (bzw. Störung dieser Balance in der akuten Psychose) von großer Relevanz zu sein (vgl. dazu Mentzos, 2008). Des Weiteren wurde eine relative funktionelle Insuffizienz der rechten Gehirnhemisphäre gegenüber der linken Hemisphäre festgestellt. Man vermutet eine sowohl biologische als auch eine psychosoziale Verursachung. Auch bei der Volumenreduzierung des Hippocampus, die bei einem Teil der Schizophrenen festgestellt wurde, muss man die Frage offen lassen, ob sie eine primäre oder eine sekundäre Störung ist. Bemerkenswert ist, dass eine ähnliche Hippocampusatrophie auch bei Veteranen der amerikanischen Armee mit dem Vietnamsyndrom – also mit einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung – festgestellt wurde, so dass man sich fragen muss, ob diese Atrophie in beiden Fällen mehr mit der ihnen gemeinsamen chronischen Stressreaktion und der Überschüttung mit Stresshormonen zu tun hat als mit der nosologischen Einordnung und Diagnose. Diese Überlegungen würden auch für den Fall zutreffen, dass in beiden Fällen eine Vulnerabilität vorhanden war, zumal nicht alle Vietnamveteranen und nicht alle Fälle mit zu vielen Stresshormonen diesen atrophierten Hippocampus aufweisen. Es könnte überhaupt so sein, dass neurobiologische Veränderungen mehr mit psychodynamischen Variablen und weniger mit deskriptiv nosologischen Diagnosen korrelieren (siehe auch Mentzos, 2006).
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
Manche grundsätzlichen Einwände gegen übertriebene Ansprüche der Neurobiologie sind sicher berechtigt. Man darf aber trotzdem die vielleicht in der Zukunft mit Hilfe der Neurobiologie sich ergebenden Möglichkeiten, auch um spezifische und praktische Fragen zu beantworten, nicht unterschätzen. Um dies konkreter zu illustrieren, skizziere ich Befunde zur vermutlichen Bedeutung einer bestimmten cerebralen Struktur, nämlich des Gyrus cingularis anterior (meistens bekannt als ACC, aus dem Englischen anterior cingulate cortex). Dieses ganz vorn am limbischen System, an der Grenze zum Frontallappen liegende Areal scheint den Neurobiologen bedeutsam für das Fehler-Entdecken und das sogenannte Konfliktmonitoring zu sein.
19.3 Anterior cingulate cortex (ACC) – eine Schlüsselstruktur? Die folgende Beschreibung ist auszugsweise aus dem von Dieter Braus herausgegebenen Buch »Schizophrenie« (2005, S. 204 ff.) übernommen. Viele in der neurobiologischen Forschung benutzte psychologische Testaufgaben erfordern nicht nur die Ausführung von bestimmten Teilfunktionen, sondern auch die Inhibition (Hemmung) von anderen Funktionen. Solche Inhibitionsfunktionen werden z. B. mit Hilfe von »go-no go«-Aufgaben (nicht durchführen – durchführen) untersucht. Wenn die Ausführung einer kognitiven Aufgabe durch die Induktion einer anderen Information – absichtlich – gestört wird, spricht man auch von Interferenz, wie beim AX-CPT-TASK, bei dem eine fehlerhafte Aufgabendurchführung durch eine absichtliche Bahnung falscher Antworten induziert wird. Aus der Elektrophysiologie weiß man, dass bei den Fehlerund Konfliktuntersuchungen der ACC besonders aktiv wird. Man hat andererseits festgestellt, dass die fehlerkorrelierte Aktivität im ACC bei der Schizophrenie vermindert ist, was mit der Hypothese einer verringerten Konfliktüberwachung vereinbar sei. Diese Hypothese wird auch von unabhängigen EEG-Untersuchungen und Befunden bestätigt. Auch bei vielen anderen Untersuchungen bestätigte man eine verminderte Aktivierung des ACC bei Schizophrenen. Erst kürzlich wurde auch von einer versteckten Aktivierung im ACC berichtet, die vom Untersucher als kompensatorisch gedeutet wurde. Soweit zu diesen frei referierten Ergebnissen von Braus. In anderen Veröffentlichungen wird der ACC, also diese am vorderen Pol des limbischen Systems frontal liegende Struktur – in ungefährer Übereinstimmung mit dem eben Erwähnten – als eine cerebrale Struktur gesehen, die für die Entscheidung und Integration vorwiegend sich widersprechender Informationen sozusagen spezialisiert und funktional besonders bedeutsam ist. Auch wenn die hier benutzten psychologischen Tests mehr kognitive Inkongruenzen berücksichtigen bzw. fehlerhafte Entscheidungen messen, so könnte man sich vorstellen, dass auch bei Konflikten mit stärkeren emotionalen Anteilen Entscheidungen
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und Integrationsleistungen nötig sind, welche im pathologischen Fall ebenfalls inadäquat erledigt werden und deren neurobiologisches Korrelat im ACC anzutreffen wäre. Wir wissen nicht, ob diese ACC-Schwäche bei Schizophrenen auch schon vor der manifesten Erkrankung besteht, ob sie also im Laufe der Entwicklung entsteht, und wir wissen auch nicht, ob sie genetisch vorgegeben oder erworben ist. Letzteres wäre ohne weiteres denkbar, wenn man berücksichtigt, dass chronischer Stress bzw. chronische Überschwemmung mit Stresshormonen generell manche Strukturveränderungen und Zerstörungen zur Folge haben können. Aber es könnte auch unabhängig davon eine chronische funktionelle Überforderung des ACC zu dieser Abschwächung oder auch zu den gelegentlichen überschießenden Kompensierungen führen. Berücksichtigt man auch unsere klinisch unterstützte Arbeitshypothese über eine dilemmatische, konfliktuöse Struktur der psychotischen Dynamik, so hätte man hier eine sehr interessante Entsprechung zwischen psychischen und cerebralen Vorgängen, zwischen massivem Konflikt und einer Überforderung des ACC (Konfliktmontoring!), die als Paradigma für die weitere differenzierte Erforschung solcher Parallelitäten bei Psychosen nützlich wäre. Aber auch für den Fall, dass die hier zu vermutende ACC-Schwäche auf einem primären genetisch bedingten Defekt basieren sollte, wäre es durchaus möglich, dass diese Vulnerablität erst dort klinisch relevant wird und zur Psychose führt, wo aufgrund von Umgebungs- bzw. psychosozialen Konstellationen ein Übermaß an Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten diese schon vorher schwache Struktur überfordert. Eine solche Hypothese würde auch erklären, warum in der finnischen Adoptivkinder-Untersuchung diejenigen von schizophrenen Müttern stammenden adoptierten Kinder, die das Glück hatten, in Familien mit guter und ausbalancierter Kommunikation aufgenommen zu werden, selten oder überhaupt nicht psychotisch wurden; dies im Gegensatz zu denjenigen, ebenfalls biologisch belasteten Kindern, die das Pech hatten, in kommunikativ gestörten Familien adoptiert zu werden. Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi empfahl bei der Behandlung von Schizophrenen die systematische Vermeidung von Belastung des Patienten mit schwierigen Entscheidungen und Ambiguitäten. Er hatte die wichtige Erfahrung gemacht, dass eindeutige, klare Verhältnisse, innerhalb und außerhalb der Klinik, für den Schizophrenen sehr nützlich sind. Man könnte heute unter Anwendung der obigen Hypothese sagen, dass Ciompi, ohne es damals zu wissen, für eine Schonung und Erholung des schwachen ACC sorgte.1 1 Ciompi führte das Soteria-Modell aus Amerika in Europa ein. Es beinhaltet einen kontinuierlichen, 24-stündigen Kontakt mit dem akut psychotischen Patienten, ohne Medikamentengabe. Es ist ein großartiger Versuch, dem Patienten die Chance einer neuen Beziehungserfahrung zu geben und dadurch den primären Circulus vitiosus (s. Kap. 18.6) des Schizophrenen zu schwächen oder sogar zu unterbrechen. Die Soteria-Kur konnte zwar in ihrer ursprünglichen Form aus pragmatischen Gründen nicht durchgehalten werden, dennoch erweist sich das Prinzip auch in seiner veränderten Form als ein effektives Antidot.
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
19.4 ACC – auch bei Depressionen von Bedeutung? Recht bemerkenswert und für die richtige Einschätzung und Einordnung von neurobiologischen Befunden sehr wichtig ist nun die Tatsache, dass ähnliche wie die referierten Veränderungen des ACC auch bei Depressionen festgestellt wurden. Klaus Grawe, der in einem besonderen Kapitel seines Werks »Neuropsychotherapie« eine Zusammenfassung der zum Thema relevanten Literatur vornimmt, schreibt: »Bei Depressionen ist der ACC notorisch unteraktiviert.« Kurz davor beschreibt er die – normale – Funktion des ACC ähnlich wie in den obigen, die Schizophrenie betreffenden Arbeiten: »Der ACC ist praktisch immer aktiviert, wenn man mit uneindeutigen, ungewissen Situationen und konflikthaften oder mehrdeutigen Anforderungen konfrontiert wird« (2004, S. 149). Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Ähnlichkeit von Befunden bei zwei phänomenal und nosologisch so unterschiedlichen psychischen Störungen wie der Schizophrenie und der Depression bei der Mehrzahl der Psychiater große Schwierigkeiten und eine gewisse Verwirrung erzeugen muss. Diese Schwierigkeit taucht aber nur bei einer rein deskriptiven, nosologischen Betrachtung auf. Berücksichtigt man mehr die jeweils dahinterstehende Psychodynamik und ist sogar bereit, die Annahme einer dilemmatischen Struktur der Psychosen (schizophrenen und affektiven) in Erwägung zu ziehen, so bräuchte man sich nicht darüber zu wundern, dass die strukturelle und funktionelle Störung des ACC bei beiden Störungen ähnlich ist. In beiden stehen nämlich zentrale Dilemmata und Konflikte im Zentrum der psychischen Dynamik, die in ähnlicher Weise sozusagen den Patienten – und vielleicht auch seinen ACC! – überfordern, nur dass diese intrapsychischen Gegensätzlichkeiten inhaltlich verschieden sind – wie im vorigen Abschnitt dargestellt (Selbstidentitätsproblematik bei der Schizophrenie und Selbstwertproblematik bei den affektiven Psychosen). Vielleicht ist es allgemeiner so, dass neurobiologische Befunde nicht nosologisch einzuordnen sind, sondern funktions- bzw. dysfunktionsspezifisch sind, was ja heißen kann, dass eine neurobiologisch gestützte Taxonomie psychischer Störungen mehr der psychodynamischen und weniger der deskriptiven, nosologischen Klassifikation entsprechen würde. Nun sind neurobiologische Befunde oft vorläufig und deswegen mit Vorsicht zu verwerten, so dass die obigen Überlegungen sicher zunächst hypothetisch sind. Dennoch sind die erwähnten klinischen Entsprechungen der neurobiologischen und der psychischen Dysbalancen so eindeutig, dass man die daraus entwickelten Überlegungen nicht einfach ad acta legen kann.
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19.5 Psychosomatische Zusammenhänge und die Gewichtigkeit des psychosozialen Faktors Viele klinische Beobachtungen und auch empirische epidemiologische Untersuchungen, wie z. B. die erwähnte finnische Adoptivkinder-Untersuchung, unterstreichen die Gewichtigkeit auch des psychosozialen Faktors bei der Entstehung der Psychose. Unabhängig jedoch davon brachte die stürmische Entwicklung der Hirnforschung der letzten Jahre Ergebnisse hervor, die ebenfalls für die Bedeutung der psychosozialen Dimension sprechen. Die neu entdeckte Plastizität des Gehirns, also die Entdeckung, dass Erlebnisse, insbesondere Traumata und negative Beziehungserfahrungen, einen Einfluss auf Struktur und Funktion des Gehirns haben, eröffnete eine neue und für die hier zur Diskussion stehende Problematik revolutionäre Sichtweise. Zu der Bedeutung von Traumata für die Entstehung von Psychosen verweise ich auf Dümpelmann (2005). Darüber hinaus konnte teilweise im Detail gezeigt werden, auf welche Weise solche Erfahrungen zu Veränderungen neuronaler Systeme und ihrer Funktion führen. Die Gen-Expression, also das Ausmaß und die Art der zur Wirkung kommenden, in den Genen zwar schon enthaltenen, aber erst nach der Expression den Phänotypus bestimmenden Informationen, wird maßgebend auch von Lebenserfahrungen des Individuums mitbestimmt. Auch wenn also viele Störungen oder auch umgekehrt positive Eigenschaften und Begabungen oft eine genetische Voraussetzung haben, so hängt es entscheidend von Umgebungseinflüssen und psychosozialen Faktoren ab, ob diese negativen oder positiven genetischen Möglichkeiten auch zur Wirkung kommen. Man schätzt, dass nur ein kleiner Teil der in den Genen enthaltenen Informationen im Durchschnitt ausgenutzt werden (vgl. Braus, 2005, S. 96 f.). Post hat 1992 Befunde veröffentlicht, nach denen bei affektiven Psychosen eine Veränderung im Verlauf der einzelnen Phasen zu beobachten sei: Obwohl von Anfang an die einzelnen Erkrankungsphasen durch psychosoziale Ereignisse und Belastungen ausgelöst werden, reichen bei den späteren Erkrankungen allmählich immer kleinere Anlässe und Belastungen aus, um das Manifestwerden des psychotischen Bildes hervorzurufen. Dies ist nicht auf eine bloße Bahnung und eine gewohnheitsmäßige Reaktion zurückzuführen. Denn aufgrund weiterer Beobachtungen kam Post zu der Feststellung, dass psychosoziale Stressoren unter entsprechenden Bedingungen zu langfristigen Veränderungen der Gen-Expression führen.
19.6 Die Psychosomatosen des Gehirns Bei den Bemühungen, ein übergreifendes Konzept zu bilden, in dem die in der letzten Zeit dringend erforderlich gewordene Integration neurobiologischer und
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Zweiter Teil: Spezielle Psychodynamik
psychiatrisch psychodynamischer Befunde und Hypothesen möglich ist, erweist sich eine Anleihe aus der Psychosomatik der 1960er und 1970er Jahre als sehr nützlich. Es geht um das Konzept der Psychosomatosen des Gehirns. Der Terminus der Psychosomatose wurde von psychosomatisch orientierten Internisten, aber auch von anderen Medizinern in den Nachkriegsjahren benutzt, um Erkrankungen zu bezeichnen, die zwar eindeutige organische pathologische Befunde aufweisen, aber gleichzeitig auch psychogen, also auch durch psychische und psychosoziale Faktoren bedingt sind. Nachdem solche Erkrankungen, wie Colitis ulcerosa, Asthma bronchiale, Ulcus duodeni usw. (das waren die damaligen Psychosomatosen), nunmehr in der DSM- und ICD-Klassifikation nicht mehr beim nervenfachärztlichen Gebiet, sondern in der entsprechenden Sektion der Inneren Medizin, der Dermatologie usw. zu finden sind und nachdem die somatische Pathophysiologie dieser Erkrankungen fast ausschließlich in den Vordergrund gestellt wurde, geriet auch der Begriff der Psychosomatose fast in Vergessenheit. Dies ist bedauerlich, denn auch wenn tatsächlich medizinische Fortschritte (wie z. B. die Entdeckung des Helicobacter pylori und seiner Bedeutung für die Entstehung des Ulcus duodeni) eine davor bestandene übertriebene Psychologisierung von körperlichen Erkrankungen zu Recht gebremst hat, so sind doch wertvolle klinische Erfahrungen und auch theoretische Überlegungen zu Organerkrankungen, die eindeutig psychisch mitbedingt sind, verloren gegangen. Bemerkenswert ist übrigens, dass schon damals die Lehrbücher der Psychosomatik ausgedehnte Kapitel über verschiedene Körpersysteme und der bei ihnen zu beobachtenden funktionellen und organischen psychosomatischen Störungen enthielten, dass aber dabei das zentrale Nervensystem sozusagen vergessen oder allenfalls stiefmütterlich behandelt wurde. Dies lag erstens daran, dass das Gehirn damals noch nicht genauer, besonders in seiner Funktion, untersucht werden konnte, zweitens aber auch an einem, wenn man so will, philosophischen Problem: Hätte man nämlich damals von einer Psychosomatik des Gehirns gesprochen, so müsste man zuvor definieren, was im Gehirn die Psyche und was das Soma ist! Während heutzutage ausreichend differenzierten Befunde zur Funktion des lebenden Gehirns vorliegen, bleibt das eher philosophische Problem – und das heißt letzten Endes das Leib-Seele-Problem – weiterhin bestehen: Denn »the mysterious leap from the mind to the body« (Deutsch, 1983) ist dadurch nicht weniger rätselhaft geworden. Man könnte aber aus pragmatischen Gründen die grundsätzliche Lösung dieses Problems auf unbestimmte Zeit auf sich beruhen lassen und einen Konsens anstreben, der für die weitere, sowohl theoretische, insbesondere aber auch praktische Entwicklung von großem Wert wäre. Trotz der heute noch laufenden Debatte über die Entstehung des Bewusstseins schlug ich schon im Kapitel über den psychosomatischen Modus vor, alle bewussten und alle unbewussten, aber potenziell bewusstseinsfähigen Inhalte als das Psychische zu definieren und zu bezeichnen, um dann zu untersuchen, welche Korrelate zwischen
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diesen psychischen Phänomenen einerseits und den parallel dazu stattfindenden neuronalen Vorgängen andererseits festzustellen sind. Dies wäre eine knappe Definition der Psychosomatik des Gehirns. Diese Psychosomatik ist besonders wichtig im Bereich der Psychosen, die offensichtlich auch eine biologische Grundlage haben. Bei ihnen sind psychosomatische, aber auch somatopsychische Zusammenhänge feststellbar. In diesem Sinne wäre das Konzept der Psychosomatosen des Gehirns eine moderne Bezeichnung für die früheren »endogenen« Psychosen und ein Konzept, das breit und offen genug ist, um auch die noch zu erwartenden Entwicklungen und Entdeckungen aufzunehmen. Ich schließe dieses Kapitel mit der nur kurzen Erwähnung zweier solcher neuen Forschungsrichtungen in der Neurobiologie der Psychosen. Es geht zunächst um eine aus der »evolutionären Psychiatrie« (Burns, 2004) stammenden Anregung. Aufgrund vieler Befunde wurde die Hypothese formuliert, dass die Psychosen als spezifisch den Menschen (und nur ihn) betreffende Störungen aus einer notwendigen, aber sozusagen zu weit vorangeschrittenen Differenzierung des menschlichen Gehirns – ohne dafür ausreichende Integrationsmöglichkeiten – entstanden sind. Burns (2007) versucht also, in evolutionstheoretischem Sinn die Abstammung der Psychose zu ergründen! Der zweite neue Zugang bezieht sich auf den Versuch, die emotionalen, endophänotypischen Korrelate des Psychopathologischen in der Psychose zu erfassen (Panksepp, 1999, 2006). Dies passt zu unserer Vorstellung, dass neurobiologische Befunde eher mit psychodynamischen Konstellationen und weniger mit nosologischen Krankheitseinheiten parallel gesetzt werden können. Von einer noch größeren Bedeutung und einer breiteren Relevanz jenseits der speziellen Frage der Psychosenentstehung erscheint mir folgende neue Entwicklung in der Evolutionstheorie, über die Elisabeth Troje in einem ausführlichen Übersichtsreferat berichtet (2010): Man hat herausgearbeitet, dass Charles Darwin nicht bei seinem ersten großen Werk und beim Existenzkampf geblieben ist, sondern dass er durch die spätere Fokussierung auf die sexuelle Selektion bzw. die Selektion von sozial positiven Tendenzen das heutige veränderte Verständnis (vgl. Bauer 2008, »Das kooperative Gen«) vorweggenommen hat. Man könnte also zwei Richtungen der Selektion während der Evolution annehmen, eine sozusagen mehr selbstbezogene und eine – polar entgegengesetzte – soziale, quasi objektivbezogene. Sollte diese Feststellung weiter empirisch bestätigt werden, so hätten wir eine evolutionstheoretische Erklärung des Bipolaritätsprinzips.
Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Vorbemerkung
Die schöpferische Leistung Sigmund Freuds ist an vielen Stellen dieses Buches hervorgehoben worden, eine Leistung, die zu der weit verbreiteten Akzeptanz eines neuen, des psychoanalytischen Paradigmas zum Verständnis psychischer und psychosozialer Prozesse führte. Dennoch sind viele der in der Psychoanalyse entstandenen Konzepte im Laufe des 20. Jahrhunderts fragwürdig geworden. Dies erzeugte Verunsicherung und große Auseinandersetzungen, welche schließlich Anlass zu Veränderungen, Korrekturen und Schwerpunktverlagerungen auf theoretischer und praktisch-therapeutischer Ebene gaben. Allerdings ist es noch bis heute nicht möglich geworden, eine befriedigende Synthese der im Laufe dieses Prozesses entstandenen verschiedenen Strömungen herzustellen, so dass jetzt sogar die früher so stabil und konsistent (oder rigid?) erscheinende Mainstream-Psychoanalyse auseinandergerät, und zwar dergestalt, dass man nicht weiß, ob es sich dabei um eine schöpferische Vielfalt oder eine Zersplitterung handelt. Trotz meiner prinzipiellen Absicht in diesem Buch, die verschiedenen psychoanalytischen Richtungen in gleicher Weise zu berücksichtigen, sind manche Konzepte doch – bewusst oder unbewusst – in den Vordergrund gestellt bzw. favorisiert worden. Auf der anderen Seite besteht zu Recht der Anspruch des Lesers und der Leserin, eine Begründung für diese Bevorzugung bestimmter Konzepte sowie eine Erklärung für die Einführung neuer psychodynamischer Hypothesen zu erhalten. Dieser Erwartung ist zwar teilweise schon in diesem Buch entsprochen worden, allerdings nur kursorisch. Eine weitere und mit dem eben Gesagten zusammenhängende Erwartung dürfte sein, zu erfahren, in welchem Verhältnis die hier angebotene Psychodynamik zu anderen, seien es verwandte, alternative oder sogar konkurrierende, Betrachtungsweisen steht. Aus diesem Grund wird im Folgenden nicht nur eine zusammenfassende Darstellung geboten, sondern es sollen auch eine Diskussion und ein Vergleich mit anderen Konzepten stattfinden. Dieser Vergleich mit anderen Meinungen und die dadurch deutlich werdenden Kontraste fördern zudem eine klarere Abgrenzung, Definition und das Verständnis für die Themen und die Probleme, um die es hier geht.
Kapitel 20: Vergleichende Psychodynamik
20.1 Die Variationen der Dissoziation und die Verwandtschaft zwischen Zwang und Wahn Was mit vergleichender Psychodynamik gemeint ist, lässt sich zunächst am Beispiel der verschiedenen Variationen dissoziativer Phänomene illustrieren. Dissoziation ist ein besonders bei schweren psychischen Störungen verbreiteter Abwehrmechanismus, der darin besteht, dass unvereinbar erscheinende, widersprüchliche und dadurch unerträgliche Spannung erzeugende psychische Inhalte und Tendenzen voneinander getrennt werden. Die eine Seite wird sozusagen vom Bewusstsein isoliert. Dadurch – und das ist die Funktion der Dissoziation – wird eine notdürftige Entspannung erreicht; die Kohäsion des Selbst wird quasi zunächst einmal gerettet. Der Schweizer Psychiater Scharfetter (1999) hat in seinem Buch über Dissoziation gezeigt, auf welche Weise dissoziative Prozesse zwar pathologische defensive Mechanismen sind, die aber auf verschiedenen Levels in der Entwicklung des Einzelnen abgewandelt und »reifer« sowie weniger pathologisch werden. Es gebe also eine Entwicklung von den pathologischen schizophrenen Dissoziationen über die Spaltungsmechanismen beim Borderline (die uns am besten bekannt sind) und dann die weitere Abwandlung zur Verdrängung bei der Hysterie (und anderen neurotischen Störungen) bis hin zu normalen, schöpferischen, quasi-dissoziativen Prozessen. Man könnte sagen: bis zur Reifung der Fähigkeit, vorübergehend Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu tolerieren wie beispielsweise bei Künstlern, die zunächst ein gewisses Ausmaß an scheinbarer Irrationalität und Unlogik aushalten müssen, um zu schöpferischen neuen Lösungen zu gelangen. Bei der Dissoziation ist der gemeinsame Nenner des Dissoziativen auf allen diesen Ebenen leicht erkennbar. Es gibt aber andere Abwehrmuster, bei denen man eine solche innere Verwandtschaft spürt, bei denen es aber schwieriger ist, das Gemeinsame bei unterschiedlichen Levels und Variationen des defensiven Mechanismus zu finden, so dass etwas intensiver danach gesucht werden muss. Dies trifft z. B. im folgenden Fall zu, bei dem es um eine Ähnlichkeit zwischen Zwang und Wahn geht. Eine zwangsneurotische Patientin war von der Vorstellung besessen, es könnte ihr bei der Vorbereitung des Essens für ihren Mann durch ihre Fahrlässigkeit passieren, dass Glassplitter in das Essen geraten. Daraufhin musste sie Glassplitter nicht nur in dem Teller ihres Mannes, sondern auch überall im Zimmer, auch unter
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
dem Teppich suchen, und zwar in einer Art, die an psychotische Patienten erinnert, die in paranoider Weise versteckte Wanzen (Abhörgeräte) im Untersuchungszimmer vermuten und danach auch suchen. Hier entsteht also der Verdacht einer entfernten Verwandtschaft zwischen zwei phänomenal recht unterschiedlichen Abwehrmustern, dem Wahn und dem Zwang, und zwar innerhalb der ebenfalls recht unterschiedlichen nosologischen, diagnostischen Kategorien der Psychose und Psychoneurose. Dadurch entsteht allmählich der Verdacht, die zwanghafte Überzeugung könnte eine reifere Variation der wahnhaften Überzeugung sein. Ein anderes Beispiel: Eine Patientin litt unter der zwanghaften Überzeugung, dass verschiedene Geräusche – z. B. durch Auto- oder Ventilatorenmotoren hervorgerufen – einen irreparablen Hörschaden bei ihrer kleinen Tochter verursachen könnten. Deswegen versuchte sie – wenn sie mit ihrer Tochter zusammen unterwegs war – mit allen Mitteln, Orte und Situationen zu vermeiden, wo solche »Gefahren« (Geräusche) zu erwarten wären. Kam es aber dann trotz dieser Vermeidungshaltung dazu, dass die Tochter solchen – objektiv betrachtet meistens völlig harmlosen und für andere Menschen kaum wahrnehmbaren – Geräuschen ausgesetzt wurde, geriet die Patientin in Angst- und Spannungszustände. Die dahinterstehende Überzeugung der Patientin war in einem solchen Maß unkorrigierbar, dass man ebenfalls an eine psychotische Störung erinnert wurde, wie auch die höchst übertriebenen Befürchtungen wegen der möglichen Schädigungen ihrer Tochter paranoiden Ängsten bei psychotischen Patienten ähnlich waren. Eine Psychose lag aber nach den üblichen deskriptiven Kriterien mit Sicherheit nicht vor. Erwähnenswert ist allerdings, dass bei zwei engen Verwandten der Patientin eine schizophrene Störung bestand, wodurch die schon im vorigen Fall aufgetauchte Überlegung, ob die zwangsneurotische Überzeugung eine reifere Variation einer wahnhaften Überzeugung sei, sich auch hier stellt und wahrscheinlicher wird. Oft können verschiedene Untersucher in solchen Fällen lange darüber streiten, ob es sich dabei noch um neurotische oder doch schon psychotische Störungen handelt. Wahrscheinlich entsteht diese diagnostische Unsicherheit dadurch, dass ohnehin sehr viele, wenn nicht alle, defensiven Abwehr- und Schutz- bzw. Kompensationsmuster auf verschiedenen Stufen der Persönlichkeitsorganisation in unterschiedlichen, aber in gewisser Hinsicht analogen Gestalten auftreten und ähnliche Funktionen haben, wenn auch bei den höheren Levels in einer weniger pathologisch erscheinenden Form. Die systematische Untersuchung solcher Analogien steht vielleicht am Anfang einer neuen Richtung und Disziplin, die wir »vergleichende Psychodynamik« nennen könnten.
20.2 Ein bemerkenswertes Phobien-Paar: Klaustrophobie und Agoraphobie Die zu den neurotischen Störungen zählende Klaustrophobie stellt wahrscheinlich eine reifere Variation der panischen Angst des Psychotikers vor zu großer
Kapitel 20: Vergleichende Psychodynamik
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Nähe dar. Analog dazu ist auch das Gegenstück der Klaustrophobie, also die Agoraphobie (ebenfalls eine neurotische Symptomatik), vermutlich eine reife Variation der extremen psychotischen Angst bei drohender Objektlosigkeit. In beiden Fällen geht es um eine zu große Nähe oder um eine zu große Distanz zum bzw. vom Objekt. Das Paar Klaustrophobie/Agoraphobie ist also in seiner Dynamik dem psychotischen Dilemma »Selbstidentität versus Fusion mit dem Objekt« nicht so unähnlich. Nun könnte man einwenden, dass typische Phobien und typische psychotische Ängste wohl sehr unterschiedlich und kaum zu verwechseln seien. Dies ist im Prinzip richtig. Genau wie es richtig ist, dass Reptilien und Vögel recht unterschiedliche Tierarten sind. Und trotzdem sind die Paläontologen sicher, dass zwischen beiden eine Entwicklungslinie verläuft, die sie verbindet, dass also die Vögel von den Reptilien abstammen. Das beste Beweisstück ist der Archaeopteryx als Übergangsform zwischen Reptilien und Vögeln. Es gibt nun analog dazu häufig neurotische Angstzustände, die sich im weiteren Verlauf als psychotisch entpuppen. Gerade diese unklaren und sozusagen dazwischenliegenden atypisch erscheinenden Fälle verraten den inneren Zusammenhang, die versteckte Verwandtschaft. Es zeigt sich nämlich dabei, dass äußerlich unterschiedliche Bilder in Bezug auf die dahinterstehende Psychodynamik und Funktion doch eine Verwandtschaft aufweisen und dass solche deskriptiv unterschiedlichen Störungen oft lediglich Alternativlösungen desselben Problems auf verschiedenen Ebenen darstellen. Dadurch wird es auch klar, dass Begriffe, wie derjenige der Komorbidität, oft zu hinterfragen wären; es handelt sich nicht immer um eine grundsätzlich andere, neue Störung, sondern um eine Variation, um eine Alternative zur Pseudolösung eines im Wesentlichen ähnlichen Problems. Es ist deswegen sinnvoller, in solchen Fällen nicht von der zufälligen Kombination zweier unterschiedlicher Erkrankungen zu sprechen, sondern von zusätzlichen reiferen bzw. unreiferen Lösungen desselben Problems zu sprechen.
20.3 Relativierung der kategorialen Diagnostik Besonders deutlich wird der hier gemeinte Tatbestand bei dem Phänomen des Syndromwechsels (Mentzos, 1992), also z. B. des Alternierens zwischen einem psychotischen und einem zwangsneurotischen Syndrom oder zwischen einer Psychose und einer psychosomatischen Erkrankung oder zwischen Depression und Bulimie usw. Um die dahinterstehende Dynamik zu illustrieren, sprach ich früher – und ich benutze gelegentlich heute noch diese Metapher – von verschiedenen »Verteidigungslinien«, die jeweils nach vorn oder nach hinten verlegt werden. Eine solche Betrachtungsweise führt allmählich zu einer Relativierung der strengen kategorialen Taxonomie und zu einer Schwerpunktverlegung unseres Augen-
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
merks sowie zu einem wachsenden Interesse für die dahinterstehenden umgreifenden Zusammenhänge. Man könnte diese Entwicklung mit derjenigen bei der Entstehung der Wissenschaft der Pflanzen, also der Botanik, vergleichen; zuerst haben die großen Botaniker, darunter in erster Linie Linné, eine differenzierte Beschreibung und Klassifikation herausgearbeitet, um sich dann erst unter dem Einfluss von Darwin einer Betrachtungsweise zu widmen, die die Bedeutung der bloßen Taxonomien etwas relativierte. Die Leistung von Linné war und ist auch heute noch selbstverständlich sehr wertvoll. So war und ist auch heute noch die psychopathologische Deskription durch die Psychiatrie der letzten zwei Jahrhunderte zunächst sehr berechtigt und unerlässlich; sie ist aber bei weitem nicht ausreichend sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Im Gegenteil, die perfekte Beschreibung der Oberfläche kann sogar ohne die psychodynamische Ergänzung unsere Wahrnehmung für die dahinter ablaufenden Prozesse verschleiern. Die hier nötige Schärfung unserer Wahrnehmung für die zwischen den Kategorien liegenden Fälle erinnert mich an das große Interesse der Paläontologen für die Übergangsformen bei der Entstehung der Tierarten, z. B. für den genannten Archaeopteryx. Analog dazu interessieren uns hier die psychodynamischen Übergangsformen.1 Man darf meinen Vorschlag nicht mit der in der Psychiatrie der letzten Jahre erhobenen – und sicher auch richtigen – Kritik an der nosologischen, kategorialen Diagnostik verwechseln. Die dimensionale Deskription – also die flexible Berücksichtigung der jeweils beteiligten Faktoren und Dimensionen anstelle einer erzwungenen Kategorisierung – ist zwar besser als die kategoriale. Aber mein Vorschlag reicht viel weiter: Mir geht es hier um eine Relativierung der nosologischen Betrachtung, um dem psychodynamischen Aspekt zu seiner vollen Entfaltung zu verhelfen – eben wie im Fall der Evolutionstheorie. Ein weiterer praktischer Vorteil der hier vorgeschlagenen Relativierung der deskriptiven Kategorien zugunsten einer psychodynamischen Diagnostik ist auch die Tatsache, dass dadurch unser Verständnis für das sogenannte pathologische, abartige, »verrückte«, psychotische Erleben und Verhalten erweitert wird und dadurch nicht mehr so scharf abgetrennt vom Neurotischen oder sogar auch vom »Normalen« stehen bleibt. Der für die deutsche Öffentlichkeit sensationelle Fall des Kannibalismus von Rothenburg im Jahre 2005 ist ein gutes Beispiel dafür, auf welche Weise unter besonders ungünstigen extremen Bedingungen ein an den frühen rituellen Kannibalismus erinnerndes Verhaltensmuster auch zu unserer Zeit auftreten kann. Solche Fälle von Kannibalismus sind grausame pathologische konkretistische Abwandlungen des normalen und universellen Bedürfnisses nach Vereinigung und Inkorporation bis zur Verschmelzung mit dem Objekt (und kein Beweis für 1 Die Idee zu diesem Vergleich verdanke ich indirekt dem Wiesbadener Psychoanalytiker Werthmann (2006) und seiner kritischen Glosse anlässlich der Kannibalismus-Diskussion.
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die Existenz eines destruktiven Todestriebes!). Besonders eindrucksvoll in diesem konkreten Fall war aber nicht nur das Erleben und Handeln des Täters (der den »Partner« verspeist hat), sondern auch der Wunsch des Opfers, von seinem »Partner« aufgegessen zu werden! Offensichtlich haben sich solche grausame Handlungsmuster im Laufe der Entwicklung der Menschheit kontinuierlich gewandelt und ihre höchste Entwicklungsstufe bei vielen religiösen Überzeugungen und Riten erreicht, wobei aber die dahinterstehende Dynamik (Ausgleich von Schuldgefühlen, Sühne und Regulierung der Beziehung zu einem »höheren« Wesen, Stärkung der Identität, Komplettierung des Selbst usw.) dieselbe geblieben ist, wenn auch in einer viel differenzierteren Form. Wozu kann aber die Beschäftigung mit solchen Vorkommnissen in einem Lehrbuch der Psychodynamik nützlich sein? Die Beantwortung dieser Frage ist einfach. Wenn wir uns mit Hilfe dieser vergleichenden »Paläopsychodynamik« in die Lage versetzen, sogar derart extrem abweichende Muster wie den Kannibalismus einigermaßen zu verstehen, umso mehr dürfte dies bei den anderen, weniger exzeptionellen, weniger anachronistischen, weniger paläontologischen, sondern aktuellen, alltäglichen Vorkommnissen in komplizierten pathologischen defensiven Prozessen gelingen. Es sind Verhaltensmuster, die man üblicherweise in Bezug auf die eigene Person weit von sich weist und als grob abnorm, pervers, psychotisch bezeichnet, während man sie mit Hilfe dieser vergleichenden Psychodynamik in einem anderen Licht sehen kann. Indem man die innere funktionelle Ähnlichkeit zu normalen Erlebens- und Verhaltensmustern deutlicher macht, trägt man auch zu einer Entstigmatisierung, z. B. der Schizophrenie oder anderen schweren psychischen Störungen, bei. Diese Entstigmatisierung ist dringend erforderlich, weil sonst der Patient mit der schweren Last einer ein für allemal vorgenommenen diagnostischen Etikettierung – Schizophrenie, Borderline, schwere Persönlichkeitsstörung, Zwangsneurose usw. – sein ganzes Leben verbringen muss. Der vielleicht größte Vorteil und Gewinn einer solchen vergleichenden Psychodynamik besteht aber darin, dass man offen bleibt für Beobachtungen und Überlegungen, die davor schützen, psychische Störungen, zumal solche, die von eindeutigen neurobiologischen Veränderungen begleitet werden (wie z. B. die Schizophrenie), als abgrenzbare und nur biologisch-kausal ausreichend erklärbare Krankheiten zu betrachten.
Kapitel 21: Das Bipolaritätsmodell
21.1 Entstehung und Anwendung des Bipolaritätsmodells – zunächst bei den Psychosen und Persönlichkeitsstörungen An vielen Stellen dieses Lehrbuches ist direkt oder indirekt von der Wichtigkeit der intrapsychischen Gegensätzlichkeiten die Rede gewesen, die in der Form elementarer schwerer Dilemmata oder in der Art reiferer neurotischer Konflikte auftreten. Sie entstehen letztlich als Folge einer ungünstigen Entwicklung und einer – oft aufgrund von schweren Traumatisierungen – nicht gelungenen dialektischen Lösung von ursprünglichen und primär vorgegebenen »normalen«, universellen Bipolaritäten. Man beachte hier die Tatsache, dass das Bipolaritätsmodell zwei Postulate enthält: a) Die meisten psychischen Störungen sind Abwehr und Kompensation von intrapsychischen Gegensätzlichkeiten (Dilemmata). Die Einwände gegen diese erste Behauptung habe ich schon im Kapitel 3 diskutiert. b) Das zweite Postulat: Es gibt eine vorgegebene, universelle, »normale« evolutionstheoretisch erklärbare Bipolarität, die unter ungünstigen Bedingungen zur Entstehung von unüberwindbaren Gegensätzlichkeiten führt. Wenn ich hier, im dritten Teil des Lehrbuchs, diese Thematik noch einmal aufgreife, so geschieht dies in der Absicht, das Grundprinzip dieser hier enthaltenen Arbeitshypothese zusammenfassend zu erläutern, aber insbesondere auch, um diese Annahme einer zwar vorgegebenen, aber durch ungünstige Bedingungen pathogen werdende Bipolarität zu begründen. Dies soll einmal durch den Vergleich mit ähnlichen Konzepten anderer Autoren, zum zweiten aber durch das Aufzeigen der vielfachen Anwendungen dieses Modells sowohl bei den verschiedenen psychischen Störungen als auch außerhalb der Psychopathologie geschehen. Diese Arbeitshypothese hat sich bei der schwierigen Aufgabe der begrifflichen Erfassung recht komplizierter psychischer und psychosozialer Zusammenhänge als nützlich erwiesen. Sie ermöglicht eine sinnvolle und angemessene Komplexitätsreduktion. Polarität und Bipolarität sind aus der Physik und Biologie stammende Bezeichnungen für Strukturen oder Beobachtungsfelder, innerhalb derer bestimmte Qualitäten oder Kräfte auf zwei entgegengesetzten Punkten konzentriert auftreten. Gemeint sind also Paare von entgegengesetzten Tendenzen, die aber in gewisser
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Hinsicht gerade durch diese Gegensätzlichkeiten zusammengehören. In Analogie zu solchen Konzeptualisierungen in der Physik und der Biologie wird hier innerhalb unseres Bipolaritätsmodells der Terminus zur Bezeichnung polar entgegengesetzter psychischer Tendenzen (Motivationen, Emotionen, Bedürfnisse etc.) benutzt. Sie lassen sich in selbstbezogene (das Selbst fördernde oder ihm dienende) und objektbezogene (nach dem Objekt gerichtete, nach ihm orientierte oder die Bindung zu ihm anstrebende) Tendenzen unterscheiden. Diese Annahme eines durchgehenden, verbreiteten und einen großen Teil unseres unbewussten und bewussten Lebens durchdringenden Prinzips ist zunächst nur eine Arbeitshypothese, welche allerdings durch eine sehr große Anzahl von dafür sprechenden Beobachtungen unterstützt wird. Außerdem ist dieses Prinzip von polar angeordneten Tendenzen in der Biologie und in der Psychologie recht gut bekannt und verbreitet. Ich erinnere als Beispiele an die Gegensätzlichkeiten zwischen Sympathikus und Parasympathikus, Linkshirnigkeit und Rechtshirnigkeit, Agonisten und Antagonisten im Muskelsystem, sekundärem und primärem Denkvorgang (nach Freud), Animus und Anima (bei C. G. Jung), schizoid-paranoide und depressive Position (bei Melanie Klein), Introversion versus Extraversion, Narzissmus und Antinarzissmus (bei Racamier), Passivität und Aktivität. Aufgrund einer großen Anzahl von klinischen Beobachtungen und psychotherapeutischen Erfahrungen bin ich nun aber zu der Überzeugung gekommen, dass die im Bipolaritätsmodell im Vordergrund stehende Polarität zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit von besonderer und zentraler Bedeutung ist. Einige der eben erwähnten (und manche noch nicht erwähnten) Polaritäten, die von anderen Gebieten oder Autoren stammen, sind dieser von mir favorisierten Polarität zwischen Selbstbezogenheit und Objektbezogenheit sehr ähnlich, so z. B. die Paare narzisstisch versus objektal, egozentrisch versus prosozial, Selbstidentität fördernde versus Bindung und Vereinigung fördernde Vorgänge. Dass ich hier nur die von mir gemeinte Bipolarität quasi zu einem zentralen Ordnungsprinzip erhebe, ist nicht so einmalig oder originell, wenn man sich z. B. überlegt, welche Bedeutung und Publizität man der Polarität »Introversion versus Extraversion« in den 1950er und 1960er Jahren in der akademischen Psychologie gewidmet hatte (und vielleicht mancherorts auch noch heute tut). Im Folgenden werde ich versuchen zu zeigen, dass gerade diese von mir favorisierte Bipolarität eine theoretisch und klinisch-psychotherapeutisch besonders fruchtbare ist. Entstanden ist das Bipolaritätsmodell zunächst anlässlich diagnostischer und besonders psychotherapeutischer Bemühungen bei psychotischen Patienten, und zwar aus dem Bedürfnis, die vielfach verwirrenden, sich widersprechenden, paradoxen Erlebens- und Verhaltensweisen von Menschen mit einer Psychose einzuordnen und sie besser zu verstehen. Im Kapitel über die Psychosen habe ich schon einige Beispiele von Widersprüchlichkeiten und Paradoxien im Erleben und Verhalten des schizophrenen Patienten erwähnt, die tatsächlich am besten mit Hilfe der Annahme einer dilemmatischen Struktur der psychotischen Dynamik zu begreifen sind. Es
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handelt sich um eine pathologische Dynamik, die als Folge des Missglückens der normalen dialektisch erreichbaren Balance zwischen den Gegensätzen resultiert. Die Nützlichkeit des Bipolaritätsmodells ist – wie wir gesehen haben – zunächst bei denjenigen psychischen Prozessen, die den höchsten Grad intrapsychischer Gegensätzlichkeit und Dilemmatik aufweisen, nämlich bei den Psychosen festgestellt worden. Die Extrapolierung und Ausweitung auf die Persönlichkeitsstörungen ist ein relativ kleiner und leichter Schritt. Die Frage jedoch, ob dieses Modell auch darüber hinaus bei den sonstigen »leichteren« psychischen Störungen oder noch weiter im Bereich des sogenannten Normalen und im Bereich des Psychosozialen ein nützliches Paradigma sein könnte, ist zunächst offen gelassen. Ich komme aber darauf in einem nächsten Abschnitt (21.4.) zurück.
21.2 Zwei Aspekte im Modell der Bipolarität Zum besseren Verständnis der zahlreichen Anwendungen des Bipolaritätsmodells in diesem Lehrbuch ist folgende Erläuterung und Differenzierung unbedingt erforderlich. Die hier postulierte Bipolarität bezieht sich auf zwei zwar eng miteinander verwandte, aber eindeutig voneinander zu unterscheidende Aspekte. Es geht einmal um die Annahme, dass ein sehr großer Teil der Motivationen generell sich in selbstbezogene und objektbezogene unterscheiden lassen (z. B. Bedürfnis nach Selbstidentität und Selbstkohäsion einerseits und Bedürfnis nach Bindung und Vereinigung mit dem Objekt andererseits). Der zweite Aspekt bezieht sich auf die Art der Abwehr-, Schutz- und Kompensationsmechanismen, die gegen jene durch die Dilemmatik entstehenden unerträglichen intrapsychischen Spannungen und Ängste mobilisiert werden. Diese defensiven Mechanismen unterscheiden sich also ebenfalls in selbstbezogene und objektbezogene. Das Dilemma, der unlösbar erscheinende Gegensatz und die daraus entstehende Unlust, Spannung, Angst etc. können sowohl mit selbstbezogenen Mechanismen (wie Schizoidie, Autismus, Paranoia, Manie usw.) als auch, umgekehrt, mit objektbezogenen Mechanismen (wie Vereinnahmung, Introjektion des Objekts, Identifikation mit dem Objekt, Unterwerfung unter das Objekt usw.) abgewehrt werden. Dieser zweite Aspekt des Bipolaritätsmodells ist deswegen ebenfalls wichtig, weil wir, wenn wir ihn adäquat berücksichtigen, in der Lage sind, psychotische (und, wie wir sehen werden, auch allgemeinere psychische) Störungen nunmehr nicht bloß deskriptiv, sondern auch psychodynamisch zu unterteilen sowie zu differenzieren und dadurch verständlicher zu machen. Solche Bipolaritäten und die daraus unter Umständen entstehenden intrapsychischen Gegensätzlichkeiten und unlösbaren Dilemmata sind nun im Bereich der psychotischen Störungen (vgl. dazu auch die Abb. 6, S. 226) für Kliniker und Psychoanalytiker so einleuchtend, dass es meines Erachtens keiner ausführlichen Argumentation zur Unterstützung dieser Arbeitshypothese in Bezug auf die Psy-
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
chosen bedarf. Das hier präsentierte Modell, nachdem eine dilemmatische Struktur besonders charakteristisch für die psychotische Dynamik ist und ein wesentliches zentrales Element von ihr erfasst, ist inzwischen in einem größeren Kreis von psychodynamisch orientierten Psychiatern und freilich auch Psychoanalytikern akzeptiert worden: Es wurde z. B. auf dem Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung in Nizza 2001 von vielen Vertretern aus Südamerika und Europa und danach in Deutschland und in der Schweiz mit großer Zustimmung als ein nützliches Instrument für Forschung und Therapie betrachtet. Die Erweiterung des Modells auch auf nichtpsychotische Störungen befindet sich dagegen noch in den Anfängen und im Experimentierstadium. Immerhin kann man schon heute feststellen, dass die Anwendung des Bipolaritätsmodells im Bereich der Persönlichkeitsstörungen zu einer sogar für mich selbst unerwarteten Entdeckung führte: Es gelang auf Anhieb eine psychodynamisch orientierte Klassifikation herzustellen, die recht überzeugend, sinnvoll und evident erscheint, zumal im Vergleich zu den bekannten rein deskriptiven Unterteilungen, die den Eindruck des Oberflächlichen und Willkürlichen hinterlassen (vgl. Kapitel 13 über die Persönlichkeitsstörungen). Es ist also eindrucksvoll, auf welche einfache und überzeugende Weise die in ihrer defensiven Struktur eindeutig selbstbezogenen Persönlichkeitsstörungen (wie die schizoide, die narzisstische, die hyperthyme oder die dissoziale) sich von den in ihrer defensiven Struktur objektbezogenen (wie z. B. die selbstunsichere, die depressive, die histrionische) unterscheiden lassen. Besonders relevant in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht wird eine solche Klassifikation – sowohl bei den Psychosen als auch bei den Persönlichkeitsstörungen –, wenn neben der Bipolarität der Abwehr (Selbst- respektive Objektbezogenheit) gleichzeitig auch die zwei Arten der intrapsychischen Problematik mitberücksichtigt werden. Dadurch wird eine zweite Gegenüberstellung eingeführt, nämlich die Unterscheidung zwischen einer Selbstidentitätsproblematik und einer Selbstwertgefühlproblematik. Die erste ist charakteristisch für die schizophrenen Psychosen und für die Persönlichkeitsstörungen vom schizoiden oder narzisstischen Typus; die Selbstwertgefühlproblematik dagegen steht im Mittelpunkt der Dynamik der affektiven Psychosen (Depression und Manie) respektive der Persönlichkeitsstörungen vom Typus der ängstlich-abhängigen oder der histrionischen Persönlichkeitsstörungen. Es entsteht also ein zweidimensionales diagnostisches System (Selbstpol versus Objektpol und Selbstidentitätsproblematik einerseits, Selbstwertgefühlproblematik andererseits), das sich gleichermaßen für Psychosen und Persönlichkeitsstörungen als sinnvoll und nützlich erweist (vgl. Abb. 5, S. 156).
21.3 Bipolaritätskonzepte bei Sigmund Freud Die Annahme einer zentralen, universellen Bipolarität der psychischen Vorgänge war und ist innerhalb der Psychoanalyse keine seltene oder abwegige Idee, son-
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dern im Gegenteil zeitweise die Regel. So hat Sigmund Freud in seinem ersten Triebmodell das Vorhandensein zweier Grundtriebe postuliert, die potenziell auch gegensätzlich sein können oder die jedenfalls Reibungsflächen aufweisen. Es ging um den Selbsterhaltungstrieb und den Arterhaltungstrieb. Später hat Freud zwar dieses duale System zugunsten einer monistischen Annahme vorübergehend verlassen: Auch der Narzissmus, meinte Freud jetzt – also die IchLiebe –, stamme aus derselben Quelle wie die Objektliebe, nämlich aus der Libido. Er ist aber nach 1914 wieder zu einem dualistischen System zurückgekehrt, diesmal ging es aber um Libido versus Destruktivität respektive Eros und Thanatos (Todestrieb). Auch wenn ich – wie auch viele andere Psychoanalytiker – diesen letzten Schritt unglücklich, unproduktiv und verwirrend finde, so ist es doch bemerkenswert, dass es sich auch hier um eine Bipolarität handelt. Warum verließ Freud seinen vorherigen Monismus? Diese Veränderung unternahm Freud offenbar zu dem Zeitpunkt, als er die enorme Ausweitung und Intensität der aggressiven und destruktiven Motivationen nicht mehr als Randphänomen behandeln konnte, sondern sie direkt und an zentraler Stelle seines Systems unterbringen musste. Dass er dabei zu der Annahme eines Triebes kam, sein Postulat also, dass es sich bei der Aggression um einen Trieb handele, ist wiederum dadurch zu verstehen, dass er in Analogie zu der anderen enorm verbreiteten und intensiven motivationellen Kraft, nämlich derjenigen des sexuellen Triebes, auch hier einen Trieb postulierte, zumal oft Aggressivität und Destruktivität mit Lustgewinn gepaart zu sein scheinen. Nun wissen wir aber heute, dass es überzeugendere und realistischere Hypothesen gibt, mit denen man sowohl die aggressiv-destruktiven Handlungen als auch die angebliche Lust dabei (in Wirklichkeit handelt es sich um einen narzisstischen Triumph) gut zu erklären vermag (siehe Kapitel 15.5 ff. über die Perversionen), so dass man auf die recht hypothetische und in der Gesamtkonzeption der Evolution nicht passende Annahme eines Todestriebes verzichten kann. Dennoch ging es mir hier darum, trotz dieser Kritik an der Todestriebtheorie auf die Tatsache hinzuweisen, dass auch Freud von einer Bipolarität ausging, sowohl in seiner ersten als auch in seiner dritten Triebtheorie. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Bipolaritätsmodell auf das Paar Selbsterhaltungstrieb und Arterhaltungstrieb (Freud) reduziert werden kann: Das wäre ein naiver und unzulässiger Reduktionismus. Bei unserer (Bipolaritäts-)Arbeitshypothese geht es um psychische Prozesse und Tendenzen, die sich nicht aus einer Triebpolarität ableiten lassen, sondern eher aus der Dynamik der Evolution hervorgehen. Die Entstehung solcher polar aufgebauten und auf eine dynamische Balance abzielenden Systeme kommt offensichtlich deswegen so häufig vor, weil diese sich innerhalb der Evolution bewährt haben und deswegen selektiert wurden. Dies geschah nicht nur über das rein Biologisch-Genetische, sondern auch darüber hinaus innerhalb einer kulturellen bzw. sozialen Evolution, bei der anstelle der Gene nunmehr auch soziale Systeme, Riten, überhaupt Traditionen entscheidend sind.
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
21.4 Noch einmal: Agoraphobie und Klaustrophobie Nach diesem Exkurs über Bipolaritäten im Allgemeinen und bei Sigmund Freud im Speziellen komme ich noch einmal auf die Frage, ob das Modell auch für relativ leichtere, also neurotische oder sogar für alle psychischen Störungen und auch für das Psychische und Psychosoziale im Allgemeinen – also außerhalb der Psychopathologie – relevant sein kann. Eine erst in jüngster Zeit entstandene Überlegung führte hier weiter: Wie ich schon erwähnt habe (Kapitel 20.2), war es eine überraschende Feststellung, dass zwei der häufigsten Angststörungen, nämlich die Agoraphobie und die Klaustrophobie, eine spiegelbildliche Symptomatik bieten, die auch eine entsprechend gegensätzliche Psychodynamik vermuten lässt. Der Mensch mit einer Agoraphobie hat Angst nicht nur vor offenen, leeren großen Plätzen, sondern auch überhaupt vor Orten und Situationen, in denen er sich fremd, allein und ohne die Möglichkeit fühlt, im Notfall Hilfe und Unterstützung durch andere zu erhalten (so z. B. auch in einem großen Supermarkt). Der klaustrophobe Patient dagegen fürchtet die zu große Nähe und die Beschränkung seiner Freiheit, die Einschränkung der Möglichkeit wegzulaufen. Man könnte in beiden Fällen eine Nähe-Distanz-Problematik vermuten, die an das schizophrene Dilemma zwischen Selbstverlust und Objektverlust, zwischen dem Bedürfnis nach Selbstidentität einerseits und dem Bedürfnis nach der vereinigenden Bindung andererseits erinnert. Das heißt, der agoraphobe oder klaustrophobe Patient verarbeitet neurotisch, also auf eine relativ reife und von der Symbolik her gesehen eindeutig differenziertere Weise diese Konfliktsituation, während der Schizophrene die hier enthaltene Problematik viel intensiver, existenzieller erlebt und deswegen mit elementaren, groben Abwehrmechanismen wie Wahnideen usw. darauf reagiert. Diese interessante Parallelität zwischen Phobien und Schizophrenie diente bereits als Beispiel für die Ähnlichkeit defensiver Vorgänge auf recht verschiedenen Ebenen der Organisation der Persönlichkeit. Hier unterstützt dieser Vergleich die Annahme einer breiteren Verwendbarkeit des Bipolaritätsmodells. Aber auch die im ersten Teil dieses Lehrbuches erwähnten Variationen des intrapsychischen Konflikts beziehen sich praktisch auf intrapsychische Gegensätzlichkeiten, die mit dem Misslingen der dialektischen Überwindung und Integration der »normal« vorhandenen gegenläufigen Tendenzen zusammenhängen. Dazu ein Hinweis aus der Säuglingsforschung: Es ist ein Befund, der tatsächlich als eine direkte Bestätigung des Bipolaritätsmodells durch ein äußeres Kriterium gelten dürfte: »In einem sehr wichtigen Beitrag vertraten Blatt und Behrends die These, dass der Individuationsdrang sozusagen nur eine Seite der Medaille darstelle; die andere von Mahler, Henniger u. a. anerkannte Seite sei das Drängen nach Bezogenheit. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen diesen beiden gegenläufigen Bedürfnissen ist gleichbedeutend mit psychischer Gesundheit und mit der Fähigkeit, reife interpersonale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. In der Psychopatho-
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logie hingegen ist einer der beiden Pole überrepräsentiert« (Fonagy und Target, 2006, S. 138). Im Weiteren berichtet Fonagy von empirischen Untersuchungen, ebenfalls von Blatt und Blass sowie von anderen, die eine Methode entwickelten, um diese beiden fundamentalen Dimensionen der Selbst- und der Objektbezogenheit zu messen und die Resultate dieser Messungen in Beziehung zu therapeutischen Verläufen, Erfolgen und Misserfolgen zu setzen. Zu dem Zeitpunkt, als das Bipolaritätsmodell zum ersten Mal von mir formuliert und definiert wurde, waren mir diese Arbeiten und die dabei benutzten Termini völlig unbekannt. Von daher betrachte ich sie als eine Art Validierung meines Konzepts durch äußere Kriterien, weil diese Autoren von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend und mit anderen Methoden zu sehr ähnlichen, ja sogar wörtlich identischen Formulierungen gekommen sind (Selbstbezogenheit versus Objektbezogenheit)!
21.5 Racamiers Antinarzissmus, Lichtenbergs Grundmotivationen und Balints Oknophilie versus Philobatie Der bekannte französische Psychiater und Psychoanalytiker Racamier (1982) sah sich aufgrund seiner therapeutischen Erfahrungen mit Schizophrenen veranlasst, das Konzept des »Antinarzissmus« zu kreieren, welches eigentlich als das Gegenteil von Selbstbezogenheit (also des Narzissmus) aufgefasst werden kann, allerdings meint Racamier mit »Antinarzissmus« nicht etwa die Objektbezogenheit, sondern eine Art selbstdestruktive, antinarzisstische Tendenz (gegen das eigene Interesse). Bemerkenswert ist es auch, dass man in der von Lichtenberg (1989) vorgenommenen Aufzählung von Grundmotivationen eine Aufteilung in selbstbezogene und objektbezogene erkennen könnte. Hier betrifft die Verwandtschaft zum Bipolaritätsmodell die erste Dimension, die sich auf das Postulat bezieht, es gebe zwei universell zu beobachtende, potenziell gegensätzliche Grundmotivationen und einen daraus unter ungünstigen Bedingungen entstehenden Grundkonflikt. Lichtenberg beschäftigt sich nicht mit der potenziellen Gegensätzlichkeit, aber immerhin gehr er von den genannten universell vorgegebenen Grundmotivationen aus. Dagegen bezieht sich die von Balint getroffene (bipolare!) Unterscheidung zwischen dem oknophilen und den philobathischen Menschen – nach unserem heutigen Verständnis – auf die Art der jeweils herrschenden Abwehr, also auf die zweite Dimension unseres Bipolaritätsmodells: Der objektbezogene Oknophile klammert sich an die Objekte, der selbstbezogene Philobatiker strebt nach Freiheit und Unabhängigkeit (Balint, 1969).
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21.6 Das Lacan’sche Spiegelstadium Lässt sich eine, sei es auch nur angedeutete oder partielle, Konvergenz der Lacan’schen Spiegelungsauffassung mit dem Bipolaritätsmodell feststellen? Die insgesamt sehr komplizierte, oft auch schwer verständliche strukturalistische Konzeption von Lacan macht zwar die Einschätzung und Beurteilung seiner Theorie in ihrer Gesamtheit sehr schwierig. Dennoch ist die hier interessierende Frage, ob nämlich eine Konvergenz zum Bipolaritätsmodell besteht oder nicht, meines Erachtens – wenn auch mit der gebotenen Vorsicht – zu bejahen. Ich beschränke mich hier, um dies zu belegen, nur auf ein Zitat aus einem Beitrag von Kapfhammer, in dem ein solcher Zusammenhang überzeugend dargestellt wird: »Lacan betont in seinem Konzept der Spiegelung die tiefen Abhängigkeitsbedürfnisse, aber auch die hierin begründete, außergewöhnliche Bedrohung des Subjektes. Er legt dessen unstillbare Sehnsucht nach einem sich Wiederfinden im affektiven und kognitiven Echo eines anderen offen. Er verweist gleichzeitig auf die in dieser illusionären Anpassung liegende Gefahr der Enttäuschung, des Betrugs und Verrats. Die hierüber ausgelöste Aggression zielt zwar rächend auf das fremd bestimmende Objekt, meint aber eigentlich einen verzweifelten Rettungsversuch des Selbst. Der spiegelnde Beziehungsmodus, die narzisstische Dimension der in der Paranoia implizierten Homosexualität drückt andererseits aber auch eine entscheidende Bastion gegen eine weitere innerseelische Regression aus. Die Paranoia wird als ein bedeutsamer Schutz vor psychischer Fragmentierung erkennbar (Lacan 1949)« (Kapfhammer, 2000, S. 531; Hervorhebung durch S. M.). Diese schützende Funktion des Wahns wird vielfach auch in empirischen Ergebnissen deutlich dokumentiert (Mentzos, 1967), so dass ich diesem Zitat insgesamt zustimmen würde, mit der einzigen Korrektur in Bezug auf die Rolle der Homosexualität in der Psychose. Im Psychosen-Kapitel habe ich schon angedeutet, dass es sich nicht speziell um das gleichgeschlechtliche Objekt, sondern um das Objekt schlechthin und die aus ihm für den Schizophrenen entstehende Verführung, aber auch extreme Gefährdung handelt.
21.7 Sandler und das Sicherheits- bzw. Wohlbefindensbedürfnis »In einem 1959 gehaltenen Vortrag führte Sandler (1960) das Konzept der Sicherheit als Hintergrundsgefühl ein, um zu verdeutlichen, dass das Ziel des Ich nicht nur darin besteht, Angst zu vermeiden, sondern darin, Sicherheit zu erhöhen. Sandler (1989) stellte das Sicherheits- und das Triebkonzept einander gegenüber und zeigte so, dass das Streben nach Wohlergehen und Sicherheit stärker sein muss als das Drängen auf Triebbefriedigung. Denn nur unter dieser Bedingung
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kann der Triebwunsch in Situationen, in denen seine Äußerung gefährlich wäre, unter Kontrolle gehalten werden« (Fonagy und Target, 2006, S. 143). Das Sicherheitsbedürfnis, welches offensichtlich ein eindeutig selbstbezogenes ist, steht also nach Sandler an erster Stelle dort, wo es in Gegensatz zum Bedürfnis nach Triebbefriedigung gerät. Mit Triebbedürfnissen sind bei ihm vorwiegend objektbezogene Gefühle gemeint, so dass man mit guten Gründen annehmen kann, dass auch Sandler von einer potenziellen Gegensätzlichkeit zwischen selbstbezogenen, sicherheits- und objektbezogenen Bedürfnissen ausgeht. Auch hier erkennt man also die Bipolarität.
21.8 Die Kaskade der Wir-Bildungen Es ist bemerkenswert, dass die Entstehung, Entwicklung und Differenzierung sowohl des einzelnen Individuums als auch der kleineren und der größeren Gruppen (z. B. Ethnien) aus einer Reihe von aufeinanderfolgenden abgrenzenden bzw. identitätsbildenden Tendenzen und – im nächsten Schritt – aus entgegengerichteten Erweiterungen durch Bindungen, Vereinigungen, überhaupt durch Integrationen erfolgen. Diese daraus entstehenden Gebilde bestehen also aus der Vereinigung mit dem davor gegensätzlichen Anderen. Diese ständige Abfolge von selbstbezogenen Abgrenzungen und objektbezogenen Bindungen habe ich an anderer Stelle im Rahmen einer auf das Psychosoziale zentrierten Studie (Mentzos, 1993/2002) als die Kaskade der Wir-Bildungen beschrieben. Was ist damit gemeint? Nach der ursprünglichen pränatalen Einheit von Mutter und Embryo erfolgen die gravierende Trennung und körperliche Abgrenzung bei der Geburt, der zwar sofort die Entstehung der engen dyadischen Bindung folgt, die dann jedoch nicht nur durch den beginnenden Individuationsprozess via Separation, sondern auch durch die frühe Triangulierung (das Auftauchen des Vaters und der Geschwister) zunächst gelockert wird. In der nächsten Phase geht es weiter mit der Entwicklung einer noch einmal erweiterten Identität, die ihrerseits jetzt in die regelrechte triadische Beziehung der ödipalen Phase und überhaupt in die Familienidentität mündet. Mit der Einschulung beginnen die partielle Trennung von der Familie und die Bildung einer Gruppenidentität in der Schule, später in verschiedenen anderen Gruppierungen bis zu der Gesamtheit der Nation, der Religionsgemeinschaft, der großen kontinentalen Zusammenführungen bis hin zu der (gleichsam psychosozialen) Globalisierung. Der Übergang von einer Stufe in die nächste geht meistens nicht komplikationslos vor sich. Die jeweils neuen, erweiterten Identitäten setzen die dialektische Überwindung der davor bestandenen Unterschiede und Gegensätzlichkeiten, aber auch die Respektierung der individuellen Identitäten voraus. Manche Stufen werden nur scheinbar beschritten. Dies wird durch Pseudolösungen möglich, die sich aber dann später, gerade aus diesem Grund, sozusagen rächen. Hier interessieren uns nicht so sehr – wie in der erwähnten
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Veröffentlichung über den Krieg (Mentzos, 1993/2002) – die Großgruppenidentität und ihre Komplikationen, sondern die individuelle Problematik. Der Therapeut hat es häufiger mit Blockierungen und Arretierungen des gesunden Prozesses im individuellen Schicksal, zumal unter dem transgenerationalen Aspekt, zu tun. So basiert die therapeutisch schwer angehbare Problematik der oft verhängnisvollen pathogenen Bindungen, die zu Recht die systemisch orientierten Familientherapeuten so stark beschäftigen, ebenfalls auf der starken Ambivalenz innerhalb einer bipolaren Konstellation: Die starke pathologische Bindung oder auch Delegation steht im Gegensatz zu den natürlichen Autonomiebedürfnissen.
21.9 Noch einmal: Trauma oder Konflikt? Gegen die Annahme der allgemeinen Gültigkeit des Bipolaritätsmodells könnte man folgenden Einwand erheben: Ein nicht kleiner Anteil der psychischen Störungen – so nimmt man heute an – beruhe auf einem direkten oder indirekten akuten oder chronischen Trauma. Die daraus entstehende posttraumatische Störung – für die auch entsprechende Kategorien in den großen klassifikatorischen Systemen vorgesehen sind – gründe auf einer Überforderung und Durchbrechung des Reizschutzes und überhaupt des Widerstandes des psychischen Organismus. Sie hinterlassen Schädigungen, die analog denjenigen bei körperlichen Verletzungen sind und deswegen auch Traumata genannt werden. Hier spiele eine intrapsychische Gegensätzlichkeit, ein Konflikt keine Rolle. Von daher lägen – so der Einwand gegen das Bipolaritätsmodell – diese zahlreichen posttraumatischen Störungen in einem Bereich, der in keinem Zusammenhang mit vorgegebenen Bipolaritäten bzw. intrapsychischen Gegensätzlichkeiten stehe. Dieses Argument hat uns schon im ersten Teil dieses Lehrbuches beschäftigt bei der Eruierung der von mir behaupteten Zentralität des intrapsychischen Konflikts bei den meisten psychischen Störungen (Kapitel 2.1). Hier soll noch einmal der Anspruch des Bipolaritätsmodells auf eine fast generelle Gültigkeit kurz diskutiert werden. Zunächst ist es bemerkenswert, dass das Ausmaß und die Intensität der nach einem Trauma auftretenden Auffälligkeiten des Erlebens und Verhaltens keineswegs der objektiven Schwere des Traumas entsprechen. Die vor der Traumatisierung stattgefundene normale oder gestörte Entwicklung und der dementsprechend erreichte Reifegrad der Persönlichkeitsorganisation sowie das Vorhandensein oder Fehlen eines benignen internalisierten Objekts scheinen von großer Bedeutung für die Auswirkungen des Traumas zu sein. Aber auch die nach (oder auch während) der Traumatisierung in der Umgebung des Betroffenen auftretenden Reaktionen seitens des psychosozialen Feldes sowie die Qualität der vorhandenen Beziehungen, also die teilnehmende und stützende oder umgekehrt indifferente, gleichgültige oder sogar feindliche Haltung dem Traumatisierten
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gegenüber, sind von großer Relevanz. Sogar schon bei objektiv schwersten, plötzlichen körperlichen Traumen und dadurch bedingten Erschütterungen der Selbstkohärenz spielen die prätraumatischen und die das Trauma begleitenden psychosozialen Bedingungen bei der Gestaltung der posttraumatischen Reaktion eine große Rolle. Umso mehr gilt dies für seelische Traumatisierungen, wie Misshandlung, Vergewaltigung und sonstigen sexuellen Missbrauch oder plötzliches Verlassenwerden, psychische Folterung usw., bei denen die Traumatisierung vorwiegend in einer Erschütterung des Vertrauens, der existentiellen Sicherheit und der Zukunftsperspektiven besteht. Dies alles legt den Verdacht nahe, dass wahrscheinlich bei den meisten posttraumatischen Störungen nicht der direkte Schaden das allein Wesentliche ist, sondern die Tatsache, dass diese traumatisierenden Ereignisse eine bis dahin normal oder wenig gestört laufende Entwicklung blockieren oder umlenken, und zwar durch die Mobilisierung von Abwehr, Schutz- und Kompensationsmechanismen. Dabei geht es oft darum, dass diese Unterbrechung der Entwicklung in einer Arretierung des normalen dialektischen Prozesses besteht, die in der vorgegebenen Bipolarität enthaltenen Gegensätzlichkeiten zu integrieren. Dies alles verläuft freilich noch viel ungünstiger, wenn eine Entwicklungsstörung schon vor der Traumatisierung vorgelegen hat. Ein Mädchen z. B., das von ihrem Vater oder Stiefvater sexuell missbraucht und dazu zusätzlich oder vielleicht sogar hauptsächlich dadurch traumatisiert wurde, dass die eigene Mutter diese Übergriffe ignorierte oder bagatellisierte, wird es sehr schwer haben, mit dieser Erschütterung des Vertrauens fertig zu werden. Die schon normalerweise in den dyadischen und später auch in den triadischen Beziehungen entstehenden Spannungen werden sich bei diesem Mädchen nicht problemlos – wie bei einem nichttraumatisierten Mädchen – lösen. Es entwickelt daraufhin pathologische Pseudolösungen, die ja vielen der im zweiten Teil des Buches beschriebenen psychischen Störungen entsprechen. Die Traumatisierung im konkreten Fall spielt sicher eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Sie ist jedoch nicht direkt und nicht allein der Grund des Leidens, sie ist auch nicht der spezifische Grund für die dann entstehende Störung, denn ähnliche Störungen gibt es auch ohne eine solche Traumatisierung und umgekehrt; es gibt traumatisierte Personen, die das Glück hatten, durch eine davor schon bestehende relativ stabile Struktur, insbesondere aber auch durch eine stützende und tragende Haltung durch wichtige Bezugspersonen die Traumatisierung ohne bleibende Folgen zu verarbeiten. Diese gewisse Relativierung der Rolle des Traumas und die erneute Hervorhebung der Bedeutung des Konflikts sind freilich nur für diejenigen überzeugend, die von einer primären Bipolarität und somit von einer primären Potenzialität der Entstehung von Gegensätzlichkeiten bzw. Konflikten ausgehen. Dazu gehören auch Freud und Melanie Klein, auch wenn sie den Konflikt anders als ich begreifen.
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Diese zusätzlichen Erläuterungen zur Bedeutung des Konflikts, und überhaupt der vorgegebenen intrapsychischen Gegensätzlichkeit, bei Traumata erschienen mir deswegen erforderlich, weil in den letzten Jahren meines Erachtens die Rolle des Traumas per se überschätzt wird und weil die Einführung der diagnostischen Kategorie der posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-IV und in der ICD-10 dazu beiträgt, dass die anderen, oben skizzierten Aspekte sowohl in der Theorie als auch in der Therapie vernachlässigt werden.
21.10 Die Bipolarität bei Melanie Klein Der stärkste und entschiedenste Einwand gegen das Bipolaritätsmodell dürfte von den Anhängern einer einflussreichen Theorie kommen, die paradoxerweise selbst von einer grundlegend vorgegebenen Bipolarität des Menschen ausgeht, aber wohl einer anderen als der hier von mir postulierten. Ich meine die kleinianische Auffassung von dem Gegensatz zwischen Libido und Aggression respektive Todestrieb. Aber auch bei anderen, ebenfalls differenzierten und sonst aussagekräftigen Konzepten, wie etwa dem von Kernberg, findet man Ähnliches. Auch bei ihm sei der Gegensatz zwischen guten und bösen Selbstanteilen und den ebenfalls guten und bösen Anteilen des Objekts letztlich auf die Gegensätzlichkeit zwischen Libido und Aggression zurückzuführen – wenn auch inkonsequenterweise bei ihm, wie auch übrigens bei Melanie Klein, gelegentlich die »bösen« Gefühle und Impulse doch eine Reaktion auf Frustration darstellen sollen. Ich habe an anderer Stelle (Mentzos, 2002) ausführlicher dargelegt, warum mir diese hypothetische Annahme eines vorgegebenen destruktiven bzw. Todestriebes überflüssig erscheint. Auch die schlimmsten Erscheinungen von maligner, sadistischer Destruktivität können anders und für mich überzeugender erklärt werden. Die Aggression ist zwar sicher ein vorgegebenes und im Prinzip nützliches biologisches und psychisches Reaktionsmuster wie etwa auch die Angstreaktion oder die Schmerzreaktion. Sie ist aber nicht ein Trieb, geschweige ein dem Sexuellen vergleichbarer Trieb, der nach seiner Befriedigung drängt. Die Aggression ist ein enorm verbreitetes Phänomen (wie die Angst- und Schmerzreaktionen auch), aber sie ist nicht ein direkter Triebabkömmling. Sie dient in ihrer ursprünglichen Funktionalität der Verteidigung selbstbezogener Interessen (aber auch objektbezogener, wenn es z. B. um die Verteidigung der Rechte und Wünsche des Anderen geht), sie gerät jedoch leicht in eine dysfunktionale Bahn, sofern sie als notdürftige Stützung einer brüchigen Selbstidentität und eines brüchigen Selbstwertgefühls eingesetzt wird. Die oft, besonders beim Sadismus, empfundene (oder sogar gesuchte) Lust ist mehr ein narzisstischer Triumph wegen der dadurch bestätigten eigenen Macht bzw. der Bemächtigung des Objekts und beinhaltet für sich noch nicht die Charakteristika einer Trieblust. Dass dieser narzisstische Gewinn gelegentlich zusätzlich
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auch von einer sexuellen Handlung und Lust begleitet wird, hängt letztlich nur damit zusammen, dass erst das Gefühl der Sicherheit und Macht einen solchen Akt und seinen Genuss (der sonst angstbeladen wäre) möglich macht. Die Beantwortung der Frage, ob die Aggression ein Trieb ist oder nicht, sowie die Entscheidung darüber, ob die Bipolarität in dem Gegensatz zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen besteht oder in einem Gegensatz zwischen Eros und Thanatos, sind sehr wichtig. Sie sind nicht nur von theoretischem, sondern auch von ausgesprochen praktischem Interesse. Der Psychotherapeut wird zwangsläufig eine andere therapeutische Haltung einnehmen, eine andere Gegenübertragung und ein anderes therapeutisches Vorgehen entwickeln, je nachdem ob er von der einen oder der anderen Ansicht geleitet wird. Wenn er davon ausgeht, dass der Patient bzw. jeder Mensch primär von einem in seinem Inneren vorhandenen und wirksamen bösen Anteil getrieben wird, muss er den Patienten mit diesem bösen Anteil konfrontieren und ihm helfen, diesen »Trieb« zu kanalisieren und durch die Anregung der entgegengesetzten, also der libidinösen Tendenzen wettzumachen. Wenn der Therapeut dagegen der Überzeugung ist, dass es keinen aggressiven Trieb gibt und dass das aggressive Reaktionsmuster nur deswegen mobilisiert wurde, weil die Gefährdungen der eigenen Interessen und der Selbstsicherheit nicht anders als mit aggressiven Mitteln abgewendet werden konnten, so wird er anders denken und handeln. Der Therapeut wird dann z. B. jedes Mal, wenn bewusste oder unbewusste aggressive Tendenzen des Patienten aktiviert werden, sie zwar benennen, aber gleichzeitig mit dem Patienten versuchen, auch eine Erklärung für diese Aggression herauszufinden, und auf jeden Fall die meistens vorhandene Ambivalenz, also die häufigen gegensätzlichen Gefühle und Impulse erwähnen. Sein Ziel wird nicht das sein, dem Patienten beizubringen, wie er seine natürlichen, triebhaften aggressiven Impulse rational umkanalisieren und kontrollieren kann. Das therapeutische Ziel wird vielmehr das sein, aus dem Verständnis des momentanen Zustands des Patienten heraus, ihn adäquat zu begleiten. Die Haltung des Therapeuten wird demnach trotz des häufig berechtigten, natürlichen Entsetzens – aufgrund der oft unerwarteten grausamen Destruktivität – doch einfühlsam und teilnehmend zu bleiben versuchen: nicht verurteilend, aber auch nicht relativierend, sondern insgesamt, trotz allem, relativ gelassen. Der Therapeut wird also versuchen, dem Patienten zu vermitteln, dass er dessen Aggressivität zwar versteht, ohne sie aber deswegen generell zu legitimieren. Es ist mir auch nach Jahren in Erinnerung geblieben, dass ein Patient, der zu explosiven Gefühlsausbrüchen und aggressiven Handlungen neigte, mir zu einem späteren Zeitpunkt seiner Analyse anvertraute: »Ich glaube, am besten hat mir Ihr Verhalten dabei geholfen, diese Mischung aus aufmerksamer Teilnahme und Gelassenheit.« Ich nehme übrigens an, dass viele Kollegen in dieser Hinsicht trotz eines anderen theoretischen Hintergrunds sich in der Praxis ähnlich wie ich verhalten und auch dadurch dem Patienten helfen.
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Ich möchte meine kritischen Bemerkungen abschließend mit der Feststellung ergänzen, dass ich trotz meiner starken Einwände gegen die Annahme eines vorgegebenen destruktiven Aggressionstriebs der kleinianischen Schule einerseits und den zahlreichen Veröffentlichungen und Begegnungen Kernbergs andererseits ausgesprochen wertvolle Anregungen, Konzepte und Instrumente zum besseren Verständnis meiner Patienten verdanke, so z. B. die Vorstellungen über die gesamte Welt der inneren Objekte respektive der Introjekte, des Containers, der projektiven Identifikation usw. Die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren gelernt haben – zumal im Rahmen der intersubjektiven Psychoanalyse (vgl. Altmeyer und Thomä, 2006) – die realen Interaktionen mehr als früher zu beachten, sollte nicht dazu führen, dass wir übersehen, dass das »Hauptschlachtfeld« sehr oft die Auseinandersetzung mit den inneren Objekten ist. Außerdem finde ich, dass in Bezug auf das ebenfalls zentrale Postulat von Melanie Klein und der Neokleinianer – nämlich die paranoid-schizoide und die depressive Position – viele Berührungspunkte zu meiner Sichtweise bestehen. Die erste Position ist in meinem Verständnis eine eindeutig selbstbezogene, der Rückzug und die projektive Feindbildung sollen das Selbst schützen, die zweite, die depressive Position dagegen ist eindeutig objektbezogen, es geht um die Annäherung, um das Schuldgefühl, schließlich sogar um die Dankbarkeit. Nun ist allerdings – muss man einschränkend bemerken – die depressive Position nicht ganz in Deckung mit dem Objekt-Pol in meinem Konzept zu bringen. Dies muss näher erläutert werden. Die Depression impliziert nicht nur eine ÜberIch-, sondern auch eine Ideal-Selbst- und Ideal-Objekt-Problematik (beide zusammengenommen: das alte Ich-Ideal Freuds). Anders ausgedrückt: Es geht in der Depression nicht nur um Schuldgefühl, sondern auch um Minderwertigkeit, Demütigung, Kränkung, Insuffizienz- und insbesondere Schamgefühle (alles enthalten in der rechten Säule des Drei-Säulen-Modells). Und es geht um Desillusionierung, Verlassenheit, Trennung, Verlust usw. (alles in der mittleren Säule). So zentral wichtig und so sehr praktisch relevant Schuld, Sühne, Selbstbestrafung etc. (alles in der linken Säule) auch sein mögen, so reicht die Beschäftigung nur mit der Schuldproblematik und der ausbleibenden Versöhnung und Dankbarkeit (vgl. kleinianisches Modell) nicht aus, um jede Depression zu erfassen. Hier erscheint mir das breite Spektrum der im Drei-Säulen-Modell repräsentierten Dynamiken geeigneter, um die verschiedenen Formen von Depression zu verstehen.
21.11 Verliert das Bipolaritätsmodell seine Relevanz durch die Hervorhebung des »Mangels«? Es ist durchaus möglich, dass nicht nur Psychotraumatologen, sondern auch Vertreter der Selbstpsychologie von Kohut (und Nachfolgern) das Bipolaritätsmodell kritisch hinterfragen. Auch Vertreter der Bindungstheorie oder andere Kollegen
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und Autoren, welche der mangelhaften »Bemutterung« mit Recht eine große Bedeutung in der Psychogenese psychischer Störungen beimessen, könnten sich kritisch über den Anspruch des Bipiolaritätsmodells auf allgemeine Gültigkeit äußern. Nicht der intrapsychische Gegensatz – würden sie wahrscheinlich sagen –, sondern der Mangel im Laufe der Sozialisation und eventuell auch das daraus entstehende oder auch primär vorgegebene Defizit seien das Wesentliche. Konflikte seien zwar sehr häufig vorhanden und spielten sicher eine Rolle in der Ausgestaltung der Störung, sie seien aber mehr oder weniger sekundär und auf jeden Fall stammten sie nicht aus einer primär vorgegebenen, den Konflikt gleichsam vorprogrammierenden Bipolarität. Dem ist entgegenzusetzen, dass die klinische und psychotherapeutische Erfahrung immer wieder Folgendes zeigt: Es sind in der Biografie des Einzelnen nicht so sehr die Entbehrungen und die Defizite an sich, die als pathogenetische Bedingungen im Vordergrund stehen, sondern es ist die innere Reibung durch entgegengesetzte Tendenzen bzw. Motivationen. Deren Entstehung wird zwar von den Mängeln begünstigt. Dennoch stellen jene konfliktbedingten Verkomplizierungen, sowohl in der Psychogenese als auch in der aktuellen Dynamik, schon rein pragmatisch betrachtet bei weitem die größere Belastung und die größere Herausforderung dar. Deswegen sind sie auch dasjenige, auf das man therapeutisch vorrangig fokussieren kann und soll. Denn der bloße Versuch, den erlittenen Mangel und die Entbehrung durch ein Überangebot an Zuwendung und Verwöhnung (also durch Befriedigung infantiler Wünsche in der Gegenwart) zu beheben, führt meistens in eine Sackgasse. Die alten Kränkungen, Verbitterungen, Schmerzen, Demütigungen und die dagegen im Laufe der Zeit gebildeten defensiven und kompensatorischen Systeme können nicht allein durch das vermehrte Zuwendungsangebot aufgehoben werden. Wir können nicht dem Patienten nachträglich eine glückliche Kindheit liefern. Zwar ist das, was wir tatsächlich dem Patienten bieten können und sollen, nämlich die konsequente empathische Begleitung, gewiss eine unabdingbare Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie. Dessen ungeachtet zeigt sich aber immer wieder, dass erst die Fokussierung auf die alten und die jetzigen – in der Übertragung mobilisierten – Ambivalenzen dasjenige ist, das die pathologischen Abwehrformationen allmählich überflüssig macht und zu einer bleibenden Besserung des Leidens führt. Denn die Patienten sind nicht an erster Stelle gehandicapte, schwache, geschädigte oder an psychischer »Avitaminose« leidende Personen, sondern Menschen, die gerade durch ihre defensiven Schutzmuster in komplexen, verzwickten, widersprüchlichen Konstellationen verfangen sind. Der Therapeut ist deswegen gut beraten, wenn er daran denkt und von der ursprünglichen Bipolarität ausgeht; also von dem Gegensatz zwischen dem Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit, Selbstidentität einerseits und der Sehnsucht nach Bindung, Vereinigung, Zusammengehörigkeit und Liebe zum – und von dem Objekt – andererseits. Es ist also so, dass der Therapeut sich bei jedem Patienten fragen muss: Auf welche Weise hat eigentlich dieser konkrete
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Mensch versucht, unter den gegebenen ungünstigen Bedingungen (Trauma, Mängel, Kränkungen oder auch ungünstige körperliche Voraussetzungen) die große Aufgabe der dialektischen Integrierung und der Balancierung der selbstbezogenen und objektbezogenen Tendenzen und Bedürfnisse – sei es auch kompromisshaft – zu lösen? Der Therapeut versucht also, den Patienten als einen in komplexen Antinomen und notgedrungen sich selbst aufgezwungenen Strategien und Kompromissen verfangenen Menschen zu betrachten, und nicht so sehr oder gar ausschließlich als ein mangelhaft »ernährtes« Kind. Man sieht: Die aus dieser konfliktorientierten Sicht hervorgehende therapeutische Haltung bedeutet keineswegs, dass der Patient hier nichts bekomme, damit er nicht angeblich süchtig werde (so die alte Abstinenzauffassung). Meine Empfehlung sollte also nicht in dieser Weise missverstanden werden. Selbstverständlich bekommt der Patient vieles, allerdings vorwiegend das Angebot einer für ihn neuen Beziehungserfahrung, innerhalb derer er respektvoll anerkannt und in seinem Leiden verstanden wird. Er bekommt nicht eine »Babynahrung«, durch die er in Wirklichkeit nicht gestärkt, sondern infantilisiert werden würde. Er soll, umgekehrt, durch die Zusammenarbeit und Kooperation auf gleicher Augenhöhe mit dem Therapeuten tatsächlich erwachsener werden, allerdings ohne das kleine Kind in ihm (sowie die Realität der erlittenen, oft grausamen Traumatisierungen) zu ignorieren.
21.12 Die Bedeutung des Bipolaritätsmodells für das Verständnis der Geschlechterspannung Es ist vielleicht aufgefallen, dass in diesem Lehrbuch relativ wenig vom Unterschied zwischen Mann und Frau und von den oft sogar polar entgegengesetzt erscheinenden Merkmalen und Bedürfnissen des Weiblichen und des Männlichen die Rede gewesen ist. Dies soll selbstverständlich keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass die enorme Bedeutung von Geschlechtsidentität, Geschlechtsrollen, biologischen und psychosozialen Unterschieden sowie aller dadurch unter Umständen entstehenden Problematiken ohne Einfluss wären. Ich habe lediglich die Polarität weiblich – männlich nur deswegen nicht der Bipolarität »selbstbezogen versus objektbezogen« untergeordnet, weil diese gleichermaßen sowohl bei der Frau als auch bei Mann vorhanden ist. Auch wenn man den Eindruck hat, dass der prosoziale Objektpol (sei es aus biologischen, historischen, psychosozialen, gesellschaftlichen Gründen) stärker bei der Frau ausgeprägt ist als bei dem Mann (diese Frage soll nicht weiter erörtert werden), so kann freilich nicht ernsthaft behauptet werden, die Männer seien generell selbstbezogen, die Frauen immer objektbezogen! Wenn ich trotzdem hier diese Polarität Frau – Mann kurz erwähne, dann nur um einen Aspekt anzudeuten, bei dessen Analyse sehr wohl das Bipolaritätsmo-
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dell hilfreich sein kann. Es geht um den früher plakativ »Kampf der Geschlechter« genannten Gegensatz bzw. um die heute vielleicht besser als Geschlechterspannung bezeichnete Konstellation (Reiche, 1990). Es geht um solche Phänomene wie die Angst des Mannes vor der Frau oder den – früher verständlichen – Neid der Frau auf den Mann (von Freud als Penisneid konzeptualisiert), aber auch um die Angst, die eigene Geschlechtsidentität zu verlieren. In einer leichteren Form zeigt sich die Angst des Mannes vor den weiblichen Elementen in sich und analog die Angst der Frau vor den männlichen Anteilen in sich. Ich glaube, dass alle diese Ängste mit Hilfe des Bipolaritätsmodells besser verstanden werden können: Auch hier handelt es sich ja um die Angst, das Eigene, hier speziell die eigene Geschlechtsidentität, dadurch zu verlieren, dass die Anziehung durch das andere Geschlecht – also jene eigentlich normale, sehr starke Sehnsucht nach Vereinigung – oft als eine Gefahr, als ein drohender Selbstverlust erlebt und gefürchtet wird. Es geht um ein bemerkenswertes Gemisch oft widersprüchlich erscheinender Tendenzen aus Angst und Lust, Sich-abgestoßen- und Sich-angezogen-Fühlen, welches letzten Endes an die Charakteristika des uns bekannten Dilemmas bzw. Grundkonflikts erinnert, der aus der Bipolarität entstehen kann. Die abweichenden, nicht geglückten Lösungen des Dilemmas sind zahlreich: Sadistische und sadomasochistische Muster, viele andere Perversionen, Transvestitismus usw. (siehe Kapitel 15 über die Perversionen) können unter diesem Aspekt des Bipolaritätskonzepts besser verstanden werden, nämlich als Versuch, diese »Gefahren«, diese Spannungen und dieses Dilemma durch verschiedene defensive und kompensatorische Strategien zu umgehen (unter Umständen durch forcierte Verwischung der Unterschiede!). Die »Gefahr«, welche aus der Attraktion durch das andere Geschlecht hervorgeht, kann zwei unterschiedliche Formen annehmen: Es ist einmal die – vorwiegend subjektive, aber manchmal auch objektive – Gefahr, in der entstehenden Beziehung total abhängig, hörig, submissiv und dadurch auch schwach und ohnmächtig zu werden. Es gibt aber auch eine andere Gefahr, nämlich die des identifikatorischen Sogs, die Tendenz, so zu werden wie der oder die Andere und auf diesem Weg die autonome Selbstidentität zu verlieren. Besonders wenn eine ausgewogene Beziehung zwischen Mann und Frau (vorher zwischen Mutter und Sohn oder Vater und Tochter) aus verschiedenen Gründen nicht gelingt, ist diese Tendenz zur Identifikation oft sehr groß. So wird ein Sohn, der nicht adäquat »objektal« (d. h. aber nicht sexuell) von seiner Mutter geliebt wurde, vielleicht dazu neigen – wenigstens! –, wie die Mutter, also weiblich zu sein. Und so wird eine Tochter, die das Gefühl hat, dass der Vater eigentlich nur Söhne mag, vielleicht dazu tendieren, wie der Vater und wie ein Sohn männlich zu werden. Es gibt sicher auch viele andere Wege, auf denen eine solche partielle Identifikation mit dem anderen Geschlecht stattfindet oder stattzufinden droht. Was hier interessiert, ist, dass diese Tendenz zum anderen Geschlecht tatsächlich als Drohung erlebt wird, wor-
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
aus dann auch eine entgegengesetzte Haltung entstehen kann (der supermännliche Macho und die superweibliche Frau). Ich kann hier nicht auf weitere Einzelheiten eingehen – ich wollte nur andeuten, welche Problematiken auf dem Gebiet der Geschlechterdifferenzierung und -spannung entstehen können und warum auch hier das Bipolaritätsmodell nützlich sein kann.
Kapitel 22: Die Funktion der Dysfunktionalitäten – ein durchgehendes Prinzip
22.1 Das Symptom als diagnostisches Indiz und als Element einer Funktion Man ist es in der Psychiatrie und in der klinischen Psychologie gewohnt, die Symptome einer psychischen Störung unter dem Aspekt ihrer Verwendbarkeit zu einer Diagnosestellung zu betrachten. Man benutzt sie also vorwiegend als Indikatoren, als zuverlässige und spezifische Indizien für diese oder jene diagnostische Einordnung. Symptome können jedoch auch von einem anderen Gesichtspunkt aus, und nicht nur vom diagnostischen, bedeutsam sein. Die sich wiederholenden Selbstverletzungen, z. B. bei Patientinnen mit dem bekannten Syndrom des »Ritzens«, sind sicher ein sehr nützliches Indiz für die Diagnosestellung einer BorderlineStörung, gleichzeitig aber auch ein von der Patientin selbst geschaffenes potentes Anxiolytikum, also ein Mittel zur Angstbekämpfung. Die blitzartige anxiolytische und entspannende Wirkung der Selbstverletzung ist der Grund, warum die oder der Betreffende danach süchtig werden kann. Das Symptom ist also hier nicht nur ein diagnostisches Indiz und nicht nur Folge eines psychischen Prozesses, sondern auch Mittel der Angst- und Spannungslinderung. Es hat eine Funktion, allerdings zu einem hohen Preis (Schmerz, Narben, soziale Stigmatisierung). Man steht also vor der paradoxen Situation, dass eine Störung, die eigentlich eine Dysfunktionalität hervorruft, gleichzeitig eine Funktion hat. Damit meine ich hier nicht das, was Freud mit dem Ausdruck »sekundärer Krankheitsgewinn« belegt hat, dass also z. B. eine psychogene (konversionshysterische) Pseudolähmung auch gewisse reale Vorteile mit sich bringt (vermehrte Zuwendung und Rücksichtnahme seitens der Umgebung, in chronifizierten Fällen sogar eine Rente usw.), sondern etwas, das zum primären Krankheitsgewinn gehört: Die durch das Symptom erzielte Kompromisslösung zwischen sich widerstrebenden innerseelischen Zuständen führt – zunächst – zu einer Linderung der inneren Spannung. Der Vorgang der Selbstverletzung könnte mehrere Funktionen zusätzlich zu der oben genannten entspannenden und angstlösenden haben. Diese aggressive, aber gleichzeitig intensiv »packende« Beziehung zum eigenen Körper symbolisiert die stark ambivalente Beziehung zum inneren Objekt bei gleichzeitiger Selbstbestrafung (Schmerz) für diesen Angriff auf das Objekt: Dies alles führt zu der paradox erscheinenden, vorläufigen Beruhigung beim Ritzen. Ein anderes Beispiel: Bei
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
den Phobien resultiert die Reduzierung der ursprünglichen Selbstverlust- oder Verlassenheitsangst aus ihrer Verschiebung auf eine äußere und dadurch potenziell vermeidbare bzw. kontrollierbare Gefahrenquelle. Dies wäre die Funktion der Phobien. Solche einfachen, klassischen, schon in den Anfängen der Psychoanalyse entdeckten Funktionen von Symptomen brauchen vielleicht gerade dadurch, dass sie sehr gut bekannte, fast banale Symptomatiken betreffen, heute nicht als etwas Besonderes hervorgehoben zu werden. Anders verhält es sich aber dort, wo die Funktionalität komplizierter pathologischer Erlebens- und Verhaltensmuster sowie ihre versteckte Zielgerichtetheit nicht auf Anhieb erkennbar sind. Dies gilt besonders bei Symptomatiken, bei denen die negativen, oft destruktiven und besonders selbstdestruktiven Folgen so ausgeprägt sind, dass man kaum je auf den Gedanken kommt, dass dahinter auch eine Art Funktion enthalten sein kann. Gerade die Aufdeckung einer Funktion bei einem solchen pathologischen Muster ist jedoch für das Verständnis schwerer Störungen besonders wichtig. So bedarf es z. B. eines regelrechten Umdenkens seitens des Therapeuten, um die Funktionen des Wahns, etwa des Verfolgungswahns, als Distanzierungsinstrument und als Stabilisierungsfaktor der Selbstkohärenz oder als projektive Entsorgung des bösen Anteils des inneren Objekts zu erkennen. Die Leistung und damit die Funktion des Verfolgungswahns besteht im ersten Fall darin, dass die Verfolger-Verfolgten-Beziehung aufrechterhalten werden kann ohne die Gefahr des Selbstverlustes durch Verschmelzung (oder durch das Verlassenwerden). Dies wird erreicht mittels der sozusagen eingeimpften Feindseligkeit. Diese Feindseligkeit ist also ein probates Mittel gegen die Gefahr, vom Objekt abhängig zu werden. Im zweiten Fall, also bei der projektiven Entsorgung des bösen Anteils des inneren Objekts, besteht die Leistung und damit die Funktion des Wahns darin, dass dadurch das innere Objekt weniger schlecht und böse erscheint. Es wird sozusagen zunächst einmal geschont. Besonders fein gestrickt ist die Funktionalität z. B. bei manchen chronifizierten Depressionen, welche das unbewusste Ziel hat, die Loyalität und die innere Bindung zu einem wichtigen Objekt aufrechtzuerhalten; oder in einem psychosozialen Arrangement, wo eine Mutter in ihre zwei Töchter zwei eigene sich widersprechende Anteile projiziert, d. h. externalisiert und delegiert (z. B. einerseits die tüchtige, disziplinierte Über-Ich-hafte und andererseits die triebhafte, undisziplinierte, oft irrational handelnde »wilde« Tochter). Wozu ist es denn, so könnte man fragen, gut und nützlich, bei psychischen Störungen auch ihre Funktion zu berücksichtigen und die Störung auch in dieser Hinsicht als ein dynamisches funktionales Gebilde zu konzeptualisieren? Die Vorteile einer solchen Betrachtungsweise sind theoretischer und praktischer Natur, sie ermöglichen die Bildung einer kohärenten und umgreifenden Theorie und sie sind hilfreich in der therapeutischen Praxis. Dazu zunächst ein etwas philosophischer Exkurs.
Kapitel 22: Die Funktion der Dysfunktionalitäten – ein durchgehendes Prinzip
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22.2 Finalität im Körperlichen und im Psychischen Das Vorhandensein einer zielgerichteten Funktionalität ist im menschlichen Körper wie auch allgemein in der gesamten biologischen Welt eine unwiderlegbare Tatsache; dies unterscheidet auch die organische von der anorganischen Welt. Doch auch bei der körperlichen Erkrankung findet man nicht nur gestörte somatische Funktionen oder scheinbar funktionslose Vorgänge, sondern sehr oft sinnvolle Körperreaktionen, die aber gelegentlich ihr Ziel verfehlen. Bei einer Lungenentzündung z. B. starb man früher in vielen Fällen, also vor der Entdeckung der Antibiotika, nicht etwa durch die toxische Wirkung der Bakterien, sondern schon durch jene, eigentlich »gut gemeinte« Sekretion in den Bronchien, welche die Funktion hatte, Bakterien und Toxine auszuschwemmen. Diese Übersekretion führte aber häufig zum Tod durch Erstickung. Das war sozusagen der Kollateralschaden bei dieser Rettungsaktion. Und so findet man fast bei jeder körperlichen Erkrankung, sogar auch bei rein mechanischen Verletzungen wie Knochenbrüchen, biologisch sinnvolle Reaktionen, die das Ziel haben, die Noxe zu eliminieren, z. B. mittels der Vermehrung der Leukozyten. Dieselbe Finalität findet man überall: von der vermehrten Tränensekretion bei einem Fremdkörper im Auge über den schmerzlichen Erguss im Gelenk bis zur Hypertrophie des Herzmuskels bei Bluthochdruck. Alle diese Reaktionen sind zunächst einmal zweckmäßig, sie werden aber zum Teil von großen Nachteilen begleitet. Das therapeutische Ziel der Mediziner besteht darin, neben dem Versuch, die Ursache (z. B. die Bakterien) zu bekämpfen, auch die körperlichen Reaktionen samt ihrer Kollateralschäden gering zu halten oder auszuschalten. Ähnlich verhält es sich nun auch im psychischen Bereich: Normalerweise sind psychische Prozesse zielgerichtete Vorgänge, wenn auch zum großen Teil unbewusste, wie wir in den letzten Jahren zusätzlich durch die Hirnforschung bestätigt bekommen haben. Im Fall der psychischen Erkrankung werden zwar die normalen Funktionen gestört, doch ist in dieser Störung meistens eine Zielgerichtetheit zu erkennen, wenn auch das Ziel ein defensives ist, also keine kausale Behebung der Störung, sondern eine Minderung ihrer unlustvollen und unerwünschten bzw. subjektiv unerträglichen Konsequenzen via Verdrängung etc. Beispiele für solche defensiven Funktionen habe ich schon mehrmals erwähnt. Das Interessante dabei ist nun, dass die durch diese Mechanismen zu erledigende defensive oder kompensatorische Aufgabe nicht selten bei verschiedenen Individuen – oder sogar bei ein und demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten – mittels anderer, alternativer Mechanismen erfüllt wird. Das ausführlich diskutierte Bipolaritätsmodell gibt anhand der Modi der Abehr die Möglichkeit, diese verschiedenen Alternativen nebeneinander zu ordnen und miteinander zu vergleichen. Dadurch sind wir in der Lage, das ganze Spektrum der in Frage kommenden Mechanismen und Modi der Abwehr und Kompensation zu überblicken (z. B. Abwehr der Angst durch Verdrängung oder aber durch Verschiebung oder
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
durch Somatisierung etc.). Diese verschiedenen Formen sind aber gerade oft die offiziell im DSM und in der ICD vorgesehenen sogenannten Störungen, die man nun innerhalb dieses weiten Spektrums sinnvoller einordnen kann. Erst jetzt merkt man, dass sie keine zufälligen Anhäufungen, sondern alternative QuasiLösungen derselben Aufgabe desselben Problems sind. Die festzustellenden Gruppierungen von Symptomen, sind nicht bloß statistischer Art, sondern sie stellen jeder für sich ein funktionales Gebilde dar. Sie sind miteinander sozusagen organisch verbunden durch dieselbe oder eine ähnliche Zielgerichtetheit bzw. Funktion. Auch wenn die deskriptiv beobachtbare Oberfläche oft verwirrend unterschiedlich und inhomogen erscheinen mag, so entsteht durch die Aufdeckung der funktionellen Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit doch ein sinnvolleres Gesamtbild. Die in den letzten Jahren eine hohe Konjunktur aufweisende Bezeichnung »symptomorientierte« Diagnostik und Therapie könnte im Zuge dieses neuen Verständnisses des Symptoms eine tiefere Bedeutung und Nützlichkeit erfahren: »symptomorientiert« nicht mehr im Sinne von spezifischen Verfahren zur Bekämpfung des Symptoms, sondern umgekehrt von Schätzung und Nutzung des Symptoms als Indikator für die Diagnostik und Therapie.
22.3 Die symptomatische Therapie als Notbehelf Schon bei körperlichen Erkrankungen sind wir oft besonders in der akuten Phase gezwungen, symptomatisch zu behandeln, also z. B. das zu hohe Fieber (die Hyperpyrexie) mit Medikamenten oder die Erstickungsgefahr durch Beatmungshilfen und Sauerstoffzufuhr zu bekämpfen, um den Patienten vor einem baldigen Tod zu retten. Dennoch besteht auf Dauer die eigentliche Behandlung darin, adäquate Alternativlösungen sowie kausal wirksame Therapien anzubieten, die jene anderen defensiven Rettungsversuche, die so viele Nachteile aufweisen, überflüssig machen. In ähnlicher Weise gilt dies auch im Bereich des Psychischen. Auch wenn wir also oft im akuten Stadium psychischer Störungen gezwungen sind, die ungünstigen, übermäßigen Reaktionen (extreme Angst, Rückzug in den depressiven Stupor, destruktive und selbstdestruktive Erregungszustände usw.) direkt, z. B. medikamentös, zu behandeln, so sollte die eigentliche Therapie auf die Dauer eine solche sein, die echte Alternativen anstelle der ungünstigen defensiven Strategien bietet und somit die zwar mit einer Funktion versehenen, aber inadäquaten und letztlich schädigenden Mechanismen überflüssig macht. Indem wir also die psychischen Störungen als dynamische funktionale Gebilde mit allerdings inadäquater, notdürftiger, ungünstiger Funktionalität betrachten, sind wir sowohl motiviert als auch in der Lage, sie innerhalb der Gesamtheit des Bio-Psycho-Sozialen richtig einzuordnen, aber auch besser dem Patienten zu ermöglichen, sie zu ersetzen.
Kapitel 23: Einige metaphorische Konzeptualisierungen
23.1 Das Drei-Säulen-Modell Dieses Modell ist schon im ersten Teil (Kapitel 5.3 f.) und bei der Besprechung der Depression (Kapitel 11.5 und 12.1) beschrieben worden. Seine Nützlichkeit zwecks einer schnellen Verständigung in Bezug auf bestimmte, die narzisstische Homöostase betreffende Strukturen und Funktionen ist offensichtlich. Die mit ihm demonstrierbaren psychodynamischen Zusammenhänge können freilich auch mit Hilfe von bekannten psychoanalytischen Konzepten und Begriffen beschrieben werden. So wird man z. B. die drei Säulen von rechts nach links als das Ideal-Selbst, das Ideal-Objekt und das Über-Ich im engeren Sinne leicht erkennen und benennen (Ideal-Selbst und Ideal-Objekt zusammengenommen entsprechen in etwa dem Ich-Ideal bei Freud). Ich halte aber aus didaktischen Gründen die anschauliche Darstellung für nützlich, bei der die einzelnen Entwicklungslinien leichter zu erkennen sind. Auch die dabei entstehenden Strukturen, Funktionen und eventuell auch Gegensätzlichkeiten lassen sich auf diese Weise leichter beschreiben. Schließlich können die möglichen Brüchigkeiten einzelner Säulen sowie die dann auftauchende kompensatorische Verstärkung durch die anderen Säulen optisch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden.
23.2 Die Circuli vitiosi Oft habe ich das Bild eines Circulus vitiosus benutzt, um auf die sehr häufig auftretenden ungünstigen und oft verhängnisvollen Rückkoppelungen, welche häufig zur Verstärkung und Fixierung bzw. Chronifizierung vieler Störungen führen, aufmerksam zu machen. Ohne diese zikuläre Kausalität würden wahrscheinlich viele der Störungen von sich aus aufhören oder sich erübrigen. Solche Circuli vitiosi finden sich auch im Bereich des rein Körperlichen bzw. Biologischen im Allgemeinen, sie sind der Grund für die Chronifizierung vieler somatischer Erkrankungen. Umso häufiger trifft man sie im Bereich des Psychischen. Schon von der Verhaltenstherapie wurde ziemlich früh darauf hingewiesen, dass z. B. die phobische Vermeidung bestimmter Situationen zur Verfestigung der Phobie dadurch beiträgt, dass die sonst normal zu erwartende, automatische Extinktion
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
mittels der normalen spontanen Exposition ausbleibt. Gravierender sind die Circuli vitiosi, die im Kapitel über die Depression und über die Schizophrenie in diesem Lehrbuch beschrieben wurden. Bei der Letzteren führt die aufgrund der massiven Abwehr resultierende Blockierung und Verunmöglichung neuer Beziehungserfahrungen dazu, dass eine spontane Korrektur und Lockerung des Dilemmas immer unwahrscheinlicher wird (vgl. Abb. 7 und 8, S. 230). Das rechtzeitige Erkennen dieser eigentlich leicht durchschaubaren Rückkoppelungen ist von großer therapeutischer Relevanz, weil ihre adäquate Behandlung gerade bei einer rigid sich wiederholenden oder sogar sich verschlechternden Symptomatik oft zu einer deutlichen Verbesserung führen kann.
23.3 Die Über-Ich-Konto-Metapher Diese vielleicht merkwürdig erscheinende Anleihe aus dem Bankwesen erwies sich als eine nützliche Metapher, um die recht komplizierten und zunächst nicht durchschaubaren psychodynamischen Zusammenhänge zu erfassen, die sowohl innerhalb des Psychopathologischen, aber auch beim sogenannten Normalen uns täglich beschäftigen. Es geht gleichsam um die Ökonomie und Regulation der Schuldgefühle im Rahmen des ständigen Austausches mit den inneren und den äußeren Objekten. Es handelt sich nicht so sehr um das selbstbezogene Selbstwertgefühl, also das IdealSelbst, und nicht so sehr um die Stabilisierung durch das idealisierte Objekt (IdealObjekt), sondern an erster Stelle um das Über-Ich im engeren Sinne und somit auch um Schuld/Belastung und Sühne/Entlastung. Es ist z. B. bekannt und trotzdem immer wieder erstaunlich, in welchem Ausmaß unser Wohlbefinden davon abhängig ist, ob und inwiefern es gelingt, uns von inadäquaten Bindungen und Pflichten zu befreien. Unser Befinden hängt oft vom Stand unseres Über-IchKontos ab, also davon, ob wir noch unerledigte Verpflichtungen – gleichsam Schulden – haben oder ob wir einigermaßen schuldfrei sind. Was auf diesem Konto als Negativum und was als Positivum gilt, ist recht bemerkenswert: Dass unser prosoziales Handeln, unsere Hilfeleistungen für andere, dem Über-Ich-Konto guttun und »schwarze Zahlen« zustande bringen, ist zwar selbstverständlich. Paradox ist nur, dass von uns erlittenes Leid, Schicksalsschläge in unserem Leben, aber auch durch Krankheiten, Unfälle, Naturkatastrophen, Krieg hervorgerufenes eigenes Leid ebenfalls dem Über-Ich-Konto zugute kommen. Es profitiert von solchen erlittenen Schäden, es versteht sie automatisch zum Ausgleich von »roten Zahlen« aufgrund eigener »Sünden«, Verfehlungen etc. zu verwenden. Hat man genug gelitten, so fühlt man sich wohler, reiner, unbelasteter, auch wenn dieses Leid in keiner inhaltlichen Verbindung mit realen Schuldvorstellungen von uns steht. Ich kann mich erinnern, dass wir als Kinder, mit 10 oder 12 Jahren, jeden Sonntag die lange griechisch-orthodoxe Liturgie besuchen und durchstehen
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mussten. Und wenn wir im Juli bei Temperaturen um 40 Grad stehend und schwitzend litten, war das schließlich nicht so schlimm, denn nach Beendigung dieser Tortur und sobald wir aus der Kirche traten, fühlte ich mich wie gereinigt, befreit, schuldlos. Das Gewissen war total rein und das hielt länger an, wenigstens bis zum nächsten Sonntag, wo die nächste »Kur durch Leiden« sich wiederholte. Die subjektive Wichtigkeit des Über-Ich-Kontos und der Kampf um seinen Ausgleich machen sich auch bemerkbar bei den »Geschenkschlachten« anlässlich von Weihnachten oder Geburtstagen. Wer ein teures Geschenk bekommt, ist in der Schuld des Anderen, und wenn er in Bezug auf seine Selbstwertregulation sehr vom Stand seines Über-Ich-Kontos abhängig ist, wird er dafür sorgen, dass er schnellstens mit einem Gegengeschenk »zurückschlägt« und somit ein gewisses Gleichgewicht wiederherstellt. Ein anderes Beispiel: Patienten, die sich mit Hilfe masochistischer Strategien stabilisieren, fühlen sich nicht wohl, wenn ihnen mit einem Mal zu viel Gutes getan wird. Ein depressiver Patient mit solchen masochistischen Zügen erzählte mir, dass, wenn er unerwartet in eine besonders freundliche, wohlwollende Umgebung hineingerät, er beginnt, sich unwohl und unsicher zu fühlen. Sobald er dann etwas schlechter behandelt wird, fängt er an, sich sicherer zu fühlen. Das Kapital dieses Kontos wächst – paradoxerweise und im Gegensatz zu allen anderen realen oder symbolischen Konten – gerade dann, wenn dem Kontoinhaber Negatives zustößt! Wenn ihm dies von außen zugefügt wird, also wenn man real unterdrückt, betrogen, ausgenutzt, geschlagen wird, dann »umso besser«. Wenn das nicht der Fall ist oder wenn das von außen Zugefügte sozusagen nicht ausreicht für die innere Ökonomie (für den Ausgleich von Schuldgefühlen, für die Loyalität mit anderen Leidenden, für bindungsbedingte Verpflichtungen etc.), so muss die Selbstschädigung hinzukommen. Mit ihrer Hilfe steigt der Über-IchKontostand in Richtung Nulllinie (oder sogar darüber!) und der Betreffende fühlt sich vorübergehend erleichtert. Dies ist die verhängnisvolle Dynamik des ÜberIch-Kontos. Die Erleichterung ist nämlich nur vorübergehend. Bald muss man für neue »Einnahmen« sorgen, sei es durch das Suchen des von außen erlittenen Unrechts und Leidens oder durch Selbstschädigung. Bei beiden besteht oft die Tendenz, die »Dosis« zu erhöhen. Das Ganze bekommt einen süchtigen Charakter und ist immer schwerer zu unterbrechen. Den Kampf um die Wiederherstellung eines aus dem Gleichgewicht geratenen Über-Ich-Kontos wird nicht nur bei schweren psychischen Störungen geführt, wie z. B. bei schweren Depressionen, wo die Betroffenen z. B. einen Versündigungswahn entwickeln (eine starke »Finanzspritze« fürs Konto!); oder bei anderen Patienten, die sich körperlich selbst verletzen, um ihr Über-Ich zu versöhnen. Auch bei fast der Normalität angehörenden Verhaltensmuster, wie z. B. bei bestimmten Riten zur Entlastung von Schuldgefühlen (z. B. Kniebeugen, Fasten), wo freiwillig Nachteile auf sich genommen werden, ist diese Bemühung um den Konto-Ausgleich offenkundig. Vielleicht wird man mir entgegenhalten, dass diese extreme und ständige ängstliche Sorge um ein ausgeglichenes Über-Ich-Konto eine krankhafte Tendenz
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
eines kleinen Teils der Menschheit sei, welches übrigens heutzutage, in der Zeit der Herrschaft der Profitmaximierung als höchstes Ziel im Leben, ohnehin immer kleiner werde. Es gebe ja Millionen von Menschen, die keine Angst und Sorge um ihr Über-Ich-Konto haben, sondern umgekehrt um die roten Zahlen ihres realen Bankkontos. Diesen Einwand und diese Frage möchte ich – mehr pragmatisch als theoretisch – folgendermaßen beantworten: Schwarze, also positive Zahlen auf dem realen Bankkonto sind sicher uns allen willkommen, sie erhöhen das Sicherheitsgefühl durch die implizierte finanzielle Unabhängigkeit. Ein Streben danach ist wohl legitim, sinnvoll, normal. Hat jemand Ängste und Sorgen wegen roter Zahlen auf dem realen Konto aus objektiven Gründen (allgemeiner gesellschaftlicher Natur oder wegen seines persönlichen Schicksals aufgrund von Arbeitslosigkeit, Krankheiten etc.), so ist dies verständlich und gilt als normal. Es gibt aber Menschen, die Sorgen wegen roter Zahlen im realen Konto haben, die sie selbst herbeigeführt haben (durch Sucht, hypomanisches verschwenderisches Verhalten, neurotisch bedingte »Verpflichtungen« usw.). Dies wäre eine berechtigte, wenn auch selbstverschuldete Sorge um das reale Konto. Es gibt eine weitere Gruppe von Menschen, die sorgen sich nicht um rote Zahlen, sondern darum, dass noch nicht genug schwarze Zahlen auf dem realen Konto sind. Es sind Menschen, die infolge pathologisch narzisstischer Gründe das Geld als Ersatz für mangelhaftes Selbstwertgefühl brauchen und deswegen süchtig nach Gewinn, nach Reichtum werden und immer mehr davon brauchen und erwerben wollen – eine Tendenz, die durch das heute herrschende soziale Image (je reicher, desto wertvoller sei der Mensch) besonders gefördert wird. Nun sind die zwei zuletzt genannten Menschentypen zwar psychotherapeutisch behandlungsbedürftig, jedoch für den Therapeuten meistens unerreichbar und deswegen irrelevant. Sie suchen in der Regel keine therapeutische Hilfe auf. Auf der anderen Seite kann die Psychotherapie Menschen mit objektiv berechtigten Sorgen, also den Benachteiligten und Armen, ohnehin nicht viel bieten. So bleiben für die Psychotherapeuten an erster Stelle die Fälle mit einer Problematik des Über-Ich-Kontos (und nicht des Real-Kontos) übrig; für diese Gruppe sind die Therapeuten tatsächlich kompetent und zuständig. Heißt dies nun, dass Psychotherapie nur bei Menschen mit (bewussten oder unbewussten) neurotischen Schuldgefühlen anwendbar ist? Gewiss nicht. Die pragmatisch orientierte Unterteilung sollte lediglich zeigen, dass die Metapher des Über-Ich-Kontos zunächst einmal bei jener, immerhin großen, Gruppe von Menschen sehr nützlich sein kann, bei denen pathologische Schuldgefühle im Vordergrund stehen. Was die Anderen betrifft, die keine Schuldgefühle entwickeln, auch dort nicht, wo sie wohl berechtigt wären, und die ohnehin kaum je den Therapeuten aufsuchen, also z. B. die gewissenlosen Profitmaximierer, lässt sich Folgendes vermuten: Wir haben Hinweise dafür, dass auch bei ihnen diese Über-Ich-Problematik in der Tiefe keineswegs geregelt oder eliminiert ist. Es ist nämlich auffällig, dass
Kapitel 23: Einige metaphorische Konzeptualisierungen
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solche Menschen häufig in bestimmten Bereichen ihres Lebens, meistens in der Familie, aber auch sonst sich fast grotesk prosozial verhalten oder in extremer Form insgeheim sogar eine masochistische Perversion entwickeln. Als eine weitere Variation wären die Menschen zu erwähnen, die durch massive sadistische und grundlos grausame Handlungen jene gelegentlich doch, wenn auch ganz leise, hörbar werdende Stimme des verschütteten Guten (des Gewissens) zu ersticken versuchen. Bei meiner langjährigen psychiatrischen Tätigkeit sind mir in der Forensik öfters Menschen dieser letzten Gruppe begegnet, während ich bei meiner ebenfalls langjährigen Tätigkeit als Psychoanalytiker und Therapeut mehr mit den anderen Extremen des Spektrums zu tun hatte, nämlich mit neurotischen und psychotischen Patienten, die sehr stark unter dem Druck eines strengen Über-Ich litten und alle möglichen Opfer auf sich nahmen, um ihr Über-IchKonto einigermaßen auszugleichen und um sozusagen dadurch weiter leben zu »dürfen«. Die hier skizzierte Problematik kann auch mit Hilfe des Bipolaritäts- und des Drei-Säulen-Modells angegangen werden, so dass der Leser auch von dort (siehe frühere Kapitel) zusätzliche Anregungen erhalten kann. Das Drei-Säulen-Modell könnte dazu animieren, auch in Bezug auf die rechte und auf die mittlere Säule (Ideal-Selbst und Ideal-Objekt) eine entsprechende Metapher bzw. ein »Konto« zu konstruieren, zumal auch aus deren Dynamik (Selbstwertgefühl durch Bewunderung seitens des Objekts – linke Säule; und umgekehrt durch Idealisierung des Objekts – mittlere Säule) immense motivationelle Kräfte resultieren. Ich hielt es aber nicht für notwendig, eine ähnliche Metapher zu benutzen, weil die Zusammenhänge bei Ideal-Selbst und Ideal-Objekt ohnehin durchschaubar sind: Jeder versteht leicht – auch ohne Metapherngebrauch –, welche die Folgen von Kränkungen, Demütigungen, Desillusionierungen etc. sind und auf welche Weise ihnen defensiv begegnet wird. Doch warum jemand sich selbst körperlich verletzt und er sich selbst seelische Schmerzen zufügt oder warum er sich absichtlich sozial schädigt, ist schwerer zu verstehen. Zu diesem Verständnis sollte die Über-Ich-Konto-Metapher helfen.
23.4 Schlussbemerkung zur Vermeidung eines Missverständnisses Meine absichtlich pointierte Schilderung des aus der Über-Ich-Dynamik hervorgehenden pseudoprosozialen, sich aufopfernden Verhaltens könnte dahingehend missverstanden werden, dass ich der Meinung sei, all unser freundliches, herzliches, großzügiges, prosoziales Tun geschehe aus einer solchen Über-Ich-geleiteten ängstlichen Verpflichtung. Dies wäre ein grobes und fatales Missverständnis. Gerade das Bipolaritätsmodell sieht die konfliktfreie, objektbezogene, prosoziale Motivation als den Hauptmotor (neben der gleichberechtigten, selbstbezogenen
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Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Motivation) für die Entstehung eines echten, authentischen, lebendigen, schöpferischen, interpersonalen und sozialen Lebens vor. Nicht das aus neurotischen Gründen erzwungene Gute ist die Quelle des erfüllten Lebens – und schließlich auch der Kultur –, sondern die Spontaneität der aus der gelungenen dialektischen Überwindung des Grundkonflikts hervorgehende, frei bestimmte Prosozialität – letztlich auch Liebe!
Kapitel 24: Anstelle eines Nachworts: Das Wesentliche in elf Punkten
Sowohl die moderne Psychiatrie als auch das vorliegende Lehrbuch für Psychodynamik bemühen sich um eine gleichermaßen flächendeckende und systematische Darstellung der psychischen Störungen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht in dem jeweils anderen methodologischen Zugang und insbesondere in der unterschiedlichen Zielsetzung sowie in dem differierenden Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses. Während die deskriptive Psychiatrie sich auf die präzise Erfassung und Einordnung des direkt Beobachtbaren konzentriert, interessiert sich die Psychodynamik an erster Stelle für die vermutlich dahinterstehenden und nicht direkt sichtbaren intrapsychischen Prozesse. Beide Richtungen, mit ihrer je eigenen Zielsetzung und Methodologie, sind gleichermaßen unerlässlich für Theorie und Praxis. Sie sind nicht nur kompatibel, sondern oft auch komplementär. Dies im Einzelnen nachzuweisen und im Detail zu illustrieren, war eines der Ziele dieses Lehrbuches. Nun gibt es aber auch andere systematische Darstellungen der Psychodynamik und sogar in manchen Psychiatrie-Lehrbüchern findet man psychodynamisch relevante Abschnitte und Kapitel oder zumindest entsprechende Bemerkungen und Hinweise. Der kundige Leser des vorliegenden Bandes hat aber wahrscheinlich manche deutliche und zum Teil auch provokativ wirkende Unterschiede zu vielen anderen psychodynamischen Betrachtungsweisen bemerkt. Zwar sind meine grundsätzliche psychoanalytische Orientierung sowie die vielen – ja überwiegenden – Gemeinsamkeiten, besonders mit Autoren mit einer ähnlichen Orientierung, nicht zu übersehen. Dennoch enthält mein Lehrbuch viele abweichende und zum Teil auch ganz neue Konzeptualisierungen, die auf Verwunderung oder Zweifel stoßen oder zu Kritik Anlass geben könnten. Einige von diesen Konzepten habe ich schon in diesem dritten Teil des Buches diskutiert. Ich zähle sie im Folgenden noch einmal kurz auf, zusammen mit manchen dort nicht expressis verbis erwähnten Vorstellungen und Vorschlägen. I. Psychische Störungen, auch die schwersten unter ihnen, sind nicht nur Ausfallserscheinungen oder Defizite und Dysfunktionalitäten; sie sind in gewissem Sinne auch aktiv, wenn auch unbewusst mobilisierte Prozesse mit eigenen, defensiven und/oder kompensatorischen Funktionen und dürfen deswegen auch als funktionale dynamische Gebilde betrachtet werden.
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II.
Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Diese dynamischen Gebilde – Störungen oder pathologische Syndrome und/ oder Verhaltensmuster genannt – stehen nicht zusammenhangslos nebeneinander. Zwischen ihnen besteht insofern ein organischer Zusammenhang, als sie alternative oder auch komplementäre, defensive Reaktionen auf ähnliche oder sogar manchmal identische Probleme darstellen. Sehr oft zeigt sich dieser organische Zusammenhang unter diesen Reaktionsmustern auch darin, dass sie in einer bestimmten Rangordnung von den ganz groben und unreifen bis zu den sehr differenzierten und reiferen stehen. Man könnte sie deswegen metaphorisch als aufeinanderfolgende Verteidigungslinien bezeichnen, welche, je nach Bedarf oder Not, aufgegeben oder wiederbesetzt werden können. III. Der größte Teil der problematischen intrapsychischen Prozesse, die Anlass zu unbewusster Mobilisierung der defensiven Muster (und somit zur Entstehung der sogenannten Störungen) sind, hängen mit inneren Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen zusammen: mit sich widersprechenden Kognitionen, Emotionen und insbesondere Motivationen. Diese inneren Konflikte oder Dilemmata stehen sehr oft im Zentrum der pathogenen intrapsychischen Dynamik, und zwar auch dort, wo gravierende Traumata oder ausgesprochener Mangel an Zuwendung, sehr negative Erfahrungen in Beziehungen, starke Kränkungen usw. nachweisbar sind: Denn auch bei all diesen Fällen sind es vorwiegend jene beim Versuch der Verarbeitung und Bewältigung von Traumata sehr oft entstehenden Widersprüchlichkeiten und dilemmatischen Konstellationen, die pathogen werden. IV. Die Tendenz zur Entwicklung solcher dilemmatischen Konstellationen ist prinzipiell bei allen Menschen vorgegeben, weil der Mensch bipolar aufgebaut ist. Eine Erklärung dafür liefert die moderne Evolutionstheorie durch die Feststellung einer selbstbezogenen und einer mehr sozialen, sozusagen objektbezogenen Selektion. Außerdem führt der von der biologischen (aber auch der sozialen) Evolution geförderte dynamische Aufbau unserer körperlichen und seelischen Verfassung eben zu dieser, eigentlich normalen, Bipolarität, welche Erneuerung, Anpassungsfähigkeit, überhaupt Fortschritt ermöglicht und deswegen zusätzlich selektiert wurde. Das hier normalerweise zu erreichende Gleichgewicht ist jedoch leicht störbar, so dass ungünstige biologische, aber insbesondere auch psychosoziale Bedingungen die normale Bipolarität zu einer rigiden Dilemmatik verwandeln können. Die sogenannten Störungen sind erzwungene, meistens leidvolle Pseudolösungen der entstandenen Dysbalance. Sie sind trotzdem als dynamische Gebilde mit einer Funktion und nicht nur einseitig als Ausfälle und Dysfunktionalitäten zu betrachten. V. Es ist erstaunlich, dass diese defensiven und kompensatorischen Muster, obwohl sie auf den verschiedenen Levels der Persönlichkeitsorganisation unterschiedlich sind, gleichzeitig bemerkenswerte Homologien und Iso-mor-
Kapitel 24: Anstelle eines Nachworts:Das Wesentliche in elf Punkten
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phismen aufweisen, d. h. entfernte funktionelle Ähnlichkeiten und Parallelitäten, die die Forderung nach einer vergleichenden Psychodynamik lohnend erscheinen lassen. Die Entdeckung solcher Verwandtschaften, z. B. zwischen Wahn und Zwang, erweist sich als sehr fruchtbar für Theorie und Praxis. VI. Vom Klinischen her erwies sich als vorteilhaft, den Begriff der Neurose – die ohnehin als nosologische Entität fragwürdig geworden ist – durch die je spezifische Art der neurotischen Verarbeitung von Konflikt und Trauma, also durch den Modus dieser Verarbeitung zu ersetzen. Der Modus bedient sich verschiedener Abwehrmechanismen, er ist aber nicht mit einem von ihnen oder mit ihrer Summe gleichzusetzen. Des Weiteren ist der Modus nicht zwangsläufig mit einem bestimmten Konflikt oder Trauma verbunden. So kann der hysterische Modus der unbewussten Inszenierung bei verschiedenen Konfliktarten (und nicht nur bei der ödipalen) mobilisiert werden. Durch diese Betrachtungsweise werden die Diagnosen flexibler und den gegebenen Besonderheiten des einzelnen Menschen adäquat. VII. Die erstaunlichen Fortschritte der Neurobiologie wurden zwar in Bezug auf ihre Bedeutung für Psychologie und Psychopathologie überschätzt. Dennoch eröffnen sie bei angemessener und kritischer Verwendung neue Horizonte und neue Möglichkeiten der Integration neurobiologischer Befunde und Psychodynamik. So ist z. B. die stark zu vermutende Parallelität zwischen der dilemmatischen Dynamik der Psychosen einerseits und der neurobiologisch feststellbaren Dysbalance zwischen kortikalen und subkortikalen neuronalen Systemen andererseits eine vielversprechende Feststellung. Es ist überhaupt, auch unabhängig von der Situation bei den Psychosen, zu vermuten, dass die neurobiologischen Befunde eher mit den psychodynamischen Konstellationen und weniger mit den nosologischen Krankheitseinheiten in Parallele zu setzen sind. VIII. Die schwierige Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass kausal determinierte Vorgänge auch eine Funktion und eine Zielgerichtetheit aufweisen, also die Frage, auf welche Weise kausale Determiniertheit und finalistische Intentionalität zu integrieren wären, wird an manchen Stellen des Lehrbuches erwähnt, aber insbesondere im Kapitel über die Psychosomatik ausführlicher diskutiert. Die dabei entstandene Konzeption dient der Erklärung der Tatsache, dass viele psychosomatische Symptome sowohl determiniert als auch zielgerichtet sind, dass sie also sowohl Ursache als auch Gründe haben. IX. In Bezug auf die Aggression, den Sadismus, den erogenen und den sogenannten moralischen Masochismus werden einige – von den herrschenden (auch psychoanalytischen) Theorien zum Teil abweichende – Konzeptionen von mir vertreten, die unter Umständen relevant für das Verständnis und die Behandlung der Angststörungen, der Depression, der Sucht und der Perversion sein können.
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X.
Dritter Teil: Begründung der neu eingeführten oder modifizierten Konzepte
Ebenfalls als praktisch nützlich erwiesen sich das Drei-Säulen-Modell (zur anschaulichen Darstellung der Selbstwertregulation und ihrer Störungen), die Metapher des Über-Ich-Kontos (zum Verständnis der oft recht komplizierten Schuldproblematik), die Beschreibung der Circuli vitiosi bei verschiedenen Störungen (zur Erfassung der zirkulären Kausalität der Dynamik) sowie die Unterscheidung zwischen selbstbezogenen und objektbezogenen Abwehrmechanismen bzw. Modi. XI. Die Therapie konnte im Rahmen eines Lehrbuches für Psychodynamik nur bruchstückhaft, aber gelegentlich auch etwas ausführlicher behandelt werden. Doch ist die Fokussierung auf die Funktion der Dysfunktionalität der rote Faden in diesem Lehrbuch und stellt ein wichtiges Grundelement einer adäquaten therapeutischen Haltung dar: Der Patient wird nicht als defektuöses, gehandicaptes, nur gestörtes Individuum, sondern als ein in unlösbaren Widersprüchen und Antinomien verfangener Mensch betrachtet. Diese Haltung, zusammen mit der aus der vergleichenden Psychodynamik abgeleiteten Überzeugung von Analogien und Ähnlichkeiten des sogenannten Pathologischen mit dem sogenannten Normalen, ermöglicht dem Therapeuten eine sowohl intensiv einfühlsame, aber gleichzeitig auch respektvolle, achtsame Mitmenschlichkeit, welche eine der besten Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Behandlung ist.
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Sachregister
Abasie 92 f. Abwehr – psychosoziale 48 – zweiphasig 191 Abwehrmechanismus 21 f., 45 ff., 63, 65, 101, 106, 185, 199, 203, 219, 249 ACC (anterior cingulate cortex) 238 ff. Adrenalinausschüttung 190 Affekt 25 ff., 33 ff., 61, 118, 159, 195 – depressiver Affekt 125 ff., 203 affektive Störung – schwere 138, 205 ff. Affektisolierung 46, 104, 166 Affektspiegelung 61 Affektualisierung 47, 92 f., 165 Aggression 27, 41 ff., 55, 63, 104, 120, 127 ff., 140 f., 163, 166, 180, 184, 209 f., 222, 259, 266 f. – innere Aggressionsquelle 42 – Sexualisierung der Aggression 179 ff. Aggressivierung der Sexualität 179 ff. Agoraphobie 110, 250 f., 260 Alexithymie 62, 195, 197 f., 204 Alternieren auf verschiedenen Niveaus der Persönlichkeitsorganisation 167 Ambivalenz 29 f., 34, 122, 134, 217, 249, 267, 269 anal 104 analer Konflikt 21, 50, 166 Angst 23, 34 – Angst als Symptom 118 – Angst ohne Grund 115
Angstneurose 112 ff. – Typ A und Typ B 121 Angstreaktion 28, 34, 42, 115, 121, 266 animal symbolicum 60 anterior cingulate cortex (ACC) 238 antidepressiver Mechanismus 211 Antidot 220 f., 232, 239 Antinarzissmus 256, 261 Anxiolytikum 14, 273 Astasie 92 f. Ausdrucksgebung 98, 189, 192 ff., 202, 204, 229 autoaggressives Verhalten 47, 132, 184 Automatismus 40 behaviorale Annahme 39 Bereitstellungserkrankung 190 f. Beschwerden 22, 87, 191 ff., 201 ff. bewusst 24 Bindungstheorie 57 ff., 129 bipolare Störung 211 f. Bipolarität 30, 34, 225, 230, 253 Bipolaritätskonzept 31, 208, 215, 251, 254 Bipolaritätsmodell 83, 135, 138 f., 233, 255 ff. bisexuell 33 Bluthochdruck 190 Borderline 87 f., 123, 149 ff., 155 f., 159 f., 166 ff., 196, 273 – Schizo-Borderline 155 – schizoaffektives Borderline 155 – Thymo-Borderline 155
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Borderline-Persönlichkeitsstörung 123, 152, 166, 171 cerebrales Korrelat 206 Circulus vitiosus 117, 126 f., 229 ff., 277 f., 140, 176 Coping 47 Da-Costa-Syndrom 113 Dämmerzustände 92 f. Defizit 41, 206 Depersonalisation 45, 47 Depression 71, 125 ff., 209, 240 – endogene 132, 138, 142, 205, 210, 243 – gereizte, aggressivierte 139 ff. – leichte 133, 137 – masochistische Variation der Depression 139 – reaktive 132 – schwere 133, 136 f., 206 depressive Position 129, 209, 256, 268 depressiver Affekt 125 f. depressiver Konflikt 134 ff., 208 depressiver Modus 126 Desexualisierung 33 Desomatisierung 61, 193 destruktive Tendenzen 55 Desymbolisierung 76, 193 Determinismus 14, 24, 188 Diagnostik – dreidimensionale 83, 85 ff., 99 – kategoriale 251 f. diagnostische Kategorien 149 dialektischer Prozess 29 f., 39, 59, 170, 260, 265 Differenzialpsychodynamik 201 Dilemmakonzept 215 Dissident 21 Dissoziation 92 f., 249 Dopamin 206, 236 f.
Sachregister
Drei-Instanzen-Modell 51 ff., 66, 74, 83 f. Drei-Säulen-Modell 66, 68 ff., 130, 133 ff., 268, 277, 281 DSM 15, 19, 88 f., 93 dyadische Beziehung 33 f., 263, 265 Dysbalance 240, 284 Effort-Syndrom 113 Eifersucht 33 Ekel 25, 35 emotional 24 ff. Emotionalität 225 endophänotypische Korrelate 243 Entemotionalisierung 225 erbgenetisch 153, 236 Es 52 f. Exhibitionismus 181 f. Exkorporation 63, 199 Externalisierung 43, 60, 63 f., 76, 157, 192 f., 194, 198 ff., 228 Fantasie 23, 30, 52, 98, 120, 137, 143 f., 199, 225 Feinbild 46, 158 Fetischismus 178, 181 f. Finalismus 14, 24, 188 Finalität 189, 192, 275 Flucht 190 Frustrationsaggression 43, 127 f., 141, 222 Funktion der Dysfunktionalität 14, 273 funktionelle Syndrome 203 Funktionen des Objekts 57 Ganser-Syndrom 92 f. Gebote 52, 67, 70, 72, 104 gebundenes Verhaltensmuster 58 Gefühl 25, 36 Gen-Expression 241 Geschlechterspannung 270 f.
Sachregister
Gestaltungstherapie 231 Gewissen 36, 70, 131, 134 f., 279, 281 – moralischer Anspruch des Gewissens 135 Gewohnheit 40 Glanz in den Augen der Mutter 69, 129 Größenfantasien 68, 133, 160 Grundmotivationen 261 Haftreaktion 97 Halluzinationen 154, 197 f., 205, 216, 222 ff. Hemmung 50, 57, 125, 128, 165, 190, 205, 209 Höhenphobie 109 homosexuell 32 ff., 158, 178, 262 Humor 47 f. hypochondrischer Modus 122 hystera 94, 101, 164 Hysterie 85, 91 ff. hysterischer Modus 50, 92 ICD-10 15, 19, 88 f. Ich 52 f., 105, 125, 128, 262 Ich-Ideal 66 f., 72 Ich-Psychologie 52, 56, 61 Ich-psychologische Klassifikation 226 Identifikation 31 f., 42, 46 f., 49, 70 ff., 85, 104, 160, 199, 203, 233, 257, 271 identifikatorischer Sog 271 Innenwelt des Kindes 195 Intellektualisierung 46 f., 104, 166 internalisiertes Objekt 118, 131 Internalisierung 62 ff., 198 f., 204 intersubketive psychoanalytische Konzepte 56 Introjektion 62 f., 127 f., 199, 208 f. – psychotische 45, 47 Intrusion 232
297
Kannibalismus 147, 252 f. Kaskade der Wir-Bildungen 263 Katatonie 154, 227 kategoriale Diagnostik 251 f. Klaustrophobie 109 ff., 122, 250 f., 260 Konflikt 37 ff., 264 – externalisierter innerer Konflikt 43 – ödipaler Konflikt 32 – Variationen von Konflikten 30 Konversionssymptomatik 91 f., 97, 189 f., 203 Körper als Beziehungsobjekt 199 körperbezogener Rückzug 227 körperliche Störung 191, 201 ff. Körpertherapie 231 Krankheitseinheit 21, 85, 243 Lacan’sches Spiegelstadium 262 Leiden 19, 22, 83, 93 f., 123, 126 f., 143, 146, 192 ff., 202, 265, 269 f., 279 Leitbilder 70 Liebeswahn 154, 228, 233 magisches Denken 46, 104 Mangel 41, 45, 54, 86, 175, 195, 199, 206, 233, 268 ff. Manie 137 f., 154, 183, 205 ff., 224 Masochismus 144 ff. 182 ff. – moralischer Masochismus 143 masochistischer Modus 144 ff. masochistische Strategie 37, 74, 134, 184, 200, 279 masochistische Variation der Depression 141 ff. Mentalisierung 61, 195 Metapsychologie 15 Minussymptomatik 223, 225 f., 237 Modus 49 f., 87 – Favorisierung des Modus 87 Münchhausen-Syndrom 200
298
Narzissmuss 33, 51, 53, 65 ff., 256, 261 narzisstische Homöostase 68, 71, 137, 141, 277 Neid 36 f. Neurobiologie der Psychosen 235 ff. neurophysiologische Grundlagen 75 Neurose 21, 83 f. – vegetative Neurose 190 Objektbeziehungstheorie 21, 33, 54 f., 57, 59, 62, 74 f., 134, 174 f. – harte und weiche 55 Obsession 102 Ohnmachtsanfälle 91, 93, 97 Oknophilie 261 OPD 41, 86, 89, 115, 201 Operationalisierung 13, 15, 20, 89, 115 Paranoia 222, 257, 262 Parasympathikus 193, 256 pensée opératoire 62, 195, 197 f., 202, 208 Persönlichkeitsstörung 88, 92, 149 ff., 157 ff., 255 f. – abhängige 162, 258 – anankastische 102 – antisoziale 159 – depressive 163 – dissoziale 160, 167, 170 – histrionische 93 f., 162, 258 – hyperthyme 161 – hysterische 164 ff. – narzisstische 160 f., 167 – paranoide 152, 161, 167 – passiv-aggressive 162 – schizoide 152, 155, 158, 169 f. – schizotypische 152, 155, 158 f., 172 – selbstunsichere, ängstlichvermeidende 152, 165 – zwanghafte 165 f. Perversion 145, 147, 177 ff., 281 Philobatie 261
Sachregister
Phobie 49, 109 ff., 175, 250 f., 260, 274 phobischer Modus 109 ff. posttraumatische Belastungsstörung 170, 237, 264 ff. präfrontale Areale 236 f. primärer Denkvorgang 225 produktive psychotische Symptomatik 223, 225 Projektion 45, 47, 60, 63, 87, 123, 157 f., 197 ff., 222, 227 f. – nichtpsychotische 46 – psychotische 45, 47 projektive Identifikation 47, 169, 226, 228 projektive Identifizierung 45 Proxy-Syndrom 200 psychiatrische Klassifikation 13, 20, 88, 93, 102, 114 Psychodynamik 13 – der Psychosen 153, 222, 233 – vergleichende Psychodynamik 249 f. Psychodynamisierung 13, 115, 152, 200 f. Psychose 75 f. – Abstammung der Psychose 243 – affektive Psychose 133, 154, 171, 203, 205 ff., 224, 237, 241 – schizoaffektive Psychose 171, 203, 210, 224 – schizophrene Psychose 101, 154 ff., 169, 206, 212, 224, 229, 258 Psychosomatik der Psychosen 204 psychosomatische Zusammenhänge 241 psychosomatischer Modus 187 ff. Psychosomatosen 203 Psychosomatosen des Gehirns 241 ff. psychosozialer Faktor 242 psychotische Abspaltung 45, 47 psychotischer Modus 203 Selbstrepräsentanz 46, 49, 53, 165, 218 f. – Quasi-Veränderung der Selbstrepräsentanz 46, 49, 218
Sachregister
Rationalisierung 46 f. Real-Externalisierung 46, 63 Regression 45, 74 ff., 178 f., 196, 262 relationale psychoanalytische Konzepte 56 REM-Phase 75 f., 78 Resomatisierung 61 f., 195, 197 f. Restriktion 226 Ritzen 14, 273 Sadismus 145, 179 f., 182, 266 Sadomasochismus 175, 184 f. Scham 35 f., 45, 68, 132 Schizophrenie 215 ff. – koenästhetische 223, 229 Schmerz 34, 74, 93, 144 ff., 183, 191 ff., 203 Schuld 25 f., 35 ff., 68, 74, 103 f., 128 f., 132, 142, 145 ff., 209 f., 268, 278 ff. sekundäre Hysterisierung 98, 202 Selbst 53 Selbstbezogenheit 65, 154 f., 169 f., 256, 261 Selbstbild 53, 135, 161, 218 Selbstdefizit-Modell 53 f. Selbstmord 132, 142 Selbstpsychologie 21, 53 ff., 66 Selbstwahrnehmung in die Tiefe 78 Selbstwertgefühlregulation 57, 66, 68, 132 f., 207 f., 213 Selbstwertregulationsstörung 129 f., 174, 208 ff. Serotonin 236 f. Sexualisierung der Aggression 179 ff. Sexualmörder 23, 181 sexuelle Störung 99, 185 Sicherheitsbedürfnis 263 Somatisierung 47 f., 87, 93, 113, 117, 119, 123, 193, 197 f., 203, 227 somatoforme Symptomatik 88, 193, 203 somatopsychische Zusammenhänge 188, 204, 236, 243
299
Soteria-Modell 239 soziales Engagement 135 Spaltung 46 ff., 93, 158 f., 169 f., 178 Spiegelstadium 262 Störung 19 – affektive 27, 132, 138, 144, 205, 210 f. – bipolare 137, 144, 211 f. – körperliche 191, 193, 201 ff. – sexuelle 99, 185 Störungen als funktionale Gebilde 15, 19 Stressmodell 37 Striatum 226, 236 f. struktureller Mangel 40 Subjektstufe 64, 77 Sublimierung 47 f. Sucht 173 ff. symbiotische Bindung 70, 208 Symbolisierungsprozess 61, 76, 190, 197 Sympathikus 188, 256 Symptom 22 Symptom als Kompromiss 22 symptomatische Therapie 276 Symptombildung 49, 60, 84, 110 f., 194 Tierphobie 46, 109 Todestrieb 51, 55, 143, 145, 183, 259, 266 Todeswünsche 103 Traum 73 ff. – manifester Traum 73 f., 79 – latenter Traum 74, 79 Trauma 45, 264 Traumatisierung 38 ff., 119, 127, 170 f., 188, 213, 255, 264 f., 270 Traumsequenz 75, 77 Traumtheorie, jungianische 77 Triadische, das 33 Triebenergie, verwandelte 34
300
Triebimpuls 22, 26, 84, 103, 174 Triebmodell 51, 54, 57, 259 Triebtheorie 26, 32 ff., 48, 52 ff., 145, 259 Über-Ich 52 f., 66 f., 70 ff., 103 ff., 131 f., 141, 146, 160, 277 Über-Ich-Konto-Metapher 278 ff. Überordentlichkeit 103 Überstimulation 225 f. unbewusst 24 Unbewusstes – dynamisches 24, 46 Unlust-Prinzip 26, 36, 46, 142, 183 unsicher-ambivalentes Verhaltensmuster 58 unsicher-vermeidendes Verhaltensmuster 58 Unterstimulation 225 f. Ursachen und Gründe 24, 189, 191 vegetative Neurose 190 Verbote 52, 64, 67, 70, 72, 102, 104 Vereinigung 23, 99, 178, 180, 182, 263, 269, 271 – mit dem Objekt 30, 35, 136, 180, 252, 257 Verfolgungswahn 217, 225 Vergessen – passives 46
Sachregister
Verhaltensmuster 39, 58, 92 f., 104, 111, 279 Verhaltenstherapie 14, 39 f., 110 ff., 120, 176 Verlagerung 46 f. Verleugnung 46 f. vernetzte Seele 56 Verschiebung 46 f., 60, 73, 104, 110 ff. Verwerfung 195 Voyeurismus 181 f. Wahn 45, 106, 123, 125, 142, 154, 158, 198, 205, 210 f., 217 ff., 249 f., 266, 274 Wendung gegen das Selbst 47 Wiederholungszwang 143 Wir-Bildungen 263 Wohlbefindensbedürfnis 262 Wut 25, 27, 35, 38, 55, 120, 160, 168, 207 f. zentrale Achse der Psychodynamik 29 Zitterer-Syndrom 97 Zwang, Zwänge 14, 103, 105 f., 221, 249 f. Zwangsneurose 46 ff., 101 ff., 151, 175, 196, 221 zwangsneurotischer Modus 50, 87, 101 ff., 166 zweidimensionale Klassifikation 223 f. zweiphasige Abwehr 191
Namenregister
Abraham, Karl 128 f. Adler, Alfred 21, 53 Ainsworth Mary 58 Akiskal, Hagop 171 Alexander, Franz 189 f. Altmeyer, Martin 56 Balint, Michael 56, 261 Beckmann, Dieter 121 Beier, Klaus M. 185 Benedetti, Gaetano 222 Berner, Wolfgang 179 Bibring, Edward 129 Bion, Wilfred R. 63 Bollas, Christopher 96 Bowlby, John 58, 129 Braus, Dieter 238 Britton, Ronald 96 Buber, Martin 56 Buchsbaum, Helen 66 Burns, Jonathan 243 Cassirer, Ernst 60 Christian-Widmaier, Petra 63 Ciompi, Luc 239 Dornes, Martin 63 Dümpelmann, Michael 241 Emde, Robert 66 Fairbairn, William R. D. 56 Fonagy, Peter 54, 61, 96, 195, 261
Freud, Sigmund 20ff., 32 ff., 51, 53, 65, 66, 73, 101, 112, 123, 128, 145, 178, 222, 258 Fromm, Erich 56 Grawe, Klaus 25, 240 Green, André 95, 99, 195 Guntrip, Harry 54 Hartmann, Hans-Peter 59 Hartmann, Heinz 52 Heigl-Evers, Annelise 183 Heinz, A. 236 f. Henseler, Heinz 69, 132 Hirsch, Mathias 200 Hochapfel, Gerd 13, 113 Hoffmann, Sven Olaf 13, 88, 113 Israël, Lucien 96 Jacobson, Edith 128 Joffe, W. G. 129 Jung, Carl Gustav 21, 53, 64, 77, 256 Kächele, Horst 13 Kapfhammer, Hans-Peter 222, 262 Kernberg, Otto f. 66, 150 f., 167 f., 169, 180, 268 Klein, Melanie 54, 59, 67, 129, 169, 209, 222, 266, 268 Köhler, Lotte 59 Kohon, Gregorio 96
302
Kohut, Heinz 54, 66, 68, 129, 136, 152 Krafft-Ebing, Richard von 144 Krause, Rainer 25 Küchenhoff, Joachim 96 Lacan, Jacques 262 Lempa, Günter 56 Lichtenberg, Joseph D. 261 M’Uzan, Michel de 195 Marty, Pierre 195 McDougall, Joyce 195 Mentzos, Stavros 43, 56, 69, 85, 100, 171, 193, 214, 218, 228, 235 Mertens, Wolfgang 66 Meyer, Adold-Ernst 89 Milch, Wolfgang 25 Mitscherlich, Alexander 191, 194, 197 Morgenthaler, Fritz 180 Münch, Alois 56, 63 Panksepp, Jaak 243 Pouget-Schors, Doris 89 Post, R. M. 241 Racamier, Paul 256, 261 Rado, Sándor 56, 128 Rapaport, David 52 Reiche, Reimut 271 Richter, Horst-Eberhard 121 Rohde-Dachser, Christa 96, 171
Namenregister
Rudolf, Gerd 13, 41 Rupprecht-Schampera, Ute 95 Sandler, Joseph 66, 129, 262 Scharfetter, Christian 249 Schur, Max 195, 197 f. Schüßler, Gerhard 235 Sifneos, Peter 195 Sigusch, Volkmar 185 Spitz, René 66, 131 Spitzer, Manfred 26 Stern, Daniel 195 Stoller, Robert 179, 181 f. Strauss, Bernhard 58 f. Sullivan, Harry Stuck 56 Target, Mary 54, 61, 96, 261 Thomä, Helmut 13, 56 Tomkins, Silvan 25 Troje, Elisabeth 56 Uexküll, Thure von 190 f., 194 Weidenhammer, Brigitte 183 Werthmann, Hans-Volker 252 Wiesbeck, Gerhard A. 205 Will, Herbert 128 Winnicott, Donald W. 15, 55, 56, 59 Wurmser, Léon 68, 135 Wynne, Lyman C. 236
Stavros Mentzos bei V&R Stavros Mentzos Hysterie Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen 11. Auflage 2015. 191 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-46199-0
Das klassisch gewordene Grundlagenwerk berücksichtigt neuste mediale und gesellschaftliche Entwicklungen wie die frenetische Begeisterung Jugendlicher für »Tokio Hotel« oder das wachsende Phänomen Sensationslust.
Stavros Mentzos Depression und Manie Psychodynamik und Therapie affektiver Störungen 5. Auflage 2011. 206 Seiten mit 5 Abb., 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45775-7
Depressive Psychosen und die Manien gelten als endogene Erkrankungen, die auch – relativ erfolgreich – mit Psychopharmaka behandelt werden können. Dagegen kann aber auch nicht übersehen werden, dass es sehr häufig schwerwiegende Trennungserlebnisse sind, Verluste, Kränkungen oder Enttäuschungen, die solche Krankheitsmanifestationen auslösen. Und zuvor schon bestehende innerseelische Konflikte, spezifische Abwehrmechanismen und Charakterstrukturen, psychogene Faktoren also, prägen die Symptomatik mit.
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Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.) Widerstände gegen ein psychodynamisches Verständnis der Psychosen Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 31. 2015. 181 Seiten, mit 6 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45245-5
Therapeuten mit positiven Erfahrungen in der psychoanalytischen Psychosentherapie analysieren die Gründe für Widerstände gegen diese Behandlungsform und wollen damit zur Überwindung negativer Haltungen beitragen. Die psychoanalytisch-psychodynamisch orientierte Psychosentherapie wird immer häufiger und mit Erfolg angewendet. Auch von Patientenseite wird sie gern in Anspruch genommen. Dazu im Kontrast stehen heftige Widerstände und offene Ablehnung besonders durch eine biologistisch ausgerichtete Psychiatrie und Psychologie. Aber auch die institutionalisierte Psychoanalyse zeigt sich gegenüber einer solchen Therapie zurückhaltend. Dies könnte an Unkenntnis der theoretischen Voraussetzungen, Mangel an praktischen Erfahrungen, aber auch an Ängsten der Behandler vor der gravierenden psychotischen Symptomatik liegen. Weitere Bände von Stavros Mentzos: www.v-r.de
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PSychodynaMIk koMPakT Cord Benecke Psychodynamische Therapien und Verhaltenstherapie im Vergleich: Zentrale Konzepte und Wirkprinzipien 2016. 72 Seiten mit 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40568-0
Luise Reddemann Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen Therapien 2016. 64 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40556-7
Gitta Binder-Klinsing Psychodynamische Supervision 2016. 68 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40558-1
Jürgen Körner Psychodynamische Interventionsmethoden
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Stephan Doering Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) 2016. 84 Seiten mit 3 Abb. und 1 Tab. kartoniert ISBN 978-3-525-40569-7
Kathrin Sevecke / Maya Krischer Jugendliche Persönlichkeitsstörungen im psychodynamischen Diskurs 2016. 73 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-5254-0559-8
Inge Seiffge-Krenke / Fatima Cinkaya Behandlungsabbrüche: Therapeutische Konsequenzen einer Metaanalyse 2017. 80 Seiten mit 4 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-40580-2
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Christiane Steinert / Falk Leichsenring Psychodynamische Psychotherapie in Zeiten evidenzbasierter Medizin Bambi ist gesund und munter 2017. 83 Seiten mit 1 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-40573-4
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